321 67 4MB
German Pages 793 [752] Year 2016
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Udo Schnelle
Theologie des Neuen Testaments
Zweite, durchgesehene Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Prof. Dr. theol. Udo Schnelle, o. Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät in Halle. Veröffentlichungen: Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie, 21986; Einführung in die neutestamentliche Exegese, 82014; Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, 1987; Wandlungen im paulinischen Denken, 1989; Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, 1991; Neuer Wettstein II (mit G. Strecker), 1996; Das Evangelium nach Johannes, 42009; Neuer Wettstein I/2, I 1.1, I/1.2, 2001.2008.2013; Paulus. Leben und Denken, 22014; Einleitung in das Neue Testament, 82013; Aufsätze.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2014, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Titelbild: Die Apostel Petrus, Paulus und Johannes; Kunstsammlung der Theologischen Fakultät Halle. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm UTB-Nr. 2917 ISBN 978-3-8252-4069-1 (UTB-Bestellnummer)
Vorwort
Ziel dieser Theologie des Neuen Testaments ist es, umfassend die Vielfalt und den Reichtum der neutestamentlichen Gedankenwelt darzustellen. Jede Schrift/jeder Autor des Neuen Testaments blickt aus der je eigenen Perspektive auf das gemeinsame Zentrum Jesus Christus und gerade diese Multiperspektivität eröffnet Glaubenswelten und ermöglicht neues Denken und Handeln. Zu danken habe ich Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn (Mainz), der einzelne Kapitel des Buches gelesen hat und wertvolle Hinweise gab; zu danken habe ich ferner Herrn wiss. Ass. Markus Göring (Halle) und Herrn stud. theol. Martin Söffing (Halle) für ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten. Halle, im August 2007
Udo Schnelle
Vorwort zur 2. Auflage
Für die 2. Auflage wurde der gesamte Text auf Fehler durchgesehen. Halle, im Oktober 2013
Udo Schnelle
Hinweis zu den Literaturangaben
Wenn die Literatur in abgekürzter Form nachgewiesen wird, findet sich der vollständige Erstnachweis immer im Literaturblock des betreffenden Abschnittes oder in den Anmerkungen desselben Unterabschnittes. Sonst erfolgt der Nachweis an Ort und Stelle oder es wird auf den Abschnitt des Erstnachweises verwiesen (s. o./s. u.). Theologien des Neuen Testaments werden ohne späteren Rückverweis nur im Abschnitt 1 vollständig angeführt. Die Abkürzungen entsprechen den Verzeichnissen der TRE, des EWNT und des Neuen Wettstein.
Inhalt
1 1.1 1.2 1.3
Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung . Das Entstehen von Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte als Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen durch Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 17 22 25
2 2.1 2.2 2.3 2.4
Der Aufbau: Geschichte und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Phänomen des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 30 34 37 42
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
Jesus von Nazareth: Der nahe Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die Frage nach Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Jesus in seinen Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Kriterien der Frage nach Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Der Anfang: Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Johannes der Täufer als historische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Jesus und Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Der eine Gott in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Das neue Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . 71 Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Das Reich Gottes in Gleichnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Das Reich Gottes und die Verlorenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Reich Gottes und Mahlgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ethik im Horizont des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Schöpfung, Eschatologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die ethischen Radikalismen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3
8 Inhalt
3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.7 3.7.1 3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.9 3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.10 3.10.1 3.10.2
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes . . . . . . . . . . . . . . 104 Das kulturgeschichtliche Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Jesus von Nazareth als Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Gesetzestheologien im antiken Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Jesu Stellung zur Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Jesus, Israel und die Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet . . . . . . . . . . . . . . 128 Jesus als endzeitlicher Prophet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Jesus als Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Jesus als Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Jesu Verständnis seines Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie . . . . . 145 Jesu vorösterlicher Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Die Erscheinungen des Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Erfahrungen des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die christologische Lektüre der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Religionsgeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
5 5.1 5.2 5.3
Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission . 173 Die Hellenisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Antiochia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Die Stellung des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5
Paulus: Missionar und Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Der eine und wahre Schöpfergott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Der Vater Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Gottes Offenbarung im Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Das neue Gottes-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Inhalt 9
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5 6.5.6 6.6 6.6.1 6.6.2 6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3 6.8 6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4 6.8.5 6.9
Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Transformation und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Kreuz und Auferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Rettung und Befreiung durch Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Jesu Christi stellvertretender Tod ‚für uns‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . 244 Die Gaben des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Vater, Sohn und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Das neue Sein ‚mit Christus‘/‚in Christus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Gnade und Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Der Leib und das Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sünde und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Weitere anthropologische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Teilhabe und Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Das neue Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Ekklesiologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Strukturen und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Die Gemeinde als sündenfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Teilhabe am Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Die Endereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Tod und neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
7
Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Der Tod von Gründergestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Die Verzögerung der Parusie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
7.1 7.2
10 Inhalt
7.3 7.4 7.5
Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Der Aufstieg der Flavier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . 343
8
Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Die Logienquelle als Proto-Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Markus: Der Weg Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Lukas: Heil und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462
8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.1.7 8.1.8 8.1.9 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.3.7 8.3.8 8.3.9 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4
Inhalt 11
8.4.5 8.4.6 8.4.7 8.4.8 8.4.9
Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488
9 9.1 9.2
Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt . . . . . . . . 490 Die soziale, religiöse und politische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und theologisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
10 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.1.7 10.1.8 10.1.9 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8 10.2.9 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6
Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 Der Epheserbrief: Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem . . . . . . . . . . . 536 Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . 541 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
12 Inhalt
10.4.7 10.4.8 10.4.9
Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562
11 11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.1.6 11.1.7 11.1.8 11.1.9 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 11.2.6 11.2.7 11.2.8 11.2.9 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.3.6 11.3.7 11.3.8 11.3.9 11.4
Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 564 Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden . . . . . . . . . . . . . . . 564 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Der Jakobusbrief: Handeln und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch Tradition und Gegnerpolemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
12 12.1 12.1.1
Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum . . . 619 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Gott als Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
Inhalt 13
12.1.2 12.1.3 12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.4 12.4.1 12.4.2 12.5 12.5.1 12.5.2 12.5.3 12.6 12.6.1 12.6.2 12.6.3 12.7 12.7.1 12.7.2 12.7.3 12.7.4 12.8 12.8.1 12.8.2 12.9
Das Wirken des Vaters im Sohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Gott als Licht, Liebe und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 Präexistenz und Inkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 Die Sendung des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Die ‚Ich-bin-Worte‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Christologische Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 Kreuzestheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 Die Einheit der johanneischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 Der Heilige Geist als Paraklet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 Trinitarisches Denken im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Begriffliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Prädestination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676 Der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Das ewige Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 Die Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 Das Liebesgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 Narrative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Die Ethik des ersten Johannesbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Die Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 Die Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Sendung und Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 Die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6
Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . 712 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 Pneumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
14 Inhalt
13.7 13.8 13.9
Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730 Theologiegeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
14
Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
1
Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Theologien des Neuen Testaments H. J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I.II, hg. v. A. Jülicher/W. Bauer, Tübingen 21911; R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O. Merk, Tübingen 9 1984; H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. A. Lindemann, Tübingen 41987; K. H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments I-IV, Düsseldorf 1968–1976; W. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 3 1976; L. GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978; J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 31979; W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I.II.III, Münster 1981. 1998. 1999; H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II.III, Göttingen 1990. 1993. 1995; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II, Göttingen 1992. 1999; A. WEISER, Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; J. GNILKA, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg 1994; K. BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 21996; B. S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel I.II, Freiburg 1994. 1996; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F. W. Horn, Berlin 1996; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; F. VOUGA, Une thologie du Nouveau Testament, Genf 2001; F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I.II, Tübingen 2002; U. WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments I.II.III.IV, Neukirchen 2002.2003.2005; K. NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments, Wien 2003; H. MARSHALL, New Testament Theology, Downers Grove 2004; PH. F. ESLER, New Testament Theology. Communion and Community, Minneapolis 2005.
Eine Theologie des Neuen Testaments muss zweierlei leisten: 1) Die Gedankenwelt der ntl. Schriften erheben und 2) sie im Kontext gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisses zur Sprache bringen. Sie partizipiert gleichermaßen an verschiedenen Zeitebenen; es gilt, das Vergangene zu vergegenwärtigen, zu explizieren und ihm einen zukunftsrelevanten Status zu verleihen. Damit ist die ntl. Theologie eingebunden in die Frage nach der bleibenden Bedeutung vergangenen Geschehens und somit immer ein Teil der Geschichtswissenschaften. Sie hat teil an der geschichtstheoretischen Debatte und muss nach dem Wesen und der Reichweite historischen Erkennens fragen. Indem sie dies tut, befindet sie sich bereits innerhalb wissenschaftstheoretischer Erwägungen, wie Vergangenheit/Geschichte und damit auch Wirklichkeit entstehen und welche Kategorien dabei eine zentrale Rolle spielen. Wirklichkeit ist nicht jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, die das Geschehene innerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm in unterschiedli-
16 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
cher Weise Bedeutung zuschreiben. Diese Zuschreibungsprozesse sind immer auch Sinnbildungen, denn sie zielen als Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch immer auf gültige Orientierung. Sie vollziehen sich stets als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d. h. Deutungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll1. Sinn ist dem menschlichen Sein eingeprägt und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, Einsichten, Denkprozessen und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptionen, die inhaltlich eine zeitübergreifende Perspektive für zentrale Lebensfragen bieten, narrativ präsentiert werden können und in der Lage sind, normative Aussagen zu formulieren und kulturelle Prägungen zu entwickeln2. Die Sinn-Kategorie3 ist in besonderer Weise geeignet, die Welt des Neuen Testaments und die Gegenwart miteinander in Verbindung zu setzen. Die Wirklichkeit war und ist zu jeder Zeit durch ständige Sinnbildungsprozesse gekennzeichnet, wobei die religiöse Sinnbildung als ein zentrales Element kultureller Sinnbildung immer auch an parallelen Sinnbildungsprozessen (in der Politik, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wirtschafts- und Sozialstruktur) partizipiert. In der griechisch-römischen Antike wurden auf den Gebieten der Religion, Philosophie, Kunst, Politik und Naturwissenschaften ebenso Sinnbildungsleistungen erbracht wie in der Gegenwart. Das Leben ist immer eine Sinnverwirklichung, so dass es nicht um die Frage geht, ob Menschen Sinnbildungen vornehmen, sondern welche Ressourcen, Struktur, Qualität und argumentative Kraft sie aufweisen. Für eine ntl. Theologie ist der Sinnbegriff von großer Bedeutung, denn er vermag Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Gottes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen erfasst. Das Neue Testament als Basisurkunde des Christentums ist eine Sinnbildung mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte. Das frühe Christentum entfaltete sich in einem multi-kulturellen Umfeld mit zahlreichen attraktiven religiösen und
1 Zum geschichtstheoretischen Sinnbegriff vgl. J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, in; ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, (9–41) 11; zum vielschichtigen Sinnbegriff insgesamt vgl. E. LIST, Art. Sinn, HRWG 5, Stuttgart 2001, 62–71. 2 Vgl. J. RÜSEN/K.-J. HÖLKESKAMP, Einleitung: Warum es sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu interpretieren, in: Sinn (in) der Antike, hg. v. K.J. Hölkeskamp/J. Rüsen/E. Stein-Hölkeskamp/H. Th. Grütter, Mainz 2003, (1–15) 3: „Ein Sinnkonzept lässt sich folgendermaßen definieren: Es ist ein plausibler und verlässlich beglaubigter reflektierter Be-
deutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt und dient dazu, die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten.“ 3 Das Wort Sinn leitet sich von dem indogermanischen Stamm sent- ab: eine Richtung nehmen, einen Weg gehen; im geistigen Sinn verbinden sich damit lat.: sentio (fühlen, wahrnehmen), sensus („Gefühl, Gesinnung, Meinung“), sententia (Meinung); althochdeutsch: sin (Sinn), sinnan (trachten, begehren); vgl. dazu J. POKORNY, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch I, Bern/München 1959, 908.
Das Entstehen von Geschichte 17
philosophischen Konkurrenzsystemen4. Es gelang ihm, auf dem Fundament der im Neuen Testament vielfältig erzählten Jesus-Christus-Geschichte ein Sinngebäude zu entwerfen, zu bewohnen und ständig auszubauen, das menschliches Leben im Ganzen zu gründen, zu festigen und zu strukturieren vermochte. Dieses Sinngebäude verfügte offenbar über eine große Deutungskraft und es muss das Ziel einer Theologie des Neuen Testaments sein, die Grund-Elemente dieser Deutungskraft zu ermitteln und darzustellen. Die Sinn-Kategorie als hermeneutische Konstante verhindert dabei eine Verengung auf historistische Faktenfragen, denn es kommt darauf an, wie die ntl. Überlieferungen historisch angeeignet und theologisch erschlossen werden können, ohne ihren religiösen Gehalt und ihre sinnbildende Kraft zu zerstören. Auf die Wahrheitsfrage wird dabei nicht verzichtet, denn Wahrheit ist verbindlicher Sinn. Ziel ist nicht ein entkerntes christliches Haus, sondern die Erfassung seiner Architektur, der tragenden Decken und Wände, der Türen und Treppen, die Verbindungen schaffen und der Fenster, die Ausblicke ermöglichen. Zugleich eröffnet die Sinn-Kategorie der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften in einen kritischen Diskurs zu treten.
1.1
Das Entstehen von Geschichte
Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und das Neue Testament ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000 Jahren Abstand eine Theologie des Neuen Testaments geschrieben wird, zeigen sich unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie entsteht Geschichte/Historie5? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander6?
Vgl. dazu die Textsammlung bei M. HOSSENFELDER, Antike Glückslehren, Stuttgart 1996. 5 Zur Terminologie: Unter Geschichte/geschichtlich verstehe ich das Geschehene, unter Historie/historisch die Art und Weise, wie danach gefragt wird. Die Historik ist die Wissenschaftstheorie der Geschichte; vgl. dazu H.-W. HEDINGER, Art. Historik, HWP 3, Darmstadt 1974, 1132–1137. Es gibt Geschichte immer nur als Historie, zugleich muss aber zwischen beiden Begriffen unterschieden werden, weil die wissenschaftstheoretischen Fragestellungen 4
der Historie nicht einfach identisch sind mit dem, was Menschen in der Vergangenheit unter Geschehenem verstanden. 6 Vgl. dazu J. RÜSEN, Historische Vernunft, Göttingen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte, Göttingen 1989; H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, Reinbek 1995; CHR. CONRAD/M. KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994.
18 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Interesse und Erkenntnis
Das klassische Ideal des Historismus, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen7 ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat8. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist9. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt10. Die eigentliche Zeitstufe des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart11, in die er unentrinnbar verwoben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwärtig Vergangenen entscheidend prägen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt12. Jeder Mensch hat und pflegt Denkgläubigkeiten. Zudem sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungsprozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich notwendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das histori-
7 L. V. RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 2 1874, in: L. v. Ranke's Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“ 8 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130 f. 9 Vgl. U. SCHNELLE, Der historische Abstand und der heilige Geist, in: ders. (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin 1994, 87– 103. 10 Vgl. J. G. DROYSEN, Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 (= Nachdruck 1857/1882), 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“
11 Vgl. P. RICŒUR, Zeit und Erzählung III, München 1991, 225: „Die erste Art, das Vergangensein der Vergangenheit zu denken, besteht darin, ihr den Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen.“ Derartige Gedanken sind natürlich nicht neu; vgl. einen bei Claudius Aelianus, Variae Historiae 14, 6, überlieferten Ausspruch des Sokrates-Schülers Aristippos (425–355 v.Chr.): „Denn nur der gegenwärtige Augenblick gehöre uns, wie er sagte; weder das, was man vorab tut, noch das, was man erwartet. Das eine sei nämlich vergangen, von dem anderen sei ungewiß, ob es geschehen werde.“ 12 Vgl. J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (45–113) 45: „Repräsentationen von Ereignissen und Entwicklungen liefern keine mimetischen Abbilder einstiger Geschehnisse, sondern an Deutungs- und Verstehensleistungen gebundene Auffassungen eines Geschehens. Solche Auffassungen werden aus der Perspektive einer Gegenwart von bestimmten Personen gebildet, sind also von deren Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen und Interessen unmittelbar abhängig.“
Das Entstehen von Geschichte 19
sche Erkennen bestimmen. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine Reflexion über seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben13. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die eigene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verändert immer auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von Realität und die vergangene Realität verhalten sich nicht wie Original und Abdruck14. Deshalb sollte nicht von ‚Objektivität‘, sondern von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden15. Schließlich sind jene Nachrichten, die als historische ‚Fakten‘ in jede historische Argumentation einfließen, in der Regel auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Bereits mit Sinn Versehenes wird notwendigerweise einer weiteren Sinnbildung unterzogen, um so Geschichte zu bleiben. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ‚nachzuzeichnen‘ oder zu ‚rekonstruieren‘ suggeriert eine Kenntnis des Ursprünglichen, die es in der vorausgesetzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht einfach identisch mit Vergangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwärtige Stellungnahme, wie man Vergangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine ‚Fakten‘ im ‚objektiven‘ Sinn, sondern innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.“16 Das Vorgegebene
Zugleich gilt aber: Der Bezug auf das Geschehene wird damit keinesfalls aufgegeben, sondern die Bedingungen seiner Realisierung werden reflektiert. Konstruktion meint nicht etwas Willkürliches oder aus sich selbst Begründbares, sondern ist an Methoden und Realitätsvorgaben gebunden. Die Sachgehalte von Quellen müssen in einen 13 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte,
130–146. 14 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, Stuttgart 2001, 29. 15 Vgl. dazu J. KOCKA, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: W. J. Mommsen/J. Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.
16 J. G. DROYSEN, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“
20 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden und innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses diskutier- und rezipierbar bleiben17. Alle menschlichen Aussagen sind immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und Zeitvorstellungen18, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind. Jeder Mensch ist genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-konstruiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf etwas Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es begründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklichkeit“19, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grundsätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse. Sprache und Wirklichkeit
Zu diesen erkenntnistheoretischen Einsichten kommen sprachphilosophische Überlegungen. Geschichte ist immer sprachlich gestaltete Vermittlung; Geschichte existiert 17 Mit diesen Überlegungen wird trotz des unaus-
weichlich konstruktiven Charakters der Geschichtsbildung die häufig zu beobachtende Selbstermächtigung der historischen Forschung gegenüber den zu erforschenden Gegenständen zurückgewiesen. Zur Kritik an postmodernen, radikal konstruktivistischen Beliebigkeitstheorien vgl. J. RÜSEN, Narrativität und Objektivität, in: ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln/Weimar 2002, 99–124; DERS., Kann gestern besser werden?, Berlin 2003, 11f: „Wenn die Geschichte in der bewegten Zeit unserer Gegenwart ständig zur Disposition steht, so werden wir, die Deutenden, von ihr also immer schon disponiert. Wir, die wir sie ‚konstruieren‘, sind als diese Konstrukteure vorab immer schon von ihr konstruiert worden“; G. DUX, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Weilerswist 2000, 160: „Der blinde Fleck im logischen Absolutismus, wie wir ihn im postmodernen Verständnis der Konstruktivität und der ihm affinen Systemtheorie kennengelernt haben, besteht darin, die Konstruktivität nicht ihrerseits einem systemischen Bedingungszusammenhang unterworfen zu haben.“ 18 Diesen Aspekt beton L. Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, 44: „Gäbe es nicht die relative Stabilität des
kategorialen Apparats temporaler Grundmuster, so ließen sich verschiedene Geschichtsbilder historisch überhaupt nicht miteinander in Beziehung setzen. Erst die relative Konstanz temporaler Kategorien ermöglicht den historischen Abgleich inhaltlich differenter Geschichtsbilder.“ 19 Vgl. J. RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. J. Schröter/A. Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31: „Was macht Sinn wirksam? Schon die Einprägung der Wirklichkeit in das historische Denken hinein ist ein Sinngeschehen, ein Geschehen, in dem historischer Sinn generiert wird. Ohne diese seine unvordenkliche Wirklichkeit könnte er das historische Denken nicht so in den mentalen Operationen des Geschichtsbewusstseins bestimmen, wie es zur Erfüllung seiner kulturellen Orientierungsfunktion notwendig ist. . . . Die Unvordenklichkeit dieses Sinnes als Element lebensweltlicher Wirklichkeit des menschlichen Leidens und Handelns – das schließt säkulares und religiöses Denken vorgängig zusammen. Die Religion gibt dieser Unvordenklichkeit eine eigene Sinnqualität. Ihr gegenüber hält sich das säkulare historische Denken zurück, aber letztlich schöpft es aus ähnlichen Sinnquellen.“
Das Entstehen von Geschichte 21
nur, insofern sie zur Sprache gebracht wird. Historische Nachrichten werden erst durch die semantisch organisierte Konstruktion des Historikers/Exegeten zu Geschichte. Dabei fungiert die Sprache nicht nur zur Bezeichnung des Gedachten und dadurch zur Wirklichkeit Erhobenen, sondern die Sprache bestimmt und prägt jene Wahrnehmungen, die zu Geschichte organisiert werden. Es gibt für Menschen keinen Weg von der Sprache zu einer unabhängigen außersprachlichen Wirklichkeit, denn Wirklichkeit ist für uns nur in und durch Sprache präsent. Geschichte ist somit nur als sprachlich vermittelte und gestaltete Erinnerung zugänglich. Sprache wiederum ist kulturell bedingt und unterliegt einem ständigen gesellschaftlichen Wandel, so dass es nicht verwundert, wenn historische Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kultur- und Wertekreisen abweichend konstruiert und bewertet werden. Die Sprache ist weitaus mehr als bloße Abbildung der Wirklichkeit, denn sie reguliert und prägt den Zugang zur Wirklichkeit und damit auch unser Bild von ihr. Zugleich ist Sprache aber auch nicht die Wirklichkeit, denn sie bildet sich wie im Verlauf der Menschheitsgeschichte insgesamt bei jedem Menschen im Rahmen seiner biologischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung erst heraus und wird von diesem Prozess entscheidend und jeweils unterschiedlich beeinflusst. Die ständige Veränderung der Sprache ist ohne die sie bedingenden verschiedenen sozialen Kontexte nicht erklärbar20, d. h. der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem muss beibehalten werden, wenn man die Realität nicht aufgeben will. Fakten und Fiktion
Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten21. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer Erzählzusammenhänge werden die Fakten das, was sie für uns sind22. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘23, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. In-
20 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 50 f. 21 Vgl. E. CASSIRER, Versuch über den Menschen,
Hamburg 1996, 291: „Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“ 22 Vgl. CHR. LORENZ, Konstruktion der Vergangenheit, 17 ff. 23 ‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit,
sondern ist in einem funktional-kommunikativen Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung. Vgl. W. ISER, Der Akt des Lesens, München 31990, 88: „Wenn Fiktion nicht Wirklichkeit ist, so weniger deshalb, weil ihr die notwendigen Realitätsprädikate fehlen, sondern eher deshalb, weil sie Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein
22 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
dem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen24. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte25. Es gibt nur potentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpotential eines Geschehens zu erfassen26. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten27. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die figurative Ebene ist für die historische Arbeit unerlässlich, denn sie entfaltet den präfigurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwärtige Auffassung von der Vergangenheit bestimmt. Damit ist der 2. Teil der Überlegungen erreicht: Der notwendig und unausweichlich konstruktive Charakter von Geschichte ist immer Teil einer Sinnbildung.
1.2
Geschichte als Sinnbildung
Menschliches Sein und Handeln zeichnet sich durch Sinn aus28. Es lässt sich keine menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf Sinn zu rekurrieren. Es macht Sinn, Sinn als Grundform menschlichen Daseins zu verstehen.“29 Schon die kulturanthrokann. Versteht man Fiktion als Kommunikationsstruktur, dann muß im Zuge ihrer Betrachtung die alte an sie gerichtete Frage durch eine andere ersetzt werden: Nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklichkeit erfüllt.“ 24 Cicero, Orator 2, 54 (der Historiker Antipater wird lobend herausgestellt, „die anderen erwiesen sich als Leute, die Geschichte nicht wirkungsvoll gestalten, sondern nur erzählen konnten“); Lk 1, 1–4; Plutarch, Alexander 1, 1(oute ga`r ıstorı´aß gra´fomen alla` bı´ouß = „denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“) zeigen deutlich, dass auch antike Autoren ein klares Bewusstsein von diesen Zusammenhängen hatten (vgl. ferner Thucydides, Historiae I 22, 1; Lukian, Historia 51; Quintilian, Institutio Oratoria VIII 3, 70). 25 Vgl. die problem- und forschungsgeschichtlich orientierten Überlegungen bei H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, 16ff; ferner M. MOXTER, Erzählung und Ereignis, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, (67–88)
80: „Schon aufgrund ihrer zeitlichen Distanz ist die Erzählung gegenüber dem Ereignis überschüssig.“ 26 Dieser konstruktive Zug des Erkennens trifft auch für die Naturwissenschaften zu. Konstruktivität und Kontextualität bestimmen die Fabrikation von Erkenntnis, die Naturwissenschaften sind immer eine interpretierte Rationalität, die zunehmend in den Sog externer politischer und ökonomischer Interessen gerät; vgl. dazu K. KNORR-CETINA, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt 1991. 27 Vgl. H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 87: „Nicht die reine Faktizität konstituiert also eine ‚historische Tatsache‘, sondern ihre Bedeutsamkeit, die sich erst nach und nach einstellt und die einem Ereignis, das sonst ohne viel Aufhebens in der Vergangenheit versunken wäre, eine besondere Qualität verleiht. Nicht zu seiner Zeit, sondern erst nach seiner Zeit wird aus einer bloßen Tatsache eine historische Tatsache.“ 28 Vgl. dazu grundlegend A. SCHÜTZ, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Tübingen 1974. 29 G. DUX, Wie der Sinn in die Welt kam und was aus ihm wurde, in: K. E. Müller/J. Rüsen (Hg.), His-
Geschichte als Sinnbildung 23
pologische Unabweisbarkeit von Transzendenzvollzügen des Menschen mit sich selbst und seiner soziokulturellen Lebenswelt hat notwendigerweise Sinnbildungen zur Folge30. Sinnbildung ist nicht etwas Eigenmächtiges, sondern unausweichlich, notwendig und natürlich. Zudem wird der Mensch immer schon in Sinnwelten hineingeboren31, Sinn ist unabwendbar, die menschliche Lebenswelt muss sinnhaft gedacht und erschlossen werden, denn nur so ist Leben und Handeln in ihr möglich32. Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Christentum und die in ihm entwickelten Theologien. Konkret vollzieht sich dieser Erschließungsvorgang als historische Sinnbildung. Historischer Sinn konstituiert sich aus den „drei Komponenten Erfahrung, Deutung und Orientierung.“33 Aus der Faktizität eines Ereignisses lässt sich noch nicht seine Sinnhaftigkeit ableiten; es bedarf der eigenen Erfahrung, dass ein Ereignis Sinnpotential enthält. Sinn und Identität
Sinnbildung ist immer mit Identitätsangeboten verbunden34; Sinnbildung gelingt nur, wenn sie überzeugende Identitätsangebote macht. Menschen gewinnen Identität vor allem dadurch, dass sie ihrem Leben eine dauerhafte Orientierung geben, die die vielfältigen aktuellen Wünsche und Absichten in einen stabilen, kohärenten und intersubjektiv vertretbaren Zusammenhang bringt. Identität wird in einem ständigen Prozess, im steten Wechselspiel zwischen positiver Bestimmung des Selbst und Differenzerfahrungen gebildet35. Identitäten entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern vorhandene Identitäten werden aufgenommen, transformiert und einem Neuen zugeführt, das als Identitätssteigerung empfunden wird. Deshalb kann Identität nie statisch aufgefasst werden, sie ist Teil eines ständigen Umbildungsprozesses; „als Einheit und Selbigkeit des Subjekts“ ist Identität „nur als Synthesis und Relationierung des Differenten und Heterogenen denkbar.“36 Die Unterschiedenheit zur torische Sinnbildung, Reinbek 1997, (195–217) 195. 30 Vgl. dazu A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, Frankfurt 31994, 139–200. Sie gehen von der unbestreitbaren Alltagserfahrung aus, dass die Welt jede individuelle Existenz notwendigerweise immer überschreitet und deshalb die Existenz ihrerseits ohne Transzendenzen nicht lebbar ist: Wir leben in einer Welt, die vor uns war und nach uns sein wird. Die Wirklichkeit entzieht sich zum allergrößten Teil unserem Zugriff und das Dasein des Anderen mit seiner bleibenden Fremdheit ruft die Frage nach unserem Selbst hervor. 31 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – Transzendenz, in: H.-J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz, Frankfurt 1996, (112–127) 114: „Sinntraditionen transzendieren die Nur-Natürlichkeit des Neugeborenen.“
32 Vgl. J. RÜSEN, Was heißt: Sinn der Geschichte, in:
K. E. Müller/J. Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung, Reinbek 1997, (17–47) 38. 33 Vgl. a. a. O., 36. 34 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991, 93, wonach die Weltansicht als Sinnmatrix den Rahmen bildet, in dem menschliche Organismen Identität ausbilden und dabei ihre biologische Natur transzendieren. 35 Zum Begriff der Identität vgl. B. ESTEL, Art. Identität, HRWG III, Stuttgart 1993, 193–210; J. STRAUB (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, Frankfurt 1998; A. ASSMANN/H. FRIESE (Hg.), Identitäten, Frankfurt 21999. 36 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (15–44) 39 f.
24 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Umwelt, die Erfahrungen an eigene und fremdgesetzte Grenzen zu stoßen, sowie die positive Selbstwahrnehmung bestimmen gleichermaßen die Identitätsbildungsprozesse. Auch kollektive Identitäten bilden sich aus der Bearbeitung von Differenzerfahrungen und Gemeinsamkeitsgefühl. Dabei spielen Symbole eine entscheidende Rolle, denn erst mit ihrer Hilfe können kollektive Identitäten hergestellt und erhalten werden. Sinnwelten müssen sich im profanen Wirklichkeitsbereich artikulieren können und ihre Inhalte kommunizierbar halten. Dies vollzieht sich zu einem erheblichen Teil durch Symbole, deren lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke „von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen“37 zu schlagen. Speziell bei der Bearbeitung der ‚großen Transzendenzen‘38 wie Krankheiten, Krisen und Tod kommt Symbolen eine grundlegende Funktion zu, denn sie gehören einer anderen Wirklichkeitsebene als ihre Träger an und können die Verbindung mit dieser Ebene leisten. Symbole sind eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung. Identitätsbildung ist somit immer eingebunden in einen komplexen Prozess der Interaktion zwischen dem einzelnen und/oder kollektiven Subjekt, seiner Differenz- und Grenzerfahrungen, seinen positiven Selbstzuschreibungen, seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die jeweiligen Bestimmungen von Identitäten vollziehen sich notwendigerweise durch Sinnwelten, die als soziale Konstruktionen Deutungsmuster bereitstellen, um die Wirklichkeit sinnhaft zu erfahren39. Sinnwelten sind zu Zeichen objektivierte und damit kommunizierbare Vorstellungen von Wirklichkeit. Sinnwelten legitimieren soziale Strukturen, Institutionen, Rollen u. a.m., d. h. sie erklären und begründen Sachverhalte40. Zudem integrieren Sinnwelten jene Rollen zu einem sinnvollen Ganzen, in denen Einzelpersonen oder Gruppen agieren. Sie stiften synchrone Kohärenz und stellen zugleich eine diachrone Verortung, indem sie den einzelnen und/ oder die Gruppe in einen übergreifenden Geschichts- und damit Sinnzusammenhang einordnen. Religion bildet die symbolische Sinnwelt schlechthin41, denn weitaus mehr als das Recht, philosophische Entwürfe oder politische Ideologien erhebt sie den Anspruch, die eine Wirklichkeit zu repräsentieren, die alle anderen Wirklichkeiten übersteigt: Gott bzw. das Heilige. Als umfassende, dem Menschen jeweils vorgegebene Wirklichkeit vermag die Religion eine Sinnwelt zu bieten, die vor allem mit Hilfe von Symbolen den einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos einordnet, die Phänomene des Lebens deutet, Handlungsanweisungen bietet und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnet42. Wenn sich Geschichte als 37 A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, 195. 38 Vgl. dazu a. a. O., 161–177. 39 Zum Begriff der Sinnwelten vgl. P. L. BERGER/TH. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 172000, 98 ff. 40 Vgl. a. a. O., 66.
41 Vgl. TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 108. 42 Vgl. P. L. BERGER, Zur Dialektik von Religion und
Gesellschaft, Frankfurt 1988, 32: „Sie (sc. die Religion) gibt den zerbrechlichen Wirklichkeiten der sozialen Welt das Fundament eines heiligen realissimum, welches per definitionem jenseits der Zufälligkeiten menschlichen Sinnens und Trachtens liegt.“
Verstehen durch Erzählen 25
Sinn- und Identitätsbildung etabliert, stellt sich die Frage nach dem Modus dieses Vorganges.
1.3
Verstehen durch Erzählen
Ein historisches Ereignis ist an sich noch nicht sinnträchtig und identitätsbildend, sondern sein Sinnpotential muss erst erschlossen und aufrechterhalten werden. Es bedarf der Überführung ungeregelter Kontingenz in „eine geregelte, bedeutsame, intelligible Kontingenz.“43 Dies leistet die Erzählung als grundlegende narrative Sinnbildungsleistung44, denn sie baut jene Sinnstruktur auf, die eine Bewältigung historischer Kontingenz ermöglicht45. Sie ist die Form, in der sich das Innerste artikulieren kann und zugleich das Äußere eine Gestalt findet. Die Erzählung konstituiert Zeit und verleiht dem Einmaligen Dauer, wodurch Rezeption und Traditionsbildung überhaupt erst ermöglicht werden. Die Erzählung relationiert in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht, „sie plausibilisiert ex post facto, was mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit so kommen mußte.“46 Eine Erzählung stiftet Einsicht, indem sie neue Zusammenhänge schafft und den Sinn des Geschehens hervortreten lässt. Die Verarbeitung religiöser Erfahrungen vollzieht sich in zweifacher Weise, nämlich in/durch Erzählungen und Rituale(n)47. Religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen lösen Sinnbildungsprozesse aus, die in Erzählungen und Rituale48 und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein. Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, die ungeregelte Kontingenz von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen. 43 P. RICŒUR, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1985, 14. 44 Vorausgesetzt wird ein weiter Erzählbegriff, der nicht auf bestimmte literarische Gattungen fixiert ist. Ausgehend von der grundlegenden Einsicht, dass Erfahrung von Zeit narrativ bearbeitet werden muss, liegt es nahe, „die Erzählung als eine bedeutungsoder sinnhafte bzw. Bedeutung oder Sinn stiftende Sprachform aufzufassen. Dies soll heißen: Schon die narrative Form menschlicher Selbst- und Weltthematisierungen verleiht Widerfahrnissen und Handlungen Sinn und Bedeutung – unabhängig vom jeweiligen Inhalt der erzählerischen Präsentation“ (J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit [s. o. 1.1] 51f); zu einem weiten Erzählbegriff vgl. auch R. BARTHES, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt 1988, 102 ff.
45 Vgl. J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz (s. o. 1.2), 26f; D. FULDA, Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, in: F. Jaeger/B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften I, Stuttgart 2004, 251–265. 46 J. STRAUB, Temporale Orientierung und narrative Kompetenz (s. o. 1.2), 30. 47 Vgl. TH. LUCKMANN, Religion-Gesellschaft-Transzendenz (s. o. 1.2), 120. 48 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar 1999, 15: „Als Handlungen, die auf Wiederholung angelegt sind, konstituieren Riten Dauer, indem sie das Identische im Wandel hervorheben. Sie tilgen Zeit nicht, sondern konstituieren sie, indem sie Kontinuitäten schaffen.“
26 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Funktionen der Erzählung
Die erste und grundlegende Funktion der Erzählung besteht darin, durch Temporalisierung Wirklichkeit zu konstituieren49. Erzählungen geben der Wirklichkeit eine besondere qualifizierte Ordnung, indem sie die Kommunikation dieser Wirklichkeiten überhaupt erst möglich machen50. Eine weitere Funktion von Erzählungen besteht in der Wissensbildung und Wissensvermittlung. Erzählungen berichten, beschreiben und erklären Geschehnisse, vermehren das Wissen und bilden ein Weltbild, an dem sich Menschen orientieren können. Durch Relationierung setzen Erzählungen in Beziehung und stellen kausale Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen51. Oppositionen werden aufgebrochen und Beziehungen neu bestimmt, so zwischen dem Absoluten und dem Endlichen, dem Zeitlichen und Ewigen, dem Leben und dem Tod. Ein besonderes Leistungsmerkmal von Erzählungen ist die Bildung, Präsentation und Stabilisierung von Identität. Erzählungen stiften und verbürgen einen Sinnzusammenhang, der durch Identifikationen zur Identitätsbildung führt. Durch Erzählungen werden Erinnerungen hervorgerufen und transportiert, ohne die es keine dauerhafte Identität geben kann. Insbesondere in Erzählungen bearbeitete kollektive Erfahrungen rufen bei den Subjekten Identifikation hervor, die in Handlungs- und Lebensorientierungen übergehen. Die Orientierungsbildung gehört zu den grundlegenden praktischen Funktionen von Erzählungen. Durch Erzählungen werden Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder verschlossen, sie strukturieren den Handlungsraum von Menschen. Erzählungen haben deshalb auch immer eine normative Dimension, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen. Die Vermittlung von Werten und Normen, das Angebot oder die Revision von Standpunkten gehören zu den weiteren Funktionen von Erzählungen. Indem Erfahrungen und Erwartungen, Werte und Orientierungen durch Erzählungen vermittelt werden, bildet sich ein ethisches und pädagogisches Bewusstsein heraus. Wenn die Angebote von Erzählungen aufgegriffen und geteilt werden, schaffen sie die Basis für übereinstimmende Urteile und eine gemeinsame Welt, die durch soziales Handeln hergestellt wird. Erzählungen erfüllen soziokulturelle Verbindungsfunktionen und legen die Basis für ein gemeinsames Handeln in der Gegenwart und eine vergleichbare Zukunftsperspektive. Zugleich liefern Erzählungen die Basis für Traditionsbildungen, deren Teil sie selbst sind, indem sie Kontinuität herstellen und sicherstellen, dass Informationen, Deutungsleistungen, Verhaltensformen und Werte durch die Zeit hindurch weitergegeben werden. 49 Vgl. A. ASSMANN, Zeit und Tradition, 4: „Durch Zeitkonstruktionen werden Sinnhorizonte entworfen“. 50 Vgl. J. STRAUB, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie einer historischer Sinnbildung, in: J. Straub (Hg.), Er-
zählung, Identität und historisches Bewußtsein, Frankfurt 1998, (81–169) 124 ff. 51 Vgl. dazu K. J. GERGEN, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein, in: J. Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, a. a. O., 170–202.
Verstehen durch Erzählen 27
Erzählung und Erzählungen im frühen Christentum
Der grundsätzlich konstruktive Charakter historischer Sinnbildung ist bei den ntl. Autoren offenkundig: Sie errichten Sinnwelten, die vor allem mit Hilfe von Erzähleinheiten, Schlüsselbegriffen und Symbolen den einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos einordnen, die Phänomene des Lebens deuten, Handlungsanweisungen bieten und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnen. Erzählen bezieht sich immer auf Erinnerungen, um so Zeiterfahrungen zu deuten. Die Erinnerung ist der maßgebliche Bezug auf die Erfahrung von Zeit. Die Jesus-Christus-Erzählungen der ntl. Schriften sind selbst Ausdruck eines Erinnerungsprozesses und sie bilden ein Geschichtsbewusstsein, indem sie die Sinnhaftigkeit des Handelns Gottes mit Jesus von Nazareth für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft proklamieren. Durch Erzählen wird bei allen Autoren ein innerer Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektiven hergestellt, so dass in der Rezeption das Geschehen bewahrt werden kann. Ereignisse werden präsentiert und geformt und so zu narrativen Sinnbildungsleistungen. Die Konstruktion von Zeit- und Sachzusammenhängen ist unabdingbar an narrative Akte gebunden. All diese Funktionen der Erzählung machen deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen nicht trägt. Weil das erinnernde Erzählen immer auf das Verstehen und Handeln der Menschen in der Gegenwart orientiert ist, fließen notwendigerweise in jeder Erzählung fiktionale und nicht-fiktionale Elemente zusammen. Die Alternative ‚historischer Jesus‘ – ‚Christus des Glaubens‘ verbietet sich daher schon erzähltheoretisch, denn einen Zugang zu Jesus von Nazareth kann es nicht jenseits seiner Bedeutung für die Gegenwart geben. Erst die Erzählung eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen, wie sie in allen ntl. Schriften vorliegen. Dies gilt sowohl für die mündliche als auch schriftliche Erzählung, die innerhalb des frühen Christentums nicht als Gegensätze aufgefasst werden dürfen, sondern über längere Zeit nebeneinander bestanden und sich gegenseitig befruchteten. Zugleich setzte die mit Paulus nachweislich beginnende und mit den Evangelien sich weiter profilierende Schriftlichkeit der Erzählung neue Akzente. Das Medium der Schrift entlastet von der (emotionalen) Unmittelbarkeit der Kommunikation und schafft somit eine Distanz zwischen den Inhalten von Geschichte und der Kommunikation von und durch Geschichte. Diese Distanz ermöglicht Denk-, Interpretations- und Transformationsleistungen, erlaubt Verfremdungseffekte, die alle für das Beschreiben, Erfassen, Transportieren und Rezeptieren von Ereignissen unentbehrlich sind. Die Schriftlichkeit entlastet das Gedächtnis, sie fixiert Ereignisse und entflechtet sie aus unmittelbaren Handlungsvorgängen, wodurch der nötige Freiraum für Objektivierungsleistungen und Interpretationen entsteht. Indem die Erzähler zu Autoren werden und die Leser/Hörer die Möglichkeit kritischer Rezeption erhalten, eröffnet sich die Möglichkeit, durch Erklärungsarrangements, begriffliche Fixierungen und moralische Appelle normative Deutungen zu etablieren.
28 Der Zugang: Theologie des Neuen Testaments als Sinnbildung
Nachzeitigkeit als Prae
Wir besitzen keine Aufzeichnungen von Jesus oder von unmittelbaren Zeugen seines Auftretens, sondern nur Zeugnisse etwas späterer Zeit52. Dies ist keineswegs ein Mangel, denn die Nachzeitigkeit53 des Erinnerns bedeutet keinen Erkenntnisverlust, weil die Bedeutung eines Geschehens sich grundsätzlich erst im Rückblick vollkommen erschließt. Das Vergangene existiert immer nur als gegenwärtige Aneignung und wird im Kontext gegenwärtiger Identität immer wieder wahrgenommen und erschlossen. Nur innerhalb eines solchen anhaltenden Prozesses gibt es überhaupt Erkennen des relevant Vergangenen und nur so wird Vergangenes kommunizierbar und erschließt sich in seiner Bedeutung. Die Distanz der Nachzeitigkeit schafft den Raum für neue Denk- und Transformationsleistungen, um die Metaphorik herauszubilden, die den Gehalt eines Ereignisses trägt und Verstehen ermöglicht. Dabei wird sich zeigen, wie kreativ und vielfältig, treffend und bleibend die nachträglichen Erzählungen der Jesus-Christus-Geschichte im Neuen Testament sind. Fazit
Was bedeuten diese grundlegenden Überlegungen zum Entstehen von Geschichte, zum historischen Erkennen als Sinnbildungsleistung und zur Erzählung als primäre Erfassungs-, Darstellungs- und Kommunikationsform geschichtlicher Ereignisse für eine Theologie des Neuen Testaments? 1) Die Theologie insgesamt und damit auch die Theologie des Neuen Testaments befindet sich keineswegs in einem erkenntnistheoretischen Minus, sondern alles Erkennen ist perspektivische und standortgebundene Konstruktion. Jede Wissenschaft hat ihren eigenen Gegenstand; bei der Theologie insgesamt ist es Gott als tragender und letzter Grund allen Seins, bei der Theologie des Neuen Testaments sind es die Zeugnisse des Neuen Testaments über das Handeln dieses Gottes in Jesus Christus. 2) Die Theologie des Neuen Testaments hat wie alle anderen Wissenschaften teil an der vorgängigen Sinnhaftigkeit allen Seins, die wissenschaftliches Fragen und Erkennen als Sinnbildungsleistungen überhaupt erst ermöglicht. 3) Die Sinn-Kategorie ist in besonderer Weise geeignet, die Arbeit der ntl. Autoren zu erfassen, zu interpretieren und in ihrer gegenwärtigen Bedeutsamkeit darzustellen. 4) Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar; sie wurden von den ntl. Autoren in unterschiedlicher Weise erbracht, in-
52 Jesus von Nazareth befindet sich dabei in guter Gesellschaft, denn auch von Sokrates gibt es keine schriftlichen Überlieferungen; für Dio Chrysostomus, Or 55, 8f, ist dies kein Mangel, sondern Ausweis der überragenden Persönlichkeit des Sokrates.
53 E. REINMUTH, Neutestamentliche Historik, ThLZ.F
8, Leipzig 2003, 47–55, gebraucht den Begriff ‚Nachträglichkeit‘.
Verstehen durch Erzählen 29
dem sie die Jesus-Christus-Geschichte aus ihrer je eigenen Perspektive und in ihrer je eigenen Art für ihre Gemeinde erzählten. 5) Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments ist es, diese Sinnbildungsleistungen zu erfassen und in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen, um so eine sachgemäße Rezeption in der Gegenwart zu ermöglichen.
2
Der Aufbau: Geschichte und Sinn
G. STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975 (wichtige Aufsatzsammlung); L. GOPPELT, Theologie, 52–62; W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I, 21–53; H. HÜBNER, Biblische Theologie I, 13–36; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 1–39; U. WILCKENS, Theologie I, 1–66; F. HAHN, Theologie I, 1–28; C. BREYTENBACH/J. FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007.
Mit der Bestimmung der Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments verbindet sich die Frage nach ihrer Durchführung: Welcher Ausgangspunkt wird gewählt? Wie verhalten sich die theologische und die religionswissenschaftliche Sicht zueinander? Ist eine Beschränkung auf den Kanon möglich und sinnvoll? In welcher Weise wird die Frage nach Vielfalt und Einheit ntl. Theologie aufgenommen? Diese notwendigen Fragen zur internen Struktur einer Theologie des Neuen Testaments werden im Folgenden behandelt und münden in einen eigenen Ansatz: Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung.
2.1
Das Phänomen des Anfangs
Der Zugang zu einem Thema ist immer eine heuristische Setzung; jedem Anfang wohnt die Verheißung inne, den Weg zu definieren, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Dies gilt für die ntl. Schriften ebenso wie für Theologien des Neuen Testaments. Das Modell der Diskontinuität
Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine Theologie mit einem Programmsatz: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“1 Bultmann zieht damit die Konsequenz aus der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh., deren widersprüchliche Ergebnisse bereits von Martin Kähler (1835–1912) mit der Unterscheidung zwischen dem ‚soge1
R. BULTMANN, Theologie, 1 f.
Das Phänomen des Anfangs 31
nannten historischen Jesus und dem geschichtlichen, biblischen Christus‘ überwunden werden sollten. Kähler unterscheidet einerseits zwischen ‚Jesus‘ und ‚Christus‘, andererseits zwischen ‚historisch‘ und ‚geschichtlich‘. Unter ‚Jesus‘ versteht er den Mann aus Nazareth, unter ‚Christus‘ den von der Kirche verkündigten Heiland. Mit ‚historisch‘ bezeichnet er die reinen Fakten der Vergangenheit, mit ‚geschichtlich‘ das, was bleibende Bedeutung besitzt. Seine Grundthese lautet: Jesus Christus ist für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern; nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Kähler hält es historisch nicht für möglich und dogmatisch für verfehlt, den historischen Jesus zum Ausgangspunkt des Glaubens zu machen. „Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren Feststellungen über ein angebliches zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird.“2 Bultmann konnte diese gleichermaßen exegetische, dogmatische und erkenntnistheoretische Position bestens mit dem historischen Skeptizismus der von ihm selbst wesentlich bestimmten formgeschichtlichen Forschung kombinieren. Wir haben keine Aufzeichnungen von Jesu Hand, vielmehr kennen wir ihn nur aus den Evangelien, die nicht Biographien, sondern Glaubenszeugnisse sind. Sie enthalten viel sekundäres, umgeformtes Gut, das zu einem erheblichen Teil erst nachösterlich in den Gemeinden entstanden ist. Es gilt radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewande kennen; es ist nicht möglich, wirklich hinter das nachösterliche Kerygma zurückzukommen. „Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.“3 Die Verkündigung Jesu ist somit eine der Voraussetzungen ntl. Theologie neben anderen. Weitere Faktoren können genauso wichtig sein, etwa die Ostererlebnisse der Jünger, der Messiasglaube des Judentums und die Mythen der heidnischen Umwelt. Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung, dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden
2 M. KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, München 3 1961 (= 1892), 49. 4 3 R. BULTMANN, Jesus, Hamburg 1970 (= 1926), 10. Es mag verwundern, dass Bultmann dennoch ein Jesus-Buch schreiben konnte. Sein Ausgangspunkt war: Was über den historischen Jesus ermittelt werden kann, ist für den Glauben nicht von Bedeutung, denn dieser Jesus von Nazareth war ein jüdischer
Prophet. Ein Prophet, der mit seinen Forderungen und Anschauungen im Rahmen des Judentums steht. Deshalb gehört die Geschichte Jesu für Bultmann in die Geschichte des Judentums, nicht des Christentums; vgl. R. BULTMANN, Das Urchristentum, München 41976 (= 1949), wo die Verkündigung Jesu unter der Rubrik ‚Das Judentum‘ verhandelt wird.
32 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachösterlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen4. Das Modell der Kontinuität
Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben, dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachösterliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüberlieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück. Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern (1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben . . . und begraben“) die Deutung eines historischen Geschehens. 2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s. o. 1.3). Auch R. Bultmann konnte eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekommenseins5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine Rezeption unmöglich6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unanschaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls konstatiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären. 3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative ‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden sollte. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und
4 Dem Ansatz Bultmanns fühlen sich in besonderer Weise verpflichtet H. CONZELMANN, Theologie, 1–8; G. STRECKER, Theologie, 1–9. 5 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 419, in Bezug auf das Johannesevangelium: „Johannes stellt also in seinem Evangelium nur das Daß der Offenbarung dar, ohne ihr Was zu veranschaulichen.“ Faktisch vertritt Bultmann damit eine Substitutionstheorie; vgl. DERS., Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exe-
getica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, (445–469) 468: „Wenn es nun so ist, daß das Kerygma Jesus als den Christus, als das eschatologische Ereignis verkündigt, wenn es beansprucht, daß in ihm Christus präsent ist, so hat es sich an die Stelle des historischen Jesus gesetzt; es vertritt ihn.“ 6 Vgl. H. BLUMENBERG, Matthäuspassion, Frankfurt 4 1993, 221, der in Bezug auf das Kerygma formuliert: „Die Reduktion auf dessen harten unartikulierten Kern zerstört die Möglichkeit seiner Rezeption.“
Das Phänomen des Anfangs 33
Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzigartige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Ausgangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingungen fortsetzten7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma hat es nie gegeben!8 Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J. Jeremias, L. Goppelt, W. Thüsing, P. Stuhlmacher, U. Wilckens und F. Hahn verpflichtet. Jeremias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt; Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie erblickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditionsund Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus; Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theologie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kontinuität des Handelns Gottes (s. u. 2.3).
Ostern markiert weder den Anfang noch eine völlig neue Qualität von Sinnbildungen innerhalb der mit Jesus von Nazareth einsetzenden neuen Geschichte Gottes, denn Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen die Basis aller Aussagen (s. u. 4)9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor7 Diese sinnbildende Dynamik des Anfangs spricht gegen die These von J. SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 155, ein Entwurf des Wirkens Jesu könne nicht die Grundlage für eine ntl. Theologie bilden, da Jesus innerhalb einer Theologie des Neuen Testaments nur aus der Perspektive der Glaubenszeugnisse von Bedeutung ist, jedoch nicht unabhängig davon. 8 Die These eines solchen Bruches ist das eigentliche Fundament der Thesen BULTMANNS; vgl. DERS., Theologie, 33: „Daß das Leben Jesu ein unmessianisches war, ist bald nicht mehr verständlich gewesen – wenigstens in den Kreisen des hellenistischen Christentums, in denen die Synopt. ihre Gestaltung
gefunden haben.“ Der maßgebliche Vertreter eines unmesssianischen Lebens Jesu an der Wende vom 19. zum 20. Jh. war W. WREDE (vgl. DERS., Das Messiasgeheimnis [s. u. 8.2, 227 u. ö.]), der allerdings später seine Meinung zumindest partiell revidierte. In einem Brief an Adolf v. Harnack aus dem Jahr 1905 heisst es: „Ich bin geneigter als früher zu glauben, daß Jesus selbst sich zum Messias ausersehen betrachtet hat“ (Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, hg. v. H. Rollmann/W. Zager, ZNThG 8 (2001), (274–322) 317. 9 Treffend F. HAHN, Theologie I, 20: „Ausgangspunkt bei der Frage nach der Zusammengehörigkeit der vorösterlichen Tradition und des nachösterlichen Kerygmas muß sein, daß mit Jesu Wirken die Gottesherrschaft bereits anbricht. Daher geht es
34 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sachanforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Testaments und sind zugleich ihr Kontinuum.
2.2
Theologie und Religionswissenschaft
W. WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2.1), 81–154; J. SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16 (1999), 3–20; H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 189, Stuttgart 2000; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s. o. 1), 17–44; I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A. FELDTKELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.
William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Aufgabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn leiten.“10 Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Konstruktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“11 In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusstseins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung12. H. Räisänen knüpft ausdrücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte des Christentums“13 liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Arbeit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, sowohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen (Judentum, Stoizismus, Kulte der hellenistischen Welt, Mysterienreligionen). Bewusst soll nicht aus einer kirchlichen Innen-, sondern allein aus einer wissenschaftlischon in vorösterlicher Zeit um die Gegenwart des Heils und dessen endgültige Zukunft.“ 10 W. WREDE, Aufgabe und Methode, 84. 11 W. WREDE, a. a. O., 153 f.
12 Vgl. dazu die Besprechung der Arbeiten von Räisänen und Theißen bei A. LINDEMANN, Zur Religion des Urchristentums, ThR 67 (2002), 238–261. 13 H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie?, 75.
Theologie und Religionswissenschaft 35
chen Außenperspektive an das Frühchristentum herangetreten werden, um seine Denkwelt und seine Interessen zu erheben. Der Exeget darf den religiösen Standpunkt seines Gegenstandes gerade nicht übernehmen, denn sonst agiert er als Prediger und nicht als Wissenschaftler14. Auch G. Theißen orientiert sich ausdrücklich am Programm von W. Wrede, das sechs Vorzüge aufzuweisen hat15: 1) Die Distanzierung gegenüber dem normativen Anspruch religiöser Texte; 2) die Überschreitung der Kanonsgrenzen; 3) die Emanzipation von Kategorien wie ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘; 4) die Anerkennung der Pluralität und Widersprüchlichkeit theologischer Entwürfe im Urchristentum; 5) die Erklärung theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus; 6) die Offenheit gegenüber der Religionsgeschichte. Theißen vertritt ausdrücklich eine Außenperspektive, er will den Zugang zum Neuen Testament für säkularisierte Zeitgenossen offen halten. Deshalb schreibt er keine Theologie im konfessorischen Sinn, sondern eine Theorie der urchristlichen Religion, die auf allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beruht. Ausgangspunkt ist dabei die These: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“16 Dieser semiotische Ansatz betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und Ethos ausdrückt. Mythen erläutern in narrativer Form, was Welt und Leben grundlegend bestimmt (s. u. 4.6). Riten sind Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre alltäglichen Handlungen durchbrechen, um die im Mythos ausgesagte andere Wirklichkeit darzustellen. Zu jeder religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos; sowohl im Judentum als auch im Christentum organisiert sich das gesamte Verhalten durch seine Beziehung auf die Gebote Gottes. Auf dieser Grundlage zeichnet Theißen den Umformungsprozess des frühen Christentums von einer innerjüdischen hin zu einer eigenständigen Bewegung nach, der sich in Kontinuität und Diskontinuität zum jüdischen Zeichensystem vollzog. Bietet eine religionswissenschaftliche Betrachtungsweise eine neutrale Außenperspektive, die unvoreingenommen und ohne ideologische Fesseln ihre Gegenstände analysiert? Diese Frage muss aus mehreren Gründen eindeutig negativ beantwortet werden: 1) Die geschichts- und identitätstheoretischen Überlegungen haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, eine von der eigenen Lebensgeschichte abstrahierende, ‚neutrale‘ Position einzunehmen (s. o. 1.1). Das Wertfreiheits- und Neutralitätspostulat, das z. B. häufig von Religionswissenschaftlern gegen Theologen vorgebracht wird, ist ein ideologisches Instrument, um andere Positionen unter Verdacht zu stellen. Es gibt kein positionelles Niemandsland; weder methodisch noch lebensgeschichtlich ist es möglich, die eigene Geschichte mit all ihren Wertungen auszublenden. 2) Ein zentrales Element der eigenen Lebensgeschichte ist die Frage nach und das Ver14 Vgl. H. RÄISÄNEN, a. a. O., 72ff. 15 Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Chris-
ten,17–19.
16 G. THEISSEN, a. a. O., 19.
36 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
hältnis zu Gott. Wer nicht an Gott glaubt, bringt diese Vorgabe notwendigerweise und selbstverständlich ebenso in seine Arbeit ein wie der, der an Gott glaubt. Die Forderung, die Welt aus der Welt ohne Gott zu erklären, ist keineswegs ein ‚Objektivitätskriterium‘, sondern ihrem Wesen nach ein lebensgeschichtlich bedingtes Wollen, ein Willensakt, eine Setzung17. Die Nicht-Existenz Gottes ist ebenso eine Vermutung wie seine Existenz ! Das Wollen und die Setzungen anderer sind kein hinreichender Grund, dass der Theologe bei seiner theologischen und religionsgeschichtlichen Arbeit den Gottesgedanken ausblendet. Alle historische Arbeit ist unausweichlich in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang eingefügt, so dass die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit gerade nicht als Gegensatz aufgefasst werden muss. „Parteilichkeit und Objektivität verschränken sich . . . im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese. Das eine ohne das andere ist für die Forschung umsonst.“18 Um Geschichte schreiben zu können, bedarf der Theologe/Religionswissenschaftler einer Theorie der Geschichte, die lebensgeschichtlich erworbene religiöse, kulturelle und politische Wertungen weder ausschließen soll noch kann. 3) Religiöse Bewegungen und ihre Texte lassen sich nur adäquat erfassen, wenn man in ein Verhältnis zu ihnen tritt. Jeder Interpret steht in einem solchen Verhältnis, das gerade nicht mit der ideologischen Unterstellung von Innen- und Außenperspektive erfasst werden kann. Vielmehr verdankt es sich sowohl der jeweiligen Lebensgeschichte des Interpreten als auch den methodischen Vorentscheidungen und Fragestellungen, mit denen er an die Texte herantritt. Es geht nicht um Neutralität, die der eine beansprucht und der andere angeblich nicht erbringen kann, sondern allein um eine den Texten angemessene Fragestellung und Methodik. Wenn religiöse Texte die Wahrheitsfrage thematisieren, dann ist ein Ausweichen als Zeichen angeblicher Neutralität überhaupt nicht möglich, weil jeder Interpret immer schon in einem Verhältnis zu den Texten und den in ihnen ausgesprochenen Positionen steht. 4) Die Kanonbildung und die mit ihr verbundene Selektion gilt vielfach als Ausweis des ideologischen Charakters des frühen Christentums. Ein Kanon ist jedoch historisch und theologisch kein Willkürakt, sondern ein natürlicher Faktor innerhalb der Identitätsbildung und Selbstdefinition einer religiösen Bewegung und als kulturelles Phänomen keineswegs auf das frühe Christentum beschränkt19. Weil Schriftlichkeit die Voraussetzung für das Überdauern einer Bewegung ist, kann eine Kanonbildung nicht als repressiver Akt aufgefasst werden, son-
17 Treffend A. SCHLATTER, Atheistische Methoden in
der Theologie, in: ders., Die Bibel verstehen, hg. v. W. Neuer, Gießen 2002, (131–148) 137: „Jedes Denken hat ein Wollen in sich, so daß in unserer Wissenschaft erscheint, was ‚wir wollen‘. Damit sagt natürlich keiner von uns, dass wir uns ein souveränes Setzungsvermögen, das von jeder Begründung und Rechtfertigung befreit sei, zuschreiben.“ 18 R. KOSELLECK, Standortbindung und Zeitlichkeit,
in: Theorie der Geschichte I, hg. von R. Koselleck/ W. J. Mommsen/J. Rüsen, München 1977, (17–46) 46. 19 Vgl. dazu die Überlegungen bei J. ASSMANN, Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum, in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, 81–100.
Vielfalt und Einheit 37
dern stellt einen völlig natürlichen Vorgang dar. Nicht äußere (kirchliche) Entscheidungen, sondern primär innere Impulse führten zur Kanonbildung20. Darüber hinaus verkennt die Forderung einer Aufhebung der Kanonsgrenzen die sinnstiftende und normierende Funktion eines Kanons als Erinnerungsraum, den die Mitglieder einer Gruppe immer wieder betreten können, um Vergewisserung und Orientierung zu erlangen. Die Festlegung auf einen Kanon als historische Gegebenheit und konstitutive Größe einer religiösen Bewegung bedeutet keineswegs, dass der Kanonbegriff zum Schlüssel einer ntl. Theologie wird oder außerkanonische Schriften und religionswissenschaftliche Fragestellungen ausgeblendet werden; sie sind aber nicht die primäre Bezugsgröße der Interpretation und bestimmen auch nicht ihren Umfang21. Weil es keine Außen- und/oder Innenperspektive gibt und die Preisgabe des Gottesbegriffes nicht ein Gewinn an Neutralität oder Wissenschaftlichkeit, sondern nichts anderes als eine Setzung und/oder die Anpassung an die Ideologie anderer ist, muss, darf und braucht die theologische Betrachtungsweise nicht durch eine religionswissenschaftliche Fragestellung ersetzt werden. Theologie und Religionswissenschaft sind weder besser noch schlechter, neutraler oder ideologischer, sondern sie fragen und arbeiten anders. Diese Andersartigkeit liegt in ihrem Gegenstand begründet, denn die Religionswissenschaft handelt von den Erscheinungsformen der Religionen, die christliche Theologie von dem Gott, der sich in der Geschichte Israels und in Jesus Christus offenbart hat22.
2.3
Vielfalt und Einheit
R. BULTMANN, Theologie, 585–599; H. SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer neutestamentlichen Theologie, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 323– 344; G. STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), 1–31; U. LUZ, Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie, in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS E. Schweizer), hg. v. U. Luz/H. Weder, 20 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007, 388–403. 21 Eine Begrenzung des Stoffquantums müsste schon aus praktischen Gründen auch von denen vorgenommen werden, die eine Aufhebung der Kanonsgrenzen fordern. Die Kriterien dafür sind nicht leicht zu finden, denn religions- und kulturwissenschaftlich ist eine Begrenzung der Literatur auf den christlichen Bereich nicht zu begründen, es müssten der gesamte jüdische und griechisch-römische Bereich ebenfalls miteinbezogen werden. Deshalb muss jeder Autor/Leser/Exeget zwangsläufig für sich
selbst Grenzen des Kanons ziehen. Auch der von PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 1–8, strikt durchgeführten formgeschichtlichen Selektion haftet etwas Gewaltsames an! 22 Vgl. I. U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, 14: „Für die Theologie markiert Gott daher nicht ein Thema neben anderen, sondern den Horizont, in dem alle Phänomene des Lebens zu verstehen sind, wenn sie theologisch verstanden werden sollen.“
38 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
Göttingen 1983, 142–161; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 304–321; F. HAHN, Das Zeugnis des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit, KuD 48 (2002), 240–260; TH. SÖDING, Einheit der Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, QD 211, Freiburg 2005.
Zu den zentralen Problemen der Darstellung einer Theologie des Neuen Testaments zählt die Frage nach Vielfalt und Einheit. Unbestritten ist die historische und theologische Vielschichtigkeit der einzelnen ntl. Schriften. Die sich anschließende Sachfrage lautet: Gibt es eine darüber hinausgehende Einheit und wie lässt sie sich begründen/darstellen? Eine negative Antwort auf diese Frage gibt R. Bultmann; er votiert gegen eine ntl. ‚Dogmatik‘ und tritt für die Verschiedenheit der Entwürfe ein. „Es ist dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es eine christliche Normaldogmatik nicht geben kann, daß es nämlich nicht möglich ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lösen, – die Aufgabe, die darin besteht, das aus dem Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Mensch und Welt zu entwickeln. Denn diese Aufgabe gestattet nur immer wiederholte Lösungen oder Lösungsversuche in den jeweiligen geschichtlichen Situationen.“23 Die Gegenposition wird in vielfacher Form vertreten, wobei es zwei Grundmuster gibt: 1) Die Einheit des Neuen Testaments liegt in der Konzentration auf eine Person, einen Grundgedanken oder ein besonders eingängiges Argumentationsmuster. Von besonderer Bedeutung ist die Argumentation M. Luthers, der Jesus Christus als die ‚Mitte der Schrift ‘ versteht: „Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen und treyben, Auch ist das rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum zeyget Ro. 3 unnd Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor 2. Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett.“24 Von diesem Ansatz her gelangt Luther zu einer christologisch orientierten immanenten Bibelkritik, bei der besonders positiv das Johannesevangelium, die Paulusbriefe und der erste Petrusbrief gewürdigt werden, negativ hingegen der Jakobusbrief, aber auch der Hebräer- und Judasbrief sowie die Johannesoffenbarung. Der Ansatz Luthers wird in Variationen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein vertreten25. E. Käsemann sieht in der Rechtfertigung des Gottlosen die Mitte der Schrift und aller christlichen Verkündigung. „Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und
23 R. BULTMANN, Theologie, 585. Allerdings vertritt Bultmann faktisch einen ‚Kanon im Kanon‘, indem er Paulus und Johannes massiv in das Zentrum seiner Theologie rückt. 24 WA DB 7, 384,25–32. 25 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bis in die 70er Jahre bietet W. SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testa-
ments, in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen 1976, 415–442; die neuere Diskussion referieren und dokumentieren P. BALLA, Challenges to New Testament Theology, WUNT 2.95, Tübingen 1997; F. HAHN, Theologie II, 6–22; CHR. ROWLAND/C. M. TUCKETT (Hg.), The Nature of New Testament Theology, Oxford 2006.
Vielfalt und Einheit 39
Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von allen andern religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden, ist sie das Kriterium der Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin.“26 Im Rahmen einer Biblischen Theologie erblickt P. Stuhlmacher in der Versöhnungsvorstellung die Mitte der Schrift: „Das von Jesus gelebte, von Paulus exemplarisch verkündigte und von der johanneischen Schule durchgeistigte eine apostolische Evangelium von der Versöhung (Versühnung) Gottes mit den Menschen durch seinen eingeborenen Sohn, den Christus Jesus, ist die Heilsbotschaft für die Welt schlechthin.“27 2) Die Frage nach Vielfalt und Einheit wird nicht durch Konzentration auf Schlüsselbegriffe reduziert, sondern als eigenständiger und notwendiger Bestandteil der Theologie des Neuen Testaments begriffen. Nach H. Schlier ist die Aufgabe der Theologie erst dann geleistet, „wenn es nun auch gelingt, die Einheit der verschiedenen ‚Theologien‘ sichtbar zu machen. Erst dann ist der Name und der in ihm waltende Begriff überhaupt sinnvoll. Diese Einheit, die eine letzte Widerspruchslosigkeit der verschiedenen theologischen Grundgedanken und Aussagen einschließt, ist, theologisch gesehen, eine Voraussetzung, die mit der Inspiration und Kanonizität des N. T. bzw. der Heiligen Schrift zusammenhängt.“28 Diese Anregungen aufnehmend rückt F. Hahn die Einheit des Neuen Testaments in den Mittelpunkt seiner Theologie. Weil eine urchristliche Theologiegeschichte nur die Vielfalt ntl. Entwürfe aufzeigen kann, bedarf es im Rahmen eines thematischen Arbeitsganges des Aufweises der inneren Einheit des Neuen Testaments29. Auf der Basis des alt- und neutestamentlichen Kanons kommt als übergeordnete Leitkategorie dafür nur der Offenbarungsgedanke infrage. „Die Orientierung am Offenbarungsgedanken hat Konsequenzen für den Aufbau: Es ist einzusetzen mit dem Offenbarungshandeln Gottes im alten Bund, es folgt das Offenbarungsgeschehen in der Person Jesu Christi und dann die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in Christus. Die neutestamentliche Ethik ist dabei im Zusammenhang mit der Ekklesiologie zu behandeln.“30 Gegen die Annahme einer ‚Mitte‘ des Neuen Testaments ist einzuwenden, dass es sich dabei um eine unhistorische Abstraktion handelt, die den einzelnen Entwürfen
26 E. KÄSEMANN, Zusammenfassung, in: ders. (Hg.),
Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, (399–410) 405. 27 P. STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 320. 28 H. SCHLIER, Sinn und Aufgabe, 338 f. Die Einheit erblickt Schlier bereits in den alten Glaubensformeln; sie sollte anhand der großen Themen Gott, Gottes Herrschaft, Jesus Christus, Auferstehung, Geist, Kirche, Glaube entfaltet werden. 29 Vgl. auch U. WILCKENS, Theologie I, 53, der zwi-
schen einem historischen und systematischen Teil des Gesamtwerkes unterscheidet und zum zweiten Teil feststellt: „Dort gilt es, in der Vielfalt verschiedenen Traditionsguts und teilweise einander widersprechender theologischer Konzeptionen die übereinstimmenden Grundmotive zu finden, die der Bewegung des Christentums in seiner geradezu eruptiven Anfangszeit ihre immense Überzeugungsund Ausbreitungskraft gegeben haben.“ 30 F. HAHN, Zeugnis, 253.
40 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
in keiner Weise gerecht wird. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefes oder die Versöhnungsvorstellung erfassen noch nicht einmal das Ganze der paulinischen Theologie! Wird Jesus Christus selbst als die ‚Mitte‘ bestimmt, dann ist eine solche Konzentration auf der höchsten Ebene wenig sinnvoll, weil sie für alles zutrifft und sich damit selbst aufhebt. Eine Biblische Theologie ist nicht möglich, weil 1) das Alte Testament von Jesus Christus schweigt, 2) die Auferstehung eines Gekreuzigten von den Toten als kontingentes Geschehen sich in keine antike Sinnbildung integrieren lässt (vgl. 1Kor 1, 23) und 3) das Alte Testament wohl der wichtigste, aber keinesfalls der einzige kulturelle/theologische Kontext ntl. Schriften ist31. Gilt die Einheit des Neuen Testaments als eine eigene vom Kanon geforderte Sachaufgabe, stellen sich theoretische und praktische Probleme: Wie verhält sich die Kanonbildung zum Selbstverständnis der einzelnen Schriften, die nun einer neuen, späteren und fremden Fragestellung unterworfen werden? In welchem Verhältnis steht die Darstellung von Vielfalt und Einheit: Ist die Einheit die Schnittmenge des Verschiedenen? Vollendet sich die Vielfalt in der Einheit? Ist die Einheit die Wiederholung der Vielfalt unter verändertem Vorzeichen32? Kanonisierung als Zeugnis von Vielfalt und Begrenzung
Eine Beantwortung dieser Fragen muss davon ausgehen, dass der Aspekt der Vielfalt sich konsequent aus dem hier verfolgten methodischen Ansatz und dem historischen Befund ergibt: Weil alle ntl. Autoren als Erzähler und Interpreten ihre eigene Geschichte und die aktuelle Situation ihrer Gemeinde in ihre Jesus-Christus-Geschichte mit einbringen, somit ihre je eigene Sinnbildung vornehmen, gibt es ein deutliches Prae der Vielfalt und kann es die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht geben33. Jede ntl. Schrift ist eine eigenständige Sprach-, Interpretations- und damit Sinnwelt, die aus sich selbst heraus verstanden werden will. Vielfalt ist nicht identisch mit grenzen- und konturloser Pluralität, sondern bezieht sich streng auf das Zeugnis der ntl. Schriften. Vielfalt gibt es im Neuen Testament nur auf einer klaren Grundlage: Die Erfahrungen mit Gottes endzeitlichem Heilshandeln an Jesus Christus in Kreuz und
31 Eine Übersicht zum Für und Wider einer Biblischen Theologie bieten CHR. DOHMEN/TH. SÖDING (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn 1995. 32 Hierin sehe ich das Problem der Darstellung von F. HAHN, der Vielfalt und Einheit gleich umfänglich behandelt, wodurch es zwangsläufig zu erheblichen Überschneidungen und Wiederholungen unter veränderten Vorzeichen kommt; vgl. z. B. zum Thema ‚Gesetz bei Paulus‘ DERS., Theologie I, 232–242; Theologie II, 348–355. 33 Anders F. HAHN, Theologie II, 2: „Die Darstellung der Vielfalt im Sinn einer Theologiegeschichte des
Urchristentums ist ein notwendiges und unerläßliches Teilstück, ist für sich genommen jedoch nur ein Fragment. Erst in der Verbindung mit dem Bemühen, die verschiedenen theologischen Entwürfe des Urchristentums aufeinander zu beziehen und nach deren Einheit zu fragen, kann von einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘ im strengen und eigentlichen Sinn gesprochen werden.“ Hahn nimmt mit dem Begriff der Einheit eine Abstraktion vor, die sich in den Texten so nicht findet und behauptet zugleich, damit den einzig möglichen Weg zu einer Theologie des Neuen Testaments im Singular beschreiten zu können.
Vielfalt und Einheit 41
Auferstehung. Diese Grundlage wird in den einzelnen Schriften notwendigerweise und unausweichlich in je eigener Weise bearbeitet, wobei nicht Gegensätzlichkeit, sondern Vielgestaltigkeit vorherrscht. Zudem fragt sich, ob der Begriff der Einheit überhaupt geeignet ist, die gestellte Sachfrage zu beantworten. Einheit ist ein statischer Totalitätsbegriff, der dazu neigt, einzuebnen und zu vereinheitlichen. Schließlich ist die Frage der Einheit den ntl. Autoren fremd, sie erscheint nicht in den Texten und die Geschichte des frühen Christentums ist alles andere als die Geschichte einer einheitlichen Bewegung! Der Kanon bildet den Endpunkt eines langen Prozesses der Kanonisierung34; Kanonisierung wiederum ist ein natürliches und notwendiges Element von Identitätsbildung und -sicherung. Innerhalb jeder Entwicklung ist es notwendig, „die Regelungen eines bestimmten Bereiches der gesellschaftlichen Sinnproduktion durch Eingrenzung und Festlegung des Gebotenen“35 zu bestimmen. Die Kanonisierung spricht keineswegs gegen eine Betonung der Vielfalt, denn sie ist selbst ein Zeugnis sachgemäßer Vielfalt! Der Prozess der Kanonisierung verdeutlicht, dass das Ursprungsgeschehen die Vielfalt seiner Interpretationen zugleich ermöglicht und begrenzt. Gleichzeitig bleibt es aber dabei: Die für den Prozess der Kanonisierung zentrale Frage nach Vielfalt und ihrer Begrenzung ist nicht die Frage der einzelnen ntl. Schriften ! Ein Kanon ist immer ein Ende, die Kanonisierung ein anhaltender Prozess, der mit den ntl. Schriften einsetzt, nicht aber identisch ist! Zudem begründen und repräsentieren die ntl. Schriften ihren Status aus sich selbst heraus und bedürfen dafür nicht einer späteren Kanonisierung; sie kamen in ihrer überwiegenden Zahl in den Kanon, weil sie diesen Status schon besaßen und nicht umgekehrt36. Schließlich: Eine Theologie des ntl. Kanons als eine notwendigerweise exegetische und kirchengeschichtliche Aufgabe ist etwas anderes als eine Theologie der ntl. Schriften/des Neuen Testaments. Die Anzahl und die Reihenfolge der Schriften im Kanon ist nicht das Werk der ntl. Autoren, sondern hier zeigt sich das Theologieverständnis anderer !37 Ihre
34 Zum Werden des Kanons vgl. TH. ZAHN, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig/Erlangen 1888.1892; J. LEIPOLDT, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig 1907.1908; H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968; B. M. METZGER, Der Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993. 35 TH. LUCKMANN, Kanon und Konversion, in: A./ J. Assmann (Hg.), Kanon und Zensur, München 1987, (38–46) 38. 36 Bei den Paulusbriefen ist dies offenkundig, wie z. B. 1Thess 2, 13; 2Kor 10, 10; Gal 1, 8f und die Deuteropaulinen zeigen. Aber auch die Evangelien (vgl. Mk 1, 1; Mt 1, 1–17; Lk 1, 1–4; Joh 1, 1–18), die Apostelgeschichte, die Johannesapokalypse und alle
großen Briefe legitimieren sich durch ihren Inhalt und Anspruch; anders J. SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C. Breytenbach/J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s. o. 2), (135–158) 137f, der strikt zwischen dem historischen und kanonischen Status unterscheidet und den letzteren für entscheidend hält. 37 Völlig anders J. SCHRÖTER, a. a. O., 154: „Die historische und theologische Bedeutung des Kanons ist vielmehr erst dann zur Geltung gebracht, wenn der Kanon als theologiegeschichtliches Dokument gewürdigt und die in ihm befindlichen Schriften auf dieser Grundlage in ihrem kanonischen Zusammenhang ausgelegt werden.“
42 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
Sicht setzte sich mit guten Gründen durch, sie ist aber nicht die Perspektive der einzelnen ntl. Schriften. Als Interpretationshorizont und Identitätsstifter kann der Kanon erst von dem Zeitpunkt an gelten, zu dem er in seinem Grundbestand existierte: um 180 n. Chr. Deshalb ist der Kanon gegenüber den einzelnen Schriften eine sekundäre Meta-Ebene, die weder den besonderen historischen Standort noch das spezifische theologische Profil einer ntl. Schrift wirklich erfassen kann und auch nicht die entscheidende Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Autor für die frühchristliche Identitätsbildung liefert. Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl. Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes bestimmt.
2.4
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung
Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments. Der methodische Ansatz
Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und vielschichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren angesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen ! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt38. Dabei vermeiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemessene Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen geschaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick. 38 Diese Einsicht ist fundamental, denn: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukom-
men“ (M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 14 1977, 153).
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung 43
Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungsfeld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, vielmehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen bewusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst, sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objektivierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegangener Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen Formung durch Texte, Riten und Symbole39. Obwohl sich Identitätsbildung in der Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharakter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden40. Wenn sich zudem Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutigkeit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kulturelle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulturellen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur erreichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das hellenistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell der Kaiserkult als politische Religion (s. u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben. Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung (Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen (Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/ 1.2Tim/Tit/2Petr/Jud). Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf, denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen 39 Vgl. dazu H. WELZER, Das soziale Gedächtnis, in: ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 9–21.
40 Vgl. K.-H. KOHLE, Ethnizität und Tradition aus
ethnologischer Sicht, in: A. Assmann/H. Friese (Hg.), Identitäten (s. o. 1.2), 269–287.
44 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens behandelt, d. h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden. Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrichtung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gesprochen41, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologischen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausgehen. Der Aufbau
Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief und auf den sich alle ntl. Autoren grundlegend beziehen42. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch (und teilweise sachlich)43 angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften, von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedankenwelt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in 41 Faktisch war der Terminus Theologie des Neuen Testaments schon immer ein Sammelbegriff, unter dem sehr verschiedenartige Entwürfe subsumiert wurden. Zwei Beispiele, die sich leicht vermehren ließen: R. Bultmann setzt mit den Voraussetzungen einer Theologie des Neuen Testaments ein (Verkündigung Jesu), schließt dann thematische Überblicke an (Das Kerygma der Urgemeinde/Das Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus), um sich dann zwei Autoren/Schriftengruppen zuzuwenden (Paulus und Johannes), die gewissermaßen die Theologie des Neuen Testaments repräsentieren. Schließlich wird wiederum überblicksmäßig die Entwicklung zur Alten Kirche dargestellt. F. Hahn unterscheidet unter dem Obertitel ‚Theologie des Neuen Testaments‘ zwischen einer Theologiegeschichte des Urchristentums (Band I: Die Vielfalt des
Neuen Testaments) und einer thematischen Darstellung (Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments), wobei im 1. Band Autoren/Schriftengruppen im Vordergrund stehen, im 2. Band Themen, die jedoch vornehmlich anhand prominenter Autoren/Schriften entfaltet werden. 42 Die grundlegende Sachentscheidung beim Aufbau einer Theologie des Neuen Testaments liegt darin, ob (in der Regel nach einleitenden Kapiteln) mit Jesus von Nazareth (so L. Goppelt, W. Thüsing, P. Stuhlmacher, U. Wilckens, F. Hahn) oder Paulus (so R. Bultmann, H. Conzelmann, G. Strecker, H. Hübner, J. Gnilka) eingesetzt wird. 43 So ist es z. B. sinnvoll, die spät entstandenen Pastoralbriefe innerhalb der Deuteropaulinen und damit vor den zeitlich früher anzusetzenden Kirchenbriefen 1Petrus, Jakobus und Hebräer zu behandeln.
Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung 45
allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen können. Die Themenfelder sind: 1) Theologie : Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat? 2) Christologie : Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforderte im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Geschicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens, seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzenden endzeitlichen Prozesses. 3) Pneumatologie : Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Christen nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen im Leben der Glaubenden. 4) Soteriologie : Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlösendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestalten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht. 5) Anthropologie : Damit verbindet sich die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Angesichts der Jesus-Christus-Geschichte stellte sich die Frage nach dem Menschen neu; der ‚neue Mensch‘ in Christus (2Kor 5, 17; Eph 2, 15) rückt in das Zentrum der Reflektion. 6) Ethik : Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden, die in ethische Konzepte umgesetzt werden müssen. Nicht nur das Sein, sondern auch das Handeln hatte für die frühen Christen eine neue Gestalt gefunden. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, in Kontinuität zur jüdischen Ethik und im Kontext einer hoch reflektierten griechisch-römischen Ethik ein attraktives ethisches Programm zu entwickeln. 7) Ekklesiologie : Zu den prägenden Erfahrungen der Anfangszeit gehörte die neue Gemeinschaft im Glauben, die innerhalb der Ekklesiologie bedacht und in Formen/ Strukturen überführt werden musste. Es galt, die Unmittelbarkeit des Geistes und die notwendigen Ordnungsstrukturen in der sich dehnenden Zeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. 8) Eschatologie : Jede Religion/Philosophie muss als Sinnbildung einen Entwurf temporaler Ordnung entwickeln. Für die frühen Christen gilt dies in besonderer Weise, denn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mussten in ein neues Verhältnis gebracht werden, weil mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein vergangenheitliches Geschehen die Zukunft bestimmt und deshalb auch die Gegenwart prägt. Das frühe Christentum ließ die Eschatologie gerade nicht im Vollzug der Weltgeschichte aufgehen, sondern erarbeitete Zeitkonzepte, die – getragen vom allumfassenden Gottesgedanken – vom Ende her den Sinn entwerfen.
46 Der Aufbau: Geschichte und Sinn
In einem abschließenden 9. Themenfeld (Theologiegeschichtliche Stellung ) wird versucht, eine Einordnung jeder ntl. Schrift innerhalb der frühchristlichen Sinnbildungsprozesse und der Geschichte des frühen Christentums vorzunehmen, indem vor allem ihr besonderes Profil herausgestellt wird. Die schematische Grundstruktur ergibt sich somit aus dem Befund der Schriften und der historischen Entwicklung selbst 44, zudem kommt ihr gleichermaßen eine strukturierende und erschließende Funktion zu. Sie ordnet den Stoff und die Fragestellungen und gewährleistet, dass nicht nur die gängigen theologischen/christologischen Themen der einzelnen Schriften dargestellt werden (z. B. ‚Messiasgeheimnis‘ bei Markus, Gesetz/ Gerechtigkeit bei Matthäus, Rechtfertigungslehre bei Paulus, Ämter bei den Pastoralbriefen), sondern die gesamte Breite und der ganze Reichtum der einzelnen Entwürfe erfasst wird. Zugleich ist dieses Raster so flexibel, dass die Schwerpunkte und Besonderheiten einzelner Schriften herausgearbeitet werden können. Auch die Erzählstruktur von Schriften, ihre besonderen theologischen Weichenstellungen, ihre Stellung im Kontext anderer Entwürfe und ihre spezifischen identitäts- und einheitsbildenden Elemente lassen sich im Rahmen dieses Schemas angemessen integrieren. Der je besondere Charakter eines ntl. Textes bleibt so gewahrt, ohne das Besondere für das Ganze zu halten und umgekehrt. Die Argumentationen in den Schriften des Neuen Testaments sind immer eingebettet in historische, theologie- und religionsgeschichtliche, kulturelle und politische Rahmenbedingungen. Deshalb ist es notwendig, die für das Verstehen der Texte unabdingbaren Kontexte darzustellen: die grundlegenden Weichenstellungen in der Geschichte des frühen Christentums, die kulturellen und denkerischen Herausforderungen, die politischen Wendepunkte und die unausweichlichen Konflikte. Dies sollen vier mit dem Stichwort Transformation versehene Abschnitte leisten, die jeweils vor der Behandlung der betreffenden Schriftengruppen die zentralen historischen/ theologiegeschichtlichen Veränderungen gegenüber der bisherigen Situation darstellen.
44 Es handelt sich nicht um eine Gliederung nach ‚dogmatischen‘, sondern nach thematischen Topoi; um eine an den Inhalten der Texte orientierte didaktisch-methodische Entscheidung. Gliederungen sind
immer heuristische Entscheidungen und danach zu beurteilen, inwiefern sie den Stoff erfassen und vermitteln können.
3.
Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
R. BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926); G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth, Stuttgart 91971 (= 1956); H. CONZELMANN, Art. Jesus Christus, RGG3 III, Tübingen 1959, 619–653; H. RISTOW/ K. MATTHIAE (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960; H. BRAUN, Jesus, Stuttgart 21969 (NA 1988); N. PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich?, Göttingen 1972; E. SCHIL3 LEBEECKX, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1975; J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu (s. o. 1); L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; T. HOLTZ, Jesus aus Nazaret, Berlin 41983; H. SCHÜRMANN, Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983; E. P. SANDERS, Jesus and Judaism, London 1985; CHR. BURCHARD, Jesus von Nazareth, in: Die Anfänge des Christentums, hg. v. J. Becker, Stuttgart 1987, 12–58; E. SCHWEIZER, Art. Jesus Christus, TRE XVI, Berlin 1987, 670–726; G. THEIS5 SEN, Der Schatten des Galiläers, München 1988; J. P. MEIER, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus I.II.III, New York 1991.1994. 2001; J. GNILKA, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, HThK.S 3, Freiburg 1993; M. BORG, Jesus – der neue Mensch, Freiburg 1993; G. VERMES, Jesus der Jude, Neukirchen 1993; J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994; B. CHILTON/C. A. EVANS (Hg.), Studying the Historical Jesus, NTTS 19, Leiden 1994; E.P. SANDERS, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996; N. T. WRIGHT, Jesus and the Victory of God, Minneapolis 1996; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996; J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin 1996; D. FLUSSER, Jesus, Hamburg 1999 (NA); G. LÜDEMANN, Jesus nach 2000 Jahren, Lüneburg 2000; J. ROLOFF, Jesus, München 2000; W. STEGEMANN/B. J. MALINA/ G. THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002; G. THEISSEN, Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003; J. D. G. DUNN, Christianity in the Making I: Jesus Remembered, Grand Rapids 2003; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten, Düsseldorf 2003; M. EBNER, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 22004; D. MARGUERAT, Der Mann aus Nazareth, Zürich 2004; K. BERGER, Jesus, München 2004; T. KOCH, Jesus von Nazareth, der Mensch Gottes, Tübingen 2004; G. THEISSEN, Die Jesusbewegung, NA Gütersloh 2004; L. SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004; J. SCHRÖTER, Jesus von Nazareth, Leipzig 2006; T. ONUKI, Jesus. Geschichte und Gegenwart, BThSt 82, Neukirchen 2006; CHR. NIEMAND, Jesus und sein Weg zum Kreuz, Stuttgart 2007.
Jesus von Nazareth ist die Basis und der Ausgangspunkt aller neutestamentlichen Theologie (s. o. 2.1). Wer aber war dieser galiläische Wanderprediger und Heiler? Was verkündigte er und wie verstand er sich selbst? Welche methodischen und hermeneutischen Aspekte müssen bei der Gewinnung eines plausiblen Jesusbildes bedacht werden? Um diese Fragen zu beantworten, leiten methodologische und hermeneutische Überlegungen die Darstellung der Grundzüge der Verkündigung und des Lebens Jesu ein.
48 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.1
Die Frage nach Jesus
A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I.II, Gütersloh 31977 (= 1913); E. KÄSEDas Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 187–214; R. BULTMANN, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (= 1960), 445– 469; E. FUCHS, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1960; J. M. ROBINSON, Kerygma und historischer Jesus, Zürich 21967; R. SLENCZKA, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi, FSÖTh 18, Göttingen 1967; M. BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus, Gütersloh 1984; C. A. EVANS, Life of Jesus Research. An annotated Bibliography, NTTS 24, Leiden 1996; P. MÜLLER, Trends in der Jesusforschung, ZNT 1 (1998), 2–16; M. LABAHN/A. SCHMIDT (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001; J. SCHRÖTER, Jesus und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neukirchen 2001; J. SCHRÖTER/R. BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002.
MANN,
Die historische Frage nach Jesus ist ein Kind der Aufklärung1. Für die ältere Zeit war es selbstverständlich, dass die Evangelien zuverlässige Kunde über Jesus vermitteln. Vor der Aufklärung beschränkte sich die neutestamentliche Evangelienforschung im Wesentlichen darauf, die vier Evangelien zu harmonisieren. Praktisch war die neutestamentliche Exegese eine Hilfsdisziplin der Dogmatik. Stationen der Forschung
Erst am Ende des 18. Jh. brach die Erkenntnis auf, dass der vorösterliche Jesus und der von den Evangelien (und auch den Kirchen) verkündete Christus nicht derselbe sein könnten. Von besonderer Bedeutung in dieser Entwicklung war Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), von dem Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1774–78 posthum sieben Fragmente veröffentlichte, ohne die Identität des Verfassers preiszugeben. Von nachhaltiger Wirkung war das 1778 publizierte 7. Fragment: „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“2. Reimarus unterscheidet hier zwischen dem Anliegen Jesu und dem seiner Jünger: Jesus war ein jüdischer politischer Messias, der ein weltliches Reich aufrichten und die Juden von der Fremdherrschaft erlösen wollte. Die Jünger standen nach der Kreuzigung vor der Vernichtung ihrer Träume, sie stahlen den Leichnam Jesu und erfanden die Botschaft von seiner Auferstehung. Für Reimarus war somit der Jesus der Geschichte mit dem Christus der Verkündigung nicht identisch; Geschichte und Dogma sind zweierlei: „allein, ich finde große UrsaDie ältere Forschung wird von A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, dargeboten; zu der mit R. Bultmann verbundenen Entwicklung vgl. H. ZAHRNT, Es begann mit Jesus von Nazareth, Stuttgart 31969; W. G. KÜMMEL, 40 Jahre Jesusforschung (1950–1990), Königstein/Bonn 1994; eine kritische Darstellung der neueren amerikanischen Forschung 1
bietet N.T. Wright, Jesus (s. o. 3), 28–82. Relevante Texte der Debatte finden sich in: M. BAUMOTTE (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. 2 Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778.
Die Frage nach Jesus 49
che, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.“3 David Friedrich Strauss (1808–1874) veröffentlichte 1835/36 sein Aufsehen erregendes ‚Leben Jesu‘, das eine Flut von Widerlegungsversuchen hervorrief, seinem Verfasser lebenslange gesellschaftliche Ächtung bescherte, hinter dessen Grundthese von der mythischen Ausgestaltung der Jesusüberlieferung die Forschung aber nicht mehr zurück kann. „Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen.“4 . Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden. Der projektive Charakter der Leben-Jesu-Bilder des 19. Jh. wurde in der ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ von Albert Schweitzer (1875–1965) aufgedeckt. Schweitzer zeigte, dass jedes der liberalen Jesusbilder genau die Persönlichkeitsstruktur aufwies, die in den Augen ihres Verfassers als höchstes anzustrebendes, ethisches Ideal galt. M. Kähler und R. Bultmann ziehen aus der Vielfalt der Jesusbilder und den exegetischen Schwierigkeiten, ein sachgemäßes Jesusbild zu entwerfen, in unterschiedlicher Weise den Schluss, allein den kerygmatischen Christus bzw. das nachösterliche Kerygma als theologisch relevant anzusehen (s. o. 2.1). M. Kähler betont, Jesus Christus sei für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern, nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Für R. Bultmann gilt es, radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewand kennen und es nicht möglich sei, wirklich hinter das Kerygma zurückzukommen. Bultmann folgt Kähler in der Anschauung, der Glaube könne sich nicht an scheinbar historische Fakten binden. Historische Forschung unterliegt notwendigerweise einem ständigen Wandel, so dass sich auch die Ergebnisse verän3
A. a. O., 7 f.
4 D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Erster Band, Tübingen 1835, V.
50 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
dern müssen. Für den Glauben würde das bedeuten, dass er gewissermaßen den sich ständig ändernden Ergebnissen der Exegeten angepasst werden müsste. Eine neue Runde in der historischen Frage nach Jesus leitete 1954 Ernst Käsemann (1906–1998) ein. Er konstatiert: „Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der in Variation des Kerygmas.“5 Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Jesu und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bultmann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenzkriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbücher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905– 1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen. Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘)6 ist in sich uneinheitlich, deutlich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘7) und eine veränderte Wertung von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevangelium) im Mittelpunkt der Diskussion8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1. Jh. n.Chr.9; diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu interpretieren (z. B. G. Vermes, E. P. Sanders). Das von E. Käsemann so hoch geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als be-
E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus, 213. 6 Der Terminus ‚third quest‘ geht von einer forschungsgeschichtlichen Dreiteilung aus: 1) Die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh. mit ihren Reaktionen im frühen 20. Jh.; 2) die ‚neue‘ Frage nach Jesus ab der Mitte des 20. Jh.; 3) die ‚dritte‘ Fragerunde ab Beginn der 80er des 20. Jh. Sinnvollerweise sind fünf Epochen der Jesusforschung zu unterscheiden: 1) Aufklärung (Reimarus/Strauss); 2) Liberale Jesusforschung (H.-J. Holtzmann); 3) Destruktion des liberalen Jesusbildes (J. Weiss/W. Wrede/A. Schweitzer/R. Bultmann); 4) die ‚neue‘ Frage nach dem historischen Jeusus (E. Käsemann/E. Fuchs/ G. Bornkamm/G. Ebeling/H. Braun); 5) die neuere (überwiegend) nordamerikanische Jesusforschung (‚third quest‘); vgl. auch G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 22–29. 7 Zu nennen ist hier bes. das sogen. ‚Geheime Markusevangelium‘ (ein angeblicher Brief von Cle5
mens von Alexandrien mit zwei Zitaten aus einem unbekannten ‚Markusevangelium‘), das 1958 der Religionshistoriker M. SMITH gefunden haben will. Vom Fund existieren lediglich Fotos, die keine überzeugende Beweiskraft haben. Von einer Fälschung geht aus: ST. C. CARLSON, The Gospel Hoax. Morton Smith‘s Invention of Secret Mark, Waco Texas 2005. Für die Authentizität bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien und einer Datierung ins 2. Jh. votieren zuletzt: H.-J. KLAUCK, Apokryphe Evangelien, Stuttgart 2002, 48–52; E. RAU, Das geheime Markusevangelium. Ein Schriftfund voller Rätsel, Neukirchen 2003. 8 Vgl. als Übersicht D. S. DU TOIT, Redefining Jesus: Current Trends in Jesus Research, in: M. Labahn/ A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 82–124. 9 Vgl. hier C. A. EVANS, The New Quest for Jesus and the New Research on the Dead See Scrolls, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 163–183.
Die Frage nach Jesus 51
sonderer Jude innerhalb des Judentums10. Eine radikale Neubewertung erfährt teilweise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Jesusüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2. Jh., sondern um 50 n.Chr. datiert wird (J. D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevangeliums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Eschatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommenden Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charismatischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung überkommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums11. In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung zu erheben (H. Köster/J. M. Robinson12; J. D. Crossan, B. L. Mack13). Das Ziel solcher Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Prototyp alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermutung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirksam geführte Debatte14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand, denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚SemeiaQuelle‘15 lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das 2. Jh.!
Schließlich ist die neue Frage nach Jesus durch eine starke Einbeziehung sozialgeschichtlicher und kultur-hermeneutischer Fragestellungen16 sowie ein Zurücktreten 10 Vgl. T. HOLMN, The Jewishness of Jesus in the
‚Third Quest‘, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 143–162. 11 Vgl. dazu J. SCHRÖTER/H.-G. BETHGE, Das Evangelium nach Thomas (NHC II,2), in: H.-M. Schenke/ H.-G. Bethge/U. U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch I, GCS N.F. 8, Berlin 2001, 151–181. Für den zentralen Bereich der Soteriologie plädiert jetzt mit überzeugenden Argumenten auch für eine Spätdatierung: E. E. POPKES, Die Umdeutung des Todes Jesu im koptischen Thomasevangelium, in: J. Frey/ J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 513– 543. 12 Vgl. hierzu als Programmschrift H. Köster/ J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt
des Frühen Christentums, Tübingen 1971. Die aktuelle Entwicklung skizziert J. Schröter, Jesus im frühen Christentum. Zur neueren Diskussion über kanonisch und apokryph gewordene Jesusüberlieferungen, VuF 51 (2006), 25–41. 13 Vgl. B. L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? Die Erfindung des christlichen Mythos, München 2000. 14 Vgl. dazu R. HEILIGENTHAL, Der verfälschte Jesus, Darmstadt 1997. 15 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 527–529. 16 Vgl. dazu als Überblick die Beiträge deutscher und anglo-amerikanischer Exegeten/Exegetinnen in: W. STEGEMANN/B. J. MALINA/G. THEISSEN (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3). Eine Kombination von sozialgeschichtlichen und archäologischen Fragestel-
52 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
genuin theologischer Themen gekennzeichnet. Nach der Funktion der radikalen Liebes- und Versöhnungsethik Jesu innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten wird ebenso gefragt wie nach der besonderen Form des Judentums in Galiläa oder nach Übereinstimmungen zwischen der Jesusbewegung und der Kynikerbewegung in Syrien/Palästina17.
3.1.1
Jesus in seinen Deutungen
Unübersehbar sind auch die neuen Jesus-Bilder Spiegel ihrer Zeit; der Jesus der Postmoderne erfüllt alle politischen und kulturellen Hoffnungen seiner Interpreten/Interpretinnen: Er überwindet geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle und politische Spaltungen, wird so zum Sozialreformer und universalen Versöhner. Deutlich in den Hintergrund treten alle nicht zeitgemäßen Aspekte des Wirkens Jesu: seine Wundertätigkeit, seine Gerichtspredigt mit ihren dunklen Visionen und sein Scheitern an den gesellschaftlichen/politischen Verhältnissen der Zeit. Er ist vor allem das, was auch wir sind und sein wollen: Mensch, Freund und Vorbild. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen (s. o. 1) überrascht dies nicht, denn jedes Jesus-Bild ist unausweichlich eine Konstruktion der Exegeten in ihrer Zeit. Methodisch zweifelhaft wird dann aber ein Grundzug, der nach wie vor die neuere amerikanische Jesusforschung und die europäische Exegese bestimmt: den ‚historischen‘, ‚wirklichen‘ Jesus hinter den uns vorliegenden Quellen zu finden18. Jesusforschung wird dabei weitgehend als ein reduktives Verfahren verstanden, mit dem Ziel, hinter der Vielfalt der Deutungen die tatsächlich geschehene Geschichte aufzuspüren. Auch das vermehrte Wissen über das antike Judentum, die vertieften Einblicke in die historischen und sozialen Kontexte Galiläas im 1. Jh. und eine reflektierte Methodik können die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis nicht überwinden. Erst in der narrativen Darstellung der Zusammenhänge gewinnt ein Geschehen historische Qualität (s. o. 1); Tatsachen oder Ereignisse der Vergangenheit werden nur zum Bestandteil von Geschichte, wenn sie durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet werden können. Die Personen und die Ereignisse müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, Anfang und Ende eines historischen Verlaufs muss bestimmbar sein. Die Voraussetzungen jeweils gegenwärtigen Erkennens und der jeweilige Quellenbefund gehen von Beginn der historischen Darlungen bieten J.D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen – hinter den Texten (s. o. 3). 17 Vgl. F.G. DOWNING, The Jewish Cynic Jesus, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, 184–214.
18 Als ein Beispiel vgl. J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q, ZNT 1 (1998), 17–26, der sich exklusiv auf die (von ihm) rekonstruierte Logienquelle beschränkt und beruft.
Die Frage nach Jesus 53
stellung an eine unlösliche Verbindung ein. Dies gilt für die Evangelisten als Autoren einer Jesus-Christus-Geschichte ebenso wie für Exegeten, die ihre Jesus-ChristusGeschichte schreiben. Die notwendige narrative Präsentation eines Geschehens negiert keineswegs die Rationalitätsansprüche der Historiographie, sondern ist ihre Voraussetzung. Jesus von Nazareth kann deshalb nicht anders als in seinen literarischen Kontexten erfasst werden. Die Frage nach Authentizität und Fakten auf der Basis eines kritischen Quellenbefundes bleibt, kann aber nicht hinter oder jenseits der narrativen Präsentation und damit des immer auch fiktionalen Charakters der Jesus-ChristusGeschichte in den uns vorliegenden Evangelien beantwortet werden. Es kann keine Reproduktion von Quellen oder Rekonstruktion vorgegebener historischer Zusammenhänge, keine Rück-Frage nach Jesus geben, sondern nur eine den Verstehensbedingungen und dem Überlieferungsbefund gleichermaßen verpflichtete, methodisch geleitete Konstruktion des Wirkens Jesu 19. Deshalb können Jesusdarstellungen nicht länger eine Suche nach der Welt hinter den Texten sein20. Es ist nicht möglich, eine historisch und theologisch verantwortbare Jesuserzählung an den narrativen Darstellungen der Evangelien vorbei zu entwerfen, weil bereits sie die frühesten Zeugnisse einer Figuration des Wirkens Jesu sind. Konsequenzen
Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Konsequenzen: 1) Wenn die narrative Präsentation überhaupt erst Geschichte ermöglicht, es ohne Erzählung keine Erinnerung an Jesus geben kann, dann kann zwischen der Erzähl- und der Wortüberlieferung nicht mehr schematisch eine Alternative aufgebaut werden, wonach die Wortüberlieferung Anspruch auf Authentizität besitze, die Erzählüberlieferung hingegen sekundär hinzugetreten sei21. Beide Formen haben zunächst denselben Anspruch auf Authentizität, denn sie überliefern, was als charakteristisch und damit erinnernswert von Jesus erzählt und schließlich aufgezeichnet wurde. Nicht die Gattung, sondern erst die Einzelanalyse kann darüber entscheiden, welches Ereignis oder welches Wort für Jesus in Anspruch genommen werden kann. Die narrativen Kontexte der Wort- und Gleichnisüberlieferung müssen innerhalb der Jesusdarstellung ernst genommen werden. 2) Die Frage nach Jesus kann nicht auf den ‚histori19 J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 130, favorisiert die Kategorie der ‚Erinnerung‘: „The Synoptic Tradition provides evidence not so much for what Jesus did or said in itself, but for what Jesus was remembered as doing or saying by his first disciples, or as we might say, for the impact of what he did and said on his first disciples.“ Der bloße Begriff der ‚Erinnerung‘ ist jedoch nicht hinreichend, denn Erinnerungen sind immer mit Deutungen gefüllte Konstruktionen vergangenen Geschehens unter gegenwärtigen Bedingungen.
20 Dies betont J. SCHRÖTER, Die Frage nach dem his-
torischen Jesus und der Charakter historischer Erkenntnis, in: The Sayings Source Q and the Historical Jesus, hg. v. A. Lindemann, BEThL CLVIII, Leuven 2001, 207–254. 21 So urteilt R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 81970, 49, über die Schul- und Streitgespräche: „Jedenfalls – das muß noch einmal betont werden – haben im allgemeinen die Worte eine Situation erzeugt, nicht umgekehrt.“
54 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
schen‘ Jesus als den ‚wirklichen‘ Jesus reduziert werden22, denn wenn uns Jesus nur in seiner narrativen Präsentation und damit in seiner Bedeutsamkeit zugänglich ist, kann nicht einfach zwischen einer ‚rein‘ historischen und einer theologischen Fragestellung unterschieden werden23. Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den ‚historischen‘ Jesus! Weil Jesus von Nazareth niemals jenseits seiner Bedeutung für den Glauben zugänglich war und ist, muss auch für den vorösterlichen Jesus die Frage nach seinem Sendungsbewusstsein und der theologischen Bedeutung seines Wirkens gestellt werden24. 3) Jedes Jesus-Bild muss die unterschiedlichen Wahrnehmungen erklären, die Jesus von Nazareth vor und nach Ostern auslöste und die verschiedenen Anknüpfungen an ihn plausibel machen. Die Geschichte des frühen Christentums zeichnet sich von Anfang an durch eine hohe Anschlussfähigkeit sowohl gegenüber dem hellenistischen Judentum als auch gegenüber dem genuin griechisch-römischen Kulturraum aus. Eine nachhaltige Anschlussfähigkeit ist nicht einfach identisch mit Anpassung, sondern gewinnt ihre Kraft aus dem Ursprungsgeschehen, d. h. die Entstehung der Christologie und die verschiedenen Entwicklungen in der Geschichte des frühen Christentums bis hin zur beschneidungsfreien Völkermission werden aus geschichtstheoretischer Sicht auch Anhaltspunkte im Wirken und in der Verkündigung des Jesus von Nazareth haben. Jesu einzigartiger vorösterlicher Anspruch, eine schon sehr früh ausdifferenzierte Christologie und eine innerhalb der Weltgeschichte singuläre Ausbreitungsgeschichte einer neuen Religion lassen sich nur überzeugend erklären, wenn die Kraft des Anfangs so stark und mannigfaltig war, dass sie eine Vielfältigkeit der Interpretationen aus sich heraussetzen konnte.
3.1.2
Kriterien der Frage nach Jesus
W.G. KÜMMEL, Dreissig Jahre Jesusforschung (1950–1980), BBB 60, Königstein/Bonn 1985, 2– 32; K. KERTELGE (Hg.), Rückfrage nach Jesus, Freiburg 21977; F. HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus, 11–77; E. SCHILLEBEECKX, Jesus (s. o. 3), 70–89; D. LÜHRMANN, Die Frage nach Kriterien für ursprüngliche Jesusworte, in: J. Dupont (Hg.), Jsus aux origenes de la christologie, BEThL XL, Leuven 1989, 59–72; J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. u. 3.6), 8–94; G. THEISSEN/D. WINTER, Die Krite22 So definiert in der Tradition R. Bultmanns z. B. G. EBELING, Historischer Jesus und Christologie, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 31967, (300–318) 303: „‚Historisch‘ meint also die sachgemäße Methode zur Erkenntnis geschichtlicher Wirklichkeit. ‚Historischer Jesus‘ ist darum eigentlich eine Abkürzung für: Jesus, wie er bei strenger historischer Methode zur Erkenntnis kommt, entgegen den etwaigen Veränderungen und Übermalungen, die er im JesusBild der Tradition erfahren hat. Der ‚historische Je-
sus‘ meint darum soviel wie: der wahre, der wirkliche Jesus.“ 23 Gegen eine deutliche Tendenz innerhalb der amerikanischen Jesus-Forschung, die historische gegen die theologische Frage auszuspielen; vgl. E.P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 333f; J. P. MEIER, Jesus I (s. o. 3), 21–31. 24 Vgl. J. FREY, Der historische Jesus und der Christus des Glaubens, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus (s. o. 3.1), 297 ff.
Die Frage nach Jesus 55
rienfrage in der Jesusforschung, Fribourg/Göttingen 1997; J.P. MEIER, A Marginal Jew I (s. o. 3), 167–195; ST. PORTER, The Criteria for Authenticy in Historical-Jesus Research, JSNT.S 191, Sheffield 2000; I. BROER, Die Bedeutung der historischen Rückfrage nach Jesus und die Frage nach deren Methodik, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 19– 41; A. SCRIBA, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung. Kritische Revision und konstruktiver Neuansatz, Hamburg 2007.
Trotz zahlreicher abweichender Meinungen in Einzelfragen ist sich die Exegese darin einig, dass die Frage nach Jesus von Nazareth historisch möglich und theologisch geboten ist. Wie aber soll sie sich vollziehen; mit Hilfe welcher Kriterien ist es möglich, aus dem breiten Strom der Überlieferung Worte Jesu herauszufiltern, sie von späteren Interpretationen und Aktualisierungen zu unterscheiden, ohne dabei die oben genannten Grundüberlegungen zu vernachlässigen? Zur Beantwortung dieser Fragen muss zunächst zwischen Basiskriterien und Materialkriterien unterschieden werden. Basiskriterien
Das entscheidende Basiskriterium ist die ‚Gesamtplausibilität ‘, wonach eine Rekonstruktion der Verkündigung Jesu sowohl im Kontext des Judentums als auch des entstehenden Christentums plausibel sein muss25. Die ‚Kontextplausibilität ‘ geht davon aus, dass eine Alternative Jesus – Judentum historisch wie theologisch verfehlt ist. Jesus kann nicht vom Judentum abgehoben werden, sondern er muss innerhalb des Judentums, genauer: im Kontext seiner galiläischen Welt verstanden werden. Die Einbindung Jesu in die Sprach- und Handlungsmuster seiner Umwelt schließt zudem eine kritische Stellung Jesu innerhalb des Judentums keineswegs aus, denn das Judentum war zu dieser Zeit keine homogene Einheit, sondern umfasste vielfältige, sich teilweise widersprechende Strömungen. Zugleich muss erklärt werden, wie aus der Verkündigung Jesu das frühe Christentum entstehen konnte. Neben der Kontextplausibilität ist die ‚Wirkungsplausibilität ‘ das zweite entscheidende Kriterium, denn historisch kann nur ein Jesusbild sein, dass sowohl die Verkündigung Jesu im Rahmen des Judentums seiner Zeit als auch die Entwicklung von Jesus zum Urchristentum verständlich macht26. Die Botschaft Jesu ist in Galiläa entstanden und mit Galiläa verbunden, ohne jedoch auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten Galiläas reduziert werden zu können; sie hat politische Dimensionen, obwohl sie in ihrem Kern nicht politisch ist27.
25 Vgl. zu den Plausibilitätskriterien G. THEISSEN/
D. WINTER, Kriterienfrage, 175–214. 26 Vgl. G. THEISSEN/D. WINTER, Kriterienfrage, 217: „Was wir von Jesus insgesamt wissen, muß ihn als Individualität innerhalb des zeitgenössischen jüdischen Kontextes erkennbar machen und mit der
christlichen (kanonischen und nicht-kanonischen) Wirkungsgeschichte vereinbar sein.“ 27 Methodisch bilden daher sozialgeschichtliche und politische Fragestellungen nicht den alleinigen Konstruktionshorizont (so in vielen amerikanischen oder amerikanisch beeinflussten Studien), sondern
56 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Dies zeigt deutlich die Rezeptionsgeschichte, denn Jesu Verkündigung vom Reich Gottes wurde – abgelöst von seinem konkreten historischen und geographischen Ort – innerhalb sehr kurzer Zeit im gesamtem Mittelmeerraum aufgenommen. Dies war nur möglich, weil Jesu Verkündigung über ihre religiösen und sozial-politischen Inhalte hinaus auch eine ideengeschichtliche Qualität hatte und hat: Der eine Gott, der in neuer und überraschender Weise in der Liebe den Menschen nahe kommt und eine neue Gemeinschaft der Menschen jenseits von Herrschaft und Gewalt schaffen will. Die beiden Basiskriterien der Kontext- und Wirkungsplausibilität nehmen die geschichtstheoretische Einsicht auf, dass nachhaltige historische Entwicklungen über Anschlussfähigkeit verfügen müssen. Diese Anschlussfähigkeit vollzieht sich immer innerhalb existierender kultureller Kontexte und setzt neue Entwicklungen in Gang. Materialkriterien
Als materiale Kriterien für die Erhebung authentischer Jesusworte können gelten: 1) Die Mehrfachbezeugung. Die Rückführung eines Wortes auf Jesus ist dann plausibel, wenn dieses Wort in verschiedenen Überlieferungssträngen aufbewahrt wurde (z. B. Jesu Stellung zur Ehescheidung in Mk, Q, Paulus). Zur Mehrfachbezeugung gehört auch die gegenseitige Bestätigung von Wort- und Tatüberlieferung. Wenn Jesu Worte und sein Verhalten in die gleiche Richtung gehen, sich wechselseitig erläutern, dann liegt ein starkes Argument für Authentizität vor (z. B. Jesu Verhalten gegenüber Zöllnern und Sündern). 2) Differenz- bzw. Unähnlichkeitskriterium. R. Bultmann formuliert dieses klassische Kriterium so: „Wo der Gegensatz zur jüdischen Moral und Frömmigkeit und die spezifisch eschatologische Stimmung, die das Charakteristikum der Verkündigung Jesu bilden, zum Ausdruck kommt, und wo sich andererseits keine spezifisch christlichen Züge finden, darf man am ehesten urteilen, ein echtes Gleichnis Jesu zu besitzen.“28 Das Differenzkriterium steht mit anderen Kriterien in Spannung (z. B. der Kontextplausibilität), und man kann hier von einer Wortlastigkeit sprechen, weil der Erzählüberlieferung zu wenig historischer Eigenwert zuerkannt wird. Dennoch ist der dem Differenzkriterium zugrunde liegende Gedanke ernst zu nehmen: Es können solche Aussagen von Jesus hergeleitet werden, die sich weder aus den Voraussetzungen und Interessen des Judentums, noch aus denen der christlichen Gemeinde erklären lassen. 3) Das Kohärenzkriterium. Dieses Kriterium beruht auf dem Postulat, dass sich die Verkündigung Jesu im Ganzen als kohärent erweisen muss. Es müssen Jesus somit diejenigen Teile der Überlieferung abgesprochen werden, die nicht in dieses Gesamtbild passen. Auch dieses Kriterium ist widersprüchlich, denn es setzt immer schon ein bestimmtes Bild der Verkündi-
sie werden dort behandelt, wo die Texte es fordern; für Galiläa als spezifischem Lebensraum Jesu s. u. 3.4.5/3.8.1; für die politischen Dimensionen der Verkündigung Jesu s.u. 3.4.1.
28 R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition (s. o. 3.1.1), 322. Zur Geschichte des Differenzkriteriums vgl. G. THEISSEN/D. WINTER, Kriterienfrage, 28–174.
Die Frage nach Jesus 57
gung Jesu voraus, das sich dann selbst bestätigt. Dennoch ist auch hier der Grundgedanke zutreffend. Was sachlich mit jenen Stoffen übereinstimmt, die mit Hilfe eines anderen Kriteriums als echt erwiesen wurden, kann als ursprünglich gelten. 4) Das Wachstumskriterium. Dem Wachstumskriterium liegt die Überlegung zugrunde, dass ursprüngliches Jesusgut im Verlauf der Überlieferung durch sekundäre Texteinheiten angereichert wurde, die wiederum literarkritisch abgetragen werden können. Die literarkritische Analyse ermöglicht es hier, das Jesuslogion als Ausgangspunkt der Überlieferung zurückzugewinnen (vgl. Mt 5,33–37). 5) Das Anstößigkeitskriterium. Dieses Kriterium geht von der Überlegung aus, dass Worte oder Taten Jesu, die sowohl im jüdischen Umfeld als auch im Urchristentum als anstößig gesehen werden mussten, auf Jesus zurückzuführen sind. So gehört z. B. die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zum historischen Grundbestand des Lebens Jesu, denn sie wurde vom Urchristentum in ihrer Bedeutung minimiert. Jesus lässt zudem unmoralische Helden in seinen Gleichnissen auftreten, so z. B. den ungerechten Haushalter (Lk 16,1b–7). Schließlich agiert Jesus selbst als unmoralischer Held und pflegt geselligen Verkehr mit Zöllnern und Sündern. Jedes Jesus-Bild ist notwendigerweise und unausweichlich eine Konstruktion, die aber nicht willkürlich, sondern auf der Basis der Überlieferung anhand von Kriterien vollzogen wird29. Jedes Einzelkriterium verfolgt eine bestimmte Frageabsicht und ist für sich widersprüchlich. In ihrer Gesamtheit sind die Kriterien jedoch aussagekräftig, denn sie ergänzen sich im Zusammenspiel. Ein Gesamtbild baut immer auf den Ergebnissen von Einzelanalysen auf, zugleich beeinflusst das gewonnene Gesamtbild stets auch die Einzelanalysen. Dieser Zirkel ist sachgemäß, weil so Einseitigkeiten verhindert werden. Der vorausgesetzte und zugleich immer wieder gewonnene Gesamtsinn des Wirkens Jesu und die zahlreichen Einzelaspekte seines Wirkens interpretieren und ergänzen sich gegenseitig. Über die genannten Kriterien hinaus ist die Überlieferungsdichte von grundlegender Bedeutung; je umfassender bestimmte Redeformen (z. B. Gleichnisse), Perspektiven (Reich Gottes, Gericht), Taten (z. B. Heilungen) und Handlungen (z. B. Konflikte mit Pharisäern; Gemeinschaft mit ‚Unreinen‘) dominieren, um so wahrscheinlicher bilden sie das Zentrum des Auftretens Jesu. Die Überlieferungsdichte lässt die Grundstrukturen des Wirkens Jesu deutlich vor Augen treten30 und zeigt, wie Jesus vor und 29 A. SCRIBA, Echtheitskriterien, 107–114, postuliert in Verbindung mit der Plausibilität und Wirkungsgeschichte das Kriterium der ‚Datenauswertung‘: „Zu diesen Daten gehören vornehmlich die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, Jesu Verzicht auf die Taufe während seines eigenen Wirkens, das Datum der Hinrichtung Jesu, die Modalitäten und Charakteristika der Ostervisionen und die Voraussetzungen
für die Wiederaufnahme der Taufe im frühen Christentum“ (a. a. O., 240). 30 F. HAHN, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, 40–51, spricht von ‚Komponenten‘, W. THÜSING, Neutestamentliche Theologie I, 57–71, von ‚Strukturkomponenten‘ des Wirkens Jesu, zu denen besonders die Konflikte Jesu, die Basileia-Verkündigung und der Nachfolgeruf gehören.
58 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
nach Ostern wahrgenommen wurde. Kein historisch plausibles Jesus-Bild kann an den Hauptlinien der narrativen Präsentation Jesu und damit an der Überlieferungsdichte vorbei entworfen werden! Basiskriterien: Gesamtplausibilität
Kontextplausibilität
Judentum Materialkriterien:
3.2
Wirkungsplausibilität
Jesus
Urchristentum
Mehrfachbezeugung Unähnlichkeit Kohärenz Wachstum Anstößigkeit
Der Anfang: Johannes der Täufer
J. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, BSt 63, Neukirchen 1972; O. BÖCHER, Johannes der Täufer, TRE 17, Berlin 1988, 172–181; ST. V. DOBBELER, Das Gericht und das Erbarmen Gottes, BBB 70, Frankfurt 1988; J. ERNST, Johannes der Täufer, BZNW 53, Berlin 1989; K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991; R. L. WEBB, John the Baptizer and Prophet, JSNT.S 62, Sheffield 1991; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 1993, 292–313; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 19–233; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 184–198; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer, Leipzig 2002; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 339–382; L. SCHENKE, Jesus und Johannes der Täufer, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 84–105.
Mit keiner Gestalt Israels sah sich Jesus so eng verbunden wie mit Johannes dem Täufer. Bereits von ihren Zeitgenossen wurden beide miteinander verglichen (Mt 11,18fpar; vgl. Mk 2,18par; 6,14–16par) und in der frühchristlichen Überlieferung werden zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen und auch ihren Schülern angedeutet (vgl. Mk 2,18; Lk 1,5ff; 11,2; Joh 1,35–51; 3,22ff; 4,1–3; 10,40–42; Apg 19,1– 7). Wer Jesus von Nazareth verstehen will, muss Johannes den Täufer kennen lernen.
Der Anfang: Johannes der Täufer 59
3.2.1
Johannes der Täufer als historische Gestalt
Das Neue Testament und Josephus (37/38 – um 100 n.Chr.) sind die beiden wichtigsten Quellen über Johannes d. T., die mit ihren Darstellungen jeweils eigene Ziele verfolgen. Die ntl. Nachrichten sind von der Auseinandersetzung mit der Täuferbewegung bestimmt und deutlich bestrebt, Johannes d. T. unterzuordnen, ihn zum eschatologischen Vorläufer und zum Zeugen des Messias Jesus von Nazareth zu degradieren (vgl. Mk 1,7f; Lk 3,16par; Joh 1,6–8.15.19ff). Josephus (Ant 18,116–119) stellt den Täufer für seine römisch-griechische Leserschaft als einen Tugendlehrer dar, der von Herodes Antipas getötet wurde, „obwohl er ein vortrefflicher Mann war und die Juden dazu aufforderte, Tugend und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu üben und zur Taufe zu kommen. Dann werde Gott die Taufe angenehm sein, weil sie nicht zur Abbitte für Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausgeführt werde, denn die Seele sei schon vorher durch (ein Leben) in Gerechtigkeit gereinigt“ (Ant 18,117)31. Josephus schweigt über die Beziehung zwischen Johannes und Jesus, er unterdrückt die Gerichtsbotschaft des Täufers und stellt dessen Taufe als bloße rituelle Reinigung des Körpers ohne einen Bezug zur Sündenvergebung dar. Zugleich zeigt der Bericht des Josephus aber auch, dass im antiken Judentum der Täufer als unabhängige und selbständige Gestalt wahrgenommen wurde. Biographisches und Geographisches
Das Geburtsjahr des Täufers ist unbekannt, er dürfte in den letzten Jahren vor dem Tod Herodes d. Gr. (4 v.Chr.) geboren sein32. Johannes entstammte wahrscheinlich einer einfachen priesterlichen Familie (vgl. Lk 1,5), und dieser priesterliche Hintergrund war für sein Selbstverständnis und Handeln von großer Bedeutung33. Die Wirksamkeit Johannes d. T. begann nach Lk 3,1 im 15. Jahr des Tiberius, d. h. im Jahr 28; die Dauer seines Wirkens ist unbekannt. Er trat nach Mk 1,4f „in der Wüste“ auf (vgl. Q 7,2434: „Nachdem sie aber weggegangen waren, begann Jesus zu der Volksmenge über Johannes zu sagen: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen“) und taufte im Jordan. In Frage kommt für diese Ortsangabe der Unterlauf 31 Zur Analyse des Textes vgl. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 266– 274; ST. MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, Göttingen 2000, 230–245. 32 Nach Lk 1,36 war der Täufer nur sechs Monate älter als Jesus; historisch ist dies eher unwahrscheinlich, denn diese Tradition will Jesus bewusst nahe an den Täufer heranrücken; vgl. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 17. 33 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 304: „Diese her-
kunftmäßige, priesterliche Mittlerqualität des Johannes war sicherlich die entscheidende Komponente seiner aktiven Rolle beim Taufen, die ihn als rituellen Stellvertreter Gottes zum Täufer und die durch ihn vollzogene Taufe zum wirksamen Sakrament gemacht hat.“ 34 Das Sigel Q benennt die für die Logienquelle vermutete Textgestalt nach der lukanischen Reihenfolge; Grundlage ist in der Regel: P. HOFFMANN/CHR. HEIL (Hg.), Die Spruchquelle Q (s. u. 8.1).
60 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
des Jordans, wo es Stellen gibt, die sich durch Zugänglichkeit, fließendes Wasser und Wüste bis direkt an den Fluss heran auszeichnen. Wahrscheinlich lag die Taufstelle östlich des Jordans gegenüber Jericho35, denn Johannes verband mit dem Ort ein theologisches Programm: Das Geschehen der Urzeit wiederholt sich in der Endzeit; Israel befindet sich wiederum vor dem Einzug in das verheißene Land, der nun vom Täufer neu und anders ermöglicht wird36. Für ein Wirken des Täufers östlich des Jordans spricht auch die Tradition, dass er (wahrscheinlich um 29 n.Chr.) durch den Tetrarchen von Peräa Herodes Antipas hingerichtet wurde (vgl. Mk 6,17–29; Jos, Ant 18,118f)37. Zum Auftreten in der Wüste passen schließlich die Nachrichten über das Auftreten und die Lebensweise des Täufers in Mk 1,6 (vgl. Q 7,25)38. Seine Kleidung war aus Kamelhaaren gefertigt (vgl. Elia nach 1Kön 19,13.19; 2Kön 1,8LXX; 2,8.13f); sie bestand aus demselben Material, aus dem die Beduinen ihre Mäntel und Zelte herstellten. Der Ledergurt ist ebenfalls ein beduinisches Requisit, ein langer Riemen aus Gazellenleder, den die Beduinen zum Schutz um den bloßen Leib geschlungen trugen. Die Heuschrecken und der wilde Honig gehören zu der kargen Nahrung der Beduinen, so dass der Täufer schon von seinen Zeitgenossen asketisch gedeutet wurde (vgl. Mk 2,18; Q 7,33f). Kleidung, Nahrung und Auftreten des Täufers sind kulturfern und signalisieren eine Existenz außerhalb des von Israel in Besitz genommenen Landes. Mit dieser gesamten Existenzweise bekundet Johannes den Ernst der Gerichtssituation, in der er seine Zeitgenossen sieht. Der Grundbestand der Verkündigung des Täufers lässt sich relativ sicher ermitteln; sie ist Gerichts- und Bußpredigt und ganz von einer eschatologischen Naherwartung bestimmt. 35 Vgl. dazu H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran,
Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 294 ff. Nach Joh 1,28 taufte Johannes „in Bethanien jenseits des Jordans" und nach Joh 3,23 „in Ainon nahe bei Salim". Diese joh. Sondertraditionen lassen sich jedoch nicht überzeugend lokalisieren; vgl. hier J. ERNST, Wo Johannes taufte, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), hg. v. B. Kollmann/W. Reinbold/A. Steudel, BZNW 97, Berlin 1999, 350–363. 36 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 296f: „Denn Johannes hatte als Ort seines öffentlichen Auftretens genau jene Stelle gegenüber Jericho gewählt, wo einst Josua das Volk Israel durch den Jordan hindurch in das Heilige Land hineingeführt hatte (Jos 4,13.19). Die Wahl des Ostufers des Jordans als Wirkungsstätte entsprach dabei der einstigen Situation Israels vor dem Durchschreiten des Flusses.“ 37 Während die Anekdote in Mk 6,17–29 die Ver-
wandtschaftsverhältnisse der Herodianer als Grund angibt, nennt Josephus politische Gründe: Johannes war so erfolgreich, dass ihm alles Volk zulief und Herodes Antipas diesen erfolgreichen Konkurrenten und Kritiker aus dem Weg schaffen ließ; zur Diskussion der Probleme vgl. U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 76–93. 38 Eine Darstellung aller relevanten Interpretationsmodelle bietet E.-M. BECKER, „Kamelhaare . . . und wilder Honig“, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/ M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 13–28; eigene Akzente setzt H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 298, der den Kamelhaarmantel als vornehme Kleidung interpretiert und meint: „In Olivenöl gesottene Heuschrecken schmecken ähnlich wie Pommes frites. Ebenso wie Wildbienenhonig sind sie eine Leckerei.“
Der Anfang: Johannes der Täufer 61
Kommender Zorn und Feuergericht
Im Zentrum der Verkündigung des Täufers steht Gottes unmittelbar bevorstehendes Gerichtshandeln (Q 3,7–9): „Schlangenbrut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dass ihr dem kommenden Zorngericht entkommt? Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und bildet euch nicht ein, bei euch sagen zu können: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. Aber schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird daher herausgehauen und ins Feuer geworfen.“ Johannes lebte offenbar in der Gewissheit, dass der ‚kommende Zorn‘ unmittelbar ganz Israel bedroht. Die Metapher der ‚Schlangenbrut‘ dient als Unheilsandrohung, denn Schlangen werden zertreten oder erschlagen. Auch der Rekurs auf Abraham ist nicht mehr möglich und die bedrohliche Gerichtsnähe wird mit der Zeitangabe (vdv = „schon“) zugespitzt und durch das Bildwort von der Axt und dem Baum konkretisiert. Alles zusammen macht die Ausweglosigkeit der Situation deutlich. Nirgends begründet der Täufer, warum Gott zürnt; er konfrontiert Israel in aggressiver Selbstverständlichkeit mit seiner Gerichtsbotschaft. Damit steht Johannes in prophetischer Tradition (vgl. Am 5,18–20; 7,8; 8,2; Hos 1,6.9; Jes 6,11; 22,14; Jer 1,14)39, die er bewusst aufnimmt und verschärft, denn die Gerichtskatastrophe kommt nicht irgendwann, sondern steht unmittelbar bevor: Wenn die Axt schon angesetzt ist, muss nur noch die Person kommen, die fällen soll. Die Trennung von Spreu und Weizen durch Worfeln hat schon begonnen, danach wird die Spreu verbrannt (Q 3,17). Auffallend ist, dass bei dem schmalen Überlieferungsbestand gleich dreimal das Feuermotiv als Metapher für das Gericht40 in verschiedener Konnotation begegnet (vgl. Q 3,9.16b.17). Es dürfte für den Täufer charakteristisch gewesen sein, auch wenn es nur in Q und nicht bei Josephus, Markus und Johannes erscheint. Die entscheidende theologische Weichenstellung des Täufers liegt allerdings nicht in der Schärfe und Dringlichkeit des Vernichtungsgerichts41, sondern in der ausweglosen Situation der Angeredeten. Weil Gericht und Heil immer zugleich Bestandteil des Handelns Gottes sind42, ist Gottes Heilshandeln stets auch sein Gerichtshandeln. Die her39 Zu den prophetischen Traditionen bei Johannes vgl. M. TILLY, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten, BWANT 17, Stuttgart 1994. 40 Vgl. Gen 19,24; Ex 9,24; Lev 10,2; Num 11,1; Joel 3,3; Mal 3,19; Jes 66,15f u. ö. Mit seiner Gerichtsandrohung variiert der Täufer die prophetische Tradition vom „Tag Jahwes" (vgl. Am 5,20; Jes 13,3.6.9.13; Ez 7,3.7.8.19; 30,3; Hab 3,12; Joel 2,2; Zeph 1,15.18; Mal 3,2 u. ö.). Zu den Traditionen der Täuferverkündigung vgl. F. LANG, Erwägungen zur eschatologischen Verkündigung Johannes des Täufers, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS
H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 459–473. 41 Zur Typologie von Gerichtsvorstellungen vgl. E. BRANDENBURGER, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraussetzungen. Eine Problemstudie, in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des Urchristentums, SBAB.NT 15, Stuttgart 1993, 289–338; M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.8), 364–369. 42 Dies betont z.R. M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s.u. 3.8), 367f: „Der Richter handelt als Retter und umgekehrt; das Richten und das Retten
62 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
kömmliche Stellung der Gruppen innerhalb dieses Geschehens (hier die auserwählten Gerechten, dort die Abtrünnigen und/oder Heiden) verschiebt sich allerdings grundlegend. Der Täufer teilt nicht die im antiken Judentum allgemein verbreitete Auffassung, wonach auf die Einsicht in die eigene Schuld und das Bekenntnis der Buße die Vergebung Gottes folgt, der an seinen Bund mit den Vätern trotz des wiederholten Versagens Israels festhält (vgl. z. B. Neh 9; Tob 13,1–5; PsSal 17,5; LibAnt 9,4; TestLev 15,4). Die bisher offene Möglichkeit der Wiederholung der Buße aufgrund der Erwählung Israels steht nicht mehr zur Verfügung! Die trügerische Hoffnung, Gott werde um des Bundes willen Israel wohl züchtigen, nicht aber ganz verwerfen, denn Gott könne sich nicht untreu werden, wird vom Täufer zerstört. Neu und besonders provokativ war schließlich, dass Johannes die Flucht zu Abraham und den damit verbundenen Verheißungen versperrte. Die von Johannes geforderte Umkehr orientiert sich nicht am Gesetz und am Tempel, sondern sie erfolgt in der Taufe43. Dabei geht es nicht nur um eine sittliche Besserung, sondern die Wendung ba´ptisma metanoı´aß eiß afesin amartiw˜n (Mk 1,4: „Taufe zur Vergebung der Sünden“) beinhaltet eine anthropologische Prämisse: Das gesamte vorfindliche Israel ist ein Unheilskollektiv und dem Unheilsgericht verfallen. Die von Johannes verkündete Umkehr verlangt von Israel das Bekenntnis, dass Gott mit seinem Zorn im Recht ist. Dieses Bekenntnis ist nach Auffassung des Johannes die letzte Möglichkeit, die Gott Israel einräumt, um dem kommenden Unheil zu entgehen. Gott wird in Kürze seinen Willen universal durchsetzen und es ist die Stellung zur Botschaft des Täufers, die über Heil oder Unheil im Endgeschehen entscheidet. Die Taufe des Johannes als eschatologisches Bußsakrament ist der Ausdruck der geforderten Umkehr und sie verbürgt als eine Art Versiegelung das Heil. Damit ist Johannes der Täufer nicht einfach nur ein Vorläufer des kommenden Richters, sondern er ist zugleich Mittler des Heils, denn seine Taufe ermöglicht es, im kommenden Gericht auf der Heilsseite zu stehen. Wer der kommende Richter sein wird, lässt sich den Texten nicht mehr mit Sicherheit entnehmen. Der kommende Stärkere
Der Verweis auf einen kommenden Stärkeren ist ein weiteres zentrales Element der Verkündigung des Täufers (Q 3,16b–17): „Ich taufe euch mit/in Wasser, der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich. Ich bin nicht würdig, ihm seine Sandalen zu tragen. Er selbst wird euch mit/in [heiligem Geist und]44 Feuer taufen. Seine Schaufel ist in Gottes sind ‚Korrelate‘ ein und desselben Handelns Gottes.“ 43 Vgl. hier H. MERKLEIN, Die Umkehrpredigt bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 109–126. 44 Die Worte pneu´mati agı´w kaı´ sind mit großer
Wahrscheinlichkeit eine christliche Interpretation; dafür spricht der Gegensatz von Wasser- und Geisttaufe, der auch sonst benutzt wird, um zwischen Johannestaufe und christlicher Taufe zu unterscheiden (vgl. Joh 1,33; Apg 19,1–7); vgl. U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 34.
Der Anfang: Johannes der Täufer 63
seiner Hand, und er wird seinen Dreschplatz säubern und den Weizen in seine Scheune einsammeln, die Spreu aber wird er in einem Feuer verbrennen, das nicht erlischt.“ Wer ist der Starke, der nach dem Täufer unmittelbar das Feuergericht vollziehen wird? In der Forschung schwankt man zwischen einer messianischen Gestalt und Gott selbst. Für eine Identifizierung des Stärkeren mit Gott können folgende Argumente angeführt werden: 1) Nur Gott kann ein neues endzeitliches Handeln jenseits aller überlieferten jüdischen Heilserwartungen vollziehen und Sünden vergeben. 2) In Q 3,17 beziehen sich die Possessivpronomina („seine Tenne“, „seine Scheune“) auf Gott; o iscuro´ß („der Starke“) ist ein der LXX geläufiger Gottesname, was der Stärkere tut, ist traditionell Gottes Werk (vgl. Jes 27,12f; Jer 13,24; 15,7; Mal 3,19). 3) In Lk 1,15f wird gesagt, dass der Sohn des Zacharias ‚groß sein wird vor dem Herrn‘ und „dass er viele Kinder Israels hinwenden wird zu dem Herrn, ihrem Gott“45. Diesen Argumenten stehen andere gegenüber, die auf eine von Gott zu unterscheidende Mittlergestalt verweisen: 1) Die Beziehung des Täufers zu einem anderen, der „stärker" ist und eine noch wirkungsvollere Taufe bringt, ist eine Verhältnisbestimmung, die beide Gestalten einem Bereich mit nur graduellem Unterschied zuordnet. 2) Der Anthropomorphismus vom „Tragen der Schuhe" (Q 3,16b) bzw. vom „Lösen der Schuhriemen" (Mk 1,7b) ist als Bild für Gott unpassend. 3) Die Frage des Täufers an Jesus: „Bist du der Kommende“ (Q 7,19) setzt eine auf Erden wirkende Mittlergestalt voraus. 4) Wäre Gott der Kommende, dann müsste sich der Täufer nicht so stark abgrenzen, denn Gott war selbstverständlich „der Stärkere“. Eine solche von Gott zu unterscheidende Mittlergestalt könnten der Menschensohn (vgl. Dan 7,13f; äthHen 37–71)46, der davidische Messias (vgl. PsSal 17; Achtzehngebet Ben 14) oder eine messianische Mittlergestalt ohne geläufigen Titel sein47. Eine Entscheidung ist schwer zu treffen, aber der vom Täufer erhobene Anspruch lässt keinen Platz für eine weitere Mittlergestalt, sondern verweist auf Gott selbst als den in Kürze Handelnden48. Der Täufer proklamiert eine Neukonstitution Israels jenseits von Erwählung, Bund, Tempel und Tora, die nur von Gott im Gericht ratifiziert werden kann. Im Kontext von Mal 3 verstand sich Johannes als Gottes endzeitlicher Bevollmächtigter, der als Erster andere Menschen taufte49; er lebte in dem Bewusstsein, 45 Vgl. F. HAHN, Theologie I, 50. 46 Für den Menschensohn plädiert J. BECKER, Jesus
von Nazareth (s. o. 3), 54–56. 47 So G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o.
3), 196: „Da das von Jesus angesagte Heil als dem Täufer überlegen dargestellt wird und zugleich sachlich und zeitlich an dessen Person gebunden wird (vgl. auch Mt 11,12/Lk 16,16; Mt 11,16–19par.), kann man vermuten, dass Jesus sich mit der vom Täufer angesagten Mittlergestalt identifiziert hat.“ 48 So u. a. J. ERNST, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 305; H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes
der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 299; U. B. MÜLLER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 34. 49 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2), 302: „Tatsächlich hatte bis zum Auftreten des Johannes weder im Judentum noch in dessen Umwelt irgend jemand andere Menschen getauft. Zwar gab es eine Fülle kultischer Reinigungsriten bis zum Untertauchen des ganzen Körpers; doch vollzog jeder solche Reinigungsriten ganz eigenständig, ohne die Mitwirkung eines Taufenden.“
64 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
die endzeitliche, allein Gott zukommende Sündenvergebung bereits jetzt sakramental zu bewirken.
3.2.2
Jesus und Johannes der Täufer
Das Verhältnis zwischen Jesus und dem Täufer berührt die Ebenen der Biographie, der Lehre und der Wirkungsgeschichte. Biographische Berührungen
Die grundlegende biographische Kontinuität ist das historische Faktum der Taufe Jesu durch Johannes d. T. (vgl. Mk 1,9–11par). Damit verbindet sich die Frage, ob dies ein punktuelles Ereignis war oder Jesus über längere Zeit als Mitglied der Täuferbewegung angehörte. Deutlich ist zunächst, dass Jesus durch die Taufe die Perspektive des Täufers bejahte und übernahm: Gottes richtendes Eingreifen steht unmittelbar bevor. Israel kann sich nicht mehr auf seine heilsgeschichtlichen Prärogative berufen und ist in seiner Gesamtheit dem Gericht verfallen. Innerhalb der Gerichtsbotschaft besteht zweifellos die größte Kontinuität zwischen dem Täufer und Jesus50, beide stehen außerhalb der sonstigen Gruppenbildungen in Israel und gehören zur prophetischen Tradition. Zugleich gibt es deutliche Unterschiede in der Außenwahrnehmung und Selbstdarstellung: Josephus weiß offenbar nichts von einer Verbindung zwischen dem Täufer und Jesus und Q 7,33f verweist auf markante Differenzen: „Denn Johannes kam, er aß nicht und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.“51 Bei aller Hochschätzung gegenüber dem Täufer (vgl. Q 7,26: „Doch was seid ihr herausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr als einen Propheten“), grenzt sich Jesus zugleich deutlich ab, denn ‚der Kleinste im Königreich Gottes ist größer als Johannes‘ (Q 7,28; vgl. Q 16,16). Die Überlieferung verweist auf eine geistige Verwurzelung Jesu im Täuferkreis, beide bewegten sich in einem vergleichbaren religiös-sozialen Milieu und Jesus wurde als Parallelgestalt zum Täufer wahrgenommen (vgl. Mk 6,14–16par; 8,28). Zugleich gibt es keine überzeugenden Indizien für eine längere Mitgliedschaft Jesu im Täuferkreis52. Man wird Jesus deshalb als einen Täuferschüler für kurze Zeit verstehen müssen53. 50 Vgl. J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 56 f.
53 Vgl. J. P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 129.
51 Zur Analyse vgl. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“
Die Täuferanfrage in Q 7,18f halte ich mit vielen anderen für nachösterlich; zur Begründung vgl. z. B. K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 116–126.
des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 68–83. 52 Dies betont nachdrücklich K. BACKHAUS, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes (s. o. 3.2), 110– 112.
Der Anfang: Johannes der Täufer 65
Kontinuität und Diskontinuität in der Lehre
Eine entschiedene Theozentrik verbindet die Verkündigung des Täufers und Jesu: Es geht ihnen um den hereinbrechenden Gott, der auf neue Art und Weise handelt. Die Unheilsbotschaft ist dabei die entscheidende lehrmäßige Brücke; auch für Jesus ist Israel als Ganzes dem Vernichtungsgericht verfallen, der Rückgriff auf die heilsgeschichtliche Erwählung fruchtet nicht mehr (vgl. Lk 13,1–5). Unterschiedlich bestimmen der Täufer und Jesus jedoch die neue Zuwendung Gottes. Bei Johannes ist die Taufe eschatologisches Bußsakrament und rettet vor dem Unheil; insofern muss auch beim Täufer von einer Heilsbotschaft gesprochen werden. Jesus setzt andere Akzente, er tauft nicht und löst den Bußgedanken von der Taufe. Er misst der Grundgewissheit des Täufers einen anderen Platz bei, denn bei ihm dominiert nicht die Unheils-, sondern die Heilsbotschaft. Jesus teilt mit dem Täufer eine akute Naherwartung, sieht aber im Hereinbrechen des Reiches Gottes in Verbindung mit seiner Person einen Vorrang des Heilshandelns Gottes, so dass bei ihm neben die futurische eine präsentische Eschatologie tritt (s. u. 3.4.2). Der Täufer erwartete den „Stärkeren“, womit er Gott selbst meinte. Jesus sprach hingegen vom zukünftigen Menschensohn, mit dem er sich identifizierte und den er auf Erden bereits repräsentierte (s. u. 3.9.2). Während der Täufer demonstrativ asketisch auftrat und in der Wüste wirkte, durchzog Jesus die besiedelten Gebiete Galiläas und begab sich auch nach Jerusalem. Auffällig ist schließlich, dass Jesus sich in besonderer Weise Randgruppen zuwandte und vor allem als Gleichniserzähler und Wundertäter im Gedächtnis blieb. Wirkungsgeschichtliche Berührungen
Johannes d. T. sammelte bereits zu Lebzeiten Jünger um sich, als Kennzeichen dieser Gruppe galten Fastenbräuche (vgl. Mk 2,18par: „Und die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer fasteten“) und eigene Gebete (Lk 5,33; 11,1). Nach Ostern entwickelte sich eine Konkurrenz zwischen den Johannesjüngern und der sich bildenden christlichen Gemeinde, denn zwischen beiden Bewegungen gab es einen personalen Austausch (vgl. Joh 1,35–51; 3,22; 4,1); sie ähnelten sich und wurden von Zeitgenossen verglichen. Aus dem völlig eigenständig auftretenden Täufer wird nun der „Vorläufer" und „Wegbereiter" für Jesus (vgl. Mk 1,2fpar). Der vierte Evangelist annullierte schließlich die Selbständigkeit des Täufers ganz und machte aus ihm den bloßen Zeugen für Jesus als Sohn Gottes (Joh 1,23.27–34.36; 3,27–30). Die Christen erkannten in Jesus von Nazareth den gekreuzigten und auferstandenen Messias, den von Johannes verheißenen Messias, und übernahmen von ihm die Taufpraxis. Zugleich grenzten sie sich von der Johannestaufe durch ihre Geisterfahrung ab, während Johannes nur mit Wasser taufte, tauften sie mit Wasser und Geist (vgl. Mk 1,8par; Apg 19,1–7). Dennoch existierte die Johannesbewegung über einen langen Zeitraum und wirkte über den palästinisch-syrischen Raum hinaus auch in Kleinasien, worauf Apg 18,24–19,7 hinweist.
66 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Jesu Eigenständigkeit
Was begründete die Eigenständigkeit Jesu gegenüber seinem Lehrer? Welches Ereignis brachte ihn zu der Gewissheit, dass Gottes endgültiges Eingreifen schon begonnen hat – nicht zum hereinbrechenden Unheil, sondern in neuer Weise zum Heil? Wahrscheinlich führte ein visionäres Erleben Jesu zu der Einsicht, dass Gott zuerst zum Heil gegenwärtig ist (s. u. 3.3.2/3.4). Ein Nachklang dieser Vision dürfte in Lk 10,18 vorliegen: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“54. Das mythische Böse ist schon besiegt, der Satan aus dem Zentrum der Wirklichkeit entfernt. Deshalb trat Jesus als Wundercharismatiker mit einer Heilsbotschaft für die Armen und Marginalisierten auf. Die in seiner Gegenwart von Gott und ihm selbst bewirkten Wunder überzeugten ihn davon, dass schon jetzt die Heilszeit begonnen hatte, der Satan besiegt war und er von Gott als entscheidende Gestalt im Endgeschehen ausersehen war.
3.3
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich
J. JEREMIAS, Abba, in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15–67; J. BECKER, Das Gottesbild Jesu und die älteste Auslegung von Ostern, in: Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 105–126; H. MERKLEIN, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 103, Tübingen 1998, 154–173.
Für Jesus von Nazareth ist das gesamte Leben und die Wirklichkeit insgesamt ein Gottesgeschehen, eine theozentrische Grundperspektive prägt seine Sicht der Welt. Gott erscheint weder als weltfernes Gegenüber noch als ein kultisch Domestizierter, sondern er ist neu, überraschend und machtvoll unmittelbar gegenwärtig. Diese Erfahrung einer neuen Gottesnähe und die Formulierung eines neuen Gottesbildes sind die prägenden Elemente der Sinnbildung Jesu. 3.3.1
Der eine Gott in der Verkündigung Jesu
Die Einzigkeit Gottes bildet die sachliche Grundlage des Denkens und der Verkündigung Jesu. Das Grundbekenntnis Israels zur Einzigkeit Jahwes (vgl. Dtn 6,4; Ex 34,13; Hos 13,4) wurde von Deutero-Jesaja zum grundlegenden theologischen Kon54 Die Überwindung des Satans galt als ein Zeichen der anbrechenden Heilszeit; vgl. AssMos 10,1. Zur Auslegung von Lk 10,18 s. u. 3.6.2; die Kompositionsabfolge ‚Auftreten des Täufers – Taufe Jesu –
Versuchung‘ in Q, Mk, Mt und Lk bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Verbindung zum Täufer, der Erkenntnis der Entmachtung des Satans und dem öffentlichen Auftreten Jesu.
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich 67
zept erhoben55. Jahwe, der ‚König Jakobs‘ geht mit den Göttern der Heiden ins Gericht und erweist ihre Nichtigkeit (vgl. Jes 41,21–29; 43,10 u. ö.). Positiv zeigt sich die Einzigkeit Jahwes in seiner totalen und exklusiven Kompetenz für Schöpfung, Geschichte und Heil. Der Spruch an Kyros fasst dies zusammen: „Ich bin der Herr, und sonst niemand; außer mir gibt es keinen Gott. Ich habe dich zum Kampf gerüstet ohne dass du mich kanntest, damit man vom Osten bis zum Westen erkenne, dass es außer mir keinen Gott gibt. Ich bin der Herr, und sonst niemand. Ich erschaffe das Licht und erschaffe das Dunkel, ich bewirke das Heil und bewirke das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt“ (Jes 45,5–7). Weil Jahwe der einzige ist, muss sich sein Königreich als befreiende Tat an seinem Volk erweisen: „Ich bin Jahwe, ich, und außer mir gibt es keinen Retter. . . . Ich allein bin Gott; auch künftig werde ich es sein“ (Jes 43,11–13). Schon jetzt kann Deutero-Jesaja die baldige Rettung seines Volkes mit dem Ruf ankündigen: „Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). In der weiteren prophetisch-apokalyptischen Tradition wird die Einzigkeit Gottes als Motiv durchgehend vorausgesetzt. Den sachlichen Zusammenhang von Gottesherrschaft und Einzigkeit Jahwes formuliert prägnant Sach 14,9: „Dann wird der Herr König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige.“ Die Einzigkeit Gottes und seine Herrschaft über Israel gehören unmittelbar zusammen, Jahwe erweist sich in der Durchsetzung seiner Herrschaft als der einzige Gott und sein Name wird als der einzige gepriesen werden. Der eine Gott in der Jesustradition
Explizit erscheint die Einzigkeit Gottes in der Jesustradition nur an vier Stellen; in der Erzählung der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12), in der Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28–34) in der Perikope vom reichen jungen Mann (Mk 10,17–27) und in Mt 23,9, wo Jesus sagt: „Und niemanden auf Erden sollt ihr euren Vater nennen; denn einer ist euer Vater, der im Himmel“56. Mk 2,1–12 ist in seiner vorliegenden Form eine Bildung der vormarkinischen Gemeinde, die aber Jesu Anspruch sachlich zutreffend wiedergibt, Sünden vergeben zu können (Mk 2,5b). Er tritt an die Stelle des einen Gottes (vgl. Mk 2,7: „Was redet er so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott“) und handelt aus einem einzigartigen Gottesbewusstsein heraus57. Auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe unter Aufnahme von Dtn 6,5 und Lev 19,18 geht auf Jesus zurück (s. u. 3.5.3). Sie ist in der jüdischen Tradition zwar vorbereitet, kommt aber dort explizit nicht vor. Die gesamte Botschaft und das gesamte Handeln Jesu sind von der Verbindung von 55 Vgl. M. ALBANI, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 1, Leipzig 2000. 56 Mk 10,18 und Mt 23,9 können in ihrer paräneti-
schen Ausrichtung nicht für Jesus in Anspruch genommen werden; zur Begründung vgl. H. MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s. o. 3.3), 155. 57 Vgl. zur Analyse O. HOFIUS, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 38–56.
68 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Gottes- und Nächstenliebe geprägt. Die grundlegende Bedeutung der Einzigkeit Gottes für die Verkündigung Jesu zeigt sich aber auch dort, wo nicht explizit von dem ‚einen Gott‘ gesprochen wird. Wenn Jesus im Vaterunser bittet: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme“ (Lk 11,2), dann ist deutlich, dass die Heiligung des Namens Gottes letztlich auf die Anerkennung seiner Einzigkeit und damit das Kommen der Gottesherrschaft auf die Durchsetzung der Einzigkeit Gottes zielt. Mit der Verheißung und Ansage der kommenden Gottesherrschaft proklamiert Jesus die eschatologische Offenbarung der Einzigkeit Gottes. Die Vorstellung der Gottesherrschaft wird bei Jesus vom Gedanken der Einzigkeit Gottes getragen. Wahrscheinlich ist diese Verbindung der Grund dafür, warum Jesus den Begriff der Gottesherrschaft in analogieloser Weise zum Zentrum seiner Botschaft macht und andere Heilsvorstellungen diesem Begriff subsumiert58. Die Rede von Gott als ,,Vater/Abba`'
Terminologisch auffällig für Jesus ist die Bezeichnung und Anrede Gottes als „Vater“. Dies ist kein Novum, denn sowohl im griechisch-römischen Kulturraum59 als auch im Judentum60 findet sich diese Anrede für Gott. Bemerkenswert ist allerdings die Häufigkeit, denn das Wort patv´r („Vater“) für Gott begegnet im Munde Jesu ca. 170mal in den Evangelien. Obwohl ein Großteil dieser Belege nicht als authentische Rede Jesu gewertet werden kann, zeigt die darin sichtbare Wirkungsgeschichte, dass „Vater“ die für Jesus typische Gottesbezeichnung war. Bemerkenswert ist auch die konkrete Form der Vateranrede Jesu mit aB˜aˆ, die in der urchristlichen Überlieferung als so charakteristisch angesehen wurde, dass selbst in den griechischen Texten mit abba´ das aramäische Wort beibehalten wurde (vgl. Gal 4,6: „Weil ihr jetzt aber Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft Abba, Vater!“; Röm 8,15: „Der Geist, den ihr empfangen habt, ist nicht ein Geist der Knechtschaft, so dass ihr euch aufs neue fürchten müsstet; sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft empfangen, in welchem wir rufen: Abba, Vater!“; ferner Mk 14,36: „Und er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“). Abba ist keine analogielose Gottesanrede61 und kann auch nicht ein besonderes Sohnesbewusstsein Jesu begründen62. 58 Vgl. H. MERKLEIN, Einzigkeit Gottes (s. o. 3.3), 155–160. 59 Zeus wird sehr häufig als ‚Vater‘ angeredet; vgl. u. a. Hom, Il XXIV 308; Hes, Theog 47–49; Dio Chrys, Or 1,39f; 2,75; 12,74f (Zeus als Vater, König, Beschützer und Retter aller Menschen); 36,31.35.36. 60 Vgl. z. B. Dtn 32,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 3,4; Sir 23,1.4; 51,10; Weish 14,3; 3Makk 5,7; 6,3.8; 7,6. 61 Zur sprachlichen Analyse von aB˜aˆ vgl. G. SCHELBERT, Abba, Vater!, FZPhTh 40 (1993), 259–281; 41 (1994), 526–531: aB˜aˆ ist Äquivalent für den norma-
len Begriff ‚Vater‘ und wurde in Angleichung an aM˜a˚ ‚Mutter‘ gebildet. Vgl. zu patv´r in jüdischen Gebeten Weish 6,3.8; Weish 14,3; Sir 23,1a.4aLXX. 62 Gegen J. JEREMIAS, Theologie I, 73: „Die völlige Neuheit und Einmaligkeit der Gottesanrede ’Abba in Jesu Gebeten zeigt, daß sie das Herzstück des Gottesverhältnisses Jesu ausdrückt. Er hat mit Gott geredet wie ein Kind mit seinem Vater: vertrauensvoll und geborgen und zugleich ehrerbietig und bereit zum Gehorsam.“
Der Ausgangspunkt: Das Kommen des einen Gottes in seinem Reich 69
Jesus bewegt sich innerhalb jüdischer Sprachmöglichkeiten, wobei gerade die Einfachheit und nicht die Exklusivität der Anrede ‚Vater‘ die Nähe zu Gott anzeigt, in der Jesus sich befindet und in die er seine Hörer mit aufnehmen will. Nicht ein neues Wesen Gottes oder auch nur ein neuer, bisher verborgener Zug am Wesen Gottes wird offenbart. Wohl aber setzt Jesu Gottesanrede in ihrer Einfachheit und Offenheit ein neues, veränderndes Handeln Gottes am Menschen voraus. Das Unheilskollektiv Israel wird aus seiner Unheilsgeschichte und Schuldvergangenheit herausgerissen und Jesus spricht ihm das eschatologische Heil zu. Weil dieses erwählende und neuschaffende Handeln Gottes im Wirken Jesu schon geschieht, stehen diejenigen, die sich diesem Geschehen anvertrauen, bereits jetzt in einem unmittelbaren Gottesverhältnis jenseits von Tempel, Opfer und zentraler Inhalte der Tora und dürfen wie selbstverständlich diesen handelnden Gott wie Jesus „Abba“ nennen. Jesus verkündet keinen neuen Gott, wohl aber erschließt sich der Gott Israels in dem von Jesus proklamierten eschatologischen Geschehen der Gottesherrschaft in neuer Weise als „Vater“. Im Vaterunser verbindet sich die Anrede Gottes als „Vater/Abba" sogleich mit der Bitte um die Heiligung des Namens und das Kommen der Herrschaft des Vaters (Lk 11,2par). Gottes neuschaffendes Handeln soll sich durchsetzen und zum Ziel kommen, so dass alle den Namen des einen Vaters bekennen und somit sein Herr- und Königsein anerkennen. Die Wir-Bitten (Lk 11,3.4) des Vaterunsers fallen aus diesem eschatologischen Bezug nicht heraus, sondern applizieren nur das in den beiden ersten Bitten angesprochene Handeln Gottes auf die Existenz der davon Betroffenen. Die Bitte um die Vergebung der Schuld (Lk 11,4a; vgl. auch Mk 11,25; Mt 6,14) unterstreicht das menschliche Angewiesensein auf das jetzt geschehende, die Schuld tilgende Erwählungshandeln Gottes und versichert sich dessen in der Bereitschaft, selbst Schuld zu vergeben. Die Schlussbitte (Lk 11,4b: „Und führe uns nicht in Versuchung“) bringt zum Ausdruck, dass der Beter das neue Gottesverhältnis nicht in eigener Kraft durchhalten kann, sondern nur, wenn Gott ihn durch alle Versuchung hält und ihn in der Anfechtung bewahrt. Auch die Brot-Bitte (Lk 11,3par) ist zutiefst eschatologisch geprägt, denn der Beter bittet nur um das notwendige Brot für heute, d. h. er erwartet eine andere Zukunft, die über die irdische Vor-sorge hinausgeht. Es ist die eschatologische Zukunft, die in der vorangehenden Bitte angesprochen wurde. Die Sorge für morgen ist unnötig; nicht nur, weil die eventuell morgen kommende Gottesherrschaft die Vorsorge von heute als voreilig ausweisen könnte, sondern weil das Geschehen der Gottesherrschaft die Gewissheit gibt, dass der Vater das jeweils heute Nötige geben wird, bis er dieses Geschehen zum Ziel gebracht hat. Deshalb mündet die Spruchgruppe vom Bitten (Q 11,9–13) und vom Nicht-sorgen in Q (Lk 12,22b–31/Mt 6,25–33) in den Hinweis, dass „euer Vater weiß, dass ihr dies (alles) braucht"; Lk 12,30bpar), und dann mit der Mahnung schließt: „Vielmehr sucht seine (= des Vaters!) Königsherrschaft, und dies (alles) wird euch dazugegeben" (Lk 12,31par). Der Rückgriff auf weisheitliche Motive aus dem Bereich der Schöpfungs-
70 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
wirklichkeit zur Veranschaulichung der Sorge des Vaters (vgl. „die Vögel des Himmels" und „die Lilien (des Feldes)“ in Lk 12,24.27f /Mt 6,26.28–30; ferner Lk 12,6f/ Mt 10,29–31), zeigt, dass Jesus das Alltägliche in einem neuen eschatologischen Licht sieht. Das erwählende Handeln Gottes gibt ihm die Gewissheit, dass sein Vater weiß und gibt, was zum Leben notwendig ist (Lk 12,30bpar; vgl. auch Mt 6,8). Die Eschatologie Jesu ist der sachgemäße Ort seiner Rede vom Vater, so dass die Theozentrik eschatologisch strukturiert ist! Die eschatologische Perspektive prägt bei Jesus das Gottesbild, man kann von einer „Koinzidenz von ‚Aufblick‘ und ‚Ausblick‘, von Theo-logie und Eschato-logie“63, von einem gegenseitigen Durchdringen von Aufblicken zum Vater und Ausblicken auf die kommende Basileia bei Jesus sprechen. Jesus verkündet den einen Gott als den eschatologisch handelnden Vater, dessen Herrschaft er als bereits gegenwärtiges Geschehen erfährt.
3.3.2
Das neue Gottesbild
Jesus hat ein neues, aber keineswegs unjüdisches Gottesbild gebracht. Es stand allerdings in Spannung zu den herrschenden Gottesbildern im Judentum, denn Jesus ließ (wie der Täufer) zentrale Elemente der Gottesvorstellung seiner Zeit außer Acht und wertete andere Traditionen neu. Auffällig ist zunächst, worauf sich Jesus nicht beruft64: Der für das Judentum seiner Zeit zentrale Bundesgedanke65 wird ebenso wenig aufgegriffen wie die Exodus- und Landtradition, die Geschichte Israels kommt nur ansatzweise in den Blick. Die Erzväter- und Zionstradition erscheint auffälligerweise im Kontext des Verhältnisses Israels zu den Heiden und wird entschieden abgewandelt (s. u. 3.8.3). Obwohl sich Jesus zu Israel gesandt weiß, nimmt er die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf und kann Heiden zum Vorbild des Glaubens erklären (vgl. Q 7,1–10). Auch die religiöse Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ gilt nicht mehr (vgl. Mk 7,15). Mit der Tempelreinigung (vgl. Mk 11,15– 18par) übte Jesus scharfe Kritik am herrschenden Tempelkult, die ihn in einen tödlich endenden Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit und den Römern brachte (s. u. 3.10.1). Der Tempel gehört für ihn zu dem, was zerstört werden wird (vgl. Mk 14,58). Auch die seit der Mitte des 2. Jh. v.Chr. im jüdischen Leben dominierende Tora steht nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu, sondern das als nah geglaubte und erfahrene Reich Gottes (s. u. 3.4). Q 16,16 hebt ausdrücklich die Zeit des Gesetzes und der Propheten und die Zeit des Reiches Gottes voneinander ab, so dass
63 H. SCHÜRMANN, Das „eigentümlich Jesuanische“
im Gebet Jesu. Jesu Beten als Schlüssel für das Verständnis seiner Verkündigung, in: ders., Jesus. Gestalt und Geheimnis, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, (45–63) 47.
64 Vgl. J. BECKER, Das Gottesbild Jesu (s. o. 3.3),
109 f. 65 Vgl. E. GRÄSSER, Jesus und das Heil Gottes, in:
ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, (181–200) 194–198.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 71
Jesu eschatologische Perspektive die von ihm vorgenommene Neubewertung der Tora begründet. Die Tora wird nicht überwunden oder aufgehoben, sondern in eine neue theozentrisch-eschatologische Perspektive gerückt: „Im Horizont der BasileiaVerkündigung, in der Gottes Zukunft als lebenschenkendes, heilvolles Geschehen bereits sichtbar wird (Mt 11,5f/Lk 7,22f), müssen sich die Weisungen der Tora und ihre Auslegung danach beurteilen lassen, inwieweit sie dem von Jesus verkündeten und gelebten Inhalt der Gottesherrschaft entsprechen, deren einziges Kriterium der sich im Liebesgebot zentrierende Wille Gottes ist (Mk 12,28–34par; Mt 5,43–48par; 9,13; 12,7; 23,23; vgl. 7,12).“66 Es dominiert nicht die Vergangenheit, sondern die Erfahrung der Gegenwart und der Ausblick auf die Zukunft Gottes. Sie zeigt einen Gott, der das Verlorene sucht (vgl. Lk 15,1–10.11–32) und sich der Menschen erbarmt (vgl. Mt 18,23–27); einen Gott, dessen Wille es ist, die Kranken und nicht die Gesunden zu retten, den Sündern Vergebung zu gewähren und den Armen und Bedrückten das Heil zu bringen. Das Bild des gütigen und vergebenden Gottes findet sich auch in der jüdischen Tradition67, Jesus stellt es jedoch in neuer Weise in die Mitte seiner Verkündigung und formt es aus seiner eschatologischen Perspektive.
3.4
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes
N. PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich? (s. o. 3), 52–119; O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg CH/Göttingen 1984; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, SBS 111, Stuttgart 1983; H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft, BThSt 20, Neukirchen 1993; H. MERKEL, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, hg. M. Hengel/A. M. Schwemer, WUNT 55, Tübingen 1991, 119–161; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 237–506; M. WOLTER, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995), 5–19; M. DE JONGE, Jesus‘ rle in the final breakthrough of God's kingdom, in: H. Cancik/H. Lichtenberger/P. Schäfer (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. FS M. Hengel III: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 265–286; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 221–253; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3),100–121; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 198–474; B. J. MALINA, The Social Gospel of Jesus, Minneapolis 2001; G. VANONI/B. HEININGER, Das Reich Gottes, NEB.Th 4, Würzburg 2002; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 383–487; R. A. HORSLEY, Jesus and Empire, Minneapolis 2003; L. SCHENKE, Die Botschaft vom
66 D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft, in: Christlicher Glaube und religiöse Bildung (FS F. Kriechbaum), hg. v. H. Deuser/ G. Schmalenberg, GSTR 11, Gießen 1995, (75–109) 107. 67 Für die griechische Tradition vgl. Plut, Mor 1075E, wo der Kritik der Stoiker an den Epikureern
zugestimmt wird: „Denn die Gottheit müsse nicht nur als unsterblich und glückselig begriffen werden, sondern auch als menschenfreundlich, fürsorglich und helfend (ou ga`r aha´naton kai` maka´rion mo´non alla` kai` fila´nhrwpon kvdemoniko`n kai` wfe´limon). Dies trifft zu.“
72 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
kommenden „Reich Gottes“, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 106–147; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 189–213.
Religiöse Rede hat immer eine symbolische Dimension, weil die Wirklichkeit Gottes für Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist. Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen68, die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Sie repräsentieren sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ihnen69. Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/Leser rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Bei Jesus von Nazareth ist das zentrale religiöse Symbol das Reich/die Herrschaft Gottes, er verkündigte das Kommen des einen Gottes in seinem Reich.
3.4.1
Religionsgeschichtliche und politische Vorgaben
Symbole sind als sprachliche Zeichen immer eingebunden in die Enzyklopädie eines Kulturkreises, speziell in seine Sprache. Um ein Symbol verstehen zu können, muss die Enzyklopädie des Begriffes abgeschritten werden. Bei ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ist dies die Vorstellung von Gott als König im Alten Testament70, im antiken Juden68 Zur umfänglichen Symboldiskussion vgl.
G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 4 1997; M. MEYER-BLANCK, Vom Symbol zum Zeichen, Hannover 1995. Symbole (gr. su´mbolon = Zeichen, Sinnbild/sumba´llein = zusammenwerfen, verbinden, vergleichen) haben stets Verweischarakter und eine Brückenfunktion, deshalb sind sie immer auch interpretationsbedürftig und offen für eine metaphorische Auslegung. Metaphorische Rede (gr. metafora´ = Übertragung/metafore´w = übertragen) ist „eine Stilfigur, in der vermittels eines sprachlichen Bildes, d. h. in übertragenem Sinn, auf einen Sachverhalt Bezug genommen wird“ (PH. LÖSER, Art. Metapher, RGG4 5, Tübingen 2002, 1165), d. h. das bewusste Sprachspiel von Ähnlichem mit Unähnlichem. Auch die Metapher vollbringt eine Transferleistung, ihre Bildhaftigkeit zwingt dazu, die Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext zu erarbeiten. Metaphorischer Rede eignet immer ein kreatives Element, es wird etwas neu geschaffen oder erschlossen, ein neuer Zusammenhang gebildet, eine neue Ordnung etabliert. Symbol und metaphorische Rede/Metapher sind in der unabgeschlossenen Polyvalenz der Bildersprache nur schwer zu trennen; die Metapher ist zuallererst eine Sprachform, beim Symbol wird etwas Vorhan-
denes/Konkretes mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. „Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Elemente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit auf die dargestellte Empirie gerichtet“ (G. KURZ, Metapher, Allegorie, Symbol, 73). Metaphern müssen gesprochen/gelesen werden und beziehen sich auf die Gegenwart, Symbole hingegen verbinden Vergangenheit und Zukunft und haben Resultatcharakter. 69 Vgl. P. TILLICH, Systematische Theologie I, Stuttgart 51977, 280: „Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden. Jedes wahre Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit, die es symbolisiert.“ 70 Vgl. dazu W. H. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel, BZAW 80, Berlin 21966; J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen, FRLANT 141, Göttingen 1987; H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, FRLANT 148, Göttingen 1989; ST. SCHREIBER, Gesalbter und König, BZNW 105, Berlin 2000, 41–142 (Gott als König im AT und antiken Judentum).
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 73
tum71 und im Hellenismus72. Dazu gehören ein weites Sprachfeld (Gott als König und verbale Formulierungen von Herrschen), Assoziationen verwandter Art (z. B. Gott als Herr und Richter), königliche Attribute und Insignien (z. B. Palast, Thron, Hofstaat, Herrlichkeit), königliche Metaphorik (z. B. der König als Hirte) und typische königliche Aufgaben (den Frieden gewähren, die Feinde richten). Ausgangspunkt dieser Vorstellungen ist die in der Antike unmittelbare Erfahrung der uneingeschränkten Herrschaft und Allmacht von Königen, deren Machtfülle sich als Symbol für Gott anbot. Religiöse Dimensionen
Der im Tempel (vgl. Jes 6,1ff; Ps 47,9; 99,1f: „Der Herr ward König; es zittern die Völker; er thront auf den Cheruben; es wankt die Erde; groß ist der Herr in Zion“) bzw. der auf dem Zion thronende Jahwe (vgl. Ps 46; 48; 84; 87)73 ist König über alle Völker (vgl. Ps 47; 93; 96–99). Nach dem Exil vollzieht sich eine Eschatologisierung der mit der Herrschaft Jahwes verbundenen Traditionen, die deutlich mit Deuterojesaja einsetzt. Der König Israels wird sich seines Volkes in einer neuen Weise annehmen (vgl. Jes 41,21; 43,15; 44,6). Er beherrscht die Völker und lenkt die Könige (vgl. Jes 41,2f; 43,14f; 45,1), regiert die Geschichte und Schöpfung (40,3f; 41,4; 43,3). Damit verbindet sich eine unausweichliche Spannung zwischen gegenwärtiger und erwarteter Gottesherrschaft, von der auch Jesu Verkündigung geprägt ist. Das futurische Element dominiert in der Apokalyptik, wo Gott in einem endzeitlichen Kampf seine Feinde unterwerfen wird. Die Vorstellung eines Endkampfes zwischen zwei Machtblöcken findet sich in vielfältigen Variationen, wobei vor allem Beliar/Belial als Feind Gottes auftritt (vgl. TestDan 5,10b–13: „Und er selbst (Gott) wird gegen Beliar Krieg führen / und siegreiche Rache über seine Feinde geben. . . . Und er wird ewigen Frieden denen geben, die ihn anrufen. Und die Heiligen werden in Eden ausruhen, / und über das neue Jerusalem werden sich die Gerechten freuen . . . Und Jerusalem wird nicht länger Verwüstung erdulden, noch Israel in Gefangenschaft bleiben, denn der Herr wird in ihrer Mitte sein, und der Heilige Israels wird über ihnen König sein“;
71 Vgl. hier den Sammelband M. HENGEL/A. M.
SCHWEMER (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen 1991. 72 Die Königsmetaphorik ist im gesamten Hellenismus in verschiedenen Motivkomplexen weit verbreitet; in seinen Überlegungen zum wahren Herrscher sagt Dio Chrys, Or 1,39f: ‚Denn Zeus hat als einziger unter den Göttern die Beinamen ‚Vater‘ und ‚König‘ (patv`r kai` basileu´ß), ‚Polieus‘, ‚Philios‘, ‚Hetaireios‘ und ‚Homognios‘, ferner ‚Hikesios‘, ‚Pliyxios‘ und ‚Xenios‘ und zahllose andere Beina-
men, die alle etwas Gutes bedeuten und Urheber von Gutem sind. ‚König‘ heißt er wegen seiner Herrschaft und Macht (basileu`ß me`n kata` tv`n arcv`n kai` tv`n du´namin wnomasme´noß), ‚Vater‘ vermutlich wegen seiner Fürsorge und Milde“ (patv`r de` oımai dia´ te tv`n kvdemonı´an kai` to` pra˜ on); vgl. ferner Dio Chrys, Or 2,73–78; Epict, Diss III 22,63. Grundlegend ist dabei die Vorstellung, dass die göttliche Herrschaft im Kosmos als Vorbild für das wahre Königtum auf Erden anzusehen ist. 73 Das Zion-Motiv betont J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 105 ff.
74 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
vgl. ferner Joel 3; Zeph 3,15; Sach 14,9; Jes 24,21–23; Dan 2,24–45; 2 Makk 1,7–8; 1QM; Sib I 65–86; III 46–62. 716–723. 767–784). Bemerkenswert ist PsSal 17 (um 50 v.Chr.), wo Gott Israels König für immer ist (PsSal 17,1.3.46), zugleich aber der erwartete Messias als Repräsentant dieses Königtums erscheint (PsSal 17,32.34). Er wird als Herrscher Jerusalem und das Land Israel von den Völkern reinigen (PsSal 17,21.22.28.30), das heilige Volk sammeln (PsSal 17,26) und die Heidenvölker werden zur Fron nach Israel kommen und ihre Tribute abliefern (PsSal 17,30f). Das Reich Gottes für Israel ist hier wie in zahlreichen anderen Texten (vgl. z. B. Dan 2,44; 7,9–25; Ob 15–21) in Opposition zu den Heiden gedacht. Nach der um die Zeitenwende entstandenen Assumptio Mosis wird Gott in der Endzeit seiner Herrschaft über die gesamte Schöpfung antreten „und dann wird der Teufel nicht mehr sein“ (AssMos 10,1) und „der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er wird offen hervortreten, um die Heiden zu strafen, und alle Götzenbilder wird er vernichten“ (AssMos 10,7). In liturgischen Texten wie den Sabbatliedern aus Qumran dominiert eine präsentische Perspektive74. Diese Preisungen Gottes als des ewigen himmlischen Königs konzentrieren ihr beschreibendes Lob auf das himmlische unbegrenzte Königtum Gottes. Der irdische Kult partizipiert am himmlischen, indem man den himmlischen lobend beschreibt und somit Schöpfung und Geschichte weitgehend hinter sich lässt75. Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist das Bittgebet in äthHen 84,2–3a: „Gepriesen seiest du, Herr (und) König, groß und mächtig in deiner Größe, Herr der ganzen Schöpfung des Himmels, König der Könige und Gott der ganzen Welt. Deine Gottheit, Königsherrschaft und Majestät währen für immer und alle Zeit und deine Herrschaft durch alle Geschlechter: Und alle Himmel sind dein Thron in Ewigkeit und die ganze Erde der Schemel deiner Füße für immer und alle Zeit. Denn du hast (alles) geschaffen und du regierst über alles, und schlechterdings nichts ist dir zu schwer“. Auch protorabbinische Grundtexte jüdischen Glaubens, wie das Achtzehnbittengebet (11. Segensformel: „Bring wiederum unsere Richter wie vordem und unsere Ratsherrn wie zu Anfang, und sei König über uns eilends, du allein“)76 und das Qaddisch-Gebet („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“)77 zeigen, dass die Bitte um das Kommen und die Gegenwart des Reiches Gottes ein Kernstück jüdischer Hoffnung z.Zt. Jesu war.
74 Vgl. dazu A. M. SCHWEMER, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: M. Hengel/A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, 45–118. 75 Vgl. 4Q401 14i: „Denn du wirst geehrt von den Häuptern der Herrschaftsbereiche in allen Himmeln der Königsherrschaft deiner Herrlichkeit, um zu lo-
ben deine Herrlichkeit wunderbar unter den Göttlichen der Erkenntnis und die Preiswürdigkeit deiner Königsherrschaft unter den Heiligen der Heiligen“ (Übers.: A. M. Schwemer, Gott als König und seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, 81). 76 Zitiert nach BILLERBECK IV/1, 212. 77 Zitiert nach M. PHILONENKO, Das Vaterunser, Tübingen 2002, 25.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 75
Politische Dimensionen
Jesu Botschaft vom Reich Gottes vollzog sich innerhalb bestehender politischer Königreiche. Vornehmlich lebte und wirkte Jesus im Klein-Königreich des Herodes Antipas (4 v.Chr.–39 n.Chr.), der über Galiläa und Peräa herrschte78. Herodes Antipas war wie sein Vater Herodes d. Gr. ein nach Rom orientierter hellenistischer Herrscher, der zugleich seine jüdische Identität hervorhob. Wie bei Herodes d. Gr. gewann die kulturelle Gesinnung und der politische Herrschaftsanspruch auch bei Herodes Antipas zuallererst in baulichen Maßnamen Gestalt79, wobei die Urbanisierung mit einer Romanisierung und einer Kommerzialisierung zuungunsten der einfachen Landbevölkerung einherging. Er baute Sepphoris um und gründete um 19 n.Chr. als neue Hauptstadt von Galiläa Tiberias (benannt nach dem Kaiser Tiberius), das ganz nach hellenistischem Vorbild gebaut wurde80. Die Heirat von Herodes Antipas mit Herodias, die zuvor mit einem seiner Halbbrüder verheiratet war, wurde von Johannes d. T. angeprangert (vgl. Lk 3,19–20; Mk 6,14–29). Diese politisch-kulturelle Kritik hatte die Hinrichtung des Täufers zur Folge (s. o. 3.2.1). Offenbar fürchtete Herodes Antipas den Täufer ebenso wie Jesus (vgl. Lk 13,31–32) als Führer messianischer Bewegungen, die zu Beginn des 1. Jh. n.Chr. in Palästina nichts Außergewöhnliches waren81, so dass Herodes Antipas hier möglicherweise eine Gefahr für seine Regierung sah. Galiläa war insgesamt von tiefen strukturellen Spannungen durchzogen82, von Spannungen zwischen Juden und Heiden, Stadt und Land, Reichen und Armen, Herrschern und Beherrschten83. Wenn Jesus in diesem Kontext eine schon jetzt be78 Vgl. die Darstellung bei P. SCHÄFER, Geschichte
der Juden in der Antike, Neukirchen 1983, 95–133. 79 Vgl. dazu J. L. REED, Archaeology and the Galilean Jesus, Harrisburg 2002; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben (s. o. 3), 73–91. 80 Einen Überblick vermittelt: S. FORTNER, Tiberias – eine Stadt zu Ehren des Kaisers, in: G. Fassbeck u. a. (Hg.), Leben am See Gennesaret, Mainz 2003, 86– 92. 81 Dazu ist nach wie vor lesenswert: R. MEYER, Der Prophet aus Galiläa, Leipzig 1940; vgl. ferner R. A. HORSLEY/J. S. HANSON, Bandits, Prophets and Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, Harrisburg 1999; J. D. CROSSAN/J. L. REED, Jesus ausgraben (s. o. 3), 170–221 (Formen des aktiven und passiven Widerstandes gegen die Römer); umfassende Darstellung nun bei CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana. Jesus von Nazareth und andere Störenfriede im Konflikt mit dem Römischen Reich, NTOA 56, Fribourg/Göttingen 2005, 245–275. Jos, Ant 17,271–272, berichtet aus der Folgezeit nach dem Tod Herodes d. Gr.: „Ferner sammelte ein gewisser Judas, der Sohn des Anführers Ezechias, der eine
große Macht besaß und von Herodes nur mit Mühe niedergehalten worden war, bei Sepphoris, einer Stadt in Galiläa, eine Schar verkommener Menschen, griff damit den Königspalast an, bemächtigte sich der dort vorhandenen Waffen, teilte sie unter den Seinen aus, raubte auch das dort aufbewahrte Geld und verbreitete allseitig Schrecken, indem er jeden, der ihm in die Hände fiel, ausplünderte und fortschleppte; er strebte sogar nach der Königsherrschaft (zvlw´sei basileı´ou) und glaubte, sie nicht so sehr durch Tapferkeit, als vielmehr durch zügellose Zerstörungssucht erringen zu können“; zu weiteren Texten s.u. 3.6.1. 82 Vgl. hier G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o. 3), 131–241; R. A. HORSLEY, Archaeology, History and Society in Galilee, Harrisburg 1996. 83 Ein schönes Beispiel ist Jos, Vita, 374–384, wo von den Konflikten zwischen der Landbevölkerung und den überwiegend römerfreundlichen Einwohnern von Sepphoris und Tiberias bericht wird; die Landbevölkerung wollte beide Städte und ihre Bewohner auslöschen: „Sie hassten nämlich die Tiberienser genauso wie die Sepphoriten.“
76 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ginnende Wende aller Dinge verkündigte, dann fand er Zuhörer, die eine große Sehnsucht nach dieser neuen Herrschaft Gottes hatten; einer Herrschaft Gottes, die nicht mit imperialen Machtattributen wie Bauten arbeitete, nicht auf Unterdrückung zielte und nicht politisch-kulturell korrumpierte. Noch war die von Jesus verkündete Gottesherrschaft in der Gegenwart verborgen, aber sie erhob bereits jetzt den Anspruch, am Ende über alles zu triumphieren. Der von Jesus mit seiner Botschaft vom Reich Gottes vertretene Herrschaftsanspruch konnte auf Dauer nicht unpolitisch bleiben, ohne jedoch politisch konzipiert zu sein84. Die Verfremdung
Von großer theologischer und hermeneutischer Bedeutung ist die Beobachtung, dass Jesus mit ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ein Leitwort für seine Verkündigung wählt85, das einerseits in ein reichhaltiges Motivfeld eingebettet ist, andererseits aber in keinem anderen theologischen Entwurf eine vergleichbare Schlüsselstellung innehat. Jesus nimmt so die verbreitete Enzyklopädie der Herrschaft und des Königtums Gottes auf, zugleich fügt er aber durch die singuläre Konzentration 86 auf das Abstraktum tWkl˙mˆ/basileı´a neue Elemente in die Vorstellung von Gott als König und Herrscher ein87. Zudem verfremdet Jesus die zeitgenössische Enzyklopädie, indem er nicht von Gott als König spricht, sondern sich auf ein ganz bestimmtes Vorstellungsfeld mit einem ein-
84 Anders R. A. HORSLEY, Jesus and Empire (s. o. 3.4), 98, der ausdrücklich von „Jesus’ prophetic condemnation of Roman imperial rule“ spricht und sich dafür auf Texte wie Mk 12,17; 1,24; 3,22–27; 5,1–20 beruft. Horsley folgert aus der ‚political revolution‘ auch eine ‚social revolution‘: „In the confidence that the Roman imperial order stood under the judgement of God’s imminent kingdom, Jesus launched a mission of social renewal among subject peoples“ (a. a. O., 105). In der Gesamtheit gibt die Jesus-Überlieferung keinen Anlass für die offenbar gewünschte These, Jesus als Kämpfer gegen den römischen (und damit auch amerikanischen) Imperialismus zu sehen; vgl. die abgewogenen Überlegungen bei S. FREYNE, Jesus. A Jewish Galilean (s.u. 3.8.1), 136–149, der die sozialen Spannungen (vor allem die mit den Städtegründungen verbundenen ökonomischen Veränderungen) in Galiläa beschreibt, ohne sie zum Schlüssel seiner Interpretation zu machen. Vgl. auch CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana, 305f, der zutreffend darauf hinweist, dass sowohl der Täufer als auch Jesus nicht auf eine Veränderung der äußeren politischen Verhältnisse hinarbeiteten und nur unter dieser Voraussetzung erklärt werden kann, warum die
Römer – anders als bei den messianischen Propheten – die jeweiligen Anhänger unbehelligt ließen. Jesus war in seinen Wirkungen keineswegs unpolitisch, aber die (heute Aufmerksamkeit heischende) Kategorie des Politischen ist nicht geeignet, Jesu Intentionen und seinen Selbstanspruch zu erfassen, d. h. sie ist historisch wie hermeneutisch nicht hinreichend. 85 T. ONUKI, Jesus (s. o. 3), 44ff, ordnet Jesu Rede vom ‚Reich Gottes‘ in ein umfangreiches mythologisches Netzwerk von Bildern ein, in denen Jesus lebte und dachte. 86 Vgl. O. CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, 444: „Nirgends in der frühjüdischen Literatur steht die Herrschaft Gottes jedoch so im Zentrum der Verkündigung wie bei Jesus. Entsprechend finden sich bei Jesus auch viel mehr Präzisierungen des Symbols.“ 87 Eine der ältesten Belege für das Abstraktnomen „Gottesherrschaft" ist Ob 21: „Befreier ziehen auf den Berg Zion, um Gericht zu halten über das Bergland von Esau. Und der Herr wird herrschen als König.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 77
zigen Leitwort konzentriert. Diese Verfremdung ist die produktive Voraussetzung für eine partielle Neudefinition des Wesens Gottes, die Jesus in seiner Verkündigung und seinem Handeln vornimmt.
3.4.2
Die zeitlichen Perspektiven des Reiches Gottes
Jesus rechnete wie alle Juden um ihn mit dem realen Handeln Gottes in der Geschichte. Wie Johannes der Täufer lebte er in einer intensiven Naherwartung und verstand das Reich Gottes als eine geschichtlich-kosmische Größe, deren Sachgehalt und Zeit-/Raumstruktur er in vielfältiger Weise beschreibt. Für das zeitliche Verständnis des Reiches Gottes gibt das Verhältnis zum Täufer erste Hinweise. Johannes der Täufer und das Reich Gottes
Jesus brachte den Täufer und das Reich Gottes ausdrücklich miteinander in Verbindung88. Aus Q 16,16 („Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes. Von da an leidet die Königsherrschaft Gottes Gewalt, und Gewalttäter rauben sie“)89 lässt sich nicht eindeutig herauslesen, ob Johannes an das Ende des Gesetzes und der Propheten oder an den Anfang des Reiches Gottes gehört oder aber das Bindeglied zwischen beiden darstellt. Die Zeitbestimmung me´cri („bis") korrespondiert mit apo` to´te („von da an/ab“); beide Zeitangaben markieren eine Abfolge, denn sie sind inhaltlich voneinander abgehoben. All dies spricht für eine exklusive Deutung, wonach der Täufer nicht in das Reich Gottes hineingehört90. Wäre dies der Fall, dann hätte der Täufer die Reich-Gottes-Predigt Jesu in irgendeiner Form vorwegnehmen oder vertreten müssen. „Aber hier liegt gerade der tiefste Unterschied zwischen beiden.“91 Die Zeit nach Johannes weist eine neue Qualität auf, wobei der Täufer aus der Sicht Jesu auf der Nahtstelle zwischen beiden Epochen steht. In dieselbe Richtung weist Q 7,28, wo Jesus über den Täufer sagt: „Ich sage euch: Unter den von Frauen Geborenen ist keiner größer als Johannes aufgetreten. Doch ist der Kleinste im Königreich Gottes größer als er“. Der Täufer gehört hier nicht zum Reich Gottes, so dass er als das Ende der einen Epoche den Übergang zum Reich Gottes als einer völlig neuen Epoche markiert. Es ist umstritten, ob Q 7,28 auf Jesus zurückgeht, oder sich dem Interesse der nachösterlichen Gemeinde verdankt, den Täufer und Jesus deutlich voneinander ab-
88 Vgl. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 27–36. 89 Für die Zurückführung auf Jesus sprechen der provokante Anspruch von Q 16,16 und der dunkle Sinn von V. 16b; zur Begründung vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 90.
90 Vgl. in diesem Sinn die Argumentation bei H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 85 ff. 91 J. BECKER, Johannes der Täufer (s. o. 3.2), 76.
78 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
zugrenzen. Für eine zumindest sachliche Zurückführung auf Jesus können die Kontinuität zu Q 16,16 und das sich hier wiederum aussprechende gesteigerte eschatologische Bewusstsein angeführt werden. Zudem finden sich in diesem Vers drei Aussagen über das Reich Gottes, die sich in das Gesamtbild einfügen: 1) Der Vergleich zwischen dem Täufer und dem ‚Kleinsten‘92 im Reich Gottes zeigt die Andersartigkeit und Neuheit des Reiches Gottes, das nicht mit Irdischem („von Frauen Geborenen“) zu vergleichen ist; 2) das Reich Gottes hat auch eine räumliche Dimension93, und 3) es besitzt bereits eine präsentische Dimension (estı´n), denn nur dann ist der Vergleich sinnvoll. Auch Q 7,18f.22f und Mk 2,18f zeigen, dass Jesus die gegenwärtige eschatologische Heilszeit des Reiches Gottes dem Wirken des Täufers und seiner Jünger gegenüberstellte. Dennoch wäre es verfehlt, den Täufer aus der Sicht Jesu zum Vorläufer oder Ankündiger zu degradieren. Jesus schätzte den Täufer über alle Maßen und wies ihm einen einzigartigen Platz zu (vgl. Q 7,26). Das Auftreten des Täufers ist ein Wendepunkt in der Geschichte Gottes mit Israel: Johannes steht auf der Schwelle zum Reich Gottes. Das zukünftige Reich Gottes
Worte über das zukünftige Reich Gottes/die kommende Gottesherrschaft finden sich in fast allen Überlieferungssträngen, sie führen in das Zentrum der Verkündigung Jesu: 1) Die zweite Vaterunser -Bitte „Dein Reich komme“ (Q 11,2: elhe´tw v basileı´a sou) zielt auf das Offenbarwerden von Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herrschaft94. Sie hat einerseits eine nahe Parallele in der zweiten Bitte des Qaddisch-Gebetes („Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit“), andererseits verweisen die Kürze/Schlichtheit und die Rede vom Kommen des Gottesreiches auf jesuanisches Profil95. Charakteristisch ist die Verbindung zwischen Theozentrik und Eschatologie, bemerkenswert ferner, wie unbestimmt und damit zugleich offen für Erweiterungen und Verfremdungen Jesus formuliert. 2) Die Erwartung der Völkerwallfahrt nach Jerusalem/auf den Zion (vgl. Jes 2,2ff; Mich 4,1ff; Jes 43,1ff; Bar 4,36ff u. ö.) wird in Q 13,29.28 aufgegriffen: „Und viele werden von Osten und Westen kommen und sich zum Mahl niederlegen mit Abraham und Isaak und Jakob im Königreich Gottes, ihr aber werdet in die äußerste Fins-
92 D.h. jeder, der in das Reich Gottes eingeht; mikro´teroß ist ein Komparativ mit superlativischer Bedeutung; vgl. H. SCHÜRMANN, Lk I (s.u. 8.4), 418; F. BOVON, Lk II (s.u. 8.4) I, 378 A 50. 93 U. LUZ, Mt III (s.u. 8.3), 176, wertet en tU˜ basileı´a als Indiz für Gemeindebildung. Dagegen ist einzu-
wenden, dass in der Antike generell Reich/Herrschaft nicht ohne einen räumlichen Aspekt gedacht wurden. 94 Zur Analyse vgl. M. PHILONENKO, Das Vaterunser (s. o. 3.4.1), 51–68; U. Luz, Mt I (s.u. 8.3), 432–458. 95 Vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 447.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 79
ternis hinausgeworfen werden; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.“96 Das Erwählungsbewusstsein Israels wird mit diesem Drohwort einer scharfen Kritik unterzogen; seinem Ausschluss vom eschatologischen Gastmahl mit den Patriarchen korrrespondiert die Aufnahme der Heiden aus Osten und Westen. Damit verbindet sich eine universalistische Tendenz in der Basileia-Verkündigung Jesu. 3) Eine unerfüllte Prophetie ist das Abendmahlswort Mk 14,25: „Amen sage ich euch: Ich werde vom Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, an dem ich es neu trinken werde im Reich Gottes.“ Wahrscheinlich hoffte Jesus, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt. Eine nachösterliche Entstehung dieses Wortes ist unwahrscheinlich, denn nicht Jesus, sondern das zukünftige Reich Gottes steht im Zentrum. Auch das Feigenbaumgleichnis in Lk 13,6–9 lässt die gespannte Erwartung Jesu deutlich erkennen. Dem unfruchtbaren Feigenbaum wird noch ein Jahr Gnadenfrist geschenkt vor dem Umhauen, d. h. dem Gericht. 4) Anspruch auf Authentizität haben auch jene Worte, in denen das zukünftige Reich Gottes als eine Gegenwelt angekündigt wird. Angesichts der Randstellung von Kindern in der antiken Gesellschaft musste Mk 10,15 provozierend wirken: „Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ Jesu Wort über die Reichen in Mk 10,23 („Da blickte Jesus um sich und spricht zu seinen Jüngern: Wie schwer kommen die Begüterten ins Reich Gottes“; vgl. Mk 10,25) zielt ebenso auf eine neue Wirklichkeit wie die provokante Aussage in Mt 21,31c: „Die Zöllner und Dirnen kommen vor euch ins Reich Gottes.“ Es gilt: „Die Ersten werden die Letzten sein“ (Mk 10,31), und: „Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 14,11). Die ‚Letzten‘ sind die Armen, denen die Gottesherrschaft gehört, die Weinenden, die Trost finden werden, und die Hungrigen, die satt werden sollen (Lk 6,20f). Auch der Makarismus im Kontext der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,15: „Als aber einer von denen, die zu Tische lagen, das hörte, sagte der zu ihm: Selig, wer im Reich Gottes Brot essen wird“) und die rigorosen Forderungen in Mk 9,42–48 (V. 47: „Und wenn dein Auge dich zu Fall bringt, reiß es aus. Es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als mit beiden Augen in die Hölle geworfen zu werden“) lassen das zukünftige Reich Gottes als eine neue Welt erscheinen97.
96 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. H. MERKLEIN,
Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 118; U. Luz, Mt II (s.u. 8.3), 14. 97 Terminworte wie Mk 9,1; 13,30; Mt 10,23 dürften nachösterlichen Urprungs sein; sie verheißen die
Ankunft des Reiches Gottes (oder: des Menschensohns) noch zu Lebzeiten der Zuhörenden und trösten sie angesichts der Verzögerung des Kommens des Reiches Gottes.
80 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Das gegenwärtige Reich Gottes
Ein singulärer Zug der Verkündigung Jesu besteht darin, dass für ihn das kommende und nahe Reich Gottes bereits gegenwärtig ist98. Er spricht allerdings nicht von der allgemeinen Präsenz Gottes (im Tempel), sondern von der vorweggenommen Gegenwart des Zukünftigen. Die konkrete Bestimmung dieser Gegenwart zeigt wieder den für Jesus charakteristischen Verfremdungseffekt: 1) In den ursprünglichen Seligpreisungen spricht Jesus denen gegenwärtig das Reich Gottes zu, die sich selbst als Ausgeschlossene begreifen müssen: „Selig ihr Armen, denn euer ist das Königreich Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet getröstet werden“ (Q 6,20f)99. Dem leibhaftig Armen, Rechtlosen, Unterdrückten ist die eigenmächtige Gestaltung seines Lebens verwehrt, er kann nur auf Barmherzigkeit und Hilfe von außen hoffen. In dieser Situation des unbedingten Angewiesenseins gewährt Jesus Anteil am Reich Gottes. Damit offenbart sich ein Stück des Wesens des Reiches Gottes: Es ist Gottes Reichtum, seine schenkende Güte, seine Annahme des Menschen. Wo Gottes Herrschaft Raum gewinnt, dort ist allein Gott der Geber und der Mensch der Empfangende. Angesichts des Reiches Gottes kann sich der Mensch nur als Angenommener und Beschenkter verstehen. Nicht das Haben, der Besitz, befähigt den Menschen zur Offenheit gegenüber dem Reich Gottes, sondern die Erkenntnis des Angewiesenseins auf Gottes Hilfe. Wie die Armen befinden sich die Trauernden und Hungernden in einer Distanz zum Leben. Den Trauernden wurde durch den Tod eines geliebten Menschen auch ein Stück des eigenen Lebens genommen. Die Klage ist der sinnfällige Protest gegen diesen Lebensentzug. Das Leben der Hungernden ist in unmittelbarer Weise durch den Hunger bedroht. Leben artikuliert sich für sie in dem elementaren Verlangen nach Lebensmitteln. Jesus preist beide Gruppen selig und lässt sie teilhaben am Leben in der Gegenwart der Gottesherrschaft. 2) Die Gegenwart des Reiches Gottes wird offenbar in der Entmachtung des Teufels und dem Zurückdrängen des Bösen. Die Dämonenaustreibungen und Heilungen, die Bitte im Vaterunser um die Erlösung vom Bösen (Mt 6,13b), die Vision Jesu in Lk
98 Vgl. D. FLUSSER, Jesus (s. o. 3), 96: Jesus „ist der
einzige uns bekannte antike Jude, der nicht nur verkündet hat, daß man am Rande der Endzeit steht, sondern gleichzeitig, dass die neue Zeit des Heils schon begonnen hat.“ 99 Auf Jesus gehen die Seligpreisungen der Armen (Mt 5,3/Lk 6,20b), der Hungernden (Mt 5,6/Lk 6,21a) und der Trauernden (Mt 5,4/Lk 6, 21b) zurück. Dies ergibt sich nicht nur aus den Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas, sondern alle drei Makarismen sind durch die griechische p-Alliteration gekennzeichnet und heben sich dadurch von den anderen Makarismen ab; vgl. G. STRECKER, Die
Bergpredigt, Göttingen 1984, 30; H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘, Zürich 1985, 40 f. Formgeschichtliche Parallelen zur Redeform des Makarismus finden sich sowohl im Alten Testament (Jes 32,20; Dtn 33,29; Ps 127,2 u. ö.) als auch im antiken Judentum (Sap 3,13; AssMos 10,8; äthHen 58,2; 99,10); pagane Parallelen sind aufgelistet in: NEUER WETTSTEIN I/1.2. Ein Beispiel: Hes, Op 825, schließt um 700 v.Chr. sein epochales Werk über das Leben der Menschen mit der Sentenz: „Glücklich und gesegnet ist, wer all dies weiß, im Tun beherzigt, schuldlos gegen die Götter bleibt, auf den Vogelflug achtet und Übertretungen meidet.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 81
10,18, der Vorwurf, Jesus stehe mit den bösen Geistern in Verbindung (vgl. Q 11,14– 15.17–19) und die in Mk 3,27/Lk 11,21f vorausgesetzte Entmachtung des Satans verdeutlichen den Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen als zentralen Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu (s. u. 3.5.2). 3) Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches werden Menschen von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt; die Heilungen Jesu zeugen vom gegenwärtigen Anbruch des Reiches Gottes. Programmatisch formuliert Q 11,20: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gelangt“100. Auch der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f und Q 10,23f weist in dieselbe Richtung (s. u. 3.5.2); Jesus sah die Gegenwart als die Zeit der Heilswende an. 4) Die Wachstumsgleichnisse zeugen vom verborgenen Beginn der Gottesherrschaft. Sowohl beim Gleichnis von der ‚selbst wachsenden Saat‘ (Mk 4,26–29) als auch im Doppelgleichnis vom ‚Senfkorn‘ und ‚Sauerteig‘ (Q 13,18 f.20f) geht es um die Pointe, dass aus kleinen Anfängen etwas Großes entsteht. Das Entscheidende, die Aussaat, ist schon geschehen; die Senfstaude wächst schon und der Teig wird schon durchsäuert. 5) Auch im Stürmerspruch Q 16,16 ist die Gottesherrschaft unabhängig von der Gesamtinterpretation des Verses in jedem Fall eine gegenwärtige Größe. Sie ist seit den Tagen Johannes d. T. präsent und kann in der Gegenwart „erobert“ werden. 6) Die Fastenfrage in Mk 2,18–22 zielt ebenfalls auf die erfüllte Gegenwart. Weil jetzt der Bräutigam da ist, können die Jünger – im Unterschied zu den Anhängern des Täufers – nicht fasten. 7) Auf die Frage, wann das Gottesreich komme, antwortet Jesus nach Lk 17,20f: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann, man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch (ento`ß umw˜n).“ Die Übersetzung, die Bedeutung und die Zurückführung von ento`ß umw˜n auf Jesus sind umstritten101. Es kann in einem spirituellen Sinne verstanden werden, etwa „das Reich Gottes ist innerlich in euch“ (vgl. ThEv 3: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch und außerhalb von euch“). Möglich ist auch eine räumliche Deutung: „in eurer Mitte“ (vgl. ThEv 113: „Vielmehr ist das Königreich des Vaters ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht“). Neben der spirituellen und lokalen gibt es noch eine dynamische Deutung im Sinn von: die Gottesherrschaft ‚ist in eurer Verfügung‘ oder ‚in eurem Erfahrungsbereich‘, d. h. „die Gottesherrschaft ist in euren Erfahrungsbereich eingetreten“102. Diese Deutung ver-
100 Die Verbindung von Eschatologie und Wundertätigkeit bei Jesus ist in dieser Form religionsgeschichtlich singulär; vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s.u. 3.6), 277.
101 Vgl. dazu ausführlich H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4.), 34–41. 102 So H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 39.
82 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
bindet sich mit den anderen Logien (bes. Q 11,20), denn hier spricht sich die Gewissheit der Gegenwart des Reiches in besonderer Weise aus! Das gegenwärtig zukünftige Gottesreich
Wie verhalten sich die Aussagen über das zukünftige und gegenwärtige Gottesreich zueinander? Einen Hinweis liefert Mk 1,15, wo der Evangelist am Anfang seines Evangeliums Jesu Botschaft so zusammenfasst: „Erfüllt ist die Zeit, und nahe herbeigekommen ist die Gottesherrschaft. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15)103. Weil die Gottesherrschaft kommt, ist die Zeit erfüllt, d. h. zwischen den präsentisch-eschatologischen Aussagen und den futurisch-eschatologischen Aussagen darf keine Alternative aufgebaut werden. Alle Texte zeigen, dass Jesus ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ nicht in erster Linie im Sinne eines Territoriums, sondern dynamischfunktional versteht: Gottes Zukunft nähert sich sichtbar der Gegenwart, Gott herrscht und Mächte wie Menschen stehen unter seiner Herrschaft. Die Gegenwart wird als Gegenwart Jesu als Endzeit qualifiziert, weil sich nun das Endheil unaufhaltsam und unwiderstehlich durchsetzt, bis die uneingeschränkte, keinen Widerspruch des Bösen mehr duldende Alleinherrschaft Gottes die alles bestimmende Größe in Schöpfung und Geschichte ist. Futurische Worte kündigen das Hereinbrechen der neuen Welt an und Anbruchsworte versichern zugleich: Sie beginnt verborgen schon jetzt. Im Gebet zu Gott und letztlich in Gott selbst werden Gegenwart und Zukunft verbunden: die Fürsorge des Vaters in der Gegenwart mit dem Kommen seiner Königsherrschaft in der Zukunft. Für Jesu Zeitverständnis verläuft die entscheidende Trennungslinie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, wobei die Gegenwart und die Zukunft eine kontinuierliche Einheit bilden, weil die Zukunft als ankommende Gottesherrschaft die Gegenwart bereits eingeholt hat 104. Die Gottesherrschaft hat keine Vergangenheit und sie hat ihre eigene Zeit: die gegenwärtige Zukunft.
3.4.3
Das Reich Gottes in Gleichnissen
J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984; E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen 7 1978; E. JÜNGEL, Paulus und Jesus, HUTh 2, Tübingen 61986; R. W. FUNK, Parables and Presence, Philadelphia 1982; W. HARNISCH, Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung, Darmstadt 1982; 103 In seiner jetzigen Sprachgestalt geht der Vers überwiegend auf Markus zurück; dennoch kann er als sachgemäße Zusammenfassung der Verkündigung Jesu genommen werden; vgl. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 56–58. 104 H. WEDER betont sehr stark die Gegenwart als die einzige der Gottesherrschaft angemessene Zeitstufe, um so Jesus von apokalyptischen Vorstellungen abzusetzen: „Die besprochenen Jesuslogien von der
Gottesherrschaft haben gezeigt, daß das Verständnis der Gegenwart der springende Punkt der eschatologischen Verkündigung Jesu ist. Dies ist festzuhalten gegenüber allen Versuchen, Jesus in den Rahmen des zeitgenössischen apokalyptischen Denkens zu bannen und dann das Verständnis der Zukunft zum entscheidenden Anliegen Jesu zu machen“; DERS., Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 49.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 83
DERS., Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 42001; H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, FRLANT 120, Göttingen 41990; E. RAU, Reden in Vollmacht, FRLANT 149, Göttingen 1990; CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, WUNT 78, Tübingen 1995; K. ERLEMANN, Gleichnisauslegung, Tübingen 1999.
Die Bedeutung der Gleichnisse für das Verständnis der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ergibt sich zunächst aus dem Überlieferungsbefund. Alle Quellen (Q, Mk, Mt/ Lk-Sondergut, ThEv) bezeugen den elementaren Zusammenhang, dass bei Jesus das Reich Gottes in der Sprachform des Gleichnisses eine besondere Auslegung erfährt105. Gleichnisse als Erschließungstexte
Gleichnisse sind bei Jesus eine bevorzugte Sprachform, weil sie in besonderer Weise das Wesen des Reiches Gottes zu erschließen vermögen. Es gelingt Jesus, die Gleichnisse von ihrem inneren Erzählgeflecht her so auszurichten, dass sie im Horizont der nahenden Gottesherrschaft selbst die Nähe zu ihr herzustellen. Er richtet mit ihnen in der Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt die Wirklichkeit der Gottesherrschaft auf. Dies verdeutlichen die Kontrastgleichnisse, die einzigen Gleichnisse106, bei denen die Sachhälfte „Gottesreich“ in den verschiedenen Evangelien übereinstimmend überliefert wird (vgl. Mk 4,3–8.26–29.30–32; Q 13,18 f.20f)107. Beim Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–8) steht die Wirkung der Botschaft Jesu im Mittelpunkt; sie wird nicht von allen gehört und geteilt, wo sie aber aufgenommen wird, verfehlt sie ihre Wirkung nicht108. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26–29) verweist auf das sichere und vom Handeln des Menschen unabhängige Kommen des Reiches Gottes. So wie die Saat von selbst aufgeht, Frucht bringt und die Ernte kommt, so dass der Mensch nichts dazu tun kann und muss, ihm unerwartete Zeit geschenkt wird, so kommt auch das Reich Gottes von selbst (Mk 4,28: automa´tv)109. Diese in der Gegenwart von Gott geschenkte Zeit gilt es zu nutzen! Im Gleichnis vom Senfkorn beschreibt Jesus Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes. Dem unscheinbaren Anfang, seiner noch verhüllten Wirklichkeit in Gleichnissen und Wun-
105 Zur Gleichnisforschung vgl. K. ERLEMANN, Gleich-
nisauslegung, 11–52. 106 Zur Formenlehre vgl. U. SCHNELLE, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 62005, 112–117. Ich verwende Gleichnis im umgangssprachlichen Sinn als Sammelbegriff und unterscheide bei den Einzeltexten zwischen Gleichnis und Parabel: Gleichnisse erzählen vertraute Vorgänge, übliche Erfahrungen, alltägliche Szenen; die jedem zugängliche und von jedem erfahrene Welt, ihre Gesetzmäßigkeit und Ordnung kommt zur Sprache. Parabeln interessieren sich hingegen für den besonde-
ren Einzelfall; nicht das Übliche, sondern das Besondere ist im Blick. 107 In Mk 4,3–8 fehlt der ausdrückliche Bezug auf die basileı´a; er wird aber von Inhalt und Kontext her nahegelegt. 108 Zur Auslegung vgl. H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 108–111. 109 Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30.36–43), das bei Mt den Platz von Mk 4,26–29 einnimmt, ist möglicherweise nachösterlich; vgl. dazu U. LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 322 f.
84 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
dern wird eine großartige Zukunft der Basileia in der Herrlichkeit Gottes entsprechen. Der Sauerteig veranschaulicht das unaufhaltsame Voranschreiten des Reiches Gottes aus kleinsten Anfängen heraus. In den Kontrastgleichnissen ist der Schluss der herausgehobene Punkt, an dem erreicht ist, was eigentlich beabsichtigt war: der große Baum, in dem die Vögel nisten; die Durchsäuerung des Teigs, die Scheidung von Unkraut und Weizen und die überreiche Ernte. Vom Schluss wird der Anfang in bewusstem Kontrast abgehoben, der aber nun seinerseits in einem besonderen Licht erscheint: Das eigentlich Überraschende für die Hörer ist der Anfang und nicht das Ende. Eine so ungeheure Sache wie das Gottesreich wird mit einer Winzigkeit wie dem Senfkornsamen110, dem Durcheinander im Weizenfeld und ein wenig Sauerteig verglichen. Hier liegt eine bewusste Verfremdung vor, denn einen solchen Vergleich für das Gottesreich hätte niemand erwartet. Speziell das Bild von Sauerteig ist besonders befremdlich, denn es ist in der Tradition nicht vorgegeben111. Diese Verfremdung ist Verweigerung und Erschließung zugleich. Jesus spricht nicht „von“ oder „über“ etwas, sondern wählt ein Bild. Das Bild gibt keine Auskunft darüber, wie das Gottesreich jetzt ist und wie lange es bis zu seinem endgültigen Erscheinen dauert. Das Bild verweist vielmehr auf eine Überraschung, auf etwas völlig Unerwartetes, und gerade dadurch erschließt es wiederum das Neue des Gottesreiches. Die Kontrastgleichnisse verweigern ein begriffliches Verstehen von Jesu Wirken. Sie lassen es nicht zu, Jesus in einen apokalyptischen Zeitplan einzuzeichnen, und sie machen eine direkte, ungebrochene, sichtbare, berechenbare und einleuchtende Kontinuität zwischen seinem Wirken und dem Eschaton unmöglich. Dennoch erschließen die Gleichnisse Jesu Sendung, denn sie lassen teilhaben an der grenzenlosen Hoffnung und an der unendlichen Gewissheit, die Jesus auszeichnete. Sie lassen die hoffnungslose Gegenwart unter der Perspektive einer total anderen Zukunft verstehen und vermitteln so Hoffnung auf das Reich Gottes, ohne ihm sein Geheimnis zu nehmen. Der unendliche Wert der Gottesherrschaft kommt in den Parabeln vom Schatz im Acker (Mt 13,44) und der Perle (Mt 13,45f) zur Sprache, wo das Verhalten des Finders im Mittelpunkt steht. Er hätte jeweils sehr verschiedene Möglichkeiten gehabt, wählt aber die sachgemäße aus: Er setzt zielstrebig alles dafür ein, um das Himmelreich zu erwerben112. „Wer die Gottesherrschaft findet, findet sich selbst als einen, der mit dem ganzen Dasein auf jenen Fund reagiert.“113 Mit seinen Gleichnissen und 110 Es ist unklar, ob Senf z.Zt. Jesu angebaut wurde oder als eine Art Unkraut ohnehin fast überall wuchs; vgl. dazu CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, 85–88. Sollte es eine Art Unkraut gewesen sein, dann käme ein wichtiger Aspekt hinzu: „Die Metapher des Senfkornglaubens evoziert offenbar doch die Assoziation des Vorgangs massenhafter, unglaublicher und unwiderstehlicher Ver-
breitung“ (a. a. O., 92). 111 Vgl. dazu CHR. KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie
und Therapie, 93. 112 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse, 108; anders H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140, der die Selbstverständlichkeit des Verhaltens betont. 113 H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, 140.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 85
Parabeln ermöglicht Jesus das Finden der Gottesherrschaft. Der Einsatz für sie wird aber nicht gefordert, sondern ergibt sich aus ihrer Anziehungskraft, ihrem Wert und ihrer Verheißung. Wer sich dennoch der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes verweigert, wird von Jesus im Gleichnis vom Fischnetz gewarnt (Mt 13,47–50): Im Gericht findet eine Scheidung zwischen Bösen und Gerechten statt, d. h. die Hörer des Gleichnisses haben es jetzt in der Hand, zu welcher Gruppe sie gehören werden. In den Gleichnissen bringt Jesus Gott nicht nur zur Sprache, sondern er bringt Gott den Menschen so nahe, dass sie sich von seiner Güte ergreifen und verwandeln lassen. Die Wahrheit des Geforderten und Erzählten verbürgt dabei der Erzähler selbst. Von dem Neuen und Überraschenden des Reiches Gottes reden auch viele andere Gleichnisse und Parabeln Jesu, in denen zumeist der Begriff ‚Reich Gottes‘ explizit fehlt, die aber dennoch Unerhörtes über das Reich Gottes aussagen.
3.4.4
Das Reich Gottes und die Verlorenen
Anders als beim Täufer kommt bei Jesus von Nazareth das Heils handeln Gottes in umfassender und neuer Weise zur Sprache. Programmatisch kommt Jesu Selbstverständnis in Mk 2,17c zum Ausdruck: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“114 Das Begriffspaar dı´kaioi – amartwloı´ ist auch sonst der Verkündigung Jesu nicht fremd (vgl. Lk 15,7; 18,9–13) und dürfte das Ziel seiner Sendung präzis beschreiben: Seine Botschaft der nahenden Gottesherrschaft galt ganz Israel und somit auch den keineswegs nur ironisch so genannten Gerechten. Vor allem den Sündern musste Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, denn der Mensch kann durch Gottes Güte und Vergebung in eine neue Beziehung zu Gott treten; Gott nimmt den zur Umkehr bereiten Sünder an. Vom Suchen Gottes nach den Verlorenen und ihrer Rückkehr zu Gott erzählt Jesus in eindrucksvollen Parabeln. In der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) interpretiert Jesus gleichermaßen den Menschen und Gott115. Im Zentrum steht der Vater, der in gerechter Liebe für seine Söhne sorgt. Beiden gewährt er durch das Erbe das zum Leben Notwendige. Das verschwenderische Leben des jüngeren Sohnes beantwortet er nicht mit dem Entzug seiner Liebe, sondern mit der Tat der voraussetzungslosen Annahme, bevor der Sohn das Eingeständnis seiner Schuld machen kann. Auch dem älteren Sohn gegenüber bekundet er trotz der Vorwürfe seine andauernde Liebe und Gemeinschaft (V. 31). In dem antithetisch entfalteten Verhalten der Brüder offenbaren sich zwei
114 Mk 2,15–17 stellt eine selbständige Texteinheit dar, die älteste Traditionen wiedergibt; vgl. zur Rekonstruktion H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 199–201.
115 Zur umfassenden Interpretation vgl. W. PÖHLMANN,
Der Verlorene Sohn und das Haus, WUNT 68, Tübingen 1993.
86 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
mögliche menschliche Reaktionen auf die Erfahrung und Zusage des Angenommenseins. Erst durch die Krise hindurch gelangt der jüngere Sohn zu der Einsicht, dass ein Leben fern vom Vater nicht möglich ist. Mit der Erkenntnis des eigenen Fehlverhaltens (V. 18.21: vÇmarton = „ich habe gesündigt“) verbindet sich die Erwartung der gerechten Bestrafung. Neu und überraschend ist dann für den jüngeren Sohn die Größe und Weite des liebenden Angenommenseins durch den Vater. Der ältere Bruder hingegen versteht sich nicht als grundlos Angenommener, sondern sieht sein Verhältnis zum Vater in einer Arbeit-Lohn-Relation. Nur wer arbeitet und Gesetze erfüllt, darf feiern. Dadurch verfängt sich der ältere Sohn in einem Geflecht von Leistung und Gegenleistung, das den Blick auf das Angewiesensein des Menschen versperrt. Radikale Vergebung als Ausdruck andauernder Liebe kann es in seinen Augen für ihn nicht geben. An der Gestalt des älteren Bruders wird deutlich: Selbst wenn sich der Mensch der Liebe Gottes verweigert, so lebt er dennoch von ihr. Im Gleichnis vom verlorenen Schaf dominiert der Gedanke der Freude über das Finden des Verlorenen116. Sowohl die Gegenüberstellung von 1 und 99 als auch das ungewöhnliche Verhalten des Hirten, die 99 Schafe allein zurückzulassen, dienen dazu, den Schmerz über den Verlust und die Freude über das Wiederfinden zum Ausdruck zu bringen. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf ist auf Zustimmung aus; so wie der Hirte würde sich jeder verhalten117. Im Gleichnis von der verlorenen Drachme überrascht das intensive Suchen der Frau. Unwillkürlich vollzieht der Hörer die sich im Gleichnis ereignende Dynamik mit und kann in die Freude über das Wiederfinden einstimmen. Auch in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16)118 bringt Jesus die Existenz des Menschen coram Deo zur Sprache. Bewegung kommt in die Erzählung durch die ungewöhnliche Anordnung des Gutsherrn, mit der Auszahlung bei den zuletzt Eingestellten zu beginnen (V. 8b). Die Ersten bewältigen die durch das atypische Verhalten des Gutsherren hervorgehobene Krise zunächst durch die Hoffnung auf einen entsprechenden Zuschlag. Als sich diese Erwartung nicht erfüllt, werfen sie dem Gutsherrn eine ungerechte Behandlung vor (V. 11f). Der Gutsherr reagiert auf ihre – durchaus verständliche (V. 12!) – moralische Empörung mit dem Hinweis, dass er den Arbeitsvertrag eingehalten habe und in seinem Verhalten gegenüber den Letzten frei sei. In der Antithetik von Gutsherrn und Ersten offenbaren sich zwei Seinsweisen: die Ordnung des Lohnes und die Ordnung der Güte. Das Denken der Ersten ist bestimmt von dem gerechten Verhältnis von Arbeit und Lohn. Wer mehr als andere arbeitet, darf auch mehr Lohn beanspruchen. Nach diesem Grundsatz fechten die Ersten die Lohnauszahlung an. Der Gutsherr freilich kann auf die eingehaltene Abmachung verweisen, so dass nun plötzlich die Kläger zu Beklagten wer116 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 72; J. JEREMIAS, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 135. 117 Vgl. E. LINNEMANN, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 71.
118 Vgl. hierzu M. PETZOLDT, Gleichnisse Jesu und
christliche Dogmatik, Berlin 1983, 51–56.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 87
den. Ihr Denken in der Kausalität von Arbeit und Lohn gibt ihnen nicht das Recht, die Letzten und den Gutsherrn zu kritisieren. Der Gutsherr ist frei in seiner unerwarteten, alle Dimensionen sprengenden Güte, die niemandem Unrecht tut, zugleich aber viele unerwartet beschenkt. Diese Güte unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung, wie das monoton wiederholte Arbeitsangebot über den gesamten Tag hinweg zeigt. Jede Zeit erscheint als die rechte Zeit, das Angebot zu ergreifen. Dies können die Ersten nicht begreifen, denn sie verstehen ihre Einstellung nicht als gütige Annahme, sondern als eine selbstverständliche und leistungsbezogene Abmachung. Der Gutsherr dagegen gewährt allen und zu jeder Zeit eine Existenzgrundlage. Seine Freiheit ist nicht begrenzt, seine Güte nicht berechnend. Damit bringt Jesus durch die Parabel Gott als den zur Sprache, der den Menschen annimmt und ihm das Notwendige zum Leben gibt. Der Mensch wiederum lernt sich als ein Angenommener zu verstehen, dessen Existenz sich nicht aus der eigenen Leistung, sondern aus der Güte Gottes definiert. Gottes voraussetzungslose Vergebung illustriert Jesus in der Parabel vom Schalksknecht (Mt 18,23–30.31.32–34.35) in geradezu anstößiger Weise119. Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Schuldnerverhältnis, das deutlich hyperbolische Züge aufweist. Die geschuldete Geldsumme (100 Millionen Denare)120 ist unvorstellbar hoch, wodurch die Stellung und das Verhalten des Herrn und des Knechtes in einem besonderen Licht erscheinen. Eigentümliches wird vom Herrn berichtet, der über das Angebot seines Knechtes weit hinausgeht, Erbarmen hat und ihm alle Schulden erlässt. Als unvorstellbar muss auf diesem Hintergrund das in V. 28–30 geschilderte Verhalten des Knechtes erscheinen. Obwohl ihm selbst gerade grenzenlose Barmherzigkeit widerfuhr, handelt er wegen eines lächerlich kleinen Betrages an einem Mitknecht unbarmherzig. Der Mensch erscheint in der Parabel vor Gott als ein Schuldner, dessen Schuld so unvorstellbar groß ist, dass er sie sogar mit dem Verkauf seiner eigenen Existenz nicht begleichen kann. In seiner Not wendet sich der Mensch zu Gott hin und bittet ihn um Geduld. Gott gesteht dem Menschen nicht nur einen Aufschub zu, sondern vergibt ihm ohne jede Vorbedingung seine unermessliche Schuld. In diesem unerwarteten, ja unbegreiflichen Akt der Annahme des Menschen erweist Gott seine Liebe und Barmherzigkeit. Er gewährt dem Menschen nicht einfach nur Zeit, um sich aus seiner prekären Situation zu befreien, denn dies wäre ein völlig aussichtsloser Versuch. Vielmehr schenkt Gott durch die Vergebung dem Menschen das Leben neu. Gott kommt dem Menschen zuvor, indem er ihn unverdient begnadigt. Jesu Gleichnisse/Parabeln weisen über sich hinaus, sie wollen den Hörer zu der Einsicht drängen, dass es in den Gleichnissen um nichts anderes als um sein eigenes Le119 Die von Jesus erzählte Parabel dürfte nur V. 23b–
30 umfasst haben; ausführliche Analyse und Begründung bei A. WEISER, Die Knechtsgleichnisse der
synoptischen Evangelien, StANT 24, München 1970, 90 ff. 120 Vgl. J. JEREMIAS, Gleichnisse (s. o. 3.4.3), 208.
88 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ben geht. Dem Hörer werden Identifikationsmöglichkeiten geboten, er wird zu Grundentscheidungen geführt, um sein Leben zu ergreifen und zu verändern. Die Gleichnisreden wollen die unmittelbare heilsame Nähe der Gottesherrschaft herstellen, damit aus Verlorenen Gerettete werden. Wort und Tat
Jesu Botschaft von der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott wird durch seine Praxis der Hinwendung zu Sündern und Zöllnern verdeutlicht. Dieses Verhalten brachte ihm offensichtlich bald den Ruf ein, ein Freund der Zöllner und Sünder, ein Fresser und Säufer zu sein (vgl. Q 7,33f). Für Jesus sind Sünder und Zöllner nicht für immer Verlorene, sondern in Jesu Verkündigung und Verhalten findet ein Wiederfinden statt, das Anlass zur Freude ist. Die Sünden der Vergangenheit haben ihre trennende und belastende Funktion verloren, ohne dass vom Menschen eine Vorleistung erbracht wird. Vielmehr lebt der Sünder von der Vergebung Gottes, seiner grundlosen Annahme121. Deshalb bedeutet die Ankunft des Gottesreiches die Gegenwart der Liebe Gottes. Der verborgene Anfang des Gottesreiches geschieht in Gestalt überwältigender, schrankenloser Liebe Gottes zu den Menschen, die sie nötig haben und will in Gestalt ebensolcher Liebe unter den Menschen wirksam werden. Dies sind nicht nur die Zöllner und Sünder, sondern auch die Armen, die Frauen, die Kranken, die Samaritaner und die Kinder. Wenn Jesus Gottes radikalen Heilsentschluss für den Menschen nicht nur verkündigte, sondern auch praktizierte, stellt sich die Frage, ob er auch Menschen die Vergebung Gottes direkt zusprach. Sowohl die Begegnung mit der Sünderin (Lk 7,36–50) als auch die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) weisen auf eine direkte, personale Sündenvergebung Jesu hin. Beide Texte gehen zwar in ihrer jetzigen literarischen Gestalt nicht auf Jesus zurück, aber sie enthalten alte Traditionen (Lk 7,37.38.47; Mk 2,5b.10?), die einen Zuspruch der Sündenvergebung Gottes bzw. eine unmittelbare Sündenvergebung durch Jesus möglich erscheinen lassen. Eine derartige Praxis Jesu würde seiner Botschaft von der voraussetzungslosen Parteinahme Gottes für den Menschen entsprechen. Jesus nimmt für sich in Anspruch, was eigentlich Gott vorbehalten schien122. Offensichtlich gibt es bei Jesus eine Parteilichkeit im Namen Gottes zugunsten der Armen 123, eine gleichermaßen religiöse wie sozial-politische Setzung. In der ersten 121 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 191. 122 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s.u. 3.5), 201–203; O. HOFIUS, Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 57–69 (68: „Die Erzählung Mk 2,1–12 setzt deutlich eine Handlungseinheit zwischen Gott und Jesus vor-
aus“). Anders I. BROER, Jesus und das Gesetz, in: ders. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Neukirchen 1992, 61–104, der Mk 2,1–12 ausschließlich innerhalb eines jüdischen Vorstellungsrahmens sieht und zudem als nachösterlich beurteilt. 123 Diesen Aspekt betonen L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (s. o. 3), 29–53.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 89
Seligpreisung wird denen, die nichts haben und nur deswegen neben den Hungrigen und den Weinenden stehen können, bedingungslos das Gottesreich zugesprochen (Q 6,20). Reichtum kann von Gott trennen; dies verdeutlichen das Drohwort Mk 10,25 und die Geschichte vom Reichen und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31), bei der bezeichnenderweise nur der Arme einen Namen hat. Es wird nicht gesagt, dass der Reiche unbarmherzig war oder zu wenig Almosen gespendet hat, sondern Reichtum auf der Welt bringt himmlische Qual als Ausgleich mit sich. Zum Bruch mit der Welt, den Nachfolge als Dienst an der Verkündigung des Gottesreichs fordert, gehört auch der Besitzverzicht, wie die Erzählung vom reichen Jüngling zeigt (Mk 10,17–23). Den Frauen wusste sich Jesus besonders verbunden, denn sie wurden vor allem durch das Ritualgesetz benachteiligt: Frauen waren durch Menstruation und Geburt häufig unrein, nicht kultfähig, von der Rezitation des Bekenntnisses befreit, nicht zum Torastudium zugelassen und nicht rechtsfähig124. Auch gegenüber den Samaritanern, die nicht den Status von Volljuden besaßen und religiös diskriminiert wurden, hatte Jesus keinerlei Berührungsängste; ebenso wenig mit Kindern, er stellt beide sogar als Vorbild hin (vgl. Mk 10,14f; Lk 10,25–37). Jesus kannte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes auch auf die religiös und sozial Deklassierten. Religionsgesetzliche Ordnungen, die im Namen Gottes diese Ausgrenzungen begründeten, wurden von Jesus übergangen. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern, Sündern und Frauen demonstrieren eindrücklich die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes.
3.4.5
Reich Gottes und Mahlgemeinschaften
Weil Mahlzeiten im antiken Judentum immer auch einen sakralen Charakter hatten und Gott im Lobpreis gedanklich als eigentlicher Gastgeber anwesend war, dienten die Mahlgemeinschaften sowohl der Wahrung jüdischer Identität als auch der öffentlichen Abgrenzung gegenüber Heiden oder religiös Indifferenten (vgl. z. B. Jub 22,16: „Du aber, mein Sohn Jakob, gedenke meiner Worte und halte die Gebote deines Vaters Abraham! Trenne dich von den Völkern! Iss nicht mit ihnen! Handle nicht nach ihrem Tun und sei nicht ihr Genosse! Denn ihr Werk ist Unreinheit, und all ihre Wege sind Befleckung, Greuel und Unreinheit“; vgl. auch 3Makk 3,4; 4Makk 1,35; 5,16ff; 1QS 6,20f; Jos, Bell 2,137–139.143f). Speisevorschriften bildeten im 1. Jh. n.Chr. das Zentrum jüdischen Gesetzesverständnisses125; sowohl bei den Pharisäern
124 Zur rechtlichen Situation der Frau im Judentum vgl. G. MAYER, Die jüdische Frau in der hellenistischrömischen Antike, Stuttgart 1987. 125 Vgl. den umfassenden Nachweis bei CHR. HEIL, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus, BBB
96, Weinheim 1994, 23–123. Auch die Konflikte um Speisevorschriften innerhalb des frühen Christentums (vgl. Apg 11,3; Gal 2,12–15) zeigen, dass hier ein entscheidender Streitpunkt lag.
90 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
als auch den Therapeuten und Essenern stand die Idee der kultischen Reinheit im Mittelpunkt des Denkens126. Auf diesem Hintergrund stellten die von Jesus praktizierten Mahlgemeinschaften einen Angriff auf die atl. Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ dar (vgl. Lev 10,10: „Ihr sollt unterscheiden zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht heilig ist, zwischen dem, was unrein, und dem, was rein ist“)127. Jesu Teilnahme an Gastmählern hat in der Überlieferung vielfältige Spuren hinterlassen (vgl. Q 7,33f; Q 10,7; Q 13,29.28; Lk 14,15–24/Mt 22,1–10; Mk 1,31; 2,15ff; 2,18ff; 3,20; 7,lff; 14,3ff; Lk 8,1–3; 10,8.38ff; 13,26; 14,1.7–14; 15,1f.11–32; 19,1–10). Sie zeugen davon, dass es zum Besonderen Jesu gehört haben muss, Gastmähler zu feiern, sie mit spezifischem Sinn zu versehen und dabei kulturelle Regeln zu durchbrechen. Die Parabel vom großen Gastmahl (Lk 14,15–24/Mt 22,1–10)128 zeigt, wie Jesus zeitgenössische Vorstellungen aufnahm und verfremdete. Im antiken Judentum war die Vorstellung weit verbreitet, dass am Ende der Tage Gott für die Gerechten und Geretteten ein Heilsmahl in unermesslicher Fülle zubereiten wird (vgl. Jes 25,6; PsSal 5,8ff). Von Gottes endzeitlichem Freudenmahl spricht auch Jesus, doch er weiß Überraschendes zu berichten: Das Fest findet statt, aber die Gäste werden andere sein als man dachte. Die zuerst eingeladenen Gäste haben ihre Chance verpasst, denn sie erkannten den gegenwärtigen Kairos des Gottesreiches nicht129. Stattdessen nehmen Menschen „von der Straße“ (Lk 14,23) an dem Fest teil, d. h. Arme und andere Randsiedler der Gesellschaft. Damit stellt Jesus antike Ehrvorstellungen auf den Kopf, denn Gott gewährt gerade denen seine Ehre, die eigentlich davon ausgeschlossen sind130. Ähnlich provokativ ist der Ausblick auf das eschatologische Freudenmahl in Q 13,29.28; nicht die Erwählten, sondern die Heiden werden es mit Abraham, Isaak und Jakob halten. Eine Umkehrung der Verhältnisse ist eingetreten, wie sie die Seligpreisung der Armen in Q 6,20 und Q 13,30 verdeutlichen: „Es werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“. Die Mahlpraxis Jesu konnte deshalb nicht ohne Reaktion bleiben. So erhoben die Schriftgelehrten unter den Pharisäern nach Mk 2,16 die aus ihrer Sicht diskreditie-
126 Vgl. B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, GTA 43, Göttingen 1990, 234 ff. 127 In ntl. Zeit versuchten die Pharisäer diese Unterscheidung für alle Lebensbereiche verbindlich zu machen; vgl. dazu J. NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen, in: ders., Das pharisäische und talmudische Judentum, TSAJ 4, Tübingen 1984, (43–51) 51, der zu Recht die ‚Gesetzlichkeit‘ der Pharisäer als „eine Sache der Speisevorschriften“ bezeichnet. 128 Eine Q-Form lässt sich nicht mehr überzeugend
rekonstruieren; vgl. dazu U. Luz, Mt III (s.u. 8.3), 232–238. 129 Diesen Aspekt hebt H. WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern (s. o. 3.4.3), 187, hervor: „Jetzt sollen sie kommen“. 130 Vgl. dazu S.C. BARTCHY, Der historische Jesus und die Umkehr der Ehre am Tisch, in: W. Stegemann/ B.J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), (224–229) 229: „Im Gegensatz zur gängigen Vorstellung, war für Jesus Ehre kein begrenzt vorhandenes Gut. Gott sorgt für das unbegrenzte Vorhandensein von Ehre.“
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 91
rende Frage, ob Jesus mit Zöllnern131 und Sündern esse (vgl. Q 7,34; Lk 15,1). Jesus antwortet mit seiner Sendung zu den Sündern (Mk 2,17c); vor allem den Sündern muss Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, damit sie zu Gott zurückkehren. Jesus hat also betont und absichtsvoll diejenigen am Mahl teilnehmen lassen, die das offizielle Judentum seiner Tage lieber ausgrenzte. Gott der Schöpfer übernimmt selbst in den Gastmählern die endzeitliche Fürsorge für seine Geschöpfe und ist den Sündern gegenüber der Barmherzige. Der kreatürliche Aspekt ist bei den Gastmählern nicht zu übersehen, Gott spricht die Menschen in der bereits wirkenden Gottesherrschaft in ihrer Geschöpflichkeit an und gewährt ihnen auf die Bitte „Unser Brot für den Tag gib uns heute“ (Q 11,3) das zum Leben Notwendige (vgl. Q 12,22b– 31). Die Gastmähler veranschaulichen, wie sich die Dynamik des Gottesreiches von selbst durchsetzt und Menschen in sich aufnimmt. Die Mahlgemeinschaften sind wie die Gleichnisreden und die Wundertaten ganz und ungeteilt Ereignisse der ankommenden Gottesherrschaft. Im antiken Judentum gibt es für diese sich wiederholenden Gastmähler mit kultisch Unreinen als Ausdruck und Vollzug der ankommenden Gottesherrschaft keine Parallelen. Die offene Mahlpraxis Jesu mit ihrem Heilscharakter (Mk 2,19a) gehört in das Zentrum des Wirkens Jesu132, wie nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte des Mahlmotives zeigt (vgl. 1Kor 11,17–34; Mk 6,30–44; 8,1–10; 14,22–25; Joh 2,1–11; 21,1–14; Apg 2,42–47). Das Reich Gottes als Gottes neue Wirklichkeit
Gottes Kommen und Handeln in seinem Reich ist die Basis, die Mitte und der Horizont des Wirkens Jesu. Mit der Rede vom Reich/der Herrschaft Gottes nimmt Jesus nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern eine umfassende Sinnbildung vor, deren Ausgangspunkt die Erfahrung und die Einsicht war, dass Gott in neuer Weise zum Heil der Menschen unterwegs ist und das Böse zurückgedrängt wird133. Auffällig ist zunächst, was bei Jesu Rede über Gottes Herrschaft/Reich fehlt: Nationale Bedürfnisse werden nicht angesprochen, und die rituelle Trennung von Heiden und Juden spielt keine Rolle mehr. Nicht das Opfer im Tempel, sondern Mahlgemeinschaften in galiläischen Dörfern sind Zeichen der anbrechenden neuen Wirklichkeit Gottes. Jesus
131 Zu den Zöllnern vgl. F. HERRENBRÜCK, Wer waren die Zöllner?, ZNW 72 (1981), (178–194) 194: „Die neutestamentlichen Zöllner sind sehr wahrscheinlich als hellenistische Kleinpächter anzusehen und deshalb weder römische Großsteuerpächter (publicani) noch deren Angestellte (portitores). Sie waren gewöhnlich reich und gehörten der gehobenen Mittelschicht bzw. der Oberschicht an.“ 132 Vgl. B. KOLLMANN, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, 235 ff.
133 Alle angeführten Aussagen über die Realität des Reiches Gottes lassen eine exklusive Bindung an die Person Jesu erkennen und sprechen gegen die These von G. THEISSEN, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, in: ders., Jesus als historische Gestalt, FRLANT 2002, Göttignen 2003, 255–281, wonach nicht nur Jesus, sondern auch die Jünger bereits vorösterlich Repräsentanten des Reiches Gottes gewesen sein sollen.
92 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
setzt innerhalb Israels keine Grenzen: Er stellt die Randsiedler Israels, die Armen, die benachteiligten Frauen, Kinder, Zöllner, Huren in die Mitte, er integriert Kranke, Unreine, Aussätzige, Besessene und schließt offensichtlich auch Samaritaner ins Gottesvolk ein. Grundlegende religiöse, politische, soziale und kulturelle Identitätsmerkmale seiner Gesellschaft werden von Jesus einfach außer Acht gelassen. Der Anfang des Gottesreiches wird in der Liebe Gottes zu den Disqualifizierten sichtbar und bedeutet: überwältigende Vergebung von Schuld, Vaterliebe, Einladung an die Armen, Erhörung der Gebete, Lohn aus Güte und Freude. Davon erzählt Jesus in seinen Gleichnissen und Parabeln. Ihre eigentümliche Leistung besteht darin, dass sie den Hörer gleichsam in ihre erzählte Welt hineinholen, so dass er sich mit seiner Welt unversehens in der Geschichte selbst vorfindet und dabei sich und seine Zeit neu verstehen lernt. So schaffen sie Nähe zum Ungewöhnlichen der Botschaft Jesu und damit zu der unerwartet nahenden und bereits gegenwärtigen Gottesherrschaft mitten in der Alltagswelt. Das Reich Gottes ist für Jesus keineswegs nur eine Idee, sondern eine sehr konkrete, weltumstürzende Wirklichkeit, als deren Anfang er sich selbst verstand134. Durchgängig wird vorausgesetzt, dass das Kommen des Reiches Gottes eine Realität ist, wobei Jesu Aussagen teilweise von befremdlicher Konkretheit sind. Den Boten wird eingeschärft, niemanden auf dem Weg zu grüßen (Q 10,4). Wer um die Bedeutung des Grußes im Orient weiß, kann ermessen, wie befremdlich dieser Befehl ist. Die Nachfolger dürfen von ihren Familien nicht mehr Abschied nehmen, ja, den eigenen Vater nicht mehr begraben (vgl. Q 9,59f). Solche Sätze wären nicht denkbar, wenn das Reich Gottes nicht als etwas ganz Konkretes, als ein wirklich von Gott gebrachtes Ende gedacht wäre, das bereits jetzt menschliche Bindungen aufhebt. In Galiläa war die Großfamilie der Ort sozialer Identität135, d. h. Jesus verlässt auch hier mit seinen Nachfolgern die gewohnte Denk- und Sozialstruktur. Die Herrschaft Gottes entwickelt sogar eine eigene Dynamik; Jesus spricht von ihr als selbst handelndes Subjekt: „sie ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15), „sie ist da“ (Lk 11,20), „sie kommt“ (Lk 11,2), „sie ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Offenbar ist für Jesus die Gottesherrschaft ein eigenes, den Menschen zwar erfassendes, aber nicht von ihm bestimmbares oder auszulösendes Geschehen und hat ihre eigene Kraft (vgl. Mk 4,26–29)136.
134 Vgl. dazu H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der
Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 145–164. 135 Vgl. H. MOXNES, Putting Jesus in His Place. A Radical Vision of Household and Kingdom, Louisville 2003. 136 Alle Beobachtungen weisen darauf hin, dass ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ bei Jesus in einem escha-
tologischen Kontext verstanden werden muss, so dass eine ‚un-eschatologische‘ und damit primär ethisch-politische Jesus-Interpretation, wie sie teilweise in der neueren amerikanischen Exegese vertreten wird (vgl. z. B. M.J. BORG, Jesus [s. o. 3], 33ff; B. L. MACK, Wer schrieb das Neue Testament? [s. o. 3.1], 62), schlicht am Textbefund scheitert.
Das Zentrum: Die Proklamation des Reiches Gottes 93
Die Interpretation des Reich-Gottes-Begriffes ist in der Forschung durch einen Antagonismus zwischen einem ethisch individualistisch-präsentischen und einem apokalyptisch kosmisch-futurischen Verständnis bestimmt gewesen. Klassische Vertreter einer ethischen Interpretation sind Albrecht Ritschl (1822–1889) und Adolf von Harnack (1851–1930). In seinem 1875 veröffentlichten „Unterricht in der christlichen Religion“ stellt Ritschl in § 5 fest: „Das Reich Gottes ist das von Gott gewährleistete höchste Gut der durch seine Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde; allein es ist als das höchste Gut nur gemeint, indem es zugleich als das sittliche Ideal gilt, zu dessen Verwirklichung die Glieder der Gemeinde durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise sich unter einander verbinden.“137 A. v. Harnack stützte sich für sein Gottesreichverständnis vor allem auf die Gleichnisse Jesu; an ihnen wird sichtbar, was das Gottesreich ist: „Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“138 Demgegenüber steht die Interpretation von Johannes Weiss (1863–1914), der 1892 sein Buch „Die Predigt Jesu vom Reich Gottes“ veröffentlichte. Reich Gottes bedeutet demnach bei Jesus weder sittliches Ideal noch innere religiöse Gewissheit, sondern Gott führt das Ende der Welt und eine neue Welt ohne menschliches Zutun herbei. Der Anbruch des Reiches Gottes steht als kosmische Katastrophe unmittelbar bevor. „Die Wirksamkeit Jesu ist beherrscht durch das starke und unbeirrte Gefühl, dass die messianische Zeit ganz nahe bevorsteht. Ja er hat sogar Momente prophetischen Tiefblicks, in welchen er das jenem entgegenstehende Reich des Satans bereits im Wesentlichen als besiegt und gebrochen erkennt und dann spricht er in kühnem Glauben von einem bereits wirklichen Angebrochensein des Reiches Gottes.“139 Albert Schweitzer verschärfte diese Position: Das Reich Gottes „liegt jenseits der ethischen Grenze zwischen Gut und Böse; es wird herbeigeführt durch eine kosmische Katastrophe, durch welche das Böse total überwunden wird. Damit werden die sittlichen Maßstäbe aufgehoben. Das Reich Gottes ist eine übersittliche Größe.“140
Beide Interpretationsmodelle sehen Richtiges: Zweifellos ist die Perspektive Jesu auf das kommende, unmittelbar bevorstehende Reich Gottes ausgerichtet, in dem Gott selbst seine neue Wirklichkeit schafft. Das Kommen des Reiches Gottes bedeutet das Kommen einer real neuen Welt. Zugleich entfaltet das Reich Gottes eine ungeahnte neue ethische Energie, die den Menschen zu einem neuen Handeln öffnet. Weil das Reich Gottes für Gottes Herrschaft in Gegenwart und Zukunft, Gottes Nähe, Gottes Liebe, Got-
137 A. RITSCHL, Unterricht in der christlichen Reli-
gion, Bonn 61903, 2. 138 A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1977 (= 1900), 43. 139 J. WEISS, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892, 61.
140 A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, in: ders., Ausgewählte Werke Bd. 5, Berlin 1971 (= 1901), 232.
94 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
tes Parteinahme, Gottes Gerechtigkeit, Gottes Wille, Gottes Sieg über das Böse und Gottes Güte steht, bestimmt es alle Bereiche der Verkündigung und des Handelns Jesu und seiner Nachfolger.
3.5
Ethik im Horizont des Reiches Gottes
H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchung zur Ethik Jesu, fzb 34, Würzburg 31984; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I, HThK.S 1, Freiburg 1986, 31–155; S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1986, 18–83; W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 21989, 23–122; J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils. Eine Untersuchung zu den ethischen Radikalismen Jesu, Regensburg 1991; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 311–355.
Es ist in der Forschung umstritten, ob man von einer Ethik Jesu sprechen kann. Wird der Ethik-Begriff in eine reflexive, theoretische Diskursebene eingebettet und Ethik immer als ein Element eines Theorieunternehmens bestimmt, so wird man bei Jesus nicht von Ethik, sondern von moralischen Aussagen/Stellungnahmen, von ‚morality‘ sprechen müssen141. Andererseits gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass Jesus weitaus mehr als ein Vertreter eines kontextuellen Ethos ist142: 1) Viele seiner ethischen Aussagen haben einen prinzipiellen Charakter und lassen sich gerade nicht auf einmalige Stellungnahmen reduzieren. 2) Die ethischen Aussagen Jesu weisen deutlich eine Struktur und innere Gewichtung auf, bei der das Liebesgebot Mitte und Zentrum zugleich ist. 3) Schließlich können Jesu (teilweise radikale) Aussagen zu ethischen Fragestellungen in sein Gesamtwirken integriert werden. Deshalb ist es sinnvoll, auch weiterhin von einer Ethik Jesu zu sprechen.
3.5.1
Schöpfung, Eschatologie und Ethik
Jesu Ethik orientiert sich am Willen Gottes, der angesichts des kommenden Reiches Gottes und der damit verbundenen Entmachtung des Bösen wieder in seiner ursprünglichen, d. h. schöpfungsgemäßen Bedeutung zur Geltung gebracht wird. Protologie und Eschatologie bilden bei Jesus eine vom Gottesgedanken getragene Einheit. Im Hori141 Vgl. in diesem Sinn W. A. MEEKS, The Origins of
Christian Morality, New Haven/London 1993, 4; W. STEGEMANN, Kontingenz und Kontextualität der moralischen Aussagen Jesu, in: W. Stegemann/ B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), (167–184) 167: „Jesus hat – nach meiner Meinung – keine Ethik formuliert und war auch kein Tugendlehrer. Seine Äußerungen zu be-
stimmten Werten und Überzeugungen seiner Gesellschaft und Kultur gehen vielmehr auf kontingente Problemstellungen zurück und machen nicht den Eindruck, dass sie das Ergebnis systematischer Reflexion sind oder eine Theorie des rechten Lebens oder des angemessenen Verhaltens sein wollen.“ 142 Zu möglichen Unterscheidungen zwischen Ethik und Ethos s.u. 6.6.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 95
zont des Reiches Gottes geht es um die Proklamation und Durchsetzung des ursprünglichen Willens Gottes 143. Weisheitliches Schöpfungsdenken und radikale Ethik angesichts des gegenwärtig kommenden Reiches schließen sich bei Jesus nicht aus, sondern ergänzen sich in seiner theozentrischen Perspektive. Der Wille des Schöpfers
Überschwänglich kann Jesus die Schöpfergüte Gottes preisen, der die Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45) und ohne dessen Willen kein Haar vom Haupt fällt (Mt 10,29–31). Gott sorgt für die Vögel und die Lilien, um wieviel mehr wird er für die Menschen da sein (Mt 6,25–33)144. Dieser weisheitliche Gedanke (vgl. Sir 30,23b–31,2) führt nun aber bei Jesus gerade nicht zur Befürwortung der Sorglosigkeit als einer Lebensmaxime, sondern erfährt in Mt 6,33 eine spezifische Begründung: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere hinzugetan“145. In der Ausrichtung auf das Reich Gottes erfüllt sich das Leben der Jünger. In der eschatologischen Prägung weisheitlichen Denkens offenbart sich ein Charakteristikum der Verkündigung Jesu146. Der menschlichen Aktivität wird ein neues Ziel gegeben: Sie soll nicht der eigenen Existenz gelten, sondern dem Reich Gottes. In der Hinwendung auf Gottes Reich und damit auf Gott den Schöpfer erfährt das menschliche Leben seine schöpfungsgemäße Bestimmung. Seiner Geschöpflichkeit entspricht der Mensch vor allem durch das Befolgen des ursprünglichen Schöpferwillens. Die Unauflöslichkeit der Ehe wird in Mk 10,2–9 von Jesus mit dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes begründet. Es entspricht dem Willen Gottes und damit zugleich der Geschöpflichkeit des Menschen, dass Mann und Frau ein Leben lang einander anhangen (Mk 10,9: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“). Die Möglichkeit der Scheidung wird von Jesus hingegen als eine Konzession des Mose an die sklvrokardı´a („Hartherzigkeit“) der Menschen gewertet, die sich letztlich gegen den Menschen richtet. Indem Jesus die Scheidung verwirft, wertet er nicht nur die Stellung der Frau in der jüdischen Gesellschaft auf, sondern er stellt sich über die Autorität des Mose und nimmt für sich in Anspruch, den auf das Wohl des Menschen gerichteten ursprünglichen Willen Gottes 143 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus, NZSTh 24 (1982), (3–20) 12. 144 Der auf Jesus zurückgehende Grundbestand dieses Textes umfasst (ohne redaktionelle Zusätze) V. 25 f.28–33; vgl. zur Begründung U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 471–476 (ohne V. 25d.e; 32a); J. GNILKA;, Mt I (s.u. 8.3), 252. Eine eindringende Analyse und Interpretation bietet H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, 174–183. 145 In Mt 6,33 ist kai` tv`n dikaiosu´nvn autou˜ matthäischer Zusatz; vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s.u. 8.3), 152.
146 Zu diesem Problemkreis vgl. M. EBNER, Jesus –
ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, HBS 15, Würzburg 1998; D. ZELLER, Jesu weisheitliche Ethik, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s. o. 3), 193–215. Zeller führt als Beispiele weisheitlicher Ethik bei Jesus an: Mk 5,42; 6,25b; 8,35.36f; 10,21; Mt 5,33–37.39b–40.44f; 6,7a.8b.19– 21.24.26.28b–30.31–32b; 7,7.9–11; 10,29.31b; Lk 6,24.31.36–37; 16,25; 17,3b–4; 18,2–5.
96 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
wieder zu Gehör zu bringen. Zugleich setzt er damit die Scheidungsmöglichkeit nach Dtn 24,1–4 außer Kraft! Mk 10,2–9 geht in seiner vorliegenden literarischen Form zwar nicht auf Jesus zurück, dürfte aber sachlich seine Position wiedergeben147. Dies bestätigt 1Kor 7,10f (ohne die von Paulus eingefügte Parenthese V. 11a), wo Paulus die Unauflöslichkeit der Ehe auf das Wort des Kyrios zurückführt. Die Ausnahmeregelungen in Mt 5,32 (parekto`ß lo´gou porneı´aß) und Mt 19,9 (mv` epi` porneı´a ) sind matthäisch148.
Auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen auch die Jesusworte in Mk 2,27 und 3,4: Der Sabbat soll als Schöpfungswerk dem Leben dienen und an dieser Maxime hat sich das Handeln des Menschen zu orientieren. Wie die Heilungen (s. u. 3.6.3) und die torakritischen Worte (s. u. 3.8.2) haben die ethischen Aussagen Jesu eine schöpfungstheologische Dimension. Weil Schöpfung gottgewolltes Leben bedeutet, Gott gleichermaßen Geber und Erhalter des Lebens ist, muss sich der Mensch seines Ursprungs bei Gott stets bewusst sein und zugleich dem lebenserhaltenden Willen Gottes folgen. Die staatlichen Ordnungen sieht Jesus ebenfalls im göttlichen Willen begründet, wenn der Staat seinen Aufgaben nachkommt und sich zugleich auf sie beschränkt. Dieses Thema wird exemplarisch in Mk 12,13–17 behandelt149, wobei V. 17 Jesu Position markiert: „Was des Kaisers ist, gebt dem Kaiser, und was Gottes ist, Gott!“ Die Fragesteller wollten Jesus offenbar auf einem zentralen Feld der damaligen politischen Ethik zu einer Äußerung in die eine oder die andere Richtung provozieren. Die Frage war so gewählt, dass nach ihrer Meinung jede Antwort Jesus nur zum Nachteil gereichen konnte. Bejahte er ausdrücklich das Steuerzahlen an die Römer, so hätte man ihn als römerfreundlich und Feind seines eigenen Volkes hinstellen können. Verneinte Jesus hingegen die Steuern, so hätten ihn die Fragesteller als Aufrührer denunzieren können. Bedenkt man die durchgängige Verflechtung von religiösem und politischem Leben in der gesamten Antike, so ist eine kritische Komponente in V. 17a nicht zu überhören. Jesus bestreitet zwar nicht das Recht und die Macht des Staates, aber er reduziert die Bedeutung des Staates auf eine rein funktionale Ebene. Dem Kaiser sind Steuern zu zahlen, aber eben nicht mehr! Jede ideologische oder religiöse Überhöhung des Staates wird durch diese rein funktionale Bestimmung durch Jesus unmöglich gemacht. Schließlich bringt V. 17b eine weitere Relativierung des Kaisers. Hier liegt die Pointe der Antwort Jesu: Der Gehorsam gegenüber Gott ist allen anderen Dingen vor- und übergeordnet. Allein der Gehorsam gegenüber Gott bestimmt, was dem Kaiser zukommt und was nicht. Dem Kaiser gebührt die Steuer, die 147 Vgl. zur Analyse J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.5), 96–148. 148 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 77. 149 Markinische Redaktion lässt sich nur in V. 13
nachweisen, so dass es durchaus möglich ist, das gesamte Apophthegma im Leben Jesu zu verankern; zur Analyse vgl. zuletzt ST. SCHREIBER, Caesar oder Gott (Mk 12,17)?, BZ 48 (2004), 65–85.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 97
er zur Ausübung seiner staatlichen Macht braucht, ihm gebührt aber nicht religiöse Verehrung. Dem Kaiser gehört die Münze, aber der Mensch gehört Gott. Angesichts des Anspruches Gottes auf den Menschen kann der Kaiser und damit der Staat nur ein begrenztes Recht haben. Jesu Antwort stellt somit einen Mittelweg dar: Er ist kein antirömischer Revolutionär150, der das Recht und die Existenz dieses Staates grundsätzlich bestreitet. Er weist dem Staat auf rein funktionaler Ebene sein Recht zu, macht aber zugleich deutlich, dass das Recht des Staates in dem Recht Gottes auf den ganzen Menschen seine Begrenzung findet.
3.5.2
Die ethischen Radikalismen Jesu
Der von Jesus verkündigte Gotteswille will menschliches Zusammenleben ermöglichen und Störungen durch ein neues, unerwartetes Verhalten überwinden. In den Antithesen der Bergpredigt artikuliert sich unüberhörbar Gottes unbedingter Wille. Der Evangelist Matthäus fand in seinem Sondergut die 1., 2. und 4. Antithese vor und schuf auf dieser Basis eine Reihe von 6 Antithesen151. Durch pa´lin in Mt 5,33a setzt Matthäus die erste Dreierreihe von der zweiten ab. Handeln die ersten drei Antithesen vom Verhältnis zum Mitchristen (Zorn gegenüber dem Bruder, Ehebrechen, Ehescheidung), so die 4.–6. Antithese vom Verhältnis zum Nichtchristen (Schwören, Wiedervergeltung, Feindesliebe). Der traditionsgeschichtlich älteste Bestand der 1., 2. und 4. Antithese umfasst Mt 5,21–22a (vkou´sate . . . estai tU˜ krı´sei), Mt 5,27–28a.b (vkou´sate . . . emoı´ceusen autv´n), Mt 5,33–34a (vkou´sate . . . mv` omo´sai oÇlwß) und dürfte der Verkündigung Jesu zuzuordnen sein. Im Verlauf der Tradierung wurde dieses älteste Spruchgut durch Beispiele und Erläuterungen angereichert. Auch die vom Evangelisten gebildeten Antithesen enthalten alte Traditionen, wobei allerdings nur die Forderung nach Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b–40/Lk 6,29), das absolute agapa˜te tou`ß echrou`ß umw˜n in Mt 5,44a/Lk 6,27a und die schöpfungstheologische Begründung in Mt 5,45/Lk 6,35 auf Jesus zurückgehen dürften.
In der 1. Antithese stellt Jesus dem atl. Verbot des Tötens (Ex 20,15; Dtn 5,18) sein eigenes Recht gegenüber: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen“ (Mt 5,21–22a). Schon der Zorn gegenüber dem Bruder lässt den Menschen dem Gericht verfallen. Jesus legt das atl. Gebot damit nicht aus, sondern er überbietet es. Gefordert ist die radikale Zuwen150 Deutet schon Mk 12,17 eine gewisse Distanz zu den Zeloten an, so dürfte Mt 26,52 als Kritik an den Zeloten zu verstehen sein („Stecke dein Schwert in die Scheide, denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen“). Schließ-
lich sind Jesu Anweisungen in der Bergpredigt mit der Gewalt der Zeloten unvereinbar; zur Sache vgl. M. HENGEL, War Jesus Revolutionär?, Stuttgart 1970. 151 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 64–67.
98 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
dung des Menschen zum Menschen. Andernfalls folgt unabwendbar die Gerichtsverfallenheit. Inhaltlich ist die Verwerfung des Zorns im Judentum nicht neu (vgl. 1QS 6,25–27)152. Überraschenderweise überbietet aber die Verwerfung des Zorns bei Jesus die Tora und qualifiziert sie damit als unzureichend. Der Gotteswille wird von Jesus so ausgelegt, dass er dem Menschen ständig gilt und auch unwillkürliche Regungen umgreift. Allein schon die Frage, ob es auch berechtigten Zorn gibt, wäre der Versuch der Eingrenzung des Gotteswillens. In der 2. Antithese setzt Jesus dem atl. Verbot des Ehebruches (Ex 20,14; Dtn 5,17) die These entgegen, dass schon der begehrliche Blick wie ein Ehebruch zu werten sei: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen“ (Mt 5,27f). Das Verwerfliche ist nicht der Blick, sondern die dahinter stehende Absicht, das Begehren. Mit epihumı´a („Begehren“) bezeichnet Jesus das Verlangen des Menschen, sich fremde Güter anzueignen153. Der Mensch verspricht sich davon eine Steigerung seines Lebensgefühles, einen Gewinn an Lust und Sinn. Jesus unterbindet dieses Streben, weil es eine zerstörende Kraft entfaltet. Die Heiligkeit der Ehe wird gebrochen und Menschen ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entrissen. Auch das Schwurverbot Jesu in der 4. Antithese zielt auf die Ganzheit menschlicher Existenz (Mt 5,33–34a: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht falsch schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide halten. Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“). Durch den Schwur, der die Wahrheit beschworener Aussagen dokumentiert, sind die unbeschworenen Aussagen von der Wahrheit ausgenommen. Faktisch dient damit der Schwur der Duldung der Lüge. Ein Teilbereich des Lebens, in dem der Wille Gottes – Wahrhaftigkeit – gilt, ist von einem anderen abgetrennt, wo er nicht gilt. Diese Trennung soll durch das Gebot Jesu aufgehoben werden. Der Gotteswille gilt für den Menschen in allen Lebensbereichen. Jesus fordert den Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b.40/Lk 6,29)154. Dabei geht es keineswegs um ein rein passives Verhalten, das ins Erleiden führt. Die provokative Aufforderung Jesu, auch die andere Wange hinzuhalten und mit dem Mantel auch das Untergewand zu geben, verlangt im Gegenteil vom Jünger höchste Aktivität, denn er soll die Grundhaltung der Liebe in scheinbar aussichtslosen Situationen praktizieren. Jesus lebt und fordert ein ungewöhnliches, nicht berechenbares und zweckfreies Verhalten, das gerade dadurch produktiv ist. Das Gebot der Feindesliebe ist in seiner uneingeschränkten Form (Mt 5,44a/Lk
152 Vgl. H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s. o. 3.5), 261 Anm. 306; U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 338 f. 153 Vgl. H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s. o. 3.4.2), 114.
154 Zur Analyse vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 385f; G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 86 f. Matthäus fügt in V. 39b tv`n dexia´n hinzu.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 99
6,27a: agapa˜te tou`ß echrou`ß umw˜n [„liebet eure Feinde“]) ohne Analogie. Zwar gibt es sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Bereich enge Parallelen, die aber jeweils unterschiedliche Motivationen erkennen lassen und nicht wirklich mit der jesuanischen Anordnung übereinstimmen155. Jesus macht die Liebe grenzenlos; eine Eingrenzung ist nicht mehr möglich, auch nicht auf den Nächsten. Am Extrembeispiel des Feindes zeigt Jesus, wie weit die Liebe geht. Sie kennt keine Grenzen, sie gilt allen Menschen. Gottes radikale, uneingeschränkte Liebe drängt in den Alltag des Menschen hinein, dem zugemutet wird, mit der Feindesliebe an der Liebe Gottes zu partizipieren. Eine Begründung für die Feindesliebe lässt sich nicht aus der vorfindlichen Wirklichkeit ableiten, sondern ein solch ungewöhnliches Verhalten kann nur aus dem Handeln Gottes heraus seine Bedeutung und Verbindlichkeit erhalten. Weil der Schöpfer selbst in seiner Güte gegenüber Guten und Bösen das Freund-FeindSchema sprengt (Mt 5,45), kann der Mensch die Grenzen zwischen Freund und Feind überschreiten, werden Menschen entfeindet156. Mit dieser Konzeption unmittelbar verbunden ist ein neues Herrschaftsideal, das Jesus gegenüber den Jüngern in Mk 10,42b–44 formuliert157: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht gegen sie. Unter euch aber ist es nicht so. Sondern wer ein Großer werden will unter euch, soll euer Diener sein und wer unter euch der Erste sein will, soll der Knecht aller sein.“ Die antike Herrscherpraxis wird hier einer radikalen Kritik unterzogen, denn nicht Unterdrückung und Ausbeutung, sondern Dienen und Fürsorge kennzeichnen den wahren Herrscher158. Einen weiteren ethischen Radikalismus Jesu stellt das Verbot des Richtens in Mt 7,1 dar („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“)159. Jesus verbietet alles Urtei-
155 Parallelen finden sich in der jüdisch-hellenistischen Literatur, vor allem aber im Bereich der griechisch-römischen Philosophie. Bereits Pythagoras wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „Man gehe so miteinander um, dass man sich die Freunde nicht zu Feinden, wohl aber die Feinde zu Freunden macht“ (Diog L 8,23); vgl. ferner Plato, Resp 334b–3; ders., Crito 49b-c; Sen, Ira II 32,1–33,1; III 42,3–43,2; ders., Ep 120,9–10; Mus 10; Epic, Diss I 25,28–31; II 10,13 f.22–24; III 20,9–12; 22,54–56; IV 5,24; ders., Ench 42; Plut, Mor 143f–144a; 218a; 462c-d; 799c; weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 5,44. 156 Treffend F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 319f: „Im Akt der Feindesliebe handelt der Christ für die Zukunft seiner Gegner. . . In der Haltung der Christen entdeckt der Feind ein Gegenüber, wo er einen Gegner erwartete. Wenn er diese neue Situation anerkennt, darf man eine neue Einstellung zu sich selbst, zu sei-
nen Mitmenschen und zu Gott erhoffen.“ 157 In der vorliegenden Form geht der Text nicht auf Jesus zurück, als geschlossene Einheit dürfte Mk 10,42–44 aber eine längere Traditionsgeschichte durchlaufen haben; vgl. J. GNILKA, Mk II (s.u. 8.2), 99 f. Wenn in der Jesusbewegung über die gerechte Herrschaft debattiert wurde, dann dürfte am Ausgangspunkt ein Impuls der Verkündigung Jesu gestanden haben, zumal sich der Aspekt des Dienens in die Tendenzen der Gesamtverkündigung Jesu bestens einfügt. 158 Sachlich entspricht diese Position der Vision, die Dio Chrysostomus von der idealen Herrschaft entwirft; vgl. ders., Or 1–3. 159 Die jesuanische Herkunft von Mt 7,1 ist unumstritten; vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 3.4.2), 148f; U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 488.
100 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
len, weil in jedem menschlichen Urteilen der Keim für ein Verurteilen steckt. Mit dem Passivum divinum krihv˜te in Mt 7,1b verweist Jesus als Begründung auf das Endgericht. Weil das göttliche Gericht unmittelbar bevorsteht, soll sich der Mensch bereits jetzt danach richten und auf jegliches Urteilen verzichten, denn dies hat notwendigerweise die eigene Verurteilung im Gericht zur Folge. Ein ethischer Radikalismus ist auch die Reichtumskritik Jesu, wie sie sich in der Seligpreisung der Armen (Q 6,20), dem Aufruf zum Nicht-Sorgen (Mt 6,25–33) oder in Mk 10,25 ausspricht160: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!“ Während die Reichen vom Reich Gottes ausgeschlossen sind, wird es den Armen zugesprochen; eine paradoxere und schärfere Kritik des Reichtums als Hindernis auf dem Weg in das Reich Gottes ist kaum vorstellbar161! Der scharfe Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und der Welt wird auch in Q 9,59f sichtbar162: „Ein anderer aber sagte ihm: Herr, gestatte mir, zuvor fortzugehen und meinen Vater zu begraben. Er aber sagte ihm: Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Die Beerdigung der Eltern galt in der gesamten Antike als heilige Pflicht, so dass hier ein Frontalangriff Jesu auf Gesetz, Sitte und Frömmigkeit vorliegt163, der mit dem Ethos der neuen familia dei (vgl. Q 14,26; Mk 10,29) und der Heimatlosigkeit des Menschensohnes in Verbindung steht (Q 9,57f). Als ethische Radikalismen können auch das Ehescheidungsverbot (s. o. 3.5.1), das Fastenverbot in Mk 2,18–20 und die Tempelkritik in Mk 11,15–19 (s. u. 3.10.1) angesehen werden. Die grenzüberschreitenden ethischen Radikalismen Jesu sind drastische Aufforderungen, die von Gott nicht gewollte Entzweiung zwischen Menschen zu überwinden und dem Willen des Schöpfers wieder Geltung zu verschaffen. Ihrem Wesen nach unbegrenzt und nur im Horizont des nahenden Gottesreiches verstehbar164, fordern 160 Zur Analyse aller relevanten Texte vgl. J. SAUER,
Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.5), 277– 343. 161 Reichtumskritik findet sich überall in der Antike; vgl. z. B. Dio Chrys, Or 4,91. Allerdings bleibt die Radikalität der Aussagen Jesu bestehen, denn er vermeidet Sublimierungen, wie sie z. B. der römische Millionär Seneca vornimmt: „Der kürzeste Weg zum Reichtum ist die Verachtung des Reichtums“ (Ep 62,3). 162 Vgl. dazu M. HENGEL, Nachfolge und Charisma, BZNW 34, Berlin 1968, 9–17. 163 Nach E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 267, ist dies der einzige Fall, wo Jesus eine Übertretung von Toravorschriften fordert. 164 Den Aspekt der zeitlichen und sachlichen Bedingtheit der ethischen Radikalismen betont
A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis (s. o. 3.4.5), 229, im Hinblick auf das Offenbarwerden des Reiches Gottes: „Als Buße auf das Reich Gottes hin ist auch die Ethik der Bergpredigt Interimsethik.“ Es gilt: „Jede ethische Norm Jesu, möge sie auch noch so vollendet sein, führt also nur bis an die Grenze des Reiches Gottes, während jeglicher Pfad verschwindet, sobald man sich auf dem neuen Boden bewegt. Dort braucht man keinen“ (a. a. O., 232). Dies bedeutet nach Schweitzer jedoch keineswegs, dass Jesu Ethik für das Handeln der Menschen in der Welt (bis zum Anbrechen des Reiches Gottes) inhaltlich aufzugeben sei, denn nur die Naherwartung als Begründung der Ethik Jesu kann nicht übernommen werden. Das ‚Interim‘ bezieht sich also auf die Begründung und nicht auf den Inhalt!
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 101
die Radikalismen ein Verhalten, das sich ausschließlich von Gott bestimmt weiß165. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, radikal und endgültig proklamiert. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht, leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, das damit im Lichte des Reiches Gottes überboten, zugleich aber auch vertieft und ausgeweitet wird. Erst im Willen Gottes erreicht somit der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung. An das endgültige Wort Gottes darf er sich halten, von diesem Wort her gilt es zu leben und zu handeln. Indem der Mensch sich ganz auf Gott ausrichtet und damit von sich selbst löst, kann er sich von der Liebe bestimmen lassen, um das Wohl des anderen zu suchen. Auch im Versagen gegenüber dem Willen Gottes und der drohenden Gerichtsverfallenheit ist der Mensch ausschließlich auf Gott angewiesen, denn allein in der Umkehr kann er seinem gerechten Urteil entgehen. Der Radikalität der Forderung Jesu entspricht somit die Totalität des Angewiesenseins des Menschen auf Gott166. Die Frage der Erfüllbarkeit der ethischen Radikalismen stellt sich bei Jesus nicht, denn sie würde zu einer von ihm nicht gewollten Negierung der Entscheidungsfreiheit und damit zu einer Gesetzlichkeit und Funktionalisierung führen. Die Radikalismen sind bewusste Verfremdungen und haben als exemplarische Worte Appellcharakter, sich angesichts des nahenden Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen und gerade dadurch Menschsein zu ermöglichen.
3.5.3
Die Liebesforderung als Zentrum der Ethik Jesu
Als Geschöpf ist der Mensch dem Willen Gottes verpflichtet. Damit muss er sich nicht einem willkürlichen Despoten unterordnen, sondern Gottes Wille ist von seiner Liebe umgriffen, die in seinem Schöpferhandeln Gestalt gewinnt. Das Liebesgebot in seiner dreifachen Form als Gebot der Nächstenliebe (vgl. Mt 5,43), der Feindesliebe (Mt 5,44) und als Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) bildet die Mitte und das Zentrum der Ethik Jesu. Das Doppelgebot der Liebe
In Mk 12,28–34 wird dem Schriftgelehrten auf seine Frage „Welches ist das erste von allen Geboten?" von Jesus geantwortet: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der eine Gott, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem ganzen Herzen und von deiner ganzen Seele und von deiner ganzen Vernunft und von deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als dieses“ (V. 30.31). In seiner vorliegenden li165 Vgl. H. WEDER, Die ‚Rede der Reden‘ (s. o. 3.4.2),
154. 166 Vgl. J. ECKERT, Wesen und Funktion der Radika-
lismen in der Botschaft Jesu, MThZ 24 (1973), (301– 325) 319.
102 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
terarischen Gestalt geht das Doppelgebot der Liebe nicht auf Jesus zurück, denn die Häufung der Vernunftbegriffe, die ausgeprägte anthropologische Differenzierung, die ausdrückliche Überordnung des Liebesgebotes über die Opfer in V. 33, die starke Betonung des Monotheismus und die vom hebräischen Text und der LXX abweichende Hinzufügung von dia´noia lassen darauf schließen, dass literarisch eine Tradition des hellenistischen Judenchristentums vorliegt. Deshalb wurde vielfach das Doppelgebot der Liebe nicht als Proprium der Verkündigung Jesu angesehen167. Andererseits gibt es aber auch Hinweise, dass das Doppelgebot der Liebe sachlich doch auf Jesus von Nazareth zurückzuführen ist168: 1) Die Zusammenstellung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 ist zwar in der jüdischen Tradition vorbereitet169, findet sich dort aber ebenso wenig wie die Nummerierung der beiden Gebote170. 2) Der Text enthält keinerlei christologische Aussagen, die starke Betonung des Monotheismus schließt sie sogar aus171. 3) Sowohl die Kontext- als auch die Wirkungsplausibilität sprechen für eine sachliche Zurückführung des Doppelgebotes auf Jesus. Es ist einerseits in die Traditionen des Judentums eingebunden und kann deshalb dem Juden Jesus von Nazareth zugeordnet werden, andererseits lässt es ein besonderes Profil erkennen; das Doppelgebot der Liebe könnte sehr gut eine Besonderheit der Verkündigung Jesu sein, die seinen Anspruch dokumentiert172. Zumal die Entschränkung des ‚Nächsten‘ über die nationale Perspektive von Lev 19,18 hinaus das Gebot der Feindesliebe illustriert. Die starke Wirkungsgeschichte (vgl. Mk 12,28–34par; Gal 5,14; Röm 13,8– 10; Joh 13,34f) spricht ebenfalls dafür, dass beim Doppelgebot ein Impuls Jesu am Anfang stand. 4) Der Sachgehalt des Doppelgebotes findet sich nicht nur in der Wort-, sondern auch in der Erzählüberlieferung. Die Liebe gegenüber dem Fremden illustriert die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37)173, mit 167 Vgl. G. BORNKAMM, Das Doppelgebot der Liebe, in:
171 Vgl. G. THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe 69:
ders., Geschichte und Glaube I, München 1968, 37– 45; CHR. BURCHARD, Das doppelte Liebesgebot in der frühchristlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, WUNT 107, Tübingen 1998, 3–26 (= 1970); M. EBERSOHN, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition, MThSt 37, Marburg 1993. 168 Vgl. dazu vor allem G. THEISSEN, Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in: ders., Jesus als historische Gestalt (s. o. 3) 57–72. 169 Vgl. nur Arist 131; Philo, SpecLeg 2,63.95; 4,147; TIss 5,2; 7,6; TSeb 5,3; TJos 11,1). Zahlreiche weitere Belege bieten K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu I (s.u. 3.8), 99–136; A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum, WUNT 15, Tübingen 1974, 224–246.389–416; BILLERBECK I, 357–359; III, 306; O. WISCHMEYER, Das Gebot der Nächstenliebe bei Paulus, BZ 30 (1986), (153–187) 162 ff. 170 Vgl. M. HENGEL, Jesus und die Tora (s.u. 3.7), 170.
„Das mk Doppelgebot der Liebe kann keine urchristliche Schöpfung sein, da sein Monotheismus die Verehrung Jesu als Herrn neben Gott ausschließt und das positive Bild vom Schriftgelehrten in eine Zeit vor die grundsätzlichen Spannungen zwischen Christen und Juden weist.“ Theißen vermutet, dass Jesus das Doppelgebot von Johannes d. T. übernommen habe. 172 M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./ A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu (s.u. 3.9), 75, sieht in der Formulierung des Doppelgebotes „jenseits von Mose und allen Profeten“ einen Hinweis auf Jesu messianischen Anspruch. 173 Zur Auslegung vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu (s. o. 3.4.3), 275–296; PH. F. ESLER, Jesus und die Reduzierung von Gruppenkonflikten, in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), 197–211.
Ethik im Horizont des Reiches Gottes 103
der die Frage beantwortet wird, wer mein Nächster ist. Es geht um die Reichweite und Grenze der Liebesverpflichtung. Jesus erzählt die Geschichte aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen. Am Beispiel des religiös und politisch diskriminierten Samaritaners illustriert er die Grenzenlosigkeit der Verpflichtung zur Liebe, die ihr Ende nicht am Zumutbaren und Üblichen findet. Bewusst werden die beiden lieblosen Juden und der barmherzige Samaritaner kontrastiert; ein Verfremdungseffekt, der verdeutlichen soll, dass sich Nächstenliebe nicht an Konventionen und Vorurteile hält, sondern es wagt, sich darüber hinwegzusetzen und in souveräner Freiheit jene Hindernisse zu übersteigen, die sonst die Wege zueinander versperren. Die Liebe gegenüber den Sündern veranschaulicht die Erzählung von der Sünderin in Lk 7,36–50174. Die von Jesus gewährte Gemeinschaft mit Gott orientiert sich nicht an religiösen Schranken, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, die aufrichtig Vergebung suchen. Ethik der Liebe
Inhaltlich ist die Liebesforderung die Mitte der Ethik Jesu. Das Liebesgebot ist radikal, es lässt keine Einschränkung mehr zu und entspricht darin der uneingeschränkten Schöpfergüte. Jesu Liebesforderung ist konkret, denn in den Texten dominieren konkrete Beispiele: Segnen, Gutes tun, sich versöhnen, vergeben, den Bruder nicht „Dummkopf“ nennen, den Armen das Geschuldete zurückerstatten und sein Vermögen verschenken; nicht richten, nicht nur den Splitter im Auge des Bruders sehen. Jesus geht es keineswegs um eine neue Gesinnung, denn sowohl die Konkretheit der Forderungen als auch ihr radikaler, zugespitzter Charakter sollten jeden Zweifel darüber zerstören, dass sie tatsächlich ernst gemeint waren. Gerade in ihrer Radikalität ist Jesu Liebesforderung exemplarisch. Seine Worte sind exemplarische Sätze, seine Erzählungen sind exemplarische Geschichten und seine Taten sind exemplarische Handlungen, die ihre Kraft in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise freisetzen. Sie können nicht eins zu eins umgesetzt werden, denn es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie spontan ist und als ein den ganzen Menschen umfassendes Geschehen sich immer wieder in jeder Situation neu realisiert. In diesem Sinn sind Jesu Forderungen nicht Vorschriften, sondern viel mehr als das: Sie sind exemplarische Hinweise, sie greifen Musterbeispiele heraus, die man um ihrer Anschaulichkeit willen leicht behalten kann und die zeigen, wie das von Jesus gemeinte Verhalten aussehen könnte. Der Geltungsbereich von Jesu Forderungen geht weit über das hinaus, was in den Texten angesprochen wird. Zugleich schließt aber der Gehorsam gegen-
174 Die vorliegende Erzählung geht nicht auf Jesus zurück, wohl aber darf eine Grundform mit einem stabilen narrativen Schema für Jesus in Anspruch genommen werden: „a) Jesus wird zu einem Mahl eingeladen, b) eine Frau kommt hinzu und salbt Je-
sus, c) diese Geste löst eine negative Reaktion aus, d) Jesus verteidigt die angeklagte Frau und e) anerkennt ihr Handeln als lobenswert“; F. BOVON, Lk I (s.u. 8.4), 387 f.
104 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
über seinen Forderungen immer das Moment der eigenen Freiheit mit ein, um herauszufinden, was Liebe in neuer Situation konkret bedeutet. Die von Jesus postulierten Entgrenzungen führen keineswegs in Grenzenlosigkeit, sondern orientieren sich aktiv an der Liebe, deren Gestalt nie beliebig sein kann.
3.6
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes
R. PESCH, Jesu ureigene Taten?, Freiburg 1970; W. SCHMITHALS, Wunder und Glaube, BSt 59, Neukirchen 1970; O. BÖCHER, Christus Exorcista, BWANT 96, Stuttgart 1972; G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten, Gütersloh 1974; G. PETZKE, Die historische Frage nach den Wundern Jesu, NTS 22 (1976) 180–204; K. KERTELGE, Die Wunder Jesu in der neueren Exegese, Theologische Berichte 5 (1976), 71–105; O. BETZ/W. GRIMM, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu (ANTI 2), Frankfurt, 1977; R. KRATZ, Rettungswunder, Frankfurt 1979; A. SUHL (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament (WdF 295), Darmstadt 1980; M. SMITH, Jesus der Magier, München 1981; H. WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten, VuF 29 (1984) 25–49; L.E HOGAN, Healing in the Second Temple Period, NTOA 21, Fribourg/Göttingen 1992; M. WOLTER, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen, in: K. Berger/F. Vouga/ M. Wolter/D. Zeller (Hg.), Studien und Texte zur Formgeschichte, TANZ 7, Tübingen/Basel 1992, 135–175; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s. o. 3), 509–1038; G. H. TWELFTREE, Jesus the Exorcist, WUNT 2.54, Tübingen 1993; D. TRUNK, Der messianische Heiler, HBS 3, Freiburg 1994; W. KAHL, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, FRLANT 163, Göttingen 1994; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 256–283; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter, FRLANT 170, Göttingen 1996; DERS., Neutestamentliche Wundergeschichten, Stuttgart 2002; M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, WUNT 2.144, Tübingen 2002; K.-W. NIEBUHR, Jesu Heilungen und Exorzismen, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, 99–112; L. SCHENKE, Jesus als Wundertäter, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 148–163; M. LABAHN/B.J. PEERBOLTE (Hg.), Wonders never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its Religious Environment, LNTS 288, London 2006.
Jesus von Nazareth wurde zuallererst als Heiler wahrgenommen und sein HeilungsCharisma begründete den Erfolg seines Wirkens. Sowohl die Synoptiker als auch das Johannesevangelium stellen das erfolgreiche exorzistische und therapeutische Handeln Jesu in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen175. Alle Kriterien der Frage nach Jesus 175 Zu erwähnen ist auch das Zeugnis des Josephus,
Ant 18,63f, das in seinem Kern historisch sein dürfte (vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus [s. o. 3], 74–82) und Jesus auch als Wundertäter erwähnt: „. . . Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen . . .“;
bemerkenswert ist ferner, „dass die innerjüdische Wirkungsgeschichte aufs engste mit Jesu Wundern verknüpft ist – enger jedenfalls als jedwege Verkündigungsaussage Jesu!“ (M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, 424).
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 105
(s. o. 3.1.2) lassen nur den Schluss zu, dass Jesus vor allem in den Dörfern rund um den See Genezareth als einflussreicher Heiler auftrat, von der überwiegend armen Bevölkerung verehrt wurde und Nachfolger um sich scharte.
3.6.1
Das kulturgeschichtliche Umfeld
Wunderheiler sind (nicht nur) in der Antike ein allgemeines kulturgeschichtliches Phänomen. Das Auftreten Jesu vollzieht sich im Kontext von jüdischen und hellenistischen Wundermännern176. In den Qumrantexten finden sich im Zusammenhang einer ausgeprägten Geisterlehre deutliche Hinweise auf magisch-pharmakologische Praktiken und auf Beschwörungsriten zur Dämonenabwehr177. „Da sich die auf Dämonenaustreibungen hindeutenden Befunde aus Qumran der Herkunft nach als überwiegend nicht-essenisch erwiesen, sind die dort implizierten Heilpraktiken über die Qumrangemeinde hinaus für weitere Teile des zeitgenössischen Judentums repräsentativ.“178 In der frührabbinischen Überlieferung sind Choni der Kreiszieher und Rabbi Chanina ben Dosa von besonderer Bedeutung. Choni (1. Jh. v.Chr.) bewirkte durch das Ziehen eines magischen Kreises Regenwunder und wird sowohl in der rabbinischen Überlieferung als auch bei Josephus (Ant 14,22–24) erwähnt179. Chanina ben Dosa trat wie Jesus im 1. Jh. der Zeitenwende in Galiläa auf und wirkte offenbar vor allem als Wunderheiler (speziell als Gesundbeter), aber auch zahlreiche andere Wundertaten werden ihm zugeschrieben (Fernheilungen, Macht über Dämonen)180. Zudem überliefert das Mischnatraktat Aboth drei Aussprüche Chanina ben Dosas, die ihn „as a warm-hearted lover of men, a true Chasid“181 darstellen. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass die beiden bedeutendsten jüdischen Wundertäter des 1. Jh. in Galiläa auftraten. Die klimatischen und kulturellen Besonderheiten dieses Landes begünstigten offenbar die außerordentlichen Ereignisse, die in seinen Grenzen geschahen. Als eine eigenständige Erscheinung sind die jüdischen Zeichenpropheten des 1. Jh. n.Chr. zu werten182. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des jüdischen
176 Vgl. hierzu die Darstellung bei B. KOLLMANN, Jesus
und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 61–118 (Hellenismus); 118–173 (antikes Judentum). 177 Zu nennen ist vor allem 4Q 510,4f: „und ich, der Weise, proklamiere die Majestät seiner Schönheit, um in Furcht und Schrecken zu versetzen alle Geister der Zerstörungsengel und die Geister der Bastarde, die Dämonen, Lilith . . .“(zitiert nach B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter [s. o. 3.6], 136). 178 B. KOLLMANN, a. a. O., 137. 179 Vgl. hierzu M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 290–337.
180 Ausführliche Darstellung und Analyse aller wichtigen Texte bei M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 337–378. Becker, a. a. O., 377, wertet z.R. die Texte, in denen Chanina als ‚Sohn Gottes‘ bezeichnet wird, als Reflex auf christliche Traditionen. 181 G. VERMES, Hanina ben Dosa, in: ders., Post-Biblical Jewish Studies, SJLA 8, Leiden 1975, (178–214) 197. 182 Vgl. P. BARNETT, The Jewish Sign Prophets – A. D. 40–47. Their Intentions and Origin, NTS 27 (1981) 679–697.
106 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Krieges traten nach Josephus in Palästina immer wieder Zeichenpropheten auf, die durch Endzeitwunder ihre (politischen) Ansprüche legitimieren wollten. Ein Prophet aus Samaria verhieß um 35 n.Chr. seinen Anhängern, dass er die verschollenen Tempelgeräte auf dem Garizim finden werde (Jos, Ant 18,85–87). Daraufhin ergriffen die Samaritaner die Waffen, um auf den heiligen Berg zu ziehen. Kurz nach 44 n.Chr. kündigte Theudas die Spaltung des Jordans an (Ant 20,97–99), was eine Wiederholung des von Josua und Elia überlieferten Jordanwunders gewesen wäre (vgl. Jos 3; 2Kön 2,8). Der Prokurator Fadus ließ Theudas enthaupten und tötete zahlreiche seiner Anhänger. Unter dem Prokurator Felix (52–60 n.Chr.) trat ein anonymer Prophet auf, der Wunder und Zeichen in der Wüste und damit einen neuen Exodus ankündigte (Ant 20,167–168; Bell 2,259). Ein aus Ägypten stammender Prophet führte seine Anhänger zum Ölberg und verhieß, dass die Mauern Jerusalems auf seinen Befehl hin zusammenbrechen würden (Ant 20,168–172; Bell 2,261–263; vgl. Apg 21,38). Wiederum griffen die Römer ein und töteten zahlreiche seiner Anhänger. Kennzeichnend für die Zeichenpropheten ist eine Kombination aus eschatologischen und politisch-sozialen Motiven: Die Wunder des Anfangs wiederholen sich in der Endzeit und sind als Beglaubigungszeichen die Initialzündung für weitere Ereignisse in der einsetzenden Heilszeit, zu denen auch die Befreiung des Hauses Israel von den Römern zählte. Jesus wurde von Gegnern nach Apg 5,36 als ein solcher Zeichenprophet verstanden und der Prozess der Römer gegen Jesus zeigt, dass sie Jesus von Nazareth dieser Kategorie zuordneten (s. u. 3.10.1). Aus dem weiten Feld hellenistischer Wunderheiler/Wundertäter ist der neupythagoräische Wanderphilosoph Apollonius von Tyana von besonderer Bedeutung (gest. um 96/97 n.Chr.), dessen Biographie Anfang des 3. Jh. von Philostrat niedergeschrieben wurde183. Hinter zahlreichen legendären Ausschmückungen wird eine Gestalt sichtbar, die in abgeklärter philosophischer Souveränität über zahlreiche Fertigkeiten in allen damaligen Wissenschaftsgebieten verfügt, Demonstrations-, aber auch Heilungswunder vollbringt, Menschen vor vielfältigen Gefahren rettet und mit den Herrschenden der Zeit immer wieder in Konflikt gerät. Auffallend ist, dass sich nicht nur zu fast allen Heilungen und Wundern Jesu bei Apollonius Vergleichbares findet184, sondern auch ihr Anfang (wunderbare Geburt) und ihr Ende (Auferstehung und Erscheinungen) Parallelen bieten, so dass Jesus von Nazareth und Apollonius von Tyana durchaus als Parallelgestalten angesehen werden können185.
183 Vgl. hierzu E. KOSKENNIEMI, Apollonius von Tyana in der neutestamentlichen Exegese, WUNT 2.61, Tübingen 1994. 184 Eine Auflistung der vergleichbaren Texte findet sich bei G. PETZKE, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, SCHNT 1, Leiden 1970, 124–134; vgl. auch die umfangreiche Ma-
terialsammlung in: G. LUCK, Magie und andere Geheimlehren in der Antike, Stuttgart 1990. 185 An einer Stelle ist christlicher Einfluss auf die Apollonius-Überlieferung offensichtlich, denn die Erzählung über die Wiederbelebung einer jungen Frau in Rom (Philostr, Vit Ap IV 45) dürfte sich Lk 7,11–17 verdanken.
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 107
3.6.2
Die Vielfalt des heilenden Wirkens Jesu
Die Exorzismen bilden das Zentrum des heilenden Wirkens Jesu186. Sie finden sich in allen Überlieferungsschichten, in der Logien- und der Erzähltradition, lassen zumeist kein nachösterliches Interesse erkennen und können in das Gesamtwirken Jesu eingeordnet werden187. Zudem zeigt die Beelzebul-Kontroverse188, dass wahrscheinlich schon zu Jesu Lebzeiten eine Kontroverse über die Herkunft seiner heilenden Fähigkeiten ausbrach: „Er hat den Beelzebul, und: Durch den Fürsten der Dämonen treibt er die Dämonen aus“ (Mk 3,22b). Jesus antwortet auf diesen Vorwurf mit einem Weisheitswort, wonach das Reich des Satans keinen Bestand haben kann, wenn es in sich gespalten ist. Sein eigenes erfolgreiches exorzistisches Wirken weist jedoch auf etwas ganz anderes hin: „Niemand kann aber in das Haus des Starken eindringen und seine Habe rauben, wenn er nicht zuvor den Starken gefesselt hat; dann erst wird er sein Haus ausrauben“ (Mk 3,27; vgl. Mt 9,34). Die grundsätzliche Entmachtung des Satans und die dadurch ermöglichte Wiederherstellung schöpfungsgemäßen Lebens war offensichtlich das Zentrum der Wirklichkeitserfahrung Jesu, die durch die Exorzismen zugleich hergerufen und bestätigt wurde. Darauf weisen neben Mk 3,27 vor allem die Vision Jesu in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“)189, die Verbindung zwischen den Exorzismen und dem hereinbrechenden Reich Gottes in Q 11,20 und die Bitte im Vaterunser um die Befreiung vom Bösen (Mt 6,13b) hin. Der Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen war der zentrale Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu190. Er teilt damit Überzeugungen im antiken Judentum, wonach die Entmachtung des Teufels und seiner Dämonen ein Kennzeichen der hereinbrechenden Endzeit ist (vgl. AssMos 10,1: „Und dann wird seine [sc. Gottes] Herrschaft über seine
186 Darüber besteht in der gegenwärtigen Forschung
Konsens; vgl. nur D. TRUNK, Der messianische Heiler (s. o. 3.6), 428f; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 306 f. 187 Eine Analyse aller Texte findet sich bei B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 174–215. 188 Zur ausführlichen Analyse vgl. D. TRUNK, Der messianische Heiler (s. o. 3.6), 40–93. 189 Die Bedeutung von Lk 10,18 ist in der Exegese umstritten; speziell S. VOLLENWEIDER, „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18), ZNW 79 (1988), 187–203; H. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 43 („Jesus bringt nicht die Basileia, sondern die Basileia bringt Jesus mit sich. Deshalb ist Jesus nicht ein Faktor im Kampf um die eschatologische Wende, vielmehr stellt sein Leben die Feier dieser Wende dar“), bestreiten, dass die Kampfmetaphorik für Jesu Verkündigung und
Wirken typisch sei. Gegen eine solche prinzipielle Argumentation sprechen nicht nur zahlreiche Einzeltexte (so macht z. B. die Bitte um die Befreiung vom Bösen in Mt 6,13b nur Sinn, wenn das Böse noch Macht auszuüben vermag), sondern vor allem der dynamische Reich-Gottes-Begriff, der die grundsätzliche, nicht aber die bereits gänzlich erfolgte Vernichtung des Satans voraussetzt. Zur Bedeutung von Lk 10,18 vgl. u. a. H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 68–72; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 211–233; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 191–195; M. THEOBALD, „Ich sah den Satan aus dem Himmel stürzen“. Überlieferungskritische Beobachtungen zu Lk 10,18–20, BZ 49 (2005), 174–190; T. ONUKI, Jesus (s. o. 3), 48 f. 190 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s. o. 3.5), 15.
108 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweg genommen sein“; ferner TDan 5,10–13;TLev 18,12; Jes 24,21f; Jub 10,1.5; 1QS 3,24f; 4,20–22; 1QM 1,10 u. ö.). Die eigentliche Opposition zum Kommen des Reiches Gottes ist bei Jesus die Herrschaft des Satans. Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches191 werden Menschen nun von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt (vgl. Q 7,22f). Speziell die Exorzismen zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse (vgl. Lk 13,16: „Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan seit 18 Jahren in seinen Banden hält, sollte am Sabbat nicht von ihrer Fessel befreit werden dürfen?“)192. Die Erzählung von der Rückkehr eines unreinen Geistes (Q 11,24–26) zeigt, wie sehr Jesus innerhalb geläufiger exorzistischer Anschauungen lebte. Im Exorzismus ereignet sich ein Kampfgeschehen. Jesus überwindet mit gebräuchlichen Techniken (Bedrohung des Dämons, Namenserfragung, Ausfahrwort, Rückkehrverbot) vor allem Krankheitsgeister und befreit u. a. von Epilepsie (Mk 1,23–28; 9,14– 29) und Manie (Mk 5,1–20)193. Auf die enge Verbindung zwischen Exorzismen und Heilungen/Therapien verweist Lk 13,32b: „Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen“. In den Therapien findet kein Kampf statt, sondern im Mittelpunkt steht die Übertragung heilender Kraft auf den Kranken194. Krankheit erscheint hier als ein Mangel an Lebenskraft, als Schwäche bis hin zur Todesnähe, der mit einer positiven Gegenkraft begegnet wird. Die Übertragung dieser Gegenkraft kann in verschiedener Weise stattfinden: In Mk 5,25–34 (Heilung einer blutflüssigen Frau) wird die heilende Kraft ohne Wissen Jesu aktiviert. In Mk 1,29–31 (Heilung der Schwiegermutter des Petrus) hat eine Berührung heilende Wirkung und beim Aussätzigen (Mk 1,40–45) vollbringen eine Berührung und ein wunderwirkendes Wort die Heilung. Heilpraktiken (z. B. Speichel, wunderwirkendes Wort) werden in Mk 7,31–37 (Heilung eines Taubstummen) und Mk 8,22–26 (Blindenheilung) geschildert. Bei der Heilung des blinden Barthimäus (Mk 10,46–52) steht das Glaubensmotiv im Mittelpunkt. Fernhei191 Vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschich-
ten (s. o. 3.6), 277: „Jesus versteht seine Wunder selbst als Ereignisse, die auf etwas Nie-Dagewesenes hinzielen.“ 192 Lk 13,11–13 ist eine Exorzismuserzählung (V. 11: „. . .eine Frau hatte seit 18 Jahren einen Geist, der sie krank machte. . .“), die sekundär zu einer Sabbatheilung wurde (vgl. V. 14). 193 CHR. STRECKER, Jesus und die Besessenen, in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten (s. o. 3), 53–63, wendet sich
z.R. gegen psychologische Erklärungsmuster ntl. Krankheitsbilder, die Rationalisierungen und Pathologisierungen vornehmen, um sie so unserer Wirklichkeit einzuverleiben. Er bestimmt die Exorzismen Jesu als performative rituelle Akte, mit denen „die Identität des Besessenen neu konstituiert, die Platzordnung in der sozialen Arena neu geregelt und die kosmische Ordnung neu etabliert wird“ (a. a. O., 60). 194 Zur Analyse der Texte vgl. B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 215 ff.
Jesus als Heiler: Die wunderbaren Kräfte Gottes 109
lungen werden in Mk 7,24–30 (Syrophönizierin) und in Mt 8,5–10.13 (Hauptmann v. Kapernaum) geschildert; beide Überlieferungen dürften als ältesten Kern die Erinnerung an die Heilung eines heidnisches Kindes durch Jesus bewahrt haben. Nicht nur die Erzähl-, sondern auch die Wortüberlieferung bezeugt Jesu Wirken als Heiler. Der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f setzt es voraus: „Blinde sehen wieder, und Gelähmte gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören. Tote werden auferweckt, und Armen wird die Frohbotschaft verkündigt. Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“ Eine beachtliche Parallele besitzt dieser Text in 4Q 521, wo ebenfalls die göttlichen Taten des Gesalbten zur Errichtung des Endheils aufgezählt werden195: Die Befreiung der Gefangenen, die Aufhebung von Blindheit und die Aufrichtung der Niedergedrückten (vgl. Jes 42,7); weiter heißt es: „Gott wird die Kranken heilen, die Toten auferwecken und den Elenden frohe Botschaft verkündigen.“ Auch Q 10,23f („Selig die Augen, die sehen, was ihr seht . . . Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige wünschten zu sehen, was ihr seht, und sahen es nicht, und hören, was ihr hört, und hörten es nicht") zeigt, dass die Gegenwart von Jesus als die Zeit der Heilswende angesehen wurde. Normenwunder begegnen in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Sünden- und Sabbatproblematik und haben die Funktion196, eine neue Praxis zu begründen. In Mk 2,23–28; 3,1–6 nimmt Jesus den jüdischen Grundsatz auf, dass Notlagen die Suspendierung der Sabbatgebote erlauben, weitet ihn aber zugleich aus; in Mk 2,1–12 beansprucht er die nur Gott zustehende Vollmacht, Sünden zu vergeben. Alle drei Texte sind in ihrer vorliegenden Gestalt nachösterlich redigiert, die Kernlogien gehen aber auf Jesus zurück (Mk 2,10 f.27; 3,4f) und auch die Situierung in Konflikten mit den Pharisäern und Schriftgelehrten dürfte historisch zutreffend sein. Während die Exorzismen, Heilungen und Normenwunder sehr wahrscheinlich im Wirken Jesu verankert sind, stellen sich bei den sogen. Naturwundern (Geschenkwunder: Mk 6,30–44par; 8,1–10par; Rettungswunder: Mk 4,35–41; Epiphanien: Mk 6,45– 52par) zahlreiche überlieferungsgeschichtliche Fragen197. Bei den Speisungserzählungen sprechen der Bezug auf 2Kön 2,42–44, die eucharistischen Anklänge, die Doppeltraditionen und die Steigerung des Wunderhaften deutlich für nachösterlichen Ursprung. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen, die atl. Anklänge und die starken christologischen Motive lassen auch den Seewandel und die Sturmstillung als nachösterliche Bildungen erscheinen. Totenauferweckungen durch Jesus (vgl. Mk 5,22–24.35–43; Lk 7,11–17) werden einerseits von der frühen Tradition vorausgesetzt (vgl. Q 7,22f), andererseits dürften sie dennoch nachösterliche Bildungen sein, denn sie variieren Jesu Auferstehung.
195 Vgl. dazu J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus
197 Vgl. dazu die Argumentation bei B. KOLLMANN, Je-
Qumran, WUNT 2.104, Tübingen 1998, 343–389. 196 Zur Unterscheidung von Therapien und Normenwunder vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschichten (s. o. 3.6), 94 ff.
sus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 271–280 (dort auch Analyse der hier nicht angeführten Texte).
110 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.6.3
Jesus von Nazareth als Heiler
Eine Wundertätigkeit Jesu im Sinn von wunderbaren Heilungen und Exorzismen ist historisch nicht bestreitbar198. Ihre theologische Interpretation muss drei Besonderheiten beachten: 1) Die Verbindung von Wunder und Eschatologie bei Jesus (vgl. Q 11,20) ist religionsgeschichtlich einzigartig, d. h. die Exorzismen und Heilungen sind eingebettet in eine eschatologisch-theozentrische Gesamtsicht. Mit der grundsätzlichen Entmachtung des Satans (vgl. Mk 3,27; Lk 10,18) gewinnt das Reich Gottes Raum. 2) Auch die Betonung des Glaubensmotivs in der ntl. Wunderüberlieferung ist singulär, es erscheint in der Wort- (Mk 11,22f) und Erzählüberlieferung (Mk 9,23f; 10,52a). Das unbedingte Vertrauen des Kranken zu Jesus und zu sich selbst gehören zusammen und entwickeln ungeahnte Kräfte. 3) Nicht nur die eschatologische Perspektive, sondern auch die schöpfungstheologische Dimension der Exorzismen und Heilungen verdeutlichen, dass die Wundertaten in den Gesamtzusammenhang des Wirkens Jesu gehören. Die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft vollzieht sich in Gleichnissen, der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Ethik und Gesetzesauslegung Jesu und in seinen Exorzismen und Heilungen. Gerade sie haben eine schöpfungstheologische Dimension; sie zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse. In Jesu Heiltätigkeit zeigt sich ein ganzheitliches Menschenbild, denn der Mensch wird gleichermaßen als geistiges, seelisches, körperliches und soziales Wesen gesehen. Krankheiten hatten in der Antike in der Regel eine soziale Ausgrenzung zur Folge199, so dass Jesu Heilungen auch eine Reintegration in die Gemeinschaft gewähren. All dies unterscheidet Jesus von Nazareth von Magiern, denn seine Heilungen setzen eine personale Verbindung voraus, kommen mit minimalen Praktiken aus und zielen auf soziale Stabilität und Vertrauen/Glauben200. Für seine Heilungen nahm Jesus im Gegensatz zu anderen kein Geld (vgl. Mk 5,26) und unterschied nicht zwischen Arm und Reich (vgl. Q 7,3.8). Zudem lehnte er Demonstrationswunder ab (vgl. Mk 8,11fpar) und vollbrachte keine Strafwunder201.
198 Vgl. G. THEISSEN, Urchristliche Wundergeschich-
ten (s. o. 3.6), 274; H. WEDER, Wunder Jesu und Wundergeschichten (s. o. 3.6), 28; B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 306f 199 So führten Besessenheit und Aussatz zum Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft; Blindheit oder Bewegungsstörungen hatten zumeist Erwerbsunfähigkeit und damit unausweichlich Verarmung und Bettelei zur Folge. 200 Gegen J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s. o. 3), 198–236, der Jesus als sozialrevolutionären Magier darstellt. M. SMITH, Jesus der Magier (s.o. 3.6),
240ff, meint, Jesus habe nicht nur magische Praktiken und Riten vollzogen, sondern auch magische Lehren verbreitet und über ein magisches Selbstverständnis verfügt; vgl. dazu J.-A. BÜHNER, Jesus und die antike Magie. Bemerkungen zu M. Smith, Jesus der Magier, EvTh 43 (1983) 156–175; M. BECKER, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum (s. o. 3.6), 425–430. 201 Mk 11,12–14.20f (die Verfluchung des Feigenbaums) dürfte nachösterlich sein; vgl. B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (s. o. 3.6), 275 f.
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos 111
Die Einsicht in den konstruktiven Charakter und damit auch die Relativität und den ständigen Wandel neuzeitlicher Weltbilder öffnen den Blick neu für Gottes schöpferisches Handeln in all seinen Dimensionen. Die Fixierung und Reduzierung auf die Frage nach der Faktizität von ‚Wundern‘ versperrte lange Zeit den Blick für die Mehrdimensionalität des heilenden Wirkens Jesu. Es ist vollständig eingebunden in sein gesamtes Wirken in Wort und Tat und macht Gottes heilendes Kommen in seinem Reich augenfällig und an Leib und Seele erfahrbar.
3.7
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos
E. BRANDENBURGER, Art. Gericht III, TRE 12 (1984), 469f; M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA 23, Münster 1990; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 58–99; H.-J. KLAUCK (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994; W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, BZNW 82, Berlin 1996; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 320–368; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23.653, Frankfurt 1999; M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 355–392.
Gottes endzeitliches Handeln vollzieht sich nach dem Zeugnis des Alten Testaments als richtendes Handeln zum Heil oder Unheil202. Die Gerichtsvorstellung gehörte zu den weltanschaulichen Grundbeständen des Alten Testaments/der Schriften des antiken Judentums203 und Johannes d. T. stellte den Unheilsaspekt in das Zentrum seiner uns überlieferten Botschaft (s. o. 3.2.1). So verwundert es nicht, dass sich unter den Jesus-Traditionen auch die Vorstellung findet, Gott wirke zum Unheil. Theologisch ist die Gerichtsvorstellung mit einer starken Betonung des Unheils ambivalent. Sie entspringt häufig den Allmachtsphantasien jener Gruppen, die sie als Ausgleich ihrer gegenwärtigen Erfolglosigkeit, Unfähigkeit oder Unterdrückung bildeten: Gott soll durch sein Unheilsgericht in der Zukunft die Gerechtigkeit wiederherstellen. Ein solcher Wunsch mag verständlich sein, eine Begründung für die erbetene Vernichtung von Leben durch Gott ist er nicht. Allerdings geht die Gerichtsvorstellung in einer solchen eher negativen Bestimmung nicht auf (s. u. 6.8.3). Positiv bringt sie zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig zum Leben eines Menschen und zur Geschichte insgesamt verhält. Würde das endzeitliche Handeln Gottes als Retten/Verurteilen durch Richten entfallen, dann blieben die Taten eines Men4
202 Vgl. B. JANOWSKI, Art. Gericht, RGG 3, Tübingen
2000, 733: „Gott ‚rettet‘, indem er ‚richtet‘, d. h. das Unrecht ahndet und das Böse nicht straffrei ausgehen lässt . . . Im Horizont der konnektiven Gerechtigkeit sind ‚Richten‘ und ‚Retten‘ Handlungskorrelate und das Gericht Gottes die theologische Antwort auf
die Frage nach der letztinstanzlichen Grundlage gerechten Lebens und Handelns.“ 203 Vgl. z. B. äthHen 50–56; eine Analyse relevanter Texte findet sich bei M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, 9–152.
112 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
schen unbeurteilt und mehrdeutig. Das Unrecht würde über das Recht triumphieren, das Böse bzw. Negative würde das letzte Wort behalten. Gerade als Schöpfer zeigt sich Gott in seinem richtenden Handeln für seine Schöpfung verantwortlich.
3.7.1
Jesus als Repräsentant des Gerichts Gottes
Wie der Täufer nimmt auch Jesus von Nazareth die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf, sondern sieht ganz Israel vom Unheil bedroht. Das Unheil über Israel
Jesu Heilsbotschaft richtet sich an ein Israel, das seine göttlichen Bundeszusagen verbraucht hat und dessen Erwählung zur Anklage wird. Das bezeugt das Doppelwort von den getöteten Galiläern und erschlagenen Jerusalemern (Lk 13,1–5): „. . . Meint ihr (etwa), sie seien vor allen Galiläern Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen! Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete, meint ihr (etwa), sie seien vor allen Bewohnern Jerusalems Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen!“ Jesus entschränkt bewusst zwei Einzelereignisse aus einem isolierten Tun-Ergehen-Zusammenhang und stellt die Ereignisse in einen theologischen Horizont. Die Geschehnisse werden so zu einem Menetekel für ganz Israel, über das ebenso unerwartet und schrecklich das Unheil kommen wird, wenn es nicht umkehrt. Umkehr bedeutet für Jesus Zuwendung zu seiner Botschaft, Umkehr ist Hinwendung zu ihm. Dieser besondere Anspruch wird auch in Q 11,31f sichtbar204: „Die Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und sie wird sie verurteilen . . . Die Männer von Ninive werden beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferstehen, und sie werden sie verurteilen . . .“ Jesus weist ‚diesem Geschlecht‘, d. h. ganz Israel als einheitlichem Gegenüber einen Schuldspruch im Gericht zu, es sei denn, sie kehren um und nehmen seine Botschaft an. Die Weherufe über die galiläischen Städte205 in Q 10,13–15 zeigen eine deutliche Verwandtschaft mit dem Königin des Südens/Ninive-Wort und sind nicht minder provokativ: „Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du etwa zum Himmel erhöht werden? Zum Totenreich wirst du hinabstürzen.“ Den heidnischen Städten Sidon und Tyrus 204 Analyse bei M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s. o. 3.7), 192–206; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 287–300.
205 Vgl. dazu CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung
Jesu (s. o. 3.7), 301–333.
Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos 113
galten zahlreiche atl. Gerichtsworte (vgl. Jes 23,1–4.12; Jer 25,22; 47,4; Ez 27,8; 28,21f; Joel 4,4); Jesus knüpft daran an und verfremdet geläufige Vorstellungen: Das Unheil wendet sich nicht gegen die Heiden, sondern gegen Israel. Kriterium ist das Verhalten gegenüber Jesu Wundertaten, die das Hereinbrechen des Reiches Gottes und damit auch Jesu Anspruch bezeugen. Über Kapernaum als Hauptort des Wirkens Jesu ist unter diesen Aspekten das Urteil bereits gefällt. Ähnlich drohenden Charakter haben das Völkerwallfahrtslogion Q 13,29.28 und die Parabel vom großen Gastmahl Lk 14,15–24/Mt 22,1–10 (s. o. 3.4.5), in denen ebenfalls die geläufige Vorrangsstellung Israels verworfen wird. Schließlich macht die endzeitliche Richterfunktion der Zwölf in Q 22,28.30 deutlich, dass die Stellung zu Jesus über das Ergehen im Gericht entscheidet. Das Unheil über den Einzelnen
Der zweite große Bereich der Unheilsaussagen Jesu betrifft den einzelnen Menschen. Er steht im Hintergrund von Mt 7,1f („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet . . .“), denn das kommende Gericht durch Gott ist die Motivation für das geforderte Verhalten. Eine große Schärfe gewinnt das Gerichtsmotiv in Q 17,34f: „Ich sage euch, zwei Männer werden auf dem Acker sein; einer wird mitgenommen und einer wird zurückgelassen. Zwei Frauen werden an einer Mühle mahlen, eine wird mitgenommen und eine wird zurückgelassen.“ Jesu Aussagen sind apodiktisch und provozierend, das Unheilsgericht ist unberechenbar, jeden kann es treffen und es gibt keine Begründung für den doppelten Gerichtsausgang : Die einen werden gerettet, die anderen verworfen. Die überraschende Gefährlichkeit des Unheils ist auch Thema der Parabel vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–20)206. Der Bauer handelt aus seiner Perspektive vernünftig („Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen und dort all mein Getreide und meine Früchte sammeln. Dann will ich zu meiner Seele sagen: Seele, du hast viele Güter lagern auf viele Jahre. Ruhe dich aus, iss, trink, sei fröhlich!“), jedoch vergisst er bei seinen Selbstreflexionen Gott! Gott fordert im Schlusswort („Du Narr, diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern! Was du jedoch bereitet hast, wem wird es gehören?“) genau diese Relation ein – zum Gericht des Mannes; Gottvergessenheit führt zum Lebensverlust. In völlig anderer Weise wird das Unheilsgericht in der Parabel vom klugen Verwalter in Lk 16,1–8a zum Thema207. Die Erzählung weist Elemente eines Kriminalfalles und einer Komödie auf, der Erzähler verleitet die Hörer dazu, dem Schicksal des Verwalters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln zu folgen. In einer lebensbedrohlichen Situation unternimmt der Verwalter alles, um sich die Zukunft zu
206 Ausführliche Analyse bei B. HEININGER, Metaphorik, Erzählstruktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergleichnissen bei Lukas, NTA 24, Münster 1991, 107–121.
207 Textabgrenzung und Interpretation bei H. MERKLEIN, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (s. o. 3.5), 135 f.
114 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
erhalten. Sein rechtlich unmoralisches Verhalten wird nicht bewertet. Vielmehr kommt für den Menschen alles auf die Erkenntnis an, dass angesichts der Botschaft Jesu und ihrer Folgen ein entschlossenes, schnelles und kluges Handeln gefordert ist, um so sein Leben ebenso wie der Verwalter vor dem Abgrund zu retten. Wie sehr es auf das Handeln des Menschen angesichts des nahenden Unheils ankommt, illustriert die Doppelparabel vom Hausbau in Q 6,47–49208. Wie der Hausbauer durch vorhersehende Planung eine Katastrophe verhindert, so kann man dem drohenden Unheil durch Klugheit entgehen, nämlich durch das Tun der Worte Jesu. Die Zeichen der Zeit zu erkennen wird auch in Q 17,26–28 gefordert. Jesus erinnert seine Zeitgenossen daran, wie das Geschlecht z. Zt. des Noah und wie die Zeitgenossen des Lot in Sodom und Gomorrha ganz plötzlich mit dem göttlichen Unheilsgericht bestraft wurden. Die Unausweichlichkeit und die Unerbittlichkeit des Unheils steht hier im Mittelpunkt, denn Noahs und Lots Rettung werden nicht beschrieben. Auffallend ist, dass vom unmoralischen Verhalten des Sintflutgeschlechts und der Bewohner von Sodom und Gomorrha nichts erwähnt wird. Israels Verlorenheit misst sich nicht an moralischen Werten, sondern an seinem Verhalten gegenüber Jesus. Dies steht auch im Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31–34 im Mittelpunkt209: Die Ablehnung des Täufers und Jesu durch Israel wird unter Aufnahme volkstümlicher Motive210 in unaufdringlicher Schärfe herausgestellt. Die Pointe des Bildes (V. 32b: „Wir spielten euch mit der Flöte auf, und ihr habt nicht getanzt, wir stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint“) besteht darin, dass die Angeredeten keinerlei Anstalten machten, auf die Aufforderungen und Angebote des Täufers und Jesu einzugehen. Sie greifen zu Vorwänden (V. 33f: „Denn Johannes kam, er aß und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“), um sich nicht der neuen Situation stellen zu müssen. Die Ablehnung des Menschensohnes führt unausweichlich zum Unheilsgericht. Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes
Alle bisherigen Texte haben deutlich gezeigt, dass Jesus das Verhalten gegenüber seiner Person und seiner Botschaft zum Kriterium im kommenden Gerichtsgeschehen erhob: Wer seine Botschaft annimmt, empfängt im Gericht das Heil; wer sie ablehnt, verfällt dem Unheil211. Nachdrücklich artikuliert sich dieser Anspruch in Q 12,8f: „Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Men-
208 Zur Zurückführung auf Jesus vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 536. 209 Vgl. dazu CHR. RINIKER Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 361–391. 210 Im (weiteren) Hintergrund dürfte Aesops Fabel
(11) von den Fischen stehen, die auf das Flötenspiel des Fischers hin nicht tanzten. 211 Vgl. M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ (s. o. 3.7), 387.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 115
schensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden.“212 Innerhalb einer Gerichtsverhandlung ist es allein der Menschensohn, der als letzte Instanz belohnt oder bestraft, d. h. Jesus (s. u. 3.9.2) fungiert hier (wie in anderen Texten) keineswegs nur als Zeuge, sondern als Richter. In Jesu Unheilsbotschaft liegt eine unübersehbare personale Zuspitzung vor; das Unheil erfolgt dort, wo Jesus abgelehnt wird. Jesus nimmt für sich nicht nur in Anspruch, das Gericht Gottes anzukündigen oder durchzuführen, sondern er selbst ist das Gericht; an seiner Person entscheiden sich Heil und Unheil213. Jesus ignoriert die Sonderstellung Israels unter den Völkern, greift die Heils- und Erwählungsgewissheit scharf an und bindet die vorausgesetzte Schuld an die Haltung gegenüber seiner Person; Umkehr ist Hinwendung zu Jesus. Die Unheilsbotschaft erweist sich damit als ein grundlegender Bestandteil des gesamten Wirkens Jesu 214. Sie lässt sich nicht weltanschaulich eliminieren215, denn die Funktion der Unheilsansagen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu erkennen, wachzurütteln und zur Entscheidung zu drängen: Das von Jesus repräsentierte Kommen des einen Gottes in seinem Reich kann nicht folgenlos bleiben, deshalb ist das Unheil die notwendige Negativseite seiner Heilsverkündigung. Wer den Heilscharakter der Basileia-Botschaft betont, darf den Unheilscharakter ihrer Ablehnung nicht verschweigen.
3.8
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten
K. BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT 40, Neukirchen 1972; H. HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; M. HENGEL, Jesus und die Tora, ThBeitr 9 (1978), 152–172; U. LUZ, Jesus und die Tora, EvErz 34 (1982), 111–124; P. FIEDLER, Die Tora bei Jesus und in der Jesusüberlieferung, in: K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 71–87; I. BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992; D. KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; J. BECKER, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 337–387; I. BROER, Jesus und die Tora, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen (s. o. 3), 216–254.
Das Verhältnis Jesu zur Tora gehört nicht zufällig zu den umstrittensten Themen ntl. Theologie. Hier verbinden sich exegetische Einschätzungen mit politischen, kulturellen und religiösen Einstellungen (persönliches Verhältnis zum Judentum, Geschichte des Judentums im 20. Jh., christlich-jüdisches Gespräch) und führen zu hochemotio212 Analyse bei CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 333–351; anders W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s. o. 3.7), 266–274 213 Vgl. M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (s. o. 3.7), 301f; CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.7), 457 ff. 214 Vgl. W. ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht (s. o. 3.7), 311–316: „Für den historischen Jesus ge-
hörten Herrschaft Gottes und Endgericht untrennbar zusammen “ (a. a. O., 316). 215 Klassisch A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums (s. o. 3.4.5), 41f, wonach Jesus die Vorstellungen vom Teufel und Gericht wohl mit seinen Zeitgenossen geteilt habe; dies sei aber nur die äußerliche, entbehrliche Schale, der Kern hingegen die Anschauung vom Reich Gottes.
116 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
nalen Positionen. Während in der älteren Exegese das Bedürfnis vorherrschte, Jesus dem Judentum gegenüberzustellen oder ihn zumindest innerhalb des Judentums herauszustellen216, dominiert in der neueren Exegese der Wunsch, Jesus möglichst nahtlos in die Vielgestaltigkeit des Judentums einzupassen217. Beide Strategien sind tendenziös, denn sie halten nicht die Spannung aus, Jesus innerhalb des Judentums zu interpretieren und zugleich aufzuzeigen, wie es zu den Konflikten Jesu mit jüdischen Gruppen/Autoritäten und zu seiner Wirkungsgeschichte innerhalb des sich formierenden frühen Christentums kam.
3.8.1
Gesetzestheologien im antiken Judentum
Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage218. Allerdings gab es immer differente Auslegungen der Tora und damit auch verschiedene Gesetzestheologien219. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Herausbildung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener im weiteren Kontext der makkabäischen Erhebung (vgl. 1Makk 2,15–28)220. Josephus sieht im Traditionsverständnis die Eigenart der Pharisäer 221 und zugleich den wichtigsten Unterschei-
216 Vgl. R. BULTMANN, Jesus (s. o. 3), 60 („Leicht ist
der Gehorsam, für den Jesus eintritt, deshalb, weil er den Menschen von der Abhängigkeit von einer formalen Autorität befreit“); E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus (s. o. 3), 206 („Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre“); G. BORNKAMM, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 71 („Aber nicht minder deutlich ist, daß durch Jesu Wort und Verhalten der Wahn der unveräußerlichen, gleichsam einklagbaren Privilegien Israels und seiner Väter gleichsam in der Wurzel angegriffen und erschüttert ist“); L. GOPPELT, Theologie I, 148 („daß Jesus tatsächlich das Judentum von der Wurzel her durch Neues aufhebt“). 217 Vgl. z. B. E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 319: „In fact, we cannot say that a single one of the things known about Jesus is unique: neither his miracles, non-violence, eschatological hope or promise to the outcasts.“ Diese Position ist natürlich nicht neu, sondern bereits am Beginn der historischkritischen Methode stellte H. S. REIMARUS fest, dass Jesus gerade nicht gekommen sei, um gegenüber dem Judentum neue Lehren zu bringen: „Uebrigens war er ein gebohrner Jude und wollte es auch bleiben: er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfuellen“ (Von dem Zwecke
Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778, 19f). Vgl. ferner A. SCHWEITZER, Geschichte der paulinischen Forschung, Tübingen 1911, VIII: „Ist die am Schlusse meiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung entwickelte Auffassung richtig, so ragt die Lehre Jesu in keiner Anschauung aus der jüdischen in eine nichtjüdische Welt hinein, sondern stellt nur eine tief ethische und vollendete Fassung der zeitgenössischen Apokalyptik dar.“ 218 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Tora vgl. F. CRÜSEMANN, Die Tora, Gütersloh 1992; zum Judentum z.Zt. Jesu vgl. den Überblick bei J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 255–311. 219 Einen Überblick vermittelt H. LICHTENBERGER, Das Tora-Verständnis im Judentum zur Zeit des Paulus, in: J. D. G. Dunn (Hg.), Paul and the Mosaic Law, WUNT 89, Tübingen 1996, 7–23. 220 Vgl. hierzu die kritische Bestandsaufnahme bei G. STEMBERGER, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, SBS 144, Stuttgart 1991; immer noch lesenswert ist: G. BAUMBACH, Jesus von Nazareth im Lichte der jüdischen Gruppenbildung, Berlin 1971. 221 Zur Geschichte und den grundlegenden theologischen Anschauungen der Pharisäer vgl. R. DEINES, Art. Pharisäer, TBLNT II, 1455–1468.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 117
dungspunkt zu den Sadduzäern: „Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß die Pharisäer dem Volk Bestimmungen (no´mima) aus der Nachfolge der Väter (ek pate´rwn diadocv˜ß) weitergegeben haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind, und deswegen verwerfen sie die Gruppe der Sadduzäer, die sagt, daß man sich nur an jene Bestimmungen halten soll, die geschrieben sind, die aus der Überlieferung der Väter aber nicht beachten soll“ (Ant 13,297). Inhalt der Paradosis dürften in neutestamentlicher Zeit Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1–8.14–23; Röm 14,14), Regelungen des Zehnten (vgl. Mt 23,23) und besondere Formen von Gelübden (vgl. Mk 7,9–13) gewesen sein. Nach Jos, Vita 191, standen die Pharisäer hinsichtlich der väterlichen Gesetze in dem Ruf, „sich von den anderen durch genaue Kenntnis zu unterscheiden“ (tw˜n allwn akribeı´a diafe´rein). Sie waren frommer als die anderen „und beachteten die Gesetze gewissenhafter“ (kai` tou`ß no´mouß akribe´steran afvgeı˜shai)222. Ziel der pharisäischen Bewegung war die Heiligung des Alltags durch eine umfassende Gesetzesbeobachtung, wobei der Einhaltung der rituellen Reinheitsvorschriften auch außerhalb des Tempels eine besondere Bedeutung zukam. Deshalb wurde die Tora teilweise fortgeschrieben, um den vielfältigen Alltagssituationen gerecht zu werden (vgl. z. B. Arist 139ff; Jos, Ant 4,198; Mk 2,23f; 7,4). Bedeutsam war die Abspaltung einer radikalen Richtung innerhalb der Pharisäer, die sich selbst im Anschluss an Pinhas (Num 25) und Elia (1Kön 19,9f) Zeloten (oı zvlwtaı´ = „die Eiferer“) nannten. Diese Gruppe bildete sich 6 n.Chr. unter Führung des Galiläers Judas von Gamala und des Pharisäers Zadduk (vgl. Jos, Ant 18,3ff). Die Zeloten zeichneten sich durch eine Verschärfung des ersten Dekaloggebotes, strenge Sabbatpraxis und eine rigorose Einhaltung der Reinheitsgebote aus223. Sie strebten eine radikale Theokratie an und lehnten die römische Herrschaft über das jüdische Volk aus religiösen Gründen ab. Über das Toraverständnis der Sadduzäer lassen sich nur vage Aussagen machen; sie lehnten die Sondertraditionen der Pharisäer ebenso ab wie die Auferstehung von den Toten und Engellehren (vgl. Mk 12,18–27; Apg 23,6–8). Die Konzentration auf die schriftliche Tora schloss bei ihnen eine strengere Haltung bei Rechtsfragen als bei den Pharisäern mit ein (vgl. Jos, Ant 18,294; 20,199)224. Die Essener vertraten vor allem nach dem Zeugnis der in Qumran gefundenen Schriften ebenfalls ein sehr strenges Toraverständnis225 und nahmen für sich ein besonderes Wissen um die wahre Auslegung und Bedeutung der Tora in Anspruch: „Aber mit denen, die an den Geboten Gottes festhielten, die von ihnen übrig waren, hat Gott seinen Bund für Israel aufgerichtet für immer, um ihnen verborgene Dinge zu offenbaren, worin ganz Israel in die Irre gegangen war: seine heiligen Sabbate und seine herrlichen Festzei-
222 Josephus, Bell 1,110; vgl. ferner Bell 2,162; Ant 17,41. 223 Zum Gesetzesverständnis der Zeloten vgl. M. HENGEL, Die Zeloten, AGSU 1, Leiden 21976, 154– 234.
224 Vgl. dazu insgesamt O. SCHWANKL, Die Sadduzäer-
frage (Mk 12,18–27par), BBB 66, Bonn 1987. 225 Vgl. H. STEGEMANN, Die Essener, Qumran, Johan-
nes der Täufer und Jesus (s. o. 3.2.1), 279 ff.
118 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
ten, seine gerechten Zeugnisse und die Wege seiner Wahrheit und die Wünsche seines Willens – die der Mensch erfüllen muss, damit er durch sie lebe – hat er ihnen aufgetan“ (CD III 12–16; vgl. VI 3–11). Diese besonderen Einsichten betrafen vor allem Kalender- und Sabbatfragen, hinzu kamen zahlreiche Einzelvorschriften für das Leben in der Gemeinschaft. Zudem lassen gerade die in Qumran aufgefundenen Texte erkennen, dass die Tora und ihre Auslegung keine abgeschlossenen Größen waren226; so gibt z. B. die Tempelrolle Pentateuchtexte nicht nur in sprachlich stilisierter Form und neuer Anordnung wieder, sondern sie enthält auch neue Gebote ohne Anhalt am Pentateuch. Während die Essener strikt alles Heil an das Dasein im Heiligen Land banden, stellte sich für das hellenistische Judentum in der Diaspora die Situation völlig anders dar. Im Kontext der allgegenwärtigen hellenistischen Kultur musste sich das Judentum öffnen, um seine Identität wahren zu können. Die Tora erfuhr innerhalb dieser Entwicklung gleichzeitig eine Universalisierung und Ethisierung, indem sie zur Schöpferweisheit und Lebensordnung wurde227. Der Mensch entspricht der Tora als dem universalen Sittengesetz, weil seine Befolgung zu einem Leben in Vernunft, Harmonie und Frieden mit Gott, den Menschen und sich selbst führt. So wird die Tora in ihrer Konzentration auf wenige Gebote zu einer Form der Tugendlehre, die in hellenistischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Bedeutsam ist das Gesetzesverständnis Philos, bei dem die Sinai-Tora, die Schöpfungstora und das Naturgesetz zu einer Einheit verschmelzen228. Auf den atl. Schöpfergott gehen nach Philo sowohl die fu´siß als Weltprinzip als auch die Tora zurück, so dass beide zusammengedacht werden müssen. Weil Weltschöpfung und Gesetzgebung „im Anfang“ zusammenfallen, ist das Naturgesetz ebenso göttlichen Ursprungs wie die Tora: „Dieser Anfang ist höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetz als auch das Gesetz mit der Welt in Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird“ (Op 3). Die schriftliche Sinaitora ist ihrem Wesen nach viel älter, denn sowohl Mose als das ‚lebende Gesetz‘229 als auch die Vorstellung von no´moß agrafoß („ungeschriebenes Gesetz“; vgl. Abr 3–6) erlauben es Philo, über den Gedanken einer protologischen Schöpfungstora die zeitliche und damit auch
226 Darauf verweist K. MÜLLER, Beobachtungen zum Verhältnis von Tora und Halacha in frühjüdischen Quellen, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s. o. 3. 8), 105–134. 227 Umfassende Darstellung bei A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum (s.o. 3.5.3), 219ff; R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum, ARGU 10, Frankfurt 2000. 228 Vgl. dazu R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von
Alexandrien und Flavius Josephus, ARGU 11, Frankfurt 2001. 229 Vgl. Philo, VitMos I 162: „Vielleicht aber war er, da er auch zum Gesetzgeber bestimmt war, schon lange vorher in seiner Persönlichkeit als das mit Seele und Vernunft begabte Gesetz geschaffen worden, die ihn, ohne dass er davon wußte, später zum Gesetzgeber ausersah.“
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 119
sachliche Kontinuität des Handelns Gottes zu betonen. Durchgängig interpretiert Philo die Einzelgesetze als Ausformungen der Zehn Gebote, die wiederum mit dem Naturgesetz verwoben sind. Über den Gedanken der Sittlichkeit vollzieht Philo durch die Ethisierung des Naturgesetzes und der Einzelgesetze der Tora einen großen Synthetisierungsversuch von jüdischem und griechisch-hellenistischem Denken. Ein weiteres Beispiel für die Vielgestaltigkeit jüdischen Gesetzesverständnisses sind die bei Philo erwähnten Allegoristen (Migr 89–93). Sie gaben den Gesetzen einen symbolischen Sinn und vernachlässigen die wortwörtliche Befolgung. Im Rahmen der Kritik an dieser Position erwähnt Philo auch die Beschneidung, die von den Allegoristen offenbar nur noch als symbolischer Akt aufgefasst wurde: „Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, dass wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über sie gegebene Gesetz aufheben“ (Migr 92)230. In der jüdischen Apokalyptik fungiert die Tora vor allem als Gottes Gerichtsnorm; ein radikaler Gesetzesgehorsam verbindet sich mit der Hoffnung auf Gottes zukünftiges Heil, das den gegenwärtigen Verhängniszustand ablösen wird231. Bedeutsam ist schließlich der geographisch/klimatische Raum des Wirkens Jesu, denn Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich immer in geographischen und sozialen Räumen, die unausweichlich das Denken mitbestimmen232. Jesus trat fast ausschließlich um den See Genezareth233 herum auf, den ein mediterranes Klima auszeichnet und der eine Lebensart ermöglichte, die vor allem im Gegenüber zu den gebirgigen Regionen Israels als leicht und angenehm zu bezeichnen ist. Galiläa war z.Zt. Jesu keineswegs unjüdisch, hatte aber zweifellos ein eigenes kulturelles und religiöses Profil234. Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus die (im Neuen Testament nicht erwähnten) hellenistisch geprägten Städte Sepphoris235 und Tiberias nicht kannte, 230 Obwohl Philo die Position der Allegoristen nicht teilt, steht er ihr inhaltlich nicht sehr fern, wie Quaest in Ex II 2 zeigt: „Proselyt ist nicht der an der Vorhaut Beschnittene, sondern der (Beschnittene) an den Lüsten und Begierden und anderen Leidenschaften der Seele. Denn in Ägypten war das hebräische Volk nicht beschnitten (ou perite´hvto) und lebte, obwohl bedrängt mit vielen Bedrängnissen der bei den Einheimischen gegenüber Fremden üblichen Grausamkeit, doch in Beharrlichkeit und Standhaftigkeit . . . ." 231 Vgl. hierzu H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, SUNT 23, Göttingen 1999. 232 Vgl. H. MOXNES, The Construction of Galilee as a Place for the Historical Jesus, BTB 31 (2001), 26– 37.64–77. 233 Vgl. G. FASSBECK u. a. (Hg.), Leben am See Genne-
saret, Mainz 2003. 234 Einführungen und Übersichten bieten: W. BÖSEN,
Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg 1985; E. M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, ZNT 1 (1998), 27–39; S. FREYNE, Jesus, a Jewish Galilean, London 2005; R. HOPPE, Galiläa – Geschichte, Kultur, Religion, in: L. Schenke (Hg.), Jesus von Nazareth (s. o. 3), 42–58; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 77–102. Man wird damit rechnen können, dass Jesus die griechische Sprache (zumindest passiv) nutzen konnte; vgl. ST. PORTER, Jesus and the Use of Greek in Galilee, in: B. Chilton/C.A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus (s. o. 3), 123– 154. 235 Eine persönliche Anmerkung: Wer einmal von Nazareth in das ca. 6km entfernte Sepphoris gewandert ist, kann sich beim besten Willen nicht vorstel-
120 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
zumal städtisches Milieu in Q 12,58f vorausgesetzt ist (vgl. auch Mt 6,2.5.16; Mk 7,6; Lk 13,15; Lk 19,11ff)236. Das Zusammentreffen und Zusammenleben mit Nichtjuden gehörte in Galiläa sicherlich zum Alltag, und anders als in Jerusalem dürften die Probleme der rituellen Reinheit großzügiger gehandhabt worden sein. Zudem fehlten mit der geringen Präsenz von Pharisäern die motivierenden Kontrollinstanzen. Wenn Jesus den Hauptmann von Kapernaum als Glaubensvorbild für Israel hinstellt (Mt 8,10b/Lk 7,9b), dann illustriert er dadurch seine über den bloßen Kontakt hinausgehende positive theologische Bewertung einzelner Heiden. Jesu Offenheit gegenüber Nichtjuden und seine Distanz gegenüber einer diskriminierenden Torapraxis dürfte auch mit seinem galiläischen Wirkraum zusammenhängen.
3.8.2
Jesu Stellung zur Tora
Wie zeichnet sich Jesus von Nazareth in diese Vielgestaltigkeit jüdischer Gesetzestheologie ein? Ein zentraler Text zur Beantwortung dieser Fragen sind die Antithesen der Bergpredigt (s. o. 3.5.2). Die antithetischen Formulierungen sind innerhalb des antiken Judentums in dieser Form neu, es gibt dafür keine exakten Parallelen237. Das entscheidende theologische Problem ist, wer/was mit dieser Redeform in welchem Sinn interpretiert/kritisiert wird. Die Passivform erre´hv („es wurde gesagt“) dürfte sich auf das Sprechen Gottes in der Schrift beziehen, die „Antithesenformeln stellen also das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber.“238 Damit befindet sich Jesus selbst innerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums, zumal die Antithesen mit Ausnahme des absoluten Gebotes der Feindesliebe nichts formulieren, was nicht auch (mehr oder weniger) Parallelen im Judentum hat239. Entscheidend ist aber der mit dem emphatischen „ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er sagt. „Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.“240 Verständlich wird dieser Anspruch nur auf dem Hintergrund von Jesu Gottesreichbotschaft: Mit dem Anbruch des Gottesreiches setzt sich eine neue Realität durch. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, endgültig, radikal proklamiert241. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht; er leitet
len, dass Jesus dort nicht gewesen sein soll. 236 Vgl. E.M. MEYERS, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, 32: „Somit erscheint es sinnvoll anzunehmen, daß Jesu galiläische Wirksamkeit kaum Sepphoris und Tiberias ausgelassen haben wird.“ 237 Vgl. U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 327 f. 238 U. LUZ, a. a. O., 330. 239 Die Einbettung der Antithesen in jüdisches Denken betonen D. SÄNGER, Schriftauslegung im Hori-
zont der Gottesherrschaft, (s. o. 3.4), 79–102; K.W. NIEBUHR, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitliche Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hg. v. Chr. Kähler u. a., Leipzig 1999, 175–200. 240 U. LUZ, Mt I (s.u. 8.3), 331. 241 M. HENGEL, Jesus und die Tora (s. o. 3.8), 171, bezeichnet Jesus als Bringer einer ganz neuen Tora, „der einerseits aus der traditionellen Tora heraus,
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 121
ihn nicht aus dem Alten Testament ab, sondern der von Jesus im Anbruch des Gottesreiches proklamierte Gotteswille ist die letzte Autorität. Jesus hebt damit nicht die Tora auf, er denkt und argumentiert aber auch nicht von der Tora her, was einer faktischen Relativierung der Tora entspricht. Rein und unrein
Ähnliches lässt sich für Jesus in seiner Haltung zu rituellen Fragen feststellen. Schon das Jesuswort „ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mk 2,17) zeigt, dass Jesus die Gerechtigkeit, und damit den Anspruch des Gesetzes, zwar nicht bestreitet, aber dem Gesetz nicht die Macht zuschreibt, gegenwärtig den Zugang zu Gott zu bestimmen. Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, aber Gott liebt nicht nur die Gerechten. Gottes Liebe, die Jesus in der Ankunft des Gottesreiches verkündigt, überbietet die früher Israel geschenkte Liebe in Gestalt der Tora. Eine Berührung mit einem Aussätzigen, die in Mk 1,41 beiläufig berichtet wird, verunreinigt in höchstem Maße. Ähnliches gilt für die Heilung der Blutflüssigen (Mk 5,25– 34) oder der Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–30). Jesus hatte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes zu allen Menschen, insbesondere auch den religiös Deklassierten, darauf hin, dass religionsgesetzliche Ordnungen, die in Israel im Namen Gottes galten, obsolet wurden. Auch Mk 7,15 ist in diesem Kontext zu verstehen; hier verbinden sich die für Jesus charakteristische schöpfungstheologische Argumentation mit seiner eschatologischen Grundperspektive. Von Beginn der Schöpfung an bestand die Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ nicht, sondern erst in Gen 7,2 erfolgt unvermittelt die Trennung von reinen und unreinen Tieren. Die Reinheitsvorschriften als Legitimation religiöser Ab- und Ausgrenzung haben für Jesus ihre Bedeutung verloren, weil für ihn die Unreinheit aus einer anderen Quelle kommt: „Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen“ (Mk 7,15). Für die Authentizität242 von Mk 7,15 sprechen die Form des antithetischen Parallelismus, die Möglichkeit der Rückübersetzung, die isolierte Stellung im unmittelbaren Kontext, die Varianten in Mk 7,18b.20, die Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 als Herren-
zugleich aber auch in einem gewissen Gegensatz zu ihr und erst recht zu ihrer zeitgenössischen Auslegung, als der Erfüller von Gesetz und Propheten den wahren, ursprünglichen Gotteswillen für die anbrechende Gottesherrschaft entfaltet.“ 242 Exemplarische Analysen mit unterschiedlicher Argumentation, aber mit dem Votum der Authentizität, finden sich bei W. G. KÜMMEL, Äußere und in-
nere Reinheit des Menschen bei Jesus, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte II, hg. v. E. Grässer/ O. Merk, Marburg 1978, 117–129; J.-W. TAEGER, Der grundsätzliche oder ungrundsätzliche Unterschied, in: I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz (s. o. 3.8), (13–35) 23–34; G. THEISSEN, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: ders., Jesus als historische Gestalt (s. o. 3), 73–89.
122 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
wort und schließlich die unableitbare Neuheit243. Ist schon die konkrete Stoßrichtung dieses Wortes nicht mehr sicher auszumachen, so sind sein Sinn und seine Bedeutung heftig umstritten. Der ursprüngliche Sinn von Mk 7,15 dürfte im Gegensatz zum markinischen Verständnis kaum auf den rituellen Bereich einzuschränken sein, denn ta` ek tou˜ anhrw´pou ekporeuo´mena („was aus dem Menschen herauskommt“) in V. 15b lässt eine derartige Engführung schwerlich zu. Damit können nicht nur rituell verunreinigende Speisen gemeint sein, sondern Jesus umschreibt mit diesen Worten, dass alles aus dem Menschen Kommende, Gedanken wie Taten, ihn vor Gott unrein machen kann244. Jesus lässt den Gedanken der Unreinheit vor Gott formal zwar nicht fallen, aber er verneint, dass eine solche Unreinheit in irgendeiner Form von außen auf den Menschen zukommen kann. Dies bedeutet eine faktische Relativierung der Reinheitsgesetze Lev 11–15. Jesus stellt sich damit auch in einen Gegensatz zu den Pharisäern, Sadduzäern und Qumran-Essenern, für die kultisch-rituelle Normen trotz einer z. T. unterschiedlichen Praxis von essentieller Bedeutung waren, denn sie fungierten nicht nur als sichtbares Unterscheidungsmerkmal zu den Heiden und den religiös Gleichgültigen des eigenen Volkes, sondern waren Ausdruck ihres Toragehorsams und der immerwährenden Gültigkeit des durch Mose überlieferten Gotteswortes245. Mk 7,15 ist also in einem exklusiven Sinn zu verstehen246 und hat eine die Tora faktisch relativierende Bedeutung, keinesfalls handelt es sich nur um eine Vorordnung des Liebesgebotes gegenüber den Reinheitsvorschriften247. Bereits Paulus verstand dieses Jesuswort in einem torakritischen Sinn (Röm 14,14)248, und auch bei Jesus selbst finden sich Parallelen. Neben seinem Umgang mit kultisch Unreinen, seiner Pharisäerkritik (vgl. Lk 11,39–41; Mt 23,25) und den Sabbatheilungen ist hier vor allem Q 10,7 zu nennen, wo Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede aufträgt, alles zu essen und zu trinken, was man ihnen vorsetzt. So wie angesichts
243 Eine wirkliche Parallele zu Mk 7,15 gibt es m.E. nicht; nahe kommt Philo, Op 119. 244 Vgl. W. G. KÜMMEL, Äußere und innere Reinheit, 122. 245 Vgl. für die Pharisäer J. NEUSNER, Die pharisäischen rechtlichen Überlieferungen (s. o. 3.4.5), 43– 51; zur Position der Sadduzäer vgl. E. SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes II, Leipzig 41907, 482f; für Qumran vgl. H.-W. KUHN, Jesus vor dem Hintergrund der Qumrangemeinde, in: Grenzgänge (FS D. Aschoff), hg. v. F. Siegert, Münster 2002, (50–60) 53: „Der Gegensatz zwischen dem rigorosen Toraverständnis, wie es in den Qumrantexten entgegentritt, und Jesu Verhalten gegenüber der Tora, insbesondere hinsichtlich des Sabbat und der Fragen von rein und unrein, ist unübersehbar.“ 246 Vgl. M. HENGEL, Jesus und die Tora (s. o. 3.8), 164, zu Mk 7,15: „Wir stoßen hier auf einen grund-
sätzlichen Bruch Jesu mit dem palästinensischen Judentum seiner Zeit, der dann in der frühesten Gemeinde weiterwirkt und zu erbitterten Auseinandersetzungen führt.“ 247 So aber z. B. U. LUZ, Jesus und die Pharisäer, Jud 38 (1982), (229–246), 242f; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 96; CHR. BURCHARD, Jesus von Nazareth (s. o. 3), 47. 248 H. RÄISÄNEN, Jesus and the Food Laws, JNST 16 (1982), (79–100) 89ff, sieht hinter Mk 7,15 nicht den irdischen Jesus, sondern „an ‚emancipated‘ Jewish Christian group engaged in Gentile mission“ (90); ähnlich die Argumentation bei E. P. SANDERS, Jesus and Judaism (s. o. 3), 266 f. Beide können wohl einige Argumente gegen die Authentizität von Mk 7,15 nennen, andererseits die Hauptargumente für die Ursprünglichkeit von Mk 7,15 nicht entkräften.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 123
des kommenden Reiches Gottes die Gegenwart keine Zeit des Fastens ist (vgl. Mk 2,18b.19a; Mt 11,18f/Lk 7,33f), so haben auch die Speisegesetze ihre Bedeutung für das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander verloren. Die vom Schöpfer gewollte Reinheit des Menschen lässt sich nicht instrumentalisieren, vielmehr betrifft sie die ganze Existenz des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Menschen kommt nicht in der religiösen bzw. sozialen Separation zum Ziel, sondern in der wahrhaftigen Annahme des vom Schöpfer geschenkten Lebens. Der Sabbat
In dieselbe Richtung weisen die Sabbatheilungen, die ebenfalls auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen; so das Jesuswort Mk 2,27, wonach der Sabbat um des Menschen willen, nicht aber der Mensch um des Sabbats willen geschaffen wurde249. In Mk 2,27 verweist insbesondere ege´neto („es ist geschaffen“) auf den Schöpferwillen Gottes zurück. Die Sabbatheiligung dient dem Menschen, indem sie ihn von der Geschäftigkeit des Alltags und damit auch von sich selbst wegreißt, um Zeit für die alles entscheidende Gottesbeziehung zu schaffen. Bereits in der priesterlichen Schöpfungsgeschichte erscheint der 7. Tag als von Gott qualifizierte Zeit, die dem Menschen hilft, sich in Zeit und Geschichte zu orientieren (Gen 2,2f). Diese dienende Funktion des Sabbats ging in der Geschichte des nachexilischen Judentums teilweise verloren250. Zwar wurde der Sabbat zum Zentrum des Toraverständnisses, zugleich aber verschob sich die Qualifizierung der Zeit zu einem statischen Gegenüber von Sabbat und Mensch. In einigen Bereichen der Sabbathalacha musste sich der Mensch dem Sabbat und seinen Anforderungen unterordnen. So heißt es in CD 11,16f innerhalb einer Sabbathalacha: „Einen lebendigen Menschen, der in ein Wasserloch fällt oder sonst in einen Ort, soll niemand heraufholen mit einer Leiter oder einem Strick oder einem (anderen) Gegenstand“ (vgl. ferner Jub 2,25–33; 50,6ff; CD 10,14–12,22; Philo, VitMos II 22). Jesus durchbricht diese Umkehrungen und demonstriert durch seine Sabbatheilungen die ursprüngliche Bedeutung dieses Tages: Er verhilft zum Leben (vgl. Lk 13,10–17) und ermöglicht dem Menschen, seiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen: dem Schöpfer zu begegnen. Auch in Mk 3,4 geht es Jesus um den ursprünglichen Gotteswillen in Bezug auf den Sabbat („Ist
249 Zur Analyse von Mk 2,23–28 vgl. L. DOERING,
Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 409–432. Auf Jesus führen Mk 2,27 u. a. zurück: E. LOHSE, Jesu Worte über den Sabbat, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 21973, (62–72) 68; J. ROLOFF, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 2 1973, 52ff; H.-W. KUHN, Ältere Sammlungen im Markusevangelium (s.u. 8.2), 75; J. GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), 123; D. LÜHRMANN, Markus (s.u. 8.2), 64f;
H. HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition (s.o. 3.8), 121; V. HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus (s.u. 3.9.2), 199ff; L. DOERING, Schabbat, 423 f. 250 Vgl. hierzu E. LOHSE, Art. sa´bbaton, ThWNT 7, Stuttgart 1964 (1–31) 5f; die Vielschichtigkeit jüdischer Sabbathalacha (Elephantine, Jubiläenbuch, Qumran, Diaspora, Josephus, Pharisäer, Sadduzäer, frühe Tannaiten) betont L. DOERING, Schabbat, 23– 536.
124 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, ein Leben zu retten oder zu töten?“)251. Der Sabbat soll dem Guten dienen, und dies besteht in der Erhaltung und Rettung des Lebens. Gott will dem Menschen in einem umfassenden Sinn Heil schaffen, und dieser radikalen Hinwendung zu den Menschen ist auch der Sabbat unterzuordnen. Das Gute zu unterlassen, stellt aus der Sicht Jesu keine neutrale Haltung dar, sondern es bedeutet, das Böse zu tun, zu töten. Gottes Ja zum Menschen, seine Sorge um und für ihn, steht über den Geboten. Eine Auslegung der Gebote Gottes, die das nicht berücksichtigt, verfehlt den Sinn der göttlichen Willenskundgebung. Deshalb kann der Sabbat durch das Tun des Guten nicht entweiht werden. Das Zurücktreten des Verzehntungsgebotes (vgl. Lev 27,30) in Mt 23,23a-c weist in dieselbe Richtung: Der Zehnte war speziell für die galiläische Unter- und Mittelschicht eine schwer zu tragende wirtschaftliche Belastung, so dass Jesus hier eine deutlich andere Position einnimmt als die Pharisäer (vgl. Lk 18,12)252. Dezentrierung der Tora
Für die Beurteilung der Stellung Jesu zur Tora sind drei Beobachtungen ausschlaggebend: 1) Die Tora und ihre strittigen Auslegungen sind nicht das Zentrum des Wirkens und der Verkündigung Jesu253. Die neue Wirklichkeit des Kommens Gottes in seinem Reich bestimmt auch sein Verhältnis zur Tora (vgl. Q 16,16); im Auftreten Jesu bricht das wahrhaft Neue an (Mk 2,21f: „Niemand flickt einen neuen Lappen auf ein altes Kleid, sonst reißt das Flickstück heraus, das neue vom alten, und der Riss wird schlimmer. Und niemand füllt einen neuen Wein in alte Schläuche; sonst wird der Wein die Schläuche zerreißen, und der Wein kommt um samt den Schläuchen“). 2) Innerhalb der Stellungnahmen Jesu zur Tora und ihrer Auslegung dürfte die Unterscheidung zwischen einer Toraverschärfung im ethischen Bereich und einer Toraentschärfung bei rituellen Fragen zutreffend sein254. 3) Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Jesus die Tora aufheben oder einer grundsätzlichen Kritik unterziehen wollte. Zugleich muss aber noch einmal unterstrichen werden, dass er nicht von der Tora, sondern vom Reich Gottes her denkt. Weil sich Gottes end- und urzeitlicher Wille entsprechen 255, verbinden sich bei Jesus Eschatologie und Protologie und führen zu einer Dezentrierung der Tora. Diese Dezentrierung ist nicht einfach mit einer Ablehnung oder Abschaffung gleichzusetzen, aber für Jesus war die Liebe Gottes in seinem Reich und nicht mehr das Geschenk der Tora die offene Tür, durch die jeder zu Gott kommen 251 Zur Analyse von Mk 3,1–6 vgl. L. DOERING, Schab-
bat, 441–457. Mk 3,4 halten u. a. für jesuanisch: H. HÜBNER, Gesetz in der synoptischen Tradition, 129; J. ROLOFF, Kerygma, 63f; J. GNILKA, Mk I (s.u. 8.2), 126; E. LOHSE, Jesu Worte, 67; L. DOERING, Schabbat, 423 ff. 252 Die Verzehntung gehört zum Kern der protorabbinischen Überlieferung; vgl. J. NEUSNER, Die phari-
säischen rechtlichen Überlieferungen (s. o. 3.4.5), 47. 253 Vgl. J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 353; D. SÄNGER, Schriftauslegung im Horizont der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 105. 254 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 321–332. 255 Vgl. H. STEGEMANN, Der lehrende Jesus (s. o. 3.5.2), 11 ff.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 125
konnte. Eine solche Interpretation des Gesetzes bei Jesus verbleibt innerhalb des Judentums, erklärt die Konflikte mit anderen jüdischen Gruppen (vgl. Mk 2,1–3,6; 12,13–17; Lk 7,36–50; 8,9–14; Mt 23,23) und lässt verstehen, warum wahrscheinlich schon sehr früh innerhalb des sich formierenden frühen Christentums Gesetzeskritik mit Berufung auf Jesus formuliert wurde.
3.8.3
Jesus, Israel und die Heiden
Ein mehrschichtiger Befund zeigt sich auch im Verhältnis Jesu zu Israel und den Heiden. Jesus wusste sich grundsätzlich zu Israel gesandt (vgl. Mk 7,27), er sah sich vom Gott Israels beauftragt, seinem Volk das Gottesreich zu verkünden. Der Zwölferkreis
Sichtbarer Ausdruck dafür ist die Einsetzung des Zwölferkreises. Für die Historizität des Zwölferkreises spricht vor allem, dass die nachösterliche Gemeinde kaum zu der Aussage gekommen wäre, Judas als ein Mitglied des engsten Jüngerkreises habe Jesus verraten (vgl. Mk 14,10.43par), wenn dies nicht geschichtliche Tatsache wäre256. Der Zwölferkreis wird in der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,5 genannt, wonach Christus „dem Kephas erschien, dann den Zwölfen.“ Die ‚Zwölf‘ sind hier eine feste Institution, obwohl Judas nicht mehr dazugehört und Petrus eigens erwähnt wird. Außerdem hat der Zwölferkreis nachösterlich keine erkennbare geschichtliche Rolle mehr gespielt; viel wichtiger werden die durch eine Erscheinung des Auferstandenen berufenen Apostel; erst in späterer Zeit, bei Markus, Matthäus und Lukas und in der Johannesoffenbarung findet sich die Identifizierung der Zwölf mit den Aposteln. Der Zwölferkreis dürfte in die vorösterliche Zeit zurückreichen und seine Bedeutung erschließt sich vor allem aus Q 22,28.30: „Ihr, die ihr mir gefolgt seid, werdet auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“ Der Zwölferkreis hatte offenbar die Funktion, das Zwölfstämmevolk Israel zu repräsentieren. Wiederum verbinden sich bei Jesus Proto- und Eschatologie, denn das Volk Israel zur Zeit Jesu war nicht das Zwölfstämmevolk, d. h. der Zwölferkreis repräsentierte das ganze Volk Israel in seiner ursprünglichen und zugleich eschatologischen Gestalt. Der Zwölferkreis ist als Vorwegnahme der eschatologischen Ganzheit Israels zu verstehen, gleichsam in Analogie zum Gottesreich, das in Jesus jetzt schon verborgen anfängt. Der Zwölferkreis entspricht somit dem Gegenwartsaspekt des Gottesreichs, er signalisiert bereits den Anfang der von Gott zu schaffenden Ganzheit Israels. In diesem Sinn kann man sagen: Jesu Perspektive war das eschatologische Israel und er verstand seine Sendung als Auftakt zu seiner Neuschöpfung durch Gott. 256 Vgl. dazu B. RIGAUX, Die „Zwölf“ in Geschichte
und Kerygma, in: H. Ristow/K. Matthiae (Hg.), Der
historische Jesus und der kerygmatische Christus (s. o. 3), 468–486.
126 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Israel und die Heiden
Inhaltlich steckt in Jesu Auslegung des Anfangs des Gottesreiches als schrankenloser Liebe Gottes gerade zu den Benachteiligten und Deklassierten auch die Tendenz, die Grenzen Israels auszuweiten. Menschen, die aus jüdischer Perspektive gesehen Randfiguren Israels sind, werden integriert. So wird der Zöllner Zachäus auch als ein Sohn Abrahams bezeichnet (Lk 19,9) und die Samaritaner werden von Jesus mit den Juden gleichgestellt (vgl. Lk 10,30ff)257. Ein Zeichen für Jesu Offenheit sind auch die gelegentlichen positiven Kontakte mit Heiden: Die Überlieferungen vom Hauptmann von Kapernaum und von der syrophönizischen Frau (Mt 8,5–10.13; Mk 7,24–30) haben einen authentischen Kern258 und bezeugen eine punktuelle Offenheit Jesu gegenüber Heiden. Sie zeigt sich auch in der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,16–24) und in dem prophetischen Drohwort Q 13,29.28. Die Parabel vom Gastmahl illustriert, dass Gott seinen Heilswillen in unerwarteter Weise vollziehen kann, denn die ursprünglich Geladenen werden nicht am großen Fest teilnehmen. In ähnlicher Weise greift Jesus das Motiv der Völkerwallfahrt259 auf, es dient gerade nicht zur Bestätigung der Verheißungen an Israel, sondern die Reihenfolge kehrt sich um. Das Motiv des endzeitlichen Gottesvolkes wurde im antiken Judentum im wesentlichen in zweifacher Weise thematisiert: Die Erweiterung des Gottesvolkes konnte für die Endzeit erwartet werden, wenn die Völker nach Jerusalem/zum Zion strömen, um den wahren Gott anzubeten (vgl. äthHen 90; TestXII). Auf der anderen Seite gab es starke Strömungen, die eine strikte Abgrenzung bis hin zur Bekämpfung der Heiden forderten (Qumran, PsSal)260. Auffallend ist nun, dass Jesus das erste Motiv umkehrt und das zweite gar nicht erwähnt. In der jüdischen Überlieferung ist die Opposition Israels gegen die Heiden fest mit dem Gedanken der Gottesherrschaft verbunden, so dass Jesus diese Vorstellung bekannt gewesen sein muss. Anders als z. B. die Zeloten thematisiert er sie aber nicht, denn er sah in der politischen und ökonomischen Notlage seines Volkes, die er nach dem Zeugnis der Seligpreisungen keineswegs übersehen hat, nur die Außenseite eines viel tiefer gehenden Problems. Wie Johannes der Täufer dürfte Jesus von der Prämisse ausgegangen sein, dass Israel, so wie es sich vorfindet, vom Gericht Gottes bedroht ist und von sich aus kein Anrecht mehr besitzt, frühere Heilszusagen Gottes für sich in Anspruch zu nehmen (vgl. Mt 3,7–10; Lk 13,3.5). Jesus nahm diesen Gedanken offensichtlich so ernst, dass er es vermied, mit Hilfe der traditionellen Opposition von Israel und Heiden ein Heilsrecht Israels vorzuschreiben
257 In Spannung dazu steht Mt 10,5b („Geht nicht auf den Weg zu den Heiden, und in eine Stadt der Samaritaner geht nicht hinein“); Jesu Offenheit zumindest gegenüber den Samaritanern (vgl. Lk 9,51– 56; 10,30–35; 17,11–19; Joh 4) spricht für die Vermutung, dass dieses Logion nicht auf Jesus, sondern auf QMt zurückgeht; vgl. U. LUZ, Mt II (s.u. 8.3), 90.
258 Gründe nennt G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeit-
geschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/ Göttingen 1989, 63–84.237 f. 259 Vgl. hierzu J. JEREMIAS, Jesu Verheißung für die Völker, Stuttgart 1956, 47–62. 260 Analyse der relevanten Texte bei W. KRAUS, Das Volk Gottes (s.u. 6.7), 45–95.
Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten 127
und das eschatologische Heil einfach als Befreiung aus der Knechtschaft der Heiden zu beschreiben. Er legt die Gegenwart des Heils als Besiegung des Satans aus, der als Ankläger Israels und der Heiden erscheint. Die Einzigkeit Gottes erweist sich als Besiegung Satans, in dessen Knechtschaft sich Israel und die Heiden gleichermaßen befinden (vgl. Mk 3,27; Lk 11,20). Unter dieser Prämisse war es für ihn sinnlos, in herkömmlicher Weise von den Heiden als den Opponenten der Gottesherrschaft zu sprechen. Wenn Jesus am Gedanken der Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit des Volkes Israel völlig uninteressiert war, dann zeigt sich darin nicht ein Desinteresse an politischen Fragen überhaupt, wohl aber ein bestimmtes Israelverständnis: Die Wiederherstellung der politischen Souveränität des Volkes und des davidischen Königtums als politische und vor allem religiöse Frage entsprach nicht seiner Sicht des endzeitlichen Handelns Gottes. Dem entspricht wiederum, dass Jesus sich für die Rechtsordnung seines Volkes nur wenig interessierte. In diesem Kontext ist es wiederum bemerkenswert, welche weiteren Themen jüdischen Selbstverständnisses Jesus nicht aufgreift. Er spricht nicht von der Erwählung Israels, beruft sich nie auf das Verdienst der Patriarchen und thematisiert auch nicht die Exodus- und Landtradition. Zumindest gegenüber dem aktuellen Tempelkult in Jerusalem, wenn nicht sogar gegenüber dem Tempelkult überhaupt, war Jesus sehr kritisch eingestellt (s. u. 3.10.1). Man kann sagen: Obwohl Jesus sich zum Volk Israel gesandt wusste, ist für ihn die theologische Beschäftigung mit dem geschichtlichen Grund der Erwählung Israels und ihrer Verwirklichung in Politik und Recht der Gegenwart kein Thema. Die punktuelle Offenheit gegenüber Heiden, die Umkehrung eschatologischer Erwartungen und die Distanz zu Grundüberzeugungen des antiken Judentums ändern nichts daran, dass Jesus sich grundsätzlich an Israel gesandt wusste. Er war aber zweifellos ein besonderer Jude mit einem außergewöhnlichen Anspruch, einer überraschenden Offenheit und einer neuen Sicht des gegenwärtigen und zukünftigen Handelns Gottes an den Menschen 261. Jesus strebte nicht eine Erneuerung, sondern eine Neuausrichtung der jüdischen Religion an. Zwar kann sich die spätere Heidenmission des frühen Christentums nicht direkt auf Jesus berufen, aber sie entspricht dem jesuanischen Gedanken der schrankenlosen Liebe Gottes, verlängert und vertieft ihn auf eine Weise, die starke Impulse Jesu aufnimmt und zugleich über ihn weit hinausgeht.
261 Zur vielfältigen Bestimmung des Judeseins Jesu in der neueren Forschung vgl. T. HOLMN, The Jewishness of Jesus in the third quest, in: M. Labahn/ A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q (s. o. 3.1), 143– 162, der feststellt: „‚Jewishness‘ has become a fluid
concept. Fluidity of concepts inevitably leads to confusion. Confusion, again, is a favourable soil for conclusions not based on coherent thinking, but rather on preconceptions lurking in the mind of every scholar“ (a. a. O., 156).
128 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.9
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet
Die Bindung der Gottesherrschaft an seine Person, die Praxis der Sündenvergebung, die Wunder, der in den Antithesen erhobene Anspruch und die Unheilsbotschaft verdeutlichen jenseits exegetischer Einzelurteile den einzigartigen Anspruch Jesu. Wenn hier „mehr ist als Salomo/mehr als Jona“ (vgl. Q 11,31f) und die Augenzeugen selig gepriesen werden (vgl. Q 10,23f), dann stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu. Sie kann nur beantwortet werden, wenn die Jesusüberlieferung mit den drei Haupttypen messianischer Erwartung des antiken Judentums konfrontiert wird262: der Erwartung eines endzeitlichen Propheten, der Erwartung eines himmlischen Menschensohnes und der Erwartung eines religiös-politischen Messias263.
3.9.1
Jesus als endzeitlicher Prophet
F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. u. 4), 351–404; F. SCHNIDER, Jesus der Prophet, OBO 2, Fribourg/Göttingen 1973; U.B. MÜLLER, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, in: ders., Christologie und Apokalyptik, ABG 12, Leipzig 2003 (= 1977), 11–41; M. TRAUTMANN, Zeichenhafte Handlungen Jesu, Würzburg 1980; M. E. BORING, The Continuing Voice of Jesus, Louisville 1991; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 73–88; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 145–319; M. ÖHLER, Jesus as Prophet: Remarks on Terminology, in: M. Labahn/A. Schmidt (Hg.), Jesus, Mark and Q, Sheffield 2001, 125–142; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 655–666.
Ebenso wie Johannes d. T. (vgl. Mk 11,32; Mt 14,4; Lk 1,76) wurde Jesus von Nazareth als Prophet wahrgenommen (vgl. Lk 7,16: „Und Furcht ergriff alle und sie priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns auferstanden und Gott hat sein Volk besucht“). Der Einfluss der Elia-Tradition (vgl. Mal 3,23) ist besonders in Mk 6,15f („Einige sprachen: Er ist Elia, andere: Er ist Prophet, einer von den Propheten) und Mk 8,27f („Für wen halten mich die Leute? . . . Für Johannes den Täu262 Einen Überblick bietet H. LICHTENBERGER, Messia-
nische Erwartungen und messianische Gestalten in der Zeit des Zweiten Tempels, in: E. Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Neukirchen 1993, 9–20. 263 Ein direktes „Sohn Gottes“-Bewusstsein ist bei Jesus nicht nachzuweisen. Zentrale Texte wie Mk 1,11; 9,7; 15,39 (s. u. 8.2.2) oder Stellen, an denen Jesus sich als „der Sohn“ (absolut) bezeichnet (Lk 10,22par; Mk 13,32), dürften kaum vorösterlich sein. Die Rede von „eurem Vater“ erklärt sich aus
dem Anredecharakter der entsprechenden Logien (Lk 12,30 par; 6,36 par; 12,32; Mk 11,25 par; Mt 6,8; 18,35; 23,9). Aus der Gottesanrede „Abba“ kann ebenfalls kein spezifisches Sohnesbewusstsein Jesu erschlossen werden (s. o. 3.3.1). Zur Analyse vgl. F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.u. 4), 280– 346. Zur ‚Sohn Davids‘-Vorstellung vgl. M. KARRER, Von David zu Christus, in: König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, hg. v. W. Dietrich/H. Herkommer, Freiburg(CH)/Stuttgart 2003, 327–365.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 129
fer, andere für Elia, wieder andere für einen der Propheten“) greifbar. Eine gemeinantike Volksweisheit264 wird Jesus in Mk 6,4 in den Mund gelegt: Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterland. In Lk 7,39 heißt es: „Wenn dieser ein Prophet ist, würde er erkennen, wer und was für eine Frau sie ist, die ihn berührt, denn sie ist eine Sünderin.“ Prophetische Beglaubigungszeichen (vgl. Mk 8,11; Mt 12,38f; Lk 11,16.30) werden von Jesus verlangt und in Mk 14,65 wird er verspottet, indem man ihm den Kopf verhüllt, ihn schlägt und ihn auffordert: Prophezeie, wer dich geschlagen hat. Ob Jesus sich im Anschluss an Jes 61,1 als eschatologischer Prophet verstand (vgl. Q 7,22), lässt sich nicht mehr entscheiden. Auf jeden Fall bediente er sich prophetischer Redeformen (vgl. die Drohworte Q 10,13–15; 11,31f), er hatte Visionen (Lk l0,18) und nahm wie die atl. Propheten Symbolhandlungen vor (Jüngerberufungen, Mahlzeiten mit rituell Unreinen, Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, das letzte Mahl mit den Jüngern und in einem weiteren Sinn auch Jesu Wunder). Wie bei vielen atl. Propheten lässt sich bei Jesus eine tiefe Identität von Leben und Botschaft entdecken: Das Leben des Propheten steht ganz im Dienste seiner Botschaft und wird zu ihrem Ausdruck. Auch religionsgeschichtliche Parallelen wie die jüdischen Zeichenpropheten (s. o. 3.6.1) und die Erwartung eines eschatologischen Propheten wie Mose (Dtn 18,15.18) in Qumran (vgl. 1QS IX 9–11; 4Q175)265 lassen es möglich erscheinen, dass Jesus sich als endzeitlicher Prophet verstand. Andererseits lehnt Jesus die Kategorie des Prophetischen in zwei Logien als unzureichend ab (Q 11,32: „mehr als Jona ist hier“; Lk 16,16: „das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes“, danach kommt etwas Neues) und es gibt kein (relativ unumstrittenes) authentisches Wort, in dem Jesus sich ausdrücklich als Prophet bezeichnet, zumal die atl. Botenkategorie seinem Anspruch in keiner Weise gerecht wird. Auch die Anklänge in Mk 9,7 auf Dtn 18,15 können nicht für Jesus in Anspruch genommen werden, sondern verdanken sich markinischer Christologie (s. u. 8.2.2). Fazit: Jesu Selbstverständnis, Verkündigung und Verhalten sprengen die Dimension des Prophetischen 266.
264 Vgl. z. B. Plut, Mor 604d; Dio Chrys, Or 47,6. 265 Zu den prophetisch-messianischen Traditionen
in Qumran vgl. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 312–417. 266 Vgl. M. HENGEL, Nachfolge und Charisma (s. o. 3.6.2), 74; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 664–666. Anders G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 85, wonach ‚Prophet‘ „die Beschreibung zu sein scheint, die Jesus selbst vorgezogen hat“; E. P. SANDERS, Sohn Gottes (s. o. 3), 381: „Er war ein Prophet, und zwar ein eschatologischer Prophet“; N. T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 163: „Rather, I suggest
that Jesus was seen as, and saw himself as, a prophet; not a particular one necessarily, as though there were an individual set of shoes ready-made into which he was consciously stepping, but a prophet like the prophets of old, coming to Israel with a word from her covenant god, warning her of the imminent and fearful consequences of the direction she was traveling, urging and summoning her to a new and different way“; S. FREYNE, Jesus (s. o. 3.8.1), 168 u. ö., wonach Jesaja und Daniel den Hintergrund des Selbstverständnisses Jesu bilden.
130 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
3.9.2
Jesus als Menschensohn
PH. VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 55–91; H. E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 51984; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. o. 4), 13–53; J. JEREMIAS, Die älteste Schicht der Menschensohnlogien, ZNW 58 (1967) 159–172; C. COLPE, Art. o uıo`ß tou˜ anhrw´pou, ThWNT 8, Stuttgart 1969, 403–481; L. GOPPELT, Theologie I, 116–253; A. J. B. HIGGINS, The Son of Man in the Teaching of Jesus, MSSNTS 39, Cambridge 1980; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 152–164; M. MÜLLER, Der Ausdruck Menschensohn in den Evangelien, AThD 17, Leiden 1984; V. HAMPEL, Menschensohn und historischer Jesus, Neukirchen 1990; J.J. COLLINS, The Son of Man in First-Century Judaism, NTS 38 (1992) 448–466; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 107–125; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 144–174; A. VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘ des Menschensohnproblems, Freiburg 1994; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 470–480; J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 249–275; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament (s. u. 4), 287–306; M. KREPLIN, Das Selbstverständnis Jesu, WUNT 2.141, Tübingen 2001, 88–133; C.M. TUCKETT, The Son of Man and Daniel 7: Q and Jesus, in: A. Lindemann, (Hg.), The sayings source Q and the historical Jesus (s. u. 8.1), 371–394; U. WILCKENS, Theologie II, 28–53.
Die häufigste Selbstbezeichnung Jesu ist o uıo`ß tou˜ anhrw´pou („der Sohn des Menschen“)267, sie findet sich in doppelt determinierter Form 82mal im Neuen Testament (Mk: 14mal; Mt: 30mal; Lk 25mal; Joh 13mal)268 und mit Ausnahme von Joh 12,34 in den Evangelien immer im Mund Jesu269. Diese Wendung ist eine für griechische Ohren sehr ungewöhnliche Übersetzung des aramäischen af}n(a) rb bzw. des hebräischen ¥da vB, die einen vornehmlich generischen Sinn aufweisen270: der Mensch als Angehöriger/ein Mensch als Repräsentant des Menschengeschlechtes. Die Bedeutung dieser Wendung erklärt sich aus einer komplexen jüdischen Vorgeschichte. Ausgangspunkt ist als Grundtext Dan 7,13f, wo es innerhalb einer Vision heißt: „und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich (wß uıo`ß anhrw´pou = einer, wie ein Menschensohn; ein menschenähnlicher), und gelangte bis zu den Hochbetagten, und er wurde vor ihn geführt. Ihm wurde Macht verliehen und Ehre und Reich, dass die Völker aller Nationen und Zungen ihm dienten. Seine Macht ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört.“ Der Menschensohn ist hier wahrscheinlich eine hervorgehobene Engelgestalt, die Gottes endzeitliches Gericht verkündet271. Zu einem zentralen Titel innerhalb der jüdischen 267 Zur kontroversen Forschungsgeschichte vgl. W.G. KÜMMEL, Jesusforschung (s. o. 3.1), 340–374. 268 Vgl. ferner EvTh Log 86; Apg 7,56; Apk 1,13; in der LXX findet sich uıo`ß anhrw´pou nur undeterminiert. 269 Vgl. M. MÜLLER, Art. Menschensohn im Neuen Testament, RGG4 5, Tübingen 2002, 1098–1100.
270 Vgl. dazu C. COLPE, Art. o uıo`ß tou˜ anhrw´pou, 405 f. 271 Zur Bedeutung von af}n(a) rb vgl. bes. K. KOCH,
Das Reich der Heiligen und des Menschensohns. Ein Kapitel politischer Theologie, in: ders., Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch, Neukirchen 1995, (140–172) 157–160.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 131
Messianologie wurde der Ausdruck „Menschensohn“ nicht, es finden sich lediglich zwei wirkungsgeschichtliche Aktualisierungen in äthHen 37–71 (sog. ‚Bilderreden‘) und 4Esr 13. Diese beiden Textkomplexe sind in sich nicht einheitlich, so dass man nur von einer inhomogenen Menschensohn-Tradition sprechen kann272. Die Bilderreden des äthiopischen Henochbuches wurden in der Mitte des 1. Jhs. v.Chr. redigiert und enthalten vielschichtige Menschensohn-Aussagen. Der Menschensohn ist in engelgleicher Gestalt vor allem universaler Richter (äthHen 46,4ff), der die Gerechten zur Endzeitgemeinde sammelt (45,3f; 47,4; 48,1–7 u. ö.). Wie er selbst sind die Gerechten die Erwählten, er ist „der Stab, damit sie sich auf ihn stützen und nicht fallen“ (48,4). 4Esr 13 stammt aus dem Ende des 1. Jh. n.Chr. und schildert innerhalb einer Sturmvision das Auftreten (13,3: „Ich sah, und siehe, der Sturm führte aus dem Herzen des Meeres etwas wie die Gestalt eines Menschen hervor“) und die endzeitlichen Funktionen dieser Gestalt: Er wird auf dem Berg Zion die herbeiströmenden Völker richten und das Volk Israel sammeln. Er nimmt damit die Funktionen wahr, die nach PsSal 17,26–28 dem davidischen Messias zugeschrieben werden. Die Unterschiede zwischen Dan 7 und äthHen/4Esr weisen darauf hin, dass es z.Zt. Jesu wahrscheinlich verschiedenen Ausprägungen der Menschensohn-Vorstellung gab, die eher eine Funktion als eine feste Person bezeichnete273. Deutlich ist in jedem Fall, dass es sich um eine himmlische, menschenähnliche Gestalt mit Richter-, Herrscher- und Retterfunktion handelt.
Eine Bildung der zentralen ntl. Menschensohn-Aussagen in späterer nachösterlicher Zeit ist sehr unwahrscheinlich, denn sie eigneten sich nicht für die Mission, und Paulus nahm sie wahrscheinlich bewusst in seine Verkündigung nicht auf. Warum sollten die späteren Gemeinden einen im Griechischen eher unverständlichen und am Wort anhrwpoß („Mensch“) orientierten Begriff zur christologischen Leitkategorie erhoben haben?274 Wahrscheinlich erfolgte die Übersetzung des aramäischen af}n(a) rb in das griechische o uıo`ß tou˜ anhrw´pou schon früh und dürfte einen Sprachgebrauch Jesu aufnehmen. Neben der Wirkungsplausibilität und der Mehrfachbezeugung in allen Traditionssträngen spricht auch das Fehlen des Menschensohn-Begriffes in Bekenntnisaussagen über Jesus dafür, dass er den Ausdruck ‚Menschensohn‘ benutzte.
272 Vgl. zur Analyse K. MÜLLER, Menschensohn und Messias, in: ders., Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, SBA.NT 11, Freiburg 1991, 279–322. 273 Vgl. hierzu J.J. COLLINS, The Scepter and the Star. The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Literature, in: The Anchor Bible Reference Library, New York 1995, 173–194, wonach die Texte für nicht fest fixierte Menschensohnvorstellungen in apokalyptischen Kreisen vor und neben dem Neuen Testament sprechen, die ihn als an der eschatologischen Vernichtung der Feinde Gottes beteiligten Messias betrachten.
274 Diese Frage können all jene nicht beantworten,
die alle Menschensohnworte als Gemeindebildung ansehen; so z. B. PH. VIELHAUER, Gottesreich, 90f; H. CONZELMANN, Theologie, 105–111; A. VÖGTLE, ‚Gretchenfrage‘, 175. Für eine Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn plädieren z. B. H. E. TÖDT, Menschensohn, 298–316; J. ROLOFF, Jesus (s. o. 3), 118f; H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (s. o. 3.4), 154–164; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 476f; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 252f; zur Forschungsgeschichte vgl. A. VÖGTLE, ‚Gretchenfrage‘, 22–81 (Authentizitätshypothesen). 82– 144 (nachösterliche Entstehung).
132 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Die Worte Jesu über den Menschensohn lassen sich in drei Gruppen aufteilen, die sich teilweise überschneiden und ergänzen. Der gegenwärtig wirkende Menschensohn
Die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn enthalten sehr verschiedene Konnotationen. Es gibt Worte, in denen der Menschensohntitel im Zusammenhang mit Jesu Vollmacht erscheint (Mk 2,10par: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben, spricht er zu dem Gelähmten“; Mk 2,28par: „So ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat“), in anderen Worten ist von der Sendung Jesu im Ganzen die Rede (Mk 10,45: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“; Lk 19,10: „Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist“). Retrospektiv, aber sachlich sicher zutreffend wird Jesu Umgang mit Diskriminierten in Q 7,34 formuliert: „Der Menschensohn kam, aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“. Schließlich scheint mit dem Menschensohntitel der Gedanke der Niedrigkeit, Verborgenheit und Ungeborgenheit Jesu verbunden zu sein (Q 9,58: „Und Jesus sagte ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann“). Auf einen Gerichtskontext verweisen Q 11,30 („Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein“) und Q 12,8f („Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden“; vgl. Mk 8,38). Der letzte Text wirft besondere Fragen auf275: Meint Jesus hier mit dem Menschensohn eine andere Gestalt als sich selbst? Allein die Möglichkeit einer solchen Interpretation verweist nicht automatisch auf die nachösterliche Gemeinde. Ebenso könnte Jesus selbst dieses Wort im Kontext der Passion gesprochen haben. Isoliert man das Wort, dann kann mit dem künftigen MenschenRichter ein anderer als Jesus gemeint sein276. Kommt jedoch der Anspruch Jesu in 275 Q 12,8 spielt nach A. VÖGTLE, Die ‚Gretchenfrage‘,
9, eine „Schlüsselrolle“ für die Menschensohnfrage beim irdischen Jesus. Die mt. Parallele (10,32) zu Lk 12,8 lautet pa˜ß oun oÇstiß omologv´sei en emoi` emproshen tw˜n anhrw´pwn, omologv´sw kagw` en autw˜ emproshen tou˜ patro´ß mou tou˜ en [toı˜ß] ouranoı˜ß und enthält den Begriff Menschensohn nicht; auch die Parallele Q 12,10 spricht nur im Passiv von der gerichtlichen Vergebung (afehv´setai), weshalb hier im Sinne des Passivum divinum wohl Gott selbst der Sanktionierende ist. Daher hat sich vor allem P. HOFFMANN für eine lukanisch-redaktionelle Ablei-
tung ausgesprochen: DERS., Der Menschensohn in Lukas 12.8, NTS 44 (1998), 357–379. Jedoch ist die mt. Bearbeitung des Logions sprachlich deutlich zu greifen und die Einfügung in den mt. Kontext begünstigte nicht die Übernahme des Menschensohnbegriffs (vgl. A. VÖGTLE, a. a. O., 17f), so dass mit J. SCHRÖTER, Erinnerung (s.u. 8.1), 362–365, und C. M. TUCKETT, Q 12,8 Once Again – „Son of Man“ or „I“?, in: J.M. Asgeirsson/K. de Troyer/M.W. Meyer (Hg.), From Quest to Q (s.u. 8.1), 171–188, am Menschensohn in Q 12,8 festzuhalten ist. 276 So z. B. R. BULTMANN, Theologie, 30.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 133
seiner Gesamtheit in den Blick, dann ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er sich als Vorläufer oder Bote einer anderen eschatologischen Gestalt verstanden haben soll277. Während Q 12,10 (Das Reden wider den heiligen Geist) sicher und Mk 2,10; 10,45a; Lk 19,10 (als Variante von Mk 2,17; Lk 5,32) möglicherweise nachösterlich sind, bezeugen die anderen authentischen Worte, dass Jesus sein Wirken mit der Menschensohn-Gestalt im alltagssprachlichen Sinn (‚meine Person‘) gedeutet hat. Der leidende Menschensohn
Die Worte vom leidenden Menschensohn liegen in den drei Leidensweissagungen (Mk 8,31par; 9,31par; 10,33f) und in Worten über die Auslieferung/Dahingabe des Menschensohnes vor (Mk 14,21par: „Denn der Menschensohn geht wohl dahin, wie über ihn geschrieben steht, doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird“; Mk 14,41: „Der Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert“; vgl. ferner Lk 17,25; 24,7). Mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn nachösterliche Bildungen, denn sie fehlen in der Logienquelle und lassen deutlich nachösterliche christologische Reflektionen erkennen278. Der kommende Menschensohn
Während die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn der alltagssprachlichen Tradition verbunden sind, stehen die Worte vom kommenden Menschensohn in Verbindung mit visionssprachlichen Traditionen. So kündigt Jesus in Mk 14,62 sein zukünftiges Richten an: „Da sprach Jesus: Ich bin es, und ihr werdet den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.“ In einen Gerichts- und Parusiekontext gehören auch Q 12,40 („Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet“), Q 17,24 („Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis zum Westen leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“), 17,26.30 („Wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird es auch am Tag des Menschensohnes sein . . . so wird es auch an dem Tag sein, an dem der Menschensohn offenbar wird“), Mt 10,23b („Amen, ich sage euch: Ihr werdet nicht vollständig durch die Städte Israels hindurchkommen, bis der Menschensohn kommt“), Mt 19,28 („. . .wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzt, [werdet auch ihr] auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“) und die bereits besprochene Tradition vom Bekennen und Verleugnen in Q 12,8f/Mk 8,38.
277 Vgl. CHR. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (s. o. 3.8) 348; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 253. 278 Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 479. Anders z. B. P. STUHLMACHER, Theologie
I, 120f, der eine Urform von Mk 9,31 und Mk 10,45 als authentisches Wort Jesu über den leidenden Menschensohn ansieht.
134 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Die Worte vom kommenden Menschensohn sind schwer zu beurteilen, denn einerseits scheint Jesus sein gegenwärtiges und zukünftiges Richterhandeln mit dem Begriff des Menschensohnes verbunden zu haben (Q 12,8f), andererseits nimmt der wiederkommende und richtende Menschensohn eine zentrale Stellung innerhalb der christologischen Konzeption der Logienquelle ein (s. u. 8.1.2), so dass mit einer starken nachösterlichen Gestaltung gerechnet werden muss. Während Lk 18,8b und Mt 24,30 nachösterliche Bildungen sind und auch die angeführten Q-Logien literarisch nach Ostern ihre vorliegende Gestalt fanden, wird man für Jesus annehmen dürfen, dass er sein gegenwärtiges und zukünftiges Geschick grundlegend mit der Menschensohngestalt verband279. Jesus nahm den Ausdruck „Menschensohn“ auf, weil er kein zentraler Begriff in der jüdischen Apokalyptik war und sich als offener und nicht fest definierter Ausdruck besonders eignete, um sein Wirken zu charakterisieren. Züge des vorösterlichen Wirkens Jesu zeigen vor allem die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn, wobei Q 7,33f und Q 9,58 hervorzuheben sind. Man wird den Ausdruck „Menschensohn“ hier nicht generisch, sondern wahrscheinlich sogar titular verstehen müssen. Auffällig ist an diesen beiden Worten, dass die Macht des Menschensohnes gerade nicht offenbar, sondern eher verhüllt ist. Dieses Nebeneinander von verhüllender und offenbarender Redeweise hat eine Strukturparallele in Jesu Rede vom Reich Gottes: So wie das Reich Gottes eine sich offenbarende und reale, aber zugleich verborgene Größe ist, so zeigt sich das gegenwärtige Wirken des Menschensohnes nicht in seiner Macht, sondern in seinem verborgenen Wirken.
3.9.3
Jesus als Messias
F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. u. 4), 133–225.466–472; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 115–143; F. HAHN, Art. Cristo´ß, EWNT 3 (1983) 1148–1153; M. KARRER, Der Gesalbte. Die Grundlagen des Christustitels, FRLANT 151, Göttingen 1990; D. ZELLER, Art. Messias/Christus, NBL III (1995), 782–786; M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, in: ders./A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 1– 80; J. FREY, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter/R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 273–336.
Von den 531 Belegen für Cristo´ß („Christus“) bzw. LIvsou˜ß Cristo´ß („Jesus Christus“) finden sich allein 270 bei Paulus. Bedeutsam ist, dass Cristo´ß an den ältesten Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) haftet, und sich damit Aussagen über Tod und Auferstehung Jesu verbinden, die das gesamte Heilsgeschehen 279 Vgl. auch J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o.
3), 759–761.
Das Selbstverständnis Jesu: Mehr als ein Prophet 135
umfassen. Bei Paulus ist LIvsou˜ß Cristo´ß ein Titelname. Der Apostel weiß, dass Cristo´ß ursprünglich ein Appellativ und LIvsou˜ß das eigentliche nomen proprium ist, denn er spricht nie von einem ku´rioß Cristo´ß. Cristo´ß ist somit in der Verbindung mit LIvsou˜ß als Cognomen aufzufassen, bei dem die titulare Bedeutung durchaus mitschwingen kann. Zugleich verschmilzt der Titel so mit der Person Jesu und ihrem spezifischen Geschick, dass er bald zum Beinamen zu Jesus wird und die Christen danach benannt werden (Apg 11,26). Ausgangspunkt und Voraussetzung der Entwicklung messianischer Vorstellungen sind im Alten Testament Königssalbung und Dynastiezusage (vgl. 1Sam 2,4a; 5,3; 1Kön 1,32–40; 11; 2Sam 7; Ps 89; 132)280. Daraus bildeten sich vielschichtige Traditionen im antiken Judentum, speziell um die Zeitenwende herum besaßen die messianischen Hoffnungen eine vielfältige Gestalt281. Die Vorstellung von einem politisch-königlichen Messias (vgl. PsSal 17; 18; syrBar 72,2), der die Heiden aus dem Land treiben und Gerechtigkeit wiederherstellen soll, findet sich ebenso wie prophetisch (vgl. CD 2,12; 11Q Melch) und priesterlich -königlich geprägte Anschauungen (vgl. 1QS 9,9–11; 1QSa 2,11ff; CD 12,23; 14,19; 19,10f; 20,1). Von der großen Variationsmöglichkeit und Vernetzungskraft jüdischer Eschatologie zeugen auch die Verbindung von Menschensohnund Messiasvorstellungen (vgl. äthHen 48,10; 52,4; 4Esr 12,32; 13) und messianische Gestalten, die ohne den Messias-Begriff auftraten (messianische Propheten)282.
Cristo´ß ist Bestandteil der ältesten ntl. Überlieferungen, ob Jesus selbst den Cristo´ßTitel für sich in Anspruch nahm oder zumindest bewusst messianische Erwartungen auslöste, muss eine Analyse der synoptischen Tradition klären. Der Befund ist überraschend schmal und vieldeutig. Bei Markus finden sich 7 Belege, Matthäus ist bei seinen 18 Belegen im Wesentlichen von Markus abhängig und im lukanischen Doppelwerk verbindet sich vor allem durch die Aufnahme von Jes 61,1f eine ausgeprägte Geistchristologie mit Cristo´ß (s. u. 8.4.2/8.4.3). Schlüsselstellen sind Mk 8,29 („Petrus antwortet ihm: Du bist der Christus!“) und Mk 14,61f („Da fragte ihn der Hohepriester noch einmal, und er sagte zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Da sprach Jesus: Ich bin es . . .“). Beide Texte sind vollständig in die markinische Christologie eingebunden und geben kaum exakt historisches Geschehen wieder. Dennoch spricht viel dafür, dass Jesus durch seine Verkündigung und sein Verhalten messianische Erwartungen ausgelöst hat. Mk 8,27–30 könnten belegen, dass an Jesus politisch-messianische Erwartungen herangetragen wurden. Die messiani280 Vgl. E.-J. WASCHKE, Der Gesalbte, BZAW 306, Berlin 2001. 281 Vgl. hier zuletzt G. OEGEMA, Der Gesalbte und sein Volk, Göttingen 1994; ST. SCHREIBER, Gesalbter und König (s. o. 3.4.1), 145–534; W. HORBURY, Jewish Messianism and the Cult of Christ, London 1998; zu
den komplexen Gesalbten-Vorstellungen in Qumran vgl. J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 23 ff. 282 Eine Auflistung aller aufrührerischen Gestalten findet sich bei J.D. CROSSAN, Der historische Jesus (s. o. 3), 585 f.
136 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
schen Ovationen beim Einzug in Jerusalem (vgl. Mk 11,8–10), die Tempelreinigung und vor allem die Kreuzesinschrift (s. u. 3.10.1) legen darüber hinaus die Annahme nahe, dass Jesus bewusst messianische Erwartungen schürte. Die Kreuzesinschrift o basileu`ß tw˜n LIoudaı´wn („Der König der Juden“) dürfte weder von Juden noch Christen stammen und belegen, dass die Römer Jesus von Nazareth als Messiasprätendent hinrichteten283. Dann muss die Frage nach Jesu Königtum/Messianität im Prozess eine entscheidende Rolle gespielt haben284, ohne dass entscheidbar ist, ob Jesus aktiv den Messiastitel für sich beanspruchte. Auch die schnelle und umfassende Ausbreitung von Cristo´ß in den ältesten nachösterlichen Traditionen lässt sich am besten verstehen, wenn eine Verbindung mit dem Wirken und Geschick Jesu besteht. Wie auch immer einzelne Texte beurteilt werden, der Gesamtbefund lässt nur einen historischen Schluss zu: Das Leben Jesu war nicht unmessianisch!285 Jesu Selbstanspruch, Repräsentant des gegenwärtigen und kommenden Gottesreiches zu sein, seine Freiheit gegenüber der Tora, seine souveränen Jüngerberufungen, seine Gewissheit, die entscheidende Gestalt in Gottes Gerichtshandeln und der gegenwärtige sowie kommende, von Gott inthronisierte Menschensohn zu sein, lassen nur den Schluss zu, dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde. Zugleich aber fällt auf, dass sich dieser Anspruch auch in einer merkwürdig verhüllten Weise zeigt: Er äußert sich nicht in vorgegebenen, dogmatisch klaren Kategorien, sondern in zuweilen fast paradoxen Erzählungen und Worten. Jesus vermittelt Erfahrungen des Gottesreiches, aber er verweigert sich jeder Zeichenforderung und jedem direkten Autoritätsbeweis. Er verlangt für seine Botschaft höchste Verbindlichkeit und bindet Heil und Unheil an seine Person, zugleich verfremdet und überbietet er sämtliche bekannten Spielarten messianischer Autorität. Entscheidend ist nicht ein Wissen über Jesus, sondern die Konfrontation mit ihm und seiner Botschaft, sich ganz auf die neue Wirklichkeit Gottes einzulassen.
3.10 Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang J. BLINZLER, Der Prozeß Jesu, Regensburg 41969; P. WINTER, On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin 1961; A.N. SHERWIN-WHITE, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963; D. DORMEYER, Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, NTA 11, Münster 1974; A. STROBEL, Die Stunde der Wahrheit, WUNT 21, Tübingen 1980; M. LIMBECK (Hg.), Redaktion und Theologie 283 Vgl. M. HENGEL, Jesus der Messias Israels, 50. 284 Vgl. J. FREY, Der historische Jesus und der Chris-
tus der Evangelien, 304ff; J. SCHRÖTER, Jesus (s. o. 3), 262 ff. 285 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 28: „Daran, daß
das Leben und Wirken Jesu, gemessen am traditionellen Messiasgedanken, kein messianisches war, läßt im übrigen die synoptische Tradition keinen Zweifel“.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 137
des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981; O. BETZ, Probleme des Prozesses Jesu, ANRW. II 25.1, Berlin 1982, 565–647; K. KERTELGE (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, QD 112, Freiburg 1988; R.E. BROWN, The Death of the Messiah I.II, New York 1993/94; W. REINBOLD, Der älteste Bericht über den Tod Jesu, BZNW 69, Berlin 1994; N.T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 540–611; P. EGGER, Crucifixus sub Pontio Pilato, NTA 32, Münster 1997; W. BÖSEN, Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg 1999; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered (s. o. 3), 765–824; G. VERMES, Die Passion, Darmstadt 2005; W. REINBOLD, Der Prozess Jesu, Göttingen 2006.
Am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit zog Jesus mit seinen Jüngern und weiteren Begleitern im Jahr 30 zum Passafest nach Jerusalem286. Er tat dies in Kontinuität zu seiner bisherigen Reich-Gottes-Verkündigung und zweifellos nicht ohne Absicht, denn sowohl seine bisherige spektakuläre Wirksamkeit in Galiläa als auch der Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11par) lassen eine Zuspitzung der Ereignisse erwarten.
3.10.1 Verhaftung, Prozess und Kreuzigung Jesus entzog sich den Ovationen beim Einzug in Jerusalem nicht, d. h. er akzeptierte die damit verbundenen messianischen Erwartungen (Mk 11,9fpar). Da der Einzug auch Elemente eines Herrscherzeremoniells enthielt, konnte er politisch interpretiert werden. In zeitlicher Nähe und sachlicher Kontinuität zum Einzug steht die Tempelreinigung (Mk 11,15–18par)287. Die Tempelreinigung
Jesus findet im Tempelbezirk Verkäufer von Opfertieren und Geldwechsler vor, die ursprünglich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Kultbetriebes dienten. Nicht jedes herbeigebrachte Tier konnte von Priestern einzeln geprüft werden, und auch die Geldwechsler übten eine Dienstleistung aus, denn nach Ex 30,11–16 musste jeder männliche Jude ab 20 Jahren eine Doppeldrachme als Tempelsteuer entrichten. Das Ausmaß der Tempelreinigung lässt sich in ihren Einzelheiten nicht mehr genau rekonstruieren, aber Jesus scheint mit Gewalt gegen (einige) Tierverkäufer und Geldwechsler vorgegangen zu sein. Damit verbindet sich ein Drohwort gegen den Tempel, das den Kern von Mk 13,2 bildet: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen 286 Zum chronologischen Rahmen des Auftretens Jesu vgl. G. THEISSEN/A: MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 147–155. 287 Vgl. dazu M. SABBE, The Cleaning of the Temple and the Temple Logion, in: ders., Studia Neotestamentica, Leuven 1991, 331–354; TH. SÖDING, Die Tempelaktion Jesu, TThZ 101 (1992), 36–64; E. STEGEMANN, Zur Tempelreinigung im Johannesevange-
lium, in: Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), hg. v. E. Blum u. a., Neukirchen 1990, 503–516; J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.1.2), 426–459; K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, FRLANT 184, Göttingen 1999, 233–249; J. DNA, Jesu Stellung zum Tempel, WUNT 2.119, Tübingen 2000, 300–333; W. REINBOLD, Der Prozess Jesu (s. o. 3.10), 130–137.
138 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
bleiben, der nicht herausgebrochen wird.“288 Tempelreinigung und Tempelwort zielten nicht auf eine Wiederherstellung eines gottgefälligen Tempelkultes, wie sie in der Geschichte des Judentums immer wieder gefordert wurde289. Vielmehr war Jesus der Meinung, dass mit der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes der Jerusalemer Tempel seine Funktion als Ort der Sühne für die Sünden verloren hat. Weil die Herrschaft des Bösen zu Ende geht, bedarf es keiner Opfer mehr290. Verhaftung und Verhör
Welche Rolle spielten jüdische Instanzen in dem Verfahren gegen Jesus? Wahrscheinlich wurde Jesu Aktion gegen den Tempel als Infragestellung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung interpretiert und damit insbesondere von den Sadduzäern zum Anklagegrund instrumentalisiert291. Nicht ‚die Juden‘, sondern die Sadduzäer scheinen die treibende Kraft bei der Verhaftung Jesu gewesen zu sein (vgl. Mk 14,1.43.53.60; 15,11; Jos, Ant 18,64: „. . . und obwohl ihn auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes Pilatus zum Kreuzestod verurteilte . . .“)292. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Überlieferung bei Josephus, die zeigt, dass Prophetie gegen den Tempel und die Stadt Jerusalem offenbar eine Beteiligung der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit an der grundsätzlich Römern zustehenden Rechtsfindung verlangten293. Der Text bestätigt die Existenz eines etablierten Instanzenwe288 Vgl. zur Begründung K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 76–92 (Mk 14,58 ist eine nachösterliche Variante von Mk 13,2*). 289 Vgl. K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu, 244: „zeichenhafte Verunmöglichung und Aufhebung des Jerusalemer Kultbetriebes“. 290 Vgl. J. SAUER, Rückkehr und Vollendung des Heils (s. o. 3.1.2) , 455–459. 291 Vgl. E.P. SANDERS, Sohn Gottes (s. o. 3), 380: „Ich nehme also an, daß Jesu symbolische Aktion, die Tische der Geldwechsler im Tempel umzustürzen, Hand in Hand mit einem Ausspruch über die bevorstehende Zerstörung des Tempels ging und in dieser Kombination von den Behörden als prophetische Drohung aufgefaßt wurde“; anders J. BECKER, Jesus von Nazaret (s. o. 3), 407ff, der die Tempelreinigung für unhistorisch hält. 292 Vgl. H. RITT, „Wer war schuld am Tod Jesu?“, BZ 31 (1987), 165–175. 293 Jos, Bell 6,300–305: „Furchtbarer aber als diese Dinge war folgendes: Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann un-
vermittelt zu rufen: ‚Eine Stimme vom Aufgang, eine Stimme vom Niedergang, eine Stimme von den vier Winden, eine Stimme über Jerusalem und den Tempel, eine Stimme über Bräutigam und Braut, eine Stimme über das ganze Volk!‘ So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sonder stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe und führten ihn zu dem Landpfleger, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ‚Wehe dir, Jerusalem!‘ Als aber Albinus – denn das war der Landpfleger – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei und ihn laufen ließ.“
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 139
ges. Von führenden Männern der jüdischen Selbstverwaltung wird ein offizielles Verfahren gegen den Propheten Jesus Ben Ananias angestrengt. Er wird zunächst von Mitgliedern des Synhedriums verhört und dann dem Prokurator übergeben. Die Geißelung ging in der Regel der Vollstreckung eines Todesurteils voraus, d. h. die jüdischen Instanzen dürften einen Kapitalprozess angestrengt haben, die letztgültige Entscheidung lautete allerdings in diesem Fall auf Freispruch. Ein ähnlicher Ablauf ist für den Prozess gegen Jesus von Nazareth zu vermuten. Die Tempelreinigung brachte Jesus offensichtlich den Vorwurf ein, die öffentliche Ordnung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht anzugreifen294. Er stellte mit seiner Aktion gegen den Tempel aus der Sicht der Sadduzäer den Kultbetrieb in Frage. Vergehen gegen den Tempel gehörten zu den „durchaus seltenen Fällen, welche die römische Rechtsfindung in der Provinz Judäa bewogen, auf dem Wege einer Ausnahmeregelung die jüdische Kapitalgerichtsbarkeit an der eigenen ‚cognitio‘ zu beteiligen.“295 Vornehmlich die Sadduzäer dürften Jesu Verhaftung angestrengt und das Verhör vor dem Hohen Rat betrieben haben. Jesus wurde dann dem römischen Statthalter übergeben, der eine eigene Untersuchung durchführte und verantwortlich für das Todesurteil ist. Der Prozess und die Kreuzigung
Die Kapitalgerichtsbarkeit stand in Judäa allein dem römischen Prokurator zu296. Bei dem ersten Prokurator Coponius (6–9 n.Chr.) vermerkt Josephus ausdrücklich, er habe mit uneingeschränkter Vollmacht regiert und vom Kaiser auch das Recht erhalten, die Todesstrafe zu verhängen297. Nach dem Verhör vor dem Hohen Rat wurde Jesus zum Prätorium gebracht, dem Amtshaus des Pilatus298. Warum wurde Jesus nach einem kurzen Prozess verurteilt? Die Römer ließen sich mit Sicherheit von jüdischen Instanzen dazu nicht ohne Grund drängen, und der Hinweis auf innerjüdische Lehrstreitigkeiten reicht ebenfalls nicht aus, um das Eingreifen der Römer zu erklären. Der triumphale Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion, Mk 15,2fpar („Bist du der König der Juden? Er aber antworte ihm: Du sagst es!“) und die Kreuzesinschrift (Mk 15,26par: „Der König der Juden“ = o basileu`ß tw˜n LIoudaı´wn) lassen ver-
294 Zum Tempel vgl. J. MAIER, Beobachtungen zum
297 Vgl. Jos, Bell 2,117; Ant 18,2.
Konfliktpotential in neutestamentlichen Aussagen über den Tempel, in: Jesus und das jüdische Gesetz, hrsg. v. I. Broer, Stuttgart 1992, 173–213. 295 K. MÜLLER, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozess gegen Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Der Prozess gegen Jesus (s. o. 3.10), (41–83) 82 f. 296 Vgl. hier bes. K. MÜLLER, Kapitalgerichtsbarkeit, 44–58 (dort die Auseinandersetzung mit anderen Thesen).
298 Zu Pilatus vgl. zuletzt K. ST. KRIEGER, Pontius Pila-
tus – ein Judenfeind? Zur Problematik einer Pilatusbiographie, BN 78 (1995), 63–83. Er betont, dass alle Quellen über Pilatus tendenziös berichten und Vorsicht geboten ist gegenüber der geläufigen Darstellung, Pilatus sei ein besonders charakterloser Mensch gewesen.
140 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
muten, dass die Römer offenbar Jesus für einen (religiös-politischen) Aufrührer hielten, der die gespannte Situation an einem Passafest für sich ausnutzen könnte. Die Brisanz dieses Vorwurfes illustrierte Josephus. In den Wirren nach dem Tod Herodes d. Gr. strebten sowohl ein gewisser Judas299 als auch ein gewisser Simon300, Knecht Herodes d. Gr., die Königswürde an. Sie plünderten und brandschatzten mit ihren Truppen, wurden dann aber von den Römern vernichtend geschlagen. Danach griff ein gewisser Athronges301 nach der Krone. Er führte den Königstitel und kämpfte sowohl gegen die Römer als auch gegen die Familie Herodes d. Gr. Auch er wurde von den Römern und ihren Verbündeten besiegt302. Josephus charakterisiert diese unruhige Zeit in einem Summarium: „Und so war Judäa voll von Räuberbanden; und wo immer sich eine Gruppe von Anführern zusammentat, wählten sie einen König, der den Untergang der staatlichen Ordnung herbeiführen sollte. Sie fügten zwar wenigen Römern einen unerheblichen Schaden zu, bereiteten aber ihrem eigenen Volk ein großes Blutbad.“303 Josephus berichtet dann, der römische Statthalter Varus habe weitere Aufstände brutal niedergeschlagen und einmal 2000 Juden kreuzigen lassen304. Hinter den von Josephus als ‚Räuberbande‘ bezeichneten Gruppen standen messianische und soziale Hoffnungen, die sich auf eine Befreiung von der Römerherrschaft und eine gerechtere Ordnung richteten. Nach PsSal 17,21 ff wird der von Gott dem auserwählten Volk gesandte König und Gesalbte nicht nur die Heiden vertreiben, sondern auch über sein Volk in Gerechtigkeit herrschen.
Pilatus ließ Jesus geißeln und zur Kreuzigung abführen. Die Kreuzigung war die bevorzugte römische Todesstrafe für Sklaven und Aufständische, eine besonders grausame und entehrende Strafe305. Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, den 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem als Aufrührer von den Römern gekreuzigt306.
299 Vgl. Jos, Ant 17,272.
305 Grundlegend sind hier M. HENGEL, Mors turpissi-
300 Vgl. Jos, Ant 17,273 ff.
ma crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich/W. Pöhlmann/P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 125–184; H.W. KUHN, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit, ANRW. II 25/1, Berlin 1982, 648–793. 306 Dieses Datum setzt sich immer mehr als Konsens durch; vgl. zuletzt R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus (s.u. 5), 31–52; G. VERMES, Die Passion (s. o. 3.10), 138.
301 Vgl. Jos, Ant 17,278 ff. 302 Vgl. zur Analyse der wichtigsten Texte M. HENGEL,
Die Zeloten (s. o. 3.8.1), 261–277.329ff; P. EGGER, „Crucifixus sub Pontio Pilato“ (s. o. 3.10), 72 ff. 303 Jos, Ant 17,285. 304 Vgl. Jos, Ant 17,295; vgl. auch Ant 20,502, wo von der Kreuzigung der beiden Söhne des Zelotengründers Judas, Simon und Jakob, um 46 n.Chr. durch den Prokurator Tiberius Alexander berichtet wird.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 141
3.10.2 Jesu Verständnis seines Todes Auffällig ist, dass Jesus sich trotz der absehbaren Gefahr nicht aus Jerusalem abgesetzt hat. Nach den synoptischen Passionsdarstellungen hätte er dazu noch reichlich Gelegenheit gehabt. Die Möglichkeit einer Verhaftung konnte Jesus nicht völlig unvorbereitet getroffen haben, denn er kannte die angespannte politische Situation in Jerusalem, hatte den Tod von Johannes d. Täufer vor Augen und wurde von seinem eigenen Landesherrn Herodes Antipas gewarnt (Lk 13,31)307. Wenn er trotzdem in Jerusalem blieb und sich bewusst provozierend verhielt, dann spricht alles dafür, dass Jesus seinen Tod als Möglichkeit kommen sah und jedenfalls nichts tat, um diesem Schicksal zu entgehen. Fragt man nach dem Sinn eines solchen Verhaltens, dann ist neben einigen Logien der synoptischen Tradition vor allem die Abendmahlsüberlieferung zu bedenken308. Verschiedene Logien könnten ein Wissen Jesu um seinen Tod voraussetzen; so z. B. Lk 12,49.50 („Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht! Aber ich muss mich mit einer Taufe taufen lassen, und wie ist mir bange, bis sie vollzogen ist“), Lk 13,31f (Jesus antwortet auf Warnungen vor Herodes Antipas: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich vollendet“), Mk 14,7 (Jesus in der Salbungsgeschichte von Bethanien: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch“; vgl. Mk 2,19). All diese Texte sind nicht eindeutig, denn ihre vor- oder nachösterliche Entstehung ist ebenso unsicher wie der Bezug auf Jesu Tod. Aussagekräftiger ist hingegen die Abendmahlsüberlieferung mit damit verbundenen Einzellogien. Das Abendmahl
Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern muss im Kontext seiner vorhergehenden Mahlpraxis und damit auch seiner Gottesreichverkündigung gesehen werden (s. o. 3.4.5). Die Nähe des Reiches Gottes gewinnt in den Mahlzeiten mit gesellschaftlichen und rituellen Außenseitern konkrete Gestalt, „denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und retten, was verloren ist“ (Lk 19,10). Jesu letztes Mahl, obwohl nur mit den Jüngern gehalten, weist wie Jesu Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern zuvor auf die Gemeinschaftsmahlzeit im Gottesreich voraus, deren gewisses Unterpfand es zugleich ist. Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der eschatologische Ausblick in Mk 14,25: „Amen ich sage euch: ich werde sicherlich 307 Vgl. S. FREYNE, Jesus (s. o. 3.8.1), 165: „Jesus cannot have been unaware of the consequences of his symbolic action for his own future.“ 308 N. T. WRIGHT, Jesus (s. o. 3), 651f, sieht in der durch Jesus proklamierten Verheißung der Rückkehr Jahwes zum Berg Zion das Zentrum des Selbst-
verständnisses Jesu und den Anlass seiner Reise nach Jerusalem einschließlich der Tempelaktion. Dagegen spricht allerdings deutlich, dass Siw´n („Zion“) in der Verkündigung Jesu überhaupt nicht überliefert ist (Siw´n nur in Mt 21,5 und Joh 12,15).
142 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
von dem Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu jenem Tage, wo ich es von neuem trinken werde im Gottesreich.“309 Der eschatologische Ausblick weist voraus auf die Mahlzeit im Gottesreich. Eine Mahlzeit ist in jüdischen Texten verbreitetes Bild für die eschatologische Gemeinschaft in Gottes neuer Welt (vgl. Jes 25,6–12). Durch den eschatologischen Ausblick wird das Abendmahl zum Vorzeichen dieser Herrlichkeitsmahlzeit. Inhaltlich verdeutlicht Mk 14,25 zweierlei: 1) Jesus rechnete wenigstens unmittelbar vor seiner Verhaftung mit seinem Tod und nahm von seinen Jüngern bewusst Abschied. 2) Der Gedanke an seinen Tod führte Jesus keineswegs zu einer Aufgabe seiner Hoffnung auf das Reich Gottes. Der Zeitpunkt seines Kommens bleibt zwar durch das unbestimmte „an jenem Tag“ in der Schwebe, aber die gewisse Hoffnung auf das Kommen der Gottesherrschaft hält sich ungebrochen durch. Mk 14,25 lässt sich darüber hinaus als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt zum letzten Mal, bevor er am Mahl im Reich Gottes teilnimmt. Möglicherweise hofft er aber auch, das Reich Gottes breche so bald herein, dass ihm der Weg durch den Tod erspart bleibt. Historisch sehr wahrscheinlich ist ein letztes Mahl Jesu mit seinen Jüngern unmittelbar vor seiner Verhaftung (vgl. 1Kor 11,23c). Er tat dies wie bei den vorhergehenden Mahlgemeinschaften in der Gewissheit der Gegenwart Gottes und in der Erwartung des Reiches Gottes. Ob dieses Mahl ein Passamahl war, lässt sich nicht mehr ausmachen310. Dagegen spricht: a) Paulus (bzw. seine Tradition) als ältester literarischer Zeuge weiß davon nichts (vgl. das Passa-Motiv in 1Kor 5,7!); b) Mk 14,12 ist offensichtlich sekundär (ebenso Lk 22,15). c) Jesus wurde wahrscheinlich an einem 14. Nisan hingerichtet (vgl. Joh 18,28; 19,14; auch 1Kor 5,7), das Passafest beginnt aber mit dem 15. Nisan. Dafür spricht: Der Ablauf des letzten Mahles kann im Rahmen einer Passafeier verstanden werden (speziell Lukas!). Wahrscheinlich ist anzunehmen: Jesus feierte das letzte Mahl im Zusammenhang mit einem Passafest; zugleich gilt aber, dass der theologische Ertrag dieses historisch nicht zu lösenden Problems gering ist. Das letzte Mahl erhielt seinen besonderen Charakter durch das Bewusstsein Jesu, dass er sterben wird. Jesus verband seinen bevorstehenden Tod offenbar mit der Erwartung, das Reich Gottes werde nun umfassend anbrechen (Mk 14,25). Dieses Sterben konnte von Jesus nicht losgelöst gedacht werden von seiner einzigartigen Gottesbeziehung und seiner ausgeprägten Gottesgewissheit, die sich vor allem in seiner 309 Für den vorösterlichen Ursprung von Mk 14,25
spricht vor allem, dass nicht Jesus und sein Geschick, sondern das Reich Gottes im Mittelpunkt steht; vgl. H. MERKLEIN, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, (157–180) 170–
174, der z.R. Mk 14,25 zum hermeneutischen Schlüssel für die Abendmahlsfrage erklärt. 310 Positiv votiert J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, 25–30; dagegen mit guten Gründen B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (s. o. 3.4.5), 158–161.
Jesu Geschick in Jerusalem: Ende und Anfang 143
Reich-Gottes-Verkündigung und seinen Wundern zeigten. Jesu Hoheitsbewusstsein forderte geradezu eine Deutung des bevorstehenden Geschehens! Diese Deutung konnte nicht in einfacher Kontinuität zu den Mahlfeiern des Irdischen stehen, denn mit dem bevorstehenden Tod stellte sich für Jesus umfassend die Frage nach dem Sinn seiner Sendung. Seiner Person kam dabei eine zentrale Bedeutung zu, da bereits die Gegenwart des Reiches Gottes und die Wunder ursächlich von ihr abhingen (vgl. Lk 11,20). Entsprechend forderte das bevorstehende Geschehen eine Deutung im Hinblick auf die Person Jesu, die nur er selbst geben konnte311. Wahrscheinlich verstand Jesus seinen Tod in Aufnahme von Jes 53 als Selbsthingabe für die ‚Vielen‘ (vgl. Mk 10,45b)312; der Tod steht damit in Kontinuität zum Leben des irdischen Jesus, der ‚für andere‘ eintrat und lebte. Diese Selbsthingabe formuliert Jesus im Verlauf des letzten Mahles gleichnishaft mit Deuteworten (vgl. Mk 14,22.24): tou˜to´ estin to` sw˜ma´ mou („dies ist mein Leib“) und tou˜to´ estin to` aıma´ mou . . . upe`r pollw˜n („dies ist mein Blut . . . für die Vielen“)313. Diese Deuteworte orientieren sich nicht an dem, was eigentlich im Passamahl im Vordergrund stand, und sie gewinnen durch die Gesten eine weitere Dimension: Das gemeinsame Trinken aus dem einen Becher könnte darauf hinweisen, dass Jesus angesichts seines Todes die von ihm gestiftete Gemeinschaft über seinen Tod hinaus fortgesetzt wissen wollte. Jesus feierte somit das letzte Mahl in dem Bewusstsein, mit seinem Tod werde Gottes Reich und damit auch das Gericht hereinbrechen. Er gibt sein Leben, damit die ‚Vielen‘ in diesem Endgeschehen Rettung erlangen werden. Die Erwartung des mit seinem Sterben sich umfassend enthüllenden Reiches Gottes erfüllte sich für Jesus nicht (vgl. Mk 15,34). Gott handelte an ihm durch die Auferweckung von den Toten in unerwarteter Weise, zugleich aber auch in Kontinuität: Jesu Tod ist und bleibt rettendes Geschehen für die ‚Vielen‘. Nachösterlich wurde das letzte Mahl zum Erfüllungs- und Erinnerungszeichen des Gekommenen, durch das sich dieser in der Kraft des Heiligen Geistes als lebendiges und gegenwartsmächtiges Subjekt seines Gedächtnisses, als Stifter eines neuen Bundes und als kommender Herr von Menschheit und Welt erweist. Diese Grundstruktur prägt trotz unterschiedlicher Ausformungen alle Abendmahlsüberlieferungen. 311 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, Jesu Tod im Licht seines Basileia-Verständnisses, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick (s. o. 3), 185–245. 312 Zu Mk 10,45b vgl. J. ROLOFF, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk. X. 45 und Lk. XXII. 27), in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche, Göttingen 1990, 117–143. 313 Eine überzeugende genaue Rekonstruktion der Worte und Gesten beim Abendmahl ist kaum möglich; die scharfsinnigste Analyse der Abendmahlsüberlieferung legte H. MERKLEIN, Erwägungen zur
Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, 158–174, vor; vgl. ferner mit unterschiedlichen Akzentuierungen J. JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, 132–195; H. SCHÜRMANN, Der Einsetzungsbericht Lk 22,19–20; NTA 4, Münster 1955; H. PATSCH, Abendmahl und historischer Jesus, München 1972; B. KOLLMANN, Urspung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (s. o. 3.4.5), 153–189; J. SCHRÖTER, Das Abendmahl, SBS 210, Stuttgart 2006, 25–134.
144 Jesus von Nazareth: Der nahe Gott
Wenn Jesus bewusst nach Jerusalem ging, den Folgen seiner bewussten Provokationen nicht auswich und beim letzten Mahl seinen bevorstehenden Tod deutete, dann ist eine Schlussfolgerung unausweichlich: Jesus hoffte und erwartete, dass mit seinem Auftreten in Jerusalem das Reich Gottes umfassend anbrechen werde. Somit steht sein Ende in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Wirken. Jesu dienende Pro-Existenz 314 für Gott, sein Reich und die Menschen umfasst und charakterisiert gleichermaßen sein Leben und Sterben.
314 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff, in: ders., Jesus. Gestalt
und Geheimnis, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, 286–315.
4.
Die erste Transformation: Die Entstehung der Christologie
W. BOUSSET, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 61967; O. CULLMANN, Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen 51975; E. SCHWEIZER, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, AThANT 28, Zürich 21962; W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden, AThANT 44, Zürich 1963; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen 51995; R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit, SUNT 5, Göttingen 1967; W. POPKES, Christus Traditus, AThANT 49, Zürich 1967; K. WENGST, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, Gütersloh 21973; J. ERNST, Die Anfänge der Christologie, SBS 57, Stuttgart 1972; PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 9–57; K. KERTELGE (Hg.), Der Tod Jesu im Neuen Testament, QD 74, Freiburg 1976; M. HENGEL, Der Sohn Gottes, Tübingen 21977; E. SCHILLEBEECKX, Jesus (s. o. 3), 355–505; M.-L. GUBLER, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu, OBO 15, Freiburg(H)/Göttingen 1977; G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament, BThSt 6, Neukirchen 1982; P. POKORN, Die Entstehung der Christologie, Berlin 1985; G. SCHIMANOWSKI, Weisheit und Messias. Die jüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie, WUNT 2.17, Tübingen 1985; G. STRECKER, Literaturgeschichte des Neuen Testaments, Göttingen 1992; G. BARTH, Der Tod Jesu im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen 1992; M. DE JONGE, Christologie im Kontext, Neukirchen 1995; J. D. G. DUNN, Christology in the Making, Grand Rapids 21996; M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998; DERS., Art. Christologie I, RGG4 2, Tübingen 1999, 273–287; F. J. MATERA, New Testament Christology, Louisville 1999; W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes, BThSt 48, Neukirchen 2002; S. VOLLENWEIDER, Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002; L. W. HURTADO, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003; R. FELDMEIER, Gottes Torheit? Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, in: W.H. Ritter (Hg.), Erlösung ohne Opfer?, Göttingen 2003, 17–55; W. POPKES/R. BRUCKER (Hg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament, BThSt 68, Neukirchen 2004; R. N. LONGENECKER (Hg.), Contours of Christology in the New Testament, Grand Rapids 2005; J. FREY/J. SCHRÖTER (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005; TH. SÖDING, Der Gottessohn aus Nazareth. Das Menschsein Jesu im Neuen Testament, Freiburg 2006; M. HENGEL, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie, in: Denkwürdiges Geheimnis (FS E. Jüngel), hg. v. I. U. Dalferth/J. Fischer/H.-P. Großhans, Tübingen 2005, 144–183.
Die Verkündigung, das Leben und das Geschick des Jesus von Nazareth bilden die Grundlage für die neue Erfahrungs- und Denkwelt der ersten Christen. Mit der Ent-
146 Die Entstehung der Christologie
stehung einer Christologie als begrifflicher und erzählerischer Entfaltung der Heilsbedeutung des Jesus von Nazareth als Messias, Kyrios und Gottessohn vollzieht sich eine erste Transformation. Nicht mehr Jesus selbst verkündigt, sondern er wird verkündigt. Was Jesus einst sagte und wie Jesus nach Kreuz und Auferstehung erfahren und gedacht wird, fließen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus selbst wird zum Gegenstand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses. Wie lässt sich der Übergang von der Verkündigung Jesu zur Verkündigung von/ über Jesus beschreiben? Zwei grundsätzliche Denkmodelle sind möglich: 1) Das Modell der Diskontinuität : A. von Harnack unterschied scharf zwischen dem einfachen Evangelium Jesu, in das allein der Vater gehört, und der maßgeblich von Paulus bestimmten späteren christologischen Entwicklung. „Das Evangelium ist in den Merkmalen, die wir in den Vorlesungen angegeben haben, erschöpft, und nichts Fremdes soll sich eindrängen: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott.“1 Auch R. Bultmann votiert für das Modell der Diskontinuität, wählt aber eine psychologische Erklärung: „Jesus hat mit dem Hereinbrechen der Basileia gerechnet; das ist nicht passiert. Die Urgemeinde hat mit dem Erscheinen des Menschensohnes gerechnet; das ist nicht passiert. Allein die dadurch entstandene Verlegenheit war das agens für die Entwicklung der Christologie und der Grund für den Rückfall in das apokalyptische Zeitverständnis.“2 2) Das Modell der Kontinuität wird von J. Jeremias vertreten, „die vor- und nachösterliche Botschaft gehören unauflöslich zusammen, keine von beiden darf isoliert werden. Sie dürfen aber auch nicht nivelliert werden. Vielmehr verhalten sie sich zueinander wie Ruf und Antwort.“3 Nach L. Goppelt „vertritt Jesus eine Christologie als verhülltes Selbstzeugnis; die Apostel entfalten sie als offenes Bekenntnis und daher als dieses Bekenntnis explizierende Lehre.“4 Umfassend versucht W. Thüsing die Ganzheit ntl. Theologie zu begründen, „weil Jesus auch als der Irdische schon ‚der Sohn‘ ist (wenn er auch erst von Ostern her im Vollsinn als solcher erkannt werden kann), weil die theologische Grundstruktur des ‚Evangeliums‘ also schon deshalb nicht erst von Ostern an besteht; weil die inhaltlichen Strukturen der eschatologisch-theologischen Botschaft des Christentums durch das Jesuanische geprägt sind: Die Ganzheit der ‚nachösterlichen Transformation‘ ist durch die Ganzheit des Jesuanischen (der ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘) vorgeprägt.“5 Für F. Hahn ist die Identität des Irdischen mit dem Auferstandenen „das Fundament für
A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums (s. o. 3.4.5), 89 f. Treffend formulierte auch der französische Kirchenhistoriker A. LOISY, Evangelium und Kirche, München 1904, 112f: „Jesus hatte das Reich angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen.“ Loisy meinte diese Feststellung nicht ironisch oder abwertend, sondern ging davon aus, dass die ursprüngliche Form des Evangeliums nicht erhalten werden konnte; die Kontinuität zum Anfang war 1
nur durch die Diskontinuität (der Kirche) zu erreichen. 2 Protokoll der Tagung „Alter Marburger“ v. 21.– 25.10.1957, 7 (UB Marburg). 3 J. JEREMIAS, Theologie, 295. 4 L. GOPPELT, Theologie, 342. 5 W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien I, 247; zu den ‚jesuanischen Strukturkomponenten‘ vgl. a. a. O., 70 f.
Jesu vorösterlicher Anspruch 147
alle christologischen Aussagen. Jede isolierte theologische Wertung der vorösterlichen Geschichte Jesu widerspricht dem Gesamtzeugnis des Neuen Testamentes.“6 Beide Entwicklungen sind in sich teilweise überlagernder Form möglich: Die nachösterliche Christologie könnte ein wirklich neues Element sein, das keinen oder nur wenig Anhalt am vorösterlichen Jesus hat; sie könnte aber auch eine folgerichtige Fortschreibung des vorösterlichen Anspruchs Jesu unter der veränderten Perspektive der Osterereignisse sein. Zur Klärung dieser Frage müssen die entscheidenden Faktoren für die Ausbildung der frühen Christologie bedacht werden.
4.1.
Jesu vorösterlicher Anspruch
Die vorangegangenen Analysen (s. o. 3) haben gezeigt, dass Jesu Auftreten mit seinen charismatischen, prophetischen, weisheitlichen und messianischen Dimensionen schon unter religionsgeschichtlichen Aspekten als singulär anzusehen ist. Es gibt keine Gestalt der Antike, die einen vergleichbaren Anspruch gestellt und eine vergleichbare Wirkung erzielt hätte wie Jesus von Nazareth 7. Wenn Jesus das Aufrichten der Königsherrschaft Gottes exklusiv an seine Person band, so dass sein Tun als Anbruch der Gottesherrschaft erscheint, dann musste er notwendigerweise in die Nähe Gottes gerückt und mit Gott zusammengedacht werden. Wenn er seine Person zum Kriterium des eschatologischen Gerichtes erhob (Q 12,8fpar), als Wundertäter auftrat und wie Gott Sünden vergab, sich über Mose stellte und mit der Berufung der 12 Jünger die eschatologische Restitution Israels in neuer Form anstrebte, dann ist die eschatologische Qualität des vorösterlichen Jesus der Grund, warum nach Ostern eine explizite Christologie ausgebildet wurde. Jesus erhob bereits vorösterlich einen einzigartigen Anspruch, der durch die Auferstehung nachösterlich verändert, aber zugleich noch verstärkt wurde. Die Entstehung der frühen Christologie liegt aber nicht nur im personalen Anspruch Jesu begründet, sondern auch in seinen Lehrinhalten; es kann von einer wirkungsgeschichtlichen Plausibilität in personaler und sachlicher Hinsicht gesprochen werden. Dafür sprechen die Kontinuitätslinien zwischen dem Handeln bzw. der Verkündigung Jesu und dem frühen Christentum8: 1) Jesus band den Willen Gottes nicht
F. HAHN, Theologie I, 125. Unter religionswissenschaftlicher Perspektive kommen als Vergleichsgestalten nur Pythagoras (ca. 570–480 v.Chr.) und Apollonius von Tyana (gest. um 98 n.Chr.) infrage. Pythagoras war offenbar eine charismatische Gestalt, die auf allen Gebieten der damaligen Wissenschaft zuhause war und der sich niemand entziehen konnte; zum historischen Pythagoras vgl. CHR. RIEDWEG, Pythagoras. Leben – Lehre – 6 7
Nachwirkung, München 2002. Apollonius trat als Wanderphilosoph in der Tradition des Pythagoras und als Wundertäter mit politischem Einfluss auf; um 200 n.Chr. verfasste Philostrat das maßgebliche Werk über Apollonius; vgl. dazu E. KOSKENNIEMI, Apollonios von Tynana in der neutestamentlichen Exegese (s.o. 3.6.1). 8 Vgl. dazu U. LUZ, Das ‚Auseinandergehen der Wege‘. Über die Trennung des Christentums vom
148 Die Entstehung der Christologie
an rituelle Vollzüge, sondern betonte die Ethik der Gottes- und Nächstenliebe. Von hier aus konnte im frühen Christentum eine Liebesethik entwickelt werden, die nicht unmittelbar mit der Tora verbunden war. Jesu Wirken wurde in seiner Gesamtheit als heilsame Regelung gestörter Beziehungen des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander wahrgenommen und interpretiert. 2) Gottes grenzenlose Liebe eröffnet Perspektiven, die über die Erwählung Israels hinausgehen. Obwohl Jesus sich prinzipiell nur an Israel gesandt wusste, ermöglichten seine zeichenhaften Hinwendungen zu Heiden den frühen Christen, ihre Botschaft über Israel hinauszutragen. 3) Jesus erkannte dem Tempel offenbar nur eine geringe Bedeutung zu, so dass für die frühen Christen die lokale Gottesverehrung an einem einzigen Ort keine besondere Rolle spielte. Jesus interpretierte die Grundpfeiler des Judentums seiner Zeit offenbar in einer Weise, die für eine Transformation hin zum Universalismus offen war.
4.2
Die Erscheinungen des Auferstandenen
Die Erscheinungen des Auferstandenen als ein zentraler Teil des Ostergeschehens waren offenbar die Initialzündung für die grundlegende Erkenntnis der frühen Christen: Der schmachvoll am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth ist kein Verbrecher, sondern er ist auferweckt worden von den Toten und gehört bleibend auf die Seite Gottes. Aus der hervorragenden Qualität Jesu vor Ostern wurde so Jesu unüberbietbare Qualität nach Ostern. Ein Vergleich der Ostererzählungen der Evangelien mit 1Kor 15,3b–5 zeigt, dass drei Elemente das Grundgerüst aller Ostererzählungen ausmachen: 1. eine Grabeserzählung (1Kor 15,4: „Und er wurde begraben“); 2. Ein Erscheinungsbericht (1Kor 15,5a: „Und dass er erschienen ist dem Kephas“); 3. Eine Gruppenerscheinung vor Jüngern (1Kor 15,5b–7)9. Wie die Evangelien (vgl. Mk 16,1–8par; Joh 20,1–10.11–15) setzt auch Paulus das leere Grab voraus10. Er erwähnt es nicht ausdrücklich, aber die Logik des Begrabenseins und der Auferstehung Jesu in 1Kor 15,4 (und auch des Mitbegrabenwerdens in Röm 6,4) verweist auf das leere Grab, denn die jüdische Anthropologie geht von einer leiblichen Auferstehung aus11. Hinzu kommt ein grundsätzliches Argument: Die Auferstehungsbotschaft hätte in Jerusalem nicht so erfolgreich verkündigt werden können, wenn der Leichnam Jesu in einem Massengrab oder einem ungeöffneten Privatgrab verblieben wäre 12. Es dürfte weder den Gegnern noch der Anhängerschaft entgangen sein, wo Judentum, in: Antijudaismus – christliche Erblast, hg. v. W. Dietrich/M. George/U. Luz, Stuttgart 1999, 56–73. 9 Zur umfangreichen Literatur zum Ostergeschehen s. u. 6.2.2. 10 Anders R. BULTMANN, Theologie, 48: „Legende sind die Geschichten vom leeren Grab, von denen
Paulus noch nichts weiß.“ 11 Vgl. zuletzt die Argumentation bei M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung, WUNT 135, Tübingen 2001, (119–183) 139 ff. 12 Vgl. P. ALTHAUS, Die Wahrheit des christlichen Os-
Die Erscheinungen des Auferstandenen 149
Jesus beigesetzt wurde13. Der Erfolg der Osterbotschaft in Jerusalem ist gerade historisch ohne ein leeres Grab nicht denkbar. Der Fund eines Gekreuzigten im Nordosten des heutigen Jerusalem aus der Zeit Jesu zeigt14, dass die Leiche eines Hingerichteten an seine Angehörigen oder andere Nahestehende ausgeliefert und von ihnen bestattet werden konnte. Das leere Grab allein bleibt allerdings zweideutig, seine Bedeutung erschließt sich erst von den Erscheinungen des Auferstandenen her15. Ausgangspunkt der Erscheinungsüberlieferungen 16 ist die Protepiphanie Jesu vor Petrus (vgl. 1Kor 15,5a; Lk 24,34), denn sie begründete die hervorgehobene Stellung des Petrus im frühen Christentum17. Das Johannesevangelium geht von einer Ersterscheinung vor Maria Magdalena aus (Joh 20,11–18), erst danach erscheint Jesus den Jüngern (Joh 20,19–23). Bei Markus werden Erscheinungen Jesu in Galiläa angekündigt (Mk 16,7), ohne erzählt oder überliefert zu werden. Bei Matthäus erscheint Jesus zunächst Maria Magdalena und der anderen Maria (vgl. Mt 28,9.10), bei Lukas den Emmausjüngern (Lk 24,13ff). Die Berichte lassen noch erkennen, dass Jesus wahrscheinlich zunächst Petrus und Maria Magdalena bzw. mehreren Frauen erschien. Offensichtlich verfolgen die Erscheinungsberichte keine apologetische Tendenz18, denn obwohl Frauen nach jüdischem Recht nicht voll zeugnisfähig waren, spielen sie in fast allen Erscheinungsberichten der Evangelien eine wichtige Rolle. Jesus ist nach den Erscheinungen vor Einzelpersonen verschiedenen Gruppen von Jüngern erschienen, seien es die Zwölf oder aber mehr als 500 Brüder, von denen 1Kor 15,6 spricht. Auf diese Gruppenerscheinungen folgten wiederum Einzelerscheinungen, so vor Jakobus und Paulus (vgl. 1Kor 15,7.8). Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich die erkennbaren geschichtlichen Daten schnell zusammentragen: Die Jünger waren bei der Inhaftierung Jesu geflohen, wahrscheinlich nach Galiläa. Nur einige Frauen wagten es, der Kreuzigung von ferne zuzusehen und später nach dem Grab zu sehen. Begraben wurde Jesus von Joseph von Arimathäa, der ein Sympathisant Jesu aus vornehmer Jerusalemer Familie war (vgl. Mk 15,43; Joh 19,38). Die ersten Erscheinungen Jesu ereigneten sich in Galiläa (vgl. Mk 16,7; 1Kor 15,6?), möglicherweise gab es auch Erscheinungen in Je-
terglaubens, Gütersloh 1940, 25: „In Jerusalem, am Orte der Hinrichtung und des Grabes Jesu, wird nicht lange nach seinem Tode verkündigt, er sei auferweckt. Dieser Tatbestand fordert, daß man im Kreise der ersten Gemeinde ein zuverlässiges Zeugnis dafür hatte, daß das Grab leer gefunden ist.“ 13 Anders G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu (s. u. 6.2.2), 66, der ohne Begründung behauptet: „Da sich weder die Jünger noch die nächsten Familienangehörigen um Jesu Leichnam gekümmert haben, ist kaum denkbar, daß sie über den Verbleib des Leichnams informiert sein konnten, um später wenigstens seine Knochen zu bestatten.“
c 14 Vgl. H.-W. KUHN, Der Gekreuzigte von Giv at hat-Mivtar. Bilanz einer Entdeckung, in: C. Andresen/G. Klein (Hg.), Theologia Crucis – Signum Crucis (FS E. Dinkler), Tübingen 1979, 303–334. 15 Vgl. I.U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube (s. u. 6.2.2.1), 394 f. Allerdings ist gegen Dalferth daran festzuhalten, dass es auch theologisch nicht gleichgültig ist, ob das Grab leer oder voll ist. 16 Zur Analyse der Texte vgl. U. WILCKENS, Auferstehung, Gütersloh 21977, 15–61. 17 Vgl. H. V. CAMPENHAUSEN, Der Ablauf der Osterereignisse (s. u. 6.2.2.1), 15. 18 Vgl. a. a. O., 41.
150 Die Entstehung der Christologie
rusalem (vgl. Lk 24,34; Joh 20). Wahrscheinlich sammelte Petrus Mitglieder des Zwölferkreises und andere Jünger bzw. Jüngerinnen, denen Jesus dann erschien. Es folgten besondere Einzelerscheinungen (Jakobus, Paulus), mit denen diese besondere Epoche abgeschlossen wurde. Mit den Auferstehungserscheinungen verband sich sehr früh die Überlieferung vom leeren Grab, das in der Nähe seiner Hinrichtungsstätte gelegene Grab wurde so im Licht der Ostererscheinungen zu einem Zeugnis der Auferstehung. Welchen Charakter hatten die Erscheinungen? Theologisch ist bedeutsam, dass sie ein Element der Verkündigung der Auferstehung Jesu sind, d. h. sie können nicht von der einen Basisaussage abgelöst werden: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Religions- und traditionsgeschichtlich handelt es sich um Visionen im Kontext apokalyptischer Vorstellungen, nach denen Gott in der Endzeit wenigen Auserwählten Einblick in sein Handeln gewährt19. Der Realitätsgehalt der Erscheinungen kann aufgrund der spärlichen Überlieferungssituation nicht psychologisch erfasst werden, und auch eine Interpretation der Erscheinungen als rein subjektive Glaubenserfahrungen ist nicht hinreichend20, denn so wird der besondere Status der Erscheinungen als Glaubensgrundlage minimiert. „Andererseits müssen die Visionen von solcher Art gewesen sein, dass sie es ermöglichten bzw. sogar dazu nötigten, sie im Sinne der Aufererweckungsaussage zu deuten.“21 Wie die Auferstehung selbst sind auch die Erscheinungen als ein von Gott kommendes Transzendenzgeschehen zu begreifen, das bei den Jüngern und Jüngerinnen Transzendenzerfahrungen auslöste (s. u. 6.2.2). Transzendenzerfahrungen können in zweifacher Art verarbeitet und rekonstruiert werden: „Erzählungen, in welchen die Erfahrungen von Transzendenz kommunikativ gestaltet und zur Wiedererzählung bereitgestellt werden, und Rituale, in welche solche Erfahrungen kommemoriert werden und mit welchen die transzendente Wirklichkeit beschworen wird.“22 Dies leisten sowohl die Formel- als auch die Erzähltraditionen, in denen notwendigerweise in unterschiedlichen zeitbedingten Formen diese Transzendenzerfahrungen aufgearbeitet und zum intersubjektiven Diskurs in den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Taufe, Herrenmahl und Gottesdienste waren rituelle Orte, an denen die Erfahrungen erneuert und verfestigt wurden.
19 Vgl. U. WILCKENS, Der Ursprung der Überlieferung der Erscheinungen des Auferstandenen, in: P. Hoffmann (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988, 139– 193. 20 Vgl. in diesem Sinn z. B. I. BROER, „Der Herr ist wahrhaft auferstanden“ (Lk 24,34). Auferstehung Jesu und historisch-kritische Methode. Erwägungen
zur Entstehung des Osterglaubens, in: Auferstehung Jesu – Auferstehung der Christen, hg. v. L. Oberlinner, QD 105, Freiburg 1986, 39–62. 21 H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther (s. u. 4.6), 282. 22 TH. LUCKMANN, Religion – Gesellschaft – Transzendenz, in: H.-J. Höhn (Hg.), Krise der Immanenz (s. o. 1.2), 120 f.
Erfahrungen des Geistes 151
Ostern wurde so zur Basisgeschichte der neuen Bewegung23. An den Texten lässt sich ablesen, was die Ereignisse auslöste und welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben wurden. Historisch und theologisch höchst bedeutsam ist die Beobachtung, dass Paulus als authentischer Erscheinungszeuge seine Transzendenzerfahrung sehr restriktiv schildert und auf die entscheidende theologische Erkenntnis hin auslegt: Der Gekreuzigte ist auferstanden! Die Erscheinungen des Auferstandenen als Transzendenzerfahrungen eigener Art begründen die Gewissheit, dass Gott durch seinen schöpferischen Geist (vgl. Röm 1,3b–4a) an Jesus Christus handelte und ihn zur maßgeblichen Gestalt der Endzeit eingesetzt hat.
4.3
Erfahrungen des Geistes
Neben den Erscheinungen des Auferstandenen ist das Wirken des Geistes die zweite Erfahrungsdimension, die auf die Ausbildung der frühen Christologie einwirkte. Während die Erscheinungen streng begrenzt waren, ist das Wirken des Geistes keinen Beschränkungen unterworfen. Religionsgeschichtlich gehören Gott und der Geist schon immer zusammen. Im griechisch-römischen Kulturraum vollzieht sich das Wirken der Gottheiten vor allem nach der Lehre der Stoiker in der Sphäre des Geistes24. Im antiken Judentum ist die Vorstellung von großer Bedeutung, dass in der Endzeit der Geist Gottes ausgegossen wird (vgl. Ez 36,25–29; Jes 32,15–18; Joel 3,1– 5LXX; 1QS 4,18–23 u. ö.). Der Messias wurde als geistbegabte Gestalt vorgestellt und Tempel-/Einwohnungsmetaphorik verbanden sich mit dem Geist25. Im frühen Christentum dürften spontane Geisterfahrungen den Ausgangspunkt der Entwicklung markieren: ‚Gott hat uns den Geist gegeben‘ (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 1,12.14; 2Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5; 11,8). Der Empfang des Geistes ist auch an äußeren Phänomenen erkennbar (vgl. Gal 3,2; Apg 8,18), speziell an wunderbaren Heilungen (1Kor 12,9.28.30), ekstatischer Glossolalie (Apg 2,4.11; 4,31 u. ö.) und prophetischem Reden (vgl. 1Kor 12; 14; Apg 10; 19). In legendenhafter Ausschmückung, im Kern aber historisch sicherlich zuverlässig, beschreibt die Apostelgeschichte das Wirken des Geistes in den frühesten Gemeinden. Der Heilige Geist erscheint als die von Jesus versprochene „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49; Apg 1,5.8), die den Jüngern zu Pfingsten (Apg 2,4) verliehen wird. Der Geist wird allen zuteil, die die Predigt der Apostel annehmen und sich taufen lassen (vgl. Apg 2,38). Nach frühester Überlieferung war schon das Wirken Jesu seit der Taufe durch den Heiligen Geist geprägt (vgl. Mk 1,9–11; Apg 10,37). Es ist der Geist Gottes, der die Auferstehung Jesu bewirkt
23 Vgl. R. V. BENDEMANN, Die Auferstehung von den Toten als ‚basic story‘, GuL 15 (2000), 148–162. 24 Vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2, hg. v. U. Schnelle u. Mitarb. v. M. Labahn/M. Lang, Berlin
2001, 226–234. 25 Vgl. dazu grundlegend F.W. HORN, Das Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 61 ff.
152 Die Entstehung der Christologie
(Röm 1,3b–4a; Röm 6,4; 8,11; 1Petr 3,18; 1Tim 3,16), und nun die neue Seins- und Wirkweise des Auferstandenen bestimmt (2Kor 3,17: „Der Herr aber ist der Geist“; vgl. 1Kor 15,45). Das Wirken des Geistes trennt im Taufgeschehen die Glaubenden von der Macht der Sünde und bestimmt von nun an ihr neues Sein (vgl. 1Kor 12,13; 6,19; Röm 5,5). Paulus als ältester literarischer Zeuge teilt die Auffassung von den wahrnehmbaren Zeichen des eschatologischen Geistempfanges (vgl. z. B. 1Thess 1,5; Gal 3,2–5; 1Kor 12,7ff). Er selbst nimmt Erfahrungen des Geistes für sich in Anspruch (vgl. 1Kor 14,18; 2Kor 12,12) und mahnt die Gemeinden, den Geist nicht zu dämpfen (vgl. 1Thess 5,19). Die ältesten christlichen Aussagen über das Wirken des Geistes Gottes sprechen die Überzeugung aus, dass die jüdische Hoffnung auf das inspirierende und lebenspendende Pneuma für die Endzeit jetzt ihre Erfüllung gefunden hat. Im Wirken des Geistes Gottes erkannten die frühen Christen die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
4.4
Die christologische Lektüre der Schrift
Das Auftreten Jesu in Israel verweist die frühen Christen auf die Schriften Israels. Aus den Schriften nimmt die Christologie ihre Sprache, wie 1Kor 15,3f bezeugt; das Postulat „gemäß den Schriften“ (kata` ta`ß grafa´ß) ist ein grundlegendes theologisches Signal. Die frühen Christen leben in und aus den Schriften Israels. Die Lektüre vollzieht sich allerdings unter veränderten Verstehensbedingungen, denn nun lesen die Judenchristen ihre Schrift (vornehmlich in der Gestalt der Septuaginta26) neu aus der Perspektive des Christusgeschehens. Die Relecture der Schriften vollzieht sich in einer zweifachen Bewegung: Die Schriften werden zum Bezugsrahmen der Christologie und die Christologie gibt den Schriften eine neue Bestimmtheit27. Die christologische Relecture der Schrift führt im frühen Christentum zu verschiedenen Modellen, um die Kontinuität des Verheißungshandelns Gottes in der Geschichte aufzuzeigen. Durch Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth in Kreuz und Auferstehung war für die ersten Christen deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und dem Heilshandeln Gottes mit Israel geben muss. In den Figuren der Typologie (Vorabbildung), der Verheißung und der Erfüllung sowie in den exegetischen Methoden der Allegorese und des Midrasch, in Zitatkombina-
26 Vgl. als Einführung E. WÜRTHWEIN, Der Text des
Alten Testaments, Stuttgart 51988, 58–90; ferner R. HANHART, Die Bedeutung der Septuaginta in neutestamentlicher Zeit, ZThK 81 (1984), 395–416; M. HENGEL/A.M. SCHWEMER (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, WUNT 72,
Tübingen 1994; M. TILLY, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005. 27 Einen Überblick vermittelt ST. MOYISE, The Old Testament in the New. An Introduction, London/ New York 2001.
Die christologische Lektüre der Schrift 153
tionen, Zitatvariationen und Anspielungen sind Modelle zu sehen, um diese grundlegende Überzeugung auszudrücken. In den unbestritten echten Paulusbriefen finden sich 89 Zitate aus dem Alten Testament28, wobei die Verteilung der Zitate über die einzelnen Briefe auffällig ist: Im ältesten (1Thess) und in den beiden jüngsten (Phil, Phil) Briefen fehlen Zitate, hingegen finden sich die meisten Zitate in den Schriften, in denen der Apostel aktuelle Probleme bzw. Konflikte bearbeiten muss (Korintherbriefe, Gal und vor allem Röm!). Theologisch ist für Paulus die Schrift Zeuge des Evangeliums, denn die Verheißungen Gottes (vgl. epaggelı´a in Gal 3 und Röm 4) erfahren im Evangelium von Jesus Christus ihre Bestätigung (vgl. 2Kor 1,20; Röm 15,8). In der Logienquelle finden sich 5 Zitate mit Einleitung, wobei die Konzentration auf die Versuchungsgeschichte auffallend ist (vgl. Q 4,4.8.10f.12; ferner Q 7,27)29. Markus platziert Zitate an zentralen Stellen seines Evangeliums (vgl. Mk 1,2f; 4,12; 11,9; 12,10.36; 14,27); sie bestätigen das Heilsgeschehen, ohne ein zentrales Element der Christologie zu sein30. Auffälligerweise findet sich bei Markus erstmals in einem Nebensatz die Wendung „aber die Schriften sollen erfüllt werden“ (Mk 14,49). Bei Matthäus sind die Erfüllungszitate ein grundlegender Bestandteil der Christologie (vgl. mit jeweils redaktioneller Einführung Mt 1,23; 2,6.15.18.23; 4,15f; 8,17; 12,18–21; (13,14f); 13,35; 21,5; 27,9f; vgl. ferner Mt 26,54.56)31. Sie legen nach dem Deutungsmodell ‚Verheißung – Erfüllung‘ umfassend dar, wie einzelne Begebenheiten aus dem Leben Jesu, seine Taten und Worte sowie die Passion den Schriften entsprechen, sie bejahen und erfüllen. Die Einführungsformeln zeigen Gemeinsamkeiten, es folgt auf den Erfüllungsgedanken der Verweis auf die Schriftstelle, wobei auch der Name des Propheten (Jesaja, Jeremia) genannt werden kann. Das Leitverb plvro´w steht in der Regel im Passiv, um so auf das Handeln Gottes zu verweisen. Dadurch wird das Hauptanliegen matthäischer Christologie zum Ausdruck gebracht: Die Geschichte Jesu ist die Geschichte Gottes. Bei Lukas steht die Vorstellung im Mittelpunkt, dass im Auftreten Jesu die prophetischen Verheißungen der Schrift erfüllt sind (vgl. Lk 1,70; 4,21; 18,31; 24,44; Apg 3,21)32. Auf die Zeit des Gesetzes und der Propheten folgt die gegenwärtige Verkündigung des Reiches Gottes (Lk 16,16). Die Zeit des Heils im Auftreten Jesus setzt sich fort in der universalen Evangeliumsverkündigung der Kirche (vgl. Apg 10,34f). Ei-
28 Vgl. D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, BHTh 69, Tübingen 1986, 21–23; zu den einzelnen Zitaten vgl. neben D.-A. Koch bes. H. HÜBNER u. Mitarb. v. A. LABAHN/M. LABAHN, Vetus Testamentum in Novo II: Corpus Paulinum, Göttingen 1995. 29 Vgl. hier D.C. ALLISON, The Intertextual Jesus. Scripture in Q, Harrisburg (PA) 2000. 30 Zu Markus vgl. ST. MOYISE, The Old Testament in the New, 21–33; J. MARCUS, Way of the Lord, Lon-
don/Edinburgh 2005. 31 Vgl. zur Analyse bes. G. STRECKER, Weg der Ge-
rechtigkeit (s. u. 8.3), 49–84; W. ROTHFUCHS, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums, BWANT 88, Stuttgart 1969, U. LUZ, Mt I (s. u. 8.3), 189–199. Zum Schriftgebrauch des Mt insgesamt vgl. M.J.J. MENKEN, Matthew‘s Bible. The Old Testament Text of the Evangelist, BEThL 173, Leuven 2004. 32 Vgl. hier ST. MOYISE, The Old Testament in the New, 45–62.
154 Die Entstehung der Christologie
nen Schritt weiter geht Johannes, bei dem Jesus zum verborgenen Subjekt der Schrift wird (Joh 5,46: „Denn wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr auch mir glauben, denn über mich hat jener geschrieben“). Identifizier- und abgrenzbare Zitate aus dem Alten Testament33 finden sich in Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13.15.27.38.40; 13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13; 6,45; 7,18.38.42; 17,12. Auffällig sind die unterschiedlichen Einleitungsformeln in den beiden Hauptteilen des Evangeliums. Während sich im ersten Teil des Evangeliums fünfmal das Partizip gegramme´non in Verbindung mit estı´n (vgl. Joh 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,14) findet, sprechen die neuen Einleitungsformeln im zweiten Hauptteil des Evangeliums (ab Joh 12,38) ausdrücklich von der Erfüllung des Gotteswillens in der Passion Jesu Christi. Die Schriften verweisen hier nicht nur auf Jesus, sondern Christus bezeugt sich selbst in ihnen. Damit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel vollzogen, die Christologie empfängt nicht nur Impulse aus den Schriften, sondern prägt diese inhaltlich. Im Rahmen der temporären und sachlichen Priorität des Christusgeschehens weist Johannes der Schrift einen außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft sie die wahre Erkenntnis des Gottessohnes. Einige Einzeltexte nehmen in der frühchristlichen AT-Rezeption eine besondere Stellung ein. Paulus setzt mit Gen 15,6 und Hab 2,4b faktisch alle anderen Texte des Alten Testaments außer Kraft. Bei der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4bLXX in Gal 3,11 und Röm 1,17 bindet der Apostel die Treue Gottes nicht an den aus der Tora lebenden Gerechten, sondern an den Glauben an Jesus Christus als Rechtfertigungsgeschehen. Der chronologische Abstand zwischen Gen 15,6 und Gen 17 hat bei Paulus theologische Qualität. Gilt die Beschneidung aus jüdischer Sicht als umfassender Treueerweis Abrahams gegenüber den Geboten Gottes, so trennt Paulus die Beschneidung von der Glaubensgerechtigkeit. Die Glaubensgerechtigkeit ging der Beschneidung voran, so dass die Beschneidung lediglich als eine nachträgliche Anerkennung und Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit verstanden werden kann. Eine Schlüsselstellung nahm Ps 110,1LXX bei der Herausbildung der frühen Christologie ein34: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich dir
33 Vgl. dazu G. REIM, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, MSSNTS 22, Cambridge 1974; B. G. SCHUCHARD, Scripture within Scripture, SBL.DS 133, Atlanta 1992; A. OBERMANN, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium, WUNT 2.83, Tübingen 1996; W. KRAUS, Johannes und das Alte Testament, ZNW 88 (1997), 1–23; H. HÜBNER u. Mitarb. v. A. LABAHN/M. LABAHN, Vetus Testamentum in Novo
I.2: Evangelium Johannis, Göttingen 2003; M. LAJesus und die Autorität der Schrift, in: M. Labahn/K. Scholtissek/A. Strotmann (Hg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 185–206. 34 Vgl. M. HENGEL, Psalm 110 und die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/ H. Paulsen, Göttingen 1991, 43–74. Zur Rezeption BAHN,
Religionsgeschichtliche Kontexte 155
deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ Hier fanden die frühen Christen den maßgeblichen Schriftbeleg für Jesu himmlische Würde und Funktion: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus (vgl. 1Kor 15,25; Röm 8,34; Mk 12,36; 14,62; Mt 22,44; 26,64; Lk 20,42; 22,69; Apg 2,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12). In diesem Kontext übertrugen die ersten Christen schon sehr früh die für Gott geläufige Anrede ‚Herr‘ auf Jesus (vgl. die Aufnahme von Joel 3,5LXX in Röm 10,12f; ferner 1Kor 1,31; 2,16; 10,26; 2Kor 10,17) und brachten damit seine einzigartige Autorität in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck35. Bei der Ausformung der Sohnes-Christologie (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a; Mk 1,11; 9,7) dürfte Ps 2,7 („Kundtun will ich den Beschluss des Herrn; er sprach zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“; vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) eine zentrale Bedeutung eingenommen haben. Als intertextuelles Phänomen leistet die christologische Relecture der Schrift zweierlei: Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zugleich die eigene theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigengewicht der Schrift, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwählung) werden neu bedacht und der Schrifttext in einen produktiven intertextuellen Interpretationsprozess hineingenommen.
4.5
Religionsgeschichtliche Kontexte
Die Entwicklung der frühen Christologie vollzog sich in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen, die wichtige Verstehenskategorien lieferten: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Erhalter der Welt. Traditionen des antiken Judentums36 ermöglichten es auch, am Monotheismus festzuhalten, zugleich aber Jesus von Nazareth als Cristo´ß, ku´rioß und uıo`ß tou˜ heou˜ zu bezeichnen. Für das frühe Christentum war es ein naheliegender Vorgang, vornehmlich in der jüdischen Tradition verankerte Hoheitstitel (s. o. 3.9/s. u. 4.6) auf Jesus zu übertragen. Nach jüdischer Vorstellung gibt es nur einen Gott, aber er ist nicht allein. Zahlreiche himmlische Mittlergestalten wie die Weisheit (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), der Logos oder die Namen Gottes haben ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott37. Biblische Patriarchen wie Heder Psalmen vgl. insgesamt St. MOYISE/M. J. J. MENKEN (Hg.), The Psalms in the New Testament, London/ New York 2004. 35 Vgl. dazu M. DE JONGE, Christologie im Kontext (s. o. 4), 177 f. 36 Vgl. dazu L. W. HURTADO, One God, One Lord, Edinburgh 21998, 17–92; W. HORBURY, Jewish Messianism and Early Christology, in: R. Longenecker
(Hg.), Contours of Christology (s. o. 4), (3–24) 23, stellt heraus, „that early Christian conceptions of a crucified but spiritual and glorious Messiah are best interpreted by Jewish representations of the Messiah as a glorious king embodying a superhuman spirit.“ 37 Vgl. exemplarisch Sap 9,9–11; Philo, Conf 146 f. Zur Analyse der frühen Weisheitstraditionen im Neuen Testament vgl. H. V. LIPS, Weisheitliche Tradi-
156 Die Entstehung der Christologie
noch (vgl. Gen 5,18–24)38 oder Mose und Erzengel wie Michael39 umgeben Gott und wirken nun in seinem Auftrag. Sie bezeugen die Weltzugewandtheit Gottes, zeigen, dass Gottes Macht überall präsent ist und alles seiner Kontrolle unterliegt. Als Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in keiner Form den Glauben an den einen Gott. Als geschaffene und untergebene Kräfte traten sie in keine Konkurrenz zu Gott, als göttliche Attribute beschreiben sie in der Sprache menschlicher Hierarchie die Aktivitäten Gottes für die Welt und in der Welt. Zugleich sind aber gravierende Unterschiede offenkundig40: 1) Die personifizierten göttlichen Attribute waren keine gleichwertigen Personen mit eigenständigen Handlungsfeldern. 2) Sie wurden nicht kultisch verehrt. 3) Innerhalb der Vielfalt jüdischer Vorstellungen war es undenkbar, dass ein gerade schmachvoll Verstorbener in gottgleicher Art verehrt wurde. Das Judentum bildet auch bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten den religionsgeschichtlichen Rahmen und Hintergrund, hier formte sich diese Vorstellung im Rahmen der Apokalyptik im 3./2. Jh. v.Chr. aus41. Der einzig unbestrittene Auferstehungstext im AT ist Dan 12,2f: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ Als zweiter zentraler Text ist Jes 26,19 zu nennen: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird wachen und jubeln. Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus.“ Die in beiden Texten vorausgesetzte Auferstehungshoffnung hat eine Vorgeschichte im AT, zu verweisen ist auf Jes 26 und Ez 37,1–14. Im 2./1. Jh. v.Chr. bezeugen zahlreiche Texte die Auferstehungshoffnung: SapSal 3,1–8; äthHen 46,6; 48,9f; 51,1; 91,10; 93,3f; 104,2; PsSal 3,10–12; LAB 19,12f; 2Makk 7,9; TestBen 10,6–10. Von besonderer Bedeutung ist, dass es auch bei den Essenern den Glauben an eine Auferwe-
tionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukirchen 1990, 267–280 (er betont zutreffend, dass von einer expliziten ‚Weisheitschristologie‘ nicht gesprochen werden kann); zu den Bezügen zur Weisheit in der Christologie der Logienquelle s. u. 8.1.2. 38 Als Text vgl. z. B. äthHen 61. 39 Vgl. z. B. Dan 10,13–21; äthHen 20,5; 71,3; 90,21. Zur möglichen Bedeutung von Engelvorstellungen für die Entstehung der frühen Christologie vgl. CHR. ROWLAND, The Open Heaven, London 1982; J. E. FOSSUM, The Name of God and the Angel of the Lord, WUNT 36, Tübingen 1985; L. T. STUCKENBRUCK, Angel Veneration and Christology, WUNT 2.70, Tübingen 1995. S. VOLLENWEIDER, Zwischen Monotheismus und Engelchristologie, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen
2002, 3–27, sieht zwar deutlich die Grenzen einer angelologischen Interpretation (entlegene Einzeltexte bilden den Ausgangspunkt umfangreicher Konstruktionen, gewagte traditionsgeschichtliche Entwicklungslinien werden postuliert, Ausblendung der Sophia- und Logosvorstellung, im Neuen Testament werden Engelvorstellungen nur partiell und minimiert aufgenommen), will aber trotzdem die Angelologie als „praeparatio christologica“ verstehen. Er nennt fünf Bereiche, in denen eine Übertragung von Attributen Gottes auf Jesus Christus erfolgte: Name/ Titel, Schöpfung, Weltherrschaft, Heil, Verehrung. 40 Vgl. L. W. Hurtado, One God, One Lord, 93–124. 41 Vgl. dazu O. SCHWANKL, Die Sadduzäerfrage (s. o. 3.8.1), 173–274.
Religionsgeschichtliche Kontexte 157
ckung der Toten gegeben hat. In 4Q521 2 II,12 wird von Gott lobpreisend gesagt: „Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden . . .“ In der gleichen Handschrift findet sich in Fr. 7,6 folgender Text: „. . . der lebendig macht die Toten seines Volkes“42.
Auch genuin griechisch-hellenistische Vorstellungen dürften die Entstehung der frühen Christologie mit beeinflusst und ihre Rezeption erleichtert haben. Die Menschwerdung Gottes und die Gottwerdung eines Menschen ist keine jüdische, sondern eine griechische Vorstellung. Die Inkarnation von Göttern bzw. gottähnlichen Wesen (und die Vergöttlichung eines Menschen) als eine genuin griechische Anschauung verweist auf kulturgeschichtliche Vorgaben, die bei der Ausbildung43 und der Rezeption44 der frühen Christologie eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Ein anthropomorpher Polytheismus ist geradezu das Kennzeichen der griechischen Religion45 (klassisch Eur, Alc 1159: „Viele Gestalten kennt das Göttliche“ = pollai` morfai` tw˜n daimonı´wn). Göttliche Wesen in Menschengestalt stehen bereits im Zentrum des klassischen griechischen Denkens; Homer berichtet: „Durchwandern die Götter doch, Fremdlingen gleichend, die von weit her sind, in mancherlei Gestalt die Städte . . .“.46 Die Entstehung der Kultur wird auf das Eingreifen der Götter zurückgeführt, so schickt Zeus den Hermes, um die Menschen Recht und Scham zu lehren47; Hermes, 42 Übersetzung nach J. ZIMMERMANN, Messianische
Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 345.372. 43 Dies betont zu Recht D. ZELLER, Die Menschwerdung des Sohnes Gottes im Neuen Testament und die antike Religionsgeschichte, in: ders., Menschwerdung Gottes – Vergöttlichung des Menschen, NTOA 7, Fribourg/Göttingen 1988, 141–176. M. HENGEL, Der Sohn Gottes (s. o. 4), 65, baut in seiner Auseinandersetzung mit der religionsgeschichtlichen Schule und R. Bultmann falsche Alternativen auf, wenn er zu den griechischen Göttervorstellungen feststellt: „Dem Geheimnis der Entstehung der Christologie kommen wir mit alledem kaum näher.“ Es geht um die kulturellen Kontexte, in denen die frühen christologischen Aussagen entstehen und rezipiert werden konnten; dazu gehört auch der griechisch-hellenistische Bereich. 44 Die klassische traditionsgeschichtliche Fragestellung muss um rezeptionsgeschichtliche Aspekte erweitert werden; vgl. D. ZELLER, New Testament Christology in its Hellenistic Reception, NTS 46 (2001), (312–333), 332 f. 45 Vgl. W. BURKERT, Art. Griechische Religion, TRE 14, Berlin 1985, (235–252) 238 ff. Die Gründungslegende der griechischen Religion überliefert Herodot II 53,2: „Hesiod und Homer haben den Stammbaum der Götter in Griechenland geschaffen und ihnen ih-
re Beinamen gegeben, die Ämter und Ehren unter sie verteilt und ihre Gestalt geprägt.“ Zugleich findet sich aber in der Kritik der Anthropomorphismen der homerischen Götterwelt schon früh der Gedanke, dass es eigentlich nur ‚einen‘ Gott unter den Göttern geben könne; vgl. Xenophanes (ca. 570–475 v.Chr.) Fr. B 23: „Ein einziger Gott ist unter den Göttern und Menschen der Größte“ (eıß heo`ß en te heoı˜si kai` anhrw´poisi me´gistoß). 46 Hom, Od 17,485f (= NEUER WETTSTEIN II/2, hg. v. G. STRECKER/U. SCHNELLE u. Mitarb. v. G. SEELIG, Berlin 1996, 1232); Hom, Il 2,167–172; 5.121–132; 15.236– 238; vgl. ferner Hom, Od 7,199–210 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 55); Eur, Ba 1–4.43–54 (= NEUER WETTSTEIN II/1, hg. v. G. STRECKER/U. SCHNELLE u. Mitarb. v. G. SEELIG, Berlin 1996, 672f); Plat, Soph 216ab (= NEUER WETTSTEIN II/2, 1232); Diod S I 12,9–10 (= NEUER WETTSTEIN II/2, 1232f); Dio Chry, Or 30,27: „Solange nun das Leben noch neu gegründet war, besuchten uns die Götter in eigener Person und sandten aus eigener Mitte Führer, eine Art Statthalter, die sich um uns kümmern sollten, zum Beispiel Herakles, Dionysos, Perseus und all die anderen, die, wie man erzählt, als Söhne oder Nachfahren von Göttern unter uns weilten.“ 47 Vgl. Plat, Prot 322c-d (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 56).
158 Die Entstehung der Christologie
Herakles und Apollo nehmen als Boten der Götter Menschengestalt an bzw. wirken als Götter unter den Menschen48. Götter in Menschengestalt können sowohl einen irdischen als auch einen ewigen Ursprung haben; Plutarch weiß über die Herkunft des Apollo zu berichten: „. . . denn die uralte Sage versetzt Apollo nicht unter diejenigen Götter, die einen irdischen Ursprung haben und erst durch Verwandlung zur Unsterblichkeit gelangt sind, wie Herakles und Dionysos, welche ihrer Verdienste wegen das Sterbliche und dem Leiden Unterworfene ablegten, sondern Apollo ist einer der ewigen, nicht geborenen Götter.“49 Herakles vernichtete als Sohn Gottes und Retter in Gehorsam gegenüber Zeus Unrecht und Gesetzlosigkeit auf der Erde; wegen seiner Tugend (aretv´) verlieh ihm Zeus die Unsterblichkeit50. Mythische Gestalten des Anfangs wie Pythagoras oder berühmte Wundertäter wie Apollonius von Tyana51 erschienen als Götter in Menschengestalt, die ihre Macht zum Wohl der Menschen einsetzten. Empedokles reiste als unsterblicher Gott umher, beglückte und heilte die Menschen52. Der Heroenkult setzte sich im Herrscherkult fort, der schließlich in den römischen Kaiserkult überging53; in den großen Kulturleistungen und Siegen der Geschichte offenbaren sich Gottheiten in Menschengestalt54. Aufschlussreich sind Überlegungen Plutarchs zum Wesen der zahlreichen wirklichen oder angeblichen Götter: „Aus diesem Grunde tut man wohl am besten, wenn man alles, was von Typhon, Osiris und Isis erzählt wird, nicht für Begebenheiten einiger Götter oder Menschen, sondern gewisser großer Geister (daimo´nwn mega´lwn) hält, welche,
48 Vgl. nur Apg 14,11b–12, wo nach der Wundertat des Paulus in Lystra die Menge ruft: „Die Götter sind in Menschengestalt zu uns herabgestiegen. Und sie nannten den Barnabas Zeus, den Paulus aber Hermes, weil er der Wortführer war.“ 49 Plut, Pelop 16 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 57 f.). 50 Vgl. Isoc, Or 1,50; Epict, Diss II 16,44; Ench 15 (Diogenes und Herakles sind wegen ihres vorbildhaften Charakters Mitregenten der Götter „und heißen darum mit Recht göttlich“); Diod S IV 15,1; Dio Chrys, Or 1,84, wo über Herakles, den Sohn des Zeus, berichtet wird, dass er der Tyrannei ein Ende bereitet habe und jede gerechte Königsherrschaft schütze: „Und deshalb ist er der Retter der Welt und der Menschheit“ (kai` dia` tou˜to tv˜ß gv˜ß kai` tw˜n anhrw´pwn swtv˜ra eınai). Bemerkenswert aus den unzähligen Herakles-Traditionen ist ferner Dio Chrys, Or 8,28, wo es über Herakles und seine qualvollen Kämpfe heißt: „Jetzt aber, nach seinem Tode, verehren sie ihn mehr als alle anderen, halten ihn für einen Gott und sagen, er wohne mit Hebe zusammen. Zu ihm beten sie alle, ihr Leben möge nicht so qualvoll sein – zu ihm, der die größten Qua-
len ertrug.“ 51 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 59. 52 Vgl. Diog L 8,62: „Als ein unsterblicher Gott reise ich umher, nicht mehr sterblich, bei allem, wie es sich in meinem Fall gehört, mit Ehren ausgezeichnet, mit Binden umflochten und blühenden Kränzen. Von allen, deren blühende Städte ich besuche, von Männern wie von Frauen, werde ich verehrt. Und sie folgen mir zu Zehntausenden und fragen, wohin zum Gewinn der Pfad führe. Weissagungen verlangen die einen von mir, die anderen erbitten Auskunft bei Krankheiten aller Art, um ein heilbringendes Wort zu erfahren; werden sie doch schon lange von bohrenden Schmerzen gequält“ (zitiert nach J. MANSFELD [Hg.], Die Vorsokratiker II, Stuttgart 1986, 141). 53 Vgl. dazu H. FUNKE, Art. Götterbild, RAC 11, Stuttgart 1981, 659–828. Der ideale Herrscher glaubt „nicht nur an Götter, sondern auch an gute Zwischenwesen (daı´monaß) und Heroen (vÇrwaß); das sind die Seelen tüchtiger Männer, die die sterbliche Natur abgestreift haben“ (Dio Chrys, Or 3,54). 54 Vgl. W. BURKERT, Art. Griechische Religion, 247 f.
Religionsgeschichtliche Kontexte 159
wie auch Plato, Pythagoras, Xenokrates und Chrysipp mit den alten Theologen übereinstimmend behaupten, zwar stärker sind als Menschen und von Natur aus eine größere Macht besitzen als wir, aber auf der anderen Seite auch nicht eine ganz reine und unvermischte Gottheit, sondern so wie wir eine Seele und einen Körper haben, die Vergnügen und Schmerz empfinden können . . . Und Plato nennt diese Art von Dämonen Dolmetscher und Mittelpersonen zwischen den Göttern und Menschen (oÇ te Pla´twn ermvneutiko`n to` toiou˜ton onoma´zei ge´noß kai` diakoniko`n en me´sw hew˜n kai` anhrw´pwn), die die Wünsche und Gebete der Sterblichen vor die Gottheit tragen und von da Prophezeiungen und gute Gaben zurückbringen“ (Is et Os 361). Im Kontext eines sich ausbreitenden (paganen) Monotheismus bestimmt Plutarch Mittlerwesen, die den Kontakt zu den wahren Gottheiten halten und eine für die Menschen unabdingbare Funktion wahrnehmen55.
Die Vorstellung eines sowohl göttlichen als auch menschlichen Mittlerwesens56 war gerade für Griechen und Römer auf ihrem eigenen kulturellen Hintergrund rezipierbar57. Für Juden hingegen war der Gedanke unerträglich, dass Menschen wie der römische Kaiser Caligula sich anmaßten, als Götter zu gelten und verehrt zu werden58. Hier setzt die frühe Christologie sowohl gegenüber dem jüdischen als auch gegenüber dem griechisch-römischen Denken eigene Akzente, denn die Gottessohnschaft eines Gekreuzigten blieb in beiden Bereichen ein fremdartiger und anstößiger Gedanke (vgl. 1Kor 1,23). Die Herausbildung der frühen Christologie vollzog sich nicht in räumlich oder zeitlich abgrenzbaren Stufen, sondern innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums traten die verschiedenen christologischen Anschauungen nebeneinander und zum Teil miteinander 55 Vgl. ferner Plut, Is et Os 361: „Darauf wurden denn beide, Isis sowohl als Osiris, um ihrer Tugend willen aus der Zahl der guten Dämonen unter die Götter versetzt (ek daimo´nwn agahw˜n diL aretv˜ß eiß heou`ß metalabo´nteß), ebenso, wie nachmals Bacchus und Herkules; und nun werden sie mit Recht zugleich als Götter und Dämonen (aÇma kai` hew˜n kai` daimo´nwn) verehrt, da sie überall, vorzüglich aber auf und unter der Erde, eine große Macht besitzen.“ Zu den Gottes-/Göttervorstellungen bei Plutarch vgl. R. HIRSCH-LUIPOLD (Hg.), Gott und die Götter bei Plutarch, Berlin 2005. 56 Bei Sen, Herc F 447–50, heißt es über die umstrittene Herkunft des Herkules: „Lycus: Warum kränkst du Jupiter? Das sterbliche Geschlecht kann mit dem Himmel sich nicht vermählen. Amphityron: Gemeinsam ist dieser Ursprung mehreren Göttern“; Herkules/Herakles wird z. B. in Dio Chrys, Or 2,78; 66,23 als uıo`ß tou˜ Dio´ß („Sohn des Zeus“), in Or 31,16; 69,1 als vmı´heoß („Halbgott“), in Or 33,1 als
vÇrwß („Heros“) bezeichnet und in Or 33,45 unter die Götter gerechnet; vgl. ferner Or 33,47 (Herakles als Ahnherr von Tarsus). Herakles ist bei Dion von Prusa der Prototyp des Kynikers und des gerechten Herrschers; die zahlreichen Herakles-Traditionen in seinem Werk zeigen, wie selbstverständlich und verbreitet die Verehrung dieser Gestalt im 1. Jh. n.Chr. war. 57 Es geht dabei nicht um Ursachen oder Abhängigkeiten, sondern um Rezeptions- und Verstehenshorizonte! Umso unverständlicher ist es, dass L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), auf den gesamten griechisch-hellenistischen Bereich faktisch nicht eingeht. Auch Vertreter der sog. ‚new perspective‘ wie J. D. G. DUNN, The Theology of Paul (s. u. 6) oder N. T. WRIGHT, PAUL (s. u. 6) übergehen diesen gerade auch für Paulus zentralen Bereich einfach. 58 Vgl. Philo, Leg Gai 118 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 54f).
160 Die Entstehung der Christologie
verbunden auf. Es setzte ein theologischer Durchdringungs- und Versprachlichungsprozess ein, der die Identität Jesu als Irdischer und Auferweckter in seinem Verhältnis zu Gott näher zu bestimmen suchte. Sehr schnell wurden mit den verschiedenen Hoheitstiteln zentrale Kategorien antiken Denkens auf Jesus übertragen, um ihn als Ort und Medium der Selbstoffenbarung Gottes zu definieren. Es gab keine Entwicklung von einer ‚niedrigen‘ judenchristlichen Christologie hin zu einer hellenistisch synkretistischen ‚hohen‘ Christologie59. Vielmehr bot das hellenistische Judentum von Anfang an zentrale Vorstellungshilfen an, die bei der frühchristlichen Neufüllung von Mittlerwesen und Titeln von Bedeutung waren. Die zentralen christologischen Titel und die Vorstellung eines Mittlers zwischen Gott und Mensch waren zudem für eine eigenständige hellenistische Rezeption offen. Alle wesentlichen mit den Hoheitstiteln verbundenen christologischen Aussagen über Jesus bildeten sich schon geraume Zeit vor Paulus und wurden von ihm mit Traditionen aufgegriffen: Der auferweckte Jesus ist der Sohn Gottes (1Thess 1,10; Gal 1,16; Röm 1,4), ihm wurde der Name Gottes verliehen (Phil 2,9f). Er ist Gott gleich bzw. das Abbild Gottes (Phil 2,6; 2Kor 4,4) und Träger der Herrlichkeit Gottes (2Kor 4,6; Phil 3,21). Als präexistentes Wesen war er am göttlichen Schöpfungshandeln beteiligt (Phil 2,6; 1Kor 8,6), ihm gelten nun Wendungen und Zitate, die eigentlich auf Gott bezogen sind (vgl. 1Kor 1,31; 2,16; Röm 10,13). Sein Platz ist im Himmel (1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20) zur Rechten Gottes (Röm 8,24), von dort aus herrscht er über das All (1Kor 15,27; Phil 3,21) und über die himmlischen Mächte (Phil 2,10). Von Gott gesandt, wirkt er gegenwärtig in der Gemeinde (Gal 4,4f; Röm 8,3), er ist der göttliche Bevollmächtigte bei dem mit seiner Parusie einsetzenden eschatologischen Gericht (1Thess 1,10; 1Kor 16,22; 2Kor 5,10). Diese Anschauungen lassen sich weder systematisieren noch auf ein geschlossenes Milieu zurückführen. Vielmehr ist zu vermuten, dass frühchristliche Gemeinden an verschiedenen Orten Urheber und Tradenten dieser Vorstellungen waren, denn es gab eine vielfältige Jesusrezeption im frühen Christentum. Die Verehrung Jesu neben Gott entstand aus den überwältigenden religiösen Erfahrungen der frühen Christen, wobei insbesondere die Erscheinungen des Auferstandenen und das gegenwärtige Wirken des Geistes zu nennen sind. Als ein weiterer wesentlicher Faktor innerhalb dieses Prozesses muss die Gottesdienstpraxis der frühen Gemeinden gelten. 1Kor 16,22 (‚Maranatha‘ = „unser Herr, komm!“) zeigt, dass die einzigartige Stellung und Bedeutung des erhöhten Christus von Anfang an die Gottesdienste bestimmte (vgl. auch 1Kor 12,3; 2Kor 12,8)60. Er ermöglichte den neuen Zugang zu 59 Von dieser Differenzierung sind die Arbeiten von W. KRAMER (Christos Kyrios Gottessohn [s. o. 4]) und F. Hahn tendenziell bestimmt; vgl. aber die vorsichtige Selbstkorrektur bei F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s. o. 4), 446–448. 60 Zur Bedeutung der gottesdienstlichen Praxis für die Herausbildung der frühen Christologie vgl.
W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 158–167; M. HENGEL, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie (s. o. 4), 154: „Bereits in der aramäischsprechenden Urgemeinde bringen die Akklamationen Abba und Maranatha elementare Gewissheiten zum Ausdruck.“
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 161
Gott, der im geistgewirkten Gebetsruf abba´ (‚Abba‘ = „Vater“: Gal 4,6; Röm 8,15; Mk 14,36) im Gottesdienst bekannt wird. In der liturgischen Praxis galt: „Rühmet Gott und den Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (Röm 15,6). Taufe, Herrenmahl und Akklamationen stehen in exklusiver Beziehung zum Namen Jesu, wobei die Vielfalt der Anschauungen auf die ihnen zugrunde liegende neuartige und umstürzende religiöse Erfahrung verweist. Neben die theologische Reflexion trat somit die gottesdienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu als ein weiterer Haftpunkt für die Herausbildung, Entfaltung und Verbreitung christologischer Vorstellungen.
4.6
Die Sprache und Gestalt der frühen Christologie: Mythos, Titel, Formeln und Traditionen
Das Wirken, das Geschick und das Weiter-Wirken Jesu Christi führte die Christusgläubigen zu der Einsicht, dass in ihm Gott selbst handelte und gegenwärtig bleibt. Mythos
Dies war nur in der Form des Mythos aussagbar (o mu˜hoß = Rede, Erzählung von Gott bzw. den Göttern), denn hier musste die Geschichte geöffnet werden für etwas, was rein geschichtlich nicht mehr darstellbar ist: Gott wurde Mensch in Jesus von Nazareth. Diese Verflechtung der göttlichen Welt mit der menschlichen Geschichte kann nur in der Form des Mythos formuliert und rezipiert werden. Der Mythos ist ein kulturelles Deutungssystem, das auf Sinngebung von Welt, Geschichte und Menschenleben zielt, zur Identitätsbildung führt und eine handlungsleitende Funktion gewinnt61. Medial werden Mythen zumeist als Erzählung präsentiert; sie erläutern in narrativer Form das, was Welt und Leben grundlegend bestimmt und stellen dabei die Symbole bereit, die für jede Aneignung unentbehrlich sind. Der Mythos öffnet das durch göttliches Wirken gewordene Seiende dem Verstehen und formuliert die verpflichtenden Implikationen für das Selbst- und Weltverständnis einer Gruppe. Der Mythos besitzt eine eigene Rationalität, die kategorial, nicht aber qualitativ von der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Rationalität unterschieden ist. Auch das naturwissenschaftliche Weltbild beruht auf axiomatischen Basissätzen, die die allgemeine Art und Weise definieren, mit der die Wirklichkeit betrachtet wird. Sie stellen den Rahmen dar, in dem sich alles wissenschaftliche Behaupten und Konstruieren vollzieht; sie sind das Bezugssystem, in dem alles gedeutet und verarbeit wird; sie bestimmen die Fragen, die man an das Wirkliche stellt und somit auch die Antworten, die gegeben werden. „Die von der Wissenschaft erfasste Wirklichkeit ist demnach nicht die Wirk61 Zum Mythosbegriff vgl. R. BARTHES, Mythen des Alltags, Frankfurt 232003 (= 1957); L. KOLAKOWSKI, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973;
K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, München 1985; G. SELLIN, Art. Mythos, RGG4 5, Tübingen 2002, 1697–1699.
162 Die Entstehung der Christologie
lichkeit an sich, sondern sie ist stets eine auf bestimmte Weise gedeutete. Die Antworten, die sie uns gibt, hängen von unseren Fragen ab.“62 Auch der Mythos leistet Welterklärung, nur auf andere Art und Weise als das neuzeitliche naturwissenschaftliche Denken. Der Mythos ist ein Erfahrungssystem, ein Mittel von Erklärung und Ordnung. „Er erklärt allerdings nicht mit Hilfe von Naturgesetzen und geschichtlichen Regeln, sondern durch Archai, mögen sich diese nun auf den Bereich der Natur oder des Menschen beziehen.“63 Deshalb ist der Mythos nichts Defizitäres oder Unvernünftiges, das ‚entmythologisiert‘ und damit überwunden werden muss64. Vielmehr ist er ein unaufgebbares Element jeder Weltdeutung und damit auch des Glaubens, durch den menschliche Geschichte transparent wird für göttliches Handeln. Der Mythos erlaubt es, verschiedene Wirklichkeiten in Beziehung zueinander zu setzen und so verstehbar zu machen. Dabei ist der um sich selbst wissende Mythos alles andere als eine Verobjektivierung Gottes, denn er ist sich seiner eigentlichen Unsagbarkeit bewusst und verzichtet darauf, Gott für menschliche Zwecke und Menschen für angeblich göttliche Zwecke zu instrumentalisieren.
Mythen beschreiben das Handeln von Göttern in Erzählungen, im frühen Christentum ist dies das Handeln Gottes im und durch das Leben des Jesus von Nazareth. Im Zentrum des mythischen Redens im Neuen Testament steht die Vergottung des Jesus von Nazareth, die sehr früh in allen Bereichen des entstehenden Christentums einsetzte. Diese Mythisierung erfolgte nicht durch die Übernahme vorgegebener Konzepte, sondern auf der Basis jüdischer (Monotheismus) und griechisch-römischer Vorstellungen (Menschwerdung eines Gottes/Vergöttlichung eines Menschen) wurden Jesu vorösterlicher Anspruch und sein österliches Geschick so aufgenommen, dass ein eigenständiger und neuer Mythos entstand. Dabei wird die Geschichte durch den Mythos nicht aufgehoben, sondern in eine übergreifende Wirklichkeit integriert. Bereits 1Kor 15,3–5 verdeutlicht diesen für das frühe Christentum grundlegenden Sachverhalt (s. u. Formeltraditionen ), denn die von Paulus angeführten geschichtlichen Eckdaten („Christus starb . . . er wurde begraben . . . ist auferweckt worden . . . und erschien dem Kephas“) erhalten ihre sinnstiftende Funktion erst durch die Aussagen „für unsere Sünden“ und „gemäß der Schrift“65. In besonderer Weise werden die göttliche und menschliche Wirklichkeit in der neuen Literaturgattung Evangelium in Beziehung gesetzt. Sie ist literaturgeschichtlich an der antiken Biographie orientiert, zugleich aber mit das Geschichtliche transzendierenden Elementen durchzogen: Vom ‚Anfang‘ (vgl. Gen 1,1; Mk 1,1; Joh 1,1) konnte nur mythisch erzählt wer-
62 K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos, 252. 63 A. a. O., 257. 64 R. Bultmanns ‚Entmythologisierung‘ ging nicht nur von einer historischen, sondern auch von einer sachlichen Überlegenheit des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens aus; vgl. dazu R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, München
2
1985 (= 1941); DERS., Jesus Christus und die Mythologie, Hamburg 1964. Zur Diskussion vgl. K. JASPERS/R. BULTMANN, Die Frage der Entmythologisierung, München 1981 (= 1953/54); B. JASPERT, Sackgassen im Streit mit R. Bultmann, St. Ottilien 1985. 65 Vgl. G. SELLIN, Art. Mythos, 1698.
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 163
den und vor allem die christologischen Hoheitstitel bringen die Zugehörigkeit des in der Geschichte handelnden Jesus Christus zur himmlischen Welt zum Ausdruck. Die Evangelien werden so zu Grundbüchern einer neuen Religion, in deren Zentrum der Christusmythos stand: Die Geschichte des Gottessohnes Jesus von Nazareth, der für die Menschen eintrat und für ‚unsere Sünden‘ starb, damit wir leben können (vgl. 2Kor 8,9). Frühe Christologie
Als maßgeblicher früher Zeuge bestätigt Paulus, dass die frühe Christologie schon bald eine feste Sprache und Gestalt in Titeln, Formeln und Traditionen gewann. Nach 1Kor 15,1–3a66 teilt Paulus der Gemeinde mit, was er selbst zuvor empfing (vgl. 1Kor 15,3b–5). In 1Kor 11,2 lobt Paulus die Gemeinde, „weil ihr in allen (Dingen) meiner gedenkt und an den Überlieferungen festhaltet, wie ich sie euch übergeben habe.“ Die Abendmahlsparadosis empfing Paulus nach 1Kor 11,23a vom Herrn, und er gibt sie nun an die Gemeinde weiter (1Kor 11,23b–26). Wann und wo Paulus über sein Vor- und Spezialwissen hinaus im christlichen Glauben unterwiesen wurde, lässt sich nicht mehr sagen. Er empfing nach Apg 9,17.18 in Damaskus den Geist und ließ sich taufen, vielleicht war damit auch eine Unterweisung im christlichen Glauben verbunden. Ohne Zweifel erhielt Paulus schon sehr früh eine solche Katechese, denn er beginnt schon bald nach seiner Berufung zum Apostel mit eigenständiger Missionsarbeit (vgl. Gal 1,17). Form- und traditionsgeschichtlich lassen sich die frühen christologischen Anschauungen in verschiedene Kategorien einteilen, auch wenn geprägte Formeln sowie Wort- und Motivkombinationen über eine gewisse Variabilität verfügen, sich nicht immer exakt verorten lassen und die formgeschichtliche Klassifizierung teilweise unterschiedlich ausfällt67. Christologische Titel
Bereits die christologischen Titel sind Abbreviaturen des gesamten Heilsgeschehens, das sie jeweils unter spezieller Perspektive aktualisieren; sie sagen aus, wer und was Jesus von Nazareth für die glaubende Gemeinde ist68. Die zentrale Hoheitsbezeichnung Cristo´ß bzw. LIvsou˜ß Cristo´ß (s. o. 3.9.3) haftet bereits an den ältesten Bekenntnistraditionen (vgl. 1Kor 15,3b–5; 2Kor 5,15) und thematisiert das gesamte Heilsgeschehen. Schon bei Paulus verbinden sich Aussagen über die Kreuzigung (1Kor 1,21; 2,2; Gal 3,1.13), den Tod (Röm 5,6.8; 14,15; 15,3; 1Kor 8,11; Gal 2,19.21), die
66 Paulus greift mit paralamba´nein und paradido´nai in 1Kor 11,23a; 15,3a auf jüdische Traditionssprache zurück; vgl. H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther, KEK V, Göttingen 1969, 230. 67 Die formgeschichtlichen Probleme werden dis-
kutiert bei R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, FRLANT 176, Göttingen 1997, 1–22. 68 Zusammenfassende Darstellung bei L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 98–118.
164 Die Entstehung der Christologie
Auferweckung (Röm 6,9; 8,11; 10,7; 1Kor 15,12–17.20.23), die Präexistenz (1Kor 10,4; 11,3a.b) und die irdische Existenz Jesu (Röm 9,5; 2Kor 5,16) mit Cristo´ß. Von der auf das gesamte Heilsgeschehen bezogenen Grundaussage verzweigen sich die Cristo´ß-Aussagen dann in vielfältige Bereiche. So spricht Paulus vom pisteu´ein eiß Cristo´n (Gal 2,16: „glauben an Christus“; vgl. Gal 3,22; Phil 1,29), vom euagge´lion tou˜ Cristou˜ („Evangelium Christi“, vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil 1,27) und versteht sich selbst als Apostel Christi (vgl. 1Thess 2,7; 2Kor 11,13: apo´stoloß Cristou˜). Auch in den Evangelien nimmt der Titelname LIvsou˜ß Cristo´ß eine zentrale Stellung ein, wie z. B. Mk 1,1; 8,29; 14,61; Mt 16,16 und die lukanische Geistchristologie (s. u. 8.4.3) deutlich zeigen. Der selbstverständliche Gebrauch von Cristo´ß auch bei überwiegend heidenchristlichen Gemeinden ist kein Zufall, denn die Adressaten konnten von ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund Cristo´ß im Kontext antiker Salbungsriten rezipieren. Die im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten Salbungsriten zeugen von einem gemeinantiken Sprachgebrauch, wonach gilt: „wer/was gesalbt ist, ist heilig, Gott nah, Gott übergeben“69. Sowohl Judenchristen als auch Christen aus griechisch-römischer Tradition70 konnten Cristo´ß als Prädikat für die einzigartige Gottnähe und Heiligkeit Jesu verstehen, so dass Cristo´ß (bzw. LIvsou˜ß Cristo´ß) gerade bei Paulus als Titelname zum idealen Missionsbegriff wurde. Eine veränderte Perspektive verbindet sich mit dem ku´rioß-Titel71 (vgl. Ps 110,1LXX), der 719mal im Neuen Testament belegt ist. Indem die Glaubenden Jesus als ‚Herrn‘ bezeichnen, unterstellen sie sich der Autorität des in der Gemeinde gegenwärtig Erhöhten. Ku´rioß bringt Jesu einzigartige Würde und Funktion zum Ausdruck: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus. Der mit dem Kyrios-Titel verbundene Aspekt der Gegenwart des Erhöhten in der Gemeinde zeigt sich deutlich in der Akklamation und in der Abendmahlstradition als Haftpunkten der Überlieferung. Indem die Gemeinde akklamiert, erkennt sie Jesus als Kyrios an und bekennt sich zu ihm (vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,6–11). Der Gott der Christen wirkt durch seinen Geist, so dass sie laut im Gottesdienst rufen (1Kor 12,3): ku´rioß LIvsou˜ß („Herr ist Jesus“), und nicht: ana´hema LIvsou˜ß („Verflucht sei Jesus“). Gehäuft erscheint ku´rioß in der Abendmahlsüberlieferung (vgl. 1Kor 11,20–23.26 ff.32; 16,22). Die Gemeinde versammelt sich in der machtvollen Gegenwart des Erhöhten, dessen heilvolle, aber auch strafende Kräfte (vgl. 1Kor 11,30) in der Abendmahlsfeier wirken. Neben die liturgische 69 M. KARRER, Der Gesalbte (s. o. 4), 211. 70 Der Begriff ‚Heidenchristen‘ ist missverständlich,
weil er suggeriert, Menschen aus griechisch-römischer Religiosität hätten vor ihrem Anschluss an die neue Bewegung der Christusgläubigen keine ernst zu nehmenden religiösen Bindungen gehabt. 71 Vgl. dazu W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn
(s. o. 4), 61–103.149–181; F. HAHN, Christologische Hoheitstitel (s.o. 4), 67–132.461–466; J.A. FITZMYER, Art. ku´rioß, EWNT 2, Stuttgart 1981, 811–820; G. VERMES, Jesus der Jude (s. o. 3), 89–114; D.B. CAPES, Old Testament Yahweh Texts in Paul's Christology, WUNT 2.47, Tübingen 1992.
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 165
Dimension des Kyrios-Titels tritt besonders bei Paulus eine ethische Komponente. Der Kyrios ist die entscheidende Instanz, von der aus alle Bereiche des täglichen Lebens bedacht werden (Röm 14,8: „Wenn wir leben, so leben wir dem Herrn, wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn. Wenn wir nun leben oder sterben, so sind wir des Herrn“). Bei Markus und Matthäus spielt der Kyrios-Titel nur eine untergeordnete Rolle, während Lukas nicht nur den Irdischen (Lk 7,13.19; 10,1.39.41 u. ö.) und Auferstandenen (Lk 24,3.34), sondern auch Jesus vor und bei der Geburt (Lk 1,43; 2,11) als ku´rioß bezeichnen kann. Schließlich verbindet sich mit dem Kyrios-Titel auch eine politische Konnotation: Er bringt die einzigartige Autorität des Erhöhten in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck72. Die im 1. Jh. zunehmende Verehrung römischer Kaiser verband sich (vornehmlich im Osten des Reiches) mit der Kyrios-Anrede (vgl. Apg 25,26; Suet, Dom 13,2), und auch innerhalb der Mysterienreligionen finden sich ku´rioß bzw. kurı´a-Akklamationen73. Der ku´rioß LIvsou˜ß Cristo´ß kreuzt in der frühchristlichen Missionsgeschichte den Weg vieler Herren und Herrinnen; gerade deshalb gilt es zu sichern, dass ihn dieses Prädikat nicht zu einem unter vielen macht. Der Titel uıo`ß (tou˜) heou˜ findet sich ca. 80mal im Neuen Testament, er steht vor allem in traditionsgeschichtlicher Kontinuität zu Ps 2,7 und verbindet sich mit verschiedenen christologischen Konzeptionen74. Paulus (15 Belege) übernahm ihn aus der Tradition (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a), wobei die besondere Platzierung von uıo´ß erkennen lässt, dass er diesem Titel eine hohe theologische Bedeutung zumaß. Der Sohnes-Titel bringt sowohl die enge Verbindung Jesu Christi mit dem Vater als auch seine Funktion als Heilsmittler zwischen Gott und den Menschen zum Ausdruck (vgl. 2Kor 1,19; Gal 1,16; 4,4.6; Röm 8,3). Bei Markus wird uıo`ß (tou˜) heou˜ zum zentralen christologischen Titel, der gleichermaßen Jesu himmlische und irdische Würde umfasst (s. u. 8.2.2). Auch Matthäus entfaltet eine ausgeprägte Sohn-Gottes-Christologie (s. u. 8.3.2), während bei Lukas der Titel nicht zentral ist. Von besonderer Bedeutung ist die textpragmatische Funktion der Hoheitstitel; sie erscheinen gehäuft in den Briefpräskripten und Evangeliumseröffnungen und gehören dort zu den metakommunikativen Signalen, durch die Kommunikation eröffnet und Sinnwelten definiert werden. Voraussetzung für das Gelingen einer schriftlichen Kommunikation ist ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis zwischen Autor und Ad-
72 Vgl. dazu M. DE JONGE, Christologie im Kontext
(s. o. 4), 177 f. 73 Vgl. z. B. Plut, Is et Os, 367, wo Isis v kurı´a tv˜ß gv˜ß („Herrin der Erde“) genannt wird; vgl. ferner NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 313–316; D. ZELLER, Art. Kyrios, DDD, Leiden 21999, 492–497. 74 Das relevante Material wird besprochen bei M. HENGEL, Der Sohn Gottes (s. o. 4), 35–39.67–89; vgl. ferner L. W. HURTADO, Art. „Son of God“, DPL
(1993), 900–906; A. LABAHN/M. LABAHN, Jesus als Sohn Gottes bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 97–120. Zu Qumran (vgl. neben 4QFlor I 11–13; 1QSa II 11 bes. 4Q 246) vgl. J. A. FITZMYER, The „Son of God" Document from Qumran, Bib 74 (1993), 153–174; J. ZIMMERMANN, Messianische Texte aus Qumran (s. o. 3.5.2), 128– 170.
166 Die Entstehung der Christologie
ressaten. Diese Wirklichkeit mit ihren vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dimensionen wird durch die christologischen Titel benannt, zugleich auch vergegenwärtigt und als gemeinsames Glaubenswissen in Geltung gehalten75. Formeltraditionen
Als Glaubensformel (Pistisformel) werden jene frühen Texte bezeichnet, die in kurzer und prägnanter Form das in der Vergangenheit liegende christologische Heilsgeschehen formulieren76. Der zentrale Text ist die vorpaulinische Tradition 1Kor 15,3b–5, die deutlich eine Grundstruktur erkennen lässt, die durch die Nennung der Geschehnisse und ihrer Deutung gekennzeichnet ist77: oÇti Cristo`ß (dass Christus) ape´hanen (gestorben ist) upe`r tw˜n amartiw˜n vmw˜n (für unsere Sünden) kata` ta`ß grafa`ß (nach den Schriften) kai` oÇti eta´fv (und dass er begraben wurde) kai` oÇti egv´gertai (und er ist auferweckt worden) tU˜ vme´ra tU˜ trı´tU (am dritten Tag) kata` ta`ß grafa`ß (nach den Schriften) kai` oÇti wfhv Kvfa˜ eıta toı˜ß dw´deka (und er ist Kephas erschienen, dann den Zwölfen). Sprachliches Subjekt ist Cristo´ß; es geht um das Schicksal der entscheidenden Gestalt der Menschheit, die Individual- und Universalgeschichte in sich vereinigt. Dies ist möglich, weil Gott als das durchgängige sachliche Subjekt des Geschehens zu denken ist, sprachlich angezeigt durch die passiven Verbformen von ha´ptw und egeı´rw und das zweifache Interpretament kata` ta`ß grafa´ß. Die Reihung ‚gestorben – begraben‘ und ‚auferweckt – erschienen‘ benennt die Geschehnisse in ihrer zeitlichen und sachlichen Abfolge. Die Tempora der Verben haben Signalcharakter, denn die Aoristformen von apohnU´ skein und ha´ptw bezeichnen ein abgeschlossenes und vergangenes Geschehen, während das Perf. Pass. egv´gertai78 die fortdauernde Wirkung des
75 Vgl. U. SCHNELLE, Heilsgegenwart. Christologische Hoheitstitel bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 178–193. 76 Vgl. hierzu W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn (s. o. 4), 15–40. 77 Zur Interpretation dieses Textes vgl. H. CONZELMANN, Zur Analyse der Bekenntnisformel 1Kor 15,3– 5, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 65, München 1974; 131–141; CHR. WOLFF, Der erste
Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig 2 2000, 354–370; G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. u. 6.2), 231–255; A. LINDEMANN, 1Kor (s. u. 6.3.2), 325–333; W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/4, Neukirchen 2001, 31–53; H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther (mit M. Gielen), ÖTK 7/3, Gütersloh 2005, 247–283. 78 Vgl. zu egeı´rein 1Thess 1,10; 2Kor 4,14; Röm 4,24b; 6,4; 7,4; 8,11b.
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 167
Geschehens betont79. Christus ist von den Toten auferstanden, und die Auferstehung hat für den Gekreuzigten eine bleibende Wirkung. Das Passivum wfhv in V. 5 betont im Anschluss an atl. Theophanien, dass die Erscheinungen des Auferstandenen dem Willen Gottes entsprechen. Die Protepiphanie vor Kephas ist in der Tradition verankert (vgl. 1Kor 15,5; Lk 24,34), ebenso die Erscheinungen vor dem Jüngerkreis (vgl. Mk 16,7; Mt 28,16–20; Lk 24,36–53; Joh 20,19–29). Grundlage der Deutung ist das Schriftzeugnis; bei der upe´r-Wendung könnte an Jes 53,10–12; Ps 56,14; 116,8 gedacht sein, der ‚dritte Tag‘ lässt mehrere Interpretationsmöglichkeiten zu (historische Erinnerung, Bezug auf Hos 6,2; Bedeutung des 3. Tages in der antiken Kulturgeschichte des Todes)80. Vergleichbare Anschauungen zu 1Kor 15,3b–5 finden sich in Lk 24,34, wo die passiven Verbformen Gott wiederum als alleiniges Subjekt des Geschehens erscheinen lassen: „Der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen“ (vge´rhv o ku´rioß kai` wfhv Sı´mwni). Geprägte Formulierungen zu Tod und Auferweckung Jesu liegen ferner vor in: 1Thess 4,14 („denn wenn wir glauben, dass Jesus starb und auferstand“ [oÇti LIvsou˜ß ape´hanen kai` ane´stv]), 1Kor 15,12.15; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 4,24; 8,34; 10,9b („und wenn du glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat“ [o heo`ß auto`n vgeiren ek nekrw˜n]); 14,9; Kol 2,12; 1Petr 1,21; Apg 3,15; 4,10. Die soteriologische Dimension des Christusgeschehens als ‚sterben für uns‘ betont die Sterbeformel, die sich in 1Thess 5,9f; 1Kor 1,13; 8,11; 2Kor 5,14; Röm 5,6.8; 14,15; 1Petr 2,21; 3,18; 1Joh 3,16 findet81. Die Dahingabeformel formuliert das Handeln Gottes am Sohn als Geschehen ‚für uns‘ (Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32; 1Tim 2,5f; Tit 2,14)82. Bemerkenswert ist die vorpaulinische Tradition Röm 1,3b–4a, die auch als Sohnesformel bezeichnet wird83. Hier wird Christus in seiner sarkischen Existenz als Davidssohn, in seiner pneumatischen Existenz aber als Gottessohn gesehen. Gottessohn ist er kraft seiner Auferstehung, die nach Röm 1,4a das pneu˜ma agiwsu´nvß („Geist der Heiligkeit“), also der Geist Gottes bewirkt. Erst durch die Auferstehung wird Jesus zum Gottessohn inthronisiert, wobei die Präexistenz und Gottessohnschaft des Irdischen nicht vorausgesetzt ist. Das Wirken des Sohnes steht auch im vorpaulinischen Missionskerygma 1Thess 1,9f im Mittelpunkt84. Die Heiden wandten sich von den Götzen ab und dem vor dem Gericht rettenden Sohn zu, „den er (Gott) von den Toten auferweckt hat“ (oÅn vgeiren ek tw˜n nekrw˜n). In geprägten Formulierungen wird auch die Sendung des
79 Vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik
83 Zur Analyse vgl. E. SCHWEIZER, Röm 1,3f und der
des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 14 1975, § 342. 80 Alle Möglichkeiten erörtern CHR. WOLFF, 1Kor, 364–367; M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 42 f. 81 Vgl. dazu K. WENGST, Christologische Formeln und Lieder (s. o. 4), 78–86. 82 Vgl. hier W. POPKES, Christus traditus (s. o. 4), 131ff.
Gegensatz von Fleisch und Geist bei Paulus, in: ders., Neotestamentica, Zürich 1963, 180–189. 84 Vgl. die Analyse bei C. BUSSMANN, Themen der paulinischen Missionspredigt auf dem Hintergrund der spätjüdisch-hellenistischen Missionsliteratur, EHS.T 3, Bern/Frankfurt 1971, 38–56.
168 Die Entstehung der Christologie
Sohnes beschrieben, die sich in Gal 4,4; Röm 8,3 mit der Präexistenzvorstellung (Gal 4,4: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, gestellt unter das Gesetz“) verbindet. Hymnische Texte
Hymnen sind Loblieder auf Gott/Götter (vgl. Epict, Diss I 16,20f), die in unterschiedlicher Länge und Metrik abgefasst sein können85. Der wahrscheinlich älteste Hymnus im Neuen Testament und ein zentrales Zeugnis früher Christologie ist Phil 2,6– 11, wo es über Jesus Christus heißt: (6) oÅß en morfU˜ heou˜ upa´rcwn ouc arpagmo`n vgv´sato to` eınai ısa hew˜ , (7) alla` eauto`n eke´nwsen morfv`n dou´lou labw´n, en omoiw´mati anhrw´pwn geno´menoßk kai` scv´mati eurehei`ß wß anhrwpoß (8) etapeı´nwsen eauto`n geno´menoß upv´kooß me´cri hana´tou (hana´tou de` staurou˜). (9) dio` kai` o heo`ß auto`n uperu´ywsen kai` ecarı´sato autw˜ to` onoma to` upe`r pa˜n onoma, (10) ıÇna en tw˜ ono´mati LIvsou˜ pa˜n go´nu ka´myU epouranı´wn kai` epigeı´wn kai` katachonı´wn (11) kai` pa˜sa glw˜ssa exomologv´svtai oÇti ku´rioß LIvsou˜ß Cristo`ß eiß do´xan heou˜ patro´ß.
der, obwohl er in der Gestalt Gottes war, es nicht als einen Raub ansah, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte und die Gestalt eines Knechtes annahm; den Menschen wurde er gleichgestaltig und er wurde der Gestalt nach wie ein Mensch gefunden. Er entäußerte sich selbst und war gehorsam bis zum Tod (Tod am Kreuz). Deshalb erhöhte ihn Gott über die Maßen und gab ihm den Namen über alle Namen, damit im Namen Jesu sich beugen alle Knie im Himmel und auf Erden und unter der Erde damit jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters.
Seit den Analysen von E. Lohmeyer86 gilt Phil 2,6–11 als vorpaulinische Tradition. Für Tradition sprechen die ntl. (uperuyou˜n = „über die Maßen erhöhen“, katacho´nioß = „unter der Erde“) und paulinischen (morfv´ = „Gestalt“, arpagmo´ß = „Raub“) Hapaxlegomena, die Häufung der Partizipial- und Relativkonstruktionen, der strophische Aufbau des Textes, die Unterbrechung des Gedankenganges innerhalb des Briefes und die kontextuellen Bindeglieder Phil 2,1–5.12–13. Zumeist wird V. 8c (hana´tou de` staurou˜ = „Tod am Kreuz“) als paulinische Redaktion angesehen, denn nur das Dass, nicht aber
85 Vgl. als pagane Hymnen z. B. die Sammlung ‚Homerische Hymnen‘; hg. v. A.Weiher, München 5 1986, wo Hymnen auf griechische Götter in verschiedener Länge zusammengefasst sind. 86 Vgl. E. LOHMEYER, Kyrios Jesus, SAH 4, Heidelberg
1928; zur neueren Forschungsgeschichte vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament (s. u. 12.2.1), 91–157. Für eine paulinische Verfasserschaft von Phil 2,6–11 plädiert R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, 304.319.
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 169
die Art des Todes ist von Bedeutung. Die Gliederung der vorpaulinischen Texteinheit ist umstritten. E. Lohmeyer unterteilt die Tradition in sechs Strophen zu je drei Zeilen, die durch den Neueinsatz mit dio´ in V. 9 in zwei gleiche Teile zerfallen. Demgegenüber vertritt J. Jeremias87 eine Dreiteilung des Liedes zu je vier Zeilen (a: V. 6–7a, b: V. 7b–8, c: V. 9–11), wobei er vom Parallelismus membrorum als formgebendem Prinzip ausgeht. Alle anderen Rekonstruktionen müssen als Variationen der beiden grundlegenden Vorschläge von Lohmeyer und Jeremias betrachtet werden. Die metrisch-strophische Struktur von Phil 2,6–11 wird umstritten bleiben, deutlich ist jedoch der zweiteilige Aufbau des Textes mit V. 9 als Scharnier: V. 6–8.9.10.11. Formgeschichtlich wird der Text zumeist als ‚Hymnus‘ bezeichnet, andere Klassifizierungen sind ‚Enkomion‘88, ‚Epainos‘89 oder ‚Lehrgedicht‘90. Religionsgeschichtlich stellt der Hymnus keine Einheit dar; während der zweite Teil (V. 9–11) durch die atl. Zitatanspielung und liturgisches Formelgut auf jüdisches Denken hinweist, enthält der erste Teil (V. 6–7) starke begriffliche Parallelen zum hellenistischen religiös-philosophischen Schrifttum91. Seinen ‚Sitz im Leben‘ hat der Hymnus in der Gemeindeliturgie (vgl. Kol 3,16).
Schon vor Paulus weitete die christologische Reflexion den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz aus. Diesem Vorgang liegt ein Gedanke zugrunde, der die Christologie zahlreicher Schriften im Neuen Testament bestimmt: Man kann nicht etwas werden, was man nicht schon immer war. Im Hymnus wird die Statustransformation nachdrücklich durch die Gegenüberstellung von morfv` heou˜ (V. 6: „Gestalt Gottes“) und morfv` dou´lou (V. 7: „Gestalt eines Knechtes“) betont. Jesus Christus verlässt seine gottgleiche Stellung und begibt sich in das denkbar krasseste Gegenteil. Dieser fundamentale Vorgang wird in seinen einzelnen Etappen im Hymnus weiter geschildert und bedacht. Jesus Christus entäußert sich selbst und nimmt einen machtlosen Status ein; nicht Herrschaft, sondern Ohnmacht und Erniedrigung kennzeichnen nun seinen Stand. Menschwerdung heißt Verzicht auf eigentlich zustehende Macht, sie bedeutet Demut und Gehorsam bis zum Tod92. V. 9 markiert die Wende im Geschehen, sprachlich angezeigt durch das neue Subjekt o heo´ß. Die Statuserhöhung Jesu Christi vollzieht sich in der Namensverleihung (V. 9b–10), der die Einsetzung und Anerkennung als Kosmokrator folgen (V. 10–11b). Kyrios-Akklamation und kosmosweite Proskynese des Kyrios entsprechen dem Willen Gottes, zu dessen Ehre sie erfolgen (V. 11c). Der neue Status Jesu Christi ist mehr als eine bloße Rückkehr in 87 Vgl. J. JEREMIAS, Zur Gedankenführung in den paulinischen Briefen (4. Der Christushymnus Phil 2,6–11), in: ders., Abba, Göttingen 1966, 274–276; DERS., Zu Philipper 2,7: eauto`n eke´nwsen, a. a. O., 308–313. 88 K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 345. 89 R. BRUCKER, ‚Christushymnus‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, 319 f.330 f. 90 N. WALTER, Der Philipperbrief, NTD 8/2, Göttin-
gen 1998, 56–62. 91 Vgl. dazu S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gott-
gleichheit: Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(-11), in: DERS., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263– 284; DERS., Die Metamorphose des Gottessohnes, a. a. O., 285–306. 92 Zur paulinischen Interpretation des Hymnus Phil 2,6–11 s. u. 6.2.1.
170 Die Entstehung der Christologie
die präexistente Gott-Gleichheit93. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Tod gewährte die Erhöhung zum Weltherrscher, d. h. sogar der Präexistente durchlief eine Transformation, um zu werden, was er sein sollte. Ein weiterer früher Christushymnus findet sich in Kol 1,15–20 (s. u. 10.1.2). Der traditionelle Hymnus beginnt in V. 15 mit einem plötzlichen Stilwechsel und gliedert sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in zwei Strophen. Ist in der ersten Strophe (V. 15–18a) von der kosmologischen Bedeutung des Christusgeschehens die Rede, so steht in der zweiten Strophe (V. 18b–20) seine soteriologische Dimension im Mittelpunkt. Interpretamente des Autors des Kol liegen in V. 18a (tv˜ß ekklvsı´aß = „der Kirche“) und in V. 20 vor (dia` tou˜ aıÇmatoß tou˜ staurou˜ autou˜ = „durch das Blut seines Kreuzes“). Der Hinweis auf das Kreuzesgeschehen bindet die kosmischen Dimensionen des Christusgeschehens an das Kreuz und damit an die Geschichte. Parallelen zum Philipperbrief-Hymnus sind unverkennbar, hier wie dort wird das Traditionsstück durch Interpretamente mit dem Kontext verbunden. Religionsgeschichtlich knüpft der Hymnus an Vorstellungen des hellenistischen Judentums an, bei denen der Weisheit jene Prädikate zugelegt werden, die im Hymnus Christus gelten (Präexistenz, Schöpfungsmittler, universale Herrschaft)94. Weitere Traditionen
In den Bereich frühchristlicher Liturgie gehören Akklamationen, mit denen die Herrschaft Jesu Christi bezeugt wird (vgl. 1Kor 12,3; 16,22). Von herausragender Bedeutung ist die vorpaulinische eıß-Tradition 1Kor 8,695, die in kühner Weise die Geschichte Gottes mit der Geschichte Jesu Christi verbindet: „So gibt es für uns (nur) einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin; und einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“ Der Text reflektiert das Verhältnis von Theo logie und Christologie im Horizont des Monotheismus; die eıß-Prädikation gilt dem Vater, zugleich aber auch dem Kyrios Jesus Christus. Dadurch erfolgt keine Aufspaltung des einen Gottes in zwei Götter, vielmehr wird der eine Kyrios in den Bereich des einen Gottes mit einbezogen. Christus gehört seinem Ursprung und seinem Wesen nach ganz auf die Seite Gottes. Zugleich bleibt der eine Kyrios dem einen Gott nicht nur in der Textabfolge nachgeordnet96, denn der Schöpfergott ist der Vater
93 Vgl. G. BORNKAMM, Zum Verständnis des ChristusHymnus Phil 2,6–11, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum, BEvTh 28, München 1970, (177–187) 183. 94 Vgl. hierzu den Nachweis bei E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttingen 21977, 85–103. 95 Zum Nachweis des vorpaulinischen Charakters und zur Bestimmung der zahlreichen religionsge-
schichtlichen Bezüge vgl. W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/2, Neukirchen 1995, 216–225; ferner D. ZELLER, Der eine Gott und der eine Herr Jesus Christus, in: Th. Söding (Hg.), Der lebendige Gott (FS W. Thüsing), NTA 31, Münster 1996, 34–49. 96 Treffend W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus III, 371: „Trotz der unvorstellbar engen Einheit mit sich selbst, in die
Sprache und Gestalt der frühen Christologie 171
des Kyrios Jesus Christus. Die präpositionalen Näherbestimmungen in V. 6b und 6d entfalten den Gedanken der untergeordneten Parallelität. Zunächst werden Schöpfung und Heil durch identische Begriffe (ta` pa´nta – vmeı˜ß) auf Gott und den Kyrios bezogen, dann aber erfolgt durch die Präpositionen ek und dia´ eine grundlegende Differenzierung. Ihre Existenz verdankt die Welt dem einen Gott allein, nur er ist der Ursprung alles Seienden. Der Kyrios ist präexistenter Schöpfungsmittler, der eine Gott ließ ‚alles‘ durch den einen Herrn entstehen. Zu den von Paulus übermittelten Traditionen gehören Herrenworte 97. Er zitiert sie in 1Thess 4,15ff; 1Kor 7,10f; 9,14; 11,23ff, ohne jedoch in jedem Fall aus der synoptischen Tradition bekannte Jesusworte anzuführen. Vorpaulinische Tauftraditionen finden sich in 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 1,21f; Gal 3,26–28; Röm 3,25; 4,25; 6,3f98, Abendmahlstraditionen in 1Kor 11,23b–25; 16,22. Eine ausgesprochene Bekenntnisformulierung findet sich in Röm 10,9a; traditionelle Topoi der Paränese liegen in 1Kor 5,10f; 6,9f; 2Kor 12,20f; Gal 5,19–23; Röm 1,29–31; 13,13 vor99. Die Entstehung der Christologie
Alle historischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen sprechen für die These, dass die Entstehung der Christologie eine natürliche Folge des vorösterlichen Anspruches Jesu sowie der grundlegenden Erfahrungen der ersten Christen mit dem Auferstandenen und dem Heiligen Geist ist. Die Frage der Identität Jesu von Gott her brach bereits im Leben Jesu auf und spitzte sich angesichts seiner Bereitschaft zu, für seine Sendung und Botschaft zu sterben. Vor allem die Erscheinungen des Auferstandenen wurden von den ersten Christen als Bestätigung der Verkündigung Jesu durch Gott verstanden und forderten ein verstärktes Nachdenken über das Wesen Jesu Christi und seines Verhältnisses zu Gott, das zu einer Übertragung göttlicher Prädikate auf Jesus führte. Weil Jesus das von ihm verkündigte Gottesbild in einzigartiger Weise verkörperte, wurde er selbst in dieses Gottesbild aufgenommen. Das Kontinuitätsmodell als veränderte und verstärkte Bedeutsamkeit Jesu seit Ostern erklärt am besten die Entwicklung von Jesu vorösterlichem Anspruch hin zu seiner nachösterlichen Verehrung. Schon sehr früh finden sich innerhalb einer erstaunlichen Vielfalt Aussagen über die Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft und die umfas-
Gott den gekreuzigten Jesus durch seine Auferweckungstat hineingestellt hat, bleiben die spezifischen Relationen erhalten; mehr noch: Erst durch diese Relationen wird die Einheit grundlegend strukturiert und dadurch wiederum konstituiert. Nur ein Mittler, der in Einheit mit Gott lebt, kann ‚Mittler zur Gottunmittelbarkeit‘ sein.“ 97 Einen kritischen Forschungsüberblick mit umfassender Literaturverarbeitung bietet F. NEIRYNCK,
Paul and the Sayings of Jesus, in: ders., Evangelica II, BETL 99, Leuven 1991, 511–568. 98 Vgl. zur Analyse U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart, GTA 24, Göttingen 21986, 33– 88.175–215. 99 Vgl. hierzu G. STRECKER, Literaturgeschichte des Neuen Testaments (s. o. 4), 95–111; W. POPKES, Paränese und Neues Testament, SBS 168, Stuttgart 1996.
172 Die Entstehung der Christologie
sende Herrschaft Jesu Christi. Die frühen Christen fanden in den Schriften Israels und in den theologischen Modellen des antiken Judentums sowie der griechisch-römischen Religiosität maßgebliche Verstehens- und Interpretationshilfen für die Entwicklung der frühen Christologie. Die Übernahme christologischer Hoheitstitel bedeutete aber immer auch ihre Neucodierung! Was Jesus von Nazareth einst sagte und wie Jesus Christus nach Kreuz und Auferstehung erfahren und gedacht wurde, fließen nun ineinander und bilden etwas Neues: Jesus Christus selbst wird zum Gegenstand des Glaubens und zum Inhalt des Bekenntnisses. Nach Jesus wurde sachgemäß von und über Jesus erzählt, weil seine Person nicht ablösbar ist von seiner Verkündigung und seinen Taten. Jesus Christus wurde nicht als ‚zweiter‘ Gott verehrt, sondern in die Verehrung des ‚einen Gottes‘ (Röm 3,30: eıß heo´ß) mit einbezogen, d h. es dominiert ein exklusiver Monotheismus in binitarischer Gestalt. In Jesus begegnet Gott, Gott wird christologisch definiert. Über das Verhältnis von Gott zu Jesus Christus wurde nicht in ontologischen Kategorien nachgedacht, vielmehr war die Erfahrung des Handelns Gottes an Jesus und durch Jesus Ausgangspunkt der Überlegungen. Die Entstehung der Christologie aus der Verkündigung und dem Anspruch Jesu heraus ist ein natürlicher historischer und theologischer Prozess. Ausgehend von der Verkündigung und dem Wirken Jesu und neu inspiriert durch das Ostergeschehen entfalteten die frühen Christen eine umfangreiche Text-, Traditions- und Sinnpflege, um so die Überlieferungen in ihrem Bestand zu wahren, weiter zu formen und durch Deutungsanstrengungen ihren Sinn aus der Vergangenheit mit der Gegenwart zu vermitteln. Daraus entstanden die Schriften des Neuen Testaments, die bis heute die grundlegenden Dokumente des christlichen Glaubens sind.
5.
Die zweite Transformation: Frühe beschneidungsfreie Mission
M. HENGEL, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1973; W. SCHNEEMELCHER, Das Urchristentum, Stuttgart 1981; K.M. FISCHER, Das Urchristentum, KGE I/1, Berlin 1985; J. BECKER (Hg.), Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart 1987; DERS., Das Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS 155, Stuttgart 1993; U. LUZ, Unterwegs zur Einheit: Gemeinschaft der Kirche im neuen Testament, in: Chr. Link/U. Luz/L. Vischer, Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft . . ., Zürich 1988, 43–183; L. SCHENKE, Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung, Stuttgart 1990; F. VOUGA, Geschichte des frühen Christentums, UTB 1733, Tübingen 1994; R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus, WUNT 71, Tübingen 1994; E. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995; M. HENGEL/A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, WUNT 108, Tübingen 1998; M. HENGEL/ C.K. BARRETT, Conflicts and Challenges in Early Christianity, Harrisburg PA 1999; W. KRAUS, Zwischen Jerusalem und Antiochia, SBS 179, Stuttgart 1999; P. BARNETT, Jesus and the Rise of Early Christianity, Downers Grove Il 1999; G. LÜDEMANN, Das Urchristentum, ThR 65 (2000), 121– 179.285–349; D. ZELLER, Die Entstehung des Christentums, in: ders., (Hg.), Christentum I, Stuttgart 2002, 15–222; E.J. SCHNABEL, Urchristliche Mission, Gießen 2002; U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 27–176; A.J.M. WEDDERBURN, A History of the First Christians, London/New York 2004.
Das Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus wurde zunächst in und um Jerusalem herum verkündigt und war eine Variante jüdischer Identität neben anderen. Dies änderte sich mit Konflikten in der Urgemeinde, die zu einer eigenständigen Mission führender griechischsprachiger Angehöriger der Urgemeinde außerhalb von Jerusalem führte.
5.1
Die Hellenisten
Lukas schildert die Anfangszeit der Urgemeinde als Epoche der Einheit im Gebet, in der Eucharistie, in der Lehre, im Leben und im Handeln (vgl. nur Apg 2,34.44). Auch die Darstellungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Urgemeinde stehen unter dem Motiv der Einheit, wie die Summarien Apg 2,42–46; 4,32– 35 nachdrücklich zeigen1. Das anfängliche Bild der Einheit erhält in Apg 6,1–6 RisVgl. dazu H.-J. KLAUCK, Gütergemeinschaft in der Klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Testa-
1
ment, RdQ 41 (1982), 47–79; G. THEISSEN, Urchristlicher Liebeskommunismus, in: T. Fornberg/D. Hell-
174 Frühe beschneidungsfreie Mission
se2, wo Lukas völlig unvermittelt zwei Leitungsgremien erwähnt: den Zwölfer- und Siebenerkreis. Beim Zwölferkreis handelt es sich wahrscheinlich um eine von Jesus selbst eingesetzte Gruppe, die symbolisch die Gesamtheit der Zwölf Stämme Israels repräsentiert (s. o. 3.8.3). Auch der Siebenerkreis war im frühen Christentum ein fester Begriff, da Philippus in Apg 21,8 „einer von den Sieben“ genannt wird3. Die Bildung des Siebenerkreises verbindet Lukas mit einem Konflikt innerhalb der Jerusalemer Gemeinde: Die Witwen der Hellenisten fühlten sich beim innergemeindlichen Bedarfsausgleich übersehen bzw. benachteiligt, was zu einem Konflikt zwischen den ‚Hellenisten‘ und ‚Hebräern‘ führte. Die Begriffe KEbraı˜oi („Hebräer“) und KEllvnistaı´ („Hellenisten/Griechen“) weisen darauf hin, dass der Konflikt vor allem sprachliche und kulturelle Ursachen hatte. Die KEbraı˜oi sind aramäisch sprechende, die KEllvnistaı´ hingegen aus der Diaspora stammende griechisch sprechende jüdische Jesusanhänger4. Wahrscheinlich führten die sprachlichen Unterschiede zur Ausbildung jeweils eigenständiger Gottesdienste und die liturgisch-kultische Trennung zog dann auch eine Trennung in der Diakonie nach sich, wie sie Apg 6,1ff schildert. Auffallend ist, dass der Siebenerkreis ausschließlich aus Männern mit griechischen Namen besteht, seine diakonische Aufgabe überhaupt nicht ausübt und Stephanus als herausragende Gestalt dieser Gruppe alles andere als ein Versorgungsorganisator ist. Er wird in Apg 6,8–15 als Pneumatiker und Charismatiker, vor allem aber als Exponent einer gesetzes- und tempelkritischen Richtung innerhalb der Urgemeinde dargestellt (vgl. Apg 6,13f). Wahrscheinlich wurde die erfolgreiche Missionstätigkeit des Stephanus innerhalb der hellenistischen Synagogen Jerusalems und vor allem seine Kritik am bestehenden Tempelkult als Provokation empfunden, die in einem Akt der Lynchjustiz mit der Steinigung des Stephanus endete (vgl. Apg 7,54–60)5. Bei dem Konflikt zwischen Hebräern und Hellenisten spielten offensichtlich auch unterschiedliche theologische Konzepte eine Rolle, die sich wiederum aus der Herkunft beider Gruppen erklären. Die griechischsprachigen Diasporajuden fühlten sich dem Tempel und einer strengen Toraauslegung nicht so verpflichtet wie die aramäisch sprechenden Mitglieder der Urgemeinde. Dies könnte erklären, warum nach der Steinigung des Stephanus nur die hellenistischen jüdischen Jesusanhänger, nicht aber die Apostel verfolgt wurden (vgl. Apg 8,1–3). Man wird vermuten dürfen, dass
holm (Hg.), Texts and Contexts (FS L. Hartmann), Oslo 1995, 689–712; F.W. HORN, Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde, EvTh 58 (1998), 370–383. 2 Vgl. hier M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus. Die ‚Hellenisten‘, die ‚Sieben‘ und Stephanus, ZThK 72 (1975), 151–206; G. THEISSEN, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde?, in: H. Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III, Tübingen 1996, 323–343; D.-A. KOCH, Crossing the Border:
The ‚Hellenists‘ and their way to the Gentiles, Neotest 39 (2005), 289–312. 3 Die Herkunft der Zahl Sieben könnte mit der Auslegung von Dtn 16,18 zusammenhängen, wonach in jeder Stadt sieben Männer regieren sollen; vgl. Jos, Ant 4,214.287. 4 Zum Nachweis vgl. M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus, 161 ff. 5 Vgl. G. THEISSEN, Hellenisten und Hebräer, 332– 336.
Antiochia 175
die Hellenisten vor allem in Samaria sowie in den hellenisierten Städten Galiläas, des syrisch-palästinischen Grenzlandes und der Küste missionierten (vgl. Apg 8,4–40). Auch nach Damaskus kamen die Hellenisten, wo der bekehrte Paulus in eine Gemeinde aufgenommen wurde (vgl. Apg 9,10ff). Wahrscheinlich wirkten die Hellenisten auch in Alexandria, denn der alexandrinische Missionar Apollos trat zu Beginn der 50er Jahre in Korinth auf (vgl. 1Kor 3,4ff; Apg 18,24–28); möglicherweise wurde sogar die Gemeinde in Rom von Hellenisten gegründet. Die Hellenisten entwickelten theologische und christologische Ansätze und Vorstellungen, die das sich formierende Christentum für eine Mission auch unter Menschen griechisch-römischer Religiosität öffneten. Sie waren wahrscheinlich die ersten, die spontane Gaben des Heiligen Geistes auch an Nichtjuden (vgl. Apg 2,9–11; 8,17.39; 10) theologisch bedachten. Schon früh wurden Jesusüberlieferungen von ihnen ins Griechische übertragen und damit die Jesusbotschaft für die griechischsprachige Welt geöffnet. Dabei konnten sie an universalistische Tendenzen und die Infrastruktur des hellenistischen Judentums anknüpfen, aber auch an Jesustraditionen, die eine Offenheit gegenüber Nichtjuden dokumentieren. Innerhalb des antiken Judentums gab es um die Zeitenwende in einem beachtlichen Umfang die Vorstellung einer endzeitlichen Hinwendung der Völker zu Jahwe (vgl. z. B. TLev 18,9; TJud 24,5–6; 25,3–5; TBen 9,2; 10,6–11; TAss 7,2–3; TNaph 8,3–4; 1Hen 90,33–38; Sir 44,19–23; PsSal 17,31; syrBar 68,1–8; 70,7–8; 4Esra 13,33–50; Jub 22,20–22)6. Zwar ist eine organisierte Heidenmission durch jüdische Gruppen nicht nachzuweisen, aber speziell im Diasporajudentum wurden die universalen Dimensionen des Jahweglaubens stark betont und es bestand eine Offenheit gegenüber nichtjüdischer Kultur. Die Überlieferung lässt noch deutlich erkennen, dass Jesus der Begegnung mit Nichtjuden nicht auswich (vgl. Mk 7,24–30; 7,31–34; Mt 8,5–10.13) und die heilsgeschichtliche Priorität Israels in einigen Logien infrage stellte (vgl. Q 13,29.28; 14,23).
5.2
Antiochia
Wohin sich die Hellenisten auf ihrer Flucht noch wandten, beschreibt Apg 11,19f: „Bei der Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war, kamen die Verfolgten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia; dort verkündigten sie das Wort nur den Juden. Einige aber von ihnen, die aus Zypern und Kyrene stammten, verkündigten, als sie nach Antiochia kamen, auch den Griechen das Evangelium von Jesus, dem Herrn.“ Das syrische Antiochia am Orontes war die drittgrößte Stadt des Imperium Romanum und bot für die frühe urchristliche Mission beste Voraussetzungen, denn hier sympathisierten zahlreiche Griechen mit der jüdischen Religion7. Aus Antiochia Vgl. dazu die Analysen bei W. KRAUS, Volk Gottes (s. u. 6.7), 12–110.
6
7 Vgl. Jos, Bell 7,45, die Juden „veranlassten ständig eine Menge Griechen, zu ihren Gottesdiensten
176 Frühe beschneidungsfreie Mission
stammte auch der zum Stephanuskreis gehörende Proselyt Nikolas (Apg 6,5), und in Antiochia ging man offentsichtlich dazu über, auch unter der griechischen Bevölkerung planmäßig und mit großem Erfolg das Evangelium zu verkünden8. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte gehörten Barnabas und Paulus nicht von Anfang an der antiochenischen Gemeinde an, sondern sie traten erst nach dem Beginn der beschneidungsfreien Mission dort in die Arbeit ein (vgl. Apg 11,22.25). Offenbar kam Paulus erst in Antiochia mit den Jerusalemer Hellenisten in Kontakt9. Die Mission der antiochenischen Gemeinde unter Juden und vor allem Menschen aus griechisch-römischer Tradition muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn nach Apg 11,26 kam in Antiochia als Fremdbezeichnung der Begriff Cristianoı´ („Christianer“) für die Anhänger der neuen Lehre auf. Die Christen wurden somit Anfang der 40er Jahre erstmals als eigene Gruppe neben Juden und Heiden wahrgenommen. Sie galten nun zunehmend aus heidnischer Perspektive als eine nichtjüdische Bewegung und müssen ein erkennbares theologisches Profil und eine organisatorische Eigenstruktur gewonnen haben10. Die Bedeutung von Antiochia
Die herausgehobene Stellung von Antiochia in der urchristlichen Theologiegeschichte war immer der Anlass für weitreichende historische und theologische Schlussfolgerungen. Für die Religionsgeschichtliche Schule bildete Antiochia nicht nur das fehlende Glied zwischen der Urgemeinde und Paulus, diese Stadt war zugleich der Geburtsort des Christentums als einer synkretistischen Religion. Hier vollzog sich die für die Geschichte des frühen Christentums so einschneidende Entwicklung, „durch die aus dem zukünftigen Messias Jesus der als Kyrios seiner Gemeinde gegenwärtige Kultheros wurde.“11 Auch in der aktuellen Forschung gilt Antiochia teilweise als Mutterboden frühchristlicher, speziell paulinischer Theologie. Danach wurde Paulus hier nicht nur grundlegend in den christlichen Glauben eingeführt, sondern alle zentralen Anschauungen seiner Theologie entstanden bereits in Antiochia. „Was Paulus später an alter Tradition benutzt, entstammt im wesentlichen dem antioche-
zu kommen, und machten diese gewissermaßen zu einem Teil der ihren“; zu Antiochia vgl. M. HENGEL/ A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 274–299. 8 Für die Historizität dieser Nachrichten spricht, dass sie sich von der lukanischen Sicht unterscheiden; danach erfolgt die Missionierung Zyperns erst durch Paulus und Barnabas (vgl. Apg 13,4; 15,39). Nicht Petrus (vgl. Apg 10,1–11,18), sondern jene unbekannten christlichen Missionare leiten die entscheidende Epoche in der Geschichte des Urchristentums ein; zur Analyse von Apg 11,19–30 vgl. A. WEISER, Apg I (s. u. 8.4), 273–280. Freilich kann dies
nicht bedeuten, dass es vor Antiochia keine Verkündigung gegenüber griechischsprachigen Nichtjuden gab! Die Mission in Samaria, Damaskus, Arabien und Kilikien schloss sicherlich auch diese Gruppe ein; vgl. M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 300. 9 Vgl. J. WELLHAUSEN, Kritische Analyse der Apostelgeschichte, Berlin 1914, 21. 10 Vgl. A. V. HARNACK, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten I, Leipzig 41923, 425 f. 11 W. BOUSSET, Kyrios Christos (s. o. 4), 90.
Die Stellung des Paulus 177
nischen Gemeindewissen.“12 An den Texten verifizieren lassen sich diese weitreichenden historischen und theologischen Schlussfolgerungen nicht13: 1) Nach Apg 11,26 arbeiteten Barnabas und Paulus lediglich ein Jahr in Antiochia selbst zusammen14, und sie werden von Lukas als Lehrer der antiochenischen Gemeinde dargestellt. Lukas minimiert den direkten Aufenthalt des Paulus in Antiochia, der in seiner Länge im Vergleich mit den Gründungsaufenthalten des Apostels in Korinth (Apg 18,4: 1 1/2 Jahre) und Ephesus (Apg 19,10: über 2 Jahre) als normal angesehen werden muss. Zwar kehrte Paulus am Ende der ersten Missionsreise nach Antiochia zurück (vgl. Apg 14,28), doch dies ist im Vergleich mit den Reisestationen der späteren Missionsreisen ein üblicher Vorgang. 2) Paulus erwähnt Antiochia nur in Gal 2,11, während die Zeit zwischen dem 1. und 2. Jerusalembesuch und damit auch die Epoche der Anbindung an Antiochia von ihm faktisch verschwiegen wird. Die besondere Stellung der antiochenischen Gemeinde in der urchristlichen Theologiegeschichte und auch ihr Einfluss auf Paulus stehen dennoch außer Zweifel; Antiochia war ein Zentrum frühchristlicher Mission und eine bedeutsame Station für Paulus. Hier erfolgte der Übergang zu einer programmatischen beschneidungsfreien Mission unter Menschen griechisch-römischer Religiosität. Zugleich ist aber davor zu warnen, alle wesentlichen frühchristlichen Traditionen nach Antiochia zu verorten und die dortige Gemeinde „zum ‚Sammelbecken‘ für das Nichtwissen urchristlicher Zusammenhänge werden zu lassen.“15
5.3
Die Stellung des Paulus
Nach seiner Berufung zum Apostel beriet sich Paulus nach seiner Eigenaussage weder mit anderen Menschen, noch zog er hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor ihm Apostel waren, „sondern ich begab mich hinweg in die Arabia und kehrte wieder nach Damaskus zurück“ (Gal 1,17b)16. Über den Aufenthalt des Apostels in der Arabia liegen keine Informationen vor, aber es dürfte damit die steinige Wüstengegend südöstlich von Damaskus gemeint sein, die den nördlichen Teil des Nabatäerreiches bildete. Zum wirtschaftlichen Einflussbereich des Nabatäerreiches gehörte damals auch Damaskus (2Kor 11,32), wohin Paulus zurückkehrte und erstmals längere Zeit in einer christlichen Gemeinde mitarbeitete. Erst im dritten Jahr nach seiner Berufung zum Apostel (= 35 n.Chr.) besuchte Paulus die Jerusalemer Urgemeinde (Gal 12 J. BECKER, Paulus (s. u. 6), 109. 13 Zur Kritik am in der Literatur weit verbreiteten
‚Pan-Antiochenismus‘ vgl. auch M. HENGEL/ A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 432–438. 14 Vgl. J. WEISS, Das Urchristentum, Göttingen 1917, 149; G. LÜDEMANN, Das frühe Christentum nach
den Traditionen der Apostelgeschichte, Göttingen 1987, 144. 15 A. WECHSLER, Geschichtsbild und Apostelstreit, BZNW 62, Berlin 1991, 266. 16 Zu den Problemen der paulinischen Chronologie vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 29–40.
178 Frühe beschneidungsfreie Mission
1,18–20). Im Anschluss an den kurzen Jerusalemaufenthalt begab sich Paulus um 36/37 n.Chr. in die Gebiete von Syrien und Kilikien (Gal 1,21). Mit Syrien dürfte das Gebiet um Antiochia am Orontes und mit Kilikien das Gebiet um Tarsus gemeint sein. Paulus wirkte wahrscheinlich zunächst in Tarsus und im kilikischen Raum, aber der Charakter dieser Mission lässt sich weder aus den Paulusbriefen noch aus der Apostelgeschichte erhellen. Übermäßig erfolgreich dürfte diese ca. sechsjährige Tätigkeit17 nicht gewesen sein, denn Paulus schloss sich um 42 n.Chr. als ‚Juniorpartner‘ des Barnabas der antiochenischen Mission an. Die Personallegende Apg 4,36f und die Aufzählung Apg 13,1 lassen die (auch gegenüber Paulus) hervorgehobene Stellung des Barnabas erkennen; nach Gal 2,1.9 erscheint er als gleichberechtigter Gesprächspartner beim Apostelkonzil. Paulus akzeptierte Barnabas uneingeschränkt (vgl. 1Kor 9,6), widerstand ihm aber beim antiochenischen Zwischenfall (vgl. Gal 2,11–14). Die theologischen Anschauungen des Barnabas lassen sich nur indirekt erschließen, sicherlich war er aber neben Paulus ein exponierter Vertreter der beschneidungsfreien Mission von Nichtjuden18. Nach Beendigung ihrer Mission in Syrien und Teilen Kleinasiens kehrten Barnabas und Paulus nach Antiochia zurück, um dann nach Jerusalem zum Apostelkonzil gesandt zu werden (vgl. Apg 15,1f). Eine etwas andere Darstellung über den konkreten Anlass der Jerusalemreise gibt Paulus in Gal 2,2a: „Ich zog aber hinauf auf Grund einer Offenbarung . . .“ Er ordnet seine Präsenz beim Apostelkonzil also nicht mehr im Rahmen der antiochenischen Missionstätigkeit ein. Man kann vermuten, dass die Anbindung des Barnabas und Paulus an die antiochenische Gemeinde im Vorfeld des Apostelkonzils der lukanischen Geschichtsschau entspringt. Andererseits formuliert aber auch Paulus tendenziös, denn er will seine Unabhängigkeit von Jerusalem und anderen Gemeinden betonen. Zudem gibt er den konkreten Anlass für seine Teilnahme am Apostelkonzil selbst zu erkennen: mv´ pwß eiß keno`n tre´cw v edramon (Gal 2,2c: „damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre“). Toraobservante Judenchristen waren in die Heimatgemeinden des Apostels eingedrungen, sie beobachteten die dort gelebte Freiheit (von der Tora) und sind nun auf dem Apostelkonzil präsent, um die Beschneidung von Christen griechisch-römischer Religiosität zu fordern 17 Die Zeitdauer dieser Mission ist schwer einzuordnen; als Argumente für die genannten Zeiträume lassen sich anführen: 1) Lukas setzt mit Apg 12,1a („Um jene Zeit aber“) den Beginn des Wirkens von Barnabas und Paulus in Antiochia in eine zeitliche Beziehung zu der Verfolgung der Urgemeinde durch Agrippa I. (vgl. Apg 12,1b–17). Diese Verfolgung ereignete sich wahrscheinlich im Jahr 42 n.Chr. (vgl. R. RIESNER, Frühzeit des Apostels Paulus [s. o. 5], 105–110). 2) Die in Apg 11,28 erwähnte Hungersnot und die Unterstützung der Antiochener für Jerusalem (Apg 11,29) fallen in den Zeitraum zwischen 42
und 44 n.Chr. (vgl. R. Riesner, a. a. O., 111–121). Etwas anders M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 267–275, die mit drei bis vier Jahren Aufenthalt des Apostels in Kilikien rechnen (zwischen 36/37 u. 39/40 n.Chr.), bevor Paulus sich nach selbständiger und erfolgreicher Missionstätigkeit der antiochenischen Mission anschloss (ca. 39/40–48/49 n.Chr.). 18 Vgl. zu Barnabas bes. B. KOLLMANN, Joseph Barnabas, SBS 175, Stuttgart 1998; M. HENGEL/A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 5), 324–334; M. ÖHLER, Barnabas, Leipzig 2006.
Die Stellung des Paulus 179
(Gal 2,4f). Paulus befürchtete offensichtlich, dass seine bisherige beschneidungsfreie (und damit aus jüdischer und streng judenchristlicher Sicht faktisch torafreie) Mission19 durch die Agitation dieser Gegner und ein von ihnen beeinflusstes Votum der Jerusalemer zunichte gemacht werden könnte. Dann wäre er seinem apostolischen Auftrag nicht nachgekommen, Gemeinden zu gründen (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,15– 18.23; 2Kor 1,14). Mehr noch: Der Apostel sah seinen Ruhm am Tag Christi, sein eschatologisches Heil in Gefahr, wenn er seine ureigenste Aufgabe verfehlen würde (vgl. Phil 2,16). Das Apostelkonzil ist mittelbar auch eine Folge bedeutender Veränderungen in der Geschichte der Urgemeinde. Im Rahmen der Verfolgungen durch Agrippa I. wurde im Jahr 42 n.Chr. nicht nur der Zebedaide Jakobus getötet (Apg 12,2), sondern Petrus verließ Jerusalem (Apg 12,17) und gab damit die Leitung der Urgemeinde auf. Der Herrenbruder Jakobus (vgl. Mk 6,3) trat offensichtlich an seine Stelle, wie ein Vergleich von Gal 1,18f mit 2,9; 1Kor 15,5 mit 15,7, aber auch die letzten Worte des Petrus in Apg 12,17b („Berichtet dies dem Jakobus und den Brüdern“) und Apg 15,13; 21,18 zeigen20. Während Petrus wahrscheinlich eine liberale Haltung in der Frage nach Aufnahme von Unbeschnittenen in die neue Bewegung einnahm (vgl. Apg 10,34–48; Gal 2,11.12) und sich später selbst der Mission an Menschen aus griechisch-römischer Religiosität öffnete (vgl. 1Kor 1,12; 9,5), müssen Jakobus und seine Gruppe (vgl. Gal 2,12a) als Repräsentanten eines strengen Judenchristentums gelten, das sich bewusst als Teil des Judentums verstand und die Aufnahme in die neue Bewegung an eine Torabeachtung band21. Er lehnte eine Tischgemeinschaft zwischen Judenchristen und Christen aus griechisch-römischer Tradition ab (Gal 2,12a) und wurde offenbar von den Pharisäern hoch geschätzt. Josephus berichtet, dass nach dem Martyrium des Jakobus im Jahr 62 n.Chr. die Pharisäer erbittert die Absetzung des verantwortlichen Hohenpriesters Ananus verlangten22. Es muss als sehr wahrscheinlich gelten, dass die Befürworter einer Beschneidung von Christen aus griechisch-römischer Tradition sich durch die theologische Haltung des Jakobus in ihrer Forderung zumindest bestärkt fühlen konnten.
Die auf dem Apostelkonzil im Jahr 48 n.Chr. verhandelten Sachprobleme beschäftigten Paulus innerhalb seiner selbständigen Missionstätigkeit in zunehmendem Maß und spiegeln sich auch in seinen zwischen 50–56 n.Chr. abgefassten Briefen wider: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um zur auserwählten Gemeinde Gottes zu gehören und gleichzeitig die Kontinuität zum Gottesvolk des ersten Bundes zu wahren? Soll die Beschneidung als Zeichen des Bundes (vgl. Gen 17,11) und damit der
19 Eine prinzipiell ‚gesetzesfreie‘ Heidenmission hat Paulus nie betrieben, denn zentrale ethische Inhalte der Tora (z. B. der Dekalog) galten natürlich auch für Christen griechisch-römischer Religiosität (s. u. 6.5.3).
20 Vgl. dazu G. LÜDEMANN, Paulus, der Heidenapostel
II (s. u. 6), 73–84. 21 Vgl. dazu auch W. KRAUS, Zwischen Jerusalem
und Antiochia (s .o. 5), 134–139. 22 Vgl. Jos, Ant 20,199–203.
180 Frühe beschneidungsfreie Mission
Zugehörigkeit zum erwählten Volk Gottes23 auch für Christen aus griechisch-römischer Tradition generell verpflichtend sein? Muss ein Heide erst Jude werden, um Christ sein zu können? Wurde man aus jüdischer Perspektive nur durch Beschneidung und rituelles Tauchbad zum Proselyten und damit zum Glied des erwählten Gottesvolkes, dann lag aus streng judenchristlicher Sicht die Folgerung nahe, dass nur die Taufe auf den Namen Jesu Christi und die Beschneidung den neuen Heilsstatus vermitteln24. Die auf dem Apostelkonzil (und beim antiochenischen Konflikt) verhandelten Probleme fallen somit in eine Zeit, in der die Definition dessen, was auf ritueller und sozialer Ebene das Christentum ausmacht, noch nicht abgeschlossen und damit auch noch nicht festgelegt war. Weder die christlichen Identitätszeichen (‚identity markers‘) noch der daraus folgende Lebenswandel (‚life-style‘) waren wirklich geklärt. Konnten christliche Gemeinden aus griechisch-römischer Tradition in gleicher Weise anerkannt werden wie judenchristliche Gemeinden, die zu einem erheblichen Teil noch innerhalb des Synagogenverbandes lebten? Muss die für jüdisches Selbstverständnis konstitutive Einheit von Volks- und Religionsgemeinschaft aufgehoben werden? Was bewirkt Heiligung und Reinheit? Wodurch erlangen die an Jesus Glaubenden Anteil am Volk Gottes, wie werden sie Träger der Verheißungen des Bundes Gottes mit Israel? Inwieweit sollen jüdische Identitätszeichen wie Beschneidung, Tischgemeinschaft nur unter Volksgenossen und Sabbat auch für die sich bildenden Gemeinden aus griechisch-römischer Religiosität gelten? Schließt die durch den Christusglauben bereits erfolgte grundsätzliche Statusveränderung weitere Statusveränderungen mit ein? Lassen sich in gleicher Weise Regelungen für die Glaubenden aus Judentum und griechisch-römischer Tradition finden, oder müssen unterschiedliche Wege beschritten werden? Sind Taufe und Beschneidung für alle Christusgläubigen verbindliche Initiationsriten, oder ermöglicht schon/nur die Taufe die vollgültige Aufnahme in das Volk Gottes? Das Apostelkonzil gab keine allgemein akzeptierte Antwort auf diese Fragen25, so dass weitere Auseinandersetzungen geradezu unausweichlich waren. Die paulinische Theologie ist in diesen konfliktreichen Prozess der Selbstdefinition des frühen Christentums eingebunden und wesentlich aus ihm heraus zu erklären, zugleich stellt sie aber die maßgebliche Lösung der Probleme dar.
23 Vgl. hierzu O. BETZ, Art. Beschneidung II, TRE 5,
Berlin 1980, 716–722. 24 Einen vollgültigen Übertritt zum Judentum ohne Beschneidung hat es wahrscheinlich nie gegeben;
vgl. die Analyse der Texte bei W. KRAUS, Das Volk Gottes (s. u. 6.7), 96–107. 25 Vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. u. 6), 117–135.
6.
Paulus: Missionar und Denker
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Paulus war zweifellos der überragende Missionar und theologische Denker des frühen Christentums. Wer immer sich dieser vielschichtigen Persönlichkeit nähert und sich die Geschichte seines Wirkens vor Augen stellt, muss seine besondere historische Situation und die damit verbundenen theologischen Herausforderungen bedenken (s. o. 5.3). Die beschneidungsfreie Mission begann zwar schon vor Paulus, aber er wurde durch seine Erfolge zum Praktiker und dann auch unausweichlich zum Theoretiker dieser Entwicklung. Der große Erfolg seiner beschneidungsfreien Mission
182 Paulus: Missionar und Denker
stellte Paulus vor enorme Probleme, denn er musste als erster jene unausweichlichen Aporien zur Kenntnis nehmen, mit denen sich das formierende Christentum immer stärker konfrontiert sah. Er musste zusammen denken und in eine innere Stimmigkeit bringen, was nicht zu harmonisieren war: Gottes erster Bund bleibt gültig, aber nur der neue Bund rettet. Das erwählte Gottesvolk Israel muss sich zu Christus bekehren, um mit den glaubenden Menschen aus den Völkern das eine wahre Gottesvolk zu werden. Als homo religiosus war Paulus immer auch ein bedeutender Denker; auf seine Person trifft zu, was auch für andere gilt: Alle großen Denker im zeitlichen Umfeld des Neuen Testaments waren Theologen und umgekehrt (z. B. Cicero, Philo, Seneca, Epiktet, Plutarch, Dio Chrysostomus). Dies ist nicht verwunderlich, denn jedes bedeutende System der griechisch-römischen Philosophie gipfelt in einer Theologie1. Weil in der Antike Philosophie und Theologie zusammengehörten, durchdrangen sich philosophische und religiöse Themen und wurden keineswegs als Gegensätze im neuzeitlichen Sinn wahrgenommen. Zwar war Paulus zweifellos auch nach antiken Kategorien kein Philosoph, aber seine Theologie weist eine denkerische Kraft auf2. Sie zeigt sich vor allem in der Umsetzung von religiösen Erfahrungen und Überzeugungen, die Systemqualität gewinnen mussten, bevor sie eine solche Wirkungsgeschichte entwickeln konnten wie die Gedanken des Paulus. Um etablierte Deutesysteme abzulösen, müssen sich neue Denkmodelle und Überzeugungen im Kontext konkurrierender Systeme und der maßgeblichen kulturell-religiösen Diskurse behaupten und bewähren sowie über Anschlussfähigkeit, Plausibilität und überraschende Momente verfügen. All das trifft für Paulus zu und deshalb ist seine Theologie auch als bedeutende Denkleistung zu würdigen3. Der nachhaltige Erfolg des Christentums im Allgemeinen und der paulinischen Theologie im Besonderen hängt wesentlich auch damit zusammen, dass sie emotional und intellektuell attraktiv waren und plausible Antworten auf drängende Lebensfragen von Menschen gaben. Heilsgegenwart als Zentrum paulinischer Theologie
Paulus konnte angesichts der großen denkerischen Herausforderungen und der bewegten Geschichte des frühen Christentums nur bestehen, weil er eine unverrückbare
1 Einen Überblick vermittelt W. WEISCHEDEL, Der Gott der Philosophen I, München 21985, 39–69. 2 Zur Schulbildung des Paulus vgl. T. VEGGE, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, BZNW 134, Berlin 2006, 494: „Hinsichtlich Herkunft und Ausbildung wurde in dieser Untersuchung als wahrscheinlich angesehen, daß Paulus als Sohn eines römischen Bürgers in seiner Heimatstadt eine literarische Ausbildung in ihrer allgemeinen griechisch-hellenistischen Form erhielt, daß er bei
einem Redelehrer die Progymnasmata durchlief und daß er sich mit philosophischer Lehre und philosophischem Ethos vertraut gemacht hatte.“ 3 Es ist mehr als ein Zufall, dass in jüngster Zeit gerade Philosophen Paulus neu entdecken; vgl. J. TAUBES, Die Politische Theologie des Paulus, München 3 2003; A. BADIOU, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002; G. AGAMBEN, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006.
Paulus: Missionar und Denker 183
theologische Erkenntnis zum Ausgangspunkt, zur Basis und zum Zentrum seines Denkens und Handelns machte: die endzeitliche Gegenwart des Heils Gottes in Jesus Christus . Der eifernde Pharisäer wurde von der Erfahrung und Einsicht überwältigt, dass Gott in dem gekreuzigten, auferstandenen und in Kürze vom Himmel wiederkommenden Jesus Christus seinen endgültigen Heilswillen für die ganze Welt aufgerichtet hat. Gott selbst führte die Wende der Zeiten herbei; er setzte eine neue Wirklichkeit, in der die Welt und die Situation des Menschen in der Welt in einem veränderten Licht erscheinen. Ein völlig unerwartetes, singuläres Geschehen veränderte das Denken und Leben des Paulus fundamental. Er wurde vor die Aufgabe gestellt, vom Christusgeschehen her die Welt- und Heilsgeschichte, seine eigene Rolle darin und Gottes vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Handeln neu zu interpretieren. Die paulinische Theologie ist somit gleichermaßen ein Erfassen des Neuen und eine Deutung des Vergangenen. Paulus entwarf ein endzeitliches Szenario, dessen Grundlage Gottes Heilswille, dessen Eckpunkte Auferstehung und Parusie Jesu Christi, dessen bestimmende Kraft der Heilige Geist, dessen gegenwärtiges Ziel die Teilhabe der Glaubenden am neuen Sein und dessen Endpunkt die Verwandlung in eine pneumatische Existenz bei Gott war. Seit der Auferweckung Jesu Christi wirkt der Geist Gottes wieder, die getauften Christen sind von der Sünde geschieden und leben in einer qualitativ neuen Beziehung zu Gott und dem Kyrios Jesus Christus. Die in Taufe und Geistgabe sichtbare Erwählung der Christen und ihre Berufung als Teilhaber am Evangelium haben bis in das Eschaton hinein Gültigkeit, gegenwärtige Heilserfahrung und zukünftige Heilshoffnung verschränken sich4. Nicht nur ein neues Seinsverständnis, sondern das neue Sein selbst hat im umfassenden Sinn bereits begonnen! Die Glaubenden haben somit Teil an einem universalen Transformationsprozess, der mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten einsetzte, sich im gegenwärtigen macht- und heilvollen Wirken des Geistes fortsetzt und in der Verwandlung der gesamten Schöpfung in die Herrlichkeit Gottes hinein enden wird5. Die paulinische Theologie ist insgesamt durch den Gedanken der Heilsgegenwart geprägt.
Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. u. 6.4), 234: „Paul even describes the believers’ eschatological resurrection as a participation in Jesus’ resurrection.“ 5 Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik, 118: „Das Eigentümliche der paulinischen Mystik besteht gerade darin, 4
daß das Sein in Christo nicht ein von dem Einzelnen durch eine besondere Anstrengung des Glaubens herbeigeführtes subjektives Erlebnis ist, sondern etwas, das sich an ihm, wie an andern, bei der Taufe ereignet.“
184 Paulus: Missionar und Denker
6.1
Theologie
W. THÜSING, Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie, NTA 1, Münster 31986; CHR. DEMKE, „Ein Gott und viele Herren“. Die Verkündigung des einen Gottes in den Briefen des Paulus, EvTh 36 (1976), 473–484; E. GRÄSSER, „Ein einziger ist Gott“ (Röm 3,30). Zum christologischen Gottesverständnis bei Paulus, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, 231–258; T. HOLTZ, Theo-logie und Christologie bei Paulus, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 189–204; P.-G. KLUMBIES, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, FRLANT 155, Göttingen 1992; M. RESE, Der eine und einzige Gott Israels bei Paulus, in: Und dennoch ist von Gott zu reden (FS H. Vorgrimler), hg. v. M. Lutz-Bachmann, Freiburg 1994, 85–106; W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4); U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 441–461; C. BREYTENBACH, Der einzige Gott – Vater der Barmherzigkeit, BThZ 22 (2005), 37–54; R. FELDMEIER, „Der das Nichtseiende ruft, daß es sei“. Gott bei Paulus, in: Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder II, hg. v. R.G. Kratz/H. Spieckermann, Tübingen 2006, 135–152.
Der jüdische Monotheismus ist die Basis des paulinischen Denkens, denn es gibt nur den einen, wahren, seienden und handelnden Gott Israels6. Damit steht Paulus in seiner Theo logie in Kontinuität zu jüdischen Basissätzen: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Vollender der Welt. Zugleich verändert die Christo logie fundamental die Theologie, Paulus verkündigt einen christologischen Monotheismus.
6.1.1
Der eine und wahre Schöpfergott
Zu den Grundüberzeugungen des jüdischen Glaubens gehört die Einzigkeit und Einzigartigkeit Gottes7; es gibt nur einen Gott, außer dem kein Gott ist (Dtn 6,4b: „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist einer!“; vgl. ferner Jes 44,6; Jer 10,10; 2Kön 5,15; 19,19 u. ö.). In Arist 132 beginnt eine Belehrung über das Wesen Gottes mit der Feststellung, „dass nur ein Gott ist und seine Kraft durch alle Dinge offenbar wird, da jeder Platz voll seiner Macht ist.“ Im scharfen Kontrast zur antiken Vielgötterei betont Philo: „So wollen wir denn das erste und heiligste Gebot in uns befestigen; Einen für den höchsten Gott zu halten und zu verehren; die Lehre der Vielgötterei darf nicht einmal das Ohr des in Reinheit und ohne Falsch die Wahrheit suchenden Mannes 6 Bereits der sprachliche Befund signalisiert die Bedeutsamkeit des Themas, denn in den Protopaulinen erscheint o heo´ß 430mal; 1Thess: 36mal; 1Kor: 106mal; 2Kor: 79mal; Gal: 31mal; Röm: 153mal; Phil: 23mal; Phlm: 2mal. 7 Zur Herausbildung des Monotheismus innerhalb der israelitischen Religionsgeschichte vgl. M. ALBANI,
Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen (s. o. 3.3.1); W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 4–35. Der Monotheismus bestimmt auch wesentlich die Außenwahrnehmung des Judentums; Tacitus betont, „bei den Juden gibt es nur eine Erkenntnis im Geist, den Glauben an einen einzigen Gott“ (Hist V 5,4).
Theologie 185
berühren.“8 Für Paulus ist Gottes Einzigkeit gedankliches und praktisches Fundament seines Denkens. Zwar existieren zahlreiche sogenannte Götter im Himmel und auf Erden (vgl. 1Kor 8,5; 10,20), zugleich gilt aber: „So gibt es denn für uns nur einen Gott, den Vater“ (1Kor 8,6a). Die Christen in Thessalonich bekehrten sich von den Götzen zu dem einen, wahren Gott (1Thess 1,9f) und programmatisch schreibt Paulus der römischen Gemeinde: „Wenn denn Gott einer ist, der rechtfertigen wird die Beschnittenen aus Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben“ (Röm 3,30). Die Grundlage der Differenzierung zwischen Gott, dem Gesetz, Mose und den Engeln in Gal 3,19f ist der Glaubenssatz: „Gott aber ist einer“ (Gal 3,20: o de` heo`ß eıß estin). Die Erkenntnis der Einzigkeit Gottes hat für Paulus auch ethische Dimensionen, denn die Grundaussage im Streit um das Götzenopferfleisch lautet: „Wir wissen, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass es keinen Gott gibt außer einem“ (1Kor 8,4). Gottes Gottheit zeigt sich zuerst in seinem Schöpferhandeln . Für Paulus ist die ganze Welt Gottes Schöpfung (1Kor 8,6; 10,26)9; der Schöpfergott der Genesis ist kein anderer als der an Jesus Christus und den Glaubenden Handelnde (2Kor 4,6). Gott ruft das Nichtseiende ins Sein10, er allein macht die Toten lebendig (Röm 4,17) und ist der ‚Vater‘ der Welt (1Kor 8,6; Phil 2,11). Nur über ihn kann gesagt werden: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (Röm 11,36a). Vor der Welt und der Geschichte steht Gott, „der über allem ist“ (Röm 9,5) und von dem es heißt, er werde am Ende „alles in allem“ sein (1Kor 15,28). Alles ist und bleibt Schöpfung Gottes, selbst wenn Menschen ihrer Bestimmung entfliehen, indem sie Götzen verehren11. In seiner Schöpfung lässt sich Gott vernehmen (Röm 1,20.25), aber obwohl die Menschen von Gott wussten, „haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht und ihm gedankt, sonder sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit, und es verfinsterte sich ihr unverständiges Herz“ (Röm 1,21). Immer wieder zieht es die Menschen zu den Mächten hin, die von Natur aus keine Götter sind (Gal 4,8). Trotz dieses Dranges des Menschen, sich selbst Götter zu schaffen oder an die Stelle Gottes zu treten, bleiben Welt und Mensch Gottes Schöpfung. Als Schöpfer ordnet Gott das menschliche Leben, indem er ihm ein politisches (Röm 13,1–7) und soziales (1Kor 7) Gefüge gibt. Die Glaubenden sind aufgerufen, den Willen Gottes zu erkennen und zu befolgen (1Thess 4,3; Röm 12,1). Als Herr der Geschichte lenkt er die Geschehnisse,
8 Philo, Decal 65; ferner Jos, Ant 3,91. Die antike Vielgötterei mit ihren zahllosen Götterbildern war natürlich auch für den heidnischen Philosophen Gegenstand des Spottes; vgl. Cic, Nat Deor I 81–84. 9 Zu Schöpfung und Kosmos bei Paulus vgl. G. BAUMBACH, Die Schöpfung in der Theologie des Paulus, Kairos 21 (1979), 196–205; H. SCHLIER, Grundzüge (s. o. 6), 55–63; J. BAUMGARTEN, Paulus
und die Apokalyptik (s. u. 6.8), 159–179; J. D. G. DUNN, The Theology of Paul (s. o. 6), 38–43. 10 Auch in der griechisch-römischen Tradition findet sich natürlich die Vorstellung, dass Gott der Vater und Schöpfer der Welt/des Alls ist; vgl. Plat, Tim 28c; Cic, Nat Deor I 30. 11 Vgl. J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 404 f.
186 Paulus: Missionar und Denker
er bestimmt die Heilszeit (Gal 4,4) und hat als Richter das letzte Wort über das Schicksal der Menschen (Röm 2,5ff; 3,5.19). Das endzeitliche Gericht müssen die Glaubenden nicht fürchten, denn der Apostel ist sich gewiss, „dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Herrscher, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein Geschöpf uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus, unserm Herrn ist“ (Röm 8,38f). Schöpfung und Menschheit haben nicht nur denselben Ursprung, sondern ihr Geschick wird auch in Zukunft miteinander verschränkt sein. Protologie und Eschatologie, Universal- und Individualgeschichte entsprechen sich bei Paulus, weil Gott der Anfang und das Ziel alles Seienden ist (vgl. Röm 8,18ff). Von Gott kommt alles her, durch ihn hat alles Bestand und auf ihn läuft alles zu. Der Schöpfergott erwies seine Lebensmacht in der Auferstehung Jesus Christi und wird sie auch den Glaubenden zuteil werden lassen: „Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckt hat, in euch wohnt, dann wird der, welcher Christus von den Toten erweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt“ (Röm 8,11).
6.1.2
Der Vater Jesu Christi
Bei Paulus ersetzt die Christologie nicht die Theologie, sondern wer und was Jesus Christus ist, wird vom Handeln Gottes her beantwortet12. Gottes Handeln an und durch Jesus Christus ist die Basis der Christologie, zugleich aber auch das Zentrum der Gotteslehre, denn Gott ist so zu denken, wie er sich in Jesus Christus erschlossen hat. Gott sandte Jesus Christus (Gal 4,4f; Röm 8,3f), er hat ihn dahingegeben und auferweckt (Röm 4,25; 8,32). Durch Christus versöhnte Gott die Welt (2Kor 5,18f) und rechtfertigt die Glaubenden (Röm 5,1–11)13. Die Gemeinde wird aufgefordert, ihr Leben für Gott in Christus auszurichten (Röm 6,11). Gott gegenüber erwies sich Jesus Christus als gehorsam (Phil 2,8; Röm 5,19). Es ist geradezu das Kennzeichen des von Paulus verkündigten Gottes, dass er Jesus Christus von den Toten auferweckt hat (vgl. 1Thess 1,10; 4,14; 1Kor 15,12–19). Gott ist der Ursprung aller ca´riß (Röm 1,7; 3,24; 1Kor 15,10) und das Ziel der Erlösung (1Kor 15,20–29). Hinter dem Christusgeschehen steht ausschließlich und wirkungsmächtig der Heilswille Gottes. Zugleich ist aber das Handeln Gottes Ausdruck der einzigartigen Würde und Stellung Jesu Christi. Über das Verhältnis von Gott zu Jesus Christus dachte Paulus nicht in begrifflich-ontologischen Kategorien der späteren Lehrentwicklung nach, dennoch sind zwei Linien unverkennbar. Zum einen zeigt sich deutlich ein subordinatianischer 12 Vgl. W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einzigkeit und Einheit Gottes (s. o. 4), 200: „Jesus Christus ist nur von Gott her und auf Gott hin zu verstehen.“
13 Zu dia` Cristou˜ bei Paulus vgl. W. THÜSING, Gott
und Christus (s. o. 6.1), 164–237.
Theologie 187
Zug in der paulinischen Christologie. So setzt Paulus in 1Kor 11,3 eine Stufenfolge voraus14: „Das Haupt des Mannes ist Christus, das Haupt der Frau aber ist der Mann, das Haupt Christi aber ist Gott.“ Eine Unterordnung Christi zeigt sich auch in 1Kor 3,23 („Ihr gehört zu Christus, Christus aber gehört zu Gott“)15 und 1Kor 15,28 („Wenn ihm alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei“). Speziell 1Kor 15,23–28 spricht von einer zeitlichen Begrenzung der Herrschaft Jesu Christi und signalisiert damit deutlich die Unterordnung des Sohnes unter den Vater. In Phil 2,8f ist der Gehorsam Christi gegenüber Gott Voraussetzung für seine Erhöhung zum Kyrios. Zugleich sind die paulinischen Formulierungen aber für eine ansatzweise Gleichsetzung von Gott und Christus offen. Seine Gebete richtet der Apostel sowohl an Gott (vgl. z. B. 1Thess 1,2f; Röm 8,15f; 15,30ff) als auch an Jesus Christus (2Kor 12,8). In Phil 2,6 wird der präexistente Jesus Christus isa hew˜ („Gott gleich“) genannt und in Röm 9,5 setzt Paulus den aus Israel stammenden Cristo`ß kata` sa´rka mit Gott gleich („Von den Vätern, von denen Christus dem Fleisch nach abstammt, der Gott ist über allem; gelobt sei er in Ewigkeit“)16. Die Mittlerschaft
Unter-, Neben- und Hinordnung Jesu Christi im Verhältnis zu Gott sind für Paulus offenbar keine Gegensätze: Die Linien treffen sich in der Kategorie der Mittlerschaft, denn Jesus Christus ist der Schöpfungs- und Heilsmittler . Die vorpaulinische Tradition 1Kor 8,617 entfaltet diesen Gedanken, indem sie in kühner Weise die Geschichte Gottes mit der Geschichte Jesu Christi verbindet: „So gibt es für uns (nur) einen Gott, den Vater, aus dem alles ist und wir auf ihn hin; und einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“ Der Text bestimmt das Verhältnis von Theologie und Christologie im Horizont des Monotheismus, wobei die eıß-Prädikation nicht nur dem Vater, sondern auch dem Kyrios Jesus Christus zuerkannt wird. Der eine Gott wird damit nicht in zwei Götter aufgespalten, sondern die Einzigkeit Gottes erschließt sich nur durch das einzigartige Heilswerk Jesu Christi18. Christus verbleibt
14 Zur Analyse vgl. W. THÜSING, a. a. O., 20–29. 15 Vgl. a. a. O., 10–20. 16 Es handelt sich hierbei um die grammatisch naheliegendste und inhaltlich schwierigste Interpretation; vgl. H.-CHR. KAMMLER, Die Prädikation Jesu Christi als „Gott“ und die paulinische Christologie, ZNW 94 (2003), 164–180; zum Für und Wider vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer II, EKK VI/2, Neukirchen 1980, 189. 17 Zur Interpretation vgl. neben den Kommentaren W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 225–232; O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler und Erlösungsmittler. Das Bekenntnis 1Kor 8,6 im Kontext
der paulinischen Theologie, in: U. Schnelle/Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000, 47–58. 18 Vgl. W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Chrsitus III, 374: „Die Einzigartigkeit des Kyrios ist spezifisch anders als die Einzigkeit Gottes – und doch ist die Einzigkeit Gottes (also theo-logisch, durch die Aufnahme des Gekreuzigten in die Mitte des Geheimnisses Gottes) konstituiert. Durch die Einzigkeit des Kyrios Jesus Christus, seines Sohnes, will Gott seine eigene Einzigkeit als des in Schöpfung und Neuer Schöpfung Handelnden verwirklichen.“
188 Paulus: Missionar und Denker
seinem Ursprung und seinem Wesen nach ganz auf der Seite Gottes, es gibt keine Konkurrenz zwischen dem einen Gott und dem einen Herrn. Dennoch wird der eine Kyrios dem einen Gott nachgordnet, weil allein der Schöpfergott der Vater des Kyrios Jesus Christus ist. Ihre Existenz verdankt die Welt dem einen Gott allein, nur er ist der Ursprung alles Seienden. Der Kyrios ist präexistenter Schöpfungsmittler, der eine Gott ließ ‚alles‘ durch den einen Herrn entstehen. Die gesamte Schöpfung ist nach dem Willen Gottes unauflöslich mit Jesus verbunden: „Darum hat Gott ihn auch über alles erhöht und ihm den Namen über alle Namen gegeben, damit vor dem Namen Jesu jedes Knie sich beugt, der himmlischen, irdischen und unterirdischen (Mächte), und jede Zunge bekennt: Herr ist Jesus Christus, zur Ehre Gottes des Vaters“ (Phil 2,9–11). Es entspricht dem Heilswillen Gottes für seine Schöpfung, dass Mächte, Gewalten und Menschen im Schöpfungsmittler Jesus Christus zugleich den Heilsmittler erkennen. Er steht am Anfang der Schöpfung und ist als Auferstandener Prototyp der Neuschöpfung. Als ‚Bild Gottes‘ (2Kor 4,4: eikw`n tou˜ heou˜) hat Jesus Christus teil am Wesen Gottes, im Sohn wird das wahre Wesen des Vaters offenbar. Christus nimmt die Glaubenden in einen geschichtlichen Prozess hinein, an dessen Endpunkt ihre eigene Verwandlung steht; sie sollen „dem Bild seines Sohnes gleichgestaltet werden, damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei“ (Röm 8,29). Die Aussagen über die Schöpfermittlerschaft Jesu Christi verdanken sich der Erfahrung seiner Heilsmittlerschaft, d. h. die Protologie zielt von vornherein auf die Soteriologie. Die Erlösung ist kein zufälliges Geschehen, sondern im Ursprung der Schöpfung bereits angelegt19. Das Verhältnis Jesu Christi zu Gott lässt sich im paulinischen Denken am sachgemäßesten als ‚Hinordnung ‘ bezeichnen20. Jesus Christus ist zugleich dem Vater untergeordnet und umfassend in sein Wesen und seine Stellung mit einbezogen. Diese Dynamik darf weder zur angeblichen Wahrung eines ‚reinen‘ Monotheismus noch zur ntl. Begründung ontologischer Kategorien der altkirchlichen Lehrbildung in die eine oder andere Richtung verschoben werden. Vielmehr ist sie die zutreffende Erfassung eines Sachverhaltes, der seinem Wesen nach in der nachösterlichen Sinnbildung nur paradox beschrieben werden konnte und keine einlinigen Lösungen zuließ: Der eine Gott hat sich in dem einen Menschen Jesus von Nazareth umfassend und endgültig offenbart, wobei mit ‚Offenbarung‘ ein Geschehen gemeint ist, das sich nicht erdenken, sondern nur erschließen lässt . Wie sind Kontinuität und Diskontinuität paulinischer Theo logie und Christo logie zum Judentum zu bestimmen? Zunächst kann von einer Kontinuität in mehrfacher 19 Vgl. O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler
und Erlösungsmittler, 56. 20 Vgl. W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 258: „Die paulinische Christozentrik ist von innen heraus ausgerichtet auf Gott, weil schon die Christo-
logie Pauli theozentrisch ist; und von hierher ist die Hinordnung der Christozentrik auf Gott genauso durchgängig gegeben wie die kurio´tvß und das Pneuma-Wirken Christi.“
Theologie 189
Hinsicht gesprochen werden: 1) Paulus wählt als Ausgangspunkt seiner Theologie nicht das Wirken des Jesus von Nazareth, sondern Gottes Handeln an ihm in Kreuz und Auferstehung, so dass schon von diesem Grundansatz her von einem Primat der Theo logie gesprochen werden kann. 2) Paulus behauptet eine Kontinuität im Handeln Gottes selbst. Die Präexistenzvorstellung (vgl. 1Kor 8,6; 10,4; Gal 4,4; Röm 8,3; Phil 2,6)21 zeigt ebenso wie die verheißungsgeschichtlichen Erwägungen in Gal 3,15–18 und Röm 4; 9–11, dass Paulus die Geschichte Gottes von Anfang an als Geschichte Jesu Christi begreift. Die Geschichte Israels wird und muss von Paulus konsequent von Jesus Christus her und auf ihn hin interpretiert werden22. Nur so kann er die Selbigkeit Gottes in seinem Handeln erweisen; nur auf diese Weise erscheint es ihm möglich, eine Aufspaltung des Gottesbegriffes und der Geschichte zu verhindern. Paulus konnte und wollte die Identität des Gottes Israels mit dem Vater Jesu Christi nicht infrage stellen. Ihm war es unmöglich, das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus von der Geschichte Israels zu lösen, denn es gibt nur eine Geschichte Gottes, die von Anfang an durch die Schöpfungs- und Heilsmittlerschaft Jesu Christi bestimmt wird. 3) Paulus knüpft traditionsgeschichtlich bei seiner Verhältnisbestimmung von Gott und Jesus Christus an Vorstellungen des antiken Judentums an (s. o. 4.5), sprengt sie aber zugleich, weil es nach jüdischer Auffassung unmöglich war, einen am Kreuz Verstorbenen in gottgleicher Art zu verehren. Während der Gottesgedanke die Kontinuität zum Judentum verbürgt, sprengt die Christologie jede Einheit und begründet die theologische und damit auch historische Diskontinuität zwischen dem sich herausbildenden frühen Christentum und dem Judentum 23. Der christologische Monotheismus des Paulus verändert und überschreitet fundamental jüdische Vorstellungen. Indem die Geschichte des gekreuzigten Jesus Christus von Anfang an als authentische Gottesgeschichte begriffen wird24, bildet sich ein neues Gottesbild und Gottesverständnis heraus: Gott ist so Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbarte. Der gekreuzigte Gott des Paulus und der Gott des Alten Testaments sind jedoch nicht vereinbar. Das Alte Testament schweigt von Jesus Christus, auch wenn Paulus versucht, dieses Schweigen durch gewagte Exegesen zum Sprechen zu bringen.
21 Zur Präexistenzvorstellung bei Paulus vgl. J. HABERMANN,
Präexistenzaussagen im Neuen Testament (s. u. 12.2.1), 91–223; H. V. LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (s. o. 4.5), 290–317; M. HENGEL, Präexistenz bei Paulus?, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift (FS O. Hofius), hg. v. Chr. Landmesser u. a., BZNW 86, Berlin 1997, 479– 517; TH. SÖDING, Gottes Sohn von Anfang an, in: Gottes ewiger Sohn, hg. v. R. Laufen, Paderborn 1997, 57–93. 22 Gegen P.-G. KLUMBIES, Die Rede von Gott (s. o. 6.1), 213: „Gott ist für Paulus nicht über sein Handeln in der Geschichte Israels zu definieren.“
23 Allerdings wird man kaum wie P.-G. KLUMBIES, a. a. O., 252, behaupten können, Paulus komme „unter der Hand zu einer prinzipiellen Neuformulierung des theo-logischen Gedankens.“ 24 Vgl. treffend O. HOFIUS, Christus als Schöpfungsmittler und Erlösungsmittler, 58: „Denn eines ist es, von Gottes ‚Weisheit‘ oder Gottes ‚Logos‘ zu reden und ihnen als den höchsten Kräften Gottes, mögen sie auch hypostasiert oder gar personifiziert gedacht sein, eine kosmologische und soteriologische Funktion zuzuschreiben, ein anderes aber, eben dieses von einem geschichtlichen Menschen auszusagen, der dazu noch am Kreuz hingerichtet worden ist!“
190 Paulus: Missionar und Denker
Wenn Gott sich im kontingenten Geschehen von Kreuz und Auferstehung letztgültig offenbarte, dann ist der Gedanke einer kontinuierlichen, an der Volkszugehörigkeit, dem Land, der Tora oder dem Bund orientierten Heils- und Erwählungsgeschichte nicht mehr tragfähig. Paulus will und kann diese Schlussfolgerung nicht ziehen, sondern versucht sie durch eine Neudefinition des Gottesvolkbegriffes zu umgehen (s. u. 6.7.1). Für Juden und strenge Judenchristen waren solche Versuche nicht akzeptabel, weil sie einer massiven Umdeutung ihrer eigenen Heilsgeschichte gleichkamen. Jüdischer Heilspartikularismus und frühchristlicher Heilsuniversalismus konnten nicht gleichzeitig gelten, weil beide Sinnwelten nicht kompatibel sind25! So ist schon bei Paulus trotz aller gegenseitigen Beteuerungen die Christologie der Sprengsatz, der die anfängliche Einheit zwischen den Christusgläubigen und dem Judentum aufhebt.
6.1.3
Gottes erwählendes und verwerfendes Handeln
In seiner unhinterfragbaren Freiheit begegnet Gott den Menschen als Berufender und Erwählender, aber auch als Verwerfender26. Paulus deutet seine eigene Geschichte in diesen Kategorien, wenn er davon spricht, es habe Gott wohlgefallen, „der mich von meiner Mutter Leibe an ausgesondert und mich berufen hat durch seine Gnade, seinen Sohn in mir zu offenbaren“ (Gal 1,15f). Der Apostel weiß sich wie seine Gemeinden in die Erwählungsgeschichte Gottes miteinbezogen, die bereits mit Abraham begann, im Christusgeschehen ihr Ziel erreichte und in der Transformation der Glaubenden in das himmlische Sein bei der Parusie ihre Vollendung finden wird. In diesem Bewusstsein entfaltet Paulus bereits in seinem ersten Brief eine Erwählungstheologie: Die Thessalonicher dürfen ihre Berufung als endzeitliche Gnadenwahl Gottes verstehen (1Thess 1,4; 2,12; 5,24), weil sie sich von den nichtigen Götzen zum einen, wahren Gott hinwandten (1Thess 1,9). Die Gemeinde weiß: „Denn Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern zur Erlangung der Rettung“ (1Thess 5,9). An menschliche Maßstäbe ist Gott dabei nicht gebunden, denn er erwählt die aus menschlicher Perspektive Einfältigen, Schwachen und Unehrenhaften (1Kor 1,25ff). Nach seinem Willen rettet die Torheit der Kreuzespredigt, nicht menschliche
25 Anders N. ELLIOTT, Paul and the Politics of Empire, in: R. A. Horsley (Hg.), Paul and the Politics (s. u. 6.2.1), 19ff, der den Gegensatz zwischen einem christlichen Universalismus und einem jüdischen Partikularismus mit dem Argument bestreitet, dass bei Paulus der Universalismus aus dem jüdischen Erbe stamme. 26 Zur Analyse der Prädestinationsaussagen bei
Paulus vgl. U. LUZ, Das Geschichtsverständnis bei Paulus (s. o. 6), 227–264; G. MAIER, Mensch und freier Wille, WUNT 12, Tübingen 1971, 351–400; B. MAYER, Unter Gottes Heilsratschluß. Prädestinationsaussagen bei Paulus, FzB 15, Würzburg 1974; G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, TANZ 14, Tübingen 1994, 113–176.
Theologie 191
Weisheit (1Kor 1,18ff), und die Menschheit spaltet sich auf in jene, die gerettet werden und jene, die verloren gehen (2Kor 2,15f). Nicht zufällig kulminieren die paulinischen Gedanken zu Berufung und Verwerfung in Röm 9–11. Sie liegen hier in der Konsequenz des paulinischen Freiheitsbegriffes, der Israelproblematik und der Rechtfertigunslehre des Röm. Bereits die Überlegungen des Apostel zur endzeitlichen Bestimmung der Glaubenden und des Kosmos in Röm 8, 18ff laufen auf den Problemkomplex Prädestination zu. Es gilt: „Die er vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“ (Röm 8,30). In Röm 9–11 vertritt Paulus eine doppelte Prädestination27. Gott beruft und verwirft, wen er will (vgl. Röm 9,16.18; vgl. ferner 2Kor 2,15). Sein auserwähltes Volk Israel wird geschlagen und wieder aufgerichtet, die Heiden bekommen Anteil am Heil, Gott vermag aber diesen neuen Zweig am Ölbaum auch wieder abzuschlagen (Röm 11,17–24). Damit kommt „zum Ausdruck, daß der Entschluß des Glaubens nicht wie andere Entschlüsse auf irgendwelche innerweltliche Motive zurückgeht, daß diese vielmehr angesichts der Begegnung des Kerygmas alle Motivationskraft verliert; d. h. zugleich, daß sich der Glaube nicht auf sich selbst berufen kann.“28 In dieser auf die glaubende Existenz des Einzelnen zentrierten Interpretation gehen die paulinischen Prädestinationsaussagen aber keinesfalls auf. Sie sind zuallererst theologische Sätze, die einen von Gott selbst in der Schrift geoffenbarten Sachverhalt mitteilen. Gott der Schöpfer kann in seiner unhinterfragbaren Freiheit nach seinem Willen erwählen und verwerfen. Der freie Wille ist somit für Paulus ausschließlich ein Prädikat Gottes. Der unendliche Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf begründet die spezifische Perspektive, von der aus Paulus den Menschen erfasst. Als Berufender tritt Gott dem Menschen entgegen, „Menschsein ist Berufensein und Angesprochensein durch Gott“29. Der Ruf Gottes begründet die christliche Existenz. Sie ist somit dem Menschen nicht verfügbar, vielmehr nur im Hören annehmbar. Das o kale´saß vma˜ß („der uns Berufende“) wird bei Paulus zu einem zentralen Gottesprädikat (vgl. 1Thess 2,12; 5,24; Gal 1,6; 5,8). Gott begegnet dem Menschen als berufendes Ich, dessen Willen sich in der Schrift kundtut30. Im Hinblick auf das Heil kann sich der Mensch deshalb immer nur als Empfangender und Beschenkter erfahren. Als Geschöpf ist er grundsätzlich nicht befähigt, Heil und Sinn zu entwerfen und zu verwirklichen. Will der Mensch sich selbst und seine Situation sachgemäß und realistisch verstehen und einschätzen, so muss er seine Geschöpflichkeit und damit seine Begrenztheit erkennen und ernst nehmen. Über Heil und Unheil entscheidet nicht das Geschöpf, sondern allein der Schöpfer. 27 So mit Nachdruck G. MAIER, Mensch und freier Wille, 356f; anders G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, 171 u. ö., wonach sich bei Paulus Gottes Wille und menschliche Entscheidung nicht ausschließen.
28 R. BULTMANN, Theologie, 331. 29 H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel (s.u. 6.8.4) 31f. 30 Vgl. a. a. O., 31–35.
192 Paulus: Missionar und Denker
Welche Funktion haben die Prädestinationsaussagen im Gesamtgefüge des paulinischen Denkens? Sie sind dem Apostel innerhalb seines Weltbildes vorgegeben, werden aber von ihm in unterschiedlicher Intensität aktiviert. Einerseits setzt Paulus Rettung, Verwerfung und Gericht in einem weiten Rahmen immer voraus, andererseits begibt er sich nur in Röm 9–11 in die argumentativen Tiefen und Abgründe dieses Themenkomplexes. Die besondere Gesprächssituation des Römerbriefes erfordert es, im Kontext der exklusiven Rechtfertigungslehre und der Israelthematik ausführlich auf die Prädestination einzugehen. Paulus zielt auf die Wahrung der Freiheit Gottes, deshalb betont er nachdrücklich eine theologische Grunderkenntnis: Gottes Handeln ist unabhängig von menschlichen Taten oder Voraussetzungen, sein Wille unserem Wollen immer vorgängig. Gottes Erwählungsgnade ist seine Rechtfertigungsgnade! Exklusive Rechtfertigungslehre und Prädestinationaussagen wahren somit gleichermaßen die Freiheit Gottes und die Unverfügbarkeit des Heils31. Dieses Argumentationsziel und die Beobachtung, dass die Prädestinationsaussagen in Röm 9–11 bei Paulus als eine Funktion der exklusiven Rechtfertigungslehre und der Israelthematik erscheinen, sollten davor warnen, sie in eine festgefügte, statische Prädestinationslehre zu zwängen. Zugleich gilt es gegen Relativierungs- und Nivellierungstendenzen festzuhalten, dass Paulus eine doppelte Prädestination vertritt: Der freie Wille ist im Hinblick auf das Heil ein Prädikat Gottes und nicht des Menschen. Heil und Unheil sind gleichermaßen allein im unhinterfragbaren Ratschluss Gottes begründet (anders Jak 1,13–15!). Allerdings stehen beide nicht gleichrangig nebeneinander, sondern Gottes universaler Heilswille wurde im Evangelium von Jesus Christus offenbar32, während Gottes Nein als Geheimnis der menschlichen Kenntnis entzogen ist.
6.1.4
Gottes Offenbarung im Evangelium
Gottes Offenbarung vollzieht sich im euagge´lion („Evangelium“)33, das seinem Ursprung und seiner Autorität nach das euagge´lion tou˜ heou˜ ist („Evangelium Gottes“; vgl. 1Thess 2,2.8.9; 2Kor 11,7; Röm 1,1; 15,16). Deshalb umfasst euagge´lion weitaus 31 Vgl. U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 249,
schlossen hat, um sich aller zu erbarmen‘.“
wonach „die prädestinatianischen Aussagen für Paulus allein Aussagen über Gott, nicht Bestimmung über den Menschen und die Geschichte sein wollen.“ 32 Das Ja Gottes betont nachdrücklich M. THEOBALD, Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000, 276: „Eschatologisch überboten wird die Dialektik von Erwählung und Verwerfung, Berufung und Verhärtung in Röm 9–11 durch das Bekenntnis von 11,32 zu dem Gott, der ‚alle in den Ungehorsam einge-
33 Vgl. dazu G. STRECKER, Das Evangelium Jesu
Christi, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 183–228; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 311–348; H. MERKLEIN, Zum Verständnis des paulinischen Begriffs „Evangelium“, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 279– 295; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 163– 181; D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge (s. o. 4.4), 322–353.
Theologie 193
mehr als eine ‚frohe Botschaft‘; es ist wirksame Heilsmitteilung, ein Glauben schaffendes Geschehen und eine Glauben wirkende Macht, die von Gott ausgeht und durch die Kraft des Geistes auf das Heil der Menschen zielt (vgl. 1Thess 1,5; 1Kor 4,20; Röm 1,16f). Das Evangelium erreichte Paulus nicht durch menschliche Vermittlung, es wurde ihm unmittelbar von Gott durch die Erscheinung Jesu Christi offenbart (vgl. Gal 1,11ff; 2Kor 4,1–6; Röm 1,1–5). Paulus darf und muss dem Evangelium dienen, es steht nicht zu seiner Disposition (vgl. Röm 15,16). Das Evangelium wird zwar durch das menschliche Wort des Apostels dargeboten, geht darin aber keineswegs auf, vielmehr begegnet es den Hörern als Wort Gottes (vgl. 1Thess 2,13; 2Kor 4,4–6; 5,20). Paulus steht unter dem Zwang der Evangeliumsverkündigung: „Wenn ich das Evangelium verkündige, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige!“ (1Kor 9,16). Für Paulus ist somit die Einsetzung des Evangeliums ein Heilserweis Gottes, der dem Glauben und der Heilserkenntnis der Gemeinde Jesu Christi vorangeht34. Als eschatologisches Geschehen muss das Evangelium weltweit verkündigt werden (vgl. 2Kor 10,16; Röm 10,15f unter Aufnahme von Jes 52,7LXX), denn es zielt auf die Rettung der Menschen und hat somit soteriologische Qualität (vgl. 2Kor 4,3f). Die Gemeinde in Korinth wurde „durch das Evangelium gezeugt“ (1Kor 4,15), und der Dienst am Evangelium eint Paulus mit seinen Gemeinden (vgl. 2Kor 8,18; Phlm 13). Paulus kämpft für das Evangelium (vgl. Gal 1,6ff; Phil 1,7; 2,22; 4,3) und erträgt alles, um nicht zum Hindernis für das Evangelium zu werden (1Kor 9,12). Ihm geht es allein um die rettende Teilhabe am Evangelium: „Alles tue ich um des Evangeliums willen, um sein Teilhaber zu werden“ (1Kor 9,23). Seinem Inhalt nach ist das Evangelium das euagge´lion tou˜ Cristou˜ („Evangelium Christi“; vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Röm 15,19; Phil 1,27). Dieses Evangelium hat eine ganz bestimmte Gestalt und einen eindeutig bestimmbaren Inhalt; deshalb bekämpft Paulus all jene, die ein anderes Evangelium verkünden. Der Inhalt des Evangeliums (vgl. 1Thess 1,9f; 1Kor 15,3–5; 2Kor 4,4; Röm 1,3b–4a) lässt sich nach Paulus so beschreiben: Von Uranfang an wollte Gott die Welt in und durch Christus retten (vgl. 1Kor 2,7; Röm 16,25), diese Heilsabsicht ließ er durch die Propheten verkünden (vgl. Röm 1,2; 16,26) und von der Schrift bezeugen (vgl. 1Kor 15,3.4; Gal 3,8)35. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, der durch den Tod am Kreuz und seine Auferstehung das Heil der Welt und der Menschen bewirkte (vgl. Gal 4,4f; Röm 1,3f; 15,8; 2Kor 1,20). Bis zur Sendung des Sohnes Gottes lebten Juden und Heiden gleichermaßen in Unkenntnis des wahren Willens Gottes, jetzt wird er im Evangelium durch den berufenen Heidenapostel Paulus verkündigt. Im Evangelium fasst sich somit für Paulus der endgültige Heilswille Got34 Vgl. P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 315.
35 Vgl. dazu J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6),
169–173.
194 Paulus: Missionar und Denker
tes in Jesus Christus zusammen, es ist die Botschaft von dem gekreuzigten Gottessohn (vgl. 1Kor 1,17)36. Im Leiden und in der Auferstehung seines Sohnes bekundete Gott seinen Heilswillen und er betraute den Apostel mit seiner Verkündigung. Als direkte Anrede an die Menschen (2Kor 5,19: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“) ist das Evangelium wirksame Heilsmitteilung von Gott her; es gilt gleichermaßen den Juden und den Heiden, sofern beide Jesus Christus als Retter anerkennen. Zur Heilsmacht wird das Evangelium für jeden, der glaubt (vgl. Röm 1,16.17). Mit der Verkündigung des Evangeliums hängt für Paulus untrennbar das Gericht zusammen: „Gott wird das Verborgene der Menschen richten nach meinem Evangelium durch Christus Jesus“ (Röm 2,16). Weil das Evangelium Heilsbotschaft ist, kann seine Ablehnung nicht folgenlos bleiben, ebenso wie seine Annahme nicht folgenlos ist. Deshalb erscheint Jesus Christus im Evangelium nicht nur als Retter, sondern auch als Richter. Zugleich ist aber deutlich, dass für Paulus das Evangelium zuallererst eine du´namiß heou˜ („Macht Gottes“) ist, die jene rettet, die die Heilsbotschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus im Glauben annehmen. Die paulinischen Gemeinden rezipierten den euagge´lion-Begriff in einem bestimmten kulturgeschichtlichen Umfeld. Das Verb euaggelı´zeshai verweist auf einen überwiegend atl.-jüdischen Hintergrund37. Es erscheint sowohl in der LXX als auch in Schriften des antiken Judentums und muss mit ‚das eschatologische Heil ansagen‘ übersetzt werden. Auch im hellenistischen Schrifttum ist euaggelı´zeshai im religiösen Sinn belegt (vgl. Philostr, VitAp I 28; vgl. ferner Philo, LegGai 18.231). Das Substantiv euagge´lia wird in der LXX ohne erkennbare theologische Füllung gebraucht38, hingegen spielt es eine zentrale Rolle in der Herrscherverehrung . So wird in der Inschrift von Priene (9 v.Chr.) der Geburtstag des Augustus so glorifiziert: „Der Geburtstag des Gottes war aber für die Welt die erste der von ihm ausgehenden Freudenbotschaften (euaggelı´wn)“39. Josephus verbindet die Erhebung Vespasians zum Kaiser mit Opfern und dem euagge´lia-Begriff: „Schneller als der Flug des Gedankens verkündigten die Gerüchte die Botschaft vom neuen Herrscher über den Osten, und jede Stadt feierte die gute Nachricht (euagge´lia) und brachte zu seinen Gunsten Opfer dar.“40 Die Himmelfahrt der Drusilla und des Claudius als Auftakt ihrer Vergöttlichung wird von Seneca ironisch als ‚gute Nachricht‘ bezeichnet41. Innerhalb der zeitgenössischen Enzyklopädie war der Terminus euagge´lion/euagge´lia auch mit der 36 Vgl. H. MERKLEIN, Zum Verständnis des paulinischen Begriffs „Evangelium“, 291–293. 37 Die atl.-jüdische Vorgeschichte von euagge´lion bzw. euaggelı´zeshai wird dargestellt von P. STUHLMACHER, Das paulinische Evangelium I. Vorgeschichte, FRLANT 95, Göttingen 1968. 38 Der Singular euagge´lion findet sich nicht in der LXX, der Plural euagge´lia ist nur in 2Sam 4,10 be-
legt; vgl. ferner v euaggelı´a in 2Sam 18,20.22.25.27; 2Kön 7,9. Treffend G. FRIEDRICH, Art. euagge´lion, ThWNT 2, Stuttgart 1935, 722: „LXX ist nicht der Ursprungsort des nt.lichen euagge´lion.“ 39 Vgl. NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 6–9. 40 Vgl. Jos, Bell 4,618; ferner Bell 4,656 (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 9f). 41 Vgl. Sen, Apoco 1,3.
Theologie 195
Herrscherverehrung verbunden42 und hatte damit eine politisch-religiöse Konnotation. Die frühen Gemeinden nahmen mit dem Evangeliums-Begriff offenbar sehr bewusst Vorstellungen ihres kulturellen Umfeldes auf, zugleich unterschieden sie sich durch den Singular euagge´lion grundlegend von den euagge´lia der Umwelt. Auch der paulinische Gebrauch von euagge´lion lässt sich in diese Anknüpfungs- und Überbietungsstrategie einordnen: Die wahre und exklusive gute Nachricht ist die Botschaft von Kreuz und Auferstehung. Nicht das Erscheinen des Kaisers rettet, sondern der vom Himmel kommende Gottessohn (vgl. 1Thess 1,9f). Die Vielfalt der paulinischen Evangeliumsverkündigung sowie die sehr begrenzte gesetzeskritische Funktion von euagge´lion in Gal, Röm und Phil zeigen, dass das paulinische Evangelium keineswegs von Anfang an und grundsätzlich als ‚gesetzesfreies‘ Evangelium verstanden werden kann43. Die Gesetzesproblematik ist ein Nebenthema des Evangeliumsbegriffes. Vielmehr ist das von Gott ausgehende Evangelium in seinem Kern christologisch-soteriologisch und eschatologisch gefüllt44: Jesu Tod und Auferstehung ist das Heilsereignis schlechthin (vgl. 1Kor 15,3b–5), das Gegenwart und Zukunft aller Menschen bestimmt. Das Evangelium ist eine zum Heil rufende Kraft Gottes, die eine unter der Sünde versklavte Welt befreien und retten will. Gott bringt sich im Evangelium zur Sprache und definiert sich selbst durch das Evangelium als Liebender und Rettender. Das Evangelium ist die Präsenz des machtvollen Gottes, der die Menschen zum Glauben führen will.
6.1.5. Das neue Gottes-Bild Gott ist nicht unmittelbar, sondern nur in Bildern zugänglich. Die antike Welt war voller Gottes-Bilder verschiedenster Art (vgl. Apg 17,16). Weshalb wandten sich Juden und Menschen aus griechisch-römischer Religiosität in einer wahrhaft multireligiösen Gesellschaft gerade dem frühchristlichen Gottesbild zu? Ein wesentlicher Grund lag im Monotheismus, der bereits die Faszination des Judentums in der Antike begründete. Die Vielzahl der Götter und Götterdarstellungen in der griechisch-römischen Welt45 führte offenbar zu einem Verlust an Plausibilität, die Cicero mit der Bemerkung wiedergibt: „Es gibt für die Götter so viele Namen, wie es menschliche Sprachen gibt.“46 Weil die Menge der Götter gar nicht zu bestimmen ist, stellt sich 42 Vgl. G. STRECKER, Das Evangelium Jesu Christi, 188–192. 43 Gegen F. HAHN, Gibt es eine Entwicklung in den Aussagen über die Rechtfertigung bei Paulus?, EvTh 53 (1993), (342–366) 344, der behauptet: „Was das Evangelium seinem Inhalt und seiner Wirkung nach ist, wird mit Hilfe der Rechtfertigungsthematik ausgeführt.“
44 Vgl. G. STRECKER, Das Evangelium Jesu Christi, 225; H. MERKLEIN, Der paulinische Begriff „Evangelium“, 286. 45 Zur Frühzeit der griechischen Religion vgl. W. JAEGER, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953. 46 Cic, Nat Deor I 84.
196 Paulus: Missionar und Denker
die Frage, welche Gottheiten eigentlich mit welchem Sinn verehrt werden müssen47. Der Philosoph fragt deshalb: „Wenn diejenigen, die wir traditionsgemäß verehren, tatsächlich Götter sind, warum sollten wir dann nicht auch Serapis und Isis in dieselbe Kategorie aufnehmen? Falls wir das tun, weshalb dann ausländische Gottheiten verschmähen? Also werden wir auch Stiere und Pferde, Ibisse, Falken, Nattern, Krokodile, Fische, Hunde, Wölfe, Katzen und noch viele andere Tiere zu den Göttern rechnen.“48 Die Absurdität der Argumentation ist offensichtlich: Die konventionellen Religionen und Kulte neutralisieren sich gegenseitig und können die religiösen Bedürfnisse der wirtschaftlich und intellektuell mobilen Schichten nicht mehr überzeugend befriedigen49. Der Mittelplatoniker Plutarch versucht dieser Gefahr mit dem Hinweis zu entgehen, dass die Gottheit bei den verschiedenen Völkern zwar jeweils anders genannt werde, dennoch für alle Menschen dieselbe sei. „So gibt es einen Logos, der den Kosmos ordnet, und eine Vorsehung, die dies leitet, und helfende Kräfte, die für alles eingeteilt sind; aber es gibt nach den Gesetzen bei den verschiedenen Völkern verschiedene Ehren und Bezeichnungen, und die einen gebrauchen undeutliche, die anderen klarere geheiligte Symbole, welche den Sinn auf das Göttliche lenken sollen. . . . Deshalb sollen wir aus der Philosophie den Logos entnehmen, der uns wie ein Mystagoge führt, so dass wir in frommer Weise alles durchdenken, was an Mythen erzählt und an Riten verrichtet wird.“50 Weil Gott unbeweglich und zeitlos ist, weder „früher noch später, noch zukünftig, noch vergangen, noch älter, noch jünger; sondern da er einer ist (allL eıß wn), hat er mit dem einen Jetzt das Immer erfüllt . . . So müssen ihn nun seine Verehrer grüßen und sagen: ‚Du bist‘, und beim Zeus, wie manche von den Alten sagen: ‚Du bist eines‘. Nicht vieles ist nämlich das Göttliche . . ., sondern eines muß das Seiende sein, wie seiend das eine.“51 Die zwei Quellen der Gotteserkenntnis52, nämlich 1) die dem Menschen eingeplanzte Idee des Göttlichen angesichts der Majestät des Kosmos und 2) die in alten Mythen und Bräuchen überlieferten Gottesvorstellungen haben an Plausibilität verloren. Je mehr die Anthropomorphie der griechischen Göttermythen skeptischer Kritik unterzogen wurde, desto mehr gewann der Eingottglaube, der Henotheismus und damit verbunden auch der exklusive Monotheismus notwendigerweise an Überzeugungskraft53. 47 Vgl. a. a. O., III 40–60 48 A. a. O., III 47. 49 Vgl. R. STARK, Der Aufstieg des Christentums, Weinheim 1997, 44 f. 50 Plut, Is et Os 67.68. 51 Plut, Delphi 20. 52 Vgl. Dio Chrys, Or 12. Die ‚Olympische Rede‘ des Dion von Prusa ist ein beindruckendes Beispiel für den Versuch, die griechische Religion und ihre Kulte neu zu beleben. Zeus wird als universaler, friedlicher und milder Gott gepriesen, der die Menschen als Vater und König beschützt und ihnen alles gewährt,
was sie zu einem gelingenden Leben benötigen. Text und Kommentar: H.-J. KLAUCK/B. BÄBLER, Dion von Prusa: Olympische Rede, Darmstadt 2000. 53 Zu beachten ist allerdings, dass schon in der greifbaren Anfangszeit griechischer Theologie die Kanonisierung des anthropomorphen Polytheismus eines Homer und Hesiod bei Herodot (Hist II 49–58) und der Skeptizismus/Atheismus eines Protagoras (geb. um 490 v.Chr.) nebeneinander standen: „Was nun die Götter anbelangt, so vermag ich nicht zu wissen: weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind, noch wie sie beschaffen sind hinsichtlich ihrer Er-
Theologie 197
Paulus steht fest in der Tradition des atl. Monotheismus und kann die Tendenzen in der griechisch-römischen Religionsgeschichte für sich nutzen54; dennoch mutet er seinen Hörern zu, eine neue Weltsicht, einen neuen Gott anzunehmen . Dieser Gott ist einer, aber nicht allein; er hat einen Namen, eine Geschichte und ein Gesicht: Jesus Christus . Das Gottes-Bild wird anschaulich, denn Jesus Christus ist das Bild Gottes (2Kor 4,4). Der von Paulus verkündigte Gott ist ein persönlicher Gott, der in der Geschichte handelt und sich um die Menschen kümmert. Er ist weder weltabgewandt noch weltimmanent, sondern in Jesus Christus weltzugewandt (vgl. Gal 4,4f; Röm 8,3). Nicht der universale Mythos, sondern das konkrete Handeln bestimmt das frühchristliche Gottesbild. Die offene oder verdeckte anthropomorphe Rede von den Göttern/dem Gott wird im frühen Christentum schon vor Paulus durch die wirkliche und bleibende Menschwerdung Gottes in Jesus Christus überwunden. Hier liegt der maßgebliche Unterschied zu den Gottesvorstellungen der drei führenden philosophischen Schulen z.Zt. des Paulus: dem Mittelplatonismus, der Stoa und dem Epikurismus (vgl. Apg 17,18). Die starke Betonung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit Gottes, sein kategoriales Geschiedensein von allem Menschlichen und damit sein Entschwinden in eine unnahbare Ferne sind charakteristisch für das Gottesbild des Mittelplatonismus, das bei Plutarch so formuliert wird55: „Was ist nun wirklich seiend? Das Ewige und Ungewordene und Unvergängliche, dem auch keine Zeit Veränderung bewirkt. . . . Daher geht es auch nicht an, von Seienden so etwas zu sagen wie ‚es war‘ oder ‚es wird sein‘. Denn das sind Abwandlungen und Veränderungen dessen, was nicht geartet ist, im Sein zu verharren . . . Aber der Gott hat das Sein, muss man sagen, und er ist nicht in irgendeiner Zeit, sondern in der Ewigkeit, der unbeweglichen, zeitlosen, unveränderlichen“ (Delphi 19.20). Die Stoa vertrat einen monistischen Pantheismus, wonach die Gottheit in allen Daseinsformen wirkt. Sie ist weltimmanent und allgegenwärtig, zugleich aber gerade deshalb nicht fassbar. Chrysipp (282–209 v.Chr.) lehrt, „die göttliche Kraft liege in der Vernunft und in der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, die Welt selbst und die alles durchdringende Weltseele sei Gott.“56 Es existiert nichts über die Stofflichkeit alles Seienden hinaus, es gibt weder einen transzendenten Schöpfergott noch eine metaphysische Weltbegründung. Ein entgegengesetzter Gottesbegriff findet sich bei Epikur. Für ihn führen die Götter ein glückseliges, zeitenthobenes Leben, ohne sich um
scheinungen“ (D-K 80 B 4). Bei Diog L IX 51 schließt sich diesem Diktum eine schöne Begründung an: „Vieles steht dem Wissen hinderlich im Wege: Die Undeutlichkeit der Sachlage und die Kürze des Menschenlebens.“ 54 Vgl. zum paganen Monotheismus W. SCHRAGE, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes (s. o. 4), 35–43. 55 Das Prinzip der Unveränderlichkeit Gottes be-
herrscht bereits das Denken der Vorsokratiker (Xenophanes, Parmenides, Heraklit); vgl. dazu W. MAAS, Die Unveränderlichkeit Gottes, PThSt 1, München/ Paderborn 1974. 56 Cic, Nat Deor I 39; vgl. ferner Diog L 7,135 f.142. Ae¯tios sagt über Gott, „auch sei er ein Atemstrom, der durch die ganze Welt hindurch zieht und je nach der Materie, durch die er durchkommt, wechselnde Bezeichnungen annimmt“ (SVF 2,1027).
198 Paulus: Missionar und Denker
die Menschen zu kümmern. „Denn ein Gott tut nichts, ist in keine Geschäfte verwickelt, plagt sich mit keiner Arbeit, sondern freut sich seiner Weisheit und Tugend und verläßt sich darauf, stets in höchsten und vor allem in ewigen Wonnen zu leben.“57 Die Götter können als Unsterbliche weder leiden noch sich in Liebe der Welt zuwenden58. Sie sind den Niederungen des Lebens entrückt und haben mit den Menschen nichts gemein. Offenbar verloren um die Zeitenwende die traditionellen antiken Götterlehren an Überzeugungskraft, so dass ihre Existenz überhaupt in Frage gestellt wurde59. Die philosophische Kritik des Polytheismus und das Entschwinden der Götter/ Gottes in eine unnahbare Ferne bzw. ihr Verschwinden im unmittelbar Gegenwärtigen bereiteten somit dem christlichen Monotheismus mit den Weg. Während der Polytheismus keine personale Gottesbeziehung ermöglichte, vereinte der von Paulus verkündigte Gott zwei attraktive Grundprinzipien in sich: Er ist sowohl Herr der Geschichte als auch Herr des persönlichen Lebens . Beide Bereiche fielen in den frühchristlichen Gemeinden nicht nur im Denken, sondern auch in der religiösen Praxis zusammen. Die Christen lebten in dem Bewusstsein, zu jener Gruppe von Menschen zu gehören, die Gott auserwählt hatte, um der Welt seinen Heilswillen, aber auch sein Gerichtshandeln zu offenbaren. Sie waren davon überzeugt, dass Gott durch Jesus Christus zugleich der Geschichte und jedem einzelnen Leben, Sinn und Ziel verliehen hatte. Dieser Sinn umfasste sowohl das tägliche Leben als auch die Jenseitshoffnungen. Die frühchristliche Verkündigung wandte sich gleichermaßen dem Alltag der Glaubenden und grundsätzlichen Lebensfragen zu, wie z. B. dem Tod. Hier unterschied sich das werdende Christentum erheblich von den Vorstellungen seiner Umwelt. Der Gott der Christen war ein Gott des Lebens, der Verbindlichkeit forderte, aber auch Freiheit gewährte, bereits in der Gegenwart erfahrbar war und zugleich die Zukunft der Glaubenden verbürgte . Nicht das im Denken der Griechen eine zentrale Rolle spielende unberechenbare Schicksal60, sondern der in Jesus Christus offenbar gewordene Gott
57 Cic, Nat Deor I 51; vgl. ferner Epic, Men 123: „Denn Götter gibt es tatsächlich: unmittelbar einleuchtend ist deren Erkenntnis. Wofür sie jedoch die Masse hält, so geartet sind sie nicht.“ Alle wesentlichen Texte zur Theologie Epikurs finden sich in Epikur, Wege zum Glück, übers. u. hg. v. R. Nickel, Düsseldorf 2003. 58 Vgl. Cic, Nat Deor I 95.121; Diog L X 76.77. 59 Vgl. Cic, Nat Deor I 94: „Wenn nun niemand von ihnen (sc. den Philosophen, U.S.) die Wahrheit über das Wesen der Götter gesehen hat, steht zu befürchten, daß es dieses Wesen überhaupt nicht gibt“; vgl. ferner I 63: „Und haben nicht auch Diagoras mit dem Beinamen ‚der Atheist‘ und später Theodorus das Sein der Götter ganz offen geleugnet?“
60 Vgl. z. B. den bei Epict, Ench 53, überlieferten
Ausspruch des Kleanthes: „O Zeus, und du, allmächtiges Schicksal, führt mich zu jenem Ziel, das mir einst von euch bestimmt wurde. Ich werde folgen ohne Zaudern. Sträub ich mich, ein Frevler wär ich dann, ein Feigling und müsste euch doch folgen!“ Die Bedeutung des Schicksalsglaubens lässt sich an Grabinschriften besonders eindrücklich ablesen; vgl. I. PERES, Griechische Grabinschriften (s. u. 6.8.2), 34– 41; zu Theorie und Praxis des griechisch-römischen Schicksalsglaubens vgl. Ciceros Schriften ‚De Fato‘ und ‚De Divinatione‘.
Christologie 199
bestimmt das gegenwärtige und zukünftige Leben. Das frühe Christentum bot ein umfassendes und schlüssiges Konzept an, das die Jenseitshoffnungen der Antike aufnahm und zugleich dem Individuum eine überzeugende Lebensperspektive gab.
6.2
Christologie
(Vgl. auch die Literatur zu 4 und 6)
E. KÄSEMANN, Die Heilsbedeutung des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Paulinische Perspektiven, 61–107; K. KERTELGE, Das Verständnis des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Grundthemen (s. o. 6), 62–80; M. WOLTER, Rechtfertigung und zukünftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978; H. WEDER, Das Kreuz Jesu bei Paulus, FRLANT 125, Göttingen 1981; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie bei Paulus, GTA 18, Göttingen 21984; W. THÜSING, Per Christum in Deum, NTA 1, Münster 3 1986; G. SELLIN, Der Streit um die Auferstehung der Toten, FRLANT 138, Göttingen 1986; M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 99–110; C. BREYTENBACH, Versöhnung, WMANT 60, Neukirchen 1989; H. HÜBNER, Rechtfertigung und Sühne bei Paulus, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, Göttingen 1995, 272–285; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe, WMANT 66, Neukirchen 1991; M.A. SEIFRID, Justification by Faith, NT.S 68, Leiden 1992; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. u. 6.4); J. D. G. DUNN, Paul (s. o. 6), 163–292; TH. SÖDING (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre?, QD 180, Freiburg 1999; M. GAUKESBRINK, Die Sühnetradition bei Paulus, FzB 82,Würzburg 1999; U. SCHNELLE/TH. SÖDING/M. LABAHN (Hg.), Paulinische Christologie (FS H. Hübner), Göttingen 2000; ST. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus, WUNT 134, Tübingen 2001; TH. KNÖPPLER, Sühne im Neuen Testament, WMANT 88, Neukirchen 2001; S. VOLLENWEIDER, Horizonte neutestamentlicher Christologie (s. o. 4), 143–306; F. VOSS, Das Wort vom Kreuz und die menschliche Vernunft, FRLANT 199, Göttingen 2002; H.CHR. KAMMLER, Kreuz und Weisheit, WUNT 159, Tübingen 2003; L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 79–153; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 463–543; N.T. WRIGHT, The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003; C. BREYTENBACH, ‚Christus starb für uns‘. Zur Tradition und paulinischen Rezeption der sogenannten ‚Sterbeformeln‘, NTS 49 (2003), 447–475; H. BOERS, Christ in the Letters of Paul, BZNW 140, Berlin 2006; R. SCHWINDT, Gesichte der Herrlichkeit. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie, HBS 50, Freiburg 2007.
Anders als die Evangelien erzählt Paulus keine Jesus-Christus-Geschichte, sondern er wählt verschiedene christologische Leitmotive, greift Wort- und Vorstellungsfelder als Verkündigungsmetaphern auf, um das Christusgeschehen in all seinen Dimensionen zu entfalten. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass Jesus Christus in seinem Geschick den Heilswillen Gottes für die Menschen abbildet: Er befreit aus der Versklavung der Sünde und des Todes und gewährt bereits in der Gegenwart wahres Leben.
200 Paulus: Missionar und Denker
6.2.1
Transformation und Partizipation
Ein Grundgedanke prägt die paulinische Christologie61: Gott hat den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth in ein neues Sein überführt. Es ereignete sich ein Statuswechsel, Jesus von Nazareth verblieb nicht im Status des Todes und der Gottesferne, sondern Gott verlieh ihm den Status der Gottgleichheit. Diese umstürzende Erfahrung und Erkenntnis wurde Paulus bei Damaskus zuteil und er bedenkt in seinen Briefen den Übergang Jesu vom Tod zum Leben in vielfältiger Weise. Ausgangspunkt ist für ihn, wie schon für die frühchristliche Tradition, die Überzeugung, dass Gott Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt hat (1Thess 1,10; 2Kor 4,14; Röm 8,11 u. ö.). Gott und Jesus Christus werden entschieden zusammengedacht, der Sohn hat umfassend teil an der Gottheit des Vaters. Deshalb weitet die christologische Reflexion schon vor Paulus den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz aus. Nur die Selbsterniedrigung im Weg zum Kreuz gewährte die Erhöhung zum Weltherrscher, d. h. sogar der Präexistente durchlief eine Transformation, um zu werden, was er sein sollte (vgl. Phil 2,6–11). Ziel der Transformation Jesu Christi ist die Partizipation der Glaubenden an diesem grundlegenden Geschehen62: „Ihr kennt das Gnadenwerk unseres Herrn Jesus Christus, dass er um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war, damit ihr durch seine Armut reich würdet“ (2Kor 8,9). Gott hat den, „der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir zur Gerechtigkeit Gottes würden in ihm“ (2Kor 5,21). Ostern ist immer auch ein Handeln Gottes an den Jüngern und Aposteln, denn Gott hat ihnen kundgetan, dass der Gekreuzigte lebt. Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist somit für Paulus ein einmaliger Akt, dessen Wirkungen jedoch anhalten und die Welt grundlegend verändert haben. Der Gott der Auferstehung ist der, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt“ (Röm 4,17b). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken in der Gegenwart und rufen ihre eigene Gewissheit hervor: „Wir glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden“ (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Christus wurde preisgegeben „wegen unserer Verfehlungen und auferweckt wegen unserer Rechtfertigung“ (Röm 4,25). Der dem Tode nahe Paulus hofft, an den Kräften der Auferstehung Jesu teilzuhaben, um 61 Vgl. U. SCHNELLE, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie (s. u. 6.4), 58 ff. 62 Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik (s. o. 6), 116: „Der ursprüngliche und zentrale Gedanke der Mystik Pauli ist also der, daß die Erwählten miteinander und mit
Jesu Christo an einer Leiblichkeit teilhaben, die in besonderer Weise der Wirkung von Sterbens- und Auferstehungskräften ausgesetzt ist und damit der Erlangung der Seinsweise der Auferstehung fähig wird, bevor noch die allgemeine Totenauferstehung statt hat.“
Christologie 201
selber zu der Auferstehung aus den Toten zu gelangen (Phil 3,10f). Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat eine universale Dynamik eingesetzt, die sowohl das individuelle Schicksal der Glaubenden als das Geschick des gesamten Kosmos betrifft (vgl. Phil 3,20f). Der Christus-Weg zielt als Heils-Weg auf die Teilhabe der Glaubenden; als Urbild ermöglicht und eröffnet Jesus Christus durch seinen Übergang vom Tod zum Leben das Leben für die Menschen. Er leitet nach paulinischer Überzeugung eine neue Epoche ein, an deren Ende die universale Transformation steht, wenn „Gott alles in allem“ (1Kor 15,28) sein wird. Der Hymnus Phil 2,6–11 als Modellgeschichte
Die Grundgedanken der paulinischen Christologie sind bereits in komprimierter Form in der vorpaulinischen Modellgeschichte Phil 2,6–11 enthalten (s. o. 4.6). Der Hymnus zeigt, dass schon vor Paulus die christologische Reflexion den Statuswechsel von der Post- auf die Präexistenz ausweitete. Paulus nimmt die Christologie des Traditionsstückes auf und bettet sie in einen paränetischen Argumentationsgang ein, wie Phil 2,1–5 zeigt. Zu diesem Abschnitt bestehen sowohl kompositorische als auch terminologische Verbindungen. So erläutert die mit tapeinou˜n umschriebene Erniedrigung Christi in V. 8 die von der Gemeinde geforderte tapeinofrosu´nv (V. 3: „Demut, Bescheidenheit“). Der Gehorsam des Erniedrigten erscheint als Gegenbild zu Eigennutz und Streit, die in der Gemeinde überwunden werden sollen (V. 3). Schließlich verweist die zusammenfassende Formulierung über die Erniedrigung des Präexistenten (V. 7: eauto`n eke´nwsen) auf die grundlegende Anweisung in V. 4, wonach ein Christ nicht das Seine, sondern das dem anderen Dienende suchen soll. Auch zum nachfolgenden V. 12 besteht eine Verbindung; dort nimmt Paulus den Gedanken des Gehorsams Christi auf und begründet so die von der Gemeinde geforderte ethische Haltung. Die Gemeinde wird aufgefordert, innerhalb der Ethik nachzuvollziehen, was der Kyrios vorbildhaft im Heilsgeschehen der Menschwerdung, des Todes am Kreuz und der Inthronisation vollzog. Christus erscheint somit in Phil 2 zugleich als Urbild und Vorbild. Die Gemeinde kann und soll Christus in dem Bewusstsein nachfolgen, dass sie sich ebenso wie der Apostel noch nicht im Stand der Heilsvollendung befindet, sondern dem Tag der Wiederkunft Christi, des Gerichtes und der Auferstehung entgegengeht (Phil 3,12ff). Die Möglichkeit dazu eröffnet Gott, denn er ist es, der beides in den Glaubenden bewirkt: das Wollen und das Vollbringen (Phil 2,13). So wie Christus nicht auf das Seine sah und sich in den Tod am Kreuz begab, sollen auch die Christen nicht in Selbstsucht und Streit leben, sondern in Demut und Einigkeit. Die Transformation des Sohnes begründet die Partizipation der Glaubenden. Mit dem Zusatz „Tod am Kreuz“ in V. 8c fügt Paulus seine Kreuzestheologie ein63 und 63 Zur Begründung vgl. U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/I, Leipzig 1993,105.
202 Paulus: Missionar und Denker
erdet damit das mythische Geschehen. Jesus Christus verzichtet nicht nur auf seine Gottgleichheit und sein Leben, sondern stirbt in der denkbar äußersten Schande64. Mit diesem Gedanken verbindet sich eine theologisch-politische Zuspitzung: Nun gelten Akklamation und Proskynese einem Gekreuzigten, d. h. Paulus betont in seiner römischen Gefangenschaft65 gegenüber einer kolonial-römisch geprägten Gemeinde66 mit Phil 2,6–11 die politischen Dimensionen des Christusgeschehens. Ein von den Römern Gekreuzigter erhält durch Gottes direktes Eingreifen einen unüberbietbaren Status, und allein ihm gebühren Proskynese und Exhomologese. Drei Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung: 1) Während Könige und Herrscher ihre Macht durch Gewalt und räuberischen Zugriff erlangten, erniedrigt sich Jesus Christus selbst und wird so zum wahren Herrscher. Er verkörpert damit das Gegenbild zum sich selbst erhöhenden Herrscher67. 2) Uneingeschränkte Huldigung und Anbetung gelten allein dem römischen Kaiser. Dio Cassius68 berichtet für das Jahr 66 n.Chr. vom Besuch des Großkönigs Tiridates, der in einem Triumphzug vom Euphrat nach Rom zog, um dort Nero zu huldigen: „Er kniete auf dem Boden nieder, kreuzte seine Arme, nannte Nero seinen Herrn und erzeigte ihm seine Huldigung. . . . Seine Rede lautete . . . Ich bin zu dir als meinem Gott gekommen, um dich wie Mithras anzubeten. Ich werde das sein, wozu du mich bestimmst; bist du doch mein Glück und Schicksal. Nero entgegnete ihm: Du hast wohl daran getan, persönlich hierher zu kommen, damit du von Angesicht zu Angesicht meine Gnade erfahren kannst.“ 3) Auch der Kyrios-Titel in Phil 2,11 und der Retter-Titel in Phil 3,20 enthalten anti-imperiale Konnotationen. In einer griechischen Inschrift aus der Zeit Neros findet sich die Formulierung: „Der Kyrios der ganzen Welt Nero“69, und die römischen Kaiser ließen sich besonders im Osten des Reiches als Retter preisen70. Diesem politisch-religiösen Anspruch setzt der Hymnus eine neue Wirklichkeit entgegen, die jegliche irdische Macht übersteigt und eine bessere Alternative aufzeigt. Ihr Bürgerrecht empfangen die Philipper nicht von römischen Behörden, sondern aus dem Himmel (Phil 3,20f), so dass Paulus konsequenterweise ihren Wandel nur in Phil 1,27 mit dem Verbum politeu´eshai („als Bürger seinen Lebenswandel führen“) bezeichnet. Der in Rom inhaftierte Paulus bietet seiner Gemeinde ein Gegenmodell : Ohnmacht und 64 Vgl. O. HOFIUS, Der Christushymnus Philipper
2,6–11, WUNT 17, Tübingen 1976, 63. 65 Der Philipperbrief wurde m.E. um 60 in Rom abgefasst; zur Begründung vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 152–155. 66 Vgl. hierzu P. PILHOFER, Philippi. Die erste christliche Gemeinde Europas, Bd. I, WUNT 87, Tübingen 1995. 67 Vgl. S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gottgleichheit (s. o. 4.6), 431. Sehr häufig wird in diesem Kontext Plut, De Alexandri Magni fortuna aut virtute, 1,8 330d, angeführt, wo Plutarch Alexander d. G. als
den exemplarischen Welträuber verteidigt: „Denn Alexander zog nicht räuberisch über Asien her, noch sann er darauf, es gleich wie Raubgut und Beute, wider alle Erwartung von der Tyche gewährt, an sich zu zerren und zu reißen . . . .“ 68 Dio Cass, Historiae Romanae, Epitome zu Buch 63. 69 Vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 249. 70 Vgl. dazu die Belege zu Joh 4,42 in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–256; vgl. ferner M. LABAHN, ‚Heiland der Welt‘ (s. u. 12.2.4), 149 ff.
Christologie 203
Herrschaft sind in Wahrheit völlig anders verteilt, als es der erste Blick nahe zu legen scheint. Die paulinische Theologie ist politisch, insofern sie als neue Sinnbildung das Leben der Bürger, ihre Lebensweise71 unmittelbar betrifft. Paulus führt mit Jesus Christus eine neue, unüberbietbare Autorität der Endzeit ein; er definiert Heilsbotschaft, Herrschaft, Rettung, Friede, Gnade und Gerechtigkeit neu und postuliert eine unaufhaltsame Verwandlung der Welt. Damit wirkt er auch politisch, aber er nimmt keine bewusst politische Position im neuzeitlichen Sinn ein72. Einzelne Paulus-Texte oder Begriffe wirkten faktisch antiimperial (z. B. Phil 2,6–11; der Kyrios- und Retter-Titel), was aber keinewegs identisch ist mit einer ‚anti-imperialen‘ Theologie des Paulus73. Es gibt 1) keine direkte anti-römische oder auch nur romkritische Äußerung bei Paulus; im Gegenteil, denn 2) Röm 13,1–7 als einzige direkte Aussage des Paulus zum Imperium Romanum fordert ausdrücklich dessen Anerkennung ein74; zumal 3) die baldige Ankunft des erhöhten Christus schon jetzt das Irdische in einem vergänglichen Licht erscheinen lässt (1Kor 7,29–31).
6.2.2
Kreuz und Auferstehung
Der letzte unmittelbare Zeuge der Transformation des Jesus von Nazareth vom Tod zum Leben ist Paulus. Ihm wurde bei Damaskus eine Ostererscheinung zuteil: „Zuallerletzt, gleichsam als einer Fehlgeburt, erschien er auch mir“ (1Kor 15,8). Gottes Größe offenbarte sich an ihm, dem Kleinen (lat. paulus = klein), dem Geringsten unter den Aposteln (1Kor 15,9: ela´cistoß = Superlativ von mikro´ß = klein). Die Erscheinung des Auferstandenen macht Paulus gewiss, dass Jesus nicht als gekreuzigter Verbrecher im Tod verblieb, sondern bleibend auf die Seite Gottes gehört (vgl. 1Thess 4,14; 2Kor 4,14; Röm 6,9; Phil 2,6–11 u. ö.). Die Auferstehung75 Jesu Christi von den 71 v politeı´a heißt u. a. ‚das Leben als Bürger‘, ‚die
73 Auf methodischer Ebene bemerkt S. VOLLENWEI-
Lebensweise‘; vgl. F. PASSOW, Handwörterbuch der Griechischen Sprache II/1, Leipzig 51852, 990. 72 Anders die im anglo-amerikanischen Bereich relevante ‚anti-imperiale‘ Paulus-Interpretation, wonach die paulinische Theologie insgesamt durch eine romkritische, ‚anti-imperiale‘ Ausrichtung geprägt sei; vgl. dazu die sehr unterschiedlichen Beiträge in: R.A. HORSLEY (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; DERS. (Hg.), Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation. Essays in Honour of K. Stendahl, Harrisburg 2000; vgl. ferner J. D. CROSSAN/ J. L. REED, In Search of Paul: How Jesus’ Apostle Opposed Rome’s Empire with God’s Kingdom, San Francisco 2004; N. T. WRIGHT, Paul (s. o. 6), 59–79.
DER,
Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger/U. Mell, Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, (457–469) 468, treffend an: „Die Interpretation sollte sich mit Vorteil davor hüten, bei jedem potentiell politischen Schlagwort unter der Hand eine virtuelle Antithese zu bilden.“ 74 Relativierungen von Röm 13,1–7 werden vor allem in der nordamerikanischen Exegese vorgenommen; vgl. N. ELLIOTT, Romans 13.1–7 in the Context of Imperial Propaganda, in: R. A. Horsley, (Hg.) Paul and Empire, 184–204 (Röm 13 als taktische Anordnung); R. JEWETT, Romans, Minneapolis 2007, 789f (nicht römische oder griechische Götter, sondern der Vater Jesu Christi gewährt staatliche Autorität). 75 Zur Terminologie: Weil Gott im Neuen Testa-
204 Paulus: Missionar und Denker
Toten ist deshalb die sachliche Voraussetzung für die theologische Relevanz des Kreuzes, d. h. erst von der Auferstehung her erschließt sich die Person des Gekreuzigten. Deshalb wird zunächst das paulinische Verständnis der Auferstehung behandelt, bevor das Kreuz als historischer Ort, theologischer Topos und theologisches Symbol in den Blick kommt. Auferstehung
Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist der zentrale Inhalt der paulinischen Sinnbildung76. Er war nie uneingeschränkt glaubwürdig, bereits Lukas lässt die Epikureer und Stoiker spotten, als Paulus mit der Verkündigung des Auferstandenen in Athen auftritt (vgl. Apg 17,32). Die Menschen der Antike waren keineswegs so ‚naiv‘, einfach an ein Weiterleben nach dem Tod in der Unsterblichkeit der Seele oder eine leibliche Auferstehung von den Toten zu glauben, wie z. B. Texte der antiken Naturwissenschaft zeigen77. Wohl konnten Götter/Halbgötter wie Herakles/Herkules aus dem Totenreich zurückkehren78, aber die Auferstehung eines Gekreuzigten galt als ‚dummes Zeug‘ (1Kor 1,23). Die mangelnde Integration in die menschliche Erfahrungswelt erfordert beim Thema Auferstehung von den Toten eine erkundende Vorgehensweise, die in drei Schritten erfolgen soll: Zunächst wird gefragt, welchen Realitätsgehalt Paulus der Auferstehung Jesu Christi von den Toten zuschreibt, dann folgt eine Darstellung maßgeblicher Erklärungsmodelle, um schließlich ein eigenes Verstehensmodell vorzulegen.
ment durchgehend das Subjekt des Handelns an Jesus von Nazareth ist, wird teilweise von der Auferweckung Jesu Christi gesprochen, um so das passivische Element zu betonen. Andererseits hat sich der Terminus Auferstehung zur Bezeichnung des Gesamtgeschehens durchgesetzt. Er wird auch hier gebraucht, ohne eine aktive Beteiligung Jesu am Auferstehungsgeschehen zu beinhalten. 76 Aus der umfangreichen Literatur vgl. H. V. CAMPENHAUSEN, Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab, SHAW.Ph 1952, Heidelberg 41977; H. GRASS, Ostergeschehen und Osterberichte, Göttingen 21961, 94ff; F. VIERING (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus Christus, Berlin 1967; W. MARXSEN, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968; K. M. FI2 SCHER, Das Ostergeschehen, Göttingen 1980; P. HOFFMANN (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988; P. HOFFMANN, Die historisch-kritische Osterdiskussion von H.S. Reimarus bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
in: ders. (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, 15–67; I. U. DALFERTH, Der auferweckte Gekreuzigte, Tübingen 1994; G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, Göttingen 1994, 50ff; I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube?, ZThK 95 (1998), 379–409; G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus (s. o. 3), 415–446 (Forschungsüberblick zu Ostern und seinen Deutungen). 77 Plin, Nat Hist II 26f, wonach auch für die Gottheit gilt: „sie kann Sterbliche nicht mit Unsterblichkeit beschenken und nicht Tote auferwecken“; VII 188: „Die gleichbleibende menschliche Eitelkeit dehnt sich sogar auf die Zukunft aus und erträumt sich selbst für die Zeit des Todes ein Leben, indem sie bald die Unsterblichkeit der Seele, bald eine Seelenwanderung und bald ein bewusstes Leben den Abgeschiedenen zuspricht, die Manen verehrt und den zum Gott macht, der auch nur ein Mensch zu sein aufgehört hat“. 78 Vgl. Sen, Herc F 612 f.
Christologie 205
I. Die Realität der Auferstehung für Paulus
Paulus lässt an der Bedeutung der Auferstehung als Fundament des Glaubens keinen Zweifel: „Wenn aber Christus nicht auferstanden ist, dann ist auch unsere Verkündigung leer und auch euer Glaube ist leer" (1Kor 15,14) und: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden . . . so sind wir die elendsten unter allen Menschen“ (1Kor 15,17.19b). Es gibt bei Paulus eine Unumkehrbarkeit von Auferstehung, Erscheinung, Kerygma und Glaube. Diese sachliche Reihenfolge entfaltet der Apostel literarisch in 1Kor 15. Obwohl er ein authentischer Zeuge der Auferstehung ist, verankert er auch hier seine Christologie in der Gemeindeüberlieferung (vgl. 1Kor 15,1–3a), um zu verdeutlichen, dass die Auferstehung Jesu Christi von den Toten die Grundlage des Glaubens aller Christen ist. Das Evangelium hat eine bestimmte Gestalt und nur in dieser erweist es sich für die Korinther als rettendes Evangelium, das es festzuhalten gilt: „Dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften und dass er begraben wurde und dass er auferweckt ist am dritten Tage nach den Schriften und dass er Kephas erschien, dann den Zwölfen“ (1Kor 15,3b–5). Weder Paulus noch die Korinther haben je ein eigenes Evangelium, sondern beide sind an das eine vorgegebene Evangelium gewiesen (s. o. 6.1.4). Inhalt des Evangeliums ist die Paradosis von Tod und Auferweckung Christi. Jesus Christus starb für unsere Sünden nach dem Willen Gottes, die Aussage von Begrabensein bestätigt die Wirklichkeit seines Todes. Dem ganzen Tod Jesu entspricht die ganze Auferweckung, die den Tod als letzten Feind Gottes, aber auch den Tod als Ende eines jeden Lebens überwand. Sowohl die Vorstellung des Begrabenseins als auch die sichtbaren Erscheinungen des Auferstandenen deuten darauf hin, dass Paulus und die Tradition Tod und Auferweckung Jesu als ein leibliches Geschehen79 in Raum und Zeit verstehen. Auch die Ausweitung der Zeugenliste (1Kor 15,6–9) durch Paulus dient dem Nachweis der leiblichen und damit nachprüfbaren Auferstehung Jesu Christi von den Toten80, viele von den 500 Brüdern leben noch und können befragt werden. R. Bultmann erfasst diese Textintention zutreffend, wenn er betont: „Ich kann den Text nur verstehen als den Versuch, die Auferstehung Christi als ein objektives historisches Faktum glaubhaft zu machen.“81 Bultmann fährt dann aber fort: „Und ich sehe nur, daß Paulus durch seine Apologetik in Widerspruch mit sich selbst gerät; denn mit einem objektiven historischen Faktum kann allerdings das nicht ausgesagt werden, was Paulus V. 20–22 von Tod und Auferstehung Jesu sagt.“82 Was von Paulus als geschichtliches Ereignis begriffen wurde, will Bultmann in den Bereich des Mythologischen schieben, um so die Glaubwürdigkeit des Evan-
79 Paulus steht hier in der Tradition jüdischer Anthropologie und Eschatologie; vgl. M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung (s.o. 4.2), 139–172.
80 Vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 369. 81 R. BULTMANN, Karl Barth, „Die Auferstehung der Toten“, in: ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980, (38–64) 54. 82 A. a. O., 54 f.
206 Paulus: Missionar und Denker
geliums in der Moderne zu wahren. Der einzige Auferstehungszeuge, von dem wir schriftliche Nachrichten besitzen, verstand die Auferstehung Jesu Christi von den Toten jedoch offenkundig als ein Ereignis innerhalb der Geschichte, das sein eigenes Leben völlig veränderte. Mit der Zitierung der Überlieferung V. 3b–5 und der Auffüllung der Zeugenliste verteidigt Paulus auch seine Autorität als Apostel83. Er führt die anerkannte Tradition bis zu seiner Person fort und verdeutlicht damit den Korinthern, dass er den Auferstandenen in gleicher Weise sah wie die anderen Zeugen bis hin zu Kephas. Paulus verknüpft auf diese Weise drei Problemkomplexe: a) die leibliche Auferstehung Jesu; b) sein Zeugnis für dieses Geschehen; und c) ein sich daraus ergebendes Verständnis der leiblichen Auferstehung der Toten. Für Paulus ist dieses Verständnis von Auferstehung keine Interpretationsfrage, sondern Bestandteil des Evangeliums. Nur wenn Jesus Christus leibhaftig und damit wirklich von den Toten auferstanden ist, können Christen auf Gottes endzeitliches Retterhandeln hoffen. Die korinthische und die paulinische Konzeption
Teile der korinthischen Gemeinde leugneten eine zukünftige Totenauferstehung, weil sie eine andere Anthropologie als Paulus vertraten84. Wahrscheinlich dachten sie dichotomisch, d. h. sie unterschieden zwischen der unsichtbaren Ich-Seele und dem sichtbaren Leib85. Im Gegensatz zu späteren gnostischen Anschauungen stellte für die Korinther der Leib nicht schon an sich eine negative Größe dar, vielmehr war er nach ihrer Überzeugung als irdisch-vergängliche Größe von der endzeitlichen Erlösung ausgeschlossen86. Eine Jenseitserwartung bestand nur für den höheren Teil des Menschen, seine geistbegabte Ich-Seele87. Als nicht heilsrelevante irdische Behausung konnten die Korinther den Leib für nebensächlich erklären, sowohl sexuelle Zügellosigkeit als auch Askese waren Ausdruck dieses Denkens (vgl. 1Kor 6,12–20; 7). Weil der Leib als vergänglich und sterblich, die Seele hingegen als unvergänglich begriffen wurde, lehnten die Korinther eine endzeitliche leibliche Auferstehung ab. Offensichtlich vollzog sich die Erlangung des Lebens für die Korinther nicht als Überwindung des Todes bei der Parusie des Herrn, sondern bei der Pneuma-Verleihung
83 Diesen Aspekt betont nachdrücklich P. V.D. OSTEN-SACKEN,
Die Apologie des paulinischen Apostolats in 1. Kor 15,1–11, in: ders., Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus, TB 77, München 1987, 131–149. 84 Zu den in der Exegese erwogenen Gründen der Auferstehungsleugnung vgl. den Forschungsüberblick von G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 17–37. 85 Vgl. G. SELLIN, a. a. O., 30: „Die Korinther lehnten die Auferstehung der Toten überhaupt ab, weil sie den damit verbundenen Gedanken der Leiblichkeit des ewigen Heils nicht akzeptieren konnten.“
86 Vgl. Plut, Mor 1096: „Der Mensch besteht aus zweierlei, aus Leib und Seele, und die Seele hat von beiden den Vorrang“; bei Plut, Is et Os 78, wird als Ziel der geretteten Seelen genannt: „Wenn sie aber erst einmal erlöst in das unkörperhafte, unsichtbare, affektlose und heilig-reine Reich übergegangen sind, dann ist dieser Gott ihnen Führer und König, an dem sie die für Menschen unaussprechliche Schönheit ohne Sättigung schauen und begehren.“ 87 Vgl. H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie (s. o. 6.2), 192 f.
Christologie 207
der Taufe88; hier ereignete sich die grundlegende Verwandlung des Selbst. Die unverlierbare Pneumagabe war für sie bereits absolute Versicherung des Heils, weil sie nicht nur den Übergang in das neue Sein gewährte, sondern dieses neue Sein selbst schon war. Der Apostel teilte die Realistik einer solchen Geistvorstellung (vgl. 1Kor 5,5; 3,15f); im Gegensatz zur korinthischen Theologie kann sich aber nach Paulus der Mensch als Ich nicht von seinem Leib distanzieren. Leiblichkeit konstituiert Menschsein, der Leib ist vom gegenwärtigen und zukünftigen Heilshandeln Gottes nicht ausgenommen. Dies gilt bereits für Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth, denn sowohl der Gekreuzigte als auch der Auferstandene haben einen Leib (vgl. 1Kor 10,16; 11,27; Phil 3,21). Die Taufe schenkt Verbindung mit dem gesamten Schicksal Jesu, sowohl mit dem leiblich Gekreuzigten als auch mit dem leiblich Auferstandenen. Deshalb greift Paulus bewusst erst in 1Kor 15,29 den fremdartig anmutenden Brauch der Vikariatstaufe auf89, weil sie gegen die Intention der Korinther zeigt, dass ein rein geistiges Verständnis der Auferstehung dem Wesen der Taufe nicht gerecht wird. Für Paulus gibt es keine Existenz ohne Leiblichkeit, so dass ein Nachdenken über die postmortale Existenz auch die Frage nach der Leiblichkeit dieser Existenz sein muss. Die Frage nach dem ‚Wie‘ der Auferstehung kann somit nur die Frage nach der Art des Auferstehungsleibes sein (vgl. 1Kor 15,35b). Paulus eröffnet die Diskussion in 1Kor 15,35ff90, nachdem er zuvor durch die Bezeichnung Christi als „Erstling der Entschlafenen“ (aparcv` tw˜n kekoimvme´nwn) in 1Kor 15,20 und die Schilderung der Endereignisse in 1Kor 15,23–28 eine unumkehrbare Zeitlinie aufgebaut hat, an deren Anfang einzig und allein die Auferweckung Jesu Christi von den Toten steht. In 1Kor 15,42–44 wertet Paulus das bisher Gesagte aus, indem er die Auferstehung des Gesäten interpretiert: So wie Vergängliches gesät wird und Unvergängliches aufersteht, so wird das sw˜ma yuciko´n („irdischer Leib“) gesät und das sw˜ma pneumatiko´n („geistlicher Leib“) auferstehen. Mit dieser Antithese91 ist die Frage nach dem ‚Wie‘ der Auferstehung beantwortet, indem einerseits als Grundbedingung der Auferstehung die Leiblichkeit erscheint, andererseits die aber als eine pneumatische bestimmt wird und somit scharf von der gegenwärtigen vergänglichen Welt zu trennen ist. In 88 Traditionen des hellenistischen Judentums erhellen diese Vorstellung; vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 214. 89 Zur älteren Auslegung vgl. M. RISSI, Die Taufe für die Toten, AThANT 42, Zürich 1962; aus der neueren Literatur vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 150–152; G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 277–284; CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4., 6), 392–397; F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 165–167; D. ZELLER, Gibt es religionsgeschichtliche Parallelen zur Taufe für die Toten (1Kor 15,29)?, ZNW 98 (2007), 68–76.
90 Zur Interpretation vgl. H. H. SCHADE, Apokalypti-
sche Christologie (s. o. 6.2), 204ff; CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 402ff; J. R. ASHER, Polarity and Change in 1 Corinthians 15, HUTh 42, Tübingen 2000, 91–145. 91 Die Antithese pneumatiko´ß – yuciko´ß findet sich erstmals bei Paulus; religionsgeschichtlich leitet sie sich wahrscheinlich aus der jüdischen Weisheitstheologie ab (vgl. Philo, Op 134–147; All I 31–42.88– 95; II 4–5); vgl. dazu R. A. HORSLEY, Pneumatikos vs Psychikos, HThR 69 (1976), 269–288; G. SELLIN, Auferstehung der Toten (s. o. 6.2), 90–175; F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 194–198.
208 Paulus: Missionar und Denker
V. 45–49 begründet Paulus seine These des Auferstehungsleibes als eines sw˜ma pneumatiko´n. Christus bewirkt als pneu˜ma zwopoiou˜n („lebendig machender Geist“) den pneumatischen Auferstehungsleib (V. 45), und er ist als Prototyp des neuen Seins zugleich dessen Urbild. Wie die irdische Beschaffenheit des prw˜toß anhrwpoß („ersten Menschen“) Adam das vergängliche Sein des Menschen verursacht und bestimmt, so wird die himmlische Beschaffenheit des deu´teroß anhrwpoß („zweiten Menschen“) das zukünftige unvergängliche Sein bewirken und bestimmen. Die Korinther schieden auf ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund die Leiblichkeit aus dem Bereich der Unsterblichkeit aus und sahen im Pneuma den eigentlichen Ort göttlichen Handelns. Paulus hingegen bezieht den Leib umfassend in Gottes Heilshandeln mit ein und kehrt die korinthische Reihenfolge um (1Kor 15,46): „Aber nicht das Pneumatische kommt zuerst, sondern das Psychische, danach erst das Pneumatische.“ Die wunderbare Schöpferkraft Gottes erweckte Jesus Christus von den Toten, und Gott wird auch das Subjekt der Auferweckung der verstorbenen und der Verwandlung der noch lebenden Korinther sein. Paulus versteht die leibliche Auferstehung Jesu Christi von den Toten als ein Handeln Gottes am Gekreuzigten, das die Endzeit einleitet und so zum Fundament einer neuen Welt- und Geschichtssicht wird. Die Auferstehung wird zum Gottesprädikat, es geht um den Gott, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt“ (Röm 4,17b; vgl. Röm 8,11). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken in der Gegenwart weiter und rufen ihre eigene Gewissheit hervor: „Wir glauben aber, dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden“ (Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Darüber hinaus veränderte die Auferstehung Jesu Christi auch sichtbar sein eigenes Leben, so dass ihr Realitätsgehalt für Paulus nicht nur in einem neuen Urteil über das Handeln Gottes an Jesus von Nazareth besteht, sondern eine neue und erfahrbare Wirklichkeit zum Ausdruck bringt92. II. Auferstehung verstehen
Die Erfahrungen des Paulus bei Damaskus sind nicht die unseren, sein Welbild ist nicht jedermanns Sache93. Wie kann von der Auferstehung Jesu Christi von den To92 In der bis heute nachwirkenden Diskussion der 60er Jahre wird dieser Aspekt bewusst minimiert oder unterschlagen; vgl. z. B. W. MARXSEN, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968, 113, der die Beweisintention von 1Kor 15 verneint und feststellt: „Darum kann man sich auch nicht auf Paulus berufen, wenn man am Geschehen-Sein der
Auferstehung Jesu (wie man es gelegentlich ausdrückt) ‚festhalten‘ will.“ 93 Vgl. G. E. LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, Stuttgart 1976 (= 1777), 32: „Ein andres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst erlebe, ein andres erfüllte Weissagungen, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen erlebt haben.“
Christologie 209
ten unter den Bedingungen der Neuzeit gesprochen werden? Wie ist es möglich, die Wahrheit des Evangeliums von der Auferstehung Jesu Christi von den Toten in einer Zeit zu behaupten, wo der Wahrheitsanspruch exklusiv an die Rationalität (natur-) wissenschaftlicher Methodik gebunden ist? Welche Plausibilität besitzen die Argumente der Bestreiter und Befürworter der Wirklichkeit der Auferstehung? Drei Interpretationsmodelle sind in der Diskussion von Bedeutung: a) Projektionen der Jünger als Auslöser des Auferstehungsglaubens (subjektive Visionshypothese) : David Friedrich Strauss (1808–1874) führte Argumente gegen den Osterglauben an, die bis in die Gegenwart die Diskussion bestimmen94. Er unterscheidet strikt zwischen den Erscheinungstraditionen und der Überlieferung vom leeren Grab. Der historische Ursprung des Osterglaubens liegt seiner Meinung nach in Visionen der Jünger in Galiläa, weit weg vom Grab Jesu, das erst in einer sekundären Legende zum leeren Grab wurde. Die Erscheinungsberichte verweisen auf Visionen der Jünger, die durch frommen Enthusiasmus und die Belastungssituation hervorgerufen wurden. Strauss ist damit ein Vertreter der subjektiven Visionstheorie, wonach Visionen der Jünger aus der spezifischen historischen Situation heraus rational erklärbar sind95. Die Geschichtlichkeit Jesu wird von Strauss zu einem erheblichen Teil in den Mythos verflüchtigt, so dass die Wirklichkeit des historischen Geschehens und der Wahrheitsanspruch des Auferstehungsglaubens auseinanderklaffen. Strauss hoffte, die dadurch entstandene Spannung aufzulösen, indem er den Kern des christlichen Glaubens aus der Geschichte herauslöste und in eine Idee übertrug96. Eine trügerische Hoffnung, denn dem scheinbar positiven Ertrag stand ein grundlegendes Defizit gegenüber: Wenn die Jünger die Auslöser und das Subjekt des Auferstehungsglaubens sind, kann dieses Geschehen als psychologisch deutbares Ereignis in unsere Wirklichkeit integriert werden. Zugleich verliert es aber seinen Wahrheitsanspruch, denn Wahrheit kann nicht auf Dauer jenseits von geschichtlicher Wirklichkeit behauptet werden. Gegen eine Ableitung des Auferstehungsglaubens aus innerpsychischen Vorgängen sind auf verschiedenen Ebenen Einwände zu erheben: 1) Die historische Argument: Sowohl für D. F. Strauss als auch für G. Lüdemann sind die Überlieferungen vom leeren Grab späte apologetische Legenden. Lüdemann vermutet, dass auch die früheste Gemeinde den Ort des Grabes Jesu nicht kannte97. Ein historisch überaus
94 Vgl. G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, 208 u. ö., der in allen wesentlichen Argumenten D. F. Strauss folgt. Zur Kritik der geschichtstheoretischen und theologischen Defizite der Konstruktionen Lüdemanns vgl. I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube?, 381 ff. 95 Vgl. D. F. STRAUSS, Der alte und der neue Glaube, Stuttgart 1938 (= 1872), 49 f. 96 Vgl. D. F. STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bear-
beitet, 2. Band, Tübingen 1836, 735: „Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, dass als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird.“ 97 Vgl. G. LÜDEMANN, Die Auferstehung Jesu, 67; in der Neuauflage heißt es auf S. 134: „Das Grab Jesu war offenbar unbekannt.“
210 Paulus: Missionar und Denker
fragwürdiges Argument, denn Jesu Kreuzigung erregte in Jerusalem unzweifelhaft sehr viel Aufsehen. Deshalb dürfte es weder den Gegnern Jesu noch seinen Anhängern und Sympathisanten entgangen sein98, wo der Leichnam Jesu von Josef von Arimathäa (Mk 15,42–47) beigesetzt wurde (s. o. 4.2). Wenn kurz nach diesem Geschehen die Jünger in Jerusalem mit der Botschaft auftraten, Jesus sei von den Toten auferstanden, dann muss die Frage nach dem Grab von Anfang an eine zentrale Bedeutung gehabt haben. Ein volles Grab hätte die Verkündigung der Jünger leicht widerlegen können! 2) Das religionsgeschichtliche Argument: Es gibt keine zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Parallelen für die Verknüpfung des Auferstehungsgedankens mit der Vorstellung, ein Verstorbener erscheine den mit ihm verbundenen Menschen99. Wenn die Erscheinungen ausschließlich als innerpsychische Phänomene aufgefasst werden, dann hätten andere Vorstellungsmuster näher gelegen, um Jesu besondere Stellung auszudrücken. Die eschatologischen Aussagen der frühen Christen sind in ihrer Kombination religionsgeschichtlich singulär. 3) Das methodologische Argument: Sowohl Strauss als auch Lüdemann präsentieren keineswegs eine ‚objektive‘ und historisch einsichtige Darstellung des Auferstehungsgeschehens, sondern notwendigerweise ihre eigene Geschichte mit Jesus von Nazareth. Bestimmend für ihre Argumentation ist die erkenntnistheoretisch unzutreffende Annahme, dass ihre Analyse der literarischen Verarbeitung eines Geschehens vollständig über dessen Realitätsgehalt entscheidet. Eine solche Analyse kann aber keine gesicherten Ergebnisse erbringen, denn sie bezieht sich ihrerseits nicht auf das Geschehen selbst, sondern immer schon auf Interpretamente, deren Bedeutsamkeit wiederum vom Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis der Exegeten abhängt, die unabwendbar und eigentlich die Ergebnisse bestimmen. Die Entscheidung über den Wirklichkeitsund Wahrheitsgehalt des Auferstehungsgeschehens erfolgt immer innerhalb der weltanschaulichen Prämissen und der Lebensgeschichte der Interpreten, die das normierende Weltbild und die leitenden Interessen der Interpretation aus sich heraussetzen. Bei der subjektiven Visionshypothese bilden vor allem psychologische Vermutungen und daraus abgeleitete historistische Postulate die Basis der Argumentation, ohne dass ihre Vertreter die hermeneutischen Defizite dieses Ansatzes bedacht hätten100. b) Auferstehung ins Kerygma hinein. Im Anschluss an die (negativen) Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh. verzichtet R. Bultmann bewusst auf eine histori98 Die redaktionelle Notiz über die Jüngerflucht Mk 14,50 (vgl. das pa´nteß-Motiv in Mk 14,27.31.50) beinhaltet m.E. keineswegs, dass alle Sympathisanten Jesu Jerusalem verlassen haben. 99 Vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 35 f. 100 Zur Kritik an Strauss und der subjektiven Visionshypothese vgl. H. GRASS, Ostergeschehen und
Osterberichte, 233ff; zur Kritik an Lüdemann vgl. R. SLENCZKA, „Nonsense“ (Lk 24,11), KuD 40 (1994), 170–181; U. WILCKENS, Die Auferstehung Jesu: Historisches Zeugnis – Theologie – Glaubenserfahrung, PTh 85 (1996), 102–120; W. PANNENBERG, Die Auferstehung Jesu – Historie und Theologie, ZThK 91 (1994), 318–328.
Christologie 211
sche Erhellung des Osterglaubens: „Die Gemeinde mußte das Ärgernis des Kreuzes überwinden und hat es getan im Osterglauben. Wie sich diese Entscheidungstat im einzelnen vollzog, wie der Osterglaube bei den einzelnen Jüngern entstand, ist in der Überlieferung durch die Legende verdunkelt und sachlich von keiner Bedeutung.“101 Bultmann versteht Ostern als ein eschatologisches, d. h. alles Bisherige umstürzendes Ereignis; als eine von Gott neu herbeigeführte Welt und Zeit. Als eschatologisches Ereignis werde Ostern gerade missverstanden, wenn man es mit weltlichen Kriterien erklären will, denn die Auferstehung ist kein beglaubigendes Mirakel. Diese hermeneutische Grundentscheidung erblickt R. Bultmann bereits im Neuen Testament selbst, denn dort werde der Gekreuzigte nicht so verkündigt, „daß sich der Sinn des Kreuzes aus seinem historischen – durch historische Forschung zu reproduzierenden – Leben erschlösse; sondern er wird verkündigt als der Gekreuzigte, der zugleich der Auferstandene ist. Kreuz und Auferstehung gehören zu einer Einheit zusammen.“102 Wie aber verhalten sich Kreuz und Auferstehung genau zueinander? Die Auferstehung ist nichts anderes „als der Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes“103. Das einmal von Gott mit Jesus in Gang gesetzte eschatologische Geschehen vollzieht sich weiter im Wort und im Glauben. Deshalb gilt: Jesus ist „ins Kerygma auferstanden“104, sofern das Wort die Fortsetzung des eschatologischen Handelns Gottes an den Christen ist. Zu einem eschatologischen Ereignis gibt es nur dann einen Zugang, wenn man selbst in die Neue Welt einzieht, d. h. zur eschatologischen Existenz wird und im Glauben erkennt, „daß das Kreuz wirklich die ihm zugeschriebene kosmischeschatologische Bedeutung hat.“105 Zwei Anfragen sind an dieses ausdrücklich dem neuzeitlichen Denken verpflichtete Konzept zu richten: 1) Welcher Realitätsgehalt kommt in der Zuordnung von Kreuz und Auferstehung der Auferstehung zu? Wenn die Auferstehung ‚Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes‘ ist, dann handelt es sich dabei nicht um ein Realitätsurteil, sondern ein Reflexionsurteil eines Subjektes106, das seinen Verstehensstandort markiert. Es bleibt unklar, wie sich Bultmann Jesu Auferstehung ins Kerygma genau vorstellt. Die Wirklichkeit der Auferstehung und das Bekenntnis zu ihr werden bewusst nicht mehr unterschieden und so faktisch in eins gesetzt. Es handelt sich um eine elegante, zugleich aber bewusst unbestimmte und verschleiernde Formulierung107. Gerade dort, wo das grundlegende Verhältnis von Geschichte und
101 R. BULTMANN, Theologie, 47. 102 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie,
BEvTh 96, München 1985 (= 1941), 57. 103 A. a. O., 58. 104 R. BULTMANN, Das Verhältnis der urhristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders. Exegetica, Tübingen 1967, 469. 105 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, 58.
106 Vgl. dazu die scharfsinnigen Überlegungen von H.-G. GEYER, Die Auferstehung Jesu Christi. Ein Überblick über die Diskussion in der evangelischen Theologie, in: F. Viering (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehung Jesu für den Glauben an Jesus Christus, Berlin 1967, 93 f. 107 Zur Kritik vgl. K. BARTH, Die Kirchliche Dogmatik III/2, Zürich 1948, 535 f.
212 Paulus: Missionar und Denker
Wahrheit zu klären wäre, „bleibt der Sinn jener Limesaussagen in unerschlossener Zweideutigkeit stecken.“108 2) Der Verzicht auf eine Analyse der geschichtlichen Dimensionen des Auferstehungsgeschehens ist nicht möglich, weil sowohl die ältesten Traditionen als auch Paulus das Auferstehungsgeschehen als ein an Orte und Zeiten gebundenes Ereignis verstehen. Zudem: Wenn die Auferstehungskräfte im Glauben weiterhin wirken, müssen sie auch einen geschichtlichen Ausgangspunkt haben. Wer sich den Fragen nach den geschichtlichen Dimensionen der Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht stellt, bleibt hinter dem Neuen Testament zurück109. c) Auferstehung als reales Geschehen. Als objektiven Ausdruck der Bekundungen des Auferstandenen versteht W. Pannenberg die Ostererscheinungen110. Er wendet sich gegen das reduktionistische Weltbild der Neuzeit, das dogmatisch Gott aus der Wirklichkeit ausschließt. „‚Historizität‘ muß nicht bedeuten, daß das als historisch tatsächlich Behauptete analog oder gleichartig mit sonst bekanntem Geschehen sei. Der Anspruch auf Historizität, der von der Behauptung der Tatsächlichkeit eines geschehenen Ereignisses untrennbar ist, beinhaltet nicht mehr als dessen Tatsächlichkeit (die Tatsächlichkeit eines zu bestimmter Zeit geschehenen Ereignisses). Die Frage seiner Gleichartigkeit mit anderem Geschehen mag für das kritische Urteil über das Recht solcher Behauptungen eine Rolle spielen, ist aber nicht Bedingung des mit der Behauptung verbundenen Wahrheitsanspruchs selber.“111 Wird die Möglichkeit göttlichen Handelns in Zeit und Geschichte offengehalten, dann ergeben sich auch gewichtige historische Argumente für die Glaubwürdigkeit der Ostererzählungen. Für Pannenberg ist die Grabestradition historisch gesehen ebenso urprünglich wie die Erscheinungstraditionen, aber sachlich von ihnen abhängig. Erst im Licht der Erscheinungen wird das leere Grab zum Zeugen der Auferstehung, ohne die Erscheinungen bleibt es mehrdeutig. Es gibt somit zwei sich gegenseitig bestätigende Zeugnisse für das Ostergeschehen, sie verbürgen die Objektivität des Ereignisses. „Und in der Tat hat zwar nicht die Nachricht von der Entdeckung des leeren Grabes für sich allein, wohl aber die Konvergenz einer unabhängig davon entstandenen, auf Galiläa zurückgehenden Erscheinungstradition mit der Jerusalemer Grabestradition erhebliches Gewicht für die historische Urteilsbildung. Für das historische Urteil hat – ganz allgemein gesprochen – die Konvergenz verschiedener Befunde große Bedeutung.“112 Pannenberg weicht der historischen Rückfrage und Begründung nicht aus und begibt sich damit notwendigerweise in den Bereich von lebensgeschichtlich und weltanschaulich geprägten Ermessensfragen. Die von ihm vorausgesetzte Beweis-
108 H.-G. GEYER, Die Auferstehung Jesu Christi, 96.
110 Vgl. W. PANNENBERG, Gründzüge der Christologie,
109 Die lebhafte Kontroverse um Kreuz und Aufer-
Gütersloh 51976, 93 ff.
stehung nach 1945 dokumentiert B. KLAPPERT (Hg.), Diskussion um Kreuz und Auferstehung, Wuppertal 9 1985.
111 W. PANNENBERG, Systematische Theologie II, Göt-
tingen 1991, 403. 112 W. PANNENBERG, Die Auferstehung Jesu, 327 f.
Christologie 213
kraft zweier Zeugnisse113 vermag allerdings die Last des Nachweises nicht zu tragen, denn Pannenberg verbleibt damit innerhalb der Denkschemata des neuzeitlichen Geschichtspositivismus114. III. Auferstehung als Transzendenzgeschehen
Die neuzeitliche Historisierung des Denkens und die damit verbundene Subsumierung des Wahrheitsbegriffes unter die rationale Methodik der herrschenden Wissenschaften veränderte fundamental die Wahrnehmung biblischer Texte und ihres Anspruchs. „Durch Historisierung rückt die Bibel in die abständig-vergangenen zeitlichen Kontexte ihrer Entstehung ein, und damit öffnet sich zwischen der Vergangenheit dieser Entstehung und der Gegenwart der Bedeutung des Entstandenen eine zeitliche Lücke, die – und das ist das Entscheidende – nicht mit den gleichen methodischen Mitteln der Kritik geschlossen werden kann.“115 Die forschungsgeschichtlichen Schlaglichter haben maßgebliche Strategien aufgezeigt, dieses Dilemma zu umgehen oder eine Brücke über den aufgerissenen Graben zu errichten. Als methodische Einsichten ergeben sich daraus: 1) Die Probleme können nicht dadurch gelöst werden, dass die Rückfrage nach der Auferstehung Jesu Christi von den Toten für historisch unmöglich oder theologisch illegitim erklärt wird116. In beiden Fällen weicht man der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des Auferstehungsgeschehens aus; Glaube und Wirklichkeit werden auseinandergerissen. Die Auferstehung verbleibt auf dem Ruinenfeld vergangener Geschichte117, der Glaube verkommt zur bloßen Behauptung und löst sich selbst auf, wenn er die Verbindung zum Ursprungsgeschehen kappt. 2) Der notwendigen historischen Rückfrage müssen hermeneutische und geschichtstheoretische Überlegungen vorangehen, denn sie bestimmen die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion und den damit verbundenen Wahrheitsbegriff. Unter diesen methodischen Voraussetzungen soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, Auferstehung als Transzendenzgeschehen verständlich zu machen.
113 Nicht nur die Zuordnung von Erscheinungen und leerem Grab, sondern auch der proleptische Zug im Vollmachtsanspruch des vorösterlichen Jesus und seine Auferweckung durch Gott bestätigen sich bei Pannenberg gegenseitig; vgl. DERS., Grundzüge der Christologie, 47 ff. 114 Vgl. zur Kritik an Pannenberg bes. E. REINMUTH, Historik und Exegese – zum Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne, in: St. Alkier u. R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodenstreit, TANZ 23, Tübingen 1998, (1–20) 1–8. 115 J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, in: W. Küttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs 2, Frankfurt 1994, (344–377) 358.
116 So z. B. H. CONZELMANN, Theologie, 228, in der
Diktion der 50er und 60er Jahre: „Die Frage nach der Historizität der Auferstehung muß als irreführend aus der Theologie ausgeschieden werden. Wir haben andere Sorgen: Es muß so gepredigt werden, ‚dass das Kreuz nicht entleert werde‘ (1Kor 1,17).“ 117 So z. B. bei I. U. DALFERTH, Volles Grab, leerer Glaube? 385: „Das Kreuz, nicht die Auferstehung verankert den Glauben in der Geschichte. Nur nach dem Kreuz, nicht aber nach der Auferweckung kann daher historisch gefragt werden.“
214 Paulus: Missionar und Denker
Hermeneutische und geschichtstheoretische Überlegungen : Der Frage nach der Reichweite und der Leistungsfähigkeit historischen Erkennens (s. o. 1.1) muss beim Thema Auferstehung in besonderer Weise bedacht werden, denn es übersteigt unsere Wirklichkeitserfahrung. Historisches Erkennen vollzieht sich immer in einem Zeitabstand zum Geschehen, der Abständigkeit bedeutet und historisches Erkennen im Sinn einer umfassenden Feststellung dessen, was geschehen ist, verwehrt. Auch die Interpretationsbedürftigkeit historischen Geschehens hat unausweichlich die Relativität historischen Erkennens zur Folge. Erst in der Interpretation des erkennenden Subjekts wird Geschichte gebildet, Geschichte ist immer ein Interpretationsmodell. Dabei entscheidet die weltanschauliche Einstellung, d. h. das vom Historiker für sich selbst akzeptierte und maßgebliche Wirklichkeitsverständnis, seine religiöse oder a-religiöse Disposition notwendigerweise darüber, was als historisch gelten kann oder nicht118. Die herrschenden Weltbilder sind selbst einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen; kein Weltbild kann für sich eine Sonderstellung in der Geschichte beanspruchen, denn es unterliegt unausweichlich Veränderungen und Relativierungen. Deshalb ist der Hinweis auf die Differenzen zwischen dem gegenwärtigen und dem ntl. Weltbild kein hinreichendes Argument, um dessen defizitären Charakter zu erweisen, weil jede Generation sich innerhalb ihres Weltbildes artikulieren muss, ohne dass nachfolgende Generationen daraus einen absoluten Erkenntnisvorsprung ableiten können. Geschichte liegt nie offen zutage, sondern sie wird immer erst durch die Rückschau des erkennenden Subjekts konstruiert. Dieser Konstruktionsvorgang orientiert sich in der Neuzeit an Methoden als Kennzeichen wissenschaftlicher Rationalität, es gilt: „Ohne Methode keinen Sinn“119. Die Methodik entzaubert das Sinnpotential historischer Erinnerung und ebnet alles zu einer gleichförmigen Masse ein. Diese Entzauberung ist bei der Auferstehung mit dem Stichwort der Analogie verbunden. Historische Vorgänge lassen sich immer dann hinreichend beurteilen, wenn es zu ihnen Analogien gibt, wenn man sie in einen Kausalzusammenhang einordnen kann120. Dies ist bei der Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht der Fall, es handelt sich – historisch betrachtet – um ein singuläres Phänomen. Dann stellt sich sofort die Frage, ob ein solches einzigartiges Geschehen historisch glaubwürdig ist. 118 Treffend W. PANNENBERG, Systematische Theologie
120 Überaus einflussreich bis in die Gegenwart hin-
II, 405: „Zu welchem Urteil jemand im Hinblick auf die Historizität der Auferstehung Jesu kommt, hängt über die Prüfung der Einzelbefunde hinaus . . . davon ab, von welchem Wirklichkeitsverständnis der Urteilende sich leiten läßt und was er dementsprechend für grundsätzlich möglich oder aber schon vor aller Erwägung der Einzelbefunde für ausgeschlossen hält.“ 119 J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, 345.
ein ist hier E. TROELTSCH, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik, Ges. Schriften II, Tübingen 21922, 729–753, der historische Kritik, Analogie und Korrelation zu den Grundbegriffen des Historischen und damit Wirklichen erklärte.
Christologie 215
Kann etwas als historisch gelten, wenn es in der bisherigen Geschichte einzigartig ist? Die Beantwortung dieser Frage hängt von der jeweiligen Geschichtstheorie ab121, die ein Exeget vertritt. Anhänger nomologischer Konzeptionen werden alles für unhistorisch erklären, was außerhalb der von ihnen selbst festgelegten Gesetzmäßigkeiten liegt. Sieht man hingegen in Zeiterfahrungen das konstitutive Element von Geschichte, verändert sich der Wahrnehmungshorizont. „Das historische Denken rekurriert um dieser seiner Orientierungsfunktion willen auf Zeiterfahrungen, von denen im Schema des nomologischen Erklärens abgesehen wird: Erfahrungen von Veränderungen, die nicht der inneren Gesetzmäßigkeit des Sich-Verändernden entsprechen. Es handelt sich um Zeiterfahrungen, die gegenüber den nomologisch erkennbaren den Status der Kontingenz haben.“122 Für unsere Fragestellung bedeutet dies: Historisch lassen sich die Erscheinungen und das ihnen vorausliegende Auferstehungsgeschehen nicht erweisen, zugleich aber auch nicht ausschließen, wenn man die Erfahrungskategorie der Kontingenz in die Geschichtskonstruktion aufnimmt. Auferstehung als Transzendenzgeschehen : Wenn der Möglichkeit einer Auferstehung Jesu Christi von den Toten und anschließender Erscheinungen des Auferstandenen geschichtstheoretisch derselbe mögliche Realitätsgehalt zuerkannt werden muss wie anderen Ereignissen in der Vergangenheit, dann stellt sich die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug dieses Geschehens. Es kann der menschlichen Wirklichkeit nicht eingeordnet, wohl aber zugeordnet werden. Eine Einordnung ist nicht möglich, weil Auferstehung bei Paulus wie im gesamten Neuen Testament immer streng als exklusive Gottestat verstanden wird (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 6,14a; 15,4.15; Gal 1,1; Röm 4,24f; 6,9; 8,11; 10,9). Das eigentliche Subjekt der Auferstehung ist Gott, d. h. die Rede von der Auferstehung Jesu Christi ist zuallererst eine Aussage über Gott selbst123 und damit geläufiger empirischer Verifikation entzogen! Als schöpferisches Handeln Gottes an dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazaereth muss die Wirklichkeit der Auferstehung deshalb unterschieden werden von menschlichen Erfahrungen und Verarbeitungen dieser Wirklichkeit. Würde man beides in eins setzen, wäre die Frage nach der Realität dieses Geschehens nicht mehr zu beantworten und die Möglichkeit göttlichen Handelns vom menschlichen Bekenntnis abhängig. Wenn der Mensch die Möglichkeiten Gottes mit seinen eigenen gleichsetzt, redet er nicht mehr von Gott!
121 Vgl. dazu J. RÜSEN, Rekonstruktion der Vergan-
genheit, Göttingen 1986, 22–86. 122 A. a. O., 41. 4 123 Vgl. CHR. SCHWÖBEL, Art. Auferstehung 2, RGG I, Tübingen 1998, (924–926) 926: „Das Handeln Gottes ist der gemeinsame Bezugspunkt der Rede von der
Auferweckung des toten Jesus, des Glaubens der ersten Gemeinde, daß Jesus dadurch Anteil am Leben Gottes hat und sein Lebenszeugnis von Gott selbst bestätigt worden ist, und der Beauftragung, diese Botschaft an alle weiterzugeben.“
216 Paulus: Missionar und Denker
Auferstehung als Handeln Gottes an Jesus von Nazareth hebt allerdings die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug dieses Geschehens nicht auf. Der Hinweis darauf, dass Gott sich im Auferstehungsgeschehen selbst zur Sprache bringt und Gottes Handeln als solches nicht beschrieben, sondern nur bekannt werden könne124, muss wiederum nur als eine elegante Verschiebung der Probleme gelten. Wie soll etwas zur Grundlage meines Glaubens und damit auch meines Wirklichkeitsverständnisses werden, das nicht in einen Bezug zu meiner Wirklichkeit gesetzt werden kann? Diese notwendige Zuordnung leistet m.E. der Transzendenzgedanke. Auferstehung ist zunächst und grundlegend ein die normale Erfahrung überschreitendes (transcendere) Geschehen von Gott her. Es tritt aber nicht als die Transzendenz des absolut Heiligen oder des distanzierten Monotheismus in Erscheinung, sondern Gott überschreitet seine Unendlichkeit und begibt sich ohne Aufgabe seiner Freiheit in den Bereich des Geschöpflichen, den er selbst schuf und der auch sein eigen ist125. Innerhalb der Schöpfung ist der Mensch dasjenige Lebewesen, dessen Sein durchgängig von Transzendenzerfahrungen geprägt ist. Der Mensch lebt in einer Welt, die ihm letztlich entzogen ist, die vor ihm war und nach ihm sein wird126. Er kann die Welt erfahren, nicht aber mit ihr verschmelzen. Aus der Unterscheidung zwischen Ich-bezogenen und Ich-überschreitenden Erfahrungen ergeben sich nicht nur Differenz-, sondern auch Transzendenzerfahrungen. Jede Erfahrung verweist in ihrem Kern auf Abwesendes und Fremdartiges, die eine Miterfahrung von Transzendenz hervorrufen127. Zu den unsere Wirklichkeit übersteigenden Transzendenzen gehört (neben dem Schlaf und Krisen) vor allem der Tod128, dessen Realität unbezweifelbar, aber dennoch unerfahrbar ist. Der Tod als Grenzfall des Lebens ist nun der Ort, wo sich das von Gott ausgehende Transzendenzgeschehen der Auferstehung und die Transzendenzerfahrungen der ersten Zeugen treffen. Gottes schöpferisches Handeln an dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth ruft bei den ersten Zeugen und auch bei Paulus sinnerschließende Transzendenzerfahrungen eigener Art hervor. Die entscheidende Erfahrung und Einsicht lautet: In der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat Gott den Tod zum Ort seiner Liebe zu den Menschen gemacht. Diese besonderen Transzendenzerfahrungen lassen sich nicht in unsere Wirklichkeit einordnen, ihr aber zuordnen, denn unsere Wirklichkeit ist insgesamt von Transzendenzerfahrungen verschiedener Art durchzogen. Wenn man den Erfah-
124 So I. U. DALFERTH, Der auferweckte Gekreuzigte,
126 Ich folge hier Überlegungen von A. SCHÜTZ/
56.
TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II (s. o. 1.2), 139 ff. 127 TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, 167f, unterscheidet zwischen ‚kleinen‘ (Alltagserfahrungen) und ‚großen‘ Transzendenzen (vor allem: Schlaf, Tod). 128 Vgl. A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II, 173.
125 Vgl. hierzu P. TILLICH, Systematische Theologie I,
Stuttgart 51977, 303: „Gott ist der Welt immanent als ihr dauernder schöpferischer Grund, und er ist der Welt transzendent durch Freiheit. Beides, die unendliche göttliche Freiheit und die endliche menschliche Freiheit machen die Welt transzendent für Gott und Gott transzendent für die Welt.“
Christologie 217
rungsbegriff nicht naturwissenschaftlich verengt129, sind die Erfahrungen der frühen Zeugen keineswegs so kategorial von den ‚normalen‘ Erfahrungen geschieden, wie gemeinhin angenommen wird. Zumal die frühen Christen ihre besonderen Transzendenzerfahrungen in der Weise verarbeiteten, wie Transzendenzerfahrungen grundsätzlich konstruktiv verarbeitet werden müssen: durch Sinnbildung. Die Erscheinung bei Damaskus
Die Erscheinung des Auferstandenen (s. o. 4.2) ist auch bei Paulus als ein von Gott kommendes Transzendenzgeschehen zu verstehen. Dem Apostel eröffnete sich bei Damaskus (vgl. 1Kor 9,1; 15,8; 2Kor 4,6; Gal 1,12–16; Phil 3,4b–11; Apg 9,3–19a; 22,6–16; 26,12–18) eine neue Wertung des Christusgeschehens, ihm wurde ein vierfacher Erkenntnisgewinn zuteil130: 1) Die theologische Erkenntnis: Gott redet und handelt wieder; er offenbart am Ende der Zeit auf neue Art und Weise das Heil. Durch Gottes Eingreifen eröffnen sich in der Geschichte und für die Geschichte völlig neue Perspektiven. 2) Die christologische Erkenntnis: Der gekreuzigte und auferstandene Jesus von Nazareth gehört bleibend auf die Seite Gottes, im Himmel nimmt er den Platz der ‚second power‘ ein. Als „Herr“ (1Kor 9,1: ku´rioß), „Gesalbter“ (1Kor 15,8: Cristo´ß), „Sohn“ (Gal 1,16: uıo´ß) und „Bild Gottes“ (2Kor 4,4: eikw`n tou˜ heou˜) ist Jesus Christus dauernder Macht- und Offenbarungsträger Gottes; in seiner Hoheit und Gottesnähe zeigt sich seine einzigartige Würde. 3) Die soteriologische Erkenntnis: Der erhöhte Christus gewährt den Glaubenden bereits in der Gegenwart Anteil an seiner Herrschaft. Sie sind miteinbezogen in einen universalen Transformationsprozess, der mit Jesu Christi Auferstehung begann, sich im Geistwirken fortsetzt und in Kürze in Parusie und Gericht einmündet. 4) Die biographische Dimension: Gott hat Paulus auserwählt und berufen, den Völkern diese unerhört neue und gute Botschaft bekannt zu machen. Damit wird Paulus selbst zum Bestandteil des göttlichen Heilsplanes, denn durch ihn muss das Evangelium in die Welt getragen werden, um die Glaubenden zu retten. Über die Art und Weise der Vermittlung dieser Erkenntnisse sagen die Texte nur wenig aus. Zweifellos hatte Damaskus eine äußere (vgl. 1Kor 9,1; 15,8) und eine innere Dimension (vgl. Gal 1,16; 2Kor 4,6), möglicherweise verbunden mit einer Audition (vgl. kaleı˜n = „rufen“ in Gal 1,15). Jede weitere inhaltliche oder psychologische Deutung des Geschehens fehlt aber bei Paulus, so dass über diesen Textbefund hinaus keine weitergehenden Schlüsse gezogen werden sollten131. 129 Vgl. K. HÜBNER, Die Wahrheit des Mythos (s. o. 4.6), 340: „Wer behauptet, die Wissenschaft habe die durchgängige und absolute Geltung von Naturgesetzen bewiesen, vertritt nicht die Wissenschaft, sondern eine dogmatische Metaphysik der Wissenschaft.“ 130 Zur Analyse der Texte und zum Verständnis von
Damaskus vgl. umfassend U. SCHNELLE, Vom Verfolger zum Verkündiger. Inhalt und Tragweite des Damskusgeschehens, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), hg. v. Chr. Niemand, Frankfurt 2002, 299–323. 131 Vgl. W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. u. 6.5), 160, der vor weitergehenden Interpretationen des Damas-
218 Paulus: Missionar und Denker
Die überwältigende Erfahrung des auferstandenen Jesus Christus prägt von nun an umfassend das Leben des Apostels. Paulus werden von Gott neue Horizonte eröffnet: Das Urteil der Menschen über den gekreuzigten Jesus von Nazareth wurde von Gott aufgehoben, Jesus starb nicht als am Holz Verfluchter, sondern er ist Gottes Repräsentant, dauernder Träger der Herrlichkeit Gottes. Damaskus ist der grundlegende Ausgangspunkt der paulinischen Sinnbildung. Während er zuvor die Verkündigung über einen gekreuzigten Messias nur als Provokation verstehen konnte, führte ihn die Damaskuserfahrung zu der Einsicht, dass dem Kreuz unerwartetes Sinnpotential innewohnt. Aus der religiösen Gewissheit des Damaskusgeschehens heraus setzt Paulus eine universal angelegte Sinnbildung mit einzigartiger Wirkungsgeschichte in Gang, um so den Menschen des gesamten Erdkreises eine umfassende Daseinsorientierung zu ermöglichen. Das Kreuz
Für Paulus ist der Auferstandene bleibend der Gekreuzigte (2Kor 13,4: „Denn er wurde aus Schwachheit gekreuzigt, aber er lebt aus Gottes Kraft“). Die Heilsbedeutung der Auferstehung wirft ein neues Licht auf den Tod Jesu. Es gibt bei Paulus eine Wechselwirkung zwischen Tod und Auferstehung. Die Auferstehung begründet sachlich die Heilsbedeutung des Todes, zugleich gewinnt das Auferstehungskerygma in der paulinischen Hermeneutik des Kreuzes eine letzte Zuspitzung. Auch nach der Auferstehung bleibt Jesus der Gekreuzigte (Ptz. Perf. Pass. estaurwme´noß 1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1)132. „Der Auferstandene trägt die Nägelmale des Kreuzes.“133 Eine biographische Erfahrung gewinnt bei Paulus theologische Qualität. Er verfolgte die Jesusanhänger wegen ihrer Behauptung, ein Gekreuzigter sei der Messias. Diese Botschaft musste im Kontext von Dtn 21,22f als Blasphemie bekämpft werden. Paulus war davon überzeugt, dass der von der Tora angesprochene Fluch über dem Gekreuzigten liegt (Gal 3,13). Die Offenbarung bei Damaskus kehrte dieses theologische Koordinatensystem um. Paulus erkennt, dass der am Holz Verfluchte Gottes Sohn ist, d. h. im Licht der Auferstehung wird das Kreuz vom Ort des Fluches zum Ort des Heils. Deshalb kann Paulus den Korinthern zurufen: „Wir aber verkündigen Christus als Gekreuzigten, für Juden ein Anstoß, für Heiden eine Torheit“ (1Kor 1,23). In den Briefen des Paulus erscheint das Kreuz 1) als historischer Ort, 2) als argumentativ-theologischer Topos und 3) als theologisches Symbol . 1) Die Rede vom Kreuz ist bei Paulus immer theologisch gefüllt. Sie löst sich aber nicht von der Geschichte, sondern ihr Ausgangspunkt ist das Kreuz als Ort des Todes kusgeschehens warnt: „Alle psychologisierenden Hypothesen und alle Behauptungen, die über das aus den Quellen zu Erhebende hinausgehen, führen nur an den Tatsachen vorbei und vergessen die Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wirklichkeit.“
132 Vgl. F. BLASS/A. DEBRUNNER/F. REHKOPF, Grammatik
des neutestamentlichen Griechisch (s. o. 4.6), §340: das Perfekt drückt „die Dauer des Vollendeten“ aus. 133 G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament (s. o. 4), 137.
Christologie 219
des Jesus von Nazareth. Mit der Wendung ska´ndalon tou˜ staurou˜ (1Kor 1,25; Gal 5,11: „Anstoß des Kreuzes“) nimmt der Apostel Bezug auf die konkrete, entehrende Hinrichtungsart der Kreuzigung, die einen Menschen als Verbrecher, nicht aber als Gottessohn ausweist. Einen Gekreuzigten als Gottessohn zu verehren, erschien den Juden als theologischer Anstoß134 und der griechisch-römischen Welt als Verrücktheit135. Mit der zentralen Stellung eines Gekreuzigten in der paulinischen Sinnwelt wird jede geläufige kulturelle Plausibilität auf den Kopf gestellt, indem nun das Kreuz als signum göttlicher Weisheit erscheint136. Paulus hält am Kreuz als dem historischen Ort der Liebe Gottes fest . Er sperrt sich gegen eine vollständige Kerygmatisierung des einmalig Geschichtlichen, Gottes überzeitliches Handeln weist sich für die Menschen als heilsam aus, weil es einen Ort und eine Zeit, einen Namen und eine Geschichte hat137. Die Konzentration auf den erhöhten und gegenwärtigen Kyrios Jesus Christus in der paulinischen Theologie hat ihre Grundlage in der Identität mit dem gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth. Der Glaube kann sich nicht ins Mythologische verflüchtigen, weil er durch das Kreuz geerdet ist, wie der paulinische Zusatz in Phil 2,8c (ha´natoß de` staurou˜ = „Tod am Kreuz“) deutlich macht. Die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Heils (vgl. Röm 6,10) ist unabdingbar für die Identität des christlichen Glaubens. Deshalb fragt Paulus die Korinther: „Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt?“ (1Kor 1,13a). Hätte Pilatus gewusst, wer dieser Jesus von Nazareth in Wahrheit ist, dann hätte er den „Herrn der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8) nicht gekreuzigt138. Der Anstoß des Kreuzes wirkt weiter, Paulus wird um des Kreuzes willen verfolgt (vgl. Gal 5,11), seine Gegner hingegen weichen der Verfolgung aus und heben damit das Skandalon des Kreuzes auf (vgl. Gal 6,12; Phil 3,18). Nur als das einmalige Geschehen in der Vergangenheit wird das Kreuz zum eschatologischen, d. h. die Zeit überschreitenden Ereignis. Die Gegenwart des Kreuzes in der Verkündigung hat zur Voraussetzung, dass nur der Gekreuzigte der Auferstandene ist, so dass die Bedeutsamkeit des Kreuzes immer auch an seinen historischen Ort gebunden ist. 2) Als argumentativ-theologischer Topos erscheint das Kreuz bei Paulus in mehreren Sachzusammenhängen, wobei vor allem die Argumentation im 1Korintherbrief hervorzuheben ist. In Korinth geht es um die sachgemäße Bestimmung der Weisheit
134 Zur Übersetzung von ska´ndalon mit „Anstoß“ vgl. H.-W. KUHN, Jesus als Gekreuzigter in der frühchristlichen Verkündigung bis zur Mitte des 2. Jahrhundets, ZThK 72 (1975), (1–46) 36 f. 135 Vgl. Plinius, Ep X 96,8: „verworrener wüster Aberglaube“. 136 Es gibt jedoch mögliche kulturelle Anknüpfungslinien; so erscheint bei Plato der Gerechte als Entehrter: „Sie sagen aber so, dass der so gesinnte
Gerechte wird gefesselt, gegeißelt, gefoltert, geblendet werden an beiden Augen, und zuletzt, nachdem er alles mögliche Übel erduldet, wird er noch aufgeknüpft (anascinduleu´w = aufspießen, pfählen) werden und dann einsehen, dass man nicht muss gerecht sein, sondern scheinen wollen“ (Pol II 361c.362a). 137 Vgl. dazu H. WEDER, Kreuz Jesu (s. o. 6.2), 228 ff. 138 Zur Auslegung vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 55–57.
220 Paulus: Missionar und Denker
Gottes. Paulus versucht der nach gegenwärtiger Vollendung strebenden Gemeinde zu verdeutlichen, dass diese Weisheit sich dort offenbarte, wo der Mensch die Torheit vermutet (1Kor 1,18ff). Am Kreuz lässt sich Gottes Handlungsweise ablesen, der die Geringen und Verachteten erwählte (1Kor 1,26–29) und den Apostel zu einer vom Herrn bestimmten Existenz- und Denkweise führte (1Kor 2,2). Wenn Teile der korinthischen Gemeinde meinen, sich schon im Stand der Weltvollendung zu befinden (1Kor 4,8), dann verwechseln sie die Weisheit der Welt bzw. ihre Weisheit mit der Weisheit Gottes. Es gibt keine Weisheit und Herrlichkeit am Gekreuzigten vorbei (1Kor 2,6ff) und nur vom Gekreuzigten kann die Auferstehung ausgesagt werden. Deshalb gilt: „Denn das Wort vom Kreuz ist Torheit denen, die verloren gehen; uns aber, die gerettet werden, ist es Kraft Gottes“ (1Kor 1,18). Die Korinther blendeten das Kreuz nicht einfach aus139, sie neutralisierten es aber, indem sie den Tod Jesu als Durchgang zum wahren pneumatischen Sein verstanden, aus dem der Präexistente kam. Im Gegensatz zu Paulus verstanden die Korinther die Gabe des Geistes zuallererst als Überwindung der Begrenztheit des bisherigen kreatürlichen Seins, als Steigerung von Lebenskraft und Lebenserwartung140. Innerhalb ihres präsentischen und individualistischen Ansatzes wurden das Leiden und die Hamartiologie minimiert. Im Mittelpunkt stand die Potenzierung der Lebensmöglichkeiten durch eine Gottheit, die in ihrem Schicksal die Grenze des Todes überwand und nun die umfassende Gegenwart des Jenseits im Diesseits verbürgt. Die Korinther wollten ihrer geschöpflichen Begrenztheit entfliehen, nicht Niedrigkeit, sondern Hoheit und Herrschaft erschien ihnen als sachgemäße Präsentation des erlangten Heilsstandes. Demgegenüber sind die Apostel „Narren um Christi willen“ (1Kor 4,10). Sie geben ein anderes Exemplum, indem sie sich um der Gemeinde willen ständig in Schwachheit, Gefahr und Armut begeben (vgl. 1Kor 4,11ff). Damit repräsentieren sie den Typus des wahren Weisen, der sich in Unabhängigkeit von allem Äußerlichen allein seinem Auftrag und seiner Botschaft verpflichtet weiß. Dementsprechend wird auch die Gestalt der apostolischen Existenz durch den Gekreuzigten geprägt. In prägnanter Form zeigen dies die Peristasen-Kataloge, kaum zufällig finden sich alle vier Peristasen-Kataloge in den Korintherbriefen (vgl. 1Kor 4,11–13; 2Kor 4,7–12; 6,4– 10; 11,23–29)141. In den Peristasen-Katalogen verdichtet sich das Motiv der Bestimmtheit der gesamten Existenz des Apostels durch das Christusgeschehen als Gotteshan-
139 Vgl. TH. SÖDING, Das Geheimnis Gottes im Kreuz Jesu, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 6), 71–92. 140 Vgl. F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. u. 6.3), 248, der zu Recht die Herkunft des korinthischen Enthusiasmus aus der Tauftheologie vertritt. 141 Zur Analyse vgl. E. GÜTTGEMANNS, Der leidende Apostel und sein Herr, FRLANT 90, Göttingen 1966,
94ff; M. EBNER, Leidenslisten und Apostelbrief, fzb 66, Würzburg 1991, 196ff; M. SCHIEFER-FERRARI, Die Sprache des Leids in den paulinischen Peristasenkatalogen, SBB 23, Stuttgart 1991, 201ff; G. HOTZE, Paradoxien bei Paulus, NTA 33, Münster 1997, 252– 287.
Christologie 221
deln für die Menschen in Hoheit und Niedrigkeit. Der Apostel trägt allzeit das Sterben Jesu an seinem Leibe, „damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe geoffenbart werde. Denn immer werden wir, die Lebenden, um Jesu willen in den Tod gegeben, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch geoffenbart werde. Daher wirkt sich der Tod an uns aus – das Leben aber an euch“ (2Kor 4,10b–12). Es gehört zum Wesen der apostolischen Existenz, dass sich ihre Teilhabe am Kreuzesgeschehen nicht in der rein worthaften Verkündigung desselben erschöpft, sondern der Apostel mit seiner ganzen Existenz daran teilhat. Die Existenz des Apostels ist die existentielle Verdeutlichung des Kerygmas, so dass der Apostel keinen anderen Weg als sein Herr gehen kann!
Für Paulus ist das Kreuz Christi das entscheidende theologische Kriterium, er argumentiert nicht über das Kreuz, sondern redet vom Kreuz her. Mehr noch: Das Kreuz Christi ist im Wort vom Kreuz präsent (1Kor 1,17.18)! Schon die Schrift bezeugt, dass die Weisheit Gottes ihren Inhalt nicht von der Weisheit der Welt bekommen kann (1Kor 1,19); beide sind strikt zu unterscheiden, denn sie verdanken sich nicht vergleichbaren Erkenntnisquellen. Nicht in den Höhen menschlicher Weisheit und Erkenntnis, sondern in den Tiefen des Leidens und des Todes hat sich der Vater Jesu Christi als ein menschenfreundlicher Gott erwiesen. Damit erscheint Gottes Handeln in Jesus Christus als ein paradoxes Geschehen, das dem menschlichen Tun und der menschlichen Weisheit zugleich vorausläuft und widerspricht142. 3) Das Kreuz ist in den angeführten Argumentationszusammenhängen immer auch ein Symbol . Weil es zuallererst ein historischer Ort bleibt, vermag das Kreuz gleichzeitig Faktum und Symbol zu sein143. Es hat Verweischarakter und präsentiert zugleich durch die Kraft des Geistes das Vergangene als Gegenwärtiges. Als Ort des einmaligen Transfers Jesu Christi in das neue Sein prägt das Kreuz auch die gegenwärtige Existenz der Christusgläubigen. Es benennt jeweils die Statusüberschreitung vom Tod zum Leben und gewinnt in einem zweifachen rituellen Kontext seine Aktualität: a) In der Taufe erfolgt die Einbeziehung in das Kreuzigungs- und Auferstehungsgeschehen, indem die Macht des Todes und der Sünde überwunden und der Status des neuen Seins verliehen werden. Das Pf. Pass. sunestau´rwmai („ich bin mitgekreuzigt“) in Gal 2,19 betont ebenso wie su´mfutoi gego´namen („wir sind zusammengewachsen mit“) in Röm 6,5 die in die Gegenwart hineinwirkende und sie neu bestimmende Realität und Kraft des einmaligen Mitgekreuzigtwerdens in der Taufe. b) Paulus entfaltet im Gal eine staurologisch begründete Kritik der Beschneidungsforderung der
142 Wie sehr die paulinische Kreuzestheologie dem geläufigen griechisch-hellenistischen Gottesbild widerspricht, zeigt z. B. Diog L 10,123, wo Epikur seine Schüler auffordert, sich eine zutreffende Vorstellung über Gott zu machen: „Erstens halte Gott für ein unvergängliches und glückseliges Wesen, entsprechend
der gemeinhin gültigen Gottesvorstellung, und dichte ihm nichts an, was entweder mit seiner Unvergänglichkeit unverträglich ist oder mit seiner Glückseligkeit nicht in Einklang steht . . .“ 143 Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 262 f.
222 Paulus: Missionar und Denker
Judaisten. Als Initiationsritual konkurriert die Beschneidung mit der Taufe, und deshalb auch mit dem Kreuz. Die Beschneidung hält an der ethnischen Differenz zwischen den Juden und den übrigen Völkern fest, während das Kreuz die Umwertung aller bisherigen Werte symbolisiert und die Taufe ausdrücklich alle bisherigen Privilegien aufhebt (Gal 3,26–28). Das Kreuz symbolisiert Gottes überraschendes, menschliche Maßstäbe außer Kraft setzendes Handeln. Die Weisheit des Kreuzes verträgt sich nicht mit der Weisheit der Welt. Das Kreuz ist die radikale Infragestellung jeglicher menschlicher Selbstbehauptung und individualistischen Heilsstrebens, weil es in die Ohnmacht und nicht in die Macht, in die Klage und nicht in den Jubel, in die Schande und nicht in den Ruhm, in die Verlorenheit des Todes und nicht in die Glorie vollständig gegenwärtigen Heils führt. Diese Torheit des Kreuzes lässt sich weder ideologisch noch philosophisch vereinnahmen, sie entzieht sich jeder Instrumentalisierung, weil sie allein in Gottes Liebe gründet. Die Rede vom Kreuz ist ein Spezifikum paulinischer Theologie . Der Apostel entwickelte sie nicht aus der Gemeindeüberlieferung, sondern aus seiner Biographie: Bei Damaskus offenbarte ihm Gott die Wahrheit über den Gekreuzigten, der nicht im Tod blieb. Das Wort vom Kreuz benennt die grundlegenden Transformationsprozesse im Christusgeschehen und im Leben der Glaubenden und Getauften, so dass es direkt in das Zentrum des paulinischen Denkens führt144. Die paulinische Kreuzestheologie erscheint als fundamentale Gottes-, Welt- und Existenzdeutung; sie ist die Mitte und der Angelpunkt der paulinischen Sinnwelt . Sie lehrt, die Wirklichkeit von dem im Gekreuzigten offenbar werdenden Gott her zu verstehen und daran sein Denken und Handeln auszurichten. Menschliche Wertungen, Normen und Klassifizierungen erhalten vom Kreuz Christi her eine neue Deutung, denn Gottes Werte sind die Umwertung menschlicher Werte. Das Evangelium vom gekreuzigten Jesus Christus gewährt im Glauben Rettung, weil sich hier der Gott bekundet, der gerade in der Verlorenheit und Nichtigkeit Retter der Menschen sein will. Im Kreuz zeigt sich Gottes Liebe, die zu leiden und deshalb auch zu erneuern vermag.
6.2.3
Rettung und Befreiung durch Jesus Christus
Für Paulus ist der Gekreuzigte und Auferstandene die zentrale Gestalt der Endzeit, er bestimmt umfassend das Wirklichkeitsverständnis des Apostels, „um seinetwillen ist mir das alles zum Schaden geworden, und ich erachte es als Dreck, damit ich Christus erkenne“ (Phil 3,8). Welt, Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft werden von 144 Gegen H.-W. KUHN, Jesus als Gekreuzigter in der
frühchristlichen Verkündigung, 40, der die paulinischen Kreuzesaussagen ausschließlich in einem po-
lemischen Kontext verortet. 1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1 zeigen deutlich, dass die Rede vom Kreuz zur paulinischen Erstverkündigung gehörte.
Christologie 223
Paulus aus der Perspektive des Christusgeschehens betrachtet, schon jetzt gilt: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (1Kor 3,22f). Die paulinische Sinnwelt ist von der Vorstellung geprägt, dass in der Endzeit Jesus Christus zuallererst als Retter und Befreier handelt; Retter vor dem kommenden Zorn Gottes und Befreier von der Macht des Todes 145. Allein der Sohn Gottes, Jesus Christus, rettet die Glaubenden im zukünftigen Gericht vor dem Zorn Gottes (vgl. 1Thess 1,10). Es entspricht dem Willen Gottes, dass die Glaubenden nicht Zorn, sondern Heil durch den Kyrios Jesus Christus erlangen (1Thess 5,9; Röm 5,9)146. Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die auf Rettung der Glaubenden zielt (Röm 1,16). Paulus bittet für sein Volk Israel, dass es ebenfalls gerettet werde (Röm 10,1). Er selbst lebt in dem Bewusstsein, der Rettung näher zu sein als zu dem Zeitpunkt, als er und die Römer zum Glauben kamen (Röm 13,11). Weil Gott Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, dürfen die im Glauben Berufenen darauf hoffen, in der unmittelbar bevorstehenden Parusie gerettet zu werden (vgl. 1Thess 4,14; 5,10). Paulus betont vor allem innerhalb der Briefanfänge im Rahmen der Danksagung den Heilsstand der Gemeinden. Dem Anfang der Kommunikation kommt besondere Bedeutung zu, denn er installiert das neue gemeinsame Wirklichkeitsverständnis und entscheidet wesentlich über das angestrebte Einverständnis zwischen Apostel und Gemeinde147. Den Thessalonichern ruft Paulus die Erwählung (1Thess 1,4) als Vorausssetzung ihrer Rettung in Erinnerung (1Thess 1,10). Den Korinthern versichert er, dass Jesus Christus sie fest erhalten wird bis ans Ende, „dass ihr untadelig seid am Tag unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist Gott, durch den ihr berufen worden seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn“ (1Kor 1,8.9). Am ‚Tag des Herrn‘ werden die Korinther der Ruhm des Paulus sein (2Kor 1,14), allein diese Zuversicht tröstet ihn in den gegenwärtigen Leiden (2Kor 1,5). Paulus dankt Gott, „der uns allezeit den Sieg gibt in Jesus Christus und offenbart den Wohlgeruch seiner Erkenntnis durch uns an allen Orten“ (2Kor 2,14). Allein im Glauben an den Gottessohn Jesus Christus eröffnet sich für den Menschen der Zugang zu Gott und damit die Rettung. Jenseits dieses Glaubens herrschen ‚der Gott dieses Äons‘ (2Kor 4,4) und der Unglaube, der in die Verlorenheit führt. Im Gal fehlt zwar eine Danksagung, Paulus erweitert jedoch die Grußformel in charakteristischer Weise: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden gab, damit er uns herausreiße aus
145 Vgl. hierzu grundlegend W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 47–66; A. SCHWEITZER, Mystik des Apostels Paulus (s. o. 6), 54ff; ferner E. P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum (s. o. 6), 421–427; G. STRECKER, Theologie, 124–149.
146 Vgl. W. THÜSING, Gott und Christus (s. o. 6.1), 203–206. 147 Vgl. ST. ALKIER, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus (s.o. 6.2) 91 ff.
224 Paulus: Missionar und Denker
dem gegenwärtigen bösen Äon entsprechend dem Willen unseres Gottes und Vaters“ (Gal 1,3.4). Überschwänglich lobt Paulus den Heilsstand der römischen Gemeinde (Röm 1,5 ff.11f; 15,14f), von deren Glaube die ganze Welt spricht (Röm 1,18). Auch gegenüber den Philippern äußert Paulus seine feste Zuversicht, dass Gott, „der bei euch ein gutes Werk angefangen hat, es vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu“ (Phil 1,6). Der Apostel und seine Gemeinden sind davon überzeugt, dass die in der Taufe sichtbare Erwählung der Christen und ihre Berufung als Teilhaber am Evangelium bis in das Eschaton hinein Gültigkeit haben. Im Christusgeschehen wurde der Tod als eschatologischer Gegenspieler Gottes entmachtet (vgl. 1Kor 15,55) und Jesus Christus erscheint als der Befreier von der Macht des Todes und der mit ihm verbundenen Mächte, der sa´rx („Fleisch“) und der amartı´a („Sünde“). Der Tod als letzter Feind wird am Ende der Zeiten Christus unterworfen werden (1Kor 15,26), dann vollzieht sich die Befreiung von der „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ (Röm 8,21). Paulus entfaltet diesen Gedanken umfassend in der Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21), die vom Gedanken zweier menschheitsbestimmender Gestalten geprägt ist: Adam und Christus. Wie durch den Fehltritt der einen Zentralgestalt der Tod in die Welt kam, wird durch die Gnadentat Gottes an Jesus Christus die Macht des Todes wieder aufgehoben. Zwar bleibt der Tod als biologische Realität bestehen, er verliert aber seine eschatologische Dimension als von Gott trennende Macht. Als je Einzelne bestimmen Adam und Christus das Schicksal der gesamten Menschheit, zugleich überbietet Jesus aber Adam, denn dessen Verhängnis wird durch die Gnadengabe der Endzeit aufgehoben. Auch die Vorstellung des ‚Loskaufes/Freikaufes‘ (apolu´trwsiß in 1Kor 1,30; Röm 3,24; 8,23; exagora´zw in Gal 3,13; 4,5; agora´zw in 1Kor 6,20; 7,23) bringt die Befreiungstat Jesu Christi prägnant zum Ausdruck: Jesus Christus nahm auf sich, was die Menschen in Unfreiheit hält; er zahlte ‚für uns‘ den Preis der Befreiung148 von den Mächten der Sünde und des Todes (s. u. 6.5.2). Die Folge der durch Christus erworbenen Freiheit ist die swtvrı´a („Rettung“). Im Gottesdienst ruft die Gemeinde Jesus Christus als ‚Retter‘ an, der als Kosmokrator den irdischen und vergänglichen Leib der Glaubenden verwandeln wird (Phil 3,20f). Bei der unmittelbar bevorstehenden Parusie des Kyrios ereignet sich die swtvrı´a (Röm 13,11), sie ist die Folge der Umkehr (2Kor 7,10) und Inhalt der christlichen Hoffnung (1Thess 5,8f). In der Verkündigung des Apostels ist sie bereits gegenwärtig (2Kor 6,2) und vollzieht sich in der Berufung der Glaubenden (vgl. 1Thess 2,16;
148 Zu den möglichen religionsgeschichtlichen Hintergründen (Sklavenloskauf) vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 82–86; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 71–75;
D. F. TOLMIE, Salvation as Redemption, in: J. G. van der Watt, Salvation in the New Testament (s. u. 6.4), 247–269.
Christologie 225
1Kor 1,18; 15,2; 2Kor 2,15). Die Gemeinde darf in der Gewissheit leben, dass ihr Glaube und ihr Bekenntnis sie retten werden (Röm 10,9f). Gegenwärtige Heilserfahrung und zukünftige Heilsgewissheit verschränken sich: „Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet“ (Röm 8,24: tU˜ ga`r elpı´di esw´hvmen).
6.2.4
Jesu Christi stellvertretender Tod ,für uns’
Paulus bedient sich im Einzelnen verschiedener Interpretationsmuster, um die Heilsbedeutung des Todes Jesu zu beschreiben. Das dominierende Grundmodell ist der Gedanke der Stellvertretung 149, der Jesu Pro-Existenz prägnant zum Ausdruck bringt. Allerdings weist der Begriff der Stellvertretung keine semantische Eindeutigkeit auf, sondern bezeichnet ein Vorstellungsfeld, das christologische, soteriologische und auch ethische Motive umfasst. Mit Stellvertretung verbinden sich zu unterscheidende, aber nicht in jedem Fall zu trennende Phänomene. Speziell das Verhältnis ‚Sühne – Stellvertretung‘ ist bei Paulus ein Problem150, denn Paulus verwendet keinen exakten Begriff, der dem deutschen Wort Sühne entsprechen würde151. Zugleich verbinden sich aber mit der Stellvertretung Motive wie Sündenvergebung, Dahingabe, Leiden für andere, die Sühnevorstellungen als Interpretationshorizont nahelegen könnten. Auch sprachlich lässt die Rede vom Sterben Jesu ‚für‘ (apohnU´ skein upe´r) verschiedene Akzentuierungen zu, denn die Präposition upe´r mit Gen.152 kann im übertragenen Sinn „zum Vorteil“, „im Interesse von/zugunsten“, „wegen, um . . . willen“ oder „anstelle von/anstatt“ bedeuten153. Um unsachgemäße inhaltliche Präjudizierungen zu vermeiden, müssen die relevanten Texte einzeln analysiert werden, wobei mit den vorpaulinischen Traditionen einzusetzen ist. Dabei wird folgender Begriff von ‚Stellvertretung‘ vorausgesetzt: Stellvertretung meint, für andere und damit auch anstelle anderer eine Leistung zu vollbringen und dadurch eine heilvolle Wirkung zu erzielen .
149 Vgl. z. B. G. DELLING, Der Tod Jesu in der Verkündigung des Paulus, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Berlin 1970, 336–346; C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, NTS 39 (1993), (59–79) 77f; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. u. 6.4), 316. 150 Zur Forschungsgeschichte vgl. F. BIERINGER, Traditionsgeschichtlicher Ursprung und theologische Bedeutung der upe´r-Aussagen im Neuen Testament, in: The Four Gospels (FS F. Neirynck), hg. v. G. van Segbroeck u. a., Leuven 1992, 219–248. Die Problemgeschichte der neueren Diskussion findet sich bei J. FREY, Probleme der Deutung des Todes Jesu, in:
J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu (s. o. 6.2), 3–50; vgl. ferner J. CHR. JANOWSKI/B. JANOWSKI/P. LICHTENBERGER (Hg.), Stellvertretung I, Neukirchen 2006. 151 Vgl. dazu C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, 60 ff. 152 Die Stellvertetungsaussagen bei Paulus sind vornehmlich durch upe´r mit Gen. konstruiert (vgl. 1Thess 5,10; 1Kor 1,13; 15,3; 2Kor 5,14.15.21; Gal 1,4; 2,20; 3,13; Röm 5,6.8; 8,32; 14,15); dia´ in 1Kor 8,11; Röm 4,25. 153 Ursprünglich meint upe´r mit Gen. „über“ im lokalen Sinn; vgl. dazu F. PASSOW, Handwörterbuch der Griechischen Sprache II/2, Leipzig 51857, 2066 f.
226 Paulus: Missionar und Denker
In der vorpaulinischen Tradition 1Kor 15,3b bezieht sich die Stellvertretungsformulierung auf die Fortschaffung der Sünden der bekennenden Gemeinde (Cristo`ß ape´hanen upe`r tw˜n amartiw˜n vmw˜n = „Christus ist gestorben für unsere Sünden“)154. Weil Christus als ausdrückliches Subjekt des Geschehens genannt wird und von Opferkategorien nicht die Rede ist, sollte hier nicht von Sühne gesprochen werden. Die Selbsthingabe Jesu Christi (dido´nai upe`r tw˜n amartiw˜n = „gegeben für die Sünden“) in Gal 1,4 zielt auf die Befreiung der Menschen aus der Machtsphäre des gegenwärtigen bösen Äons155. Das apokalyptische Motivfeld spricht wiederum für eine Interpretation, die auf das Eintragen des (priesterschriftlichen) Sühnebegriffes verzichtet: Durch Jesu Christi stellvertretende Selbsthingabe erfolgte die Befreiung aus ‚unserem‘ durch die Sünden dokumentierten Verhaftetsein an den alten Äon. Die Dahingabeformel in Röm 4,25 dürfte von Jes 53,12LXX beeinflusst sein156, ohne dass die Sühnetheologie der Priesterschrift eingetragen werden darf157: Jesu Christi stellvertretende Hingabe bewirkt die Aufhebung der negativen Wirkungen ‚unserer‘ Übertretungen, so wie seine Auferstehung ‚unsere‘ Rechtfertigung ermöglicht. Auf paulinischer Ebene zeigt bereits 1Thess 5,10 die Grundkonzeption des Apostels: Jesu Tod upe´r ermöglicht die Neuschöpfung und Rettung des Menschen. Jesus Christus ist „für uns (upe`r vmw˜n) gestorben, damit wir, ob wir nun wachen oder schlafen, zugleich mit ihm leben.“ Der Stellvertretungsgedanke kann Jesu Tod auch in seinen ekklesiologischen (1Kor 1,13: „Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt worden?“) und ethischen (Jesus ist für den schwachen Bruder gestorben; 1Kor 8,11: diL oÇn; Röm 14,15: upe`r ou) Dimensionen benennen, ohne auf den Sündenbegriff oder die Sühnevorstellung zurückzugreifen. Die Stellvertretungsvorstellung im strikten Sinn („anstelle von/anstatt“) findet sich in 2Kor 5,14b.15: „Einer starb für alle, folglich starben alle; und für alle starb er, damit diejenigen, die (durch ihn) leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferstand“; Christus hat „sich selbst für mich (upe`r emou˜) dahingegeben“ aus Liebe (Gal 2,20), und es gilt nun: „Er, der seinen eigenen Sohn nicht geschont hat, sondern ihn für uns alle (upe`r vmw˜n pa´ntwn) dahingegeben hat, wie sollte er uns zusammen mit ihm nicht alles schenken“? (Röm 8,32). In Gal 3,13 expliziert Paulus die Stellvertretung mit der Vorstellung des Loskaufens aus der Sklaverei: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes losgekauft, indem er für uns (upe`r vmw˜n) zum Fluch wurde“158. Aus den Sklaven sind nun Söhne geworden (Gal 3,26–28; 4,4–6). Christus starb anstelle der Sünder, indem er, „der die Sünde nicht kannte, für uns (upe`r vmw˜n) zur Sünde wurde“ (2Kor 154 Zur Analyse vgl. zuletzt TH. KNÖPPLER, Sühne (s. o. 6.2), 127–129, der Jes 53,4 f.12LXX und 3Kg 16,18f im Hintergrund sieht. 155 Zur Analyse vgl. TH. KNÖPPLER, Sühne (s. o. 6.2), 129–131. 156 So z. B. TH. KNÖPPLER, a. a. O., 132; anders D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge (s. o. 4.4), 237 f.
157 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertetung und Sühne, 70. 158 Zur umfassenden Analyse von Gal 3,10–14 vgl. CHR. SCHLUEP, Der Ort des Glaubens (s. u. 6.4), 227– 307.
Christologie 227
5,21)159. Jesu Tod ist keine heroische Ersatzleistung (vgl. Röm 5,7: „Es stirbt kaum einer für einen Gerechten; für das Gute wagt es schon einer eher zu sterben“)160, sondern ein Sterben für die Gottlosen (Röm 5,6); ‚für uns‘, für die Sünder (Röm 5,8). Zur ‚Fortschaffung der Sünde‘ (peri` amartı´aß) sandte Gott seinen Sohn (Röm 8,3), der sich in den Machtbereich der Sünde begab, um sie zu überwinden. Traditionsgeschichtlich steht hier die Sendungschristologie im Hintergrund (vgl. Gal 4,4f; 1Joh 4,9; Joh 3,16f), so dass wohl eine allgemeine Sühnevorstellung, nicht aber der atl. Sühnopferkult mitzudenken ist161. Auch der Gedanke, dass Christi Sterben uns zugute kommt („im Interesse von/zugunsten“), indem es die Folgen der Sünde beseitigt, lässt Spielraum für die Eintragung einer Sühnevorstellung als heuristischer Kategorie. „Oft lassen sich beide Aspekte nur schwer voneinander trennen. Der stellvertretende Tod ist ein Sterben zugunsten der Verschonten, und der zugunsten der Menschen sterbende Christus nimmt das auf sich, was die Menschen treffen sollte, so dass sein sühnendes Sterben auch ein stellvertretendes Sterben ist.“162 Davon streng zu unterscheiden ist jedoch der traditionsgeschichtliche Hintergrund der ‚für-uns‘-Aussagen, die nichts mit der kultischen Darbringung eines Opfers zu tun haben163. Der Gedanke der kultischen Sühne bildet keineswegs den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der paulinischen upe´r-Aussagen164, denn Paulus verwendet gerade nicht das für die LXX-Leviticusübersetzung charakteristische exila´skeshai perı´ als terminus für das Sühnen der Sünde (vgl. Lev 5,6–10LXX)165. Vielmehr dürfte die griechische Vorstellung des stellvertretend sterbenden Gerechten, dessen Tod Tilgung/Fortschaffung der Sünde bewirkt, der Ausgangspunkt der Traditionsbildung sein166. Zumal diese Vorstellung bereits einen starken Einfluss auf die jüdische Märtyrertheologie hatte, wie sie z. B. in 2Makk 7,37f; 4Makk 6,27–29; 17,21f vorliegt. Im 159 Keineswegs ist amartı´a in 2Kor 5,21 im Sinn von ‚Sündopfer‘ zu verstehen; vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 122: „Während ein Sündopfer geschehene Sünde sühnt, tritt der Nicht-Sünder an die Stelle von Sünde überhaupt und entleert diese Macht.“ 160 In Röm 5,7 liegt deutlich der hellenistische Gedanke eines Sterbens zum Schutz einer Person, des Vaterlandes oder einer Tugend zugrunde; vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 592– 597.715–725; NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 117– 119. 161 Mit C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, 71f; gegen P. STUHLMACHER, Theologie I, 291. 162 G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 74. 163 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 75; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 59; ferner C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellver-
tetung und Sühne, 66, der zu Röm 3,25 treffend bemerkt: „Bis auf diese eine Stelle kommt Paulus ohne die Begriffe ‚Sühne‘ und ‚sühnen‘ aus, wenn er das Evangelium, das er verkündigt, den Gemeinden verdeutlicht.“ 164 Gegen U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK VI/1, Neukirchen 1978, 240, wonach „die kultische Sühne-Vorstellung durchweg der Horizont ist, unter dem der Tod Christi in seiner Heilsbedeutung im Neuen Testament gedacht wird.“ 165 Vgl. C. Breytenbach, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne, 69. 166 Vgl. z. B. Sen, Ep 76,27: „Verlangt es die Sachlage, dass du für das Vaterland stirbst und die Rettung aller Bürger um den Preis deiner eigenen erkaufst, . . .“; ferner Sen, Ep 67,9; Cic, Fin 2,61; Tus 1,89; Jos, Bell 5,419; weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 592–597.715–725. Zur Sache G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 59–64.
228 Paulus: Missionar und Denker
vorpaulinischen hellenistischen Judenchristentum167 beeinflusste darüber hinaus die Abendmahlstradition (1Kor 11,24b: tou˜to´ mou´ estin to` sw˜ma to` upe`r umw˜n = „dies ist mein Leib, der für euch“) unter begrenzter Aufnahme von Jes 53,11–12LXX168 die Herausbildung der Vorstellung des universalen Stellvertretungstodes des Gerechten, der den unauflöslichen Zusammenhang von Sünde und Tod durchbricht und so neues, wahres Leben ermöglicht. Speziell in den Sterbe- (vgl. 1Thess 5,10; 1Kor 1,13; 8,11; 15,3b; 2Kor 5,14f; Gal 2,21; Röm 5,6.8; 14,15) und Dahingabeformeln (vgl. Gal 1,4; 2,20; Röm 4,25; 8,32)169 verdichtet sich dieser Gedanke, Paulus nimmt ihn auf und betont die universalen Dimensionen des Geschehens: Der Gekreuzigte erlitt für die Menschen die Gewalt des Todes, um so die Verderben bringenden Mächte der Sünde und des Todes von ihnen zu nehmen.
6.2.5
Sühne
Die Sühnevorstellung im Tempel- und Opferkontext gehört nicht zu den zentralen paulinischen Theologumena170. Paulus greift sie nur einmal auf, allerdings an zentraler Stelle; in der Tradition171 Röm 3,25.26a heißt es über Jesus Christus: „Den Gott eingesetzt hat als ılastv´rion („Sühneort/Sühnemittel“) durch den Glauben kraft seines Blutes zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch den Erlass der zuvor geschehenen Sünden in der Geduld Gottes.“ Die Bedeutungsbreite von ılastv´rion und die Probleme einer einlinigen traditionsgeschichtlichen Ableitung172 lassen es als sachgemäß erscheinen, ılastv´rion in Röm 3,25 im weiteren Sinn als ‚Sühnemittel‘ zu verstehen173. Gott selbst hat die Möglichkeit zur Sühne geschaffen, indem er Jesus Christus 167 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 205– 215. 168 Vgl. dazu G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 56–59. 169 Zur Analyse vgl. K. WENGST, Christologische Formeln (s. o. 4), 55–86. 170 Anders z. B. M. GAUKESBRINK, Sühnetradition (s. o. 6.2), 283: „Paulus formuliert und entfaltet seine Christologie, die biographisch auf das Damaskusgeschehen zurückgeht, theologisch mit der Sühneüberlieferung.“ 171 Zum Nachweis des vorpaulinischen Charakters von Röm 3,25.26a vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 68 f. 172 Ein Erklärungsmodell leitet ılastv´rion aus dem kultischen Ritual am großen Versöhnungstag ab (vgl. Lev 16; ferner Ez 43); so mit Unterschieden U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 193; P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 193f; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (s. o. 6.2), 150–157; M. GAUKESBRINK, Sühnetradition (s. o. 6.2), 229–245; TH. KNÖPP-
LER,
Sühne (s. o. 6.2), 113–117; C. BREYTENBACH, Art. Sühne, ThBLNT, Wuppertal/Neukirchen 2005, (1685–1691) 1691. Ein anderes Modell sieht Röm 3,25 auf dem Hintergrund von 4Makk 17,21f, wo dem Opfertod der Märtyrer Sühnekraft zugeschrieben wird; vgl. dazu E. LOHSE, Märtyrer und Gottesknecht, FRLANT 64, Göttingen 21963, 151f; J.W. VAN HENTEN, The Tradition-Historical Background of Romans 3,25: A Search for Pagan and Jewish Parallels, in: M. de Boer (Hg.), From Jesus to John (FS M. de Jonge), JSNT.S 84, Sheffield 1993, 101–128 (Analyse aller relevanten Texte mit dem Ergebnis: „that the traditional background of the formula probably consists of ideas concerning martyrdom“; a. a. O., 126); K. HAACKER, Der Brief an die Römer, ThHK 6, Leipzig 3 2006, 99 f. 173 Vgl. Vgl. H. LIETZMANN, An die Römer, HNT 8, Tübingen 51971, 49f; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 70f; G. BARTH, Der Tod Jesu Christi (s. o. 4), 38–41.
Christologie 229
als Sühnemittel herausgestellt hat. Sowohl die Tradition als auch Paulus betonen die Theozentrik des Geschehens, Ausgangspunkt des Heils ist das Handeln Gottes. Hier zeigt sich eine Kontinuität in den Grundanschauungen der atl. Sühnevorstellung. Sie impliziert keineswegs ein sadistisches Bild Gottes, der für die Sünden der Menschen durch ein Opfer Genugtuung fordert. Vielmehr ist Sühne eine Setzung Gottes: „Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe es euch für den Altar überlassen, damit es für eure Seelen Sühne schaffe. Denn das Blut ist es, das durch das Leben sühnt“ (Lev 17,11). Das alleinige Subjekt der Sühne ist Gott, der die Opfer einsetzte, um die Menschen rituell von der Sünde zu befreien, um so den Unheilszusammenhang zwischen sündiger Tat und ihren Folgen zu durchbrechen174. Zugleich sprengt bereits die vorpaulinische Tradition Röm 3,25.26a das atl. Sühneverständnis in mehrfacher Weise: Während im atl. Kult die Sühne des Opfers auf Israel beschränkt ist, gilt die Sündenvergebung universal. Der Sühnopferkult bedarf der jährlichen Wiederholung, Jesu Tod am Kreuz hingegen ist eschatologisches, endgültiges Geschehen. Was sich heilsgeschichtlich am Kreuz ereignet hat, realisiert sich für den einzelnen in der Taufe: Vergebung der früheren Sünden. Hier erst hat die Tradition ihre soteriologische Spitze, denn es geht ihr nicht nur einfach um die Proklamation des Christusgeschehens, sondern um dessen erfahrbare soteriologische Dimension: Sündenvergebung in der Taufe175. Gottes Heilshandeln in Jesus Christus kann in seiner Universalität nur geglaubt werden, wenn es in der Partikularität der eigenen Existenz erfahren wurde. Paulus nimmt die Grundaussagen der Tradition auf und erweitert sie mit dem Interpretament dia` tv˜ß pı´stewß („durch den Glauben“). Der Glaube als von Gott ermöglichte menschliche Haltung gewährt Anteil am Heilsgeschehen. Im Glauben erfährt der Mensch eine Neubestimmung, weil mit der Sündenvergebung der Taufe seine Gerechtmachung verbunden ist. Das daraus resultierende Gerechtsein wird schon in der Tradition nicht als Habitus verstanden, vielmehr als eine dem vorausgehenden göttlichen Handeln entsprechende Aufgabe. Vermag das Sühnopfermodell die theologischen Intentionen des Apostels adäquat auszudrücken? Ist speziell die Opfervorstellung geeignet, die Heilswirkung des Todes Jesu zu erfassen? Diese Fragen ergeben sich nicht nur aus neuzeitlichem Horizont, sondern vor allem aus den grundlegenden Unterschieden zwischen der atl. Sühnopfertheologie und Röm 3,25.26a176. Für den Sühnopferritus sind das Handaufstemmen des opfernden Menschen und der vom Priester zu vollziehende Blutritus konstitutiv (vgl. Lev 16,21f). Zudem erfolgt eine Identitätsübertragung auf das Tier, wodurch die Tötung des Tieres überhaupt erst zum Opfer wird. Diese grundlegenden
174 Vgl. dazu grundlegend B. JANOWSKI, Sühne als Heilsgeschehen, WMANT 55, Neukirchen 22000. 175 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 71.
176 Vgl. hierzu I. U. DALFERTH, Die soteriologische Relevanz der Kategorie des Opfers, JBTh 6 (1991), 173–194.
230 Paulus: Missionar und Denker
Elemente haben im Kreuzesgeschehen keine wirklichen Entsprechungen. Exklusiv und durchgehend hat das Kreuz Gott als Subjekt, er handelte zuvorkommend am Kreuz und bezieht den Menschen ohne jegliche Aktivität und Vorleistung in dieses Geschehen mit ein. Der Mensch muss nicht Kontakt mit den Heiligen aufnehmen, sondern Gott kommt in Jesus Christus zu den Menschen. Das Opfer steht für etwas anderes, es bedeutet und überträgt etwas, während am Kreuz Gott ganz bei sich selbst und beim Menschen ist. Der Philipperbrief-Hymnus (Phil 2,6–11) zeigt, dass – in Opferkategorien gedacht – von einem Selbstopfer Gottes gesprochen werden müsste. Dies tut Paulus aber nicht, weil das Kreuz die soteriologische Relevanz jeglichen Opferkultes aufgehoben hat. Der Opfergedanke ist somit strukturell für die paulinische Sinnwelt ungeeignet, und es dürfte kein Zufall sein, dass Paulus nur mit der Tradition Röm 3,25.26a einen Text aufnimmt, der in Sühne- und Opferkategorien denkt.
6.2.6
Versöhnung
Ein sehr leistungsstarkes christologisches Modell ist die Versöhnungsvorstellung. Das Substantiv katallagv´ („Versöhnung“: 2Kor 5,18.19; Röm 5,11; 11,15) und das Verbum katalla´ssein („versöhnen“: 1Kor 7,11; 2Kor 5,18; Röm 5,10) finden sich im Neuen Testament nur bei Paulus. Traditionsgeschichtlich dürfte sich diese Vorstellung aus der Sprache und Vorstellungswelt der hellenistischen Diplomatie herleiten177. Sowohl dialla´ssein als auch katalla´ssein bezeichnen in klassischen und hellenistischen Texten ein versöhnendes Handeln im politischen, gesellschaftlichen und familiären Bereich ohne eine religiöse oder kultische Komponente178. Semantisch muss zwischen katalla´ssein und ıla´skeshai, versöhnen und sühnen, differenziert werden, denn beide Begriffe entstammen verschiedenen Vorstellungsbereichen179. Während katalla´ssein den Vorgang zwischenmenschlicher Versöhnung beschreibt, bezeichnet ıla´skeshai einen Vorgang im sakralen Bereich. Allerdings besteht eine grundlegende Sachdifferenz zwischen dem postulierten hellenistischen Traditionshintergrund und der paulinischen Versöhnungsvorstellung: Es ist Gott selbst, der als 177 Vgl. dazu die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 450–455. 178 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 221: „Die paulinische katalla´ssein-Vorstellung und die alttestamentliche rpk-Tradition stehen in keinem traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, der einer biblischen Theologie zugrunde gelegt werden könnte.; vgl. DERS., Art. Versöhnung, ThBLNT, Wuppertal/Neukirchen 2005, (1773–1780) 1777: „es handelt sich bei Versöhnungsterminologie nicht um eine religiöse Terminologie.“ Anders O. HOFIUS, Erwägun-
gen zur Gestalt und Herkunft des paulinischen Versöhnungsgedankens, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, (1–14) 14: „Der paulinische Versöhnungsgedanke ist . . . entscheidend durch die Botschaft Deuterojesajas geprägt.“ 179 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 98f; C. BREYTENBACH, Versöhnung, Stellvertretung und Sühne (s. o. 6.2.4), 60ff; auch P. STUHLMACHER, Theologie I, 320, gesteht jetzt zumindest eine semantische Differenzierung zu.
Christologie 231
schöpferisches Subjekt die Versöhnung gewährt; dies ist in jeder Hinsicht mehr als ein Versöhnungsangebot oder der Appell zur Versöhnung. Ausgangspunkt in 2Kor 5,18–21 ist die neue Wirklichkeit der Glaubenden und Getauften als kainv` ktı´siß en Cristw˜ (2Kor 5,17a: „Neue Schöpfung/Existenz in Christus“). Paulus lenkt den Blick auf Gott, der mit seinem Versöhnungshandeln eine Veränderung der Verhältnisse zu den Menschen ermöglichte. Die neue Beziehungsstruktur entfaltet Paulus mit der Versöhnungsvorstellung, die streng theozentrisch gedacht (V. 18a: ta` de` pa´nta ek tou˜ heou˜ = „alles aber ist aus Gott“) und christologisch (dia` Cristou˜ = „durch Christus“) begründet wird. Die Überwindung der Sünde als trennende Macht zwischen Gott und Mensch erfordert eine Initiative Gottes, denn nur er kann die Sünde beseitigen (V. 19). Innerhalb dieses Geschehens kommt dem paulinischen Apostolat eine besondere Rolle zu. Paulus benennt sie mit dem Verbum presbeu´ein (= „Gesandter/Botschafter sein“)180 in V. 20, das der hellenistischen Gesandtenterminologie zuzurechnen ist181. So wie der Gesandte eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen eines Versöhnungsvertrages spielt182, sind die Botschaft und das Amt des Apostels Teil des Versöhnungswerkes Gottes. Als berufener Apostel darf Paulus der Welt verkünden, dass Gott in Jesus Christus die Welt mit sich selbst versöhnte (V. 19). Damit schuf Gott selbst die Voraussetzung für das Amt des Paulus; der Welt nicht nur mitzuteilen, dass Versöhnung möglich ist, sondern an Christi statt zu bitten: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (V. 20b). Als Ermöglichungsgrund dieser überraschenden Bitte führt Paulus in V. 21 die soteriologische Relevanz des Christusgeschehens an. Sünde und Gerechtigkeit werden von Gott in ein neues Verhältnis gebracht, indem Christus an unsere Stelle tritt, so dass er für uns zur Sünde und wir zur Gerechtigkeit Gottes in ihm werden. Die Parallelität der Satzglieder spricht dafür, amartı´a jeweils als ‚Sünde‘ und nicht als ‚Sühnopfer‘ zu verstehen183. Weil Christus in keiner Weise von dem Machtbereich der Sünde affiziert ist, vermag er stellvertretend für uns zur Sünde zu werden, um so unsere Eingliederung in seinen Machtbereich zu erwirken. Während Paulus in 2Kor 5 Versöhnung und Sühne nicht miteinander verbindet, führt Röm 5,1–11 die Argumentation über Gottes rechtfertigendes Handeln durch den Sühnetod Jesu in Röm 3,21ff weiter und setzt Rechtfertigung, Sühne und Versöhnung in Relation zueinander184. Die Rechtfertigung aus Glauben wird in Röm 5,1 als eine definitive, die Gegenwart des Christen bestimmende Wirklichkeit gesehen. Sie gewährt den Frieden von Gott her, der in der Gabe des Geistes Realität wurde 180 Hapaxlegomenon in den Protopaulinen; sonst nur noch Eph 6,20. 181 Vgl. dazu C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 65 f. 182 Vgl. Dio Chry, Or 38,17–18 (=NEUER WETTSTEIN II/ 1 [s. o. 4.5], 455). 183 Vgl. C. BREYTENBACH, Versöhnung (s. o. 6.2), 136–
141; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner (s. o. 6.2), 314ff; anders P. STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 195; W. KRAUS, Der Tod Jesu als Sühnetod bei Paulus, ZNT 3 (1999), (20–30) 26, die einen sühnetheologischen Hintergrund sehen. 184 Zur Interpretation vgl. M. WOLTER, Rechtfertigung und zukünftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978.
232 Paulus: Missionar und Denker
(vgl. Röm 14,17). Als Getaufte stehen die Glaubenden in der Gnade Gottes und haben nun Zugang zu Gott (Röm 5,2). Diese Heilsgegenwart gibt der Gemeinde die Kraft, nicht nur die gegenwärtigen Bedrängnisse zu ertragen, sondern in der Geduld zu einer lebendigen Glaubenshoffnung zu gelangen. Die Existenz des Gerechtfertigten und Versöhnten ist damit gleichermaßen eine Existenz in der hlı˜yiß („Bedrängnis“), zugleich aber auch eine Existenz in der Hoffnung, die bestimmt wird von dem Blick auf das endzeitliche Handeln Gottes. Den Widersprüchlichkeiten des Lebens, den Anfechtungen der eigenen Existenz und des Glaubens, der Hoffnungslosigkeit und dem Zweifel sind die Glaubenden gerade nicht entnommen, sondern das Wesen des Glaubens zeigt sich darin, dass er die Bedrängnisse tragen und ertragen kann. Die Kraft dazu gewährt der heilige Geist, den die Glaubenden bei der Taufe erhielten, und der von dort an wirkungsmächtig das Leben der Christen bestimmt (Röm 5,5). Gottes Liebe offenbarte sich im Sterben Jesu ‚für uns‘, das Rechtfertigung des Sünders und Versöhnung mit Gott ermöglichte (Röm 5,6–8). In Röm 5,9 bezieht sich Paulus mit der Wendung en tw˜ aıÇmati autou˜ („durch sein Blut“) ausdrücklich auf Röm 3,25 zurück. Der Sühnetod des Sohnes bewirkt sowohl die Rechtfertigung als auch die Versöhnung (Röm 5,9.10). Rechtfertigung und Versöhnung benennen somit das neue Verhältnis der Menschen zu Gott, das durch die Vernichtung der Sündenmacht im Sühnetod Jesu Christi ermöglicht wurde. Durch ihn wurden die Gottlosen zu Gerechtfertigten und die Feinde Gottes zu Versöhnten. Sowohl 2Kor 5 als auch Röm 5 zeigen, dass Christi Sterben ‚für uns‘ die neue Relation zu Gott ermöglichte, die Paulus mit Versöhnung bezeichnet. Versöhnung ist bei Paulus 1) alleinige Tat Gottes 185; Gott allein ist Subjekt und Objekt der Versöhnung. Nicht die Menschen besänftigen, ermutigen oder versöhnen Gott durch irgendwelche Handlungen186, sondern die neue Beziehung zu Gott und das daraus resultierende neue Sein der Getauften, Gerechtfertigten und Versöhnten verdankt sich allein dem einmaligen und immerwährenden Handeln Gottes in Jesus Christus. 2) Die Versöhnung Gottes mit der Welt ist ein universales Friedens-Geschehen (2Kor 5,19; Röm 11,15). Sie ist weder auf Israel noch auf die Glaubenden beschränkt, vielmehr gilt sie ihrer Intention nach allen Menschen und der gesamten Schöpfung187. 3) Versöhnung vollzieht sich konkret in der Annahme der Versöhnungsbotschaft des Evangeliums. 4) Diese Annahme verändert den gesamten Menschen. Als ehemals Gott Entfremdeter hat er nun Zugang zu Gott und darf in der Kraft des Geistes leben188.
185 Treffend C. BREYTENBACH, Art. Versöhnung, 1779:
„Subjekt der Versöhnung ist Gott (2Kor 5,18f). Dies ist das theol. Novum gegenüber dem spärlich belegten ‚religiösen‘ Gebrauch in einigen wenigen hell.jüd. Texten, die die Gottheit lediglich als Objekt des versöhnenden Tuns der Menschen kennen.“ 186 Vgl. in diesem Sinn 2Makk 1,5; 7,33; 8,29; Jos, Ant 6,151; 7,153; Bell 5,415.
187 Diesen Aspekt betont E. KÄSEMANN, Erwägungen zum Stichwort Versöhnungslehre im Neuen Testament, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), Tübingen 1964, 47–59. 188 Vgl. G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu (s. o. 4), 116 f.
Christologie 233
6.2.7
Gerechtigkeit
In allen Hochkulturen und Religionen ist Gott ohne Gerechtigkeit nicht denkbar, ebensowenig jede Form von Philosophie, Recht und Religion. Diese fundamentalen Zusammenhänge bestimmen nicht nur zentrale Abschnitte des Alten Testaments, sondern auch das klassische Griechentum und den Hellenismus. Das kulturgeschichtliche Umfeld
Im Alten Testament verbinden sich mit hqds/dikaiosu´nv zentrale theologische Themen189. Elementar ist der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Recht, Gottes Gerechtigkeit ist ohne sein Eintreten für das Recht nicht vorstellbar: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden“ (Ps 103,6; vgl. Ps 11,7). In der Versammlung der Götter hält Jahwe Gericht über die anderen Götter und fordert: „Schafft Recht den Unterdrückten und Waisen, dem Elenden und Bedürftigen schafft Gerechtigkeit“ (Ps 82,3). Zu den grundlegenden Mahnungen gehört: „Ihr sollt beim Gericht nicht Unrecht tun . . . in Gerechtigkeit sollst du deine Nächsten richten“ (Lev 19,15). Insbesondere dem König obliegt die Aufgabe, seinem Volk Recht zu schaffen und der Bedrückung zu wehren (vgl. Jer 22,3; Ps 72,4; Spr 31,8f). Der Wirkungsbereich der Gerechtigkeit Gottes geht über das Rechtsleben hinaus, denn „wer keine falschen Eide schwört, der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils“ (Ps 24, 4f). Der Gedanke der Gerechtigkeit als segensreicher Gabe Gottes verbindet sich unmittelbar mit universalen Vorstellungen, Recht und Gerechtigkeit werden zu Elementen der Epiphanie Gottes (vgl. Ps 97,1–2.6). Auch Gottes Schöpfermacht und sein anhaltendes Eintreten für das Wohl der Schöpfung sind ein Ausdruck seiner Gerechtigkeit (vgl. Ps 33,4–6; 85,10–14), so dass Gerechtigkeit die heilvolle Weltordnung bezeichnet, die „kosmische, politische, religiöse, soziale und ethische Aspekte vereint.“190 Heil und Gerechtigkeit werden zu Synonymen des universalen Handelns Gottes, das die Völker miteinbezieht (vgl. z. B. Ps 98,2; Jes 45,8.21; 46,12f; 51,5–8). Monotheismus und Universalismus verbinden sich zu einer Geschichtssicht, in der Gottes Gerechtigkeit als Herrschaft, Gabe, Zuspruch, Macht und Rettung erscheint. Das antike Judentum ist von den tiefgreifenden Transformationen im Gefolge des babylonischen Exils geprägt. In das Zentrum der Religion treten das Erwählungsbewusstsein, die Hoffnung auf Gottes anhaltende Treue, die Tora als Heilsgabe Gottes und damit unmittelbar verbunden der Versuch, sich durch rituelle Abgrenzung von
189 Einen Überblick zu dieser Thematik vermitteln
J. SCHARBERT, Art. Gerechtigkeit, TRE 12, Berlin 1984, 404–411; H. SPIECKERMANN, Art. Rechtfertigung, TRE 28, Berlin 1997, 282–286. 190 H.H. SCHMID, Gerechtigkeit als Weltordnung,
BHTh 40, Tübingen 1968, 166. Kritisch zu dieser Konzeption z. B. F. CRÜSEMANN, Jahwes Gerechtigkeit im Alten Testament, EvTh 36 (1976), (427–450) 430 f.
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den anderen Völkern neu zu definieren191. Die Selbstbindung Gottes an sein Volk findet in der Gabe der Tora ihren Ausdruck192, sie wird als Gnadengabe Gottes und als Urkunde seines Bundes verstanden (vgl. z. B. Sir 24; Jub 1,16–18). Die Tora ist weit mehr als Lebensordnung oder soziale Ordnung, denn ihre Beachtung bedeutet, in Gottes Herrschaft einzutreten, sie anzuerkennen und durchzusetzen. Toratreue als Beachtung und Respektierung des Willens Gottes ist deshalb die von Israel erwartete Antwort auf die Erwählung Gottes. Innerhalb dieses Gesamtkonzeptes ist Gerechtigkeit nicht das Resultat menschlicher Leistung, sondern Gottes Verheißung für die Menschen (vgl. Jub 22,15: „Und er erneuere seinen Bund mit dir, dass du ihm ein Volk bist zu seinem Erbteil in allen Ewigkeiten. Und er sei dir und deinem Samen Gott in Wahrheit und in Gerechtigkeit in allen Tagen der Erde“; vgl. äthHen 39,4–7; 48,1; 58,4). Speziell in Qumran verbindet sich ein vertieftes Sündenverständnis (vgl. 1QH 4,30; 1QS 11,9f) mit einem elitären Erwählungsbewusstsein und einem radikalisierten Toragehorsam (vgl. CD 20,19–21)193. Dem gnädigen Wirken der Gerechtigkeit Gottes in der Endzeit durch die Offenbarung seines Willens bei den Vorherbestimmten entspricht deren Buße ritueller und ethischer Vergehen. Dennoch bedürfen die Frommen des Erbarmens Gottes, die Gerechtigkeit Gottes ist seine Bundesund Gemeinschaftstreue, aus der die Gerechtigkeit des Menschen erwächst (vgl. 1QH 12,35–37; 1QH 1,26f; 3,21; 1QS 10,25; 11,11ff). In den Psalmen Salomos194 wird die Einsicht vermittelt, dass der Fromme durch Gottes Erbarmen Gerechtigkeit empfängt (vgl. PsSal 2,33f)195. Gott ist gerecht und er erbarmt sich derer, die sich seinem gerechten Urteil unterwerfen (PsSal 8,7). Richtschnur für Gottes Erbarmen ist das Gesetz, es liefert die Kriterien für Gottes gerechtes Urteil, in dem sich seine Gerechtigkeit zeigt. „Treu ist der Herr denen, die ihn lieben in Wahrheit, die seine Züchtigung aushalten, die in der Gerechtigkeit seiner Gebote wandeln, in dem Gesetz, das er uns auferlegte zu unserem Leben. Die Frommen des Herrn werden durch das (Gesetz) ewig leben, der Lustgarten des Herrn, die Bäume des Lebens (sind) seine Frommen“ (PsSal 14,1–3). Gerechte sind somit jene, die be191 Zum historischen Prozess vgl. J. MAIER, Zwischen
den Testamenten, NEB.AT EB 3, Würzburg 1990, 191–247; zu den theologischen Grundannahmen vgl. A. NISSEN, Gott und der Nächste im antiken Judentum,(s.o. 3.5.3), 99–329; zum Gesetzes- und Gerechtigkeitsverständnis vgl. M. LIMBECK, Die Ordnung des Heils, Düsseldorf 1971; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen 2000, 109–165. 192 Zur Tora vgl. J. MAIER, Zwischen den Testamenten, 212 ff; ferner A. NISSEN, Gott und der Nächste, 330 ff. 193 Vgl. dazu O. BETZ, Rechtfertigung in Qumran, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich/
W. Pöhlmann/ P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 17– 36; M. A. SEIFRID, Justification by Faith (s. o. 6.2), 81– 108. 194 Entstanden in der Mitte des 1. Jhs. v.Chr. in Palästina; vgl. J. SCHÜPPHAUS, Die Psalmen Salomos, ALGHJ VII, Leiden 1977, 137; S. HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos, JSHRZ IV/2, Gütersloh 1977, 59; M. WINNINGE, Sinners and the Righteous, CB.NT 26, Stockholm 1995, 12–16. 195 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit in den Psalmen Salomos und bei Paulus, in: H. Lichtenberger/ G.S. Oegema (Hg.), Jüdische Schriften in ihrem antik-jüdischen und urchristlichen Kontext, JSHRZ/ Studien 1, Gütersloh 2003, 365–375.
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reit sind, nach dem Gesetz zu leben und auf die Barmherzigkeit Gottes zu vertrauen. Der eigentliche Ermöglichungsgrund der Gerechtigkeit ist jedoch die Zugehörigkeit der Frommen zum erwählten Volk Gottes; das Erbarmen Gottes gegenüber den Frommen und die Leben spendende Gabe des Gesetzes sind Ausdruck und Folge der Erwählung Israels (vgl. PsSal 9,6.10; 10,4). Das Gegensatzpaar von Israel als den Gerechten und den Heiden bzw. den abtrünnigen Juden als Sünder ist die Basis des theologischen Denkens der Psalmen Salomos (vgl. PsSal 13,7–12)196. Das Gerechtsein des Frommen ist ein Statusbegriff, der ihn grundsätzlich von den Heiden unterscheidet. Zwar sündigen auch die Frommen, aber Gottes Treue und Barmherzigkeit wird durch unwissentliche Sünden keineswegs aufgehoben. Vielmehr reinigt Gott von den Sünden und treibt den reuigen Sünder so zu einem gerechten, am Gesetz orientierten Wandel (PsSal 3,6–8; 9,6.12; 10,3). Auch das klassische Griechentum und der Hellenismus sind zutiefst vom Nachdenken über die Gerechtigkeit geprägt197. Für Plato steht das Verhältnis von Gesetz und Gerechtigkeit im Mittelpunkt, denn die Gerechtigkeit ist die Norm der Gesetze . Im Mythos der Kulturentstehung sind Recht und Gesetz Voraussetzung dafür, dass alle Menschen an der Gerechtigkeit teilhaben198. Für den von Zeus unterwiesenen Gesetzgeber gilt, dass er „sein Augenmerk stets auf nichts anderes als vor allem auf die höchste Tugend richten wird, wenn er Gesetze erläßt. Diese besteht aber, wie Theognis sagt, in der Treue in Gefahren, die man auch vollkommene Gerechtigkeit nennen könnte“ (Leg I 630c). Die Gerechtigkeit steht an der Spitze der Kardinaltugenden (Resp 433d.e), denn ihr kommt als gleichermaßen sozialer und universaler Kategorie innerhalb der Ordnung der Seele und dementsprechend der Ordnung des Staates eine Schlüsselstellung zu. Aristoteles unterscheidet nicht zwischen Recht und Ethik, sondern die Gerechtigkeit als allgemeines Ordnungsprinzipg umfaßt beides (Eth Nic V 1130a: „Die Gerechtigkeit in diesem Sinn ist also nicht ein Teil der ethischen Werthaftigkeit, sondern die Werthaftigkeit in ihrem ganzen Umfang“)199. Inhaltlich definieren die Gesetze das Gerechte, denn: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hatten wir gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes“ (Eth Nic V 1129b)200. Weil das Gesetzliche zugleich das Gerechte ist, folgt aus der Verletzung des Gesetzes die Ungerechtigkeit (vgl. Eth Nic V 1130b). Die Gerechtigkeit erwächst somit aus den Gesetzen und ist deren Wir-
196 Zur Bestimmung von ‚Sündern‘ und ‚Gerechten‘
in den Psalmen Salomos vgl. M. WINNINGE, Sinners and the Righteous, 125–136. 197 Einen Überblick vermitteln A. DIHLE, Art. Gerechtigkeit, RAC 10, Stuttgart 1978, 233–360; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR, 7–108. 198 Vgl. Prot 322c.d, wo geschildert wird, wie Hermes im Auftrag des Zeus Recht und Gesetz zu allen Menschen bringt.
199 Von großer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht in Eth Nic V 1134b–1135a: „Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nichtzustimmung.“ 200 Vgl. auch Plat, Symp 196b.c; Resp I 338d–339a; Gorg 489a.b; Polit 294d–295a; Leg X 889e–890a.
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kung, denn das gerechte Handeln orientiert sich an den Gesetzen und schafft Gerechtigkeit. In der hellenistischen Philosophie verlagert sich der Gerechtigkeitsbegriff unter dem Eindruck einer weltweit expandierenden Kultur von der Polis auf das Individuum. Dabei werden Gerechtigkeit und Frömmigkeit teilweise zu Synonymen, ohne dass die Verbindung zum Nomos aufgehoben wird. Auch um die Zeitenwende herum bestimmt der grundlegende Zusammenhang zwischen Recht, Gerechtigkeit, Gesetzen und gelingendem Leben das Denken. Für Cicero existiert ein unverbrüchlicher Zusammenhang: „Ein Gesetz beinhaltet also die Unterscheidung von Gerechtem und Ungerechtem, es ist formuliert im Blick auf jene ursprüngliche und allen Dingen zugrundeliegende Natur, wonach sich die Gesetze der Menschen richten, die die Bösen bestrafen, die Guten verteidigen und schützen“ (Leg II 13). Gerechtigkeit ist die Tugend und wird aus Einsicht in das Wesen der Dinge befolgt (vgl. Leg I 48). Für Dion von Prusa, der als Philosoph und Rhetor die intellektuelle Elite seiner Zeit repräsentiert, gilt für die ideale Herrschaft, dass sie dem König von Zeus verliehen wurde. „Wer im Blick auf ihn nach seinem Recht und seiner Satzung das Volk gerecht und gut ordnet und regiert, wird eines guten Loses und eines glücklichen Endes teilhaftig“ (Dio Chrys, Or 1,45; vgl. 75,1). Das Gesetz gewährt sowohl der Gemeinschaft als auch dem Einzelnen die ihnen zustehende und sie schützende Gerechtigkeit (Or 75,6). Die göttliche Einheit von Gesetz und Gerechtigkeit umfasst Person und Institution, als ordnendes Weltprinzip kommt der Gerechtigkeit immer zugleich eine individuell-moralische und prinzipiell-universale Bedeutung zu. Diese Zusammenhänge ermöglichten es jüdisch-hellenistischen Denkern wie Philon von Alexandrien und Josephus, griechisches Gerechtigkeits- und Gesetzesdenken mit der jüdischen Überlieferung zu synthetisieren. Philon kombiniert die griechische Tugendlehre mit dem Dekalog, „denn jedes einzelne der zehn Gottesworte und sie alle zusammen leiten und ermahnen (uns) zu vernünftiger Einsicht, Gerechtigkeit, Gottesfurcht und dem Reigen der anderen Tugenden“ (Spec Leg IV 134). Die zahllosen jüdischen Einzelgebote können von Philon auf zwei Grundprinzipien zurückgeführt werden: „in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Nächstenliebe und Gerechtigkeit“ (Spec Leg II 63; vgl. II 13.14). Die Tora unterliegt einer starken Ethisierung, die der griechisch-hellenistischen Konzentration auf den Gerechtigkeitsbegriff entspricht, ohne jedoch die universalen Aspekte aufzugeben201. Die Genese der paulinischen Rechtfertigungslehre
Der Gesamtzusammenhang Gesetz – Gerechtigkeit – Leben und damit die Gerechtigkeits- bzw. Rechtfertigungsthematik war Paulus vorgegeben. Zugleich musste er aber 201 Vgl. R. WEBER, Das „Gesetz“ bei Philon von Ale-
xandrien und Flavius Josephus (s. o. 3.8.1), 337 ff.
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neue Zuordnungen vornehmen, denn seine Christushermeneutik erforderte, die drei Schlüsselbegriffe Gesetz-Gerechtigkeit-Leben in das neue Koordinatensystem einzupassen. Lassen die Briefe eine durchgängige und in sich konsistente Rechtfertigungslehre erkennen oder müssen Differenzierungen eingeführt werden, um einem komplexen Befund gerecht zu werden? Der Befund zeigt, dass Gerechtigkeit/Rechtfertigung bei Paulus ein mehrschichtiges Phänomen ist, das ein Erklärungsmodell auf diachroner Ebene erfordert202: Innerhalb der paulinischen Theologie haftet Gerechtigkeit zuallererst an Tauftraditionen (1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 1,21f; Röm 3,25.26a; 6,3f; 4,25)203. Die rituelle Verankerung der Gerechtigkeitsthematik ist kein Zufall204, denn die Taufe ist der Ort, wo der grundlegende Statuswechsel der Christen vom Bereich der Sünde in den Bereich der Gerechtigkeit erfolgte. Die Tauftraditionen thematisieren aber nicht nur Gerechtigkeit, sondern entfalten eine in sich stimmige sakramental-ontologische Rechtfertigungslehre : In der Taufe als Ort der Partizipation am Christusgeschehen werden die Glaubenden effektiv durch die Kraft des Geistes von der Macht der Sünde getrennt und erlangen den Status der Gerechtigkeit, so dass sie im Horizont der Parusie Jesu Christi ein dem Willen Gottes entsprechendes Leben führen können. Diese Rechtfertigungslehre kann als inklusiv bezeichnet werden, weil sie ohne Ausschlusskriterien auf die Gerechtmachung des Einzelnen und seine Eingliederung in die Gemeinde zielt. Glaube, Geistgabe und Taufe konstituieren ein Gesamtereignis : In der Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus, konstituiert sich die persönliche Christusgemeinschaft und hat die Erlösung real begonnen, die sich in einem durch den Geist bestimmten Leben in Gerechtigkeit vollzieht205. Es ist deutlich, dass diese Rechtfertigungslehre im Kontext der Taufe sich organisch mit den tragenden Grundanschauungen der paulinischen Christologie verbindet: Transformation und Partizipation 206. Durch die Auferstehung von den Toten ist Jesus Christus in den Lebens- und Machtbereich Gottes übergegangen, und er gewährt in der Taufe durch die Gabe des Geistes den Glaubenden schon jetzt Anteil am neuen Sein. Die Glaubenden und Getauf202 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), passim; TH. SÖDING, Kriterium der Wahrheit?, in: ders. (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (s. o. 6.2), (193–246) 211–213; U. WILCKENS, Theologie III, 131–136. 203 Vgl. G. DELLING, Die Taufe im Neuen Testament, Berlin 1963, 132; K. KERTELGE, „Rechtfertigung“ bei Paulus, NTA 3, Münster 21971, 228–249; E. LOHSE, Taufe und Rechtfertigung bei Paulus, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, 228–244; F. HAHN, Taufe und Rechtfertigung, in: J. Friedrich/W. Pöhlmann/P. Stuhlmacher (Hg.), Rechtfertigung (FS E. Käsemann), Tübingen 1976, (95–124) 104–117; U. LUZ, Art. Gerechtigkeit, EKL3 II, Göttingen 1997, 91: „Voraussetzung für die pln. Rechtfertigungslehre
war, daß die frühen Gemeinden die Taufe als Vorwegnahme von Gottes endzeitlichem Gericht und damit als reale Gerechtmachung verstanden (1Kor 6,11). . . . Die pln. Rechtfertigungslehre ist also keine Neuschöpfung, sondern sie wurzelt in der Taufinterpretation der Gemeinde“; U. WILCKENS, Theologie III, 132 f. 204 Vgl. CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 210. 205 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 100–103; H. UMBACH;, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 230–232. 206 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. u. 6.4), 122: „Justification is the result of the believers’ participation in Jesus’ resurrection life.“
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ten leben als von der Sündenmacht Getrennte im vom Geist bestimmten Heilsraum des Christus, ihr neues Sein en Cristw˜ (= „in Christus“) ist umfassend bestimmt von den Lebenskräften des Auferstandenen. Als Statustransformationsritual bewirkt die Taufe nicht nur eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern der Getaufte und die Wirklichkeit selbst sind verändert207. Innerhalb dieser Konzeption hat das Gesetz weder negativ noch positiv eine Funktion, es ist kein Bestandteil der Begründungsstruktur der inklusiven Rechtfertigungslehre . Demgegenüber bestimmt die Nomologie die Argumentation der Rechtfertigungslehre des Galater-, Römer- und Philipperbriefes208. Diese Verschiebung resultiert nicht aus einem defizitären Charakter der inneren Logik der inklusiven Rechtfertigungslehre, sondern aus der aktuellen Gemeindesituation209. Die Beschneidungsforderung auch für Christen aus griechisch-römischer Tradition durch die galatischen Judaisten stellte nicht nur einen Bruch der Vereinbarungen des Apostelkonzils dar und die Erfolge der paulinischen Mission infrage, sondern sie richtete sich gegen den Grund-Satz der gesamten paulinischen Theologie: Ort des Lebens und der Gerechtigkeit ist allein Jesus Christus. Wenn das Gesetz Leben wirken könnte (so z. B. Sir 17,11LXX: „Er legte ihnen Erkenntnis vor und das Gesetz des Lebens ließ er sie erben“), dann wäre Christus umsonst gestorben. Es kann für Paulus nur eine heilsrelevante Gestalt der Endzeit geben: Jesus Christus. Wenn das Gesetz nicht mehr wie bisher als Adiaphoron angesehen wird (so 1Kor 9,20–22), sondern einen heilsrelevanten Status bekommt, dann muss seine Leistungsfähigkeit in das Zentrum der Argumentation gestellt werden. Paulus beurteilt sie negativ, denn „die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen, damit die Verheißung aus dem Glauben an Jesus Christus denen gegeben werde, die glauben“ (Gal 3,22; vgl. Röm
207 Vgl. aus kulturanthropologischer Perspektive C. GEERTZ, Dichte Beschreibung, Frankfurt 1987, 90: „Jemand, der beim Ritual in das von religiösen Vorstellungen bestimmte Bedeutungssystem ‚gesprungen‘ ist, . . . und nach Beendigung desselben wieder in die Welt des Common sense zurückkehrt, ist – mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo die Erfahrung folgenlos bleibt – verändert. Und so wie der Betreffende verändert ist, ist auch die Welt des Common sense verändert, denn sie wird jetzt nur noch als Teil einer umfassenderen Wirklichkeit gesehen, die sie zurechtrückt und ergänzt.“ 208 Semantisch besteht hier ein klarer Zusammenhang, denn Paulus spricht nur dort ausführlich über Gerechtigkeit/Rechtfertigung, wo er auch über das Gesetz nachdenkt; vgl. dikaiosu´nv/dikaio´w 12mal im Gal; 49mal im Röm; 4mal im Phil; no´moß 32mal im Gal; 74mal im Röm; 3mal im Phil.
209 Historisch stellt die exklusive Rechtfertigungslehre des Galaterbriefes eine neue Antwort auf eine neue Situation dar. Insofern trifft die Feststellung von W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 67, über die paulinische Rechtfertigungslehre grundsätzlich zu: „sie ist die Kampfeslehre des Paulus, nur aus seinem Lebenskampfe, seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Judenchristentum verständlich und nur für diese gedacht, – insofern dann freilich geschichtlich hochwichtig und für ihn selbst charakteristisch.“ Auch das berühmte Diktum ALBERT SCHWEITZERS, Mystik (s. o. 6), 220, sieht Richtiges: „Die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben ist also ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet.“
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3,9.20). Es entspricht dem Willen Gottes, dass die Macht der Sünde stärker ist als das Vermögen des Gesetzes. Das Gesetz vermag die erwählungsgeschichtliche Sonderstellung Israels nicht mehr zu begründen, so dass auch die hamartiologische Differenzierung zwischen Juden und Heiden hinfällig ist, denn „aus Werken des Gesetzes wird niemand gerecht“ (Gal 2,16; vgl. Röm 3,21.28). Paulus weitet in Gal, Röm und Phil die Grundanschauungen der mit der Taufe verbundenen inklusiven Rechtfertigungslehre zu einer durch Universalismus und Antinomismus gekennzeichneten exklusiven Rechtfertigungslehre aus210. Auf soziologischer Ebene zielt sie auf die Gleichberechtigung der Christen aus den Völkern; sie sichert ihnen als Glaubende und Getaufte angesichts der judaistischen Infragestellung die uneingeschränkte Zugehörigkeit zum auserwählten Gottesvolk. Darüber hinaus wird die für die römische Gesellschaft grundlegende Kultur der Gegenseitigkeit (zwischen Menschen sowie Mensch und Göttern) grundlegend verändert, indem Paulus in radikaler Weise einen Anspruch auf Gottes Wohltaten verneint. Niemand ist vor Gott gerecht (Röm 3,23) und nur Gott allein ist gut (Röm 5,7). Zudem wird die unverdiente Gabe der göttlichen Gerechtigkeit durch einen Gekreuzigten und damit nicht mit Ehre versehenen Wohltäter übergeben. Weil niemand auf Grund seiner Rasse, seines Geschlechtes oder seines sozialen Standes einen Anspruch auf göttliche Wohltaten hat, führt Paulus eine Demokratisierung des Gnaden-Verständnisses durch. Theologisch negiert die exklusive Rechtfertigungslehre nicht nur jede soteriologische Funktion der Tora und reduziert ihre ethische Relevanz auf das Liebesgebot; sie entschränkt jegliches partikulare bzw. nationale Erwählungsbewusstsein und formuliert ein universales Gottesbild211: Jenseits von Rasse, Geschlecht und Nationalität schenkt Gott jedem Menschen im Glauben an Jesus Christus seine die Sündenmacht überwindende Gerechtigkeit. Dabei zeigt die Stellung von Gal 2,19; 3,26–28; Röm 3,25; 4,25; 6,3f, dass Paulus bewusst inklusive und exklusive Rechtfertigungslehre aufeinander bezieht. Er schützt so seine auf einer radikalisierten Anthropologie und einem universalisierten Gottesverständnis basierende exklusive Rechtfertigungslehre vor einer weltlosen Abstraktheit, indem er die Taufe als den Ort angibt, wo Gottes universales Heilshandeln in Jesus Christus in der Partikularität der eigenen Existenz erfahren werden kann. Gerechtigkeit Gottes
Diese grundlegenden Einsichten verdichten sich im theologischen Schlüsselbegriff des Römerbriefes: dikaiosu´nv heou˜ („Gerechtigkeit Gottes“). 210 Vgl. TH. SÖDING, Kriterium der Wahrheit?, 203: „Daß der Apostel die Theologie der Rechtfertigung von Anfang an in der Form des Galater- und Römerbriefes vertreten hat, muß bezweifelt werden“; vgl. ferner U. LUZ, Art. Gerechtigkeit, 91; U. WILCKENS, Theologie III, 131.
211 Vgl. A. BADIOU, Paulus. Die Begründung des Universalismus (s. o. 6), 143: „das Eine gibt es nur, wenn es für alle da ist. Der Monotheismus ist nur zu verstehen, insofern er die ganze Menschheit berücksichtigt. Ohne die Wendung an alle zerfällt das Eine und verschwindet.“
240 Paulus: Missionar und Denker
Die Bedeutung von dikaiosu´nv heou˜ ist in der neueren Forschung umstritten212. Während R. Bultmann und H. Conzelmann dikaiosu´nv heou˜ im anthropologischen Kontext als Gabe, d. h. als übereignete Glaubensgerechtigkeit verstehen (vgl. Phil 3,9)213, interpretieren E. Käsemann und P. Stuhlmacher dikaiosu´nv heou˜ als einen Paulus aus der jüdischen Apokalyptik vorgegebenen terminus technicus 214, der als Schlüsselbegriff der paulinischen Rechtfertigungslehre über deren Gesamtverständnis und letztlich über das Verständnis der paulinischen Theologie überhaupt entscheidet. Gegen Bultmann und Conzelmann wurde zu Recht eingewendet, dass eine primär am Individuum orientierte Interpretation von dikaiosu´nv heou˜ die universalen schöpfungs- und geschichtstheologischen Aspekte vernachlässigt. Aber auch gegen den Ansatz von Käsemann und Stuhlmacher sind gewichtige Einwände zu machen. Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit war Paulus zwar aus dem Alten Testament und den Schriften des antiken Judentums vorgegeben, jedoch ist dikaiosu´nv heou˜ kein aus der jüdischen Apokalyptik überkommener terminus technicus . Die Verbindung ‚Gerechtigkeit Gottes‘ findet sich in jüdischen Texten (vgl. Dtn 33,21; TestDan 6,10; 1QS 10,25; 11,12; 1QM 4,6), aber nicht als formelhafte Prägung215. Die Aussagen Qumrans über die Gerechtigkeit Gottes bieten eine Parallele zu Paulus, können aber nicht als Voraussetzung der Rechtfertigungslehre des Apostels gelten. In Qumran wurde auf der Basis eines radikalisierten Menschen- und Gottesbildes intensiv über Gerechtigkeit reflektiert, ohne dabei ‚Gerechtigkeit Gottes‘ als dominierenden terminus technicus für Gottes Recht schaffendes Handeln zu gebrauchen. Vielmehr ist gerade die Vielzahl von Formulierungen auffallend, mit denen in Qumran die menschliche und göttliche Gerechtigkeit beschrieben werden.
Der paulinische Textbefund zeigt, dass dikaiosu´nv heou˜ ein mehrdimensionaler Begriff ist. In 2Kor 5,21 dominiert der Gabecharakter von dikaiosu´nv heou˜, grammatisch liegt ein genitivus auctoris vor216. Die Glaubenden partizipieren am stellvertretenden Tod Jesu Christi und werden in der Taufe durch den Geist zu einer neuen Existenz ‚in Christus‘ überführt. Der Machtcharakter von dikaiosu´nv heou˜ wird in Röm 1,17 deutlich217, sprachlich angezeigt durch apokalu´ptetai218. Jetzt enthüllt sich Gottes endzeitlicher Heilswille, der im Evangelium von der Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus für die Glaubenden machtvoll in Erscheinung tritt. In Röm 3,5 stehen sich im Rechtsstreit menschliche Ungerechtigkeit und Gottes Gerechtigkeit (genitivus subjecti212 Zur Forschungsgeschichte vgl. zuletzt M. A. SEIFRID,
Justification by Faith (s. o. 6.2), 1–75. 213 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 285; H. CONZELMANN, Theologie, 244. 214 Vgl. E. KÄSEMANN, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 61970, (181–193) 185; P. STUHLMACHER Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, FRLANT 87, Göttingen 2 1966, 73. 215 Vgl. zum Nachweis U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 93–96.217–219;
J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 388; M. A. SEIFRID, Justification by Faith (s. o. 6.2), 99–107. 216 Vgl. z. B. H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief, KEK VI, Göttingen 91924, 198. 217 Zur Exegese vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes, 78–84. 218 Treffend D. ZELLER, Der Brief an die Römer, RNT, Regensburg 1985, 43: „Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium schon jetzt (Präsens!) eschatologisch gültig angeboten.“
Christologie 241
vus ) gegenüber. Hier geht es nicht um die sich im Evangelium offenbarende Gerechtigkeit Gottes219, sondern um eine Eigenschaft Gottes, der im Gericht seine Gerechtigkeit durchsetzt und die Ungerechtigkeit der Menschen erweist. In Röm 3,21.22 erscheint dikaiosu´nv heou˜ zweimal, jedoch jeweils mit unterschiedlicher Konnotation. Als Offenbarungsbegriff ist dikaiosu´nv heou˜ in V. 21 zu lesen, Gott hat sich im Christusgeschehen als der Gerechtmachende gezeigt. In der Gerechtigkeit Gottes wird somit nicht etwas über Gott mitgeteilt, sondern in ihr vollzieht sich das Offenbarwerden Gottes. Diesen epochalen Vorgang bezeugen das Gesetz und die Propheten, das Gesetz bestätigt damit zugleich sein eigenes Ende als Quelle der Gerechtigkeit. In V. 22 bedenkt Paulus dikaiosu´nv heou˜ unter anthropologischem Aspekt. Der Glaube an Jesus Christus ist die Aneignungsform der Gerechtigkeit Gottes. Im Glauben ist Jesus die Gerechtigkeit Gottes für alle, die glauben. Erscheint die Gerechtigkeit Gottes in V. 21 als universale Macht Gottes, so dominiert in V. 22 der Charakter der Gabe. In Röm 3,25 greift Paulus geprägte Begrifflichkeit auf (s. o. 6.2.5), um die rituellen Erfahrungen der römischen Gemeinde mit seiner exklusiven Rechtfertigungslehre zu verbinden. Der genitivus subjectivus dikaiosu´nv heou˜ bezeichnet nicht einfach nur eine Eigenschaft Gottes, sondern meint die Gott eigene Gerechtigkeit, die sich universal im Kreuzesgeschehen manifestierte und sich im Erlass der früheren Sünden in der Taufe realisiert. Die universale Dimension von dikaiosu´nv heou˜ zeigt sich auch in Röm 10,3. Hier wird Israel vorgeworfen, nicht Gottes, sondern die eigene Gerechtigkeit gesucht zu haben. Das erwählte Volk verschließt sich dem in Jesus Christus geoffenbarten Willen Gottes und unterstellt sich nicht der dikaiosu´nv heou˜ (genitivus subjectivus )220. Stattdessen unternimmt Israel den aussichtslosen Versuch, mit Werken des Gesetzes gerecht werden zu wollen. Gottes Handeln gilt hier Völkern, so dass eine ausschließlich am Individuum orientierte, die kosmologische Dimension vernachlässigende Interpretation von dikaiosu´nv heou˜ dem paulinischen Textbefund nicht gerecht werden würde221. Zugleich lässt Phil 3,9 deutlich erkennen, dass eine Alternative zwischen der individuellen und kosmologischen Dimension von dikaiou´nv heou˜ ebenso verfehlt wäre. Paulus bezieht hier das rechtfertigende Handeln Gottes gänzlich auf die individuelle Existenz des Glaubenden (V. 9a: kai` eurehw˜ en autw˜ = Christus). Die Gerechtigkeit Gottes (genitivus auctoris) resultiert nicht aus dem Gesetz/der Tora, sondern wird durch den Glauben an Jesus Christus dem Menschen geschenkt. Dikaiosu´nv heou˜ ist somit je nach Kontext ein universal-forensischer Begriff (Röm 1,17; 3,5.21.25; 10,3) und eine Transfer- und Partizipialkategorie (2Kor 5,21; Röm 3,22; Phil 3,9). Gerechtigkeit Gottes benennt prägnant das Offenbarwerden sowie das Einbezogenwerden in und die Teilhabe der Glaubenden an Gottes rechtfertigendem Handeln in Jesus Christus. Die begrenzte Verwendung222, die in den überwie219 Vgl. D. ZELLER, Röm, 78 f.
221 Vgl. P. STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes, 93.
220 Vgl. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK
222 Den sieben expliziten dikaiosu´nv heou˜-Belegen (2Kor 5,21; Röm 1,17; 3,5; 3,21.22; 10,3; Phil 3,9)
VI/2, Neukirchen 1980, 220.
242 Paulus: Missionar und Denker
gend negativen Formulierungen sichtbar werdende Abgrenzungsfunktion223, die Konzentration auf den Römerbrief und die aus dem jeweiligen Kontext zu erhebende Bedeutungsvielfalt bezeugen deutlich, dass dikaiosu´nv heou˜ nicht der Schlüsselbegriff der gesamten paulinischen Theologie ist224. Paulus kann seine Theologie vollständig entfalten, ohne auf dikaiosu´nv heou˜ zurückzugreifen! Im Römerbrief fungiert ‚Gerechtigkeit Gottes‘ als theologischer Leitbegriff, weil Paulus im Gefolge der galatischen Krise und im Blick auf die Kollektenübergabe in Jerusalem seine Christologie theozentrisch profiliert, und die Gesetzesproblematik einer Lösung zuführen muss: Im Christusgeschehen erschien die von Gott ausgehende und im Glauben anzunehmende Gerechtigkeit Gottes, die allein den Menschen vor Gott rechtfertigt und somit dem Gesetz/der Tora jegliche soteriologische Bedeutung nimmt (vgl. Röm 6,14b). Der theologische Gehalt der Rechtfertigungslehre
Nimmt man die paulinischen Aussagen zu Gerechtigkeit und Rechtfertigung insgesamt in den Blick, dann zeigt sich ein Denken, das in all seinen historischen und theologischen Ausdifferenzierungen über seine Entstehungsbedingungen hinaus Systemqualität hat. Ausgangspunkt ist die innerhalb der Antike revolutionäre Einsicht, dass Gerechtigkeit wesenhaft kein Tat-, sondern ein Seinsbegriff ist. Für Aristoteles definiert sich Gerechtigkeit aus dem Handeln: „Es ist also richtig, zu sagen, daß ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt, und besonnen, wenn er besonnen handelt.“225 Gerechtigkeit erscheint somit als die höchste menschliche Tugend, die durch das Tun gewonnen wird. Im antiken Judentum bestand unzweifelhaft die Grundüberzeugung, dass der Mensch als Sünder auf die Barmherzigkeit und Güte Gottes angewiesen ist. Die Bundesvorstellung als zentrale Ausdrucksform der Gottesbeziehung Israels basiert auf der vorgängigen Erwählung Gottes. Dennoch blieb die Heilsfrage mit der menschlichen Aktivität verbunden, insofern von Gott als dem gerechten Richter erwartet wurde, dass er sich der Gerechten (aus Israel) erbarmt und die Gesetzlosen bzw. Gesetzesbrecher bestraft (Psalmen Salomos/Qumran). Zwar kennt auch Paulus die grundlegende Differenz zwischen Israel als den Gerechten und den Heiden als Sündern (vgl. Röm 9,30), er macht sie aber nicht zur Grundlage seines Denksystems. Vielmehr bestimmt er das Verhältnis zwischen Gerechten und Sündern völlig neu: Zur Gruppe der Gerechten gehört niemand, zur Gruppe der Sünder gehören alle Menschen, Heiden wie Juden (vgl. Röm 1,16–3,20). Unter der Voraussetzung des Glaubens an Jesus Christus können dann stehen aus dem Bereich der Heilsbegriffe gegenüber: 120mal pneu˜ma, 61mal en Cristw˜ , 37mal en kurı´w, 91mal pı´stiß, 42mal pisteu´ein, 38mal dikaiosu´nv, 25mal dikaiou˜n, 27mal zwv´, 25mal elpı´ß. 223 Vgl. E. P. SANDERS, Paulus und das palästinische Judentum (s. o. 6), 468. 224 Vgl. auch H. HÜBNER, Biblische Theologie I, 177:
„Dieser Begriff kommt allerdings in der Bedeutung, wie ihn Paulus im Röm verwendet, im übrigen Corpus Paulinum nicht vor. Gerechtigkeit Gottes ist also für Paulus der aus seiner theologischen Entwicklung erwachsene Begriff seiner Spättheologie.“ 225 Arist, Eth Nic II 1105b.
Christologie 243
Juden wie Heiden Gerechtigkeit erlangen. Das paulinische Status-Schema ist durch einen universalen Grundansatz gekennzeichnet: Alle Menschen sind ausweglos der Macht der Sünde untertan (vgl. Gal 3,22; Röm 3,9.20), d. h. der Status des Sünders kennzeichnet alle Menschen, auch wenn sie einer privilegierten Gruppe angehören und gerecht handeln. Gerechtigkeit kann nur durch den Transfer aus dem Herrschaftsbereich der Sünde in den Christus-Bereich hinein erlangt werden. Die tiefe Einsicht in die Macht der Sünde, das Bewusstsein des Angewiesenseins auf Gottes Barmherzigkeit, die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und die Befolgung der Tora bilden in jüdischen Systemen notwendigerweise eine sich ergänzende Einheit. Gerechtigkeit wird radikal von Gott her verstanden, zugleich bleiben aber die religiösen Privilegien gegenüber den anderen Völkern bestehen. Paulus hingegen negiert jegliche religiöse Sonderstellung, denn seine Christushermeneutik lässt innerhalb des Sünden- und damit auch des Gerechtigkeitsbegriffes keinerlei Differenzierungen zu. Gerechtigkeit ist nun die Folge der neuen, durch Christus in der Taufe konstituierten Existenz. Gott gewährt eine Teilhabe an seiner Lebensmacht, indem er durch die Gabe des Geistes die Sünde vernichtet und die Existenz der Glaubenden und Getauften neu ausrichtet. Paulus vertritt einen Universalismus, der sich von der Nation, dem Land, dem Tempel und dem Gesetz als Regulativen des Gottesverhältnisses trennt. Damit verlässt er jüdisches Denken, das als national und partikular bezeichnet werden kann. Für Paulus ist Gerechtigkeit im strikten Sinn kein Tat-, sondern ein Seinsbegriff. Gottes Handeln ist jeglicher menschlicher Aktivität vorgängig, das neue Sein hat nicht Tat-, sondern Geschenkcharakter 226. Vor Gott ist der Mensch nicht die Summe seiner Taten, ist die Person unterscheidbar von ihren Werken. Kein Mensch kann aufgrund seiner Handlungen und Selbstentwürfe zureichend beurteilt werden. Nicht das Tun definiert das Menschsein, sondern allein das Verhältnis zu Gott. Der Mensch vor Gott ist ein anderer als vor sich selbst! Die Rechtfertigungslehre verbindet sich mit grundlegenden ekklesiologischen, ethischen und anthropologischen Einsichten, zuallererst und ursprünglich ist sie aber ein soteriologisches Modell mit einem identitätstheoretischen Kern: Das Subjekt weiß sich unmittelbar auf Gottes vorgängiges Tun gegründet, es konstituiert sich aus seiner Beziehung zu Gott und versteht sich als von Gott anerkannt, gehalten und erhalten. Damit ist die Rechtfertigungslehre auch die christliche Symbolisierung einer unantastbaren Menschenwürde jedes Individuums227. Bei der paulinischen Rechtfertigungslehre handelt es sich nicht nur um eine religiöse Erkenntnis, sondern auch um eine denkerische Leistung, die in ihrer bleiben226 Treffend H. WEDER, Gesetz und Sünde, in: ders.,
Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, (323– 346) 340: „Es geht um die Frage, ob meine Wahrheit etwas ist, das zu vernehmen, wahrzunehmen, zu hören und zu glauben ist, oder aber etwas, das sich erst in dem herausstellt, was ich aus mir selbst mache.“
227 Deshalb sind die christlichen Wurzeln der Menschenrechte kein Zufall; vgl. dazu G. NOLTE/H.L. SCHREIBER (Hg.), „Der Mensch und seine Rechte“. Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2004.
244 Paulus: Missionar und Denker
den Qualität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff aller religiösen, philosophischen und politischen Systeme kann in ihrer Totalität nur empfangen und nicht hergestellt werden. Jeder menschliche Versuch, Gerechtigkeit im umfassenden Sinn zu realisieren, endete unausweichlich und folgerichtig in totalitären Systemen. Die paulinische Einsicht des Geschenkcharakters der Gerechtigkeit verwehrt hingegen von vornherein derartige Versuche und beschreibt deshalb eine Grundbedingung menschlicher Freiheit.
6.3
Pneumatologie
H. GUNKEL, Die Wirkungen des Heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 31909; E. KÄSEMANN, Geist und Buchstabe, in: ders., Paulinische Perspektiven (s. o. 6), 237–285; E. Schweizer, Art. pneu˜ma, ThWNT VI, Stuttgart 1965, 413–436; I. HERMANN, Kyrios und Pneuma. Studien zur Christologie der paulinischen Hauptbriefe, StANT 2, Müchen 1961; J. S. VOS, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur paulinischen Pneumatologie, Assen 1973; G. D. FEE, God‘s Empowering Presence. The Holy Spirit in the Letters of Paul, Peabody MA 41999; P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie (s. u. 6.4); F. W. HORN, Das Angeld des Geistes, FRLANT 154, Göttingen 1992; DERS., Wandel im Geist, KuD 38 (1992), 149–170; S. VOLLENWEIDER, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, ZThK 93 (1996), 163–192; F. W. HORN, Kyrios und Pneuma bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (s. o. 6.2), 59–75; M. CHRISTOPH, Pneuma und das neue Sein der Glaubenden, EHS 813, Frankfurt 2005; CHR. LANDMESSER, Der Geist und die christliche Existenz, in: U.H.J. Körtner/A. Klein (Hg.), Die Wirklichkeit des Geistes, Neukirchen 2006, 129–152.
Für Paulus sind die Einsicht und die Erfahrung grundlegend, dass mit und seit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten der Geist Gottes wieder wirkt. Die Gegenwart des Heils zeigt sich im gegenwärtigen Wirken des Geistes228. Das Pneuma fungiert bei Paulus als Inbegriff für den neuen Status des Glaubenden als geistbestimmte Existenz .
6.3.1
Der Geist und die Struktur des paulinischen Denkens
Die Struktur des paulinischen Denkens erschließt sich aus der internen Vernetzung der Pneumatologie mit der Theologie, Christologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik und Eschatologie229. Die integrative Kraft der Pneumatologie ermöglicht es 228 Vgl. P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus, Diss.
theol., Göttingen 1996, 180: „Die Wirkung des Geistes Gottes in der Welt setzt für Paulus nach dem Ende der Prophetie in Israel wieder ein mit dem Tod und der Auferweckung Jesu Christi.“
229 Zur integrierenden und organisierenden Funktion der Pneumatologie vgl. auch H. SCHLIER, Grundzüge paulinischer Theologie (s. o. 6), 179–194; F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 385–431; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 413–441.
Pneumatologie 245
Paulus überhaupt erst, seiner Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte Systemqualität zu verleihen. Für die Theologie gilt: Gottes Wirklichkeit in der Welt ist Geistwirklichkeit. Im zuerst immer von Gott ausgehenden pneu˜ma (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 1,12.14; 2Kor 1,21; 5,5; Gal 4,6; Röm 5,5) erweist sich die Leben spendende Macht des Schöpfers230. Der Geist Gottes bewirkt nicht nur die Auferstehung Jesu (vgl. Röm 1,3b–4a), sondern er ist zugleich die neue Seins- und Wirkungsweise des Auferstandenen, seine dynamische und wirkungsmächtige Gegenwart (vgl. 2Kor 3,17; 1Kor 15,45). Durch das Wirken des Geistes Gottes werden die Glaubenden von den Mächten der Sünde und des Todes befreit (vgl. Röm 8,1–11). Die Christen haben einen Geist empfangen, dessen Ursprung bei Gott (vgl. 1Kor 2,12; 6,19) und Christus liegt (Röm 8,9), so dass der Geist als Subjekt höherer Ordnung nun die bestimmende Kraft christlicher Existenz ist . Das neue universale Wirken des Geistes ist für Paulus Grundlage seiner gesamten Theologie, denn das Handeln des Geistes Gottes an Jesus Christus und den Glaubenden ist das Kennzeichen der gegenwärtigen Heilszeit. Dabei bleibt die machtvolle Gottesgabe des Geistes in all ihren Wirkweisen mit ihrem Ursprung verbunden231. Innerhalb der Christologie ist das Auferstehungsgeschehen der Ausgangspunkt: Jesus Christus wurde durch den Geist Gottes von den Toten auferweckt (vgl. Röm 1,3b–4a; ferner Röm 6,4; 2Kor 13,4), und das Wirken des Geistes Gottes begründet Jesu Christi endzeitliche Sonderstellung. Aus der einzigartigen Beziehung zu Gott speist sich das Sein und das Wirken des Erhöhten als Pneuma. Der Geist ist auch eine christologische Bestimmung, denn Christus und der Geist entsprechen sich (vgl. 2Kor 3,17a: o de` ku´rioß to` pneu˜ma´ estin = „Der Herr aber ist der Geist“)232. Diese programmatische Aussage erläutert V. 16, wobei die Identifizierung233 von ku´rioß und pneu˜ma nicht als statische Gleichsetzung, sondern als Beschreibung der dynamischen Präsenz des erhöhten Herrn zu verstehen ist. Sogar dem Präexistenten kommt das Attribut des Pneumas zu (1Kor 10,4). Die Verbindung zwischen dem Geist und Christus ist so eng, dass es für Paulus unmöglich ist, das eine ohne das andere zu haben (vgl. Röm 8,9b: „Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm“). Seit der Auferstehung steht Jesus Christus als Pneuma und im Pneuma mit den Seinen in Verbindung. Der erhöhte Christus wirkt als pneu˜ma zwopoiou˜n (1Kor 15,45)234 und verleiht den Seinen das sw˜ma pneumatiko´n (1Kor 15,44)235. Das Pneu-
230 Vgl. F. W. HORN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3),
59. 231 Vgl. dazu grundlegend W. THÜSING, Per Christum in Deum (s. o. 6.2), 152–163. 232 Anders F. W. HORN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3), 66 f. 233 So treffend I. HERMANN, Kyrios und Pneuma (s. o. 6.3), 48 ff. 234 Der Begriff pneu˜ma zwopoiou˜n begegnet nur im
Neuen Testament; vgl. F.W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 197f; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 261. 1Kor 15,46 zeigt, dass Paulus anti-enthusiastisch argumentiert und den Geistbegriff bewusst an den Erhöhten bindet. 235 Treffend formuliert J. S. VOS, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen (s. o. 6.3), 81: „Als eschatologischer Adam ist Christus sowohl in seiner Substanz als auch in seiner Funktion Pneuma. Als Pneuma er-
246 Paulus: Missionar und Denker
ma des Kyrios bewegt und gestaltet das Leben der Glaubenden (vgl. Phil 1,19). Sie werden Teil seines Leibes, die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn ist eine Gemeinschaft im Geist (1Kor 6,17: „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm“). Durch den Empfang des Geistes Gottes (vgl. 1Thess 4,8; 1Kor 2,12; 2Kor 1,22; 11,4; Gal 3,2.14; Röm 5,5; 8,15) befinden sich die Glaubenden und Getauften bereits jetzt umfassend im Bereich der Christus-Communitas und damit im Heil . Weil Christus und die Seinen auf die Seite des Geistes gehören, unterliegen sie nicht dem Machtbereich des Fleisches, der Sünde und des Todes. Dem noch ausstehenden Gericht können sie in dem Bewusstsein entgegengehen, dass die Geistgabe Unterpfand des noch Ausstehenden ist (vgl. 2Kor 1,22; 5,5), Zukunft und Gegenwart verschränken sich somit im rettenden Wirken des Geistes. Für die Anthropologie gilt: Die Glaubenden und Getauften erfahren durch die Gabe des Geistes Gottes bzw. Christi eine neue Bestimmung, denn der Geist schafft und erhält das neue Sein. Als Beginn der Christusgemeinschaft markiert der Empfang des Geistes in der Taufe (vgl. 1Kor 6,11; 10,4; 12,13; 2Kor 1,21f; Gal 4,6; Röm 8,14) den Beginn der Teilhabe am Heilsgeschehen. In der Taufe gelangt der Christ in den Raum des pneumatischen Christus, zugleich wirken der Erhöhte (vgl. Gal 2,20; 4,19; 2Kor 11,10; 13,5; Röm 8,10) und der Geist (vgl. 1Kor 3,16; 6,19; Röm 8,9.11) im Gläubigen. Die Korrespondenz-Aussagen benennen einen für Paulus fundamentalen Sachverhalt236: So wie der Glaubende im Geist Christus eingegliedert ist, so wohnt Christus in ihm als pneu˜ma. Die pneumatische Existenz erscheint als Folge und Wirkung des Taufgeschehens, das wiederum als Heilsgeschehen ein Geschehen in der Kraft des Geistes ist. Damit kennzeichnet Paulus einen grundlegenden anthropologischen Wandel, denn das Leben des Christen hat eine entscheidende Wende genommen: Als vom Geist Bestimmter lebt er in der Sphäre des Geistes und richtet sich auf das Wirken des Geistes aus (vgl. Röm 8,5– 11)237. Es gibt nur ein Leben nach ‚Maßgabe des Fleisches‘ (kata` sa´rka) oder nach ‚Maßgabe des Geistes‘ (kata` pneu˜ma). Der Geist hat auch eine noetische Funktion238, denn allein der Geist Gottes ermöglicht und gewährt die Einsicht in Gottes Heilsplan: „Wir haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der von Gott ist, damit wir das verstehen, was uns von Gott geschenkt wurde“ (1Kor 2,12). Das neue Sein vollzieht sich im Einklang mit dem Geist, der als Grund und Norm des neuen Handelns erscheint (vgl. Gal 5,25; ferner 1Kor 5,7; Röm 6,2.12; Phil schafft Christus die Seinen nach seinem Bilde, und das heißt: er verwandelt sie in seine pneumatische Wesensart.“ 236 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 120–122; S. VOLLENWEIDER, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden (s. o. 6.3), 169–172. 237 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 227 f.
238 Vgl. dazu als pagane Parallele Cic, Tusc 5,70, wo nach einer Aufzählung der Freuden des Weisen gesagt wird: „Wenn man dies in seinem Geist bedenkt und Tag und Nacht überlegt, entsteht jene vom Gott in Delphi geforderte Erkenntnis, dass der Geist sich selbst erkennen und sich mit dem göttlichen Geist verbunden fühlen soll und dadurch von unermesslicher Freude erfüllt wird.“
Pneumatologie 247
2,12f), d. h. auch die Ethik ist pneumatologisch fundiert. Die Christen sind in das vom Geist bestimmte Leben eingegangen, so sollen sie sich nun auch vom Geist leiten lassen. Der Geist ist die Kraft und das Prinzip des neuen Lebens, fassungslos fragt Paulus deshalb die Galater: „Habt ihr den Geist empfangen aufgrund von Werken des Gesetzes oder aus dem Hören der Glaubenspredigt?“ (Gal 3,2). Zugleich ist deutlich: Es gibt keinen neuen Wandel ohne ein neues Handeln! Der sich verschenkende Geist will ergriffen sein. Gerade weil der Geist den Glaubenden und Getauften in die Sphäre Gottes und den Bereich der Gemeinde eingliedert, befindet er sich nicht mehr im Vakuum eines herrschaftsfreien Raumes, sondern steht unter der Forderung des durch den Geist ermöglichten neuen Gehorsams239. Die ‚Neuheit des Lebens‘ (Röm 6,4) vollzieht sich in der ‚Neuheit des Geistes‘ (Röm 7,6). Schließlich verbürgt der Geist als arrabw´n („Angeld/Unterpfand“, vgl. 2Kor 1,22; 5,5) und aparcv´ („Erstlingsgabe“, vgl. Röm 8,23) innerhalb der Eschatologie die Gewissheit auf Gottes endzeitliche Treue. Er gewährt den Übergang in die postmortale pneumatische Existenzweise der Glaubenden (vgl. 1Kor 15, 44.45) und schenkt das ewige Leben (Gal 6,8: „Wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten“). Innerhalb dieses Geschehens tritt der Geist sogar der betenden Kreatur an die Seite und vertritt die Heiligen vor Gott (vgl. Röm 8,26f)240. Schließlich: Nicht nur die individuelle Existenz, sondern die gesamte Schöpfung wird durch Gott in ein neues Sein überführt. Schöpfung und Menschheit haben nicht nur denselben Ursprung, sondern ihr Geschick wird auch in Zukunft miteinander verschränkt sein. Protologie und Eschatologie, Universal- und Individualgeschichte entsprechen sich bei Paulus, weil Gott der Anfang und das Ziel alles Seienden ist (vgl. Röm 8,18ff)241. Von Gott kommt alles her, durch ihn hat alles Bestand und auf ihn läuft alles zu. Der in der Taufe verliehene und im Christen wohnende Geist Gottes erscheint als das Kontinuum göttlicher Lebensmacht . Was Gott an Christus vollzog, wird er durch den Geist auch den Glaubenden zuteil werden lassen (vgl. Röm 8,11).
6.3.2
Die Gaben des Geistes
Der Geist gewährt Gaben und wirkt aktuell in den Gemeinden. Alle Glaubenden und Getauften sind durch die grundlegenden Gaben des Geistes beschenkt. Es gehört zu den Wesensmerkmalen des Geistes, dass er Freiheit gewährt (s. u. 6.5.5) und schafft (2Kor 3,17b: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“). Allein das Lebens-
239 Diesen Aspekt betont durchgängig E. KÄSEMANN
(vgl. z. B. DERS., An die Römer, HNT 8a, Tübingen 4 1980, 26: „Denn der Apostel kennt keine Gabe, die uns nicht fordernd in Verantwortung stellt, sich uns gegenüber also als Macht erweist und uns Raum zum Dienst schafft“).
240 Zur Auslegung vgl. F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 294–297. 241 Vgl. P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 (s. u. 6.4), 319 f.
248 Paulus: Missionar und Denker
prinzip des Geistes befreit die Glaubenden und Getauften von den versklavenden Mächten des Gesetzes, der Sünde und des Todes (Röm 8,2). Als nach dem Geist Gezeugte gehören die Christusgläubigen nicht in den Bereich der Knechtschaft, sondern der Freiheit (vgl. Gal 4,21–31). Das neue Verhältnis zu Gott und Jesus Christus durch die Gabe des Geistes begründet den Status der Sohnschaft (Röm 8,15: „Ihr habt nämlich nicht den Geist der Sklaverei empfangen, so dass ihr euch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, in dem wir rufen: Abba, Vater“). Als Söhne sind die Glaubenden sowohl im Leiden als auch in der Herrlichkeit Miterben (vgl. Röm 8,17; Gal 4,6f). Die Kraft der Liebe bestimmt nun das Leben der Christen, „denn die Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5b). Zu den Früchten des Geistes zählt zuallererst die Liebe (vgl. Gal 5,22); sie geht von Gott aus, gewinnt in Christus Gestalt und schenkt den Menschen Hoffnung (vgl. Röm 5,5a). Die Liebe ist der Grund der Hoffnung, weil Jesu Christi Geschick die Verkörperung der Liebe ist. Die Teilhabe an diesem Geschick macht die Christen gewiss, dass Gottes Lebensmacht über den Tod hinaus an ihnen wirksam bleibt, und lässt sie auf den Gott hoffen, „der die Toten auferweckt“ (2Kor 1,9). Ohne die Liebe sind alle Lebensäußerungen des Menschen nichtig, denn sie bleiben hinter der neuen Wirklichkeit Gottes zurück242. Die Liebe ist das Gegenteil von Individualismus und Egoismus, sie sucht nicht das Ihre, sondern offenbart ihr Wesen gerade im Ertragen des Bösen und im Tun des Guten. Nicht zufällig steht 1Kor 13 zwischen den von der Gefahr des Missbrauches der Charismen geprägten Kap. 12 und 14243. Paulus verdeutlicht, dass selbst die außergewöhnlichsten Charismen nichts nützen, wenn sie nicht von der Liebe durchströmt werden. Wenn die Charismen einmal vergehen und die Erkenntnis aufhört, bleibt die Liebe, die den Glauben und die Hoffnung überragt, weil sie der vollkommenste Ausdruck des Wesens Gottes ist. Die Liebe als erste und größte Gabe des Geistes bildet auch das Kriterium für die aktuellen Wirkungen des Geistes244. Weil Jesus Christus die Verkörperung der Liebe Gottes ist245, bindet Paulus die Frage nach der Geltung der Geistwirkungen an ein sachgemäßes Verstehen des Christus (vgl. 1Kor 12,1–3)246. Indem die Gemeinde sich 242 Treffend H. WEDER, Die Energie des Evangeliums,
ZThK (Beiheft 9), Tübingen 1995, 95, wonach die Liebe eine Wirklichkeit hat, „die nicht durch die Liebenden geschaffen wird, sondern die umgekehrt die Liebenden trägt.“ 243 Zur Stellung des Kapitels im Kontext und zur Analyse vgl. O. WISCHMEYER, Der höchste Weg, StNT 13, Gütersloh 1981; TH. SÖDING, Liebesgebot (s. u. 6.6), 127–146; F. VOSS, Das Wort vom Kreuz (s. o. 6.2), 239–271. 244 Zur Argumentation in 1Kor 12–14 vgl. ausführlich U. BROCKHAUS, Charisma und Amt (s. u. 6.7),
156–192; O. WISCHMEYER, Der höchste Weg, 27–38; CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 282–348; W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/3, Neukirchen 1999, 108ff; A. LINDEMANN, Der Erste Korintherbrief, HNT 9/1, Tübingen 2000, 261–316. 245 Vgl. G. BORNKAMM, Der köstlichere Weg, in: ders., Das Ende des Gesetzes, BEvTh 16, München 1963, 110: „die aga´pv verhält sich zu der Mannigfaltigkeit der carı´smata wie der Christus zu den vielen Gliedern seines Leibes“. 246 Zu 1Kor 12,1–3 vgl. M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein (s. u. 6.6), 211–215.
Pneumatologie 249
im Gottesdienst durch die Akklamation Ku´rioß LIvsou˜ß zum Gekreuzigten und Auferstandenen bekennt, orientiert sie sich am Weg der Liebe des Jesus von Nazareth. Paulus ruft speziell den Korinthern diesen fundamentalen Sachverhalt in Erinnerung, wenn er auf den Ursprung des Geistes in und bei Gott verweist. Gott ist der letzte Urheber aller Wirkungen und der Geber aller Geistesgaben in ihren verschiedenen Wirkungen (vgl. 1Kor 12,6b: „Es ist ein und derselbe Gott, der alles in allem wirkt“; vgl. 1Kor 1,4; 7,7; 12,28–30), so dass eine anthropologische Vereinnahmung des Geistes dessen Wirkungen nicht potenziert, sondern zum Verstummen bringt. Die Einsicht in die Einheit und Unteilbarkeit des Geistes führt zu einem Handeln, das sich im Einklang mit dem schöpferischen Wirken des Geistes weiß. Den Geschenkcharakter und die Unverfügbarkeit des Geistwirkens betont Paulus auch mit dem synonymen Gebrauch von pneumatika´ und carı´smata in 1Kor 12,1 und 12,4; der Geist ist die Macht der Gnade, und das ca´risma erwächst aus der ca´riß (vgl. Röm 12,6). Die unauflösliche Bindung des Geistwirkens an die Liebe unterstreicht Paulus durch die Bestimmung der Gemeinde als sw˜ma Cristou˜ („Leib Christi“). Der Leib als von Christus geschaffener Daseinsraum verpflichtet die einzelnen Leiber zu einem Sein und Handeln, das allein der Liebe verpflichtet ist (s. u. 6.7.1/6.7.2)247. Deshalb müssen sich die Vielfalt der Wirkungen und die Einheit der Gemeinde entsprechen, denn beide haben den gleichen Ursprung: Gottes Liebe durch den Sohn in der Kraft des Geistes . Der Geist vollbringt, was der Gemeinde nützt und zu ihrem Aufbau führt, so dass nicht die individuelle Selbstdarstellung des Einzelnen, sondern nur der „Aufbau“ (oikodomv´) der gesamten Gemeinde dem Wirken des Geistes entspricht (vgl. 1Kor 14,3.5.26). Alle Charismen müssen sich an dem Grundsatz messen lassen: pa´nta pro`ß oikodomv`n gine´shw (1Kor 14,26: „Alles geschehe zum Aufbau“).
6.3.3
Vater, Sohn und Geist
Paulus vertritt keine in ontologischen Kategorien denkende und am Personbegriff fixierte Trinitätslehre 248. Allerdings finden sich Wendungen und Vorstellungen, die ansatzweise das Verhältnis von Vater, Sohn und Geist bestimmen. Ausgangspunkt ist ein theozentrischer Grundzug in der paulinischen Theologie: Von Gott kommt alles her und auf ihn läuft alles zu. Auch Christus und der Geist werden von Paulus klar unterschieden und abgestuft. Nur von Christus wird gesagt, dass er der Sohn Gottes ist (vgl. Gal 4,4; Röm 1,3) und für unsere Sünden starb, um das Heil zu erwerben (vgl. 1Kor 15,3ff; 2Kor 5,15; Röm 5,8)249. Auf der Grundlage dieser Vorordnung von
247 Vgl. M. PFEIFFER, a. a. O., 221 ff. 248 Vgl. dazu G. D. FEE, God‘s Empowering Presence
(s. o. 6.3), 829–842, zurückhaltender in der Analyse der triadischen Wendung 2Kor 13,13 (vgl. Gal 6,18;
Phil 2,1; Phlm 25) ist F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o. 6.3), 415–417. 249 Treffend H. SCHLIER, Der Brief an die Galater, KEK VII, Göttingen 51971, 249: „Das Pneuma ist freilich
250 Paulus: Missionar und Denker
Theo logie und Christologie lässt sich die interne Vernetzung mit der Pneumatologie beschreiben: Der Geist bezeugt und repräsentiert das von Gott gewollte und im Christusgeschehen erwirkte Heil (Röm 8,9); er benennt, vergegenwärtigt und bestimmt machtvoll das neue Sein. Der Geist kommt von Gott her und ist in seinem Wirken auf Jesus Christus bezogen. Er führt als Kraft Gottes zum Glauben an Jesus Christus (vgl. 1Kor 2,4f), ermöglicht das Bekenntnis zum Kyrios (vgl. 1Kor 12,3) und vollzieht die Heiligung (vgl. 1Kor 6,11; Röm 15,16). Der Geist bezeugt den neuen Status der Sohnschaft (vgl. Gal 4,4ff), gießt die Liebe Gottes in die Herzen der Glaubenden (vgl. Röm 5,5) und bewirkt schließlich die Verwandlung zur endzeitlichen Doxa (vgl. 1Kor 15,44f; Röm 8,18ff). Die grundlegende Bezogenheit auf Gott und Jesus Christus schließt allerdings bei Paulus eine Eigenständigkeit des Geistes nicht aus. Mit den Kategorien der Unterordnung, Zuordnung oder Identität lässt sich die Beziehung zu Gott und Jesus Christus nicht hinreichend beschreiben, denn der Geist hat auch eine eigene personale Wirklichkeit (1Kor 12,11: „Dies alles wirkt aber der eine selbe Geist und teilt jedem das Seine zu, wie er will“). Der Geist erscheint bei Paulus nicht als eigenständige Person, wohl aber wird er personal gedacht. Der Geist führt zum Vater, denn er lehrt die Glaubenden, Abba zu sagen (vgl. Röm 8,15); er vertritt die Heiligen vor Gott (vgl. Röm 8,16.27)250 und erforscht sogar die Tiefen Gottes (vgl. 1Kor 2,10). Obwohl der Geist einzig als Potenz Gottes wirkt und in seinem Handeln auf Gott und den Kyrios ausgerichtet ist, kommt ihm eine personale Dimension zu. Im Hinblick auf die Glaubenden eröffnet der Geist Dimensionen, die die Vernunft nicht zu geben vermag und bewirkt insofern auch eine Selbstaufkärung und Veredelung der Vernunft. Die interne Vernetzung von Theo logie, Christologie und Pneumatologie bildet das Kraftfeld des paulinischen Denkens und lässt sich so beschreiben: Das Pneuma ist Gott und Christus zugeordnet, indem Christus durch Gottes Geist zu einem Leben spendenden Pneuma wird . Das Pneuma kommt aus Gott und verbindet die Glaubenden und Getauften durch Christus mit Gott. Somit verknüpft der Gedanke der rettenden göttlichen Lebensmacht die drei grundlegenden Bereiche des paulinischen Denkens.
6.4
Soteriologie
(Vgl. auch die Literatur zu 4/6/6.2/6.3)
G. THEISSEN, Soteriologische Symbolik in den paulinischen Schriften, KuD 20 (1974), 282–304; P. V. D. OSTEN-SACKEN, Römer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie, FRLANT 112, Göttingen 1975; G. HAUBECK, Loskauf durch Christus, Gießen 1985; D. ZELLER, Charis bei Philon und Paulus, nicht eine mit dem Dasein selbst gegebene, sondern die mit Christus über das Dasein gekommene Macht Christi selbst, ist Christus in der Macht seiner uns angehenden Gegenwart.“
250 Vgl. dazu F. W. HORN, Angeld des Geistes (s. o.
6.3), 418–422.
Soteriologie 251
SBS 142, Stuttgart 1990; J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner. Paulus als Mittler im Heilsvorgang, TANZ 10, Tübingen 1993; U. SCHNELLE, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001), 58–75; D.G. POWERS, Salvation through Participation, Leiden 2001; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace in it’s Graeco-Roman Context, WUNT 2.172, Tübingen 2003; CHR. SCHLUEP, Der Ort des Glaubens. Soteriologische Metaphern bei Paulus als Lebensregeln, Zürich 2005; J.G. VAN DER WATT (Hg.), Salvation in the New Testament. Perspectives on Soteriology, NT.S 121, Leiden 2005.
Gottes rettendes und erlösendes Handeln in Jesus Christus ist der Ausgangspunkt des paulinischen Denkens (s. o. 6.1/6.2/6.3), so dass es durchgängig soteriologisch ausgerichtet ist. In der Teilhabe an Gottes rettendem/erlösenden Handeln erfolgt die Rettung/Erlösung der Glaubenden. Die Rettung erfolgt ‚auf Hoffnung hin‘ (Röm 8,24) und gründet im pro nobis der Liebe Gottes zu den Menschen (Röm 8,31–39). Die noch ausstehende Vollendung des Heils schmälerte aber in keiner Weise die Überzeugung, dass der Transfer in das neue Sein bereits wirkungsmächtig begonnen hat, denn das bereits Geschehene und nicht das Ausstehende ist der entscheidende Inhalt des paulinischen Evangeliums. Paulus geht es um das Jetzt des Heils, denn: „Siehe, jetzt (nu˜n) ist die angehme Zeit, jetzt (nu˜n) ist der Tag der Rettung“ (2Kor 6,2b). Eine neue Zeit ist angebrochen, Paulus beschreibt und interpretiert diese Realität wiederum mit verschiedenen Metaphern: Die Gegenwart ist die Zeit der Gnade und der Rettung, die Teilhabe an Christus verändert Sein und Zeit.
6.4.1
Das neue Sein ,mit Christus‘ / ,in Christus‘
So wie Jesus Christus durch Auferstehung und Wiederkunft den Ausgangs- und Endpunkt des Heilsgeschehens markiert, bestimmt er auch umfassend das Leben der Glaubenden in der dazwischen liegenden Zeit. Der Gedanke der Teilhabe am Heil verbindet sich bei Paulus zuallererst mit den Vorstellungen des su`n Cristw˜ - („mit Christus“) und en Cristw˜ eınai („in Christus sein“). Mit Christus
Die Wendung su`n Cristw˜ bzw. die su´n-Komposita251 beschreiben vornehmlich den Eintritt in das Heil und den Übergang in die endgültige Christusgemeinschaft. In Röm 6 zeigt sich der partizipative Grundzug der paulinischen Theologie semantisch in der ungewöhnlichen Häufung von su´n (Röm 6,8) bzw. Komposita mit su´n (Röm 6,4.5.6.8). Der Wandel zu einem neuen Leben in der Kraft des Geistes hat bereits begonnen, nicht nur als veränderte Weltwahrnehmung, sondern im realen Sinn, denn 251 Vgl. hierzu P. SIBER, Mit Christus leben. Eine Stu-
die zur paulinischen Auferstehungshoffnung (s.u. 6.8).
252 Paulus: Missionar und Denker
in der Taufe wird der Glaubende in das somatische Geschick Jesu Christi miteinbezogen. In der Taufe sind gleichermaßen Jesu Tod und die Kräfte seiner Auferstehung präsent, so dass der Taufvollzug als ein sakramentales Nacherleben des gegenwärtigen Todes Jesu und ein Einbezogenwerden in die Auferstehungswirklichkeit verstanden werden muss. Die Kräfte der Auferstehung wirken auch im Herrenmahl, warnt Paulus die Korinther: „Wer isst und trinkt, zieht sich selbst durch sein Essen und Trinken das Strafurteil zu, wenn er nicht den Leib (des Herrn) unterscheidet. Deshalb gibt es unter euch so viele Schwache und Kranke, und viele sind schon entschlafen“ (1Kor 11,29.30). Die im Sakrament gegenwärtigen Kräfte können bei unwürdigem Verhalten das Gericht Gottes vollziehen. Die Auferstehungswirklichkeit durchdringt die gesamte Existenz der Glaubenden und bestimmt ihr neues Sein in Gegenwart und Zukunft. Jesus Christus ist für die Berufenen gestorben, damit sie mit ihm leben (1Thess 4,17: su`n kurı´w eso´meha; 5,10: su`n autw˜ zv´swmen). Gott wird an den Gliedern der Endzeitgemeinde ebenso handeln wie an Jesus Christus (vgl. 2Kor 4,14). Paulus sieht die Christen im Status der Sohnschaft (vgl. Gal 3,26; 4,6f; Röm 8,16), sie haben Christus angezogen (Gal 3,27; Röm 13,14), so dass Christus in ihnen Gestalt gewinnt (Gal 4,19). Als Erben der Verheißung (vgl. klvronomı´a in Gal 3,18; klvrono´moß in Gal 3,29; 4,1.7; Röm 4,13.14; ferner 1Kor 6,9.10; 15,50) haben sie bereits jetzt Teil an Gottes Heilswirken, sie befinden sich im Status der Kindschaft und der Freiheit (Gal 5,21). Die Glaubenden sind sowohl im Leiden als auch in der Herrlichkeit Miterben Christi (Röm 8,17: sugklvrono´moi Cristou˜), dazu bestimmt, dem Bild des Sohnes Gottes gleichgestaltet zu werden (Röm 8,29). Bis in die körperlichen Leiden hinein durchdringt die Auferstehungswirklichkeit die Existenz der Christen (vgl. 2Kor 4,10f; 6,9f). Am Ende seines Lebens sehnt sich Paulus nach der ungebrochenen und immerwährenden Gemeinschaft mit Christus (Phil 1,23: su`n Cristw˜ eınai). Er will gleichermaßen teilhaben an der Kraft der Auferstehung und den Leiden Christi, „um gleichgestaltet zu werden seinem Tod, damit ich zur Auferstehung von den Toten gelange“ (Phil 3,10f). Jesus Christus wird den gegenwärtigen nichtigen Leib dem Leib seiner Herrlichkeit gleichgestalten, denn er hat die Kraft (ene´rgeia) „dass er sich auch das All unterwerfen kann“ (Phil 3,21). Bereits jetzt sind die Christen in ein Kraftfeld eingespannt, das sie wirkungsmächtig über den Tod hinaus bestimmt. In Christus
Den Raum des neuen Lebens zwischen Heilsbeginn und Heilsvollendung bezeichnet Paulus mit eınai en Cristw˜ („in Christus sein“). Diese Wendung ist weitaus mehr als eine ‚Formel‘, sie hat als das Kontinuum seiner Theologie zu gelten252. Schon der äu252 Zu en Cristw ˜ vgl. A. DEISSMANN, Die neutesta-
mentliche Formel ‚in Christo Jesu‘, Marburg 1892; F. BÜCHSEL, ‚In Christus‘ bei Paulus, ZNW 42 (1949),
141–158; F. NEUGEBAUER, In Christus, Göttingen 1961; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 106–123.225–235; M. A. SEIFRID, Art.
Soteriologie 253
ßere Befund ist signifikant: In allen Paulusbriefen ist en Cristw˜ LIvsou˜ mit Nebenformen 64mal und die davon abgeleitete Wendung en kurı´w 37mal belegt253. Paulus ist nicht der Schöpfer der Wendung en Cristw˜ , wie die vorpaulinischen Tauftraditionen 1Kor 1,30; 2Kor 5,17 und Gal 3,26–28 zeigen254. Zugleich kann er aber als der eigentliche Träger dieser Vorstellung gelten, die bei ihm nicht nur zur prägnanten Kurzdefinition des Christseins wird, sondern als „ekklesiologische Wesensaussage“255 verstanden werden muss. In seiner Grundbedeutung ist en Cristw˜ lokal-seinshaft zu verstehen256: Durch die Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus und konstituiert sich die neue Existenz in der Verleihung des Geistes als Angeld auf die in der Gegenwart real beginnende und in der Zukunft sich vollendende Erlösung. Der Mensch wird aus seiner Selbstlokalisierung herausgerissen und und findet sein Selbst in der Christus-Beziehung. Das lokal-seinshafte Grundverständnis von en Cristw˜ dominiert in 1Thess 4,16; 1Kor 1,30; 15,18.22; 2Kor 5,17; Gal 2,17; 3,26–28; 5,6; Röm 3,24; 6,11.23; 8,1; 12,5. Die Vielfalt und die Vielschichtigkeit der en Cristw˜ -Aussagen sowie das Nebeneinander verschiedener Bedeutungsinhalte lassen sich aus dieser räumlichen Grundvorstellung ableiten257. Mit en Cristw˜ verbinden sich bei Paulus vertikale und horizontale Bereiche258: Aus der Gemeinschaft mit Christus (vgl. Gal 3,27) erwächst die neue communitas der Glaubenden und Getauften, die nun grundlegenden geschlechtlichen, rassischen und nationalen Alternativen enthoben sind (vgl. Gal 3,28; 1Kor 12,13). Somit erscheint en Cristw˜ als der Raum, in dem sich seinshafte Veränderungen vollziehen und gelebt werden. Die Getauften sind in allen Lebensäußerungen durch Christus bestimmt, und in ihrer Gemeinschaft gewinnt das neue Sein sichtbar Gestalt. Die Welt wird nicht nur für verändert erklärt, sondern sie hat sich wirklich verändert, weil die Auferstehungskräfte durch die Gabe des Geistes bereits in der Gegenwart wirken.
In Christ, in: Dictionary of Paul and his Letters, hg. v. G.F. Hawthorne/R.P. Martin, 433–436; J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament (s. u. 6.7), 86–99; L. KLEHN, Die Verwendung von en Cristw˜ bei Paulus, BN 74 (1994), 66–79; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, 125–132; J. GNILKA, Paulus (s. o. 6), 255–260; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 189–211. 253 Vgl. L. KLEHN, Verwendung, 68. 254 Vgl. ferner 2Kor 5,21b; Gal 2,17; 5,6; Röm 6,11; 3,24; 6,23; 8,1; 12,5. 255 H. HÜBNER, Die paulinische Rechtfertigungstheologie als ökumenisch-hermeneutisches Problem, in: Th. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (s. o. 6.2), (76–105) 91.
256 Vgl. U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 109–117; M.A. SEIFRID, Art. In Christ, 433f; H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 220f; CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 191 f. 257 Vgl. A. OEPKE, Art. en, ThWNT II, Stuttgart 1935, 538: „Aus dieser lokalen Grundvorstellung läßt sich die gesamte Prägnanz der Formel en Cristw˜ LIvsou˜ und ihrer Parallelformen ableiten“; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 117– 122; L. KLEHN, Verwendung, 77. 258 CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus (s. o. 6), 193ff, spricht von einer vertikalen und horizontalen Christuscommunitas.
254 Paulus: Missionar und Denker
6.4.2
Gnade und Rettung
Die Transformation des Sohnes und die Partizipation der Glaubenden an diesem Heilsgeschehen verändern die Wahrnehmung und das Verständnis der Zeit. Die Zeit unterliegt ebenfalls einem Transformationsprozess, denn „das Ende der Äonen ist gekommen“ (1Kor 10,11c). Eindrucksvoll markiert das paulinische nuni` de´ die eschatologische Wende der Zeiten259: „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt als Erster der Entschlafenen“ (1Kor 15,20; vgl. 2Kor 6,2; 13,13; Röm 3,21; 6,22; 7,6). Die Glaubenden und Getauften sind jetzt/nun (nu˜n) Gerechtfertigte durch Jesu Christi Blut (Röm 5,9) und haben jetzt/nun (nu˜n) die Versöhnung empfangen (Röm 5,11). Paulus ist sich gewiss, „dass uns die Rettung jetzt näher ist als damals, als wir zum Glauben kamen“ (Röm 13,11b). Die Gegenwart und die Zukunft sind die Zeit der Gnade (ca´riß) und der Rettung (swtvrı´a). Gnade
Paulus gebraucht ca´riß durchgehend im Singular; schon dieser Sprachgebrauch signalisiert den Grundgedanken der paulinischen Gnadenlehre: Die Charis geht von Gott aus, verdichtet sich im Christusgeschehen und gilt den Glaubenden und Getauften . Weil Jesus Christus die Gnade Gottes personifiziert, kann Paulus die ca´riß Gottes und die ca´riß Christi parallelisieren (Röm 5,15), und Christus erscheint als Urheber der Gnade des Apostels und der Gemeinden (vgl. 2Kor 8,9; 12,9; Gal 1,16). Die Christen stehen bereits im Stand der Gnade (vgl. 1Kor 1,4; Röm 5,21), denn durch das Christusgeschehen wurde die Verstrickung der Menschen in eine vorgängige Unheilsgeschichte aufgehoben (vgl. Röm 5,15), die Gnade triumphiert über die Mächte des Todes und der Sünde260. Es gilt nun: „Wie die Sünde durch den Tod herrschte, so herrscht auch die Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). All dies geschieht „um euretwillen, damit die Gnade durch möglichst viele Glaubende ihre größte Fülle erhält“ (2Kor 4,14f). Den Glaubenden und Getauften wurde der Geist geschenkt (vgl. 1Kor 2,12 Aor. Ptz. Pass. carishe´nta), so dass sie nun durch Gottes Gnade die neue Zeit erkennen. Im geschenkten Glauben (vgl. Röm 4,16; Phil 1,29) haben sie Anteil an Gottes Heilswirken. Die Versöhung Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus realisiert sich in den Gaben der Gerechtigkeit und der Gnade (vgl. 2Kor 5,18–6,2; Röm 5,1–11). Die Kollekte für Jerusalem wird von Paulus als Ausdruck der Gnade Gottes, als ein Gnadenwerk verstanden, weil sie Ausdruck des Heilswillens Gottes ist (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,1.4.6.7.19; 9,8.14.15). Vorbild für diese ca´riß ist die Gnade Christi, denn er bewirkte durch seine
259 Vgl. U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 168 f. 260 Zum paulinischen Verständnis von ca´riß vgl.
R. BULTMANN, Theologie, 281–285.287–291; H. CONZELArt. ca´riß, ThWNT 9, Stuttgart 1973, 383–387;
MANN,
D. ZELLER, Charis (s. o. 6.4), 138–196; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 319–323; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 211 ff.
Soteriologie 255
Armut den Reichtum der Gemeinde (2Kor 8,9). Besonders die Ausführungen über die Kollekte in 2Kor 8/9 und Röm 15,25–28 zeigen, dass Paulus innerhalb seiner Gnadenlehre auch auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Prinzips der Gegenseitigkeit argumentiert261: Reziprozität kann als ein Grundprinzip der hellenistischen Gesellschaft gelten, wonach die Wohltaten von Patronen (z. B. die römischen Kaiser) und der Dank/Gehorsam der Empfänger selbstverständlich zusammengehören. Der Austausch von Gütern und Leistungen zwischen Menschen von unterschiedlichem Rang und damit verbunden ein Netzwerk von Patronen und Klienten durchzieht das öffentliche und private Leben. Paulus bezeichnet die Kollekte ausdrücklich als ca´riß (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,4.7.19) und sagt über Makedonien und Achaia: „Es war ihr eigener Entschluss; zugleich stehen sie in deren Schuld. Denn wenn die Völker an deren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, dann sind sie auch verpflichtet, ihnen in materieller Hinsicht einen Dienst zu erweisen“ (Röm 15,27). Zugleich heißt es aber in Röm 3,24: „Umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade aufgrund der Erlösung in Christus Jesus.“ Das Prinzip der gegenseitigen Wohltaten und Verpflichtungen der hellenistischen Gesellschaft wird hier von Paulus mit dem dwrea´n („umsonst“) durchbrochen. Gottes Gnadenhandeln ist voraussetzungslos, aber nicht absichtslos; es orientiert sich nicht an Status-Schemata, sondern ist universal und nicht an gesellschaftliche oder kultische Vollzüge gebunden262. Auch der Aufenthalt des Apostels im Gefängnis kann als ca´riß bezeichnet werden, weil er die Evangeliumsverkündigung fördert (vgl. Phil 1,7). Die Gnade Gottes wird so zum eigentlichen Träger der Arbeit des Apostels (vgl. 2Kor 1,12) und der Gemeinden, denn auch die „Gnadengaben“ (carı´smata) verdanken sich der einen Gnade (Röm 12,6). Wenn Paulus zu Beginn und am Schluss seiner Briefe den Gnadenstand seiner Gemeinden betont (vgl. 1Thess 1,1; 5,28; 1Kor 1,3; 16,23; 2Kor 1,2; 13,13; Gal 1,3; 6,18; Röm 1,5; 16,20; Phil 1,2; 4,23; Phlm 1.3.25), dann folgt er damit nicht nur liturgischer Konvention, sondern benennt eine Realität: Sowohl der Apostel (vgl. 1Kor 3,10; Gal 1,15; 2,9; Röm 1,5; 12,3; 15,15) als auch die Gemeinde verdanken sich in Existenz und Fortbestand allein der Gnade Gottes. Paulus kontrastiert seine frühere Existenz mit der Berufung zum Apostel: „Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und seine mir zuteil gewordene Gnade war nicht umsonst; sondern weit mehr als alle habe ich mich bemüht; vielmehr nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir“ (1Kor 15,10). Auch in schwierigen Situationen trägt die Gnade, sie erweist ihre Stärke gerade im Durchstehen von Anfechtungen (vgl. 2Kor 12,9). Nicht die
261 Vgl. J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 294–332. 262 Ein vergleichbarer universaler Ansatz findet sich aus philosophischer Perspektive bei Epict, Diss IV 1,102–110 (103f: „Und da willst du, der du alles und
dich selbst von einem anderen empfangen hast, auf ihn, den Geber, böse sein und Beschwerde gegen ihn führen, wenn er dir etwas wieder wegnimmt? Wer bist du und wozu bist du in die Welt gekommen? Hat nicht er dich das Licht sehen lassen?“
256 Paulus: Missionar und Denker
Gunsterweise des Kaisers263 gewähren und verändern das Leben der Menschen, sondern allein die gnadenhafte Zuwendung Gottes in Jesus Christus. Gnade ist kein Gefühl, Affekt oder eine Eigenschaft Gottes, sondern unerwartete, freie und machtvolle Tat. Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes, „denn Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8)264. Paulus hofft inständig, auch Israel werde noch einmal an der Gnade Gottes teilhaben (vgl. Röm 11,1ff). Im Gal und Röm verbindet Paulus ca´riß-Aussagen mit der von der Nomologie bestimmten exklusiven Rechtfertigungslehre. Er wundert sich, wie schnell sich die Galater von der Gnade abwandten (Gal 1,6) und: „Ihr seid von Christus abgefallen, die ihr euch durch das Gesetz rechtfertigen lassen wollt, ihr seid aus der Gnade herausgefallen“ (Gal 5,4). Die überströmende Gnade erscheint als Macht, durch die eine unausweichliche Verurteilung des Menschen abgewendet wird (Röm 5,16). Die Christen sind der Sünde und dem Tod entronnen und befinden sich im objektiven Heilsstand der Gnade. Weil nicht das Gesetz, sondern allein das Christusgeschehen rettet, kann der Apostel den neuen Status der Christen in Röm 6,14 so bestimmen: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“ Allerdings lässt Röm 6 deutlich erkennen, dass auch die antinomistische Zuspitzung des paulinischen Gnadenbegriffes auf der Grundkonzeption der Teilhabe der Glaubenden an der Gnade Gottes im Taufgeschehen beruht (Röm 6,1: „Wollen wir in der Sünde verharren, damit die Gnade sich mehre?“). Paulus weist diese Logik seiner Gegner emphatisch ab und verweist auf das rettende Grunddatum christlicher Existenz: die Taufe. Die Grundkonzeption paulinischer Soteriologie ist nicht an einen negativen Gesetzesbegriff oder eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption gebunden265, sondern ergibt sich positiv aus der Logik von Transformation und Partizipation: Durch den Statuswechsel des Sohnes befinden sich auch die Glaubenden und Getauften in einem neuen Status: der Gnade266. Paulus signalisiert mit seinem extensiven Gebrauch von ca´riß (63mal bei Paulus, 155mal im NT), dass er die neue Zeit als Gnaden-Zeit versteht.
263 Vgl. die Auflistung des Materials bei P. G. WETTER,
Charis, UNT 5, Leipzig 1913, 6–19; H. CONZELMANN, Art. ca´riß, 365f; D. ZELLER, Charis (s. o. 6.4), 14–32; J. R. HARRRISON, Paul’s Language of Grace (s. o. 6.4), 61 f.87–90.226 ff. Klassisch ist Neros Freiheitserklärung an die Griechen in Korinth 67 n.Chr. (vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 249f). 264 Zur inneren Verbindung von Liebes- und Gnadenvorstellung vgl. R. BULTMANN, Theologie, 291 f. 265 Anders z. B. R. BULTMANN, Theologie, 284, er setzt ca´riß und dikaiosu´nv (heou˜) faktisch gleich: „Die di-
kaiosu´nv hat also ihren Ursprung in Gottes ca´riß“. Ähnlich argumentieren H. CONZELMANN, Theologie, 236f; J. D. G. DUNN, Paul the Apostle (s. o. 6), 319– 323, die in der exklusiven Rechtfertigungslehre des Röm die Ausarbeitung der paulinischen Gnadenlehre sehen. 266 Vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. o. 6.4), 235: “The exegesis of the various passages in early Christian literature in this study has demonstrated that Paul’s essential conception of salvation is that of participationism.“
Soteriologie 257
Rettung
Mit swtvrı´a („Rettung“) greift Paulus eine zweite zentrale Metapher antiker Religiosität auf, um die neue Zeit zu interpretieren. Das Begriffsfeld swtv´r/swtvrı´a/sw´ zein weist in ntl. Zeit eine politisch-religiöse Konnotation auf: Der römische Kaiser ist der Retter der Welt, er garantiert nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern gewährt seinen Bürgern Wohlstand, Heil und Sinn267. Bei konkurrierenden religiösen Sinnentwürfen wie den Mysterienreligionen stand die Vorstellung der Rettung ebenfalls im Zentrum268. Angesichts des blind wütenden Schicksals und der Unausweichlichkeit des Leidens und des Todes hoffen die Mysten, am dramatischen Schicksal einer Gottheit zu partizipieren, die den Tod als Durchgang zu neuem Leben erfährt. Der Myste wird nach Vollzug der Riten des Kultes zu einem neuen, glücklichen und erfolgreichen Leben ‚wiedergeboren‘ (vgl. Apul, Met XI 16,2–4; 21,7), das bereits in der Gegenwart einsetzt. Die gesamte antike Philosophie um die Zeitenwende herum (Cicero, Seneca, Epiktet, Plutarch) hat das gelingende Leben als Bewältigung des Schicksals und der Affekte zum Thema. Es geht um die Möglichkeiten und Mittel zur Aufhellung des Seins und um Formen der Selbstsorge, die auf eine Realisierung des Selbst zielen. Auf diesem vielschichtigen Hintergrund muss die frühchristliche Botschaft von der Rettung der Glaubenden in Jesus Christus gelesen werden. Paulus überbietet alle konkurrierenden Verheißungen, denn das von ihm verkündigte Evangelium umfasst alle Seins- und Zeitbereiche und rettet vor dem berechtigten Zorn Gottes (vgl. Röm 1,16ff). Wer sich dieser Botschaft anvertraut, verliert die Angst vor den unberechenbaren Mächten der Zukunft. Gott hat die Christen nicht zum Zorn, sondern zur Rettung bestimmt (1Thess 5,9; Röm 5,9). Die Torheit der Kreuzespredigt rettet, denn am Kreuz verwandelte Gott die Weisheit der Welt zur Torheit (1Kor 1,18.21). Paulus verkündigt das Evangelium auf vielfältige Weise, um so zumindest einige zu retten (vgl. 1Kor 9,22; 10,33). Er bittet für die Rettung Israels (vgl. Röm 10,1; 11,14) und gelangt schließlich zu der prophetischen Einsicht, bei der Wiederkunft des Herrn werde ‚ganz Israel‘ gerettet (Röm 11,26). Das rettende Evangelium ist eine Macht Gottes (Röm 1,16) und jeder, der es mit dem Mund (öffentlich) bekennt, wird gerettet (Röm 10,9.13). Wie sehr Paulus die swtvrı´a als ein reales, dingliches Geschehen auffasst, zeigen 1Kor 3,15; 5,5; 7,16: Das Selbst der Getauften wird im Gerichtfeuer gerettet werden, auch wenn ihr Werk oder ihr Körper zugrunde gehen; die Heiligung des ungläubigen Partners schließt seine mögliche Rettung mit ein. Weil die Auferstehungskräfte in der Gegenwart und Zukunft wirken, ist Rettung weitaus mehr als ein neuer Bewusstseinsstand derer, die sich für gerettet halten; swtvrı´a ist ein Sein und Zeit veränderndes reales und zugleich universales Geschehen.
267 Vgl. dazu die Abschnitte 10.4.1/10.4.2/12.2.4 268 Vgl. TH. SÖDING, Das Geheimnis Gottes im Kreuz
Jesu, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 6), (71–92) 79 f.
258 Paulus: Missionar und Denker
6.5
Anthropologie
H. LÜDEMANN, Die Anthropologie des Paulus und ihre Stellung innerhalb der Heilslehre, Kiel 1872; R. BULTMANN, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 198–209; W. GUTBROD, Die paulinische Anthropologie, BWANT IV/15, Stuttgart 1934; W. G. KÜMMEL, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien, TB 53, München 1974 (= 1929/48); E. KÄSEMANN, Zur paulinischen Anthropologie, in: ders., Paulinische Perspektiven (s.o. 6), 9–60; R. SCROGGS, The last Adam. A Study in Pauline Anthropology, Oxford 1966; A. SAND, Der Begriff Fleisch in den paulinischen Hauptbriefen, Regensburg 1966; E. BRANDENBURGER, Fleisch und Geist, WMANT 29, Neukirchen 1968; R. JEWETT, Paul’s Anthropological Terms, AGJU 10, Leiden 1971; K.-A. BAUER, Leiblichkeit – das Ende aller Werke Gottes, StNT 4, Gütersloh 1971; U. WILCKENS, Christologie und Anthropologie im Zusamenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre, ZNW 67 (1976), 65–82; D. LÜHRMANN, Glaube im frühen Christentum, Gütersloh 1976; W. SCHMITHALS, Die theologische Anthropologie des Paulus, Stuttgart 1980; G. BARTH, Pistis in hellenistischer Religiosität, in: ders., Neutestamentliche Versuche und Beobachtungen, Waltrop 1996, 169–194; H.-J. ECKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei Paulus, WUNT 2.10, Tübingen 1983; G. THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, FRLANT 131, Göttingen 1983; A. V. DOBBELER, Glaube als Teilhabe, WUNT 2.22, Tübingen 1987; G. RÖHSER, Metaphorik und Personifikation der Sünde, WUNT 2.25, Tübingen 1987; S. JONES, „Freiheit“ in den Briefen des Apostels Paulus, GTA 34, Göttingen 1987; S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung, FRLANT 147, Göttingen 1989; U. MELL, Neue Schöpfung, BZNW 56, Berlin 1989; U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes, BThSt 18, Neukirchen 1991; T. LAATO, Paulus und das Judentum. Anthropologische Erwägungen, bo 1991; D. E. AUNE, Zwei Modelle der menschlichen Natur bei Paulus, ThQ 176 (1996), 28–39; J. FREY, Die paulinische Antithese von „Fleisch“ und „Geist“ und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45–77; M. GIELEN, Grundzüge paulinischer Anthropologie im Lichte des eschatologischen Heilsgeschehens in Jesus Christus, JBTh 15 (2000), 117–148; J. BEUTLER (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001; O. WISCHMEYER, Menschsein, NEB.Th 11, Würzburg 2003, 89–106; E. REINMUTH, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006, 185–243.
Paulus fragt intensiv danach, wer der Mensch ist und was ihn konstituiert, fördert und begrenzt. Bei seinen Zuschreibungen steht er in der Tradition des atl. Gottesund Schöpfungsglaubens, nimmt aber auch Traditionen hellenistischer Anthropologie auf und gelangt zu einer eigenständiger Interpretation des Menschen. Der Mensch kann nicht aus sich selbst heraus existieren, denn er findet sich immer schon in einem Spannungsfeld von Kräften vor, die ihn bestimmen. Als Geschöpf ist der Mensch nicht durch die Vernunft autonom269, sondern den in der Schöpfung herrschenden Mächten ausgesetzt: Gott und dem Bösen in der Gestalt der Sünde. 269 Anders Dio Chrys, Or 36,19, der die bis heute vorherrschende Auffassung vom Menschen so for-
muliert: „Was der Mensch ist: ein mit Vernunft begabtes sterbliches Wesen.“
Anthropologie 259
6.5.1
Der Leib und das Fleisch
Die Geschöpflichkeit des Menschen manifestiert sich bei Paulus in seiner Leiblichkeit270. Durch die Realität der Sünde ist sie immer auch gefährdete Leiblichkeit, so dass Paulus zwischen sw˜ma („Leib“) und sa´rx („Fleisch“) unterscheidet. Leib/Leiblichkeit
Der Schlüsselbegriff sw˜ma („Leib/Leiblichkeit“) ist bei Paulus zunächst eine neutrale Bezeichnung der Beschaffenheit des Menschen. Abraham hatte einen Leib, der schon abgestorben war (Röm 4,19). Bei der Verurteilung eines Unzüchtigen in Korinth ist Paulus zwar leiblich abwesend (1Kor 5,3: apw`n tw˜ sw´mati; vgl. auch 2Kor 10,10), durch den Geist aber anwesend. Paulus trägt die Malzeichen Jesu an seinem Leib (Gal 6,17), Wunden, die ihm bei seiner Missionstätigkeit z. B. durch Schläge zugefügt wurden (vgl. 2Kor 11,24f). In einer Ehe haben die Partner jeweils einen Anspruch auf den Körper des anderen (1Kor 7,4). Jungfrauen sollen um die Heiligkeit ihres Leibes besorgt sein (1Kor 7,34). Der Leib als Ort menschlicher Begierden und Schwächen muss gezähmt werden (1Kor 9,27). In einem negativ qualifizierenden Sinn gebraucht Paulus sw˜ma in Röm 6,6 (sw˜ma tv˜ß amartı´aß = „Sündenleib“) und Röm 7,24 (sw˜ma tou˜ hana´tou = „Leib des Todes“). Der Getaufte starb wirklich der Sünde (vgl. Röm 6,1ff), aber die Sünde ist nicht tot! Sie bleibt als Versuchung des Leibes weiterhin in der Welt. Deshalb fordert Paulus dazu auf, die Sünde nicht herrschen zu lassen im sw˜ma hnvto´n (Röm 6,12: „sterblichen Leib“; vgl. Röm 8,10 f.13). Auch die „Begierden“ (epihumı´ai) können für Paulus sowohl der sa´rx (Gal 5,16 f.24) als auch dem sw˜ma (Röm 6,12) entspringen. Dennoch dürfen sw˜ma und sa´rx nicht gleichgesetzt werden. In Röm 8,9 betont der Apostel ausdrücklich den in der Taufe vollzogenen Existenzwandel von der Sphäre der sa´rx in den Bereich des Geistes, so dass in Röm 8,10 f.13 nicht mehr von einem Bestimmtsein durch die sa´rx, sondern nur von einem Ausgesetztsein durch die sa´rx die Rede sein kann. Das sw˜ma ist nicht den fremden Mächten der sa´rx und der amartı´a verfallen271, aber es befindet sich ständig in der Gefahr, von ihnen beherrscht zu werden. Sw˜ma ist der Mensch selbst, die sa´rx hingegen eine fremde, ihn beanspruchende Macht. Positiv gebraucht Paulus sw˜ma als umfassenden Ausdruck des menschlichen Selbst272. Der Leib ist seinem Wesen nach weitaus mehr als essen und trinken (1Kor 6,13a), er definiert sich nicht aus seinen biologischen Funktionen, vielmehr gehört der Leib dem Herrn (1Kor 6,13b). Der Christ stellt seinen Leib auf Erden dem Herrn 270 Zur Forschungsgeschichte vgl. K.-A. BAUER, Leib-
lichkeit (s. o. 6.5), 13–64; R. JEWETT, Terms (s. o. 6.5), 201–250. 271 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 197f, der zu Röm 8,13 bemerkt, hier sei das sw˜ma einer fremden Macht verfallen, entsprächen sich pra´xeiß tou˜ sw´ma-
toß und zv˜n kata` sa´rka; zur Kritik vgl. K-A. BAUER, Leiblichkeit (s. o. 6.5), 168 f. 272 R. BULTMANN, Theologie, 195, formuliert prägnant: „. . . der Mensch hat nicht ein sw˜ma, sondern er ist sw˜ma“.
260 Paulus: Missionar und Denker
zur Verfügung „als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – euer geistiger Gottesdienst“ (Röm 12,1b). Gerade die Leiblichkeit erscheint als der Ort, an dem der Glaube als Gehorsam sichtbare Gestalt gewinnt. Als Wohnstätte des Heiligen Geistes untersteht der Leib nicht mehr der eigenen willkürlichen Verfügung (1Kor 6,19), weil Gott selbst den Leib als Ort seiner Verherrlichung bestimmte (1Kor 6,20b: „Verherrlicht Gott in eurem Leib“; vgl. ferner Phil 1,20). Wer den Leib dem Herrn entzieht, entzieht sich ihm ganz! Auch die postmortale Existenz gibt es für Paulus nicht ohne Leiblichkeit, so dass er auch die Auferstehungswirklichkeit leiblich denkt. So wie der Glaubende auf Erden mit Christus leiblich verbunden ist, so bewirkt der Auferstandene den Übergang des Menschen von der prä- in die postmortale Existenz. Gottes im Geist gegenwärtige Lebensmacht überwindet auch den Tod und schafft eine Leiblichkeit (sw˜ma pneumatiko´n), in der das prämortale menschliche Selbst und somit die personale Identität aufgenommen und in eine neue Qualität hineingeführt werden (vgl. 1Kor 15,42ff). Der gegenwärtige „Leib der Niedrigkeit“ (Phil 3,21: to` sw˜ma tv˜ß tapeinw´sewß) wird verwandelt und „dem Leib seiner Herrlichkeit“ (to` sw˜ma tv˜ß do´xvß autou˜) gleichgestaltet werden. Was sich an Christus als dem Erstling der Entschlafenen (1Kor 15,20) vollzog, wird auch den Glaubenden zuteil werden. Das sw˜ma ist für Paulus der Schnittpunkt zwischen der Vorfindlichkeit des Menschen in der Welt und dem Handeln Gottes am Menschen273. Gerade weil der Mensch einen Leib hat und Leib ist274, umfasst und bestimmt Gottes Heilstat in Jesus Christus den Leib und damit das konkrete Dasein und die Geschichte des Menschen. Fleisch/Fleischlichkeit
Wie sw˜ma kann Paulus auch sa´rx („Fleisch/Fleischlichkeit“) zunächst in einem neutralen Sinn als Bezeichnung der äußeren Beschaffenheit des Menschen gebrauchen. Krankheiten bezeichnet Paulus als „Schwäche des Fleisches“ (Gal 4,13) bzw. als „Pfahl im Fleisch“ (2Kor 12,7,). Die Beschneidung vollzieht sich „am Fleisch“, es gibt eine „Bedrängung im Fleisch“ (1Kor 7,28) und verschiedene Fleischesarten (1Kor 15,39). Im genealogischen Sinn steht sa´rx für die Zugehörigkeit zum Volk Israel in Gal 4,23.29; Röm 4,1; 9,3; 11,14.
273 Damit unterscheidet sich Paulus grundlegend von einem (platonisierenden) Leib-Seele-Dualismus, der um die Zeitenwende herum in vielfachen Variationen vertreten wurde; als Beispiel vgl. Plut, Mor 1001b.c: „dass, da zwei sind, aus denen die Welt besteht, Leib und Seele, das eine nicht Gott gezeugt hat, sondern, nachdem sich die Materie dargeboten hatte, er sie gestaltete und zusammenpasste, indem er mit eigenen Grenzen und Formen das Unendliche verband und begrenzte; die Seele aber ist, da sie an
Verstand und vernünftiger Überlegung und Harmonie Anteil erhalten hat, nicht nur ein Werk des Gottes, sondern auch ein Teil und nicht nur durch ihn, sondern auch von ihm her und aus ihm heraus entstanden.“ 274 So K.-A. BAUER, Leiblichkeit (s. o. 6.5), 185, in kritischer Weiterführung der oben angeführten Definition R. Bultmanns; sw˜ma umgreift bei Paulus sowohl das Personsein als auch die Körperlichkeit des Menschen.
Anthropologie 261
Eine ausgesprochen negative Konnotation erhält sa´rx dort, wo Paulus den aus sich selbst lebenden und auf sich vertrauenden Menschen dem Bereich des Fleisches zurechnet275. Die Korinther nennt er „fleischliche“ (sarkino´ß), unmündige Kinder in Christus (1Kor 3,1), die nach menschlicher Weise und damit fleischlich leben (1Kor 3,3). Das vom Reich Gottes ausgeschlossene Vergängliche bezeichnet Paulus mit sa`rx kai` aıma („Fleisch und Blut“: 1Kor 15,50; Gal 1,16; vgl. ferner 1Kor 5,5; 2Kor 4,11; Röm 6,19)276. Mehrfach spricht der Apostel von einem „Leben im Fleisch“ (vgl. 2Kor 10,3; Gal 2,20; Phil 1,22.24; Phlm 16), womit er negativ die Art und Weise menschlicher Existenz ausdrückt. Demgegenüber lebt Paulus zwar en sarkı´ („im Fleisch“), nicht aber kata` sa´rka („nach dem Fleisch“; vgl. 2Kor 10,3). Der sarkische Mensch ist gekennzeichnet durch Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit, er baut auf seine eigenen Fähigkeiten, macht seine Erkenntnis zum Maßstab des Vernünftigen und Wirklichen. Ein Leben kata` sa´rka heißt Leben ohne Zugang zu Gott und damit dem Irdisch-Vergänglichen verhaftet zu sein (vgl. Röm 7,14b). Hier wird sa´rx zum Inbegriff eines von Gott losgelösten und sich gegen Gott auflehnenden Lebens. Das eigentliche Subjekt des Lebens ist die Sünde, die Folge der Tod. Röm 7,5: „Denn als wir noch im Fleisch (en tU˜ sarkı´) waren, wirkten die durch das Gesetz geweckten sündigen Leidenschaften in unseren Gliedern, so dass wir dem Tod Frucht brachten“. Aus diesem verhängnisvollen Ineinander von Fleisch, Sünde und Tod kann allein Gott befreien. Diese Befreiung vollzog sich grundlegend in der Sendung des Sohnes en omoiw´mati sarko`ß amartı´aß (Röm 8,3: „in der Gleichgestalt des Sündenfleisches“). Jesus nahm die Existenzweise an, in der die Herrschaft der Sünde über die Menschen sich vollzieht. Tod und Auferstehung Jesu Christi entmachten somit die Sünde dort, wo sie wirksam ist: im Fleisch. Der Gegensatz sa´rx – pneu˜ma erscheint bei Paulus nicht als metaphysischer, sondern als geschichtlicher Dualismus. Weil es keine menschliche Existenz außerhalb des Fleisches gibt und das Handeln Gottes am Menschen sich im Fleisch vollzieht, erscheint das Fleisch als der Ort, wo der Mensch entweder in Selbstbezogenheit verharrt oder sich durch die Kraft des Geistes in den Dienst Gottes stellen lässt. Für Paulus ist der Glaubende in seiner irdischen Existenz gerade nicht dem Fleisch entnommen, aber der Geist hebt die natürliche Selbstbehauptung des Fleisches auf.
6.5.2
Sünde und Tod
Bereits im Sprachgebrauch zeigen sich die Besonderheiten des paulinischen Sündenverständnisses277. Charakteristisch für Paulus ist der Gebrauch von amartı´a im Singular (vgl. z. B. 1Kor 15,56; 2Kor 5,21; Gal 3,22; Röm 5,21; 6,12; 7,11 u. ö.), Plural275 Grundlegend ist nach wie vor R. BULTMANN, Theo-
277 Vgl. zum Sprachgebrauch G. RÖHSER, Metaphorik
logie, 232–239. 276 Vgl. CHR. WOLFF, 1 Kor (s. o. 4.6), 205.
(s. o. 6.5), 7 ff.
262 Paulus: Missionar und Denker
formen finden sich zumeist in traditionellen Formulierungen außerhalb des Römerbriefes (vgl. 1Thess 2,16; Gal 1,4; 1Kor 15,3.17). Im Römerbrief als dem Dokument eines intensiven Nachdenkens des Apostels über das Wesen der amartı´a dominiert eindeutig der Singular, nur an drei Stellen erscheint der Plural (Röm 4,7; 11,27: LXX-Zitate; Röm 7,5: bedingt durch ta` pahv´mata). Auffällig ist die Verteilung der Belege, amartı´a erscheint bei Paulus insgesamt 59mal (173mal im NT), wobei sich allein 48 Belege im Röm finden (1Thess: 1mal; 1Kor: 4mal; 2Kor: 3mal; Gal: 3mal; Phil und Phlm keine Belege). Während Israel im 1Thess um seiner Verfehlungen/Missetaten willen als verworfen gilt (1Thess 2,16)278, tritt im 1Kor der Grundgedanke der paulinischen Sündenlehre offen hervor: Christus ist „für unsere Sünden gestorben“ (1Kor 15,3b; vgl. 15,17), d. h. er überwand durch Kreuz und Auferstehung die Macht der Sünde. Eher beiläufig und ohne Systematik stellt 1Kor 15,56 fest, dass die Sünde der Stachel des Todes sei und durch das Gesetz ihre Kraft erlange279. Nach 2Kor 5,21 machte Gott den Nicht-Sünder Jesus Christus für uns zur Sünde, „damit wir werden zur Gerechtigkeit Gottes in ihm.“ Das artikellose amartı´a in 2Kor 11,7 ist im Sinn von ‚Fehler‘ zu verstehen („oder habe ich einen Fehler gemacht . . .“)280. Im Gal tritt bereits die für den Röm charakteristische Logik in Erscheinung: Auch die Juden stehen nach dem Willen der Schrift (und damit Gottes) unter der Macht der Sünde, der alles unterworfen ist, damit die Verheißungen den Glaubenden zugute kommen (Gal 3,22). Wenn die Galater sich beschneiden lassen wollen, bleiben sie hinter der befreienden Kraft des Todes Jesu „für unsere Sünden“ (Gal 1,4) zurück. Christus kann nicht Diener der Sündenmacht sein (Gal 2,17)281, denn durch ihn wurde deutlich, dass das Gesetz nicht von der Sünde befreien kann. Im Röm ist der Zusammenhang zwischen der ausführlichen Behandlung der Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik und der Sündenlehre offenkundig. Wo Paulus umfassend seine Nomologie entfaltet und die hamartiologische Gleichstellung von Juden und Heiden behauptet (Röm 1,18–3,20), muss er auch das Wesen und die Funktion der Sünde bedenken. Von der Universalität und dem Verhängnischarakter der Sünde zeugt ihre Vorzeitigkeit . Seit Adams Sünde ist die Welt gekennzeichnet durch den vorgegebenen und alles bestimmenden Zusammenhang von Sünde und Tod (vgl. Röm 5,12; ferner 4Esr 3,7; 3,21; 7,118; syrBar 23,4). Die Sünde war vor dem Gesetz in der Welt (Röm 5,13; vgl. Röm 7,8b), das „Gesetz ist nur dazwischen hineingekommen“ (Röm 5,20: no´moß de` pareisv˜lhen). Auch das Faktizitätsurteil, Juden und Griechen seien gleichermaßen „unter der Sünde“ (Röm 3,9; vgl. Gal 3,22: upo` amartı´an), setzt die Vorzeitigkeit der 278 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 68–70. 279 Zur Auslegung von 1Kor 15,56 vgl. F. W. HORN, 1Korinther 15,56 – ein exegetischer Stachel, ZNW 82 (1991), 88–105; TH. SÖDING, „Die Kraft der Sünde ist das Gesetz“ (1Kor 15,56). Anmerkungen zum
Hintergrund und zur Pointe einer gesetzeskritischen Sentenz des Apostels Paulus, ZNW 83 (1992), 74–84. 280 Vgl. H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief (s. o. 6.2.7), 334. 281 Vgl. dazu H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. u. 6.7), 88–90.
Anthropologie 263
Sünde voraus. Die Sünde ist eine jeder menschlichen Existenz vorgängige Macht mit Verhängnischarakter . Letztlich bildet für Paulus die Realität der Sünde und des Sündigens den Ausgangspunkt seiner Argumentation. Der Mensch findet sich immer schon im Bereich der Sünde und des Todes vor und ist in eine von ihm nicht verursachte Unheilssituation verstrickt282. Indem er Glied der Menschheit ist, betrifft ihn die Macht der Sünde. Dennoch entlässt Paulus den Menschen nicht aus seiner Verantwortung. Der Tatcharakter der Sünde zeigt sich besonders in Röm 3,23, wo Paulus die vorherige weitgespannte Argumentation so zusammenfasst: „Alle haben sie gesündigt (pa´nteß ga`r vÇmarton) und entbehren der Gnade Gottes.“ Sowohl die Laster der Heiden (vgl. Röm 1,24–32) als auch der fundamentale Gegensatz von Orthodoxie und Orthopraxie bei den Juden (vgl. Röm 2,17–29) resultierten aus ihrem jeweiligen Tun bzw. Nicht-Tun. Es gilt: „Die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verloren gehen, die im Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden“ (Röm 2,12). Das Faktizitätsurteil „alle sind unter der Sünde“ in Röm 3,9 begründet Paulus in V. 10–18 mit einem umfassenden Schriftbeweis, dessen Zitate deutlich auf den Tatcharakter der Sünde zielen. Hier ist das Schuldigwerden vor Gott (vgl. Röm 3,19b) nicht Folge eines Verhängnisses, sondern Resultat eines Tuns. Geradezu programmatisch erscheint die Sünde als verantwortliche Tat in Röm 14,23: „Alles, was man nicht aus Glauben tut, ist Sünde“ (pa˜n de` oÅ ouk ek pı´stewß amartı´a estı´n). Die universale Herrschaft der Sünde ergibt sich somit aus ihrem Verhängnisund Tatcharakter283. Den geschehenen Sünden liegt die Sündenmacht voraus und zugrunde (vgl. Röm 5,12: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt kam, und durch die Sünde der Tod, und so der Tod zu allen Menschen sich ausbreitete, denn alle haben gesündigt“)284. In Röm 7 entfaltet Paulus das für ihn zentrale Verhältnis von Sünde und Gesetz. Hier wird eindrücklich betont, dass die Sünde weitaus mehr als ein Defekt in der Lebensführung ist. Sie hat den Charakter einer unentrinnbaren Macht, der jeder Mensch jenseits des Glaubens unterworfen ist. Die Sünde vermag sich sogar in der Gestalt der Begierde des Gesetzes zu bemächtigen und dessen Intentionen als guter Lebenswille Gottes ins Gegenteil zu verkehren (Röm 7,7–13). Aus dieser Grundeinsicht ergibt sich die anthropologische Argumentation des Apostels in Röm 7,14–25a285, in der die unentrinnbare Verstricktheit des Ichs unter der Macht der Sünde entfaltet wird, 282 Vgl. H. WEDER, Gesetz und Sünde (s. o. 6.2.7),
362. 283 Vgl. G. RÖHSER, Metaphorik (s. o. 6.5), 118. 284 Vgl. H. UMBACH , a. a. O., 201 zu Röm 5,12: „Durch sündiges bzw. ungehorsames Tun des einen (Adam) kam v amartı´a in die Welt, d. h. zu allen Menschen (12d), und bestimmt seitdem generell deren Tun (vÇmarton) und Ergehen (ha´natoß).“
285 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse R. WEBER, Die Geschichte des Gesetzes und des Ich in Römer 7,7–8,4, NZSTh 29 (1987), 147–179; O. HOFIUS, Der Mensch im Schatten Adams, in: ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 104–154; H. LICHTENBERGER, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit, WUNT 164, Tübingen 2004; V. STOLLE, Luther und Paulus, ABG 10, Leipzig 2002, 210–232.
264 Paulus: Missionar und Denker
um so das Gesetz/die Tora von jeder Schuld an seinem widergöttlichen Wirken in der Welt freizusprechen. In V. 14 benennt Paulus einen generellen und in der Gegenwart geltenden Sachverhalt: Der Mensch als fleischliches Wesen ist der Sünde untertan. Die Universalität der Aussage unterstreicht das egw´ („ich“). Es handelt sich bei der 1. Pers. Sg. um ein literarisches Stilmittel, das Parallelen in den Klagepsalmen (vgl. Ps 22,7f) und der Qumran-Literatur hat (vgl. 1QH 1,21; 3,23f; 1QS 11,9ff)286. Sowohl die literarische Stilform der 1. Pers. Sg. als auch der generelle Charakter von Röm 7,14 und der Verweis auf Röm 8,1ff legen es nahe, in dem egw´ ein exemplarisches, generelles Ich zu sehen, das aus der Perspektive des Glaubens die Situation des Menschen jenseits des Glaubens darstellt287. Die Vorfindlichkeit des Menschen als Verkauftsein an die Sünde erläutert Paulus in Röm 7,15: Das Ich befindet sich in einem grundlegenden Zwiespalt, indem es nicht das tut, was es will, sondern was es hasst. Aus diesem Widerspruch schließt Paulus in Röm 7,16, dass das Gesetz/die Tora an sich gut sei, denn die Sünde bewirkt den Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen. Den Machtcharakter der Sünde unterstreicht der Apostel in Röm 7,17.20 mit der Metapher des Innewohnens der Sünde im Menschen. Dabei ist der Bezug auf Röm 8 unverkennbar, denn in Röm 8,9f sagt Paulus, dass der Geist Gottes/Christi bzw. Christus im Glaubenden wohnen. Die Sünde und Christus treten damit deutlich in Konkurrenz zueinander, der Mensch fungiert lediglich passiv als Wohnstätte von Mächten, die in ihm den Tod oder das Leben bewirken288. Herrscht die Sünde im Menschen, so richtet sie ihn zugrunde, während Christus bzw. der Geist dem Menschen das Leben schenkt (vgl. Röm 8,11). Die ganze Ausweglosigkeit der Situation des Menschen jenseits des Glaubens betont Paulus in Röm 7,18–20, wo er den Widerspruch zwischen Wollen und Tun noch einmal entfaltet. Dem Menschen steht wohl das Wollen des Guten zur Verfügung, nicht aber das Vollbringen, das durch die im Menschen wohnende Sünde verhindert wird. In Röm 7,21 zieht das Ich ein erstes Fazit und stellt eine Regelmäßigkeit fest: Das gute Wollen konkretisiert sich in einem bösen Tun. Hier meint no´moß nicht die atl. Tora, sondern bezeichnet eine Gesetzmäßigkeit289, die in V. 22f erläutert wird. Der Mensch kann
286 Vgl. dazu W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. o. 6.5), 127–
131; G. THEISSEN, Psychologische Aspekte (s. o. 6.5), 194–204. 287 Grundlegend wurde diese Einsicht erarbeitet von W. G. KÜMMEL, Römer 7 (s. o. 6.5), 74 ff. Ein Echo individueller Erfahrungen sieht in Röm 7 z. B. G. THEISSEN, Psychologische Aspekte (s. o. 6.5), 204. Anders E. P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 128: „Mit anderen Worten, Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden – ausgenommen vielleicht den Neurotiker. Warum steht dann dieses Kapitel da? Der Schrei der Angst ist vermutlich ein Schrei der theologischen Aporie.“
288 Vgl. G. RÖHSER, Metaphorik (s. o. 6.5), 119 ff. Röm 7 schildert keinen Konflikt im Menschen, sondern ein transpersonales Geschehen; gegen P. ALTHAUS, Paulus und Luther über den Menschen, Gütersloh 2 1951, 41–49, der Röm 7 als Konflikt innerhalb des Menschen verstehen will; ähnlich T. LAATO, Paulus und das Judentum (s. o. 6.5), 163: „Röm 7 umfaßt nichts, was nicht auf den Christen paßt, oder – zugespitzt formuliert – alles, was Röm 7 umfaßt, paßt nur auf den Christen.“ 289 Vgl. R. WEBER, Die Geschichte des Gesetzes, 159; O. HOFIUS, Der Mensch im Schatten Adams, 142.
Anthropologie 265
von sich aus nicht das Gute wählen und das Böse verwerfen, weil die in ihm wohnende und streitende Sünde ihn völlig beherrscht. Röm 7,23 beschreibt einen grundlegenden anthropologischen Sachverhalt: Der Mensch ist gespalten und von sich aus nicht in der Lage, seine Integrität wiederherzustellen. Nach der inneren Logik von Röm 7 kann ihn niemand aus dieser Situation retten. Paulus bleibt dabei aber nicht stehen, wie V. 25a zeigt290. Die Rettung des Menschen aus dieser ausweglosen Situation erschien in Jesus Christus, deshalb dankt Paulus Gott für die in Jesus Christus bewirkte und durch den Geist herbeigeführte Rettung aus dem Machtbereich der Sünde . Röm 8 erscheint als die sachgemäße Fortsetzung der paulinischen Argumentation in Röm 7,7ff, sprachlich deutlich angezeigt durch die Aufnahme der 1. Pers. Sg. aus Röm 7 durch die 2. Pers. Sg. in Röm 8,2. Darüber hinaus ist Röm 8 die innere Voraussetzung von Röm 7, denn die von Paulus entfalteten Perspektiven des Glaubens bildeten immer schon die Grundlage seiner Ausführungen in Röm 7 . Was veranlasste Paulus zu einer solchen Hypostasierung der Sünde? Der Ausgangspunkt seiner Reflexionen dürfte nicht in der Anthropologie liegen291, denn der in Röm 7 geschilderte Befund liegt nicht offen zutage, sondern ist nur dem Glauben einsichtig. Vielmehr prägt der Grundgedanke der paulinischen Christushermeneutik auch hier die Logik: Allein der Glaube an Jesus Christus rettet, so dass neben ihm keine weitere Instanz rettende Funktion haben kann. Die Christologie und Soteriologie und nicht die Anthropologie bilden die Grundlage der paulinischen Sündenlehre. Der Ursprung des Bösen im antiken Diskurs
Über ihre Funktion im paulinischen Denksystem hinaus liefert die paulinische Sündenlehre auch einen originellen Beitrag zu einer im Judentum, in der griechisch-römischen Welt und auch in der Gegenwart gleichermaßen geführten Debatte: Die Frage nach dem Ursprung des Bösen und der Ursache unzulänglichen menschlichen Verhaltens . Nach Paulus ist die Sünde die eigentliche Ursache dafür, dass das gute Wollen des Menschen ins Gegenteil verkehrt wird und letztlich den Tod bewirken kann. Auch für Epiktet (ca. 50–130 n.Chr.) gibt es einen Widerspruch im Menschen zwischen der Intention des Handelns und der praktischen Ausführung des Handelns (Diss II 26,1)292. In der Angabe der Ursache dieses Widerspruches unterscheiden sich allerdings Paulus und Epiktet grundlegend. Bei Epiktet kann das falsche Verhalten durch
290 Röm 7,25b ist eine Glosse; vgl. z. B. E. KÄSEMANN,
Röm (s. o. 6.3.1), 203 f. 291 R. BULTMANN, Theologie, 192, scheint dieses Missverständnis nahezulegen, wenn er betont: „Sachgemäß wird deshalb die paulinische Theologie am besten entwickelt, wenn sie als die Lehre vom Menschen dargestellt wird, und zwar 1. Vom Menschen vor der Offenbarung der pı´stiß und 2. vom Menschen unter der pı´stiß.“
292 Zu den im Hintergrund von Röm 7,14ff stehenden griechisch-hellenistischen Traditionen (z. B. Eur, Med 1076–1080) vgl. H. HOMMEL, Das 7. Kapitel des Römerbriefes im Lichte antiker Überlieferung, in: ders., Sebasmata II, WUNT 32, Tübingen 1984, 141– 173; R. V. BENDEMANN, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und Handeln, ZNW 95 (2004), 35–63.
266 Paulus: Missionar und Denker
richtige Erkenntnis überwunden werden. Hier zeigt sich ein optimistisches Menschenbild, bei dem die Erkenntnis als Maßstab des Handelns mögliches Fehlverhalten zu überwinden vermag. Paulus teilt diese Zuversicht nicht, denn die Sünde ist das eigentliche Subjekt des Geschehens, nicht der erkennende Mensch. In anderer Weise reflektiert Cicero (106–43 v.Chr.) die Frage, ob das Böse in der Welt das Werk der Götter sei. „Denn wenn die Götter den Menschen den Verstand gegeben haben, so haben sie ihnen auch die Bosheit gegeben“ (Nat Deor III 75). Die Menschen nutzen das göttliche Geschenk des vernünftigen Denkens nicht zum Guten, sondern um einander zu betrügen. Deshalb wäre es besser gewesen, die Götter hätten den Menschen den Verstand vorenthalten (vgl. III 78). Nun aber ergeht es den Guten schlecht und den Schlechten gut, herrrscht die Dummheit und wir befinden „uns alle im tiefsten Unglück, obwohl ihr doch vorgebt, die Götter hätten bestens für uns gesorgt“ (III 79). Die Götter müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen: „Sie hätten ja alle zu guten Menschen machen müssen, falls sie denn wirklich für die Menschen sorgen wollten“ (III 79). Bei Seneca (4–65 n.Chr.) als einem unmittelbaren Zeitgenossen des Paulus herrschen ebenfalls pessimistische Urteile über die Situation des Menschen vor. Sowohl die Menschheit in ihrer Gesamtheit (Ep 97,1: „keine Epoche ist frei von Schuld“) als auch der einzelne Mensch (Ira II 28,1: „Niemand von uns ist ohne Schuld“) verfehlen das Einsichtige und sittlich Gute. Die Lebenserfahrung lehrt, dass selbst die Umsichtigsten sich verfehlen, so dass die Einsicht unumgänglich ist: „Gefehlt haben wir alle (peccavimus omnes), die einen schwerer, die anderen geringer, andere aus Vorsatz, wieder andere aus Zufall oder von fremder Schlechtigkeit mitgerissen, wieder andere von uns haben bei guten Einsichten zu wenig tapfer gestanden und ihre Schuldlosigkeit gegen ihren Willen und Widerstand verloren“ (Clem I 6,3). Niemand kann sich freisprechen und jeder ist schuldbeladen, wenn er sein Gewissen befragt (vgl. Ira I 14,3). Das unbestechliche Urteil des Philosophen und die Erfahrungen des Psychologen Seneca nötigen zu der Erkenntnis, dass die Menschen immer hinter dem ihnen Möglichen zurückbleiben. Bemerkenswert sind auch die Überlegungen von Dio Chrysostomos über den Ursprung des Guten und des Bösen. Während das Gute ohne Ausnahme Gott zugeschrieben werden muss (Or 32,14), heißt es über das Schlechte: „Das Schlechte aber hat einen anderen Ursprung, als stammte es aus einer anderen Quelle, einer in unserer Nähe. . . . Die schlammigen, übelriechenden Kanäle aber sind unser eigenes Werk, und es gibt sie nur durch unser Tun“ (Or 32,15). In einem völlig anderen kulturgeschichtlichen Umfeld findet sich auch im 4Esra-Buch (nach 70 n.Chr.) eine pessimistische Argumentation über den Zustand der Welt und des Menschen. Obwohl Gott das Gesetz gab, regieren die Sünde und der Unverstand. „Gerade deshalb werden die, die auf der Erde weilen, (im kommenden Gericht; U.S.) gequält, weil sie Verstand hatten und dennoch Sünden begingen, die Gebote empfingen und sie nicht beachteten, das Gesetz erhielten und es, das sie doch erhalten hatten,
Anthropologie 267
brachen“ (4Esra 7,72). Es gibt nur wenige Gerechte (vgl. 4Esra 7,17 f.51), weil die Herrschaft der Sünde umfassend ist, so dass sich die Frage aufdrängt: „Wer ist es von den Lebenden, der nicht gesündigt hätte?“ (4Esra 7,46). Dem Gesetz wird offenbar nicht zugetraut, diesen Zustand zu ändern. „Denn alle, die geboren wurden, sind von Sünden befleckt, sind voll von Fehlern und von Schuld belastet“ (4Esra 7,68). Große Übereinstimmungen zu Paulus weisen die Qumrantexte auf293. Auch hier ist der kreatürliche Mensch Fleisch und damit von Gott getrennt und der Sünde rettungslos ausgeliefert; das ‚Fleisch‘ gehört zum Herrschaftsbereich der Sünde (vgl. 1QS 4,20f)294. Nicht nur der Frevler, sondern auch der Qumran-Fromme zählt zur „Gemeinschaft des Fleisches der Bosheit“ (1QS 11,9), hat in seinem Fleisch den Geist des Frevels (1QS 4,20f), denn das Fleisch ist Sünde (1QH 4,29 f). Bei den Menschenkindern herrschen der „Dienst der Sünde und Taten des Trugs“ (1QH 1,27: vgl. 1QS 4,10, 1QM 13,5). Der Mensch kann von sich aus nicht das Gute wählen und das Böse verwerfen, sondern die in ihm wohnende und streitende Sünde beherrscht ihn völlig (vgl. 1QS 4,20f). Vielmehr liegt alles an Gott, der den Geist bildete (1QH 15,22) und durch den Heiligen Geist (1QS 4,21) den Geist des Frevels aus dem Inneren des Fleisches tilgt. Uneingeschränkte und völlige Toraerfüllung (vgl. z. B. 1QS 2,2–4; 5,8–11)295 sowie das völlige Angewiesensein auf die Gnade Gottes ermöglichen es dem Frommen, Gottes Willen zu befolgen und Gerechtigkeit zu üben (1QS 11,12).
Die Position des Paulus in der religiös-philosophischen Debatte über den Ursprung des Bösen und seine Überwindung erweist ihre Originalität nicht in der Analyse, wohl aber in der Lösung. Wie viele seiner Zeitgenossen zeichnet der Apostel ein düsteres Bild vom Zustand der Menschheit. Er leitet diese Einschätzung aber nicht aus der Beobachtung des Vorfindlichen oder der Einsicht in das Innere des Menschen ab, sondern aus der Befreiungstat Jesu Christi. Der einzigartigen Rettungstat entspricht die ausweglose Situation der zu Rettenden. Die paulinische Lösung zeichnet sich durch zwei Komponenten aus: 1) Sie nimmt den zeitgenössischen religiös-philosophischen Diskurs auf und erweist sich dadurch als ein anziehender und kompetenter Gesprächspartner. 2) Sie eröffnet den Menschen eine einsichtige und praktikable Möglichkeit, aus ihrer Situation befreit zu werden. Paulus unterscheidet sich von allen anderen Systemen durch die These, dass die Sünde für die Christen in der Taufe bereits überwunden ist296, so dass die Getauften wesensmäßig der versklavenden Macht der Sünde entzogen sind. Was Paulus in mythologischer Sprache mit seinen Aussagen zur Sünde beschreibt, heisst in seinem Kern: Die Destruktivität menschlichen
293 Vgl. hier K. G. KUHN, Peirasmo´ß – amartı´a – sa´rx im Neuen Testament und die damit zusammenhängenden Vorstellungen, ZThK 49 (1952), (200–222) 209ff; P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus (s. o. 6.3), 35–40. 294 Zum Sündenverständnis in den Qumrantexten vgl. H. LICHTENBERGER, Studien zum Menschenbild in
Texten der Qumrangemeinde, SUNT 15, Göttingen 1980, 79–98.209–212. 295 Vgl. zum Gesetzesverständnis in Qumran H. LICHTENBERGER, Studien, 200–212. 296 Vgl. P. KIM, Heilsgegenwart bei Paulus (s. o. 6.3), 108–111.
268 Paulus: Missionar und Denker
Seins kann der Mensch nicht selbst überwinden . Vielmehr entrinnt er der Unzulänglichkeit und Ichbezogenheit seines Denkens und Tuns nur, wenn er seine Existenz in Gott verankert; d. h. die neue Existenz kann nicht einfach die Verlängerung der alten sein, es muss ein Herrschafts- und Existenzwechsel stattfinden. Die Möglichkeit dazu eröffnet das Christusgeschehen, das in der Taufe gegenwärtig ist, von der Macht der Sünde befreit und in die Freiheit des Geistes stellt. 6.5.3
Gesetz
F. HAHN, Das Gesetzesverständnis im Römer- und Galaterbrief, ZNW 67 (1976), 29–63; H. HÜBDas Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie, FRLANT 119, Göttingen 31982; U. WILCKENS, Zur Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnisses, NTS 28 (1982), 154–190; G. KLEIN, Art. Gesetz III, TRE 13, Berlin/New York 1984, 58–75; P. STUHLMACHER, Das Gesetz als Thema biblischer Theologie, in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit, Göttingen 1981, 136–165; E. P. SANDERS, Paul, the Law, and the Jewish People, Minneapolis 1983; H. RÄISÄNEN, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 21987; TH. R. SCHREINER, The Law and Its Fulfillment, Grand Rapids 1993; H.-J. ECKSTEIN, Verheißung und Gesetz, WUNT 86, Tübingen 1996; F. E. UDOH, Paul’s view on the law, NT 42 (2000), 214–237; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen 2000; U. SCHNELLE, Paulus und das Gesetz, in: Biographie und Persönlichkeit des Paulus, hg. v. E.-M. Becker/P. Pilhofer, WUNT 187, Tübingen 2006, 245–270. NER,
Paulus lebte in einem kulturgeschichtlichen Umfeld, das sowohl innerhalb seiner jüdischen Mutterreligion als auch im originär griechisch-römischen Bereich zahlreiche Entwürfe zur heilsamen Funktion des Gesetzes bzw. der Gesetze kannte297. Kulturgeschichtliche Vorgaben
Das Gesetz (no´moß)298 erscheint innerhalb des antiken Gemeinwesens als jene Norm, die eine Verehrung der Götter fordert299 und die Gerechtigkeit zwischen Menschen schafft300. Nach Aristoteles erfährt die Gerechtigkeit ihre innere Bestimmung von 297 Dieser Bereich wird erst allmählich in seiner Bedeutung für das paulinische Gesetzesverständnis erkannt; vgl. dazu O. BEHRENDS/W. SELLERT (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, Göttingen 1995; für den Bereich der ntl. Exegese vgl. H. HÜBNER, Das ganze und das eine Gesetz. Zum Problemkreis Paulus und die Stoa, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, hg. v. A./M. Labahn, Göttingen 1995, 9– 26; H. SONNTAG, NOMOS SWTVR; K. HAACKER, Der ‚Antinomismus‘ des Paulus im Kontext antiker Gesetzestheorie, in: H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 387–404; F. G. DOWNING, Cynics, Paul
and the Pauline Churches, London 1998, 55–84. 298 Das griechische Wort no´moß leitet sich von ne´mw
(„austeilen/verteilen“) ab und meint in seiner Grundbedeutung: ‚Zuteilung, Anordnung, Ordnung‘; vgl. J. POKORNY, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch I (s. o. 1.1), 763. 299 Vgl. dazu Plat, Leg X 885b: „Niemand, der gemäß den Gesetzen an das Dasein der Götter glaubt, hat jemals freiwillig eine unfromme Tat begangen oder ein gesetzloses Wort geäußert . . .“; vgl. ferner Leg XII 966b–e. 300 Vgl. die Textbeispiele und Analysen bei H. SONNTAG, NOMOS SWTVR, 18–46.
Anthropologie 269
den Gesetzen, so dass gilt: „Wer die Gesetze mißachtet, ist ungerecht, so hatten wir gesehen, wer sie achtet, ist gerecht. Das heißt also: alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes“ (Eth Nic V 1138a). Die Gerechtigkeit des Menschen ergibt sich aus einem normengemäßen und d. h. gerechten Verhalten. Indem die Gesetze als kulturstiftende Macht den Bestand des individuellen Lebens und der Polis insgesamt gewähren und damit dem Untergang wehren, haben sie eine Leben spendende und zugleich rettende Funktion301. Die Gesetze regeln auch das Verhältnis der Menschen zu den Göttern. Frömmigkeit resultiert aus einem an den Gesetzen orientierten Verhalten gegenüber den Göttern (vgl. Plat, Leg X 885b). Nach Chrysipp heißt ein naturgemäßes Leben, nichts zu tun, „was das gemeinsame Gesetz verbietet (o no´moß o koino´ß), das Gesetz, das die rechte Vernunft ist (orho`ß lo´goß), die alles durchdringt, das identisch ist mit Zeus, dem herrschenden Verwalter des Weltalls“ (Diog L 7,88). Der Mensch ist Teil einer Wirklichkeit, die vom Gesetz als Teil der göttlichen Weltordnung strukturiert und geleitet wird. Auch um die Zeitenwende ist das Bewusstsein weit verbreitet, dass es neben den zahllosen Einzelgesetzen das eine Gesetz gibt: „Dieses Gesetz ist die richtige Vernunft (recta ratio) im Bereich des Befehlens und Verbietens“ (Cic, Leg 1,42). Das Gesetz enthält weitaus mehr als Vorschriften, denn es ist die von den Göttern gesetzte Voraussetzung für gelingendes Leben (Cic, Leg 1,58: „Aber da das Gesetz dazu muss, falsches Verhalten auszumerzen und die Tugend zu empfehlen, trifft es zweifellos zu, dass die Lehre vom richtigen Leben aus dem Gesetz hergeleitet wird“). Das wahre Gesetz existierte schon vor der schriftlichen Fixierung von Gesetzen, denn es ist aus der Vernunft hervorgegangen, die gleichzeitig mit dem göttlichen Geist entstand. „Deshalb ist das wahre und ursprüngliche Gesetz, das geeignet ist zu befehlen und zu verbieten, die richtige Vernunft des Jupiters, des höchsten Gottes“ (Cic, Leg 2,10). Leben kann im Individuellen und in der Gemeinschaft nur gelingen, wenn die Einsicht in die von den Göttern gewollte Ordnung gelingt. Deshalb kann Dio Chrysostomus ein Loblied auf das Gesetz anstimmen: „Das Gesetz ist fürs Leben ein Führer . . . , für das Handeln eine gute Richtschnur“ (Or 75,1). Selbst den Göttern dient das Gesetz, weil es die Ordnung des Weltalls verbürgt. Gesetz und Gerechtigkeit gehören selbstverständlich zusammen, denn beide verbürgen das Leben302. Plutarch (Mor 780E) rät den Königen, sich der von Gott verliehenen Geschenke zu bedienen, zu denen vor allem das Gesetz und die Gerechtigkeit zählen: „Die Gerechtigkeit ist das Ziel des Gesetzes, das Gesetz ein Werk des Königs, der König aber ein Ebenbild der alles ordnenden Gottheit“ (dı´kv me`n oun no´mou te´loß estı´, no´moß dL arcontoß ergon, arcwn dL eikw`n heou˜ tou˜ pa´nta kosmou˜ntoß). Das Gesetz erscheint gerade im griechisch-hellenisti-
301 Vgl. die Textanalysen bei H. SONNTAG, NOMOS SWTVR, 47–105. 302 Vgl. Dio Chrys, Or 75,6; vgl. ferner Or 75,8.
270 Paulus: Missionar und Denker
schen Denken als von den Göttern gespendete Seinsmacht und Seinsordnung, die Leben ermöglicht und trägt. Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage (s. o. 3.8.1). Allerdings gab es innerhalb des antiken Judentums verschiedene Toratheologien (z. B. kulturgeschichtlich: hellenistisch beeinflusstes Diasporajudentum303; Apokalyptik304; politisch-theologisch: Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Zeloten) und vereinzelt auch Stimmen, die möglicherweise die Leistungskraft der Tora problematisierten305. Kulturgeschichtlich war es sowohl vom griechisch-römischen als auch vom jüdischen Kontext her überhaupt nicht vorstellbar, dass Paulus und seine Gemeinden ihrem Selbstverständnis nach ‚gesetzlos‘, d. h. ohne Leben spendende und rettende Normen lebten. Wie bei der Gerechtigkeit war Paulus die Gesetzesthematik vorgegeben. Damit ist aber noch nicht darüber entschieden, wie er seit Damaskus mit diesem Thema umgeht. Der Lebensweg des Paulus vom eifernden Pharisäer bis hin zum konflikterprobten Apostel der Völker weist zahlreiche Verwerfungen auf, die auch seine Aussagen zum Gesetz/zur Tora beeinflusst haben. Deshalb ist es notwendig, zwischen einer diachronen und einer synchronen Betrachtung zu unterscheiden. Die diachrone Analyse
Die Eigenaussagen des Paulus über seine phärisäische Vergangenheit in Gal 1,13.14 und Phil 3,5–9 lassen drei Schlüsse zu: a) Paulus war ein Eiferer für die Tora, er empfand sich selbst untadelig in der Gesetzeserfüllung und übertraf alle Altersgenossen in seinem Einsatz für die Überlieferungen der Väter. b) Wenn Paulus als zvlwtv´ß („Eiferer“) dem radikalen Flügel des Pharisäismus zuneigte, dann war er in der Welt der Tora und ihrer Auslegung umfassend beheimatet. Er kannte die gesamte Bandbreite jüdischer Gesetzesauslegung306, so dass die These, Paulus missverstehe bzw. verzeichne das jüdische Gesetzesverständnis, als unzutreffend angesehen werden muss. c) Die Verwurzelung in der pharisäischen Tradition lässt erwarten, dass die Gesetzesproblematik auch für den Völkerapostel Paulus ein bedeutsames und sensibles Thema blieb. Die Eigenberichte über die Berufung zum Völkerapostel bei Damaskus lassen jedoch einen unmittelbar gesetzeskritischen Inhalt nicht erkennen (s. o. 6.2.2). Vielmehr offenbart Gott dem Verfolger Paulus, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth als Gottessohn bleibend auf die Seite des Vaters gehört und rettet. Wenn Damaskus in seinem Kern christologisch-soteriologisch auszulegen ist, bleibt die Frage, welche
303 Umfassende Analysen (ohne Philo und Josephus) bietet R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum (s. o. 3.8.1), 37–322. 304 Vgl. hier H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, StUNT 23, Göttingen 1999, 71 ff.
305 Vgl. Philo, Migr 89f; 4Esra 7,72; 8,20–36.47–49; Jos, Ant 4,141–155; Strabo, Geographica XVI 2,35– 38. 306 Vgl. H. HOFFMANN, Das Gesetz in der frühjüdischen Apokalyptik, 337.
Anthropologie 271
Konsequenzen ein solch umstürzendes Geschehen für das Gesetzesverständnis des ehemaligen Pharisäers Paulus haben musste. Für die Frühzeit des Apostels sind nur Vermutungen möglich; Paulus schloss sich der bereits expandierenden antiochenischen Völkermission an (vgl. Apg 11,25f), und bejahte damit die dort geübte Theorie und Praxis der Evangeliumsverkündigung. Die Position der antiochenischen Christusgläubigen aus dem hellenistischen Judentum (vgl. Apg 11,20f) war zuallererst tempel- und nicht gesetzeskritisch307. Sie machten die überwältigende Erfahrung, dass Gott auch den Nichtjuden den Heiligen Geist schenkt (vgl. Apg 10,44–48; 11,15). Daraus erwuchs die Erkenntnis, dass eine Neubewertung der heilsgeschichtlichen Stellung der Christusgläubigen aus den Völkern unumgänglich war. Man verzichtete auf die Beschneidung und nahm damit die Tora aus dem unmittelbaren Bereich der Heilsfrage heraus. Das gleiche Bekenntnis von Christusgläubigen aus dem Judentum und den Völkern zum ku´rioß LIvsou˜ß (Apg 11,20) überwand bisher geltende Vor- und Nachordnungen. Welche Rolle spielte die Tora im Rahmen einer beschneidungsfreien Mission? Wahrscheinlich eine geringe, denn der Verzicht auf die Beschneidung war mit der Aufgabe der Ritualgesetze verbunden (vgl. Apg 10,14 f.28; 11,3), und selbst der auch für Christen aus dem nichtjüdischen Bereich problemlos rezipierbare ethische Kernbestand der Tora (Dekalog) wird nur in Röm 7,7; 13,9 zitiert. Auch das Apostelkonzil mit dem ‚Aposteldekret‘ (Apg 15,29)308 und Traditionen in den paulinischen Briefen bestätigen dieses Bild. Auf dem Apostelkonzil konnte eine Beschneidung der Christen aus dem nichtjüdischen Bereich nicht durchgesetzt werden, das ‚Aposteldekret‘ stellt den Versuch gemäßigt judenchristlicher Kreise dar, dennoch Minimalforderungen des Ritualgesetzes auch für Christen aus den Völkern wieder in Geltung zu setzen, d. h. sie wurden von ihnen zuvor nicht beachtet. Die Indifferenz der Beschneidung und damit auch der Tora dokumentieren Traditionen wie Gal 3,26–28; 1Kor 7,19; 9,20–22; Gal 5,6; 6,15, die den neuen Status aller Glaubenden und Getauften vor Gott jenseits von Beschneidung bzw. Unbeschnittenheit betonen. Für die Stellung des Paulus zur Tora in der Frühzeit seiner Missionstätigkeit ergibt sich somit, dass die Zugehörigkeit zum Volk Gottes für die Christen aus den Völkern durch den Glauben und die Taufe, nicht aber durch Beschneidung und daraus folgender Toraobservanz vermittelt wird. Als neue, das Verhältnis zu Gott und den Menschen regelnde Normen treten der Glaube und der Geist auf, als entscheidender Initiationsritus fungiert die Taufe. Ihrem Selbstverständnis nach waren Paulus und seine Gemeinden nie ‚gesetzlos‘, wohl aber aus der Perspektive der militanten Judenchristen und der Juden . Das Apostelkonzil bestätigte aus paulinischer Sicht diese Regelung, zugleich akzeptierte Paulus aber den älteren streng judenchristlichen Weg der Jerusalemer Gemein307 Dies betont nachdrücklich E. RAU, Von Jesus zu
Paulus, Stuttgart 1994, 79.
308 Zur Interpretation des Apostelkonzils und ‚Aposteldekrets‘ vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 117–135.
272 Paulus: Missionar und Denker
de und ihrer Sympathisanten. Die Unterscheidung zwischen dem paulinischen „Evangelium der Unbeschnittenheit“ und dem petrinischen „Evangelium der Beschneidung“ (Gal 2,7)309 ist keine neue, erst ab 48 n.Chr. geltende Regelung, sondern die Fortschreibung bereits seit langer Zeit bestehender differenter Missionskonzepte. Für das paulinische Gesetzes-/Toraverständnis ergibt sich daraus, dass Paulus als der eigentliche Neuerer im vollen Umfang das geschichtlich gewordene Nebeneinander verschiedener Initiationsriten und damit unterschiedener Gesetzeskonzeptionen anerkannte. Apg 11,3 und der antiochenische Konflikt lassen vermuten, dass die Unterschiede zwischen beiden Konzeptionen vor allem in der Beurteilung der Speisegesetze und ihrer Konsequenzen (z. B. hinsichtlich der Herrenmahlsfeier) lagen. Zudem befand sich die Jerusalemer Gemeinde zunehmend in einer völlig anderen kulturellen und politischen Situation als Paulus. Ihr Ziel war das Verbleiben innerhalb des Judentums, sie wollte und musste deshalb der Tora eine andere Bedeutung zumessen als Paulus. Der Kompromiss auf dem Apostelkonzil erwies sich aber nur als Scheinlösung, denn er wurde von den verschiedenen Seiten unterschiedlich interpretiert oder nur eine Zeit lang akzeptiert. Zudem löste die Vereinbarung nicht die Probleme von Mischgemeinden (vgl. den antiochenischen Konflikt) und für die Jerusalemer Gemeinde verschärfte sich zunehmend der politische Druck, die beschneidungsfreie Mission unter den Völkern nicht mehr zu akzeptieren und die Verbindung zum – aus jüdischer Sicht – Apostaten Paulus aufzugeben. Zumindest mit Billigung der Jerusalemer Gemeinde begann eine Gegenmission mit dem Ziel, den Christen aus den Völkern durch Beschneidung den Proselytenstatus zu vermitteln und die gesamte neue Bewegung der Christusgläubigen im Judentum zu belassen bzw. in es zu integrieren. Mit der galatischen Krise brachen die ungelösten bzw. verdrängten Probleme in voller Schärfe auf und Paulus sah sich herausgefordert, die Gesetzesproblematik unter veränderten Voraussetzungen umfassend zu bedenken und zu lösen. Deshalb ist eine Differenzierung unumgänglich: Bis zur galatischen Krise akzeptierte Paulus einen unterschiedlichen Umgang und eine abweichende Bewertung der Tora zwischen der Jerusalemer Gemeinde (und ihren Sympathisanten) auf der einen Seite und den jungen überwiegend beschneidungsfreien Missionsgemeinden auf der anderen Seite. Für Paulus und seine Gemeinden galt Beschneidungsfreiheit und die Tora spielte entweder gar keine oder nur eine untergeordenete Rolle. Der Briefbefund bestätigt diese Einschätzung, denn im 1Thess und den Korintherbriefen wird das Gesetz entweder gar nicht (1Thess, 2Kor) oder nur am Rand erwähnt. Es fehlen bis auf die Andeutung 1Kor 15,56 inhaltliche Aussagen über die Funktion des Gesetzes, d. h. Paulus benötigte keine differenzierte Gesetzeslehre, weil das Gesetz kein vordringliches Thema war. Die ethischen Anweisungen wurden nicht aus der Tora begründet310 und das neue Gerechtigkeitskonzept verband sich mit der Taufe und 309 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 122–125.
310 Vgl. A. LINDEMANN, Die biblischen Toragebote und
Anthropologie 273
nicht mit dem Gesetz. Mit der galatischen Krise änderte sich die Situation schlagartig 311, denn nun wurde den paulinischen Gemeinden die Toraproblematik in Gestalt der Beschneidungsforderung massiv von außen aufgedrängt 312. Die Tora rückte auch in den vorwiegend beschneidungsfreien christlichen Gemeinden von der Peripherie in das Zentrum, und Paulus sah sich genötigt, wie zuvor die Jerusalemer das Konzept unterschiedlicher Wege in der Gesetzes-/Torafrage aufzukündigen und die Bedeutung der Tora für Christen aus dem Judentum und aus den Völkern grundsätzlich zu klären. Dabei kamen einer missionsstrategischen und einer theologischen Überlegung grundlegende Bedeutung zu: 1) Die Beschneidung von Menschen aus den Völkern hätte die Ausbreitung der neuen Bewegung nachhaltig beeinträchtigt. 2) Mit der Beschneidung verbindet sich natürlicherweise und unabweisbar die Frage nach der Lebensgewinnung durch die Tora313, d. h. die soteriologische Qualität des Christusgeschehens wäre beeinträchtigt worden. Die geradezu atemlose, höchst emotionale und spannungsreiche Argumentation lässt ebenso wie die Korrekturen im Römerbrief erkennen, dass Paulus diese Form einer Rechtfertigungs- und Gesetzeslehre erstmals im Galaterbrief vorträgt314. Paulus demontiert die Tora, indem er sie zeitlich (Gal 3,17) und sachlich (Gal 3,19f) als sekundär eingestuft. Ihr kam innerhalb der Geschichte lediglich die Aufgabe zu, die Menschen zu beaufsichtigen (vgl. Gal 3,24). Diese Zeit der Unfreiheit ist nun in Christus zu ihrem Ende gekommen, er befreite die Menschen zur Freiheit des Glaubens (Gal 5,1). Die Glaubenden aus Juden- und Heidentum sind jenseits der Beschneidung und der Tora die legitimen Erben der Verheißungen an Abraham (vgl. Gal 3,29). die paulinische Ethik, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche (s. o. 6), 91–114. 311 Vgl. W. WREDE, Paulus (s. o. 6), 74f; für die galatische Krise als Ausgangspunkt der Rechtfertigungslehre des Gal und Röm votieren z. B. auch G. STRECKER, Theologie, 149; U. WILCKENS, Theologie III, 136ff; PH. F. ESLER, Galatians, London 1998, 153–159; F. E. UDOH, Paul’s view on the law, 237. 312 Völlig anders M. D. NANOS, Irony of Galatians: Paul’s Letter in First-Century Context, Philadelphia 2002, 6, der zu den galatischen ‚influencers‘ feststellt, dass sie nicht von außen (z. B. Jerusalem) in die Gemeinden eindrangen. 313 Der in der älteren Forschung anzutreffende und von der anglo-amerikanischen Forschung attackierte Begriff der ‚Werkgerechtigkeit‘ ist natürlich nicht geeignet, die verschiedenen Ebenen jüdischer Soteriologie zu erfassen. Zugleich zeigt sich aber immer deutlicher, dass der von E. P. SANDERS postulierte ‚Bundesnomismus‘ (vgl. ders., Paulus und das palästinische Judentum [s. o. 6], 400), nichts anderes als
eine idealtypische Anwendung paulinischer und reformatorischer Kategorien auf das Judentum ist (am Anfang steht jetzt überall die Gnade!). Zur Kritik an dieser Konzeption vgl. S. J. GATHERCOLE, Where is Boasting? Early Jewish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1–5, Grand Rapids, 2002, der aufzeigt, dass in zahlreichen jüdischen Texten (z. B. Sir 51,30; Bar 4,1; 2Makk 7,35–38; Jub 30,17–23; PsSal 14,2f; PsPhilo 64,7; TestSeb 10,2f) die Befolgung der Tora und die Lebensgewinnung untrennbar zusammengehören. Vgl. ferner F. AVEMARIE, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen 1996, der herausarbeitet: „Das Vergeltungsprinzip gilt ungebrochen; nirgends wird in Zweifel gezogen, dass die Gebotserfüllung belohnt und die Übertretung bestraft wird“, auch wenn häufig betont wird, „dass der bessere Gehorsam nicht durch Lohn motiviert ist, sondern um Gottes willen oder um der Gebote selbst willen geschieht“ (a. a. O., 578). 314 Vgl. hierzu U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 301–321.
274 Paulus: Missionar und Denker
Paulus hebt im Gal die hamartiologische Sonderstellung der Juden und Judenchristen auf (Gal 2,16) und ordnet sie in die von der Sünde bestimmte Menschheitsgeschichte ein (vgl. Gal 3,22). Beschneidung und Tora gehören nicht zur soteriologischen Selbstdefinition des Christentums 315, weil sich Gott unmittelbar in Jesus Christus offenbarte und die Getauften und Glaubenden in der Geistgabe an diesem Heilsereignis partizipieren. Eine Schlüsselrolle in der paulinischen Nomologie nimmt die Wendung erga no´mou („Werke des Gesetzes/der Tora“) ein (vgl. Gal 2,16; 3,2.5.10; Röm 3,20.28; ferner Phil 3,9)316. Was meint Paulus mit erga no´mou, und welches theologische Konzept verbindet er damit? R. Bultmann sieht in den ‚Werken des Gesetzes‘ das Resultat eines verfehlten Gesetzeseifers, Paulus lehne den Weg der Gesetzeswerke ab, „weil das Bemühen des Menschen, durch Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen, ihn nur in die Sünde hineinführt, ja im Grunde selber schon die Sünde ist.“317 Paulus werte also nicht erst die Erfolglosigkeit, sondern schon die Absicht, durch Erfüllung des Gesetzes vor Gott gerecht zu werden, als Sünde. Für J. D. G. Dunn sind erga no´mou nicht die vor Gott verdienstvoll machenden Bestimmungen der Tora, sondern jüdische ‚identity markers‘ wie Beschneidung, Speisegebote und Sabbat, die Juden von Heiden unterscheiden. Paulus bewertet diese ‚identity markers‘ nur dann negativ, wenn sie zur Begründung jüdischer Prärogative in Anspruch genommen werden und die Gnade Gottes einengen. „In sum, then, the ‚works‘ which Paul consistently warns against were, in his view, Israel’s misunderstanding of what her covenant law required.“318 Paulus wendet sich somit nicht gegen das Gesetz als solches und verunglimpft nicht ‚Werke des Gesetzes‘. Vielmehr votiert er gegen das Gesetz als nationale Identifikationsgröße; ein an Privilegien orientiertes Verständnis der Tora ist Gegenstand seiner Kritik. Die Rechtfertigungslehre bestimmt demnach nicht primär des Verhältnis des einzelnen zu Gott, sondern sichert die Rechte der Heidenchristen. Der Kritik an R. Bultmann ist da-
315 Es kann deshalb überhaupt keine Rede davon sein, dass Paulus nicht die Tora, sondern nur ihre Relevanz für das Leben der Christen aus den Völkern kritisiere, wie vielfach in der sogen. ‚new perspective‘ behauptet wird; zu dieser im angelsächsischen Raum einflussreichen Forschungsrichtung vgl. neben den zahlreichen Veröffentlichungen von E. P. SANDERS und J. D. G. DUNN vor allem N. T. WRIGHT, What St. Paul Really Said: Was Paul of Tarsus the Real Founder of Christianity?, Grand Rapids 1997. Einen aktuellen Forschungsüberblick bieten M. B. THOMPSON, The New Perspective on Paul, Cambridge 2002; S. WESTERHOLM, Perspectives Old and New on Paul, Grand Rapids/Cambridge 2004. Zur kritischen Darstellung der ‚new perspective‘ vgl. A. J. M. WEDDERBURN, Eine neuere Paulusperspektive?, in: Biographie und Persönlichkeit bei Paulus, hg. v. E.-M. Becker/P. Pilhofer, WUNT 187, Tübin-
gen 2006, 46–64; J. FREY, Das Judentum des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus (s. o. 6), 35–43. Innerhalb der ‚new perspective‘ wurden einerseits Zerrbilder des antiken Judentums korrigiert und weiterführende Präzisierungen für das Verständnis des jüdischen Hintergrundes der paulinischen Theologie vorgenommen, zugleich ist aber (neben den zahlreichen bei J. Frey aufgeführten Punkten) zu kritisieren, dass in der ‚new perspective‘ der griechisch-römische Bereich fast vollständig ausgeblendet wird. 316 Darstellung der Diskussion und weitere Literatur in: U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 304–309. Die aktuelle Kontroverse wird fortgesetzt in: M. BACHMANN (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive, WUNT 182, Tübingen 2005. 317 R. BULTMANN, Theologie, 264 f. 318 J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 366.
Anthropologie 275
rin zuzustimmen, dass Paulus die Möglichkeit, aus der Tora heraus Leben zu erlangen, nicht nur rhetorisch zugesteht. Die Schrift bezeugt ausdrücklich diesen Weg (vgl. Lev 18,5 in Gal 3,12b; ferner Röm 2,13; 10,5). Weder die Tora noch das Tun des in der Tora Gebotenen sind für Paulus dem Bereich der Sünde zuzurechnen, faktisch führen aber die erga no´mou unter der Perspektive des Torafluches immer in den Bereich der Sünde, weil niemand das in der Tora Geschriebene (Gal 3,10b) wirklich befolgt. Deshalb muss gegenüber den reduktionistischen Verengungen der ‚new perspective‘ betont werden, dass Paulus mit seiner Rede von den erga no´mou grundsätzliche theologische Aussagen einbringt 319. Der durchgängig negative Gebrauch bei Paulus verdeutlicht, dass die erga no´mou das von der Sünde bestimmte Resultat der zu tuenden Regelungen/Vorschriften/ Praktiken der Tora sind. Die Ebene des menschlichen Tuns (vgl. poieı˜n in Gal 3,10.12!) ist für die paulinische Argumentation konstitutiv, denn erst sie ermöglicht den Angriff der Sünde. Die ‚Werke des Gesetzes‘ können nicht zur Gerechtigkeit führen, weil die Macht der Sünde die Lebensverheißung der Tora konterkariert. Damit bewertet Paulus zugleich die Tora: Sie hat im Gegensatz zum pneu˜ma nicht die Kraft, sich des Zugriffs der Sünde zu erwehren (vgl. Gal 5,18). Die Tora bleibt unter dem Aspekt der Lebensverheißung hinter ihren eigenen Verheißungen zurück, die Stärke der Sünde offenbart auch eine Schwäche der Tora. Faktisch geht Paulus von einer Insuffizienz der Tora aus!
Der Röm bringt gegenüber dem Gal substantielle Veränderungen auf drei Ebenen320: a) Paulus führt dikaiosu´nv heou˜ („Gerechtigkeit Gottes“) als theologischen Leitbegriff ein, um damit den theologischen Grundertrag der Argumentation des Gal zu sichern (vgl. Röm 3,21: dikaiosu´nv heou˜ cwri`ß no´mou; ferner Röm 6,14b; 10,1–4). b) Dies ermöglicht ihm eine partielle Neubewertung des Gesetzes/der Tora (vgl. Röm 3,31; 7,7.12; 13,8–10); das Gesetz/die Tora wird nicht mehr als solches kritisiert, es ist nun zuallererst Opfer der Sündenmacht. c) Paulus bedenkt umfassend das Verhältnis der Gerechtigkeit Gottes zur Erwählung Israels. Diese Veränderungen ergeben sich aus der besonderen historischen Situation des Apostels im Verhältnis zur Jerusalemer und zur römischen Gemeinde (Kollektenübergabe, Spanienmission), aber auch aus der polemisch einseitigen Argumentation des Gal. Der Phil nimmt den Ertrag der Rechtfertigunsglehre des Röm auf (vgl. Phil 3,5.6.9) und steht auch in seinem Gesetzesverständnis in der Kontinuität des vorangehenden Briefes. Der historische Abriss zeigt, wie sehr das jeweilige Gesetzesverständnis mit dem Lebensweg des Paulus verbunden ist. Man wird deshalb nicht von dem Gesetzes-/Toraverständnis des Apostels sprechen können, denn Paulus bearbeitete notwendiger-
319 Vgl. hier O. HOFIUS, „Werke des Gesetzes“. Unter-
suchungen zu der paulinischen Rede von den erga no´mou, in: D. Sänger/U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 271–310. 320 Keineswegs handelt es sich nur um „Vertiefungen“, wie J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 419, meint. Auch der Einwand, der geringe zeitliche Abstand
zwischen Gal und Röm spräche gegen Veränderungen (so J. D. G. DUNN, Theology of Paul [s. o. 6], 131), überzeugt nicht, denn sowohl der Textbefund in beiden Briefen als auch die veränderte historische Situation des Apostels weisen darauf hin, dass Paulus seine Position weiterentwickelt hat.
276 Paulus: Missionar und Denker
weise und sachgemäß die Gesetzes-/Torathematik seiner historischen Situation entsprechend in unterschiedlicher Weise. Dabei dokumentieren der Gal und Röm eine späte Phase, die zugleich zeitlich und sachlich einen Endpunkt darstellt. Sie bildet den Ausgangspunkt für die synchrone Erfassung des paulinischen Gesetzes- /Toraverständnisses. Die synchrone Analyse
Paulus spricht in sehr verschiedener Weise über das Gesetz/die Tora. Es finden sich positive Aussagen über den Charakter (Röm 7,12: „So ist das Gesetz heilig und das Gebot heilig, gerecht und gut“; vgl. ferner Röm 7,16b.22) und die Erfüllbarkeit des Gesetzes (Gal 3,12: „wer sie tut [die Gebote] wird in ihnen leben“; Röm 2,13: „die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“; vgl. ferner Gal 5,3.23; Röm 2,14f). Ausdrücklich wird in Gal 5,14 und Röm 13,8–10 der positive Zusammenhang zwischen dem Liebesgebot und der Gesetzeserfüllung betont. Aber auch negative Aussagen über das Gesetz/die Tora sind anzutreffen. Das Gesetz/die Tora ist sowohl sachlich (vgl. Gal 3,19.23.24; 4,5; 5,4 Röm 6,14b: „Denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“) als auch zeitlich defizitär (vgl. Gal 3,17: 430 Jahre nach der Verheißung; Gal 3,24: ‚Zuchtmeister‘ auf Christus hin; Röm 5,20a: „Das Gesetz ist dazwischengekommen“; Röm 7,1–3). Das Gesetz/die Tora steht in einem Gegensatz zum Geist (Gal 3,1–4; 5,18), zum Glauben (Gal 3,12.23), zur Verheißung (Gal 3,16–18; Röm 4,13) und zur Gerechtigkeit (Gal 2,16; 3,11.21; 5,4; Röm 3,28; 4,16). Es hat die Funktion der Sündenerkenntnis321 (Röm 3,20.21a: „Denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch vor ihm gerecht, denn durch das Gesetz kommt es zur Erkenntnis der Sünde. Nun aber ist – ohne das Gesetz – die Gerechtigkeit Gottes offenbar geworden“; Röm 4,15b: „wo aber kein Gesetz, da auch keine Übertretung“; vgl. 1Kor 15,56; Röm 5,13.20; 7,13). Weitere negative Funktionsbeschreibungen des Gesetzes/der Tora sind: „Denn das Gesetz bewirkt Zorn“ (Röm 4,15a); das Gesetz/die Tora ruft sündige Leidenschaften hervor (Röm 7,5); das Gesetz/die Tora hält gefangen (Röm 7,6a). Das Gesetz/die Tora ist unfähig, die Herrschaft der Sünde zu durchbrechen. Was einst zum Leben gegeben wurde (vgl. Dtn 30,15.16!), erweist sich nun als Handlanger des Todes. Nach Gal 3,22 entspricht dies der Schrift und damit dem Willen Gottes; in Röm 7,14ff; 8,3.7 hingegen wird die Schwäche des Gesetzes gegenüber der Sünde lediglich konstatiert. Paulus lehnt in Röm 7,7 emphatisch den naheliegenden Einwand ab, das Gesetz/die Tora selbst sei Sünde. Allerdings provozieren Röm 4,15; 5,13; 7,5.8.9 diese Schlussfolgerung, denn hier wird dem Gesetz/der Tora eine aktive Rolle zugeschrieben; es aktiviert die Sünde und setzt so jenen verhängnisvollen Prozess in Gang, an dessen Ende der eschatologische Tod steht. Schließlich finden sich bei Paulus paradoxe Aussagen über das Gesetz/die Tora, die sich nur vom Kontext bzw. der Gesamtinterpretation des paulinischen Gesetzesver321 Vgl. dazu Ps 19,13; 32; 51; 119.
Anthropologie 277
ständnisses erschließen (Gal 6,2: „Gesetz Christi“; Röm 3,27: „Gesetz des Glaubens“; Röm 8,2: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat dich befreit vom Gesetz der Sünde und des Todes“; Röm 10,4: Christus als te´loß des Gesetzes/der Tora)322. Lassen sich diese verschiedenen Aussagereihen ohne Harmonisierungen zusammendenken oder müssen bei Paulus verschiedene Gesetzeslehren konstatiert werden323? Sind die Stellungnahmen des Apostels zum Gesetz/zur Tora vielleicht sogar so spannungsreich, dass eine Zusammenschau unmöglich ist324? Der Versuch einer Lösung dieses Problemkomplexes soll in zwei Schritten erfolgen: 1) Zunächst gilt es, die denkerischen Probleme in den Blick zu nehmen, vor denen Paulus stand. 2) Es muss dann gefragt werden, wie sich die einzelnen Linien des paulinischen Gesetzesverständnisses zueinander verhalten und ob sie in ein konsistentes Gesamtverständnis überführt werden können. Zu 1: Der sachliche Ausgangspunkt des paulinischen Gesetzesverständnisses ist die Erkenntnis, dass Gott in Jesus Christus letztgültig die Menschen retten will. Wie verhält sich dann aber die erste Offenbarung Gottes in der Tora zum Christusgeschehen? Einen direkten oder auch nur graduellen Gegensatz zwischen beiden Offenbarungen konnte Paulus nicht behaupten, wenn er nicht unaufhebbare Widersprüche im Gottesbild in Kauf nehmen wollte. War die erste Offenbarung nicht ausreichend, um den Menschen das Leben zu gewähren? Warum wendet sich Gott zunächst nur an das Volk Israel, dann aber an die ganze Welt? Welchen Wert hat die Tora, wenn Menschen aus den Völkern auch ohne Beschneidung den Willen Gottes umfassend erfüllen können? Paulus wollte an beidem festhalten: an der Gültigkeit der ersten Offenbarung und dem allein rettenden Charakter der zweiten Offenbarung. Zwei unaufhebbare, zugleich aber gegensätzliche Grundsätze stehen sich bei Paulus gegenüber. Eine göttliche Setzung gilt und: Allein der Glaube an Jesus Christus rettet. Paulus stand also vor einem unlösbaren Problem, er wollte und musste eine Kontinuität nachweisen, die nicht bestand, die Kontinuität des Heilshandelns Gottes im ersten und im zweiten Bund. Denn: „Wenn das Volk Gottes sich bekehren muß, um das Volk Gottes zu bleiben, kann der früher gestiftete Bund als solcher nicht befriedigend sein.“325 Die denkerischen Probleme wurden durch offene Fragen in der Praxis des
322 In Röm 10,4 ist te´loß als ‚Ende‘ im zeitlichen und sachlichen Sinn zu verstehen; vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 383 f. 323 Vgl. E.P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 111: „Allerdings hatte er nicht nur eine einzige Theologie des Gesetzes. Und sie bildete nicht den Ausgangspunkt seines Denkens, so daß es unmöglich ist, eine zentrale Aussage anzuführen, die alle seine anderren Aussagen erklärt.“
324 Vgl. H. RÄISÄNEN, Paul and the Law (s. o. 6.5.3), 199–202.256–263. 325 H. RÄISÄNEN, Der Bruch des Paulus mit Israels Bund, in: T. Veijola (Hg.), The Law in the Bible and in its Environment, Helsinki/Göttingen 1990, (156– 172) 167.
278 Paulus: Missionar und Denker
Zusammenlebens zwischen Judenchristen und Christen aus den Völkern verschärft. Diese von der Tora nicht vorgesehene und somit auch nicht geregelte Situation ließ verschiedene Interpretationen zu, so dass Konflikte vorprogrammiert waren. Zudem spielte die Gesetzes-/Toraproblematik eine zentrale Rolle in der Loslösung der frühchristlichen Gemeinden vom Judentum. Auch von außen übte dieses Problem Druck auf Paulus und seine Gemeinden aus, denn sowohl militante Judenchristen als auch Juden standen Paulus feindselig gegenüber. Zu 2: Paulus musste die Beschneidungsfreiheit für Christen aus den Völkern wahren, die rituelle wie soteriologische Insuffizienz der Tora für Judenchristen und Christen aus den Völkern behaupten und zugleich die Erfüllung des Gesetzes/der Tora auch durch die Christen postulieren. Nur so war es möglich, die bleibende Gültigkeit des ersten Bundes und den alleinigen Heilscharakter des neuen Bundes zu behaupten. Zudem galt es, den durch die Argumentation des Gal mit Sicherheit erhobenen Vorwurf der ‚Gesetzlosigkeit‘ zu widerlegen. Die paulinische Lösung besteht darin, neu zu definieren, was das Gesetz seinem Wesen nach ist. Einen ersten Schritt in diese Richtung bildet Gal 5,14: „Das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, nämlich du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Systemqualität erlangt dieser Gedanke aber erst im Röm, wo Paulus sich von der polemischen Agitation des Gal löst und auch positiv die Bedeutung des Gesetzes für die Glaubenden beschreibt. Als Schlüsseltext ist Röm 13,8–10 anzusehen. Die These, die Liebe sei die Erfüllung des Gesetzes/der Tora (Röm 13,10: plv´rwma oun no´mou v aga´pv) sichert die paulinische Argumentation in vierfacher Hinsicht ab: 1) Sie erlaubt die Behauptung, das Gesetz/die Tora in seinem innersten Wesen voll zur Geltung zu bringen und zu erfüllen, ohne ihm eine wie auch immer geartete soteriologische Funktion zuzubilligen. 2) Zugleich ermöglicht diese Vorstellung im Hinblick auf die beschneidungsfreie Mission die notwendige Reduktion des Gesetzes/der Tora. 3) Sowohl mit seiner Konzentration des Gesetzes/der Tora auf ein Gebot bzw. wenige ethische Grundnormen326 als auch mit seiner Wesensbestimmung des Gesetzes/der Tora als Liebe steht Paulus in der Tradition des hellenistischen Judentums. Dort herrschte die Tendenz vor, die Toragebote mit einer vernunftgemäßen Tugendlehre zu identifizieren327, um sie so zugleich zu öffnen und zu bewahren. Die euse´beia („Frömmigkeit“) als höchste Form der Tugend schloss auch die Liebe mit ein328. Für Judenchristen und Proselyten war somit die paulinische Problemlösung auf ihrem 326 Vgl. Arist 131; 168; TestDan 5,1–3; TestIss 5,2; Philo, Spec Leg I 260; II 61–63; Decal 154ff; Jos, Ap 2,154; Ant 18,117. Anders als bei Paulus wurden aber durch die Hochschätzung einzelner Gebote die anderen Gebote nicht außer Kraft gesetzt; vgl. dazu zuletzt R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum (s. o. 3.8.1), 236–239.
327 Vgl. R. WEBER, a. a. O., 320: „So ist der Nomos im
Grunde eine Form der Tugendlehre, denn die Tugend zielt auf Lebensgestalt.“ 328 Vgl. z. B. Philo, Decal 108–110.
Anthropologie 279
kulturellen Hintergrund rezipierbar329. 4) Aber auch im griechisch-römischen Kulturbereich galt die Überzeugung, dass Güte und Liebe die eigentliche Form der Gerechtigkeit und der Erfüllung der Gesetze sind. „Und auch wenn dies die Natur vorschreibt, dass der Mensch für den Mitmenschen, wer er auch immer sei, eben aus dem Grunde, weil dieser ein Mensch ist, gesorgt wissen will, ist es notwendig, dass gemäß derselben Natur der Nutzen aller gemeinsam ist. Wenn dies so ist, stehen wir alle unter ein und demselben Naturgesetz, und wenn eben dies so ist, werden wir sicher durch das Gesetz der Natur gehindert den anderen zu verletzen“ (Cic, Off III 5,27). Das mit der Vernunft identische und mit der Natur im Einklang stehende Gesetz kann in Rom kein anderes sein als in Athen, denn „alle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen und einer wird der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher aller sein: Gott! Er ist der Erfinder dieses Gesetzes, sein Schiedsrichter, sein Antragsteller, wer ihm nicht gehorcht, wird sich selber fliehen und das Wesen des Menschen verleugnend wird er gerade dadurch die schwersten Strafen büßen, auch wenn er den übrigen Strafen, die man dafür hält, entgeht“ (Cic, Rep III 22). Wer auf das Gesetz der Vernunft hört, kann seinem Mitmenschen nicht schaden; wer so handelt, steht im Einklang mit Gott, der Natur und sich selbst. Deshalb gilt es, sich der Philosophie zuzuwenden, denn „Zeus, der gemeinsame Vater aller Menschen und Götter, befiehlt es dir und treibt dich dazu an. Denn sein Gesetz und Gebot lautet: Der Mensch soll gerecht, rechtschaffen, wohltätig, besonnen, hochsinnig, Herr über Mühen und Lüste, frei von jedem Neid und jeder bösen Absicht sein. Um es mit einem Wort zu sagen: Das Gesetz des Zeus gebietet den Menschen, gut zu sein (agaho`n eınai keleu´ei to`n anhrwpon o no´moß tou˜ Dio´ß).“330 Die Übereinstimmung mit Gal 6,2; Röm 3,27; 8,2; 13,8–10 ist offenkundig: Die Anordnung, das Gebot, der Wille Gottes ist die Liebe! Die Lösung
Die verschiedenen Linien der paulinischen Aussagen zum Gesetz/zur Tora lassen sich nicht einfach harmonisieren oder ausschließlich den verschiedenen Gemeindesituationen zuschreiben. Paulus rang mit dem ihm aufgezwungenen Thema und gelangte zu einer sich verdichtenden Lösung, die er im Röm vorlegt. Die Konzentration auf den Liebesgedanken ermöglicht es ihm, die theologische Position des Gal in ihrem Kern weiterhin zu vertreten, ohne jedoch als ‚gesetzlos‘ gebrandmarkt zu werden. In Gal 6,2 („Tragt gegenseitig eure Lasten, und so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“), Röm 3,27 („Gesetz des Glaubens“) und in Röm 8,2 („Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus“) spielt Paulus mit dem Begriff no´moß und versteht ihn im Sinn von ‚Regel/Norm/Ordnung‘331. Der Glaube und die Liebe in der Kraft des Geistes erschei329 Das Liebesgebot hat in den Weisungen jüdischer Ethik zwar keine überragende, wohl aber eine bedeutsame Stellung; vgl. dazu K.-W. NIEBUHR, Gesetz
und Paränese, WUNT 2.28, Tübingen 1987, 122ff u. ö. 330 Mus, Diss 16. 331 Zur Begründung vgl. U. SCHNELLE, Das Gesetz bei
280 Paulus: Missionar und Denker
nen als die neuen Normen, an die sich Christen binden und die jeglichen eigenmächtigen Ruhm vor Gott ausschließen. Dies bestätigt Röm 13,8–10, wo die Liebe als die Gesetzeserfüllung definiert wird. Weil die Christen bereits jetzt aus diesen Normen heraus leben, konnte Paulus auch behaupten, dass sie das Gesetz/die Tora keineswegs aufheben, sondern aufrichten (Röm 3,31). Die Überführung in die Liebe entzieht dem Gesetz/der Tora zudem die zerstörerische Kraft des religiösen Eifers und stärkt so seine dienenden Funktionen. Paulus nimmt eine Neudefinition vor, indem er seine (aus strenger jüdischer Perspektive fragmentarische) Auffassung von der Tora (die Liebe als Zentrum und Ziel bei gleichzeitiger Verneinung jeglicher soteriologischer Funktion und der Abrogation der Ritualvorschriften) als ‚das Gesetz‘ formuliert und damit zugleich die Tora in einen übergeordneten Gesetzesbegriff integriert, der gleichermaßen für alle Christen auf ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund zugänglich war332. Der Apostel synthetisiert über den Liebesbegriff das jüdische und das griechisch-römische Gesetzesverständnis und gelangt so zu einer stimmigen Integration der Gesetzesthematik in seine Sinnbildung. Über die Neuschreibung gelingt es Paulus, das Unvereinbare zu vereinbaren, um so die notwendige kulturelle Anschlussfähigkeit herzustellen . Weder das jüdische noch das griechisch-römische kulturgeschichtliche Umfeld ließen eine ‚Freiheit vom Gesetz‘ zu; Paulus geht es in all seinen Äußerungen zum Gesetz/zur Tora nie um ‚Gesetzesfreiheit‘, sondern um die Frage, wie die soteriologische Exklusivität des Christusgeschehens, die Erfüllung des Gesetzes in der Liebe und die Beschneidungsfreiheit der Glaubenden aus griechisch-römischer Tradition zusammengedacht werden können.
6.5.4
Glaube
Der Glaube ist für Paulus eine Neuqualifikation des Ich, denn im Glauben eröffnet sich für den Menschen Gottes Zuwendung zur Welt. Grundlage und Ermöglichung des Glaubens ist Gottes Heilsinitiative in Jesus Christus. Der Glaube ruht nicht in einem Entschluss des Menschen, sondern er ist eine Gnadengabe Gottes333. Bereits für Paulus (s. o. 6.5.3), 265–269. Sprachliche Parallelen zum Gebrauch von no´moß im Sinn von „Regel/Ordnung/Norm“ bietet H. RÄISÄNEN, Sprachliches zum Spiel des Paulus mit Nomos, in: Glaube und Gerechtigkeit (FS R. Gyllenberg), SFEG 38, Helsinki 1983, 134–149. 332 Aufschlussreich ist die Beobachtung, dass er diesen Weg auch bei anderen zentralen theologischen Fragen beschritt. In Röm 2,28f bestimmt er neu, was Judesein und Beschneidung ausmacht; Röm 4,12 nimmt diese Neudefinition der Beschneidung auf und in Röm 9,6f erfolgt eine Neubestimmung Is-
raels. Neudefinitionen, die inhaltlich einer Neuschreibung/Umschreibung gleichkommen, sind immer dann erforderlich, wenn Sinnwelten innerhalb ihrer bisherigen Ausformungen nicht kompatibel sind, zugleich aber auf einer höheren Ebene zusammengeführt werden müssen. 333 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen von G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei Paulus, in: Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn/H. Klein, BThSt 7, Neukirchen 1982, (93– 113) 100 ff.
Anthropologie 281
Abraham gilt: „Deshalb aus Glauben, damit: nach Gnade (dia` tou˜to ek pı´stewß, ıÇna kata` ca´rin), damit die Verheißung für jeden Samen gültig sei, nicht nur für den aus dem Gesetz, sondern auch für die aus Abrahams Glauben, der unser aller Vater ist“ (Röm 4,16). Die Grundstruktur des paulinischen Glaubensbegriffes zeigt deutlich Phil 1,29: „Denn euch wurde es geschenkt (oÇti umı˜n ecarı´shv), für Christus – nicht nur an ihn zu glauben (ou mo´non to` eiß auto`n pisteu´ein), sondern auch für ihn – zu leiden“. Der Glaube ist ein Werk des Geistes, denn: „Niemand kann sagen: ‚Herr ist Christus!‘ außer im Heiligen Geist“ (1Kor 12,3b)334. Der Glaube zählt zu den Früchten des Geistes (vgl. 1Kor 12,9; Gal 5,22). Im Glauben eröffnet sich somit eine neue Beziehung zu Gott, die der Mensch nur dankbar hinnehmen kann. Der Geschenkcharakter von pı´stiß/pisteu´ein („Glaube/glauben“) bestimmt auch die enge Verbindung von Glauben und Verkündigung bei Paulus. Der Glaube entzündet sich am Evangelium, das eine Macht Gottes ist (Röm 1,16). Gott gefiel es, „durch die Torheit der Verkündigung die zu retten, die glauben“ (1Kor 1,21). Früh verbreitet sich über den Apostel die Kunde: „Der uns früher verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben“ (Gal 1,23). Nach Röm 10,8 verkündigt Paulus das „Wort des Glaubens“ (to` rv˜ma tv˜ß pı´stewß). Der Glaube erwächst aus der Verkündigung, die ihrerseits auf das Wort Christi zurückgeht (Röm 10,17: „Der Glaube [kommt] aus der Botschaft, die Botschaft aber durch das Wort Christi“). Somit handelt Christus selbst im Wort der Verkündigung. In 1Kor 15,11b schließt Paulus seine grundlegende Unterweisung mit den Worten ab: „So haben wir verkündigt und so habt ihr geglaubt.“ Nicht die rhetorischen Künste des Predigers oder das begeisterte Ja des Menschen führen zum Glauben, sondern der Geist und die Kraft Gottes (vgl. 1Kor 2,4f). Der Geist vermittelt die Gabe des Glaubens und prägt zugleich inhaltlich, indem er die Einheit der Gemeinde gewährt. Geist und Glaube sind bei Paulus ursächlich miteinander verbunden, insofern der Geist den Glauben eröffnet und der Glaubende ein Leben in der Kraft des Geistes führt. Es gilt: „Denn wir erwarten im Geist aus Glauben die Hoffnung auf Gerechtigkeit“ (Gal 5,5). Gal 3,23.25 zeigen schließlich, dass der Glaube bei Paulus Dimensionen erhält, die weit über das individuelle Zum-Glauben-Kommen hinausgehen: Dem ‚Kommen‘ des Glaubens eignet eine heilsgeschichtliche Qualität, der Glaube löst das Gesetz ab und ermöglicht dem Menschen einen neuen Zugang zu Gott. Die Grundstruktur des paulinischen Glaubensbegriffes als einer rettenden und damit Leben spendenden Kraft und Gabe Gottes lässt es als unsachgemäß erscheinen, den Glauben als „freie Tat der Entscheidung“335 oder als „Annahme und Bewahrung der Heilsbotschaft“336, zu sprechen. Damit werden wichtige Aspekte des paulinischen Glaubensbegriffes genannt, zugleich aber Ursache und Wirkung verwechselt, denn erst Gottes Handeln ermöglicht den Glauben337. Der Glaube ist nicht Voraussetzung/ 334 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 331, der behauptet, „daß Pls die pı´stiß nicht als inspiriert bezeichnet, sie nicht auf das pneu˜ma zurückführt.“
335 R. BULTMANN, Theologie, 317. 336 E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 101. 337 Vgl. G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei
282 Paulus: Missionar und Denker
Bedingung des Heilsgeschehens, sondern ein Teil desselben! Gott ist es, der das Wollen und das Vollbringen wirkt (Phil 2,13). Der Glaube entsteht aus der Heilsinitiative Gottes, der Menschen in den Dienst der Evangeliumsverkündigung ruft (vgl. Röm 10,13f: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Wie sollen sie nun anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie aber sollen sie hören, ohne dass jemand verkündigt?“). Gott allein ist der Schenkende, der Mensch der Empfangende, so dass Paulus folgerichtig das Leben aus dem Glauben dem Leben aus dem Gesetz entgegenstellen kann (vgl. Gal 2,16; 3,12; Röm 3,21f.28; 9,32). Im Bekenntnis gewinnt der Glaube seine Gestalt, was Paulus in Röm 10,9f programmatisch formuliert: „Denn wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet. Mit dem Herzen nämlich glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Munde aber bekennt man zur Rettung!“ Der Mensch kann sich gegenüber dem Glaubensinhalt nicht neutral verhalten, sondern ihn nur bekennen oder ablehnen. Gerade im Bekenntnis weist der Glaubende von sich weg und auf Gottes Heilstat hin, so dass er Anteil an der zukünftigen Rettung erhält. Der Glaubende bleibt nicht bei sich selbst, sondern teilt sich mit, überschreitet Grenzen. Deshalb kann er nicht schweigen, vielmehr: „Ich glaube, darum rede ich (Ps 115,1 LXX), so glauben auch wir, darum reden wir auch“ (2Kor 4,13b: kai` vmeı˜ß pisteu´omen, dio` kai` lalou˜men). Mit der Glaubensbeziehung verbindet sich der Glaubensinhalt (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 15,14), den Paulus auch als Glaubenswissen der Gemeinden voraussetzt (vgl. 1Thess 4,13; 1Kor 3,16; 6,1–11.15 f.19; 10,1; 12,1; 2Kor 5,1; Gal 2,16; Röm 1,13; 11,25 u. ö.). Als ein Geschenk Gottes beinhaltet der Glaube immer zugleich das individuelle Moment des jeweiligen Gläubigseins und setzt ein Tun des Menschen frei338. Paulus spricht häufig von „eurem Glauben“ (1Thess 1,8; 3,2.5–7.10; 1Kor 2,5; 2Kor 1,24; 10,15; Röm 1,8.12; Phil 2,17 u. ö.), wobei er die missionarische Dimension des Glaubens der Gemeinden von Thessalonich und Rom besonders hervorhebt. Für den Apostel gibt es ein „Wachsen im Glauben“ (2Kor 10,15), neue Einsichten und Erkenntnisse mehren, läutern und wandeln den Glauben. Der Glaube ist Veränderungen unterworfen, aber er hebt sich in seinen Grundüberzeugungen nicht selbst auf. In Röm 12,3 ermahnt Paulus die Charismatiker, nicht über die auch ihnen gesetzten Gruppen hinauszugehen, sondern besonnen zu sein gemäß dem ihnen verliehenen ‚Maß des Glaubens‘ (me´tron pı´stewß). Der Glaubende muss einschätzen, welche Gaben ihm verliehen wurden, und seinen Platz in der Gemeinde finden. Der Glaube gründet im Liebeshandeln Gottes in Jesus Christus (vgl. Röm 5,8), so Paulus, 109: „ . . . Glaube ist eine Entscheidung Gottes.“ 338 Prägnant A. SCHLATTER, Der Glaube im Neuen Tes-
tament, Stuttgart 41927, 371: „Das im Glauben begründete Wollen ist Liebe.“
Anthropologie 283
dass die Liebe als die tätige und allen sichtbare Seite des Glaubens erscheint (Gal 5,6: „der durch die Liebe tätige Glaube“). Paulus fordert vom Glaubenden einen Einklang von Denken und Handeln, von Überzeugung und Tat. Zugleich weiß er aber um Verfehlungen der Glaubenden (Gal 6,1), spricht von den Schwachen im Glauben (Röm 14,1), verspricht den Philippern Förderung im Glauben (Phil 1,25) und ruft zum Stehen im Glauben auf (1Kor 16,13; 2Kor 1,24; Röm 11,20). Der Glaube verleiht dem Menschen somit keine sichtbare neue Qualität, er stellt ihn in eine geschichtliche Bewegung und Bewährung, die sich im Gehorsam vollzieht (Röm 1,5: „Durch Jesus Christus haben wir Gnade und Apostelamt empfangen, um den Glaubensgehorsam für seinen Namen unter allen Völkern aufzurichten“). Paulus nimmt einerseits den Sprachgebrauch im hellenistischen Judentum339 und paganen Hellenismus auf340, andererseits geht er darüber hinaus, indem nun pı´stiß/ pisteu´ein zur zentralen und exklusiven Bezeichnung für das Gottesverhältnis und damit auch zu dem Identitätsmerkmal werden341. Eine zweite Besonderheit zeigt sich in der Ausrichtung des Glaubens auf Jesus Christus. Für Paulus ist der Glaube immer Glaube an den Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckte (vgl. Röm 4,17.24; 8,11). Jesus Christus ist gleichermaßen der Auslöser und der Inhalt des Glaubens342. Zentrum des Glaubens ist somit nicht der Glaubende, sondern der Geglaubte. Weil der Glaube aus der Evangeliumsverkündigung erwächst, ist er letztlich immer eine Gottestat, allein begründet im Christusgeschehen. Im Glauben stellt Gott den Menschen auf einen neuen Weg, dessen Grund und Ziel Jesus Christus ist. Zweifellos enthält der Glaube auch biographische und psychologische Elemente und das Moment der menschlichen Entscheidung, der aber Gottes grundlegende Entscheidung vorausgeht. Paulus sieht den Glauben nicht als ein isoliertes anthropologisches Phänomen, sondern als neue Bestimmung der Existenz durch Gott. Der Glaube ist gleicher339 Vgl. umfassend D. LÜHRMANN, Pistis im Judentum,
ZNW 64 (1973), 19–38. 340 Die zentralen Belege sind angeführt und interpretiert bei G. BARTH, Pistis in hellenistischer Religiosität (s. o. 6.5), 173–176; G. SCHUNACK, Glaube in griechischer Religiosität, in: B. Kollmann/W. Reinbold/ A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), BZNW 97, Berlin/ New York 1999, (296–326) 299–317. In der griechischen Welt ist der Bereich ‚Glaube/glauben‘ zuallererst mit den mehr als 50 Orakelstätten verbunden. Das Orakelwesen war seit dem 7./6. Jh. v.Chr. bis in die Spätantike hinein ein umfassendes kulturgeschichtliches Phänomen, das alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens betraf. Glaube bezieht sich in diesem Kontext auf Göttersprüche, die als Deutung des Lebensgeschickes eines Menschen
speziell in Umbruchsituationen dienten. Bemerkenswert ist das Zeugnis des Plutarch, der um 95 n.Chr. das Amt eines der beiden Oberpriester im Orakelheiligtum des Apollon in Delphi übernahm. Der Glaube ist für ihn selbstverständlich, denn die Götter sind Garanten gesellschaftlicher und individueller Stabilität: „Verehrung und Glaube sind fast allen Menschen von Geburt an eingepflanzt“ (Mor 359F.360A). Inhalt des Glaubens sind das Vorherwissen der Götter und ihre Hilfe für die Menschen, speziell in Not- bzw. Grenzsituationen wie Krankheit und Sterben. 341 Vgl. G. BARTH, Art. pı´stiß, EWNT 3, Stuttgart 1983, (216–231) 220. 342 Vgl. G. FRIEDRICH, Glaube und Verkündigung bei Paulus, 102–106.
284 Paulus: Missionar und Denker
maßen eine neue Lebensausrichtung und Lebenshaltung. Der Mensch gelangt von einem selbstzentrierten zu einem gottzentrierten Leben; der Glaube lokalisiert den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und realisiert sich in der Liebe.
6.5.5
Freiheit
Christliche Existenz ist ihrem Wesen nach Freiheit, denn: „zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1); Freiheit ist für Paulus ein „Grundwort des Evangeliums“343. Christliche Freiheit resultiert aus der von Jesus Christus erworbenen und in der Taufe zugeeigneten Befreiung von der Macht der Sünde. Freiheit ist also nicht eine Möglichkeit menschlichen Seins, der Mensch kann sie von sich aus weder erreichen noch verwirklichen. Die universale Macht der Sünde schließt Freiheit als Ziel menschlichen Strebens aus. Zwar können Menschen ein individuelles Freiheitsgefühl besitzen und die Macht der Sünde leugnen, was aber an der faktisch knechtenden Herrschaft der Sünde im Leben dieser Menschen nichts ändert. Allein das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus kann in einem umfassenden Sinn als befreiendes Geschehen begriffen werden, weil nun die den Menschen unterdrückenden Mächte der Sünde und des Todes besiegt sind. Vor allem in den Auseinandersetzungen mit den Korinthern verdeutlicht Paulus die paradoxe Grundgestalt seines Freiheitsbegriffes: Freiheit als Liebe in der Bindung an Christus. Freiheit gewinnt nicht in der Potenzierung des Individuellen, sondern allein in der Liebe Gestalt. Paulus greift das Schlagwort der ‚Starken‘ pa´nta moi exestin („Alles ist mir erlaubt“) auf, um es sofort zu relativieren und zu präzisieren (vgl. 1Kor 6,12; 1Kor 10,23). Christliche Freiheit zielt nicht auf Indifferenz, sondern ist ihrem Wesen nach ein Partizipations- und Relationsbegriff: Die Glaubenden und Getauften haben teil an der durch Christus erworbenen Freiheit, die ihre eigentliche Prägung erst im Verhältnis zum Mitchristen und zu der christlichen Gemeinde gewinnt. Das Modell für diesen Freiheitsbegriff liefert der gekreuzigte Jesus Christus, der für den Bruder gestorben ist (vgl. 1Kor 8,11; Röm 14,15). Christliche Freiheit ist für Paulus von Jesus Christus geschenkte Freiheit, so dass ein Missbrauch dieser Freiheit als Sünde gegen den Mitchristen zugleich als Sünde gegenüber Christus erscheint. In 1Kor 9 präsentiert sich Paulus als Vorbild für eine Freiheit, die um des anderen willen auf das ihr eigentlich Zustehende verzichtet. Der Apostel nimmt sein Recht auf Unterstützung durch die Gemeinden nicht in Anspruch, um so die Evangeliumsverkündigung zu fördern (vgl. 1Kor 9,12.15f). Schlossen sich in der Antike Freiheit und Knechtschaft aus, so bedingen sie bei Paulus einander. Gerade in der
343 So treffend TH. SÖDING, Die Freiheit des Glaubens, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont
Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, (113–134) 133.
Anthropologie 285
Knechtschaft des Evangeliums und damit in der Liebe realisiert sich die Freiheit des Apostels (vgl. 1Kor 9,19; Gal 5,13). Weil die Gegenwart bereits durch das Christusgeschehen proleptisch von der Zukunft qualifiziert ist (1Kor 7,29–31), fordert Paulus die Christen auf, in ihrem Selbstverständnis und in ethischen Verhaltensweisen der eschatologischen Zeitenwende zu entsprechen. Das paulinische wß mv´ („als ob . . . nicht“) zielt auf eine distanzierte Partizipation: Teilhabe an der Welt, ohne ihr zu verfallen und damit Freiheit von der Welt in der Welt 344. Weil das Kommende die Gegenwart bestimmt, verliert die Gegenwart ihren bestimmenden Charakter. Die Ordnungszusammenhänge der vergehenden Welt müssen in ihrer geschichtlichen Realität anerkannt werden, zugleich mahnt Paulus aber eine innere Unabhängigkeit und Ungebundenheit an. Deshalb sollen die Glaubenden und Getauften in ihrem jeweiligen Stand verbleiben, ohne ihm einen Eigenwert beizumessen. Die Ehe gehört ebenso wie der Sklavenstand zu den Strukturen des alten Äons. Wer sich nun noch auf sie einlässt, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden (vgl. 1Kor 7,1.8); wer hingegen verheiratet ist, soll es bleiben (vgl. 1Kor 7,2–7). Auch die Sklaven sollen in ihrem Stand verbleiben (1Kor 7,21b)345, denn in der Gemeinde sind sie den fundamentalen Alternativen der Gesellschaft schon längst enthoben (vgl. 1Kor 12,13; 2Kor 5,17; Gal 3,26–28; 5,6; 6,15). Der Philemonbrief zeigt jedoch, dass Paulus in seinen Empfehlungen nicht ideologisch gebunden ist, denn dort schließt er die Freiheitsoption für einen christlichen Sklaven keineswegs aus. Wenn ein Sklave freikommt, weiß er allerdings, dass er in Christus schon längst ein Freier war. Während in den Korintherbriefen Freiheit an keiner Stelle als ‚Freiheit vom Gesetz, von der Sünde oder vom Tod ‘ verstanden wird, tritt diese Bedeutung im Galater- und Römerbrief hervor (s. o. 6.5.2). Die Freiheit von der Sünde als Befreiung durch Gott in Jesus Christus beinhaltet für Paulus zugleich Freiheit vom Gesetz/der Tora in seiner versklavenden Funktion. Die universalen Dimensionen des paulinischen Freiheitsbegriffes zeigen sich in Röm 8,18ff346. Die Freiheit des Glaubenden und die Freiheit der Schöpfung werden hier zusammengeführt und in eine umfassende Zukunftsperspektive eingebettet. Durch Adams Verfehlung geriet die Schöpfung unfreiwillig unter die Herrschaft der Vergänglichkeit, doch auf Hoffnung (Röm 8,20; vgl. 4Esr 7,11f). Die Schöpfung partizipiert an der Hoffnung der Glaubenden, „denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft des Vergänglichen zu der herrlichen Freiheit der Kinder Got344 Vgl. hier H. BRAUN, Die Indifferenz gegenüber der Welt bei Paulus und bei Epiktet, in: ders., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 31971, 159–167. 345 Zur Sklavenproblematik bei Paulus vgl. J. A. HARRILL, Slaves in the New Testament, Minneapolis 2006, 17–57.
346 Vgl. hier S. JONES, „Freiheit“ in den Briefen des Apostels Paulus, GTA 34, Göttingen 1987, 129–135; S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung, FRLANT 147, Göttingen 1989, 375–396.
286 Paulus: Missionar und Denker
tes“ (Röm 8,21). Die Gewissheit dieses zukünftigen Geschehens vermittelt der Geist, der als Erstlingsgabe nicht nur Unterpfand der Hoffnung ist, sondern in der Situation des hoffenden Ausharrens den Glaubenden zu Hilfe kommt (Röm 8,26f). Der Geist tritt vor Gott für die Heiligen in einer gottgemäßen Sprache ein. Die Gewissheit des Glaubens ermöglicht es Paulus, die ‚herrliche Freiheit der Kinder Gottes‘ in Röm 8,28–30 umfassend zu beschreiben. Gott selbst wird die Freiheit der Kinder Gottes herbeiführen, die ihr Ziel in der Partizipation an der im Sohn erschienenen Herrlichkeit Gottes findet. Freiheit war in der griechisch-römischen Geistesgeschichte zu allen Zeiten ein zentrales Thema347. Auch im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des frühen Christentums finden sich wirkungsmächtige Freiheitstheorien. Epiktet verfasst ein ganzes Buch mit dem Titel peri` eleuherı´aß (Diss IV 1: „Von der Freiheit“) und Dion von Prusa hält drei Reden über Knechtschaft und Freiheit (Orationes 14; 15; 80). Sowohl Epiktet als auch Dion setzen bei einem populären Freiheitsverständnis ein: Freiheit als Handlungsfreiheit und Bindungslosigkeit. Sie wählen diesen Ausgangspunkt, um einen am Äußeren orientierten Freiheitsbegriff zu destruieren. Epiktet führt für seine Argumentation Erfahrung und Einsicht an: Ein reicher Senator ist der Sklave des Kaisers (Diss IV 1,13) und wer als Freier in eine junge, schöne Sklavin verliebt ist, wird zu ihrem Sklaven (Diss IV 1,17). Wer kann frei sein, wenn selbst die Könige und ihre Freunde es nicht sind? Weil Freiheit mit der äußeren Freiheit nicht hinreichend erfasst ist, kommt es darauf an, zwischen dem zu unterscheiden, was in unserer Macht steht und was unserem Einfluss entzogen ist (vgl. Diss IV 1,81). Die Gegebenheiten des Lebens stehen nicht wirklich zu unserer Disposition, wohl aber unsere Einstellung zu ihnen. „Reinige deine Urteile und prüfe, ob du dich nicht an etwas gehängt hast, das dir nicht gehört, und ob dir nicht etwas angewachsen ist, das dir nur unter Schmerzen wieder abgerissen werden kann. Und während du täglich trainierst wie auf dem Sportplatz, sag nicht, du philosophierst – ein wirklich hochtrabendes Wort –, sondern dass du deine Freilassung betreibst. Denn das ist die wahre Freiheit. So wurde Diogenes von Anthistenes befreit und stellte daraufhin fest, dass er von niemanden mehr geknechtet werden könne“ (Diss IV 1,112–115). Ähnlich argumentiert Dion, Freiheit und Knechtschaft sind keine angeborenen oder offenkundigen Tatbestände, sie sind keineswegs eindeutig, sondern zeigen sich im Leben eines Menschen. „Ist jemand im Hinblick auf die Tüchtigkeit ‚hochgeboren‘, so muss er ‚edel‘ genannt werden, auch wenn niemand seine Eltern und Vorfahren kennt. Es kann gar nicht anders sein: Wer ‚edel‘ ist, ist auch ‚edelgeboren‘, und wer ‚edelgeboren‘ ist, ist auch ‚frei‘. Der Unedle ist daher notwendig auch Sklave“ (Dio Chrys, Or 15,31). Epiktet und Dion repräsentieren einen breiten Tradi-
347 Vgl. dazu die Darstellungen bei D. NESTLE, Eleu-
theria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament I: Die Griechen, HUTh 6, Tübingen 1967; ders., Art. Freiheit, RAC 8, Stuttgart 1972, 269–306; S. VOLLENWEIDER, Freiheit, 23–104; H.D. BETZ, Paul’s Concept of Freedom in the
Context of Hellenistic Discussions about Possibilities of Human Freedom, in: ders., Paulinische Studien, Ges. Aufs. III, Tübingen 1994, 110–125; G. DAUTZENBERG, Freiheit im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus (s. o. 6.5), 57–81.
Anthropologie 287
tionsstrom in der antiken Philosophiegeschichte, der über die Stoa und Epikur bis zu den Skeptikern reicht: Wahre Freiheit ist die innere Unabhängigkeit des Weisen, die Gemütsruhe (ataraxı´a), die sich im Erkennen und Vermeiden der Affekte und der Einordnung unter den Willen der Götter einstellt.
Paulus nimmt die Freiheit aus dem Tätigkeitsbereich des Menschen heraus, sie hat Geschenk- und nicht Tatcharakter . Mit diesem Ansatz vertritt der Apostel eine eigenständige Position in der Freiheitsdebatte der Antike. Er greift das Konzept der inneren Freiheit auf, modifiziert es aber entscheidend in seiner Begründungsstruktur, indem er die Freiheit als die Entdeckung einer fremden tragenden Wirklichkeit beschreibt: Gott. Paradoxerweise verleiht allein die Bindung an Gott Freiheit, denn Freiheit ist im Vollsinn allein ein Attribut Gottes. Die Freiheit hat eine externe Grundlage, sie ist nicht im Menschen selbst lokalisiert. Menschliche Freiheit ist von etwas abhängig, über das der Mensch nicht verfügt. Freiheit entsteht nicht als Folge der eigenen Wirkungsmacht, sondern sie ist von Gott geschenkte Gabe, die sich in der Liebe realisiert. Die Liebe ist die Normativität der Freiheit; die Liebe erkennt im anderen Menschen ein Kind Gottes und orientiert sich an dem, was die Menschen und die Welt nötig haben. Freiheit besteht nicht in der Möglichkeit des Wählenkönnens, sondern eröffnet sich im Handeln der Liebe348.
6.5.6
Weitere anthropologische Begriffe
Das Innerste des Menschen wird von Paulus in verschiedener Weise beschrieben und bestimmt. Er kann dabei gleichermaßen an atl. und griechisch-hellenistische Vorstellungen anknüpfen. Im Zentrum des menschlichen Selbst-Bewusstseins steht das Gewissen; der Begriff suneı´dvsiß („Gewissen“) erscheint im NT 30mal, bei Paulus allein 14mal. Gehäuft tritt suneı´dvsiß in der Auseinandersetzung um das Götzenopferfleisch in 1Kor 8 und 10 auf (8mal). Die suneı´dvsiß erscheint hier als Instanz der Selbstbeurteilung . Gegenstand der Beurteilung durch das Gewissen ist das menschliche Verhalten, das auf die Übereinstimmungen mit den vorgegebenen Normen hin überprüft wird349. Wenn die ‚Starken‘ von der ihnen zustehenden Freiheit Gebrauch machen, auch weiterhin Götzenopferfleisch zu essen, verleiten sie die ‚Schwachen‘ dazu, sich ebenso zu verhalten und stürzen sie in einen Gewissenskonflikt. Die ‚Starken‘ versündigen sich dabei auch gegen Christus (1Kor 8,13), der für den schwachen Bruder gestorben ist (1Kor 8,12). Die Freiheit des Einzelnen findet deutlich ihre Grenze im Gewissen des
348 Vgl. hier H. WEDER, Normativität der Freiheit, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingen 1998, 129–145.
349 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, Der Begriff Syneidesis bei
Paulus (s. o. 6.5), 242 f.
288 Paulus: Missionar und Denker
anderen, das nicht belastet werden darf. Suneı´dvsiß bezeichnet somit eine Instanz, die das Verhalten des Menschen nach vorgegebenen Normen beurteilt350. Als grundlegendes anthropologisches Phänomen erscheint suneı´dvsiß in Röm 2,14f: „Denn wenn die Völker, die das Gesetz nicht haben, von sich aus die Werke des Gesetzes tun, sind diese, die dieses Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie beweisen, dass das Werk des Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist, das bestätigt ihnen ihr Gewissen und die Gedanken, die sich untereinander anklagen und verteidigen.“ Das Gewissen umfasst hier als Normenbewusstsein die sittliche Selbstbeurteilung des Menschen, sein Wissen um sich selbst und sein Verhalten. Als ein allen Menschen eigenes Phänomen bestätigt das Gewissen für Paulus die Existenz des Gesetzes auch bei den Menschen aus den Völkern. In Röm 9,1 tritt das Gewissen als selbständige, personifizierte Zeugin für die Wahrheit auf und überprüft die Übereinstimmung zwischen den Überzeugungen und dem Verhalten (vgl. auch 2Kor 1,23; 2,17; 11,38; 12,19). Nach Röm 13,5351 sollen sich die Christen aus Einsicht in den Sinn staatlicher Macht und Ordnung den Institutionen unterordnen: „Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein wegen des Zornes, sondern auch um des Gewissens willen.“ Staatliche Ordnungen entspringen dem Willen Gottes, insofern sie dem Bösen widerstehen und das Gute fördern. Paulus denkt wie in Röm 2,15 an das Gewissen eines jeden Menschen, nicht an ein spezifisch christliches Gewissen. Das Alte Testament/antike Judentum kennt kein sprachliches Äquivalent für das griechische suneı´dvsiß352. Paulus übernahm suneı´dvsiß wahrscheinlich aus der hellenistischen Popularphilosophie. Hier bedeutet suneı´dvsiß zumeist das Bewusstsein, das die eigenen Taten moralisch verurteilt oder gutheißt353. Weil die Götter den Menschen die Weisheit schenkten, sind diese zur Selbsterkenntnis befähigt. „Denn wer sich selbst erkennt, wird zuerst feststellen, dass er etwas Göttliches in sich hat, und glauben, dass der Geist in ihm einem geweihten Götterbild gleicht, und stets so handeln und empfinden, wie es eines so bedeutenden göttlichen Geschenkes würdig ist“ (Cic, Leg 1,59). Indem Gott die Menschen mit seinen eigenen Fähigkeiten ausstattete, sind sie in der Lage, Gut und Böse zu unterscheiden, denn er hat „einem jeden von uns einen Aufseher zur Seite gestellt, nämlich den Schutzgeist (daı´mwn) eines jeden, einen Aufseher, der nie schlummert, der nicht zu hintergehen ist“ (Epict, Diss I 14,12; vgl. Diss II 8,11f; Sen, Ep 41,1f; 73,76). Auch das Phänomen des schlechten Gewissens (vgl. z. B. Sen, Ep 43,4f; 81,20; 105,8) weist auf eine Instanz im Menschen hin, die mit der Tugend und Vernunft verwoben ist und das von der Natur gegebene Verhalten einfordert: „Es muss
350 Zur Einheitlichkeit der paulinischen Argumentation vgl. H.-J. ECKSTEIN, a. a. O., 271. 351 Vgl. zur Exegese H.-J. ECKSTEIN a. a. O., 276–300. 352 Vgl. dazu H.-J. ECKSTEIN, a. a. O., 105 ff. 353 Vgl. zum Gewissensbegriff bei römischen und griechischen Autoren H.-J. KLAUCK, „Der Gott in dir“ (Ep 41,1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und
Paulus, passim; DERS., Ein Richter im eigenen Innern. Das Gewissen bei Philo von Alexandrien, in: ders., Alte Welt und neuer Glaube, NTOA 29, Göttingen/Freiburg (CH) 1994, 33–58; H. CANCIK-LINDEMAIER, Art. Gewissen, HRWG 3, Stuttgart 1993, 17– 31.
Anthropologie 289
also einen Wächter geben, und er soll uns immer wieder am Ohr ziehen, fernhalten das Gerede und widersprechen dem gleisnerisch lobenden Volk“ (Sen, Ep 94,55).
Paulus versteht suneı´dvsiß als neutrale Instanz der Beurteilung des vollzogenen Handelns (reflexiv und in Bezug auf andere) aufgrund verinnerlichter Wertnormen. Das Gewissen beinhaltet für Paulus nicht das prinzipielle Wissen um Gut und Böse, wohl aber ein Mit wissen um Normen, die als Grundlage für ein Urteil dienen, das sowohl positiv als auch negativ ausfallen kann354. Als Relationsbegriff setzt das Gewissen nicht selbst Normen, vielmehr beurteilt es deren Einhaltung. Das Gewissen kann auch nicht als eine Eigenart der Christen, Heiden oder Juden angesehen werden, sondern es ist ein allgemein menschliches Phänomen . Seine Funktion ist bei allen Menschen gleich, nur die Normen, die die Voraussetzung für die Beurteilung bilden, können sehr verschieden sein. Christen beurteilen anhand der Liebe und der durch den Geist erneuerten Vernunft als maßgeblicher Normen das eigene und/oder fremdes Verhalten. Die außerordentliche Würde des Menschen wird bei Paulus mit dem eikw´n-Motiv („Bild, Abbild, Urbild “) zum Ausdruck gebracht355. Grundlegende theologische Bedeutung erlangt die eikw´n-Vorstellung in der Rede von Christus als dem Bild Gottes. In 2Kor 4,4 erläutert der Apostel356, wie die Verhüllung des Evangeliums bei den Verworfenen zustande kam; ihnen blendete der Gott dieser Weltzeit die Sinne, „so dass sie nicht sehen das Leuchten des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, der das Bild Gottes ist“ (oÇß estin eikw`n tou˜ heou˜). Hier erscheint eikw´n als Partizipationskategorie: Der Sohn hat Teil an der do´xa („Herrlichkeit“) des Vaters; in ihm wird das wahre Wesen Gottes offenbar, weil er das den Menschen zugewandte Ebenbild Gottes ist. Auf der Vorstellung von Christus als dem Bild Gottes basieren alle Aussagen über das Verhältnis der Glaubenden zum Bild Christi. In 1Kor 15,49 betont Paulus gegenüber den an gegenwärtiger Heilsvorstellung orientierten Korinthern, dass sie erst im Endgeschehen das Bild des himmlischen Menschen Jesus Christus tragen werden, denn die Gegenwart wird noch vom irdischen Menschen Adam bestimmt. Nach Röm 8,29 ist es das Ziel der Erwählung Gottes, dass die Glaubenden „dem Bild seines Sohnes gleichgestaltet werden, so dass dieser zum Erstgeborenen unter vielen Brüdern würde“. Dieses Geschehen vollendet sich bei der Auferstehung der Glaubenden, ihm kommt aber zugleich eine gegenwärtige Dimension zu, denn am Wesen Christi als dem Bild Gottes partizipieren die Glaubenden bereits in der Taufe (Röm 6,3–5). Nach 2Kor 3,18 liegt auf dem Auferstandenen die göttliche Herrlichkeit in ihrer ganzen
354 Vgl. H.-J. ECKSTEIN, a. a. O, 311 ff. 355 Vgl. zu den religionsgeschichtlichen Bezügen
umfassend W. ELTESTER, Eikon im Neuen Testament,
BZNW 23, Berlin 1958, 26–129; J. JERVELL, Imago Dei, FRLANT 76, Göttingen 1960, 15–170. 356 Vgl. dazu J. JERVELL, Imago Dei, 214–218.
290 Paulus: Missionar und Denker
Fülle, er ist somit zugleich das Urbild und das Ziel der Verwandlung des Christen. In 1Kor 11,7f bezieht sich Paulus ausdrücklich auf Gen 1,26f: „Denn der Mann muss nicht sein Haupt verhüllen, weil er Bild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist Abglanz des Mannes. Denn nicht stammt der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Mann.“ Paulus wendet sich hier gegen die in Korinth offenbar verbreitete Sitte der Teilnahme von Frauen ohne Kopfbedeckung am Gottesdienst. Dabei handelt es sich wohl um eine neue, in anderen Gemeinden unbekannte Praxis (vgl. 1Kor 11,16), die möglicherweise dem enthusiastischen Emanzipationsbestreben von Teilen der korinthischen Gemeinde entsprang357. Paulus argumentiert gegen diese Aufhebung bisheriger Ordnungen schöpfungstheologisch, indem er den Unterschied zwischen Mann und Frau und die sich daraus ergebenden praktischen Folgen mit der Gottebenbildlichkeit des Mannes begründet (vgl. Gen 2,22). Die eikw´n-Vorstellung ist bei Paulus eine Partizipationskategorie: Die Teilhabe des Sohnes an der Doxa des Vaters vollendet sich in der Teilhabe der Glaubenden an der Herrlichkeit Christi. Christus als ‚Bild Gottes‘ nimmt sie hinein in einen geschichtlichen Prozess, an dessen Endpunkt ihre eigene Verwandlung stehen wird. Menschsein geht in der bloßen Geschöpflichkeit nicht auf, sondern erst in der Entsprechung zu Gott realisiert der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung als Bild Gottes, die sich im Glauben an Jesus Christus als dem Urbild Gottes erschließt. Als ein weiteres Zentrum des menschlichen Selbst erscheint kardı´a („Herz “) bei Paulus358. Die Liebe Gottes wurde durch den Heiligen Geist in die Herzen der Menschen ausgegossen (Röm 5,5). Im Herzen wirkt der Heilige Geist. Gott sandte den Geist seines Sohnes „in unsere Herzen“ (Gal 4,6) und gab in der Taufe den Geist als arrabw´n „in unsere Herzen“ (2Kor 1,22). Die Taufe führt zu einem Gehorsam von Herzen (Röm 6,17), und der Mensch steht in einem neuen, heilbringenden Abhängigkeitsverhältnis: Er dient Gott und damit der Gerechtigkeit. Es gibt eine Beschneidung des Herzens, die sich im Geist und nicht im Buchstaben vollzieht (Röm 2,29), eine innere Wandlung des Menschen, aus der heraus ein neues Verhältnis zu Gott erwächst. Im Herzen hat der Glaube seinen Ort, und ins Herz sandte Gott den hellen Schein der Erkenntnis Jesu Christi (2Kor 4,6). Die Herzen werden von Gott gestärkt (1Thess 3,13), und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt die Herzen der Glaubenden (Phil 4,7). Das Herz kann sich der rettenden Botschaft vom Glauben an Jesus Christus öffnen oder verschließen (vgl. 2Kor 3,14–16). Umkehr und Bekenntnis beginnen im Herzen (Röm 10,9f); hier entsprechen sich Mund und Herz einerseits sowie Bekenntnis- und Glaubensakt andererseits, d. h. der ganze Mensch wird ergriffen vom rettenden Christusgeschehen. Gerade als ‚innerstes‘ Organ bestimmt das Herz den ganzen Menschen. Es ist sowohl im positiven als auch im negativen 357 Vgl. CHR. WOLFF, 1Kor (s. o. 4.6), 70 f. 358 Paulus steht im Gebrauch von kardı´a in der Tra-
dition atl. Anthropologie; vgl. H.-W. WOLFF, Anthropologie des Alten Testaments, München 21974, 68 ff.
Anthropologie 291
Sinn das Zentrum der Willensentscheidung (1Kor 4,5). Das Herz weiß um den Willen Gottes (Röm 2,15), es steht fest gegenüber den Leidenschaften (1Kor 7,37) und ist willig in der Unterstützung der Bedürftigen (2Kor 9,7). Zugleich kann das Herz aber auch unverständig und verfinstert sein (Röm 1,21; 2,5), die Quelle von Begierden (Röm 1,24; 2,5) und Ort der Verstockung (2Kor 3,14f). Gott prüft und erforscht die Herzen (1 Thess 2,4; Röm 8,27) und macht das Trachten des Herzens offenbar (2Kor 4,5). Anders als seine Gegner arbeitet Paulus nicht mit Empfehlungsbriefen, denn die korinthische Gemeinde ist sein Empfehlungsbrief, „eingeschrieben in unser Herz, verstanden und gelesen von allen Menschen“ (2Kor 3,2). Paulus kämpft um seine Gemeinde und bittet sie: „Gebt uns Raum in euren Herzen“ (2Kor 7,2). Er öffnet der Gemeinde sein Herz (2Kor 6,11) und sichert ihr zu, „dass ihr in unseren Herzen seid, um mitzusterben und mitzuleben“ (2Kor 7,3). Mit kardı´a bezeichnet Paulus das Innerste des Menschen, den Sitz von Verstand, Gefühl und Willen, den Ort, wo die Entscheidungen des Lebens wirklich fallen und Gottes Handeln am Menschen durch den Geist beginnt. Die hebräische Sprache kennt kein Äquivalent für nou˜ß („Denken, Vernunft, Verstand “), einem zentralen Begriff hellenistischer Anthropologie359. Paulus verwendet nou˜ß in 1Kor 14,14f innerhalb der Ausführungen über die Glossolalie als kritische Instanz gegenüber der unkontrollierten und unverständlichen Zungenrede. Gebet und Lobpreis vollziehen sich gleichermaßen im göttlichen Geist und im menschlichen Verstand (1Kor 14,15). In 1Kor 14,19 meint nou˜ß den klaren Verstand, in dem die Gemeinde unterwiesen wird: „In der Gemeindeversammlung will ich (lieber) fünf Worte mit meinem Verstand reden . . . als unzählige Worte in (ekstatischer) Sprache.“ Auch in Phil 4,7 bezeichnet nou˜ß das rationale Verstehen, die menschliche Fassungskraft, die vom Frieden Gottes überragt wird. In 1Kor 1,10 appelliert Paulus an die Einheit der korinthischen Gemeinde, sie solle eines Sinnes und einer Meinung sein. Paulus spricht in 1Kor 2,16 und Röm 11,34 vom nou˜ß des Cristo´ß bzw. ku´rioß, womit jeweils der Heilige Geist gemeint ist, der sich menschlicher Beurteilung entzieht360. Innerhalb der Auseinandersetzung zwischen ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ in Rom fordert Paulus beide Parteien auf, sich des eigenen Urteils und damit der eigenen Sache gewiss zu sein (Röm 14,5). Im Widerstreit liegen nach Röm 7,23 das Gesetz in den Gliedern und das Gesetz der Vernunft. Der no´moß tou˜ noo´ß entspricht sachlich dem no´moß tou˜ heou˜ in Röm 7,22: dem auf Gott ausgerichteten Menschen. Mit seiner Ver359 Klassisch Plat, Phaed 247c–e, wonach die Vernunft der vornehmste Seelenteil ist und kraft des Wissens um die Tugend auch zum sittlichen Handeln fähig ist; vgl. ferner Arist, Eth Nic X 1177a (die Vernunft als Inbegriff des Göttlichen und wertvollster Teil des geistigen Lebens); Diog L 7,54 (nach Ze-
non ist die Vernunft das erste Wahrheitskriterium); Epiktet, Diss II 8,1f (das Wesen Gottes ist nou˜ß); weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 230 ff. 360 Vgl. F. LANG, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 1986, 47.
292 Paulus: Missionar und Denker
nunft will er Gott dienen, aber die in ihm wohnende Sünde macht dieses Wollen zunichte. In Röm 12,2 ermahnt Paulus die Gemeinde, sich nicht dem sündigen und vergehenden Äon anzupassen, sondern eine Verwandlung der ganzen Existenz an sich geschehen zu lassen, die sich als Erneuerung des nou˜ß vollzieht. Mit nou˜ß benennt Paulus hier das vernünftige Erkennen und Denken, die durch das Wirken des Geistes eine neue Ausrichtung erhalten. Der Christ bekommt eine neue Urteilskraft und Urteilsfähigkeit, die ihn in die Lage versetzen zu prüfen, was Gottes Wille ist. Aus sich heraus kann sich die Vernunft nicht erneuern, sie ist vielmehr auf das Eingreifen Gottes angewiesen, der sie in seinen Dienst nimmt und ihrer eigentlichen Bestimmung zuführt361. Mit der Unterscheidung zwischen dem esw anhrwpoß („innerer Mensch “) und dem exw anhrwpoß („äußerer Mensch “)362 bringt Paulus eine Vorstellung aus der hellenistischen Philosophie auf den Begriff. Sie ermöglicht es ihm, ein philosophisches Ideal seiner Zeit aufzunehmen und zugleich von der Kreuzestheologie her umzuprägen. Eine klare traditionsgeschichtliche Ableitung der esw/exw anhrwpoß-Vorstellung ist nicht möglich363. Ausgangspunkt dürfte Plato, Resp IX 588A-589B sein, wo es in 589A heißt: „Also auch wohl, wer das Gerechte für nützlich erklärt, der würde behaupten, man müsse solches tun und reden, wodurch des Menschen innerer Mensch (tou˜ anhrw´pou o ento`ß anhrwpoß) recht zu Kräften komme“. In der hellenistischen Philosophie um die Zeitenwende herum findet sich die Vorstellung, dass der eigentliche, geistige Mensch, der das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden kann, in Zucht frei von den Affekten lebt und sich innerlich unabhängig macht von den äußeren Widerfahrnissen. Demgegenüber ist der ‚äußere‘ Mensch mit den Sinnen der äußeren Welt verhaftet, so dass er als Folge von Leidenschaften und Angst beherrscht wird (vgl. Philo Det 23; Congr 97; Plant 42). Bei Seneca ist wiederholt von einer inneren, göttlichen Kraft die Rede (Seele, Geist, Vernunft), die den zerbrechlichen Leib erhält und aufbaut: „Wenn du einen Menschen siehst, nicht zu schrecken von Gefahren, unberührt von Begierden, im Unglück glücklich, mitten in stürmischen Zeiten gelassen, von einer höheren Warte die Menschen sehend, von gleicher Ebene die Götter, wird dich nicht Erfurcht vor ihm ankommen? Wirst du nicht sagen: Diese Haltung ist größer und erhabener, als dass man sie für vereinbar halten könnte mit diesem, in dem sie wohnt, bedeutungslosen Körper? Göttliche Kraft ist in ihn eingegangen . . .“364
361 Vgl. G. BORNKAMM, Glaube und Vernunft bei Pau-
lus, in: ders., Studien zu Antike und Christentum, BEvTh 28, München 31970, 119–137. 362 Zur Forschungsgeschichte vgl. R. JEWETT, Anthropological Terms (s. o. 6.5), 391–395; TH. HECKEL, Der Innere Mensch, WUNT 2.53, Tübingen 1993, 4–9; H. D. BETZ, The concept of the ‚Inner Human Being‘ (o esw anhrwpoß) in the Anthropology of Paul, NTS 46 (2000), 317–324.
363 Umfassende Diskussion wichtiger Belege bei TH. HECKEL, Der Innere Mensch, 11–88; CHR. MARKSCHIES, Art. Innerer Mensch, RAC 18, Stuttgart 1998, (266–312) 266 ff. 364 Sen, Ep 41,4–5 (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 439f).
Anthropologie 293
Im Gegensatz zur hellenistischen Anthropologie ist die Unterscheidung zwischen dem esw anhrwpoß und dem exw anhrwpoß bei Paulus nicht als anthropologischer Dualismus aufzufassen. Der Apostel betrachtet vielmehr die eine Existenz des Glaubenden unter verschiedenen Perspektiven365. Im Anschluss an einen Peristasenkatalog (2Kor 4,8f) sagt Paulus in 2Kor 4,16: „Darum verzagen wir nicht, sondern wenn auch unser äußerer Mensch (o exw anhrwpoß) aufgerieben wird, so wird doch unser innerer (Mensch) von Tag zu Tag erneuert.“ Äußerlich wird der Apostel durch die vielen Leiden in der Missionsarbeit aufgerieben. Zugleich wirkt aber im exw anhrwpoß die do´xa heou˜ („Herrlichkeit Gottes“; vgl. 2Kor 4,15.17) durch den Geist, so dass sich der Glaubende im Innersten seines Selbst durch den im Geist gegenwärtigen Herrn bestimmt weißt, der ihn stärkt und erneuert. Deshalb ist er in der Lage, die äußeren Leiden und Drangsale zu ertragen, weil er an der Lebensmacht des Auferstandenen partizipiert und so die Bedrängnisse und den Verfall des Körpers überwindet. In Röm 7,22 stimmt der esw anhrwpoß dem Willen Gottes freudig zu und lebt damit seinem eigenen Wollen gemäß in Übereinstimmung mit sich selbst. Die Macht der Sünde verkehrt jedoch die eigentliche Existenz des Glaubenden, der in seinem Streben nach dem Guten dem „Gesetz der Sünde“ in seinen Gliedern unterliegt. Paulus bezeichnet mit esw anhrwpoß das für den Willen Gottes und das Wirken des Geistes offene Ich des Menschen. Autonome und heteronome Anthropologie
Sowohl in der jüdisch-hellenistischen (vgl. 4Makk) als auch in der griechisch-römischen Anthropologie kann ein positives Bild von den Möglichkeiten menschlicher Existenz gezeichnet werden. Plutarch sieht zwar sehr wohl, dass der Mensch durch die Verbindung mit dem Körperlichen Angriffsflächen bietet, „in den maßgebenden und wichtigsten Zügen seines Wesens aber steht er unerschütterlich. . . . Darum sollen wir die menschliche Natur nicht in den schwärzesten Farben malen, als ob sie nichts Starkes und Beständiges besäße und nichts, was dem Schicksal Trotz bietet. Ganz im Gegenteil – wir wissen, dass der Mensch nur zu einem geringen Teil schwach und hinfällig und damit dem Schicksal ausgeliefert ist. Über unseren besseren Teil führen wir das Regiment, und dort sind unsere wichtigsten Güter fest verwahrt: richtige Vorstellungen, Wissen und die Grundsätze, die zur Tugend hinführen. All das kann seinem Wesen nach nicht entrissen und vernichtet werden“ (Mor 475 C.D). Das Schicksal (v tu´cv) kann den Menschen mit Unglück und Krankheit schlagen, wenn er aber über die richtigen Einsichten (der Philosophie) verfügt und zur Tugend (v aretv´) gelangt, kann er davon nicht überwunden werden. Paulus hingegen ist nicht der Meinung, dass der Mensch in sich oder aus sich selbst heraus über eine Größe verfügt, die in der Lage wäre, autonom mit den menschlichen Affekten und Gefühlen umzugehen und sein Verhalten zu steuern. Weder der Vernunft noch 365 Vgl. W. GUTBROD, Anthropologie (s. o. 6.5), 85–92.
294 Paulus: Missionar und Denker
den Tugenden wird diese Kraft zugetraut. Vielmehr ist der Mensch in sich zerrissen zwischen dem Wollen und dem Tun und von sich aus nicht in der Lage, die Einheit seiner Existenz zu gewährleisten. Der Ermöglichungsgrund gelingenden menschlichen Lebens liegt für Paulus außerhalb des Menschen. Nicht das Modell der Autonomie, sondern der Heteronomie bestimmt die paulinische Anthropologie: Es ist Gott selbst, der durch Jesus Christus und im Heiligen Geist den Menschen ein neues Sein schenkt, das sich in der Taufe, im Glauben und in einem Leben in der Kraft des Geistes realisiert. Der ‚neue Mensch‘ (vgl. 2Kor 5,17) muss nicht vom Menschen konstruiert und damit manipuliert werden, sondern er wird von Gott geschaffen. Dieses Konzept ist gleichermaßen eine religiöse Erfahrung und eine denkerische Leistung. Es wäre völlig verfehlt, die paulinische Anthropologie unter ein pessimistisches Menschenbild zu subsumieren; es ist kein pessimistisches, sondern ein realistisches Menschenbild! Darin besteht auch seine denkerische Stärke: Paulus verkennt die Destruktivität menschlichen Seins und Handelns keineswegs, bleibt aber dabei nicht stehen, indem er mit der Liebe, dem Glauben und der Hoffnung die positiven Energien des Menschseins in den Mittelpunkt stellt.
6.6
Ethik
R. BULTMANN‚ Das Problem der Ethik bei Paulus, in: ders., Exegetica, Tübingen 1967, 36–54 (= 1924); W. SCHRAGE, Die konkreten Einzelgebote in der paulinischen Paränese, Gütersloh 1961; O. MERK, Handeln aus Glauben, MThST 5, Marburg 1968; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 169–248; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II, HThK.S 2, Freiburg 1988, 12– 71; TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus, NTA 26, Münster 1994; R. B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament, San Francisco 1996, 16–59; M. WOLTER, Ethos und Identität in den paulinischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430–444; M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein. Neutestamentliche Erwägungen zur Grundlegung der Ethik, BEvTh 119, Gütersloh 2000; K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle/Th. Söding/ M. Labahn (Hg.), Paulinische Christologie (s. o. 6.2), 9–31; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 629–644; W. FENSKE, Die Argumentation des Paulus in ethischen Herausforderungen, Göttingen 2004; F. BLISCHKE, Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus, ABG 25, Leipzig 2007.
Paulus entwirft seine Ethik nicht vom erkennenden und handelnden, von der Vernunft und der Sittlichkeit bestimmten Subjekt her366, sondern wählt entsprechend der Gesamtkonzeption seiner Theologie als Ausgangspunkt die Vorstellung der Teil366 So z. B. das stoische Konzept, wonach der Mensch sich in die alles durchdringende göttliche Vernunftwirklichkeit einfügt und ihr in seinem sittlichen Handeln entspricht; vgl. Mus, Diatr 2, wonach „der Seele des Menschen von Natur die Anlage zur Sittlichkeit innewohnt und der Keim der Tugend
(spe´rma aretv˜ß) einem jeden von uns eingepflanzt ist.“ Vor allem durch Übung gilt es, diese positive Anlage im Menschen auszubauen; zum ethischen System der Stoa vgl. M. FORSCHNER, Die stoische Ethik, Stuttgart 1981.
Ethik 295
habe am neuen, von der Macht der Sünde getrennten Sein. Sie gewinnt Gestalt in einem neuen Handeln, dessen Grundlagen und Vollzüge Paulus den Gemeinden immer wieder neu in Erinnerung ruft367.
6.6.1
Teilhabe und Entsprechung
Die paulinische Ethik wurde zumeist mit dem Modell ‚Indikativ – Imperativ‘ beschrieben368: „Der Indikativ begründet den Imperativ.“369 Tragfähig ist diese Beschreibung aber nicht370, denn das Indikativ-Imperativ-Schema ist statischer Natur und erfasst nicht die dynamischen Strukturen der paulinischen Ethik; es zergliedert künstlich, was bei Paulus ein umfassender Seins- und Lebenszusammenhang ist371. Die paulinische Ethik zerfällt nicht in Einzelaspekte, sondern muss im Rahmen der grundlegenden Einheit von Sein und Handeln in der Kraft des Geistes gesehen werden. Ausgangspunkt ist das neue Sein, weil die Einbeziehung in Tod und Auferstehung Jesu Christi nicht auf den Taufakt beschränkt ist, sondern durch die Geistgabe das gegenwärtige und zukünftige Leben der Getauften bestimmt (vgl. Gal 3,2.3; 5,18; Röm 6,4). Wer sich im Raum des Christus befindet, ist eine neue Existenz (vgl. 2Kor 5,17). Wo Paulus von der Neuheit des Seins spricht, erfolgt eine christologische und nicht eine ethische Begründung (vgl. 2Kor 4,16; 5,17; Gal 6,15; Röm 6,4; 7,6). Die Getauften haben Christus angezogen (Gal 3,27), sind gänzlich von ihm bestimmt, denn Christus lebt in ihnen (Gal 2,20a) und er will in ihnen Gestalt gewinnen (vgl. Gal 4,19). Jesus Christus ist Urbild und Vorbild zugleich (Phil 2,6–11), so dass für
367 Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ethos; zwischen beiden wird zumeist so unterschieden: Ethik bezeichnet als Theorieunternehmen die philosophische/theologische Lehre von sittlichen Werten, Normen und Handlungen; Ethos hingegen die praktische, typische Lebenshaltung eines Menschen/einer Gruppe, die nicht immer neu begründet und bedacht werden muss; vgl. dazu M. WOLTER, Christliches Ethos (s. u. 13.6), 191; TH. SCHMELLER, Neutestamentliches Gruppenethos, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190; Freiburg 2001, (120–134) 120. 368 Forschungsüberblick bei F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 21–38. 369 R. BULTMANN, Theologie, 335. 370 Die Probleme des Indikativ-Imperativ-Schemas wurden am schärfsten gesehen von H. WINDISCH, Das
Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23 (1924), 265–281. Aus der neueren Forschung vgl. vor allem K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o. 6.6), 9–14; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), passim; R. ZIMMERMANN, Jenseits von Indikativ und Imperativ, ThLZ 132 (2007), 259–284. 371 Vor allem: Wie kann aus der Heilsgabe eine Aufgabe werden?; vgl. H. WEDER, Gesetz und Gnade, in: K. Wengst/G. Sass (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage), Neukirchen 1998, (171–182) 172. Weitere Problemfelder: Muss die Neuheit des neuen Seins erst realisiert werden? Wurden die Glaubenden und Getauften nur auf ‚Bewährung‘ in die Freiheit entlassen? Worin liegt die jeweilige soteriologische Qualität des Imperativs?
296 Paulus: Missionar und Denker
Paulus Christus selbst als Inhalt und Kontinuum der Ethik erscheint372. Die Ethik thematisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins, das ein Leben im Raum des Christus ist . Was sich an ihm vollzogen hat, prägt gänzlich das Leben der Getauften. So wie Christus der Sünde ein für allemal gestorben ist, sind auch die Getauften der Sünde nicht mehr untertan (Röm 6,9–11). Ging Jesus im Gehorsam den Weg ans Kreuz und überwand die Sünde und den Tod (Röm 5,19; Phil 2,8), so fordert Paulus die römischen Christen auf, im Gehorsam Diener der Gerechtigkeit zu sein (Röm 6,16; vgl. 1Kor 9,19). Um unserer Sünden willen hat sich Christus dahingegeben, er achtete nicht auf seinen Vorteil (Gal 1,4; Röm 3,25; 8,32). Weil Christus aus Liebe zu den Menschen gestorben ist und diese Liebe die Gemeinde trägt (2Kor 5,14; Röm 8,35.37), bestimmt sie umfassend die christliche Existenz (1Kor 8,1; 13; Gal 5,6.22; Röm 12,9f; 13,9f; 14,15). Wie Christus durch seinen Weg ans Kreuz zum Diener der Menschen wurde (Röm 15,8; Phil 2,6ff), so sollen auch die Christen einander zu Dienern werden (Gal 6,2). Was in der Taufe begann, setzt sich im Leben des Getauften fort: Er ist hineingenommen in den Weg Jesu, ahmt Christus nach, so dass der Apostel sogar sagen kann: „Werdet meine Nachahmer, so wie ich Christi (Nachahmer bin)“ (1Kor 11,1; vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16). Der Weg Jesu zum Kreuz begründet die christliche Existenz und ist zugleich wesentliches Kriterium dieser Existenz. Das ethische proprium christianum ist somit Christus selbst373, so dass Ethik bei Paulus die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe umfasst. Auf diesem Hintergrund erschließen sich die Texte, in denen der Apostel ausdrücklich auf das Verhältnis von Christologie/Soteriologie und Ethik zu sprechen kommt. In 1Kor 5,7a formuliert Paulus zunächst imperativisch („Beseitigt den alten Sauerteig, damit ihr ein neuer Teig seid“), um dann eine erste Begründung anzufügen: „wie (kahw´ß) ihr ungesäuert seid.“ Der Inhalt der Mahnung und der Zusage ist identisch, d. h. es handelt sich um zwei Aspekte einer einzigen Sache, die Paulus in der zweiten Begründung benennt: „Denn (kai` ga´r) unser Passalamm wurde geschlachtet, Christus“ (1Kor 5,7b). Das durch Christus erworbene neue Sein lässt es nicht zu, dass die Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde gefährdet wird; die Glaubenden und Getauften sollen leben, was sie sind. In diese Richtung weist auch Gal 5,25: „Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Einklang mit dem Geist sein“ (ei zw˜men pneu´mati, pneu´mati kai` stoicw˜men)374. Das Verb stoice´w ist keineswegs bedeutungsgleich mit peripate´w („wandeln“), sondern meint ‚mit etwas übereinstimmen/im Einklang sein‘. Der Akzent liegt damit nicht auf der Forderung, sondern es geht um eine Relation, 372 Vgl. dazu H. SCHÜRMANN, „Das Gesetz des Christus“ (Gal 6,2). Jesu Verhalten und Wort als letztgültige sittliche Norm nach Paulus, in: ders., Studien zur neutestamentlichen Ethik, hg. v. Th. Söding, SBB7, Stuttgart 1990, 53–77. 373 Zum Problem des ‚Propriums‘ paulinischer und
ntl. Ethik vgl. G. STRECKER, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, ZThK 75 (1978), (117–146) 136 ff. 374 Die Übersetzung orientiert sich an G. DELLING, Art. stoice´w, ThWNT 7, Stuttgart 1966, 669.
Ethik 297
die mit dem Dativ pneu´mati ausgedrückt wird: Im Einklang leben mit dem Geist. Es ist der Geist Gottes, der sowohl das Wollen als auch das Vollbringen bewirkt (vgl. Phil 1,6; 2,13). Was bereits erreicht wurde, soll gelebt werden (Phil 3,16), d. h. es geht nicht um die Realisierung einer Gabe, sondern um ein Verbleiben und Leben im Bereich der Gnade und d. h. im Bereich des Christus. „Christsein ist Christus-Mimesis“375 und die christusgemäße Gestalt des neuen Seins ist die Liebe (vgl. Gal 5,13). Innerhalb der paulinischen Ethik ist die Liebe das kritische Auslegungsprinzip, an dem alles Handeln orientiert sein soll und auf das alles Handeln hinausläuft376. Wer nicht aus der Liebe handelt, lebt nicht im Einklang mit dem neuen Sein (vgl. 1Kor 3,17; 6,9f; 8,9–13; 10,1ff; 2Kor 6,1; 11,13–15; Gal 5,2–4.21; Röm 6,12ff; 11,20–22; 14,13ff). Dies geschieht immer dann, wenn man die neue Ausrichtung der Existenz377 nicht erkennt, in alte Handlungsweisen zurückfällt oder meint, sich bereits im Stand der Vollendung zu befinden. Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungseinheit des neuen Seins in Christus . Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben der Christen, die ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und dem neuen Sein in ihren Handlungen entsprechen.
6.6.2
Das neue Handeln
Die paulinischen Weisungen und ihre Begründungen sind von Brief zu Brief sehr unterschiedlich. Im 1Thess fungiert die nahe Parusie des Kyrios und die damit verbundene Gerichtsvorstellung zur Motivierung eines untadeligen Lebens in Heiligkeit (vgl. 1Thess 3,13; 4,3.4.7; 5,23)378. Paulus erkennt den ethischen Stand der Gemeinde ausdrücklich an, fordert sie aber zugleich auf, weitere Fortschritte zu machen (vgl. 1Thess 4,1–2). Inhaltlich verbleibt der Apostel bei seinen Mahnungen zu einem sittsamen und ehrlichen Leben in 1Thess 4,3–8 im Rahmen hellenistisch-jüdischer Ethik. Es entspricht der im gesamten Brief vorherrschenden konventionellen Ethik, dass die Gemeinde ruhig und unauffällig leben soll (1Thess 4,11), damit die Außenwelt keinen Anstoß nimmt (1Thess 4,12). Die vorausgesetzte ethische Kompetenz der Menschen aus den Völkern zeigt, dass Paulus keine ethische Sonderstellung der
375 K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o.
6.6), 24. 376 Vgl. dazu H. WEDER, Normativität der Freiheit (s. o. 6.5.5), 136 ff. 377 Die neue Ausrichtung der Existenz benennt Paulus mit dem Verb froneı˜n, das im Neuen Testament 26mal, bei Paulus allein 22mal belegt ist; vgl. hierzu
K. BACKHAUS, Evangelium als Lebensraum (s. o. 6.6), 28–30. 378 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Die Ethik des 1Thessalonicherbriefes, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BEThL 87; Leuven 1990, 295–305; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 39–99.
298 Paulus: Missionar und Denker
Gemeinden anstrebt. Er begründet seine Weisungen nicht aus dem AT und geht von einem bei Christen und Nichtchristen gleichermaßen vorhandenen Ethos aus. Ein differenziertes Bild bieten die beiden Korintherbriefe379. Die Korinther werden wie alle anderen Gemeinden dazu aufgefordert, sich am Weg und der Lehre des Paulus auszurichten (1Kor 4,16f). Die Wiederaufnahme von odo´ß („Weg“) in 1Kor 12,31 zeigt, dass Paulus den Weg der Liebe meint. Er lebt und lehrt die von Christus empfangenen Liebe, deshalb sollen sich die Gemeinden an ihm ausrichten. In den sich anschließenden Konfliktunterweisungen in 1Kor 5–7 bedient sich Paulus sehr verschiedenartiger Begründungen. Der Gemeindeausschluss des Unzuchtstäters wird zwar in 1Kor 5,13b mit einem Zitat aus Dtn 17,7bLXX begründet, das eigentlich Anstößige ist aber die Tatsache, dass ein solcher Fall nicht einmal bei den Heiden vorkommt (vgl. 1Kor 5,1b). Der geforderte Verzicht auf Rechtsstreitigkeiten zwischen Christen vor heidnischen Richtern in 1Kor 6,1–11 hat in der jüdischen Überlieferung keine Parallele380. Die Warnung vor Unzucht in 1Kor 6,12–20 begründet Paulus nicht mit sachlich verwandten Texten wie Prov 5,3; 6,20–7,27; Sir 9,6; 19,2, sondern er zitiert Gen 2,24LXX; ein Text, der ursprünglich mit der Unzuchtsthematik nichts zu tun hat. Auch in 1Kor 7 spielen atl. Texte zur Begründung der ethischen Weisungen und Empfehlungen keine Rolle. Vielmehr gibt es für die tendenziell ehekritische Argumentation des Apostels keinerlei Anhalt am AT, vielmehr finden sich eher Parallelen im kynischen Bereich: Ehe und Kinder hindern den Kyniker an seinem eigentlichen Auftrag, Kundschafter und Herold der Gottheit unter den Menschen zu sein (vgl. Epict, Diss III 22,67–82). Das vom Kyrios geforderte Verbot der Ehescheidung in 1Kor 7,10f widerspricht explizit Regelungen der Tora (vgl. nur Dtn 24,1). Paulus entfaltet 1Kor 7,17–24 die ethische Maxime des Bleibens in der Berufung, die ebenfalls auf kynisch-stoischem Hintergrund zu verstehen ist381. Das Handeln muss sich immer an den Umständen orientieren, denn Leiden entsteht durch eine falsche Auffassung von den Dingen (vgl. Teles, Fr 2). Auch 1Kor 7,19 lässt hellenistischen Einfluss erkennen, denn das „Halten der Gebote Gottes“ (tv´rvsiß entolw˜n heou˜) kann sich nicht auf die Tora beziehen, weil die Tora die Beschneidung fordert und nicht wie 1Kor 7,19a für indifferent erklärt. Paulus geht wiederum von einer allgemeinen Evidenz des Ethischen aus, es gibt unmittelbar zugängliche Gebote Gottes, die den Menschen einsichtig sind382. Gewicht bekommen Schriftzitate (vgl. 1Kor 10,7.26) und Anspielungen (vgl. 1Kor 11,3.8.9) in der Argumentation von 1Kor 10,1–22.23– 379 Zur Analyse vgl. A. LINDEMANN, Toragebote (s. o. 6.5.3), 95–110; M. WOLTER, Ethos und Identität (s. o. 6.6.), 435ff; F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 100–239. 380 Vgl. als Parallele Plat, Gorg 509c (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 278). 381 Umfassender Nachweis bei W. DEMING, Paul on marriage and celibacy. The Hellenistic background
of 1 Corinthians 7, MSSNTS 83, Cambridge 1995, 159–165. 382 Ähnlich argumentiert Epiktet: „Welche Weisungen soll ich dir geben? Hat dir Zeus keine Weisungen erteilt? Hat er dir nicht das, was dir wirklich gehört, als unantastbares Eigentum zur Verfügung gestellt, während das, was dir nicht gehört, erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt ist?“ (Diss I 25,3).
Ethik 299
11,1: 11,2–16. Allerdings leitet Paulus auch hier seine Weisungen nicht direkt aus der Schrift ab383. Der 2Kor bestätigt dieses Urteil, denn die beiden einzig relevanten Schriftzitate in 2Kor 8,15 und 9,9 begründen lediglich die Verheißung, dass den Kollektengebern von Gott überreiche Gnade gewährt wird. In Gal 5,14 zitiert Paulus Lev 19,18b, wobei es deutlich um die in Jesus Christus erschienene Liebe geht (vgl. Gal 5,6). Die Norm des neuen Seins ist allein der Geist, der in Gal 5,18 ausdrücklich als der Gegensatz zur Tora erscheint384. Die christlichen (und hellenistischen) Tugenden der Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit (Gal 5,22.23a) werden exklusiv auf den Geist zurückgeführt. Lediglich im Nachtrag fügt Paulus an: „Gegen solche Dinge ist das Gesetz nicht“ (Gal 5,23b). Speziell die Tugend- und Lasterkataloge (vgl. 1Kor 5,10f; 6,9f; 2Kor 12,20f; Gal 5,19–23; Röm 1,29–31) entfalten ein ethisches Modell, das an der Übereinstimmung mit den Konventionen der Zeit interessiert ist. Sie haben ihren Ursprung in der hellenistischen Philosophie, fanden Aufnahme in der jüdisch-hellenistischen Literatur und waren speziell in ntl. Zeit sehr populär385. Von einer Gemeinsamkeit sittlicher Maßstäbe zwischen Juden, Heiden und Christen geht Paulus in Röm 2,14f aus (vgl. Röm 13,13)386. Er nimmt den hellenistischen Gedanken auf, dass die ethische Belehrung durch die Natur bzw. die Vernunft oder den Logos erfolgt, ohne äußere, d. h. geschriebene Anweisungen387. Auch in Röm 12,1.2 leitet Paulus den Gotteswillen nicht aus der Tora ab. Als Überschrift des ethischen Hauptabschnittes kommt den beiden Versen eine Leser lenkende Funktion zu, sie definieren den Bezugsrahmen, in dem die folgenden Aussagen zu verstehen sind. Die Römer sollen selbst prüfen, was der Wille Gottes ist (V. 2: dokima´zein to` he´lvma tou˜ heou˜); sie übernehmen damit eine Aufgabe, die auch dem Philosophen zukommt, wenn er nach dem fragt, was gut, böse oder gleichgültig ist. „Es wird demnach das wichtigste und vornehmste Geschäft eines Philosophen sein, dass er die Vorstellungen prüfe (dokima´zein ta`ß fantası´aß) und unterscheide (diakrı´nein) und keine ungeprüft annehme“ (Epict, Diss I 20,6.7). Paulus benennt den Willen Gottes mit offenen Kategorien der Popularphilosophie: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. 383 Vgl. A. LINDEMANN, Toragebote (s. o. 6.5.3), 110:
„Die konkreten Weisungen des Paulus im Ersten Korintherbrief zeigen, daß Paulus sich nicht an den Inhalten der Tora orientiert, wenn er ethische Normen aufstellt oder in Konfliktfällen Entscheidungen trifft.“ 384 Zur Analyse des Gal vgl. F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 240–306. 385 Vgl. dazu die Bearbeitung des Materials bei S. WIBBING, Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament und ihre Traditionsgeschichte, BZNW 25, Berlin 1959; E. KAMLAH, Die Form der ka-
talogischen Paränese im Neuen Testament, WUNT 7, Tübingen 1964. Textbeispiele in: NEUER WETTSTEIN II/ 1 (s. o. 4.5), 54–66.575 f. 386 Zum Röm vgl. F. BLISCHKE, Ethik bei Paulus (s. o. 6.6), 307–369. 387 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 71–85. Der wohl älteste Beleg für das Konzept der vernunftgemäßen Sittlichkeit findet sich bei Heracl, Fr. 112: „Vernünftig zu denken ist die größte Tugend (swfroneı˜n aretv` megı´stv), und Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, auf sie hinhörend.“
300 Paulus: Missionar und Denker
Dabei verdeutlicht die Korrespondenz zwischen Röm 12,1f und 12,9ff: „Die Liebe ist die christliche Definition des Guten.“388 In der Tradition philosophischer Kultkritik389 werden die Christen aufgefordert, ihre Leiber als Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, dies ist ihr „vernunftgemäßer Gottesdienst“ (logikv` latreı´a). Dem neuen Gottesverhältnis entspricht ein geistiger Kult, der sich an der von Gott gegebenen Vernunft orientiert. In Röm 13,1–7 thematisiert Paulus das Verhältnis der Christen zum Staat. Bewusst ist der Abschnitt von profanen Begriffen und Vorstellungen durchzogen390, die eine direkte christologische Auslegung unmöglich machen. Die römische Gemeinde soll sich in die schöpfungsgemäßen Strukturen der Welt einordnen. Die allgemeine Gehorsamsforderung wird in V. 6 mit einem Beispiel konkretisiert: Die Römer zahlen Steuern und erkennen damit die von Gott eingesetzten Gewalten an. Die kaiserlichen Beamten der Steuer- und Zolleintreibung sind in der Ausübung ihres Amtes nicht weniger als leitourgoi` heou˜ („Diener Gottes“). In V. 7 schließt Paulus seine Ermahnung mit einer Verallgemeinerung ab: „Gebt allen, was ihr schuldig seid. Wem ihr Steuern schuldet, die Steuern; wem Zoll, den Zoll; wem Furcht, die Furcht; wem Ehre, die Ehre.“ Bei der Interpretation dieses umstrittenen Abschnittes ist sorgfältig auf die Textsorte und die Stellung im Aufbau des Röm zu achten: Er ist Ethik und nicht Dogmatik391! Nimmt der Staat die ihm von Gott zugewiesenen Aufgaben der Machtverwaltung und Machtausübung wahr, dann sind die Christen aufgefordert, ihn darin zu unterstützen. Zudem weist Röm 13,1–7 eine aktuelle politische Konnotation auf, denn die Aufforderung des Paulus zur Anerkennung der staatlichen Autoritäten und damit der Pax Romana392 dürfte auf dem Hintergrund von zunehmenden 388 U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, EKK VI/3,
Neukirchen, 1982, 20. 389 Philo konstatiert: „Gott legt nicht Wert auf die Fülle der Opfer, sondern auf den völlig reinen, vernünftigen Geist (pneu˜ma logiko´n) des Opfernden“ (Spec Leg I 277). Für den gerechten Herrscher gilt nach Dion von Prusa: „Auch glaubt er nicht, die Götter mit Gaben und Opfern von ungerechten Menschen erfreuen zu können, da er weiß, dass sie nur die Gaben von Guten freundlich annehmen. Infolgedessen wird er bestrebt sein, sie auch mit solchen Geschenken reichlich zu verehren. Nie aber wird er aufhören, ihnen mit jenen anderen Geschenken Ehrfurcht zu erweisen, mit guten Werken und gerechten Taten. Tugend hält er für Frömmigkeit, das Laster für lauter Gottlosigkeit“ (Dio Chrys, Or 3,52.53; vgl. ferner 13,35; 31,15; 43,11). Weitere Belege bei H. WENSCHKEWITZ, Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe, ANGELOS 4 (1932), 74–151; NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 220–234. 390 Grundlegender Nachweis bei A. STROBEL, Zum
Verständnis von Röm 13, ZNW 47 (1956), 67–93; vgl. ferner K. HAACKER, Röm (s. o. 6.2.5), 293–303; Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 199–206. 391 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 341; ausführliche Überlegungen zur Textpragmatik finden sich bei H. MERKLEIN, Sinn und Zweck von Röm 13,1–7. Zur semantischen und pragmatischen Struktur eines umstrittenen Textes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 405–437. 392 Vgl. dazu K. WENGST, Pax Romana, München 1986, 19–71; CHR. RIEDO-EMMENEGGER, Prophetischmessianische Provokateure der Pax Romana (s. o. 3.4.1), 5–196. Im Zentrum dieser Vorstellung stand seit Augustus die Person des Kaisers, der als Pontifex Maximus den Fortbestand und den Zusammenhalt des Imperium Romanum in sakralrechtlicher Hinsicht garantiert, das Gemeinwesen zusammenhält und durch seine kluge Politik Frieden und Wohlstand sichert; als Textbeispiel vgl. Val Max I; Plut, Numa 9: „Der Pontifex maximus hat die Stellung eines Auslegers und Propheten oder vielmehr eines
Ethik 301
Spannungen zwischen der als eigenständiger Bewegung sich formierenden christlichen Gemeinde und den römischen Behörden zu verstehen sein393. Sie nehmen nun die Christen als eine Gruppe wahr, die einen hingerichteten Verbrecher als Gott verehrt und das baldige Weltende verkündet. Die nur acht Jahre nach der Abfassung des Römerbriefes einsetzende neronische Verfolgung 64 n.Chr. weist darauf hin, dass es zunehmende Spannungen zwischen den Christen einerseits sowie den Behörden und der Bevölkerung Roms andererseits gegeben haben muss. Am deutlichsten nimmt Paulus in Phil 4,8 Begriffe der Popularphilosophie auf: „Im übrigen, Brüder, was rechtschaffen, was ehrbar, was recht, was gut, was beliebt, was anerkannt ist, was immer Tugend ist und was Lob verdient, dem denket nach.“ Politisch-gesellschaftliche Begriffe sind innerhalb der paulinischen Aufzählung vor allem eufvmoß („anerkannt“) und epainoß („Lob“); sie zielen auf die gesellschaftliche Anerkennung, die Paulus von der Gemeinde in Philippi erwartet. Mit aretv´ („Tugend“) greift Paulus den Schlüsselbegriff der griechischen Bildungsgeschichte auf und integriert den Wandel der Philipper vollständig in das zeitgenössische Ethos. Ist es doch die Aufgabe des politisch-gesellschaftlich agierenden Philosophen, zu klären „was Gerechtigkeit ist, was Pflichtbewusstsein, was Leidensfähigkeit, was Tapferkeit, was Todesverachtung, was Gotteserkenntnis, ein wie kostenloses Gut ein gutes Gewissen ist.“394 Als Lebensform und Technik des Glücklichseins, als Wissenschaft vom Leben395 kommt es der Philosophie darauf an, die im Menschen vorhandenen Tugenden zu wecken bzw. die Einsicht des Menschen zu fördern, sich an diesen Tugenden zu orientieren. Weil ein sittliches Leben gleichbedeutend mit Philosophie ist und die Philosophie handeln lehrt396, kann sie mit der Paraklese des Apostels durchaus verglichen werden. Die Paraklese397 in den paulinischen Briefen unterscheidet sich nicht grundlegend von den ethischen Standards der Umwelt. Nur sehr begrenzt greift Paulus auf das AT als Norm gebender Instanz zurück; die Tora wird auf das Liebesgebot konzentriert Oberaufsehers über das ganze Religionswesen inne. Er hat nicht nur für den öffentlichen Gottesdienst zu sorgen, sondern überwacht auch die von den einzelnen Bürgern dargebrachten Opfer, untersagt das Abweichen vom Hergebrachten und erteilt Belehrung, was jeder zu tun hat, um die Götter zu verehren oder zu versöhnen.“ 393 Mit Hinweis auf Tacitus, Annalen XIII 50–51 (nachhaltige Proteste gegen den Steuerdruck im Jahr 58 n.Chr.) sehen J. FRIEDRICH/P. STUHLMACHER/ W. PÖHLMANN, Zur historischen Situation und Intention von Röm 13,1–7, ZThK 73 (1976), 131–166, in dem zur Zeit der Abfassung des Röm auf den Bürgern lastenden Steuerdruck den aktuellen Hintergrund von Röm 13,1–7.
394 Sen, Tranq An III 4. 395 Cic, Fin III 4: „Philosophie ist ja die Wissenschaft vom Leben“. 396 Vgl. Sen, Ep 20,2: „handeln lehrt die Philosophie, nicht reden“. 397 Der Begriff Paraklese erfasst den paulinischen Grundansatz besser als Paränese : Paraklese ist terminologisch bei Paulus belegt (parakaleı˜n findet sich 39mal, para´klvsiß 18mal bei Paulus), Paränese hingegen nicht (paraineı˜n nur in Apg 27,9.22); vgl. dazu A. GRABNER-HAIDER, Paraklese und Eschatologie bei Paulus, NTA 4, Münster 1968.
302 Paulus: Missionar und Denker
(vgl. Röm 13,8–10) und damit in das zeitgenössische Ethos integriert (s. o. 6.5.3). Allerdings wird dem Liebesgebot eine weitaus exklusivere Stellung zugewiesen als in zeitgenössischen Systemen 398. Die Liebe war in besonderer Weise als ethisches Leitprinzip geeignet, weil sie gleichermaßen das geschenkte Gottesverhältnis, das neue Selbstverständnis und das veränderte Verhalten gegenüber dem Nächsten zu erfassen vermag399. Wenn Paulus auf die Handlungsaspekte des neuen Seins zu sprechen kommt, aktiviert er die Erinnerung seiner Hörer und Leser und strebt Problemlösungen an. Dabei setzt er nicht so sehr im Materialgehalt seiner Weisungen neue Akzente, sondern in der Begründung . Er beurteilt die menschlichen Handlungsmöglichkeiten und ihre Erweiterungen im Licht des Christusgeschehens und gelangt von dort zu einer neuen Existenz- und Zeitdeutung, die sich grundlegend von der hellenistischen Vernunftsethik unterscheidet400: Allein die Teilhabe am Christusgeschehen befreit von der Macht der Sünde und befähigt durch die Kraft des Heiligen Geistes zu einer christuskonformen Existenz, die über den Tod und das Gericht hinaus Bestand haben wird. Zugleich partizipiert das frühe Christentum an einer hochreflektierten jüdischhellenistischen und griechisch-römischen Ethiktradition. Das Humanum musste nicht neu erschaffen und bedacht werden, wohl aber erschien es in einer neuen Perspektive; in der Perspektive des Glaubens, der sich im Handeln manifestiert. Die paulinische Paraklese zielt auf ein Leben im Einklang mit dem Christusgeschehen, sie verweist auf die innere Stimmigkeit zwischen dem geglaubten und gelebten Evangelium. Es geht um die Erkenntnis und Praxis der Einheit von Glaube und Handeln in der Kraft des Geistes. Damit ist die paulinische Ethik gleichermaßen eine Gebotsund Einsichtsethik.
398 Vgl. M. WOLTER, Die ethische Identität christlicher
Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: Woran orientiert sich Ethik?, hg. v. W. Härle/R. Preul, MThSt 67, Marburg 2001, (61–90) 80–84. 399 Vgl. TH. SÖDING, Das Liebesgebot bei Paulus (s. o. 6.6), 272: „Das Liebesgebot ist der Kernsatz paulinischer Ethik.“ 400 Der entscheidende Unterschied zur durchweg theologisch ausgerichteten (stoischen) Vernunftsethik (vgl. nur Cic, Leg I 33f oder Epict, Diss I 1,7) und Paulus liegt in der unterschiedlichen Bewertung der Realität des Bösen und der Fähigkeiten des Menschen, sich dieser Realität zu entziehen. Die stoische
Ethik ist vom Gedanken der sittlichen Entwicklung geprägt. „Sie gipfelt in der Erkenntnis, daß Glück in vollendeter Harmonie des Menschen mit sich selbst besteht und diese nur durch ein Verstehen der und Einverständnis mit der göttlichen Weltvernunft zu erreichen ist“ (M. FORSCHNER, Das gute und die Güter. Zur stoischen Begründung des Wertvollen, in: ders., Über das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, [31–49 ] 46). Das offenkundige weitverbreitete Abweichen von diesem Ideal wird zumeist mit mangelnder Einsicht in diese Zusammenhänge und der ‚Schlechtigkeit‘ der Menschen erklärt.
Ekklesiologie 303
6.7
Ekklesiologie
W. KLAIBER, Rechtfertigung und Gemeinde, FRLANT 127, Göttingen 1982; U. BROCKHAUS, Charisma und Amt, Wuppertal 1987; J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993; W. KRAUS, Das Volk Gottes, WUNT 85, Tübingen 1996; H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus, FRLANT 181, Göttingen 1999; R. W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften von Jesus bis Paulus, Gießen 2000; A. D. CLARKE, Serve the Community of the Church, Grand Rapids 2000; TH. SCHMELLER, Gegenwelten. Ein Vergleich zwischen paulinischen Gemeinden und nichtchristlichen Gruppen, BZ 47 (2003),167–185.
Für Paulus kann es die Teilhabe am gemeinsamen Heil nur in der Gemeinschaft der Glaubenden geben. Christsein ist für ihn identisch mit In-der-Gemeinde-Sein, seine Mission ist gemeindegründende Mission, und seine Briefe sind Gemeindebriefe.
6.7.1
Ekklesiologische Grundbegriffe
Von den 114 ekklvsı´a-Belegen im Neuen Testament finden sich 44 bei Paulus, hier wiederum 31 in den beiden Korintherbriefen. Paulus greift mit ekklvsı´a („Versammlung/Gemeinde“) einen politischen Begriff auf, um das Wesen und die örtlichen Versammlungen der neuen Gemeinschaft zu kennzeichnen. Im griechisch-hellenistischen Bereich benennt ekklvsı´a die Versammlung der stimmberechtigten freien Männer401, ein Sprachgebrauch, der auch in Apg 19,32.39 vorliegt. 1Thess 2,14; 1Kor 15,9; Gal 1,13 und Phil 3,6 („ich habe die Versammlung Gottes verfolgt“) zeigen, dass möglicherweise schon in Jerusalem die Bezeichnung ekklvsı´a tou˜ heou˜ („Versammlung Gottes“) für die neue Bewegung der Christusgläubigen aufkam. Man knüpfte damit einerseits an die Wiedergabe von lhq mit ekklvsı´a in der Septuaginta an402 und ordnet die Christusgemeinschaft dem Gottesvolk Israel zu, andererseits drückt die Nichtaufnahme von sunagwgv´ („Synagoge“) das Selbstverständnis der frühesten Gemeinden in der Abgrenzung zum Judentum aus. In der semantischen Neuprägung ekklvsı´a tou˜ heou˜ artikuliert sich das Selbstverständnis der neuen Bewegung als eigenständige Größe403. Paulus orientiert sich bewusst an der profanen Grundbedeutung von ekklvsı´a, denn bei ihm steht die örtliche Versammlung der Glaubenden im Vordergrund, wie die Ortsangaben in 1Thess 401 Vgl. dazu insgesamt A. CLARKE, Serve the Com-
munity of the Church (s. o. 6.7), 11–33. 402 Vgl. Dtn 23,2–4; Num 16,3; 20,4; Mi 2,5; 1Chr 28,8; zu den einzelnen Ableitungstheorien vgl. J. ROLOFF, Art. ekklvsı´a, EWNT 1, Stuttgart 1980, (998– 1011) 999–1001; W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 124–126.
403 Das griechische Syntagma ekklvsı´a tou˜ heou˜ ist literarisch nur bei Paulus (1Thess 2,14; 1Kor 1,2; 10,32; 11,16.22; 15,9; 2Kor 1,1; Gal 1,13) und in seiner Wirkungsgeschichte (Apg 20,28; 2Thess 1,1.4; 1Tim 3,5.15) belegt.
304 Paulus: Missionar und Denker
1,1; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Gal 1,2 zeigen404. Zugleich gewinnt die eine Kirche Gottes in der Einzelgemeinde Gestalt, so dass sowohl die Ortsgemeinde (1Thess 1,1; 1Kor 1,2) bzw. die Ortsgemeinden (2Kor 1,1; Gal 1,2) als auch die Christenheit insgesamt (1Thess 2,14; 1Kor 10,32; 11,16.22; 12,28; 15,9; Gal 1,13; Phil 3,6) als ekklvsı´a tou˜ heou˜ bezeichnet werden kann. Für Paulus repräsentiert die Einzelgemeinde die Gesamtkirche an einem bestimmten Ort405; er kennt keine hierarchische Struktur zwischen Ortsgemeinden und der Gesamtkirche, sondern wechselweise kann ein Teil für das Ganze stehen . Die Gesamtkirche ist in der Ortsgemeinde präsent, und die Ortsgemeinde ist ein Teil der Gesamtkirche. Terminologisch sollte deshalb ekklvsı´a als Zusammenschluss von Christen an einem Ort mit „Gemeinde“, als weltweite Gesamtheit aller Christen mit „Kirche“ übersetzt werden406. In der Traditionsgeschichte atl.-jüdischer Vorstellungen stehen weitere ekklesiologische Bezeichnungen bei Paulus wie „die Heiligen “ (oı aÇgioi) und „die Erwählten “ (oı eklektoı´). Sehr häufig erscheint im Präskript der Briefe die Bezeichnung der Gemeinde als aÇgioi (1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Röm 1,7; Phil 1,1), die wie ekklvsı´a heou˜ wechselnder Ausdruck für Einzelgemeinden (1Kor 16,1; 2Kor 8,4; Röm 15,26) und die Gesamtkirche sein kann (1Kor 14,33: taı˜ß ekklvsı´aiß tw˜n agı´wn = „den Gemeinden der Heiligen“). ‚Heilige‘ sind für Paulus die Christen nicht aufgrund einer besonderen ethischen Qualität, sondern durch die in der Taufe vollzogene Einbeziehung in das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus. Sie gehören zu Gott, der Geist Gottes wohnt in ihnen (1Kor 3,16; 6,19) und ihr Leib ist heilig, weil er der Tempel Gottes ist (1Kor 3,17b). In unmittelbarem Zusammenhang mit ekklvsı´a und in großer Nähe zu aÇgioß steht die Wortgruppe klvto´ß („berufen“), klv˜siß („Berufung“), eklogv´ („Erwählung“), eklekto´ß („erwählt“)407, die für die paulinische Ekklesiologie von großer Bedeutung ist. Dankbar erwähnt Paulus in 1Thess 1,4 die Erwählung (eklogv´) der ehemals heidnischen Thessalonicher; in 1Kor 1,26ff wertet Paulus die Berufung (klv˜siß) der Schwachen, Törichten und Verachteten als eine Bestätigung des paradoxen Handelns Gottes am Kreuz. Die Erwählung hat reinen Gnadencharakter (Gal l,6; Röm 1,6), so dass Paulus von einer im Eschaton gültigen Vorherbestimmung der Glaubenden sprechen kann (Röm 8,29–39; vgl. 1Kor 2,7). Wie sehr für Paulus Berufung und Heiligung zusammengehören, zeigen 1Kor 1,2; Röm 1,7, wo er von „berufenen Heiligen“ spricht. Wer berufen, ausgesondert (vgl. Gal 1,l5; Röm 1,1) und von Gott ergriffen ist, der ist heilig. Basismetaphern
Neben den ekklesiologischen Grundworten prägen drei Basismetaphern die paulinischen Aussagen zur Kirche: ‚in Christus‘ (en Cristw˜ ), ‚Leib Christi‘ (sw˜ma Cristou˜) und ‚Volk Gottes‘ (lao`ß heou˜). Mit ihren Raum- und Zeitaspekten beschreiben sie 404 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 98 f.
406 Vgl. J. ROLOFF, Art. ekklvsı´a, 999.
405 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 323.
407 Vgl. H. CONZELMANN, 1Kor (s. o. 4.6), 39 f.
Ekklesiologie 305
umfassend den Ort und das Wesen christlicher Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden. 1) Als Ortsbeschreibung christlicher Existenz benennt en Cristw˜ die enge und heilvolle Gemeinschaft jedes einzelnen Christen und aller gemeinsam mit Jesus Christus (s. o. 6.4.1). In der Taufe werden die Glaubenden in den Bereich des pneumatischen Christus eingegliedert und sind en Cristw˜ eine neue Kreatur (2Kor 5,17). Die Getauften haben ‚in Christus‘ teil an der koinwnı´a („Gemeinschaft“) des einen Geistes (2Kor 13,13; Phil 2,1), die nun ihr Leben in der Gemeinde bestimmt. Die Einbeziehung in die Herrschaftssphäre Christi wirkt sich real sowohl auf das Leben der einzelnen Glaubenden als auch auf die Gestalt der Gemeinde aus; sie begründet nicht nur die Gemeinschaft mit Christus, sondern ermöglicht auch eine neue Gemeinschaft der Glaubenden untereinander (vgl. Gal 3,26–28). Während in der römischen Gesellschaft die Herkunft und Standeszugehörigkeit über den Status eines Menschen entschied, gelten in den christlichen Gemeinden die antiken Fundamentalunterscheidungen von Herkunft, Geschlecht und Rasse nicht mehr (vgl. 1Kor 12,13; Gal 3,26–28; Röm 1,14). Alle sind ‚Kinder Gottes‘ und ‚einer in Christus Jesus‘ (Gal 3,26.28), so dass eine völlig neue Offenheit in der Wahrnehmung und im Umgang von Menschen entstand, die ein wichtiger Grund für den Erfolg der frühchristlichen Mission war408. 2) Die christologische Fundierung der paulinischen Ekklesiologie zeigt sich auch in der sw˜ma Cristou˜-Vorstellung, denn der Gedanke der Inkorporation in den Leib Christi betont die Prävalenz der Christologie gegenüber der Ekklesiologie. Ausgangspunkt für den ekklesiologischen Gebrauch von sw˜ma bei Paulus ist die Rede vom sw˜ma tou˜ Cristou˜ in Röm 7,4 und in der Abendmahlsüberlieferung (1Kor 10,16; 11,27). Meint sw˜ma tou˜ Cristou˜ in 1Kor 10,16; 11,27; Röm 7,4 den am Kreuz für die Gemeinde hingegebenen Leib Christi, so wird in 1Kor 10,17 daraus die ekklesiologische Folgerung gezogen: eÅn sw˜ma oı polloı´ esmen („wir, die Vielen, sind ein Leib“). Die für alle ekklesiologischen Aussagen grundlegende Gleichsetzung der Gemeinde mit dem Leib Christi findet sich explizit nur in 1Kor 12,27: umeı˜ß de´ este sw˜ma Cristou˜ („Ihr aber seid der Leib Christi“). Paulus setzt diese Vorstellung ferner in 1Kor 1,13; 6,15f; 10,17; Röm 12,5 und 1Kor 12,12–27 ein409. In 1Kor 12,13 („Denn durch einen Geist wurden wir alle zu einem Leib hin getauft“) entfaltet Paulus den sw˜ma Cristou˜-Gedanken in charakteristischer Weise: a) Der Leib Christi ist in Bezug auf seine 408 Vgl. hier E. EBEL, Die Attraktivität früher christli-
cher Gemeinden, WUNT 2.178, Tübingen 2004, die den Schlüssel zum Erfolg frühchristlicher Gemeinden in der Offenheit für Menschen aller Stände, aller Geschlechter und aller Berufe sieht. Diese Offenheit stellt den größten Unterschied gegenüber paganen Vereinen dar. Die Bekehrung ‚ganzer Häuser‘ (vgl. 1Kor 1,16; Apg 16,15; 18,8) zeigt, dass Angehörige
aller Stände und Schichten zu der neuen Gemeinschaft gehören konnten. Durch den Verzicht auf formale Zulassungsbedingungen schlossen sich insbesondere Frauen und Mitglieder unterer Gesellschaftsschichten (vor allem Sklaven) in einem erheblichen Maß den neuen Gemeinden an. 409 Vgl. hierzu E. SCHWEIZER, Art. sw ˜ ma, ThWNT 7, Stuttgart 1964, (1025–1091) 1064 ff.
306 Paulus: Missionar und Denker
Glieder präexistent. Er wird nicht durch menschliche Entschlüsse und Zusammenschlüsse gebildet, sondern ist vorgegeben und ermöglicht diese erst. b) Durch die Taufe wird der einzelne Christ in den ihm vorausliegenden Leib Christi integriert. Die Taufe konstituiert nicht den Leib Christi, aber sie ist der geschichtliche Ort der Aufnahme in diesen Leib und der reale Ausdruck der in Christus begründeten Einheit der Gemeinde. Es gibt den erhöhten Christus nicht ohne seinen Leib, die Gemeinde. Ebenso manifestiert sich die Teilhabe am sw˜ma Cristou˜ gerade in der Leiblichkeit des Glaubenden: „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind?“ (1Kor 6,15). Weil die Glaubenden mit ihrem ganzen Leib dem Herrn gehören, sind sie zugleich Glieder am Leib Christi. Wie der Leib nur einer ist, aber viele Glieder hat, so gibt es in der Gemeinde eine Vielzahl von Berufungen und Gaben, aber nur eine Gemeinde (1Kor 1,10–17; 12,12ff; Röm 12,5). Die Vielzahl der Charismen und die Einheit der Gemeinde entsprechen sich. Auch das Verhältnis der einzelnen Glieder zueinander vermag die Leib-Vorstellung zu illustrieren: Sie sind nicht alle gleichartig, aber aufeinander angewiesen und deshalb gleichwertig. Die Gemeinde bildet nicht durch ihr Verhalten den Leib Christi, sondern sie entspricht ihm in ihrem Handeln. 3) Die programmatische Verkündigung des beschneidungsfreien Evangeliums an die Menschen aus den Völkern stellte Paulus vor das Problem, wie Kontinuität und Diskontinuität der Kirche zu Israel zu bestimmen sind410. Auffallend ist in diesem Kontext der Sprachgebrauch des Apostels, denn lao`ß heou˜ („Volk Gottes“), erscheint nur in fünf atl. Zitaten, von denen sich nicht zufällig allein vier im Römerbrief finden (vgl. 1Kor 10,7 = Ex 32,6; Röm 9,25f = Hos 2,25; Röm 10,21 = Jes 65,2; Röm 11,1f = Ps 93,14LXX; Röm 15,10 = Dtn 32,43). Zudem vermeidet es der Apostel, explizit von dem einen Gottesvolk aus Juden und Heiden oder von dem alten und neuen Gottesvolk zu sprechen. Dennoch ist der Aufweis der Einheit des Handelns Gottes in der Geschichte und damit der heilsgeschichtlichen Kontinuität des Gottesvolkes ein zentrales Thema paulinischer Ekklesiologie. Der Apostel ringt zeitlebens mit diesem Thema, wie die verschiedenen Stellungnahmen in den Briefen und die Kollektenaktion zeigen (s. u. 6.8.4). Paulus spricht von der Erwählung der Thessalonicher (vgl. 1Thess 1,4; 2,12; 4,7; 5,24), schweigt aber zugleich über Israel und zitiert nicht das AT411. Stattdessen betont er in 1Thess 2,16, dass der Zorn Gottes bereits über die Juden gekommen ist. In 1Kor 10,1–13 kommt einerseits die Verwurzelung der Kirche in Israel zum Ausdruck, andererseits wird diese Vorstellung überboten: Die Geschehnisse des Exodus können 410 Im AT und in den Schriften des antiken Judentums zeugen zahlreiche Texte vom Nachdenken über die Integration von Nichtjuden in das Gottesvolk; vgl. zur Analyse W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 16–110. Die beschneidungsfreie Mission stellte allerdings ein völlig neues Phänomen dar, das im
Lichte dieser Texte bedacht, aber nicht gelöst werden konnte. 411 Zur Analyse der Texte unter dem Aspekt der Gottesvolk-Vorstellung vgl. W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 120–155, der allerdings die Diskontinuität minimiert.
Ekklesiologie 307
erst jetzt verstanden werden, denn sie wurden zur Warnung der ekklvsı´a aufgeschrieben (1Kor 10,11). Mit der Präexistenzaussage in 1Kor 10,4 verbinden sich wiederum Kontinuität und Diskontinuität: Die Väter der Wüstengeneration sind zugleich die Väter der Christen, Gott hatte aber kein Wohlgefallen an ihnen und bestrafte sie. Das paulinische Schriftverständnis ordnet Gottes Hinwendung zu Israel konsequent der aktuellen Situation der Kirche zu, indem es davon ausgeht, dass dieses vorgängige Handeln an Israel schon immer der Kirche galt und nun seine Erfüllung findet412. In 2Kor 3,1–18 präzisiert Paulus diesen Gedanken413: Die Verheißungen des Bundes erschließen sich erst in einer christologischen Relecture, weil bis zum heutigen Tag eine Verstehensbarriere auf der Schrift liegt (2Kor 3,16–18). Mose ist der Repräsentant einer vergänglichen Herrlichkeit, während Christus den befreienden neuen Bund (vgl. 2Kor 3,6; 1Kor 11,25) in der Kraft des Geistes repräsentiert. Die Vorstellung einer Überbietung dominiert auch im Galaterbrief, denn Paulus betont zwar die bleibende Gültigkeit des Bundes Gottes mit Abraham (vgl. Gal 3,15– 18), sieht ihn aber erst in Christus wirklich vollendet. Deshalb sind allein die an die Christusbotschaft Glaubenden die legitimen Söhne Abrahams und Erben der Verheißungen Gottes. Die am Gesetz/an der Tora orientierten Juden hingegen sind illegitime Abrahamssöhne, Söhne des von Gott verstoßenen Ismael, und sie befinden sich im Status der Unfreiheit (vgl. Gal 4,21–31). Paulus vertritt hier polemisch eine konsequente Enterbungstheorie 414; das wahre Israel, das ‚Israel Gottes‘ (Gal 6,16; vgl. 4,26; Phil 3,3), sind die Glaubenden, weil nur ihnen in legitimer Weise der Status der Nachkommenschaft Abrahams zukommt. Im Römerbrief verlässt Paulus diesen rigorosen Standpunkt und gelangt mit einer komplexen Argumentation zu einer neuen Vision. Christus ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch geboren (Röm 1,3), so dass sich Gottes Heilshandeln an den Glaubenden durch Israel hindurch vollzieht. Das Evangelium gilt zuerst den Juden (Röm 1,16; 2,9f; 3,9.29; 9,24), der Abrahamsbund bleibt bestehen (Röm 4), und das Gesetz/die Tora ist „gerecht, heilig und gut“ (Röm 7,12). Aber die Juden können sich nicht mehr auf die Privilegien der Beschneidung und des Gesetzes/der Tora berufen (Röm 2,17ff), denn nach dem Willen Gottes entscheidet sich allein an der Stellung zum Evangelium, wer zum wahren Israel gehört. Unter bewusster Aufnahme atl. und jüdischer Traditionen wird Israel in Röm 9–11 als physischer Volksverband entschränkt (vgl. Röm 9,6ff) und erscheint die Aufnahme der Menschen aus den Völkern als natürliche Konsequenz des Willens Gottes, nachdem die Juden das Evangelium abgelehnt haben (Röm 2,17ff; 11,25.
412 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 120 f. 413 Zur Auslegung von 2Kor 3,1–18 vgl. E. GRÄSSER,
Der Alte Bund im Neuen, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, 1–134; S.J. HAFEMANN, Paul, Moses, and the History of Israel, WUNT 81, Tübingen 1995; M. VOGEL, Das Heil des Bundes.
Bundestheologie im Frühjudentum und im frühen Christentum, TANZ 18, Tübingen 1996; S. HULMI, Paulus und Mose. Argumentation und Polemik in 2Kor 3, SFEG 77, Helsinki/Göttingen 1999. 414 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 125 f.
308 Paulus: Missionar und Denker
31f). Für sein Volk hofft Paulus jedoch, dass es sich am Ende der Zeit doch noch zu Christus bekehren wird (Röm 11,25–36). Die drei Basismetaphern415 bringen ebenso wie die Grundworte den Ansatz der paulinischen Ekklesiologie zum Ausdruck: Die Teilhabe am Christusgeschehen gewinnt in der Gemeinde Gestalt . Christologie und Ekklesiologie fallen nicht zusammen, sondern die Christologie bestimmt die Ekklesiologie, weil es keinen anderen Grund gibt als den, der gelegt ist: „der ist Jesus Christus (1Kor 3,11: oÇß estin LIvsou˜ß Cristo´ß).
6.7.2
Strukturen und Aufgaben
Durchgehend erinnert Paulus die Gemeinden an die Liebestat Gottes in Jesus Christus, der die Glaubenden zum Heil und nicht zum Unheil bestimmte (vgl. 1Thess 5,9), sich in Christus mit der Welt versöhnte (vgl. 2Kor 5,18–21) und ihr Frieden, Gerechtigkeit und Leben schenkte (vgl. Röm 5). Das Verhalten Jesu wird für Paulus zum Strukturprinzip seiner Ekklesiologie 416. Durch seine Pro-Existenz überwand Jesus das Denken in Herrschafts- und Gewaltkategorien und setzte an ihre Stelle das Prinzip des dienenden Daseins für andere (vgl. Phil 2,1–5.6–11). Die Gemeinde weiß sich aufgerufen zu einem von der Liebe bestimmten Handeln, das seinen sichtbaren Ausdruck in der Einheit und Gemeinschaft der Glaubenden und Getauften findet. Sie sollen gleichgesinnt sein im Denken und Trachten (2Kor 13,11; Röm 12,16; Phil 2,2), einander mahnen und trösten (1Thess 5,14; Gal 6,1f; Röm 15,14) und immer nach dem Willen Gottes forschen (Röm 12,2; Phil 1,9f; 4,8). Jederzeit und gegen jedermann soll der Christ das Gute vollbringen, am meisten aber gegenüber den Mitgeschwistern (Gal 6,10; vgl. 1Thess 3,12). Geschwisterliebe ist das Kennzeichen christlicher Existenz (1Thess 4,9; Röm 12,10). Den anderen soll man in Demut höher achten als sich selbst (Röm 12,10; Phil 2,3). Keiner soll auf seinen Vorteil sehen und für sich selbst leben (1Thess 4,6; 1Kor 10,24.33–11,1; 13,5; 2Kor 5,15; Röm 15,2ff; Phil 2,4), sondern einer trage des anderen Last (Gal 6,2). Die Liebe als die bestimmende Kraft der Gemeinde ist ihrem Wesen nach unbegrenzt (1Kor 13) und gilt gegenüber jedermann. Sie kennt keine Selbstsucht, keinen Streit und keine Parteien, denn sie baut die Gemeinde auf (1Kor 8,1). Auch das Sozialgefüge der Gemeinde wird durch sie verändert, weil die Gläubigen in allen Dingen Gemeinschaft haben (Gal 6,6), den Bedürftigen helfen (vgl. Gal 4,10ff) und Gastfreundschaft üben (Röm 12,13). Des einen Überfluss füllt den Mangel des anderen aus (2Kor 8,13–14). 415 Die innere Verbindung zwischen ‚Volk Gottes‘und der ‚Leib-Christi‘-Vorstellung betonen J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 130f; W. KRAUS, Volk Gottes (s. o. 6.7), 350–361. Während die Leib-Metapher auf das gegenwärtige Wachstum der Gemeinden blickt, verankert sie der Volk-Gottes-Gedanke „in der Tiefe der
Gottesgeschichte“ (W. Kraus, a. a. O., 351). Die Abfolge Gal 3,26–28 und 3,29 zeigt zudem deutlich, dass Paulus die räumlichen und geschichtlichen Dimensionen der Ekklesiologie zusammenzudenken vermag. 416 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 133.
Ekklesiologie 309
Nachahmersein
Wenn Paulus die Gemeinden auffordert, seine Nachahmer zu werden, wie er Christi Nachahmer wurde (vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1), dann sieht er sich in der Kette von Vorbild- und Nachahmer-Sein in einer Mittelposition. Er empfiehlt sich den Gemeinden in zweifacher Hinsicht als Modell : a) Sein Einsatz für das Evangelium und das Wohl der Gemeinden überragt alle anderen Apostel (vgl. 1Kor 15,10: „ . . .ich habe weit mehr Arbeit geleistet als sie alle, doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir ist. . . “; vgl. 2Kor 11,23; 6,4f). Unermüdlich kämpft Paulus für den Erhalt der Gemeinden (vgl. 1Thess 2,2; 1Kor 9,25; Phil 1,30)417, und er arbeitet Tag und Nacht, um den Gemeinden nicht zur Last zu fallen (vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 4,12). Er läuft und streckt sich nach dem Siegerkranz aus (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,24–26; Phil 2,19; 3,14); seine größte Sorge ist, sich vergeblich abgemüht zu haben und beim Tag des Herrn nichts vorweisen zu können (vgl. 1Thess 3,5; Gal 4,11; Phil 2,16). b) Auch im Leiden präsentiert sich Paulus den Gemeinden als Modell418. Er trägt allezeit das Sterben Jesu an seinem Leib (2Kor 4,10; vgl. Gal 4,17), sieht sich dia` LIvsou˜n („wegen Jesus“) bzw. wegen des Evangeliums ständig dem Tod ausgesetzt (2Kor 4,11; vgl. 1Kor 4,10; 9,23; Phlm 13) und möchte den Leiden Christi gleichgestaltet werden (vgl. Phil 3,10; 1,20). Paulus versteht seine Leiden als unmittelbaren Bestandteil seiner apostolischen Sendung und sieht sie in einem engen Zusammenhang mit den Leiden Christi (vgl. 1Thess 2,2; 2Kor 4,11; Phil 1,7.13; 2,17; Phlm 1.9.13). All dies geschieht „um euretwillen“ (2Kor 4,15), Paulus opfert sich in seinem Leiden für die Gemeinden (vgl. 2Kor 12,15). Aber auch die Gemeinde ist Leidenserfahrungen ausgesetzt, denn sie wird ständig von außen und innen bedrängt (vgl. 1Thess 1,6; 2,14; 2Kor 1,7; Phil 1,29f). Die Teilhabe am Leiden Jesu entspricht ebenso christlicher Existenz (vgl. Röm 6,3f) wie die Teilhabe an den Auferstehungskräften (vgl. Röm 6,5), so dass beides das Selbstverständnis der Gemeinde prägt. Obwohl Apostel und Gemeinde gleichermaßen teilhaben an den Leiden Christi, verkörpert Paulus auch hier vorbildlich die christliche Existenz: Er wurde als Apostel vom leidenden Herrn berufen und demonstriert seinen Gemeinden, dass die Leiden ebenso wie die Auferstehung die Existenz des Einzelnen und die Gestalt der Gemeinde bestimmen. Charisma und Amt
Die dynamische Grundstruktur paulinischer Ekklesiologie zeigt sich auch im Verhältnis von geregelten Leitungsaufgaben und charismatischen Fähigkeiten. Paulus ord417 Zum agw´n-Motiv vgl. V.C. PFITZNER, Paul and the Agon Motif, NT.S 16, Leiden 1967; R. METZNER, Paulus und der Wettkampf, NTS 46 (2000), 565–583; U. POPLUTZ, Athlet des Evangeliums, HBS 43, Würzburg 2004. 418 Vgl. dazu mit unterschiedlichen Akzenten M. WOLTER, Der Apostel und seine Gemeinden als
Teilhaber am Leidensgeschick Jesu Christi, NTS 36 (1990), 535–557; H. V. LIPS, Die „Leiden des Apostels“ als Thema paulinischer Theologie, in: P. Müller/ Chr. Gerber/Th. Knöppler (Hg.), „ . . .was ihr auf dem Weg verhandelt habt“ (FS F. Hahn), Neukirchen 2001, 117–128.
310 Paulus: Missionar und Denker
net das Gemeindegeschehen entschieden dem Bereich des Geistes zu. Der Sprachgebrauch lässt dabei die Akzente des Apostels deutlich erkennen: Die Begriffe pneumatiko´ß bzw. pneumatika´ („geistlich/Geistliches“) und ca´risma bzw. carı´smata („Gnadengeschenk/Gnadengeschenke“) finden sich ausschließlich in den Protopaulinen und ihrer Wirkungsgeschichte419. Sie scheinen innerhalb des frühen Christentums Neuschöpfungen zu sein und beschreiben exklusiv das Geistgeschehen in seinen verschiedenen Dimensionen. Während pneumatiko´ß und pneumatika´ die wirkmächtige Gegenwart des Göttlichen ausdrücken, verweisen ca´risma und carı´smata auf den Geschenkcharakter und Ursprung der in den Gemeinden aufbrechenden außergewöhnlichen Phänomene. Wahrscheinlich führte erst Paulus den Begriff ca´risma in die Debatte ein420, um den pneumatisch besonders begabten Korinthern das Wesen der Geistesgaben zu verdeutlichen. Die Korinther sprachen von den pneumatika´ (vgl. 1Kor 12,1) und betonten dabei ihre individuellen Fähigkeiten als Medium des Göttlichen, während Paulus auf den externen Ursprung des Geistwirkens hinweist und daraus eine Priorität des Geistwirkens für den „Aufbau“ (oikodomv´) der Gesamtgemeinde ableitet (vgl. 1Kor 14,12). Weil der Geist einer und unteilbar ist, fördern seine Gaben ihrem Wesen nach die Einheit der Gemeinde. Die Vielfalt und Verschiedenheit der Charismen (vgl. 1Kor 12,28; Röm 12,7f) dokumentieren je auf ihre Weise den Reichtum des Geistwirkens und werden missbraucht, wenn sie zur individuellen Selbstdarstellung und zu Rangstreitigkeiten führen. Zudem repräsentieren auch die außergewöhnlichen Charismen wie Glossolalie, Prophetie und Heilkraft immer nur einen Teilbereich der Geistwirklichkeit in der Gemeinde. Die Liebe als reinste und höchste Form der Gegenwart des Göttlichen verzichtet auf Herrschaft und stellt sich in den Dienst der Anderen (vgl. 1Kor 13), so dass alles, was der oikodomv´ der Gemeinde dient, sich als authentische Gabe des Geistes erweist. Wenn der Geist den Aufbau der Gemeinde bewirkt, fördert und ordnet, kann es bei Paulus keinen Gegensatz zwischen individuell-pneumatischen Fähigkeiten und ordnenden bzw. lehrenden Aufgaben geben, denn beide haben ihren Ursprung gleichermaßen im Geist. Das Bild des Organismus (vgl. 1Kor 12,12–31) verdeutlicht, dass die einzelnen Gaben, Befähigungen und Aufgaben nur durch ihre Zuordnung und den Bezug auf das Ganze ihre Wirkungen entfalten können. Die häufig behauptete Alternative zwischen Charisma und Amt421 existiert bei Paulus nicht, weil das Wir419 Pneumatiko´ß bzw. pneumatika´ ist im Neuen Testament 26mal belegt; in den Protopaulinen 19mal, davon allein 15mal im 1Korintherbrief (Kol, Eph, 1Petr: 7mal). Ca´risma bzw. carı´smata findet sich im Neuen Testament 17mal; in den Protopaulinen 14mal, davon 7mal im 1Korintherbrief und 6mal im Römerbrief (1mal im 2Kor; dazu je einmal im 1Tim, 2Tim, 1Petr).
420 Vgl. U. BROCKHAUS, Charisma und Amt (s. o. 6.7), 189f; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 137. 421 Vgl. R. SOHM, Begriff und Organisation der Ekklesia, in: K. Kertelge (Hg.), Das kirchliche Amt im Neuen Testament, Darmstadt 1977 (= 1892), 53: „Die Ekklesia ist die gesamte Christenheit, der Leib Christi, die Braut des Herrn – eine geistliche Größe, den Normen des Irdischen, auch dem Recht entrückt.“
Ekklesiologie 311
ken des Geistes unteilbar ist. In 1Kor 12,28 werden an Personen gebundene Funktionen und außergewöhnliche Fähigkeiten gleichermaßen dem ordnenden Handeln Gottes zugeordnet. Die Verbform eheto („jemanden einsetzen/zu etwas machen“), die Zählung und das Nebeneinander von aus einer Berufung erwachsenden, spontan-außergewöhnlichen und vermittelbaren Gaben zeigen, dass für Paulus Geist und Recht keine Gegensätze sind422. Auch die Charismenliste in Röm 12,6–8 bezeugt die Grundtendenz des paulinischen Ansatzes: In den Charismen konkretisiert sich Gottes Zuwendung, so dass Anordnung, Ordnung und Stetigkeit natürliche Elemente des Geistwirkens sind. Paulus formuliert in 1Kor 12,28 die ersten drei Charismen im Unterschied zu den folgenden personal und signalisiert damit, dass ein fester Personenkreis über eine bestimmte Dauer eine auf die Gemeinde bezogene konkrete Aufgabe ausübt. In diesem Sinn kann bei Paulus von Ämtern gesprochen werden423. Ämter
Das Apostelamt betont in besonderer Weise die Berufung, Gründungskompetenz und Leitungsfähigkeit frühchristlicher Missionare. Dieses Amt konzentriert sich in der Frühzeit auf Jerusalem (vgl. 1Kor 15,3–11; Gal 1,17.19), lässt sich aber keineswegs auf die Zwölf oder die Urgemeinde beschränken. Die Wendung „danach allen Aposteln“ innerhalb der Zeugenliste der Erscheinungen des Auferstandenen (1Kor 15,7), die Erwähnung von Andronikus und Junia als Apostel schon vor Paulus (Röm 16,7), die Berufung des Paulus zum ‚Apostel der Völker‘ (vgl. Gal 1,1; Röm 15,15ff), der mit Antiochia verbundene Apostelbegriff (vgl. Apg 13,1–3; 14,4.14), der Streit um einen sachgemäßen Apostelbegriff in 2Kor 11,5.13; 12,11 und das Apostelbild der Logienquelle (vgl. Lk 10,4.9par; Mt 10,8) lassen eine Ausweitung des Apostelkreises innerhalb der frühchristlichen Missionsgeschichte erkennen424. Eine Erscheinung bzw. Legitimation des Auferstandenen reichte als Legitimation des Apostelamtes keineswegs aus, denn sonst wären die „500 Brüder“ aus 1Kor 15,6 alle Apostel. Zudem wird der einzige frühchristliche Missionar nicht als Apostel bezeichnet, den Paulus wirklich akzeptierte: Apollos (vgl. 1Kor 3,5ff; 4,6; 16,12). Auch Berufung und Sendung legitimieren auf Dauer nicht das Apostelamt, sondern die Fähigkeit des Apostels, Gemeinden zu gründen und das Evangelium als Norm der Gnade in den Ge-
422 Treffend J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 139: „Der
Geist selbst setzt Recht, indem er bestimmte Funktionen als verbindlich herausstellt.“ 423 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 139 ff. A. D. CLARKE, Serve the Community of the Church (s. o. 6.7), passim, arbeitet umfassend die Beeinflussung der Verfassungs- und Leitungsstrukturen der frühen Gemeinden durch griechisch-römische Sozialstrukturen heraus (insbesondere den Einfluss des Patronatsystems), um dann im Prinzip der diakonia als von Je-
sus gesetzter Norm das Proprium der Strukturen der neuen Bewegung zu sehen. 424 Zumeist wird eine historische Entwicklungslinie vom Jerusalemer Erscheinungsapostolat hin zum charismatischen Wanderapostolat gezogen, wie es in den Überlieferungen der Logienquelle und der antiochenischen Tradition begegnet; vgl. dazu J. ROLOFF, Art. Apostel I, TRE 3, Berlin 1979, (430–445) 433 ff.
312 Paulus: Missionar und Denker
meinden überzeugend zu repräsentieren, wodurch der Apostel selbst zur Norm wird (vgl. 1Thess 1,6; 1Kor 4,16; 11,1; Phil 3,17). Der Apostel verkörpert in seinem Auftreten und seiner Arbeit die Knechtsgestalt des Evangeliums (vgl. 2Kor 4,7–18), er ist selbst das Exemplum des neuen Seins, und die Gemeinden sind das Siegel seines Apostolats und sein Ruhm im Gericht (vgl. 1Thess 2,19; 1Kor 9,2; 2Kor 3,2). Bei Paulus tritt neben die Gründungskompetenz die Leitungs- und Begleitungskompetenz, seine besondere Befähigung liegt darin, nach der Gründungspredigt und dem Gründungsaufenthalt durch Mitarbeiter und Briefe bleibend präsent zu sein. Die prophetische Rede gehört zu den natürlichen Elementen frühchristlichen Gemeindelebens und bereits in 1Thess 5,20 fordert Paulus: „Verachtet nicht prophetische Rede!“ Frühchristliche Propheten erscheinen als eigenständige Gruppe in verschiedenen ntl. Überlieferungskreisen: Apg 13,1; 15,32; 20,23; 21,4.10 setzen frühchristliche Propheten in Griechenland und Kleinasien voraus, Eph 3,5; 4,11; 1Tim 1,18; 4,14 blicken auf die Kirche des Anfangs zurück, in der selbstverständlich Propheten wirkten, und Apk 11,18; 16,6; 18,24; 22,9 sieht in den Propheten die zentrale eigenständige Gruppe in der weltweiten Kirche425. Das Prophetenamt dürfte seinen Ursprung in Palästina haben (vgl. Apg 11,28: Agabus), in Jerusalem setzte sich die Erfahrung und Erkenntnis durch, dass der verloschene Geist Gottes nun wieder wirkt (vgl. Apg 2,17f). Auch im originären griechisch-römischen Kulturbereich gehörte die Prophetie zu den geläufigen Formen religiöser Kommunikation426. Welche Funktionen übten frühchristliche Propheten aus? Zuallererst interpretierten sie Gottes vergangenes und zukünftiges Heilshandeln in Jesus Christus (vgl. Apg 20,23; 21,4; Eph 3,5), bekundeten sie den Willen Jesu für die Gemeinde und zeugten für Jesus (vgl. Apk 19,10). Damit waren die frühchristlichen Propheten auch Teil eines Tradierungs- und Interpretationsprozesses, denn sie überlieferten Jesus-Worte und prägten sie im Bewusstsein der Gegenwart des Geistes neu427. Das Zeugnis für Jesus wurde offenbar in verschiedenen Formen vorgetragen, so dürften ekstatische Rede, Geschichtsschau, Aktualisierung von Worten Jesu sowie Weisungen des Erhöhten für die Gemeinde Ausdruck prophetischer Kompetenz gewesen sein. Paulus zählt die Prophetie zu den Formen verständlicher Rede und grenzt sie von der Glossolalie ab (vgl. 1Kor 14,5). Wenn mehrere Propheten in einem Gottesdienst auftreten, soll ihre Rede von den übrigen Gemeindegliedern kritisch beurteilt werden (vgl. 1Kor 14,29). Auch hier dient die Auferbauung der Gemeinde als kritische Norm (1Kor 14,26), denn prophetisches Reden darf die Ordnung und damit die Einheit in den Gottesdiensten nicht aufheben (vgl. 1Kor 14,31).
425 Vgl. dazu umfassend M. E. BORING, The Conti-
nuing Voice of Jesus, (s. o. 3.9.1), 59–85; ferner G. DAUTZENBERG, Urchristliche Prophetie, BWANT 104, Stuttgart 1975; D. E. AUNE, Prophecy in Early Christianity, Grand Rapids 1983.
426 Vgl. K. BRODERSEN (Hg.), Prognosis, Münster
2001. 427 Zu frühchristlichen Propheten als Träger und
Schöpfer von Jesus-Traditionen vgl. M. E. BORING, The Continuing Voice of Jesus, 189–265.
Ekklesiologie 313
Während der im Geist präsente Erhöhte durch die Propheten seine Offenbarungsworte spricht, bezieht sich die Aufgabe der frühchristlichen Lehrer auf die Interpretation des (mündlichen oder schriftlichen) Kerygmas sowie der Auslegung vorgegebener Texte (z. B. Septuaginta)428. Paulus setzt in 1Kor 12,28; Gal 6,6 und Röm 12,7b die Existenz von Lehrern in den Gemeinden voraus (vgl. ferner Eph 4,11; Apg 13,1; Jak 3,1; Did 11–15). Sie mussten lesen und schreiben können, mit den Jesus-Traditionen und der Septuaginta sowie den gängigen Auslegungsregeln vertraut sein, um so für die Gemeinden die neue Zeit deuten zu können. Die Aufgaben eines Lehrers setzen eine hohe zeitliche, sachliche, örtliche und damit auch personale Präsenz und Kontinuität voraus, so dass auch hier von einem Amt gesprochen werden kann. In Phil 1,1 werden von Paulus ohne nähere Erklärung epı´skopoi kai` dia´konoi („Aufseher/Verwalter und Helfer/Diener“) erwähnt. Es handelt sich offensichtlich um mehrere Personen, die in der Gemeinde allgemein bekannte Aufgaben wahrnehmen und deren besondere Stellung durch die Erwähnung im Präskript unterstrichen wird. Der Sprachgebrauch legt die Vermutung nahe, dass die Episkopen innerhalb der Gemeinde ein Leitungsamt innehatten. Wahrscheinlich handelt es sich um Leiter von Hausgemeinden (vgl. dazu 1Kor 1,14; 16,15 f.19; Röm 16,5.23; Apg 18,8)429, die ihr Haus für die Zusammenkünfte der Christen zur Verfügung stellten und als Patrone die jeweilige Gemeinde in vielfältiger Weise unterstützen. Ihre natürliche Autorität prädestinierte sie für dieses Amt, als in Philippi die Gemeinde wuchs und sich in mehrere Hausgemeinden gliederte430. Diakone fungierten als Helfer der Episkopen und dürften speziell bei den Herrenmahlsfeiern für die Vorbereitung verantwortlich gewesen sein; zudem oblag ihnen die Einsammlung und Verwaltung der Gaben431.
6.7.3
Die Gemeinde als sündenfreier Raum
Eine für die paulinische Ekklesiologie (und Ethik) zentrale Frage war, ob und in welchem Sinn die Sünde (s. o. 6.5.2) weiterhin im Raum der Gemeinde präsent ist. Kann die Sünde innerhalb der Gemeinde noch Macht ausüben? Welchen Charakter haben ethische Verfehlungen, die es in den Gemeinden zweifellos weiterhin gibt? Der paulinische Sprachgebrauch gibt Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen. Paulus verwendet den Singular amartı´a („Sünde“) in der Regel nicht zur Bezeichnung menschlichen Fehlverhaltens. Er warnt die Thessalonicher in Kap. 4,3–8 vor porneı´a („Unzucht“), epihumı´a („Begierde“) und pleonexı´a („Habgier/Übervortei-
428 Vgl. dazu A. ZIMMERMANN, Die urchristlichen Lehrer, WUNT 2.12, Tübingen 1984. 429 Vgl. dazu die umfangreichen Analysen von R. W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission (s. o. 6.7), 320–384.
430 Vgl. R. W. GEHRING, a. a. O., 352–359. 431 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 143.
314 Paulus: Missionar und Denker
lung“), ohne jedoch von Sünde zu sprechen. Der von Paulus geforderte Wandel in ‚Heiligkeit‘ hat sein Gegenüber nicht in der Sünde, sondern in der „Unreinheit“ (vgl. 1Thess 4,7: akaharsı´a)432. Der in 1Kor 5 erwähnte eklatante Fall von Unzucht wird von Paulus unter dem Aspekt der Reinheit der Gemeinde behandelt. Weil sie gefährdet ist, muss der Übeltäter um der Gemeinde und um seiner selbst willen ausgeschlossen werden433. Die Prozesse zwischen Christen vor heidnischen Richtern entsprechen ebenfalls nicht der Reinheit der Gemeinde (vgl. 1Kor 6,1–11). Erst am Ende der Argumentation in Kap. 5 und 6 gebraucht Paulus in 1Kor 6,18 je einmal amarta´nein („verfehlen“) und ama´rtvma („Verfehlung“), vermeidet aber amartı´a. Weil die Glaubenden gerade in ihrer Leiblichkeit mit Christus aufs engste verbunden sind, gefährden sexuelle Verfehlungen diese Einheit und sind mit der Reinheit der Gemeinde nicht vereinbar. Deshalb kann Paulus zur Heirat auffordern, wenn dadurch sexuelles Fehlverhalten (amarta´nein) vermieden wird (1Kor 7,28.36). In 1Kor 8,12 verbindet Paulus das Verhalten gegenüber dem Mitchristen unmittelbar mit dem Verhalten gegenüber Christus. Wer sich gegenüber den Mitbrüdern verfehlt (amarta´nonteß eiß adelfou´ß), verfehlt sich gegen Christus (eiß Cristo`n amarta´nete). Weil die Gemeinde ein Raum der Heiligung und Heiligkeit ist, haben Verfehlungen nicht nur ethische, sondern auch soteriologische Dimensionen; ein Gedanke, den Paulus auch in 1Kor 10,1–13 herausarbeitet, in 1Kor 15,34 streift und in 1Kor 15,17 so formuliert: „Wenn aber Christus nicht auferweckt ist, dann ist euer Glaube nichtig, seid ihr noch in euren Sünden“434. Die Missstände beim Herrenmahl werden von Paulus in 1Kor 11,27ff scharf attackiert, ohne dass er von ‚Sünde‘ spricht. In 2Kor 12,19–13,10 warnt Paulus die Korinther ausdrücklich vor seinem dritten Kommen, er werde dann jene nicht schonen, „die zuvor gesündigt haben und nicht Reue über die Lasterhaftigkeit und Unzucht und Ausschweifung, die sie trieben, empfanden“ (2Kor 12,21). Paulus verwendet das Verb proamarta´nein („vorher sündigen“) nur in 2Kor 12,21; 13,2; es bezeichnet jeweils als Part. Perf. ein Fehlverhalten von Gemeindegliedern, das noch nicht abgelegt wurde435. Auch der Konflikt mit einem adikv´saß („jemand, der Unrecht tat“) in 2Kor 2,5–11 wird von Paulus nicht mit dem Begriff der Sünde in Verbindung gebracht. Der Übeltäter wurde von der Gemeinde zurechtgewiesen (2Kor 2,6) und darf nun wieder in ihrer Mitte sein. Die Verzeihung ist notwendig, denn der Satan wartet nur darauf, durch andauernde Zwietracht wieder in die Gemeinde eindringen zu können (vgl. 2Kor 2,11)436. Der Galaterbrief bestätigt, dass Paulus amartı´a nicht zur Qualifizierung menschlicher 432 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. o. 6.7), 67–81; der Plural amartı´ai in 1Thess 2,16 im Sinn eines Tatbegriffes ist traditionsbedingt. 433 Vgl. zur Gemeindezucht bei Paulus I. GOLDHAHNMÜLLER, Die Grenze der Gemeinde, GTA 39, Göttingen 1989, 115–156.
434 In 1Kor 15,17 erklärt sich der Plural amartı´ai durch die Tradition 1Kor 15,3; vgl. H. CONZELMANN, 1Kor (s. o. 4.6), 315. 435 Vgl. H. UMBACH, In Christus getauft – von der Sünde befreit (s. o. 6.7), 141. 436 Zur Analyse vgl. H. UMBACH, a. a. O., 170–182.
Ekklesiologie 315
Verfehlungen gebraucht . Der Apostel führt eine überaus scharfe Auseinandersetzung mit seinen in die Gemeinde eingedrungenen judaistischen Gegnern, ohne deren Verhalten als ‚Sünde‘ zu bezeichnen. Das falsche Verhalten des Petrus wird ebenfalls nicht als amartı´a qualifiziert (vgl. Gal 2,14), und im Zusammenhang mit Mahnungen im paränetischen Teil des Briefes fällt in Gal 6,1 lediglich der Terminus para´ptwma („Vergehen“). Der Plural amartı´ai findet sich als Tatbegriff lediglich in der traditionellen Formel Gal 1,4; der spezifisch paulinische Sprachgebrauch liegt hingegen in Gal 2,17 mit dem Singular amartı´a vor. Er benennt einen Machtbereich, dem der Machtbereich Christi gegenübersteht. Das besondere Profil des paulinischen Sündenbegriffes bestimmt auch die Argumentation im Römerbrief (s. o. 6.5.2), denn Paulus schaut im Hinblick auf die Sünde ausdrücklich in die Vergangenheit. Er erinnert die Gemeinde an die Taufe als Ort der grundlegenden Existenzwende; dort starben die Glaubenden der Sünde und wurden in den Raum des Christus und der Gerechtigkeit gestellt (Röm 6,3ff). Antithetisch schildert Paulus eindrücklich die neue Wirklichkeit der Getauften: „So haltet euch nun selbst für Tote in bezug auf die Sünde, für Lebende aber im Hinblick auf Gott in Christus Jesus“ (Röm 6,11). Die Sünde ist für die Gemeinde eine Vergangenheitsgröße, und Röm 6,14a konstatiert ausdrücklich: „Die Sünde wird fortan nicht mehr über euch herrschen.“ Dem entspricht, dass Paulus an keiner Stelle das Herrenmahl mit einer Sündenvergebung verbindet. Weil die Christen von der Sünde befreit wurden, dienen sie nun der Gerechtigkeit (Röm 6,18). Die Macht der Gnade übertrifft die Wirksamkeit der Sünde (vgl. Röm 5,12–21), die nun überwunden ist und von den Getauften als vergangene Unheilsmacht wahrgenommen wird (vgl. Röm 7,7–8,14). Auch der Philipperbrief bestätigt die paulinische Konzeption der Gemeinde als sündenfreiem Raum, denn hier fehlen der Singular amartı´a und alle verwandten Begriffe, obwohl Probleme und Fehlverhalten in der Gemeinde angesprochen werden (vgl. Phil 1,17; Phil 3,2ff). Weil das neue Sein in Christus in der Kraft des Geistes nicht nur nominell, sondern real begonnen hat437, befinden sich die Getauften nicht mehr im Machtbereich der Sünde und leben in der Gemeinde als sündenfreiem Raum. Die Heiligung der Gemeinde schließt eine scharfe Abgrenzung zur Welt mit ein, die auch die empirische Gestalt der Gemeinde prägt, denn Paulus kennt nicht die ekklesiologische Vorstellung der Gemeinde als corpus mixtum 438. Die Gemeinde gehört auf die Seite des Lichts und hat die Werke der Finsternis abgelegt (1Thess 5,1ff; Röm 13,11–14). Sie richtet sich nicht nach der Welt (Röm 12,2), vollbringt keine Werke des Fleisches mehr (Gal 5,19ff) und leuchtet wie ein Himmelslicht in einer verkehrten Welt (Phil 2,14f). Welche Funktion kommt innerhalb dieser Konzeption der paulinischen Paraklese zu? Die paulinischen Mahnungen und Imperative (z. B. 1Kor 6,18 7,23; 8,12 u. ö.) 437 Vgl. H. WINDISCH, Taufe und Sünde im ältesten
438 Vgl. W.-H. OLLROG, Paulus und seine Mitarbeiter,
Christentum bis auf Origenes, Tübingen 1908, 104.
WMANT 50, Neukirchen 1979, 137.
316 Paulus: Missionar und Denker
zeugen insgesamt von der Möglichkeit, dass Christen wieder unter den Herrschaftsbereich der Sünde gelangen können. Paulus weiß um die Versuchungen, denen der Christ ausgesetzt ist (vgl. 1Kor 7,5; 10,9.13; Gal 6,1). Der Satan tritt in der Gestalt des Lichtengels auf und versucht, die Gemeinden zu verwirren (vgl. 2Kor 11,13–15). Die Gemeinde in Galatien fällt aus der Gnade heraus, wenn sie sich unter die Herrschaft des Gesetzes begibt, das wiederum nur ein Werkzeug der Sünde ist. Die Überwindung des alten Seins bedeutet für die Getauften nicht, dass sie der Welt insgesamt enthoben sind, denn sie leben weiterhin en sarkı´ („im Fleisch“) und bleiben den Versuchungen der Sünde ausgesetzt. Vor allem in der Gestalt der Begierde tritt die Sünde gewissermaßen als Vergangenheit der Getauften wieder in Erscheinung (Röm 7,7ff). Paulus sah in der Begierde die eigentliche Triebfeder des Bösen, denn hinter allen Geboten der zweiten Tafel des Dekalogs steht die Begierde (Mord, Ehebruch, Besitz). Die Kraft des Geistes ermöglicht es den Getauften jedoch, diesen Versuchungen zu widerstehen, wenn sie dem neuen Sein in ihrem Denken und Handeln entsprechen. Die imperativischen Formulierungen fordern die Entsprechung zum neuen Sein ein, und allein in dieser Entsprechung bleibt die Macht der Sünde eine vergangene Größe und die Gemeinde ein sündenfreier Raum.
6.8
Eschatologie
P. HOFFMANN, Die Toten in Christus, NTA. NF 2, Münster 31978 (= 1966); C. H. HUNZINGER, Die Hoffnung angesichts des Todes im Wandel der paulinischen Aussagen, in: B. Lohse u. a. (Hg.), Leben angesichts des Todes (FS H. Thielicke), Tübingen 1968, 69–88; P. SIBER, Mit Christus leben. Eine Studie zur paulinischen Auferstehungshoffnung, AThANT 61. Zürich 1971; W. HARNISCH, Eschatologische Existenz, FRLANT 110, Göttingen 1973; W. WIEFEL, Die Hauptrichtung des Wandels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ 30 (1974), 65–81; J. BAUMGARTEN, Paulus und die Apokalyptik, WMANT 44, Neukirchen 1975; J. BECKER, Auferstehung der Toten im Urchristentum, SBS 82, Stuttgart 1976; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie bei Paulus (s. o. 6.2); U. SCHNELLE, Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 127, Stuttgart 1989, 37–48; A. LINDEMANN, Paulus und die korinthische Eschatologie, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 64–90.
Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten bestimmt ein vergangenheitliches Ereignis definitiv die Zukunft und prägt deshalb die Gegenwart. Paulus lebte in einer gespannten Erwartung: Die bevorstehende Ankunft des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus war bis zum Ende seines Lebens (vgl. Phil 4,5: „Der Herr ist nahe“) ein prägendes Element seiner Sinnwelt439. Alles in der Schöpfung bewegte sich 439 Zur Struktur der paulinischen Eschatologie vgl. auch J. BECKER, Paulus (s. o. 6), 468–478; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 461–498.
Eschatologie 317
darauf hin, und Paulus sah sich selbst an der Spitze dieser Bewegung. Allerdings ruft der Tod der anderen bei den Lebenden die Frage nach dem eigenen Geschick hervor, so dass die Eschatologie immer auch eine überzeugende Antwort auf das Sterben und den Tod geben muss. Jede Theorie über den Tod ist eine Theorie über das Leben und umgekehrt. Paulus ist sich sicher, dass die Endlichkeit nicht die Eigentlichkeit christlicher Existenz aufheben kann, denn der Geist Gottes/Christi bleibt über den Tod hinaus das eigentliche Lebens-Subjekt der Glaubenden.
6.8.1
Teilhabe am Auferstandenen
In 1Thess 4,13–18 tritt der Apostel der durch Todesfälle von Gemeindegliedern ausgelösten Sinnweltgefährdung mit dem Grundbekenntnis entgegen: „Wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, . . .“ (1Thess 4,14a; vgl. 1,10). Er leitet daraus eine soteriologische Logik ab, die vom Gedanken der Partizipation bestimmt wird . Die Glaubenden und Getauften haben teil am Geschick der bestimmenden Gestalt der Endzeit: Jesus Christus. So wie Gott ihn von den Toten auferweckte, verbleiben die verstorbenen Gemeindeglieder ebenfalls nicht im Tod, sondern gehen wie die Lebenden der immerwährenden Gemeinschaft mit Jesus entgegen (1Thess 4,17: su`n kurı´w eso´meha). Die Glaubenden und Getauften sind bereits „Söhne des Lichtes und Söhne des Tages“ (1Thess 5,5) und damit eschatologische Personen, wobei in 1Thess 5,10 als Ermöglichungsgrund dieses neuen Seins ausdrücklich das Kreuz erscheint440. Auch in 1Kor 15,20–22 knüpft Paulus an das Grundbekenntnis an (vgl. egv´gertai „er ist auferweckt worden“ in 1Kor 15,4a und 15,20a) und folgert daraus eine Wende der Zeiten. Christus wurde „als Erstling“ (aparcv´) der Entschlafenen von den Toten auferweckt, d. h. er ist nicht nur der erste aller Auferweckten, sondern das Modell von Auferstehung 441. Der zeitliche und der sachliche Aspekt entsprechen sich, Jesus Christus ist der erste, an dem Gott sein endzeitliches rettendes Handeln vollzog. Es gibt für Paulus zwei menschliche Schicksalsträger, die als Prototypen das Sein der ihnen zugeordneten Menschen bestimmen (1Kor 15,21). So wie Adam den Tod an sich band, bringt Jesus Christus als Überwinder des Todes das Leben (vgl. 1Kor 15,45–50; Röm 5,12–21). Adam ging Christus zeitlich und sachlich voran, denn er verursachte durch seinen Fehltritt jene ausweglose Situation, die nun in Christus aufgehoben wird. Die antithetische Überbietung formuliert Paulus grundsätzlich: „Wie nämlich in Adam alle starben, werden in Christus alle lebendig gemacht werden“ (1Kor 15,22)442. Mit pa´nteß betont Paulus in 1Kor 15,22 die universale Bedeu-
440 Vgl. dazu W. HARNISCH, Eschatologische Existenz (s. o. 6.8), 150. 441 Vgl. A. LINDEMANN, 1Kor (s. o. 6.3.2), 343. 442 Nach 1Kor 15,23 werden ausdrücklich nur die zu Christus Gehörenden gerettet, so dass zu den
pa´nteß in V. 22 nur die Glaubenden gehören; vgl. D. G. POWERS, Salvation through Participation (s. o. 6.4), 153; anders A. LINDEMANN, 1Kor (s. o. 6.3.2), 344.
318 Paulus: Missionar und Denker
tung des Christusgeschehens; es gilt potentiell allen Menschen, die es jedoch im Glauben für sich gelten lassen müssen. Der durchgängige Christusbezug des Endgeschehens ist offenkundig: An Christus vollzog Gott als Erstem das neue Sein, durch Christus wurde die unentrinnbare Todesverfallenheit der Menschheit aufgehoben, und die zu Christus Gehörenden haben Anteil am gegenwärtigen und zukünftigen Heil (vgl. auch 2Kor 1,9; 4,14; Gal 1,1; Röm 4,17.24; 10,9; 14,9). Bei seiner Parusie wird Christus seine Herrschaft offen antreten, alle Feinde einschließlich des Todes endgültig überwunden haben, um dann die Herrschaft und sich selbst Gott zu übergeben (1Kor 15,23–28). Der partizipative Grundzug der paulinischen Eschatologie und die damit verbundene Qualifizierung der Gegenwart als von der Zukunft bestimmmter Heilszeit zeigt sich auch in Röm 6,4f; 8,11. In Röm 6,4f folgert Paulus aus der Teilhabe an Jesu Tod in der Taufe eine Teilhabe an seiner Auferstehungswirklichkeit, die sich bereits in der Gegenwart als Wandel in der neuen Existenz zeigt. Bewusst vermeidet der Apostel die Rede von einer bereits erfolgten Auferstehung der Glaubenden und Getauften, wie sie wahrscheinlich in Korinth vertreten wurde (vgl. 1Kor 4,8; 10,1ff; 15,12) und literarisch mit Variationen in Kol 2,12; 3,1–4; Eph 2,6; 2Tim 2,18 bezeugt ist. Der damit ausgesprochene futurische Vorbehalt (vgl. 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; Röm 8,24) schränkt die umfassende Teilhabe der Christen am neuen Sein nicht ein443, sondern bringt die zeitliche Struktur christlicher Existenz zum Ausdruck444: Sie vollzieht sich zwischen den Grunddaten Auferstehung und Parusie, so dass von umfassender Heilsgegenwart und Heilsgewissheit, nicht aber von Heilsvollendung gesprochen werden kann. Die Glaubenden leben zwar schon in der Endzeit, aber das Ende ist noch nicht da! Röm 8,11 verdeutlicht, dass die besondere Struktur christlicher Existenz allein in Gottes anhaltendem Heilshandeln begründet liegt: Er schenkte den Glaubenden und Getauften seinen Geist, der bereits Jesus von den Toten auferweckte und nun auch die sterblichen Leiber derjenigen auferwecken wird, die mit ihm durch Jesus Christus verbunden sind. Gott knüpft in seinem Geisthandeln gewissermaßen an sich selbst an, wenn er in der Taufe die neue Existenz begründet und nach dem Tod wiederum erneuert. Die Glaubenden und Getauften werden in Gottes Geist und damit in Gott selbst aufgehoben sein . 443 Anders CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des
Paulus (s. o. 6), 452, wonach für alle Ebenen paulinischer Theologie „der Aspekt des Schwellendaseins grundlegend ist“. 444 Es ist deshalb unzutreffend, von einem „Schon jetzt und Noch nicht des Heils“ zu sprechen, wie es unter anderen G. KLEIN, Art. Eschatologie, TRE 10, Berlin 1982, (270–299) 283; J. D. G. DUNN, Theology of Paul (s. o. 6), 466–472, tun. Missverständlich ist auch, von einem ‚eschatologischen Vorbehalt‘ zu re-
den; so z. B. A. LINDEMANN, Art. Eschatologie, RGG4 2, (1553–1560) 1556, denn es gibt bei Paulus hinsichtlich des Eschatons keinen ‚Vorbehalt‘, wohl aber eine zeitliche Einschränkung, weil die endgültige Vollendung noch aussteht. Sachlich weiterführend ist der Vorschlag von S. AGERSNAP, Baptism and the New Life, arhus 1999, 401, die Rede vom „already/not yet“ durch die Wendung „already/even more“ zu ersetzen.
Eschatologie 319
Eschatologische Existenz
Das Verhältnis der Christen zur Welt und ihr Handeln in der Welt definiert sich ebenfalls aus ihrer besonderen Stellung in der Zeit. Sie wissen sich den versklavenden Mächten der Welt bereits entzogen und können die Dinge der Welt gebrauchen, ohne ihnen zu verfallen (vgl. 1Kor 7,29–31). Ihr Handeln orientiert sich an ihrem neuen Sein en Cristw˜ (vgl. Gal 3,26–28) und weiß sich allein der Liebe verpflichtet (Gal 5,22). Auch am exemplarischen Geschick des Apostels erhellt sich, wie stark das Zukünftige als Kraftquelle in die Gegenwart hineinstrahlt und das zukünftige Sein die Gegenwart bereits umfassend bestimmt445. Die gegenwärtigen Leiden können in der Gewissheit ertragen werden, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat und auch die Glaubenden auferwecken wird (vgl. 2Kor 4,14). Paulus denkt Jesu bereits vollzogene Auferstehung und die noch bevorstehende der Glaubenden und Getauften als sachliche Einheit. Die Vergangenheit wird synchron mit der Zukunft, die wiederum die Gegenwart bestimmt446. Die eigentümliche Verschränkung von Gegenwart und Zukunft tritt auch in Phil 3,10f zutage. Die gegenwärtige Teilhabe an den Leiden Jesu verschließt nicht den Zugang zur Zukunft, sondern umgekehrt eröffnet die durch die Vergangenheit begründete Zukunft ein Ertragen der gegenwärtigen Leiden. Die christliche Erwartung ist deshalb eine begründete Hoffnung (vgl. 1Thess 1,3; 2Kor 3,12; Gal 5,5; Röm 5,2.4; 8,24)447, denn sie unterliegt nicht der Zweideutigkeit des Kommenden. Während im griechischen Denken die Zukunft und damit auch die Hoffnung als ambivalent, zugleich anziehend und bedrohlich, empfunden wurde448, leben die Glaubenden in der uneingeschränkten Zuversicht, dass die Zukunft ihren dunklen Charakter verloren hat. Die Hoffnung gehört wie der Glaube und die Liebe zu den Grundakten christlicher Existenz (1Kor 13,12). Das neue Sein der Glaubenden und Getauften kann in sachlicher und zeitlicher Hinsicht als eschatologische Existenz bezeichnet werden: Sie haben umfassend teil an der durch Gott in Jesus Christus herbeigeführten endgültigen Wende der Zeiten und wissen sich in der Gegenwart bereits bestimmt von der Zukunft.
445 Vgl. R. BULTMANN, Der zweite Brief an die Korin-
ther, hg. v. E. Dinkler, Göttingen 1976, 125. 446 Weil die Vergangenheit und die Zukunft die Gegenwart gleichermaßen bestimmen, kann Paulus die Zwei-Äonen-Lehre nur in einer gebrochenen Form ansatzweise aufnehmen, indem er von der ‚Weisheit dieses Äons‘ (vgl. 1Kor 1,20; 2,6; 3,18) bzw. vom ‚Herrscher‘ dieser Welt spricht (vgl. 1Kor 2,8; 2Kor 4,4; Gal 1,4; Röm 12,2). Die Dominanz der Christologie macht es Paulus unmöglich, geschlossene eschatologische Entwürfe des Judentums zu übernehmen, so dass er die Rede vom ‚neuen‘ bzw. ‚kommenden‘ Äon konsequent vermeidet; zur paulinischen
Rezeption der Zwei-Äonen-Lehre vgl. J. BAUMGARTEN, Paulus und die Apokalyptik (s. o. 6.8), 181–189. 447 Vgl. dazu G. NEBE, „Hoffnung“ bei Paulus, StUNT 16, Göttingen 1983. 448 Klassisch Sophokles, Ant 615–619: „Denn die schweifende Hoffnung (a ga`r dv` polu´plagktoß elpı´ß) wird vielen Menschen Quelle des Segens, verführt aber viele andere zu Leichtsinnswünschen, kommt über Ahnungslose, bis an der Glut den Fuß man sich verbrannt hat“; vgl. ferner Plat, Phileb 33c–34c; 39a– 41b. Eine vorzügliche Übersicht bietet nach wie vor R. BULTMANN, Art. elpı´ß, ThWNT 2, Stuttgart 1937, 515–520.
320 Paulus: Missionar und Denker
6.8.2
Die Endereignisse
Die paulinischen Briefe lassen deutlich erkennen, wie sehr die Eschatologie durch die unterschiedlichen Gemeindesituationen mitbedingt war. Sowohl die erst kurze Zeitspanne des Bestehens der neuen Bewegung als auch sachlich noch nicht endgültig geklärte Fragen und ausgeformte Antworten weisen darauf hin, dass dieser zentrale Bereich frühchristlicher Sinnbildung noch nicht abgeschlossen war; zumal für Paulus selbst mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten und seiner in Kürze erwarteten Parusie zwar die sachlichen und zeitlichen Eckdaten des Endgeschehens feststanden, er aber in der Beschreibung des Ablaufs des Endgeschehens offenkundig weiterdachte und folgerichtige Korrekturen vornahm449. Wandlungen
Bereits die erste vorliegende Äußerung zum Thema wurde Paulus durch unerwartete Todesfälle in Thessalonich vor der Parusie des Herrn aufgedrängt (1Thess 4,13–18). Paulus antwortet darauf, indem er erstmalig die Vorstellung der Parusie des Herrn mit der einer Auferstehung der toten Christen verbindet. Nach einer Einleitung in die Problematik (V. 13) und einer ersten Antwort unter Rückgriff auf das Kerygma von Tod und Auferstehung Jesu (V. 14) gibt Paulus in V. 15–17 eine zweite Antwort, die aus einer Zusammenfassung eines überlieferten Herrenwortes (V. 15) und seiner Zitierung besteht (V. 16f). Den Abschluss dieser Belehrung bildet die Aufforderung des Apostels, sich mit der von ihm gegebenen Antwort auf die Frage nach dem Schicksal der vorzeitig Verstorbenen zu trösten (V. 18). Der Zielpunkt des gesamten Geschehens ist das Sein beim Herrn, dessen unmittelbare Voraussetzung die Entrückung aller, dessen mittelbare Bedingung die Auferstehung der Toten in Christus ist. Erst die einsetzende Problematik der Parusieverzögerung und der Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens zwingen Paulus zur Einführung der Vorstellung einer Auferstehung der toten Gläubigen450. Aber auch in 1Thess 4,13–18 bleibt er seiner ursprünglichen eschatologischen Konzeption einer Entrückung aller bei der Parusie des Herrn treu. Die Auferstehung der toten Gemeindeglieder fungiert lediglich als Ermöglichung der folgenden Entrückung. Deutlich ist im 1Thess der Tod von Christen
449 Wandlungen innerhalb der paulinischen Eschatologie wurden in der Forschung schon immer gesehen; vgl. neben den in 6.8 genannten Arbeiten von HUNZINGER, WIEFEL und SCHNELLE z. B. W. GRUNDMANN, Überlieferung und Eigenaussage im eschatologischen Denken des Paulus, NTS 8 (1961/62), (12– 26), 17ff; J. BECKER, Auferstehung der Toten (s. o. 6.8), 66ff; H. H. SCHADE, Apokalyptische Christologie (s. o. 6.2), 210f; G. STRECKER, Theologie, 222–229. Skeptisch gegenüber Wandlungstheorien sind u. a.
P. HOFFMANN, Die Toten in Christus (s. o. 6.8), 323– 329; U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 356f; P. SIBER, Mit Christus leben (s. o. 6.8), 91ff; J. BAUMGARTEN, Paulus und die Apokalyptik (s. o. 6.8), 236– 238; A. LINDEMANN, Art. Eschatologie (s. o. 6.8.1), 1556. 450 Vgl. U. SCHNELLE, Der erste Thessalonicherbrief und die Entstehung der paulinischen Anthropologie, NTS 32 (1986), 207–224.
Eschatologie 321
vor der Parusie noch die Ausnahme. Paulus rechnet sich selbst und auch die Gemeinde bei der Wiederkunft des Herrn zu den Lebenden (V. 15.17), wohl in der Überzeugung, die Ankunft des Herrn stehe unmittelbar bevor. Unerörtert bleibt die Frage, wie die Auferstehung der toten Gemeindeglieder sich vollziehen wird und wie der Aufenthalt aller Glaubenden in der himmlischen Welt bei Jesus Christus vorzustellen ist451. Die vorangeschrittene Zeit, die korinthische Gemeindesituation mit ihrer eigenständigen Theologiebildung und die gemeindebezogene Reflexion des Paulus lassen die Thematik in den Korintherbriefen in einem veränderten Licht erscheinen. Paulus hält an einer ungebrochenen akuten Naherwartung fest (vgl. 1Kor 7,29; 10,11; 16,22), zugleich sind aber in Korinth Todesfälle vor der Parusie nichts Außergewöhnliches mehr (vgl. 1Kor 7,39; 11,30; 15,6.18.29.51). Für die Korinther war offenbar auf ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund die sw˜ma-Thematik von entscheidender Bedeutung. Paulus nahm diese Vorgabe auf und machte die Frage der Leiblichkeit zu einem zentralen Aspekt seiner Eschatologie. In 1Kor 15,50–54 führt Paulus mit der Metapher der Verwandlung eine neue Kategorie gegenüber 1Thess 4,13–18 und der vorhergehenden Argumentation in 1Kor 15 ein452. Den schon Verstorbenen und den noch bei der Parusie Lebenden wird eine unverwesliche Existenz zuteil. Obwohl der sw˜ma-Begriff nicht mehr erscheint und die kategoriale Unterscheidung von zwei Arten von Leibern der Metaphorik in V. 52–54 nicht entspricht453, dürfte nach der Gesamtargumentation die unverwesliche, unsterbliche postmortale Existenz identisch sein mit dem sw˜ma pneumatiko´n („geistlicher Leib“) von 1Kor 15, 44. Hatte Paulus in 1 Thess 4,13–18 und 1 Kor 15,51ff seine Stellung im Endgeschehen als noch Lebender sehr genau durch das Personalpronomen vmeı˜ß = „wir“ (1 Thess 4,17; 1 Kor 15,52) angegeben, so rechnet er in 2 Kor 5,1–10 erstmals mit seinem eigenen Tod vor der Parusie (V. 1 f.8). Diese einschneidende Veränderung der Situation des Apostels spiegelt sich in einem Zurücktreten der apokalyptischen Elemente bei der Schilderung der Endereignisse und damit verbunden der Aufnahme hellenistischer Begrifflichkeit und der Tendenz zum Dualismus und zur Individualisierung wider. Jetzt bezieht sich der sw˜ma-Begriff ausschließlich auf den irdischen Leib (2Kor 5,6.8) und wird negativ bewertet454. Die Vorstellung des Auswanderns aus dem gegenwärtigen Leib hat ihre nächste Parallele in der griechischen Anschau-
451 Vgl. N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, Zur
Frage der Hellenisierung der Auferweckungshoffnung bei Paulus, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingen 1998, (109–127) 110 f. 452 Vgl. N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, 114 f. 453 Dies betont zu Recht N. WALTER, a. a. O., 115.
454 Vgl. W. WIEFEL, Hauptrichtung des Wandels (s. o. 6.8), 77; N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, 116: „ ‚Leib‘ ist nun kein Begriff mehr, der die irdische und die himmlische Seinsweise des Glaubenden bezeichnen könnte, und damit entfällt auch die Hilfsvorstellung einer ‚Umwandlung‘ (der einen Leiblichkeit in eine andere, neue).“
322 Paulus: Missionar und Denker
ung, dass die eigentliche Heimat der Seele im Jenseits liegt455 und das Dasein im Leibe ein Sein in der Fremde ist456. Paulus greift bewusst den Begriff ‚Seele‘ nicht auf, definiert aber zugleich die Auferstehungsexistenz nicht mehr explizit als ‚leibhaftige‘ Existenz und nähert sich damit dem Denken der Korinther an. Weltanschaulich verbleibt Paulus mit der Metapher des ‚Schauens‘ (2Kor 5,7) in gewollter Unbestimmtheit. Kontinuität verbürgt allein das göttliche Pneuma (2Kor 5,5), das nach der Bildwelt von 2Kor 5,2 die Überkleidung mit der himmlischen Behausung ermöglicht. Auch im Römerbrief ist der Tod vor der Parusie nicht mehr die Ausnahme, sondern bereits die Regel (vgl. Röm 14,8b: „Ob wir nun leben oder sterben, so gehören wir dem Herrn“)457. Die Parusie des Herrn wird zwar als unmittelbar bevorstehend gedacht (vgl. Röm 13,11f; 16,20), aber der Komparativ in der Wendung „denn jetzt ist uns das Heil näher als damals, als wir zum Glauben kamen“ (Röm 13,11c) deutet ein Verzögerungsbewusstsein an. Als eschatologisches Hoffnungsgut gewinnt die Wendung zwv` aiw´nioß im Röm an Bedeutung, wo sich vier von fünf paulinischen Belegen finden (vgl. Gal 6,8; Röm 2,7; 5,21; 6,22.23). Es bezeichnet die zukünftige Seinsweise der Geretteten, die keiner zeitlichen Befristung mehr unterliegt. Über den Ablauf der Endereignisse und das Wie des neuen Seins äußert sich Paulus im Römerbrief nicht programmatisch, aber Röm 8,11 und 8,23 lassen deutlich erkennen, dass nun wieder die Vorstellung einer Verwandlung des Leibes im Vordergrund steht458. Im Philipperbrief verdichten sich zwei bereits zuvor sichtbar gewordene Tendenzen: Paulus rechnet nun offen mit seinem Tod vor der Parusie und konzentriert seine eschatologischen Vorstellungen auf das Geschick des Individuums459. In Phil 1,20 spricht der Apostel von seinem irdischen Leib, an dem Christus verherrlicht wird, „sei es durch Leben oder durch Tod“. In Phil 1,21–24 schwankt Paulus zwischen der Erwartung eines Weiterlebens und dem baldigen Sterben, das mit der Zuversicht verbunden wird, unmittelbar nach dem Tod bei und mit Christus zu sein (V. 23: su`n Cristw˜ eınai). Phil 1,23 zielt auf das unmittelbare Sein bei Christus nach dem Tod, ohne die Parusie und die Auferstehung der Toten zu erwähnen. Die singuläre Formulierung „ob ich gelange zur Auferstehung von den Toten“ (eiß tv`n exana´stasin tv`n ek nekrw˜n) in Phil 3,11 weist mit ihrem doppelten ek ebenfalls auf eine vorzeitige Auferstehung unmittelbar nach dem Tod hin460. Zwar ist auch hier wie in allen Pau-
455 Vgl. z. B. Sen, Ep 102,24, über das zukünftige Sein: „Eine andere Gegend erwartet uns, eine andere Situation. Noch können wir den Himmel nur aus der Entfernung ertragen. Deshalb erwarte furchtlos jene Entscheidungsstunde: nicht ist sie für die Seele die letzte, sondern für den Körper“ (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 944f). 456 Vgl. dazu z. B. Plat, Phaed 67c.d. 457 Zur Eschatologie des Römerbriefes vgl. G. STORCK,
Eschatologie bei Paulus, Diss. masch., Göttingen 1979, 117–159. 458 Treffend N. WALTER, Leibliche Auferstehung?, 120: „also nicht die ‚Erlösung vom Leibe‘ oder ‚aus dem Leibe‘, sondern die heilvolle Verwandlung der Leiber.“ 459 Vgl. W. WIEFEL, Hauptrichtung des Wandels (s. o. 6.8), 79–81. 460 Vgl. C. H. HUNZINGER, Hoffnung angesichts des Todes (s. o. 6.8), 87.
Eschatologie 323
lusbriefen die Parusie der Horizont aller eschatologischen Aussagen des Apostels (vgl. Phil 4,5b; 1,6.10; 2,16; 3,20b), aber Paulus bestimmt nun am Ende des Lebens sein eigenes Schicksal neu. Weil er damit rechnet, vor der Parusie zu sterben, kann die Parusie und die mit ihr verbundene Totenauferstehung nicht der alleinige und ausschließliche Orientierungspunkt sein. In zentralen Bereichen der paulinischen Eschatologie kann von Wandlungen, d. h. von einem der sich ändernden historischen Situation entsprechenden folgerichtigen Fortschreiten des Denkens des Apostels Paulus gesprochen werden461. Wohl bleibt die akute Naherwartung der Horizont und das gegenwärtige wie zukünftige Christusgeschehen die Grundlage paulinischer Eschatologie, aber die Stellung des Einzelnen und der Ablauf des Endgeschehens ändern sich angesichts der sich einstellenden Dehnung der Zeit. Paulus hielt selbstverständlich an dem unmittelbar bevorstehenden Kommen des Herrn fest, zugleich nahm er aber sachgerechte Veränderungen innerhalb seiner eschatologischen Aussagen vor462. Solange er fest damit rechnete, bei der Parusie des Herrn noch zu leben, erfolgte die Schilderung der Endereignisse in einem breit angelegten apokalyptischen Szenarium (vgl. 1Thess 4,13–18; 1Kor 15,51ff). Das dann für möglich gehaltene Sterben vor der Parusie führt zu am individuellen Geschick des Apostels orientierten eschatologischen Aussagen. Diese Veränderung ist sachgemäß, denn eschatologische Aussagen sind immer nur im Vorgriff zu haben, der Apostel konnte die fortschreitende Zeit nicht ignorieren. Zugleich liegt in dem su`n Cristw˜ eınai = ,Mit-dem-Herrn-Sein/Mit-Christus-Sein‘ (1Thess 4,17/Phil 1,23) die grundlegende Konstante der paulinischen Eschatologie. Leiblichkeit und postmortale Existenz
Auch in der Frage des Wie der postmortalen Existenz gelangt Paulus zu neuen und veränderten Einsichten, die nicht unerheblich durch die Wertung der Leiblichkeit im griechischen Denken bestimmt waren. Maßgeblich unter dem Einfluss platonischer Vorstellungen herrschte die Auffassung vor, dass sich unmittelbar nach dem Tod die unvergängliche Seele vom vergänglichen Leib trennt, so dass der Leib keine Bedeutung für die postmortale Existenz haben kann463. So stellt Cicero über die Entrückung von Herkules und Romulus fest: „Nicht ihre Körper sind in den Himmel erhoben worden; denn die Natur würde es nicht dulden, dass das, was aus Erde wäre, anderswo als in der Erde bliebe“ (Rep 3,28). Seneca betont, dass der Leib beim Tod abgelegt wird: „Was liebst du diese Körperlichkeit, als sei sie ein Teil von dir? Sie be-
461 Vgl. U. SCHNELLE, Wandlungen im paulinischen Denken (s. o. 6), 37–48. 462 Für rein situationsbedingt hält A. LINDEMANN, Art. Eschatologie (s. o. 6.8.1), 1556, die Veränderungen. 463 Klassisch Plat, Phaid 80a: „Welchem gleicht nun
die Seele? – Offenbar, o Sokrates, die Seele dem Göttlichen und der Leib dem Sterblichen“ (v me`n yucv` tw˜ heı´w, to` de` sw˜ma tw˜ hnvtw˜ ); zu den vielfältigen Seelenlehren um die Zeitenwende herum vgl. Cic, Tusc 1,17–25.26–81.
324 Paulus: Missionar und Denker
deckt dich nur: kommen wird der Tag, der dich davon losreißt und aus der Gemeinschaft mit dem scheußlichen und stinkenden Leib befreit“ (Ep 102,27). Auch für Epiktet ist klar, dass der Leib Freiheit verhindert und deshalb der Schrei der Philosophenschüler verständlich ist: „Das ertragen wir nicht länger, Epiktet, an diesen armen Leib gefesselt zu sein, ihn zu speisen und zu tränken . . . Der Tod ist ja kein Übel, dazu sind wir mit Gott verwandt und kommen von ihm her“ (Diss I 9,12f). Nach Plutarch überlebt allein das von den Göttern stammende Urbild: „Es kommt von dort, und dorthin geht es wieder, nicht mit dem Leib, sondern wenn es sich ganz und gar vom Leib gelöst und geschieden hat, ganz lauter geworden ist und fleischlos und rein.“464 Im hellenistischen Judentum war die Ansicht ebenfalls weit verbreitet, dass der Leib der Vergänglichkeit preisgegeben ist und allein die Seele den Tod überdauert (vgl. z. B. Weish 9,15; Philo, Migr 9.192). Paulus musste auf diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund eine Antwort auf die Beschaffenheit der postmortalen Existenz geben, die einerseits die Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele vermied, andererseits aber die negative Wertung des Leibes nicht völlig ausblenden konnte. Während in 1Thess 4,13–18 die Frage überhaupt nicht berührt wird und 1Kor 15 eine erste Antwort präsentiert, zeigt speziell der 2Kor, wie Paulus sich teilweise auf die (hellenistische) Argumentation der Gemeinden einließ465. Zugleich zeigen aber der Röm und Phil, dass bei Paulus die Linie von 1Kor 15 dominiert: Der vom göttlichen Geist verwandelte Leib bewahrt die Identität des Ich und gehört als sw˜ma pneumatiko´n der göttlichen Welt an.
6.8.3
Das Gericht
Die Gerichtsvorstellung war in jüdischen und griechischen Jenseitsvorstellungen466 fest verwurzelt. Bei Paulus findet sich der Gerichtsgedanke in verschiedenen Argumentationszusammenhängen467: a) Innerhalb der eschatologischen Passagen der 464 Plut, Rom 28; vgl. ferner Mor 382E. 465 Vgl. N. WALTER, Hellenistische Eschatologie bei
Paulus, ThQ 176 (1996), (53–64) 63: „Insgesamt stehen wir vor dem Ergebnis, daß die Entwicklung der eschatologischen Vorstellungen bei Paulus einen deutlichen Sprung in Richtung auf Hellenisierung hin gemacht hat. Und so ist wohl auch von 2Kor 5,1–10 her zu sagen, daß eine Entwicklung der paulinischen Vorstellung von den Eschata überhaupt nicht geleugnet werden kann.“ 466 Vgl. dazu I. PERES, Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie, WUNT 157, Tübingen 2003, 60–69. Klassisch Plat, Gorg 524a: „Diese also, sobald sie nur werden gestorben sein, sollen Gericht halten auf der Wiese am Kreuzwege,
wo die beiden Wege abgehen, der eine nach der Insel der Seligen, der andere nach dem Tartaros.“ 467 Vgl. dazu E. SYNOFZIK, Die Gerichts- und Vergeltungsaussagen bei Paulus, GTA 8, Göttingen 1977; M. KLINGHARDT, Sünde und Gericht von Christen bei Paulus, ZNW 88 (1997), 56–80; M. KONRADT, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1Thess und 1Kor, BZNW 117, Berlin 2003. M. KONRADT, a. a. O., 530, formuliert treffend: „Daß Gott die Welt richtet (Röm 3,6), ist fester Bestandteil paulinischen Denkens. Darüber, wie Gott dies tut, kann Paulus sich je nach rhetorischem Anforderungsprofil unterschiedlich äußern.“
Eschatologie 325
Praeskripte (1Thess 2,19; 3,13; 1Kor 1,7b–9; 2Kor 1,13f; Phil 1,6.10f) und der Postskripte (1Thess 5,23f; Röm 16,20; Phil 4,19f). b) In der Gegnerpolemik (1Thess 2,16c; 1Kor 3,17; 2Kor 11,14.15; Gal 1,6–9; 5,10; Röm 3,8; Phil 1,28; 3,19. c) Innerhalb ethischer Ermahnungen (1Kor 3,12–15; 4,4f; 5,5.12f; 6,2f; 8,8; 10,12f; 11,29–32; Röm 12,19f), wobei dem Motiv der Heiligung eine besondere Bedeutung zukommt (1Kor 1,8; 7,34; 2Kor 7,1; Phil 1,9–11; 2,15–18). Speziell die zahlreichen Gerichtsaussagen im 1Kor verdeutlichen, dass der Apostel die Beziehung der Glaubenden zu Christus als ein dynamisches Geschehen auffasst468, das auch den Heilsverlust mit einschliesst (vgl. 1Kor 5,1–13; 6,18; 8,11f). Für Paulus ist christliches Leben nicht ein einmal erreichter Stand, sondern dynamische Gestaltung und kontinuierliche Aktualisierung der von Gott erfolgten Berufung innerhalb des alttäglichen Lebens. d) Gerichtsaussagen im Kontext des Zorngerichtes über Juden und Menschen aus den Völkern (Röm 1,18–3,20). Hier spielt die Vorstellung eines Gerichtes nach den Werken eine besondere Rolle. Das Gericht nach den Werken
Auch das Gericht nach den Werken ist im jüdischen und im griechisch-römischen Bereich fest verankert469. Bei Paulus erscheint es betont in 2Kor 5,10 („Denn alle müssen wir vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder empfängt, was er während seines Leibes(lebens) getan hat, sei es Gutes, sei es Schlechtes“) und in Röm 2,5c–8, wo es in 2,6 über den Tag des Zorns heißt, Gott werde „einem jeden entsprechend seinen Werken vergelten“. Wie verhält sich das Gericht nach Werken zur Rechtfertigungslehre des Römerbriefes? Das Problem ergibt sich durch einen Vergleich von Röm 2,6 mit Röm 3,28, wo Paulus sagt: „Wir halten nun dafür, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben ohne Werke des Gesetzes.“ Für Paulus ereignet sich die coram deo geltende Rechtfertigung durch den Glauben an das in Jesus Christus geschehene Heilswerk. Diese Rechtfertigung hat ihre Gültigkeit auch im endzeitlichen Gerichtsforum Gottes. In diesem Gericht Gottes nach den Werken wäre der Mensch verloren, weil er keine Werke vorzuweisen hat, die vor Gott bestehen könnten. Deshalb rettet allein das Heilswerk Jesu Christi, das dem Menschen in der Gestalt des paulinischen Evangeliums im Glauben zugeeignet wird (vgl. Röm 2,16 „an dem Tag, an dem Gott das Verborgene im Menschen richten wird, gemäß meinem
468 Zur Analyse vgl. M. KONRADT, Gericht und Gemeinde, 197–471. 469 Für den jüdischen Bereich vgl. z. B. Ps 61,13LXX Ps Sal 2,16f; 9,5; umfassende Darbietung des Materials bei U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 127–131. Für den griechisch-römischen Bereich vgl. als klassischen Text Plat, Phaidon 113d–114c; aus ntl. Zeit z. B. Sen, Herc F 727–738, wo über die Unterwelt berichtet wird: „Stimmt es denn, was man erzählt, dass
die Taten der Abgeschiedenen spät noch gerichtet werden, und die Schuldigen, die ihr Verbrechen längst vergessen haben, die verdiente Strafe verbüßen müssen? Wer entscheidet denn, was richtig ist, wer sorgt für gleiches Recht? Mehr als einer sitzt auf erhabenem Richterstuhl und lost den bangenden Angeklagten späten Urteilsspruch zu . . . Am eigenen Leib wird wiedervergolten, was ein jeder verbrochen hat.“
326 Paulus: Missionar und Denker
Evangelium durch Jesus Christus“). Gerade weil es ein Gericht nach Werken gibt, ist der Mensch allein auf die Gnade Gottes verwiesen! Rechtfertigung aufgrund des Glaubens und der Gnade sowie das Gericht nach Werken bilden für Paulus eine Einheit. Allein Gott bewirkt die Rechtfertigung des Menschen durch seine Gnade, weil der Mensch Sünder ist und bleibt und damit stets des richterlichen Freispruches Gottes bedarf470. Theologisch bringt die Gerichtsvorstellung zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig zum Leben eines Menschen und zur Geschichte insgesamt verhält. Würde das Gericht entfallen, dann blieben die Taten eines Menschen unbeurteilt und zwielichtig. Die Mörder würden über ihre Opfer triumphieren, und die Unterdrücker kämen davon. Gäbe es kein Gericht, dann wären die Weltgeschichte und das Leben eines Menschen selbst das Gericht. Weil aber keine Tat oder Unterlassung ohne Folgen bleibt und sie um der Menschen willen beurteilt werden muss, ist der Gerichtsgedanke theologisch positiv zu beurteilen. Er wahrt die Würde des Menschen und zeigt, dass Gott sich nicht von seiner Schöpfung abgewandt hat. In Jesus Christus dürfen die Menschen hoffen, dass Gottes Gnade das letzte Wort behält (1Thess 5,9; Röm 5,9f)471.
6.8.4
Israel
Das Verhältnis zu Israel ist für Paulus gleichermaßen ein biographisches, theologisches und am Ende seines Lebens ein eminent eschatologisches Problem. Wenn das Heil von den Juden zu den Christen überging, stellt sich mit aller Schärfe die Frage nach dem Verhalten Gottes gegenüber dem Volk Israel und der Gültigkeit seiner Verheißungen. Bereits die älteste Aussage des Apostels zu den Juden/Israel in 1Thess 2,14–16 macht das Ineinander von Biographie und Theologie deutlich. Paulus wirft den Juden vor, was er als Pharisäer selbst tat: Behinderung der rettenden Evangeliumsverkündigung. Für Paulus hat Gott deshalb sein Urteil über die Juden schon gesprochen, sein Zorn ist über sie gekommen472. Das Verhältnis des jungen Christentums zu Israel wird im 1 Kor nicht ausführlich thematisiert, lediglich in 1Kor 10,1ff erscheint die Wüstengeneration als warnendes Paradigma für die korinthischen Enthusiasten473. Demgegenüber bietet 2Kor 3 einen Einblick in das paulinische Selbstver470 Vgl. dazu U. WILCKENS, Röm I (s. o. 6.2.4), 142–
146. 471 Vgl. E. SYNOFZIK, a. a. O., 108f: „Er selbst (sc. der Mensch) kann sich diese Freisprechung im Gericht nicht durch seine Leistungen erarbeiten, sondern sich nur durch das Evangelium zusprechen lassen und dem rettenden Heilshandeln Christi glauben.“ 472 Vgl. G. HAUFE, Der erste Brief des Paulus an die
Thessalonicher, ThHK 12/I, Leipzig 1999, 48: „die Juden sind wegen ihres Widerstandes gegen den göttlichen Heilsplan bereits dem Zorngericht verfallen, auch wenn dieser Zustand äußerlich noch nicht erkennbar und ihnen selbst noch verborgen ist.“ 473 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 155 f.
Eschatologie 327
ständnis als Apostel und seine christologische Interpretation des AT. Durch die Antithese ‚Buchstabe – Geist‘ (2Kor 3,6) markiert Paulus den grundlegenden Unterschied zwischen dem alten und neuen Bund. Die Herrlichkeit des Verkündigungsamtes überragt bei weitem die Herrlichkeit auf dem Angesicht des Mose, die jener mit einer Decke vor dem Volk verhüllen musste (vgl. Ex 34,29–35). In 2Kor 3,14 begründet Paulus die Blindheit Israels gegenüber der Herrlichkeit der Christusoffenbarung: „aber ihre Gedanken wurden verstockt“. Damit rückt unvermittelt die gegenwärtige Schuld der Israeliten in den Blick. Nicht Mose, sondern sie selbst sind verantwortlich für ihren Unglauben474. Indem sie sich der Christusoffenbarung verweigern, bleibt für sie auch das AT verschlossen, denn die bis zum heutigen Tag auf ihm liegende Decke kann nur in Christus abgetan werden (V. 14b.15). Für Paulus zielen die atl. Verheißungen auf Christus, und nur von ihm her ist ein sachgemäßes Verständnis des Alten Testaments möglich. Gott bleibt sich somit treu, Israel hingegen ist verstockt, aber der Apostel rechnet mit der Möglichkeit einer Hinwendung zu Christus, so dass gegenüber 1Thess 2,14–16 zwei gravierende Veränderungen festzustellen sind: a) Das endgültige Gerichtsurteil über Israel ist noch nicht gesprochen, denn Israel kann sich bekehren; b) das AT findet in Christus seine Erfüllung, weil Gott in der Kontinuität seiner Verheißungen steht. Aufschlussreich für die Stellung des Apostels zu Israel ist die Wendung LIsrav`l tou˜ heou˜ („Israel Gottes“) in Gal 6,16: „Und all jene, die nach diesem Maßstab wandeln werden: Friede über sie und Erbarmen, und über das Israel Gottes.“ Der Sinn erschließt sich vom unmittelbaren Kontext. Paulus kommt noch einmal polemisch auf die Gegner zu sprechen (Gal 6,12–14), um dann in V. 15 sein grundlegendes Credo anzuschließen, wonach weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit etwas gilt, sondern allein die neue Existenz in Jesus Christus (vgl. Gal 3,26–28; 1Kor 7,19; 2Kor 5,17). Wer mit diesem Kanon übereinstimmt, dem gilt der konditionale (kai` oÇsoi) Segenswunsch in Gal 6,16. Beachtet man die Funktion von V. 15 als interpretativen Schlüssel zu V. 16, die Korrespondenz des Segenspendens mit dem konditionalen Fluch in Gal 1,8475, die Übereinstimmungen mit jüdischen Gebetstexten476 und den kopulativen Sinn von kaı´ vor epi` to`n LIsrav`l tou˜ heou˜, dann kann mit LIsrav`l tou˜ heou˜ nur eine die galatische Gemeinde einschließende Größe gemeint sein: die Gesamtkirche aus Juden und Heiden, sofern sie sich der in V. 15 beschriebenen neuen Existenz des Christen verpflichtet weiß477. Sie ist das Israel Gottes, nicht das empirische Israel (vgl. ,Israel nach dem Fleisch‘ in 1Kor 10,18). Diese Interpretation fügt sich in den Aussageduktus des gesamten Briefes ein, denn die Auseinandersetzung
474 Vgl. V. P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32A, New
York 1984, 233. 475 Vgl. H. D. BETZ, Der Galaterbrief, München 1988, 544 f. 476 Vgl. die 19. Benediktion des Shemoneh Esreh
(babylonische Rezension) „Lege Frieden, Glück und Segen, Gnade und Liebe und Erbarmen auf uns und dein Volk Israel“; vgl. BILLERBECK IV, 214. 477 Vgl. H. D. BETZ, Gal, 547f; G. LÜDEMANN, Paulus und das Judentum, TEH 215, München 1983, 29.
328 Paulus: Missionar und Denker
mit den Judaisten beinhaltet auch eine scharfe Trennung vom nichtgläubigen Judentum. In Gal 4,25 repräsentiert das irdische Jerusalem das Volk Israel, das nicht nur zum Bereich der Knechtschaft gehört, sondern vom Apostel auf Hagar und Ismael zurückgeführt wird, so dass Abraham und Sara mit dem empirischen Israel in keinem Zusammenhang stehen. Eine schärfere Abgrenzung ist kaum vorstellbar! Schließlich formuliert Paulus als Ertrag der Sara-Hagar-Allegorese in Gal 4,30f seine Sicht des Heilshandelns Gottes: Die Juden wurden von Gott verworfen, und allein die Christen sind Erben der Verheißung. Im Röm verdichten sich die theologischen und biographischen Probleme im Verhältnis Paulus – Israel, um dann in eine neuartige eschatologische Dimension überführt zu werden. Die Frage nach der Gültigkeit der an Israel ergangenen Verheißungen angesichts der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes ohne das Gesetz kommt bereits in Röm 1,16; 2,9f (LIoudaı˜oß te prw˜ton = „der Jude zuerst“) in den Blick und wird von Paulus in Röm 3,1–8 thematisiert, um dann in Röm 9–11 aufgegriffen und ausführlich behandelt zu werden478. Gottes Gerechtigkeit steht auf dem Spiel, sollten die Erwählung Israels, die Verheißungen an die Väter und die Bundesschlüsse nicht mehr gelten (Röm 9,5). Das Wort Gottes wäre dann hinfällig geworden (Röm 9,6). Paulus behauptet jedoch das Gegenteil: Die Erwählung gilt, die Verheißungen bestehen, aber Israel geriet angesichts der Offenbarung Gottes in Jesus Christus in die Krise. Paulus will in Röm 9–11 die Treue Gottes im Gegensatz zur bisherigen Untreue Israels erweisen. Er legt seine Gedanken in einem spannungsreich ausgerichteten, ständig neue Gesichtspunkte aufgreifenden und die Betrachtungsweisen wechselnden Gedankengang dar. Zunächst unterscheidet er zwischen dem Israel nach dem Fleisch und dem Israel der Verheißung, das allein das wahre Israel ist (Röm 9,6–8). Sodann behauptet er, nur ein Rest Israels sei erwählt, die übrigen hingegen verstockt (Röm 11,5ff). Schließlich gelangt er über den Gedanken, die Erwählung der Heiden werde Israel zum Heil gereichen, zu der Spitzenthese in Röm 11,26a: pa˜ß LIsrav`l swhv´setai (V. 26a: „Ganz Israel wird gerettet werden“)479. Dieser Spitzensatz paulinischer Eschatologie und Soteriologie wirft zahlreiche Probleme auf. Wenig umstritten ist zunächst der Zeitpunkt des angesagten Geschehens, da sich V. 26b auf das Kommen Christi bei der Parusie bezieht (vgl. 1Thess 1,10). Bei der Deutung von pa˜ß LIsrav´l sind der nähere Kontext und die korrespondierende Wendung plv´rwma tw˜n ehnw˜n
478 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse von Röm 9–11: U. LUZ, Geschichtsverständnis (s. o. 6), 64–108; H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel, FRLANT 136, Göttingen 1984; H.-M. LÜBKING, Paulus und Israel im Römerbrief, EHS 23.260, Frankfurt/Bern 1986; H. RÄISÄNEN, Römer 9–11: Analyse eines geistigen Ringens, ANRW 25.4, Berlin 1987, 2891–2939; D. SÄNGER, Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel, WUNT 75, Tübingen 1994; M. THEOBALD, Der
Römerbrief (s. o. 6.1.3), 258–285; A. REICHERT, Der Römerbrief als Gratwanderung, FRLANT 194, Göttingen 2001, 147–221. 479 Zur Struktur von V. 25–27 vgl. F. HAHN, Zum Verständnis von Röm 11,26a: ‚. . . und so wird ganz Israel gerettet werden‘, in: M. D. Hooker/S. G. Wilson (Hg.), Paul and Paulinism (FS C.K. Barrett), London 1982, (221–236) 227.
Eschatologie 329
(„Fülle der Völker“) ausschlaggebend. In V. 20 wird als Grund für den Ausschluss Israels vom Heil der Unglaube genannt, dessen Überwindung in V. 23 als Bedingung für das Eingehen Israels ins Heil erscheint. Insbesondere V. 23 macht somit eine Interpretation von V. 26a jenseits des Christusglaubens wenig wahrscheinlich480. In V. 25b umfasst plv´rwma nicht die Vollzahl der Christen aus den Völkern, denn nur dann behalten der paulinische Glaubensbegriff und die Gerichtspredigt des Apostels ihre Gültigkeit. Ebenso beinhaltet pa˜ß LIsrav´l nicht einfach das ethnische Israel, vielmehr nur jenen Teil Israels, der bei der endzeitlichen Heilszuwendung Gottes zum Glauben gekommen ist481. Neben V. 23 legen auch die Unterscheidung zwischen dem Israel der Verheißung und dem Israel nach dem Fleisch in 9,6 sowie die Bemerkung des Apostels in Röm 11,14b, er hoffe einige seiner Landsleute zu retten (kai` sw´sw tina`ß ex autw˜n), diese Interpretation nahe482. Schließlich macht der Gebrauch von sw´ zein/swtvrı´a („retten“/“Rettung“) deutlich, dass es eine Rettung jenseits des Glaubens für den Apostel nicht gibt483. In Röm 1,16 gilt die Rettung allein dem Glaubenden, den Juden zuerst und den Griechen. Die Determination von swtvrı´a durch dikaiosu´nv heou˜ und pı´stiß in der theologischen Fundamentalaussage Röm 1,16.17 bleibt für das weitere Verständnis bestimmend. In Röm 5,9.10 wird die Glaubensgerechtigkeit mit dem Blut Christi parallelisiert, das die Rettung vor dem kommenden Zorn ermöglicht. Aufschlussreich ist die Form swhv´setai im Jesaja-Zitat in Röm 9,27, da sie ausdrücklich nur auf einen Rest Israels bezogen wird und damit das Verständnis von swhv´setai in 11,26a präjudiziert. Zudem betont Röm 10,9–13 nachdrücklich, dass allein der Glaube an Jesus Christus die Rettung verbürgt. Nach Röm 10,12 besteht kein Unterschied zwischen Juden und Heiden, sondern Christus ist der Herr von Juden und Heiden. Warum sollen die Juden durch die Heidenchristen zur Eifersucht gereizt werden, wenn Israel ohnehin schon alles besitzt, was auch die Heidenchristen haben? Warum ist Paulus so tief betrübt (Röm 9,2f; 10,1), wenn Israel an Christus vorbei zum Heil gelangen könnte?
Paulus erwartet nach Röm 11,25–27 ein Handeln Gottes im Endgeschehen, das mit dem Erscheinen des Parusie-Christus zu einer Bekehrung und damit zur Rettung Israels führt484. Er spricht in Röm 11,25b.26a offensichtlich als Prophet, der eine Erkenntnis mitteilt, die argumentativ nicht aus dem Kerygma ableitbar ist485. Die Prophetie dient Paulus als theologisches Erkenntnismittel, um eine Leerstelle theologischer Re480 Vgl. zur Bedeutung von V. 23 auch F. HAHN, Zum Verständnis von Röm 11,26a, 228 f. V. 23 spricht entscheidend gegen die These F. MUSSNERs, ‚Ganz Israel wird gerettet werden‘ (Röm 11,26), Kairos 18 (1976), 241–255, Paulus zeige in Röm 11,26a einen ‚Sonderweg‘ Israels zum Heil auf. 481 Nach Röm 9,27 wird nur ein Rest Israels gerettet. 482 Vgl. F. HAHN, Zum Verständnis von Röm 11,26a, 229.
483 Vgl. H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel, 117. 484 Vgl. E. KÄSEMANN, Röm (s. o. 6.3.1), 295: „Seine (sc. Israels) Gesamtbekehrung wird zweifellos erwartet, ist jedoch daran gebunden, daß das Heil zuvor zu den Heiden gekommen ist.“ 485 Vgl. H. MERKLEIN, Der Theologe als Prophet, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, (377–404) 402 f.
330 Paulus: Missionar und Denker
flexion auszufüllen. Er sieht so die Treue und Identität Gottes gewahrt, der Israel nicht für immer verstieß, sondern Juden und Heiden gleichermaßen dem Ungehorsam unterwarf, um sich ihrer in Jesus Christus zu erbarmen (vgl. 11,32). Dabei zeigt gerade die Vielzahl der Lösungen, wie sehr der Apostel mit dem Thema rang und wie hoch seine Ich-Beteiligung war486. Wenn Gott nicht in der Kontinuität seiner Verheißungen steht, wie soll dann glaubhaft das Evangelium verkündigt werden? Es geht somit letztlich in Röm 9–11 um die Gottheit Gottes, um seine Gerechtigkeit und Treue angesichts menschlicher Untreue, aber auch um die Glaubwürdigkeit des Paulus und sein ganz persönliches Schicksal. Paulus versichert, dass Gott sich selbst treu bleibt und durch seine Wunderkraft Israel im Endgeschehen zur Bekehrung und damit zur Rettung führen wird. Er gesteht damit zugleich ein, dass dieses Problem in der Gegenwart von Menschen nicht gelöst werden kann, sondern es einer außerordentlichen Tat Gottes in der Zukunft bedarf. Die Stellung des Apostels gegenüber Israel hat sich radikal verändert . 1Thess 2,14–16 ist mit Röm 11,25f unvereinbar, so dass von einer Revision der paulinischen Haltung gesprochen werden muss487. Während Gott dort sein Volk bereits verstoßen hat, wird er es hier noch retten. Warum revidierte Paulus sein Urteil über Israel? Die unterschiedlichen Situationen erforderten ein jeweils neues Nachdenken über Israel, das dann auch zu sachlich neuen Urteilen führte. Die Polemik in 1Thess 2,14–16 ist allein durch die jüdische Behinderung der Heidenmission bedingt. Schon 2Kor 3 zeigt, dass eine neue Situation für Paulus wieder andere Aussagen zuließ. Dies bestätigt der Gal, wo die Konfrontation mit den Judaisten die theologische Bewertung Israels notwendigerweise beeinflussen musste. Schließlich spricht der Röm selbst für den situationsbedingten Wandel der paulinischen Haltung, denn hier stellt sich Paulus einer ihm unbekannten Gemeinde vor, in der es offenbar Auseinandersetzungen zwischen Juden- und Heidenchristen gab (vgl. Röm 14,1–15,13) und von der er annehmen musste, dass seine judaistischen Gegner in ihr nicht ohne Einfluss waren. Hinzu kommt die persönliche Lage des Apostels: Er sieht seine Mission im Osten als beendet an (Röm 15,23) und will die Kollekte nach Jerusalem bringen, um dann seine Arbeit im Westen fortzusetzen (Röm 15,24ff). Sowohl die Kollekte als sichtbares Einheitsband zwischen Judenchristen und Christen aus den Völkern als auch das faktische Übergewicht der Christen aus griechisch-römischer Religiosität in den bis486 Vgl. G. THEISSEN, Röm 9–11 – Eine Auseinander-
487 Vgl. in diesem Sinn z. B. H. RÄISÄNEN, Römer 9–
setzung des Paulus mit Israel und sich selbst: Versuch einer psychologischen Auslegung, in: I. Dunderberg/Chr. Tuckett/K. Syreeni (Hg.), Fair Play (FS H. Räisänen), NT.S 103, Leiden 2002, (311–341) 326: „Wenn Paulus gedanklich um die Rettung von ganz Israel ringt, so ringt er um die Chancen für seine Rettung.“
11, 2925. Auch U. WILCKENS, Röm II (s. o. 6.1.2), 209 betont zu Recht, dass „das Ergebnis des ersten Gedankenschritts in Röm 9 (wie dann auch das des zweiten Schrittes in Röm 10) durch den Zielgedanken in Röm 11 aufgehoben werden“.
Eschatologie 331
herigen Missionsgebieten nötigten Paulus zu einem neuen Nachdenken über das Schicksal Israels. Mit der Existenz der Urgemeinde als heiligem Rest Israels verband sich unauflöslich die theologische Frage nach dem Schicksal jenes Teils Israels, der sich bisher der Christusoffenbarung verweigerte. Wenn Paulus entgegen der Ankündigung in 1Kor 16,3 selbst nach Jerusalem zog, um seinen nicht ungefährlichen (vgl. Röm 15,31) Dienst an der dortigen Gemeinde zu verrichten, dann stellte sich ihm auch das theologische Problem der Treue und Gerechtigkeit Gottes gegenüber Israel. Zudem war Paulus zu einer veränderten Sicht seiner Mission unter den Völkern gelangt. Diente ihre Behinderung in 1Thess 2,14–16 noch als Anlass zu heftiger Polemik, so kommt ihr nun nach ihrem Ende im Osten des Reiches eine neue Funktion zu: Durch sie sollen die Juden zur Nachahmung gereizt werden, damit sie zum Glauben kommen und so gerettet werden (Röm 11,13–15).
6.8.5
Tod und neues Leben
Paulus strukturiert innerhalb der Eschatologie die Zeit neu488, weil mit der Auferweckung Christi eine unumkehrbare Wende der Zeiten eingetreten ist. Ein Ereignis der Vergangenheit bestimmt die Gegenwart und nimmt die Zukunft exemplarisch vorweg. Von hieraus war es ihm möglich, die bedrängende Todesproblematik zu lösen. Dabei konnte er Motive der jüdischen Apokalyptik aufnehmen, keineswegs aber geschlossene Sinn- und Zeitsysteme, denn die Neuartigkeit des Geschehens erzwang eine eigenständige Lösung. Sie liegt in dem Entwurf eines endzeitlichen Szenariums vor, dessen sachliche und zeitliche Eckpunkte die Auferweckung Jesu Christi von den Toten und seine unmittelbar bevorstehende Parusie von Gott her sind, dessen Gewissheit sich aus den gegenwärtigen Geisterfahrungen speist und dessen Perspektive in der Hoffnung eines analogen Gotteshandelns liegt: Jesus von Nazareth dient als Prototyp für Gottes schöpferische Lebensmacht. Innerhalb dieses Modells verbürgt der Geist als Modus der Präsenz Gottes und Jesu Christi in der Gemeinde die sachlich wie zeitlich notwendige Kontinuität bzw. Dauer zwischen den beiden Eckpunkten, so dass die Glaubenden und Getauften in dem Bewusstsein der Gleichzeitigkeit bei faktischer Nachzeitigkeit und noch ausstehender Endzeitlichkeit leben. Antike Todestheorien
Wie bei Paulus spielt die Todesthematik auch bei konkurrierenden Sinnsystemen und Zeitkonstruktionen eine entscheidende Rolle, denn jede Aussage über den Tod ist eine Aussage über das Leben und umgekehrt. Speziell in der griechisch-römischen 488 Zum ntl. Zeitverständnis vgl. G. DELLING, Das Zeit-
verständnis des Neuen Testaments, Gütersloh 1940; DERS., Zeit und Endzeit, Neukirchen 1970; K. ERLE-
MANN, Endzeiterwartungen im frühen Christentum, Tübingen 1996.
332 Paulus: Missionar und Denker
Welt existierte eine Vielzahl von Vorstellungen über den Tod und eine mögliche postmortale Existenz. Sowohl der Glaube an ein Fortleben der unsterblichen Seele als auch zahlreiche skeptische Varianten sind anzutreffen489. Eine eigenständige und bis heute faszinierende Theorie des Todes als Nicht-Zeit entwickelte Epikur: „Der Tod hat keine Bedeutung für uns; denn was aufgelöst ist, ist ohne Empfindung; was aber ohne Empfindung ist, das hat keine Bedeutung für uns“ (Diog L 10,139 = Epic, Sent 2). Allein diese Erkenntnis überwindet die Angst vor dem Tod, die den Menschen sonst an einem gelingenden Leben hindert; es gilt, dass „das Einüben des vollkommenen Lebens und des vollkommenen Sterbens ein und dasselbe ist“ (Menoik 126). Cicero gibt eine Mischung aus platonischen und epikureischen Vorstellungen wieder: „Wie also oder warum behauptest du, dass der Tod dir als ein Übel erscheine? Er wird uns, wenn die Seelen fortbestehen, glücklich machen, oder jedenfalls nicht unglücklich, wenn wir keine Empfindung mehr haben“ (Tusc 1,25). Auch Seneca fürchtet den Tod nicht: „Der Tod, was ist er? Entweder das Ende oder ein Übergang (mors quid est? aut finis aut transitus ). Weder fürchte ich zu enden – dasselbe ist es nämlich, nicht begonnen zu haben – noch hinüberzugehen, weil ich nirgend so beengt existieren werde“ (Ep 65,24)490. Nach Epiktet ist der Tod nichts Schlimmes und auch kein Zustand des Nicht-Seins, sondern nur der Übergang von einem Zustand des Seins in einen anderen (Diss III 24, 93–95). Für Dio Chrysostomus gilt: „Der Gott nun, der ganz genau beobachtet, wie jeder sich bei Tisch benimmt – es geschieht ja in seinem eigenen Haus –, ruft jeweils die Besten zu sich, und wenn er besonders großen Gefallen an einem findet, lädt er ihn ein zu bleiben und macht ihn zu seinem Tischgenossen und Freund“ (Or 30,44). Angesichts der Vielfalt von durchaus attraktiven Antworten auf die Todesproblematik stellt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit des paulinischen Modells. Die Vorstellung einer Auferstehung von den Toten war im Judentum vor der Tempelzerstörung das vorherrschende, aber keineswegs einzige Modell491. Bei den Griechen herrschte Skepsis gegenüber einer wie auch immer gearteten leiblichen Weiterexistenz vor; bereits bei Aeschylus, Eum 545, ist über die Endgültigkeit des Todes zu lesen: „Doch wenn des Mannes Blut erst aufgeschlürft der Staub, des einmal toten, gibt’s für ihn kein Auferstehn“ (outiß estL ana´stasiß). Speziell bei den Kynikern lässt
489 Vgl. z. B. SVF II 790: „Chrysipp aber sagt, dass der Tod die Trennung der Seele vom Körper ist“; Euseb, Praep Ev XV 20,6: „Die Seele, sagen die Stoiker, entstehe und vergehe“. Eine umfassende Übersicht bieten: E. ROHDE, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen I.II, Tübingen 41907; M. P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion II, HAW V/2, München 21961, 498–535; vgl. ferner W. BURKERT, Griechische Religion der archaischen
und klassischen Epoche, Stuttgart 1977; M. VOGEL, Commentatio mortis. 2Kor 5,1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen 2006, 45–209. 490 Vgl. ferner Sen, Ep 54,3–5; 99,29–30; Marc Consol 19,4–5. 491 Vgl. G. STEMBERGER, Art. Auferstehung 3 (Antikes Judentum), RGG4 1, Tübingen 1998, 916 f.
Theologiegeschichtliche Stellung 333
sich eine große Zurückhaltung gegenüber postmortalen Theorien beobachten492. Von Diogenes wird überliefert: „Es heißt auch, der sterbende Diogenes habe befohlen, ihn unbestattet zur Beute wilder Tiere abzulegen oder in einen Graben zu stoßen und etwas Staub darüberzutun“ (Diog L 6,79). Paulus überwand auch hier Denkund Kulturgrenzen, indem er die jüdische Auferstehungsvorstellung mit der griechischen Anschauung des Geistes als gegenwärtiger und fortdauernder göttlicher Lebensmacht kombiniert, und so seine Anschauungen im hellenistischen Bereich rezipierbar macht. Hinzu kommen die Riten als wesentliche Faktoren der Konstruktion kultureller Zeit und Identität. Besonders die Taufe als Ort der Geistverleihung und Beginn des neuen Lebens verleiht der christlichen Existenz jene unverwechselbare Prägung des Ich, die durch Gottes Lebensmacht auch den Tod überdauert. Im Tod endet mein Verhältnis zu mir und den anderen Menschen, nicht aber Gottes Verhältnis zu mir. Auch Erzählungen verleihen einem einmaligen Geschehen Dauer und Sinn und konstruieren so Zeit. Indem Paulus die Jesus-Christus-Geschichte als Modell für Gottes todesüberwindende Liebe und Schöpfermacht darstellt, eröffnet er Menschen aus allen Völkern und Schichten die Möglichkeit, jenseits überkommener Vorstellungen der Kontinuität der göttlichen Liebe zu trauen. Die Zeit wird dadurch nicht aufgehoben, sondern Gottes Gerechtigkeit, Güte und Erbarmen anvertraut. Weder die kulturell-imperiale Zeitkonstruktion des Hellenismus noch die Zerstörung der Zeit in der Endzeitkatastrophe der jüdischen Apokalyptik waren in der Lage, eine vergleichbare Zuversicht zu wecken.
6.9
Theologiegeschichtliche Stellung
Paulus ist nicht der Begründer, wohl aber der maßgebliche Former des frühen Christentums . Während das antike Judentum seine religiöse und ethnische Identität zu wahren suchte, überschritt das sich formierende frühe Christentum vor allem in Gestalt der paulinischen beschneidungsfreien Mission programmatisch ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen. Es propagierte ein universales Konzept messianischer Erlösung, das die Menschen aller Völker mit einbezog. Nicht Abgrenzung, sondern Akkulturation (vgl. 1Kor 9,20–22) und Inkulturation sowie transethnische Konzeptionen (vgl. Gal 3,26–28) bestimmten maßgeblich die paulinische Mission. Die bewusst transnationale, transkulturelle und schichtenübergreifende mitgliederwerbende Mission paulinischer Prägung ist in ihrem Ausmaß, ihrer Geschwindigkeit und ihrem Erfolg in der Antike ohne Analogie. Das paulinische Christentum bildete eine neue kognitive Identität heraus, die bisherige kulturelle Identitäten aufnahm und zugleich tiefgreifend umformte. Damit schuf Paulus die Basis für das Christentum als Weltreligion. 492 Vgl. dazu F. G. DOWNING, Cynics, Paul and the
Pauline Churches (s. o. 6.5.3), 242–249.
334 Paulus: Missionar und Denker
Die Leistung und auch die Tragik des Paulus bestand darin, dass er etwas wahrhaft Neues schuf, ohne die Verbindung zum Alten abreißen lassen zu wollen, was ihm aber nicht wirklich gelang. Es war ihm weder möglich, den Großteil Israels zu bekehren, noch konnte er die Verbindung zur Urgemeinde aufrecht erhalten. Um die Einheit des sich mehr und mehr Trennenden zu behaupten, war Paulus (vornehmlich in der Gesetzesfrage und der Israelproblematik) zu nachträglichen Rationalisierungen gezwungen. Sein Gottesbild ließ es nicht zu, den ersten Bund für gescheitert zu erklären. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass Gott einen zweiten Anlauf nahm, um endgültig Rettung und Heil für die Welt zu schaffen493. Deshalb musste Paulus teilweise Widersprüchlichkeiten, Unschärfen und gekünstelte Argumentationen in Kauf nehmen494. All dies entsprang nicht seiner Willkür oder Unfähigkeit, sondern ergab sich objektiv aus den zu beantwortenden Fragen, die in ihrem Kern bis heute nicht beantwortet sind. Sie können gar nicht beantwortet werden, weil allein Gott die Antwort weiß! Paulus wird nur unzureichend wahrgenommen, wenn man in ihm ausschließlich den erfolgreichen Missionar sieht. Seine Arbeit konnte nur so erfolgreich sein, weil er eine attraktive Gottes-, Welt- und Menschendeutung propagierte, die denkerisches Format hatte. Wie der Philosoph „mit seinem Verstand vielleicht am wahrsten und vollkommensten das Wesen des Göttlichen erklärt und verkündet“495, so verkündet der Missionar und Gottes-Denker Paulus den endgültigen Heilsratschluss Gottes in Jesus Christus. Der antike griechische Mensch geht (wie der moderne Mensch) von der Überzeugung aus, dass er aus eigener Kraft durch sein Denken und Handeln seine Lebensbestimmung erreichen kann496. Paulus entwirft ein anderes, neues Bild: Alle Attribute, die Menschen in der Regel ihrer eigenen Subjektivität zuschreiben, werden von Paulus Gott zugeschrieben: Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit und Sinn. Allein Gott als Grund der Externität menschlicher Existenz vermag die Freiheit und Würde des menschlichen Subjekts zu begründen und zu bewahren. Für Paulus wird so das ‚für uns‘ in Jesus Christus erworbene Heil zur Grundformel der theologischen Grammatik. Hier sind Paulus und alle antiken Denker grundlegend verschieden; der Philosoph propagiert die selbst zu realisierende Autonomie, der Apostel hingegen die geschenkte Autonomie.
493 Vgl. E. P. SANDERS, Paulus (s. o. 6), 167f, der zu-
treffend betont, dass Paulus in seinem Denken von unverrückbaren Prinzipien geleitet war. 494 Dieser Aspekt wird von H. RÄISÄNEN nicht beachtet, wenn er feststellt: „it is a fundamental mistake of much Pauline exegesis in this century to have portrayed Paul as ‚the prince of thinkers‘ and the Christian ‚theologian par excellence‘ “ (ders., Paul and the Law [s. o. 6.5.3], 266f). Paulus war ein origineller Denker, denn sein Werk besitzt trotz der erwähnten
Probleme Systemqualität, die von Räisänen nicht erfasst wird. Zum Problem der Logik des paulinischen Denkens vgl. M. MAYORDOMO, Argumentiert Paulus logisch?, WUNT 188, Tübingen 2005. 495 Dio Chrys, Or 12,47. 496 Mus, Diatr 2: „Von Natur aus sind wir Menschen alle so veranlagt, dass wir frei von Verfehlungen (anamartv´twß) und tugendhaft leben könnten; jeder hat diese Möglichkeit“; vgl. dazu M. POHLENZ, Der hellenische Mensch, Göttingen 1947, 304. 345 u. ö.
7
Die dritte Transformation: Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
Zwischen 60 und 70 n. Chr. kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte. Sowohl Probleme der internen Glaubenslogik als auch äußere Einflüsse führten dazu, dass eine literarische und theologische Neuorientierung vorgenommen werden musste.
7.1
Der Tod von Gründergestalten
Drei der wichtigsten Gestalten des frühen Christentums starben fast gleichzeitig kurz vor dem jüdischen Krieg als Märtyrer: Der Herrenbruder Jakobus starb 62 n. Chr. in Jerusalem, Paulus und Petrus 64 n. Chr. wahrscheinlich in Rom. Ihr Tod stellte für das Selbstverständnis der Christenheit eine deutliche Zäsur dar, die sich auch literarisch niederschlug. An die Stelle der Augen- und Erscheinungszeugen (vgl. 1Kor 15,3ff) und des persönlichen Wirkens der Apostel für die Verbreitung des Christentums tritt nun die schriftliche Formulierung in der Form der neuen Literaturgattung Evangelium und der pseudepigraphischen Briefe (Deuteropaulinen, Apostelbriefe unter den Namen von Petrus, Jakobus und Judas). Mit der literarischen Form des Evangeliums und der Abfassung theologischer Schriften unter der pseudonymen Autorität der Apostel verbindet sich ein bestimmtes geschichtliches Bewusstsein: Die Zeit der Augen- und Erscheinungszeugen ist endgültig vorüber, so dass die JesusChristus-Geschichte in neuer Form bleibend dargeboten werden muss, um auch in Zukunft rezipierbar zu bleiben. Zugleich gilt es, die ersten Zeugen als Identifikationsfiguren und Mittlergestalten in der Zeit der Krise weiterhin in der Form pseudepigraphischer Schreiben in Anspruch zu nehmen und so die Geschichte des frühen Christentums in ihrem Sinn zu gestalten. Petrus und Paulus
Simon (Petrus) gehörte mit seinem Bruder Andreas zu den ersten Jüngern (vgl. Mk 1,16–20; Joh 1,41f) und war sowohl innerhalb des Jüngerkreises Jesu als auch der frühen Urgemeinde eine anerkannte Führungspersönlichkeit1. Das MessiasbekenntZu Petrus vgl. zuletzt CHR. BÖTTRICH, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär, Leipzig 2001; M. HENGEL, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006. 1
336 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
nis (Mk 8,27–30), der Symbolname ‚Petrus‘ („edler Stein“; vgl. Mk 3,13–16) und die eschatologische Verheißung in Mt 16,18f lassen deutlich seine Sonderstellung erkennen, die auch durch das Versagen bei der Passion Jesu (vgl. Mk 14,54.66–72) nicht aufgehoben wurde. Petrus zählte zu den maßgeblichen Auferstehungszeugen (vgl. 1Kor 15,5; Mk 16,7; Lk 24,34) und wurde der erste Leiter der Urgemeinde (vgl. Gal 1,18; Apg 1,15; 2,14 ff.38 ff.; 3,1ff u. ö.). Er verließ Jerusalem im Rahmen der Verfolgung unter Herodes Agrippa I. (vgl. Apg 12,17) und wurde allmählich ein Exponent der beschneidungsfreien Mission (vgl. Gal 2,11f; Apg 10,1–11,18). Schließlich missionierte er im paulinischen Gemeindekreis (vgl. 1Kor 1,12; 9,5)2 und kam in diesem Kontext wahrscheinlich auch nach Rom, wo er starb3. Paulus wollte nach Röm 15,22–33 von Korinth aus die Kollekte in Jerusalem überbringen, um dann nach Rom zu fahren, wo er sich von der dortigen Gemeinde Unterstützung für seine Spanienmission erhoffte4. Lukas berichtet ausführlich über den Aufenthalt des Paulus in Jerusalem, seine Gefangenschaft und die sich daran anschließende Romreise (vgl. Apg 21,15–28,31), zugleich liegen viele Ereignisse dieses Zeitabschnitts im Dunkeln. Theologisch und historisch bedeutsam ist das offene Ende der Apostelgeschichte. Obwohl Paulus der heimliche und ab Kap. 15 der offenkundige Held des gesamten Werkes ist, verbleibt sein Ende im Ungewissen. Lukas weiß vom eigentlichen Zweck der letzten Jerusalemreise des Paulus (vgl. Apg 24,17) und blickt bereits in Apg 20,24.25 auf dessen Tod, ohne jedoch beides ausdrücklich zu erwähnen. Historisch geht aus Röm 16 deutlich hervor, dass Paulus viele römische Gemeindeglieder kannte. Dennoch kommt es zu keiner wirklichen Begegnung zwischen Paulus und der römischen Gemeinde (vgl. Apg 28,16). Stattdessen nimmt Paulus – wie immer in der Apostelgeschichte – zunächst Kontakt mit der ortsansässigen Synagoge auf (vgl. Apg 28,17ff). Erst die Ablehnung seiner Botschaft bringt Paulus dazu, sich auch in Rom den Heiden zuzuwenden. So entsteht der Eindruck, erst Paulus habe eine christliche Gemeinde in Rom gegründet, obwohl in Apg 28,15 der nichtpaulinische Ursprung der römischen Gemeinde vorausgesetzt wird. Was veranlasste Lukas zu dieser Darstellung? Man wird vermuten dürfen, dass er für diesen Abschnitt des paulinischen Wirkens nur über wenige historisch zuverlässige Traditionen verfügte5. Hinzu kommt die im gesamten lukanischen Doppelwerk zu beobach-
Vgl. hier M. KARRER, Petrus im paulinischen Gemeindekreis, ZNW 80 (1989), 210–231. 3 1Klem 5,2–4 berichtet darüber: „Wegen Eifersucht und Neid sind die größten und gerechtesten Säulen verfolgt worden und haben bis zum Tod gekämpft. Halten wir uns die tapferen Apostel vor Augen: Petrus, der infolge von ungerechtfertigter Eifersucht (zv˜lon adikon) nicht eine oder zwei, sondern viele verschiedene Qualen erduldete und, nachdem 2
er so seinen Glauben bezeugt hatte, an den verdienten Ort der Herrlichkeit gelangte.“ 4 Zum Ende des Paulus vgl. F.W. HORN (Hg.), Das Ende des Paulus, BZNW 106, Berlin 2001; H. OMERZU, Der Prozeß des Paulus, BZNW 115, Berlin 2002; U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 399–406.425–431. 5 Vgl. H. OMERZU, Das Schweigen des Lukas, in: F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus, 151–156, die als Traditionskern Apg 28,16.23.30f ansieht.
Der Tod von Gründergestalten 337
tende Tendenz, die Römer von jeder Mitschuld am Tod Jesu oder einer Behinderung der Mission freizusprechen (s. u. 8.4). Deshalb dürfte Lukas auch die Verurteilung des Paulus in Rom verschwiegen haben, obwohl er um den Tod des Apostels wusste (vgl. Apg 19,21; 20,23–25; 21,11). Historisch zuverlässig kann nur so viel gesagt werden: Paulus gelangte mit einem Gefangenentransport nach Rom, wo er trotz seiner Haft missionarisch wirken konnte. Dabei erscheint Paulus als ein einsamer Mann, der von der römischen Gemeinde in keinerlei Weise unterstützt wird und mit nur mäßigem Erfolg bei den Juden missioniert. Diese Situation entspricht der in 2Tim 4,10–16 überlieferten Personaltradition, die sich mit Apg 28,16–31 in einem entscheidenden Punkt trifft: Paulus ist von seinen Mitarbeitern im Stich gelassen worden, nur noch Lukas ist bei ihm! Auch wenn die Traditionsstränge Apg und 2Tim im Einzelnen sehr verschieden argumentieren, treffen sie sich darin, dass Paulus keinerlei Unterstützung von seinen Mitarbeitern und sehr wahrscheinlich von der römischen Gemeinde erhielt. Die Betonung der Eifersucht und des Streites in 1Klem 5,4– 5 bestätigt dieses Bild6; die Streitigkeiten um die Person des Paulus zwischen Christen jüdischer und griechisch-römischer Herkunft bzw. Christen und Juden hielten auch in Rom an. Allein gelassen starb Paulus wahrscheinlich im Rahmen der neronischen Verfolgung (vgl. dazu Tac, Ann XV 44,2–5; Suet, Nero 16,2). Jakobus
Der Herrenbruder Jakobus war neben Petrus, Maria Magdalena und Paulus einer der Personen, von denen eine anerkannte Sonderoffenbarung des Auferstandenen berichtet wird (vgl. 1 Kor 15,7: „erschien er Jakobus, dann allen Zwölfen“). In der Anfangszeit der Urgemeinde tritt er noch nicht in den Vordergrund, erst nach der Ausweisung der Hellenisten aus Jerusalem (vgl. Apg 8,1ff) wird Jakobus als leiblicher Bruder des Herrn und Vertreter einer toratreuen Linie zu einer beherrschenden Gestalt innerhalb des Urchristentums. Beim ersten Jerusalembesuch des Apostels Paulus im Jahr 35 n. Chr. ist offenbar Petrus der Leiter der Urgemeinde (vgl. Gal 1,18). Der Apostelkonvent im Jahr 48 n. Chr. zeigt eine veränderte Situation, zu den Säulen in Jerusalem zählen nach Gal 2,9 Jakobus, Kephas und Johannes, d. h. Jakobus ist nun die entscheidende Persönlichkeit. Dies dürfte auch durch den Weggang des Petrus aus Jerusalem veranlasst worden sein, denn nach Apg 12,17f floh Petrus vor den Nachstellungen des Herodes Antipas aus Jerusalem. Zudem dürfen bei Jakobus und Petrus unterschiedliche theologische Positionen vermutet werden. Petrus öffnete sich schon sehr früh der Heidenmission, während Jakobus offenbar eine streng ju6 Vgl. 1Klem 5,5–7: „Infolge von Eifersucht und Neid (dia` zv˜lon kai` erin) ließ Paulus den Siegeslohn für seine Standhaftigkeit sehen. Siebenmal in Ketten gelegt, vertrieben, gesteinigt empfing er als Herold im Osten wie im Westen den edlen Ruhm für seinen Glauben. Gerechtigkeit lehrte er die ganze Welt und
kam bis an die Grenzen des Westens und bezeugte seinen Glauben vor den Herrschenden, so schied er aus der Welt und gelangte an den heiligen Ort, nachdem er das größte Beispiel der Standhaftigkeit geworden war.“
338 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
denchristliche Position vertrat, die sich nach dem Apostelkonzil auch gegen die beschneidungsfreie paulinische Mission wandte. Die Gesetzestreue des Jakobus wird nicht nur in der nachneutestamentlichen christlichen Literatur betont7, sondern auch im Bericht des Josephus über das Martyrium des Jakobus (Ant 20,197–203). Josephus überliefert, dass während des Machtvakuums zwischen dem Tod des Festus und dem Amtsantritt seines Nachfolgers der sadduzäische Hohepriester Ananus, Sohn des Hannas der Evangelien, gegen Jakobus und andere Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde vorging. Ananus d. J. ließ vermutlich im Jahr 62 n. Chr. das Synedrium einberufen und Jakobus sowie andere Judenchristen wegen des Bruchs der Tora zum Tod durch Steinigung verurteilen8. Dieses von der sadduzäischen Mehrheit beschlossene Urteil rief den entschiedenen Widerspruch der Pharisäer hervor, die schließlich erfolgreich beim römischen Stadthalter Albinos intervenierten. Obwohl der Herrenbruder Jakobus sich vom Missionskonzept des Paulus getrennt hatte, gelang es ihm nicht mehr, in einer Phase des zunehmenden Nationalismus innerhalb breiter Teile des Judentums die Urgemeinde zu retten.
7.2
Die Verzögerung der Parusie
Der Tod von Gründergestalten erforderte eine Neubearbeitung der Frage nach der personalen und der kommunikativen Verbindung zum Ursprungsgeschehen. Mittelbar verband sich damit ein zweites Problem, das ebenfalls eine zeitliche und eine sachliche Dimension aufwies: die Verzögerung der erwarteten Parusie Jesu Christi9. Innerhalb des frühen Christentums entwickelte sich sehr schnell eine einheitliche eschatologische Grundperspektive: Die Auferweckung Jesu Christi von den Toten und die Geisterfahrungen machten die Glaubenden gewiss, dass er als ‚Sohn‘ (vgl. 1Thess 1,9f), ‚Herr‘ (vgl. Phil 4,5; Apk 22,20) oder ‚Menschensohn‘ (vgl. Mk 8,38; 13,24–27; 14,62; Mt 10,23; Lk 18,8 u. ö.) in Kürze wiederkommen wird (1Kor 16,22: mara´na ha´ = „Unser Herr, komm!“), um Gericht zu halten. Seine Offenbarung steht kurz bevor (vgl. 1Thess 5,23; 1Kor 1,7; 15,23) und bestimmt das Denken und Handeln der Christen. Zugleich stellte die Dehnung der Zeit die frühen Christen vor eine erhebli7 In EvThom 12 erscheint er als ‚Jakobus der Gerechte‘ (vgl. ferner Euseb, HE II 1,3 u. ö.); zur Analyse der Jakobustraditionen vgl. M. HENGEL, Jakobus der Herrenbruder – der erste „Papst"?, in: ders., Jakobus der Herrenbruder, Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 549–582; W. PRATSCHER, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987. 8 Vgl. Jos, Ant 20,200: „Er versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor ihn den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird (to`n adel-
fo`n LIvsou˜ tou˜ legome´nou Cristou˜), mit Namen Jakobus und noch einige andere, die er der Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ.“ 9 Zur Parusieverzögerung im frühen Christentum vgl. W.G. KÜMMEL, Verheißung und Erfüllung, AThANT 6, Zürich 31956; E. GRÄSSER, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte (s. u. 8.4.8); G. STRECKER, Theologie, 345–354; K. ERLEMANN, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, TANZ 17, Tübingen 1995.
Die Verzögerung der Parusie 339
che Denk- und Interpretationsarbeit, denn die Gewissheit und das Ausbleiben des baldigen Kommens des Herrn mussten zugleich erklärt und geglaubt werden. Bei Paulus ist die unmittelbare Parusienaherwartung der durchgehende Horizont seiner Eschatologie (s. o. 6.8); bis zum Ende seines Lebens war die bevorstehende Ankunft des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus (vgl. Phil 4,5: „Der Herr ist nahe“) ein prägendes Element seiner Sinnwelt. Alles in der Schöpfung bewegte sich darauf hin, und Paulus sah sich selbst an der Spitze dieser Bewegung. Zugleich lassen sich bereits bei ihm Ansätze zu einem Verzögerungsbewusstsein feststellen: 1) Der unerwartete Tod von Gemeindegliedern vor der Parusie zwingt Paulus zu einer Erweiterung des eschatologischen Fahrplans in 1Thess 4,13–18. 2) Mit der anhaltenden Dehnung der Zeit verbindet sich eine Veränderung der Stellung des Apostels im Endgeschehen. Während er in 1Thess 4, 17; 1Kor 15,51 die Entrückung bzw. Verwandlung noch zu seinen Lebzeiten erwartet, lassen 2Kor 5,1–10 und vor allem Phil 1,21–23 deutlich erkennen, dass er nun seinen Tod vor der Parusie für möglich hält. 3) Der Komparativ eggu´teron („näher“) in Röm 13,11 zeugt von dem einsetzenden Bewusstsein, dass die Parusie des Herrn sich verzögert: „unsere Rettung ist jetzt näher als zu der Zeit, als wir zum Glauben kamen“. In der Logienquelle zeigt sich einerseits eine gespannte Erwartung des nahen Gottesreiches (vgl. Q 11,2–4), zugleich wird aber auch hier die Parusieverzögerung thematisiert (s. u. 8.1.8). Im Gleichnis vom treuen und untreuen Sklaven (Q 12,42–46) wird in V. 45 festgestellt: „Wenn aber jener Sklave in seinem Herzen sagt: Mein Herr lässt sich Zeit (cronı´zei) und anfängt, seine Mitsklaven zu schlagen . . .“ Das Motiv der zeitlichen Unbestimmtheit dominiert auch im Gleichnis vom anvertrauten Geld: „Ein Mensch, der auf Reisen gehen wollte, rief zehn seiner Sklaven . . . [Nach langer Zeit] kommt der Herr jener Sklaven und hält Abrechnung mit ihnen“ (Q 19,12.15). Q 17,23 warnt vor falschen Prophezeiungen zum Kommen des Menschensohnes und fordert die Glaubenden auf: „Folgt ihnen nicht!“ Damit verbinden sich die Motive der Unbestimmtheit und Wachsamkeit: „Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis in den Westen leuchtet, so wird der Menschensohn an seinem Tag sein“ (Q 17,24). Markus integriert die Parusienaherwartung in einen eschatologischen Fahrplan (s. u. 8.2.8), um so gleichermaßen an der Gewissheit und zeitlichen Unbestimmtheit des nahen Kommens des Menschensohnes festzuhalten (vgl. Mk 13,24–27). Er verbindet durch die Tempelzerstörung die Endzeiterwartungen mit einem innergeschichtlichen Ereignis (vgl. Mk 13,2ff), zugleich löst er sie aber von der Ereignisgeschichte, weil nur Gott um den Termin des Kommenden weiß (vgl. Mk 13,27). An Markus wird deutlich, dass die Parusieverzögerung nicht Ent-Eschatologisierung bedeuten muss, denn es verbindet sich bei ihm eine Intensivierung der Erwartung (vgl. Mk 13,14.17.18.30: „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht“), mit einem deutlichen Verzögerungsbewusstsein (vgl. Mk 13,10 [„Und zuvor muss unter allen Völkern das Evangelium verkündigt werden“] 21.33–36). Die Intensivie-
340 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
rung der Naherwartung war eine Möglichkeit, die Dehnung der Zeit zu bearbeiten und das Erwählungsbewusstsein der Gemeinde zu stärken (vgl. Mk 13,20), d. h. Naherwartung und Verzögerungsbewusstsein sind um 70 n. Chr. keine Gegensätze10. In den eschatologischen Konzepten mussten Erwartung und Wirklichkeit in ein sinnvolles Verhältnis zueinander gebracht werden, so dass die Nähe des Endes und die Ferne des neuen Anfangs – noch – keinen Gegensatz darstellten.
7.3
Der Untergang des Tempels und der Urgemeinde
Der Verlust eines zentralen Tempels als Ort religiöser und politischer Identität war in der Antike immer ein einschneidendes Ereignis11. Die fast vollständige Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n. Chr. führte das antike Judentum in eine tiefgreifende Krise12 und war auch für das frühe Christentum von großer Bedeutung. Nicht nur die Urgemeinde, sondern die gesamte neue Bewegung verlor ein zentrales Bindeglied zu ihrer Ursprungsgeschichte. Jesus von Nazareth hatte sich gegen eine Kommerzialisierung des Tempelkultes gewandt (vgl. Mk 11,15–19), stellte aber nicht den Tempel infrage. Für die Urgemeinde war der Tempel selbstverständlicher Ort ihrer Zugehörigkeit zum Judentum sowie ein Zentrum ihres spirituellen Lebens und ihrer Verkündigung (vgl. Apg 2,46; 3,1.8; 5,20.25; 21,26 u. ö.). Dieser Verlust wurde vor allem auf zwei Ebenen verarbeitet: 1) Die Integration der Tempelzerstörung in einen eschatologischen Fahrplan (vgl. Mk 13,2ff) verband das Geschehen gleichermaßen mit dem Willen Gottes und den eigenen Endzeiterwartungen. 2) Jesus Christus wird selbst als der neue Tempel verstanden, der in drei Tagen auferbaut wurde (vgl. Mk 14,58). Damit knüpft das frühe Christentum an eine breite Strömung innerhalb des Hellenismus an, die eine wahre Verehrung des Gottes/der Götter von religiösen Zentren löste13. Mit dem Tempel ging in den Wirren des jüdischen Krieges und der Eroberung Jerusalems wahrscheinlich auch die Urgemeinde unter. Direkte Zeugnisse darüber liegen nicht vor, lediglich Euseb, HE III 5,3, berichtet vom Schicksal der Jerusalemer14: „. . . als endlich
10 Zu den eschatologischen Konzeptionen von Matthäus und Lukas s. u. 8.3.8 bzw. 8.4.8. 11 Vgl. dazu für den griechischen Bereich F. TEICHMANN, Der Mensch und sein Tempel, Darmstadt 3 2003; für die jüdische Tempeltheologie mit ihrem Heiligkeits- und Reinheitskonzept vgl. H. SCHWIER, Tempel und Tempelzerstörung, NTOA 11, Fribourg/ Göttingen 1989, 55ff; vgl. ferner B. EGO/A. LANGE/ P. PILHOFER (Hg.), Gemeinde ohne Tempel. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer
Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, WUNT 118, Tübingen 1999. 12 Zur Ereignisabfolge des jüdischen Krieges vgl. H. SCHWIER, Tempel und Tempelzerstörung, 4–54. 13 Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 226–234. 14 Zum Verhältnis vergleichbarer Nachrichten und konkurrierender Traditionen bei anderen Kirchenvätern zu Euseb vgl. G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o. 6), 269–274.278–281.
Der Aufstieg der Flavier 341
die Gemeinde in Jerusalem in einer Offenbarung, die ihren Führern zuteil geworden war, die Weissagung erhalten hatte, noch vor dem Krieg die Stadt zu verlassen und sich in einer Stadt Peräas, namens Pella, niederzulassen . . . .“ Danach hätte die Urgemeinde den Untergang Jerusalems in relativer Sicherheit überlebt. Gegen die Historizität dieser Pella-Tradition sprechen jedoch gewichtige Gründe15: 1) Sie ist jungen Datums und findet sich nur bei einem Traditionsträger. Das Schicksal der Urgemeinde war im frühen Christentum von allgemeinem Interesse; hätte man darüber Informationen gehabt, so wären sie früher und von mehreren Autoren überliefert worden. 2) Pella war eine heidnische Stadt, die zudem nach Josephus16 zu Beginn des jüdischen Krieges zerstört wurde. Sollten die strengen Judenchristen Jerusalems in eine heidnische Stadt geflohen sein? 3) Das faktische Verschwinden der Urgemeinde (nicht des Judenchristentums!) nach 70 n. Chr. spricht gegen die Vermutung, die Urgemeinde habe die Zerstörung Jerusalems überlebt. 4) Die Pella-Tradition lässt sich als Lokaltradition einer judenchristlichen Gemeinde in Pella erklären, die sich – wahrscheinlich im 2. Jh. n. Chr. – auf die Urgemeinde zurückführte. Der Tod des Herrenbruders Jakobus zeigt, dass die Urgemeinde schon vor Beginn des Krieges in das Fadenkreuz nationalistischer Kreise geriet. Nimmt man das radikale Vorgehen dieser Kreise zu Beginn des Krieges gegen mögliche oder wirkliche jüdische Abweichler hinzu17, dann ist der Schluss unausweichlich: Die Urgemeinde ging in den Wirren des Krieges unter und hatte seitdem keinerlei Einfluss mehr auf die Geschichte des frühen Christentums. Zwar existierten judenchristliche Gruppen weiter18, sie verloren aber mit der Urgemeinde ihren natürlichen Bezugspunkt, so dass die städtischen Gemeinden Kleinasiens, Griechenlands und Italiens immer mehr an Bedeutung gewannen.
7.4
Der Aufstieg der Flavier
Im Jahr 68 n. Chr. beging Nero Selbstmord und mit ihm starb das letzte männliche Mitglied der julisch-claudischen Familie, die sich direkt auf Cäsar zurückführte. Zunächst wurde Galba Kaiser, der bereits sehr alt war und über keinen Nachfolger aus der eigenen Familie verfügte. Anfang 69 n. Chr. kam es zu ersten Aufständen von unzufriedenen Legionen in Germanien, die Vitellius zum Kaiser ausriefen. Gegen Galba erhob sich auch sein ehemaliger Gefolgsmann Otho, und bei diesem Putsch 15 Vgl. dazu ausführlich G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o.
16 Jos, Bell II 458.
6), 275–286. Für die Historizität der Pella-Tradition plädiert hingegen J. WEHNERT, Die Auswanderung der Jerusalemer Christen nach Pella – historisches Faktum oder theologische Konstruktion?, ZKG 102 (1991), 231–255 (Auswanderung der Jerusalemer Christen im Vorfeld des Jüdischen Krieges).
17 Vgl. z. B. Jos, Bell II 562. 18 Vgl. G. STRECKER, Art. Judenchristentum, TRE 17, Berlin 1988, 310–325.
342 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
kam Galba ums Leben. Die folgende Entscheidungsschlacht verlor Otho, der sich daraufhin das Leben nahm, so dass Vitellius alleiniger Herrscher wurde. Anhaltende Unruhen in den einzelnen Heeren und die nur wenig überzeugende Herrschergestalt des Vitellius führten dazu, dass es im Juni 69 n. Chr. im Orient zur Ausrufung des Vespasian zum Kaiser kam, der vor allem vom ägyptischen Präfekten Iulius Alexander und dem syrischen Statthalter Mucianus unterstützt wurde. Nach einer Reihe von Wirrnissen und Kämpfen gelang es schließlich den Truppen Vespasians, auch in Rom die Herrschaft zu übernehmen, wobei Vitellius ums Leben kam. Vespasian entstammte keiner alteingesessenen Familie19 und musste seinen Herrschaftsanspruch legitimieren. So verlieh er seiner Herrschaft religiöse Dimensionen und stilisierte sich zu dem seit langem erwarteten Herrscher aus dem Orient. Sowohl Tacitus20 als auch Sueton21 belegen diese Tradition, wonach die in Judäa siegreichen Vespasian und Titus die Inkarnation jener Voraussagen waren, die die Juden auf sich selbst bezogen. Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext Flavius Josephus, der als Propagandist der von der Vorsehung bestimmten Rolle des Vespasian auftrat. Er behauptete, als Gefangener Vespasian die Weltherrschaft vorausgesagt zu haben (vgl. Bell 3,399–408; 4,622–629; Suet, Vesp 5,6; Dio Cass 65 1,4), und den Herrschaftsantritt Vespasians stellte er in einen religiösen Kontext, indem er ihn mit dem Begriff euagge´lia („segensreiche Botschaften“) verband22. Die Stilisierung Vespasians 19 Vgl. Suet, Vesp 1: „Lange war durch die bewaffnete Revolte dreier Kaiser und deren Ermordung die Herrschaft umstritten und sozusagen schwankend gewesen; da übernahm sie das Geschlecht der Flavier und stellte sie endlich auf eine feste Grundlage. Die Anfänge desselben lagen zwar im dunkeln, und dazu fehlte es ihm noch an Ahnenbildern, aber dennoch sollte das Gemeinwesen sich seiner nicht schämen müssen, wenn auch bekannt ist, dass Domitian für seine Habgier und Grausamkeit zu Recht gebüßt hat.“ Zu den Flaviern vgl. H. BELLEN, Grundzüge der römischen Geschichte II, Darmstadt 1998, 81–115. 20 Tac, Hist V 13,1.2, im Kontext der Eroberung des Jerusalemer Tempels: „(1) Es waren Vorzeichen (prodigia) geschehen; doch sie durch Opfer und Gelübde zu entsühnen, hält das dem Aberglauben ergebene, heiligen Bräuchen abholde Volk für nicht erlaubt. Man sah am Himmel Schlachtreihen aufeinanderprallen, rot leuchtende Waffen und in plötzlichem Feuerschein der Wolken den Tempel aufleuchten. Plötzlich sprang das Tor des Heiligtums auf, und man hörte eine übermenschliche Stimme: „Die Götter ziehen aus“ – und zugleich gewaltiges Getöse des Auszuges. (2) Das deuteten nur wenige als furchterregend, die Menge war überzeugt, in den alten Priesterschriften stehe geschrieben, eben zu
dieser Zeit werde die Macht des Orients wachsen und Männer würden aus Judäa hinausziehen und sich der Weltherrschaft bemächtigen. Dieses Rätselwort hatte auf Vespasianus und Titus vorausgewiesen, aber die Menge deutete entsprechend menschlichem Wunschdenken die vom Schicksal verheißene Größe zu ihren Gunsten und ließ sich nicht einmal durch Rückschläge zur Wahrheit bekehren.“ 21 Suet, Vesp 4,5: „Im ganzen Orient war die alte, sich immer noch hartnäckig haltende Meinung verbreitet gewesen, dass man sich einem Schicksalsspruch von Iudaea aus zu eben dieser Zeit der Weltherrschaft bemächtigen werde. Dies war über einen römischen Kaiser geweissagt worden, wie es ja der spätere Verlauf der Ereignisse voll und ganz bestätigt hat; die Juden bezogen den Spruch jedoch auf sich und machten Aufstand.“ Bei Dio Cass 64,9 heißt es über Vespasian: „Auch ihm waren Vorzeichen und Träume zuteil geworden, die ihm schon lange vorher die Herrschaft ankündigten“. 22 Vgl. Jos, Bell 4,618.656 (= NEUER WETTSTEIN II/1 [s. o. 4.5], 9f). Bemerkenswert ist dabei der Zusammenhang zwischen euagge´lia, der Erhebung Vespasians zum Kaiser und der Darbringung von Opfern; zu Josephus vgl. ST. MASON, Flavius Josephus und das Neue Testament, Tübingen 2000.
Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung 343
als Friedensbringer für die Welt (vgl. Tac, Hist IV 3) und der Titusbogen in Rom zeigen, dass die Flavier ihren Sieg gegen die Juden auch in Rom bewusst zu ihrer Selbstdarstellung inszenierten23. Als politisch-religiöse Propaganda sind schließlich die Wunder anzusehen, die Vespasian zugeschrieben wurden24. In Alexandrien soll er kurz nach seinem Herrschaftsantritt einen Blinden bzw. einen Blinden und einen Menschen mit einer verdorrten Hand geheilt haben (vgl. Mk 3,1–6; 8,22–26; 10,46– 52). Er stilisierte sich als lebender Sarapis und wurde als Sohn des Ammon verehrt, des ägyptischen Zeus25. Auch das distanzierte bis ablehnende Verhältnis von Philosophen zu Vespasian weist darauf hin26, dass er den Kaiserkult (s. u. 9.1) bewusst einsetzte, um seine Ansprüche zu sichern. Das Markusevangelium und mit ihm die neue Literaturgattung Evangelium entstand somit in einer Zeit, als andere ‚frohe Botschaften‘ verkündigt wurden, Kaiser als Wundertäter auftraten und sich als Rettergestalten aus dem Orient propagieren ließen. Im Kontext dieser Ansprüche erzählt das Markusevangelium (ebenso wie die übrigen Evangelien) eine andere Rettungsgeschichte, in der ein von den Römern Gekreuzigter als Sohn Gottes, Wundertäter und Messias aus dem Osten auftritt. Die Propaganda der Flavier war sicherlich nicht der auslösende Faktor für die Schaffung der Gattung Evangelium27, wohl aber ein stimulierendes Element, auf das Markus in seiner Erzählung wiederholt bewusst anspielt (vgl. Mk 1,1.11; 9,7; 10,42–45; 15,39)28.
7.5
Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
Es dürfte kein Zufall sein, dass die neue Literaturgattung Evangelium um 70 n. Chr. entstand. Einmal ist die Evangelienschreibung innerhalb bestimmter historischer Rahmenbedingungen das Resultat eines natürlichen Prozesses29. Die vormarkini23 Vgl. dazu S. PANZRAM, Der Jerusalemer Tempel und das Rom der Flavier, in: J. Hahn (Hg.), Zerstörungen des Jerusalemer Tempels, WUNT 147, Tübingen 2002, 166–182. 24 Vgl. Tac, Hist IV 81,1–3; Suet, Vesp 7,2–3; Dio Cass LXVI 8,1 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 480f); vgl. ferner Jos, Ant 8,46–48. Zum Kaiser als Heiler und Wundertäter vgl. M. CLAUSS, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart/ Leipzig 1999, 346–352. 25 Vgl. Papyrus Fouad 8; ferner M. CLAUSS, Kaiser und Gott, 113–117. 26 Vgl. dazu Suet, Vesp 13.15; Tac, Hist IV 5,1.2. 27 Anders G. THEISSEN, Evangelienschreibung und Gemeindeleitung (s. u. 8.2), 394–399, der Markus ausdrücklich als „Anti-Evangelium“ bezeichnet: „Der Mk-Evangelist schreibt in dieser Situation ein
Anti-Evangelium zu den euagge´lia vom Aufstieg der flavischen Dynastie“ (a. a. O., 397). Vorsichtiger H. BELLEN, Grundzüge, 95: „Das Christentum trat in der Flavierzeit erstmalig literarisch in Erscheinung – mit einer eigenen Gattung: den Evangelien.“ 28 Vgl. dazu umfassend E.-M. BECKER, Der jüdischrömische Krieg (66–70 n.Chr.) und das MarkusEvangelium, in: dies. (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, BZNW 129, Berlin 2005, 213–236. 29 Diese Einsicht findet sich bereits in der frühen formgeschichtlichen Forschung; vgl. M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 61971; R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970; K. L. SCHMIDT, Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte, in: ders., Neues Testament – Juden-
344 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
schen Sammlungen (Mk 2,1–3,6; 4; 10; 13) und die Passionsgeschichten bezeugen die stoffimmanente Tendenz zur Bildung größerer Textkomplexe, und die Logienquelle sowie Lk 1,1 bestätigen ausdrücklich Vorstufen der Evangelienschreibung. Markus als Schöpfer der Gattung Evangelium steht somit in einem bereits vor ihm einsetzenden Prozess. Zudem erforderten die schwindende unmittelbare Parusie-Naherwartung, die vielfältigen theologischen Strömungen des 1. Jh. und die konkreten Fragen christlicher Ethik eine Neuorientierung in Zeit und Geschichte. Die Evangelisten bewältigten diese Probleme besonders durch die Aufnahme heilsgeschichtlicher Traditionen, die Ausarbeitung praktikabler ethischer Normen und die Einführung ordnender und weisender Instanzen in den Gemeinden. Die Tendenzen zur Historisierung, Ethisierung und Institutionalisierung des Traditionsstoffes liegen bei Matthäus und Lukas offen zutage, sind aber auch schon bei Markus deutlich erkennbar30. Damit entspricht der literarische Charakter der Evangelien ihrer Funktion im innerkirchlichen Gebrauch als Grundlage in der Verkündigung, im Gottesdienst, der Katechese und der Steuerung innergemeindlicher Prozesse31. Diese natürliche und durch die Dehnung der Zeit unausweichliche Entwicklung wurde durch den Tod der Gründergestalten, die Christenverfolgung in Rom, den Verlust des Tempels und der Urgemeinde sowie die religiös-politische Propaganda der Flavier verstärkt. Das frühe Christentum stand vor der Aufgabe, gleichermaßen die Kontinuität zu den Anfängen und eine Bearbeitung dieser aktuellen Probleme zu leisten. Die neue Literaturgattung Evangelium präsentierte erstmals eine biographisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte und bewahrte so als Gedächtnis des frühen Christentums die Jesusüberlieferungen vor dem Verschwinden im Dunkel der Geschichte. Darüber hinaus kommt den Evangelien aus pragmatischer Perspektive eine integrative und innovative Funktion zu. Die Evangelisten schreiben als Mitglieder einer Gruppe und mussten mit den vorhandenen Gemeindetraditionen ein Jesusbild entwerfen, das den Überzeugungen der Gemeinde entsprach32. Dabei besteht tum – Kirche, TB 69, München 1981 (= 1923), 37– 130. 30 Diese Einsichten der redaktionsgeschichtlichen Fragestellung bündelt G. STRECKER, Redaktionsgeschichte als Aufgabe der Synoptikerexegese, in: ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 9–32. 31 Die pragmatischen Aspekte der Evangelienschreibung betont G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/ Göttingen 1989. 32 Völlig anders R. BAUCKHAM, For whom were Gospels written?, in: ders. (Hg.), The Gospels for all Christians, Grand Rapids 1998, 9–48. Im Gegensatz zur klassischen Redaktionsgeschichte sieht er die Evangelisten nicht als Exponenten ihrer Gemeinde/
Gemeinden, sondern: „The evangelists, I have argued, did not write for specific churches they knew or knew about, not even for a large number of such churches. Rather, drawing on their experience and knowledge of several or many specific churches, they wrote for any and every church to which their Gospels might circulate“ (a. a. O., 46). Als Begründung verweist Bauckham vor allem auf die hohe Mobilität frühchristlicher Missionare/Evangelisten und die Schwierigkeiten, die vorausgesetzten Gemeinden der einzelnen Evangelisten zu rekonstruieren. An den Evangelientexten lassen sich die sehr allgemein gehaltenen Vermutungen Bauckhams nicht verifizieren. Dagegen spricht vor allem 1) das je eigene erzählerische und theologische Profil der
Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung 345
ihre besondere Integrationsleistung in der Zusammenführung in sich widersprüchlicher oder spannungsreicher Gemeindetraditionen über Jesus (z. B. Herrlichkeits- und Kreuzestheologie/Partikularismus – Universalismus). Eine wesentliche Funktion der Evangelienschreibung besteht in der Konsensbildung, die eine Voraussetzung für das Überleben in einer krisenhaften Situation ist. Das innovative Potential der Evangelien zeigt sich vor allem auf Deutungs- und Handlungsebenen, die für die Außen- und Innenperspektive entwickelt werden mussten. Die Evangelien entwerfen ein Bild von der Umwelt und der eigenen Position in ihr, das zu einer Selbstdefinition führt und Orientierung bietet. Dabei ist die Abgrenzung gegenüber der Herkunftsreligion von grundlegender Bedeutung. Weil das frühe Christentum als eine innerjüdische Erneuerungsbewegung entstand, war es notwendig, die Gründe für die Trennung plausibel darzustellen. Mit der Evangelienschreibung gibt sich die neue Bewegung eine eigene Grunderzählung und scheidet endgültig aus der Erzählgemeinschaft des Judentums aus. In der Innenperspektive mussten Modelle für das Zusammenleben und das Zusammenbleiben verschiedener Strömungen entwickelt werden. Das Verhältnis von Christen aus jüdischer und aus griechisch-römischer Tradition galt es ebenso zu regeln wie das Verhältnis von Armen und Reichen, Mann und Frau, geistbegabten und ‚normalen‘ Christen. Alle Evangelien geben als Erzählungen Impulse, um das Zusammenleben verschiedener Gruppen in der Gemeinde zu ermöglichen. Zudem mussten Normen für neue Autoritätsstrukturen und Leitungsämter etabliert werden, denn mit der Gattung Evangelium verloren die stark der mündlichen Tradition verpflichteten Wandercharismatiker an Einfluss. Die Ortsgemeinden wurden mit dem Evangelium zu Trägern und Interpreten der Jesusüberlieferung. Die Entstehung und Verbreitung der Evangelien wurde durch zwei Faktoren begünstigt: 1) Die frühen Christen waren eine überwiegend zweisprachige Bewegung, so dass die Evangelien fast im gesamten Imperium Romanum und von sehr verschiedenen Bildungsschichten rezipiert werden konnten33. 2) Im 1. Jh. n. Chr. gewann der Kodex sehr an Bedeutung, denn gegenüber der Rolle hatte er besonders bei langen Texten große Vorteile34. Rom scheint ein Zentrum dieser Entwicklung gewesen zu sein35, und man
Evangelien, die deutlich erkennen lassen, dass 2) jeder Evangelist über eine eigene Sprache, Bildwelt, einen Entwurf von Theologie und über Problembewältigungsstrategien verfügt, die gerade nicht auf alle Fragen eine Antwort gaben und auch nicht dafür gedacht waren, sich das herauszunehmen, was einem gerade gefällt. 3) Die Evangelien zielen auf eine Stärkung der entstehenden frühchristlichen Identität; eine generelle Identitätsbildung hat es aber weder in der Antike noch in späteren Epochen gegeben. Sie gelingt nur, wenn man die spezifischen Fragen und Probleme der potentiellen Leser/Hörer kennt und auf sie eingeht.
33 Vgl. dazu für die pagane Literatur E. FANTHAM, Literarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius, Stuttgart/Weimar 1998. Die frühchristliche Literatur müsste im Rahmen einer gesamtantiken Literaturgeschichte m.E. eine Neubewertung erfahren, denn sie gehört keineswegs zur ‚Kleinliteratur‘, wie die ältere Formgeschichte meinte. 34 Vgl. hier TH. BIRT, Das antike Buchwesen, Aalen 1974 (= 1882), 371ff; D. TROBISCH, Die Endredaktion des Neuen Testaments, NTOA 31, Fribourg/Göttingen 1996, 106–124. 35 Vgl. Mart, Epigramme 1,2 („. . . kauft jene, die
346 Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung
kann vermuten, dass die Christen dieses praktikable Verfahren bei ihrer neuen Literaturgattung Evangelium von Anfang an anwendeten. Die Evangelien sind gleichermaßen das Resultat eines natürlichen Prozesses und der bewussten Bearbeitung einer Krisensituation. Als echte, gewachsene Überlieferung haben sie die Kraft in sich, das Bleibende auszulegen und in stets erneuerbarer Gestalt für die Zukunft zu bewahren. Ihre Rezeption bis in die Gegenwart hinein zeigt, wie erfolgreich dies gelang und welches innovative Potential den Evangelien innewohnt.
das Pergament auf schmale Seiten drängt. . .“); 14,192 („Hier dies Paket, für Dich in viele Blätter
untergliedert, enthält gleich fünfzehn Bücher Nasos“).
8.
Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte: Sinn durch Erzählen
Die Logienquelle, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte vollziehen in besonderer Weise die im frühen Christentum notwendige Aneignung vergangenen Geschehens durch Erzählungen (s. o. 1.3/7.5), um so das Vergangene bleibend bedeutsam zu halten. Strukturen von Erzählungen
Um diese Funktion ausführen zu können, verfügen Erzählungen über vielfältige Strukturen. Aufgabe jeder Erzählung ist es zunächst, eine Anzahl von zusammengehörenden Ereignissen in eine kohärente Abfolge zu bringen1. Bestimmt man als Grundform einer Erzählung einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, dann kommt dem Anfang und dem Ende als Begrenzungszeichen eine besondere Bedeutung zu. Die Zuhörer bzw. Leser werden durch den Anfang in die Welt der Erzählung eingeführt und eingestimmt. Der Anfang einer Erzählung prägt das beabsichtigte Verstehen und besitzt eine hermeneutische Basisfunktion. Ebenso wichtig ist der Endpunkt, denn eine akzeptable Erzählung muss ein Ziel festsetzen, das es zu erreichen bzw. zu klären gilt. Die für den Endpunkt besonders relevanten Ereignisse sind von besonderer Bedeutung, weil sie innerhalb des Erzählablaufes und der Strukturierung der Ereignisse insgesamt eine prägende Rolle spielen. Von grundlegender Bedeutung für jede Erzählung sind die kausalen Verknüpfungen der Ereignisse, die Ordnung des Geschehens. Für jeden narrativen Text ist zeitliches Nacheinander als Normalfall konstitutiv. Es gibt aber zugleich das Phänomen, dass die Abfolge eines Geschehens in der Zeit und die Abfolge seiner Darstellung im Rahmen der Erzählung nicht immer übereinstimmen. So kann z. B. ein Film mit dem Ende seines Helden beginnen (z. B. mit seinem Tod), um dann seine Geschichte rückblickend zu erzählen. Grundsätzlich gibt es zwei Formen der narrativen Anachronie: Die Analepse und die Prolepse2. In der Form der Analepse wird ein Ereignis nachträglich dargestellt, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat; in der Form der Prolepse wird ein noch in der Zukunft liegendes Ereignis vorwegnehmend erzählt. Eine Prolepse liegt z. B. bei der Erzählung von der Tempelreinigung im Johannesevangelium vor, aller Wahrscheinlichkeit nach fand die Tempelreinigung am Ende des Wirkens Jesu statt, Johannes zog sie aber aus theologischen Gründen Vgl. dazu G. GENETTE, Die Erzählung, München 1998, 21 ff.
1 2
2
Vgl. G. GENETTE, a. a. O., 32–54.
348 Sinn durch Erzählen
vor. Ein wichtiger Faktor der zeitlichen Strukturierung einer Erzählung ist die Dauer. In der Regel halten sich Erzählungen im Rahmen ihrer chronologischen Ordnung an eine zeitliche Dauer (vgl. z. B. die Zeit- und Ortsangaben in Mk 1). Das dritte Element innerhalb der zeitlichen Struktur einer Erzählung ist die Frequenz: Wie oft wird ein bestimmtes Ereignis erzählt? Die Wiederholung deutet in der Regel die Wichtigkeit eines bestimmten Geschehens an (vgl. die dreifache Erzählung der Berufung des Paulus in der Apg). Von großer Bedeutung ist ferner die Frage, wie das Erzählte präsentiert wird und in welcher Form der Erzähler in der Erzählung präsent ist. Die Erzähler sind in der Regel innerhalb ihres Werkes omnipräsent, insofern sie den Stoff ordnen, Ereignisabfolge bestimmen und der Erzählung ihr Gepräge geben. Innerhalb der Modellierung der Erzählungsstruktur wird sichtbar, was der Erzähler von sich und seiner Welt zu erkennen geben will. Weil Erzählungen immer auch Selbstinszinierungen des Erzählers sind, geben sie Aufschluss über dessen Weltsicht. Mit dem Wie einer Erzählung korrespondiert das Was: Was wird in der Handlung erzählt? Zunächst ist hier zwischen Ereignis – Geschehen – Geschichte zu unterscheiden, wobei das Ereignis die kleinste Einheit einer Handlung ist. Durchläuft ein Subjekt nacheinander mehrere Ereignisse, so bilden diese Ereignisse ein Geschehen. Wenn sie sich sowohl chronologisch als auch inhaltlich nach Regeln aufeinander beziehen, dann ergeben im Geschehen aneinandergereihte Ereignisse eine zusammenhängende Geschichte. Jede Geschichte hat ein Handlungsgerüst, englisch ‚plot‘ genannt3. Das Handlungsgerüst und die mit ihm verbundene Erzähldramatik, die Erzählsicht und die Personenkonstellation konstituieren Sinnlinien, die den Text bestimmen. Jede Erzählung enthält steuernde Elemente wie Personen, Gegenstände, Normenaussagen, Ereignisse, Zitate, Traditionen u. a. m., die die Wahrnehmung durch die Leser wesentlich bestimmen. Durch die Strukturelemente werden kontingente Ereignisse in sinnstiftende Erzählungen überführt. Sowohl die Art der Erzählung als auch der Anfang und das Ende einer Erzählung heben ein Ereignis aus dem Raum bloßer Zufälligkeit heraus und geben ihm einen Sinn. Aus der Faktizität eines Ereignisses allein lässt sich aber noch nicht dessen Sinnhaftigkeit ableiten. Es bedarf vielmehr der deutenden Erzählung, um das im Ereignis liegende Sinnpotential zu heben und durch Erzählung verständlich und bedeutsam zu machen. Gelungene Erzählungen sind historisch-narrative Sinnbildungen, sie schaffen, entfalten und plausibilisieren Sinnzusammenhänge. Erst die Erzählung eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen, wie sie vor allem in den Evangelien vorliegen. Die Evangelien sind sinnbildende narrative Synthesen von Erfahrungen mit Jesus von Nazareth. Sie entsprechen sich in den Grunddaten ihrer Jesus-Christus-Geschichte, ord3 Als Einführung zur narrativen Evangelienauslegung vgl. N.A. POWELL, What is Narrative Criticism? A New Approach to the Bible, Minneapolis 1990.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 349
nen aber das Material in unterschiedlicher Weise und betonen jeweils jene Aspekte, die für die Identitätsbildung ihrer eigenen Gemeinde von Bedeutung sind. Die Evangelien sind durch sinnbildende Faktoren, Leitfäden gekennzeichnet, die den Gang der Erzählung bestimmen. Diese Leitfäden legen fest, welche Orientierungsleistungen die einzelnen Geschichten und das gesamte Evangelium erbringen sollen. Dabei besteht zwischen den je eigenen theologischen Konzeptionen und der angestrebten Identitätsbildung und -sicherung ein enger Zusammenhang, denn in den jungen Gemeinden mussten zahlreiche Probleme erst geklärt und die neue Weltund Selbstsicht erst ausgebildet werden. Eben dies leistet (neben den Briefen) vor allem die neue Literaturgattung Evangelium4, denn in ihr werden die Erfahrungen mit Jesus von Nazareth als Erinnerung durch Erzählen gegenwärtig. Die Evangelien betreiben damit gleichermaßen Text-, Traditions- und Sinnpflege, indem sie die Überlieferung in ihrem Bestand zu wahren versuchen, weiter formen und durch Deutungsanstrengungen ihren Sinn aus der Vergangenheit mit der Gegenwart vermitteln.
8.1
Die Logienquelle als Proto-Evangelium
A. V. HARNACK, Sprüche und Reden Jesu, Leipzig 1907; H. E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung (s. o. 3.9.2); D. LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen 1969; P. HOFFMANN, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster 3 1982; J. M. ROBINSON, LOGOI SOPHON – Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: H. Köster/ J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 67–106; S. SCHULZ, Q – Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; A. POLAG, Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen 1977; D. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern, FzB 17, Würzburg 1977; J. DELOBEL (Hg.), Logia – The Sayings of Jesus, BETL LIX, Leuven 1982; H. SCHÜRMANN, Das Zeugnis der Redequelle für die Basileia-Verkündigung Jesu, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983, 65–152; J.S. KLOPPENBORG, The Formation of Q, Philadelphia 1987; M. SATO, Q und Prophetie, WUNT 2.29, Tübingen 1988; D. KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes. Untersuchungen zur Rezeption der Stellung Jesu zur Tora in Q, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; A. D. JACOBSON, The First Gospel. An Introduction to Q, Sonoma 1992; D. CATCHPOLE, The Quest for Q, Edinburgh 1993; E. SEVENICH-BAX, Israels Konfrontation mit den letzten Boten der Weisheit, MThA 21, Altenberge 1993; P. HOFFMANN, Tradition und Situation. Studien zur Jesusüberlieferung in der Logienquelle und den synoptischen Evangelien, NTA 28, Münster 1995; R.A. PIPER (Hg.), The Gospel Behind the Gospels. Current Studies on Q, NT.S 75, Leiden 1995; CHR. TUCKETT, Q and the History of 4 Zur neuen Literaturgattung Evangelium vgl. zuletzt R.A. BURRIDGE, What are the Gospels?, Grand Rapids 22004; D. FRICKENSCHMIDT, Evangelium als Biographie, TANZ 22, Tübingen 1997; D. DORMEYER, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus
Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 1999; D. WÖRDEMANN, Das Charakterbild des bios nach Plutarch und das Christusbild im Evangelium nach Markus, Paderborn 2002.
350 Sinn durch Erzählen
Early Christianity, Edinburgh 1996; J. M. ROBINSON/P. HOFFMANN/J. S. KLOPPENBORG/J. VERHEYDEN/ CHR. HEIL (Hg.), Documenta Q. Q through Two Centuries of Gospel Research, Leuven 1996ff; J. SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte, WMANT 76, Neukirchen 1997; D. C. ALLISON, The Jesus Tradition in Q, Harrisburg 1997; A. KIRK, The Composition of the Sayings Source. Genre, Synchrony, and Wisdom Redaction in Q, NT.S 91, Leiden 1998; J. M. ROBINSON/P. HOFFMANN/ J. S. KLOPPENBORG, The Critical Edition of Q, Leuven 2000; D. C. ALLISON, The Intertextual Jesus. Scripture in Q, Harrisburg, PA, 2000; J. S. KLOPPENBORG VERBIN, Excavating Q. The History and Setting of the Sayings Gospel, Minneapolis 2000; W. E. ARNAL, Jesus and the Village Scribes. Galilean Conflicts and the Setting of Q, Minneapolis 2001; M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter in der Logienquelle, ABG 4, Leipzig 2001; J M. ASGEIRSSON/K. DE TROYER/M. W. MEYER (Hg.), From Quest to Q (FS J. M. Robinson), BETL 146, Leuven 2000; A. LINDEMANN (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BETL 158, Leuven 2001; P. HOFFMANN/CHR. HEIL (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt 2002; M. TIWALD, Wanderradikalismus. Jesu erste Jünger – ein Anfang und was davon bleibt, ÖBS 20, Frankfurt/M 2002; CHR. HEIL, Lukas und Q. Studien zur lukanischen Redaktion des Spruchevangeliums Q, BZNW 111, Berlin 2003; H. T. FLEDDERMANN, Q. Reconstruction and Commentary, BTS 1, Leuven 2005; R. VALANTASIS, The New Q: A Translation with Commentary, Edinburgh 2005; J. M. ROBINSON, The Sayings Gospel Q. Collected Essays, BETL 189, Leuven 2005; P. RONDEZ, Alltägliche Weisheit, AThANT 87, Zürich 2006; J. M. ROBINSON, Jesus und die Suche nach dem ursprünglichen Evangelium, Göttingen 2007.
Die Logienquelle ist der erste (fassbare) Entwurf einer Lebens- und Verkündigungsgeschichte des Jesus von Nazareth5. Die Anfänge des Q-Kreises können bis in die vorösterliche Zeit reichen6, aber erst nach Ostern setzten die Traditionsbildung und Ausformung von Wandermission und Gemeindestrukturen voll ein. Die Logienquelle durchlief einen Formungsprozess, der zwischen 50 und 60 n. Chr. zu einem Ende kam7. Während es früher umstritten war, ob von einer ‚Theologie‘ der Logienquelle überhaupt gesprochen werden kann, zeigt die neuere Forschung, dass die Logienquelle in ihrer (rekonstruierten) Endgestalt literarisch und theologisch als ein bewusst komponiertes Werk zu verstehen ist8, das ein eigenständiges Jesus-Bild präsentiert. 5 Zur Terminologie: Im Rahmen des Aufkommens der Zweiquellentheorie wurde für die Logienquelle das Sigel Q (= Quelle) eingeführt, wahrscheinlich von J. WEISS; vgl. dazu F. NEIRYNCK, The Symbol Q (Quelle), in: ders., Evangelica I, BETL 60, Leuven 1982, 683–689. Zur Foschungsgeschichte vgl. F. NEIRYNCK, Recent Developments in the Study of Q, in: J. Delobel (Hg.), Logia, 29–75; J. S. KLOPPENBORG, Excavating Q, passim; J.M. ROBINSON, History of Q Research, in: J. M. Robinson/P. Hoffmann/J. S. Kloppenborg, The Critical Edition of Q, xix-lxxi; H. T. FLEDDERMANN, Commentary, 3–39. 6 Vgl. die Skizze bei M. SATO, Q und Prophetie,
375–379. Zu den Entstehungs- und Redaktionstheorien vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 218–238. Ich gehe davon aus, dass zwar mit einer umfangreichen mündlichen und schriftlichen Vorgeschichte des QStoffes zu rechnen ist, nicht aber mit durchgehenden, literarisch abgrenzbaren Schichten. Basis der folgenden Darstellung ist die vermutete Endgestalt der Logienquelle, wie sie von P. HOFFMANN/CHR. HEIL, Die Spruchquelle Q, vorgelegt wurde. 8 Die Behandlung der Logienquelle in den Theologien des Neuen Testaments ist unterschiedlich; während sie bei R. BULTMANN und F. HAHN faktisch keine 7
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 351
8.1.1
Theologie
In der Logienquelle kommt der Gott Israels zuallererst als ‚Vater‘ (patv´r 15mal in Q) in den Blick9. Es ist der sorgende barmherzige Vatergott, der „seine Sonne aufgehen lässt über Schlechte und Gute“ (Q 6,35c), so dass gilt: „Seid barmherzig, wie. . . euer Vater barmherzig ist“ (Q 6,36). Die Gebetsgewissheit und das Vertrauen in Gottes sorgendes Handeln kommen unnachahmlich in der vokativischen patv´r-Anrede im Vaterunser (Q 11,2b–4) und dem sich anschließenden Abschnitt über die Gebetserhörung zum Ausdruck 11,9–13 (V. 13: „Wenn also ihr, die ihr so schlecht seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird der Vater vom Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten“; vgl. auch Q 12,6f). Das grenzenlose Vertrauen in Gottes gute Absichten nimmt den Sorgen ihre drückende Last und verwandelt sie in grenzenlose Zuversicht (Q 12,22b.24–30), denn „euer Vater weiß, dass ihr das alles braucht“ (Q 12,30). Es ist der suchende Gott, der den Verlorenen nachgeht und sich über die Rückkehr der Verirrten freut (Q 15,4–5a.7.8- 10)10. Das exklusive Verhältnis zwischen dem Vater-Gott und dem Sohn wird in dem Doppellogion Q 10,21.22 thematisiert (s. u. 8.1.2): Gott erscheint hier nicht nur als Schöpfer, sondern vor allem als Offenbarungsgott, der allein dem Sohn die Erkenntnis seines Willens gewährt: den Antritt und die Durchsetzung seiner Herrschaft im Reich Gottes (basileı´a tou˜ heou˜ in Q 6,20; 7,28; 10,9; 11,2.20.52; 12,31; 13,18.20.29.28; 16,16). Wie in der Verkündigung Jesu (s. o. 3.4) erscheint auch in Q das Reich Gottes als gegenwärtig sich durchsetzender und zugleich zukünftig kommender Macht- und Herrschaftsbereich, der das Selbstverständnis und die Aktivitäten der Q-Gruppe zutiefst bestimmt (s. u. 8.1.7). Subjekt des Reiches Gottes ist auch in der Logienquelle jeweils Gott, dessen Herrschaft mit oder ohne menschliche Zustimmung unaufhaltsam vorandrängt und sich realisiert (Q 13,18–21)11. Die Stellung des Menschen zu dieser neuen Wirklichkeit entscheidet über sein Schicksal, denn Gott ist auch in der Logienquelle der richtende und fordernde Gott. Man kann Gott und dem Mammon nicht gleichzeitig dienen (Q 16,13). Gott ist der Herr der Ernte (Q 10,2), der fordernd und unberechenbar handelt (Q 19,12–26). Die heilsgeschichtliche Stellung Israels begründet keinen Vorrang mehr, denn Gott vermag „aus diesen Steinen Abraham Kinder zu erwecken“ (Q 3,8) und am endzeitlichen Mahl im Königreich Gottes mit Abraham, Isaak und Jakob nehmen Fremde und nicht die scheinbar für immer Erwählten teil (Q Erwähnung findet und bei P. STUHLMACHER als nicht eigenständiger theologischer Entwurf gewertet wird, behandeln sie G. STRECKER und U. WILCKENS summarisch. 9 Vgl. hierzu A. POLAG, Christologie (s. o. 8.1), 59– 67; CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 282–286. 10 Vgl. hier CHR. HEIL, Beobachtungen zur theologischen Dimension der Gleichnisrede Jesu in Q, in:
A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), 649–659. 11 Vgl. hierzu H. SCHÜRMANN, Das Zeugnis der Redequelle für die Basileia-Verkündigung Jesu, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick, Freiburg 1983, 65– 152; H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 143– 151.
352 Sinn durch Erzählen
13,29.28). Gottes Heil kommt zu denen, die dazu zuvor nicht bestimmt waren, nun aber seine Einladung annehmen (Q 14,16–21.23). Insgesamt dominiert in Q das Bild des barmherzigen universalen Gottes, der über allen Menschen die Sonne aufgehen lässt und in seinem Reich unterwegs ist, eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Nicht die Bundes-Erwählung Israels oder die Allmacht Gottes stehen im Mittelpunkt, sondern Gottes Sorge für jene, die auf den ‚Wegen‘ sind: „Gehe hinaus auf die Wege, und alle, die du findest, lade ein, damit mein Haus voll werde“ (Q 14,23).
8.1.2
Christologie
Es ist umstritten, ob von einer Christologie der Logienquelle überhaupt gesprochen werden kann, weil der Titel Cristo´ß (= „Gesalbter/Messias“) ebenso fehlt wie eine ausgeführte Passionsgeschichte und die Auferstehung Jesu von den Toten nicht wirklich thematisiert wird12. Fasst man hingegen Christologie als die Gesamtheit der begrifflichen, narrativen und funktionalen Explikationen der Bedeutsamkeit Jesu, ohne sie von einzelnen Begriffen oder Themen abhängig zu machen, lässt sich eine Christologie der Logienquelle sehr wohl darstellen13. Titel
Die (aus heutiger Sicht) maßgebliche Besonderheit der Logienquelle besteht darin, die Christologie nicht von Passion und Ostern her zu entwickeln (s. u. 8.1.4), sondern die „Worte vom erscheinenden Menschensohn eröffnen ihr die Zukunft direkt aus Jesu irdischem Wirken.“14 Der Menschensohn- Titel dominiert innerhalb der christologischen Konzeption der Logienquelle15. Um seine Bedeutung und Funktion zu ermitteln, ist nicht nur eine Analyse der Einzellogien erforderlich, sondern vor allem der kompositionelle Ort der Menschensohnlogien und ihr Zusammenspiel mit anderen christologischen Vorstellungen in den Blick zu nehmen. Die Perspektive der Christologie der Logienquelle wird mit der Aussage des Täufers in Q 3,16b deutlich: „Ich taufe euch in Wasser; der nach mir kommt, ist jedoch stärker als ich.“ Für die Q12 Klassisch A. V. HARNACK, Sprüche und Reden Jesu (s. o. 8.1), 163, wonach „Q keine christologisch-apologetischen Interessen hat, aus denen sich die Auswahl, Zusammenstellung und Färbung der Reden und Sprüche erklärt.“ 13 Einen Überblick bietet CHR. TUCKETT, Q and the History of Early Christianity (s. o. 8.1), 209–237. 14 M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 306. 15 Zur Literatur s. o. 3.9.2; vgl. ferner: P. HOFFMANN, QR und der Menschensohn, in: ders., Tradition und Situation (s. o. 8.1), 243–278; CHR. TUCKETT, Q and
the History of Early Christianity (s. o. 8.1), 239–282; J. SCHRÖTER, Jesus der Menschensohn. Zum Ansatz der Christologie in Markus und Q, in: ders., Jesus und die Anfänge der Christologie, BThSt 47, Neukirchen 2001, 140–179; A. JÄRVINEN, The Son of Man and his Followers. A Q portrait of Jesus, in: D. Rhoads/K. Syreeni (Hg.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism, JSNTS 184, Sheffield 1999, 180–222; CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 289–297.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 353
Gemeinde ist dieser Kommende zweifellos Jesus von Nazareth, wie die Wiederaufnahme in Q 7,19 zeigt: „Bist du der Kommende oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Die gesamte Schrift dient dazu, den gekommenen Jesus als den Gegenwärtigen und Kommenden für die Q-Gemeinde zu erweisen. Innerhalb dieses Entschlüsselungsprozesses kommt dem Menschensohn-Titel eine zentrale Rolle zu. Das erste Menschensohnlogion zielt auf die bedrängende Gegenwart der Q- Gemeinde (Q 6,22: „Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles mögliche Schlechte gegen euch sagen wegen des Menschensohnes“). Ihr Bekenntnis zum Menschensohn verheißt himmlischen Lohn (Q 6,23), während das verharrende Israel (Q 7,31: „dieses Geschlecht“) der Botschaft des Menschensohnes keinen Glauben schenkt und ihn in völlig unzureichende Kategorien einstuft (Q 7,34: „Der Menschensohn kam, er aß und trank und ihr sagt: Siehe dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“). Das Außenseiter-Geschick des irdisch- gegenwärtigen Menschensohnes kommt auch in Q 9,58 zur Sprache: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber hat nichts, wohin er seinen Kopf legen kann.“ Dominierten bisher der gegenwärtige irdische Menschensohn und sein Verhältnis zum Täufer, ändert sich mit Q 11,30 („Denn wie Jona für die Niniviten zum Zeichen wurde, so wird es auch der Menschensohn für diese Generation sein“) die Perspektive: Im Mittelpunkt steht nun der zukünftige, zum Gericht über Israel kommende Menschensohn. Das Bekenntnis zu ihm entscheidet über das Ergehen im Gericht (Q 12,8), so dass nachdrücklich zur Wachsamkeit aufgerufen werden kann: „Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr nicht damit rechnet“ (Q 12,40). Das Motiv des plötzlich und unberechenbar zum Gericht erscheinenden Menschensohnes wird am Ende der Logienquelle mit Q 17,24.26.30 massiv verstärkt: „Denn wie der Blitz vom Osten ausgeht und bis Westen leuchtet, so wird der Menschensohn [an seinem Tag] sein“ (Q 17,24). Ziel der Komposition der Menschensohnlogien ist es zweifellos, die Identität des bereits irdisch vollmächtig wirkenden mit dem zum Gericht wiederkommenden Menschensohn zu erweisen. Mit der Menschensohn-Vorstellung gelingt es der Logienquelle, „den Anspruch des irdischen Jesus in den Horizont seines Wiederkommens zum Endgericht zu stellen“16, um so den Anspruch des Menschensohnes selbst und seiner Nachfolger nachdrücklich zu legitimieren17. Der Sohn-Gottes -Titel erscheint zwar nur in Q 4,3.9, ihm kommt aber durch die kompositionelle Stellung der Versuchungserzählung eine zentrale Rolle zu. Nach dem Täuferportal Q 3 stellt die Versuchungserzählung die Bewährung Jesu als Sohn Gottes in seiner Leidensbereitschaft (Q 4,3.4), der Annahme seines Schicksals in Je-
16 J. SCHRÖTER, Jesus, der Menschensohn, 175. 17 Offenkundig war die Menschensohngestalt der
zentrale Bezugspunkt für die Q-Gruppe und ihr Selbstverständnis, so dass die These von P. HOFFMANN,
QR und der Menschensohn, 272–278, erst die Redaktion um 70 n.Chr. habe der Menschensohn-Vorstellung eine exklusive Stellung zugewiesen, als unwahrscheinlich gelten muss.
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rusalem (Q 4,9–12) und seinem Verzicht auf irdische Macht dar (Q 4,5–8). Die Zurüstung mit dem Geist und die Stimme Gottes (Q 3,21f) unterstreichen ebenso wie die Schriftzitate die Legitimation des Sohnes im Gehorsam gegenüber Gott angesichts der größten Versuchung. Q 4,1–13 ist die erzählerische und christologische Schaltstelle der Logienquelle, denn die Bewährung Jesu in Leiden und Versuchung als Voraussetzung für die vollständige Ausrichtung auf die Worte des Irdischen wird nicht durch eine Passionsgeschichte, sondern in der Versuchungserzählung demonstriert. Insofern ist die gesamte theologische Konzeption der Logienquelle mit der Versuchungserzählung verbunden, die nicht einer späteren Schicht zugewiesen werden darf18. Bevor Jesus als Lehrender und Handelnder in Erscheinung tritt, qualifiziert die Versuchungserzählung sein Wesen als Sohn Gottes, der in völliger Übereinstimmung mit dem Vater lebt. Dieser zentrale Aspekt des Jesusporträts von Q dominiert auch in Q 10,21.22, wo das absolute uıo´ß („Sohn“) erscheint: (21) „In ‚diesem Augenblick‘ sagte er: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, denn du hast dies vor Weisen und Gebildeten verborgen und es Unmündigen enthüllt. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir. (22) Alles wurde mir von meinem Vater übergeben, und keiner kennt den Sohn, nur der Vater, und keiner kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn enthüllen will.“ Dieses Wort hat auffällige Parallelen in Joh 3,35; 5,22.26f; 10,15; 13,3; 17,2 und formuliert das einzigartige Verhältnis zwischen Vater und Sohn: In freier Souveränität wandte sich der Vater dem Sohn zu und offenbarte ihm und damit auch der Q-Gemeinde als den ‚Unmündigen/Kindlichen‘ (Q 10,21: nv´pioi) das Geheimnis seines Willens. Die Übergabe der Offenbarungsvollmacht an den Sohn durch den Vater postuliert die exklusive Einsicht des Sohnes (und der Q-Gemeinde) in die Pläne des endzeitlich handelnden Gottes im Kommen seines Reiches19. Jesus hat innerhalb von Q unzweifelhaft den Status des
18 Zur Analyse vgl. P. HOFFMANN, Die Versuchungsgeschichte in der Logienquelle. Zur Auseinandersetzung der Judenchristen mit dem politischen Messianismus, in: ders., Tradition und Situation (s. o. 8.1), 193–207; M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter (s. o. 8.1), 91–125; M. LABAHN, Der Gottessohn, die Versuchung und das Kreuz. Überlegungen zum Jesusporträt der Versuchungsgeschichte in Q 4,1–13, in: EThL 80 (2004), 402–422. Innerhalb der älteren Stufenmodelle/Entstehungstheorien der Logienquelle wird Q 4,1–13 ausgeschieden (so D. LÜHRMANN, Redaktion [s. o. 8.1] 56) oder zumeist der spätesten Stufe zugeordnet, z. B. J. S. KLOPPENBORG, Formation of Q (s. o. 8.1), 247 f. Die neuere Forschung rechnet hingegen überwiegend mit der Ursprünglichkeit der Versuchungserzählung; so bemerkt J. SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte (s. o. 8.1), 448, zur Versuchungsgeschichte, „daß es sich bei dieser keineswegs
um einen später vorangestellten, dem eigentlichen Korpus fremden Text handelt.“ H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 253, betont, dass die Versuchungen „form an integral part of Q from its beginning“; vgl. ferner CHR. TUCKETT, The Temptation Narrative in Q, in: The Four Gospels I (FS F. Neirynck), hg. v. F. van Segbroeck u. a., Leuven 1992, 479–507; M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter, 123; M. LABAHN, Der Gottessohn, die Versuchung und das Kreuz, 405 f. Für die Ursprünglichkeit der Versuchungsgeschichte spricht neben zahlreichen Motiven und Verbindungslinien zum übrigen Textbestand vor allem die dargestellte theologische Funktion für die Gesamtkonzeption von Q. 19 Zu Recht formuliert H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 454: „Q’s Christology climaxes in this pericope. Jesus – the Coming One, the Son of Man – as the Son of God reveals God fully as Father to tho-
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 355
Sohnes Gottes, so dass schon aus diesem Befund heraus von einer Christologie der Logienquelle gesprochen werden kann 20. Eng verwandt mit dem Doppelspruch Q 10,21f sind die Aussagen über die Weisheit in der Logienquelle. Die Q-Gemeinde zählte sich zu den ‚Kindern der Weisheit‘ (Q 7,35), die im Gegensatz zu ‚dieser Generation‘ ( = das ablehnende Israel) die Botschaft des Menschensohnes hört und befolgt (Q 7,31–34). In Q 11,49–51 referiert Jesus eine Rede der Weisheit, die Boten und Propheten sendet, von denen einige – wie in der vorangegangenen Geschichte Israels – verfolgt und getötet werden. Wiederum gilt als Folge: „Ja, ich sage euch, von dieser Generation wird es eingefordert werden“ (Q 11,51b). Die Gerichtsperspektive dominiert auch in Q 11,31, wo es heißt: „Die Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und sie wird sie verurteilen; denn sie ist von den Enden der Erde gekommen, um die Weisheit Salomos zu hören, und siehe, mehr als Salomo ist hier.“ Diese Überbietung zeigt ebenso wie die Antithetik in Q 10,21 und die Differenzierung zwischen Jesus und der Weisheit in Q 7,35 und Q 11,49, dass Jesus und die Weisheit in der Logienquelle nicht identifiziert werden und sofı´a nicht als christologischer Titel gelten kann21. Wohl aber gliedert sich die Logienquelle22 in einen breiten Strom frühchristlicher Theologie ein, die weisheitliche Motive aufnahm und auch für die Christologie fruchtbar machte. Der Kyrios -Titel („Herr“) findet sich als Anrede für Jesus in Q 7,6; 9,59 und wird in Q 6,46 („Was nennt ihr mich: Herr, Herr, und tut nicht, was ich sage?“) als nicht hinreichend angesehen, wenn er sich nicht mit einem Tun verbindet. In den Gleichnissen bezieht sich ku´rioß in Q 12,42 f.45f; 13,25 auf Jesus, ansonsten auf Gott23. Narrative und funktionale Christologie
Das Profil einer Christologie zeigt sich auch darin, wie der Autor/Endredaktor einer Schrift Jesus von Nazareth erzählerisch präsentiert und welche Funktionen er ihm zuweist24. Auf die grundlegende Bedeutung der Versuchungserzählung Q 4,1–13 für die Christologie der Logienquelle wurde bereits hingewiesen: Gleich zu Beginn seines Auftretens bewährt sich Jesus als Sohn Gottes und erweist in der Auseinanderse with privileged eyes and ears who receive the revelation.“ 20 Unzutreffend ist die kurze Bemerkung von J. D. G. DUNN, Christology in the Making (s. o. 4), 36: „the divine sonship of Jesus has apparently no particular significance for Q“. 21 Vgl. z. B. D. LÜHRMANN, Redaktion (s. o. 8.1), 99; R. A. PIPER, Wisdom in the Q-tradition, MSSNTS 61, Cambridge 1989, 175; CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 302; anders z. B. J. M. ROBINSON, Basic Shifts in German theology, Interpretation 16 (1962), (76–97) 83 f.
22 Das gesamte weisheitliche Material in Q wird aufgelistet und analysiert bei H. V. LIPS, Weisheitliche Traditionen (s. o. 4.5), 197–227. 23 Eine größere Bedeutung schreibt M. FRENSCHKOWSKI, Kyrios in Context, in: M. Labahn/J. Zangenberg (Hg.), Zwischen den Reichen, TANZ 36, Tübingen 2002, 95–118, dem Kyrios-Titel in Q zu. 24 Vgl. auch L. W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 246–248.
356 Sinn durch Erzählen
setzung mit dem Teufel sein einzigartiges Wesen. Die gesamte Darstellung der Reden, Worte und Handlungen Jesu steht nun unter dem Vorzeichen der Hoheit Jesu, der nicht den ‚Königreichen der Welt‘ (Q 4,5) dient, sondern das Königreich Gottes verkündet25. Die Bedeutung Jesu wird im narrativen Aufbau der Logienquelle wesentlich durch die Relation zum Täufer bestimmt26. Die Ankündigung des ‚kommenden Stärkeren‘ in Q 3,16f wird mit Q 7,18 f.22 f.24–28 aufgenommen, so dass der Johanneskomplex den ersten Teil der Logienquelle rahmt. Dabei werden zwei Verhältnisbestimmungen vorgenommen: 1) Der Täufer ist mehr als ein Prophet (Q 7,26), was durch die exklusive Bedeutung von Q 16,1627 unterstrichen wird: Der Täufer zählt nicht zu der vergangenen Epoche ‚des Gesetzes und der Propheten‘, sondern zu der Geschichte des Reiches Gottes. 2) Q 11,32 stellt angesichts des Auftretens der Niniviten beim Gericht ausdrücklich fest: „und siehe, mehr als Jona ist hier“. Der Prophetenbegriff ist deshalb nicht hinreichend, das Wesen und die Funktion Jesu zu erfassen. Bereits der Täufer ist mehr als ein Prophet und bezeugt deshalb auch das ‚mehr‘ Jesu28 als Gottes- und Menschensohn. Eine bestimmende erzählerische Grundbewegung der Logienquelle besteht schließlich in der Präsentation des lehrenden Jesus hin zum richtenden Jesus. Motiviert und beschleunigt wird dieses Porträt durch die Auseinandersetzung mit ‚diesem Geschlecht‘ in Q 7,31; 11,29.30.31.32.50f und die Betonung der Krise Israels angesichts des Auftretens Jesu und des Wirkens der Q-Gemeinde (vgl. Q 13,24–27; 13,29.28; 13,30; 13,34f; 14,16–18.21–22; 22,28.30). Das Fehlen einer Passionsgeschichte verstärkt die Perspektive der sich steigernden Auseinandersetzung und des in Kürze hereinbrechenden Gerichtsgeschehens. Von größter Bedeutung für die Christologie sind die Funktionen, die Jesus in der Logienquelle zugeschrieben werden. Zuallererst ist Jesus Wortverkündiger, der die Königsherrschaft Gottes ansagt, die Armen selig preist (Q 6,20–22), den Willen Gottes als Feindesliebe und Gewaltverzicht neu und autoritativ auslegt (Q 6,27 f.29–30); der uneingeschränkte Liebe fordert (Q 6,32.34) und das Richten ad absurdum führt (Q 6,37f). Seinen Willen zu befolgen hat Heilscharakter (Q 6,46.47–49) und sogar noch die Ablehnung seiner Nachfolger ist nicht folgenlos, denn: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (Q 10,16). Jesus bringt die neue Welt Gottes seinen Hörern in den Gleichnissen nahe (s. o. 8.1.1) und sendet seine Nachfolger zur Mission Israels (Q 10,2–12). Als Wortverkündiger nimmt Jesus die Funktionen des Heilsverkünders und Heilsmittlers wahr, denn ‚Selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht . . .‘ (Q 10,23.24). Das Bekenntnis
25 Vgl. H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 152. 26 Zum Täuferbild der Logienquelle vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 118–144. 27 Vgl. CHR. HEIL, a. a. O., 126.
28 Das schließt natürlich die Aufnahme propheti-
scher Redeformen und Traditionen in der Logienquelle nicht aus; vgl. dazu M. E. BORING, The Continuing Voice of Jesus, (s. o. 3.9.1), 189–234.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 357
zu Jesus entscheidet über Heil oder Unheil. Die gesamte Logienquelle ist vom Ruf zur Entscheidung durchzogen (vgl. Q 11,23.33; 12,8f), die Annahme bzw. Ablehnung der Botschaft Jesu bewirken Heil oder Unheil (Q 14,16–23)29. Jesus ist gekommen, um Feuer auf die Erde zu bringen (Q 12,49), und seine Person und Botschaft entzweien (Q 12,51.53). Es kommt darauf an, die gegenwärtige Zeit richtig zu beurteilen (Q 12,54–56), weil Jesus als Richter fungiert. Die Weherufe gegen die galiläischen Städte (Q 10,13–15), die Gerichtsworte über ‚dieses Geschlecht‘ (11,31 f.49– 51), die Weherufe gegen die Pharisäer (Q 11,42–44) und Gesetzeslehrer (Q 11,46b– 48) und die Ansage der Krisis Israels in Q 13,24–35 verdeutlichen, dass Jesus als endzeitlicher Richter auftritt. Weil das Gericht unmittelbar bevorsteht, ist es nach Q 12,58f dringend geboten, mit seinen Widersachern zu einer versöhnlichen Übereinkunft zu kommen. Das Erscheinen des Menschensohnes zum Gericht wird allgemein erkennbar sein (Q 17,24) und die Angesprochenen sollten alles tun, damit es ihnen nicht wie den Menschen in den Tagen Noahs ergeht (Q 17,26f). Schließlich erscheint Jesus von Nazareth auch in der Logienquelle als Wundertäter. Eine erste narrative wie theologische Linie bildet die Abfolge ‚programmatische Rede‘ (Q 6,20–49) – Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kapernaum (Q 7,1– 10)30. Schon hier wird deutlich, dass die Logienquelle ihr Jesusporträt am redenden und handelnden, d. h. konkret am heilenden Jesus orientiert31. Der Hauptmann wird zum Empfänger des Heils Jesu und demonstriert im Gegensatz zu Israel die angemessene Haltung gegenüber Jesus: den Glauben. Q 7,22 intensiviert diesen Gedanken, indem mit der Aufzählung von Heilungen die Stellung gegenüber Jesus als heilsentscheidend bestimmt wird: „Und selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt“ (Q 7,23). Die Qumranparallele 4Q521 legt auch für Q 7,22 einen messianischen Kontext nahe, denn vergleichbare Wundertaten gelten dort als von Gott selbst bewirkte Begleiterscheinungen des Auftretens seines Messias. Der endzeitliche Charakter des Handelns Jesu wird auch in der Aussendungsrede sichtbar, wo den Jüngern ausdrücklich aufgetragen wird, die Kranken zu heilen (Q 10,9). In den Weherufen gegen Chorazin und Bethsaida werden die Machttaten Jesu sogar zum Kriterium im Gericht (Q 10,13–15). Die Wunderthematik bestimmt die Erzählsequenz Q 11,14–3632, wo Jesu Dämonenaustreibungen als Ende des Bösen und als sichtbarer Sieg Jesu über das Reich des Starken erscheinen. Bestimmend ist dabei die einzigartige Verbindung Jesu mit Gott, die in Q 11,20 zum Ausdruck kommt: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon bei euch da.“33 Als eine deutliche christologische Zuspitzung muss in diesem Kontext Q 11,23 gele29 Vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 344. 30 Ausführliche Analyse bei M. HÜNEBURG, Jesus als
Wundertäter (s. o. 8.1), 125–141. 31 Vgl. M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter, in:
A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), (635–648) 639 f.
32 Vgl. hierzu M. HÜNEBURG, Jesus als Wundertäter (s. o. 8.1), 181–225. 33 Vgl. dazu M. LABAHN, Jesu Exorzismen (Q 11,19– 20), in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), 617–633.
358 Sinn durch Erzählen
sen werden, wo die Stellung zu Jesus über Heil und Unheil entscheidet: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir einsammelt, der zerstreut.“ Es ist deutlich geworden, dass ohne Einschränkung von einer Christologie der Logienquelle gesprochen werden kann. Die einzigartige Handlungseinheit von Gott und Jesus zeigt sich nicht nur in den Wundern, sondern auch in der Versuchungsgeschichte, der Reich-Gottes-Verkündigung, der Lehrautorität Jesu sowie im Menschensohn- und Sohn-Gottes-Titel. Das Weisheitliche und Prophetische wird überboten und Jesus von Nazareth werden Funktionen zugeschrieben, die ihn als einzigartige endzeitliche Heilsgestalt qualifizieren. Durch Jesus sehen sich seine Nachfolger legitimiert, teilzuhaben an Gottes Reich und die Herrschaft des Menschensohnes anzusagen. Es ist daher nicht ausreichend, von einer ‚impliziten‘ oder ‚niedrigen‘ Christologie der Logienquelle zu sprechen34 oder Christologie und Theologie gegeneinander auszuspielen35. Schließlich zeigt die narrative Präsentation der Person Jesu in der gesamten Logienquelle, dass es nicht möglich ist, verschiedenen literarischen Stufen verschiedene Christologien zuzuordnen36. Vielmehr steht Jesus von Nazareth in seiner Reich-Gottes-Verkündigung, seiner Einheit mit Gott (Q 10,22) und in seiner Identität als Irdischer, Erhöhter und Kommender im Zentrum der gesamten Logienquelle37.
8.1.3
Pneumatologie
In der Logienquelle spielt das Wirken des Geistes Gottes eine große Rolle, obwohl in diesem Sinn das Wort pneu˜ma nur fünfmal belegt ist38. Johannes d. T. sagt in Q 3,16 über den ‚Kommenden‘ (Jesus), dass er mit heiligem Geist und Feuer taufen wird. Die Legitimation Jesu durch den Geist Gottes wird auch mit der Geisttaufe Q 3,21f 34 So J. SCHRÖTER, Entscheidung für die Worte Jesu, BiKi 54 (1999), (70–74) 73, wonach man „nur mit Abstrichen von einer ‚Christo-logie‘ sprechen kann“; ähnlich J. SCHLOSSER, Q et la christologie implicite, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), 289–316. 35 Vgl. J. S. KLOPPENBORG, Excavating (s. o. 8.1), 391: „The center of Q’s theology is not Christology but the reign of God.“ 36 Dabei wird in der Regel ein Entwicklungsgedanke vom Niedrigen zum Höheren vorausgesetzt; während sich in den frühen Schichten keine oder nur ansatzweise Christologie findet, tritt die Christologie bei den Redaktionen immer mehr in den Vordergrund. So z. B. A. POLAG, Christologie (s. o. 8.1), 171– 187; J. S. KLOPPENBORG, Excavating (s. o. 8.1), 392:
„Even at the main redactional phase (Q2), where christological statements are more in evidence, . . .“ Zur Kritik an diesen reduktionistischen Konzeptionen vgl. auf methodologischer Ebene J. SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte (s. o. 8.1), 436ff; auf christologischer Ebene vgl. L.W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 217–257, der die These einer ‚niedrigen‘ Christologie in der Logienquelle ausdrücklich zurückweist. 37 Vgl. dazu die Skizze der Theologie und Christologie der Logienquelle bei H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 129–154. 38 Sichere Belege sind Q 3,16; 4,1; 12,10; unsicher sind: Q 3,22; 12,12. In Q 11,24.26 geht es um die Rückkehr des ‚unreinen Geistes‘.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 359
ausgesagt, obwohl ein sicherer Q-Text nicht mehr rekonstruierbar ist39. Personifiziert erscheint der Geist in Q 4,1 und 12,12: Der Geist führt Jesus in die Wüste und steht den bedrängten Jesusnachfolgern vor den Synagogengerichten bei. Eine forensische Situation wird auch in dem rätselhaften Logion Q 12,10 vorausgesetzt: „Und wer ein Wort gegen den Menschensohn sagt, dem wird vergeben werden, wer aber etwas gegen den heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben werden.“ Dieses Wort dürfte in die Auseinandersetzungen der Q-Missionare mit ihren Gegnern gehören und eine vor- und nachösterliche Perspektive haben40. Die vorösterliche Ablehnung des Menschensohnes kann vergeben werden, nicht aber die nachösterliche Zurückweisung der Botschaft der Q-Missionare, denn es käme einer Leugnung der Gottessohnschaft Jesu und damit einer Lästerung des Geistes Gottes gleich. Hier zeigt sich ansatzweise der kaum zu überbietende Anspruch der Q-Missionare, Gottes Heils- und Gerichtshandeln faktisch zu vollziehen (s. u. 8.1.7).
8.1.4
Soteriologie
Es wurde bereits darauf hingewiesen (s. o. 8.1.2), dass die Logienquelle den Tod Jesu und seine Auferstehung vorausgesetzt, aber nicht christologisch auswertet. Es finden sich weder Formeltraditionen (wie bei Paulus) noch eine Passionsgeschichte (wie in den syn. Evangelien). Lässt dieser Befund den Schluss zu, dass Tod und Auferstehung Jesu in der Logienquelle keine Heilsbedeutung haben, ihnen keine soteriologische Qualität zugeschrieben wird? Ein eindeutiger Verweis auf den Tod Jesu am Kreuz findet sich nur in Q 14,27 („Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir folgt, kann nicht mein Jünger sein“). Das (gewaltsame) Prophetenschicksal dient als Deutung des Todes Jesu in Q 11,49– 51 und Q 13,34f („Jerusalem, Jerusalem, die die Propheten tötet und die zu ihr Gesandten steinigt!“), wobei Jerusalem bereits in Q 4,9–12 negativ konnotiert ist. Schließlich wird in Q 6,22f (28); 12,4; 17,33 eine Verfolgungssituation Jesu (und der Gemeinde) vorausgesetzt. Auch bei der Auferstehungsvorstellung ist der Befund dürftig, denn die Auferstehung Jesu von den Toten wird explizit gar nicht genannt und Anspielungen könnten allenfalls in Q 7,22; 11,31 vorliegen. Einzellogien wie Q 12,10; 13,35a („Ich sage euch, ihr werdet mich nicht mehr sehen, bis der Tag kommen wird, da ihr sagt: Gesegnet, der im Namen des Herrn kommt“) und ganze Motivkomplexe wie die Vorstellung vom kommenden Gerichtshandeln Jesu (s. u. 8.1.8) lassen sich allerdings nur im Kontext der Auferstehung Jesu als sachlicher Basis der
39 Mit J. M. ROBINSON und P. HOFFMANN (vgl. Critical Edition of Q, 18–20) halte ich Q 3,21f für ursprünglich, weil Q 4,1–11 sowohl den Geist- als auch Sohnesbegriff voraussetzt und es offenbar eine feste Ver-
bindung von Taufe und Versuchung gab (vgl. Mk 1,9–11.12.13). 40 Vgl. W. WIEFEL, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Leipzig 1998, 238.
360 Sinn durch Erzählen
gesamten Theologie der Logienquelle verstehen. Ebenso verweist der durchgängige Anspruch der Logienquelle, Jesu Worte neuerlich und mit einem unüberbietbaren Anspruch zu verkünden41, auf die Auferstehungsvorstellung als Grundlage der theologischen Konzeption von Q. Eine Erklärung dieses spannungsreichen Befundes muss sich in die theologische Grundkonzeption der Logienquelle einpassen42. Die vollständige Ausrichtung in Q auf den weisenden Jesus könnte eine solche Erklärung sein, die plausibel macht, warum Passion, Tod und Auferweckung nur andeutungsweise zur Sprache kommen. Q konzentriert sich auf die Identität des Irdischen mit dem Erhöhten; allein diese Identität verleiht den Worten Jesu Verbindlichkeit und begründet den Glauben der QGemeinde, Jesu Botschaft habe höchste Gegenwarts- und Zukunftsrelevanz. Die Bedeutung Jesu vermittelt sich nach dem Zeugnis der Logienquelle nicht durch kerygmatische Formeln oder eine Repetition der Passion, vielmehr wird sie im unmittelbaren Hören und Tun der Worte Jesu erfahren. Innerhalb dieses Modells ist es nur folgerichtig, dass die Legitimität und Bewährung Jesu in der Logienquelle nicht durch eine Passions-, sondern durch die Versuchungserzählung Q 4,1–13 demonstriert wird. Ostern ist in dieser Konzeption dennoch kein Fremdkörper, sondern gerade durch die Auferweckung Jesu haben seine Worte auch in nachösterlicher Zeit nichts an Aktualität verloren. Ostern fordert die Tradierung der Worte des Irdischen und Erhöhten, ohne selbst zum Thema zu werden43. Zudem ist zu bedenken, dass sowohl die Tradenten als auch die Rezipienten der Logienquelle über extratextuelle Kenntnisse verfügten, die sich auch auf den Tod Jesu und seine Bedeutung erstreckt haben
41 Vgl. J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q, ZNT 1 (1998), (17–26), 21 f. 42 Die Erklärungsversuche in der Literatur sind vielfältig: P. HOFFMANN, Studien (s. o. 8.1), 142, sieht im Offenbarungslogion Q 10,22 eine Ostererfahrung der Q-Gruppe: „Durch die österliche Apokalypsis wurde den Anhängern Jesu deutlich, daß der Anspruch Jesu und damit auch seine Botschaft mit seinem Tode nicht vergangen sind, sondern in einer ungeahnten Weise Gültigkeit bekamen.“ M. SATO, Q und Prophetie (s. o. 8.1), 383, antwortet auf die Frage, warum es in Q keine Passionsgeschichte gibt: „In keinem Prophetenbuch des Alten Testaments wird über den Tod des Propheten berichtet.“ Nach J. S. KLOPPENBORG, Excavating Q (s. o. 8.1), 379, ist Q an Jesu Tod und Rechtfertigung als Erhöhung durch Gott durchaus interessiert, „but that Q’s approach to these issues is significantly different from those of Paul . . . and Mark and post-Markan gospels.“ H. V. LIPS, Weisheitliche Traditionen (s. o. 4.5), 278, meint, Q habe Jesus als abgelehnten Boten der
Weisheit verstanden, der Tod Jesu sei Hinweis auf die Nähe des kommenden Reiches, „ohne als Tod selbst Heilsbedeutung zu haben.“ Für D. SEELEY, Jesus‘ Death in Q, NTS 38 (1992), 222–234, ist der ‚noble death‘ des stoisch-kynischen Philosophen ein Modell für die Logienquelle. J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus?, 21, konstatiert: „Das Spruchevangelium ist, überspitzt gesagt, selbst das Osterwunder!“ Nach H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 106, gilt: „Q contains no passion narrative because Q ends when Jesus stops talking, but Jesus does refer to his death . . .“; M. LABAHN, Der Gottessohn, die Versuchung und das Kreuz, 404, betont, „dass der herausragende Gehorsam Jesu in Passion und Kreuz ein Schlüssel für die noch immer schwierig zu dekodierenden Versuchungen Jesu darstellt.“ Einen Forschungsüberblick zur Problematik bietet J. S. KLOPPENBORG, Excavating Q (s. o. 8.1), 363–379. 43 Zu undifferenziert ist das Urteil von H. E. TÖDT, Menschensohn (s. o. 3.9.2), 244: „Die Gedanken des Passionskerygmas blieben ausgeschlossen.“
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 361
können. Über die Passionsthematik hinaus ist zu beachten, dass die Logienquelle den Gesamtsinn der Sendung Jesu als ein heilvolles und rettendes Wirken bestimmt. Jesus sucht die Verlorenen und freut sich über das Wiederfinden/Wiedergefundene (Q 15,4–5a.7.[8–10]). Wer den Willen Gottes vollzieht und im Bekenntnis zum Menschensohn treu bleibt, darf sich des himmlischen Lohnes gewiss sein (Q 6,23a; 10,7; ferner 12,33). Das Reich Gottes realisiert sich bereits jetzt in der Mitte der Nachfolgenden (Q 17,20) und verheißt ein großartiges Ende als Herrschaft über Israel (Q 22,28.30).
8.1.5
Anthropologie
Eine reflektierte Anthropologie lässt sich in der Logienquelle nicht nachweisen, hingegen finden sich aber Einzellogien mit anthropologischer Aussagekraft. In jüdischer Tradition steht die Betonung des Herzens als Personzentrum. Der Aufforderung, unvergängliche Schätze im Himmel zu sammeln, folgt als Begründung: „Denn wo dein Vorrat ist, dort wird auch dein Herz sein“ (Q 12,34). Das Herz ist der Sitz des Guten und des Schlechten im Menschen: „Der gute Mensch holt aus seinem Vorrat Gutes hervor, und der schlechte Mensch holt aus seinem schlechten Vorrat Schlechtes hervor; denn aus dem Überfluss des Herzens redet sein Mund“ (Q 6,45). Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der inneren Verfassung eines Menschen und seinen äußeren Taten, denn „an der Frucht wird der Baum erkannt“ (Q 6,44a). Wie das Herz besitzt auch das Auge Aussagekraft über das Wesen des Menschen: „Die Lampe des Leibes ist das Auge. Wenn dein Auge klar ist, ist dein ganzer Leib licht; wenn aber dein Auge schlecht ist, ist dein ganzer Leib finster“ (Q 11,34). Ein Einfluss hellenistischer dichotomischer Anthropologie zeigt sich in der Unterscheidung von Leib und Seele in Q 12,4f44: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet aber den, der Seele und Leib in der Gehenna vernichten kann.“ Allerdings wird die Vorstellung einer Unsterblichkeit der Seele nicht übernommen, denn Gottes Allmacht zeigt sich gerade darin, dass er auch die Seele vernichten kann. Die Fehlbarkeit des Menschen und sein Angewiesensein auf Gottes Güte wird in der Bitte um Vergebung der Schuld (Q 11,4) und in Q 11,13 thematisiert: „Wenn ihr, die ihr schlecht seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, um wie viel mehr wird der Vater im Himmel Gutes denen geben, die ihn bitten.“ Der Glaube an Jesus als unbedingtes Zutrauen in seine Macht wird am Beispiel des römischen Hauptmanns demonstriert (Q 7,9b: „Ich sage euch, nicht einmal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden“) und in Q 17,6 ins Unend44 Dieser Einfluss wurde über das hellenistische Judentum vermittelt; Parallelen bietet D. ZELLER, Mahnsprüche (s. o. 8.1), 96–100.
362 Sinn durch Erzählen
liche gesteigert („Wenn ihr Glaube habt wie ein Senfkorn, würdet ihr diesem Maulbeerbaum sagen: Entwurzele und pflanze dich in das Meer! Und er würde euch gehorchen“). Der Begriff no´moß („Gesetz“) kommt in der Logienquelle nur zweimal vor (Q 16,16f: „Das Gesetz und die Propheten sind bis Johannes . . . [17] Es ist leichter, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Jota oder ein Häkchen des Gesetzes fällt“). Während der Täufer einerseits einen Einschnitt für die Bedeutung des Gesetzes darstellt (V. 16), gilt es nach V. 17 uneingeschränkt. Dagegen steht wiederum der Befund, dass weder einzelne mosaische Gesetze noch Mose selbst in Q vorkommen45. Einzelne Texte wie Q 9,59f; 14,26 stellen Tora-Gebote infrage und die Weherufe gegen die Pharisäer (Q 11,42.39b.41.43) und Schriftgelehrten (Q 11,46b.52.47f) lassen deutliche Kritik an den jüdischen Gruppen erkennen, die den Einfluss der Tora auf das alltägliche Leben ausweiten wollen. Damit wird die Tora nicht abgelehnt, wohl aber erfahren die rituellen Vorschriften zugunsten ethischer Aussagen eine deutliche Relativierung: „Wehe euch, den Pharisäern, denn ihr verzehntet die Minze und den Dill und den Kümmel und lasst außer Acht das Recht und die Barmherzigkeit und die Treue. Dies aber wäre zu tun und jenes nicht außer Acht zu lassen“ (Q 11,42). Deutlich ist auf jeden Fall, dass innerhalb der Logienquelle nicht die Tora, sondern „die Botschaft und Gestalt Jesu, des Menschensohn-Kyrios“46, zentrale Orientierungsgröße und soteriologisches Prinzip sind.
8.1.6
Ethik
In der Logienquelle ist die Ethik eine Lebenshaltung, die sich aus dem Bewusstsein speist, als bevollmächtigte Nachfolger des gekommenen und kommenden Menschensohnes Israel das Reich Gottes als Heil und Gericht anzusagen. Insbesondere die ethischen Radikalismen lassen erkennen, dass sich die Jesusnachfolger der Logienquelle in der unmittelbaren Kontinuität seines Lebens und der Kraft seiner Worte verstehen. Dies zeigt vor allem die programmatische Rede Q 6,20–49, die kompositionell als Präsentation der Ethik von Q fungiert47. Die Zusage der Gottesherrschaft in den Makarismen (Q 6,20–23) bildet die Grundlage, das Gebot der Feindesliebe (Q 6,27) die Grundnorm der Ethik. Das absolute Gebot der Feindesliebe wird in Q 6,28 um das Gebet für die Verfolger und in Q 6,29f um zwei Doppellogien erweitert und präzisiert: Sie definieren das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit neu, indem ein
45 Vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 318–320. 46 D. KOSCH, Die eschatologische Tora (s. o. 8.1),
450. 47 Zur Analyse vgl. E. SEVENICH-BAX, Israels Kon-
frontation (s. o. 8.1), 371–437; P. HOFFMANN, Tradition
und Situation. Zur „Verbindlichkeit“ des Gebots der Feindesliebe in der synoptischen Tradition und in der gegenwärtigen Friedensdiskussion, in: ders., Tradition und Situation (s. o. 8.1), (3–61) 15–30; H.T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 266–335.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 363
Verzicht auf Gegenwehr und Rache sowie die uneingeschränkte Bereitschaft zum Geben gefordert wird. Dabei erweitert Q die jesuanische Konzeption, indem über den persönlichen Gegner hinaus das Gebot der Feindesliebe auf jene Gruppen ausgedehnt wird, die der eigenen Gemeinschaft feindlich gegenüberstehen. Trotz Gefährdung und Anfeindung soll die gesellschaftliche Situation durch die Kraft der Grenzen überwindenden Liebe positiv verändert werden, wobei der Schöpfergott als Vorbild gilt und die Verheißung, ‚Söhne Gottes‘ zu werden, als Ansporn fungiert (Q 6,35c.d.36). Es kommt darauf an, das Verbleiben im Prinzip der Gegenseitigkeit (Q 6,32a: „Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr?“) zu verlassen und das Ungewohnte zu tun: Nicht zu richten und zuerst auf die eigene Blindheit oder Begrenztheit zu achten (Q 6,37.38.39.41f). Die Goldene Regel wird in ihrer positiven Form präsentiert und fügt sich durch die Ausweitung des Adressatenkreises auf alle Menschen in die universalen Dimensionen der programmatischen Rede ein: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut ihr ihnen“ (Q 6,31)48. Während sich die negative Form der Goldenen Regel auf alle sozialen Beziehungen bezieht (Thales sagt z. B. nach Diog L 1,37: „Wie können wir am besten ein gutes und gerechtes Leben führen? Indem wir, was wir an anderen tadeln, selbst nicht tun“), gehören fast alle Belege für die positive Form zum Herrschafts-, Freundschafts- und Familienethos und sind damit begrenzt49. In der Logienquelle wird diese Exklusivität entgrenzt und sowohl das Subjekt des geforderten Handelns als auch sein Gegenüber werden universalisiert. Die nachdrückliche Betonung des Tuns des Willens Jesu (Q 6.46.47–49) in Verbindung mit der Frucht-Metaphorik und dem Lohngedanken (Q 6,43–45) lässt die ethische Konzeption der Logienquelle deutlich hervortreten: Es geht um den unbedingten Gehorsam und den ungeteilten Einsatz gegenüber dem von Gott bzw. Jesus Geforderten. Mit der eschatologischen Zusage der Makarismen verbindet sich so das eschatologische Gericht: Allein dem Tun der Worte Jesu gilt die Verheißung, nur am Tun der Worte Jesu entscheidet sich das Heil! Ethische Radikalismen finden sich auch außerhalb der programmatischen Rede, so der Verzicht auf das Sorgen und Planen in Q 12,22b–31 („Sorgt euch nicht um euer Leben . . .“), das Scheidungsverbot in Q 16,18 und die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft gegenüber dem reuigen Bruder in Q 17,3 f. Mit dem Verzicht auf Gewalt und Wiedervergeltung verbindet sich in der Logienquelle ein radikales Ethos der Heimat- und Besitzlosigkeit. Die Unbehaustheit des Menschensohnes (Q 9,58) wird zum Modell für die Nachfolger, für die der Hass auf Vater und Mutter Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur familia Dei ist (Q 14,26)50. Die für antikes Leben und Denken 48 Zu den traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergründen vgl. A. DIHLE, Die goldene Regel, Göttingen 1962; alle relevanten Texte finden sich in NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 7,12. 49 Vgl. G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o. 3), 264–268.
50 Vgl. hier P. KRISTEN, Familie, Kreuz und Leben: Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium, MThSt 42, Marburg 1995, 55–155.
364 Sinn durch Erzählen
fundamentalen familiären Bindungen verlieren ihre Bedeutung (Q 12,51.53: „Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu werfen? Ich bin nicht gekommen, Frieden zu werfen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, zu entzweien: den Sohn gegen den Vater und die Tochter gegen die Mutter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter“). Soziale Konventionen wie die Bestattung der Eltern (Q 9,59f) oder der Gruß (Q 10,4e) werden außer Kraft gesetzt und selbst eine minimale Ausstattung für die nicht ungefährlichen Wanderungen darf nicht in Anspruch genommen werden (Q 10,4a-d). Die Ethik fügt sich in das Gesamtkonzept der Logienquelle ein: Das geforderte radikale und ungeteilte Handeln orientiert sich an den Worten und dem Leben des Menschensohnes Jesus von Nazareth, der die Liebe Gottes entgrenzte und seinen Nachfolgern Gottes Fürsorge in seinem Reich verheißt.
8.1.7
Ekklesiologie
In der Logienquelle findet sich keine begrifflich refelektierte Ekklesiologie, wohl aber lässt nicht nur die radikale Ethik Rückschlüsse auf die Struktur der Q-Gemeinden und ihre Missionstätigkeit zu. Vielfach dient das Stichwort ‚Wanderradikalismus‘ dazu, das Besondere und Außerordentliche der Q-Missionare und ihrer Gemeinden zu charakterisieren51. Insbesondere die Aussendungsrede in Q 10,2–12 kann als Modell für diese Mission gelesen werden. Trotz größter äußerer Gefährdung (Q 10,2: „Geht! Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“) sollen die Missionare nicht nur auf Geld, sondern auch auf eine (lebensnotwendige) Mindestausstattung auf ihren Wanderungen verzichten (Q 10,4). Das Auftreten der Missionare in Häusern und Städten, ihr ungeheuerlicher Anspruch und auch ihre Ablehnung in Q 10,5–12 lassen idealtypische Züge erkennen52. Die Q-Missionare banden in direkter Kontinuität zu Jesus Heil und Gericht an ihre Botschaft. Nimmt man das Ethos der Heimatlosigkeit (Q 9,58; Q 10,4e), der Familienlosigkeit (Q 14,26) und der Gewaltlosigkeit (Q 6,29f) hinzu, dann zeigt sich ein radikales Konzept, das sich vollständig auf Gottes Sorge (Q 12,22–32) und Gottes Reich/Herrschaft (Q 10,9b) ausrichtet. Nicht zufällig wird der Instruktionsblock Q 10 mit dem Vaterunser und der Gebetsgewissheit abgeschlossen (Q11,2b–4.9–13). 51 Vgl. dazu G. THEISSEN, Wanderradikalismus, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 21983, 79–105; kritische Anfragen zu dieser (idealtypischen) Position finden sich bei TH. SCHMELLER, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989, 50ff, der die üblichen soziologischen und psychologischen Erklä-
rungsmuster mit Recht relativiert. Eine Skizze des Wanderradikalismus der Q-Gemeinden bietet M. TIWALD, Der Wanderradikalismus als Brücke zum historischen Jesus, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), 523–534. 52 Zur Analyse vgl. M. TIWALD, Wanderradikalismus (s. o. 8.1), 98–211.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 365
Die Zahl der Q-Missionare dürfte nicht groß gewesen sein (Q 10,2: „Die Ernte ist zwar groß, Arbeiter gibt es aber nur wenige . . .“). Organisatorisch war der Trägerkreis der Logienquelle doppelt strukturiert; neben Wandermissionaren (vgl. Q 9,57–62; Q 10,1–12.16; Q 12,22–31.33–34) gab es weitgehend sesshafte Jesus-Anhänger (vgl. Q 13,18–21; Q 16,18; Q 12,39f)53. Eine solche Lebensweise stellt keine wirkliche Ausnahmeerscheinung innerhalb der Geschichte des Urchristentums dar, denn bereits Paulus und seine engsten Mitarbeiter praktizierten einen vergleichbar radikalen Lebens- und Missionsstil (vgl. 1Kor 9,5.14f), und die Didache setzt dieses Phänomen ebenfalls für den syro-palästinischen Raum zu Beginn des 2. Jh. voraus (vgl. Did 11.13)54. Die sesshaften Sympathisanten in den Ortsgemeinden55 boten den Wandermissionaren eine materielle Basis, indem sie Unterkunft (Q 9,58) und Unterhalt (Q 10,5–7) gewährten. Viele Q-Logien setzen Sesshaftigkeit voraus, so die Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig (Q 13,18–21), das Verbot der Ehescheidung (Q 16,18) oder das Wort vom Hausherrn und Dieb (Q 13,39f)56. Auch eine doppelte soziale Schichtung des Q-Kreises ist anzunehmen. Zahlreiche Logien setzen materielle Armut voraus (Q 6,20f; 7,22; 11,3), zugleich lassen die Aufforderung zur Entscheidung zwischen Gott und dem Mammon (Q 16,13) bzw. den himmlischen und irdischen Schätzen (Q 12,33f) wie auch die Bereitschaft zum uneingeschränkten Geben in Q 6,30 auf eine materielle Basis schließen (vgl. ferner die Parabel vom großen Gastmahl Q 14,15–24). Das Verhältnis zwischen den Wanderpredigern und den Ortsansässigen darf nicht statisch gedacht werden, es herrschte sicherlich ein reger Austausch, und die beiden Gruppen rekrutierten sich teilweise gegenseitig57. Die Q-Gemeinden und ihre Missionare sahen sich massiven Drohungen und Verfolgungen ausgesetzt (Q 6,22f; 12,4 f.6 f.11f), denen sie mit einem demonstrativen Gottvertrauen, furchtlosem Bekenntnis (Q 12,8f) und der Treue des wahren Knechtes (Q 12,42–46) entgegentraten.
53 Vgl. M. SATO, Q und Prophetie (s. o. 8.1), 375 ff. 54 Mit einer programmatischen Mission außerhalb
jüdischer Bevölkerung/Gebiete ist in der Logienquelle nicht zu rechnen, denn die positiven Erwähnungen des Hauptmanns von Kapernaum (Q 7,1– 10) oder von Chorazin, Sidon und Bethsaida (Q 10,13–15; vgl. ferner Q 11,30–32) dienen vor allem als Negativfolie für die Verwerfung Israels; vgl. CHR. TUCKETT, Q and the History of Early Christianity (s. o. 8.1), 393–404. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die Q-Missionare später nach dem Scheitern der Israel-Mission auch in den Städten Phöniziens (Q 10,13f) und/oder Syriens für ihre Botschaft Juden zu gewinnen suchten. In Süd-Syrien könnte dann die Rezeption durch Matthäus erfolgt sein (vgl. Mt 4,24).
55 Vgl. dazu G. THEISSEN, Die Jesusbewegung (s. o. 3), 55–90. 56 Vgl. ferner Q 6,43; 6,47–49; 7,32; 11,11–13; 14,42–46; 12,58; 13,25. 57 Anders TH. SCHMELLER, Brechungen, 93–98, der die Wandermissionare als Beauftragte der Q-Gemeinde ansieht und das Ergebnis seiner Analysen so formuliert: „1. Q ist ein Gemeindedokument. 2. Die Q-Gemeinde hat Missionare ausgesandt, die als Wandercharismatiker lebten. 3. Welche (bzw. ob bestimmte) Q-Worte ausschließlich von solchen Wandercharismatikern tradiert wurden, ist nicht zu rekonstruieren. 4. Die Botenrede ist Gemeindeüberlieferung und rückt damit in die Nähe eines konstruktiv auswertbaren Zeugnisses für den Lebensstil der Wandercharismatiker“ (a. a. O., 96).
366 Sinn durch Erzählen
8.1.8
Eschatologie
Die Eschatologie der Logienquelle ist unmittelbar mit den Konflikten der Q-Gemeinde verbunden58. Bestimmend ist dabei die Auseinandersetzung mit Israel und die Ablehung durch große Teile von Israel, wie sie zunächst in den Worten über ‚diese Generation‘ (Q 7,31; 11,29.30.31.32.50f) sichtbar wird59. ‚Diese Generation‘ lehnte die Verkündigung der Q-Missionare ab (Q 7,31), sie ist ‚böse‘ (Q 11,29) und der Menschensohn wird für sie zum Zeichen für das Gericht (Q 11,30–32.50f). Die Krise Israels zeigt sich vor allem im Verlust seiner heilsgeschichtlichen Vorrangstellung (Q 13,24–27.29.28.30; 14,16–18.21–22), dessen Folge das Gericht ist (Q 13,34f). Im Zentrum der Eschatologie der Logienquelle steht die Vorstellung des nahen, unmittelbar bevorstehenden Gerichtes (Q 3,7–9.16b–17; 10,12–15; 17,23–37). Jesu Gerichtsbotschaft (s. o. 3.7) wird von Q aufgenommen und durch die Komposition der Menschensohn-Worte verstärkt, denn am Ende von Q tritt der Menschensohn immer deutlicher als Richter in Erscheinung (Q 12,40; 17,24.26.30). Kriterium für das Gerichtsgeschehen ist eindeutig die Annahme oder Ablehnung der Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Wer diese Botschaft jetzt ablehnt, wird nicht nur dem Gericht überlassen (Q 10,13–15; 11,31f), sondern nach Q 12,10 ist die Ablehnung sogar unvergebbar. Deshalb soll man sich vor dem fürchten, der auch die Seele vernichten kann (Q 12,5). Weil Gottes Gericht bevorsteht, ist es nach Q 12,58f geboten, sich noch schnell mit seinem Gegner zu versöhnen. Nach Q 17,24 wird das Gericht allgemein erkennbar sein und nur wer die Zeichen der Zeit erkennt, kann auf Rettung hoffen (Q 17,26.28.30). Schließlich markiert die Gerichtsankündigung gegenüber Israel in Q 22,28.30 das Ende der Logienquelle und auch einen Endpunkt Israels60. Ob damit Israel für Q endgültig verworfen ist, lässt sich nicht sicher sagen, denn die Intensität der Auseinandersetzung kann für bleibende Nähe, aber auch für zunehmende Entfremdung und endgültige Trennung sprechen61. Im Gericht wird eine Beurteilung nach den Werken erwartet, und „weil alle gleichzeitig auferstehen, wird der eine die Beurteilung des anderen anhören und ge-
58 Einen guten Überblick bietet D. ZELLER, Der Zu-
sammenhang der Eschatologie in der Logienquelle, in: Gegenwart und kommendes Reich (Schülergabe A. Vögtle), SBB 6, Stuttgart 1975, 67–77. 59 Vgl. D. LÜHRMANN, Redaktion (s. o. 8.1), 47. 60 Zur Auslegung vgl. P. HOFFMANN, Herrscher in oder Richter über Israel? Mt 19,28/Lk 22,28–30 in der synoptischen Überlieferung, in: K. Wengst/ G. Sass (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage), Neukirchen 1998, 253–264. 61 Entsprechend variieren die Meinungen; für eine bleibende Nähe votieren z. B. E. SEVENICH-BAX, Israels
Konfrontation (s. o. 8.1), 186–190; M. KARRER, Christliche Gemeinde und Israel. Beobachtungen zur Logienquelle, in: Gottes Recht als Lebensraum (FS H.J. Boecker), hg. v. P. Mommer u. a., Neukirchen 1993, 145–163. F. W. HORN, Christentum und Judentum in der Logienquelle, EvTh 51 (1991), 344–364, betont hingegen innerhalb der Redaktionen von Q den zunehmenden Abstand zu Israel. Auch D. ZELLER, Jesus, Q und die Zukunft Israels, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source (s. o. 8.1), 351–369, hebt die bleibende und nicht zu minimierende Schärfe der Gerichtsworte gegenüber Israel hervor.
Die Logienquelle als Proto-Evangelium 367
gebenenfalls sogar beeinflussen (Q 11,31f).“62 Im Gericht darf auf den Lohn für die Missionsarbeit und das Bekenntnis in Bedrängnis gehofft werden (Q 6,22f; 10,7; 12,33), aber auch überraschende Ablehnung ist möglich (Q 13,24–27). Trotz der intensiven Naherwartung ist an einigen Stellen der Logienquelle auch ein Bewusstsein für die Parusieverzögerung zu erkennen. Die Unberechenbarkeit und Plötzlichkeit des Kommens des Menschensohnes (12,39f), vor allem aber Q 12,45 weisen darauf hin: „Wenn aber jener Sklave in seinem Herzen sagt: mein Herr lässt sich Zeit und anfängt, seine Mitsklaven zu schlagen . . .“ Auch Q 19,12 f.15–24 lassen deutlich ein Verzögerungsbewusstsein erkennen, das durch eine massive Gerichtsandrohung zurückgedrängt werden soll.
8.1.9
Theologiegeschichtliche Stellung
Als erster Lebens- und Verkündigungsgeschichte Jesu kommt der Logienquelle innerhalb des sich formierenden frühen Christentums eine große Bedeutung zu, denn mit ihr tritt Jesus von Nazareth umfassend als prägendes Erinnerungsphänomen in Erscheinung. Die Logienquelle ist eine eigenständige, profilierte Jesusdarstellung, die mit der geläufigen Bezeichnung als ‚Spruch-Quelle‘ (sayings source) oder ‚SpruchEvangelium‘ (sayings gospel) nicht hinreichend erfasst wird. Sie weist vielmehr ein eigenständiges theologisches und auch erzählerisches Profil auf. Die Logienquelle ist das erste (rekonstruierbare) Dokument, das Jesu Leben und Wirken narrativ konzipiert und theologisch reflektiert erschließt63, wobei die Bedeutung Jesu in der Weitergabe und Proklamation seiner Worte gesehen wird. Erstmals prägt auch ein nachdrückliches biographisches Interesse das Jesusbild und steht (anders als bei Paulus) nicht nur der Gesamtsinn seines Wirkens im Mittelpunkt. Die Grundbewegung des Lebens Jesu und die Grunddaten seiner Verkündigung werden in den Spannungsbogen zwischen dem gekommenen und kommenden Menschensohn eingezeichnet. Weil den einzelnen Überlieferungen des Lebens und Wirkens Jesu eine so große Bedeutung beigemessen wird, kann die Logienquelle als ‚Proto-Evangelium‘ bezeichnet werden64. Die Aufnahme der Logienquelle durch Matthäus und Lukas zeigt, dass Q in diesem Sinn verstanden und geschätzt wurde. Die Theologie der Logienquelle leitet sich aus der Grundüberzeugung ab, dass der Stellung zu Jesus und seiner Botschaft Heilsrelevanz zukommt65. Eine theologische Voraussetzung verbindet Q, „nämlich die Überzeugung der Tradenten, daß Jesus den
62 J. M. ROBINSON, Der wahre Jesus? (s. o. 8.1.4), 22. 63 Für die literarische (und theologische) Einheit
von Q votiert bes. H. T. FLEDDERMANN, Commentary (s. o. 8.1), 124–128. 64 Zu den verschiedenen Formbestimmungen der
Logienquelle vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 230–232. 65 Vgl. D. KOSCH, Q und Jesus, BZ 36 (1992), (30– 58) 44 ff.
368 Sinn durch Erzählen
Menschen, die ihm begegnen, die Möglichkeit eröffnet, sich für Gott und seine Herrschaft zu entscheiden, und diese Entscheidung in einer Geschichte zu leben; sein eigenes Wort ist in diesem Vorgang eine Macht, die wirkt.“66 Sowohl die Heilszusage als auch die Gerichtsandrohung sind in Q von ihrem Sprecher nicht zu trennen. Am Anfang der Verkündigung Jesu steht auch in Q die Heilsbotschaft, die Seligpreisungen in Q 6,20.21 formulieren prägnant den Heilszuspruch, der an keinerlei Vorbedingungen gebunden ist. Jesus preist die Augen- und Ohrenzeugen selig (Q 10,23f), die Heilszeit ist angebrochen, denn „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, und Tote stehen auf und den Armen wird die frohe Botschaft verkündet“ (Q 7,22). Die Jünger werden ausgesandt, um Frieden anzubieten (Q 10,5f) und die Nähe des Reiches Gottes anzusagen (Q 10,9.11b). Die Haltung gegenüber Jesus und seiner Botschaft ist nicht folgenlos, denn die Ablehnung des Heilsanspruches Jesu hat die Gerichtsdrohung zur Folge. Die Q-Missionare sehen sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit ihrem Herrn, sie leben und handeln wie er und erwarten mit ihm und von ihm die endzeitliche Herrschaft (Q 22,28.30). Damit schuf die Logienquelle ein theologisches Grundkonzept, das Jesu Bedeutsamkeit ohne Passionskerygma zu entfalten vermochte. Die Rezeption durch Matthäus und Lukas veränderte zwar diesen Entwurf, zugleich bestimmte aber die Logienquelle mit ihrem radikalen Jesubild auch in der Überlieferung der Großevangelien bleibend das Denken des Christentums.
8.2
Markus: Der Weg Jesu
W. WREDE, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 41969 (= 1901); W. MARXSEN, Der Evangelist Markus, FRLANT 67, Göttingen 21959; J. M. ROBINSON, Messiasgeheimnis und Geschichtsverständnis. Zur Gattungsgeschichte des Markus-Evangeliums, TB 81, München 1989 (NA); H.-W. KUHN, Ältere Sammlungen im Markusevangelium, SUNT 8, Göttingen 1970; R. PESCH (Hg.), Das Markus-Evangelium, Darmstadt 1979; H. RÄISÄNEN, Das ‚Messiasgeheimnis‘ im Markusevangelium, Helsinki 1976 (erheblich erw. engl. Neubearbeitung: The ‚Messianic Secret‘ in Mark's Gospel, Edinburgh 1990); R. PESCH, Das Markusevangelium, HThK II/1.2, Freiburg 41984.31984 (= 1976.1977); J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1.2, Neukirchen 51988.51999; P. DSCHULNIGG, Sprache, Redaktion und Intention des Markus-Evangeliums, SBB 11, Stuttgart 21986; C. BREYTENBACH, Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus, AThANT 71, Zürich 1984; TH. SÖDING, Glaube bei Markus, SBB 12, Stuttgart 21987; F. FENDLER, Studien zum Markusevangelium, GTA 49, Göttingen 1991; K. SCHOLTISSEK, Die Vollmacht Jesu, NTA 25, Münster 1992; M. HENGEL, Probleme des Markusevangeliums, in: Das Evangelium und die Evangelien, hg. v. P. Stuhlmacher, Tübingen 1983, 221–265; DERS., Entstehungszeit und Si66 A. POLAG, Die theologische Mitte der Logienquel-
le, in: Das Evangelium und die Evangelien, hg. v. P. Stuhlmacher, Tübingen 1983, (103–111) 110.
Markus: Der Weg Jesu 369
tuation des Markusevangeliums, in: Markus- Philologie, hg. v. H. Cancik, WUNT 33, Tübingen 1984, 1–45; F. HAHN (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985; D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987; TH. SÖDING (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium, SBS 163, Stuttgart 1995; D. DORMEYER, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 1999; G. THEISSEN, Evangelienschreibung und Gemeindeleitung. Pragmatische Motive bei der Abfassung des Markusevangeliums, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), hg. v. B. Kollmann u. a., BZNW 97, Berlin 1999, 389–414; W.R. TELFORD, The Theology of the Gospel of Mark, Cambridge 1999; J. MARCUS, Mark 1–8, AncB 27, New York 2000; P.-G. KLUMBIES, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin 2001; F.J. MOLONEY, The Gospel of Mark. A Commentary, Peabody (MA) 2002; L. SCHENKE, Das Markusevangelium, Stuttgart 2005; E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006; M.E. BORING, Mark, The New Testament Library, Louisville 2006.
Markus schrieb sein Evangelium wahrscheinlich in Rom um 70 n.Chr. für eine mehrheitlich heidenchristliche Gemeinde67. Er schuf mit der neuen Literaturgattung Evangelium die erste ausführliche Jesus-Christus-Geschichte und bestimmte durch die Präsentation der Ereignisse/Charaktere, durch den geographisch/chronologischen Rahmen, den Geschehensverlauf, die Erzählperspektive68 und seine theologischen Einsichten wesentlich das Jesus-Christus-Bild des frühen Christentums.
8.2.1
Theologie
F. VOUGA, „Habt Glauben an Gott“. Der Theozentrismus der Verkündigung des christlichen Glaubens im Markusevangelium, in: Texts and Contexts (FS L. Hartmann), hg. v. T. Fornberg/D. Hellholm, Oslo 1995, 93–109; K. SCHOLTISSEK, „Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mk 12,27). Grundzüge der markinischen Theologie, in: Der lebendige Gott (FS W. Thüsing), hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 71–100; J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums, WMANT 86, Neukirchen 2000; G. GUTTENBERGER, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, BZNW 123, Berlin 2004.
67 Vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 238–260. Ich votiere für eine Entstehung kurz nach 70, weil die Gegenüberstellung des auf der Erzählebene gegenwärtig noch existierenden und des in Zukunft vollständig zerstörten Tempels in Mk 13,2 die eingetretene Zerstörung voraussetzt. Eine Eroberung Jerusalems und des Tempels durch die Römer war voraussehbar, nicht aber die vollständige Zerstörung des Tempels! 68 Neben den unter 8.2 aufgeführten Sammelbänden von F. HAHN und TH. SÖDING vgl. zur Erzähltext-
analyse des Markusevangeliums: D. RHOADS/D. MIMark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982; N. R. PETERSEN, „Literarkritik“, the New Literary Criticism and the Gospel according to Mark, in: The Four Gospels II (FS F. Neirynck), hg. v. F. van Segbroeck u. a., Leuven 1992, 935–948; C. BREYTENBACH, Der Erzähler des Evangeliums. Das Markusevangelium als traditionsgebundene Erzählung?, in: C. Focant (Hg.), The Synoptic Gospels, BETL CX, Leuven 1993, 77–110. CHIE,
370 Sinn durch Erzählen
Das Markusevangelium ist theozentrisch ausgerichtet; schon der sprachliche Befund (heo´ß = „Gott“ 48mal bei Mk, hingegen nur 51mal bei Mt) lässt diesen zentralen Aspekt des mk. Denkens erkennen. Beim Wortfeld heo´ß dominiert die Wendung basileı´a tou˜ heou˜ („Reich/Herrschaft Gottes“ 14mal); bedeutsam sind ferner uıo`ß tou˜ heou˜ („Sohn Gottes“ 4mal), ku´rioß („Herr“ 8mal in Bezug auf Gott) und patv´r („Vater“ 4mal)69. Markus verdeutlicht seinen Hörern/Lesern, dass allein der Gottessohn Jesus Christus autorisiert ist, das Evangelium Gottes von der Erfüllung der Zeit und der Nähe der Herrschaft Gottes zu verkünden. Der Prolog als theozentrische Grundlegung
Mk 1,1–15 kommt als Prolog des Evangeliums die Funktion eines programmatischen Eröffnungstextes zu70. Bereits die Präsentation Mk 1,1 signalisiert das für Markus charakteristische Verhältnis von Botschaft und Botschafter71. Die Genitivwendung LIvsou˜ Cristou˜ uıou˜ heou˜72 („Jesu Christi des Sohnes Gottes“) lässt nicht nur den Hauptakteur der Erzählung als Verkünder und Inhalt des Evangeliums erscheinen73, sondern eine unüberbietbare Charakterisierung installiert den Verstehenshorizont des Folgenden: Jesus ist der Christus und der Gottessohn. Diese christologischen Prädikate bleiben aber theo-logische Aussagen, denn als Sohn Gottes verkündigt Jesus Christus das Evangelium Gottes von der Nähe der Herrschaft Gottes (Mk 1,14f). Zwischen Mk 1,1 und Mk 1,14f74 besteht eine offensichtliche Korrespondenz, denn nur hier wird der euagge´lion-Begriff durch Genitivwendungen präzisiert. Das euagge´lion tou˜ heou˜ (Mk 1,14) ist nicht nur der Inhalt der vorösterlichen Verkündigung Jesu, sondern das euagge´lion LIvsou˜ Cristou˜ (Mk 1,1) ist immer auch das euagge´lion tou˜ heou˜ und umgekehrt. Für Markus stellen die theo-logische Verkündigung Jesu und das christologische Bekenntnis der Gemeinde keinen Gegensatz dar75. Gottes nahende Herrschaft ist ebenso Inhalt des Evangeliums wie die Taten und Worte Jesu Chris69 Vgl. ferner du´namiß 4mal; abba´ 1mal; eulogvto´ß 1mal; ourano´ß 1mal. 70 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, BThSt 32, Neukirchen 1997; J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes, 22–44; G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 56–74. 71 Vgl. dazu auch G. ARNOLD, Mk 1,1 und Eröffnungswendungen in griechischen und lateinischen Schriften, ZNW 63 (1977), 123–127. 72 Vgl. zur Ursprünglichkeit von uıou˜ heou˜ zuletzt J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes, 24–26. 73 Vgl. M. FENEBERG, Der Markusprolog, StANT 36, München 1974, 118, wonach die Genitivverbindung einen vieldimensionalen Bedeutungsgehalt hat: „Anfang des Evangeliums, das Jesus Christus, der Sohn Gottes, bringt, dessen Urheber er ist (gen.
auct.), das von ihm handelt (gen. obj.), das er selbst ist (gen. epexegeticus).“ Gegen H. WEDER, ,Evangelium Jesu Christi‘ (Mk 1,1) und ,Evangelium Gottes‘ (Mk 1,14), in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS E. Schweizer), hg. v. U. Luz/H. Weder, Göttingen 1983, (399–411) 402, der Mk 1,1 nur als genitivus objectivus auflösen will. 74 Zur Schlüsselfunktion von Mk 1,14f vgl. D. LÜHRMANN, Mk (s. o. 8.2), 32. 75 Angesichts der theologischen und christologischen Füllung von Mk 1,1–15 erscheint mir eine Alternative unangemessen, wie sie J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes, 42, formuliert: „Markus geht es in erster Linie darum, die Lesenden mit der eschatologischen Botschaft Jesu zu konfrontieren; die hoheitliche Identität des Botschafters spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle.“
Markus: Der Weg Jesu 371
ti, der für Markus nicht nur eine Gestalt der Geschichte ist, sondern der gekreuzigte und auferstandene Gottessohn und darum auch Subjekt des Evangeliums, dessen Urheber Gott ist. Im Schriftzitat in Mk 1,2bc (Ex 23,20/Mal 3,1LXX) spricht Gott selbst, so dass sowohl das Auftreten des Täufers als auch Jesu Verkündigung vom Willen Gottes umfangen sind. Die Schilderung des Wirkens Johannes d.T. als Vorläufer und Ankünder Jesu (Mk 1,4–8) betont den außerordentlichen Anspruch der sich anschließenden Erzählung, denn von dem, der mit Heiligem Geist taufen wird (Mk 1,8), darf wahrhaft Großes erwartet werden. Die Tauferzählung Mk 1,9–11 unterstreicht Jesu besonderes Verhältnis zu Gott und dient als narrative Entfaltung von Mk 1,1. Für die Hörer/Leser wird der Gottessohn-Titel in zweifacher Weise präzisiert: 1) Der Geist Gottes qualifiziert den Sohn Gottes, der 2) in einzigartiger Weise von Gott geliebt wird. Die Versuchungserzählung in Mk 1,12 f fungiert als Prolepse für die in der späteren Handlung dominierenden Konflikte. Jesus widersteht dem Satan, denn er gehört auf die Seite Gottes, so dass ihm die Engel dienen und die wilden Tiere ihn nicht gefährden. In Mk 1,14f ist der Punkt erreicht, wo sich die Ankündigung des Täufers erfüllt, so dass er als Handlungsfigur nicht mehr in Erscheinung treten muss. Als Leitverse des gesamten Evangeliums formulieren V. 14.15 prägnant die theologisch-eschatologische Verkündigung Jesu Christi: Die heilvolle Nähe der Herrschaft Gottes fordert Umkehr und Glauben. Das Evangelium Gottes, der es verkündende Sohn Gottes und die Herrschaft Gottes gehören bei Markus untrennbar zusammen. Die Autorisierung durch den einen Gott Israels
Im Markusevangelium legt Gott selbst sein Verhältnis zu Jesus fest. Die Himmelsstimme in Mk 1,11 („Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“) und 9,7 („Dieser ist mein geliebter Sohn, hört ihn!“) qualifiziert, legitimiert und autorisiert Jesus vor den Hörern/Lesern des Evangeliums und vor aller Welt. Die Verklärungsgeschichte insgesamt (Mk 9,2–8) lässt Jesus aus hellenistischer Sicht als eine über die Erde wandelnde Gottheit erscheinen, die bei dieser Gelegenheit ihre göttliche Herrlichkeit offenbart76. Himmelsstimmen sind in der gesamten Antike eine Offenbarungs- und Autorisierungsinstanz77, die ein Sprechen Gottes ohne unmittelbare anthropomorphe Elemente ermöglichen. Eine vergleichbare Funktion hat der himmlische Bote am leeren Grab (Mk 16,6f), denn seine Botschaft von der Auferweckung Jesu und den zu erwartenden Erscheinungen in Galiläa ist Gotteswort und verbürgt die Wahrheit und Wirklichkeit der im Evangelium nicht dargestellten Ereignisse. Eine weitere Autorisierungsinstanz sind die ausgeführten atl. Zitate 78, in denen
76 Vgl. NEUER WETTSTEIN I/1.1 zu Mk 9,2–8par. 77 Vgl. dazu P. KUHN, Offenbarungsstimmen im an-
tiken Judentum, Tübingen 1989; ferner die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2, 622 f.
78 Vgl. hier A. SUHL, Die Funktion der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Markusevangelium, Gütersloh 1965; J. MARCUS, The Way of the Lord. Christological Exegesis of the Old Testament in
372 Sinn durch Erzählen
zumeist Gott selbst durch Jesus spricht. Bereits die Eingangszitationen in Mk 1,2f (Ex 23,20; Mal 3,1; Jes 40,3) erheben den Anspruch, dass Gott als Herr der Geschichte mit dem Auftreten Jesu seine an Israel gegebene Verheißung einlöst. In den Auseinandersetzungen mit den Gegnern weisen die Schriftzitate nach, dass Jesus sich in seiner Verkündigung und Praxis in ausdrücklicher Übereinstimmung mit dem Willen Gottes befindet (vgl. Mk 10,19). Das Verhalten der Gegner, die über keine wirkliche Schriftkenntnis (vgl. Mk 2,25; 12,10 f.26.35ff) verfügen, entspricht menschlichen Maßstäben (Mk 7,6f). Die souveräne Schriftkenntnis Jesu hingegen zeigt sich nicht nur in der Erhellung des Unglaubens/Unverständnisses der Menge/der Jünger (vgl. Mk 4,11f; 8,18; 14,27), sondern vor allem in der Befolgung (vgl. Mk 10,19) und vollmächtigen Auslegung (vgl. Mk 12,26) des Gotteswortes. Die Schrift und der in ihr festgeschriebene Wille Gottes bestätigen und legitimieren Jesus (vgl. Mk 12,36). Ein auffälliger Befund unterstreicht die theozentrische Konzeption des ältesten Evangelisten: Im Lehrgespräch über das Hauptgebot Mk 12,28–34 wird ausdrücklich in V. 29 das monotheistische Grundbekenntnis Israels zitiert: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein Herr“ (Dtn 6,4LXX), um dann in V. 32 in Anlehnung an Dtn 4,35; Ex 8,6; Jes 45,21LXX variiert zu werden: „Einer ist er, und einen anderen außer ihm gibt es nicht.“ Weder das Zitat noch seine Variation werden von Matthäus und Lukas übernommen, so dass Markus wie kein anderer Evangelist das monotheistische Glaubensbekenntnis des frühen Christentums betont, zumal er in Mk 2,7 und 10,18 ausdrücklich darauf anspielt79 und in 12,26 vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs spricht. Es ist der eine Gott Israels, der in der Kontinuität seiner selbst in Jesus handelt und seine Verheißungen zur Erfüllung kommen lässt. Gottes Reich und Gottes Herrschaft
Auch der zentrale Inhalt der Verkündigung Jesu ist theozentrisch ausgerichtet: v basileı´a tou˜ heou˜ („das Reich/die Herrschaft Gottes“ in Mk 1,15; 4,11.26.30; 9,1.47; 10,14 f.23–25; 12,34; 14,25; 15,43). Die basileı´a ist eine von Gott eröffnete neue Wirklichkeit, die in den von Markus übernommenen Texten80 vor allem eine zeitliche und räumliche Dimension aufweist. Als nahe, aber zugleich zukünftige Größe erscheint das Reich Gottes/die Herrschaft Gottes vor allem in Mk 1,15; 9,1; 10,23–25; 14,25; 15,43; eine überwiegend gegenwärtige Bedeutung hat basileı´a tou˜ heou˜ in Mk 4,11; 10,13–15; 12,34. Räumliche Dimensionen finden sich in Mk 9,1 (‚das Reich Gottes sehen‘); 9,47 (‚in das Reich Gottes eingehen‘); 10,15 (‚das Reich Gottes an-
the Gospel of Mark, Louisville 1992; TH.R. HATINA, In Search of a Context: The Function of Scripture in Mark's Narrative, JSNT.S 232, Sheffield 2002. 79 Vgl. dazu J. GNILKA, Zum Gottesgedanken in der Jesusüberlieferung, in: Monotheismus und Christo-
logie, hg. v. H.-J. Klauck, QD 138, Freiburg 1992, (144–162) 151 f. 80 Nach TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), 187, geht lediglich Mk 10,24 auf Redaktion zurück.
Markus: Der Weg Jesu 373
nehmen‘); 10,23–25 (‚in das Reich Gottes kommen‘); 12,34 (‚nicht fern sein vom Reich Gottes‘); 14,25 (‚vom Gewächs des Weinstockes neu trinken im Reich Gottes‘). Markus sieht in der Basileia eine primär futurische Größe, die trotz ihrer unscheinbaren Anfänge (vgl. Mk 4,26–29.30–32) bereits in der Gegenwart eine heilschaffende Dynamik entwickelt. Die Botschaft von der in der Wende der Zeiten (Mk 1,15: kairo´ß) herangenahten Herrschaft und Heilszuwendung Gottes erhebt ihren Anspruch auf Menschen und eröffnet die Möglichkeit, das Leben zu gewinnen. Der Erfüllung der Zeit entspricht die Bereitschaft zur Umkehr und zur Verhaltensänderung (Mk 1,15), denn radikale Entscheidungen sind angesichts der nahenden Gottesherrschaft unausweichlich (Mk 9,42–48). Als große Gefahr sieht Markus den Reichtum an, er kann das Eingehen in das Reich Gottes verhindern (Mk 10,17–27). Demgegenüber steht das rechtlose, auf Hilfe angewiesene Kind, das die von Gott gewollte Haltung gegenüber der neuen Wirklichkeit der Basileia Gottes verkörpert (Mk 10,13–16)81. Es geht um das wahre Leben, die Vergebung und die endzeitliche Rettung, die in der Verkündigung des Reiches/der Herrschaft Gottes durch Jesus gegenwärtig sind. Das ‚Geheimnis der Gottesherrschaft‘ (Mk 4,11: mustv´rion . . . tv˜ß basileı´aß tou˜ heou˜) ist kein anderes als das der Person Jesu Christi, des Sohnes Gottes (Mk 1,1). Basileiatheologie und Christologie sind bei Markus kein Gegensatz, sondern die Christologie wird theozentrisch fundiert: Gottes Reich/Gottes Herrschaft bildet den Rahmen und den Inhalt der Verkündigung Jesu82. Das Evangelium Gottes
Das von Markus entfaltete Evangelium Jesu Christi (Mk 1,1) ist als solches das Evangelium Gottes (Mk 1,14)83. Alle sieben euagge´lion-Belege (vgl. Mk 1,1.14f; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9) gehen auf den Evangelisten zurück84. Wurde vor Markus euagge´lion immer als Verkündigung von Jesus Christus verstanden, wobei ein genitivus objectivus LIvsou˜ Cristou˜ zu ergänzen war, zeigt sich nun eine grundlegende Veränderung. In Mk 1,1 ist Jesus Christus Verkünder und zugleich Inhalt des Evangeliums, der Genitiv LIvsou˜ Cristou˜ bezeichnet das Subjekt und das Objekt des Evangeliums85. Die Korrespondenz zwischen Mk 1,1 und Mk 1,14f verdeutlicht, dass für Markus der im Evangelium verkündigte Jesus Christus zugleich der Verkünder des Evangeliums ist, ohne dass für Markus die theo -logische Verkündigung Jesu und das christologische Bekenntnis der Gemeinde einen Gegensatz darstellen. Das Evangelium Gottes umfasst Gottes Heilswillen und Heilsmacht ebenso wie Jesu Verkündigung und Geschick, um sich in der nachösterlichen Verkündigung der mk. Gemeinde fortzuset81 Zur ausführlichen Analyse vgl. P. MÜLLER, In der
Mitte der Gemeinde, Neukirchen 1992, 56–78. 82 Vgl. TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), 191–196. 83 Diesen Aspekt betont nachdrücklich J. DECHOW, Gottessohn und Herrschaft Gottes, 274–280.
84 Nachweis bei G. STRECKER, Literarkritische Überlegungen zum euagge´lion-Begriff im Markusevangelium, in: ders, Eschaton und Historie, Göttingen 1979, 76–89. 85 Vgl. J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 43.
374 Sinn durch Erzählen
zen. Das Evangelium Gottes hat immer und zu allen Zeiten das Evangelium Jesu Christi zum Inhalt und umgekehrt! Die Taten und Worte Jesu Christi sind Inhalte des Evangeliums, zugleich ist aber Jesus Christus für Markus nicht nur eine Gestalt der Geschichte, sondern der gekreuzigte und auferstandene Gottessohn und darum auch Subjekt des Evangeliums86. Die Repräsentanz des Evangeliums durch Jesus und die Repräsentanz Jesu im Evangelium unterstreicht Markus nachdrücklich durch die Anfügung von „um des Evangeliums willen“ an „um meinetwillen“ in Mk 8,35; 10,29 (vgl. die universale Evangeliumsverkündigung in Mk 13,10; 14,9). Damit verbindet der Evangelist das vergangenheitliche und gegenwärtige Wirken Jesu Christi untrennbar mit dem Evangelium als Verkündigungsbotschaft und Literaturgattung. Zugleich verschränken sich hier die für die Gattung Evangelium konstitutive textinterne und textexterne Ebene. Der auf der textinternen Ebene von Jesus gesprochene Entscheidungsruf zielt auf textexterner Ebene auf die mk. Gemeinde, für die Jesus Christus im Evangelium zugänglich und gegenwärtig ist. Indem Markus in seinem Evangelium den irdischen Weg des Gottessohnes Jesus Christus darstellt, nimmt er eine bereits in 1Kor 15,3b–5 erkennbare Tendenz auf: Das Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus ist ohne die elementare Bindung an den Weg des irdischen Jesus nicht möglich87. Gott selbst machte Jesus zu seinem Sohn (Mk 1,9–11) und beauftragte ihn mit der Verkündigung des Evangeliums, so dass die historiographische Darstellung des Weges Jesu, die christologischen Implikationen und die theologische Grundlegung immer einander bedingen und Ostern dabei keine Zäsur darstellt. Die frohe Botschaft des Markus handelt von der Manifestation der Heilsmacht Gottes im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Wille Gottes
Jesu Weg entspricht bei Markus von Anfang an dem Willen Gottes (Mk 1,2f)88. Am Tun des Willens Gottes und nicht der Blutsverwandschaft entscheidet sich, wer zu Jesu Familie gehört (Mk 3,31–35; 8,34–38). Es entspricht dem Willen Gottes, den Sabbat seiner ursprünglichen Bestimmung zurückzugeben und Leben zu retten (Mk 2,23–28; 3,1–6), denn: „das Gebot Gottes lasst ihr außer Acht und haltet fest an der Überlieferung der Menschen“ (Mk 7,8; vgl. 7,13). Jesus kennt den Willen Gottes und lehnt es ab, ihn durch menschliche Überlieferungen zu verfälschen. Er weiß, dass nur in der Übereinstimmung mit dem Willen Gottes Leben gelingen und ewiges Le-
86 Vgl. umfassend TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), 198–251. 87 Vgl. M. HENGEL, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe (s. o. 4.2), 127: „das Evangelium als Erzählung des Heils-
geschehens stand von Anfang an in notwendiger Parallelität zum Evangelium als Kerygma“. 88 Vgl. dazu G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 117–182.
Markus: Der Weg Jesu 375
ben gewonnen werden kann und weist deshalb den reichen Jüngling von sich weg: „Was nennst du mich gut? Keiner ist gut, wenn nicht der eine Gott“ (Mk 10,18). Die anschließende Zitierung von Teilen des Dekalogs (Mk 10,19) unterstreicht, dass Jesus sich ganz am Willen Gottes ausrichtet. Sogar die Gegner erkennen an, dass Jesus der Wahrheit verpflichtet ist und auf das Ansehen der Person keine Rücksicht nimmt, denn er „lehrt in Wahrheit den Weg Gottes“ (Mk 12,14). Jesus weiß, was Gott gebührt und dem Kaiser zusteht (Mk 12,13–17). Nachdrücklich bringt Mk 12,1– 12 Gottes vergangenheitliches und gegenwärtiges Handeln zur Sprache89. Die Erwählung Israels (Mk 12,1) entspricht ebenso seinem Willen wie die Sendung der Knechte (Mk 12,2–5) und schließlich das Kommen des Sohnes (Mk 12,6). Mit der Tötung des einzig geliebten Sohnes (Mk 12,6; vgl. 1,11) tritt eine irreversible Wende in dem Verhältnis zwischen Gott und den Winzern ein. Gottes Güte und Langmut offenbaren sich allen Widerständen zum Trotz in dem neuen Anfang mit dem ‚Eckstein‘ Jesus Christus, der in der Schrift angekündigt wurde (Ps 118,22fLXX in Mk 12,10f) und dem die neuen Winzer (Mk 12,9) die erwarteten Früchte bringen. Vom Willen Gottes weiß Jesus sich auch im Sterben umgeben, im Gebet zeigen sich seine Vertrautheit mit Gott und sein Gehorsam: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36). Jesu Theozentrik ist die Grundlage des mk. Evangeliums; der Evangelist schildert Jesus als vollmächtigen Gottessohn und Messias, der dem Willen und Anspruch Gottes im gegenwärtigen Kairos Geltung verschafft. Er fordert auf zum Glauben an den Gott (Mk 11,22: „Habt Glauben an Gott!“), der ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist (Mk 12,27) und dessen Allmacht alles möglich erscheinen lässt (Mk 10,27)90.
8.2.2
Christologie
PH. VIELHAUER, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, TB 31, München 1965, 199–214; K. KERTELGE, Die Wunder im Markusevangelium, StANT 23, München 1970; L. SCHENKE, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums, Stuttgart 1974; D.-A. KOCH, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin 1975; R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheimnis‘: ihr Zusammenhang und Stellenwert in den Darstellungsintentionen des Markus, EvTh 43 89 Zur Auslegung von Mk 12,1–12 vgl. zuletzt R. KAMPLING, Israel unter dem Anspruch des Messias, SBB 25, Stuttgart 1992, 153–195; TH. SCHMELLER, Der Erbe des Weinbergs, MThZ 46 (1995), 183–201; U. MELL, Die „anderen“ Winzer, WUNT 77, Tübingen 1994, 29–188.
90 Zu den Motiven der Macht und Allmacht Gottes vgl. ausführlich G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 183–217.
376 Sinn durch Erzählen
(1983), 108–125; J. D. KINGSBURY, The Christology of Mark’s Gospel, Philadelphia 1983; C. BREYGrundzüge markinischer Gottessohn-Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 169–184; E. K. BROADHEAD, Teaching in Authority. Miracles and Christology in the Gospel of Mark, JSNT.S 74, Sheffield 1992; R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien, HThK.S 4, Freiburg 1993, 28–89; M. DE JONGE, Christologie im Kontext (s. o. 4), 39–56; P. MÜLLER, „Wer ist dieser?“ Jesus im Markusevangelium, BThSt 27, Neukirchen 1995; F. J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 5–26; L. SCHENKE, Gibt es im Markusevangelium eine Präexistenzchristologie?, ZNW 91 (2000), 45–71; D.S. DU TOIT, „Gesalbter Gottessohn“ – Jesus als letzter Bote Gottes. Zur Christologie des Markusevangeliums, in: „. . .was ihr auf dem Weg verhandelt habt“ (FS F. Hahn), hg. v. P. Müller/Chr. Gerber/Th. Knöppler, Neukirchen 2001, 37–50; M. EBNER, Kreuzestheologie im Markusevangelium, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament, hg. v. A. Dettwiler/J. Zumstein, WUNT 151, Tübingen 2002, 151–168; D.S. DU TOIT, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen, WMANT 111, Neukirchen 2006. TENBACH,
Die Theologie ist das Fundament, die Christologie das Zentrum des mk. Denkens91. Die besondere Leistung des Evangelisten besteht gerade darin, den irdischen Weg des Gottessohnes Jesus Christus darzustellen, d. h. die Legitimation des Jesus von Nazareth durch Gott und die daraus folgende Würde seiner Person in eine dramatische Erzählung umzusetzen. All diese Aspekte müssen als Einheit gesehen werden, denn weder die Theologie noch die Christologie lassen sich jenseits der Erzählung erheben, sondern alles ist immer aufeinander bezogen und ineinander verwoben92. Christologische Titel
Ein erster unmittelbarer Ausdruck der narrativ-christologischen Konzeption des Evangelisten ist die bewusste Platzierung christologischer Hoheitstitel innerhalb der Erzählung. Dem uıo`ß heou˜-Titel („Sohn Gottes “) kommt innerhalb des Aufbaus des Evangeliums eine ganz besondere Bedeutung zu, denn er strukturiert nicht nur die Erzählung (vgl. Mk 1,1; 1,11; 3,11; 9,7; 12,6; 14,61; 15,39), sondern beantwortet prägnant die Leitfrage der mk. Christologie: „Wer ist dieser?“ (vgl. Mk 1,27; 4,41; 6,2 f.14–16; 8,27ff; 9,7; 10,47f; 14,61f; 15,39). Die bevorzugte Verwendung von uıo`ß heou˜ ist kein Zufall, denn dieser Titel war sowohl für Juden als auch für Menschen griechisch-römischer Religiosität rezipierbar93. Bereits Mk 1,1 verdeutlicht, dass der irdische Weg 91 Anders F. VOUGA, „Habt Glauben an Gott“ (s. o. 8.2.1), 107: „Das eigentliche Thema und das Zentrum des Markusevangeliums ist nämlich nicht die Christologie, sondern to` mustv´rion tv˜ß basileı´aß tou˜ heou˜ und der Anfang ihrer Verkündigung und ihrer Geschichte unter den Menschen.“ 92 Vgl. F. J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 26, wonach keiner der christologischen Titel
„can be understood adequately apart from Mark’s narrative; for the Christology is in the story, and through the story we learn to interpret the titles.“ 93 Vgl. dazu A.Y. COLLINS, Mark and His Readers: The Son of God among Jews, HThR 92 (1999), 393– 408; DIES., The Son of God among Greeks and Romans, HThR 93 (2000), 85–100.
Markus: Der Weg Jesu 377
Jesu zugleich der Weg des Gottessohnes ist. Jesus Christus steht gleichermaßen mit Himmel und Erde in Verbindung, und deshalb ist seine Geschichte eine himmliche und irdische. Er ist von Anfang an Gottes Sohn und wird es zugleich innerhalb der Erzählung94. Markus verdeutlicht diesen fundamentalen Zusammenhang auf mehreren Ebenen. Durch die Wendung o uıo´ß mou o agapvto´ß (1,11; 9,7: „mein geliebter Sohn“) bzw. uıo`ß agapvto´ß (12,6: „geliebter Sohn“) werden die Erzählung von der Taufe Jesu (Mk 1,9–11), die Verklärungsgeschichte (Mk 9,2–9) und die Winzerallegorie (Mk 12,1–12) terminologisch verbunden und zu Leittexten. Sie formieren eine christologische Erkenntnislinie, insofern hier durch Gottes Stimme Himmel- und Erdenwelt zusammentreten und zur Bezeichnung der Gottzugehörigkeit Jesu jeweils der Titel uıo´ß gebraucht wird. Während Taufe und Verklärung Jesu Würde formulieren und präsentieren, präludiert die Winzerallegorie die Passion, so dass alle drei Texte auf das Bekenntnis des Centurio unter dem Kreuz (Mk 15,39) zulaufen: „Dieser war wahrhaftig Gottes Sohn“. Die Vergangenheitsform vn signalisiert, dass für Markus der irdische Jesus der Gottessohn war95. Im kompositorischen Gerüst des Evangeliums sind Taufe, Verklärung, Verwerfung und Bekenntnis unter dem Kreuz die Grundpfeiler, um die herum Markus seine Traditionen in Form einer vita Jesu gruppiert. Der Titel uıo´ß markiert dabei die inhaltliche Mitte, denn er vermag Jesu göttliches Wesen und sein Leidens- und Todesgeschick gleichermaßen zu umfassen. Jesu Sein und Wesen stehen von Anfang an fest, er ist Gottes Sohn und verändert sein Wesen nicht. Aber für die Menschen wird er erst Gottes Sohn, denn sie brauchen einen Erkenntnisprozess96. Dieser Prozess ist die vita Jesu, so wie Markus sie in der neuen Literaturgattung Evangelium darstellt. Zum Ziel gelangt dieser Erkenntnisprozess erst am Ende des Evangeliums, am Kreuz. Erst hier ist es ein Mensch und nicht Gott, der Jesus als uıo`ß heou˜ erkennt (Mk 15,39). Zuvor wissen dies nach der internen Erzähllogik nur Gott (Mk 1,11; 9,7), die Dämonen (Mk 3,11; 5,7) und der Sohn selbst (Mk 1,11; 12,6; 14,61f). Der Mensch muss erst den ganzen Weg Jesu von der Taufe bis zum Kreuz durchschreiten, um zu einer angemessenen Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu Christi zu gelangen. Am Ende dieses Weges provoziert die Akklamation des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz unwillkürlich einen Vergleich mit dem imperialen Kult, denn die höchste Macht auf Erden steht nicht dem als Gottessohn/Gott verehrten Kaiser97, sondern dem Gottessohn Jesus Christus zu. Der 94 Diese Doppelstruktur erklärt sich aus der Situation des Markus, der um 70 n.Chr. natürlich eine Christologie voraussetzt, zugleich aber innerhalb der neuen Gattung Evangelium verdeutlichen will, wie Jesus wurde, was er schon immer war. Damit ist Markus aber nicht ein Vertreter einer Präexistenzchristologie (anders L. SCHENKE, Gibt es im Markusevangelium eine Präexistenzchristologie?, 53ff), denn die logische Schlussfolgerung heutiger Exegese kann nicht den schlichten Tatbestand aufheben, dass
Markus eine Präexistenzchristologie literarisch nicht umsetzt und sie deshalb auch nicht vertritt. 95 Vgl. D. S. DU TOIT, „Gesalbter Gottessohn“, 39. 96 Vgl. R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheimnis‘, 115 f. 97 Zum Kaiser als ‚Sohn Gottes‘ vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/1.1 zu Mk 15,39; zum Kaiser als Gottheit vgl. M. CLAUSS, Kaiser und Gott (s. o. 7.4), 217–419.
378 Sinn durch Erzählen
zentrale christologische Titel des ältesten Evangeliums wurde von den Hörern/Lesern sicherlich auch im Kontext des zeitgenössischen Kaiserkultes rezipiert98. Als positive christologische Bestimmung ist er zugleich eine massive Infragestellung des Kaiserkultes als politische Religion, denn nicht der Kaiser, sondern ein von den Römern Gekreuzigter ist der Sohn Gottes! Als Polemik gegen den allumfassenden Anspruch des römischen Kaisers muss auch der Exorzismus in Mk 5,1–20 gelesen werden, denn die Dämonen heißen Legion (Mk 5,9: legiw´n; Legion = römische Heeresabteilung von 4200–6000 Mann), nehmen Zuflucht in einer unreinen Schweineherde und ersaufen schließlich (Mk 5,9–11). Nicht nur der Gerasener, sondern das Land ist nun (von den Römern) befreit! Der Rangstreit der Jünger (Mk 10,35–45) mit seiner Ablehnung herkömmlicher Herrschaftsprinzipien dürfte ebenfalls gegen den Machtanspruch des Kaiserkults gerichtet sein. Während der Gottessohn-Titel das Wesen Jesu benennt, zielt der Menschensohn-Titel (uıo`ß tou˜ anhrw´pou) mehr auf seine Wirksamkeit und Funktion99. Der gegenwärtig vollmächtig wirkende Menschensohn steht im Mittelpunkt von Mk 2,10; 2,28, wo Jesus sich mit jüdischen Auslegungstraditionen auseinandersetzt und Neubestimmungen vornimmt. Die richterliche Funktion des Menschensohnes steht in Mk 8,38 im Vordergrund. Das gegenwärtige Bekennen oder Nicht-Bekennen zur Reich-Gottes-Verkündigung Jesu (vgl. Mk 9,1) hat Heil oder Gericht zur Folge, die für Markus zwei Seiten einer Medaille darstellen, weil sie beide unabdingbar an die Person Jesu gekoppelt sind. Vom Kommen des Menschensohnes handeln Mk 13,26 und 14,62. Auffällig ist in Mk 14,61f die Häufung christologischer Titel: uıo`ß heou˜, uıo`ß tou˜ eulogvtou˜ („Sohn des Hochgelobten“) und uıo`ß tou˜ anhrw´pou. Mk 14,61f markiert einen christologischen Kulminationspunkt und Höhepunkt des Evangeliums: Der äußerlich machtlose und den Gewalten ausgelieferte Jesus wird von Markus mit höchster Würde versehen. Auch wenn hier auf dem Menschensohn-Titel der Nachdruck liegt, wird deutlich, dass sich bei Markus die Titel gegenseitig ergänzen und interpretieren. Eine passionstheologische Ausrichtung dominiert in den Aussagen über den leidenden Menschensohn in Mk 8,31; 9,9.12.31; 10,33.45; 14,21.41. Hierbei handelt es sich um eine spezifisch mk. Redeform, die zuvor im frühen Christentum nicht belegt ist. Alle Belege liegen nach Mk 8,27 und öffnen vor allem durch die drei Leidensankündigungen in Mk 8,31; 9,31; 10,33 den Weg von Galiläa nach Jerusalem100, den Ort seines Leidens und Sterbens in Niedrigkeit und Spott. Seit Mk 8,27 gilt uneingeschränkt, dass Jesus auf das Kreuz zugeht und Markus vom Kreuz her denkt; d. h. die Rede vom leidenden Menschensohn ist eine Form mk. Kreuzestheologie.
98 Diesen Aspekt betont M. EBNER, Kreuzestheologie
100 Vgl. R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheim-
im Markusevangelium, 153–158. 99 Vgl. hier U. KMIECIK, Der Menschensohn im Markusevangelium, FzB 81, Würzburg 1997.
nis‘, 116 f.
Markus: Der Weg Jesu 379
Der Cristo´ß-Titel („Gesalbter/Messias “) erscheint an zwei hermeneutischen und theologischen Schlüsselstellen des Evangeliums: Mk 1,1 und 8,29 (ferner 9,41; 12,35; 13,21; 14,61; 15,32). Mk 1,1 qualifiziert die mk. Verkündigung nicht nur als Evangelium von Jesus Christus, sondern Jesus ist als der Cristo´ß gleichermaßen Inhalt und Verkünder des Evangeliums (s. o. 8.2.1). Was für den Sohnes-Titel gilt, trifft auch bei Cristo´ß zu: Jesus ist schon immer das, was er innerhalb der Erzählung wird. Dies verdeutlicht Mk 8,29, wo durch Petrus die einzige ausdrückliche Christusprädikation ausgesprochen wird: „Du bist der Christus“ (su` eı o Cristo´ß). Indem Markus sie unter ein Schweigegebot stellt (8,30), die erste Leidensweissagung anfügt (8,31) und das Ansinnen des Petrus, Jesus solle dem Leiden ausweichen, scharf zurückweist (8,32f), bringt der Evangelist literarisch und theologisch sein Verständnis von Cristo´ß zum Ausdruck: Petrus hat prinzipiell richtig erkannt, dass Jesus der Messias ist; zugleich gilt es festzuhalten, in welcher Weise er es wird. Der leidende Menschensohn und der hoheitliche Christus sind ein und derselbe, es gibt die Hoheit nicht jenseits der Niedrigkeit und umgekehrt. Damit stellt Markus den Cristo´ß-Titel keineswegs unter einen Vorbehalt101, sondern wahrt das paradoxe Personengeheimnis Jesu Christi, das sich nicht aus der schriftgelehrten Reflexion ableiten lässt. Mk 12,35–37 wehrt den Einwand ab, der Christus sei Davids Sohn102. Ps 110,1LXX bringt vielmehr den wahren Rang des Christus zum Ausdruck, der als ku´rioß („Herr“)103 in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott steht. Gottes Handeln entzieht sich jeder Berechenbarkeit und lässt sich nicht aus der Geschichte ableiten104. Das Personengeheimnis
Der Erkenntnis des Gottessohnes Jesus Christus dient auch die mk. Geheimnistheorie. Die Verborgenheit Jesu als Heilsgestalt findet sich bei Markus in verschiedenen Ausformungen, die jeweils im Rahmen einer übergeordneten christologischen Geheimnistheorie verstanden werden wollen. 1) Die Messiaserkenntnis der Dämonen und die Schweigegebote Jesu an sie : In Mk 1,25; 1,34; 3,12 finden sich Schweigegebote an Dämonen, die eine zutreffende Aussage über die Person Jesus Christus gemacht hatten (Mk 1,24: o aÇgioß tou˜ heou˜ = „der Heilige Gottes“ Mk 3,11: su` ei o uıo`ß tou˜ heou˜ = „du bist der Sohn Gottes“)105. Kann das
101 Anders F. HAHN, Theologie I, 501: „Der Messiastitel wird als im Blick auf den irdischen Jesus proleptisch verwendet und ist ebenso wie ‚Davidssohn‘ im Sinn des Messias designatus zu verstehen.“ 102 Zur Davidssohn-Vorstellung vgl. auch Mk 10,47f; 11,10. 103 Ku´rioß dient vornehmlich in LXX-Zitaten als Gottesbezeichnung (vgl. Mk 11,9; 12,11.29 f.36; ferner 12,9; 13,20), ferner als Hoheitstitel für Jesus (Mk 1,3; 5,19; 11,3; 12,36f; 13,35), als Anrede Jesu
(Mk 7,28) und als Bezeichnung seines hoheitlichen Wirkens (Mk 2,28). 104 Vgl. J. M. ROBINSON, Messiasgeheimnis und Geschichtsverständnis (s. o. 8.2), 65. 105 In Mk 5,8 setzt der Evangelist anstelle des Schweigegebotes einen Ausfahrbefehl als Reaktion auf die Dämonenerkenntnis in Mk 5,7. Ein Schweigegebot wäre hier unangebracht gewesen, weil von der traditionellen Erzählung her ein Gespräch zwischen Jesus und den Dämonen vorgegeben war.
380 Sinn durch Erzählen
Schweigegebot in Mk 1,25 als exorzistisches Mittel zur Überwindung des Dämons im Rahmen der traditionellen Topik einer Exorzismuserzählung verstanden werden, so müssen die beiden Schweigegebote an die Dämonen in den Wundersummarien Mk 1,32–34; 3,7–12 eindeutig als redaktionell angesehen werden106. Markus will dadurch verdeutlichen, dass die Erkenntnis Jesu aus den Wundertaten heraus noch nicht ausreicht, um seine Gottessohnschaft umfassend zu verstehen. Die Wundertaten machen Jesus Christus noch nicht zum Gottessohn107. 2) Die verborgene Durchführung der Wunder Jesu : Das Verbot ihrer Verbreitung und die Durchbrechung dieses Gebotes. In Mk 5,43a; 7,36a untersagt Jesus im Rahmen einer Wunderhandlung den Anwesenden oder den Geheilten selbst die öffentliche Bekanntmachung des Heilungsgeschehens. Diese Anordnung wird in Mk 7,36b durchbrochen, ebenso erfährt der präzise, in der Tradition vorgegebene Auftrag in Mk 1,44 in Mk 1,45 eine Durchbrechung108. Das Verbreitungsverbot soll verhindern, Jesus allein aus seinen Wundern heraus zu definieren und zu usurpieren. In den Wundern enthüllt sich Jesu Geheimnis noch nicht umfassend, zugleich zeigen die Durchbrechungen dieses Verbotes jedoch an, dass Jesu Epiphanwerden als Wundertäter nicht unterbunden werden kann (vgl. auch Mk 7,24!)109. Markus betrachtet diesen Tatbestand keineswegs negativ, er weist lediglich einen Absolutheitsanspruch der Wunder in Bezug auf die Person Jesu zurück. Auf der Ebene der textimmanenten Erzähllogik lässt sich die Mehrzahl der Schweigegebote und Verbreitungsverbote nicht erklären, sie verweisen auf eine christologische Metatheorie. 3) Das Jüngerunverständnis : Bis Mk 8,27 richtet sich das Unverständnis der Jünger auf die Lehre (Mk 4,13; 7,18) und die Person Jesu (Mk 4,40f; 6,52). Ab Mk 8,27 verändert sich das Bild: Sowohl die geheimen Jüngerbelehrungen als auch das Jüngermissverstehen treten gehäuft auf. Wurden die Jünger in Mk 8,17.21 noch als verstockt und hartherzig dargestellt, so erfolgt mit dem Petrusbekenntnis in Mk 8,29 ein Einschnitt. Es hat eine Wandlung im Erkenntnisgrad der Jünger stattgefunden, die nun über ein Bewusstsein der Messianität Jesu verfügen. Das Schweigegebot in Mk
106 Vgl. zur Analyse J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 76 f.85 f.133. B. KOLLMANN, Jesu Schweigegebote an die Dämonen, ZNW 82 (1991), 267–273, hält auch das Schweigegebot in Mk 1,25 für redaktionell. 107 G. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung (s. o. 8.2.1), 288–332, interpretiert das Messiasgeheimnis im Horizont des Verhältnisses von Monotheismus und Christologie und meint zur Funktion der Schweigegebote an die Dämonen: „Mit den Schweigegeboten gegen die Dämonen führt Markus im Rahmen der Geheimnismotive eine weitere Vorsichtsmaßnahme ein, durch die er Jesus davor schützt, der Verletzung des Ersten Gebotes und der Verführung dazu angeklagt zu werden“ (a. a. O., 331).
108 Zum redaktionellen Charakter von Mk 1,45; 5,43a; 7,36 vgl. J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 91.211.296. 109 Vgl. M. FRENSCHKOWSKI, Offenbarung und Epiphanie II, WUNT 2.80, Tübingen 1997, 211: „das Numen verrät sich, sein wahres Wesen schimmert immer wieder durch die Verborgenheit hindurch.“ Frenschkowski ordnet die mk. Jesus-Darstellung insgesamt dem in der Antike verbreiteten Modell der ‚verborgenen Epiphanien‘ zu; vgl. DERS., Offenbarung und Epiphanie II, 148–224.
Markus: Der Weg Jesu 381
8,30 und die Reaktion des Petrus auf die 1. Leidensankündigung zeigen aber, dass die Jünger in Mk 8,27–33 das Leidensgeheimnis der Person Jesu ebenso wenig verstehen wie in Mk 9,5f; 9,30–32; 10,32–34. Mit dem Jüngerunverständnis verdeutlicht Markus gewissermaßen von der negativen Seite her, wie die Person Jesu nicht verstanden werden darf. Ein ganzheitliches Verstehen der Person Jesu kann sich nicht auf seine Hoheit und Herrlichkeit beschränken und das Leiden ausklammern. Vielmehr gehört beides zu einer umfassenden Erkenntnis Jesu. 4) Schweigegebote an die Jünger : Die beiden Schweigegebote an die Jünger in Mk 8,30; 9,9 sind für die mk. Geheimnistheorie von großer Bedeutung. Mit dem Schweigegebot in 8,30 verdeutlicht Markus110, dass mit dem Petrusbekenntnis allein noch keine vollständige und endgültige Erkenntnis der Person Jesu verbunden ist. Dies zeigen die folgende 1. Leidensweissagung und die Reaktion des Petrus. Die grundlegende Bedeutung von Mk 9,9 („Während sie vom Berg herabstiegen, befahl er ihnen, niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei“) für die Geheimnistheorie erkannte bereits W. Wrede111. Markus terminiert die Schweigegebote bis zur Auferstehung Jesu und hebt von dort das Geheimnis um die Person Jesu auf112. Zudem lassen sich aus der immanenten Erzähllogik von Mk 9,2–8 weder das Thema Auferstehung noch eine Terminierung des Schweigegebotes erklären. Schließlich sind das mk. Jüngerunverständnis in V. 10 und das terminierte Schweigegebot in V. 9 sehr eng aufeinander bezogen. Beide verdeutlichen113: Erst Kreuz und Auferstehung ermöglichen eine uneingeschränkte Erkenntnis Jesu Christi. In einem mittelbaren Zusammenhang mit der mk. Geheimnistheorie stehen das SichAbsondern bei Heilungen (vgl. Mk 5,37.40; 7,33; 8,23), die Reduktion des Jüngerkreises (vgl. Mk 5,37; 13,3), Rückzüge Jesu (vgl. Mk 1,35.45; 3,7.9; 6,31 f.46; 7,24) und topologische Motive wie oikoß, oikı´a („Haus“; vgl. Mk 7,17.24; 9,28.33; 10,10), ploı˜on, ploia´rion („Boot“; vgl. Mk 3,9; 6,32.54; 8,13ff), oroß („Berg“; vgl. Mk 3,13; 6,46; 9,2,9; 13,3), ervmoß to´poß („einsamer Ort“; vgl. Mk 1,35.45; 6,31f). Kein unmittelbarer Bestandteil der mk. Geheimnistheorie ist die in ihrem Kern vormarkinische Parabeltheorie (Mk 4,10–12)114. Der Geheimnisgedanke ist bei Markus keine apologetische Theorie zur Erklärung des jüdischen Unglaubens und impliziert auch keine bewusste Verstockung. Vielmehr soll er zum rechten Verstehen der Person
110 Gegen R. PESCH, Mk II (s. o. 8.2), 33.39, ist Mk
8,30 als redaktionell anzusehen; vgl. u. a. J. GNILKA, Mk II (s. o. 8.2), 10; R. WEBER, Christologie und ‚Messiasgeheimnis‘, 118. 111 Vgl. W. WREDE, Messiasgeheimnis (s. o. 8.2), 66 f. 112 H. RÄISÄNEN, Messiasgeheimnis (s. o. 8.2), 109– 117.161; R. PESCH, Mk II (s. o. 8.2), 39.77, halten Mk 9,9 für traditionell. Dagegen sprechen die sachlichen und formalen Übereinstimmungen mit den eindeu-
tig redaktionellen Schweigegeboten in Mk 5,43; 7,36. 113 Beide sind redaktionell; vgl. E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 41975, 100; J. GNILKA, Mk II (s. o. 8.2), 40; D. LÜHRMANN, Mk (s. o. 8.2), 157. 114 Zum Verhältnis von Mk 4,33.34 zur Parabeltheorie vgl. J. GNILKA, Mk I (s. o. 8.2), 190 f.
382 Sinn durch Erzählen
Jesu führen. Deshalb korrigiert der Evangelist die Parabeltheorie in 4,13b nicht unerheblich und stellt durch das Jüngerunverständnismotiv eine indirekte Verbindung zur Geheimnistheorie her.
Die Einzelelemente der mk. Geheimnistheorie entspringen nicht einem historischen Interesse, sondern sie zielen auf den Leser und wollen ihn zu einer umfassenden Erkenntnis Jesu Christi führen. Zugleich ermöglicht die Geheimnistheorie dem Evangelisten Markus, die Jesustraditionen der vormarkinischen Wundergeschichten und die Passionstraditionen im Rahmen der neuen Literaturgattung Evangelium zu verbinden und zu einer neuen Einheit zu verschmelzen115. Mk 9,9 verdeutlicht zudem, dass die Geheimnistheorie als eine Form der mk. Kreuzestheologie begriffen werden muss116. Der Gottessohn Jesus Christus bleibt derselbe in seinem Leiden und in seinem vollmächtigen Wirken. Die Vollmacht Jesu
Ein Schlüsselbegriff mk. Christologie ist exousı´a („Vollmacht“; 10mal bei Mk; 10mal bei Mt; 16mal bei Lk; 8mal bei Joh). Das herausragende Interesse des Evangelisten an diesem Begriff (redaktionell in Mk 1,22.27; 3,15; 6,7; 11,28.29.33; 13,34, traditionell Mk 2,10)117 zeigt sich sowohl auf kompositioneller als auch auf inhaltlicher Ebene. Durch Mk 1,21–28 wird das gesamte Auftreten Jesu unter den Leitbegriff der exousı´a gestellt: „Und sie entsetzten sich alle, so dass einer den anderen fragte: Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht?“ (Mk 1,27). Die in Wort und Tat sich offenbarende exousı´a qualifiziert Jesus in besonderer Weise, denn er hat in einzigartiger Weise Teil an Gottes Autorität, indem er Sünden vergibt (Mk 2,10), den Sabbat seiner Bestimmung wieder zuführt (Mk 2,27f; 3,4), Kranke heilt (Mk 1,40–45 u. ö.), die
115 Eine pragmatische Funktion gibt G. THEISSEN dem
Geheimnismotiv: Aus der Parallelität zwischen der Textwelt des Evangeliums und der realen Welt der Leser/Hörer kann geschlossen werden, dass die sukzessive Enthüllung des Geheimnisses und die damit wachsende Gefährdung Jesu in der sozialen Welt der mk. Gemeinde eine reale Entsprechung hat; vgl. DERS., Evangelienschreibung und Gemeindeleitung (s. o. 8.2), 405. 116 W. WREDE führte das Messiasgeheimnis nicht auf den Evangelisten Markus zurück, sondern sah in ihm das Werk der nachösterlichen, aber vormarkinischen Gemeinde. Es entstand aus der Notwendigkeit eines Ausgleiches zwischen dem unmessianischen Leben Jesu und dem nachösterlichen Gemeindeglauben. Im Verlauf der Forschungsgeschichte hatten sowohl die These unmessianischer Jesustraditionen als auch die Annahme eines vormarkinischen
Ursprunges des Messiasgeheimnisses keinen Bestand. Speziell die Arbeiten von E. SCHWEIZER zeigten, dass Markus als Urheber der Geheimnistheorie anzusehen ist (vgl. E. SCHWEIZER, Zur Frage nach dem Messiasgeheimnis bei Markus, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970, 11– 20; DERS., Die theologische Leistung des Markus, a. a. O., 21–42). H. RÄISÄNEN trennt die ‚Parabeltheorie‘ völlig vom Messiasgeheimnis und beantwortet die Frage nach der Einheitlichkeit der mk. Geheimnistheorie negativ; vgl. DERS., ,The ‚Messianic Secret‘, 76–143. Ähnlich argumentiert R. PESCH, der in Markus einen konservativen Redaktor sieht, der keine eigenständige christologische Konzeption habe; vgl. DERS., Mk II (s. o. 8.2), 40 f. 117 Vgl. K. SCHOLTISSEK, Die Vollmacht Jesu (s. o. 8.2), 281.
Markus: Der Weg Jesu 383
zeitgenössische Gesetzesauslegung kritisiert (Mk 2,1–3,6) und vollmächtig in die Nachfolge ruft (vgl. Mk 1,16–20; 3,13–19; 6,6b–13 u. ö.). Ein solcher Anspruch konnte nicht ohne Widerspruch bleiben, deshalb die christologische Grundsatzfrage: „In welcher Vollmacht tust du dies, oder wer hat dir die Vollmacht gegeben, dass du dies tust?“ (Mk 11,28). Im Kontext von Mk 11,27–33; 12,1–12 erscheint Jesus als der eschatologische Bevollmächtigte Gottes, wobei der exousı´a-Begriff die Einheit von Person und Werk zum Ausdruck bringt. Die exousı´a des Irdischen ist „Ausdruck der messianischen Sendung des Gottessohnes zur Verkündigung und Vermittlung der nahen Gottesherrschaft.“118 Mk 2,1–3,6 als Präludium der Passion und Mk 11,27; 12,1–12 verdeutlichen, dass Markus die Passion als Konsequenz der vollmächtigen Sendung des Messias und Gottessohnes Jesus von Nazareth versteht. In der gehorsamen Annahme des Willens Gottes (Mk 14,36: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“) zeigt sich nicht nur die Würde der Person Jesu, sondern die anhaltende Übereinstimmung seiner Sendung mit dem Willen Gottes. Als sichtbarer Ausdruck der Teilhabe Jesu an der Vollmacht Gottes entfaltet der exousı´a-Begriff die messianische Gottessohnwürde Jesu und profiliert das Verhältnis von Lehre, Tat und Personenwürde. Wunder und Christologie
Wundergeschichten fehlen fast ganz in der Logienquelle und finden sich im mt. und lk. Sondergut nur vereinzelt, so dass Markus und seine Tradition die eigentlichen Träger der ntl. Wunderüberlieferung sind. Die Breite der Erzählformen ist beeindruckend: I) Exorzismen: Mk 1,21–28; 5,1–20; 9,14–27. II) Heilungswunder/Therapien: Mk 1,29–31; 1,40–45; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 10,46–52. III) Rettungswunder: Mk 4,35–41. IV) Epiphanieerzählungen: Mk 6,45–52. V) Geschenkwunder: Mk 6,30–44; 8,1–9. VI) Mischformen: Mk 2,1–12; 3,1–6; 7,24–30. VII) Summarien über die Wundertätigkeit Jesu: Mk 1,32–34; 3,7–12; 6,53–56. Im Zentrum der vormarkinischen Wunderüberlieferung119 steht der Wundertäter selbst, so dass diese Erzählungen als Wundertätergeschichten angesehen werden können, die eine therapeutische Christologie entfalten. Traditionsgeschichtlich knüpfen die Wundergeschichten an die Elia-Überlieferung (vgl. Mk 5,7 mit 1Kön 17; 18) und Mose-Tradition (vgl. Mk 6,32ff) an. Motivgeschichtliche Parallelen liegen auch zur hellenistischen Überlieferung des ‚göttlichen Menschen‘ (heı˜oß anv´r) vor (das wunderbare Erkennen/Vorherwissen: Mk 2,8; 3,2; 4,39f; 5,30; 6,37; 8,4f; Furcht und Entsetzen: Mk 4,41; 5,15.17.33.42; 6,49f; Vertrauen als Anerkennung des Wundertäters: Mk 4,40; 5,34.36; Proskynese: Mk 5,6; Sichtbarwerden göttlicher Macht: Mk 5,30;
118 K. SCHOLTISSEK, a. a. O., 293. 119 Zur vormarkinischen Wunderüberlieferung vgl.
D.-A. KOCH, Wundererzählungen, 8–41.
384 Sinn durch Erzählen
Macht über die Natur: Mk 4,41; 6,48–50; Scheu des Wundertäters vor dem Publikum: Mk 5,40; wunderwirkende Worte/Praktiken: Mk 7,33f). Wie in den hellenistischen Wunderberichten liegt auch in den vormarkinischen Wundertraditionen ein Schwerpunkt auf den Fähigkeiten des Wundertäters, der durch sein Tun seine besondere Qualifikation belegt. Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings im Glaubensverständnis, denn der Glaube ist in den vormarkinischen Wundertraditionen über den Vorgang des Wunders hinaus vor allem auf den Wundertäter gerichtet. Es ist rettender Glaube mit einer soteriologischen Bedeutung, die den bloßen Wundervorgang weit überragt. Dies zeigt sich terminologisch in der Häufung des Wortstammes pist-, der in der vormarkinischen Tradition weitaus häufiger belegt ist als in vergleichbaren hellenistischen Wundererzählungen (vgl. Mk 2,5; 4,40; 5,34.36; 9,23f; 10,52). In den Wundererzählungen kommen die Glaubenserfahrungen des Volkes und von Einzelnen so zur Sprache120, dass sie Jesu Leben spendende Partizipation an der Schöpferkraft Gottes als Heilung, Rettung aus der Gefahr und Überwindung des Mangels sichtbar machen. Die Wunder Jesu sind in der vormarkinischen Gemeinde (wie bei Markus selbst) zentraler Verkündigungsinhalt. In vielen Akklamationen kann man die Reaktion der Zuhörer auf die christliche Missionspredigt hindurchhören. Weil Jesus die Jünger und durch sie die frühen Christen bevollmächtigte, auch Wunder zu vollbringen (vgl. Mk 7,6.13; 9,28.38ff), setzt sich in der Gegenwart der Gemeinde das vollmächtige Tun Jesu fort und ruft immer wieder neu Glauben hervor. Deshalb sieht die Gemeinde ihre eigene Wirklichkeit auch in den Wundern des irdischen Jesus begründet und erzählt davon. Für Markus sind die Wunder als Zeugnisse der Geschichte der Selbstoffenbarung Jesu Christi von zentraler Bedeutung. Die Wundergeschichten beschreiben Jesu Macht, die Gegenwart der Gottesherrschaft auch körperlich zu vermitteln. Sie sind ein Ort des Epiphanwerdens des Göttlichen in seiner Person. Die Heilungen vollziehen die verheißene Herrschaft Gottes als Befreiung von der Macht der Dämonen und des Bösen. Speziell die mk. Wundersummarien zeigen, dass Markus Jesu Auftreten als andauerndes Wunderwirken begreift! Die eucharistischen Anklänge in beiden Speisungswundern (vgl. Mk 6,41; 8,6) lassen auch die Gegenwart der mk. Gemeinde im andauernden Licht des Wunderwirkens Jesu erscheinen, der Juden (Mk 6,30–44) und Heiden (Mk 8,1–9) gleichermaßen sättigte und nun in der gemeinsamen Eucharistie speist. Auch ein kritischer Bezug zum Kaiserkult ist unübersehbar. Jesus von Nazareth erscheint als der Wundertäter, dessen heilvolles Wirken die Wunder der Kaiser weit übertrifft121 und der Dämonen mit dem Namen legiw´n in unreine Schweine schicken und ersäufen kann (Mk 5,1–20). 120 Vgl. hier D. DORMEYER, Markusevangelium (s. o. 8.2), 222–228. 121 Vgl. dazu M. CLAUSS, Kaiser und Gott (s. o. 7.4),
346–352. Zu nennen sind vor allem Calp S 4,97– 101; Plut, Caes 37,7; 38,4–6; Dio Cass XLI 46,3–4 (Sturmstillung durch Caesar); Suet, Vesp 7; Tac, Hist
Markus: Der Weg Jesu 385
Der Evangelist relativiert nicht die Wunder, sondern integriert sie in seine theologische Gesamtkonzeption122. Dabei kommt es ihm auf die Erkenntnis an, dass Jesus Christus in seinem vollmächtigen Wunderwirken derselbe ist und bleibt wie in seinem Leiden, das für Markus in keinem Gegensatz zur Hoheit steht, denn auch in seinem Leiden bleibt Jesus Christus souverän. In der Passion bestimmt Jesus ebenfalls hintergründig das Geschehen, er kann schweigen oder sprechen. Der Tod wurde von ihm nicht gesucht, aber auf sich genommen, und deshalb bleibt er auch im Leiden seiner göttlichen Legitimation treu. Jesu Wunderwirken und sein Leiden bilden eine Einheit; speziell durch die Schweigegebote an die Dämonen und die Jünger richtet Markus das gesamte Wirken Jesu auf Kreuz und Auferstehung aus123, ohne dadurch die Offenbarung des Göttlichen in den Wundern zu relativieren. Der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn und der Glaube an den Wundertäter sind für Markus eine Einheit124. Christologie als Erzählung
Markus schuf mit der neuen Gattung Evangelium für das frühe Christentum das verbindliche Gedächtnis Jesu Christi. In der Form des Evangeliums kommen die geschichtliche Erinnerung an Jesus, seine Verkündigung als messianischer Gottessohn und Gottes Handeln in der Passion und Auferweckung zusammen. Die Erzählform des Evangeliums125 ermöglicht es Markus aufzuzeigen, wie Jesu Wirken und sein Leiden von innen heraus zusammengehören; nicht als Zufall oder tragisches Schicksal, sondern als Resultat der Treue Jesu zu seiner Sendung. Markus will beides zur Geltung zu bringen: Das vollmächtige Wirken Jesu und das ohnmächtige Leiden bis hin zum Tod auf Golgatha; die irdische Sendung ebenso wie die Auferstehung und die kommende Parusie. Für Markus ist Jesus nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit, sondern eine Gestalt der Gegenwart und Zukunft. Für ihn kommt es darauf an, dass der vollmächtige Wundertäter und Lehrer Jesus nur von seinem Tod und aus IV 81,1 = NEUER WETTSTEIN I/2, 480f (Blindenheilungen durch Vespasian; s. o. 7.4); Hist Aug Hadrian 25,1–4 (Blindenheilung durch Hadrian); Mart, Epigr 1,6; 4,2.30 (Betonung der Wunderkräfte der Kaiser). 122 Vgl. D.-A. KOCH, Wundererzählungen, 188–193. 123 Vgl. D. DORMEYER, Markusevangelium (s. o. 8.2), 212. 124 Vgl. M. E. BORING, Mark (s. o. 8.2), 258, der die verschiedenen Perspektiven des Markus ebenfalls nicht als Alternativen sieht: „his narrative includes each perspective on Jesus without adjusting it to the other.“ 125 Konsequent wurde diese Fragestellung in Südafrika und in den USA vorangetrieben. Der Erzähler des Evangeliums und seine erzählte Welt werden in den Blick genommen, die Erzählperspektive (‚point
of view‘) des Autors soll erfasst werden, d. h. die Art und Weise, wie er seine Geschichte erzählt. Das Erzählen in der 3. Person, die Allwissenheit des Autors, Zeit- und Raumebenen, das Auftreten von Personen, Schauplätze und Ereignisse, Verknüpfungen und szenischer Aufbau, psychologische Darstellungselemente und übergreifende narrative Strukturen werden untersucht. Vgl. dazu W. S. VORSTER, Markus – Sammler, Redaktor, Autor oder Erzähler?, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (s. o. 8.2), (11–36) 35f: „War Markus Sammler, Redaktor oder Erzähler? . . . Meines Erachtens kann der Nachweis erbracht werden, daß Markus uns die Geschichte Jesu darstellt, wie er sie sah, und aus diesem Grund möchte ich ihn einen erzählenden Autor nennen. Mit Sicherheit ist er nicht nur Sammler.“
386 Sinn durch Erzählen
seiner Auferweckung heraus verstanden und geglaubt werden kann. Indem die Literaturgattung Evangelium den Weg des Gottessohnes von der Taufe bis zu der Ankündigung von Erscheinungen des Auferstandenen darstellt und zur rechten Erkenntnis seiner Person führen will, ist sie nichts anderes als der literarische Ausdruck der theologischen Erkenntnis, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth von Anfang an seinen Weg als Gottessohn ging126. Die Literaturgattung Evangelium ist somit eine Form sui generis, die sich der theologischen Einsicht verdankt, dass in der einmaligen und unverwechselbaren Geschichte des Jesus von Nazareth Gott selbst handelte. Eine Spannung zwischen vor- und nachösterlich, Geschichte und Kerygma oder textinterner und textexterner Ebene besteht dabei für Markus nicht, sondern seine theologische Leistung besteht gerade darin, beides jeweils entschieden als Einheit verstanden und dargestellt zu haben127. Indem Markus historiographisch-biographischen Erzähltext und kerygmatische Anrede fest verbindet und Jesu Weg zum Kreuz als dramatisches Geschehen darstellt, wahrt er die in seinen Augen historische und theologische Identität des christlichen Glaubens: Das Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus ist ohne die elementare Bindung an den Weg des irdischen Jesus nicht möglich. Markus hat sein Evangelium nach den Gesetzen der Dramatik und Paradigmatik aufgebaut, es muss als Gesamtwerk gelesen und verstanden werden. Zwei Spannungsbögen prägen das Geschehen; einmal der Konflikt Jesu mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit. Er beginnt in Galiläa und findet in Jerusalem sein Ende. Im Gegensatz zu den Lesern und Hörern des Evangeliums wissen die Gegner Jesu nicht, wer dieser ist. Ihnen ist der Gedanke der Erfüllung der Schrift unbekannt (Mk 1,2f), sie hören die Stimme aus dem Himmel bei Jesu Taufe nicht (Mk 1,9–11) und auch die Jüngerunterweisungen werden ihnen nicht zuteil (vgl. Mk 4,11 f.34; 9,31). In Mk 2,1–3,6 wird der Konflikt in fünf Streitgesprächen aufgebaut und zugleich dramatisiert128. In den Streitgesprächen erscheinen alle wichtigen Gruppen der Gegnerschaft Jesu: die Schriftgelehrten (Mk 2,6), die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mk 2,16), die Pharisäer (Mk 2,18) und schließlich die Pharisäer zusammen mit den Herodianern (Mk 3,6). Die Gegnerschaft steigert sich von Streitgespräch zu Streitgespräch, bis schließlich der Todesbeschluss in Mk 3,6 gefasst wird. Einem Höhepunkt strebt der Konflikt dann in Mk 11,15–18 zu, wo Jesus mit der Tempelreinigung die religiösen Autoritä-
126 Grundsätzlich zutreffend ist deshalb immer noch das Votum von H. CONZELMANN, Gegenwart und Zukunft in der synoptischen Tradition, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 65, München 1974,(42–61) 60, zum mk. Messiasgeheimnis: „Die Geheimnistheorie ist die hermeneutische Voraussetzung der Gattung ‚Evangelium‘.“ 127 Vgl. hierzu H.-F. WEISS, Kerygma und Geschichte, Berlin 1983.
128 Vgl. dazu ausführlich M. ALBERTZ, Die synoptischen Streitgespräche, Berlin 1921; H.-W. KUHN, Ältere Sammlungen in Markusevangelium (s. o. 8.2); J. DEWEY, Markan Debate: Literary Technique, Concentric Structure, and Theology in Mark 2,1–3,5, SBL.DS 48, Chico (CA) 1980; J. KILLUNEN, Die Vollmacht im Widerstreit, AASF 40, Helsinki 1985; W. WEISS, ‚Eine neue Lehre in Vollmacht‘, BZNW 52, Berlin 1989.
Markus: Der Weg Jesu 387
ten in Jerusalem frontal angreift. Schließlich gerät Jesus auch noch in den Konflikt mit den römischen Institutionen (Mk 15,1–40), der sein vordergründiges Schicksal besiegelt. Der zweite Spannungsbogen lässt innerhalb der Konflikte immer deutlicher werden, wer Jesus ist. Himmelsstimmen (Mk 1,11; 9,7), Dämonen (Mk 1,24; 5,7), Jesus selbst (Mk 14,61f) und ein Römer (Mk 15,39) enthüllen und bezeugen das Geheimnis der Person Jesu Christi: Er ist der leidende Gottessohn. Im Mittelteil des Evangeliums ‚auf dem Weg‘ nach Jerusalem (Mk 8,27–10,52) wird diese Erkenntnis erzählerisch komprimiert: Auf das Messiasbekenntnis (Mk 8,27–30) folgt eine parallele Dreifachkomposition (a: Leidensankündigungen Mk 8,31; 9,31; 10,32–34; b: Jüngerunverständnis Mk 8,32b.33; 9,32–34; 10,35–40; c: Jüngerbelehrungen Mk 8,34–9,1; 9,35–37; 10,41–45). Die Rahmung des Mittelteils durch zwei Blindenheilungen (Mk 8,22–26; 10,46–52) hat metaphorischen Charakter. Den Jüngern und mit ihnen der mk. Gemeinde sollen die Augen geöffnet werden, wer dieser Jesus von Nazareth ist: Der leidende Gottessohn, der in die Leidensnachfolge ruft. In Mk 14,28 und 16,7 treffen sich beide Spannungsbögen und werden einer überraschenden Lösung zugeführt: Der Gekreuzigte wird sich als Auferstandener den Jüngern in Galiläa zeigen. Am Ende seiner Erzählung lenkt Markus wieder den Blick nach Galiläa zurück, wo die Geschichte Jesu anfing, d. h. das gesamte Evangelium will von der Ankündigung der Erscheinungen in Galiläa gelesen werden, die die Existenz der mk. Gemeinde begründen129. Ob die Erscheinungen des Auferstandenen bewusst von Markus nicht erzählt wurden oder der ursprüngliche Markusschluss verloren ging, lässt sich nur schwer entscheiden. Markus könnte bewusst Erscheinungsgeschichten weggelassen haben, um so eine theologia gloriae abzuwehren, bei der Jesu Leiden und sein Kreuzestod nur als Durchgangserscheinungen zur Herrlichkeit des Auferstandenen verstanden wurden130. Das Schweigen der Frauen und das Verschweigen der Erscheinungsberichte würden dann an die Stelle des Schweigegebotes im Rahmen des mk. Messiasgeheimnisses treten. Damit ließe sich eine weitere Profilierung der Kreuzestheologie verbinden: Der Verzicht auf die erzählerische Umsetzung der Auferstehungswirklichkeit lässt das Kreuz umso stärker als Ort des Heils hervortreten. Möglich wäre auch eine bewusst narrativ-theologische Strategie: „Die Erzählung des MkEv endet wie sie begonnen hat (vgl. 1,4–8): Die Stimme eines Gottesboten weist auf Jesus hin, der als der Sieger auf dem Weg nach Galiläa ist. Trat Jesus in 1,9 dann selbst in die Erzählung ein, so werden jetzt die Jünger und mit ihnen die Leser aufgefordert, sich in eine neue Erzählung hinein zu begeben, die durch die Begegnung mit dem Auferstandenen in Galiläa ermöglicht wird: eine Geschichte der Nachfolge.“131 In völlig andere
129 Vgl. K. BACKHAUS, „Dort werdet ihr ihn sehen“ (Mk 16,7). Die redaktionelle Schlussnotiz des zweiten Evangeliums als dessen christologische Summe, ThGl 76 (1986), 277–294.
130 So z. B. A. LINDEMANN, Die Osterbotschaft des Mar-
kus, NTS 26 (1979/80), 298–317. 131 L. SCHENKE, Das Markusevangelium (s. o. 8.2),
350.
388 Sinn durch Erzählen
Zusammenhänge führt die Vermutung, in Mk 16,1–8 werde die Apotheose Jesu angedeutet, „womit die apokalyptisch geprägte Auferweckungsvorstellung in die römische Welt hinein übersetzt wird. Jesu Knochen können nicht gefunden werden: ‚Nicht ist er hier‘ (Mk 16,6) – nach dem mythisch prägenden Modell des Herakles, dessen Knochen nach seiner Selbstverbrennung nicht gefunden werden können, das entscheidende Signal für die erfolgte Aufnahme des Verstorbenen unter die Götter.“132 Schließlich könnte mit der ‚Abwesenheit‘ Jesu ein theologisches Programm verbunden sein, das primär am irdischen Jesus und nicht am Auferstandenen orientiert ist133. Andererseits wird die Auferstehungswirklichkeit als Basis der mk. Christologie und Soteriologie durch die Erzählung vom leeren Grab (Mk 16,1–8), das Streitgespräch mit den Sadduzäern über die Auferstehung der Toten (Mk 12,18–27), die Vorstellung vom kommenden Menschensohn in Herrlichkeit (Mk 13,24–27) und die redaktionellen Verweise Mk 14,28/16,7 theologisch vorausgesetzt134, aber in der vorliegenden Gestalt des Evangeliums nicht erzählerisch umgesetzt. Konnte Markus theologisch hinter Paulus zurückfallen, für den die berichteten Erscheinungen des Auferstandenen das Fundament seiner Theologie sind (vgl. 1Kor 15,5–8)? Dachten der Evangelist und seine Hörer/Leser in den Kategorien moderner Erzähltheorien? Beides ist unwahrscheinlich; vermutlich ging der ursprüngliche Schluss des Evangeliums verloren135, denn Mk 9,2–8 als Prolepse von Erscheinungsberichten und vge´rhv (Aor. Pass.: „er wurde auferweckt“) in Mk 16,6 lassen deutlich erkennen, dass Markus die Auferstehung als ein Handeln Gottes an Jesus verstand und der Verweis sich ursprünglich mit der Erzählung von Erscheinungen verband.
8.2.3
Pneumatologie
Markus entfaltet keine umfassende Pneumatologie, sondern integriert zentrale Aussagen über das Wirken des Geistes Gottes in seine Jesus-Christus-Erzählung. Die Wendung pneu˜ma aÇgion erscheint erstmals in der Ankündigung des Täufers in Mk 1,8: „Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit heiligem Geist taufen.“ Dadurch werden Jesus und der Täufer parallelisiert und es kündigt sich eine Überbie-
132 M. EBNER, Kreuzestheologie im Markusevange-
lium, 166; vgl. als Parallele Plutarch, Numa 22. 133 So D. S. DU TOIT, Der abwesende Herr, wonach Markus die Frage nach dem abwesenden Jesus radikal mit dem Verweis auf den irdischen Jesus beantwortet: „Dazu entwickelte er das Konzept vom Evangelium als Ersatz Jesu, das angesichts der Abwesenheit des Herrn darauf zielt, diese zu kompensieren, indem es nach Ostern dem irdischen Jesus
bei den Seinen und in der Welt Gehör verschafft bzw. seine Botschaft vergegenwärtigt“ (a. a. O., 444f). 134 Der redaktionelle Charakter von Mk 14,28; 16,7 lässt sich kaum bestreiten, vgl. z. B. J. GNILKA, Mk II (s. o. 8.2), 252.338; D. LÜHRMANN, Mk (s. o. 8.2), 242.270. 135 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 248 f.
Markus: Der Weg Jesu 389
tung an, die sich im Taufgeschehen Mk 1,9–11 vollzieht. Jesus wird von Gott mit dem Geist ausgerüstet und damit in besonderer Weise qualifiziert, so dass sein Handeln von nun an in der Kraft des göttlichen Geistes erfolgt. Bereits die kurze Versuchungserzählung Mk 1,12.13 verdeutlicht diese Zusammenhänge, denn es ist der Geist Gottes, der Jesus in die Wüste führt und ihn zugleich befähigt, den Versuchungen des Satans zu widerstehen. Nach diesem Präludium kann Jesus die Auseinandersetzungen mit den ‚unreinen Geistern‘ bestehen, von denen die Wundererzählungen berichten (vgl. Mk 1,23.26.27; 3,11; 3,29.30; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,17.20.25). Die Dämonen wissen um Jesu besondere Würde als Sohn Gottes (vgl. Mk 1,27; 3,11; 5,7) und müssen sich dem Geist Gottes beugen. Die ekklesiologische Dimension der Pneumatologie zeigt sich in der Teilhabe der Jünger an Jesu Geistwirken; in Mk 6,7 wird die in Mk 3,15 angekündige Vollmacht über die ‚unreinen Geister‘ ausgeführt: „Und er rief die Zwölf herbei. Und er fing an, sie zu zweit auszusenden, und gab ihnen Vollmacht über die unreinen Geister.“ Über das Bindeglied der Jünger partizipiert auch die mk. Gemeinde mit ihrer eigenen (nach Mk 9,14–29 z. T. erfolglosen) Praxis der Dämonenaustreibung an Jesu Geistbevollmächtigung. Das rätselhafte Wort über die Lästerung des Heiligen Geistes (Mk 3,29: „Wer aber den heiligen Geist lästert, hat in Ewigkeit keine Vergebung“; vgl. Q12,10) könnte damit in Verbindung stehen, denn erfolglose Dämonenaustreibungen mit Berufung auf die Kraft des Geistes haben möglicherweise Schmähungen und Spott ausgelöst. Deutlich steht die nachösterliche Situation mit ihren lokalen Pressionen in Mk 13,11 im Hintergrund, wo der Gemeinde verheißen wird, dass der Heilige Geist für sie eintritt und sie verteidigt. Die mk. Gemeinde versteht sich selbst durch das Wirken des Geistes mit dem Gottessohn Jesus Christus verbunden, denn der in Mk 1,8 angekündigten Geisttaufe verdankt sie ihre Gründung und dem andauernden Wirken des Geistes ihre gegenwärtige Existenz136.
8.2.4
Soteriologie
Markus bedenkt die Heilsbedeutung des Wirkens, des Sterbens und der Auferstehung des Gottessohnes Jesus Christus in einer vielschichtigen Linienführung137. Ausgangspunkt ist als theologische Dimension der Soteriologie der göttliche Heilswille, der Jesu gesamtes Geschick umfängt und im deı˜ („es ist notwendig“) der Leidensweissagungen (vgl. Mk 8,31) seine Zuspitzung findet: Jesus folgt in freier Übereinstim136 Es fällt auf, dass Markus kein Taufhandeln Jesu im Evangelium erzählt und damit die Ankündigung in 1,8 vordergründig nicht einlöst. Wahrscheinlich versteht er die Mission als anhaltende Folge des Taufhandelns Jesu, das so grundsätzlich als unabgeschlossen zu gelten hat.
137 Vgl. die prägnante Darstellung von K. BACKHAUS,
„Lösepreis für viele“ (Mk 10,45), in: Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 91–118; vgl. ferner H. J. B. COMBRINK, Salvation in Mark, in: J. G. van der Watt (Hg.), Salvation in the New Testament (s. o. 6.4), 33–66.
390 Sinn durch Erzählen
mung Gottes Heilsplan, verzichtet auf Selbstrettung (vgl. Mk 15,29–32) und fügt sich so dem göttlichen Wollen. Mk 12,1–12 verdeutlicht, dass Jesu Tod nicht das Ende einer Unheilsgeschichte, sondern ein Neubeginn des Heils ist. Als leidender Gerechter138 (vgl. Ps 22 in Mk 15,24.29.34) nimmt er unschuldig Verfolgung und Schmähung auf sich und verzichtet auf jeden Versuch der Selbstrechtfertigung. Er trinkt den Leidensbecher (vgl. Mk 10,38f; 14,36) und übernimmt so stellvertretend für die Sünder das Gericht Gottes. Die mitleidige Bemerkung in Mk 15,31 („anderen hat er geholfen, sich selbst aber kann er nicht helfen“) verkennt grundlegend den rettenden Charakter des Kreuzesgeschehens. Die Gemeinde soll das Leben und Sterben des Gottes- und Menschensohnes (vgl. Mk 14,61f) ebenso wie die Auferstehungswirklichkeit (s. o. 8.2.2) als das entscheidende Ereignis der Gottesherrschaft verstehen lernen139. Dabei wird die individuelle Auferstehung von den Toten als Neuschöpfung und Erweis der Macht des lebendigen Gottes selbstverständlich vorausgesetzt (Mk 12,18–27). Die christologische Dimension der Soteriologie kommt nachdrücklich in Mk 10,45 zum Ausdruck: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für die vielen.“140 Der Vers führt in das Zentrum der mk. Soteriologie: Jesu Todesdienst erfüllt und vollendet seinen Lebensdienst; seine Proexistenz umfasst Dienst, Hingabe und Stellvertretung. Jesus verifiziert seinen Dienst durch seinen Erlösungstod, dessen Einzigartigkeit und Exklusivität mit dem Motiv der durch Jesu Lebenshingabe erwirkten universalen Sühne interpretiert wird. Jesus sühnt die Schuld der Vielen, vergießt sein Blut ‚für die Vielen‘ (Mk 14,24: upe`r pollw˜n), und ermöglicht so die Annahme des Reiches Gottes (der Basileia) im Glauben und Handeln. Das Abendmahlsgeschehen verdeutlicht zeichenhaft die mk. Neuinterpretation der traditionellen Motive der Sühne und Stellvertretung von Jesu Basileia-Wirken her141: „Amen, ich sage euch, dass ich nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis zu dem Tag, an dem ich es neu trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25). Das Blut des neuen Bundes und die gegenwärtige wie zukünftige Basileia stiften die neue Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, denn im Essen des Brotes und Trinken des Weines haben die Glaubenden Anteil an Jesu rettendem Geschick. Das eschatologische Heil der Herrschaft Gottes ist so in der mk. Gemeinde gegenwärtig. Sie liest das Evangelium „im ganzen als narrative Soteriologie“142, denn Jesu Vollmacht zur Sündenvergebung143 138 Vgl. zu diesem Motiv D. LÜHRMANN, Biographie
des Gerechten als Evangelium, WuD 14 (1977), 25– 50; L. GUBLER, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu (s. o. 4), 95–205. 139 Zur mk. Passionsgeschichte vgl. R. FELDMEIER, Die Krisis des Gottessohnes, WUNT 21, Tübingen 1987. 140 Zu diesem Schlüsselvers vgl. K. KERTELGE, Der dienende Menschensohn, in: Jesus und der Menschen-
sohn (FS A. Vögtle), hg. v. R. Pesch/R. Schnackenburg, Freiburg 1975, 225–239. 141 Vgl. TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), 180 ff. 142 K. BACKHAUS, „Lösepreis für viele“, 107. 143 Vgl. hierzu O. HOFIUS, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 38–56.
Markus: Der Weg Jesu 391
und Lebensrettung (Mk 2,5f; 3,4; 5,23.28.34; 6,56) und der rettende Glaube an das Evangelium sind nicht Relikte der Vergangenheit, sondern in ihrer heilsamen Wirkung gegenwärtig. Der Glaube als Nachfolge Jesu Christi ist die Antwort auf die entsetzte Frage der Menge ‚Wer kann dann gerettet werden‘ (Mk 10,26), denn bei Gott ist alles möglich (Mk 10,27). Das Markusevangelium erzählt, wie sich Gottes Heilsgabe der Basileia den Menschen zuwendet, die unter der Herrschaft des Satans (Mk 1,13; 4,15), der Dämonen und von Krankheiten stehen. Sowohl im Leben als auch im Sterben tritt er ‚für die Vielen‘ ein, so dass Jesu Proexistenz als soteriologische Leitkategorie des ältesten Evangeliums gelten kann.
8.2.5
Anthropologie
Die beiden dominierenden Begriffe der mk. Anthropologie sind kardı´a („Herz“) und yucv´ („Leben/Seele“). Jesus ist aufgetreten, um durch seine eigene Lebenshingabe (Mk 10,45) Leben zu retten (Mk 3,4). Deshalb gewinnen die Jünger das wahre Leben nur durch die Leidensnachfolge hindurch (Mk 8,35f). Die Liebe zu Gott umfasst das Innerste des Menschen, seine Seele und sein Herz (Mk 12,30). Das Herz ist das Personenzentrum, das im Glauben dem Evangelium zustimmt (Mk 11,23) oder in Distanz verharrt (Mk 8,17). Im Herzen entstehen die bösen Gedanken (Mk 7,15.19.21), so dass die Unterscheidung von ‚rein‘ und ‚unrein‘ als Kriterium der Gottesbeziehung und als Beurteilungsmaßstab menschlichen Lebens hinfällig geworden ist. Der Wert des Menschen bestimmt sich nicht aus rituellen Vollzügen, denn: „Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2,27). Das Gesetz
Mit dem Fehlen des Wortes no´moß im Evangelium verbindet sich ein theologisches und anthropologisches Konzept, das Markus erzählerisch umsetzt144: Die mk. Gemeinde orientiert sich an Jesus und weiß sich dabei durch Gott selbst legitimiert, der in der Gegenwart des Mose spricht: „Hört auf ihn!“ (Mk 9,7; vgl. Dtn 18,15LXX). In den Streitgesprächen Mk 2,1–3,6 wird der Vorrang des einzelnen Menschen gegenüber äußeren religiösen Ansprüchen von Jesus selbst begründet. Seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern orientiert sich nicht an Ritualvorschriften, denn: „Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken“ (Mk 2,17a). Eine programmatische Dimension erhält die Position des Evangelisten in Mk 7,1–23, denn Jesu Wirken unter den Heiden beginnt mit der Außerkraftsetzung jüdischer Ritualvor144 Zum mk. Gesetzesverständnis vgl. mit unterschiedlichen Akzenten H. SARIOLA, Markus und das Gesetz, AASF 56, Helsinki 1990; R. KAMPLING, Das
Gesetz im Markusevangelium, in: Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 119–150.
392 Sinn durch Erzählen
schriften (Mk 7,1–23)145. Die Heilungen einer Heidin (Mk 7,24–30), eines Taubstummen (Mk 7,31–37) und die Speisung der 4000 (Mk 8,1–10) müssen als Illustrationen der in Mk 7,1–23 grundsätzlich erfolgten Aufhebung der Fundamentalunterscheidung ‚rein-unrein‘ begriffen werden. Die Akklamation in Mk 7,37 wird nach der mk. Textfolge von Heiden gesprochen. Bildet die Speisung der 5000 (Mk 6,30–44) den Abschluss des Wirkens Jesu unter den Juden, so beschließt die Speisung der 4000 Jesu Wirken unter den Heiden. Die eucharistischen Anklänge in Mk 8,6 verdeutlichen aus mk. Sicht, dass Jesus auch mit Heiden Tischgemeinschaft hatte und sie nun in der Eucharistie fortsetzt. Markus votiert für eine neue, aus der Vollmacht Jesu abgeleitete Praxis des Zusammenlebens von Christen jüdischer und griechisch-römischer Religiosität. Die Tischgemeinschaft in der christlichen Gemeinde umfasst beide Gruppen (Mk 2,15f; 7,24ff), denn im Zentrum des von Gott Gewollten steht der Mensch (Mk 2,23–28; 3,1–6). Deshalb gilt uneingeschränkt das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34), das den Dekalog aufnimmt (Mk 10,18f), neue Prioritäten setzt und auf den Glauben als Grundlage des Verhältnisses des Menschen zu Gott verweist. Der Glaube
Bei Markus erscheinen die Wörter pı´stiß/pisteu´ein („Glaube/glauben“) fast ausschließlich im Mund Jesu146, d. h. der Glaube in all seinen Ausprägungen ist durchgängig auf die Person Jesu Christi bezogen. Die programmatische Glaubens-Forderung in Mk 1,15 („Kehrt um und glaubt an das Evangelium“) verdeutlicht, dass es dabei gleichermaßen der irdische und der auferstandene Gottessohn ist, der Glauben fordert, erweckt und ermöglicht147. Glaube ist das Vertrauen, dass Gottes Herrschaft in seinem Sohn nahe gekommen ist und sich vollenden wird. Was der Glaube bedeutet und wie Menschen zum Glauben geführt werden, erläutert Markus an Heilungsgeschichten, in denen die grenzüberwindende Kraft des Glaubens sichtbar wird und Menschen Erfahrungen mit Jesus machen, die sie zum Glauben befähigen148. Der Glaube überwindet Mauern (Mk 2,1–12), er lässt sich nicht abdrängen (Mk 5,21–43) und sucht trotz Behinderungen die Nähe Jesu (Mk 10,46–52). Menschen wie Barthimäus, die Syrophönizierin (Mk 7,24–30), der namenlose Taubstumme (Mk 7,31–37) oder der verzweifelte Vater in Mk 9,14–29 erfahren, dass Jesus der Gottessohn ist, der die Gottesherrschaft an Leib und Seele nahebringt und dabei Angst, Verzweiflung und Unglauben überwindet149. Sie werden so zu Gestalten des Glaubens, deren Ver145 Zu beachten ist Mk 7,19c: kaharı´zwn pa´nta ta`
brw´mata („er erklärte alle Speisen für rein“). Markus verbindet in 7,17.18 die Gesetzesthematik in dreifacher Weise mit seiner Geheimnistheorie: 1) Rückzugsmotiv; 2) Jüngerunverständnis; 3) Parabeltheorie. Jesu Stellung zum Gesetz bewirkt bei den Gegnern den Vernichtungsbeschluss (vgl. Mk 3,6; 7,1) und bei den Jüngern Unverständnis! 146 Vgl. Mk 1,15; 4,40; 5,34.40; 9,19.23.42; 10,52;
11,22–25; 13,21; Ausnahmen: Mk 9,24; 15,32. 147 Vgl. TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), 522 ff. 148 Zur ausführlichen Analyse vgl. TH. SÖDING, a. a. O., 385–511. 149 Die Verstockung der Gegner (Mk 3,1–6) bzw. der Außenstehenden wird in Mk 4,11.12 ansatzweise auf Gottes Handeln zurückgeführt.
Markus: Der Weg Jesu 393
trauen in Jesus die Gemeinde ermuntert und auffordert, wie Barthimäus den rettenden Glauben zu ergreifen und zu handeln: „Und sofort sah er wieder und folgte ihm nach auf dem Weg“ (Mk 10,52). Der Weg des Glaubens wird von Markus auch an den Jüngern illustriert, die sich für Jesus begeistern (Mk 1,16–20; 6,6b–13), ihn bekennen (Mk 8,27–30) und verleugnen (Mk 14,50.66–72), aber dennoch von Jesus angenommen werden (Mk 14,28; 16,7). Gestalten des Glaubens sind aber auch die zahlreichen namenlosen Helfer der Kranken, die Kinder als Vorbilder reinen Glaubens (Mk 10,13–16), der reiche Jüngling mit seiner Traurigkeit (Mk 10,17–22), der verständige Schriftgelehrte (Mk 12,28–34), die arme Witwe mit ihrer Bereitschaft zum Geben (Mk 12,41–44), die Frau, die Jesus salbt (Mk 14,3–9), Joseph von Arimathäa (Mk 15,43) und die Frauen unter dem Kreuz, beim Begräbnis und leeren Grab (Mk 15,40–16,8). Im Vertrauen auf Gottes Nähe in Jesus Christus findet der Glaube im Gebet seine Sprache (Mk 11,22–25), er erhofft alles und weiß, dass er in der Leidensnachfolge seine Vollendung findet (Mk 8,34–38).
8.2.6
Ethik
Der Weg des Glaubens ist für Markus die Nachfolge, in der Jesu Weisungen die Norm des Handelns sind150. Weil Umkehr – Glaube – Nachfolge untrennbar zusammengehören, weist der Evangelist seine Gemeinde an den Willen Gottes, der von Jesus als Lehrer und Lehrenden151 wieder zur Geltung gebracht wird (Mk 3,35). Das kreative Zentrum göttlicher Weisung ist das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,28–34)152. Markus platziert es bewusst am Ende der Jerusalemer Streitgespräche und signalisiert auch durch die positive Darstellung des Schriftgelehrten Kontinuität zu den Grundüberzeugungen jüdisch-hellenistischer Ethik. Die Gottes- und Nächstenliebe erscheint als entscheidende Grundlage und Grundorientierung im Leben der Glaubenden. Sie ist eine ganzheitliche Bestimmung, denn sie kommt von Herzen, fordert den Verstand und alle Kräfte. Die kriteriologische Funktion dieses Gebotes zeigt sich in zweifacher Weise: Zum einen ist die Gottesliebe als das erste Gebot Grundlage und Ermöglichung der Nächstenliebe, zum anderen rangiert das Doppelgebot vor allen anderen Weisungen und beurteilt sie inhaltlich. Die Realisierung des Doppelgebotes sieht Markus vor allem im gegenseitigen Dienen (Mk 9,33–37; 10,35– 150 Zur mk. Ethik vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 140–146; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft II (s. o. 6.6), 110–121; TH. SÖDING, Leben nach dem Evangelium, in: ders. (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 167–195. 151 Wie in keinem anderen Evangelium erscheint Jesus bei Markus als Lehrer (17mal dida´skein, 12mal dida´skaloß, 5mal didacv´) der Jünger und damit auch
der Gemeinde; vgl. dazu L. SCHENKE, Jesus als Weisheitslehrer im Markusevangelium, in: Die Weisheit – Ursprünge und Rezeption (FS K. Löning), hg. v. M. Fassnacht u. a., NTA 44, Münster 2003, 125–138. 152 Vgl. zur ausführlichen Analyse K. KERTELGE, Das Doppelgebot der Liebe im Markusevangelium, TThZ 103 (1994), 38–55.
394 Sinn durch Erzählen
45). Das Dienen als Grundprinzip christlicher Existenz wird gegenüber der Wirklichkeit des Imperium Romanum kritisch profiliert: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht gegen sie. Unter euch ist es aber nicht so“ (Mk 10,42f). Eine Relativierung des Machtanspruches des Staates liegt auch in Mk 12,13–17 vor, denn Jesu Antwort (Mk 12,17: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“) lehnt den politisch-religiösen Anspruch des Kaisers ab und weist ihm eine funktionale Bedeutung zu, die unterhalb jeglicher religiösen Verehrung liegt. Auch die in Mk 13,9–13 vorausgesetzten Verfolgungen zeigen, dass Markus seine Gemeinde in einer feindlichen Umwelt zum mutigen Bekennen motivieren will. Innerhalb der Gemeinde stehen Themen wie Ehescheidung (Mk 10,1–12), das Verhältnis zu den Kindern (Mk 10,13–16) und der Reichtum (Mk 10,17–31) im Vordergrund. Auffällig ist die besonders positive Erwähnung der Kinder (vgl. auch Mk 9,35–37), denn sie spielen in vergleichbaren jüdischen und griechisch-römischen Weisungen keine Rolle153. Demgegenüber entspricht die in Mk 7,10–13 geforderte aufrichtige Elternverehrung gemeinantikem Ethos. Die Gefahren des Reichtums werden an der Gestalt des jungen Mannes in Mk 10,17–34 erzählerisch entfaltet: Er führt ein vorbildhaftes Leben und Jesus „gewann ihn lieb“ (Mk 10,21), so dass der Gemeinde der missglückte Ruf in die Nachfolge zur anschaulichen Warnung wird. Zugleich werden aber die Reichen keineswegs fallengelassen (vgl. Mk 10,27) und die Jünger dürfen sich auf ihren himmlischen Lohn freuen. In der Gegenwart müssen sie allerdings bereit sein, sich selbst zu verleugnen und ihr Kreuz zu tragen, denn Nachfolge Jesu Christi heißt Kreuzesnachfolge. Mk 8,34–9,1 verdeutlicht, dass Jesus selbst diesen Weg vorangegangen ist und ihn damit für die Glaubenden eröffnete. Indem der Evangelist ursprünglich isoliert tradierte Einzelsprüche zu einer kleinen Logiensammlung zusammenstellt, macht er deutlich, dass auch die Ethik vom Kreuz her zu bestimmen ist154. Das Bekenntnis zum Herrn gehört ebenfalls zur Nachfolgeethik, denn wer den Menschensohn hier verleugnet, den wird auch der Menschensohn im Gericht nicht kennen. Das Markusevangelium als eine Erzählung des ‚Weges‘ Jesu Christi von der Taufe bis zum Kreuz ist ein Ruf in die Leidensnachfolge Jesu Christi. Markus will seine Gemeinde gleichermaßen zu einer sachgemäßen Erkenntnis der Person und des Werkes Jesu Christi und zum praktischen Nachvollzug des ‚Weges‘ Jesu führen; Glaubenserkenntnis und Glaubenspraxis gehören für ihn untrennbar zusammen155. Die Integration des Kreuzes in das Zentrum ethischen Denkens zeigt nachdrück-
153 Vgl. P. MÜLLER, In der Mitte der Gemeinde (s. o. 8.2.1), 81–164. 154 Vgl. hierzu P. KRISTEN, Familie, Kreuz und Leben: Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium (s. u. 8.1.6), 156–228.
155 Vgl. L. SCHENKE, Jesus als Weisheitslehrer im Markusevangelium, 136: „Das erzählte Leben Jesu hat vielmehr Vorbildcharakter: Jünger und Leser sollen hinter Jesus hergehen und sein Leben nachleben.“
Markus: Der Weg Jesu 395
lich, dass bei Markus von einer christologischen Ethik zu sprechen ist. Er bindet seine Weisungen an das Grundgeschehen von Sendung, Wirken und Leiden Jesu Christi, in dem Gottes Nähe und Gegenwart in seiner Basileia offenbar wurde.
8.2.7
Ekklesiologie
Markus entwickelt keine begrifflich akzentuierte Ekklesiologie wie Paulus oder Matthäus, so fehlt z. B. der Terminus ekklvsı´a156. Dennoch kann von einer mk. Ekklesiologie gesprochen werden, weil vor allem das Verhalten der Jünger Modellcharakter hat. Sie sind nicht nur das geschichtliche, sondern auch das exemplarische Bindeglied zwischen Jesus und der mk. Gemeinde157. Nicht zufällig folgt auf die Zusammenfassung der Botschaft Jesu in Mk 1,15 die erste Jüngerberufung (Mk 1,16–20), denn den Jüngern ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben (Mk 4,11)! Innerhalb der erzählten Welt des Evangeliums sind die Jüngerinnen (vgl. Mk 15,47; 16,1–8) und Jünger als Modelle transparent für die Erzähl- und Lesergemeinde des Markus158. Sie wurden von Jesus selbst berufen (Mk 1,16- 20; 3,13–18) und noch zu seinen Lebzeiten bevollmächtigt, sein Werk fortzuführen (Mk 6,6b–13)159. In der Aussendung der Jünger in Tat und Lehre erkennt die mk. Gemeinde den Ursprung ihrer eigenen Sendung, die somit als eine legitime Fortsetzung des Tuns Jesu erscheint. Eine besondere Funktion kommt innerhalb dieser Konzeption dem Zwölferkreis zu, denn Markus versteht die Zwölf als besonders legitimierte Kontinuitätsträger160. Die Zwölf sind in herausragender Weise bevollmächtigt und gesandt, das Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes, in Wort und Tat weiterzutragen und darin sein Werk fortzusetzen (vgl. 3,13–19; 6,6b–13.30). Die Zwölf sind die Repräsentanten der Heilszusage Gottes, ihrem Wirken verdanken sich die nachösterlichen Gemeinden (Mk 6,7ff) und sie kennzeichnen den missionarischen Aufbruch der frühen Kirche (Mk 13,10). Markus deutet den Kreis der Zwölf als Urbild für die Wahrnehmung besonde156 J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 144ff, behandelt deshalb – m.E. zu Unrecht – Markus überhaupt nicht; vgl. demgegenüber K. KERTELGE, Jüngerschaft und Kirche. Grundlegung der Kirche nach Markus, in: Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 151–165. 157 Vgl. zum mk. Jüngerverständnis E. BEST, Following Jesus. Discipleship in the Gospel of Mark, JSNT.S 4, Sheffield 1981; R. BUSEMANN, Die Jüngergemeinde nach Markus 10, BBB 57, Königstein/Bonn 1983; C. C. BLACK, The Disciples according to Mark, JSNT.S 27, Sheffield 1989; S. HENDERSON, Christology and Discipleship in the Gospel of Mark, MSSNTS 135, Cambridge 2006. 158 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Die erzählerische Rolle
der Jünger im Markusevangelium. Eine narrative Analyse, NT 24 (1982), 1–26; R. C. TANNEHILL, Die Jünger im Markusevangelium – die Funktion einer Erzählfigur, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (s. o. 8.2), 37–66. 159 Zur Analyse der ekklesiologischen Dimension der exousı´a-Vorstellung vgl. K. SCHOLTISSEK, Die Vollmacht Jesu (s. o. 8.2), 254–279. 160 Innerhalb des Zwölferkreises werden Dreier(vgl. Mk 5,37; 9,2–8; 14,33) bzw. Vierergruppen (vgl. Mk 13,3), Zweiergruppen (vgl. Mk 1,16–20; 9,35–45) und Petrus (vgl. Mk 8,29; 16,7) besonders erwähnt; vgl. ferner Joseph von Arimathäa (Mk 15,42–46).
396 Sinn durch Erzählen
rer Verantwortung nach innen (vgl. 9,33–50; 10,35–45) und nach außen (vgl. 3,14f; 6,6b–13.30). Die Zwölf vollziehen die elementaren Grundfunktionen der nachösterlichen Jüngergemeinde: Sie verkündigen das Evangelium Jesu Christi vollmächtig in Wort und Tat und stehen mit ihrer eigenen Dienstbereitschaft ein für das in Jesu Lebenshingabe erwirkte Heil. Autorität in der Nachfolge Jesu hat ihren Ort nicht in einem Herrschafts- oder Machtverhältnis über die Adressaten der frohen Botschaft bzw. der Nachfolger untereinander, sondern in der verbindlichen Zusage und Zuwendung des Evangeliums Jesu Christi. Die dem Zwölferkreis zugesprochene Kompetenz begründet sich ausschließlich von ihrem Ursprung her: der christologisch vermittelten Nähe der Gottesherrschaft. Die vollmächtigen Zeugen, Boten und Mittler des Evangeliums stehen in einem strikten Dienstverhältnis zu dieser Botschaft. Ihr Dienst ist der ausgezeichnete und auszeichnende Ort ihrer Autorität. Als Bindeglied zwischen der Zeit Jesu und der Gegenwart verdeutlicht Markus an den Jüngern, wer Jesus Christus ist und was Nachfolge Jesu Christi als Teilhabe am Passionsgeschick heißt, so dass sich bei ihm Ethik und Ekklesiologie aufs engste verbinden. Die Gemeinde ist für ihn eine vorbildhafte Nachfolge-, Dienst-, Verkündigungs- und Leidensgemeinschaft.
8.2.8
Eschatologie
Die Eschatologie gehört zu den zentralen Themen des Markusevangeliums161. Ihre christologische Fundierung zeigt sich in Jesu Basileia-Verkündigung in Wort und Tat (s. o. 8.2.2). Sie ist durch Jesu Tod ‚für die Vielen‘ (Mk 10,45; 14,24) unumkehrbar geworden, denn Gottes Herrschaft bricht sich nicht nur in Jesu Geschick Bahn, sondern auch in der nachösterlichen Verkündigung der mk. Gemeinde162. Für sie erschließt das Auferstehungskerygma (Mk 16,6) das „Geheimnis des Reiches Gottes“ (Mk 4,11), das in der Gegenwart unscheinbar beginnt (Mk 4,30–32), zahlreichen Gefahren ausgesetzt ist (Mk 4,13–20), sich aber mit Sicherheit vollenden wird (Mk 4,26–29). Allen Gefährdungen zum Trotz wird der Glaube an Jesus stärken und retten, so wie Jesus in der Sturmstillung den Jüngern zu Hilfe kam (Mk 4,35–41). Das Reich Gottes ist auch für Markus eine zukünftige Größe (vgl. Mk 4,29.32; 9,47; 10,23; 14,25; 15,43), zugleich aber gegenwärtig wirksam und der nahen Vollendung
161 Zur mk. Eschatologie vgl. C. BREYTENBACH, Nach-
folge und Zukunftserwartung (s. o. 8.2), 279: „Die markinische Christologie und Kreuzestheologie ist in den eschatologischen Gesamtrahmen des Evangeliums eingebettet. So wie das Anbrechen seiner Herrschaft von Gott auf den Plan gesetzt wurde, so hat er auch das Leiden und die Auferstehung des Menschensohnes seinem ‚Muß‘ unterstellt“; K. SCHOLTISSEK, Der Sohn Gottes für das Reich Gottes,
in: Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe (s. o. 8.2), 63–90; J.M. NÜTZEL, Hoffnung und Treue. Zur Eschatologie des Markusevangeliums, in: Gegenwart und Kommen des Reiches (FS A. Vögtle), hg. v. P. Fiedler/D. Zeller, SBB 6, Stuttgart 1975, 79– 90. 162 Vgl. hier TH. SÖDING, Glaube bei Markus (s. o. 8.2), 150–197.
Markus: Der Weg Jesu 397
entgegenstrebend (Mk 9,1: „Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes sehen, wenn es gekommen ist mit Macht“). Diese Vollendung vollzieht sich mit der Parusie des Menschensohnes, die im Mittelpunkt der Endzeiterwartungen der mk. Gemeinde steht. Jesus Christus ist der irdische Repräsentant der Gottesherrschaft und zugleich als der kommende Menschensohn ihr himmlischer Repräsentant. Seine Parusie und das endgültige Aufrichten des Reiches Gottes fallen ineinander (vgl. Mk 8,38; 9,1; 14,25). Die Parusie steht für Markus unmittelbar bevor (Mk 13,30: „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht“), zugleich lassen die Mahnungen zur steten Wachsamkeit (Mk 13,33–37) und das Programm einer weltweiten Evangeliumsverkündigung (Mk 13,10) deutlich ein Verzögerungsbewusstsein erkennen163. Im Kontext des jüdischen Krieges dringt die Gemeinde auf eine Klärung der Frage, wann der Menschensohn kommen wird (vgl. Mk 13,4). Markus hingegen löst die Ankündigungen apokalyptischer Phänomene von innergeschichtlichen Ereignissen und beschränkt das Wissen um den Termin des Kommens des Menschensohnes allein auf Gott (Mk 13,32). Die Gemeinde soll ernst nehmen, was der nun von ihnen als der Kommende erwartete Menschensohn den Jüngern auf seinem Weg nach Jerusalem ankündigte und in Jerusalem durchlitt; sie soll das Leiden und Sterben des Menschensohnes als das entscheidende Ereignis der Gottesherrschaft einordnen und in der Nachfolge den Dienst am Nächsten zum Maßstab ihres eigenen Tuns machen. In der Gegenwart bedeutet dies eine weltweite, unerschrockene Evangeliumsverkündigung (Mk 13,10), die falsche Verkündiger erkennt (Mk 13,6.21–23), sich von aktuellen Pressionen nicht aufhalten lässt (Mk 13,11–13) und dem Leiden um des Evangeliums willen nicht ausweicht (vgl. Mk 13,14–20). Gott allein ist Herr der Geschichte und hat in seiner Allmacht die Tage der Bedrängnis verkürzt (Mk 13,19f). Die enge Verbindung von Eschatologie und Nachfolge zeigt sich auch in der Verknüpfung von Nachfolgeworten und eschatologischen Ausblicken (vgl. Mk 8,34–9,1; 10,23–31.35–40; 13,5–13.24–27)164. Der wiederkommende Menschensohn wird die Seinen sammeln (Mk 13,27), die dann das ewige Heil als gerechten Lohn erlangen (vgl. Mk 4,24f; 8,35; 9,41; 10,29 f.40; 13,13). Demgegenüber werden die Untreuen und Verstockten vom Heil ausgeschlossen (vgl. Mk 3,28f; 4,11f.25b). Für Markus ist deutlich, dass die Reich-Gottes-Verkündigung in Jesus Christus ihren Anfang, ihren Inhalt und ihr Ziel findet, in der gegenwärtigen Evangeliums-Verkündigung der Gemeinde ihre Bewährung und im Kommen des Menschensohnes ihre Vollendung.
163 Zur Analyse von Mk 13 vgl. E. BRANDENBURGER, Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, Göttingen 1984; U. KMIECIK, Der Menschensohn im Markusevangelium (s. o. 8.2.2), 26–83. 164 Vgl. C. BREYTENBACH, Nachfolge und Zukunftser-
wartung (s. o. 8.2), 338: „Die markinische Nachfolgevorstellung ist durchweg auf die Zukunft ausgerichtet. Der christologische Rückblick wird stets durch einen Ausblick ergänzt. Der Gekreuzigte selbst wird als kommender Menschensohn erwartet.“
398 Sinn durch Erzählen
8.2.9
Theologiegeschichtliche Stellung
Die theologiegeschichtliche Bedeutung des Markusevangeliums ist kaum zu überschätzen: 1) Mit der neuen Literaturgattung Evangelium verfasste Markus die erste ausführliche Jesus-Christus-Geschichte und formte durch seine narrative Präsentation und seine theologischen Einsichten grundlegend das Jesus-Christus-Bild des frühen Christentums, wie es sich nicht zuletzt in der Rezeption des Markus-Evangeliums durch Matthäus, Lukas und Johannes zeigt. Indem Markus historiographisch-biographischen Erzähltext und kerygmatische Anrede fest verbindet und Jesu Weg zum Kreuz als dramatisches Geschehen darstellt, wahrt er die historische und theologische Identität des christlichen Glaubens. 2) Die Logienquelle und Lk 1,1 lassen Vorformen von Evangelien und wahrscheinlich auch verlorene Evangelien vermuten, so dass Markus für das frühe Christentum eine entscheidende Leistung vollbringt: Er bewahrt sehr verschiedene Jesustraditionen vor dem Vergessen, verbindet sie erzählerisch und präsentiert Jesus von Nazareth als Verkündiger und Verkündigten. Markus ist der erste innerhalb des frühen Christentums, der die geschichtliche Dimension des Auftretens Jesu umfassend in den Mittelpunkt stellt und so eine Enthistorisierung der Jesus-Christus-Geschichte verhindert, wie sie später z. B. im Thomas-Evangelium vorgenommen wird. Mit seinem Evangelium schuf Markus somit einen zentralen Baustein zum kulturellen Gedächtnis des frühen Christentums. 3) Markus setzt den Glauben an die Messianität Jesu Christi voraus (Mk 1,1), entfaltet dieses Bekenntnis durch seine erzählerische Linienführung und stellt in seinem Evangelium dar, in welchem Sinn Jesus Christus immer schon der Sohn Gottes ist und es zugleich innerhalb der Erzählung wird. Die Geheimnistheorie als zentrale christologische Erzählstrategie wahrt die grundlegende Einheit von Hoheit und Niedrigkeit in der Person Jesu Christi. Markus zeigt, wie Jesus sein Volk im Zeichen der Gottesherrschaft durch sein vollmächtiges Wort, sein heilendes Wirken und seine Bereitschaft zur stellvertretenden Lebenshingabe sammeln will. Dabei nimmt der Evangelist den zentralen Gedanken der paulinischen Theologie auf und macht ihn zum Zentrum einer dramatischen Erzählung: Der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist der Sohn Gottes. Zugleich geht der älteste Evangelist in einem entscheidenden Punkt über Paulus hinaus. Er proklamiert nicht nur die eschatologische Identität Jesu Christi als Gottessohn und Messias, sondern setzt diese Erkenntnis in eine plausible Erzählung um.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 399
8.3
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit
G. BORNKAMM/G. BARTH/G. HELD, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 71975; K. STENDAHL, The School of St. Matthew, Philadelphia 21968; W. TRILLING, Das wahre Israel, StANT 10 (= EThSt 7), München 31967; G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit, FRLANT 82, Göttingen 31971; R. HUMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Synagoge im Matthäusevangelium, BEvTh 33, München 1966; R. WALKER, Die Heilsgeschichte im ersten Evangelium, FRLANT 91, Göttingen 1967; A. SAND, Das Gesetz und die Propheten, BU 11, Regensburg 1974; E. SCHWEIZER, Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974; H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche Christi, NTA 10, Münster 21984; I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes, SBS 98, Stuttgart 1980; J. LANGE (Hg.), Das MatthäusEvangelium, WdF 525, Darmstadt 1980; J. D. KINGSBURY, Matthew: Structure, Christology, Kingdom, Minneapolis 21989; DERS., Matthew as Story, Philadelphia 21988; J. GNILKA, Das Matthäusevangelium, HThK I/1.2, Freiburg 21988.1988; K. CH. WONG, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium, NTOA 22, Fribourg/Göttingen 1992; G. STANTON, A Gospel for a New People, Edinburgh 1992; U. LUZ, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen 1993; W.D. DAVIES/D. C. ALLISON, The Gospel according to Saint Matthew I–III, ICC, Edinburgh 1988.1991.1997; M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, BBB 115, Bodenheim 1998; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1–4, Neukirchen 52002.31999.1997.2002; D. E. AUNE (Hg.), The Gospel of Matthew in Current Study, Grand Rapids 2001; P. FOSTER, Community, Law and Mission in Matthew’s Gospel, WUNT 177, Tübingen 2004; R. KAMPLING (Hg.), „Dies ist das Buch . . .“ Das Matthäusevangelium (FS H. Frankemölle), Paderborn 2004; R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias, WUNT 177, Tübingen 2004; J. NOLLAND, The Gospel of Matthew, NIGTC, Grand Rapids 2005; M. KONRADT, Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Christologie, ZThK 101 (2004), 397–425; P. FIEDLER, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006.
Das Matthäusevangelium wurde um 90 n.Chr. in Syrien geschrieben (vgl. Mt 4,24) und ist das Zeugnis eines schmerzvollen Identitätsprozesses, der sich gleichermaßen in Kontinuität und Diskontinuität zum Judentum vollzog. Matthäus ist Repräsentant eines mit der Septuaginta vertrauten hellenistischen Judentums/Judenchristentums, das sich gleichermaßen partikularen und universalen Aspekten verpflichtet weiß. Der Evangelist verarbeitet das Scheitern der Israelmission, die Trennung von der Mehrheit Israels und die Neuausrichtung auf die Völker so, dass seine Jesus-Christus-Geschichte immer transparent ist für die Geschichte und Gegenwart seiner Gemeinde.
8.3.1
Theologie
Matthäus geht in der heo´ß-Nomenklatur nicht wesentlich über Markus hinaus (51 Belege gegenüber 48 bei Mk). Gott erscheint als Schöpfer (Mt 19,4) und Erhalter der
400 Sinn durch Erzählen
Natur, der die Menschen ebenso wie die Tiere an seiner Güte teilhaben lässt (Mt 5,45; 6,26f; 10,29–31). Zentral ist innerhalb der Gottesvorstellung die Kontinuität zu Israel. Wendungen wie ‚Gott Israels‘ (Mt 15,31), ‚Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‘ (Mt 22,32) und ‚der lebendige Gott‘ (Mt 16,16; 26,63) lassen die Verwurzelung des Gottesbildes in der jüdischen Tradition deutlich erkennen. Es geht um den geschichtsmächtigen Gott, der den Weinberg pflanzte und seine Propheten immer wieder schickte, bis er schließlich den Sohn sandte (Mt 21,33–46); um den Gott, der immer wieder zu der großen Feier seines Sohnes einlud (Mt 22,1–14) und der am Ende der Zeit das Gericht über die Völker durch den Sohn halten wird (Mt 25,31–46). Es ist ein fordernder Gott (Mt 6,24), der seinen endzeitlichen Willen im Sohn zu Gehör bringt (Mt 5– 7) und zugleich in den Makarismen als gütiger und schenkender Gott eine Umkehrung der Verhältnisse verheißt (Mt 5,8f: „Selig, die reinen Herzens sind, sie werden Gott schauen; selig, die Frieden stiften, sie werden Söhne Gottes genannt werden“). Gott als Vater
Eine besondere Prägung erhält das Gottesbild bei Matthäus durch den Vaternamen, der in der gesamten Antike165 als Gottesanrede und Gottesbezeichnung geläufig war (patv´r ist bei Mt 63mal, bei Mk 19mal und bei Lk 56mal belegt). Der Vater lässt die Sonne aufgehen und lässt es regnen (Mt 5,45), er schaut in das Verborgene (Mt 6,4.6.18), er weiß um die Bedürfnisse der Jünger (Mt 6,8.32), er sorgt sich um die Nahrung (Mt 6,26), er verbindet seine Vergebungsbereitschaft mit dem Verhalten der Menschen (Mt 6,14f) und hilft denen, die ihn darum bitten (Mt 7,11). Im Zentrum der Vatervorstellung steht jedoch das je besondere Gottesverhältnis Jesu und der Jünger, das mit der Differenzierung von ‚euer Vater‘ (Mt 5,16.45.48; 6,1.4.6.8.15.18.26.32; 7,11; 10,20.29; 18,14) und ‚mein Vater‘ (Mt 7,21; 8,21; 10,20.29.32f; 11,27; 12,50; 15,4; 16,17; 18,10.19.35; 20,23) beschrieben wird166. Wenn Jesus von ‚seinem Vater‘ spricht, dann steht die Vermittlung von Heilsgaben im Vordergrund, wofür Mt 11,25–27 exemplarisch ist: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, es Einfältigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und wem der Sohn es offenbaren will.“ Jesus weiß um den offenbarten Willen des Vaters und gibt ihn vollmächtig kund (vgl. Mt 7,21; 12,50; 18,14), er kündigt das Verhalten Gottes im Gericht an (Mt 18,35; 20,23) und wird am Tisch im Reich seines Vaters erwartet (Mt 26,29). Auch die Jünger haben in der Person des Petrus teil an der Offenbarung des Vaters (Mt 16,17: „. . . nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel“). Das Vorherrschen der Wendung ‚euer Vater‘ in der Bergpredigt verdeutlicht, dass die Jünger 165 Zu Mt 6,9 vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/
166 Vgl. J. GNILKA, Zum Gottesgedanken in der Jesus-
1.2
überlieferung (s. o. 8.2.1), 154–158.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 401
an den Willen des Vaters gewiesen sind, den es zu erfüllen und zu bewähren gilt. Die Nachahmung des himmlischen Vaters zielt auf die Vollkommenheit der Jünger (Mt 5,48). Beide Linien der Vateranrede treffen sich im Unser-Vater in Mt 6,9167. Das Gebet ist zuallererst der Ort der Verherrlichung Gottes, bei dem es nicht um menschliche Wünsche, sondern in den drei ersten Bitten des Vaterunsers um Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herrschaft (Mt 6,9f) geht, die der Sohn und die Jünger gleichermaßen erbitten. Weil der Vater alle Wirklichkeit begründet und zugleich übersteigt, schließt die Bitte um Gott und sein Handeln ein entsprechendes Handeln der Menschen immer schon mit ein. Gottes Heiligkeit, Herrlichkeit und Herrschaft gründet in ihm selbst, erweist sich in seinem Handeln und fordert eine menschliche Entsprechung. Hierin zeigt sich ein Grundzug des mt. Denkens: die Verschränkung von Theo logie, Christologie und Ethik als die von Gott selbst ermöglichte und gewollte unauflösliche Verbindung von Gabe und Aufgabe, Gebet und Handeln. „Das Gebet ermöglicht es den Jesusjüngern, die Forderungen Jesu als Willen des Vaters zu erfahren und daraus Kraft zu schöpfen. Gebet wird durch das Handeln nicht überflüssig, sondern das Handeln bleibt auf das Gebet dauernd angewiesen.“168 Auf all seinen Ebenen lässt sich das Matthäusevangelium als der Versuch verstehen, seinen Lesern/Hörern einen neuen Zugang zu Gott zu eröffnen, den der im Zentrum der Erzählung stehende lehrende Jesus gewährt (s. u. 8.3.2). Voraussetzung dafür ist die unauflösliche Verbindung zwischen Gott und Jesus, die nicht erst durch die Auferstehung geschaffen wird, sondern von Anfang an die Grundlage bildet, wie vor allem die Immanuel-Prädikation zeigt.
8.3.2
Christologie
H. STEGEMANN, ‚Die des Uria‘, in: Tradition und Glaube (FS K. G. Kuhn), hg. v. G. Jeremias u. a., Göttingen 1971, 246–276; U. LUZ, Die Erfüllung des Gesetzes bei Matthäus, ZThK 75 (1978), 398–435; H. D. BETZ, Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985; G. STRECKER, Die Bergpredigt, Göttingen 21985; H. WEDER, Die „Rede der Reden“, Zürich 21987; L. OBERLINNER/P. FIEDLER (Hg.), Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (FS A. Vögtle), Stuttgart 1991; U. LUZ, Eine thetische Skizze der matthäischen Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 221–235; R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi (s. o. 8.2.2), 91–151; M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 79–84; H. D. BETZ, The Sermon on the Mount, Philadelphia 1995; R. FELDMEIER, Verpflichtende Gnade. Die Bergpredigt im Kontext des ersten Evangeliums, in: ders. (Hg.), „Salz der Erde“. Zugänge zur Bergpredigt, Göttingen 1998, 15–107; F.J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 26– 47; L. W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 316–340; J. YUEH-HAN YIEH, One Teacher. Jesus‘ 167 Zur Auslegung der Vateranrede im Vaterunser vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 442–444.
168 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 458.
402 Sinn durch Erzählen
Teaching Role in Matthew’s Report, WUNT 2.124, Tübingen 2004; R. DEINES, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias (s. o. 8.3).
Matthäus geht in seiner Christologie von der Grundüberzeugung aus, dass Jesus von Nazareth der in den Schriften Israels verheißene Messias und Sohn Gottes ist. Er zeichnet Jesus als den Hirten Israels, der seinem Volk nachgeht und sein universales Reich für alle Völker aufrichtet. Dabei zeigt bereits die Immanuel-Christologie als Rahmung den narrativen Charakter der mt. Christologie. Christologie in der Narration
Das erste Schriftzitat in Mt 1,23 („Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben“) mit seiner mt. Interpretation („das heißt übersetzt Gott mit uns “) und die eschatologische Verheißung in Mt 28,20 („Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis an der Welt Ende“) bilden eine Inklusion, die für das Gesamtverständnis des Evangeliums entscheidend ist169. Mit mehL vmw˜n (Mt 1,23) bzw. mehL umw˜n (Mt 28,20) signalisiert Matthäus das Grundmotiv seines Werkes: Gottes Gegenwart und Treue bei seinem Volk in Jesus Christus. Matthäus erzählt, wie Gott im Weg der Gemeinde in Gehorsam, Leiden und Zusage in Jesus ‚mit uns‘ ist. Zugleich bindet dieses Motiv den irdischen Jesus und den erhöhten Christus zusammen. Mt 1,23 öffnet die Geschichte Jesu auf Gott hin und Mt 28,20 schreibt die Gegenwart des Erhöhten im irdischen Jesus fest, so dass die universale Perspektive des Endes von Anfang an präsent ist. Das Immanuel-Prädikat interpretiert die Jesus-Christus-Geschichte als bleibende Gegenwart Gottes in seiner Gemeinde. Matthäus ist somit als ein Vertreter einer an der Hoheit Jesu orientierten Christologie zu verstehen, denn Gott selbst handelt in Jesus Christus. Mit dem Prolog (Mt 1,2–4,22) als Präsentation beginnt Matthäus seine neue Ursprungsgeschichte170, die mit der Wendung bı´bloß gene´sewß („Buch der ‚Genesis‘“) in Mt 1,1 bewusst auf dem Hintergrund biblischer Geschichten erzählt wird. Vor allem durch die fünf Reflexionszitate in Mt 1,22f; 2,15.17 f.23; 4,14f wird der innere Zusammenhang zwischen dem ersten Bund und dem Wirken Jesu klar herausgestellt. Der Prolog beginnt wie eine antike Biographie mit der Abstammung des Helden, entführt die Leser aber zugleich in andere Welten. Matthäus entfaltet in den Kap. 1–2 die beiden christologischen Titel seiner Evangeliumsüberschrift: Sohn Davids und Sohn Abrahams171. Jesus wird als Davidssohn im Sinn jüdischer Messianologie vorgestellt, der wirklich aus dem Hause Davids stammt, weil ihn der gerechte Davidide Joseph im Gehorsam gegenüber Gottes Willen adoptierte (Mt 1,18–25). Der (unjüdi169 Vgl. dazu H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche (s. o. 8.3), 7–83. 170 Das Hauptargument für diese Abgrenzung ist die Wiederaufnahme des Summars Mt 4,23 in 9,23; vgl.
U. LUZ, Jesusgeschichte (s. o. 8.3), 33. 171 Vgl. dazu M. MAYORDOMO, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Mt 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 403
sche) Gedanke der Jungfrauengeburt wird in Mt 1,18–25 aufgegriffen172, die Geburt selbst aber nicht erzählt, sondern nur in Mt 1,25; 2,1 vorausgesetzt. Mit der Verfolgung durch die Machthaber in Jerusalem (Mt 2,1–12), der Flucht nach Ägypten (Mt 2,13–15), dem Kindermord des Herodes (Mt 2,16–18) und der Rückkehr nach Galiläa (Mt 2,19–23) vollzieht sich auf dem Hintergrund der Moseüberlieferung eine Bewegung, die sich im Evangelium wiederholt: Der Nazoräer Jesus (Mt 2,23) verkündigt in Galiläa den Willen Gottes, wird dann in der Heiligen Stadt Jerusalem wiederum von den Machthabern verfolgt und eröffnet so auch den im Prolog bereits anwesenden Heiden eine Heilsperspektive173. Bereits im Prolog erscheint Jesu Weg auch als der Weg Gottes zu den Völkern. Die anfängliche Mission gegenüber dem synagogalen Judentum ist gescheitert (vgl. Mt 23,34; 10,17) und gehört schon längst der Vergangenheit an, nun ist die ganze Welt das Feld der Missionare der mt. Gemeinde (Mt 28,16–20). Wenn Jesus Christus in Mt 1,1 als Sohn Abrahams erscheint und die Genealogie in Mt 1,2 mit Abraham beginnt, wird damit bereits am Anfang eine universale Perspektive angedeutet, denn Gott kann Abraham aus Steinen Kinder erwecken (vgl. Mt 3,9). Die im Stammbaum Mt 1,3–6 erwähnten Frauen (Tamar, Ruth, Rahab und die Frau des Uria) sind alle Nicht-Jüdinnen, worin wiederum ein universaler Aspekt zum Ausdruck kommt174. Den vier heidnischen Frauen am Anfang entsprechen ‚alle Völker‘ am Ende. In Mt 2,1ff beten die Magier als Repräsentanten der Heidenwelt Jesus an, während der jüdische König das Kind zu töten versucht. Die in Mt 1–2 dominierenden Motive (Stammbaum, göttliche Herkunft und Gefährdung des Helden, Magier, astronomische Zeichen) haben alle zahlreiche Parallelen in der griechisch-römischen Überlieferung175 und waren damit auch für Menschen griechisch-römischer Religiosität anschlussfähig. Nicht erst nach der Ablehnung Jesu durch Israel, sondern von Anfang an gilt Gottes Heilshandeln nach der Konzeption des Matthäus auch den Heiden. Sowohl Johannes der Täufer als auch Jesus erscheinen in Mt 3–4 als Repräsentanten der in der nachfolgenden Bergpredigt geforderten Gerechtigkeit (Mt 3,15), indem sie dem Willen Gottes folgen und Jesus in der Versuchung jenen Gehorsam vollzieht, der auch von den Jüngern verlangt und erwartet wird. Die unterschiedliche heilsgeschichtliche Stellung des Täufers und Jesu wird auch von Matthäus betont, zugleich ist bei ihm die Botschaft vom nahe gekommenen Reich der Himmel bereits Inhalt der Verkündigung Johannes des Täufers (Mt 3,2; vgl. 4,17). Der Täufer ist so mit seiner Gerichtspredigt nicht nur Vorläufer des Messias, sondern selbst Repräsentant des Reiches der Himmel176.
172 Gen 6,1–4 zeigt, dass die sexuelle Vermischung von Göttern und Menschen im Judentum abgelehnt wurde. 173 Vgl. U. LUZ, Jesusgeschichte (s. o. 8.3), 41. 174 Vgl. H. STEGEMANN, ‚Die des Uria‘, 266 ff.
175 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 z. St. 176 Zum Täuferverständnis bei Matthäus vgl. G. HÄFNER,
Der verheißene Vorläufer, SBB 27, Stuttgart 1994.
404 Sinn durch Erzählen
In der Bergpredigt erscheint Jesus als Lehrer der ‚besseren Gerechtigkeit‘. Matthäus nimmt die starken ethischen Impulse aus Q mit ihrer Betonung des Tuns auf (vgl. z. B. Mt 7,21.24–27), zugleich relativiert er die Orthopraxie (vgl. Mt 7,22f) und betont mit Q den Heilsindikativ (vgl. Mt 5,3–15). Durch die fast gleichlautenden Formulierungen in Mt 4,23 und 9,35 werden die Bergpredigt Mt 5–7 und der Wunderzyklus Mt 8–9 zusammengebunden. Jesus erscheint somit als Messias des Wortes und als Messias der Tat 177. Die starken Eingriffe in den Markusstoff in Mt 8–9 erklären sich aus der theologischen Zielsetzung des Evangelisten: Matthäus erzählt hier die Gründungslegende der Kirche aus Juden und Heiden und die damit verbundene Spaltung von Israel178. Die Zuwendung (Mt 9,35–11,6) und das Scheitern an Israel und seinen Führern (Mt 11,7ff) bestimmen die weitere Linienführung. In Mt 12,1–16,20 spitzt sich die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Führern Israels zu, wobei vor allem Mt 12,14 (Todesbeschluss) sowie Mt 12,22–45; 15,1–20 und 16,1–12 mit ihren polemischen Spitzen herausragen. Diese Linie wird in Mt 16,21; 19,1–12; 20,17–19 weitergeführt, zugleich steht aber die Entstehung der Jüngergemeinde in und aus Israel in Mt 16,21–20,34 im Mittelpunkt, wobei die Gemeinderede in Mt 18 das Zentrum bildet. In Mt 21,1–24,2 kommt es zur großen Abrechnung Jesu mit den Führern des jüdischen Volkes; vor allem die Pharisäer werden in Kap. 23 einer scharfen Kritik unterzogen (vgl. ferner die Konflikttexte Mt 21,12–17.23–46; 22,1–14.15–22.23–33.34– 40). Auch in Mt 26,3–5.14–16.47–58.59–68; 27,11–26.38–44 steht der Konflikt zwischen Jesus und allen führenden Gruppen des Judentums im Zentrum der Darstellung. Auffallend ist eine Differenzierung zwischen der Volksmenge (ocloß) und den politisch/religiösen Führern, denn die Volksmenge verhält sich offen gegenüber der Botschaft (Mt 4,23–25; 7,28f; 23,1) und dem Wirken Jesu (Mt 9,8.33f; 12,23; 19,2; 21,8.9 u.ö). Nur durch die Führer wird die Volksmenge dazu verleitet, die Freilassung des Barabbas zu fordern (Mt 27,20). Anders gebraucht Matthäus jedoch den lao´ß-Begriff („Volk/Gottesvolk“)179; die Zitate in Mt 2,6; 4,16; 13,15 und 15,8 lassen deutlich erkennen, dass der Evangelist an den Sprachgebrauch der LXX anknüpft und mit lao´ß das zuerst erwählte Gottesvolk gemeint ist. Jesu (Mt 1,21) und Gottes Volk (Mt 2,6; 4,16) verhärtet sich zusammen mit seinen Repräsentanten (Mt 21,23; 26,3.47; 27,1) gegenüber dem neuen Anspruch bis hin zu dem Ausruf des ganzen Volkes (pa˜ß o lao´ß): „Sein Blut über uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25). Die Intention des Matthäus ist deutlich: Er spricht Israel den Status des Gottesvolkes ab, sofern es sich zusammen mit seinen Führern dem Anspruch Jesu Christi verweigert. Weil Jesus durch sein Wirken (Mt 9,1–8) und seinen Tod (Mt 20,28; 26,28) sein Volk von 177 Vgl. J. SCHNIEWIND, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 51950, 36: „Der Messias des Wortes, der predigende, wird in Kap. 5–7, der Messias der Tat, der heilende, in Kap. 8/9 geschildert.“ 178 Vgl. dazu CHR. BURGER, Jesu Taten nach Matthäus 8 und 9, ZThK 70 (1973), 272–287; U. LUZ, Die Wun-
dergeschichten von Mt 8–9, in: Tradition and Interpretation in the New Testament (FS E. E. Ellis), hg. v. G. Hawthorne/O. Betz, Grand Rapids/Tübingen 1987, 149–165. 179 Vgl. hier H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche (s. o. 8.3), 199–220.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 405
den Sünden befreite (Mt 1,21), ist der Begriff des Volkes Gottes bei Matthäus an die Nachfolge Jesu und sein Heilswerk gebunden. Das neue Gottesvolk der von Jesus Christus Unterwiesenen und an ihn Glaubenden kommt aus den Völkern (Mt 28,19). Die eskalierende Auseinandersetzung Jesu mit Israel und seinen Führern ist die inhaltlich und kompositionell bestimmende Leitlinie der mt. Jesus-Christus-Geschichte180. Die Israelmission der mt. Gemeinde ist gescheitert und der Evangelist verbindet mit ihr keine Hoffnungen mehr (vgl. Mt 22,8–10; 23,37–24,2; 28,15b). Seine Realität ist die bereits vollzogene Öffnung gegenüber den Völkern (Mt 24,14: „Und dies Evangelium vom Reich wird auf dem ganzen Erdkreis verkündigt werden, allen Völkern zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“), die er in Mt 28,16–20 programmatisch begründet. Von Israel zu den Völkern
Die Erscheinung des Auferstandenen, seine Inthronisation zum Allherrscher und der Missionsbefehl in Mt 28,16–20 bilden nicht nur den erzählerischen Abschluss des Matthäusevangeliums, sie sind vielmehr der Fluchtpunkt, auf den hin sich das gesamte Evangelium bewegt und von dem her es gelesen werden will181. Mt 28,16–20 ist somit der theologische und hermeneutische Schlüssel zu einem sachgemäßen Verstehen des Gesamtwerkes182. Mt 28,16–20 geht in seiner vorliegenden Gestalt auf die redaktionelle Arbeit des Evangelisten zurück, der dabei teilweise Gemeindetraditionen aufgriff (vgl. als Praetext 2Chr 36,23). So sind V. 16.17 sowohl sprachlich als auch inhaltlich als mt. Bildungen anzusehen183. Auch V. 18a ist redaktionell (prose´rcomai 52mal bei Matthäus, zu ela´lvsen autoı˜ß le´gwn vgl. Mt 13,3; 14,27; 23,1), während in V. 18b vormatthäische Motive anklingen (z. B. die Gegenüberstellung ourano´ß–gv˜). V. 19a weist wiederum deutlich auf den Evangelisten hin (poreu´eshai in Mt 9,13; 10,7; 18,12; 21,6 u. ö., mahvteu´ein redaktionell in Mt 13,52; 27,57), demgegenüber spiegelt die Taufformel in V. 19b die in der Gemeinde geübte Taufpraxis wider. V. 20 enthält zahlreiche mt. Sprach-
180 Vgl. U. LUZ, Jesusgeschichte des Matthäus (s. o.
8.3), 78: „Matthäus hat seine Jesusgeschichte nach einem ‚inneren Prinzip‘ angelegt. Er hat sie als Geschichte der Auseinandersetzung Jesu mit Israel erzählt.“ 181 Treffend O. MICHEL, Der Abschluß des Matthäusevangeliums, in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium, 125: „Nur unter dieser theologischen Voraussetzung von Matth. 28,18–20 ist das ganze Evangelium geschrieben worden (vgl. Matth. 28,19 mit 10,5ff; 15,24; Matth. 28,20 mit 1,23; Rückkehr zur Taufe: Matth. 3,1). Ja, der Abschluß kehrt in gewis-
ser Weise zum Anfang zurück und lehrt das ganze Evangelium, die Geschichte Jesu ‚von hinten her‘ verstehen. Matth. 28,18–20 ist der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Buches.“ 182 Zur grundlegenden Analyse vgl. G. BORNKAMM, Der Auferstandene und der Irdische. Mt 28,16–20, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bultmann), hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1964, 171–191 (= Bornkamm/ Barth/Held, Überlieferung und Auslegung [s. o. 8.3], 289–310). 183 Vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 208 ff.
406 Sinn durch Erzählen
eigentümlichkeiten (z. B. tvreı˜n, dida´skein, zu sunte´leia tou˜ aiw˜noß vgl. Mt 13,39.49; 24,3). Die Verheißung V. 20b nimmt Mt 18,20 auf und dürfte somit auch auf den Evangelisten zurückgehen.
Im Zentrum von Mt 28,16–20 steht die Vorstellung der universalen Herrschaft Jesu, so wie sie sich in der Inthronisation V. 18b, dem viermaligen pa˜ß in V. 18b.19a. 20a.b, dem Missionsbefehl in V. 19.20a und der Zusage immerwährender Gegenwart in V. 20b ausdrückt. Auf dieses gegenwärtige Glaubensbekenntnis der mt. Gemeinde läuft die Jesusdarstellung des ersten Evangeliums zu. Wurde Jesus die universale exousı´a („Vollmacht“) durch die Auferstehung zuteil, so finden sich doch Entsprechungen zur exousı´a des Irdischen (vgl. Mt 11,27): Es ist jeweils Gott, der dem Sohn die exousı´a überträgt. Nicht die exousı´a selbst, sondern ihr Geltungsbereich wird durch Mt 28,18b entschränkt. Bei Matthäus entsprechen sich die Forderung des Auferstandenen und des Irdischen. Das Immanuel-Motiv (vgl. Mt 1,23; 28,20) öffnet die Geschichte des irdischen Jesus auf Gott hin, zugleich wird die bleibende Gegenwart des Auferstandenen an den Irdischen gebunden. Jesus erscheint als der einzige und wahre Lehrer, dessen Gebote sowohl für die Jünger als auch für die ganze Welt verbindlich sind. Die Vollmacht des Auferstandenen ermächtigt nun die Jünger und damit auch die gegenwärtige mt. Gemeinde, unter den Völkern zu missionieren184, Jesu Lehre verbindlich zu verbreiten und darin Kirche Jesu Christi zu sein. Im Missionsbefehl bündeln sich somit zentrale Themen mt. Theologie, die das Evangelium durchgehend bestimmen. Die Perspektive von Kap. 28,16–20 stellt nicht nur den Schlussakkord des Werkes dar, sondern ist von Anfang an präsent: Jesu Weg im Evangelium erscheint als der Weg Gottes zu den Völkern. Die Signale dieser Perspektive in Mt 1–2 wurden bereits dargestellt, weitere Beobachtungen kommen hinzu: Nach der Gerichtspredigt des Täufers über Israel (Mt 3,1–12) mit der in Mt 3,9 angekündigten Neukonstitution des Abrahamvolkes und der Erwähnung des Galiläas der Völker (Mt 4,12.15) vollbringt Jesus im Anschluss an die Bergpredigt programmatisch Heilungen an Außenseitern der Gesellschaft (Mt 8,1–4: ein Aussätziger; 8,5–13: ein Heide; 8,14–15: eine Frau). Mt 8–9 als Gründungslegende der mt. Gemeinde signalisiert den Standort des Evangelisten: Er lebt in einer Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen, für die ein Heide das erste Vorbild im Glauben ist (vgl. Mt 8,10). In der Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum erkennt die mt. Gemeinde ihre eigene Geschichte. Der Hauptmann akzeptiert die heilsgeschichtliche Vorrangstellung Israels (Mt 8,8), und wird zugleich zum Erstling der Heidenchristen, während Israel dem Gericht verfällt (Mt 8,11f)185. Mt 10,17.18 setzt voraus, dass die Jünger das Evangelium gleichermaßen unter Ju-
184 Zum Verständnis von ehnv s. u. 8.3.7. 185 U. LUZ, Mt II (s. o. 8.3), 16, minimiert die Bedeu-
tung dieses Textes, wenn er sagt, der Hauptmann
von Kapernaum sei für Matthäus „eine Randerscheinung mit Zukunftsperspektive“.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 407
den und unter den Völkern verkündigten186. Mt 12,21; 13,38a verweisen ebenfalls auf die universale Völkermission, wobei in Mt 12,18–21 die uneingeschränkte Mission mit dem längsten Reflexionszitat (Jes 42,1–4) begründet wird187. Wird das Evangelium unter allen Völkern verkündigt (vgl. auch Mt 24,14; 26,13), so ist es nur folgerichtig, wenn beim Endgericht alle Völker vor dem Thron des Menschensohnes erscheinen (vgl. Mt 25,31–46). Jesus als Lehrer
Das in Mt 28,16–20 dominierende Bild prägt bereits das gesamte Matthäusevangelium: Jesus als vollmächtiger Lehrer der Jünger und des Volkes 188. Vor allem in den vom Evangelisten aus vorgegebenen Traditionen komponierten fünf großen Reden tritt er den Hörern/Lesern als Lehrer entgegen: Die Bergpredigt (Mt 5–7), die Jüngerrede (Mt 10), die Gleichnisrede (Mt 13), die Gemeindeunterweisung (Mt 18) und die Endzeitrede (Mt 24–25) werden durch Matthäus mit der Wendung „und es geschah, als Jesus diese Worte vollendete . . .“ (Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1) abgeschlossen und miteinander verbunden. Die Variation der Abschlussformel in Mt 26,1 (pa´ntaß tou`ß lo´gouß tou´touß) betont den kompositionellen und inhaltlichen Zusammenhang der Reden. Auch innerhalb der Anordnung der Reden lässt sich eine Struktur erkennen: Die beiden umfangreichen äußeren Reden sind an das Volk und die Jünger gerichtet, Kap. 10 und 18 nur an die Jünger, während sich Kap. 13 wieder an das Volk und die Jünger richtet (Mt 13,2.10). Wie Kap. 13 die formale Mitte anzeigt, so bildet die Wirklichkeit der Basileia Gottes die inhaltliche Mitte der Reden 189. Die Fünfzahl erinnert ebenso wie der Berg bei der ersten großen Rede an Mose, so dass die Reden in besonderer Weise die verbindliche Weisung Gottes für sein Volk in der Gegenwart formulieren. Kleinere Redeeinheiten finden sich in Mt 11,7–19 (Johannes d.T.), 11,20–30 (Weheund Jubelruf), 12,22–37 (Beelzebul-Rede), 15,1–20 (Rede über Rein und Unrein). Matthäus liebt das Prinzip der runden Zahlen: Neben den fünf Redekompositionen finden sich drei vormatthäische Antithesen (Mt 5,21 f.27 f.33–37) und drei matthäische Antithesen (Mt 5,31 f.38 ff.43ff), die Trias Barmherzigkeit, Beten und Fasten in Mt 6,1– 8, sieben Makarismen (Mt 5,3–9 vormatthäische Komposition), sieben Bitten im Vaterunser (Mt 6,9–13), sieben Gleichnisse (Mt 13,1–52), sieben Weherufe (Mt 23,1–36) und zehn Wunder Jesu (Mt 8,1–9,34).
186 Vgl. J. GNILKA, Mt I (s. o. 8.3), 376 f. 187 Vgl. R. WALKER, Heilsgeschichte (s. o. 8.3), 78 f. 188 Nach J. YUEH-HAN YIEH, One Teacher, 321, erscheint Jesus als der eine Lehrer in „four major roles – polemic, apologetic, didactic and pastoral – to defend, define, shape, and sustain Matthew’s church as it strived to survive the devastating crises of Je-
wish hostility, self identity, community formation, and church maintenance.“ 189 Treffend H. FRANKEMÖLLE, Matthäus-Kommentar I, Düsseldorf 1994, 101: Die Reden „machen erst das MtEv zu dem, was es ist; ansonsten wäre es nur eine um die Vorgeschichte erweiterte Neuauflage des MkEv.“
408 Sinn durch Erzählen
Der Bergpredigt Mt 5–7 kommt als erster und umfangsreichster Rede zweifellos eine Schlüsselstellung zu190, zumal in Mt 28,20 (wieder auf dem Berg) ausdrücklich auf sie Bezug genommen wird. Die Bergpredigt ist der Kern dessen, was die Jünger alle Völker lehren sollen. Mit ihrer Komposition verbindet Matthäus zentrale Aspekte seiner Christologie: Die Rahmung in 5,1–2 und 7,28f benennt die Jünger und das Volk gleichermaßen als Adressaten, d. h. die Bergpredigt ist keine Spezialunterweisung, sondern gilt allen Glaubenden. Die Seligpreisungen (5,3–12) bilden nicht nur einen rhetorisch eindrucksvollen Einsatz, sondern geben vor allem ein inhaltliches Signal: Am Anfang steht der Heilszuspruch Jesu, so dass auch bei Matthäus der Zuspruch den Anspruch begründet. Das Doppelgleichnis vom Salz und vom Licht (5,13–16) verstärkt den Zuspruch (5,13a: „Ihr seid das Salz der Erde“/5,14a: „Ihr seid das Licht der Welt“), zugleich tritt aber in 5,13b.14b–16 der Anspruch in den Vordergrund, um dann in 5,17–20 programmatisch formuliert zu werden (s. u. 8.3.5). Es geht um die bessere, d. h. größere Gerechtigkeit, deren Inhalt die Antithesen zu Gehör bringen (5,20–48). Das Thema der Gerechtigkeit (s. u. 8.3.6) wird in 6,1–7,12 in dreifacher Weise entfaltet, als Gerechtigkeit im Hinblick auf Gott (6,1–18), als Gerechtigkeit für das Himmelreich (6,19–34) und mit der Liebe als Grund-Satz der größeren Gerechtigkeit (7,1–12). Im Schlussteil (7,13–27) wird das Tun als Kriterium der Gerechtigkeit herausgestellt und mit deutlichen Warnungen verbunden; nicht das Hören oder das Bekennen allein gewähren den Eingang in das Himmelreich, sondern nur das Tun des Willens Gottes. Wie die Bergpredigt beschleunigen auch die anderen Reden das Geschehen nicht, sondern die Hörer/Leser halten inne, um aus dem Mund Jesu grundlegende Belehrungen zu erfahren191; dem äußeren Stillstand entspricht ein innerer Fortschritt. Mit der Jüngerrede (Mt 9,36–11,1) werden die Jünger in den Verkündigungsauftrag Jesu miteinbezogen (vgl. Mt 4,17/10,7). Dem Wirken Jesu an Israel entspricht nun die Sendung der Jünger zu Israel. In der Gleichnisrede (Mt 13,1–53) wird der Gemeinde die Geschichte Jesu und ihre eigene Geschichte kommentiert. Es treten dabei (vor allem bei den Metaphern von Saat und Ernte) heilsgeschichtliche und paränetische Züge hervor, die beide vor dem Gerichtshintergrund ihren Ernst erhalten (Mt 13,40– 43). Ekklesiologische Themen dominieren in der Gemeinderede (Mt 18,1–35); die Niedrigkeit der Jünger, die Suche nach den Kleinen und Verirrten werden ebenso behandelt wie die brüderliche Ermahnung im Gebet, der Ausschluss aus der Gemeinde und die grenzenlose Vergebung. Im Zentrum der Rede steht jedoch eine christologische Verheißung: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Die Stellung der Endzeitrede (Mt 24,3–25,46)
190 Zur Bergpredigt vgl. außer den Kommentaren bes. die Arbeiten von G. STRECKER, H. D. BETZ und H. WEDER (s. o. 8.3.2). 191 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 38, formuliert in diesem
Zusammenhang: „Die fünf großen Reden sind zum ‚Fenster‘ der matthäischen Jesusgeschichte hinaus gesprochen.“
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 409
ist schließlich durch Mk 13 vorgegeben, wobei es Matthäus hier nicht um Endzeitspekulationen, sondern um die Glaubenspraxis geht, denn die Argumentation läuft auf die Paränese in Mt 24,32–25,30 zu. Die fünf Reden vermitteln ebenso wie das Gesamtwerk den Eindruck und den Anspruch, dass Jesu Lehre als die bindende Auslegung des Willens Gottes verstanden werden soll. Indem der Auferstandene die Verbindlichkeit der Worte des Irdischen proklamiert (Mt 28,20a), wird ihnen letztgültige Autorität zugeschrieben. Christologische Hoheitstitel
Diese Autorität kommt auch in den christologischen Hoheitstiteln zum Ausdruck. Während sie im Markusevangelium vor allem im Zusammenhang mit der Geheimnistheorie stehen, betonen sie bei Matthäus vor allem die Hoheit Jesu. Der Titel uıo`ß Dauı´d („Sohn Davids “) wird bereits in Mt 1,1 eingeführt und erscheint insgesamt 17mal im Evangelium (Mk: 7mal; Lk: 13mal). In der Tradition jüdischer national-politischer Messiasvorstellungen (PsSal 17,21) und inspiriert durch Mk 10,46–52 verleiht Matthäus diesem Titel ein besonderes Gepräge. Zunächst wird Jesus als durch einen göttlichen Eingriff legitimierter Abkömmling der David-Dynastie und damit als Messias entsprechend den jüdischen Traditionen vorgestellt (Mt 1,1–17). Das Immanuel-Motiv (Mt 1,23) führt dann zur Vorstellung des heilenden und gnädigen Davidssohns über. Der Titel erscheint auffallend häufig in Verbindung mit Heilungen, speziell bei Blindenheilungen (Mt 9,27; 12,23; 20,30f; 21,14–16). Jesus ist der heilende Davidssohn, der in Israel wirkt und dennoch von den blinden Führern Israels nicht erkannt wird. In eine universale Perspektive überführt Mt 22,41–46 den Titel, denn unter Aufnahme von Ps 110,1LXX und mit Ausblick auf Mt 28,18–20 erscheint der Messias Israels als ku´rioß („Herr“) der Welt192. Der Gebrauch des Cristo´ß-Titels („Gesalbter/Messias “) ist bei Matthäus (16 Belege) in weiten Teilen durch die Markusvorgaben geprägt. Die messianische Würde Jesu bringt bereits die Vorgeschichte durch einen titularen Gebrauch von o Cristo´ß nachdrücklich zum Ausdruck (Mt 1,17; 2,4; vgl. ferner 1,1.16.18). Von zentraler Bedeutung ist Mt 16,16, wo Matthäus über Markus 8,29 hinaus o Cristo´ß durch die Prädikation o uıo`ß tou˜ heou˜ tou˜ zw˜ntoß („der Sohn des lebendigen Gottes“) ergänzt und im Schweigegebot in Mt 16,20 ausdrücklich o Cristo´ß wiederholt. Matthäus überträgt messianologische Traditionen des Alten Testaments auf Jesus und definiert sie zugleich neu, wenn er z. B. die Wunder Jesu in Mt 11,2 als „Taten/Werke des Christus“ bezeichnet193. Eine zentrale Stel192 U. LUZ, Skizze, 226, betont die begrenzte Reichweite des Titels ‚Davidssohn‘, „nämlich die, das Kommen Jesu als Erfüllung und Transformation der messianischen Hoffnungen Israels zu charakterisieren und dadurch den Schock der Trennung von christlicher Gemeinde und Synagoge aufarbeiten zu helfen.“
193 Diesen Aspekt betont G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils (FS H.-W. Kuhn), hg. v. M. Becker/W. Fenske, AGJU XLIV, Leiden 1999, 145–164, wonach Matthäus die Messiaserwartungen seiner Umwelt auf-
410 Sinn durch Erzählen
lung nimmt der Menschensohn-Titel (o uıo`ß tou˜ anhrw´pou) im Matthäusevangelium ein (29 Belege)194. Die Platzierung des Titels signalisiert bereits das mt. Programm: Die Menschensohnworte richten sich nicht an die Öffentlichkeit, sondern an die Jünger (und damit auch an die Gemeinde) und kommentieren als Gesamtheit die Geschichte Jesu. Deshalb fehlen sie in der Bergpredigt (erster Beleg Mt 8,20) und konzentrieren sich auf Kap. 16–17 (Leidensansagen) und 24–26 (Kommen und Gericht des Menschensohnes). Die über Markus hinaus aufgenommenen Worte sprechen vor allem vom kommenden Menschensohn (Mt 13,41; 16,28; 19,28; 24,30a; 25,31). Mit den Menschensohnworten bedenkt die mt. Gemeinde das Wirken (Mt 8,20; 9,6; 11,19; 12,8; 13,37), Leiden (Mt 17,12.22; 20,18.28; 26,2.24.44), Sterben/ Auferstehen (Mt 12,40; 17,9) und das Wiederkommen des Menschensohnes zum Gericht (Mt 10,23; 16,27f; 19,28; 24,27.30.39.44; 25,31; 26,64). Dabei liegt auf dem Motiv des hoheitlichen Richtens des kommenden Menschensohnes zweifellos ein Schwergewicht. Im letzten und entscheidenden Menschensohnwort sagt Jesus öffentlich: „Von nun an werdet ihr den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels“ (Mt 26,64). In der Gewissheit der universalen Herrschaft und der Zuversicht des Kommens des Menschensohnes lebt die mt. Gemeinde und weiß sich mit dieser Botschaft an die Völker gesandt. Auch beim Sohnes- bzw. Gottessohn-Titel (o uıo`ß tou˜ heou˜) setzt Matthäus eigene Akzente (15 Belege). Gehäuft findet er sich im Prolog, wo Gott bzw. ein Engel Jesus direkt als Sohn offenbart (Mt 1,22f; 1,25; 3,17). Dabei lassen Mt 3,15–17 und die antithetische Aufnahme von Mt 4,8–10 in 28,16–18 die mt. Konzeption deutlich hervortreten: Es ist der gegenüber dem Willen Gottes gehorsame Sohn, der als leidender Gerechter (vgl. Ps 22; Weish 2,18) die Weltherrschaft antritt. Ein christologischer Schlüsseltext ist Mt 11,25– 30: „Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und wem der Sohn es offenbaren will“ (11,27). Diese exklusive Offenbarungsgemeinschaft legt Matthäus in 11,28–30 mit dem Verweis auf Jesu vorbildhaftes Handeln und Leben aus und verbindet so vertikale und horizontale Elemente zu einer Christologie, bei der Jesus Ur- und Vorbild zugleich ist. Die zentralen Motive der Liebe, des Vertrauens und Gehorsams dominieren auch in Mt 16,13–28; 17,5; 26,59–66; 27,40.43. Im Gehorsam gegenüber Gott geht der Sohn als Vorbild den Weg des Leidens, der auch den Jüngern nicht erspart wird. Als christologischer Titel ist ku´rioß („Herr“) bei Matthäus nicht von herausragender Bedeutung, er hat zumeist Ehrerbietungs- und Bekenntnischarakter (vgl. Mt 7,21; 8,2.6.8; 9,28; 10,24; 15,22.27; 17,4 u. ö.).
nahm und umgestaltete. In Jesus Christus „gehen jüdische und heidnische Erwartungen in Erfüllung. Seine Herrschaft ist eine Alternative zu jeder politischen Weltherrschaft“ (a. a. O., 163). 194 Vgl. dazu J. D. KINGSBURY, Matthew as Story (s. o.
8.3), 95–103; H. GEIST, Menschensohn und Gemeinde: Eine redaktionskritische Untersuchung zur Menschensohnprädikation im Matthäusevangelium, FzB 57, Würzburg 1986.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 411
Die mt. Christologie ist von der Einheit des Lehrenden und Heilenden, Gehorsamen und Vorbildhaften mit dem Erhöhten und Herrschenden geprägt, mit dem Gott ist und durch den Gott seinen gnädigen endzeitlichen Willen allen Völkern kundtut195.
8.3.3
Pneumatologie
Anders als bei Lukas und Johannes findet sich bei Matthäus keine ausgeprägte Pneumatologie. Bedeutsam ist die Zeugung durch den Geist Gottes in Mt 1,20f, wodurch das Herabkommen des Geistes bei der Taufe den Charakter einer Bestätigung erhält (Mt 3,13–17). Als Geistträger, der unreine Geister austreibt, erscheint Jesus in Mt 8,16; 12,18 ff. Profil gewinnt der Geist-Begriff wieder in Mt 28,19: „Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Die Verbindung von Taufe und triadischen Formeln ist nicht zufällig, denn die Taufe ist der Ort der Geistverleihung (vgl. 1Kor 6,11; ferner 1Kor 12,4–6.13; 2Kor 13,13; 1Petr 1,2; Did 7,1.3; 9,5) und als Taufe auf den Namen der Ort des Anrufens, Aussprechens und Bekennens des dreieinigen Gottes196. Trotz der Auslassung von eiß afesin amartiw˜n („zur Vergebung der Sünden“) in der Täuferbotschaft (vgl. Mt 3,2 mit Mk 1,4) ist zu vermuten, dass auch in der mt. Gemeinde die Taufe neben dem Abendmahl (Mt 26,28) als Ort der Sündenvergebung galt. Die Hörer/Leser werden am Ende des Evangeliums an Jesu vorbildhaftes Verhalten bei seiner Taufe erinnert und ermutigt, im Namen und in der Gegenwart des dreieinigen Gottes das Evangelium allen Völkern zu verkündigen.
8.3.4
Soteriologie
Grundlegend für die mt. Soteriologie ist die Vorstellung des Mit-Seins Gottes mit seinem Volk in Jesus Christus. Jesus ist gekommen, um sein Volk von seinen Sünden zu retten, obwohl diese Botschaft von jüdischer Seite eine starke Ablehnung erfährt. Erzählerisch setzt Matthäus diese Grundzusage durch die Rahmung Mt 1,21f/ 28,16– 20 und jene Texte um, die von Jesu Rettung des Verlorenen und seiner gnädigen Zuwendung zu den Sündern berichten (vgl. Mt 8,1–9,34). In Mt 9,9–13 wird von Jesu Ruf in die Nachfolge und seiner Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern berichtet. Dabei erscheint Jesus als der vollmächtige Sohn Gottes, der die Situation von Menschen vor Gott wendet: „Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“ (Mt 9,13b). Die Sündenvergebung, nach Mt 1,21 ein Bestandteil des 195 Vgl. J. D. KINGSBURY, Matthew as Story (s. o. 8.3),
42.
196 Vgl. hierzu L. HARTMANN, Auf den Namen des Herrn Jesus, SBS 148, Stuttgart 1992.
412 Sinn durch Erzählen
Auftrags Jesu, wird dem Gelähmten in Mt 9,5 direkt zugesprochen und in Mt 26,28 an Jesu Tod und Auferstehung gebunden, die in ihrer Sünden tilgenden Kraft im Abendmahl gegenwärtig sind. Jesu Zuwendung verbindet sich in Mt 9,9 mit dem Ruf des Zöllners Matthäus in die Nachfolge, der die Glaubenden und Getauften in den Raum des Heils versetzt, so dass sie nun aufgefordert sind, allen Völkern die verbindlichen Worte Jesu zu verkündigen. Die Jünger (aller Zeiten) sollen so vollkommen sein, wie Gott selbst vollkommen ist (Mt 5,48). Der Zuwendung Gottes bzw. Jesu entspricht die Forderung, den Willen Gottes zu erfüllen: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr, wird in das Himmelreich hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut“ (Mt 7,21). Der unbarmherzige Knecht (Mt 18,23–35) erfuhr Gottes barmherzige Güte, wandte sich aber von seinen Mitknechten und damit von Gott ab, so dass er dem Gericht verfällt. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–15) schließen sich jene selbst vom Heil aus, die Gottes Güte nicht gelten lassen wollen (Mt 20,15: „Oder schaust du böse, weil ich gütig bin?“). Mit der gnädigen Zuwendung Gottes, dem Ruf in die Nachfolge verbindet sich bei Matthäus die unabdingbare Erwartung, den Willen Gottes zu erfüllen. Vertritt Matthäus damit ein doppeltes soteriologisches Konzept, tritt das menschliche Tun als Heilsbedingung neben Gottes Tat?197 Zweifellos setzt der Evangelist andere Akzente als z. B. Paulus, indem er der Tora eine grundlegende Bedeutung für das Gottesverhältnis zuschreibt und das Verhältnis zum Judentum anders definiert198. Dennoch wird man nicht von unvereinbaren Gegensätzen, sondern von bemerkenswerten unterschiedlichen Akzentsetzungen sprechen müssen: a) Auch bei Matthäus gibt es eine klare Vorordnung der Grundzusage des Mit-Seins Gottes (Mt 1,21f; 28,16–20), d. h. Gottes Allmacht und Gnade sind die Basis aller Forderungen (s. u. 8.3.5/8.3.6). b) Innerhalb der Bergpredigt werden die Antithesen (Mt 5,21–48) nicht zufällig von den Makarismen, dem Salz- und Lichtwort als Grundzusage (Mt 5,3–16) und der Mahnung gerahmt, dass die Person nicht durch Werke konstituiert wird (Mt 6,4b: „Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten“). Der barmherzige Gott und die Zusage des Glücks für die Menschen stehen am Anfang! c) Das Vaterunser (Mt 6,9–13) lässt auch bei Matthäus das Angewiesensein des Menschen auf Gottes Gnade deutlich hervortreten. d) In Mt 28,19.20 steht die Taufe als Begründung des Heilsverhältnisses vor der Lehre199. e) Bei Paulus kommt der Glaubenspraxis ebenfalls eine ent197 Dies bejaht ausdrücklich CHR. LANDMESSER, Jün-
Eintreten in das Himmelreich anzusehen ist.“
gerberufung und Zuwendung zu Gott, WUNT 133, Tübingen 2001, 145: „Das eschatologische Heil ist nach dem Matthäusevangelium aber dadurch sekundär konditioniert, daß die umfassende Erfüllung des von Jesus verbindlich erläuterten Willens Gottes als die neben der Berufung durch Jesus in die Jüngerschaft weitere notwendige Voraussetzung für das
198 Vgl. die Skizze bei U. LUZ, Jesusgeschichte (s. o.
8.3), 163–170. 199 Vgl. G. FRIEDRICH, Die formale Struktur von Mt 28,18–20, ZThK 80 (1983), (137–183) 182f; P. NEPPER-CHRISTENSEN, Die Taufe im Matthäusevangelium, NTS 31 (1985), 189–207.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 413
scheidende Bedeutung zu; er ist in seinen ethischen und ekklesiologischen Anschauungen auf seine Weise nicht minder entschieden als Matthäus (s. o. 6.7/6.8 ). Wer Paulus zum Maßstab gelungener Soteriologie macht200, verkennt zudem, dass alle ntl. Autoren innerhalb ihrer spezifischen Bedingungen ihre je eigene Sinnbildung vornehmen mussten und deshalb nicht gegeneinandergestellt werden können.
8.3.5
Anthropologie
Eine begrifflich ausgerichtete Anthropologie findet sich bei Matthäus nicht, wohl aber verbindet sich bei ihm die Frage nach einer Wesensbestimmung des Menschen untrennbar mit dem Willen Gottes und dem Gesetz als Richtschnur/Norm dieses Willens (Mt 5,48: „Ihr sollt vollkommen sein, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“). Anthropologie und Ethik (s. u. 8.3.6) durchdringen sich bei Matthäus, weil das Wesen und das Handeln des Menschen bei ihm eine untrennbare Einheit bilden. Das Gesetz bei Matthäus
Jesu Auftreten und Verkündigung versteht der Evangelist nicht als Auflösung, sondern als Erfüllung des Gesetzes (vgl. Mt 5,17–20). Wie immer Redaktion und Tradition in Mt 5,17–20 bestimmt werden201, Matthäus hat den gesamten Text übernommen und deshalb gilt er für ihn uneingeschränkt. Die Tora wird bis in den kleinsten Buchstaben hinein nicht angetastet, denn Jesus ist gekommen, um sie zu erfüllen202. Mit dieser Feststellung beginnt aber erst die interpretative Leistung, die Matthäus mit seiner Textabfolge von seinen Auslegern fordert. Grundlegende Voraussetzung für das Verstehen ist auch hier das Voraus der Barmherzigkeit Gottes in den Makarismen und das bedingungslose Vertrauen in die Großzügigkeit Gottes (vgl. Mt 5,45; 6,25– 34; 7,7–11). Zugleich besteht aber zwischen der Grundsatzerklärung Mt 5,17–20 und 200 So offenbar M. HENGEL, Zur matthäischen Berg-
predigt und ihrem jüdischen Hintergrund, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana, WUNT 109, Tübingen 1999, (219–292) 254: „wenn Mt das erste (bzw. letzte) Wort in der christlichen Theologie hätte, dann wäre Paulus ein Häretiker“; CHR. LANDMESSER, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott, 157: „die für die Jünger entscheidende Frage, deren Beantwortung ihnen ein verantwortungsvolles Leben in der Welt allererst ermöglicht, bleibt unter den Bedingungen der matthäischen Theologie gerade offen.“ R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 651, harmonisiert: „Der Unterschied zwischen Matthäus und Paulus ist darum nicht im soteriologischen Verständnis des Gesetzes in der Gegenwart des Reiches Gottes zu suchen, sondern in der geschichtlichen Interpre-
tation des Gesetzes“ (a. a. O., 651). 201 Vgl. zur Analyse G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 8.3.2), 55–64; U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 303–324; R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 257–428. Deutlich ist auf jeden Fall, dass V. 17 überwiegend und V. 20 gänzlich redaktionell sind; V. 18 ist ein unentwirrbares traditionsgeschichtliches Knäuel, V. 19c.d könnten auf Matthäus zurückgehen. 202 Nicht möglich ist deshalb eine Unterscheidung zwischen dem von Matthäus bejahten Sittengesetz und dem von ihm abgelehnten Zeremonialgesetz, wie sie z. B. von G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 30–33, vorgenommen wird. Mt 23,23.26; 24,20 zeigen, dass Matthäus an rituellen Geboten festhielt.
414 Sinn durch Erzählen
den Antithesen Mt 5,21–48 eine Spannung, die sich nicht mit hermeneutischen Kunstgriffen wegdiskutieren lässt. In den Antithesen vollzieht sich eine Steigerung, die sich weder mit den zitierten atl. Texten noch mit deren Auslegungsgeschichte hinreichend erklären lässt. Deshalb muss gefragt werden, in welchem Sinn Jesus das Gesetz nach Matthäus erfüllt? Keineswegs nur als reine Wiederholung des im AT formulierten Gotteswillens, sondern als eine vollmächtige Interpretation. Die Korrespondenz zwischen Mt 5,20 und 5,48 erweist die Antithesen als Konkretion der vom Evangelisten geforderten besseren Gerechtigkeit, die das ‚Mehr‘ dieser Gerechtigkeit formulieren. Dabei bleibt das Gesetz Bestandteil der Gerechtigkeit, zugleich definiert die Autorität des Sprechenden seinen Inhalt203. In der ersten Antithese (Mt 5,21–26) radikalisiert Jesus das Tora-Verbot des Tötens. Auch die zweite Antithese vom Ehebrechen (Mt 5,27–30) verbleibt als Radikalisierung eines Tora-Gebotes in den Möglichkeiten zeitgenössischer Auslegung. Demgegenüber stellt die dritte Antithese von der Ehescheidung (Mt 5,31–32) die Aufhebung eines Toragebotes (vgl. Dtn 24,1.3) dar. Auch das absolute Schwurverbot in Mt 5,33–37 sprengt atl.-jüdisches Denken und ist allein in der Vollmacht und Hoheit Jesu begründet. Matthäus macht auch dieses Gebot wie schon zuvor das Verbot der Ehescheidung für seine Gemeinde praktikabel, ohne damit die ursprünglichen Intentionen der Verkündigung Jesu aufzuheben. Mit der Verwerfung des atl. Grundsatzes der Wiedervergeltung in Mt 5,38–42 und dem absoluten Gebot der Feindesliebe in Mt 5,43–48 verlässt der Bergprediger jüdisches Denken204 und betont, dass nur in der schrankenlosen und vollkommenen Liebe und Gerechtigkeit der wahre Wille Gottes liegt. Die Antithesen zeigen, wie Matthäus die Erfüllung des Gesetzes durch Jesus versteht: Die Gültigkeit und Verbindlichkeit liegt nicht im Text der atl. Überlieferung, sondern exklusiv in der Vollmacht Jesu. Die exousı´a Jesu ermöglicht es, ein geltendes Gebot außer Kraft zu setzen und zugleich den wahren Gotteswillen zur Geltung zu bringen. Deshalb sind für Matthäus Toraverschärfung und Toraaufhebung keine Gegensätze, weil beides allein durch die Vollmacht Jesu begründet und zusammengehalten wird205. Nicht das atl. Gesetz als solches, sondern die vollmächtige Interpretation des AT durch Jesus ist für die mt. Ge-
203 Vgl. R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 649: „In ihrer bisherigen Funktion kann die Tora zu dieser eschatologischen Gerechtigkeit nichts beitragen, sie bleibt aber als Ausdruck von Gottes Willen gegenwärtig in dem, was zu den entolaı´ Jesu führt. Den Weg in die universale Basileia ermöglicht im ersten Evangelium jedoch allein Jesus.“ 204 Zu religionsgeschichtlichen Parallelen vgl. NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 5,44. 205 E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 68, formuliert die anthropologischen Dimensionen der Berg-
predigt so: „Ihre innere Logik zielt nicht auf Überforderung, sondern auf Lebensmöglichkeiten des Menschen, die sich da erschließen, wo Menschen sich von Gottes Zuwendung ansprechen und befreien lassen. An den Antithesen wird deutlich, dass diese Befreiung sich als Paradigmenwechsel vom Tausch zur Gabe realisieren kann. Menschsein ist mehr als der Austausch von Gleichwertigem. . . . Menschsein heißt für die Bergpredigt in erster Linie Beschenktsein, und nur in dieser Perspektive erschließen sich ihre Zumutungen.“
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 415
meinde verbindlich206. Dabei setzt Jesu Vollmacht nicht einfach nur eine verfehlte Auslegung der Tora außer Kraft, vielmehr beansprucht Jesus z. T. gegen den Wortlaut der Tora, deren ursprüngliche Intention wieder freizulegen. Diese Intention liegt im Liebesgedanken, wie die 1. und 6. Antithese als Rahmung zeigen207. Das Liebesgebot ist das Zentrum des mt. Gesetzesverständnisses und die von Jesus geforderte bessere Gerechtigkeit (Mt 5,20) und Vollkommenheit (Mt 5,48) sind identisch mit der Goldenen Regel in Mt 7,12. Sie gewinnt Gestalt in der Barmherzigkeit (vgl. Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7, ferner Mt 23,23c) und der uneingeschränkten Gottes- und Nächstenliebe (vgl. Mt 19,19; 22,34–40), die wiederum in der Feindesliebe ihren höchsten Ausdruck finden. Für Matthäus besteht die Befolgung des Gesetzes nicht in der Beachtung vieler einzelner Vorschriften, Gebote und Regeln, sondern im Tun der Liebe und der Gerechtigkeit, so dass von einer ‚Transformation der Tora durch das Evangelium‘208 gesprochen werden kann. Matthäus nimmt Gewichtungen vor: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel, lasst aber außer Acht, was schwerer wiegt im Gesetz: das Recht, das Erbarmen und die Treue. Dies aber sollte man tun und jenes nicht lassen“ (Mt 23,23). Das Liebesgebot als Summe des mt. Gesetzesverständnisses erfährt seine Verbindlichkeit allein durch den, der in Vollmacht den Gotteswillen wieder zu Gehör bringt. Das mt. Verständnis des Gesetzes muss deshalb zentral von der Christologie her gewonnen werden.
8.3.6
Ethik
B. PRZYBYLSKI, Righteousness in Matthew and his World of Thought, MSSNTS 41, Cambridge 1980; I. BROER, Freiheit vom Gesetz und Radikalisierung des Gesetzes, SBS 98, Stuttgart 1980; H. GIESEN, Christliches Handeln. Eine redaktionskritische Untersuchung zum dikaiosu´nv-Begriff im Matthäus-Evangelium, EHS.T 181, Frankfurt 1982; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 146–156; S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 447–466; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft II (s. o. 6.6), 122– 133.
Alle bisherigen Ausführungen haben bereits gezeigt, dass Matthäus als das ethische Evangelium des Neuen Testaments bezeichnet werden kann. Vor allem die Darstellung Jesu als Lehrer (s. o. 8.3.2) und die durchgängig gegenwärtige Gesetzesthematik (s. o. 8.3.5) rücken die Ethik in das Zentrum des mt. Denkens. Grundlage der mt. Ethik 206 R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 648: „Die Tora
hat keine eigene Funktion neben dem Gebot Jesu mehr, auch nicht für Judenchristen. Vielmehr werden die Jünger (und ihre Nachfolger in den Gemeinden) angewiesen, die Gebote des ‚einen Lehrers‘ (S. Byrskog) weiterzugeben. Dagegen erscheint nir-
gendwo die Tora als verpflichtende Norm unabhängig von Jesu Lehre und Auslegung, d. h. das dida´skein der christlichen Lehrer ist auch in Bezug auf die Gerechtigkeit exklusiv christologisch bestimmt.“ 207 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 333. 208 So R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 645.
416 Sinn durch Erzählen
ist die Bindung an Person, Lehre und Werk Jesu Christi. An Jesus glauben heißt, zugleich seinen Willen und damit den Willen Gottes zu tun. Gerechtigkeit
So wie Jesus selbst sein Wirken als Erfüllung aller Gerechtigkeit versteht (Mt 3,15; vgl. Mt 21,32 über den Täufer), ist die dikaiosu´nv („Gerechtigkeit“) der zentrale Inhalt mt. Ethik (Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32), zumal Matthäus für alle dikaiosu´nv-Belege verantwortlich ist209. Basis der Gerechtigkeit ist ihre Erfüllung durch Jesus (Mt 3,15), als ein gefordertes menschliches Verhalten erscheint die Gerechtigkeit in Mt 5,6.10; 6,1.33210, d. h. als das von Gott gewollte und seinem Reich entsprechende Handeln. Die ‚bessere‘ Gerechtigkeit von Mt 5,20 ist Jesu Lehre selbst und das geforderte Tun der Gemeinde als Voraussetzung für das Eingehen in das Himmelreich211. Die ‚bessere‘ Gerechtigkeit zeigt sich in einem ethischen Verhalten, das beispielhaft und verbindlich in den Antithesen dargelegt wird; ihr Ziel und Maßstab ist die Vollkommenheit (5,48)212. Damit vertritt Matthäus ein anderes Gerechtigkeits-Konzept als Paulus, was sich notwendigerweise aus seiner umfassenden Bejahung der Tora und seiner Betonung des menschlichen Tuns ergibt213. Für Paulus und Matthäus ist Gerechtigkeit zwar gleichermaßen ein Verhältnisbegriff, der allerdings Akzentuierungen zulässt: Wenn Matthäus von ‚eurer‘ Gerechtigkeit spricht (Mt 5,20; 6,1), dann bekommt das Handeln des Menschen aber einen anderen Stellenwert als bei Paulus, der es als Entsprechung zur Gottesgabe der Gerechtigkeit einfordert (s. o. 6.2.7/6.6). Pointiert formuliert: Für Paulus steht Gottes Aktivität an erster Stelle, für Matthäus das Tun des Menschen. Die Bergpredigt ist das kompositionelle und materiale Zentrum dieses Ethik-Konzeptes. Was ist ihr Thema? Während G. Strecker in Mt 5,20 das Thema und das Zentrum der Bergpredigt erblickt, versteht U. Luz das Vaterunser als das eigentliche Zentrum
209 Vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 153. 210 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 283 f.421.481. 211 Vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 151. 212 Nach G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 149–158, bezeichnet bei Matthäus dikaiosu´nv durchweg die ethische Haltung der Jünger, ihre Rechtschaffenheit. Anders z. B. M. FIEDLER, „Gerechtigkeit“ im Matthäus-Evangelium, TheolVers 8 (1977), 63–75; H. GIESEN, Christliches Handeln, 259: „Nach unserer Interpretation ist die mt Gerechtigkeit ein Geschenk Gottes, auch wenn Mt die ethische Dimension betont in den Vordergrund rückt.“ R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 647, spricht von einer ‚Jesusgerechtigkeit‘: „Damit soll ausgesagt werden,
dass diese Gerechtigkeit nicht ohne Jesus möglich ist. Die, die dem Ruf in die Nachfolge gehorsam sind, bekommen dadurch Anteil an dieser Gerechtigkeit, weshalb sie auf ihre Gerechtigkeit hin angesprochen werden können. Die Jüngergerechtigkeit aber bleibt in ihrer Begründung und in ihren Konsequenzen an Jesus orientiert.“ 213 R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 647, harmonisiert zu sehr: „Wie Jesus alle Gerechtigkeit erfüllte, so sollen auch die Jünger – als Gerechte (auch Jesus wurde nicht dadurch, dass er Kranke heilte, Hungernde speiste, Dämonen austrieb und das Reich Gottes verkündigte zum Gerechten, sondern als Gerechter tat er dies und erfüllte so alle Gerechtigkeit) – ihre Gerechtigkeit tun (6,1).“
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 417
der ersten großen Rede Jesu214. Wahrscheinlich war dies für Matthäus keine Alternative, denn für ihn gehören die Forderung und das Angewiesensein auf die Gnade zusammen. Wem gilt die Bergpredigt? Richtet sie sich an alle Menschen, gilt sie nur in den christlichen Kirchen oder kann nur eine exklusive Gruppe oder der Einzelne die radikalen Forderungen der Bergpredigt erfüllen215? Das Nebeneinander von Jüngern und Volk in Mt 5,1; 7,28f schließt eine Zweistufenethik aus, denn die Bergpredigt ist universale Ethik für alle, die Jesus nachfolgen. Umstritten ist nach wie vor die Frage nach der Erfüllbarkeit der Forderungen der Bergpredigt. Die ethischen Radikalismen werfen die Frage auf, ob und inwiefern sie von Matthäus als praktikabel gedacht waren. Lassen sich die ethischen Forderungen der Bergpredigt als zeitlose Imperative erfüllen? Für Matthäus ist anzunehmen, dass sich für ihn die Frage der Praktikabilität nicht stellte. „Für Mt wie für die gesamte Kirche bis in die nachreformatorische Zeit war klar, daß die Bergpredigt praktikabel ist. Sie muß nicht nur getan werden, sondern sie kann auch getan werden.“216 Es geht darum, sich angesichts des nahenden Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen. Die Jünger sind aufgefordert, ihre Ethik an Jesu Lehre und Handeln in Vollmacht auszurichten. So wie Jesus selbst in Gethsemane (vgl. Mt 26,42) die dritte Bitte des Vaterunsers erfüllt (vgl. Mt 6,10), soll die Gemeinde sich in den Willen Gottes ergeben. Bleibende Verbindlichkeit alter und neuer Gebote sind für Matthäus kein Widerspruch, sondern sie gewinnen ihre Einheit in der Vollmacht Jesu Christi. Dieses Konzept liegt jenseits von ‚Werkgerechtigkeit‘, denn für Matthäus ist gerade das unauflösliche Ineinander von Anspruch und Zuspruch charakteristisch (s. o. 8.3.5)217. Die Worte der Bergpredigt und alle anderen ethischen Weisungen spricht der mitgehende Jesus Christus als Weltherrscher und allein deshalb sind sie Gnade!218 Lohn und Strafe
Diese Gnade vollzieht sich jedoch nicht jenseits der Forderung nach dem Tun des Willens Gottes und deshalb sind der Lohn- (vgl. Mt 5,12.19; 6,1.19–21; 10,41f; 18,1– 5; 19,17.28f; 20,16.23; 25,14ff) und Strafgedanke (vgl. Mt 5,22; 7,1.21; 13,49f; 22,13; 24,51; 25,11–13.30) sowie die damit verbundene Gerichtsvorstellung zentrale Elemente der ethischen Motivation bei Matthäus (s. u. 8.3.8). Jesus wird als MenschensohnRichter wiederkommen (Mt 7,22f; 13,30.41; 16,27; 24,29–31; 25,31), und erst im zukünftigen Weltgericht erfolgt die Scheidung zwischen Berufenen und Auserwählten
214 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 8.3.2), 28; U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 254. 215 Vgl. dazu G. LOHFINK, Wem gilt die Bergpredigt?, ThQ 163 (1983), 264–284. 216 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 542. 217 Vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 171: „Entsprechend dem Inhalt der Botschaft
Jesu ist sie mit dem Imperativ identisch, besteht die ‚Gabe‘ der Basileia in der ‚Forderung‘.“ Strecker spricht deshalb von einem ‚indikativischen Imperativ‘ (vgl. Mt 11,28–30). 218 Vgl. G. STRECKER, Bergpredigt (s. o. 8.3.2), 35; U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 542 f.
418 Sinn durch Erzählen
(vgl. Mt 24,42–51). Dann wird sich nach dem Kriterium des Tuns erweisen, wer als ‚Gerechter‘ angesehen und wer in den ‚Feuerofen‘ geworfen wird (Mt 13,36–43.47– 50). Die Glaubenspraxis wird für den Einzelnen zum entscheidenden Kriterium im Gericht (Mt 16,27: „Denn der Menschensohn wird kommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem Tun“). Dabei kommt es Matthäus nicht so sehr auf die Nähe als vielmehr auf die Tatsächlichkeit des Endgerichtes an219. Nach dem Hochzeitsgleichnis (Mt 22,1–14) sind viele berufen, Gute und Böse geladen, aber nur wer ein ‚Hochzeitskleid‘, d. h. gute Werke vorweisen kann, zählt zu den Erwählten und wird vom König nicht verworfen (vgl. auch Mt 7,21). Somit spricht Matthäus mit dem Hinweis auf das Endgericht seine Gemeinde auf ihre uneingeschränkte Verantwortung an. Zugleich durchbricht er mit der Erzählung vom Weltgericht in Mt 25,31–46 alles Berechnen, unerkannt ist das gute und böse Tun und unerwartet das Handeln des Weltenrichters. Die Wirklichkeit der Verwerfung und der Gnade repräsentiert der Weltenrichter Jesus Christus selbst, denn kein anderer kann es tun. Der eschatologische Lohn ist denen verheißen, die nicht damit rechnen, die nicht um des Lohnes, sondern um des Guten willen im Verborgenen handeln (Mt 6,1–4), die sich wirklich von der Liebe leiten lassen, denn die Liebe rechnet nicht. Was für das mt. Gesetzesverständnis zutrifft, gilt auch für die mt. Ethik: Die Forderung nach dem Tun des Willens Gottes findet im Liebesgebot ihre Erfüllung. Dies zeigen die Verschärfung des Nächstenliebegebotes (Mt 5,21–26), das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44), die Goldene Regel als Abschluss und Zielpunkt der Bergpredigt (Mt 7,12) und das Doppelgebot der Nächsten- und Gottesliebe in Mt 22,34–40. Das Liebesgebot erschließt alle Weisungen von innen her neu und richtet sie auf die neue Wirklichkeit des Reiches der Himmel aus.
8.3.7
Ekklesiologie
G. BORNKAMM, Die Binde- und Lösegewalt in der Kirche des Matthäus, in: ders., Geschichte und Glaube II, BEvTh 53, München 1971, 37–50; E. SCHWEIZER, Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974; H. FRANKEMÖLLE, Jahwebund und Kirche (s. o. 8.3), 84–307; L. OBERLINNER/ P. FIEDLER (Hg.), Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium (s. o. 8.3.2); J. ROLOFF, Das Kirchenverständnis des Matthäus im Spiegel seiner Gleichnisse, NTS 38 (1992), 337–356; DERS., Kirche (s. o. 6.7), 144–168; A. V. DOBBELER, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden, ZNW 91 (2000), 18–44.
219 Vgl. S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik (s. o.
3.5), 455.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 419
Wie kein anderer Evangelist zeigt Matthäus ein großes Interesses an der Kirche; nur er gebraucht von den Evangelisten das Grundwort ekklvsı´a (Mt 16,18; 18,17: „Versammlung/Gemeinde/Kirche“)220. Die Jünger
Die Leitvorstellung der mt. Ekklesiologie ist die Jüngerschaft (mahvtv´ß 72mal bei Mt, 46mal bei Mk, 37mal bei Lk)221. Der Jüngerkreis bildet nicht nur die historische Verbindung zu Jesus, sondern repräsentiert Modelle gelebten Glaubens für alle Zeiten. Wenn Jesus bei der Taufe davon spricht, dass wir alle Gerechtigkeit erfüllen müssen (Mt 3,15), dann sind die Jünger schon immer mit eingeschlossen. Die Existenzform der Jünger ist die Nachfolge in unbedingter Bindung an die Person und die Lehre Jesu. Christsein heißt für Matthäus Jüngersein, das sich in der Nachfolge Jesu realisiert (vgl. Mt 4,18–22; 8,23; 9,19.37f; 12,49f; 19,16–26.27f). Dem Ruf des irdischen Jesus in die Nachfolge entspricht in der Gegenwart der mt. Gemeinde die Unterordnung unter den im Evangelium entfalteten Willen des erhöhten Jesus Christus (Mt 28,19). Nachfolge vollzieht sich in Bedrängnissen (vgl. Mt 8,23ff), sie erfordert Leidensbereitschaft (vgl. Mt 10,17 ff.25), Kraft zur Niedrigkeit (vgl. Mt 18,1ff) und zum Dienst (vgl. Mt 20,20ff) und Taten der barmherzigen Liebe (vgl. Mt 25,31–46). Dabei weiß sich die Gemeinde getragen von der Zusage des Auferstandenen, bei seiner Kirche zu sein (vgl. Mt 18,20; 28,20). Wie die Jünger in der Sturmstillung (Mt 8,23–27) darf sich die mt. Gemeinde in allen Anfeindungen und Gefährdungen bei Jesus Christus geborgen wissen. Die Jünger sollen nach Ostern zur Nachfolge Jesu aufrufen und zur universalen Mission aufbrechen. Sie repräsentieren im Matthäusevangelium immer auch die Kirche, ihre Darstellung ist transparent für die Gegenwart der Gemeinde (Mt 18,1–35). Anders als apo´stoloß („Apostel“) lassen mahvtv´ß („Jünger“) und akolouheı˜n („nachfolgen“) eine Identifizierung der Gemeinde mit den vorösterlich Handelnden zu. Die Jünger erscheinen als Lernende und Verstehende (Mt 13,13–23.51; 16,12; 17,13), zugleich aber auch als ‚Kleingläubige‘ (Mt 8,26; 14,31; 16,8) und an der Auferstehungswirklichkeit Zweifelnde (Mt 28,17b: „einige aber zweifelten“). Sie sind das Salz der Erde (Mt 5,13) und das Licht der Welt (Mt 5,14–16), bereit und fähig zur Mission und zum Bekenntnis (Mt 10), zugleich aber ängstlich und zur Verleugnung fähig (Mt 14,30f; 26,21 f.31.34). In den Jüngern erkennen die Glieder der mt. Gemeinde Modelle gelebten Glaubens in all seinen Dimensionen.
220 Lukas verwendet ekklvsı´a nur in der Apostelgeschichte. 221 Vgl. zum mt. Jüngerverständnis U. LUZ, Die Jünger im Matthäusevangelium, in: J. Lange (Hg.), Das
Matthäusevangelium (s. o. 8.3), 377–414; R. E. EDWARDS, Matthew’s Narrative Portrait of Disciples, Harrisburg 1997.
420 Sinn durch Erzählen
Petrus
Eine Sonderstellung innerhalb des Jüngerkreises und der Gemeinde nimmt Petrus ein222. Er erscheint als der ‚erste‘ Apostel (Mt 10,2), als Sprecher des Jüngerkreises (Mt 15,15; 18,21), und sein Verhalten wird in Mt 14,28–31 als Lehrbeispiel für das rechte Verhältnis von Glaube und Zweifel dargestellt. Grundlegend ist das Petruswort Mt 16,17–19, das der Evangelist in die Markusreihenfolge zwischen Christusbekenntnis und Schweigegebot einfügt223. Es weist eine komplexe Struktur auf: 1) Der Makarismus in V. 17 („Selig bist du, Simon Barjona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater in den Himmeln“) bezieht sich direkt auf das vorangehende Bekenntnis. 2) An die Einführungsformel V. 18a fügen sich drei ähnlich aufgebaute Logien an, die vom Bau der Ekklesia (V. 18b: „Du bist Petrus, und auf diesem Fels werde ich meine Kirche bauen, und die Tore der Unterwelt werden sie nicht überwältigen“), von der Übergabe der Schlüssel des Himmelreiches (V. 19a: „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben“) und von der Vollmacht des Bindens und Lösens handeln (V. 19b: „und was du auf Erden bindest, wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösest, wird im Himmel gelöst sein“). Sehr alte Tradition dürfte V. 18b aufbewahrt haben, denn ihm liegt ein Wortspiel mit Pe´troß („Petrus“) und pe´tra („Fels“) zugrunde224: Es verbinden sich Namensverleihung und Namensdeutung, wobei der Name zugleich die Funktion ausdrückt. Das Wort dürfte in früher Zeit entstanden sein, jedoch nicht auf Jesus zurückgehen, denn die Wendung mou tv`n ekklvsı´an („meine Gemeinde/Kirche“) setzt eine nachösterliche Situation voraus. Das Schlüsselwort und das Logion vom Binden und Lösen (vgl. Joh 20,23) lassen Petrus als den Garanten der mt. Überlieferung und als Prototyp des bekennenden Jüngers und christlichen Lehrers erscheinen, der im Gegensatz zu den Schriftgelehrten und Pharisäern (Mt 23,13: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst nämlich geht nicht hinein, und die wollen, lasst ihr nicht hineingehen“) durch seine Interpretation der Überlieferung das Himmelreich aufschließt und so die mt. Ekklesia zu einem fest gegründeten Haus macht (vgl. Mt 7,24–27). Die Vollmacht des Bindens und Lösens gilt nach Mt 18,18 zugleich der Gesamtgemeinde, so dass Petrus zum Exemplum für alle Jünger wird: Was ihm an Erkenntnis, Vollmacht, Glaubensstärke, aber auch Glaubenszweifel zuteil wurde, darf die Gemeinde auf sich selbst beziehen. Spiegelt die Jetztgestalt des Matthäusevangeliums den Weg der Gemeinde von ihren judenchristlichen Anfängen bis hin zu ihrer Praxis der universalen Völkermission wider, so entspricht dies dem Lebensweg des Petrus, 222 Vgl. dazu U. LUZ, Mt II (s. o. 8.3), 467–471; J. ROLOFF,
Kirche, 162–165. 223 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse F. HAHN, Die Petrusverheißung Mt 16,18f, in: ders., Exegetische Beiträge zum ökumenischen Gespräch, Göttingen 1986, 185–200; P. HOFFMANN, Der Petrus-
Primat im Matthäusevangelium, in: Neues Testament und Kirche (FS R. Schnackenburg), hg. v. J. Gnilka, Freiburg 1974, 94–114. 224 Vgl. hierzu P. LAMPE, Das Spiel mit dem Petrusnamen – Matt. XVI.18, NTS 25 (1979), 227–245.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 421
der sich als hervorgehobener Zeuge des Ostergeschehens (vgl. 1Kor 15,5) einem liberalen Judentum öffnete (vgl. Gal 2,11ff) und schließlich Heidenmission betrieb (vgl. 1Kor 1,12; 9,5). Möglicherweise begründen diese auffälligen Übereinstimmungen die besondere Autorität des Petrus in der mt. Gemeinde. Strukturen
Die hervorgehobene Stellung des Petrus und die Parallelen zwischen Mt 16,19 und 18,18 lassen die Frage aufkommen, welche Ordnungsstrukturen die mt. Gemeinde aufweist. Zunächst ist festzustellen, dass die Gemeinde keine institutionalisierten Ämter (vgl. Mt 23,8–12) kennt, sie versteht sich als Gemeinschaft der Brüder (vgl. Mt 23,8), für die Taufe und Ruf in die radikale Nachfolge konstitutiv sind. Zugleich wirken in ihrer Mitte Propheten (vgl. Mt 10,41; 23,34; ferner 5,12; 10,20), Schriftgelehrte (vgl. Mt 13,52; 23,34; ferner 8,19) und Charismatiker (vgl. Mt 10,8). Eine zentrale Rolle innerhalb der Gemeinde spielte offenbar die geschwisterliche Fürsorge, die dem Sünder nachgehende Liebe Gottes. Wiederum bildet Jesus selbst dafür das Modell: „So ist es nicht der Wille vor eurem Vater in den Himmeln, dass eines von diesen Kleinen verlorengehe“ (Mt 18,14). Die Frage der Sündenvergebung ist deshalb von zentraler Bedeutung, denn Jesus ist derjenige, der sein Volk von den Sünden erlöst (Mt 1,21) und der Kirche ist die Vollmacht zur Sündenvergebung gegeben (Mt 9,8; 26,28). Diese Vollmacht spiegelt sich in der Disziplinarregel Mt 18,15–17 wider, die als institutionalisierte Kirchenzuchtmaßnahme zu verstehen ist225. Unter Aufnahme atl. Traditionen wird hier ein dreistufiges Verfahren festgelegt: 1) Ein Gespräch mit dem Gemeindeglied unter vier Augen (V. 15); 2) bei fehlender Einsicht ein weiteres Gespräch unter Hinzuziehung von einem oder zwei Zeugen (V. 16) und schließlich 3) die Behandlung des Falles vor der Vollversammlung der Gemeinde. Wenn auch vor diesem Gremium die Zurechtweisung nicht fruchtet, erfolgt die Exkommunikation (V. 17b: „er sei dir wie der Heide und der Zöllner“). Ziel dieses Verfahrens ist die Zurückgewinnung jener Gemeindeglieder, die aus der Nachfolge herauszufallen drohen. Damit zielt Matthäus nicht auf die reine Gemeinde der Heiligen, sondern auf eine geordnete, sich ihrem Ursprung und ihrer Aufgabe bewusste Gemeinde. Insgesamt zeigt der Befund, dass die Gemeinde bereits durch eine erhebliche Institutionalisierung geprägt ist226. Innere Gefährdungen
Auf welche Probleme der Evangelist mit diesem Verfahren reagiert, lässt sich nicht mehr sicher sagen. Deutlich ist aber, dass zwei akute Probleme die Gemeinde bedrohen: a) Der wiederholte Aufruf zum Tun des Willens Gottes (Mt 7,21; 12,50; 21,31) 225 Zur Auslegung vgl. zuletzt I. GOLDHAHN-MÜLLER, Grenze der Gemeinde (s. o. 6.7), 164–195; ST. KOCH, Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen
Christentum, WUNT 174, Tübingen 2004, 66–83. 226 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 96 f.
422 Sinn durch Erzählen
signalisiert als grundlegendes Problem das Bleiben im Gnadenhandeln Gottes, ohne im Glauben und in der Liebe zu ermatten. Der ‚Kleingläubigkeit‘ (vgl. Mt 6,30; 14,31; ferner 8,26; 16,8; 17,20) tritt Matthäus mit seiner umfassenden Paränese entgegen, deren Schwergewicht auf dem Tun der ganzen Tora (Mt 5,17–19) bzw. der Gerechtigkeit (Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32), auf der Vollendung (Mt 5,48; 19,21) und den Früchten des Glaubens liegt (Mt 3,10; 7,16–20; 12,33; 13,8; 21,18– 22.33- 46). Mit dem Aufruf zur mutigen Glaubenspraxis und dem Bleiben im Glauben verbindet der Evangelist Ausblicke auf das jüngste Gericht (Mt 3,10; 5,29; 7,16ff; 10,15; 18,21–35; 19,30; 23,33.35f; 24,42 u. ö.). Kaum zufällig finden sich nur bei Matthäus der Motivierung der Paränese dienende Schilderungen des jüngsten Gerichtes (vgl. Mt 7,21ff; 13,36ff; 25,31ff). Die Gemeinde hat einen Auftrag in und für die Welt und deshalb gibt es in ihr wie in der Welt „Böse und Gute“ (Mt 5,45). Sie existiert als corpus permixtum, in der Gerechte und Ungerechte leben (Mt 13,24– 30.47–50; 22,10; 25,31- 46), und gerade deshalb wird vom Evangelisten zur Wachsamkeit aufgerufen (Mt 24,42; 25,13), denn: „Viele sind berufen, wenige aber auserwählt“ (Mt 22,14). Zugleich gilt die Verheißung: „Wer beharrt bis zum Ende, der wird selig werden“ (Mt 24,13). b) Der Evangelist warnt die Gemeinde in Mt 7,15; 24,11 vor yeudoprofv˜tai („Pseudopropheten“). Das theologische Profil dieser Gegner bleibt undeutlich, zumeist werden sie mit Hinweis auf Mt 5,17–20; 7,12–27; 11,12f; 24,10–13 als hellenistische Antinomisten eingestuft227. Matthäus wirft ihnen anomı´a („Ungesetzlichkeit“) vor (vgl. Mt 7,23; 24,12), ihre Früchte sind schlecht (vgl. Mt 7,16–20) und sie tun nicht den Willen Gottes (vgl. Mt 7,21). Offensichtlich unterlaufen diese Gegner die umfassende ethische Konzeption des Matthäus (vgl. Mt 24,12) und gefährden dadurch die Einheit der Gemeinde. Kirche und Israel
Das Verhältnis von Kirche und Israel ist nicht nur die zentrale Frage der Ekklesiologie, sondern der matthäischen Theologie insgesamt. Mit ihrer Beantwortung verbinden sich sehr unterschiedliche Einschätzungen des historischen Ortes und der theologischen Konzeption des Evangelisten. Das Evangelium bietet einen spannungsvollen Befund : Einerseits finden sich Hinweise auf einen partikular judenchristlichen Standort, denn Sprache, Aufbau, Schriftrezeption, Argumentation und Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums verweisen auf dieses Milieu; andererseits sprechen zahlreiche Hinweise für einen universalen Standort, der schon längst über das Judentum hinausgegangen ist228. 227 Grundlegend dazu G. BARTH, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: Bornkamm/ Barth/Held, Überlieferung und Auslegung (s. o. 8.3), 149–154; vgl. ferner E. SCHWEIZER, Gesetz und Enthusiasmus bei Matthäus, in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium (s. o. 8.3), 350–376. Eine Auflis-
tung verschiedener Lösungsvorschläge (Zeloten, Pharisäer, Essener, strenge Judenchristen, Pauliner) findet sich bei U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 524f, der fragt, ob die Falschpropheten als ‚Markiner‘ einzustufen sind. 228 Vgl. dazu auch den Überblick bei R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 19–27.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 423
Exemplarisch verdichten sich die Probleme im Verhältnis von Mt 10,5b.6 („Geht nicht den Weg zu den Völkern und betretet keine samaritanische Stadt. Geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“; vgl. 15,24) und Mt 28,16–20. Wie verhalten sich die ausdrückliche Begrenzung und der programmatische Universalismus zueinander?229 Verschiedene Erklärungsmodelle sind möglich: 1) Das geschichtliche Nacheinander, wonach Mt 10,5b.6 ein älteres und der Missionsbefehl ein jüngeres Stadium der mt. Gemeindegeschichte dokumentiert230. Die exklusive Sendung an Israel hat keine Gültigkeit mehr. 2) Dieses Modell kann mit einer heilsgeschichtlichen Interpretation verbunden werden, wonach Israel seine heilsgeschichtliche Stellung an die universale Kirche abgegeben hat (Substitutionsmodell)231 oder zumindest die partikulare Beschränkung auf Israel zugunsten einer Erweiterung/Ausweitung aufgehoben wurde232. 3) Das Komplementärmodell, wonach die Sendung zu Israel und den Völkern gemeinsam gelten und keinen Widerspruch bilden, weil sie einen unterschiedlichen Charakter haben. Das jüdische Selbstverständnis des Matthäus und das Hinzukommen der Völker im Kontext der prophetischen Traditionen ergänzen sich233. Angesichts des komplexen Textbefundes und der divergierenden Interpretationen lautet die entscheidende Sachfrage: Bestimmt die Israelmission noch aktuell die theologische Konzeption des Evangelisten und den historischen Ort der Gemeinde? Zweifellos prägte die Israelmission die Geschichte der mt. Gemeinde und ist in der Textwelt des Evangeliums präsent, zugleich gibt es deutliche Hinweise, dass sie in der Gegenwart nicht mehr bestimmend für das Denken des Evangelisten ist. Die Israelmission ist gescheitert (Mt 11,20–24; 23,37–39; 28,15) und der Bruch mit Israel längst vollzogen. Dies führte zu Repressionen und Verfolgungen von Seiten des Judentums gegenüber den mt. Gemeindegliedern (Mt 10,17f; 23,34)234. Abstand und 229 Einen Forschungsüberblick bietet A. V. DOBBELER,
Die Restitution Israels, 21–27. 230 Vgl. z. B. U. LUZ, Mt II (s. o. 8.3), 91 f. 231 Vgl. W. TRILLING, Das wahre Israel (s. o. 8.3), 215: „Matthäus als der Endredaktor denkt entschieden heidenchristlich-universal“; G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 34: „Die unjüdischen, hellenistischen Elemente der Redaktion legen nahe, den Verfasser dem Heidenchristentum zuzuordnen.“ 232 Vgl. J. GNILKA, Mt I/1 (s. o. 8.3), 362 f. 233 Vgl. A. V. DOBBELER, Die Restitution Israels, 27– 44. Ähnlich M. KONRADT, Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium (s. o. 8.3), 424, wonach die Position des Matthäus dadurch gekennzeichnet ist, „zum einen die Sonderstellung Israels positiv aufzunehmen, zum anderen eben die Öffnung auf die Völkerwelt zu vertreten und mit
ersterer zu vermitteln. Verbindet man dies mit den eingangs angesprochenen neueren Versuchen der Verortung des Evangeliums im Kontext der jüdischen Formierungsprozesse nach 70 n.Chr., dann zeigt sich die matthäische Jesusgeschichte m.E. wesentlich als ein Versuch der Legitimation bzw. des Werbens für eine auf die Völkerwelt hin programmatisch in neuer Weise geöffnete Variante jüdischen Glaubens im Gegenüber und im Konflikt zur pharisäischen Spielart, die einen dominanten Einfluß auf die Synagogen auszuüben scheint.“ 234 Dabei zeigt der Zusatz kai` toı˜ß ehnesin in Mt 10,18 deutlich, dass diese Auseinandersetzung für den Evangelisten bereits geraume Zeit zurückliegt und er sie in seine universale Konzeption integrierte, vgl. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 30.
424 Sinn durch Erzählen
Auseinandersetzung235 mit Israel zeigen sich auf sprachlicher Ebene z. B. in der stereotypen Rede von ‚ihren/euren Synagogen‘ (Mt 4,23; 9,35; 10,17; 12,9; 13,54; 23,34; ferner 6,2.5; 23,6) und den ‚Schriftgelehrten und Pharisäern‘ (vgl. Mt 5,20; 12,38; 15,1; 23,2.13.15.23.25.27.29). Das ‚heuchlerische‘ Tun der Pharisäer und Schriftgelehrten (vgl. z. B. Mt 6,1–18; 23,1–36) entlarvt und überbietet Matthäus durch das Tun der ‚besseren‘ Gerechtigkeit (Mt 5,20) und die umfassende Erfüllung des ursprünglichen Willens Gottes (Mt 5,21–48; 6,9.10b; 12,50; 15,4; 18,14; 19,3–9; 21,31), die als Voraussetzung für den Eintritt in das Himmelreich erscheinen (Mt 23,13). Der Standort des Matthäus wird in Mt 24,14 sichtbar: „Und dieses Evangelium vom Reich wird auf dem ganzen Erdkreis verkündet werden (en oÇlU tU˜ oikoume´nU), allen Völkern (pa˜sin toı˜ß ehnesin) zum Zeugnis, und dann wird das Ende (to` te´loß) kommen.“ Die universale Mission aller Völker ist die theologische Grundlage des Matthäus und seiner Gemeinde 236. Dies zeigen die zahlreichen universalistischen Anklänge innerhalb des Evangelium (s. o. 8.3.2) ebenso wie die exponierte Stellung des Missionsbefehls als dem hermeneutischen und theologischen Schlüssel für das gesamte Evangelium. Die Wendung pa´nta ta` ehnv in Mt 24,9.14; 25,32; 28,19 ist nicht einfach identisch mit ta` ehnv, sondern universal gemeint und mit „alle Völker“ zu übersetzen237, wobei Israel selbstverständlich mitgemeint ist238. Die mt. Gemeinde befin-
235 Anders G. BORNKAMM, Enderwartung und Kirche im Matthäusevangelium, in: Bornkamm/Barth/ Held, Überlieferung und Auslegung (s. o. 8.3), 36 („Auf Schritt und Tritt bestätigt das Matth.-Ev., daß die von ihm repräsentierte Gemeinde sich vom Judentum noch nicht gelöst hat“); R. HUMMEL, Auseinandersetzung (s. o. 8.3), 29.31.159f, die von einer äußeren Zugehörigkeit und inneren Selbständigkeit der mt. Gemeinde gegenüber der Synagoge ausgehen. Vgl. ferner in diesem Sinn A. OVERMAN, Matthew’s Gospel and Formative Judaism, Minneapolis 1990; A. J. SALDARINI, Matthew’s Christian-Jewish Community, Chicago 1994; D.C. SIM, The Gospel of Matthew and Christian Judaism, Edinburgh 1998; M. VAHRENHORST, „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“. Matthäus im halachischen Diskurs, WMANT 95, Neukirchen 2002, die davon ausgehen, dass Matthäus und die Pharisäer konkurrierende Führungsansprüche innerhalb Israels stellen. Vgl. auch M. GIELEN, Der Konflikt Jesu (s. o. 8.3), 473: „Das Selbstverständnis des Mt und seiner Gemeinde ist jüdisch, die Trennung von den sich nicht zu Jesus Christus bekennenden Glaubensgenossen wohl noch nicht vollzogen“ und M. KONRADT, Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium (s. o. 8.3), 424, der darauf verweist, „dass es dem Evangelisten darum geht, seine Gemeinde als
legitime Sachwalterin des theologischen Erbes Israels zu positionieren.“ Zur kritischen Diskussion der verschiedenen Positionen vgl. auch U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 95f, der als Fazit formuliert: „M.E. gehört die matthäische Gemeinde, deren Mission im Land Israel zu Ende gekommen ist, nicht mehr zur jüdischen Synagoge.“ 236 Vgl. U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 91 f. IV (s. o. 8.3) 450f, der an diesem entscheidenden Punkt seine Meinung gegenüber früheren Auflagen seines Kommentars geändert hat und nun für die mt. Gemeinde annimmt, „dass auch in ihrer Mitte die Heidenmission bereits im Gange ist“ (IV 451); vgl. ferner J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 146–154; P. FOSTER, Community, Law and Mission (s. o. 8.3), 253 („at the time of the writing of the gospel the group had broken away from its former religious setting and was operating as an independent entity“). 237 Vgl. dazu U. LUZ, Mt IV (s. o. 8.3), 447–452. Luz stellt fest: „Der Missionsbefehl lautet ja nicht: ‚Geht nun neben Israel auch noch zu den anderen Völkern‘ “ (a. a. O., 451). 238 U. LUZ, Mt IV (s. o. 8.3), 451, vertritt eine Mittelposition: „Der Missionsbefehl des Herrn über Himmel und Erde, d. h. die ganze Welt, ist m.E. grundsätzlich universalistisch gemeint und gilt allen Völkern. Er schließt eine weitere Israelmission zwar
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 425
det sich nicht mehr innerhalb des Judentums, denn sie praktiziert nicht die Beschneidung, sondern im Auftrag des Erhöhten die Taufe und proklamiert ein auf die Trinität zulaufendes Gottesverständnis (Mt 28,19)239. Sie ist auch nicht gerade auf dem Weg zur Öffnung für die Völkermission, sondern sie betreibt schon längst planmäßige Völkermission (vgl. neben Mt 28,18–20 bes. Mt 12,21; 13,38a; 24,9–14; 26,13). Diese Interpretation lässt sich mit Mt 10,5b.6 und 28,16–20 sehr gut vereinbaren, denn nimmt man die mt. Erzählpräsentation ernst, dann spricht 10,5b.6 der Irdische und 28,16–20 der Erhöhte. Die von der mt. Gemeinde vollzogene und vom Evangelisten theologisch begründete Ausweitung der Verkündigung entspricht dem letztgültigen Willen des Kosmokrators Jesus Christus240. Hinzu kommt, dass die Verwerfung Israels für die mt. Gemeinde schon längst Realität ist (vgl. Mt 8,11f; 21,39 ff.43; 22,9; 27,25; 28,15), was vor allem die mt. Bearbeitung von Mk 12,1–12 zeigt. Matthäus weitet die bereits bei Markus vorhandenen allegorischen Züge zu einer Darstellung der Heilsgeschichte aus, in der der Anspruch Gottes durch die Propheten ständig zurückgewiesen wird, bis der Ungehorsam in der Tötung des Sohnes schließlich seinen Höhepunkt erreicht. Danach wird die von Matthäus in V. 43 ausdrücklich mit dem Weinberg gleichgesetzte basileı´a tou˜ heou˜ Israel genommen und einem Volk gegeben, das Früchte bringen wird (Mt 21,43). Die Strafe Israels sieht Matthäus nicht allein in der Tötung der Winzer und damit der Führer des Volkes, sondern vor allem in der Übergabe des Heils an die Kirche. Das Reich Gottes ist Israel genommen und der Kirche gegeben worden, weil Israel in der Vergangenheit die geforderten Früchte nicht erbracht hat. Die mt. Komposition im engeren Kontext von Kap. 21,33–46 bestätigt dies. Im Anschluss an die Vollmachtsfrage schaltet der Evangelist aus seinem Sondergut das Gleichnis von den beiden Söhnen vor (Mt 21,28–32) und lässt dann auf das Winzergleichnis das Gleichnis vom großen Festmahl aus Q folgen (Mt 22,1–14), wobei allen drei Erzählungen gemeinsam ist, dass sie auf die heilsgeschichtliche Ablösung Israels hinzielen. Die Verbindung zwischen dem Gleichnis von den beiden Söhnen und dem Winzergleichnis besteht im Stichwort ampelw´n („Weinberg“) in V. 28 und V. 33, im unerwarteten Eingehen anderer in das Reich Gottes und in der heilsgeschichtlichen Vorläuferrolle Johannes des Täufers, der wie später der Sohn von Israel abgelehnt wird. Alle drei Perikopen lassen den theologischen wie historischen Standort des Matthäus erkennen: Der in der Vergangenheit durch die Verfolgung und Tötung der Propheten sichtbar gewordene Ungehorsam Israels hat in der Tötung des Sohnes seinen nicht explizit aus, aber große Hoffnungen verbindet Matthäus damit wohl nicht mehr“. 239 Völlig anders P. FIEDLER, Mt (s. o. 8.3), 21f, der davon ausgeht, dass die nichtjüdischen Männer beim Übertritt zur mt. Gemeinde (und damit zum Judentum) sich beschneiden ließen und die mt. Taufe mit der Proselyten-Taufe in Verbindung stehe. Wenn
Matthäus ‚seinen Lehrer‘ Jesus von Nazareth die Beschneidung nicht lehren lässt, die Beschneidung an keiner Stelle erscheint, wie kann man dann begründen, dass er sie dennoch praktizierte? 240 Deshalb sehe ich anders als U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 91, hier keinen Bruch.
426 Sinn durch Erzählen
Höhepunkt erreicht. Gott hat daraufhin das ehemals erwählte Volk bestraft und das Heilsgut der basileı´a tou˜ heou˜ einem ‚Volk‘ gegeben, das Frucht nach dem Willen Gottes bringen wird. Diese heilsgeschichtliche Ablösung Israels durch die Kirche hat sich für Matthäus vollzogen, und er beschreibt sie rückblickend aus der Perspektive einer Gemeinde von Christen aus dem Judentum und den Völkern241. Die mt. Gemeinde legitimiert sich nicht innerhalb des Judentums242, sondern proklamiert ihre neue Identität unter der Herrschaft des lehrenden Gottessohnes und Messias Jesus von Nazareth für alle Völker.
8.3.8
Eschatologie
Die Eschatologie ist ein Schlüssel zum Verständnis des historischen und theologischen Ortes des Matthäus. Die Aussagen über Gottes zukünftiges Handeln erschließen die Gegenwart des Evangelisten. Die Erfüllung des Gotteswillens
Für Matthäus kommt der im Alten Testament manifeste Gotteswille in Jesus Christus zu seinem Ziel, was er insbesondere durch die Reflexionszitate verdeutlicht. Die Reflexionszitate (Erfüllungszitate)243 liegen mit jeweils redaktioneller Einführung in Mt 1,23; 2,6.15.18.23; (3,3); 4,15f; 8,17; 12,18–21; (13,14f); 13,35; 21,5; 27,9f vor (vgl. ferner Mt 26,54.56)244. In ihnen artikuliert sich nach dem Deutungsmodell ‚Verheißung – Erfüllung‘ in besonderer Weise das mt. Verständnis der Heilsgeschichte: Das Christusgeschehen ist die exklusive Erfüllung der atl. Verheißungen. Die Einführungsformeln zeigen Gemeinsamkeiten, indem auf den Erfüllungsgedanken (plvrou˜n 16mal bei Mt, 3mal bei Mk, 9mal bei Lk) der Verweis auf die Schriftstelle folgt, wobei auch der Name des Propheten (Jesaja, Jeremia) genannt werden kann. Viele Zitate weisen einen Mischtext auf, in ihnen finden sich alle bekannten Textformen des AT245. Die Zitate enthalten Grundthemen der mt. Theologie (Mt 1,23: Immanuel; 2,15: Sohn Gottes; 21,5: der gewaltlose König) in teilweise biographischer Stilisierung (vgl. Mt 2,6.15.18.23; 4,15f; 21,5; 27,9)246. Programmatischen Charakter hat 241 Anders z. B. M. KONRADT, Die Sendung zu Israel
und zu den Völkern im Matthäusevangelium (s. o. 8.3), 415: „Die universale Völkermission ist nicht Antwort auf die Zurückweisung Jesu in Israel bzw. auf die Verwerfung Israels.“ 242 R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 24ff, weist zutreffend auf die (überraschende) Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums hin, die nicht das Judentum, sondern das Judenchristentum als seine Heimat erscheinen lässt. 243 Der Begriff Reflexions zitate umfasst alle Zitate mit
einer interpretierenden Einleitung über das Verhältnis des Christusgeschehens zum AT, Erfüllungs zitate im strengen Sinn liegen nur bei Zitaten mit plvrou˜n vor. 244 Vgl. zur Analyse bes. G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 49–84; W. ROTHFUCHS, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums, BWANT 88, Stuttgart 1969; U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 189–199. 245 Vgl. zu den Einzelheiten bes. K. STENDAHL, School (s. o. 8.3), 39–142. 246 Den historisch-biographischen Aspekt betont
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 427
die Häufung der Zitate im Prolog, mit denen Matthäus seinen Hörern/Lesern einen Verstehensweg weist. Dabei steht bereits Jesu Weg als Heiland aus Israel für die Völker im Mittelpunkt (vgl. Mt 2,15.18.23; 4,15). Es handelt sich um ein Motiv, das auch die weiteren Zitate mitbestimmt (vgl. Mt 8,17; 12,18–21 [V. 21: „und auf seinen Namen werden die Völker hoffen“]; 13,14f; 21,16). Nach der Trennung vom Judentum und der Hinwendung zur universalen Völkermission betont Matthäus um seiner und seiner Gemeinde Vergangenheit und Gegenwart willen, dass im Weg Jesu aus Israel zu den Völkern die ganze Schrift erfüllt wurde. Das Reich der Himmel
Auch die Rede von der Herrschaft Gottes integriert Matthäus in sein theologisches Konzept. Anders als Markus spricht Matthäus vorwiegend vom „Reich der Himmel“ (32mal basileı´a tw˜n ouranw˜n), was synagogalem Sprachgebrauch entspricht. Wie in der jüdischen Tradition verbindet sich mit dem ‚Reich der Himmel‘ auch bei Matthäus ein starker ethischer Akzent247: „Trachtet zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch dies alles dazugegeben werden“ (Mt 6,33; vgl. 3,2; 4,17; 7,21; 13,24.31.33.34.44.45.47; 16,19). Das kommende Reich (Mt 6,10) bestimmt schon jetzt das Handeln. Es geht darum, in der Gegenwart dem Reich der Himmel entsprechend zu leben, um dann durch das Gericht in das Reich einzugehen. Zugleich weiß der Evangelist aber, dass auch die Gemeinde auf die grundlose Barmherzigkeit Gottes angewiesen ist (vgl. Mt 18,1ff; 20,1ff). Als Inbegriff des Heils erscheint das Reich in Mt 25,34, es ist präexistent und wird beim Gericht den Auserwählten zugeeignet. Das Verhältnis zum Judentum verbindet Matthäus ebenfalls mit der Reich Gottes/Reich der Himmel-Vorstellung. Die Trennung vom Judentum wird in Mt 8,11; 21,43; 22,1–10; 24,14 thematisiert, wobei 24,14 als redaktioneller Zusatz zum Markustext den Standort des Matthäus prägnant markiert: Das ‚Evangelium vom Reich‘, d. h. die im Matthäusevangelium niedergelegte Verkündigung Jesu, wird in der Gegenwart den Völkern verkündigt, „und dann wird das Ende kommen“. Matthäus und seine Gemeinde lebten in einer Parusienaherwartung, wie z. B. die Übernahme von Mk 13,28–32 in Mt 24,32–36 zeigt (vgl. ferner Mt 3,2; 4,17; 10,7.23; 16,28; 24,22). Dabei legt die singuläre Formulierung vom ‚Reich des Menschensohnes‘ (Mt 13,41; 16,28) bzw. vom ‚Reich Jesu‘ (Mt 20,21) nahe, dass Matthäus zwi-
G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 72.85. 247 G. THEISSEN, Vom Davidssohn zum Weltherrscher (s. o. 8.3.2), 164, sieht im Matthäusevangelium auch einen Gegenentwurf zu zeitgenössischen Herrschaftskonzepten: „Eine ganz neue Art von Weltherrschaft kündigt sich hier an, eine Weltherrschaft durch ethische Gebote. Sie liegt auf anderer Ebene als die Herrschaft der Römer und des Herodes. Sie
liegt auf anderer Ebene als die Herrschaftserwartungen des Orients. Sie unterscheidet sich von den jüdischen Messiaserwartungen der damaligen Zeit. Was wir im MtEv beobachten können, ist aber nicht nur die Erfüllung dieser Erwartungen. Das Evangelium ist Zeuge für die Transformation politischer Macht in Ethik.“
428 Sinn durch Erzählen
schen dem ‚Reich der Himmel‘ und dem mit der Auferstehung angebrochenen und bis zur Parusie reichenden ‚Reich des Menschensohnes‘ unterscheidet248. Zugleich ist ein Verzögerungsbewusstsein unübersehbar, denn im Wachsamkeitsgleichnis von den Jungfrauen wird ausdrücklich vermerkt: „Doch als der Bräutigam ausblieb, wurden sie alle müde und schliefen ein“ (Mt 25,5). Das Endgericht
Die zentrale Stellung der Eschatologie zeigt sich darin, dass Matthäus durch die Komposition seines Evangeliums das Gericht zu einem bestimmenden Thema macht249. Es durchzieht das gesamte Evangelium, beginnend mit der Predigt des Täufers (Mt 3,7–12), über die Bergpredigt (Mt 7,13–27), die Aussendungsrede (Mt 10,32 f.39– 42), die Gleichnisrede (Mt 13,37–43.47–50), die Gemeinderede (Mt 18,23–35) bis hin zur Endzeitrede (Mt 24–25). Hinzu kommen zahlreiche weitere Textkomplexe, die Gerichtsmetaphorik enthalten (vgl. z. B. Mt 8,11f; 11,6.20–24; 12,33–37; 16,25– 27; 18,8f; 19,27–30; 20,11–16; 21,18–20; 22,11–14; 23,34–24,2). Matthäus übernimmt eine große Anzahl von Gerichtstexten aus der Logienquelle, darüber hinaus verstärkt und präzisiert er durch einen literarischen Kunstgriff die Thematik: Indem Gerichtsworte die fünf Redekomplexe abschließen, werden die großen Reden zu Gerichtsreden an die Gemeinde. Im Zentrum des Gerichtsgeschehens steht das hoheitliche Erscheinen des in Kürze kommenden Menschensohnes (Mt 16,27f; 24,30f; 25,31). Nicht Gott richtet, sondern der Menschensohn, so dass sich die Exklusivität des lehrenden und richtenden Jesus entsprechen. Das Gericht erfolgt nach den Werken (Mt 16,27: „ . . .und dann wird er jedem vergelten nach seinem Tun“), denn nicht die Einstellung, sondern die Früchte des Glaubens sind entscheidend (Mt 3,8–10; 7,15–20; 13,8.22 f.26; 24,45.49; 25,20–23). Das Tun des Willens Gottes als Gehorsam gegenüber der Lehre Jesu ist das Kriterium im Gericht, so dass auch die Eschatologie im Dienst der Ethik steht, wie nachdrücklich der paränetische Einschub Mt 24,32–25,30 in der Endzeitrede zeigt. Die Betonung des Tun schließt allerdings menschliche Berechenbarkeit ausdrücklich aus. Mt 25,31–46 veranschaulicht: Die Gerechten wissen nichts von ihrem Tun und haben nicht mit Lohn gerechnet. Matthäus stellt damit seine Gemeinde und alle Menschen unter das Gericht des Menschensohnes, um dessen Ausgang der Mensch nicht weiß.
248 Vgl. J. ROLOFF, Das Reich des Menschensohnes.
Ein Beitrag zur Eschatologie des Matthäus, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), hg. v. M. Evang/H. Merklein/M. Wolter, BZNW 89, Berlin 1997, 275–292.
249 Vgl. hierzu D. MARGUERAT, Le Jugement dans l'vangile de Matthieu, Genf 1981; U. LUZ, Mt IV (s. o. 8.3), 544–561.
Matthäus: Die neue und bessere Gerechtigkeit 429
8.3.9
Theologiegeschichtliche Stellung
Die Auseinandersetzung mit dem Judentum prägt zweifellos das Denken des Matthäus, reicht aber keineswegs aus, um die Leistung des Evangelisten zu erfassen. Matthäus ist ein kreativer Autor, der in mehrfacher Hinsicht neue Akzente setzt und sich tief in das Gedächtnis der sich bildenden Kirche einschreibt: 1) Das Matthäusevangelium nimmt Markus als Basiserzählung auf, ist aber zugleich so strukturiert, dass es sich aus dieser Beziehung nicht definieren lässt. Es ist bewusst als Buch (Mt 1,1) für das Vorlesen im Gottesdienst konzipiert. Insbesondere die fünf großen Reden lassen die didaktische Kompetenz des Evangelisten erkennen. Er war wahrscheinlich selbst ein Lehrer seiner Gemeinde (vgl. Mt 13,52)250 und lässt Jesus vor allem als Lehrer der Gemeinde und der Völker auftreten. Nicht zufällig wurde Matthäus in der Kirchengeschichte zum Hauptevangelium251, denn seine Darstellung Jesu als vollmächtiger Lehrer und Weltherrscher sowie die katechetische Gesamtanlage des Evangeliums prägten zu allen Zeiten nachdrücklich das Bild der Menschen von und über Jesus Christus252. Neben Jakobus ist Matthäus der Autor im Neuen Testament, der das Tun des Geglaubten unmissverständlich einfordert. 2) Matthäus bewahrte wie kein anderer Evangelist judenchristliche Traditionen und verband sie mit der Öffnung zur universalen Völkermission zu etwas neuem: seinem Evangelium. Wie Paulus legitimiert Matthäus die Völkermission, ohne jedoch die Bedeutung der Tora zu minimieren. Der Anspruch der ganzen Tora wird bei Matthäus aufrechterhalten, sie erfolgt jedoch innerhalb eines neuen Interpretationsrahmens: „Die Torah ist nicht eine selbständige Größe neben Jesus, sondern Jesus war auch in bezug auf sie der einzige Lehrer und der Schlüssel zu ihrem Verständnis.“253 Die mt. Gemeinde erwuchs aus dem Judentum, gehört aber nicht mehr zur Synagoge; sie hat ihre eigene Gründungsgeschichte, ihre eigenen Ämter und ihr eigenes theologisches Profil254. Diesem spannungsvollen Befund wird am ehesten die Vermutung ge-
250 Vgl. dazu K. STENDAHL, School (s. o. 8.3), 20 (Mt
als „handbook issued by a school“); G. STRECKER, Weg der Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 39 (christlicher Schriftgelehrter); U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 83f (Mt als kreativer Exponent seiner Gemeinde); M. HENGEL, Zur matthäischen Bergpredigt (s. o. 8.3.4), 234f A 28 („eine Art christliches Schulhaupt“). 251 Vgl. dazu W.-D. KÖHLER, Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus, WUNT 2.24, Tübingen 1987. 252 Treffend J. NOLLAND, Mt (s. o. 8.3), 38: „Matthew does not write to have people engage with his theology, but rather to engage with Jesus.“ 253 U. LUZ, Mt I (s. o. 8.3), 94; vgl. auch R. DEINES, Gerechtigkeit (s. o. 8.3), 256, der zur Bedeutung der
Tora bei Matthäus feststellt: „Sie ist als eigenständige Größe, gar als Mittel zur Gerechtigkeit, funktionslos geworden, weil auch sie erfüllt ist.“ 254 Zur antijüdischen Wirkungsgeschichte mt. Texte (vgl. 27,25: „Und das ganze Volk entgegnete: Sein Blut über uns und unsere Kinder!“) vgl. die Überlegungen bei U. LUZ, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem, EvTh 53 (1993), 310–327. Wo im Kontext einer nordamerikanisch dominierten Exegese Matthäus innerhalb des Judentums verstanden wird, ergibt sich als ein sicherlich gewollter Nebeneffekt, dass die möglicherweise antijüdischen Aussagen im Evangelium als legitime Formen innerjüdischer Polemik anzusehen sind; vgl. A.J. SALDARINI, Reading
430 Sinn durch Erzählen
recht, dass der Evangelist Matthäus Vertreter eines liberalen hellenistischen DiasporaJudenchristentums war255. Die Ausklammerung der Beschneidungsproblematik im Matthäusevangelium weist in dieselbe Richtung, denn im eher konservativen palästinischen Judentum galt dies als Missachtung der Tora, während eine derartige Praxis im hellenistischen Diaspora-Judentum verbreitet war256. Die Taufe ist nun für alle Glaubenden zu allen Zeiten der Zugang zur Gemeinde Gottes (Mt 28,19). Auch die Wirkungsgeschichte des Evangeliums in der Alten Kirche lässt an ein universalistisch-offenes Judenchristentum denken. Zudem entsprechen starre historische Klassifizierungen wie ‚Judenchristentum – Heidenchristentum‘ wahrscheinlich schon längst nicht mehr der Wirklichkeit der mt. Gemeinde und dem Selbstverständnis des Evangelisten257. Matthäus denkt nicht partikular juden- oder exklusiv heidenchristlich, sondern universal! Nur so konnte er das jüdische Erbe und den sich damit verbindenden Anspruch in der sich bildenden Kirche bewahren. Das Matthäusevangelium weist somit eine inklusive Grundstruktur auf, es vereinigt in sich disparate Strömungen, die durch die beherrschende Stellung der Christologie zu etwas Neuem geführt werden258. Die umfassende Rezeption des ‚ersten‘ Evangeliums in der frühen Kirche zeigt, dass es von Anfang an jenseits der in der Forschung konstruierten Alternativen verstanden wurde. 3) Die kompositionelle und theologische Eigenständigkeit des Matthäus verweist auf ein fortgeschrittenes Stadium innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte, denn seine Jesusdarstellung ist vor allem durch eine Ethisierung der Verkündigung geprägt (s. o. 8.3.6)259. Hinzu kommt eine Historisierung des Traditionsgutes, wie sie in der Erwähnung der Einzelstationen des Lebens Jesu (vor allem Mt 1–2) oder der Erfüllung atl. Verheißungen im Leben Jesu zum Ausdruck kommt (s. o. 8.3.8). Schließlich lässt sich eine Institutionalisierung des Traditionsstoffes beobachten, denn über Markus (und Paulus) hinaus gewinnt die institutionalisierte Vollmacht an Bedeutung (vgl. Mt 13,52; 16,17f; 18,15f; 23,34; 28,19).
Matthew without Anti-Semitism, in: The Gospel of Matthew in Current Study (FS W. G. Thompson), hg. v. D. E. Aune, Grand Rapids 2001, 166–184. 255 Vgl. in diesem Sinn z. B. H. STEGEMANN, „Die des Uria“ (s. o. 8.3.2), 271, der feststellt, „daß die judaistische Komponente der matthäischen Theologie von vornherein hellenistisch-jüdisch gewesen ist, . . . .“ 256 Vgl. a. a. O., 273. 257 Vgl. K. CH. WONG, Interkulturelle Theologie (s. o. 8.3), 125–154, der die ‚heiden- und judenchristli-
chen‘ Texte aus dem gleichberechtigten Neben- und Miteinander von Heiden- und Judenchristen in der mt. Gemeinde erklären will. 258 Vgl. K. BACKHAUS, Entgrenzte Himmelsherrschaft. Zur Endeckung der paganen Welt im Matthäusevangelium, in: R. Kampling (Hg.), „Dies ist das Buch . . .“ (s. o. 8.3), 75–103. 259 Vgl. G. STRECKER, Das Geschichtsverständnis des Matthäus, in: J. Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium (s. o. 8.3), 326–349.
Lukas: Heil und Geschichte 431
8.4
Lukas: Heil und Geschichte
Lukasevangelium
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432 Sinn durch Erzählen
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Lukas führt etwas völlig Neues in das frühe Christentum ein: Er schreibt eine zweibändige Ursprungsgeschichte des Christentums. Dabei reflektiert und rechtfertigt er ausdrücklich sein Vorgehen (Lk 1,1–4), blickt ausführlich auf einen einzigartigen Anfang zurück (Lk 1,5–2,52) und schreibt mit der Apostelgeschichte eine Fortsetzung. Dieser Erweiterung des Darstellungsrahmens entspricht eine veränderte Perspektive: Die Verbreitung des Evangeliums in der Welt mit seinen religiösen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen ist das Thema des lk. Doppelwerkes. Die Existenz zahlreicher Gemeinden im östlichen Mittelmeerraum bis Rom bildet für den Evangelisten den historischen Rahmen für die Abfassung seiner beiden Werke zwischen 90 und 100 n.Chr. Er wendet sich offenbar vornehmlich an eine begüterte, gebildete und religiös-philosophisch interessierte städtische Schicht (vgl. z. B. Lk 1,1–4; Apg 17,22–31; 19,23–40; 25,13–26,32), die er von der Zuverlässigkeit der christlichen Lehre überzeugen will. Lukas versteht Evangelium und Apostelgeschichte als Erzähl-, Lese- und Verstehenseinheit, als einheitliches Geschichtswerk, so dass eine sachgemäße Auslegung beide Schriften zur Grundlage nehmen muss260. Lk 1,1 hat mit den 260 Grundlegend R. C. TANNEHILL, The Narrative Unity of Luke – Acts I.II, Minneapolis 1986.1990; vgl. auch G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt, 31: „Lk – Act ist ein in sich geschlossenes Erzählganzes“. J. SCHRÖTER, Lukas als Historiograph, in: E.M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, BZNW 129, Berlin 2005, 237–262, arbeitet die grundlegende Zusammengehörigkeit von Evange-
lium und Apostelgeschichte ebenso heraus wie die nicht zu übersehenden Unterschiede: „Das Lukasevangelium steht damit gewissermaßen zwischen dem Markusevangelium und der Apostelgeschichte, indem es die markinische Jesuserzählung aufgreift und sie so umarbeitet, daß sie zum Bestandteil eines umfassenderen Geschichtswerks wird“ (a. a. O., 243).
Lukas: Heil und Geschichte 433
Ereignissen, die „unter uns“ zur Erfüllung gekommen sind, bereits die Gegenwart der lk. Gemeinde und damit auch die Schilderungen der Apostelgeschichte im Blick. Lk 1,2 erwähnt nicht nur jene, „die von Anfang an Augenzeugen“ waren, sondern auch „die Diener des Wortes“, die in der Apostelgeschichte vorgestellt werden; Apg 1,1 wiederum blickt auf die „erste Schrift“ (prw˜ton lo´gon) zurück. Lukas stellt nicht den Begriff euagge´lion (Markus) oder bı´bloß (Matthäus) an den Anfang, sondern spricht von div´gvsiß („Erzählung/Bericht“)261; er will sein Werk als Geschichtsbericht verstanden wissen. Vor allem im Prolog Lk 1,1–4 lässt er seine literarischen Ambitionen als Schriftsteller und seine theologischen Absichten klar erkennen262; sein Werk ist Ausdruck eines veränderten Geschichtsbewusstseins und Geschichtsbildes! Historisierung und damit verbunden Biographisierung der Überlieferungen sowie rhetorisch-dramatische Gestaltung der Komposition263 kennzeichnen die lk. Arbeitsweise. Als Historiker und Theologe ist Lukas an den Anfängen und der aus ihnen erwachsenden Kontinuität interessiert. Er ist um Vollständigkeit, Genauigkeit und Solidität bemüht, wobei er offenbar an Traditionen antiker Historiographie anknüpft, wie die Synchronismen und Datierungen in Lk 1,5; 2,1.2; 3,1.2; Apg 11,28 und Apg 18,12 zeigen. Zudem ist die lk. Eigenart, die Heilsgeschichte in miteinander verwobene, aber zugleich eigengewichtige Epochen zu gliedern, nicht ohne zeitgenössische Parallelen, denn insbesondere die historischen Monographien des Sallust weisen eine vergleichbare Struktur auf264. Deshalb können die beiden Bücher des lk. Doppelwerkes als historische Monographien bezeichnet werden, wovon der Charakter der lk. Darstellung des Lebens Jesu als Evangelium unberührt bleibt265. Die weit verbreitete Gattung der historischen Monographie ermöglicht es Lukas, umfassend die Wirksamkeit Jesu und seine Wirkung in ihren einzelnen Epochen darzustellen, wobei mit Epoche nicht klar abgegrenzte Zeitabschnitte gemeint sind, sondern miteinander verbundene und ineinander übergehende Bereiche, die durch spezifische Perspektiven geprägt sind. Zugleich gibt Lukas dieser Gattung aber ein eigenes Gepräge, denn die „Zuverlässigkeit“ (asfa´leia in Lk 1,4) des Geschehenen beruht nicht in den Ereignissen selbst, sondern in Gott als Herrn der Geschichte266. Literarisch schafft Lukas mit seinem Ge-
261 Nach Aelius Theon, Progymnasmata 78,16f, gilt: „Die Erzählung/der Bericht (div´gvma) ist eine entfaltende Darlegung über Dinge, die geschehen sind oder als wären sie geschehen.“ 262 Zum theologischen Programm vgl. grundlegend G. KLEIN, Lukas 1,1–4 als theologisches Programm, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 170– 203; vgl. ferner L. ALEXANDER, The Preface to Luke’s Gospel, SNTS.MS 78, Cambridge 1993. 263 Vgl. hier M. DIEFENBACH, Die Komposition des Lukasevangeliums unter Berücksichtigung antiker Rhetorikelemente, FTS 43, Frankfurt 1993. Zur lk. Erzähltechnik kann neben der Verfeinerung des Epi-
sodenstils der Traditionen die Komposition längerer Texteinheiten gelten, die durch einleitende und abschließende Rahmenverse interpretiert werden. Kennzeichen der lk. Kompositionstechnik sind ferner Nachträge, Ergänzungen und Variationen von Erzählungen; vgl. dazu A. DAUER, Beobachtungen zur literarischen Arbeitstechnik des Lukas, BBB 79, Frankfurt 1990. 264 Vgl. E. PLÜMACHER, Neues Testament und hellenistische Form. Zur literarischen Gattung der lukanischen Schriften, TheolViat 14 (1977/78), 109–123. 265 Vgl. a. a. O., 116 f. 266 Auch der Gebrauch von kahexv˜ß („richtige, ge-
434 Sinn durch Erzählen
schichtswerk ein Stück Weltliteratur! Gerade als Historiker will er auch Erzähler sein, der die Emotionen seiner Hörer/Leser ansprechen will und vom neuen „Weg des Heils“ (Apg 16,17) in der Glaubens-Nachfolge Jesu Christi berichtet.
8.4.1
Theologie
Bei Lukas finden sich 118 heo´ß-Belege im Evangelium und 168 Belege in der Apostelgeschichte267, die Ausdruck einer reflektierten Theo logie im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Konzeption sind. Gott als Herr der Geschichte
Ein Grundgedanke durchzieht das lk. Doppelwerk: In Jesus Christus sind Gottes Verheißungen in Erfüllung gegangen, denn in seiner Geschichte und der Geschichte der Ausbreitung des Evangeliums von Jerusalem bis Rom erweist sich Gott als alleiniger Herr der Geschichte. Der Erfüllungsgedanke in Form einer heilsgeschichtlichen Periodisierung bestimmt die theologische Linienführung sowohl in der Makro- als auch der Mikrostruktur des Doppelwerkes. In der Makrostruktur ist eine Korrespondenz zwischen Lk 1,1 („. . . über die Ereignisse, die unter uns zur Erfüllung gekommen sind“), Lk 24,44–47 (der Auferstandene spricht: „Dies sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch mit euch zusammen war: Alles muss erfüllt werden, was im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht . . . und in seinem Namen wird Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt werden allen Völkern“) und Apg 28,28 (die letzten Worte des Paulus: „Darum soll ihr nun wissen: Den Völkern ist dieses Heil Gottes [to` swtv´rion tou˜ heou˜] gesandt worden. Sie werden hören!“) unübersehbar. Im Gang des Evangeliums von Israel zu den Völkern erfüllt sich Gottes ur- und endzeitlicher Wille. Von der Gewissheit der Erfüllung sind auch in der Mikrostruktur die einzelnen heilsgeschichtlichen Etappen geprägt. Nach der programmatischen Einführung des Erfüllungsgedankens in Lk 1,1 wird in Lk 2,40 die Weisheit des Jesuskindes betont („Das Kind aber wuchs heran und wurde stark und mit Weisheit erfüllt, und Gottes Gnade ruhte auf ihm“); die nächste Etappe ist die Antrittspredigt Jesu in Nazareth als Beginn seines öffentlichen Wirkens (Lk 4,21: „Da fing er an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohordnete Reihenfolge“) in Lk 1,3; Apg 3,24 zeigt, dass für Lukas Verheißungs- und Ereignisgeschichte keine Gegensätze sind; vgl. G. SCHNEIDER, Zur Bedeutung des kahexv˜ß im lukanischen Doppelwerk, in: ders., Lukas, Theologe der Heilsgeschichte (s. o. 8.4), 31– 34. 267 Vgl. dazu die Überblicke bei F. BOVON, Gott bei Lukas, in: ders., Lukas in neuer Sicht (s. o. 8.4), 98–
119; J. GNILKA, Zum Gottesgedanken in der Jesusüberlieferung (s. o. 8.2.1), 159–162; K. LÖNING, Das Gottesbild der Apostelgeschichte im Spannungsfeld von Frühjudentum und Fremdreligionen, in: H.J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie, QD 138, Freiburg 1992, 88–117; D. MARGUERAT, The God of Acts, in: ders., The First Christian Historian (s. o. 8.4), 85–108.
Lukas: Heil und Geschichte 435
ren“). Mit dem Verbum sumplvro´w („vollkommen erfüllen“) verbindet Lukas den Erfüllungsgedanken mit den heilsgeschichtlichen Grunddaten von Passion/Himmelfahrt (Lk 9,51: „Es geschah aber, als die Tage erfüllt waren, dass er in den Himmel aufgenommen werden sollte, da richtete er sein Angesicht darauf, nach Jerusalem zu gehen“) und der Geistgabe an die Völker (Apg 2,1: „als sich der Tag des Pfingstfestes erfüllte“). Die Einbeziehung der Völker in das Gotteshandeln und die Erfüllung der Verheißungen an Israel stehen im Mittelpunkt von Lk 21,24; 24,44, die Thematik wird in Apg 1,16; 3,18 mit Blick auf die Geistgabe weitergeführt, um dann in Apg 19,21 mit Paulus als dem Protagonisten der weltweiten Völkermission verbunden zu werden. Mit dem Abschluss seiner Mission und der Hinwendung nach Jerusalem kommt für die Leser/Hörer bereits Rom und damit die Gegenwart der lk. Gemeinde in den Blick. Exemplarisch wird der Grundgedanke des lk. Gottes- und Geschichtsverständnis in Apg 3,18–21 entfaltet: „Gott hat aber das, was er durch den Mund aller Propheten vorher verkündigte, nämlich das Leiden seines Gesalbten, auf diese Weise erfüllt. Kehrt also um und wendet euch der Vergebung eurer Sünden zu, damit vom Angesicht des Herrn her Zeiten des Aufatmens kommen und er den für euch vorherbestimmten Gesalbten sende, Jesus, den der Himmel aufnehmen muss bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem (apokatasta´sewß pa´ntwn), wovon Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von Anfang an gesprochen hat.“ Lukas denkt in Perioden, die nicht voraussetzungslose Neuanfänge sind, sondern in denen das Vorangegangene immer auch präsent ist, um weitergeführt zu werden. Er nimmt eine Strukturierung vor, die von der Schöpfung268, über die Zeit der Verheißung des Gesetzes und der Propheten, die Zeit Jesu, die Zeit der Kirche bis hin zur Zeit der Parusie/Vollendung reicht, wobei die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche das eindeutige Zentrum bilden. Die Zeit vor dem Auftreten Jesu wird von Lukas als Epoche der Verheißung gekennzeichnet (vgl. Apg 7,2–53), während mit dem Auftreten Jesu die Zeit der Erfüllung gekommen ist. Auch Lk 16,16 legt eine solche Einteilung nahe: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes; von da an wird das Reich Gottes verkündigt; und jeder drängt mit Gewalt hinein.“ Das Merkmal der neuen Zeit ist somit die Verkündigung des Reiches Gottes, die nicht nur das Wirken Jesu, sondern auch die Zeit der Kirche kennzeichnet (Apg 28,31). Während das Zentrum der lk. Geschichtskonstruktion klar erkennbar ist, sind die Übergänge zwischen den einzelnen Epochen nicht so deutlich markiert. Bei Lk 16,16 ist nicht eindeutig zu erkennen, ob Johannes d. T. noch zur Epoche ‚des Gesetzes und der Propheten‘ oder schon in die neue Zeit gehört.
268 Vgl. nur Apg 4,24 („Herr, der du den Himmel und die Erde und das Meer geschaffen hast und alles, was darin ist“); 14,15; 17,24.
436 Sinn durch Erzählen
H. Conzelmann votiert für eine exklusive Deutung von apo` to´te, wofür er sich auf me´cri LIwa´nnou in V. 16a berufen kann269. Die Epoche des Gesetzes und der Propheten reicht bis zu Johannes d.T., mit dem Auftreten Jesu hebt eine neue Zeit, die ‚Mitte der Zeit‘ an. Zwei weitere Argumente können für eine exklusive Deutung angeführt werden: 1) Johannes ist nach Lk 1,76 „Prophet des Höchsten“, Jesus hingegen „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32); 2) Die Taufe Jesu wird bei Lukas erst nach der Gefangennahme des Täufers berichtet (vgl. Lk 3,19.20 mit 3,21.22), so dass nun Gott als Täufer zu denken ist. Für eine inklusive Deutung von Lk 16,16 kann hingegen geltend gemacht werden: 1) Durch den Synchronismus in Lk 3,1f wird der Täufer an den Beginn der entscheidenden Heilszeit gestellt270. 2) Lk 3,18 bezeichnet die Verkündigung des Täufers als Evangeliumspredigt, der Täufer verkündet den kommenden Messias (Lk 3,16f). 3) Nach Apg 1,21f beginnt die entscheidende heilsgeschichtliche Epoche mit dem Auftreten Johannes d. T. 4) Die Parallelisierung der Geburtsgeschichten und die Zuordnungen in Apg 13,23–25 zeigen, dass nach lk. Verständnis Johannes d. T. und Jesus nicht verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte angehören, sondern der Täufer in die Exposition der Geschichte Jesu gehört. Dieses Für und Wider zeigt, dass Lk 16,16 für eine exakte Bestimmung der lk. Aufteilung der Heilsgeschichte in einzelne Epochen nicht in Anspruch genommen werden kann.
Bilden Jesu Wirken in Jerusalem, sein Tod am Kreuz und die Auferstehung den Abschluss der Zeit Jesu, so ist die Bestimmung der sich anschließenden heilsgeschichtlichen Epoche innerhalb des lk. Doppelwerkes wiederum unsicher: Die Zeit der Kirche. Für H. Conzelmann beginnt die Zeit der Kirche mit der Ausgießung des Geistes zu Pfingsten271. Problematisch ist bei dieser Bestimmung die Einordnung der Himmelfahrt Jesu. Bereits Lk 24,47 verweist auf den weiteren Gang der Weltmission (vgl. Apg 1,8), und Lk 24,49 blickt voraus auf die Geistverleihung (vgl. Apg 1,4 f.8). Indem sich die Himmelfahrt vor den Augen der Apostel vollzieht (Lk 24,51; Apg 1,9–11), werden diese als Augenzeugen (vgl. Lk 1,1–4) legitimiert, ein für die folgende Darstellung des Wirkens der Apostel entscheidender Akt. Zudem signalisieren die „vierzig Tage“ (Apg 1,3) Unterweisung der Apostel durch den Erhöhten, dass mit der Himmelfahrt als Abschluss des Ostergeschehens sich ein entscheidender Übergang vollzieht. Die Himmelfahrt wahrt somit die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche, deren Träger die Apostel sind. Eine strikte Trennung zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche ist nicht möglich, vielmehr ermöglicht Jesu Himmelfahrt die Existenz der Gemeinde in der Welt. Die Jesuszeit ist für Lukas die zentrale Heilszeit, aus der die Kirche hervorgeht und auf die sie sich immer wieder zurückbeziehen muss272. 269 Vgl. H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 17 u. ö. 270 Die Predigt der Gottesherrschaft beginnt dann mit dem Täufer; vgl. W. G. KÜMMEL, „Das Gesetz und die Propheten gehen bis Johannes“, in: G. Brau-
mann (Hg.), Das Lukas-Evangelium (s. o. 8.4), 398– 415. 271 Vgl. H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 199 u. ö. 272 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 191: „die Kirche,
Lukas: Heil und Geschichte 437
Die Diskussion um die theologische Ausrichtung des lk. Doppelwerkes wurde lange Zeit durch die Thesen H. Conzelmanns bestimmt, wonach Lukas das Ausbleiben der Parusie durch einen heilsgeschichtlichen Entwurf bewältigt habe. „Lukas hat begriffen, daß Naherwartung nicht tradiert werden kann. Daß er bewußt arbeitet, zeigt sich daran, daß die Naherwartung nicht einfach verschwindet, sondern durch ein Bild der Heilsgeschichte ersetzt wird.“273 Dieser heilsgeschichtliche Entwurf des Lukas gliedert sich in drei aufeinander folgende Epochen274, in denen sich Gottes Plan mit den Menschen von der Schöpfung bis zur Parusie Christi realisiert: 1) Die Zeit Israels als Zeit des Gesetzes und der Propheten (Lk 16,16). 2) Die Zeit Jesu als Mitte der Zeit ist satansfreie Zeit (Lk 4,14–22,2); 3) Die Zeit der Kirche als die Zeit des Geistes (Apg 2,1ff). Auch das Wirken Jesu lässt sich nach Conzelmann in drei Etappen untergliedern, dem ‚Messiasbewusstsein‘ Jesu (vgl. Lk 3,21–9,17), dem ‚Leidensbewusstsein‘ Jesu (vgl. Lk 9,18– 19,27) und dem ‚Königsbewusstsein‘ Jesu (vgl. Lk 19,28–23,56). Zwar ist eine Periodisierung innerhalb des lk. Doppelwerkes unverkennbar, und Lukas bedenkt entschlossen das Heil Gottes in der Geschichte. Als problematisch wird hingegen in der neueren Exegese die von Conzelmann durchgeführte exakte Trennung der heilsgeschichtlichen Epochen empfunden, denn Lk 16,16 lässt sich nicht in einem exklusiven Sinne verstehen, und die Himmelfahrt Jesu bildet die verbindende Mitte zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche. Im Gegensatz zu H. Conzelmann betont G. Schneider für die heilsgeschichtliche Darstellung des Lukas sei eine Zweiteilung konstitutiv, nämlich „daß Lukas die Jesuszeit engstens mit der der Kirche verbindet (unter dem Gesichtspunkt der Gottesreichverkündigung) und beide der Zeit des Gesetzes und der Propheten gegenüberstellt (Lk 16,16).“275 Auch bewertet Schneider die Heilsgeschichte bei Lukas nicht als Ersatz für die aufgegebene Naherwartung. „Vielmehr dient die heilsgeschichtliche Orientierung auch dem Aufweis der Kontinuität der Verkündigung von den Propheten zu Jesus und von Jesus über seine apostolischen Zeugen bis hin zum eigentlichen Heidenmissionar Paulus.“276 K. Löning bestreitet ein heilsgeschichtliches Epochendenken bei Lukas: „Vielmehr gehören alle von Lukas berichteten Ereignisse zur Geschichte Israels und lassen sich nicht teilweise besonderen, von der Zeit Israels abgehobenen Epochen der Geschichte zuordnen; es ist unmöglich, die Israel-Thematik derjenigen Phase der erzählten Zeit im lukanischen Erzählnexus zuzuordnen, die dem Auftreten Jesu voran-
wie sie sich durch das Zeugnis der Boten Jesu entwickelt hat, steht in einer vom Handeln Gottes bestimmten Kontinuität zur Geschichte Jesu.“ 273 H. CONZELMANN, Theologie, 160. 274 In wesentlichen Punkten vorweggenommen wurde die Interpretation Conzelmanns durch H. V. BAER, Der Heilige Geist in den Lukasschriften (s. u. 8.4.3), 108: „Als Leitmotiv der lukanischen Komposition haben wir den Gedanken der Heilsgeschichte festgestellt.“ Vgl. ferner die grundlegenden Arbeiten von M. DIBELIUS und E. LOHSE, Lukas als Theologe der Heilsgeschichte, in: G. Braumann (Hg.), Das LukasEvangelium (s. o. 8.4), 64–90.
275 G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4), 136f; vgl. auch
J. ROLOFF, Die Paulusdarstellung des Lukas (s. u. 8.4.7), 528 A 53; A. WEISER, Apg I (s. o. 8.4), 31 f. Für M. KORN, Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit (s. o. 8.4), 272, ist „Jesu Geschichte die ‚Mitte der Zeit‘ im sachlichen Sinn. Sie teilt die Geschichte in die Zeit der Erwartung und der Erfüllung. Jesu Wirksamkeit bildet zusammen mit dem Handeln der Kirche in seinem Namen die durch die Verkündigung des Evangeliums qualifizierte eschatologische Heilszeit (Lk 16,16).“ 276 G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4), 137.
438 Sinn durch Erzählen
geht und von der Zeit des Wirkens Jesu her als Vergangenheit zu bezeichnen wäre.“277 Von nur einer Epoche spricht M. Wolter: „Lukas erzählt die christlich-jüdische Trennungsgeschichte nämlich als einen Ausschnitt aus der Geschichte des Gottesvolkes bzw. als eine Epoche der Geschichte Israels.“278
Auch wenn die genaue Bestimmung der einzelnen Übergänge unsicher bleibt, deutlich erkennbar ist die Grundkonzeption: Gottes geschichtliches Handeln ist ein zielgerichtetes Geschehen, das in all seinen Epochen von seinem Heilswillen getragen ist279. Durchgehend prägen Gottes Vorauswissen, Vorausplanen und Voraussehen die Ereignisse (vgl. Apg 1,16; 2,25.31; 3,18.20; 4,28; 7,52; 10,41; 13,24; 22,14; 26,16). Gottes souveräner Wille setzt fest und bestimmt (Apg 2,23; 4,28; 5,38; 7,30; 10,42; 13,22.36; 21,14) und das göttliche deı˜ bestimmt den Lauf der Geschichte: Jesus ‚muss‘ im Tempel sein (Lk 2,49), er ‚muss‘ verkündigen (Lk 4,43) und er ‚muss‘ den Weg nach Jerusalem zur Passion gehen (Lk 9,31; 13,33; 24,26.44). Ebenso steht die planmäßige Ausbreitung des Evangeliums in der Welt unter dem göttlichen Plan. Die ersten Worte des Petrus lauten: „Es musste sich das Wort der Schrift erfüllen“ (Apg 1,16); allen Widerständen zum Trotz gilt, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen (Apg 5,29); gegen seinen Willen muss Petrus einsehen, dass Gott das Evangelium auch für die Völker bestimmt hat (Apg 10,14–16) und es kein Ansehen der Person bei ihm gibt (Apg 10,34). Dreimal betont schließlich Lukas, dass Paulus nach Rom ‚muss‘ (Apg 19,21; 23,11; 27,24 [ein Engel spricht zu Paulus: „Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor den Kaiser treten“])280. Der Wille Gottes bedient sich auch des Kaisers, denn auf dessen Anordnung hin gehen Maria und Joseph nach Bethlehem (Lk 2,1–21) und die Appellation an den Kaiser führt Paulus nach Rom (Apg 25,11). Die Reden der Apostelgeschichte sind für Lukas ein besonders geeigneter Ort, um den Lesern/Hörern die „Einsicht in die übergeschichtliche Bedeutung des betreffenden geschichtlichen Augenblicks“281 zu gewähren (vgl. bes. Apg 5,29–32; 10,34–43; 13,16–41; 17,22–31; 20,18–35). Als Herr der Geschichte erweist sich Gott auch durch sein wiederholtes Eingreifen in die Geschehnisse. Durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten (s. u.
277 K. LÖNING, Das Evangelium und die Kulturen (s. u. 8.4.7), 2608. Löning ist darin recht zu geben, dass die Israel-Thematik im Doppelwerk durchgängig präsent ist; zugleich werden aber dadurch die beiden zentralen Epochen der Jesus-Zeit und der Zeit der Kirche nicht aufgehoben! 278 M. WOLTER, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: C. Breytenbach/J. Schröter, Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung (s. o. 8.4), (253–284) 272. 279 Vgl. S. SCHULZ, Gottes Vorsehung bei Lukas, ZNW 54 (1963), 104–116.
280 Vgl. C. BURFEIND, Paulus muß nach Rom, NTS 46
(2000), (75–91) 83: „Lukas hat mit den drei Reisen des Paulus eine Strukturierung der Apg nach theologischen Gesichtspunkten vorgenommen: erst wird die Heidenmission legitimiert, dann die Unabhängigkeit dieser Heidenmission von der Synagoge, und schließlich wird die politische Relevanz dieser Universalisierung des Christentums immer deutlicher.“ 281 M. DIBELIUS, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung, in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte (s. o. 8.4), (120–162) 121.
Lukas: Heil und Geschichte 439
8.4.2), durch den Heiligen Geist (s. u. 8.4.3), durch Engel (s. u. Gottes Boten: Die Engel ), durch Prophetien (Lk 1,41–45.76–79; 2,29–32.36–38; Apg 11,27–30; 21,10f) und besonders durch die Berufung des Paulus (Apg 9,3–19a; 22,6–16; 26,12–18) und seine Befähigung zu Wundern (vgl. Apg 19,11: „Auch ungewöhnliche Wunder wirkte Gott durch die Hände des Paulus“; ferner Apg 13,6–12; 14,8–10; 16,16–40; 20,7– 12; 28,3–6.7–9) treibt Gott die Geschichte in seinem Sinn voran. Gott, Israel und die Völker
Gottes Geschichtshandeln vollzieht sich nach Lukas als Gabe des Evangeliums vom Reich Gottes (vgl. Lk 4,43; 8,1; 16,16; Apg 8,12; 28,28.31) an Israel und die Völker (vgl. Lk 2,32; 24,47; Apg 9,15; 11,1.18; 28,28). Jesu Hinwendung zu Israel und die Apostelgeschichte als universale Missionsgeschichte bilden für Lukas eine Einheit, die allerdings in einer mehrschichtigen und nicht spannungsfreien Linienführung entfaltet wird: 1) Lukas zeichnet jeweils zu Beginn seines Doppelwerkes das Bild des in Israel und für Israel sich vollziehenden Heilsgeschehens in Jesus Christus (Lk 1,16: „und viele von den Söhnen Israels wird er zurückführen zu dem Herrn, ihrem Gott“). Lk 1,5–2,52 formuliert die göttliche Heilsabsicht und damit die theologische Grundlage seines Geschichtswerkes: Jesus Christus ist die Erfüllung der lang gehegten jüdischen Glaubenshoffnungen (Lk 1,68: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, denn er hat nach seinem Volk geschaut und ihm Erlösung verschafft“). Die Hörer/Leser werden mit Zacharias, Elisabeth, Maria und Joseph in die zeitgenössische jüdische Erwartungswelt eingeführt, die mit der Geburt des Täufers282 und des Jesus von Nazareth in Erfüllung gehen. All dies geschieht im und um den Tempel herum, dem Zentrum jüdischer Frömmigkeit283. Ebenso vermittelt Apg 1–5 das Bild des sich bekehrenden frommen Israels, zu Tausenden lassen sich wiederum am und um den Tempel herum Juden taufen (vgl. Apg 2,41; 4,4; 5,12–16). Israel kehrt um, so dass von einer „Art ‚Jerusalemer Frühling‘“284 der Kirche gesprochen werden kann. 2) Mit dieser Grundlegung verbindet sich von Anfang an ein zweites zentrales Motiv: Aus Israel heraus erwächst das Volk Gottes aus christusgläubigen Juden und Heiden als Trägerin der Verheißungen Israels. Vor allem mit der Simeonweissagung Lk 2,29–35 wird die für das Evangelium und die Apostelgeschichte gleichermaßen konstitutive Universalität des Heils bereits am Beginn der Erzählung verankert. Nachdrücklich
282 Vgl. hierzu CHR. G. MÜLLER, Mehr als ein Prophet.
Die Charakterzeichnung Johannes des Täufers im lukanischen Erzählwerk, HBS 31, Freiburg 2001, 296: „Johannes ist neben Jesus die einzige Hauptfigur des lukanischen Doppelwerks, deren gesamter Lebenslauf, von den besonderen Umständen seiner Geburt bis hin zu seinem Tod und seinem Weiterwirken über den Tod hinaus, erzählt wird. Schon daran wird deutlich, daß es sich bei Johannes dem
Täufer für den Erzähler Lukas nicht um eine Nebenfigur, sondern um einen Protagonisten der von ihm erzählten Geschichte handelt.“ 283 Zum Tempel bei Lukas vgl. M. BACHMANN, Jerusalem und der Tempel, BWANT 109, Stuttgart 1980; H. GANSER-KERPERIN, Das Zeugnis des Tempels, NTA 36, Münster 2000. 284 G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), 55.
440 Sinn durch Erzählen
bringt dies die Zitatkombination in Lk 2,29–32 zum Ausdruck: „Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr, in Frieden, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben das Heil/Rettende (to` swtv´rion) gesehen, das du vor den Augen aller Völker (tw˜n law˜n) bereitet hast, ein Licht zur Offenbarung für die Völker (ehnw˜n) und zur Ehre deines Volkes Israel (LIsrav´l).“ Zugleich gerät bereits hier die negative Reaktion von Teilen Israels in den Blick: „Siehe, dieser ist bestimmt zu Fall und Aufstieg vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 2,34; vgl. 1,16). Nicht erst die Ablehnung des Evangeliums durch Teile von Israel führt zur Mission der Völker, sondern Gottes Heilswille gilt von Anfang an gleichermaßen Israel und den Völkern 285. Dies zeigen neben der Simeonweissagung zahlreiche Texte: Nur in Lk 3,6 wird das vorgegebene Jesajazitat um Jes 40,5 erweitert und so die Täuferbotschaft inhaltlich universalisiert: kai` oyetai pa˜sa sa`rx to` swtv´rion tou˜ heou˜ („und jedes Fleisch/Leben wird die rettende Tat Gottes sehen“). Der Stammbaum Jesu in Lk 3,23–38 betont nicht nur Jesu unmittelbare Abstammung von Gott (vgl. Lk 1,35), sondern mit der Erwähnung von Adam auch, dass alle Menschen zum Heil berufen sind. Jesu Antrittspredigt in Nazareth (Lk 4,16–30) mündet in eine feindliche Ablehnung durch das Volk. Die Parabel vom großen Gastmahl in Lk 14,16–24 berichtet anders als Matthäus von zwei Einladungen des Herrn, wobei als Begründung angeführt wird: „. . . und nötige sie hereinzukommen, damit mein Haus voll werde“ (Lk 14,23b). Das große Fest Gottes wird mit anderen Gästen als erwartet gefeiert (Lk 14,24: „Denn ich sage euch: Keiner von jenen Männern, die eingeladen waren, wird mein Mahl genießen“). Von besonderer Bedeutung ist Lk 24, das als Übergangskapitel beide Linien weiterführt und sie zugleich in die Apostelgeschichte überführt286. In der Emmauserzählung Lk 24,13–35 steht die Auferstehung Jesu als Hoffnung für Israel im Mittelpunkt, während Lk 24,47f universal formuliert: „und in seinem Namen wird Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt werden allen Völkern (pa´nta ta` ehnv). Ihr beginnt in Jerusalem und seid Zeugen dafür.“ Dieser Vers fordert nicht nur die Fortsetzung des Werkes, sondern nimmt auch das Programm von Apg 1,8 vorweg. Schließt die Wendung pa´n-
285 Vgl. M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ (s. u. 8.4.8), 560,
wonach die Heidenmission „für Lukas in Gottes Heilsplan schon immer fest(steht). Es ist vielmehr genau dieser Sachverhalt, in dessen Nichtbegreifen sich die Verstockung Israels dokumentiert, daß nämlich das mit der Basileia einhergehende Heil den ehnv in gleicher Weise gesandt ist“; G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt (s. o. 8.4), 134– 147 u. ö.; C.-P. MÄRZ, Die theologische Interpretation der Jesus-Gestalt bei Lukas (s. o. 8.4), 149: „Der Anfang des auf Israel ausgerichteten Wirkens Jesu erscheint deshalb bereits von jenen Impulsen bestimmt, die seine Erhöhung und die Sendung der Boten zu weltweiter Mission einlösen sollen. Sein
Weg erweist sich in der Scheidung in Israel als Phase der Differenzierung, die das Angebot des Heils dergestalt vor die Menschen bringt, daß es auch durch vielfache Verweigerung nicht zunichte gemacht wird, sondern nunmehr seinen Weg zu den Völkern sucht, ohne daß es dabei freilich den Bezug auf Israel verliert. Der offene Abschluß der Apostelgeschichte zeigt an, daß dieser Prozeß noch nicht zu Ende ist.“ 286 Zu den Transitusstellen bei Lukas vgl. H. SNCHEZ, Das lukanische Geschichtswerk im Spiegel heilsgeschichtlicher Übergänge, PaThSt 29, Paderborn 2002.
Lukas: Heil und Geschichte 441
ta ta` ehnv Israel an dieser Stelle ein oder aus? Lukas bezeichnet mit zwei Ausnahmen (Apg 15,14; 18,10) das jüdische Volk immer mit lao´ß (82 Belege im Doppelwerk)287, während unter die ehnv in der Regel Nichtjuden fallen (Ausnahme: Apg 24,17; 28,19). Allerdings sprechen die Erwähnung Jerusalems und der weitere Erzählverlauf des Doppelwerkes für eine inklusive Deutung an dieser Stelle, d. h. Israel ist hier in die Verkündigung mit eingeschlossen288. In Apg 1,6f bleibt die Frage nach der Wiederherstellung des Reiches für Israel unbeantwortet, stattdessen erfolgt die Beauftragung zur Zeugenschaft „in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria und bis zu den Enden der Erde“ (Apg 1,8b). Auf der Erzählebene legitimiert damit der Auferstandene zweimal die Universalisierung der Evangeliumsverkündigung (Lk 24,47; Apg 1,8)! Dieses Programm wird im weiteren Erzählverlauf zielstrebig umgesetzt; nach der erfolgreichen Verkündigung an Israel in Apg 1–5289 und der Stephanuskrise (Apg 6,8–7,60) erfolgt die Verkündigung um Israel herum (Apg 8), die dann in der Cornelius- Erzählung Apg 10,1–11,18 ihren Höhepunkt und einen entscheidenden weiteren Transitus erreicht: Gott selbst wendet sich der Völkerwelt zu (vgl. Apg 10, 4.13 ff.28b: „Mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen rein oder unrein nennen darf“; 10,35: „sondern in jedem Volk [en panti` ehnei] ist ihm willkommen, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt“; 11,9.17f). Der Lernprozess des Petrus veranschaulicht der lk. Gemeinde die Tragweite des Geschehens, die auch durch widerstrebende Kräfte (vgl. Apg 15,1f) nicht aufgehoben werden kann, sondern in die gottgewollte Tischgemeinschaft von Christusgläubigen aus dem Judentum und den Völkern führt (vgl. Apg 15,22–29). 3) Innerhalb dieses Geschehens kommt der Person des Paulus eine entscheidende Bedeutung zu, denn die Paulusdarstellung ist das eigentliche Zentrum der Apostelgeschichte (s. u. 8.4.7). Für Lukas ist der bekehrte Jude Paulus der Hauptzeuge der heilsgeschichtlichen Kontinuität Israels innerhalb der Wende der frühchristlichen Missionsgeschichte von den Juden290 zu den Völkern. Er betritt nahezu unmerklich als Statist in Apg 7,58 die Szene, um dann zum eigentlichen Helden des Buches zu werden291. Für Lukas ist er nicht wie die
287 Innerhalb der Erzählung ist das jüdische Volk in seinen geschichtlichen Gegebenheiten als lao´ß eine bewegliche Größe, die zumeist identisch mit dem ocloß ist und zunächst die Christusbotschaft freudig begrüßt, um sie dann aber in seiner Mehrheit abzulehnen; zu den komplexen Einzelheiten vgl. D. MARGUERAT, Juden und Christen im lukanischen Doppelwerk, EvTh 54 (1994), 241–264. 288 Vgl. G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt (s. o. 8.4), 200–203. 289 Das Programm von Apg 1–5 formuliert G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), 55, so: „In der Zeit der ersten apostolischen Predigt sammelte sich aus dem jüdischen Volk das wahre Israel! Und jenes
Israel, das dann noch in der Ablehnung Jesu beharrte, verlor sein Anrecht, das wahre Gottesvolk zu sein – und es wurde zum Judentum.“ 290 Der lukanische Sprachgebrauch ist hier besonders auffallend, denn LIoudaı˜oi erscheint im Evangelium nur 5mal (Lk 7,3; 23,3.37 f.51), hingegen in der Apostelgeschichte 79mal! Hier sind die LIoudaı˜oi in zunehmendem Maß (ab Apg 9,22f deutlich erkennbar) die Gegner der Evangeliumsverkündigung (vgl. Apg 12,3; 13,5.43.45; 14,1.4; 16,3; 17,1.5.10.17; 18,5.12.14.19.28; 19,13.33 u. a.). 291 Vgl. zur Analyse der biographischen Paulustexte in der Apostelgeschichte bes. CHR. BURCHARD, Der dreizehnte Zeuge (s. o. 8.4), passim.
442 Sinn durch Erzählen
Apostel grundlegender Zeuge des Glaubens, sondern der Repräsentant der zweiten Christengeneration. Paulus verkörpert nach Lukas den jüdischen Glaubensweg (vgl. Apg 16,3: Beschneidung des Timotheus; Apg 18,18b; 21,23ff: Nasiräat mit Tempelopfer), der zugleich aber zum Exponenten einer universalen Evangeliumsverkündigung wird. Diesen Weg zeichnet Lukas nach und verteidigt damit zugleich Paulus, so dass sein Paulusbild auch eine Paulusapologie ist. Die theologische Zielsetzung der lk. Paulusdarstellung verdichtet sich im letzten Drittel der Apostelgeschichte (19,21– 28,31), wo der Weg des Paulus von Jerusalem nach Rom nachgezeichnet wird. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die sich entwickelnde Antithetik von Jerusalem und Rom. Jerusalem erscheint bei Lukas zunächst als Stätte des Heils für Israel. Hier lebt die Urgemeinde in vorbildhafter Gemeinschaft (Apg 2,42–47; 4,32–35), so dass Jerusalem die Kontinuität zwischen Israel und der Kirche repräsentiert292. Zugleich ist Jerusalem aber der Ort, wo sich die Führer Israels und durch sie angestiftet auch die Juden/das Volk immer mehr gegenüber der Christusbotschaft verhärten. So wie die Apostel und die Urgemeinde andauernden Verfolgungen ausgesetzt sind (vgl. Apg 4,1–22; 6,8–15; 7,54–60; 8,1), wird auch Paulus zum leidenden Zeugen (vgl. Apg 21,27–22,21; 23,1–11.12–22). Indem Jerusalem das Zeugnis der Zwölf, der Urgemeinde und des Paulus ablehnt, wird es vom Ort des Heils zu einem Ort des Unheils. Lukas macht aber deutlich, dass Gott die Kirche als Trägerin der Verheißungen Israels nicht an Jerusalem gebunden hat. Er erschloss sich durch die Völkermission selbst einen neuen Lebensraum, als dessen Repräsentant die Welthauptstadt Rom zu gelten hat (vgl. Apg 9,15: „Geh, denn dieser ist für mich ein auserwähltes Werkzeug, meinen Namen vor Völker, Könige und Kinder Israels zu tragen“). Der heilsgeschichtlichen Wende von den Juden zu den Völkern korrespondiert in der Sicht des Lukas die Wende von Jerusalem nach Rom293. Lukas zeichnet damit jene Entwicklung nach, an deren Ende die heidenchristliche Kirche des ausgehenden 1. Jh. und damit auch seine eigene Gemeinde steht. Angesichts des endgültigen Bruches mit den Juden legitimiert Paulus die Kirche aus Heiden- und Judenchristen. „Paulus ist für die Kirche des Lukas zur Identifikationsfigur geworden, anhand derer sie die in der eigenen Geschichte vollzogene Wende verstehend verarbeitet.“294 Programmatisch verdeutlicht dies die Abschlussszene der Apostelgeschichte (Apg 28,17–31), die zahlreiche rechtliche, historische und theologische Fragen aufwirft. Historisch geht aus Röm 16 deutlich hervor, dass Paulus viele römische Gemeindeglieder kannte. Dennoch kommt es zu keiner wirklichen Begegnung zwischen Paulus und der römischen Gemeinde (vgl. Apg 28,16). Stattdessen nimmt Paulus – wie immer in der Apostelgeschichte – zunächst Kontakt mit der ortsansässigen Synagoge auf (vgl. Apg 28,17ff). Erst die Ablehnung seiner Botschaft veranlasst Paulus, sich auch in Rom 292 Vgl. G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), 93–99. 293 Vgl. E. PLÜMACHER, Rom in der Apostelgeschichte,
in: ders., Geschichte und Geschichten, WUNT 170, Tübingen 2003, 135–169. 294 J. ROLOFF, Paulus-Darstellung (s. u. 8.4.7), 520.
Lukas: Heil und Geschichte 443
den Völkern zuzuwenden. Damit wird Apg 13,46 aufgenommen („Da sagten Paulus und Barnabas frei heraus: Euch musste das Wort Gottes zuerst gesagt werden. Da ihr es nun von euch stoßt und euch damit des ewigen Lebens nicht würdig erachtet, siehe, so wenden wir uns nun an die Völker“; vgl. Apg 18,6) und zugleich der Schlussakkord des Doppelwerkes gesetzt295: „Kund soll euch also sein, dass zu den Völkern dies Heil Gottes gesandt ist; und die werden es hören!“(Apg 28,28). Mit der Wendung to` swtv´rion tou˜ heou˜ („das Heil Gottes“) nimmt Lukas ganz bewusst die Simeon-Weissagung Lk 2,30 und das Täuferzeugnis Lk 3,6 auf (to` swtv´rion nur in Lk 2,30; 3,6; Apg 28,28), um Kontinuität und Diskontinuität des Geschehens zu betonen: Aus Israel heraus erwuchs das Israel zugeeignete Heil, das nun zu den Völkern übergegangen ist, ohne dass die Kontinuität der Verheißungen Israels aufgehoben wird (vgl. Apg 13,23; 15,14–17; 28,20)296. Während in Lk 2,30; 3,6 die Rettung allen Völkern, Juden wie Heiden gilt, sind in Apg 28,28 nur noch die Heiden Adressaten der Rettung, von denen ausdrücklich gesagt wird: „die werden es hören“. Paulus ist der Zeuge und Protagonist dieser Entwicklung, die sich nach dem Willen Gottes vollzogen hat und von nun an die Mission bestimmt. Formuliert Lukas damit eine grundsätzliche und nicht revidierbare Abkehr vom nicht glaubenden Israel/den Juden? Die Frage ist schwer zu beantworten, weil die lk. Semantik nicht eindeutig ist297. Auf der einen Seite ist Israel keine in der Erzählung agierende Figur (im Gegensatz zu lao´ß, ocloß und den LIoudaı˜oi), sondern eine heilsgeschichtliche Kategorie. Israel ist und bleibt der Verheißungsträger (Lk 1,16.54.68.80; 2,25.32.34: Apg 1,6; 2,36; 4,10; 5,31; 7,23.37; 10,36; 13,17.23f; 23,6; 26,6f; 28,20) und kann deshalb nicht verworfen oder abgelöst werden298. Auf der anderen Seite legen aber Apg 13,46–48; 15,14; 28,25–28 eine solche Ablösung nahe, 295 Vgl. E. PLÜMACHER, Rom in der Apostelgeschichte,
146: „Das Gewicht des letzten von Paulus in der Apostelgeschichte gesprochenen Wortes ist nun freilich kaum zu überschätzen, proklamiert es doch nichts weniger als das Ende einer ganzen Epoche und zugleich den Anbruch einer neuen.“ 296 Anders J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 92f: „Die Geschichte Israels hört nie auf, sondern geht geradlinig in der Kirche weiter, nämlich als die Geschichte des einen Gottesvolkes.“ Von einer Geradlinigkeit kann vor allem in der Apostelgeschichte wohl kaum die Rede sein! 297 Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Meinungen in der Literatur weit auseinandergehen; von einem bleibenden Ausschluss des nicht glaubenden Israels sprechen z. B. E. HAENCHEN, Apg (s. o. 8.4), 112 („Lukas hofft nicht mehr, wie Paulus, auf eine Bekehrung Israels“); H. RÄISÄNEN, The Redemption of Israel, in: Luke-Acts. Scandinavian Perspectives, hg. v. P. Luomanen, Helsinki/Göttingen 1991,
94–114. Von einer zukünftigen Teilhabe auch des nicht glaubenden Israels am Heil bei Lukas gehen z. B. aus: H. MERKEL, Israel im lukanischen Werk, NTS 40 (1994), 371–398; R. C. TANNEHILL, Israel in Luke-Acts. A Tragic Story, JBL 104 (1985), 69–85; K. HAACKER, Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas, NTS 31 (1985), 437–451. Für diese Interpretation werden u. a. Lk 13,35 und die Apokatastasis-Vorstellung in Apg 3,21 angeführt. Für ein offenes Ende der Apostelgeschichte plädiert D. MARGUERAT, The enigma of the end of Acts (28.16–31), in: ders., The First Christian Historian (s. o. 8.4), 205–230, wonach die Leser selbst die Geschichte des Paulus und des Verhältnisses zwischen christlicher Gemeinde und Synagoge weiterschreiben können und müssen. 298 Dies betont zutreffend R. V. BENDEMANN, Paulus und Israel in der Apostelgeschichte des Lukas, in: Ja und Nein (FS W. Schrage), hg. v. K. Wengst/G. Saß, Neukirchen 1998, (291–303) 301 f.
444 Sinn durch Erzählen
ist Israel nach Lk 2,34 angesichts der Christusoffenbarung in sich gespalten299 und sind in Apg 9,15; 28,28 die Völker als eigenständige Heilsempfänger Israel deutlich vorgeordnet. Diese Unausgeglichenheiten liegen in der Sache selbst begründet, denn Lukas will seiner heidenchristlichen Gemeinde von Anfang an zeigen300, wie das für Israel bestimmte Heil Gottes seinen Weg zu den Völkern fand und zugleich bei sich selbst blieb. Dabei wollte er nicht eine Aufspaltung des Israel-Begriffes in Kauf nehmen, andererseits musste er die historische Entwicklung vom empirischen Israel/den Juden hin zu den Völkern nachzeichnen. Wie er sich möglicherweise die Lösung dieses Problems vorstellte, zeigt Apg 28,20b: „Denn wegen der Hoffnung Israels trage ich diese Fesseln.“ Die Evangeliumsverkündigung wird auch in Verbindung mit Paulus trotz des anhaltenden Widerstandes der Juden als bleibende Hoffnung für Israel verstanden. Lukas verbindet den Widerstand gegen das Evangelium vornehmlich mit den Juden (und dem teilweise parallel agierenden Volk), bindet aber Verheißung und Hoffnung exklusiv an Israel und macht zugleich deutlich, dass diese in der Kirche (aus christusgläubigen Heiden, Gottesfürchtigen und Juden) ihre Erfüllung gefunden haben. Gott als Vater und Anwalt der Armen
Gott erscheint auch bei Lukas zuallererst als Vater Jesu Christi. Der zwölfjährige Jesus sagt deshalb zu Maria und Joseph: „Wusstet ihr nicht, dass ich unter denen sein muss, die zu meinem Vater gehören?“ (Lk 2,49). An zahlreichen Stellen spricht Jesus von Gott als seinem Vater (Lk 9,26; 10,22; 22,29; 24,49) oder wird als Sohn Gottes vorgestellt (Lk 3,22; 9,35; 10,21; 22,42; 23,46). Die Jünger werden in dieses besondere Verhältnis mit aufgenommen, auch sie dürfen Gott ihren Vater nennen und ihn nachahmen (Lk 6,36; 11,2.13; 12,30.32). Als Vater Jesu Christi offenbart sich Gott als der Barmherzige und Gnädige, der für die Schwachen, Verlorenen und Rechtlosen eintritt und die Verhältnisse in unerwarteter Weise wendet301. Das Magnifikat formuliert dies programmatisch: „und sein Erbarmen waltet von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten; er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben, und die Reichen lässt er leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen“ (Lk 1,50–54). Diesen Gott verkündigt Jesus von Nazareth im Lukasevangelium und bildet ihn in seinem Verhalten ab. So widersteht Jesus der weltlichen Macht und Pracht, die in Lk 4,6 auf den Teufel zurückgeführt wird. Gott ist den Armen nahe (Lk 2,7.24; 16,19–31) und
299 Vgl. G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4),
30. 300 Zum Verhältnis von Lk 1,1–4 als Prolog und Apg 28,17–31 als Epilog des Doppelwerkes vgl. L. ALEXANDER, Reading Luke-Acts form Back to Front, in:
J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts (s. o. 8.4), 419–446. 301 Vgl. dazu L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (s. o. 8.4), 89 ff.
Lukas: Heil und Geschichte 445
den Reichen fern (Lk 6,20–26; 16,19–31). Er steht auf der Seite der Rechtlosen (Lk 18,1–8), der Verachteten (Lk 18,9–14) und jener, die sich nicht auf ihre Abstammung berufen können (Lk 7,1–10; 10,25–37; 17,11–19). Gott zerbricht irdische Maßstäbe und kehrt sie um (Lk 14,15–24), er allein schaut in das Innere der Menschen: „ . . . Gott aber kennt eure Herzen. Denn was bei den Menschen hoch angesehen ist, ist ein Gräuel vor Gott“ (Lk 16,15). Dadurch erweist er sich in neuer Weise als der Gott der Väter (Apg 3,13), als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (Lk 13,16.28; 19,9; 20,37; Apg 13,26), der seinem Volk in neuer Weise die Treue hält. Er ist der suchende Gott, wie die Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 unterstreichen; der Gott, der die Bitten seiner Kinder erhört (Lk 11,5–13; 18,1–8). Er nimmt an und vergibt (Lk 7,36–50; 18,13; 19,3f) und wendet sich denen zu, die von ihm alles erwarten. Schließlich: Er hebt Trennendes auf (Apg 10; 15) und schafft sich selbst sein Volk. Gott und die Götter
Von besonderer Bedeutung für das lk. Gottesverständnis ist die Areopagrede des Paulus in Apg 17,19–34302. In den Reden der Apostel kommt Gott als der zur Sprache, der Jesus Christus von den Toten auferweckte (Apg 2,24.36; 3,13.15; 4,10; 5,31; 10,40; 13,30) und zu dem man sich als dem lebendigen Gott bekehren soll (vgl. Apg 14,15–17). Mit der Rede des Paulus in Athen wird ein neuer kultureller Horizont eröffnet. Im Zentrum der antiken Geistesgeschichte lehnt der lk. Paulus den griechisch-römischen Polytheismus nicht einfach ab, sondern wendet sich ihm argumentativ zu (V. 22–23)303. Die Identifizierung des ‚unbekannten Gottes‘ mit dem einen wahren Gott ist ein ausdrücklicher Anknüpfungsvorgang und zielt auf eine Integration griechisch-römischer Gottesvorstellungen. Ausdrücklich wird die Omnipräsenz des Göttlichen konstatiert (V. 27f), zugleich aber seine Gegenständlichkeit abgelehnt. Das im Hintergrund stehende entscheidende denkerische Argument lautet: Ein Gott im Plural ist kein Gott. Menschen griechisch-römischer Religiosität können sich dem einen Gott zuwenden, ohne ihre eigenen kulturellen Vorstellungen gänzlich über Bord zu werfen304. Zugleich markiert Lukas auch sehr genau den Punkt, wo sich Theologie und Philosophie trennen: Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten (V. 32).
302 Nach wie vor grundlegend M. DIBELIUS, Paulus auf dem Areopag, in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte (s. o. 8.4), 29–70, der völlig zu Recht diesen Abschnitt als „einen Höhepunkt des Buches“ (a. a. O, 29) bezeichnet. Überhaupt nicht gerecht wird J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 454, diesem Text, den er für sekundär hält. 303 Völlig anders J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 443, über den lukanischen Paulus: „Was er hier findet, ist also das reine Heidentum. Das eben bedeutet Athen für
ihn.“ Vgl. demgegenüber die Argumentation bei M. LANG, Leben in der Zeit. Pragmatische Studien aus röm. Sicht zur ‚christlichen Lebenskunst‘ anhand des lukanischen Paulusbildes, Habil. theol., Halle 2007, 179–232. 304 Dies zeigt sich auch in der Angleichung an hellenistische Gottesprädikate, wie sie in der Aufnahme von Q 6,35c.d vorliegt („Söhne des Höchsten/gütiger Gott“); vgl. CHR. HEIL, Lukas und Q (s. o. 8.1), 272.
446 Sinn durch Erzählen
Apg 17,19–34 ist nicht nur mit Lokalkolorit durchtränkt305 und voller religionsund philosophiegeschichtlicher Anspielungen (s. u. 8.4.5), sondern ein Grundtext für das lk. Gottesverständnis. Der sich in Jesus Christus offenbarende Gott Israels ist der eine wahre Gott, der hinter aller aufrichtigen Gottesverehrung steht und zu dem alle Menschen finden können. Offenkundig wirbt Lukas unter den Gebildeten seiner Zeit, denn er reichert die Areopagrede bewusst mit antikem Bildungsgut an: Paulus wird mit Sokrates parallelisiert, dem auch der Vorwurf gemacht wurde, ‚fremde Dämonen/Götter‘ einzuführen (vgl. Apg 17,18 mit Xen, Mem I 1; Plat, Apol 29d). In Apg 17,28 („Denn in ihm leben wir und bewegen wir uns und sind wir, wie denn auch einige von euren Dichtern gesagt haben: ‚Wir sind ja seines Geschlechtes‘“) nimmt der lk. Paulus einen Grundgedanken griechischer Theologie und Philosophie positiv auf (vgl. nur Xen, Mem I 4,18; IV 3,14; Plat, Leg X 899D; Arat, Phaenomena 1–5). Wie an anderen Stellen seines Doppelwerkes (vgl. Lk 1,1–4: literarisches Proömium; Lk 1,5–2,52: Geburts- und Kindheitsgeschichten in der biographischen Tradition des Hellenismus; Lk 24,50–53/Apg 1,1–8: Apotheose; Apg 2,42–47; 4,32–37: hellenistische Gemeinschaftsideale; Apg 5,19; 20,35; 26,14: Zitate/Sprichworte) zeigt sich Lukas als ein Kenner der geistigen Welt der Antike, dem sich auch Menschen aus diesem Bereich anvertrauen dürfen. Gottes Boten: Die Engel
Lukas hat ein auffallendes Interesse an Engeln (aggeloß 24mal im Ev. und 21mal in der Apg), speziell am Anfang und am Ende des Evangeliums treten sie wiederholt auf. Ein Engel „des Herrn“ (Lk 1,11) kündigt die Geburt des Täufers und Jesu an (Lk 1,8–20.26–38; 2,8–12). Auch die Botschaft von seiner Auferstehung, Erhöhung und Wiederkunft wird von Engeln verkündet (Lk 24,4–7.23; Apg 1,10f). Engel kümmern sich um die verstorbenen Gerechten (Lk 16,22) und sind Begleiter des Menschensohnes (Lk 9,26). Sie gehören als dienende Geistwesen ganz der göttlichen Welt an und können nicht sterben (Lk 20,36). In der Apostelgeschichte agieren Engel in den Befreiungswundern (Apg 5,19; 12,7–11)306; ihr rettendes Eingreifen treibt die Mission (vgl. Apg 12,4–11) ebenso voran wie die Kundgabe des göttlichen Willens durch Engel in Apg 8,26; 10,3.7.22; 11,13 und in 27,23f, wo ein Engel zu Paulus tritt und ihm offenbart, dass er nach göttlichem Willen vor den Kaiser treten muss. Die Engel fungieren als Sprecher Gottes, die Gottes fürsorgliche Gegenwart vermitteln und sein rettendes oder strafendes (Apg 12,23) Eingreifen vollziehen. Wo sie erscheinen, offenbart sich Neues und wird die Heilsgeschichte vorangetrieben oder sogar gewendet.
305 Vgl. dazu W. ELLIGER, Paulus in Griechenland, Stuttgart 21990, 193 ff. 306 Zu den Befreiungswundern vgl. J. HINTERMAIER,
Die Befreiungswunder der Apostelgeschichte, BBB 143, Berlin 2003.
Lukas: Heil und Geschichte 447
Gottes Wort: Die Schrift
Der Schrift kommt im Rahmen der heilsgeschichtlichen Linienführung im lk. Geschichtswerk eine zentrale Bedeutung zu307. Im Evangelium und in der Apostelgeschichte finden sich ca. 50 AT-Zitate (LXX)308, wobei der Bezugsrahmen sehr auffällig ist. Bei den Pentateuch-Zitaten ist Lukas bis auf eine Ausnahme (Lk 2,23.24) von seinen Vorlagen abhängig, sein Schwerpunkt liegt auf den Psalmen und vor allem den Propheten. Damit verbindet sich das theologische Programm der lk. Schriftrezeption: In Jesus Christus erfüllen sich Gottes Verheißungen. Exemplarisch wird dieser Grundgedanke am Ende des Lukasevangeliums als Wort des Auferstandenen formuliert: „Dies sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch mit euch zusammen war: Alles muss erfüllt werden (deı˜ plvrwhv˜nai pa´nta), was im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht“ (Lk 24,44; vgl. 24,7.25–27.44–46). In Apg 3,18 wird dieser Aspekt aufgenommen und exklusiv mit den prophetischen Schriften verbunden („Gott aber hat das, was er vorher durch den Mund aller seiner Propheten verkündigt hatte, dass nämlich sein Gesalbter leiden müsse, auf solche Weise erfüllt“). Der Gedanke vom Leiden, dem Tod und der Auferstehung des Messias findet sich bereits in der Schrift und ist nun im Christusgeschehen in Erfüllung gegangen; für Lukas bietet die Schrift Verweis und Beweis der Auferstehung. Die Vorliebe für die Propheten (vor allem Deuterojesaja)309 zeigt sich bereits in den Eröffnungskapiteln. Das Zitat aus Jes 40,3–5 in Lk 3,4–6 wird sachlich in Apg 28,28 aufgenommen (Jes 40,5LXX: to` swtv´rion tou˜ heou˜) und bringt als Inklusion die universale Perspektive des Lukas zum Ausdruck: Alle können in der Annahme des Evangeliums teilhaben an Gottes rettendem Handeln. Ein weiterer Verstehensschlüssel wird den Hörern/Lesern mit der Zitierung von Jes 61,6f; 58,6LXX in der Antrittspredigt Jesu in Nazareth (Lk 4,18f) in die Hand gegeben. Gottes befreiende Botschaft für die Armen erfüllt sich jetzt in Jesu Auftreten (Lk 4,21: „Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren“). Einen Schwerpunkt bilden ferner die Zitate in
307 Zur Schriftverwendung und zum Schriftverständnis bei Lukas vgl. T. HOLTZ, Untersuchungen über die alttestamentlichen Zitate bei Lukas, TU 104, Berlin 1968; M. RESE, Alttestamentliche Motive in der Christologie des Lukas, StNT 1, Gütersloh 1969; J. JERVELL, Die Mitte der Schrift. Zum lukanischen Verständnis des Alten Testaments, in: Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie (FS E. Schweizer), hg. v. U. Luz/H. Weder, Göttingen 1983, 79–96; C. A. EVANS/J. A. SANDERS (Hg.), Luke and Scripture, Minneapolis 1993; D. RUSAM, Das Alte Testament bei Lukas, BZNW 112, Berlin 2003. 308 Vgl. die Auflistung bei G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4), 234 f.
309 R. V. BENDEMANN, „Trefflich hat der Heilige Geist
durch Jesaja, den Propheten, gesprochen. . .“ (Apg 28,25). Zur Bedeutung von Jesaja 6,9 f. für die Geschichtskonzeption des lukanischen Doppelwerkes, in: Das Echo des Propheten Jesaja, hg. v. N. C. Baumgart/G. Ringshausen, Münster 2004, (45–73) 72, betont dabei zu Recht: „Die besondere Bedeutung des Jesajabuches für das lukanische Doppelwerk resultiert nicht aus einer ungebrochenen Treue zur Bibel per se. Sie resultiert vielmehr aus einer dezidierten Neulektüre unter ganz anderen Vorzeichen und setzt eine dezidiert christliche Aneignung des großen Propheten bereits voraus.“
448 Sinn durch Erzählen
der Passionsgeschichte, die wiederum das Geschehen erschließen und deuten. Die Aufnahme von Jes 53,12LXX in Lk 22,37 wird wiederum ausdrücklich mit dem Erfüllungsgedanken verbunden und auch die summarischen Erinnerungen an die Schrift in Lk 18,31; 24,25–27.44–47 dienen dem Nachweis, dass sich im Leiden und in der Auferstehung Jesu Christi der in der Schrift formulierte Plan Gottes erfüllt hat. Dabei wird in Lk 24,45–49 ausdrücklich der hermeneutische Horizont der Schriftrezeption thematisiert: Das in der Schrift bezeugte Leiden Christi und seine Auferstehung zielen auf die Vergebung der Sünden aller Völker, d. h. die universale Perspektive der Evangeliumsverkündigung an die Völker ist schriftgemäß und wird von Jesus selbst bezeugt und erfüllt. Die Nachwahl des Matthias wird in Apg 1,16.20 ebenfalls unter den Gedanken des göttlichen ‚Muss‘ gestellt, das nun in Erfüllung geht. Die meisten Zitate in der Apostelgeschichte stehen unter dem Aspekt der Verheißung (vgl. Apg 2,16–21.25–28.30 f.34f; 3,22 f.25; 4,11.25f; 7,42f; 8,32f; 13,33– 35.40f; 15,15–17; 28,26f310), wonach der faktische Ablauf der Missionsgeschichte mit seiner Hinwendung zu den Völkern dem in der Schrift niedergelegten endzeitlichen Willen Gottes entspricht. Entsprechend seinem theologischen Programm in Lk 1,1–4 (Lk 1,1: „. . . die Ereignisse, die unter uns zur Erfüllung gekommen sind“) betont der Evangelist mit seiner Schriftrezeption die Zuverlässigkeit der Verheißungen. Der Verheißungshorizont ist die theologische Mitte der atl. Zitate im Doppelwerk. Gott selbst erfüllt im Christusgeschehen sein Wort, indem er aus Israel heraus die Kirche entstehen lässt311. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die literarische Kontinuität des lk. Doppelwerkes ist unmittelbarer Ausdruck des Einblicks in die theologische Kontinuität, nämlich des Gotteshandelns in der Geschichte. Lukas geht es darum, der dritten christlichen Generation ihren Standort in der Heilsgeschichte und damit auch die Kontinuität des von der Gemeinde vernommenen christlichen Zeugnisses zu den Propheten, zu Jesus und den Augenzeugen aufzuzeigen und damit letztlich die Verheißungstreue Gottes zu betonen.
8.4.2
Christologie
H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 158–192; J. M. NÜTZEL, Jesus als Offenbarer Gottes nach den lukanischen Schriften, FzB 39, Würzburg 1980; C. TUCKETT, The Christology of Luke-Acts, in: The Unity of Luke-Acts, hg. v. J. Verheyden (s. o. 8.4), 133–164; E. SCHWEIZER, Zur lukanischen Christologie, in: Verifikationen (FS G. Ebeling), hg. v. E. Jüngel/W. Wallmann/J. Werbeck, Tübingen 1982, 43–65; R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi (s. o. 8.2.2), 152–244; M. DE 310 Zur Zitation von Jes 6,9fLXX in Apg 28,26f vgl. D. RUSAM, Das Alte Testament bei Lukas, 437ff, der zutreffend feststellt: „Es geht also nicht um die Frage, ob noch eine Hoffnung für die Juden bleibt oder
nicht. Darüber sagt das Zitat nichts aus.“ 311 Vgl. G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4),
96.
Lukas: Heil und Geschichte 449
JONGE, Christologie im Kontext (s. o. 4), 85–98; M. KORN, Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit (s. o. 8.4), passim; F. J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 49–64; P. POKORN, Theologie der lukanischen Schriften (s. o. 8.4), 110–176.
Die lk. Christologie erschließt sich (wie bei den anderen Evangelien) vor allem aus der Verhältnisbestimmung Gott – Jesus, der Variation christologischer Themen, den christologischen Titeln und dem Gesamtgefüge der narrativen Präsentation, das bei Lukas einige Besonderheiten aufweist. Im 3. Evangelium ist die Christologie in das Epochendenken des Evangelisten eingebettet, das ihm neue Erzählperspektiven ermöglicht. Als ein besonderer Abschnitt im Heilshandeln Gottes erscheint dabei Jesu Auftreten und Wirken als Mitte der Zeit. Zugleich bleibt es aber Teil einer narrativen Gesamtkomposition, die mit dem Ursprung Jesu beginnt. Der Ursprung Jesu
Literarisch ist Lk 1,5–2,52 eine Vorgeschichte, insofern in Lk 3,1f mit den Synchronismen ein deutlicher Neueinsatz vorliegt. Zugleich sind aber die Bezeichnungen ‚Vorgeschichte‘ oder ‚Geburts- und Kindheitsgeschichte‘ irreführend, wenn damit eine lediglich vorbereitende oder hinführende und damit nicht wesentliche Funktion des Textabschnittes verbunden wird312. Vielmehr handelt es sich hier um die erzählerische Präsentation des Ursprungs Jesu, um sein besonderes Verhältnis zu Gott und damit um die Grundlegung des gesamten Heilsgeschehens. In hellenistischer Manier und in deutlicher Konkurrenz zu der im Rahmen der Pax Romana weit verbreiteten Stilisierung des Augustus313 unterstreicht Lukas das Herausragende seines Helden mit seinem außerordentlichen Woher und komponiert kunstvoll314 unter Aufnahme von judenchristlichen Traditionen315 das Präludium seines Doppelwerkes316. Zunächst wird das Verhältnis zum Täufer in einer parallesierenden Überbietung bestimmt: Der Täufer ist weitaus mehr als in den anderen Evangelien eine Parallelge312 Dies liegt bei H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o.
8.4), 12ff, vor, der Lk 1,5–2,52 nicht wirklich behandelt und unter dem Stichwort ‚Vorgeschichte‘ mit dem Täufer einsetzt. 313 Offensichtlich ist dies im Vergleich von Lk 2,1 und 2,14: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens.“ Ovid, Met XV 830, preist den Sohn des gerade ermordeten Caesar mit den Worten: „Alle bewohnbaren Gebiete der Erde werden ihm gehören; auch das Meer wird ihm dienen. Nachdem er der Erde den Frieden geschenkt hat, wird er seinen Geist dem Recht zuwenden, das für die Bürger gilt, Gesetze als deren gerechtester Anwalt vorschlagen und durch sein eigenes Beispiel den Sitten ein Richtmaß geben.“
314 Zum Nachweis der lk. Kompostion des Abschnittes vgl. W. RADL, Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lk 1–2, HBS 7, Freiburg 1996, 56–65. Er zeigt auf, dass sowohl die Kompositionstechnik als auch die Themenbereiche in Lk 1–2 zahlreiche Parallelen im Doppelwerk haben. 315 Die Analysen fallen sehr unterschiedlich aus; vgl. dazu insgesamt W. RADL, Der Ursprung Jesu, 66ff; zu Benedictus (Lk 1,68–79) und Magnificat (Lk 1,46–55) vgl. U. MITTMANN-RICHERT, Magnifikat und Benediktus. Die ältesten Zeugnisse der judenchristlichen Tradition von der Geburt des Messias, WUNT 2.90, Tübingen 1996. 316 So H. SCHÜRMANN, Lk I (s. o. 8.4), 18.
450 Sinn durch Erzählen
stalt zu Jesus (vgl. Lk 1,15–17.67–79), zugleich bleibt er aber der Vorläufer (vgl. Lk 1,76; 3,1–18). Im Zentrum der christologischen Grundlegung steht das Verhältnis zwischen Gott und Jesus. Die geistgewirkte Empfängnis (Lk 1,35) überbietet eine Erwählung oder Adoption, Jesus ist in einem unmittelbaren Sinn Sohn Gottes (Lk 1,32.35; 2,49; vgl. Lk 3,38) und Herr (Lk 1,17.43.76; 2,11)317. Zugleich hebt Lukas aber auch die menschlichen Züge Jesu deutlich hervor (Lk 2,40.52: Jesus nimmt an Weisheit zu; vgl. Lk 3,21; 9,18.28f; 22,37). Nachdrücklich stellt Lukas heraus, dass die Geburt des Täufers und vor allem die Geburt Jesu als Erfüllung der Hoffnungen Israels verstanden werden müssen (Lk 1,14–17.32 f.46–55.68–79; 2,10 f.25 f.29–32.38). Das Motiv von Verheißung und Erfüllung bestimmt auch Lk 1–2; mit den ‚Wartenden‘ Simeon und Hanna (Lk 2,25.38) verbindet sich für die Hörer/Leser des Doppelwerkes die Gewissheit der Erfüllung. Auch das Wirken des Geistes Gottes (s. u. 8.4.3) in Lk 1–2 steht im Dienst des Erfüllungsmotives; Elisabeth (Lk 1,41), Zacharias (Lk 1,67) und Simeon (Lk 2,25–27) sind vom Geist erfüllt, der Täufer wird den Geist empfangen (Lk 1,15) und Jesus verdankt dem Geist über Maria seine Existenz (Lk 1,35). Schließlich thematisieren der Lobgesang (Lk 2,29–32) und die Prophetie Simeons (Lk 2,34f) den in der Apostelgeschichte geschilderten Empfang des Evangeliums durch die Völker, der in Apg 28,26–28 durch Paulus proklamiert wird (jeweils mit Jesajazitaten!). Einzigartig innerhalb der Evangelienüberlieferung ist das hellenistischer biographischer Tradition318 verpflichtete Auftreten des zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52), mit dem die überragende Weisheit des noch jugendlichen Jesus demonstriert wird. Was sich in Evangelium und Apostelgeschichte vollzieht, wird in Lk 1–2 proklamiert und zugleich durch den Geist Gottes in Kraft gesetzt. Mitte der Zeit
Lukas kennzeichnet die Zeit Jesu als satansfreie Zeit und damit als Mitte der Zeit319. Am Ende der Versuchungsgeschichte entweicht der Satan (Lk 4,13: „er ließ von ihm ab bis zu gelegener Zeit“), um dann in Lk 22,3 in Judas zu fahren und wieder wirksam zu werden. Die Vision in Lk 10,18 („Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“) unterstreicht die besondere Qualität des Auftretens Jesu. Lukas hebt durch diese Perspektive das Wirken Jesu an Israel als Heilszeit in besonderer Weise hervor, ohne es jedoch von den anderen Epochen zu trennen. Johannes d. Täufer bleibt über die Parallelisierung in der Geburtsgeschichte hinaus in der erzählten Welt 317 Die mit der Jungfrauengeburt verbundene Vorstellung der göttlichen Zeugung eines außergewöhnlichen Menschen/Helden/Heros hat in der griechischen und römischen Tradition zahlreiche Parallelen; vgl. nur: Hektor (Hom, Il XXIV 258f); Herakles (Hes, Theog 940–944); Pythagoras (Jamb, Vit Pyth 5–8); Platon (Diog L 3,1–2); Alexander d. Gr.
(Hist Alex 13,1–2); Augustus (Suet, Aug 94,4). 318 Vgl. dazu N. KRÜCKEMEIER, Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2.40–52) und die biografische Literatur in der hellenistischen Antike, NTS 50 (2004), 307–319. 319 Vgl. H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 158 u. ö.
Lukas: Heil und Geschichte 451
des Doppelwerkes präsent (Lk 7,18–35; 16,16; Apg 1,22; 10,37; 11,16; 13,24f; 18,24– 28: 19,1–7) und die Zeit Jesu ist mit der Zeit der Kirche durch den Gedanken der Erfüllung, der Himmelfahrt, dem Wirken des Geistes und der Reich-Gottes-Verkündigung bleibend verbunden320. Inhaltlich zeichnet sich die unmittelbare Jesus-Zeit durch die Konzentration seines Wirkens auf Israel aus. Dabei kommt der Antrittsrede Jesu in Nazareth programmatische Bedeutung zu (Lk 4,16–30). Lukas lässt Mk 1,14f aus und markiert den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu mit einer prophetischen Selbstproklamation321. Jesus erscheint unter Aufnahme von Jes 61,1LXX als der Geistträger und Gesalbte (Lk 4,18a), der nun Gottes endzeitlichen Willen erfüllt: „Armen das Evangelium zu verkünden, . . . Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,18b.19). Damit ist nicht nur das Programm des Wirkens Jesu im Lukasevangelium beschrieben, sondern durch den Erfüllungsgedanken in 4,21 („Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren“) und die Termini euaggelı´zeshai sowie kvru´ssein („Heil ankündigen/verkündigen“) wird ausdrücklich die das Doppelwerk durchziehende Verkündigungsbewegung aufgenommen (vgl. Apg 8,4–40; 10,36.38). So wie Jesus zu Beginn seines Wirkens betont, er müsse das Reich Gottes in den Städten Israels verkünden (Lk 4,43), so verkündigt Paulus am Ende des Doppelwerkes das Reich Gottes in Rom (Apg 28,31). Schließlich ist die Verwerfung Jesu in seiner Vaterstadt (Lk 4,23–30) eine Vorwegnahme des Schicksals vieler Missionare einschließlich Paulus322. Die Antrittsrede in Nazareth eröffnet Jesu Wirken in Galiläa in Wort und Tat, wobei die in Lk 4,18 formulierte doppelte Perspektive von Verkündigung und Wundern im Vordergrund steht. Wunder/Heilungen finden sich in Lk 4,31–37.38–39.40–41.42– 44; 5,1–11.12–16.17–26; 7,1–10.11–17.21; 8,22–25.26–39.40–56; 9,10–12.37–43; die Lehre dominiert in Lk 5,33–39; 6,17–49; 8,4–15.16–18.19–21. Lehre und Wunder interpretieren sich gegenseitig und sind Epiphanien der Vollmacht des Messias. Mit beiden vollzieht Jesus seine Zuwendung zu den Armen, Sündern und Außenseitern der Gesellschaft (vgl. Lk 6,17–49: Feldrede; Lk 5,27–32: der Zöllner Levi; 7,36–50: die Sünderin; 8,1–3: Frauen in der Begleitung Jesu). Mit der Verklärungsgeschichte (Lk 9,28–36) und den beiden sie rahmenden Leidensweissagungen in Lk 9,18–22.43–45 ändert sich die Perspektive, denn Jerusalem, das Leiden Jesu und seine Auferstehung kommen in den Blick. Im Reisebericht (Lk 9,51–19,27)323 verstärkt Lukas diese Ausrichtung, indem er über die dritte (mk.) Lei320 Vgl. G. SCHNEIDER, Lk I (s. o. 8.4), 98. Gegen H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 22 A 2, der allein in der durch Lk 4,13 und 22,3 begrenzten unmittelbaren Jesus-Zeit die „reine Darstellung des Heils“ sehen will. 321 Zur Analyse vgl. U. BUSSE, Das Nazaret-Manifest Jesu, SBS 91, Stuttgart 1978; M. KORN, Die Geschich-
te Jesu in veränderter Zeit (s. o. 8.4), 56–85. 322 Zur Parallelisierung Jesus – Paulus vgl. W. RADL,
Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk, EHS.T 49, Bern/Frankfurt 1975. 323 R. V. BENDEMANN, Zwischen DOXA und STAUROS (s. o. 8.4), passim, bestreitet die Existenz eines lukanischen Reiseberichtes. Vgl. dagegen K. LÖNING, Das
452 Sinn durch Erzählen
densweissagung hinaus (vgl. Lk 18,31–34) drei weitere Passionsverweise einfügt (Lk 12,49f; 13,31–33; 17,25). Jesu mit Lk 9,51 einsetzender Weg nach Jerusalem ist der Weg zum Leiden und zur Herrlichkeit, den er nach Lk 22,42 gehen muss! Auch der Verweis auf die Himmelfahrt in Lk 9,51 („. . . dass er in den Himmel aufgenommen werden sollte . . .“) unterstreicht die für Lukas charakteristische Verschränkung von Leiden und Herrlichkeit. Der Reisebericht hat eine paränetische Ausrichtung, denn über die passionstheologischen Zusammenhänge hinaus lehrt Lukas den Weg Jesu als bleibende Zuwendung zu den Verlorenen (Lk 15), den Armen (Lk 16,16–31), den Samaritanern (Lk 10,25–37)324 und als Angebot des Reiches Gottes an Israel (s. u. 8.4.8) zu verstehen. Passion, Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt
Zielpunkt der lk. Darstellung des Lebens Jesu ist Jerusalem (vgl. innerhalb des Reiseberichtes bes. Lk 13,22; 17,11), wo er als Lehrer speziell im Tempel wirkt (Lk 19,29– 21,38). Passion und Ostern bilden für Lukas eine unauflösliche Einheit; die Ostergeschichten ereignen sich an einem Tag und finden mit der Himmelfahrt Jesu ihren Höhepunkt und ihr Ende (Lk 24,1–53). Vier Aspekte dominieren in den lk. Ostererzählungen: 1) Der Weg nach Jerusalem und die Zeit der Passion (Lk 22,1–23,56) werden von Lukas als gottgewollter Weg zur Herrlichkeit verstanden (Lk 22,37; 24,26: „Musste der Christus nicht solches erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?“; 24,46: „So steht geschrieben, dass der Gesalbte leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen wird“). Jesus ist der leidende prophetische Gerechte (vgl. Lk 23,47; Apg 3,14), über dessen Weg Gottes ‚Muss‘ steht (vgl. auch Lk 17,25; 24,7; Apg 1,16; 2,23a; 3,18; 7,52; 8,32–35; 9,16; 14,22; 17,3; 19,21; 25,10). 2) Jesu Tod am Kreuz wird von Lukas ausdrücklich mit der Grundausrichtung seiner Sendung verbunden: Suchen und Retten des Verlorenen (vgl. Lk 19,10; 22,27)325. Am Kreuz wendet sich der Sterbende ausdrücklich einem der Übeltäter zu, der seine Schuld eingesteht und zur Umkehr bereit ist (Lk 23,42f: „Und er sagte: Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Und er sprach zu ihm: Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein“). 3) Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist der hermeneutische Schlüssel zum Verstehen der gesamten Jesus-ChristusGeschichte und der Schrift (Lk 24,45: „Dann tat er ihren Verstand auf, so dass sie die Schriften begriffen“; vgl. Apg 3,18; 17,3; 26,23)326. 4) Lukas betont die Leiblichkeit des Auferstandenen in der Emmaus-Perikope, der Himmelfahrt und mit der wiederholten Bemerkung, sein Leib habe die Verwesung nicht gesehen (Apg 2,31; 10,41,
Geschichtswerk des Lukas II, 9, der den Reisebericht zutreffend als zentrale „literarische Gestaltungsidee“ des Lukas bezeichnet. 324 Vgl. dazu M. BÖHM, Samarien und die Samaritai bei Lukas, WUNT 2.111, Tübingen 1999.
325 Wegen Lk 19,10 ließ er wahrscheinlich Mk 10,45 aus. 326 Vgl. hier bes. J. WANKE, Die Emmauserzählung, EThSt 31, Leipzig 1973.
Lukas: Heil und Geschichte 453
13,34.37), weil für ihn Auferstehung und Erhöhung aufs engste zusammengehören (vgl. Lk 22,69; 24,26; Apg 1,22; 2,33–36: Erhöhung als Einsetzung zur Rechten Gottes; 5,31; 7,55; 13,32f)327. Lk 24 ist der Fluchtpunkt des Evangeliums, zugleich aber auch ein Übergangskapitel, denn sowohl V. 47 („und in seinem Namen wird Umkehr zur Vergebung der Sünden verkündigt werden allen Völkern. Ihr beginnt in Jerusalem“) als auch die Himmelfahrt leiten zur Apostelgeschichte über. Dieser Übergang ist allerdings sehr bewusst gestaltet, denn die erste Himmelfahrtserzählung in Lk 24,50–53 ist auch als Abschluss des Evangeliums konzipiert328. Die „große Freude“ der Jünger lenkt direkt zur Weihnachtsgeschichte zurück (cara` mega´lv nur in Lk 2,10; 24,52). Dem wunderbaren Wirken Gottes am Anfang entspricht sein Handeln im Ostergeschehen, die Jünger fallen nieder und beten den Erhöhten und Verherrlichten an329. Andere Akzente setzt Lukas in Apg 1,1–11, denn seine zweite Erzählung hat als eigentliches Thema die Parusie (vgl. V. 6–8) des in den Himmel zu Gott auffahrenden Jesus Christus (s. u. 8.4.8). Lukas verdeutlicht seiner Gemeinde mit der ihr vertrauten griechisch-römischen literarischen Form der Apotheose330: Gottes Verheißungstreue von der Zeugung bis zur Himmelfahrt setzt sich in der universalen Evangeliumsverkündigung fort und vollendet sich bei der Parusie, denn wer so in den Himmel aufgefahren ist, kommt auch wieder! Christologische Titel
Sehr häufig wird Jesus im lk. Doppelwerk als ku´rioß („Herr“) bezeichnet oder angeredet. Mit ku´rioß kann der noch Ungeborene (Lk 1,43), der gerade Geborene (Lk 2,11), der irdisch Wirkende (Lk 7,13.19; 10,1.39.41; 11,39; 12,42; 13,15; 17,5.6; 18,6; 19,8.31.34; Apg 1,21; 20,35) und der Auferstandene (Lk 24,3.34; Apg 1,6; 2,36; 4,33; 7,59.60; 9,27) benannt werden. Wahrscheinlich war der ku´rioß-Titel schon sehr früh mit Erscheinungen des Auferstandenen verbunden (Lk 24,34: „Wahrhaftig, der Herr ist auferweckt worden und dem Simon erschienen“) und weitete sich dann aus, bis er fast zum Namen Jesu wurde (vgl. Lk 19,31.34). Aufschlussreich sind typisch lk. Wendungen, die zeigen, wie sehr der ku´rioß-Titel bereits in den selbstverständlichen Sprachgebrauch übergegangen war: Die Christen werden dem Herrn hinzugefügt (vgl. Apg 5,14; 9,35.42; 11,17.21.24; 14,23; 16,31; 20,21), die Jünger verkündigen den Herrn (Apg 11,20; 14,3; 28,31) oder handeln, predigen und taufen in seinem Na327 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Die Person Jesu Christi
(s. o. 8.2.2), 184f, der darauf hinweist, dass Auferstehung und Erhöhung als ein einziger Akt der Teilhabe an der Lebensmacht Gottes verstanden werden müssen. 328 Vgl. G. LOHFINK, Die Himmelfahrt Jesu, StANT 26, München 1971. 329 G. LOHFINK, a. a. O., 254, bezeichnet die Anbetung
der Jünger als den „christologische(n) Höhepunkt des Evangeliums“. 330 Vgl. hier P. PILHOFER, Livius, Lukas und Lukian. Drei Himmelfahrten, in: ders., Die frühen Christen und ihre Welt, WUNT 145, Tübingen 2003, 166– 182; das relevante religionsgeschichtliche Material bietet E. BICKERMANN, Die römische Kaiserapotheose, ARW 27 (1929), 1–34.
454 Sinn durch Erzählen
men (Apg 8,16; 9,28; 19,5.13.17; 21,3). Lukas kann von der ‚Furcht des Herrn‘ (Apg 9,31), der ‚Gnade des Herrn‘ (Apg 15,11) oder dem ‚Weg des Herrn‘ (Apg 18,25; vgl. 16,17: ‚Weg der Rettung‘; 19,23: ‚der neue Weg‘) sprechen. Ein politisch-ironischer Gebrauch von ku´rioß liegt in Apg 25,26 vor, wo Festus im Hinblick auf den Kaiser (V. 25!) über Paulus sagt: „Jedoch weiß ich dem Herrn über ihn nichts Genaues zu schreiben“. Seltener begegnet bei Lukas der Cristo´ß-Titel („Christus/Messias/Gesalbter“), der 12mal im Evangelium und 25mal in der Apostelgeschichte belegt ist. Sein prädikativer Charakter tritt deutlich hervor, er bezeichnet den „Gesalbten des Herrn“ (Lk 2,26) als den nach den Verheißungen erwarteten Messias (vgl. Lk 2,11.26; 3,15; 4,41; 9,20; 22,67). Allein Jesus bestimmte Gott vor Zeiten als den Messias (Apg 3,20). Ein politisches Verständnis von Cristo´ß wird in Lk 23,2 zurückgewiesen und ausdrücklich korrigiert Lukas die Vorstellung, dass der aus dem Haus Davids stammende Messias (Lk 20,41) nicht leiden müsse (vgl. Lk 23,5.39; 24,26.46; Apg 3,18; 17,3). Der leidende und auferweckte Messias ist der wahre Messias (vgl. Apg 2,22– 36). Der uıo`ß heou˜-Titel („Sohn Gottes“) drückt im Lukasevangelium die besondere Würde Jesu aus331, denn er erscheint nie im Munde von Menschen (Gott/Engel: 1,35; 3,22; 9,35; Teufel/Dämonen: 4,3.9.41; 8,28; Worte Jesu: 2,49; 10,22; 20,13; 22,29.42.70; 23,34.46; 24,49). Bereits bei der Präsentation Jesu spielt er eine große Rolle (Lk 1,32.35; 2,49; 3,22.23b.38; 4,3.9). Die Gottessohnschaft Jesu beginnt nicht mit der Auferstehung (Röm 1,3f) oder vor aller Zeit (Joh 1,1–5; 3,16), sondern mit seiner menschlichen Existenz (Lk 1,35). Im Hintergrund dürfte Ps 2,7 („Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“) stehen, wie Lk 1,32; Apg 13,33 zeigen. Anders als bei Markus (s. o. 8.2.2) unterliegt der Sohnes-Titel keiner Geheimhaltung. Der für Lukas zentrale Vorbildcharakter des Lebens Jesu zeigt sich auch im Gehorsam des Sohnes gegenüber Gott (Lk 2,49; 4,3.9), der am Kreuz sein Ziel findet (vgl. Lk 23,46: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“). Einen bewussten Spannungsbogen baut Lukas mit dem ersten (Lk 1,35) und letzten Beleg (Lk 22,70: „Da sprachen sie alle: Bist du also der Sohn Gottes? Er aber sprach zu ihnen: Ihr sagt, dass ich es bin“) auf: Die Sohnschaft resultiert aus der geistgewirkten Empfängnis und vollendet sich in Passion und Ostern. Auf diesem Weg erscheint der Sohnes-Titel an zentralen Stationen (Lk 3,22: Taufe; 4,4.9: Versuchung; 9,35: Zug nach Jerusalem). Der Menschensohn-Titel (uıo`ß tou˜ anhrw´pou) erscheint häufig bei Lukas (25mal) und ist vollständig in seine Christologie des Weges Jesu zu den Verlorenen und des Leidens bis zur Auferstehung/Himmelfahrt eingebettet332. Der Evangelist nimmt sieben Neubildungen vor (vgl. Lk 17,22.25;18,8; 19,10; 21,36; 22,48; 24,7), die alle drei 331 Vgl. J. KREMER, „Dieser ist der Sohn Gottes“, in: Der Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), hg. v. C. Bussmann/W. Radl, Freiburg 1991, 137–157.
332 Vgl. G. SCHNEIDER, „Der Menschensohn“ in der lukanischen Christologie, in: ders., Lukas. Theologe der Heilsgeschichte (s. o. 8.4), 98–113.
Lukas: Heil und Geschichte 455
Gruppen der Menschensohnlogien abdecken. Charakteristisch ist Lk 19,10 („Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und zu retten, was verloren ist“); Lukas bringt durch das eingefügte zvtv˜sai („suchen“) sein soteriologisches Anliegen deutlich zum Ausdruck. Auch das ‚Muss‘ des Leidens des Menschensohnes wird verstärkt (Lk 24,7: „Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen“). Einen weiteren Akzent setzt der Evangelist in der Eschatologie, denn bei ihm ist die Menschensohnvorstellung in Lk 22,69 erstmals mit der Erhöhungsvorstellung verbunden (Lk 22,69: „Aber von nun an wird der Menschensohn sitzen zur Rechten der Macht Gottes“; vgl. Apg 7,56). In den Wachsamkeitsgleichnisses dominiert die Vorstellung des plötzlich kommenden Menschensohnes (Lk 18,8; 21,36). Auffällig ist das lk. Interesse an Jesus als Prophet333. Bei der Antrittsrede in Nazareth tritt er wie ein Prophet auf (Lk 4,16–30), das Volk sieht in ihm einen „großen Propheten“ (Lk 7,16), für die Emmausjünger war er ein Prophet, „mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk“ (Lk 24,19) und in Apg 3,22 erscheint er als ein Prophet wie Mose, auf den alle vorangegangenen Propheten bereits verwiesen haben (Apg 3,24f). Damit werden Jesu Lehre und vor allem seine Wunder in einen prophetischen Kontext gestellt. Traditionelle Motive des Prophetenverständnisses und der Prophetenpolemik finden sich in Lk 7,39; 9,7 f.19; 13,33. Jesus erscheint auch als Seher in die Zukunft (Lk 9,22.44) und als ein die Menschen durchschauender Kritiker (Lk 5,22; 6,8; 7,39–47; 22,21). Wichtig für Lukas sind die Traditionen vom leidenden Propheten, so wie sie in deuteronomistischer Perspektive in Apg 7,52 und im Gefolge des leidenden Gottesknechtes in Lk 22,37; Apg 8,32–35 zu finden sind (vgl. Lk 2,32; 4,18f; 18,14). Kaum zufällig bezeichnet Lukas in 2,11 gerade das soeben geborene Jesuskind als swtv´r („Retter“; vgl. Apg 5,31; 13,23; ferner Lk 1,32; 22,45; Apg 10,38). Diesen Titel nahmen vornehmlich römische Kaiser für sich in Anspruch334; bei Lukas wird er zum ironischen Attribut einer Anti-Geschichte: Ein völlig recht- und wehrloses Kind ist der wahre ‚Retter‘, dessen Botschaft bis zum Kaiser nach Rom gelangt. Besondere Züge des lukanischen Jesusbildes
Lukas setzt in seinem Jesusporträt auffällige Akzente. Dazu gehört die bereits mehrfach erwähnte Hinwendung Jesu zu den Armen, die ausführlich in der Ethik thematisiert wird (s. u. 8.4.6). Wie kein anderer Evangelist betont Lukas Jesu Menschsein und seine Menschlichkeit. Das Jesuskind wächst in Weisheit und Gnade heran (vgl. Lk
333 Vgl. hierzu G. NEBE, Prophetische Züge im Bilde
Jesu bei Lukas, BWANT 127, Stuttgart 1989. Der Prophetenbegriff gab Lukas „auf einem breiten und komplexen motivgeschichtlichen und inhaltlichen Vorstellungsboden offensichtlich eine ausgezeichne-
te Möglichkeit, Jesus im größeren Zusammenhang mit titularer Christologie sowie Worten, Taten und Geschick darzustellen“ (a. a. O., 207). 334 Zu swtv´r („Retter“) s. u. 10.4.1/10.4.2/12.2.4.
456 Sinn durch Erzählen
1,39f) und der Zwölfjährige im Tempel übertrifft bereits alle an Weisheit, zugleich bleibt er aber seinen Eltern untertan (Lk 2,51f). Jesu Menschsein wird auch in den Wundergeschichten mit der von Gott erfahrenen Weisheit und Gnade verbunden. Die Heilung der verkrümmten Frau (Lk 13,10–17) und des Wassersüchtigen (Lk 14,1–6) lassen dies ebenso erkennen wie die Erzählungen vom barmherzigen Samariter und vom verlorenen Sohn, wo das Mitleidsmotiv ausdrücklich erscheint (vgl. Lk 10,33; 15,20). Menschliche Züge und Szenen bestimmen zahlreiche Gleichnisse Jesu (Lk 11,5–8: der bittende Freund; 16,1–8: der ungerechte Verwalter; 17,7–10: vom Lohn eines Knechtes; 18,1–6: der gottlose Richter; 18,9–14: Pharisäer und Zöllner)335. Jesus scheut sich nicht, einen Aussätzigen anzufassen (Lk 5,13) oder sich von Kranken berühren zu lassen (Lk 8,44–48). Nicht zufällig ist das Wortfeld ‚heilen‘ bei keinem Evangelisten so verbreitet wie bei Lukas. Die Menschen werden von Jesus auch körperlich wiederhergestellt, so dass die erstaunte Menge geradezu in Jubel ausbricht (Lk 5,26: „Wir haben heute unglaubliche Dinge gesehen“; vgl. Lk 13,17). Einladungen lehnt Jesus nicht ab (vgl. Lk 7,34.36; 14,1) und Zachäus wird durch Jesu menschliche Zuwendung verwandelt (Lk 19,1–10). Seine Aufmerksamkeit gilt den einfachen Menschen, die ihre Würde behalten haben und aus der Liebe zu Gott und den Menschen zu Opfern bereit sind, wie die Witwe in Lk 21,1–4. So erscheint Jesus bei Lukas als der wahre Wohltäter, „der umherzog, Gutes tat und alle heilte, die vom Teufel unterjocht waren, denn Gott war mit ihm“ (Apg 10,38). Wie in keinem anderen Evangelium werden bei Lukas Frauen in die Geschichte Jesu eingezeichnet336. In der Kindheitsgeschichte sind Elisabeth, Maria und Hanna (vgl. Lk 1,5ff) Trägerinnen des gesamten christologischen Kerygmas und Prototypen christlicher Existenz. Maria wird von einer unbekannten Frau gepriesen, die zu Jesus sagt: „Selig der Leib, der dich getragen und die Brüste, an denen du gesogen“ (Lk 11,27; vgl. 1,42). Jesu Antwort illustriert die lk. Intention: „Ja, selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren“ (Lk 11,28). Die Frauen sind Zeuginnen und Trägerinnen des Glaubens und der Verkündigung. Das Hören und das Bedenken des Wortes gehört zu den herausragenden Eigenschaften Marias (Lk 2,19) und damit auch aller Glaubenden. Die Erzählung von Maria und Marta (Lk 10,38–42) unterstreicht mit den Modellen der Hörenden und der rastlos Tätigen diesen Gedanken: Das Hören des Wortes steht im Vordergrund, allein aus ihm ergibt sich das Tun. In der Erzählung von der Sünderin (Lk 7,36–50) wird der Übergang einer Frau am gesellschaftlichen Rand in die Jesusnachfolge dargestellt. Im Gegensatz zum Pharisäer werden ihr die 335 Vgl. hierzu B. HEININGER, Metaphorik, Erzähl-
struktur und szenisch-dramatische Gestaltung in den Sondergutgleichnissen bei Lukas, NTA 24, Münster 1991. 336 Vgl. dazu L. SCHOTTROFF, Frauen in der Nachfolge Jesu in neutestamentlicher Zeit, in: W. Schottroff u. a. (Hg.), Traditionen der Befreiung II, München
1980, 91–133; M. FANDER, Frauen im Urchristentum am Beispiel Palästinas, JBTh 7 (1992), 165–185; H. MELZER-KELLER, Jesus und die Frauen, HBS 14, Freiburg 1997; S. BIEBERSTEIN, Verschwiegene Jüngerinnen – vergessene Zeuginnen. Gebrochene Konzepte im Lukasevangelium, NTOA 38, Fribourg/Göttingen 1998.
Lukas: Heil und Geschichte 457
Sünden vergeben (Lk 7,50) und sie gehört nun nach lk. Verständnis zu den ‚vielen anderen‘ (Lk 8,3), die Jesus nachfolgen337. Die Notiz über Frauen als Nachfolgerinnen (Lk 8,1–3) enthält nicht nur historisch wertvolle Nachrichten, sondern die Frauen erscheinen durch die Nachfolge und die Bereitschaft zur Abgabe von Gütern (vgl. Lk 18,22; 19,8; Apg 2,44f; 4,32–47 und als Negativfolie Apg 5,1–11) als ideale Jüngerinnen. Lydia in Apg 16,14–15 repräsentiert nachösterlich jenen Typ von begüterten Nachfolgerinnen aus dem Umkreis der Synagoge, die vielleicht für die Gemeinde des Lukas und/oder des Theophilus (Lk 1,3; Apg 1,1) vorauszusetzen sind. Sie unterstützen wahrscheinlich die Gemeinde materiell und nahmen vor allem Missionare auf. Ein weiteres Charakteristikum des Lukasevangeliums ist der betende Jesus. Umrahmt von Lobgebeten in der Kindheitsgeschichte (Lk 1,46–55.68–79; 2,14.29–32) und dem Lobgebet der Jünger als letztem Vers des Evangeliums (Lk 24,53: „sie waren ständig im Tempel und lobten Gott“), wird Jesus wiederholt als Beter vorgestellt. In Lk 5,16 betet er nach einer Heilung allein in der Wüste; er geht auf einen Berg und betet die ganze Nacht zu Gott (Lk 6,12); er betet mit seinen Jüngern und wird dabei verklärt (Lk 9,18.28f); die Todesangst in Gethsemane wird zu einem intensiven Gebetskampf (Lk 22,41.44). Darin wird Jesus zu einem Vorbild für die Glaubenden, denn das Wachen und Beten (vgl. Lk 21,36) ist die rechte Haltung vor Gott und den Menschen. Die Gemeinde erkennt an der bittenden Witwe (Lk 18,1–8), dass Gott eindringliche Gebete erhört. Die Gebetsparänese in Lk 11,1–13 unterstreicht diesen Gedanken, denn ebenso wie der bittende Freund lässt sich auch Gott von denen bewegen, die ihn eindringlich bitten: „Bittet, und es wird euch gegeben, sucht, und ihr werdet finden, klopft an und es wird euch geöffnet“ (Lk 11,9). Der rechte Beter erniedrigt sich vor Gott und brüstet sich nicht mit seinen Taten (Lk 18,9–14). Er bittet vielmehr um den Heiligen Geist (Lk 11,13), aus dessen Fülle das wahre Gebet in Demut zum Vater erwächst. Die Urgemeinde setzt dies exemplarisch um. Sie wird in der Apg als betende Gemeinschaft vorgestellt (Apg 1,14; 3,1; 6,4; 8,15; 9,11.40; 10,9; 11,5; 12,5.12; 14,23; 16,16.25; 21,5), die sich in entscheidenden Weichenstellungen von der Kraft Gottes im Gebet lenken lässt: Bei der Nachwahl des Matthias (Apg 1,24); in der Gestaltung der Gemeinschaft aller mit allen (Apg 2,42); bei der Aussendung des Barnabas und Paulus (Apg 13,3) und bei der Abschiedsrede in Milet (Apg 20,36). Gegenüber den anderen Evangelien nimmt das Gebet bei Lukas eine zentrale Stellung ein, man kann ihn den Evangelisten des Gebets bezeichnen. Christologie der Apostelgeschichte
Die veränderte Erzählperspektive gegenüber dem Evangelium erfordert eine andere Präsenz Jesu in der Apostelgeschichte338. Apg 1,1b nimmt mit der Wendung „was Je337 Vgl. H. KLEIN, Lk (s. o. 8.4), 299.
338 Zur Christologie der Apg vgl. F. J. MATERA, New Testament Christology (s. o. 4), 64–82.
458 Sinn durch Erzählen
sus von Anfang an tat und lehrte“ das Wirken Jesu auf und setzt dann neue Akzente: Jesus Christus ist im Licht des Passions- und Osterkerygmas als Auferstandener von den Toten in seinen Wirkungen und seiner Bedeutsamkeit präsent. Dies zeigt sich zunächst bei den Wundern der Apostel (Petrus: Apg 3,1–10; 5,12–16; 9,32–43; Paulus: Apg 13,4–11; 14,8–14; 19,11f; 20,7–12; 28,1–10; Summarien: Apg 2,43; 4,30.33; 5,12; 14,3)339, in denen sich der Gekreuzigte und Auferstandene als der Lebendige erweist. Das eigentliche Subjekt der Wunder ist Jesus (vgl. Apg 4,10), so dass sie zu Beglaubigungszeichen seiner Auferstehung und zu Zeichen der rettenden Nähe Gottes werden. Damit sind die Wunder auch Zeichen der Endzeit, die mit Jesu Auferstehung und der Gabe des Geistes angebrochen ist. Die Stephanusrede (Apg 7,2–53)340 als Abschluss der Darstellung der Urgemeinde und als Übergang zur Mission außerhalb von Jerusalem lässt die Perspektive des Lukas deutlich hervortreten: Der Abriss der Geschichte Gottes mit Israel mündet in eine Anklage gegen das Synedrium (V. 51–53) und eine Schau der Herrlichkeit Gottes mit dem erhöhten Jesus als Menschensohn zur Rechten Gottes (Apg 7,55f). Damit erfüllt sich die Prophezeiung aus Lk 22,69 und Stephanus wird zum ersten Zeugen, dass sich Gottes Heilsplan auch gegen den Willen seines Volkes durchsetzt. Sehr häufig ist in den Missionsreden der Apostelgeschichte341 vom Leiden, vom Tod und der Auferstehung Jesu die Rede (vgl. Apg 2,22f; 2,36; 3,13–15.17ff; 5,30; 10,39; 13,27f; außerhalb der Missionsreden Apg 4,8.10f; 4,25–28; 8,32–35; 17,3; 20,28c; 26,23). Die Pfingstpredigt des Petrus formuliert die Grundaussagen der Christologie der Apostelgeschichte: Rettung geschieht in der Anrufung des Namens Jesu, der durch Gottes Ratschluss ans Kreuz dahingegeben wurde. Diesen hat Gott von den Toten auferweckt und zu seiner Rechten erhöht, damit nun der Geist ausgegossen werden kann (vgl. Apg 2,21–35). Fazit: „Mit Gewissheit erkenne nun das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,36). Dabei fällt auf, dass Jesu Sterben ‚für uns‘ nicht im Mittelpunkt steht, sondern Jesu Tod vor allem als Folge des Ungehorsams der Juden verstanden wird (vgl. Apg 2,22f; 3,13b–15a; 4,10; 5,30b; 10,38f; 13,27–29). Diesem Ungehorsam steht das Heilshandeln Gottes kontrastierend gegenüber (vgl. Apg 2,24.36; 3,13a.15b; 4,10; 5,31a; 10,40; 13,30f), aus dem der Aufruf zur Umkehr abgeleitet wird (Apg 2,37f; 3,19; 4,11; 5,30a.31b; 10,42f; 13,38–41). Dieses Schema könnte äl-
339 Zu den Wundern in der Apostelgeschichte vgl. F. NEIRYNCK, The Miracle Stories in the Acts of the Apostles, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Aptres (s. o. 8.4), 169–213; ST. SCHREIBER, Paulus als Wundertäter, BZNW 79, Berlin 1996, 13–158. 340 Neben den Kommentaren vgl. zur Analyse der Stephanusrede U. WILCKENS, Missionsreden (s. o. 8.4), 208–224; T. HOLTZ, Untersuchungen (s. o. 8.4.1), 85–127; J.J. KILGALLEN, The Stephen Speech,
AB 67, Rom 1976; F. G. DOWNING, Ethical Pagan Theism and the Speeches in Acts, NTS 27 (1981), 544–563. 341 Die Missionsreden finden sich in Apg 2,14–39; 3,12–26; 4,8b–12; 5,29–32; 10,34–43; 13,16–41; sie gehen im Wesentlichen auf lukanische Darstellung zurück; vgl. U. WILCKENS, Missionsreden (s. o. 8.4), 200 ff.
Lukas: Heil und Geschichte 459
tere Traditionen wiedergeben342. Erkennbar ist auf jeden Fall, dass die Auferstehung Jesu von den Toten als Tat Gottes im Zentrum der Christologie der Apostelgeschichte steht 343 (vgl. auch Apg 3,15.26; 4,2.33; 17,18.32; 23,6–9; 24,15.21; 26,8.23). Sie ist die Voraussetzung und die Begründung der Mission, wie Lukas vor allem mit der dreifachen Erzählung von der Berufung des Paulus durch den Auferstandenen verdeutlicht (vgl. Apg 9,3–19a; 22,6–16; 26,12–18). Welche Bedeutung wird (im Doppelwerk und hier speziell) in der Apostelgeschichte dem Kreuz Jesu beigemessen? Während in der älteren Forschung konstatiert wurde: „von der Heilsbedeutung des Kreuzes Christi ist nirgends die Rede“344, orientieren sich neuere Interpretationen nicht mehr an Paulus als theologischem Wertmaßstab für Lukas und gelangen so zu differenzierteren Ergebnissen345. In Lk 22,19f („Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird“) und vor allem in Apg 20,28 wird die soteriologische Bedeutung des Kreuzes nachdrücklich betont: „Habt acht auf euch und die gesamte Herde, in der euch der Heilige Geist zu Aufsehern gesetzt hat, um die Kirche Gottes zu weiden, die er sich durch sein eigenes Blut erworben hat.“ Die Aufnahme von Jes 53,7fLXX in Apg 8,32f lenkt ebenfalls den Blick auf Jesu stellvertretendes Leiden (vgl. ferner Apg 3,13–15; 4,27), so dass man auch der Apostelgeschichte diese Perspektive nicht einfach absprechen kann. Insgesamt zeichnet sich die Christologie der Apostelgeschichte durch eine Vielzahl von Titeln, Traditionen und Perspektiven aus346: Jesus erscheint als Nazoräer (Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 26,9), als der Mann aus Nazareth ist er der Messias aus David (Apg 2,25–28), dessen Name rettet (Apg 2,12; 3,6; 4,10), den Gott als seinen Knecht auferweckte (Apg 3,26) und der als Messias (Apg 10,36–40) den erwählten Zeugen erschien, die nun die Botschaft vom Retter Israel und den Völkern verkünden (Apg 13,25–41).
342 So z. B. J. ROLOFF, Apg (s. o. 8.4), 49–51; vgl. ferner F. HAHN, Das Problem alter christologischer Überlieferungen in der Apostelgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Act 3,19–21, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Aptres, 129–154; M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 95–98; für lukanische Gestaltung plädiert M. RESE, Die Aussagen über Jesu Tod und Auferstehung in der Apostelgeschichte – ältestes Kerygma oder lukanische Theologumena?, NTS 30 (1984), 335–353. Das Fehlen eindeutiger Kriterien für die Aussonderung von Traditionsgut in der Apostelgeschichte erschwert zwar die Bestimmung vorlukanischer Einheiten, dennoch dürfte Lukas in unterschiedlichem Umfang bei den Reden auf Traditionsmaterial zurückgegriffen haben.
343 Vgl. hierzu TH. KNÖPPLER, Beobachtungen zur lukanischen theologia resurrectionis, in: „. . .was ihr auf dem Weg verhandelt habt“ (FS F. Hahn), hg. v. P. Müller/Chr. Gerber/Th. Knöppler, Neukirchen 2001, 51–62. 344 PH. VIELHAUER, „Paulinismus“ (s. o. 8.4), 22. 345 Vgl. F. SCHÜTZ, Der leidende Christus. Die angefochtene Gemeinde und das Christuskerygma der lukanischen Schriften, BWANT 59, Stuttgart 1969; A. BÜCHELE, Der Tod Jesu im Lukasevangelium, (s. u. 8.4.4); M. KORN, Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit (s. o. 8.4), 173–259. 346 Vgl. TH. SÖDING, Der Gottessohn aus Nazareth (s. o. 4), 223–244.
460 Sinn durch Erzählen
8.4.3
Pneumatologie
H. V. BAER, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, BWANT 39, Stuttgart 1926; G. W. H. LAMPE, The Holy Spirit in the Writings of St. Luke, in: Studies in the Gospels, Oxford 21957, 159–200; J. KREMER, Pfingstbericht und Pfingstgeschehen, Stuttgart 1973; TH. SÖDING, Geist der Kirche – Kirche des Geistes, in: Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit, hg. v. G. Koch/J. Pretscher, Würzburg 1997, 19–67; J. L. GONZLEZ, Acts. The Gospel of the Spirit, New York 2001; B. KOWALSKI, Widerstände, Visionen und Geistführung bei Paulus, ZKTh 125 (2003), 387–410.
Neben Paulus und Johannes entwickelte vor allem Lukas eine profilierte Pneumatologie. Das Wirken des Heiligen Geistes ist ein zentrales Darstellungsmittel innerhalb des lk. Epochendenkens, wie die Konzentration jeweils zu Beginn des Evangeliums und der Apostelgeschichte zeigt. Als Heilskraft Gottes erweist sich der Geist an Elisabeth, Johannes d. Täufer und Simeon (Lk 1,15.41.67.80; 2,25f). Als Schöpferkraft Gottes ist der Geist die Grundlage der Beziehung zwischen Gott und Jesus, denn im Geist Gottes gründet Jesu Existenz (Lk 1,35). Der Geist manifestiert sich sichtbar in der Taufe Jesu (vgl. Lk 3,22), der nun selbst mit Heiligem Geist und Feuer tauft (vgl. Lk 3,16; Apg 1,5; 11,16). Der Geist führt Jesus in die Wüste (Lk 4,1) und leitet ihn nach Nazareth (vgl. Lk 4,14), wo Jesus die zentrale Aussage macht: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat“ (Lk 4,18a). Die gesamte Wirksamkeit Jesu erscheint nun als Erfüllung der Verheißung von Gottes Gesalbten, dem Geistträger Jesus von Nazareth. Nach Lk 1–4 treten die Geistaussagen deutlich zurück, bis in Lk 24,49 Jesus selbst vor seiner Himmelfahrt den Jüngern zusagt, ihnen den Geist zu senden (vgl. Apg 1,8). Die Gabe des Heiligen Geistes erscheint nach Apg 1,6–8 als die entscheidende Zurüstung der Zeugen Christi in der Zeit der Abwesenheit des Herrn. In den Wirkungen des Geistes erweist sich nach Apg 2,33 Jesus als der zum Himmel Erhöhte: „Nachdem er zur Rechten Gottes erhöht worden ist und die Verheißung des Heiligen Geistes vom Vater empfangen hat, hat er dies ausgegossen, was ihr seht und hört.“ Die Gabe des Geistes des Auferstandenen und Erhöhten ist somit die Grundlage für die weltweite Mission und die Sammlung der Heilsgemeinde. Pfingsten ist für Lukas die Erfüllung der bereits vom Täufer angekündigten Geisttaufe Jesu (vgl. Lk 3,16; Apg 1,5; 2,4). Jesu Existenz und die Existenz der Kirche sind geistgewirkt, der Geist kündigt in beiden Fällen nicht nur die neue Epoche an, sondern führt sie machtvoll herauf! In der Apostelgeschichte tritt das Wirken des Geistes als Motor der Heilsgeschichte besonders hervor347. Die Jünger und alle Hörer in Jerusalem werden vom Geist zur Verkündigung befähigt (Apg 2,1–13), so dass Pfingsten eine Vorabbildung dessen wird, was sich später ereignet: Die Verkündigung des auferstandenen Jesus Christus 347 Vgl. J. KREMER, Weltweites Zeugnis für Christus
in der Kraft des Geistes, in: Mission im Neuen Testa-
ment, hg. v. K. Kertelge, QD 93, Freiburg 1982, 145– 163.
Lukas: Heil und Geschichte 461
wird unter dem Wirken des Geistes von Menschen ganz verschiedener Kulturkreise verstanden und angenommen. In der Taufe wird der Geist den Christen zugeeignet (vgl. Apg 2,38) und der Geist bahnt nach Gottes ewigem Plan/Vorausschau (Apg 2,23: pro´gnwsiß) und Heilsratschluss (Apg 4,28; 15,7; 20,27) dem Evangelium auch gegen mannigfaltige Widerstände den Weg. Nach den großen Erfolgen in Jerusalem (Apg 2,41.47; 4,4; 5,14; 6,1.7)348 folgt die Samaria-Mission, die durch den Empfang des Geistes besiegelt wird (Apg 8,15). Auch die Missionierung des Äthiopiers vollzieht sich durch das aktive Eingreifen des Geistes, denn er bringt Philippus mit dem Äthiopier in Kontakt (Apg 8,29) und entrückt ihn (Apg 8,39) nach erfolgter Taufe. Schlüsselstellen der weiteren Entwicklung sind die Kornelius-Perikope und das Apostelkonzil. Nach der von Gott gewährten Einsicht des Petrus, dass „Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk den willkommen heisst, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt“ (Apg 10,34f), fällt der Heilige Geist auch auf Angehörige der Völker und bestätigt so augenfällig diese neue Dimension des Heilshandelns (Apg 10,45). Der Geist wählt Barnabas und Paulus für die 1. Missionsreise aus (Apg 13,2) und führt so das Programm der beschneidungsfreien Mission durch. Er bewirkt auch die Einigung auf dem Apostelkonzil (vgl. Apg 15,28) und den Übergang der Mission nach Europa (Apg 16,6f). Das gesamte Wirken des Paulus in Griechenland steht so unter dem Vorzeichen des Geist-Wirkens. Ein weiterer epochaler Vorgang ist die Einsetzung der Gemeindeältesten in ihr Amt in der Miletrede (Apg 20,13–38), womit Lukas die Ämter- und Gemeindestrukturen seiner Zeit legitimiert (vgl. Apg 20,28). Schließlich qualifiziert Lukas am Ende des Doppelwerkes das Verstockungswort Jes 6,9f in Apg 28,26f als Wort des Heiligen Geistes. Es entspricht dem Willen Gottes, dass sich die Mehrheit seines Volkes dem Evangelium verschließt und nicht umkehrt349.
348 Nach G. LOHFINK, Die Sammlung Israels (s. o. 8.4), 47–55, vollzieht sich hier exemplarisch die intendierte Sammlung Israels. 349 Die Deutung von Apg 28,26f als Schlüsselstelle für die lukanische Pneumatologie/Soteriologie ist in der Forschung umstritten; während z. B. G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt (s. o. 8.4), 115, den Text auf die „jesusungläubigen Juden, die aufgrund göttlicher Verstockung nicht glauben“ bezieht und als Erklärung für die faktische Ablehnung des Evangeliums durch die Juden wertet und Spekulationen über die Zukunft Israels bei Lukas für gegenstandslos hält, interpretieren z. B. M. KARRER, „Und ich werde sie heilen“. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f in Apg 28,26f, in: Kirche und Volk Gottes (FS J. Roloff), hg. v. M. Karrer/W. Kraus/O. Merk, Neukirchen 2000, 255–271; V. A. LEHNERT, Die ‚Verstockung Israels‘ und biblische Hermeneutik, ZNT 16
(2005), 13–19, den Text gerade als Beleg für die durchgängige (positive) Israelperspektive des Lukas. Das Für und Wider der Argumentation bedenkt R. V. BENDEMANN, „Trefflich hat der Heilige Geist durch Jesaja, den Propheten, gesprochen. . .“ (s. o. 8.4.1), 69, um als Ertrag festzuhalten: „Für Lukas ist Jesaja anders als bei Paulus im Abstand der Zeiten und soziokulturellen Lebenswelten Garant der Kontinuität. Der Herstellung solcher Kontinuität dient aber zuletzt auch das Zitat aus Jes 6,9 f. Indem die vergangenheitliche negative Resonanz der Juden unter das Vorzeichen der göttlichen Verstockung gestellt wird, kann sie überhaupt nur abschließend gedeutet werden. Dass das jüdische Volk das von seinen Anfängen in den lukanischen Kindheitserzählungen so hochkodiert gerade in jesajanischen Kategorien erzählte Heil nicht akzeptiert hat, bleibt am Ende ein Rätsel, das nur theologisch zu bearbeiten ist.“
462 Sinn durch Erzählen
Zu den nachösterlichen Wirkungen des Geistes zählen die Erinnerung an das Heilswerk Jesu und das gegenwärtige Zeugnis für Jesus. Der Geist spricht bereits im Wort der Schrift durch David (Apg 1,16; 4,25f) und Jesaja (Apg 28,25) und prophezeit das Leiden Jesu und die Verstockung Israels. Die Apostel zu Pfingsten (Apg 2,4.17f), Petrus vor dem Hohen Rat (Apg 4,8), Stephanus (Apg 6,8.10; 7,55), Philippus (Apg 8,29), Paulus bei seiner Bekehrung (Apg 9,17) und Barnabas in Antiochia (Apg 11,23f) werden ‚vom heiligen Geist erfüllt‘, so dass sie in Wort und Tat Jesus bezeugen. Vor dem Hohen Rat nehmen Petrus und die Apostel für sich in Anspruch: „Wir sind Zeugen dieser Geschehnisse und der Heilige Geist, den Gott denen verliehen hat, die ihm gehorchen“ (Apg 5,32). Bereits im Evangelium erscheint der Geist als Zurüstung in der Situation der Verfolgung und Bedrängnis (Lk 12,11f: „Wenn sie euch aber vor die Gerichte der Synagogen und vor die Machthaber und vor die Behörden führen, dann sorgt euch nicht, wie oder womit ihr euch verteidigen oder was ihr sagen sollt. Denn der Heilige Geist wird euch in jener Stunde lehren, was ihr sagen müsst“). Diese Zusage Jesu erfüllt sich an vielen Orten der Missionsgeschichte. Petrus und Johannes (Apg 4,19: „Urteilt doch selbst, ob es vor Gott recht ist, auf euch mehr zu hören als auf Gott“), Petrus und die Apostel (Apg 5,29), Stephanus und vor allem Paulus (vgl. Apg 13,50; 14,5f.19; 16,23–40; 17,13; 18,12; 19,23–40; 21,27–40) bezeugen gegen zahlreiche Widerstände das Evangelium von Jesus Christus. Die zentrale Rolle des Heiligen Geistes in der Gesamtkonzeption des Lukas ist offenkundig: Der Geist ist als Geist Gottes das eigentliche Subjekt der Geschichte Jesu Christi und der Geschichte der universalen Völkermission. Der Geist wird nachösterlich vom Auferstandenen und Erhöhten den Aposteln verliehen und er führt das Werk Jesu in der Kirche weiter und gewährt so die Kontinuität des Heil schaffenden Handelns Gottes in der Geschichte. Der Geist greift nicht nur wiederholt in den Ablauf der Heilsgeschichte ein, er bewirkt auch die grundlegenden geschichtlichen Entscheidungen und Weichenstellungen. Er ist das Medium der Evangeliumsbotschaft und die Kraft Gottes, die zum mutigen Zeugnis zurüstet.
8.4.4
Soteriologie
A. BÜCHELE, Der Tod Jesu im Lukasevangelium, FTS 26, Frankfurt 1978; M. DÖMER, Das Heil Gottes, BBB 51, Köln/Bonn 1978; F. G. UNTERGASSMAIR, Kreuzweg und Kreuzigung Jesu, PaThSt 10, Paderborn 1980; F. BOVON, Das Heil in den Schriften des Lukas, in: ders., Lukas in neuer Sicht (s. o. 8.4), 61–74; G. BARTH, Der Tod Jesu (s. o. 4), 131–138; W. RADL, Rettung in Israel, in: Der Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), hg. v. C. Bussmann/W. Radl, Freiburg 1991, 43–59; S. HAGENE, Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriologie, NTA 42, Münster 2003; G. J. STEYN, Soteriological Perspectives in Luke’s Gospel, in: J.G. van der Watt, Salvation in the New Testament (s. o. 6.4), 67–99; H. C. VAN ZYL, The Soteriology of Acts: Restoration of Life, a. a. O., 133–160.
Lukas: Heil und Geschichte 463
Die lk. Soteriologie weist eine Reihe von Besonderheiten auf350. Es fällt auf, dass die Sühnevorstellung und Jesu Sterben ‚für uns‘ zurücktreten und das Kreuz Christi als Heilsgrund nicht so im Mittelpunkt steht wie bei Paulus oder Markus. Das ‚Lösegeld für die Vielen‘ in Mk 10,45 wird von Lukas nicht übernommen und der Sühnetod des Gottesknechtes bleibt beim Zitat aus Jes 53,7f in Lk 22,37; Apg 8,32f unerwähnt. Allerdings fehlen diese Vorstellungen keineswegs (vgl. Apg 3,26a: „Zuerst für euch hat Gott seinen Knecht auferweckt“; ferner Apg 20,28; Lk 23,42f) und sie besitzen ein erhebliches christologisch-soteriologisches Gewicht. Charakteristisch für Lukas ist allerdings, dass Jesu gesamte Existenz, sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung das Heil der Menschen bewirkt. Deshalb gründet das Heil schon im Geborenwerden Jesu. In der Geburtsgeschichte verkündet der Engel in Lk 2,11 den Basissatz lk. Soteriologie: „Euch wurde heute der Retter (swtv´r) geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Bereits von dem ungeborenen Kind kann gesagt werden, dass es seinem Volk „Erkenntnis der Rettung“ gibt „durch die Vergebung ihrer Sünden“ (Lk 1,77). Mit der Geburt Jesu in einem Stall verbindet sich die Grundausrichtung seines Wirkens „das Verlorene zu suchen und zu retten“ (Lk 19,10). Sein gesamtes Leben ist ein Dienen (Lk 22,27) und zielt darauf, die Verlorenen, Ausgestoßen und Verachteten wieder zu Gott zu führen. Dies vollzieht sich in den Wundern und vor allem in der Annahme der reuigen Sünder, wie es z. B. die Gleichnisse vom Verlorenen (Lk 15), die Erzählung von der Sünderin (Lk 7,35–50) und die Zachäus- Perikope (Lk 19,1–10) zeigen. Zachäus verändert durch die Zuwendung Jesu sein Leben und ihm verkündet Jesus: „Heute ist diesem Hause Rettung widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams“ (Lk 19,9). In Jesus ist Gott den Menschen wieder nahe, so dass Heil möglich ist. Diese Nähe muss aber vom Menschen angenommen werden; bei Lukas rettet Gott den Menschen nicht ohne den Menschen, d. h. ohne seine Umkehr und sein neues Handeln, wie das lk. Sündenverständnis (s. u. 8.4.5) und die Ethik (s. u. 8.4.6) zeigen. Jesu Zuwendung zu den Verlorenen offenbart sich auch in seinem Leidensweg, der als vorbildhaftes Geschehen dargestellt wird und selbst bei den Zuschauern der Kreuzigung seine Wirkung nicht verfehlt: „Und alle, die zu dem Schauspiel herbeigeströmt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und gingen betroffen weg“ (Lk 23,48). Lukas betont, dass Jesus unschuldig verurteilt und hingerichtet wurde; Pilatus stellt dreimal Jesu Unschuld fest (Lk 23,4.14.22) und auch Herodes bezeugt sie (Lk 23,15). Jesus leidet und stirbt ausdrücklich als Gerechter (Lk 23,47: „Als aber der Hauptmann sah, was geschah, pries er Gott und sagte: 350 Den defizitären Charakter der lukanischen Soteriologie (und Theologie) betonen z. B. E. HAENCHEN, Apg (s. o. 8.4), 102f; E. KÄSEMANN, Das Problem des historischen Jesus (s. o. 3.1), 198f; H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 187, wonach „weder von einer Passionsmystik etwas zu bemerken ist, noch eine
direkte Heilsbedeutung des Leidens und Sterbens ausgeführt wird. Eine Beziehung zur Sündenvergebung ist nicht hergestellt“; U. WILCKENS, Missionsreden (s. o. 8.4), 126 („der Tod Jesu ist zwar im göttlichen Plan vorgesehen, ihm kommt aber keine soteriologische Bedeutung zu“).
464 Sinn durch Erzählen
Wirklich, dieser Mensch war ein Gerechter“)351, der am Kreuz unter die Gesetzlosen gerechnet wird (Lk 22,37). An diesem Ort wendet er sich ausdrücklich den Verlorenen zu (Lk 22,51; 23,28- 31.39–43) und vergibt ihnen die Sünden (Lk 23,34: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“), d. h. Jesus erniedrigt sich am Kreuz, um auch hier den Erniedrigten nahe zu sein. Aus diesem Gehorsam gegenüber Gott (Lk 22,42–44) heraus wird der Erniedrigte von Gott erhöht (Lk 18,14b; 24,26) und erschließt damit den Weg des Heils auch für die, die mit ihm sind352. Durch die Aufnahme in den Himmel ist er nun in der Lage, für das Heil der Menschen wirken zu können, vor allem durch die Gabe des Geistes. Hier wird die Grundkonzeption der lk. Soteriologie deutlich: Jesus ist der ‚Anführer des Lebens‘ (Apg 3,15: arcvgo`ß tv˜ß zwv˜ß; vgl. 5,31), er geht und eröffnet dadurch den Weg des Heils (Apg 16,17). Die einzelnen Etappen dieses Weges gewinnen in ihrer Gesamtheit ihre Bedeutung und lassen sich weder isolieren noch negieren 353. Somit ist Jesus in seiner gesamten Existenz zugleich Grund, Anführer und Vorbild des Heils. Die starken ethischen Komponenten innerhalb der lk. Soteriologie lassen sich im Kontext der lk. Gemeinde erklären: Der Vorbildcharakter des Lebens und Sterbens eines Helden ist im griechisch-römischen Denken weit verbreitet. In der Apostelgeschichte wird Jesu Heilsweg in seinen rettenden Dimensionen verkündet, denn: „Es ist in keinem anderen das Heil; es ist kein anderer Name den Menschen unter dem Himmel gegeben, dass wir in ihm Heil finden sollten“ (Apg 4,12). Jesu Erhöhung zur Rechten Gottes ermöglicht angesichts des kommenden Gerichtes die Vergebung der Sünden (Lk 24,47; Apg 2,38; 3,19ff; 5,31; 17,30f) und das Heil der Völker (Apg 13,47); sie ist der Weg und das Wort der Rettung (Apg 13,26; 16,17). Die Annahme des Heils vollzieht sich in der Annahme des Wortes, d. h. im Glauben (Apg 2,21: „Und es wird geschehen, dass jeder, der den Namen des Herrn anruft, gerettet wird“). Durch die Annahme der Verkündigung und die Bezeugung in der Taufe ereignet sich die Rettung (vgl. Apg 2,40; 11,14; 14,9; 16,30 f.33). Der Glaube ist die einzig sachgemäße Antwort auf die Verkündigung des Heils durch die Missionare. Dabei zeigt die sachliche Nähe von Apg 15,11 zu Paulus, dass auch Lukas die Rettung als Gnadengeschehen auffasst: „Vielmehr glauben wir, durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet zu werden (dia` tv˜ß ca´ritoß tou˜ kurı´ou LIvsou˜ pisteu´omen swhv˜nai), nicht
351 Aufschlussreich ist hier ein Vergleich mit Mk 15,39, der zeigt, wie eigenständig die jeweiligen Evangelisten gearbeitet haben. 352 Vgl. W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Berlin 91981, 455: „Die Großtat Gottes, die in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi geschieht, besteht darin, daß sein Weg durch das Leiden und Sterben zur Herrlichkeit, durch Erniedrigung zur Erhöhung führt.“
353 Unzutreffend ist deshalb die These von G. BARTH,
Der Tod Jesu (s. o. 4), 134: „Die Bedeutung des Todes Jesu wird dadurch doch sehr eingeschränkt: Er ist nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Herrlichkeit.“ Von einer eigenständigen theologia crucis bei Lukas spricht hingegen P. DOBLE, Paradox of Salvation. Luke’s Theology of the Cross, MSSNTS 87, Cambridge 1996.
Lukas: Heil und Geschichte 465
anders als jene.“ Zudem besteht bei Lukas ein organischer Zusammenhang zwischen Pneumatologie und Soteriologie, denn nach Apg 5,31; 13,38f ist die Geistgabe des Erhöhten Voraussetzung für die Umkehr und die Vergebung der Sünden. Die Zeit der ‚Unwissenheit‘ (agnoia in Apg 3,17; 13,27; 17,23.30) ist nun vorüber, denn durch die Zeugen des Evangeliums wird die Rettung weltweit verkündet354. Im Zentrum der lk. Soteriologie steht der Gedanke der Heilsbedeutung des zu Gott führenden Weges Jesu. Sein gesamtes Leben wird als Dienen, Suchen und Retten verstanden und so wird sein Weg von Gott und zu Gott zu einem Weg des Heils für alle, die glauben.
8.4.5
Anthropologie
J.-W. TAEGER, Paulus und Lukas über den Menschen, ZNW 71 (1980), 96–108; W. SCHENK, Glaube im lukanischen Doppelwerk, in: Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn/ H. Klein, BThSt 7, Neukirchen 1982, 69–92; J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil (s. o. 8.4); CHR. STENSCHKE, Luke’s Portrait of Gentiles Prior to Their Coming to Faith, WUNT 2.108, Tübingen 1999; E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 103–125.
Wie die Soteriologie hat auch die Anthropologie bei Lukas ein eigenes Gepräge. Lukas steht einerseits hellenistischer Anthropologie nahe, wenn er ‚das Gute‘ (to` agaho´n) zu einer anthropologisch-ethischen Grundkategorie macht (Lk 6,45a: „Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor“) und in Apg 17,27–29 Paulus von der Gottesverwandtschaft des Menschen sprechen lässt. Andererseits vermeidet er ausdrücklich dualistische Aussagen in der Anthropologie (vgl. Lk 12,4f; Auslassung von Mk 14,38b) und steht bei seiner anthropologischen Begrifflichkeit in atl. Tradition. Anthropologische Begriffe
Mit kardı´a („Herz“) bezeichnet Lukas das Personenzentrum, den Sitz der Gefühle und des Erkennens, das in positiver oder negativer Weise über die Ausrichtung eines Leben entscheidet (vgl. Lk 1,17.66; 2,19.35; 3,15; 5,22; 6,45; 8,12; 12,34; Apg 2,46; 4,32; 8,21; 11,23; 28,27 u. ö.). Gott kennt die Herzen und verabscheut die, die sich vor den Menschen als gerecht darstellen wollen, „denn was bei den Menschen hoch angesehen ist, ist ein Gräuel vor Gott“ (Lk 16,15). Auch bei Lukas steht yucv´ („Seele“) für das Lebendigsein, das Leben in seiner natürlichen Weise (vgl. Lk 1,46; 6,9; 9,24; 10,27; Apg 4,32; 14,22; 20,10.24). Darüber hinaus zeigt die Erzählung vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–21), dass yucv´ auch die Grundausrichtung eines Lebens 354 Vgl. dazu S. HAGENE, Zeiten der Wiederherstellung (s. o. 8.4.4), 324ff, die den Begriff des ‚retten-
den Wissens‘ in das Zentrum lukanischer Soteriologie stellt.
466 Sinn durch Erzählen
benennen kann (vgl. Apg 15,24). An der Gestalt des Kornbauern lässt sich eindringlich ablesen, dass für Lukas das menschliche Bemühen um Lebenssicherung gerade nicht zum Leben führt (Lk 12,15: „Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat“; vgl. 12,21.25)355. Eine Besonderheit findet sich bei der Verwendung von sa´rx („Fleisch“), Lukas kann damit Jesu Auferstehungsleib bezeichnen (Lk 24,39; Apg 2,31). Ein Zentralbegriff der lk. Anthropologie ist pı´stiß/pisteu´ein („Glaube/glauben“)356. Auf der Makroebene machen bereits Lk 1,45 („Und selig, die geglaubt hat, dass in Erfüllung geht, was ihr vom Herrn gesagt ist“) und Lk 24,25 (Emmaus- Jünger) die Grundstruktur des lk. Glaubensbegriffes deutlich: Der Glaube entsteht und vollzieht sich in der Anerkennung der Zuverlässigkeit des göttlichen Verheißungswortes. Der Glaube ist lebendig und muss deshalb gestärkt werden (Lk 17,5f; 22,32f); gefestigt wird er durch Ereignisse, die als Erfüllung der Verheißungen gesehen werden können (vgl. z. B. Apg. 9,31; 11,18; 15,30–35). Als Einsicht in den Heilsplan Gottes hat der Glaube bei Lukas eine stark noetische Funktion, denn er erkennt den Heilsweg Jesu als Verwirklichung des Heilswillens Gottes (vgl. Apg 2,22–24). Deshalb erscheinen pı´stiß/pisteu´ein häufig im Kontext von Konversionserzählungen (Apg 2,44; 4,4; 5,14; 8,12; 9,42; 11,21.24; 13,48; 14,1; 17,12.34; 18,8.27; 19,2–6.18), wobei die Reihenfolge ‚Verkündigung – Glaube als Annahme des Wortes – Taufe – Vergebung der Sünden – Geistempfang‘ den Idealfall darstellt (vgl. Apg 8,12f; 10,42–48; 18,8; 19,2–6). Der Glaube ist keinesfalls folgenlos, sondern ein rettendes Geschehen; sei es durch Wunder Jesu (Lk 8,48; Lk 17,19; vgl. ferner Lk 7,9; 8,12.25; 9,50; Apg 13,12; 14,9: Pauluswunder) oder die Verkündigung der Missionare (Apg 16,31). Charakteristisch ist dabei die Wendung v pı´stiß sou se´swke´n se (Lk 8,48; 17,19: „dein Glaube hat dich gerettet“; Apg 16,31: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet werden“). Rettendes Geschehen ist der Glaube nicht zuletzt aufgrund der mit ihm verbundenen Sündenvergebung. In Apg 10,43 wird die Sündenvergebung unmittelbar mit dem Glauben an Jesus Christus als Richter über Leben und Tod verbunden: „Für diesen legen alle Propheten Zeugnis ab, dass durch seinen Namen jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfangen soll“ (vgl. Apg 26,18; Lk 5,20). Sünde und Sündenvergebung
Das Sündenverständnis entspricht der Gesamtausrichtung lk. Anthropologie. Der Evangelist gebraucht bis auf eine Ausnahme (Apg 7,60) den Plural amartı´ai und signalisiert damit sein Verständnis: Sünden sind ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich 357. So gesteht der ‚verlorene Sohn‘ zweimal seinen unakzeptablen Le-
355 Treffend E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 104: „Was den Menschen rettungslos macht, ist sein Bemühen um Lebenssicherung:“ 356 Vgl. dazu J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil
(s. o. 8.4), 106–123; E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 113–120. 357 Vgl. J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil, 31 ff.
Lukas: Heil und Geschichte 467
benswandel mit den Worten ein: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“ (Lk 15,18.21). In der Erzählung von der ‚Sünderin‘ in Lk 7,36–49 werden ebenfalls unmoralische Handlungen mit ‚Sünden‘ bezeichnet, das Vater-Unser bezeichnet mit ‚Sünden‘ einzelne Verfehlungen (Lk 11,4) und Paulus verteidigt sich in Apg 25,7f mit dem Hinweis, er habe nicht gegen den Kaiser ‚etwas gesündigt‘, also nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen. Deshalb kann Lukas auch von den ‚Gerechten‘ sprechen, die sich durch ihr Verhalten von anderen Menschen unterscheiden (vgl. Lk 1,6; 2,25; 23,50f; Apg 10,2.4.22.31.35; 11,24; 22,12). Jesus ist nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder (Lk 5,32) und im Himmel herrscht mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte (Lk 15,7). Die Vergebung der Sünden gründet im Christusgeschehen (Apg 5,31) und vollzieht sich im Verhalten358, als eine Veränderung in der Grundausrichtung der Existenz und einem neuen Handeln. Bereits bei Johannes d. T. wird dies deutlich (vgl. Lk 1,77f; 3,3), denn auf seine Bußpredigt hin fragt das Volk: „Was also sollen wir tun?“ (Lk 3,10b) und es folgen konkrete Anweisungen (Lk 3,11–14). Zachäus gibt die Hälfte seines Besitzes den Armen und erstattet Erpresstes vierfach zurück, daraufhin wird ihm Heil zugesprochen. Die Parabeln vom Verlorenen (Lk 15,1–10: verlorenes Schaf/ verlorene Drachme; 15,11–32: verlorener Sohn) zeigen Gott als einen Suchenden, der den Sündern nachgeht und sie annimmt, wenn sie umkehren. Ebenso geht Jesus in das Haus des Zächäus (Lk 19,1–10), hat Gemeinsschaft mit ihm und nimmt ihn als Sünder an. Der Erhöhte selbst offenbart den Emmaus-Jüngern, dass in seinem Namen „Umkehr zur Vergebung der Sünden allen Völkern“ (meta´noian eiß afesin amartiw˜n eiß pa´nta ta` ehnv) verkündigt wird (Lk 24,47). Die Apostelgeschichte erzählt den Vollzug dieses Auftrages; idealtypisch fallen dabei Namensanrufung, Taufe, Sündenvergebung und Geistverleihung zusammen (Apg 2,38; vgl. ferner 3,19; 5,31; 10,43; 13,38; 22,16; 26,18). Ort dieses Geschehens ist die Bekehrung, wo sich die Korrektur und die Erkenntnis ereignen: Die Abkehr vom bisherigen Verhalten und die mit der Hinwendung zum wahren Gott verbundene Neuausrichtung (vgl. Lk 7,36–50; 19,110; 23,39–43; Apg 8,26–39; 13,7–12; 16,13–15). Lukas versteht die Bekehrung vornehmlich als einen Akt menschlicher Einsicht und Entscheidung, die jedoch darin nicht aufgeht, denn alles steht unter dem „willkommenen Jahr des Herrn“ (Lk 4,19; vgl. 1,77; 3,3) und ist in eine eschatologische Perspektive eingebettet (vgl. ferner Apg 3,16; 16,14 [über Lydia heißt es: „Ihr tat der Herr das Herz auf, so dass sie auf das von Paulus Gesagte acht hatte“]; 26,29)359. 358 Treffend F. BOVON, Lk I (s. o. 8.4), 247: „Ohne das heilsgeschichtliche Werk Jesu Christi ist die Vergebung unmöglich, aber ohne die menschliche meta´noia ist sie nicht zu verwirklichen.“ 359 Sehr stark betont J.-W. TAEGER, Der Mensch und sein Heil, 221, die menschliche Initiative: „Die Entscheidung, die angesichts der Verkündigung fällt –
darauf legt Lukas Wert –, wird dem Menschen nicht abgenommen; die Heilszusage ist an diese vorgängige Entscheidung gebunden.“ Anders CHR. STENSCHKE, Luke’s Portrait, 385–388, der die Bedeutung der Entscheidung nicht leugnet, aber sie „cannot be set against or replace salvation but needs to accompany and follow it“ (a. a. O., 388).
468 Sinn durch Erzählen
Das Gesetz
Die lk. Aussagen zum Gesetz sind vielschichtig. In Lk 1–2 werden alle Akteure als gesetzestreu dargestellt (vgl. Lk 2,22–24.27.39), Jesu Bestattung erfolgt nach dem Gesetz (Lk 23,56) und auch das harmonische Bild der Urgemeinde um den Tempel herum in Apg 1–5 zielt in diese Richtung. Stephanus und der lk. Paulus fügen sich ein; der Vorwurf der Gesetzeskritik gegenüber Stephanus wird ausdrücklich als unwahr bezeichnet (Apg 6,13f) und das jüdische Volk hat seinen Anspruch auf das Gesetz verloren, weil es Mose und die Propheten verstieß (Apg 7,53: „ihr, die ihr das Gesetz durch Anordnung von Engeln empfangen habt und es doch nicht gehalten habt“). Paulus erscheint so gesetzestreu wie kein zweiter; er beschneidet Timotheus (Apg 16,3) und nimmt das Nasiräat bewusst auf sich, um alle Vorwürfe gegen seine Person zu entkräften (vgl. Apg 21,20ff). Sowohl gegenüber dem jüdischen Volk (Apg 22,3.12) als auch gegenüber den römischen Machthabern (Apg 24,14) verteidigt Paulus seine Gesetzestreue. Generell gilt: „Ich habe mich weder gegen das Gesetz der Juden, noch gegen das Heiligtum noch gegen den Kaiser in irgendeiner Weise vergangen“ (Apg 25,8). Auch die Auslassung von Mk 7 unterstreicht den Gedanken der Kontinuität zum Judentum360. Das Leben kann im Halten der Gebote erlangt werden (Lk 10,28), wenn Besitzaufgabe und Nachfolge hinzutreten. Andererseits bleibt die Rettung an den Glauben gebunden (Lk 7,50; 8,48; Apg 16,31) und dem Gesetz kommt innerhalb der Ethik mit Ausnahme des Liebesgebotes keine eigenständige Bedeutung zu (s. u. 8.4.6), Gott selbst hebt den für die Tora fundamentalen Gegensatz ‚rein – unrein‘ auf (Apg 10,28; 11,9) und das Gesetz wird in Apg 13,38f unter deutlicher Aufnahme paulinischen Gedankengutes als soteriologisch defizitär bezeichnet: „So sei euch nun kundgetan, Brüder, dass durch diesen euch Vergebung der Sünden verkündigt wird; von allem, wovon ihr durch das Gesetz des Mose nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen jeder Glaubende gerechtfertigt.“ In Apg 15,10 verkündet Petrus angesichts der Beschneidungsforderung gegenüber Menschen griechisch-römischer Religiosität ein (merkwürdiges) Argument: „Warum versucht ihr also jetzt Gott und wollt den Jüngern ein Joch auf den Nacken legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten?“ Hier wird die Beschneidung stillschweigend vom Gesetz getrennt und als allgemein überwunden angesehen. Es folgt eine paulinisch klingende Kurzformel: „Vielmehr glauben wir, durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet zu werden, nicht anders als jene“ (Apg 15,11)361. 360 Diesen Aspekt hebt hervor: M. KLINGHARDT, Gesetz und Volk Gottes (s. o. 8.4), passim; zum lukanischen Gesetzesverständnis vgl. ferner H. MERKEL, Das Gesetz im lukanischen Doppelwerk, in: K. Backhaus u. a. (Hg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 119–133; H. KLEIN, Rechtfertigung aus Glauben als Ergänzung der Gerechtigkeit aus dem
Gesetz, in: K. Wengst u. a. (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage), Neukirchen 1998, 155–164. 361 Treffend F. HAHN, Theologie I, 573, im Anschluss an H. KLEIN: „Insofern ergänzt und übergreift die Rechtfertigung aus Glauben die Rechtfertigung aus dem Gesetz.“
Lukas: Heil und Geschichte 469
Wie lassen sich beide Aussagereihen zuordnen? Ein Erklärungsmodell bietet Lk 24,44, wo der Erhöhte den Emmaus-Jüngern sagt: „Alles muss erfüllt werden, was im Gesetz des Mose und bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben steht.“ Weil im Auftreten Jesu das Gesetz seine Erfüllung fand, kann Lukas im Rahmen seines Kontinuitätsdenkens dem so neu interpretierten Gesetz eine anhaltende Bedeutung zuerkennen. Das ‚Aposteldekret‘ (Apg 15,20.29; 21,25) liegt genau auf dieser Linie, indem es einen für Judenchristen, Gottesfürchtige und Menschen aus griechisch-römischer Religiosität akzeptablen Kompromiss unterhalb der Beschneidung formuliert362. Nicht zufällig versucht deshalb Paulus am Ende des Doppelwerkes den Juden in Rom „aus dem Gesetz und den Propheten“ (Apg 28,23) Jesus und das Reich Gottes nahezubringen. Gottesverwandtschaft
Der lk. Paulus vertritt in der Areopagrede (s. o. 8.4.1) eine Anthropologie, die bewusst Grundannahmen stoischen Denkens aufnimmt363, um so den kulturellen Standard des ‚neuen Weges‘ (Apg 19,23) hervorzuheben und Anschlussfähigkeit herzustellen. Die Vorstellung des ‚Gott-Suchens‘ in Apg 17,27 („damit sie Gott suchen sollten, ob sie ihn vielleicht ertasten oder finden könnten“) hat Parallelen in der griechischen Tradition (vgl. Plat, Apol 19b; Gorg 457d; Xen, Mem I 1,15). Mit einem abschließenden Dichterwort nimmt Lukas die natürliche Gottesverwandtschaft des Menschen in Apg 17,28 positiv auf: „Denn in ihm leben wir und bewegen wir uns und sind wir, wie denn auch einige von euren Dichtern gesagt haben: ‚wir sind ja seines Geschlechtes‘.“ In der griechischen (und später römischen) Philosophie und Theologie sind die Vorstellungen des Erkennens Gottes aus dem Seienden und einer daraus abzuleitenden Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch Grundannahmen des Wirklichkeitsverständnisses. Bereits Pythagoras wird der Ausspruch zugeschrieben, „die Menschen seien mit den Göttern verwandt“ (Diog L 8,27; vgl. ferner Plat, Leg X 899d; Cic, De Nat Deor II 33f; Tusc I 28.68f; Sen, Ep 41,1; Epict, Diss I 6,19; II 8,11; IV 1,104) und der mit Lukas fast zeitgleiche Dion von Prusa (um 40–120 n.Chr.) spricht davon, dass die Vorstellung vom Wesen der Götter allen Menschen gemeinsam sei. „Notwendig ist sie jedem vernunftbegabten Wesen von Natur aus (kata` fu´sin) eingepflanzt“, denn „sie resultiert aus der Verwandtschaft von Menschen und Göttern“ (Or 12,27). Dion betont, „da diese Menschen nicht weit weg oder außerhalb des Göttlichen für sich allein wohnten, sondern mitten in ihm oder, besser, in der Gemeinschaft mit ihm in Berührung kamen, konnten sie auf Dauer
362 Zum Aposteldekret vgl. J. WEHNERT, Die Reinheit
des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden: Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets, FRLANT 173, Göttingen 1997.
363 Zu beachten bleibt, dass diese Vorstellungen auch Einzug in das hellenistische Judentum gehalten haben; vgl. W. NAUCK, Die Tradition und Komposition der Areopagrede, ZThK 53 (1956), 11–52.
470 Sinn durch Erzählen
nicht ohne Einsicht bleiben, zumal sie das Vermögen, sich das Göttliche vorzustellen und zu begreifen, mitbekommen hatten“ (Or 12,28). Es entspricht dem (im Vergleich zu Paulus) optimistischen Menschenbild des Lukas, dass er mit der Möglichkeit einer vernunftgemäßen Erkenntnis Gottes rechnet. Dabei verleugnet er seinen christlichen Standort keineswegs, denn der Schöpfungs- und Auferstehungsglaube (Apg 17,30ff) bilden den Rahmen364. In diesem Rahmen gilt aber der Grundgedanke der Areopagrede für Lukas uneingeschränkt: Jeder Mensch ist mit Gott verwandt und er kann zur Erkenntnis Gottes gelangen. 8.4.6
Ethik
H. J. DEGENHARDT, Lukas – Evangelist der Armen, Stuttgart 1965; W. SCHMITHALS, Lukas – Evangelist der Armen, ThViat XII (1973/74), 153–167; L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (s. o. 8.4), 89–153; E. LOHSE, Das Evangelium für die Armen, ZNW 72 (1981), 51–64; F. W. HORN, Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas (s. o. 8.4); W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 156–168; S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 446–484; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft II (s. o. 6.6), 134–147; H.-J. KLAUCK, Die Armut der Jünger in der Sicht des Lukas, Clar 26 (1986), 5–47; D.A. AYUCH, Sozialgerechtes Handeln als Ausdruck einer eschatologischen Vision. Vom Zusammenhang von Offenbarungswissen und Sozialethik in den lukanischen Schlüsselreden, MThA 54, Altenberge 1998; K. MINESHIGE, Besitzverzicht und Almosen bei Lukas, WUNT 2.163, Tübingen 2003; V. PETRACCA, Gott oder das Geld. Die Besitzethik des Lukas, TANZ 39, Tübingen 2003.
Die Ethik ist in das Ursprungs- und Kontinuitätsdenken des Lukas eingebettet und für das Denken des Evangelisten von zentraler Bedeutung, wie die wiederkehrende Frage „Was sollen wir tun/Was soll ich tun?“ in Lk 3,10; 10,25; 16,3; 18,18; Apg 2,37; 16,30) signalisiert. Das Vorherrschen ethischer Motive im Evangelium und ihr Zurücktreten in der Apostelgeschichte zeigen, dass Lukas die ethische Forderung in der Ursprungs- und Anfangszeit verankert, d. h. konkret im Auftreten Jesu und im Leben der Urgemeinde365. Dabei orientiert er sich vor allem an drei Problemfeldern, die sich durch die erfolgreiche beschneidungsfreie Mission in Kleinasien und Europa fast zwangsläufig ergaben. Reichtum und Armut in der Gemeinde
Um die Jahrhundertwende gehörten Angesehene und Vermögende zum Kreis der christlichen Gemeinde (vgl. Apg 17,4; 18,8), der rechte Umgang mit Geld und Besitz 364 Theologisch wird man der Areopagrede nicht gerecht, wenn der historische Paulus als Gradmesser der Wahrheit im Hintergrund steht (so in seiner sonst vorbildlichen Analyse auch J. ROLOFF, Apg [s. o. 8.4], 267: „das Kreuz bleibt dabei völlig ausgeblendet“) oder Lukas im Rahmen einer dezidiert juden-
christlichen Argumentation von allem ‚Heidentum‘ ferngehalten werden soll; so K. LÖNING, Das Evangelium und die Kulturen (s. u. 8.4.7), 2632–2636; J. JERVELL, Apg (s. o. 8.4), 452 ff. 365 Vgl. F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 35.
Lukas: Heil und Geschichte 471
entwickelte sich so zu einem zentralen Problem der lk. Ethik (vgl. Lk 3,11; Apg 2,45; 4,34–37). Die Reichen in der Gemeinde waren selbstgerecht und habgierig (vgl. Lk 12,13–15; 16,14f), sie verachteten die Armen (vgl. Lk 18,9) und standen in der Gefahr, durch ihr Streben nach Reichtum vom Glauben abzufallen (vgl. Lk 8,14; 9,25). Diesen negativen Erscheinungen innerhalb seiner Gemeinde begegnet Lukas mit einer vielschichtigen Argumentation. Bereits Johannes d. T. steht im Dienst einer ethischen Konzeption, wie die Standespredigt in Lk 3,10–14 zeigt366. Lukas überführt die Forderung nach meta´noia („Buße/Umkehr“) in den ethischen Bereich und fordert „Früchte, die der Umkehr entsprechen“ (Lk 3,8). Die Übernahme der Bußtaufe realisiert sich in einem neuen Lebenswandel, der von der dreimaligen Frage „Was sollen wir tun“ (Lk 3,10.12.14) ausgeht und in V. 10f ein großzügiges Geben nahelegt, während in V. 12–14 den Zöllnern und Soldaten das unrechtmäßige Nehmen untersagt wird. In der Feldrede (Lk 6,20–49) interpretiert Lukas das Gebot der Nächstenund Feindesliebe im Sinne seiner Wohltätigkeitsethik. Er lehnt auf Gegenseitigkeit aufgebautes Verhalten ab (Lk 6,32–34) und bietet ein anderes Modell an: „Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, wo ihr nichts zurückerhofft. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lk 6,35). In den thematischen Blöcken Lk 12,13– 34; 16,1–31 problematisiert der Evangelist umfassend den Reichtum, denn das Leben findet seinen Sinn nicht im Besitz (vgl. Lk 12,15), Gewinnsucht und Geldgier entsprechen nicht dem Willen Gottes (vgl. Lk 12,15; 16,14). Auch in den Erzählungen vom Jüngerrangstreit (Lk 9,46–48; 22,24–27) und vom Gastmahl (Lk 14,7–24) wird die Haltung der reichen Christen kritisiert. Ruf in die Nachfolge und Besitzverzicht bedingen einander (vgl. Lk 5,11.28; 8,3; 9,3; 10,4; 18,28), wobei Lk 14,33 geradezu programmatisch formuliert: „So kann nun keiner von euch, der nicht allen seinen Besitztümern den Abschied gibt, mein Jünger sein.“ Die Forderung zur Distanz gegenüber dem Besitz wird mit der Bereitschaft verknüpft, Almosen zu geben (vgl. Lk 11,41; 12,21.33f; 16,9.27–31). Auf den Evangelisten geht die programmatische Forderung in Lk 12,33a zurück: „Verkauft euren Besitz und gebt Almosen!“ So ist der Ruf in die Nachfolge beim reichen Vorsteher (Lk 18,18–23) mit der Aufforderung verbunden, alles (pa´nta nur in der Lk-Parallele 18,22!) zu verkaufen und es den Armen zu geben. „Denn es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Reich Gottes hineinzugehen“ (Lk 18,25). Dabei hält Lukas an der Freiwilligkeit der Gaben (vgl. Apg 5,4) nach den Möglichkeiten des Einzelnen (vgl. Apg 11,29) fest. Die ebionitischen Traditionen (Lk 1,46–55; 6,20–26; 16,19–26), die ursprünglich eine göttliche Umkehrung der Verhältnisse im Jenseits proklamierten, werden bei Lukas zu einem Aufruf zu menschlicher Umkehr in der Gegenwart.
366 Zur Analyse vgl. F.W. HORN, a. a. O., 91–97.
472 Sinn durch Erzählen
Den Spannungen innerhalb seiner Gemeinde stellt der Evangelist die Urgemeinde als freiwillige Liebesgemeinschaft gegenüber367. Sie verzichtete auf den Besitz zugunsten Notleidender (Apg 2,45; 4,34) und nutzte das Privateigentum gemeinschaftlich (Apg 4,32). In Apg 2,45 heißt es über die Rolle der Apostel beim Verkauf und der Verteilung der Güter: „Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie unter alle aus, je nachdem wie es einer nötig hatte.“ Weitere Differenzierungen erfolgen im zweiten Summarium; wie zuvor in Apg 2,44 wird in 4,32 das antike Freundschaftsideal des aÇpanta koina´ („alles gemeinsam haben“) aufgenommen368, aber erst jetzt erfahren die Hörer/Leser, dass Mitglieder der Urgemeinde Äcker und Häuser besaßen (vgl. Apg 4,34). In Apg 4,36f wird eine Einzeltradition über der Verkauf eines Ackers durch Barnabas erwähnt, dessen Erlös er ebenfalls den Aposteln übergab. Die gedanklichen Aporien der Summarien sind offenkundig: 1) Wirtschaftlich ist das Verhalten der Urgemeinde unsinnig, denn durch den Verkauf ihres Besitzes verlieren sie ihre wirtschaftliche und soziale Existenzgrundlage. 2) Das von Lukas geschilderte Bild der Urgemeinde ist widersprüchlich, denn die Geschichte von Ananias und Saphira in Apg 5,1–11 setzt voraus, dass nicht ‚alle alles gemeinsam‘ hatten und dies auch nicht erwartet wurde. 3) Das Nebeneinander von generellen Aussagen über den Verkauf allen Besitzes und des Einzelfalls Barnabas lässt erkennen, dass Lukas Einzelfälle generalisiert hat. 4) Paulus setzt in seinen Gemeinden ganz selbstverständlich Privatbesitz voraus. Sollte es die Gütergemeinschaft in Jerusalem in der beschriebenen Weise je gegeben haben, so hätte sie keine Nachfolger gefunden. Aus diesen Beobachtungen ist der Schluss zu ziehen, dass Lukas Einzelfälle von Besitzverkauf zugunsten der Urgemeinde verallgemeinert hat. Darauf weist insbesondere die Erwähnung des Barnabas in Apg 4,36f hin, denn sie wäre nicht sinnvoll, wenn Barnabas nur das getan hätte, was ohnehin alle taten. Wahrscheinlich wurden die Erlöse vereinzelter Haus- oder Grundstücksverkäufe von den Aposteln in der Gemeinde je nach Bedürftigkeit der Gemeindeglieder verteilt. Wie lassen sich bei Lukas Sorge um und Kritik an den Reichen (Lk 1,53; 6,24f; 8,14; 12,13–21; 14,15–24; 16,14 f.19–31), die Verheißungen an die Armen (Lk 1,53; 4,18f; 6,20f; 7,22), und sein Aufruf zu Besitzverzicht (Lk 5,11.28; 12,33f; 14,33; 18,18–30) und Wohltätigkeit (Lk 3,10f; 6,33–38; 8,1–3; 16,9; 19,1–10; 21,1–4) miteinander verbinden? Lukas wendet sich mit seiner Paränese vorwiegend an die Reichen
367 Vgl. hierzu H.-J. KLAUCK, Gütergemeinschaft in
der klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Testament, in: ders., Gemeinde – Amt – Sakrament, Würzburg 1989, 69–100; G. THEISSEN, Urchristlicher Liebeskommunismus, in: Texts and Contexts (FS L. Hartmann), hg. v. T. Fornberg/D. Hellholm, Oslo 1995, 689–712; F. W. HORN, Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde, EvTh 58 (1998), 370–383. 368 Als antike Parallelen vgl. u. a. Diog L 8,10; Jambl,
Vit Pyth 168f (Pythagoras als Stifter der Idee); Diog L 6,72 (der Kyniker Diogenes); Plat, Resp V 462a; Arist, Eth Nic 1159a.1168b; Cic, Off I 51; Philo, Omn Prob Lib 75–91; Jos, Bell II 119–161; zur Diskussion und Interpretation vgl. B. H. MÖNNING, Die Darstellung des urchristlichen Kommunismus nach der Apostelgeschichte des Lukas, Diss. theol., Göttingen 1978.
Lukas: Heil und Geschichte 473
in seiner Gemeinde und ruft sie angesichts der Gefahr des Glaubensabfalls zur Distanz zum Reichtum auf. Er kann weder einseitig als ein ‚Evangelist der Reichen‘ noch als ‚Evangelist der Armen‘ bezeichnet werden, sondern er ist ‚Evangelist der Gemeinde‘369. Sein Ziel ist nicht die kompromisslose Kritik der Reichen, sondern die Realisierung einer Liebesgemeinschaft zwischen Armen und Reichen der Gemeinde, deren Voraussetzung die Bereitschaft zu Almosen auf Seiten der Reichen ist370. Lukas schrieb insofern ein Evangelium an die Reichen für die Armen. „Der Evangelist wendet sich vorwiegend an vermögende Christen seiner Gemeinde, an ihre fehlende Wohltätigkeit und ihre Überheblichkeit, kritisiert ihr Insistieren auf einer Gegenseitigkeitsethik und zeigt in einem vorbehaltlosen Geben, Gutes Tun und Schenken den gebotenen Weg.“371 Christliche Existenz findet nicht im Reichtum und Überfluss ihr Ziel, sondern in der Bereitschaft zum Liebesdienst am Nächsten. Dabei dienen Lukas der Besitzverzicht der Jünger Jesu und die Jerusalemer Urgemeinde ebenso als Vorbilder wie der römische Symphatisant Kornelius, dessen ‚Gebete und Almosen vor Gott‘ ausdrücklich zweimal genannt werden (Apg 10,4.31). Diese Unbedingtheit der Nachfolge und eine praktizierte Liebesgemeinschaft sollen auch in der lk. Gemeinde Gestalt gewinnen. Indem der Evangelist die Kirche als Liebesgemeinschaft darstellt, knüpft er an die Forderungen Jesu an, die er Paulus in der Abschiedsrede von Milet als Vermächtnis an die Kirche Apg 20,35 so zusammenfassen lässt: „Geben ist seliger als nehmen“. Das Verhältnis der Christen zum Staat
Lukas schildert die Begegnungen zwischen Jesus (und Paulus) mit den Vertretern des Staates bereits im Hinblick auf die Situation der Kirche im Römischen Reich372. 369 Vgl. F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 243. 370 F. W. HORN, Glaube und Handeln, 231 u. ö., sieht in der Almosenparänese an die Reichen die sozialethische Konzeption des Lukas; demgegenüber sprechen L. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth, 150, vom innergemeindlichen Besitzausgleich als dem sozialen Ziel des Lukas. K. MINESHIGE, Besitzverzicht und Almosen bei Lukas, 263f, ordnet die Thematik in das lukanische Geschichtsdenken ein: „Lukas denkt an drei verschiedene Zeiträume: die Zeit Jesu, die Anfangszeit der Kirche und seine eigene Zeit. Für die Zeit Jesu gilt der Besitzverzicht. Die ersten Jünger Jesu haben also bei der Nachfolge Jesu ihren ganzen Besitz verlassen. Solcher Besitzverzicht wird jedoch zur Zeit der Kirche nicht mehr verlangt. Für die Anfangszeit der Kirche gilt statt dessen die Gütergemeinschaft. . . . Im Unterschied dazu wird zur Zeit des Lukas weder der Besitzverzicht noch die Gütergemeinschaft mehr gefordert. Die Christen sei-
ner Zeit, bzw. seine Leser werden vielmehr dazu aufgefordert, die armen Gemeindemitglieder durch freiwillige Spenden zu unterstützen.“ V. PETRACCA, Gott oder das Geld, 354, sieht das für Lukas zentrale Thema der Rettung der Verlorenen auf zweierlei Weise in der Besitzthematik konkretisiert: „Die Suche der Verlorenen führt zum einen zur Rettung der Armen und Außenseiter. Zum anderen ermöglicht sie die Rettung der Reichen und Geachteten, wie sie sich als Ausdruck ungeteilter Gotteshingabe, statt nach Besitz und Sozialprestige zu streben, um die Armen und Außenseiter kümmern.“ 371 F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 107. 372 Die Literatur zum Thema ist sehr umfangreich; vgl. G. SCHNEIDER, Verleugnung, Verspottung und Verhör Jesu nach Lukas 22,54–71, StANT 22, München 1969; W. RADL, Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk (s. o. 8.4.2); W. WALASKAY, ‚And So We Came to Rome‘. The Political Perspective of St. Luke, SNTSMS 49, Cambridge 1983; PH. F. ESLER,
474 Sinn durch Erzählen
Dabei ist auf der kompositionellen Ebene besonders die Parallelität zwischen dem Verhör Jesu (Lk 22,1–23,56) und dem langwierigen Prozessverfahren gegen Paulus von seiner Festnahme in Jerusalem bis zur Ankunft in Rom (Apg 21,15–28,31) auffällig. Im Prozess Jesu vor Pilatus wird der dreimaligen jüdischen Anklage, die Jesus in den Kontext des Zelotismus stellen will (vgl. Lk 23,2.5.14)373, die dreimalige Unschuldserklärung des Pilatus gegenübergestellt (vgl. Lk 23,4.14 f.22). Dreimal kündigt Pilatus seine Absicht an, Jesus freizulassen (Lk 23,16.20.22), um sich dann doch vom Geschrei der Synhedristen und des Volkes von seinem Plan abbringen zu lassen. Auffallend ist, dass nach der lk. Darstellung auch der römerfreundliche Herodes Antipas die Schuldlosigkeit Jesu feststellt (Lk 23,15; vgl. zuvor 9,7–9), ebenso der Mitgekreuzigte (Lk 23,41) und der römische Hauptmann (Lk 23,47). So erscheinen allein die jüdischen Führer und das Volk für Jesu Tod verantwortlich, wobei die Ironie darin liegt, dass der tatsächlich für Aufstand und Mord verantwortliche Barabbas freigelassen (Lk 23,18f), der unschuldige Jesus von Nazareth hingegen gekreuzigt wird. Lukas verfolgt mit dieser Darstellung offensichtlich die Tendenz, die Römer und die mit ihnen Verbündeten (Herodes Antipas) zu entlasten und die Juden zu belasten. Dieselbe Tendenz lässt sich beim Prozess gegen Paulus beobachten374. Paulus wird als ein gerechter römischer Bürger dargestellt (vgl. Apg 25,8), dessen römisches Bürgerrecht von den staatlichen Instanzen akzeptiert wird (Apg 16,37ff; 22,25ff), die ihn schließlich den Juden entreißen (vgl. Apg 23,10.27) und ihm in Rom Hafterleichterung gewähren (Apg 28,30f). Beispielhaft demonstriert Lukas auch an Paulus, „daß die christliche Verkündigung das Imperium nicht tangiert.“375 Nicht der römische Staat verfolgt Paulus, sondern die Juden (vgl. Apg 13,50; 17,5–7.13; 21,27ff). Sie gehen mit ungesetzlichen Maßnahmen gegen Paulus vor (vgl. Apg 23,12–15; 25,3) oder wenden sich an den Staat (vgl. Apg 18,12ff; 24,1ff; 25,5), werden aber dort stets abgewiesen. Der Staat muss aus lk. Sicht zwar gegen Frevel und Verbrechen vorgehen, es ist aber nicht seine Aufgabe, sich in religiöse Streitfragen einzumischen (vgl. Apg 18,12–17). Deshalb besteht sowohl für Gallio (Apg 18,15) als auch für Festus (Apg 25,18.25) kein Grund, Paulus anzuklagen. Nach römischem Recht war Paulus unschuldig und musste eigentlich freigelassen werden (vgl. Apg 25,25; 26,31f), und nur Korruption und Versagen der römischen Behörden (vgl. Apg 24,26f; 25,9) zwangen Paulus zur
Community and Society in Luke-Acts, SNTSMS 57, Cambridge 1987; W. STEGEMANN, Zwischen Synagoge und Obrigkeit (s. o. 8.4); M. WOLTER, Die Juden und die Obrigkeit bei Lukas, in: Ja und Nein (FS W. Schrage), hg. v. K. Wengst/G. Sass, Neukirchen 1998, 277–290; F.W. HORN, Die Haltung des Lukas zum römischen Staat im Evangelium und in der Apostelgeschichte, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts (s. o. 8.4), 203–224; M. MEISER, Lukas und die römische Staatsmacht, in: Zwischen den
Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft, hg. v. M. Labahn/J. Zangenberg, TANZ 36, Tübingen 2002, 175–193. 373 Vgl. F. W. HORN, Die Haltung des Lukas, 205. 374 Vgl. hierzu bes. B. RAPSKE, The Book of Acts and Paul in Roman Custody, The Book of Acts in its First Century Setting 3, Grand Rapids 1994; H. OMERZU, Der Prozeß gegen Paulus, BZNW 115, Berlin 2002. 375 H. CONZELMANN, Apg (s. o. 8.4), 12.
Lukas: Heil und Geschichte 475
Appellation an den Kaiser. In Rom darf Paulus sich relativ frei bewegen und verkündigen, nicht zufällig ist das letzte Wort des Doppelwerkes akwlu´twß („ungehindert“). Eine römerfreundliche Sicht zeigt sich auch an anderen Stellen des Doppelwerkes. Die Eltern Jesu befolgen anstandslos die kaiserlichen Edikte (Lk 2,1.5), Johannes der Täufer leitet in seiner Standespredigt (Lk 3,10–14) Militär und Verwaltung zu einem gerechten Verhalten an, der Hauptmann unter dem Kreuz ‚preist Gott‘ (Lk 23,47) und der erste bekehrte Heide ist ein römischer Hauptmann (Apg 10). Die Tendenz der lk. Darstellung ist deutlich: Die Führer der Juden und das Volk sind die Verfolger Jesu bzw. der Christen schlechthin (Mk 15,16–20 entfällt bei Lukas, vgl. ferner Apg 13,50; 17,5–7.13; 21,17ff), während sich bei Übergriffen der Juden die römischen Behörden vor die Christen stellen und sie schützen (Apg 19,23– 40; 23,29; 25,25; 26,31). Die Römer und die mit Rom verbündete Herodesfamilie werden positiv, die Juden hingegen negativ dargestellt. Was sind die Gründe für diese (apologetische)376 Konstruktion? Lukas will offenbar seiner Gemeinde den Freiraum gegenüber dem Staat erhalten, den sie zur Ausübung ihrer Gottesdienste und zur praktischen Gestaltung des Gemeindelebens braucht. Möglichen Übergriffen des Staates begegnet er mit dem Nachweis, dass sich die Christen gegenüber der Obrigkeit loyal verhalten und für den Staat keine Gefahr darstellen. Nach den Ereignissen beim Brand von Rom 64 n.Chr. und der anhaltenden Agitation von jüdischer Seite versucht Lukas, den Standort seiner Gemeinde in der Gesellschaft zu bestimmen377. Dabei setzt er keine akute Verfolgungssituation voraus378, vielmehr ergeht sein Aufruf zum offenen Bekenntnis (vgl. Lk 12,1–12)379 angesichts lokaler jüdischer Repressionen (vgl. Apg 13,45.50; 14,2.5.19; 16,19ff; 17,5 f.13; 18,12.17; 19,9.23–40) und der Gefährdung der Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Synagoge und römischen Instanzen. Bemerkenswert ist, dass Lukas nicht damit argumentiert, das Christentum sei das bessere Judentum und müsse unter Schutz gestellt werden. Für den Evangelisten ist das Christentum eine eigenständige und politisch loyale Größe. Die neue 376 Der Begriff der Apologetik (vgl. vor allem H. CONZELMANN,
Mitte der Zeit [s. o. 8.4], 128–139) ist angesichts des exegetischen Befundes unausweichlich, zugleich aber nicht hinreichend, um die lukanische Position zu beschreiben. Zur Schilderung rechtlich relevanter Positionen und die damit verbundene Betonung des Rechtes bei Lukas vgl. L. BORMANN, Die Verrechtlichung der frühesten christlichen Überlieferung im lukanischen Schrifttum, in: Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World (FS D. Georgi), NT.S 74, Leiden 1994, 283–311. 377 Anders M. WOLTER, Die Juden und die Obrigkeit bei Lukas, 289, wonach die lukanischen Aussagen nicht im Dienst irgendeiner Apologetik stehen, „sei es zugunsten der Christen gegenüber dem römi-
schen Staat, sei es zugunsten des römischen Staates gegenüber den Lesern des lukanischen Doppelwerkes. Die einzelnen Episoden werden vielmehr durchgängig auf die Relation der erzählerischen Hauptfiguren zu den Juden bzw. zum Judentum hin orientiert, und Lukas stellt sie seinen christlichen Lesern als Bestandteil des christlich-jüdischen Trennungsprozesses dar, der das Nebeneinander von heidenchristlich geprägter Kirche und dem Judentum zur Folge hatte.“ 378 Von einer Verfolgungssituation geht W. SCHMITHALS in mehreren Veröffentlichungen aus; zur Kritik vgl. F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 216– 220. 379 Vgl. dazu bes. die Analysen von W. STEGEMANN, Zwischen Obrigkeit und Synagoge, 40–90.
476 Sinn durch Erzählen
Bewegung erscheint sogar als neue potentielle Elite, denn ihre führenden Vertreter handeln stets ethisch und politisch korrekt. Das lk. Interesse am für antikes Denken konstitutiven Verhältnis von Recht und Religion hat aber auch noch eine andere Dimension: „Lukas nimmt den Blick von außen auf. Er erschließt so die Jesustradition den Lesern der römisch- und griechisch-hellenistischen Welt im weitesten Sinn, sei es der hellenisierte Jude, der Grieche oder der mit den Vorstellungen der hellenistischen Welt vertraute Römer.“380 Für antike Hörer/Leser wurden die Texte so nicht nur mit interessanten und spannenden Details angereichert, sondern Lukas weist sich als ein Kenner der politischen, rechtlichen und religiösen Welt aus. All diese Interessen hindern den Evangelisten freilich nicht daran, auch kritische Worte zu überliefern (vgl. Lk 3,19; 13,32f: Herodes Antipas als Gegner des Täufers und Jesu; Lk 13,1: Bluttat des Pilatus) und Petrus in Apg 5,29 sagen zu lassen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Lukas weiß um die Ambivalenz der Staatsmacht, denn nur bei ihm tritt der Teufel in der Versuchungsgeschichte in deutlicher Analogie zum römischen Kaiser auf (Lk 4,6: „Und der Teufel sprach zu ihm: Dir werde ich ihre Pracht und all diese Macht geben, denn mir ist sie übergeben, und ich gebe sie, wem ich will“)381. Beispielhaftes Leben
Auch bei Lukas sind die Weisungen transparent für die aktuelle Situation der Gemeinde, d. h. bereits im Evangelium ist die Zeit der Kirche immer schon präsent. Zuallererst demonstriert der 3. Evangelist an Jesus, wie christliches Leben gelingt und aussieht. Jesu Weg in die Passion hat Vorbildcharakter: „Denn wer ist größer – einer, der zu Tisch liegt, oder einer, der dient? Etwa nicht einer, der zu Tisch liegt? Ich bin mitten unter euch wie einer, der dient“ (Lk 22,27). Die Motive der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind die Grundlage der gesamten Ethik, wie das Wesen Gottes (Lk 6,36: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“) und das vorbildhafte Verhalten von Zacharias (Lk 1,72.74f), der Frau (Lk 7,47) und Zachäus (Lk 19,8f) zeigen. Deshalb ist es kein Zufall, dass sich alle Beispielerzählungen im NT bei Lukas finden382. Die Erzählungen vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–21), vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37), vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31) und vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14) sind Modelle falschen und richtigen Verhaltens und sollen die Gemeinde unmittelbar motivieren, sich barmherzig über Grenzen hinweg zu verhalten, das Leben nicht auf den Besitz zu gründen und wirkliche Demut gegenüber Gott und dem Nächsten zu üben. Rechte Demut, Selbsterniedrigung (Lk
380 L. BORMANN, Recht, Gerechtigkeit und Religion
(s. o. 8.4), 358. 381 Vgl. dazu P. MIKAT, Lukanische Christusverkündigung und Kaiserkult. Zum Problem der christlichen Loyalität gegenüber dem Staat, in: ders., Reli-
gionsgeschichtliche Schriften II, Berlin 1974, 809– 828. 382 Zu den Beispielerzählungen vgl. K. ERLEMANN, Gleichnisauslegung (s. o. 3.4.3), 81 f.
Lukas: Heil und Geschichte 477
9,46–48; 14,7–11; 18,9–14) und Warnung vor Habsucht gehören für Lukas zusammen (vgl. Lk 1,51f; 18,9ff; 22,24ff)383. Mit dieser Grundeinstellung verbinden sich das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,26f), die Dekaloggebote (Lk 18,20) und die atl. Überlieferung (Lk 16,29.31: Mose und die Propheten). Die Jünger sind aufgerufen, sich anständig zu verhalten (Lk 3,12–14), Hab und Gut zu teilen (Lk 3,10–12), denen zu geben, die bitten (Lk 6,30), nicht zu richten (Lk 6,37) und einander die Schuld zu vergeben (Lk 6,37b: „Lasst frei, und ihr werdet freigelassen“). Im Verzicht auf jegliche Ansprüche für die eigene Person gleichen sich die Jünger ihrem Meister an und folgen ihm nach (vgl. Lk 21,12.17). Indem Lukas die Worte von der Selbstverleugnung, vom Kreuztragen und der Nachfolge an ‚alle‘ spricht und dem Wort vom Kreuztragen ein ‚täglich‘ hinzufügt (Lk 9,23), verbindet er die Passion mit der Bewährung des Glaubens im Alltag. Dem Glauben muss das Handeln, dem Reden das Tun entsprechen, denn das Jüngersein trägt Früchte (Lk 6,46: „Was nennt ihr mich Herr, Herr!, und tut nicht, was ich sage“). In Kontinuität zu Jesus kann der nachösterliche Weg des Einzelnen und der Gemeinde nur ein Weg des Dienens und Leidens sein.
8.4.7
Ekklesiologie
J. JERVELL, Das gespaltene Israel und die Heidenvölker, StTh 19 (1965), 86–96; H. FLENDER, Die Kirche in den Lukas-Schriften als Frage an ihre heutige Gestalt, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium (s. o. 8.4), 261–286; W. ELTESTER, Israel im lukanischen Werk und die Nazarethperikope, in: W. Eltester u. a. (Hg.), Jesus von Nazareth, BZNW 40, Berlin 1972, 76–147; S.G. WILSON, The Gentiles and the Gentile Mission in Luke-Acts, SNTSMS 23, Cambridge 1973; G. LOHFINK, Die Sammlung Israels, StANT 39, München 1975; J. ROLOFF, Die Paulusdarstellung des Lukas, EvTh 39 (1979), 510–531; F. BOVON, Aktuelle Linien lukanischer Forschung, in: ders., Lukas in neuer Sicht (s. o. 8.4), 9–43; DERS., Israel, die Kirche und die Völker im lukanischen Doppelwerk, a. a. O., 120–138; K. LÖNING, Das Evangelium und die Kulturen. Heilsgeschichtliche und kulturelle Aspekte kirchlicher Realität in der Apostelgeschichte, ANRW 25.3, Berlin 1985, 2604–2646; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 190–221.
Auch die Ekklesiologie ist bei Lukas ein zentraler Bestandteil seiner heilsgeschichtlichen Perspektive, denn er sieht die Kirche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Handeln Gottes in der Geschichte. Der Evangelist will aufzeigen, wie sich die Kirche durch das Zeugnis der Boten Jesu entwickelte und in ungebrochener Kontinuität zur Geschichte Jesu steht384. Grundlegend dafür ist der Übergang von der Passions- und Ostergeschichte zur Zeit der Kirche: Der zum Himmel Auffahrende spendet nach Lk 24,47–49; Apg 1,8 den Aposteln den Geist, der die Ermöglichung 383 Vgl. hier F. W. HORN, Glaube und Handeln (s. o. 8.4), 204–215. 384 Vgl. E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 120:
„Der Weg Jesu wird als Geschichte begriffen, die es allen Menschen gegenüber zu bezeugen gilt, damit sie umkehren können und ihnen vergeben wird.“
478 Sinn durch Erzählen
der Verkündigung der Heilsbotschaft in aller Welt ist, d. h. das missionarische Wirken und die Sammlung der endzeitlichen Heilsgemeinde stehen unter der Voraussetzung des anhaltenden Wirkens des Erhöhten durch den Heiligen Geist (s. o. 8.4.3). Der Empfang des Geistes vollzieht sich in der Taufe (Apg 2,38), so dass nun die Glaubenden wie Jesus selbst (Lk 4,18) von der Kraft Gottes erfüllt sind und geführt werden385. Darüber hinaus ist das Mahl mit Jesus der Ort bleibender Verbindung, denn wie der Irdische zum Mahl einlud und sich mit einem Mahl verabschiedete (vgl. Lk 9,16 mit 22,16), gibt sich der Erhöhte mit einem Mahl zu erkennen (Lk 24,30) und manifestiert sich die Einheit der Gemeinde in der eucharistischen Feier (Apg 2,42)386. Im Rahmen dieser Konzeption stellt Lukas alle ihm wesentlichen Ereignisse und Episoden dar, die der heilsgeschichtlichen Kontinuität und seinem Einheitsdenken entsprechen, während er Geschehnisse umdeutet oder auslässt, die diesen Linien zu widersprechen scheinen. Die Kirche als Gottes Volk
Basis der lk. Ekklesiologie ist die Vorstellung der Sammlung der Kirche als Volk Gottes387. Für Lukas ist die Entstehung der Kirche ein heilsgeschichtlicher Prozess, der sich durch Gottes Handeln vollzieht und in der durchhaltenden Kontinuität zu Israel als des Volkes Gottes seine Mitte hat (s. o. 8.4.1). Die Heilsverkündigung gilt Israel und vollzieht sich in Israel, zugleich kommt es aber innerhalb von Israel zu einer Scheidung, die bereits in der Vorgeschichte thematisiert wird und in der Passionsgeschichte ihren Höhepunkt findet. Auch nach der Ablehnung der Evangeliums durch einen großen Teil Israels und dem Hinzukommen der Heiden bleibt die Kirche das endzeitliche und vollendete Israel, allerdings als Israel aus Heiden und Juden. Faktisch behauptet Lukas damit einen Selbstausschluss großer Teile des jüdischen Volkes aus dem Gottesvolk (s. o. 8.4.1). Pfingsten
Sichtbar tritt das endzeitlich gesammelte Gottesvolkes unter der Führung des Geistes zu Pfingsten in Erscheinung (Apg 2)388, wobei dieses Geschehen nicht einen völligen Neuanfang, sondern die spektakuläre Erfüllung atl. Verheißungen darstellt. Der Geist wird dem gesamten Gottesvolk gegeben, auch den jetzt noch außerhalb Israels stehenden Heiden. Die Sammlung des Gottesvolkes verläuft nach Lukas als ein Geschehen in zwei Phasen, die beide vom Geist bestimmt werden und Erfüllungscharakter 385 Zu den Taufaussagen der Apostelgeschichte vgl. F. AVEMARIE, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte, WUNT 139, Tübingen 2002. 386 Vgl. hierzu H. SCHÜRMANN, Der Abendmahlsbericht Lk 22,7–38 als Gottesdienstordnung, Gemeindeordnung, Lebensordnung, in: ders., Ursprung und Gestalt, Düsseldorf 1970, 108–150; J. WANKE, Beobachtungen zum Eucharistieverständnis des Lukas
auf Grund der lukanischen Mahlberichte, EThSt 8, Leipzig 1973; W. BÖSEN, Jesusmahl. Eucharistisches Mahl. Endzeitmahl. Ein Beitrag zur Theologie des Lukas, SBS 67, Stuttgart 1980. 387 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 192–206. 388 Zu Pfingsten vgl. J. KREMER, Pfingstbericht und Pfingstgeschehen, SBS 63/64, Stuttgart 1973.
Lukas: Heil und Geschichte 479
haben. Im Zentrum der Gründungsphase steht die Jerusalemer Urgemeinde: Lukas schildert ihre Anfangszeit als Epoche der Einheit, einer Einheit im Gebet, in der Eucharistie, in der Lehre und im Handeln. Auch die Darstellungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Urgemeinde stehen unter dem Motiv der Einheit, die Summarien Apg 2,42–46; 4,32–35 unterstreichen dies nachdrücklich. Lukas will damit zeigen, dass die vom Geist geleiteten Apostel wirklich Israel gesammelt haben. Am Ende dieser Sammlungsphase verwendet Lukas in Apg 5,11 erstmals das Wort ekklvsı´a („Kirche“). Die Zentrierung auf Israel wird dann in einer weiteren Phase durch das Hinzukommen der Heiden erweitert, wobei die ‚Gottesfürchtigen‘ (vgl. Apg 13,16.26.43.50; 16,14; 17,4.17; 18,7.13; 19,27) eine ganz besondere Rolle spielen, wie z. B. der Hauptmann Cornelius (Apg 10,2.22.35)389. Innerhalb dieser Phase bleibt die Anfangszeit in Apg 1–5 immer im Blick, nun aber erscheinen die Juden unter einem anderen Aspekt, denn sie wenden sich immer mehr gegen die Verkündigung und werden so zu Feinden des Gottesvolkes (vgl. Apg 12,1–5; 13,45; 14,4.19; 17,5.13; 18,6; 21,27). Diese Sicht des Werdens der Kirche in Kontinuität und Wandel wird von Lukas programmatisch im ersten Teil der Jakobusrede in Apg 15,16f geschildert: „Danach will ich mich umwenden und die verfallene Hütte Davids wieder aufbauen, und ich will ihre Trümmer wieder aufbauen und sie aufrichten, damit auch die übrigen Menschen den Herren suchen und alle Heiden, über die mein Name ausgerufen ist, spricht der Herr.“ Für Lukas leben in der Kirche Heidenund Judenchristen nicht als zwei Gottesvölker nebeneinander, sondern sie bilden das eine Volk Gottes, dessen Existenz sich der Verheißungstreue Gottes für Israel verdankt. Während Jerusalem am Anfang der Apostelgeschichte der Ort des Wirkens Jesu und der Entstehung der Kirche ist, erscheint die heilige Stadt am Ende in einer völlig anderen Perspektive. Sie ist nicht mehr Ort des Heils, sondern des Unheils, denn Paulus wird dort gefangengenommen und ihm droht der Tod durch die Lynchjustiz der Juden (Apg 21,27–36). Demgegenüber tritt Rom immer positiver hervor (Apg 19,21; 23,11), das nun als der eigentliche Ort der Evangeliumsverkündigung erscheint (Apg 23,11). Weder Naturmächte (Apg 27,1–28,10) noch politische und rechtliche Intrigen können Paulus als bevollmächtigten Träger des Evangeliums davon abhalten, sein Ziel zu erreichen. Der Leser gewinnt so die Gewissheit, dass mit Pauli Ankunft in Rom auch Gottes Sache ihr eigentliches Ziel erreicht hat und sich die Ankündigungen des Auferstandenen in Apg 1,8 erfüllt haben. Die zwölf Apostel
Für Lukas sind die zwölf Apostel das Urbild der Kirche, denn sie bezeugen den Weg des Irdischen (Lk 6,12–16), sie sind die Repräsentanten Israels (Lk 22,30), an sie ergeht der Sendungsauftrag (Lk 24,47), sie werden zu Augenzeugen von Himmelfahrt und 389 Vgl. hier B. WANDER, Gottesfürchtige und Sympa-
thisanten, WUNT 104, Tübingen 1998.
480 Sinn durch Erzählen
Erhöhung (Lk 24,48; Apg 1,21f) und ihnen gilt die Geistsendung (Lk 24,49; Apg 1,8)390. Die zwölf Apostel sind somit die hervorgehobenen Zeugen des Christusgeschehens und die entscheidenden Traditionsträger. Sie repräsentieren für Lukas gewissermaßen das vollendete Israel, indem sie die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der sich bildenden Kirche darstellen. In diesen Funktionen können sie keine Nachfolger haben, denn sie sind historisch und theologisch einmalige Garanten der Jesusüberlieferung und Prototypen kirchlicher Amtsträger. Deshalb kann nach Apg 1,21f nur in diesen Kreis aufgenommen werden, „einer von den Männern, die mit uns zusammen waren während der ganzen Zeit, da der Herr bei uns ein- und ausging, angefangen von der Taufe des Johannes bis zu dem Tage, da er von uns hinweggenommen ward.“ Matthias erfüllt die Kriterien der durchgängigen Augenzeugenschaft und wird deshalb (vom Geist) für dieses Amt bestimmt. Offenkundig dient die lk. Konzeption der zwölf Apostel dazu, das in Lukas 1,1–4 entworfene Bild der zuverlässigen Unterweisung der Jesusüberlieferung zu sichern. Um dies zu erreichen, setzt Lukas den vorösterlichen Jüngerkreis faktisch mit den ‚Zwölfen‘ gleich (Lk 6,13: „Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger herbei und wählte zwölf von ihnen aus, die er auch Apostel nannte“) und identifiziert die ‚Zwölf‘ mit dem nachösterlichen Kreis der Apostel. Die zwölf Apostel bringen nachösterlich die Jesusüberlieferung in die missionarische Verkündigung ein (Apg 2,22f; 4,10ff; 6,4) und machen sie zur Grundlage der Jerusalemer Gemeinde, von der es in Apg 2,42 heißt: „sie blieben bei der Lehre der Apostel“. Innerhalb der lk. Kontinuitätsvorstellung gibt es deutliche Akzentuierungen, denn erst die Begegnung mit dem Auferstandenen und Erhöhten in Lk 24,47 und Apg 1,8 macht aus den Zwölfen die aktiven ‚Zeugen‘, die in Kontinuität zu Jesus die empfangene Überlieferung weitergeben und sie in der werdenden Kirche anwenden. Indem der Auferstandene „vierzig Tage“ (Apg 1,3) die Apostel unterweist, werden sie für Lukas zu den entscheidenden Trägern der Jesusüberlieferung über Ostern und Pfingsten hinaus, d. h. die Jesustradition wird von Ostern her erschlossen. Paulus bei Lukas
Im Rahmen dieser Konzeption kann Paulus für Lukas kein Apostel sein, weil er als nachösterlich Berufener (Apg 9,1–19) kein Ursprungsträger der Jesusüberlieferung ist391. Paulus wird so einerseits den zwölf Aposteln heilsgeschichtlich nachgeordnet, andererseits ist er aber wie die Apostel ‚Zeuge‘ des Christusgeschehens (Apg 22,15; 26,16) und übertrifft sie in seiner Wirkung bei weitem, wie vor allem der zweite Teil der Apostelgeschichte zeigt. Erzählerisch geschickt wird Paulus in Apg 8,3 en passant
390 Zum lukanischen Apostelbegriff vgl. einerseits G. KLEIN, Die zwölf Apostel, FRLANT 77, Göttingen 1961, 114ff; andererseits J. ROLOFF, Apostolat – Verkündigung – Kirche, Gütersloh 1965, 169–235.
391 Die Ausnahmen Apg 14,4.14 dürften auf vorlk.
Tradition zurückgehen; vgl. J. ROLOFF, Apg (s. o. 8.4), 211.
Lukas: Heil und Geschichte 481
eingeführt; Stephanus als erster Märtyrer des Christentums und Paulus als größter Märtyrer des Christentums treten so miteinander in Beziehung. Die Paulusdarstellung ist das eigentliche theologische Zentrum der Apostelgeschichte392. Paulus fungiert als Repräsentant der zweiten Christengeneration, der die lk. Gemeinde ihren Glauben verdankt. Keineswegs soll Paulus gegenüber den Zwölfen degradiert werden, denn er ist wie sie der Repräsentant einer grundlegenden Phase der Gestaltwerdung der Kirche. Auf dem Apostelkonzil treten die Apostel letztmalig in Erscheinung (Apg 15,2.4.6.22f), danach werden sie nicht mehr erwähnt, weil sie ihre heilsgeschichtliche Rolle für die Einheit der Kirche erfüllt haben. Mit der Veränderung der Darstellungsperspektive von Jerusalem nach Rom verlieren die Apostel ihre Bedeutung, während Paulus zur erzählerischen Zentralgestalt wird. Grundlegend für die lk. Ekklesiologie ist die Abschiedsrede des Paulus in Milet an die Ältesten in Apg 20,17–38393. Hier werden die Gemeinde leitenden Amtsträger der nachpaulinischen Zeit angesprochen und ein Modell gemeindlicher Verfassung vorgestellt. Das von Paulus vertretene Modell vom Wesen und vom Auftrag der gemeindeleitenden Ämter ist zunächst davon geprägt, dass durch das Wirken des Geistes die Ältesten zu epı´skopoi („Episkopen/Bischöfe“) eingesetzt wurden und sie den Auftrag erhalten, „die Kirche Gottes zu weiden“ (Apg 20,28). Durch den Geist schafft somit Gott selbst die Kontinuität der Kirche und die Ämter sind ein Werkzeug dieses Gotteshandelns. Indem der lk. Paulus die presbu´teroi („Ältesten“) von Ephesus (Apg 20,17) auf ihr Amt als Episkopen (Apg 20,28) anspricht, legitimiert er den sich vollziehenden Übergang der palästinischen Ältestenverfassung hin zur Episkopen- und Diakonenverfassung der paulinischen Gemeinden in Kleinasien (vgl. Phil 1,1). Diakone werden bei Lukas nicht ausdrücklich erwähnt, allerdings wird ihr Dienst in Apg 6,4 parallel zum Wortdienst der Gemeinde leitenden Apostel vorausgesetzt. Die Metapher des ‚Weidens‘ charakterisiert die Ämter bei Lukas als Hirtendienst, der sich für den Dienst der Einheit der Kirche vollzieht. Er gewinnt Gestalt in der Führung der Gemeinde und in der Verkündigung des Wortes, durch die Irrlehrer und Irrlehren abgewehrt werden (vgl. Apg 20,29f). Die Miletrede macht deutlich, dass Lukas stillschweigend auf Paulus jene Funktionen übertragen hat, die zuvor die Apostel einnahmen: Paulus wird zum Vertreter der Tradition und Kontinuität in der Kirche und er ist es, der den Auftrag des Erhöhten aus Apg 1,8 erfüllt und so zum eigentlichen Helden des Doppelwerkes wird.
392 Grundlegend J. ROLOFF, Die Paulusdarstellung des Lukas, passim; vgl. ferner K. LÖNING, Paulinismus in der Apostelgeschichte, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften, QD 89, Freiburg 1981, 202–234; P. LAMPE/U. LUZ, Nachpaulinisches Christentum und pagane Gesellschaft, in: J. Becker (Hg.), Die Anfänge des Christentums (s. u.
9.1), 186, wonach „die Apostelgeschichte als Paulusgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ zu lesen ist. 393 Zur Analyse vgl. H.-J. MICHEL, Die Abschiedsrede des Paulus an die Kirche Apg 20,17–38, StANT 35, München 1973; F. PRAST, Presbyter und Evangelium in nachapostolischer Zeit, FzB 29, Stuttgart 1979.
482 Sinn durch Erzählen
Das Wesen des Amtes
Die Grundlinien der lk. Amtskonzeption wurden bereits deutlich: Die zwölf Apostel sind als Traditionsträger das unerlässliche Bindeglied im Übergang von Jesus zur Kirche, indem sie in Jerusalem das Gottesvolk sammeln (Apg 2,32; 3,15; 5,32). Zudem begleiten sie von Jerusalem aus (Apg 8,1) die Anfänge der Heidenmission und legitimieren sie (vgl. Apg 8,14–17; 11,18). Lukas geht es aber nicht nur um die Bedeutung der gemeindeleitenden Ämter für die Kirche und den Nachweis, dass es in der Kirche von Anfang an leitende Ämter gab. Für ihn kommt es darauf an, deren theologische Strukturelemente aufzuzeigen. Die Apostel werden bei Lukas zu prototypischen Repräsentanten des für die Amtsträger maßgeblichen Verhaltens, indem sie Jesu Dienen für die Seinen als verbindliche Norm übernehmen: „Ihr aber nicht so, sondern der Größte bei euch soll wie der Jüngste werden, und der Leitende wie der Dienende. Denn wer ist größer: Der zu Tisch liegt oder der, der dient? . . . Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende“ (Lk 22,26f). Lukas betont, dass ein Amt nicht als Mittel zur Ausübung von Herrschaft missbraucht werden soll, sondern als Dienst in der Gemeinde zu verstehen ist. Das Verhalten Jesu bildet dabei die verbindliche Norm für jegliche Amtsführung. Lukas behandelt diese Thematik in zahlreichen Texten indirekt (vgl. Lk 12,35–48; 17,7–10); die Gemeindeleiter sollen erkennen, dass Ämter nicht Herrschaft oder Machtvollkommenheit bedeuten, sondern immer im Dienen für die Gemeinde ihr Ziel finden. Das Wort Gottes
Lukas misst dem Wort für das Wirken Jesu eine grundlegende Bedeutung zu394. Er bezeichnet das Evangelium in Apg 1,1 als prw˜toß lo´goß („erstes Wort“) und nennt die Träger der von ihm wiedergegebenen Traditionen „Diener des Wortes“ (Lk 1,2). Mit dem Auftreten Jesu wird das Wort Gottes (Lk 5,1) und das Evangelium vom Reich Gottes verkündigt (Lk 16,16), wobei das Wirken Jesu schon immer für die Zeit der Kirche transparent ist. Dies zeigt sich in der lk. Interpretation des Sämanngleichnisses, wo der Same ausdrücklich mit dem Wort Gottes gleichgesetzt wird (Lk 8,11). Das Wort erscheint in Lk 8,4–21 als das Lebenselement der Kirche und weil den Jüngern bei der Weitergabe des Wortes eine entscheidende Rolle zukommt, entschärft Lukas das Verstockungslogion Mk 4,12. Für ihn gehören Verkündigung, Annahme des Wortes und Lebensvollzug zusammen, deshalb gilt: „Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und tun“ (Lk 8,21). Das Wort Gottes wird gelehrt (Apg 16,6; 18,11), es wird gehört (Lk 5,1; 8,21; Apg 13,44; 19,10) und angenommen (Apg 11,1; 15,36; 17,13), um zu wachsen (Apg 6,7; 12,24). Als Wort der Rettung (Apg 13,26) und Gnade (Apg 20,32) zielt das vom Heiligen Geist geleitete
394 Vgl. C.-P. MÄRZ, Das Wort Gottes bei Lukas, EThSt 11, Leipzig 1974.
Lukas: Heil und Geschichte 483
Wort (Apg 16,6) auf die Lehre (Apg 18,11) und die Praxis des Glaubens, denn: „Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren“ (Lk 11,28). Frauen als Zeuginnen
Neben den Aposteln und Paulus sind bei Lukas vor allem Frauen Zeuginnen des Heilsgeschehens (s. o. 8.4.2). Die Vorgeschichte mit Maria, Elisabeth und Hanna bringt dies augenfällig zum Ausdruck, wobei Lukas mit seiner Darstellung von Maria nicht nur ein biographisches, sondern zweifellos ein theologisches Anliegen im Blick hat395. Sie gehört zu Israel und vertraut als Mitglied des auserwählten Volkes der Verheißung Gottes (Lk 1,26–38). An ihrer Gestalt und ihrem Geschick wird nach Lukas jenes Israel sichtbar, das durch den Glauben an Jesus in der Kontinuität der Verheißung bleibt (Lk 1,45). Maria steht für das Israel, das „Israel geblieben ist, indem es zur Kirche wurde“396. Sie hat eine ekklesiologische Funktion, indem sie dem Verheißungswort Gottes traut und so zum Prototypen des glaubenden Menschen wird (vgl. Apg 1,14). Neben Maria und Elisabeth wird auch von anderen Frauen im lk. Doppelwerk ein Porträt gezeichnet. Zu erwähnen ist vor allem die gottesfürchtige Lydia (Apg 16,14f), die sich der Gemeinde in Philippi anschloss und sie offenbar als reiche Mäzenin materiell unterstützte397. Sie gibt damit ein Modell ab, das auch hinter Lk 8,1–3 steht, wonach Frauen mit Jesus zogen und ihn mit dem versorgten, was sie hatten. Im Evangelium wendet sich Jesus wiederholt Frauen in ungewöhnlicher (Lk 7,36–50), lehrender (Lk 10,38–42: Maria und Marta) und heilender Weise zu (Lk 8,40–56); er preist Witwen als Vorbilder (Lk 18,1–8; 21,1–4) und es sind zahlreiche Frauen, die als erste die Auferstehungsbotschaft hören und sie weitergeben (Lk 24,10).
8.4.8
Eschatologie
E. GRÄSSER, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte (s. o. 8.4); J. ZMIJEWSKI, Die Eschatologiereden des Lukasevangeliums, BBB 40, Bonn 1972; E. E. ELLIS, Eschatology in Luke, Philadelphia 1972; M. VÖLKEL, Zur Deutung des ‚Reiches Gottes‘ bei Lukas, ZNW 65 (1974), 57–70; G. SCHNEIDER, Parusiegleichnisse im Lukas-Evangelium, SBS 74, Stuttgart 1975; H.-J. MICHEL, Heilsgegenwart und Zukunft bei Lukas, in: Gegenwart und kommendes Reich (FS A. Vögtle), Stuttgart 1975, 101–115; O. MERK, Das Reich Gottes in den lukanischen Schriften, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, Berlin 1998, 272–291; J. ERNST, Herr der Geschichte. Perspektiven der lukanischen Eschatologie, SBS 88, Stuttgart 1978; G. SCHNEIDER, Anbruch des Heils und Hoffnung auf Vollendung bei Jesus, Paulus und Lukas, in: ders., Lukas, Theologe der Heilsgeschichte (s. o. 8.4), 25–60; H. BAARLINK, 395 Vgl. hier umfassend J. BECKER, Maria, Leipzig 2001, 144–196. 396 J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 195.
397 Zu Lydia vgl. P. PILHOFER, Philippi I (s. o. 6.2.1), 234–240.
484 Sinn durch Erzählen
Die Eschatologie der synoptischen Evangelien, BWANT 120, Stuttgart 1986; M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ bei Lukas, NTS 41 (1995), 541–563; DERS., Israels Zukunft und die Parusieverzögerung bei Lukas, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), hg. v. M. Evang/H. Merklein/M. Wolter, BZNW 89, Berlin 1997, 405–426.
Lukas nimmt im Rahmen seines heilsgeschichtlichen Denkens und angesichts seiner historischen Situation eine Neuordnung der Eschatologie vor, die sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht. Zeitpunkt und Wesen der Parusie
Innerhalb dieser Neuordnung kommt der Himmelfahrt eine fundamentale Bedeutung zu, denn mit dieser im Kontext des Kaiserkultes religionsgeschichtlich brisanten Vorstellung (s. o. 8.4.2) führt Lukas eine Entschleunigung der Endereignisse ein. Die unmittelbare Parusienaherwartung der ersten und zweiten urchristlichen Generation konnte von Lukas nicht einfach unverändert weitertradiert werden, weil sie angesichts der eingetretenen Dehnung der Zeit nicht zukunftsträchtig war. Die Himmelfahrt verdeutlicht der Gemeinde drei grundlegende Aspekte der bleibenden Gegenwart und Zukunft Jesu Christi: 1) Der Gekreuzigte und Auferstandene unterwies als Erhöhter 40 Tage die Apostel und damit die Gemeinde über das Reich Gottes (Apg 1,3), so dass sie für die Gegenwart und nächste Zukunft bestens ausgerüstet ist. 2) Der Erhöhte sendet den Heiligen Geist als Kraft Gottes, der bleibend bei der Gemeinde ist (Apg 1,8). 3) Wer von Gott so in den Himmel aufgenommen wurde, wird auch wiederkommen. Auf dieser Grundlage war es Lukas möglich, die Vorzeichen, den Termin und das Wesen der Parusie neu zu bestimmen, ohne sie zu eliminieren. Die Himmelfahrt verändert die Architektur der Endereignisse, denn plötzliche, mit Katastrophen verbundene apokalyptische Ereignisse sind mit einer in Kontinuität zur Himmelfahrt stehenden Parusieerwartung nur eingeschränkt zu verbinden. Vielmehr suggeriert die Himmelfahrt auch im Endgeschehen jene zielgerichtete Kontinuität im Heilshandeln Gottes, die Lukas in seinem Doppelwerk schilderte. Im Einzelnen bearbeitet Lukas die Thematik auf verschiedenen Ebenen; so weicht er in der Frage der Vorzeichen des Endgeschehens von traditionellen Vorstellungen ab, wie ein Vergleich zwischen Mk 13,1–32 und Lk 21,5–33 zeigt. Was bei Markus noch zu den unmittelbaren Vorzeichen des Endgeschehens gehört, wird bei Lukas aus diesem Zusammenhang herausgenommen. Während der Fall Jerusalems in Mk 13,14 mit dem „Gräuel der Verwüstung“ verbunden wird, spricht Lk 21,20 nur von den Heeren, die Jerusalem umzingeln. An die Stelle der Errettung aus den Wehen der Endzeit in Mk 13,13 tritt bei Lukas das geduldige Ausharren, das zum Lebensgewinn führt (Lk 21,19). Während nach Mk 13,10 die Heidenmission ein Bestandteil des Endgeschehens ist, entfällt dieser Vers bei Lukas, weil er seiner Geschichtskonzeption nicht entspricht. Das Endgeschehen ist bei Lukas keineswegs gegenstandslos geworden, aber die Eschatologie ist nicht mehr die alles durchdringende und bestim-
Lukas: Heil und Geschichte 485
mende Kraft seiner Theologie. Dies zeigt sich auch in der Zurückweisung von Spekulationen über den Termin der Parusie. Grundlegenden Charakter hat Lk 17,20f: „Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, entgegnete er ihnen: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es berechnen kann. Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! Oder: dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Mit dieser gleichzeitigen Gewissheits-, Unbestimmtheits- und Gegenwartsaussage korrespondiert Apg 1,6f: „Herr, wirst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder aufrichten? Er erwiderte ihnen: Es ist nicht eure Sache, die Zeiten und Stunden zu wissen, die der Vater in seiner Herrschermacht bestimmt hat.“ In eine ähnliche Richtung zielt Apg 3,21 („den der Himmel aufnehmen muss bis zu den Zeiten der Wiederherstellung alles dessen, wovon Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von Uranfang her geredet hat“), denn einerseits wird von Gott eine Frist gesetzt, bis der Erhöhte wieder sichtbar in Erscheinung tritt, andererseits ist der Ablauf dieser Frist offen. Auf die Korrektur einer berechenbaren, terminlich fixierbaren Naherwartung zielen auch die Platzierung von Lk 19,11 („Als sie aber dies hörten, fuhr er fort und sagte ein Gleichnis, weil er nahe bei Jerusalem war und sie meinten, das Reich Gottes werde sofort erscheinen“) vor dem Gleichnis von den anvertrauten Pfunden und die Erweiterung von Mk 13,6 in Lk 21,8 („Er aber sprach: Seht euch vor, dass ihr nicht in die Irre geführt werdet! Denn viele werden kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist gekommen! Lauft ihnen nicht nach!“). Lukas ersetzt die Zusammenfassung der Verkündigung Jesu in Mk 1,15 durch die Antrittspredigt Jesu in Nazareth (vgl. bes. Lk 4,21) und korrigiert das Naherwartungslogion Mk 9,1 in Lk 9,27 (Auslassung von: „wenn es gekommen ist mit Macht“). Damit gibt Lukas die Parusieerwartung nicht auf398, sondern kombiniert den ungewissen Zeitpunkt der Ankunft des Herrn (vgl. Lk 12,40: „Seid auch ihr bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr es nicht denkt“; 17,24.26–30; Apg 1,7) mit dem Aufruf zur Geduld (vgl. Lk 8,15: „Das auf dem guten Boden, das sind die, welche das Wort mit rechtem und guten Herzen gehört haben, es bewahren und Frucht bringen in Geduld“) und Wachsamkeit (vgl. Lk 12,35ff; 21,34.36). Auch die Worte über die Nähe der Gottesherrschaft (vgl. Lk 10,9.11) zeigen, dass der Evangelist nicht grundsätzlich auf die Naherwartung verzichtet, sondern in der verantwortlichen Bereitschaft die dem Wesen der Parusie entsprechende Verhaltenweise sieht. Nicht die Parusieerwartung als solche, sondern allein die Terminierung/Berechenbarkeit der Parusie lehnt Lukas ab! Das Endgeschehen wird nach Apg 1,6–8 nicht einsetzen, bevor nicht die Missionare die Enden der Erde erreicht haben. Wann dies sein wird und dann in diesem Kontext die Parusie beginnt, lässt sich nicht chronologisch fixieren. Positiv bedeutet dies aber, dass Gott einen Zeit398 Gegen E. HAENCHEN, Apg (s. o. 8.4), 107: „Auch
der 3. Evangelist hat die Naherwartung verneint“; vgl. demgegenüber G. SCHNEIDER, Apg I (s. o. 8.4),
142: „Er hält an der Parusie energisch fest, bestreitet aber, daß man ihren Termin bestimmen könne.“
486 Sinn durch Erzählen
raum schafft, in dem die Evangeliumsverkündigung vonstatten gehen kann und auch die Völker Anteil bekommen ‚am Heil für Israel‘ (Lk 2,30; Apg 28,28)399. Insofern kommt der Dehnung der Zeit eine eminent positive Funktion zu, sie schafft überhaupt erst die Voraussetzungen für die Durchsetzung des universalen Heilshandeln Gottes in der Geschichte. Die Leser des Doppelwerkes erkennen so den Sinn des von Gott gewollten und gewährten Zeitraumes und dürfen von der Himmelfahrt Jesu her gelassen und zuversichtlich auf seine Wiederkunft hoffen. Das Werden der Kirche ist somit für Lukas weder direkt noch indirekt ein Ersatz für die Parusieerwartung400. Lukas hält daran fest, weil er davon überzeugt ist, dass die Parusie sich ereignen wird, wenn mit der Verkündigung an die Völker das auserwählte Gottesvolk in der von Gott bestimmten Zeit seine Gestalt und Bestimmung findet (vgl. Lk 2,30f). Das Reich Gottes
Auch das Reich Gottes als eschatologischer Zentralbegriff der Verkündigung Jesu bedurfte für Lukas einer Neubestimmung, um weiter theologisch aussagekräftig zu sein. Die Bedeutung dieser Wendung für die lk. Eschatologie (und Theologie insgesamt) zeigt sich schon an der Rahmung Lk 4,43 und Apg 28,31: Mit der Gesamtdarstellung der Sendung Jesu wird der Begriff eingeführt und mit dem letzten Vers seines Doppelwerkes weist Lukas der Reich-Gottes-Vorstellung für die Gesamtinterpretation eine Schlüsselstellung zu. Die Neustrukturierung des Reich-Gottes-Begriffes vollzieht sich auf mehreren Ebenen: 1) Lukas löst den Reich-Gottes-Begriff aus seinen frühjüdischen Konnotationen401, speziell aus seiner partikularistischen Zentrierung auf Israel (und Jerusalem) und der damit verbundenen negativen Rolle der Völker (vgl. Lk 19,11; Apg 1,6f; 28,23.31). 2) Positiv entspricht dem die Bindung des Reiches Gottes an Jesus Christus. Diese Konzeption setzt mit Lk 4,43 als Verkündigung des Evangeliums vom Reich Gottes ein. Die von Jesus verkündigte Basileia besitzt Realitätscharakter, denn in seinem Auftreten (Lk 17,20f) und speziell in den Wundern wird sie sichtbar (vgl. Lk 11,20; 7,21). 3) Nach dem Tod, der Auferstehung und Himmelfahrt wird das Reich zur Basileia des Erhöhten (vgl. Lk 19,12.15), die ihm vom Vater zugesagt wurde (Lk 22,29) und in die er eingeht (Lk 23,42). 4) Mit dem Reich Gottes verbindet sich im Doppelwerk durchgängig eine Verkündigungsdimension; so erscheint das Reich Gottes als Objekt von euaggelı´zeshai (Lk 4,43; 8,1; 16,16; Apg 8,12) und kvru´ssein (Lk 9,2; Apg 20,25; 28,31). Jesus selbst verkündigt das Reich Gottes (Lk 4,43), er beteiligt die Zwölf an dieser Verkündigung (Lk 8,1) und unterrichtet sie als Erhöhter 40 Tage über das Reich Gottes (Apg 1,3). Die Ver399 Treffend M. WOLTER, Israels Zukunft, 423: „Die
Parusieverzögerung ist also nicht Bestandteil des Problems, sondern sie gehört zu seiner Lösung.“ 400 So aber die einflussreiche These von H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 127: „Hat Lukas auf das Festhalten der Naherwartung entschlossen ver-
zichtet, was bietet er positiv als brauchbare Lösung des Problems an? –: Einen Entwurf von der gegliederten Kontinuität der Heilsgeschichte nach Gottes Plan.“ 401 Vgl. M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ bei Lukas, 544– 549.
Lukas: Heil und Geschichte 487
kündigung des Reiches Gottes nimmt sogar drängende Züge an (Lk 16,16). In der Apostelgeschichte402 wird das Reich Gottes über die Grenzen Israels hinaus verkündigt (Apg 8,12) und Paulus wird zu seinem universalen Träger (Apg 19,8; 20,25; 28,23.31). Von der Sendung Jesu her wird das Reich Gottes bei Lukas christologisch bestimmt und zum zentralen Inhalt christlicher Verkündigung. Für Lukas ist damit Christusverkündigung auch immer Reich-Gottes-Verkündigung und umgekehrt! So gewinnt der 3. Evangelist das für ihn zentrale Motiv der Kontinuität, denn das Reich Gottes bestimmt nicht nur die Verkündigung Jesu, sondern auch die der späteren Zeugen, weil Jesus selbst als Erhöhter diese Kontinuität herstellt (Apg 1,3). Die Missionsgeschichte ist unter diesem Aspekt die konsequente Fortschreibung der Verkündigung des Irdischen und Erhöhten403. 5) Der Festschreibung des Kontinuitätsgedankens dient auch die Verbindung zwischen der Geistvorstellung und der Reich-Gottes-Verkündigung. „Indem der Auferstandene und doch Gegenwärtige vom Gottesreich spricht (Apg 1,3), aber die baldige Aufrichtung dieses Reiches verneint und stattdessen auf die Verheißung des Geistes und den Auftrag zur Weltmission verweist (Apg 1,6–8), bindet Lukas auch für die Kirche das Reich Gottes an die Heilsgegenwart Jesu.“404 In der vom Geist geleiteten Verkündigung des Reiches Gottes bleibt Jesus in der Kirche gegenwärtig. Lukas stellt damit seiner Gemeinde die Verkündigung des Reiches Gottes als zentrale und bleibende Aufgabe vor Augen, was nachdrücklich durch die Reich-Gottes-Predigt des Paulus in Rom verdeutlicht wird (Apg 28,23.31). 6) Schließlich ist das Reich Gottes auch in seiner Jenseitigkeit eine unmittelbare Realität, weil es mit Jesus verbunden ist. So ist der irdische Besitz ein neues und bereits in der Gegenwart gültiges Kriterium für die Zugehörigkeit zum Reich Gottes (vgl. Lk 6,20.24; 12,13–34; 14,15–24; 18,18–30). Wer in der Gegenwart den Bedrängnissen widersteht, wird in das Reich Gottes eingehen (Apg 14,22). Die Neustrukturierung der Reich-Gottes-Vorstellung bei Lukas ist somit weitaus mehr als eine Bearbeitung der Parusiethematik405. Sie betrifft alle zentralen Bereiche lk. Theologie, weil sie die Verkündigung Jesu und der Zeugen unmittelbar miteinander verbindet und so einen weiteren Baustein in der postulierten Kontinuität zu den normativen Anfängen darstellt. Individuelle Eschatologie
Ein weiterer bedeutsamer Schritt bei der Neustrukturierung der Eschatologie ist der Versuch des Lukas, seiner Gemeinde aufzuzeigen, wie man im Hinblick auf die Endereignisse ohne unmittelbare Naherwartung in einer verantwortlichen Erwar402 Vgl. hier A. WEISER, ‚Reich Gottes‘ in der Apostelgeschichte, in: Der Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), Freiburg 1991, 127–135. 403 Vgl. M. WOLTER, ‚Reich Gottes‘ bei Lukas, 551 f. 404 O. MERK, Das Reich Gottes, 282. 405 Von ‚Ent-Eschatologisierung‘ spricht in diesem
Zusammenhang H. CONZELMANN, Mitte der Zeit (s. o. 8.4), 33.104f; vgl. in diesem Sinn auch E. GRÄSSER, Parusieverzögerung (s. o. 8.4), 140 f. Allerdings bleibt die Verzögerungsthematik durch die Terminfrage in Lk 17,20f; 19,11; Apg 1,6–8 mit der ReichGottes-Thematik verbunden.
488 Sinn durch Erzählen
tungshaltung leben kann. Vor allem im Sondergut des Evangeliums finden sich zahlreiche Texte, in denen das Geschick des einzelnen Menschen nach dem Tod thematisiert wird, wobei eine Nähe zu hellenistischen Anschauungen festzustellen ist. Dadurch wird das Endheil individualisiert und die Parusie verliert an Bedeutung. Eine individuelle Eschatologie tritt deutlich in Lk 6,20–26; 12,4 f.16–21.33f; 16,1–9.19–31; 21,19; 23,39–43; Apg 1,25; 7,55–59; 14,22 in den Vordergrund. Beim reichen Kornbauern besteht die Torheit keineswegs darin, überhaupt nicht an den Tod gedacht zu haben, sondern sich nicht damit zu beschäftigen, was nach dem Tod kommt. Lukas kennt die Rede von der ewigen Verdammnis, die als Warnung zu verstehen ist (Lk 3,9.17; 9,24; 12,5; 17,26 f.33–35) und weiß um das Schicksal im Hades (Lk 16,23)406. Ebenso nimmt die Botschaft vom ewigen Heil breiten Raum ein (vgl. Lk 12,35–38; 13,28f; 14,15–24; 22,16.18.30), er spricht von den „ewigen Wohnungen“ (Lk 16,9), von der Erlösung (Lk 21,28), vom ewigen Leben (Lk 9,24; 10,25–28; 17,33; 18,18.30) und vom Paradies (Lk 23,43). Eine wirkliche Vermittlung zwischen der individuellen und der allgemeinen Eschatologie findet bei Lukas allerdings nicht statt; der Evangelist hält an der Parusie als Beginn des universalen Endgeschehens fest, zugleich betont er aber die individuelle Eschatologie und eröffnet so seiner Gemeinde die Möglichkeit, sich am universalen Endgeschehen zu orientieren, ohne das eigene Ende unmittelbar damit zu verknüpfen.
8.4.9
Theologiegeschichtliche Stellung
Sowohl die historische als auch die theologische Leistung des Lukas finden eine neue Würdigung407. Die lk. Gemeinde befand sich offenkundig in einer tiefgreifenden Identitäts- und Kontinuitätskrise408. Das Verhältnis zu Israel, die Parusieproblematik, das Thema ‚reich und arm‘, die Stellung des neuen ‚Weges‘ in der griechisch-römischen Gesellschaft und das Verhältnis zum römischen Staat mussten bedacht werden. Das Ziel der lk. Geschichtsschreibung kann mehrdimensional bestimmt werden: Zuallererst will Lukas die gegenwärtige Situation seiner Gemeinde historisch erklären und theologisch legitimieren. Dazu dient ihm der Nachweis, dass der Übergang des Heils von den Juden zu den Völkern als Träger der Verheißungen Israels dem anfänglichen Willen Gottes entspricht. Lukas bearbeitet die zunehmende Distanz zwischen Christentum und Judentum, weil sie die heilsgeschichtliche Kontinuität der 406 Parallelen zu Lk 16,22 (Hades); 23,43 (Paradies) aus griechischen Grabinschriften erörtert I. PERES, Griechische Grabinschriften (s. o. 6.8), 187–192. Insgesamt stellt er fest: „Lukas scheint der griechischen Volksfrömmigkeit besonders nahe zu stehen“ (a. a. O., 267). 407 Die ältere (vorwiegend negative) Diskussion
skizziert kritisch W. G. KÜMMEL, Lukas in der Anklage der heutigen Theologie, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte II, MThSt 16, hg. v. E. Grässer/ O. Merk, Marburg 1978, 87–100. 408 Vgl. hierzu E. PLÜMACHER, Acta-Forschung 1974– 1982, ThR 48 (1983), (1–56) 45 ff.
Lukas: Heil und Geschichte 489
Kirche mit Israel und die Gültigkeit der Verheißungen infrage zu stellen droht. Der Gemeinde soll einsichtig werden, wie die göttliche swtvrı´a (Lk 1,69.71.77; 19,9; Apg 4,12; 7,25; 13,26.47; 16,17; 27,34) zu den Völkern und damit schließlich zu den (christlichen) Lesern gelangte und sich hier in der einen ‚Kirche‘ aus Juden und Heiden realisierte. Damit verbindet sich ein nachdrückliches Eintreten für die theologische Legitimität der beschneidungsfreien Völkermission, wie vor allem der zweite Teil der Apostelgeschichte zeigt. Auch wenn das Doppelwerk nicht primär geschrieben wurde, um eine Bewältigung der Verzögerungsproblematik zu ermöglichen, ist das geschichtstheologische Denken des Lukas mit dieser Thematik untrennbar verbunden: Die Erweiterung der geschichtlichen Perspektive in die sich dehnende Zeit hinein in Verbindung mit dem Kontinuitätsgedanken ist natürlich auch ein Versuch der Entschleunigung der Endereignisse, um ihnen den drängenden Charakter zu nehmen. Mit alldem will Lukas Gewissheit vermitteln, Identität stärken und für das Christentum werben409! Mit der Ausweitung der historisch-theologischen Perspektive durch das Doppelwerk verbindet sich bei Lukas auch eine Öffnung für zuvor im frühen Christentum allenfalls gestreifte Bereiche: 1) Der Evangelist hat die Gebildeten seiner Zeit im Blick (Lk 1,1–4; Apg 25,13–26,32), indem er 2) in seiner Erzählwelt die städtische Kultur einfließen lässt (Apg 19,23–40) und 3) die christliche Lehre im Kontext und in Auseinandersetzung mit zeigenössischer Magie/Zauberei (Apg 8,4–25; 13,8–12; 16,16– 22)410 und Philosophie (Apg 17,16–34) darstellt. Somit erscheint ‚der neue Weg‘ nicht nur als kulturfähig, sondern als eigene neue Kulturreligion mit jüdischen Wurzeln im römischen Weltreich. Bewusst tritt Lukas mit seinem Doppelwerk in die antike Geschichtsschreibung ein, verleiht damit einer neuen Wahrnehmung der eigenen Geschichte eine literarische Gestalt und meldet einen welthistorischen Deutungsanspruch an411.
409 Vgl. K. BACKHAUS, Lukas der Maler (s. o. 8.4), 31: Lukas „verankert die relationale Erinnerung in der ‚objektiven‘ Tiefe einer Erstepoche, um seiner Gemeinschaft auf einem lebhaften Forum konkurrierender religiöser Selbstdefinitionen die altbiblische Herkunft sichtbar zu machen, die Stiftungsmemoria zu vergegenwärtigen, die bleibende Attraktivität vor
Augen zu führen und so ihrer Gegenwart verbindliche Identität zu geben.“ 410 Vgl. dazu H.-J. KLAUCK, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas, SBS 167, Stuttgart 1996. 411 Vgl. J. SCHRÖTER, Lukas als Historiograph (s. o. 8.4), 246.
9.
Die vierte Transformation: Das Evangelium in der Welt
9.1
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung
A. V. HARNACK, Die Mission und Ausbreitung des Christentums, Leipzig I 41923. II 41924; L. GOP2 PELT, Die apostolische und nachapostolische Zeit, Göttingen 1966; H. CONZELMANN, Geschichte 2 des Urchristentums, GNT 5, Göttingen 1971; M. HENGEL, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche. Aspekte einer frühchristlichen Sozialgeschichte, Stuttgart 1973; U. B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte. Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n.Chr., Gütersloh 1976; W. A. MEEKS (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, ThB 62, München 1979; W. SCHNEEMELCHER, Das Urchristentum, Stuttgart 1981; H. C. KEE, Das frühe Christentum aus soziologischer Sicht, Göttingen 1982; K. M. FISCHER, Das Urchristentum, Berlin 1985; R. L. WILKEN, Die frühen Christen. Wie die Römer sie sahen, Graz 1986; J. BECKER (Hg.), Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart 1987; E. PLÜMACHER, Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Verhältnis von kaiserzeitlicher Stadt und frühem Christentum, BThS 11, Neukirchen 1987; J. E. STAMBAUGH/D. L. BALCH, Das soziale Umfeld des Neuen Testaments, GNT 9, Göttingen 1992; W. A. MEEKS, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993; F. VOUGA, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen 1994; E. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995; P. GUYOT/R. KLEIN (Hg.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgung I.II, Darmstadt 1997; R. STARK, Der Aufstieg des Christentums, Weinheim 1997; W. REINBOLD, Propaganda und Mission im ältesten Christentum, FRLANT 188, Göttingen 2000; E.J. SCHNABEL, Urchristliche Mission, Gießen 2002.
Im letzten Drittel des 1. Jh. n.Chr. verbreitete und stabilisierte sich das frühe Christentum vor allem im Mittelmeerraum, zugleich sah es sich aber inneren und äußeren Gefährdungen ausgesetzt, deren Bewältigung die Theologie zahlreicher ntl. Spätschriften bestimmt. Soziale Strukturen in den Gemeinden
Mit den anhaltenden Missionserfolgen vor allem in den Städten Kleinasiens und Griechenlands veränderte sich die soziale Struktur der frühchristlichen Gemeinden1, denn mit der sozialen Vielschichtigkeit nahmen auch die sozialen Unterschiede zu. Einen Überblick bieten P. LAMPE/U. LUZ, Nachpaulinisches Christentum und pagane Gesellschaft, in:
1
J. Becker (Hg.), Die Anfänge des Urchristentums, Stuttgart 1987, 185–216.
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 491
Zweifellos gehörten den paulinischen Hausgemeinden von Anfang an auch lokale Oberschichtmitglieder an (vgl. Erastos als „Verwalter der Stadt“ in Röm 16,23; die Angehörigen der familia Caesaris in Phil 4,22; Gaius in 1Kor 1,14; Röm 16,23; Phoebe in Röm 16,1f; Stephanas in 1Kor 1,16; 16,15.17; Philemon in Phlm 2)2. Sie besaßen Häuser und teilweise Sklaven, vor allem aber unterstützten sie als Patrone die Gemeinde. Die überwiegende Zahl der Gemeindeglieder muss aber zur Unterschicht gerechnet werden (vgl. 1Kor 1,26), darunter zahlreiche Sklaven (vgl. 1Kor 7,21–24; Gal 3,28; Phlm; Röm 16,22)3. In der nachpaulinischen Zeit schlossen sich immer mehr wohlhabende Menschen der neuen Religion an. So finden sich Notizen über christliche Hausbesitzer (Kol 4,15, 2Tim 1,16; 4,19), Frauen aus der Oberschicht werden erwähnt (1Tim 2,9, 1Petr 3,3, Apg 17,4.12) und zur römischen Gemeinde gehören gegen Ende des 1. Jh. nicht nur Reiche (1Clem 38,2), sondern mit Claudius Ephebus (1Clem 65,1) Angehörige des kaiserlichen Haushalts4 und mit Flavia Domitilla als Gattin eines Konsuls (vgl. Dio Cassius 67; Euseb, HE III 18,4) Mitglieder der elitären Oberschicht5. Wohlhabende Gemeindeglieder bringen ihre Sklaven mit in den Versammlungsraum (Eph 6,5–9), die Reichen beanspruchen die Ehrenplätze im Gottesdienst (Jak 2,2–4), sie sind hochnäsig (1Tim 6,17; Jak 4,16; Offb 3,17f) und die Gier nach Besitz bestimmt ihr Handeln (1Tim 6,6–10; Tit 1,7; 2Tim 3,2; Jak 4,13). Zugleich gehören arme Witwen (1Tim 5,3–16) und Sklaven (1Tim 6,1f; Eph 6,5–8, Kol 3,11.22–25; 1Petr 2,18–23) zu den Gemeinden. Die Aufforderung an die reichen Gemeindeglieder, sich für die Armen der Gemeinde zu engagieren, bestätigt indirekt den hohen Anteil materiell Armer in den christlichen Gemeinden (vgl. 1Tim 5,10; 6,18f; Eph 4,28; Tit 3,14; Jak 1,27; 2,15f; Apg 20,35). Es gab in den Gemeinden mehr Frauen als Männer, denn häufiger sind Christinnen mit Ungläubigen verheiratet (vgl. 1Petr 3,1f; 2Tim 1,5). Zudem wird man mit einem sehr unterschiedlichen Bildungsniveau in den Gemeinden zu rechnen haben und auch ein Stadt-Land-Gefälle kann angenommen werden. Das paulinische Christentum war im Wesentlichen eine Stadtreligion, bis zum Ende des 1. Jh. ist diese Entwicklung weiter zu beobachten (vgl. die Pastoralbriefe). Zugleich beginnt das Christentum vor allem in Kleinasien auch auf dem Land Fuß zu fassen, wie der 1Petrusbrief als Schreiben an ganze LandZur Forschungsgeschichte vgl. E. STEGEMANN/ W. STEGEMANN, Sozialgeschichte, 249ff; R.W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission (s. o. 6.7), 291–299. Grundlegende Literatur zu den frühchristlichen Hausgemeinden (neben Gehring und den Arbeiten zu den Haustafeln): H.-J. KLAUCK, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, Stuttgart 1981; D.L. BALCH/C. OSIEK, Families in the New Testament World. Households and House Churches, Louisville 1997; H. MOXNES (Hg.), Constructing Early Christian Families: Family as Social Reality and Metaphor, London 1997. 2
Nach L. SCHUMACHER, Sklaverei in der Antike, München 2001, 42, machten die Sklaven um die Zeitenwende ca. 15–20% der Gesamtbevölkerung des Imperium Romanum aus; in absoluten Zahlen wären dies ca. 10 Millionen Menschen. 4 Vgl. F. KOLB, Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike, München 22002, 632. 5 Vgl. dazu P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT 2.18, Tübingen 1987, 166–171. 3
492 Das Evangelium in der Welt
striche und Plinius, Ep 10,96 („Nicht nur über die Städte, sondern auch über Dörfer und Felder hat sich die Seuche dieses Aberglaubens ausgebreitet“) bezeugen. Die Gesamtentwicklung ist deutlich durch eine Zunahme der Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen in den Gemeinden gekennzeichnet, so dass soziale Spannungen die Folge waren. Um sie zu überwinden, wurden sehr unterschiedliche theologische und sozialethische Strategien entwickelt. Sie reichen von der am antiken Ordnungs- und Ausgleichsdenken geprägten Haus- und Ständetafeltradition (Kol/Eph/1Petr) bis hin zur kompromisslosen Kritik an den Reichen (Jak). Theologische Klärungsprozesse
Wie bei jeder neuen religiösen Bewegung existierten auch im frühen Christentum von Anfang an bestimmte Grundüberzeugungen: Der eine Gott Israels erweckte Jesus Christus von den Toten, der in Kürze kommen wird, um im dann einsetzenden Gericht die Glaubenden zu retten. Mit dieser Grundperspektive verbanden sich zahlreiche unstrittige theologische und ethische Einsichten, zugleich waren aber zentrale Fragen noch nicht endgültig geklärt bzw. blieben strittig und es kamen neue Herausforderungen hinzu6: 1) Trotz der paulinischen Vorgaben bedurfte offenbar in zahlreichen Gemeinden das Verhältnis von jüdischer und frühchristlicher Identität einer weiteren Klärung. Dabei ging es um die Beschneidung (Kol 2,11; 3,11; Eph 2,11), jüdisch-hellenistische Sonderlehren (Kol 2,8; Tit 1,10f), Engelverehrung (Kol 2,18), Speisevorschriften/Kalenderobservanz (Kol 2,16) und das Gesetz (1Tim 1,3–11; Eph 2,15; Jak 2,8–12; 4,11). Speziell der Jakobusbrief zeigt, dass unterschiedliche Gesetzeskonzepte über längere Zeit im frühen Christentum vertreten wurden. 2) Anhaltender Klärungsbedarf bestand auch bei der Frage nach dem Zeitpunkt der Parusie und der individuellen Totenauferstehung. Sowohl der eschatologische Fahrplan 2Thess 2,1–12 als auch die apologetische Sentenz 2Petr 3,8 („ein Tag vor dem Herrn sind tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag“) lassen deutlich erkennen, dass die Verzögerung der Parusie theologische Debatten hervorrief. Bei der individuellen Totenauferstehung stand die Frage nach einer bereits erfolgten Auferstehung im Mittelpunkt, die in Kol 3,1–4; Eph 2,6 vertreten und in 2Tim 2,18 ausdrücklich als Irrlehre bezeichnet wird. 3) Das anhaltende Wachstum der Gemeinden machte die Frage einer christlichen Lebensführung immer dringlicher, wie die Behandlung zahlreicher ethischer Fragen deutlich zeigt (reich-arm: Jak 2,1–13; 4,13–5,6; 1Tim 6,17–19; Bürgerliches Verhalten gegenüber der Gesellschaft: Kol 4,5; Eph 4,28f; 2Thess 3,6.11f; Unzucht/Unreinheit: Eph 5,1ff; Verhalten der Gemeindeglieder untereinander: 1Tim 5,1–16.17–19; Entkräftung von Vorwürfen gegen die Christen: 1Petr 2,12– 17; 3,16; 4,4.14f; Lk 6,22f; Apg 14,22). 4) In den wachsenden Gemeinden mussten Hauptentwicklungen skizzieren U. B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte, passim; J. BECKER (Hg.), Die Anfänge des Christentums, 160 ff.
6
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 493
auf verschiedenen Ebenen Strukturen innerhalb des Hauses/der Hausgemeinde und der Gesamtgemeinde geschaffen werden. Zwei Modelle bestimmen dabei die Entwicklung: a) Die Haus-/Ständetafeln (Kol 3,18–4,1; Eph 5,22–6,9; 1Petr 2,18–3,7; 1Tim 2,8–15; Tit 2,2–10)7 bestimmen mit dem antiken oikoß-Gedanken das grundlegende Ordnungsgefüge. Die Überordnung des Mannes bzw. Vaters wird akzeptiert, zugleich aber durch die Verpflichtung gegenseitiger Liebe und Fürsorge begrenzt. b) Bei der Einführung von Ämtern dominieren das Presbyter-Kollegium, das Diakonenund das Episkopenamt (1Tim 3,1–7.8–13; Tit 1,5- 7). 5) Gegen Ende des 1. Jh. treten konkurrierende christliche Lehrsysteme in Erscheinung, die mit dem Vorwurf schädlicher Spekulationen oder dem Begriff der ‚Gnosis‘ verbunden werden (Kol 2,8–3,1; 1Tim 6,20; 2Tim 2,14–26; Tit 1,10–16; 3,9)8. In dieser Situation diente die Entwicklung von Ämtern offensichtlich der inneren Stabilisierung der Gemeinden. Das Verhältnis zum religiösen Staat
Bei ihrem Weg zwischen Weltdistanz und Weltanpassung war für die frühchristlichen Gemeinden das Verhältnis zum Staat von entscheidender Bedeutung. Das römische Reich der Kaiserzeit war in seinem Kern religiös konstituiert, denn: „Der römische Kaiser war Gottheit. Er war dies von Anfang an, seit Caesar und Augustus, er war es zu Lebzeiten, er war es auch im Westen des römischen Reiches, in Italien, in Rom.“9 Der römische Kaiserkult erwuchs aus der hellenistischen Herrscherverehrung und war keineswegs eine rein äußere rituelle Angelegenheit, sondern muss als ein politisch-religiöses Phänomen verstanden werden, das die Einwohner des römischen Reiches auf zahlreichen Gebieten tangierte. Der Kaiserkult gewinnt bereits in den letzten Jahren der Herrschaft Caesars deutliche Konturen. Caesar wird schon zu Lebzeiten als Göttlicher verehrt, zu seinen Ehren werden Tempel, Altäre, Standbilder errichtet, denen eine eigene Priesterschaft dient (vgl. Suet, Caes 76,1). Nach seinem Tod erhielt Caesar „alle menschlichen und göttlichen Ehren zuerkannt“ (Suet, Caes 84,2), er wurde feierlich unter die Götter erhoben und galt von nun an als Staatsgott. Unter Octavian/Augustus erfolgte eine Restauration der römischen Religion. Kulte wurden wieder eingeführt, Tempel restauriert und wieder geöffnet. Augustus baute bewusst den Kaiserkult aus, um ihn als religiös-politisches Mittel zur Herrschaftssicherung einzusetzen. In betonter Kontinuität zu seinem Stiefvater ließ sich Augustus sowohl in Rom als auch im Osten des Reiches verehren: „Nichts hat er den Göttern an Ehrungen vorbehalten, da er in Tempeln und im Götterbild durch Eigenpriester 7 Zu den religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergründen der Haus- und Ständetafeln s. u. 10.1.6. 8 Zur Entstehung und zum Weltbild gnostischer Gruppen vgl. H.-J. KLAUCK, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II, Stuttgart 1996, 145–198; CHR. MARKSCHIES, Die Gnosis, München 2001;
K.-W. TRÖGER, Die Gnosis, Freiburg 2001. M. CLAUSS, Kaiser und Gott (s. o. 7.4), 17; für den Osten des römischen Reiches vgl. S. R. F. PRICE, Rituals and Power. The Roman imperial cult in Asia Minor, Cambridge 1984; TH. WITULSKI, Kaiserkult in Kleinasien, NTOA 63, Göttingen/Fribourg 2007.
9
494 Das Evangelium in der Welt
und Priester verehrt werden wollte“ (Tac, Ann I 10,6). Um die göttlichen Ehren der Kaiser auszudrücken, wurden Monatsnamen und Jahresbeginne geändert10; der Kaiser bekam göttliche Eigenschaften verliehen: er ist ewig, unbesiegbar; er sorgt für sein Reich, ist rastlos tätig und allgegenwärtig11. Vergil verbindet mit dem Auftreten des Augustus ein goldenes Zeitalter (Aeneis 6,791–797). Auf zahlreichen Inschriften und Münzen erscheint Augustus als ‚Gott‘ oder als ‚Sohn Gottes‘, der sowohl von Römern als auch von Griechen gleichermaßen verehrt wurde. Die Kaiser ließen sich als Friedensstifter, Wohltäter und Retter des Erdkreises feiern12. Der Kaiserkult mit seiner göttlichen Verehrung des Kaisers (teilweise noch zu Lebzeiten, immer nach dem Tod) fand zahlreiche Anhänger in Rom, vor allem aber in den Provinzen13. Von den einzelnen Kaisern wurde er unterschiedlich eingesetzt; während Tiberius, Claudius, Vespasian und Titus eher zurückhaltend waren, intensivierten Caligula, Nero14 und Domitian den Kaiserkult zur Durchsetzung persönlicher und politischer Ziele. Die römische Religion war traditionell nicht auf Konflikte, sondern auf Integration angelegt15. Sie kannte keine Mission und keinen Auftrag, andere Menschen zur eigenen Religion zu bekehren. Sie breitete sich durch Diffusion aus und war in der Lage, andere Kulte zumindest teilweise zu integrieren. Dies zeigt sich vor allem in der großen Verbreitung orientalischer Kulte, die auch in Rom nicht zu übersehen waren16. Die Römer übten Toleranz in Religionsfragen nach dem Grundsatz, dass die Missachtung der Götter deren eigene Angelegenheit sei (vgl. Tac, Ann 1 73,4). Voraussetzung für eine solche Akzeptanz war allerdings, dass sich die Kulte nicht gegen die bestehende gesellschaftliche Ordnung richteten und keine destabilisierenden Wirkungen hatten17. Ganz anders die beiden orientalischen Religionen, die durch einen radikalen Monotheismus die polytheistische Grundlage der römischen Staats- und Gesellschaftsordnung in Frage stellten: das Christentum und das Judentum. In Rom ist mit ca. 30–40 000 Juden um die Zeitenwende zu rechnen18; es kam immer wieder zu Konflikten zwischen der Obrigkeit und den Juden, dennoch wurde diese Religion als althergebrachte Religion geduldet und akzeptiert19. Demgegenüber stellte das
10 Vgl. den Kalendererlass der ‚Griechen in der Asia‘; OGIS 458 = NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 246 f. 11 Vgl. M. CLAUSS, Kaiser und Gott, 219–279. 12 Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–256. 13 Vgl. dazu H. CANCIK/K. HITZL, Die Praxis der Herrscherverehrung in Rom und seinen Provinzen, Tübingen 2003. 14 Als geradezu klassisches Zeugnis vgl. die Freiheitserklärung Neros an die Griechen im Jahr 67 n.Chr.; SIG3 814 = NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 249 f. 15 Vgl. dazu J. RÜPKE, Die Religion der Römer, München 2001.
16 Vgl. F. KOLB, Rom, 607–620. 17 Der bei Livius XXXIX überlieferte Bacchanalien-
Prozess 186 v.Chr. zeigt deutlich, dass die religiöse Toleranz der Römer dort endete, wo sie durch Kulte eine Destabilisierung der öffentlichen Ordnung befürchteten. Zum Verhältnis der römischen Religion zu anderen Religionen vgl. U. BERNER, Religio und Superstitio, in: Th. Sundermeier (Hg.), Den Fremden wahrnehmen, Gütersloh 1992, 45–64. 18 Vgl. F. KOLB, Rom, 621; es handelt sich um ca. 3,5% der Gesamtbevölkerung. 19 Vgl. Jos, Ant 14,190–260; 19,280–285.286– 291.299–311; 20,10–14. Als Sonderrechte der Juden
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 495
Christentum mit seinem exklusiven Monotheismus, seiner Verehrung eines Gekreuzigten als Gottessohn, seiner aggressiven Mission, seiner Distanz zu überlieferten kulturellen Ritualen und seiner Weigerung des Opfers für den Kaiser aus römischer Sicht einen destabilisierenden Faktor dar. Das ‚Nein‘ zum Kaiserkult war aus römischer Sicht auch ein ‚Nein‘ zum römischen Staat, denn es störte das grundlegende Verhältnis des Staates zu seinen Göttern. Auseinandersetzungen
Die Formierung einer neuen religiösen Bewegung mit einem exklusiven Identitätsanspruch erfolgt nie ohne Konflikte. Sie ergaben sich für das Christentum zwangsläufig mit dem Judentum, aus dem die neue Bewegung entstand und in dessen Umfeld es erste und stetige Missionserfolge gab20. Die Paulusbriefe (1Thess 2,14–16; Gal 6,12) und die Apostelgeschichte (Apg 16,20f; 17,5–9) bezeugen, dass es im Gefolge des Claudius-Ediktes (49 n.Chr.) zu lokalen Aktionen des Judentums gegen das junge Christentum kam. Während das antike Judentum seine religiöse und ethnische Identität zu wahren suchte, überschritt das sich formierende frühe Christentum bewusst und programmatisch ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen. Es propagierte ein universales Konzept messianischer Erlösung, das die Menschen aller Völker mit einbezog. Nicht Abgrenzung, sondern Akkulturation (vgl. 1Kor 9,20–22) und Inkulturation sowie transethnische Konzeptionen (vgl. Gal 3,26–28) bestimmten maßgeblich die frühchristliche Mission. Das frühe Christentum schuf eine neue kognitive Identität, die bisherige kulturelle Identitäten teilweise aufnahm und zugleich tiefgreifend umformte. Es bot ohne Beschränkung und persönliche Hürden, was auch das Judentum anziehend machte: monotheistische Verkündigung und ein exklusives Ethos. Das frühchristliche Identitätskonzept integrierte und transformierte einerseits jüdische Basisüberzeugungen, zugleich löste es sich von den klassischen Säulen des Judentums (Erwählung, Tora, Tempel und Land). Die christliche Verkündigung übte offenbar eine große Anziehungskraft auf die Gottesfürchtigen aus. Mit ihnen verlor die Synagoge wirtschaftlich und politisch einflussreiche Männer und Frauen (vgl. Apg 16,14f; 17,4) und damit auch ein wichtiges Verbindungsglied zur paganen Gesellschaft. Das ohnehin an vielen Orten empfindliche Gleichgewicht zwischen den Juden und ihrer heidnischen Umwelt wurde gestört. Die Juden mussten aus ihrer Perspektive das entstehende Christentum als einen destabilisierenden Faktor ansehen: Es gewann seine Mitglieder in einem erheblichen Umfang im Umkreis der Syngalten: Versammlungsrecht, Tempelsteuer, interne Rechtsordnung, Sabbatruhe, Einhaltung der Speisevorschriften, keine Opfer für heidnische Götter, Befreiung vom Kaiserkult; vgl. dazu G. DELLING, Die Bewältigung der Diasporasituation durch das hellenistische Judentum, Berlin 1987, 49–55; G. STEMBERGER, Die Juden im Römischen Reich: Unterdrückung und
Privilegien einer Minderheit, in: H. Frohnhofen (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus, HTS 3, Hamburg 1990, 6–22. 20 Vgl. hierzu B. WANDER, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jh. n.Chr., TANZ 16, Tübingen 21997.
496 Das Evangelium in der Welt
agoge und gefährdete darüber hinaus als vermeintlicher Bestandteil des Judentums das sensible Verhältnis zum römischen Staat. Das sich herausbildende frühe Christentum löste sich nicht nur vom Judentum, sondern auch das Judentum trennte sich vom entstehenden Christentum. Ihm konnte nicht daran gelegen sein, mit einer Bewegung in unmittelbare Verbindung gebracht zu werden, die einen von den Römern hingerichteten Aufrührer als Gottes Sohn verehrte21. Eine gravierende Veränderung bringt die Verfolgung der stadtrömischen Christen im Jahr 64 n.Chr. unter Nero (vgl. Tac, Ann XV 44, 2–5; Suet, Nero 16,2)22. Die römischen Behörden nahmen nun die Christen als eine eigenständige, vom Judentum getrennte Bewegung wahr. Wenn Nero ohne weitere Begründung und unter Beifall der Bevölkerung die Christen für den Brand Roms verantwortlich machen konnte, dann war diese Bewegung bereits in der gesamten Stadt bekannt und wurde von der Mehrheit der Bevölkerung als bestrafungswürdig angesehen. Die göttliche Verehrung eines Gekreuzigten, die für Außenstehende merkwürdigen Praktiken und Texte im Kontext von Taufe und Herrenmahl, die exklusive Gemeindeorganisation, die soziale Unterstützung in Not geratener Gemeindeglieder und die Weigerung, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen, hatten sehr wahrscheinlich zahlreiche Verdächtigungen und Vorwürfe zur Folge. Die Christen wurden kulturell als Esoteriker und politisch als gefährlich wahrgenommen. Seit der neronischen Zeit wurde offenbar das öffentliche Bekenntnis „Christianus sum “ als ein todeswürdiges Verbrechen angesehen. Der Grund dafür dürfte darin liegen, „daß der Christianismus durch die Person seines ‚Stifters‘ als eines hingerichteten politischen Aufrührers und die Christiani als Anhänger und Träger seines Namens von Anfang an generell kriminalisiert waren.“23 Eine neue Dimension gewannen die Verfolgungen in der Regierungszeit von Domitian (geb. 51 n.Chr., Kaiser v. 81–96 n.Chr.)24, der sich seit 85 n.Chr. ‚dominus et deus noster‘ (Suet, Dom 13,2) nennen ließ25. Ob Domitian eine größere Christenverfolgung initiierte, ist umstritten26. Wahrscheinlich führte die Intensivierung des Kai-
21 Vgl. dazu F. VITTINGHOFF, „Christianus sum“ . Das „Verbrechen“ von Außenseitern der römischen Gesellschaft, Historia 33 (1984), (331–357) 336 ff. 22 Alle relevanten Texte sind leicht zugänglich in: P. GUYOT/R. KLEIN (Hg.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen (s. o. 9.1). 23 F. VITTINGHOFF, „Christianus sum“, 336. 24 Ein Porträt Domitians bieten L. THOMPSON, Book of Relevation (s. u. 13), 96–115; CHR. URNER, Kaiser Domitian im Urteil antiker literarischer Quellen und moderner Forschung, Augsburg 1993. Beide Forscher bemühen sich um eine Neubewertung des (düsteren) Domitian-Bildes.
25 Vgl. ferner die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 854 f. 26 Vgl. R. FREUDENBERGER, Art. Christenverfolgungen, TRE 8, Berlin 1981, 25; K. ALAND, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Frühzeit, ANRW II 23,1, Berlin 1979, (60–246) 224; A. Y. COLLINS, Crisis and Catharsis, The Power of the Apocalypse, Philadelphia 1984, 69 ff. Die klassische Gegenposition vertritt E. STAUFFER, Christus und die Caesaren, München 1966, 172: „Wir lesen die Apokalypse mit ganz neuen Augen, wenn wir sie so verstehen als apostolische Gegnererklärung gegen die Kriegserklärung des Gottkaisers in Rom.“
Die soziale, religiöse und politische Entwicklung 497
serkultes vor allem in den Gemeinden Kleinasiens zu Repressionen, die mehr waren als rein lokale Ereignisse. Die Nichtbeteiligung am Kaiserkult und die kulturelle Außenseiterrolle der Christen konnten Maßnahmen zur Folge haben, wie sie Plinius d. J. teilweise auch schon für die Zeit Domitians voraussetzt27. Innerhalb des Neuen Testaments wird wahrscheinlich im 1Petrusbrief (s. u. 11.1) und in der Johannesoffenbarung (s. u. 13) auf die Christenverfolgungen unter Domitian angespielt. Der 1Petrusbrief setzt eine aktuelle Konfliktsituation zwischen der Gemeinde und ihrer Umwelt voraus, die über lokale Repressionen hinausgeht. Nach 1Petr 4,15f werden Christen allein wegen ihres Christseins (wß Cristiano´ß)28 wie Mörder, Diebe oder Übeltäter vor Gericht verurteilt. Ein Läuterungsfeuer bricht über die Christen herein (vgl. 1Petr 4,12), sie sollen dem Teufel widerstehen, der im gesamten Kosmos umhergeht und allen Christen dieselben Leiden zufügt (1Petr 5,8f). Die Gemeinden der Johannesoffenbarung sehen sich dem sakral überhöhten Machtanspruch des Römischen Reiches ausgesetzt, der vom Seher Johannes in einer ausgeführten Bilder- und Symbolsprache dargestellt wird. In mythologischer Sprache beschreibt der Seher das Wüten des Tieres (Offb 13; 17), die Sendschreiben liefern den historischen Hintergrund: Christen werden bedrängt (Offb 2,9), ins Gefängnis geworfen (Offb 2,10) und ein Zeuge wurde bereits getötet (Antipas in Offb 2,13; vgl. Offb 6,9–11). Die Stunde der Versuchung kommt über den Erdkreis (Offb 3,10)29. Der Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan zwischen 111 und 113 n.Chr. zeigt schließlich30, dass schon längere Zeit gegen Christen vorgegangen wurde, wobei das 27 Neben Ep X 96,6 (20 Jahre zuvor widerriefen Denunzierte ihren Glauben) ist auf Ep X 96,5 zu verweisen. Hier erwähnt Plinius seine Forderungen an die Christen, „zu denen sich, wie es heißt, überzeugte Christen niemals zwingen lassen“. Dies setzt voraus, dass eine derartige Praxis schon längere Zeit in Kleinasien üblich war! Nach Tac, Ann 15,44; Plin, Ep X 96 wurden als Vorwürfe gegen die Christen erhoben: Menschenhass, Staatsfeindlichkeit, Gottlosigkeit, Aberglaube, kultische Unzucht und wirtschaftliche Schädigung. 28 Vgl. Plin, Ep X 96, 2–3: „Ich habe nicht wenig geschwankt, ob das Alter irgendeinen Unterschied bedingt oder ob kein Unterschied gemacht wird in der Behandlung junger Leute und Erwachsener, ob der Reue Gnade zu gewähren ist, oder ob es dem, der einmal Christ gewesen ist, nichts hilft, dass er es nicht mehr ist, ob der Name allein, wenn keine Verbrechen vorliegen, oder ob nur mit dem Namen verbundene Verbrechen bestraft werden sollen. Vorläufig habe ich bei denen, die mir als Christen angezeigt wurden, folgendes Verfahren angewandt: Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. Die es bejahten, habe ich ein zweites und drittes Mal gefragt, wobei ich
ihnen die Todesstrafe androhte; die dabei blieben, habe ich befohlen abzuführen. Denn ich zweifelte nicht, dass, was auch immer sie vorbringen mochten, Hartnäckigkeit und unbeugsame Halsstarrigkeit bestraft werden müssten.“ 29 Ein Reflex auf die Christenverfolgungen unter Domitian liegt wahrscheinlich in Dio Cass LXVIII 1,2 vor, wo es in einem Bericht über die Neuerungen des Kaisers Nerva heißt: „Ferner ließ Nerva alle, die wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht standen, frei, und rief die Verbannten zurück, während er alle Sklaven und Freigelassene, die gegen ihre Herren gearbeitet hatten, hinrichtete und außerdem allen Angehörigen dieses Personenkreises verbot, irgendwelche Klage gegen ihre Herren zu erheben. Und niemand mehr durfte Anzeige wegen Majestätsbeleidigung und wegen Annahme jüdischer Lebensweise (LIoudai¨kou˜ bı´ou) erheben. Auch von den Denunzianten wurden viele zum Tode verurteilt, unter ihnen der Philosoph Seras.“ 30 Zur Analyse des Briefwechsels vgl. R. FREUDENBERGER, Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im 2. Jahrhundert, München 21969.
498 Das Evangelium in der Welt
nomen ipsum der entscheidende Anklagegrund war. Plinius und Trajan plädieren für die Bestrafung jener Christen, die angezeigt werden und sich im Strafverfahren uneinsichtig zeigen. Zugleich signalisiert ihre Haltung eine gewisse Entspannung, denn Plinius äußert Bedenken in den von ihm selbst durchgeführten Verfahren und Trajan lässt anonyme Anzeigen nicht gelten. Zudem reduziert er möglicherweise die Mindestanforderungen für die Loyalität gegenüber dem römischen Staat. Zugleich bleibt aber festzuhalten, dass beide ein offenbar bereits gefestigtes Urteil über die neue Bewegung übernehmen und praktizieren: Christen sind grundsätzlich des Todes würdig. Bewältigungsstrategien
Die Strategien zur Bewältigung der komplexen Probleme des ausgehenden ersten Jahrhunderts sind in den einzelnen Schriften naturgemäß unterschiedlich, dennoch lassen sich grundlegende Bewältigungsmechanismen erkennen: 1) Die Gemeinden verlangten keine äußere Statusveränderung ihrer Mitglieder. Vielmehr erwies sich das Bewusstsein und die Praxis gesellschaftsintegrierend, in der Gemeinde und damit in Christus gleich zu sein. 2) Ein Ausgleich zwischen Arm und Reich wurde in den Gemeinden durch die soziale Fürsorgepflicht und das Gebot der Gerechtigkeit und Liebe angestrebt. 3) Die Gemeinden strebten keine gesellschaftliche Veränderung an, sondern versuchten durch vorbildhaftes Verhalten ihre Existenz zu sichern und missionarisch tätig zu sein.
9.2
Pseudepigraphie/Deuteronymität als historisches, literarisches und theologisches Phänomen
H. R. BALZ, Anonymität und Pseudepigraphie im Urchristentum, ZThK 66 (1969), 403–436; N. BROX, Falsche Verfasserangaben, SBS 79, Stuttgart 1975; N. BROX (Hg.), Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike, Darmstadt 1977; W. SPEYER, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum, HAW 1.2, München 1971; M. HENGEL, Anonymität, Pseudepigraphie und ‚literarische Fälschung‘ in der jüdisch-hellenistischen Literatur, in: ders., Judaica et Hellenistica, WUNT 90, Tübingen 1996, 196–251; K.M. FISCHER, Anmerkungen zur Pseudepigraphie im Neuen Testament, NTS 23 (1977), 76–81; P. POKORN, Das theologische Problem der neutestamentlichen Pseudepigraphie, EvTh 44 (1984), 486–496; D. G. MEADE, Pseudonymity and Canon, WUNT 39, Tübingen 1986; M. WOLTER, Die anonymen Schriften des Neuen Testaments, ZNW 79 (1988), 1–16; A. D. BAUM, Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum, WUNT 2.138, Tübingen 2001; M. FRENSCHKOWSKI, Pseudepigraphie und Paulusschule, in: F.W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus, BZNW 106, Berlin 2001, 239–272; R. ZIMMERMANN, Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem, ZNT 12 (2003), 27–38; K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung im Maskenspiel (s. u. 11.1), 9–156.
Pseudepigraphie/Deuteronymität 499
Die ntl. Pseudepigraphie, d. h. die Veröffentlichung von Schriften mit historisch nicht zutreffenden Verfasserangaben, stellt innerhalb der antiken Literatur keinen Einzelfall dar, denn sowohl in der griechisch-römischen31 als auch in der jüdischen Literatur32 finden sich zahlreiche pseudepigraphische Werke. Begriffliches
Mit den Worten Pseudepigraphie (griech.: yeudepı´grafoß = falsch überschrieben, falsche Aufschrift) und Pseudonymität (griech.: yeudw´numoß = „falsch, unrichtig benannt“) verbinden sich nicht selten Werturteile, die sich aus dem Etikett des ‚Falschen‘ und der ‚Lüge‘ (griech.: yeudv´ß = lügnerisch) ergeben. Ob es sich bei den betreffenden Schriften um Fälschungen und/oder die falsche Inanspruchnahme von Namen handelt, ist allerdings umstritten, so dass nach neutraleren Bezeichnungen für das Phänomen gesucht wird. Sinnvoll erscheint der Vorschlag, von Deuteronymität zu sprechen33, d. h. ein Autor nimmt einen zweiten (griech.: deu´teroß) Namen in Anspruch, um sein Anliegen zu autorisieren. Für die Paulusschüler ist dies ein legitimer Vorgang (s. u. 10), nicht aber für die anderen pseudepigraphischen Schriften. Deshalb erscheint es mir angemessen zu sein, zunächst Pseudepigraphie und Deuteronymität gleichberechtigt nebeneinander zu verwenden, und bei der einzelnen Schrift zu fragen, welche Klassifizierung sachgemäßer ist. Die historische Situation
Zeitlich ist die ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität deutlich eingrenzbar; die meisten pseudepigraphischen/deuteronymen Schriften entstanden zwischen 60 und 100 n.Chr., wobei die Protopaulinen und die Ignatius-Briefe die jeweilige Grenze bilden. Der genannte Zeitraum stellt innerhalb der Geschichte des Urchristentums eine Epoche des Umbruchs und der Neuorientierung dar. Die Generation der ersten Zeugen war gestorben, eine gesamtkirchliche Organisation existierte noch nicht, innergemeindliche Ämter bildeten sich erst heraus, die Problematik der Parusieverzögerung trat voll in das Bewusstsein, es gab erste umfassende Verfolgungen und schließlich bestimmten sowohl die schmerzliche Loslösung vom Judentum als auch die intensive Auseinandersetzung mit Irrlehren in den eigenen Reihen jene Zeit. Zudem lässt 2Thess 2,2 vermuten, dass auch Gegner die Autorität des Paulus durch Pseudepigraphen/Deuteronyme in Anspruch nahmen. In dieser Situation der Neuorientierung und der damit verbundenen notwendigen Neuinterpretation der überlieferten Traditionen war für viele Gruppen innerhalb des Urchristentums offenbar die Pseudepi-
31 Zur Pseudepigraphie bei Griechen und Römern vgl. bes. W. SPEYER, Die literarische Fälschung, 111– 149. 32 Vgl. dazu D.G. MEADE, Pseudonymity, 17–85. 33 So J. GNILKA, Kol (s. u. 10.1), 23f; aufgenommen
von F. HAHN, Theologie I, 333 f. R. ZIMMERMANN, Unecht – und doch wahr?, 30, spricht von ‚imitativer Pseudepigraphie‘; H. MARSHALL, Past (s. u. 10.4), 84, für die Pastoralbriefe von „allonymity“ bzw. „allepigraphy“.
500 Das Evangelium in der Welt
graphie/Deuteronymität das wirksamste Mittel, um auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen34. Sozialgeschichtlich sind für die Entstehung der brieflichen Pseudepigraphie/Deuteronymität die gemeinschaftliche Missionspraxis des Paulus35 und die Existenz einer Paulusschule36 von großer Bedeutung. In den Protopaulinen erscheinen mit Ausnahme des Röm neben Paulus immer Mitverfasser (1Thess 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,2; Phil 1,1; Phlm 1), sie wurden von Sekretären (Röm 16,22) oder Schreibern (1Kor 16,21; Gal 6,11; Phlm 19) abgefasst, d. h. die Briefe haben bei aller Vorrangstellung des Paulus auch den Charakter von Gemeinschaftswerken. Deshalb konnten die Schüler mit Recht die Autorität des Paulus in Anspruch nehmen, indem sie dessen Gedanken aufnahmen, weiterentwickelten, mündliche Paulustraditionen in die Briefe integrierten37 und der aktuellen Gemeindesituation entsprechend eigene Argumentationsgänge einbrachten. Es dürfte für frühchristliche Gemeinden durchaus plausibel gewesen sein, dass Paulus auch Briefe an seine engsten Mitarbeiter Timotheus (vgl. 1Thess 3,2; Röm 16,21; Phil 2,19–23) und Titus (vgl. 2Kor 8,16) geschrieben hat. Ebenso waren Briefe an die bedeutenden Gemeinden in Ephesus (vgl. 1Kor 15,32; 16,8; Apg 18, 19.21.24; 19,1.17.26; 20,16f) und Kolossä und auch ein zweiter Brief an eine von Paulus gegründete Gemeinde (2Thess) zu erwarten. Diese Briefe könnten in Gemeinden ‚aufgefunden‘ und/oder mit authentischen Briefen als Sammlung herausgegeben worden sein38. Schließlich dürften Briefe von so bedeutenden Persönlichkeiten wie Petrus oder Jakobus als nicht außergewöhnlich empfunden worden sein. Beide hatten eine wechselvolle Geschichte, die in Anspruch genommen werden konnte. Alle ntl. Pseudepigraphen/Deuteronyme waren in eine ganz bestimmte zeitgeschichtliche Situation eingebunden und müssen als Versuch der Bewältigung zentraler Probleme der dritten urchristlichen Generation gesehen werden. Das Ziel der ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität bestand nicht nur darin, die Kontinuität der apostolischen Tradition in der Zeit nach dem Tod der Apostel sicherzustellen. Vielmehr sollte vor allem die Autorität der Apostel in der Gegenwart im Modus deutender Erinnerung neu zur Sprache gebracht werden. Indem die Verfasser sich auf die Ursprünge der Tradition beriefen, begründeten sie den Verbindlichkeitsanspruch ihrer
34 Vgl. K. M. FISCHER, Anmerkungen zur Pseudepi-
38 Vgl. die plausible Vermutung von P. TRUMMER,
graphie, 79 ff. 35 Vgl. hierzu W.-H. OLLROG, Paulus und seine Mitarbeiter (s. o. 6.7), 109 ff. 36 Vgl. U. SCHNELLE, Paulus (s. o. 6), 146–160. 37 Vgl. dazu A. STANDHARTINGER, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes (s. u. 10.1), 91–152.
Corpus Paulinum – Corpus Pastorale (s. u. 10.4), 133: „Die Past konnten als pln Pseudepigrapha nur geschrieben und verbreitet werden im Zuge einer Neuedition des bisherigen Corpus. Eine andere Entstehung hätte bei aller vorhandenen Leichtgläubigkeit und dem teilweise unkritischen Verhalten frühchristlicher Kreise doch auch auf eine sehr empfindliche Kritik und Abwehr stoßen müssen.“
Pseudepigraphie/Deuteronymität 501
Neuinterpretation angesichts der in der Gegenwart neu aufgebrochenen Probleme. Die sekundären Verfasserangaben zeugen somit immer auch von der Bedeutung des Primären! Die literarische Konstruktion
Pseudepigraphie/Deuteronymität ist ein konstruktives und intertextuell39 angelegtes literarisches Verfahren, das als Leseanweisung für eine Person (z. B. Petrus/Jakobus) oder eine Schrift (z. B. Paulusbriefe) dient. Ziel ist es dabei in der Regel, das Bedeutungsspektrum einer Person und/oder Schrift zu erweitern und/oder im Hinblick auf bestimmte Fragestellungen zu präzisieren. Indem Personen und/oder Texte durch einen neuen Text in einen veränderten Interpretationsrahmen gestellt werden, ergeben sich neue Lektüren und Bedeutungen40. Es wird sowohl im Hinblick auf die Referenzperson/den Referenztext als auch im Hinblick auf den neuen Text Polyvalenz hergestellt, d. h. eine Erweiterung des Verstehens angestrebt. Pseudepigraphische/ deuteronyme Texte beziehen sich von vornherein auf einen personalen und/oder literarischen Gesamtzusammenhang, auf den hin sie konzipiert wurden und aus dem heraus sie in bestimmter Weise rezipiert werden sollen. Im Einzelnen bedienten sich die Verfasser der Pseudepigraphen/Deuteronyme sehr verschiedener Mittel. Während z. B. der Hebräerbrief in Kap. 13,23 nur andeutungsweise zu erkennen gibt, dass er von Paulus geschrieben sein will, bieten die Pastoralbriefe eine vollständige Paulus-Fiktion. So werden die Briefeingänge und Briefabschlüsse dem paulinischen Stil mit ihren Adressenangaben, Grüßen, Namensnennungen und persönlichen Mitteilungen nachgeahmt (vgl. 1Tim 1,1f; 6,21; 2Tim 1,1–5; 4,19–22; Tit 1,1–4; 3,12–15). Darüber hinaus schildert der Verfasser bis in Details hinein die jeweilige Lebenssituation des Paulus (vgl. 1Tim 1,20; 2Tim 4,13), und er gibt sogar Gedanken des Apostels angesichts des bevorstehenden Todes wieder (vgl. 2Tim 4,6–8.17f). Dabei kommt der Person des Apostels legitimierende und normierende Bedeutung zu. Die von ihm geforderte Mimesis (vgl. 1Kor 4,16) gewann mit den Deuteropaulinen auch auf literarischer Ebene Gestalt. Die Elemente der stilistischen Imitation, der fiktiven Situationsschilderung durch chronologische Angaben oder der Schilderung historischer Umstände und die Darstellung der jeweiligen persönlichen Situation der in Anspruch genommenen Autorität gehören in verschiedener Intensität zu den Mitteln ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität. Sie sind Stilmittel, um dem grundlegenden Bezug auf die jeweilige Autoritätsperson (z. B. Paulus oder Petrus) den erforderlichen Nachdruck zu verleihen. Dabei bedingen sich die vom jeweiligen Verfas-
39 Zur Intertextualität vgl. ST. ALKIER, Intertextualität – Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrscher, BThSt 55, Neukirchen 2003, 1–26. Ich setze folgenden Intertextualitätsbegriff voraus: Intertextualität meint alle in den Texten nachweisbaren Formen
von Zitierungen, Anspielungen und Bezugnahmen eines Textes auf einen anderen Text innerhalb einer sprachlichen und kulturellen Enzyklopädie. 40 Vgl. hierzu A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus (s. u. 10.4), 35–71.
502 Das Evangelium in der Welt
ser gewählten Stilmittel und die Situation, in die hinein das pseudepigraphische/deuteronyme Schreiben wirken soll. Wenn z. B. in 1Tim 5,23 Paulus dem Timotheus rät, wegen seiner Gesundheit auch etwas Wein zu trinken, dann richtet sich dieser persönliche Ratschlag auch gegen die rigorosen asketischen Bestrebungen (vgl. auch Kol 2,16!), die der Briefschreiber in 1Tim 4,3–9 bekämpft.
Pseudepigraphische/deuteronyme Schriften werden in eine fingierte Kommunikationssituation gestellt, um so auf subtile und literarisch anspruchsvolle Weise die eigene Situation durch den Bezug auf eine Person und/oder Schrift zu thematisieren. Die theologische Problematik
Eine theologische Beurteilung darf nicht von den (heutigen) moralischen Kategorien der Fälschung oder des Betruges ausgehen41, denn die ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität fügt sich als gängiges Phänomen in das zeitgeschichtliche Umfeld ein42 und Täuschung ist gerade nicht ihr Ziel. Die literarische Form der Pseudepigraphie/Deuteronymität war im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste Mittel, um die neu aufgebrochenen Probleme aus der Sicht der Verfasser der Pseudepigraphen/Deuteronyme im Sinn der von ihnen jeweils in Anspruch genommenen Autoritäten zu lösen, d. h. im Vordergrund steht eine bestimmte Rezeptionsabsicht. Die moralische Kategorie der Fälschung ist deshalb ungeeignet, die Zielsetzungen der Pseudepigraphie/Deuteronymität zu erfassen43, denn die Wahrheit des Gesagten hängt nicht von einer zutreffenden oder nicht zutreffenden Verfasserangabe an, die sich ohnehin nie restlos klären lässt. Sachgemäßer ist deshalb, von ‚entliehenen Verfasserangaben ‘ zu sprechen, bei denen die apostolische Autorität als Bürge für die Gültigkeit des Gesagten auftritt44. Die ntl. Pseudepigraphie/Deuteronymität muss als der theologisch legitime und ekklesiologisch notwendige Versuch angesehen werden, apostolische Traditionen in einem Akt deutender Anamnese innerhalb sich verändernder Situationen zu bedenken und zu bewahren, zugleich aber auch notwendige Antworten auf neue Situationen und Fragen zu geben. Dabei ist die gesamtkirchliche Perspektive für die pseudepigraphischen/deuteronymen Schriften charakteristisch, denn sie entstanden aus ökumenischer Verantwortung.
41 Vgl. dazu N. BROX, Falsche Verfasserangaben,
81 ff. 42 Vgl. als Parallele vor allem die Kynikerbriefe; die Texte sind zugänglich in: L. KÖHLER, Die Briefe des Sokrates und der Sokratiker, Philologus XX/II, Leipzig 1928; E. MÜSELER, Die Kynikerbriefe. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung, Paderborn 1994.
43 Vgl. R. ZIMMERMANN, Unecht – und doch wahr?,
34 f. 44 Vgl. N. BROX, Falsche Verfasserangaben, 105, der
für die Pseudepigraphie „das Motiv der Partizipation an der überlegenen Vergangenheit“ betont.
10.
Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
U.B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte (s. o. 9.1); G. SCHILLE, Das älteste Paulusbild, Berlin 1979; A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum, BHTh 58, Tübingen 1979; E. DASSMANN, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Münster 1979; K. KERTELGE (Hg.), Paulus in den ntl. Spätschriften, QD 89, Freiburg 1981; P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule, AThANT 74, Zürich 1988; K. SCHOLTISSEK (Hg.), Christologie in der Paulus-Schule, SBS 181, Stuttgart 2000; TH. SCHMELLER, Schulen im Neuen Testament?, HBS 30, Würzburg 2001; A. DETTWILER, L‘ cole paulinienne: valuation d‘ une hypoth se, in: A. Dettwiler/J.-D. Kaestli/D. Marguerat (Hg.), Paul, une thologie en construction (s. o. 6), 419–440.
Die größte Gruppe pseudepigraphischer/deuteronymer Schreiben bilden die Deuteropaulinen. Dies ist kein Zufall, denn durch seine denkerische Leistung, sein beeindruckendes Lebenswerk und schließlich durch seinen Märtyrertod wurde Paulus zu einer zentralen Identifikationsfigur des frühen Christentums. Die paulinische Theologie war zudem nie ein starrer, unveränderlicher monolithischer Block, sondern ein auf Grundüberzeugungen beruhendes System, das für historische Veränderungen und theologische Herausforderungen offen war. Schüler des Apostels nahmen diese Tendenz auf und verfassten unter dem Namen des Paulus Briefe, die in veränderter Zeit die paulinische Theologie weiter-dachten und ihr so weiterhin Gehör verschaffen wollten. Die Deuteropaulinen nahmen Grundanliegen des Apostels auf und entwickelten sie im Hinblick auf ihre spezifische historische und theologische Situation weiter. Dabei sind sie untereinander sehr verschieden: Während der Kolosser- und der Epheserbrief umfassend das paulinische Denken aufnehmen, weiterentwickeln und abwandeln, konzentrieren sich die Pastoralbriefe auf Einzelaspekte und der 2Thessalonicherbrief thematisiert fast ausschließlich die Parusiethematik.
10.1 Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit E. KÄSEMANN, Leib und Leib Christi, BHTh 9, Tübingen 1933; E. PERCY, Die Probleme der Kolosserund Epheserbriefe, Lund 1946; G. BORNKAMM, Die Häresie des Kolosserbriefes, in: ders., Das Ende des Gesetzes, München 31961, 139–156; E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttingen 1968.21977; F.J. STEINMETZ, Protologische Heils-Zuversicht, FTS 2, Frankfurt 1969; J. LÄHNEMANN, Der Kolosserbrief. Komposition, Situation und Argumentation, StNT 3, Gütersloh 1971; W. BUJARD, Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosserbrief als Beitrag zur Methodik von Sprachvergleichen, SUNT 11, Göttingen 1973; F. ZEILINGER, Der Erstgeborene der
504 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Schöpfung, Wien 1974; H. LUDWIG, Der Verfasser des Kolosserbriefes. Ein Schüler des Paulus, Diss. theol., Göttingen 1974; CHR. BURGER, Schöpfung und Versöhnung, WMANT 46, Neukirchen 1975; E. SCHWEIZER, Der Brief an die Kolosser, EKK XII, Neukirchen 1976.21980; J. GNILKA, Der Kolosserbrief, HThK X, Freiburg 1980; A. LINDEMANN, Der Kolosserbrief, ZBK 10, Zürich 1983; H. E. LONA, Die Eschatologie im Kolosser- und Epheserbrief, fzb 48, Würzburg 1984; P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule (s. o. 10); T. J. SAPPINGTON, Revelation and Redemption at Colossae, JSNT.S 53, Sheffield 1991; M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser, ÖTK 12, Gütersloh 1993; R. HOPPE, Der Triumph des Kreuzes. Studien zum Verhältnis des Kolosserbriefes zur paulinischen Kreuzestheologie, SBB 28, Stuttgart 1994; J. D. G. DUNN, The Epistles to the Colossians and to Philemon, Grand Rapids 1996; H. HÜBNER, An die Kolosser, HNT 12, Tübingen 1997; A. STANDHARTINGER, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes, NT.S 94, Leiden 1999; CHR. STETTLER, Der Kolosserhymnus, WUNT 2.131, Tübingen 2000; I. MAISCH, Der Brief an die Gemeinde in Kolossä, ThKNT 12, Stuttgart 2003; G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology in Paul and the Pauline School, WUNT 2.171, Tübigen 2003; M. DÜBBERS, Christologie und Existenz im Kolosserbrief, WUNT 2.191, Tübingen 2005; O. LEPPÄ, The Making of Colossians, SFEG 86, Göttingen 2005; R.MCL. WILSON, Colossians and Philemon, ICC, London 2005.
Der Kolosserbrief ist das erste Schreiben, das nach dem Tod des Apostels im Namen des Paulus (und des Timotheus) abgefasst wurde. Von einem Mitarbeiter und Schüler des Apostels um 70 n.Chr. geschrieben, steht der Kol wie kein anderer nachpaulinischer Brief in historischer und theologischer Kontinuität zu Paulus1. Diese Nähe berechtigt dazu, den Kol als ein deuteronymes Schreiben zu bezeichnen, das darauf zielt, die gefährdete Identität der Gemeinde durch eine behutsame Weiterentwicklung paulinischer Gedanken zu stabilisieren. Die Gemeinde in Kolossä war offenbar im Begriff, zentrale Elemente ihrer bisherigen Religiosität wie die Verehrung von Gestirnen und Mittelwesen/Engeln, die Furcht vor Dämonen, den Schicksalsglauben und asketische Praktiken wieder zu aktivieren und mit ihrem Christusglauben zu kombinieren. Der Kol sah darin eine Relativierung der Heilswirksamkeit des Christusgeschehens, die er durch eine Betonung der universalen Aspekte des Gotteshandelns in Jesus Christus zu überwinden suchte. Diesem pragmatischen Ziel dient die gesamte Argumentation des Kol mit ihrer charakteristisch intensiven Verschränkung von Christologie, Soteriologie, Eschatologie und Ekklesiologie auf theologischer Basis.
10.1.1 Theologie Die Theo-logie bildet die sachliche Voraussetzung für die Argumentation des Kol, wenngleich sie auf der Textoberfläche nicht dominiert. Gott erscheint als der Vater
1 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 326–343.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 505
Jesu Christi (Kol 1,3), der in seiner Gnade Urheber des Wortes der Wahrheit, des Evangeliums ist (Kol 1,5f). Paulus wurde Diener dieses Wortes, das Gott seit ewigen Zeiten verbarg (Kol 1,25), nun aber den Völkern offenbarte: „Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,27). Christus ist das mustv´rion tou˜ heou˜ („Geheimnis Gottes“), „in ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (Kol 2,3; vgl. 1,27). Gott ist zu danken für sein Handeln in Jesus Christus (Kol 3,16f) und die Gemeinde soll Gott bitten, dass der Apostel auch im Gefängnis das Geheimnis Christi weiter sagen kann (Kol 4,3). Deutlich erkennbar ist die theo-logische Fundierung der Christologie vor allem in der Verhältnisbestimmung von Kol 1,12–14 zu 1,15–20 und in Kol 2,14f2. Der ‚Christus-Hymnus‘ Kol 1,15–20 (s. u. 10.1.2) wird mit Kol 1,12–14 theo-logisch begründet: Subjekt des Geschehens ist Gott als Vater, der die Glaubenden aus der Finsternis errettete und in das Reich seines Sohnes versetzte. Gott ist allen Mächten überlegen, denn allein er gewährt in Christus Erlösung und Vergebung der Sünden (Kol 1,14). Gott ist die Fülle der Gesamtheit, von deren Sichtbarwerden der Hymnus spricht. Ein zweiter Schlüsseltext ist Kol 2,14f3; in der Auseinandersetzung mit der kolossischen ‚Philosophie‘ (Kol 2,8: filosofı´a) argumentiert der Briefschreiber wiederum theologisch: Gott „hat den gegen uns zeugenden Schuldschein mit seinen uns verklagenden Sätzen getilgt; er hat ihn aufgehoben, indem er ihn ans Kreuz nagelte. Er hat die Mächte und Gewalten entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt; in ihm hat er über sie triumphiert.“ Die militärische Metaphorik des Triumphzuges (vgl. 2Kor 2,14 f) unterstreicht die Endgültigkeit des Geschehens: So wie der Feldherr durch den Triumphzug seinen Sieg demonstriert (vgl. Plutarch, Pompeius 83,3), dokumentiert Gott die Unterwerfung der Mächte und Gewalten am Kreuz. Das pragmatische Ziel des Kolosserbriefes liegt in dem Erweis der umfassenden, alles ausfüllenden und alles bestimmenden Herrschaft Gottes in Jesus Christus. Deshalb greift der Kol zentrale Begriffe gemein-antiker Religiosität auf4, begründet sie theo-logisch und füllt sie christologisch, um so der kolossischen ‚Philosophie‘ als einer innergemeindlich konkurrierenden Lebens- und Weltdeutung ihre Faszination zu nehmen, die offenbar auf ihrer umfassenden Kombination alter und neuer Deutungsmuster und der damit verbundenen Totalität ihres Weltbildes beruhte. Dem
2 Vgl. hier R. HOPPE, Theo-logie in den Deuteropaulinen (Kolosser- und Epheserbrief), in: Monotheismus und Christologie, hg. v. H.-J. Klauck, QD 138, Freiburg 1992, 163–185. 3 Zur ausführlichen Analyse vgl. R. HOPPE, Der Triumph des Kreuzes (s. o. 10.1), 252–259. 4 Vgl. Z. B. Wahrheit (1,5.6: alv´heia); Philosophie (2,8: filosofı´a, nur hier im NT); (sichtbar/unsichtbar (1,16: orato´ß; 1,15.16: ao´ratoß); Erkenntnis (1,9.10; 2,2; 3,10: epı´gnwsiß); Macht (1,11.29: du´na-
miß; 1,13.16; 2,10.15: exousı´a); Licht (1,12: fw˜ß); Geheimnis (1,26.27; 2,2; 4,3: mustv´rion); Fülle (1,19; 2,9: plv´rwma; 1,25; 2,10; 4,17: plvro´w); Ebenbild (1,15; 3,10: eikw´n); Demut (2,18.23; 3,12: tapeinofrosu´nv); Elemente der Welt (2,8.20: stoiceı˜a tou˜ ko´smou). Als Vergleich zum Kol kann die pseudoaristotelische Schrift De mundo (peri` ko´smou) herangezogen werden, die im 1. Jh. n.Chr. entstanden sein könnte und ein eindrückliches Zeugnis des zu dieser Zeit vorherrschenden antiken Weltbildes ist.
506 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
tritt der Kol mit einer in jeder Hinsicht universalen Sinnbildung entgegen, bei der Gottes Handeln die Grundlage für die Dominanz der Christologie bildet5.
10.1.2 Christologie Die Bedeutung des Heilswerkes Jesu Christi für den gesamten Kosmos steht im Zentrum der Christologie des Kolosserbriefes6. Sie umfasst fast alle zentralen christologischen Themen: Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft, Kreuz, Versöhnung, Tod und Auferstehung, Herrschaft bei Gott, Wiederkunft. Kosmische Christologie
Christus ist der Erstgeborene vor aller Kreatur, in ihm wurde das All geschaffen, durch ihn und auf ihn hin hat es Bestand (vgl. Kol 1,15–17). Als Herr der Schöpfung und Schöpfungsmittler herrscht er über alles Geschaffene, das Unsichtbare und Sichtbare. Christus ist das Haupt aller Mächte (Kol 2,10) und triumphiert über die kosmischen Gewalten (Kol 2,15). In ihm hat der Kosmos Bestand und er weist allen Mächten ihre Bedeutung zu. Die Gemeinde partizipiert bereits in der Gegenwart an dieser Herrschaft Christi. Er versöhnte durch seinen Tod die Glaubenden mit Gott (Kol 1,22) und tilgte den sie anklagenden Schuldbrief (Kol 2,14). Nun kann auch den Heiden Christus als der Herr des Kosmos verkündigt werden (Kol 1,27). Kol 3,11d bringt die Christologie des Briefes prägnant zum Ausdruck: „Christus ist alles in allem“ (ta` pa´nta kai` en pa˜sin Cristo´ß)7. Dieses Konzept einer kosmischen Christologie, die durch ein Denken in Herrschaftssphären und -räumen gekennzeichnet ist, kann an Aussagen der Protopaulinen anknüpfen, in denen auch die kosmische Herrschaft Christi verkündigt wird (vgl. 1Kor 8,6; Phil 2,9–11; 3,20f). Der Verfasser des Kol geht aber über diese traditionellen Aussagen weit hinaus, indem er die kosmologischen Dimensionen zur Grundlage und zum Zentrum der Christologie macht. Ein wesentlicher Anlass für die Erweiterung der christologischen Perspektiven dürfte die konkurrierende ‚Philosophie‘ in Kolossä gewesen sein8. In die kolossische ‚Philosophie‘ flossen Elemente aus dem
Vgl. dazu R. GEBAUER, Der Kolosserbrief als Antwort auf die Herausforderung des Synkretismus, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 153–169. 6 Einen Überblick zur Christologie des Kol vermitteln: A. DE OLIVEIRA, Christozentrik im Kolosserbrief, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der PaulusSchule (s. o. 10), 72–103; L. W. HURTADO, Lord Jesus Christ (s. o. 4), 504–510; eingehende Analysen bietet 5
G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology (s. o. 10.1), 59– 146. 7 In 1Kor 15,28 ist Gott „alles in allem“ (o heo`ß ta` pa´nta en pa˜sin)! 8 Forschungsüberblicke und Interpretationen vermitteln G. BORNKAMM, Die Häresie des Kolosserbriefes, in: ders., Das Ende des Gesetzes, München 3 1961, 139–156 (ältere Diskussion); E. SCHWEIZER, Kol (s. o. 10.1), 100–104; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 155–163; I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 30–40. Zum
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hellenistischen Judentum, der zeitgenössischen stoischen, neupythagoreischen und mittelplatonischen Philosophie sowie der Mysterienkulte ein, so dass eine monokausale religionsgeschichtliche Ableitung unmöglich erscheint. Die Gegner des Kol praktizierten ihre Lehre und ihren Kult offenbar innerhalb der Gemeinde. Sie verstanden sich nicht als Häretiker, sondern sahen in ihrer Philosophie eine legitime Ausdrucksform des christlichen Glaubens. Die Gegenüberstellung der ta` stoiceı˜a tou˜ ko´smou („Mächte der Welt“) mit Christus in Kol 2,8 lässt darauf schließen, dass in der ‚Philosophie‘ die stoiceı˜a als persönliche Mächte vorgestellt wurden. Sie erscheinen als Gewalten, die über den Menschen ihre Herrschaft ausüben wollen (vgl. Kol 2,10.15). Wahrscheinlich verehrten und fürchteten die Kolosser zugleich die Elemente, wobei neben der Askese die Beschneidung, Demutshaltungen und Engelverehrung als Mittel erschienen, um den vermeintlichen Forderungen der Elemente gerecht zu werden. Deutlich ist in jedem Fall die Tendenz, durch Einfügung in die kosmische Ordnung den Mächten und Elementen neben Christus die schuldige Verehrung entgegenzubringen. Der Hymnus
Die Basis für die Auseinandersetzung mit der konkurrierenden Lehre bildet als Grundtext auf kompositioneller und inhaltlicher Ebene der Hymnus in Kol 1,15–209: (15) oÇß estin eikw`n tou˜ heou˜ tou˜ aora´tou, prwto´tokoß pa´svß ktı´sewß, (16) oÇti en autw˜ ektı´shv ta` pa´nta en toı˜ß ouranoı˜ß kai` epi` tv˜ß gv˜ß, ta` orata` kai` ta` ao´rata, eıte hro´noi eıte kurio´tvteß eıte arcai` eıte exousı´aik ta` pa´nta diL autou˜ kai` eiß auto`n ektistaik (17) kai` auto´ß estin pro` pa´ntwn kai` ta` pa´nta en autw˜ sune´stvken, Schlüsselbegriff ta` stoiceı˜a tou˜ ko´smou vgl. G. DELArt. stoiceı˜on, ThWNT VII, Stuttgart 1966, 666– 687; J. BLINZLER, Lexikalisches zu dem Terminus ta` stoiceı˜a tou˜ ko´smou bei Paulus, AB 18, Rom 1963, 429–443; E. LOHSE, Kol (s. o. 10.1), 146–149; E. SCHWEIZER, Altes und Neues zu den „Elementen der Welt“ in Kol 2,20; Gal 4,3.9, in: Wissenschaft und Kirche (FS E. Lohse), hg. v. K. Aland/S. Meurer, Bielefeld 1989, 111–118; D. RUSAM, Neue Belege zu den ta` stoiceı˜a tou˜ ko´smou (Gal 4,3.9; Kol 2,8.20), ZNW 83 (1992), 119–125; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 122–124. LING,
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, Erstgeborener der ganzen Schöpfung, denn in ihm wurde alles geschaffen in den Himmeln und auf der Erde, das Sichtbare und Unsichtbare, seien es Throne oder Herrschaften, seien es Hoheiten oder Machthaber, alles (das All) ist durch ihn und auf ihn geschaffen. Und er ist vor allem und alles hat in ihm Bestand. 9 Vgl. zu Kol 1,15–20 neben den Kommentaren bes. H. HEGERMANN, Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und Urchristentum, TU 82, Berlin 1961, 89–93; CHR. BURGER, Schöpfung (s. o. 10.1), 3–53; R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus (s. o. 4), 143–155; K. WENGST, Christologische Formeln und Lieder (s. o. 4), 170–179; F. ZEILINGER, Der Erstgeborene der Schöpfung (s. o. 10.1), 179–205; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. u. 12.2.1), 225–266; CHR. STETTLER, Der Kolosserhymnus (s. o. 10.1), 75 ff.
508 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
(18) kai` auto´ß estin v kefalv` tou˜ sw´matoß tv˜ß ekklvsı´aßk oÇß estin arcv´, prwto´tokoß ek tw˜n nekrw˜n, ıÇna ge´nvtai en pa˜sin auto`ß prwteu´wn, (19) oÇti en autw˜ eudo´kvsen pa˜n to` plv´rwma katoikv˜sai (20) kai` diL autou˜ apokatalla´xai ta` pa´nta eiß auto´n, eirvnopoiv´saß dia` tou˜ aıÇmatoß tou˜ staurou˜ autou˜, eıte ta` epi` tv˜ß gv˜ß eıte ta` en toı˜ß ouranoı˜ß.
Er ist das Haupt des Leibes der Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei. Denn es gefiel der ganzen Fülle in ihm zu wohnen, und durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen, Frieden schaffend durch das Blut seines Kreuzes, auf Erden wie in den Himmeln.
Der traditionelle Hymnus beginnt in V. 15, wo ein plötzlicher Stilwechsel festzustellen ist10. Während Kol 1,3–14 die für den Stil des Briefes typischen Elemente aufweist (Partizipialkonstruktionen, lose angehängte Infinitive, Häufung von Synonymen, Häufung von Genitiven, Wiederholungen), fehlen sie in V. 15–2011. Hinzu kommen sprachliche Besonderheiten: orato´ß (Kol 1,16), proteu´ein (V. 18) und eirvnopoieı˜n (V. 20) sind Hapaxlegomena im Neuen Testament. In den Protopaulinen finden sich weder hro´noß noch arcv´ (V. 16). Vom Blut Christi spricht Paulus nur im Anschluss an überlieferte Traditionen (vgl. Röm 3,25; 1Kor 10,16; 11,25.27), die Wendung aıma tou˜ staurou˜ autou˜ (V. 20) hat bei ihm keine Parallele. Bei der Gliederung des Hymnus ist von dem parallelen oÇß estin in V. 15 und V. 18b auszugehen, das eine Zweiteilung nahelegt. Weiter entspricht prwto´tokoß pa´svß ktı´sewß in V. 15 prwto´tokoß ek tw˜n nekrw˜n in V. 18b. Auf den jeweiligen Relativsatz folgt dann ein begründendes oÇti (V. 16.19). V. 17 und 18a werden jeweils durch kai` auto´ß angefügt, V. 20 durch kai` diL autou˜. Der Hymnus gliedert sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in zwei Strophen. Ist in der ersten Strophe (V. 15–18a) von der kosmologischen Bedeutung des Christusgeschehens die Rede, so steht in der zweiten Strophe (V. 18b–20) seine soteriologische Dimension im Mittelpunkt. Der an v kefalv` tou˜ sw´matoß in V. 18a angehängte genitivus epexegeticus tv˜ß ekklvsı´aß stört diesen Aufbau, denn er führt die soteriologisch-ekklesiologische Dimension bereits in der ersten Strophe ein. Zudem entspricht dieses Interpretament dem Verständnis der Kirche als Leib Christi, wie es der Verfasser des Kol z. B. in Kol 1,24 entfaltet. Ein weiteres Interpretament zeigt sich in der doppelten präpositionalen Wendung dia` tou˜ aıÇmatoß tou˜ staurou˜ autou˜ (V. 20). Der Hinweis auf das Kreuzesgeschehen muss als ein Eintrag des Verfassers des Kol angesehen werden, der die kosmischen Dimensionen des Christusgeschehens an das Kreuz und damit an die Geschichte bindet12. Parallelen zum Philipperbrief-Hymnus sind unverkennbar, hier wie dort wird das Traditionsstück durch Interpretamente mit dem Kontext verbunden. Religionsgeschichtlich knüpft der Hymnus 10 Zu den verschiedenen formgeschichtlichen Klassifizierungen von Kol 1,15–20 (Hymnus/Christuslied/Christuspsalm/Lehrgedicht/Christus-Enkomion) vgl. I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 77 f.
11 Vgl. H. LUDWIG, Der Verfasser des Kolosserbriefes
(s. o. 10.1), 32 ff. 12 Vgl. a. a. O., 79.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 509
an Vorstellungen des hellenistischen Judentums an, bei denen der Weisheit jene Prädikate zugelegt werden, die im Hymnus Christus gelten13. Der Verfasser macht diesen wahrscheinlich in Kleinasien entstandenen christlichen Hymnus zum Ausgangspunkt der Argumentation in einer Gemeinde, in der hymnische Traditionen von großer Bedeutung waren (vgl. Kol 3,16b).
Inhaltlich vertritt der Hymnus eine kosmologisch-universale Christologie : Jesus Christus ist als Ebenbild des unsichtbaren Gottes Erschaffer, Bewahrer und Versöhner des Kosmos. Er war vor allem, durch ihn wurde alles und in ihm sind Versöhnung und Frieden. Die im Hymnus dominierenden Vorstellungen der Präexistenz, der Schöpfungsmittlerschaft sowie der Allgegenwart, Allwirksamkeit und Ausschließlichkeit Jesu Christi werden vom Kol in dreifacher Weise ergänzt: 1) Der Kol füllt den kosmologischen Leib-Gedanken in V. 18a mit dem Zusatz tv˜ß ekklvsı´aß ekklesiologisch. Damit wird einerseits die paulinische Vorstellung von der Kirche als Leib Christi (sw˜ma Cristou˜) aufgenommen (1Kor 12), andererseits ist für den Kol die unpaulinische Unterscheidung zwischen dem ‚Haupt‘ und dem ‚Leib‘ fundamental (Kol 2,19: „und der sich nicht an das Haupt hält, von dem aus der ganze Leib, versorgt und unterstützt durch Gelenke und Bänder, das Wachstum Gottes fördert“), mit der die Herrschaftsfunktion Christi unterstrichen wird (Kol 2,10: „und ihr seid in ihm Erfüllte, der das Haupt jeder Macht und Gewalt ist“). 2) In V. 20b trägt der Kol durch das Interpretament dia` tou˜ aıÇmatoß tou˜ staurou˜ autou˜ („durch sein Kreuzesblut“) die paulinische Kreuzestheologie ein (vgl. 1Kor 1,18ff): Versöhnung und Friedensstiftung ereignen sich im Kreuzesgeschehen. 3) Durch diese Interpretamente fügt der Kol die kosmologischen Dimensionen des traditionellen Hymnus und genuin paulinische Gedanken zusammen: Fülle, Versöhnung und Frieden ereignen sich im Kreuzesgeschehen und sind in der Kirche als Leib Christi gegenwärtig. Die Grundgedanken des Hymnus bestimmen auch die weiteren christologischen Aussagen des Kolosserbriefes, sprachlich vor allem angezeigt durch die Aufnahme von pa˜n/pa´nta (1,16.17.18.19.20: „alles“) in Kol 2,2.9.13.19; 3,11.17.20.22 und en autw˜ (1,16.17.19: „in ihm“) in Kol 2,6.7.9.10.11.12.15. Der Hymnus begründet die Christozentrik des Briefes und steht dabei bereits im Dienst der Gegnerpolemik (vgl. die Aufnahme von Kol 1,19 in Kol 2,9, ferner 2,10 mit 1,16b.17)14. Proklamieren die Gegner eine Verbindung zwischen christlichem Glauben und Dienst gegenüber den Mächten und Gewalten, so setzt der Verfasser des Kol dieser Lehre das solus Christus 13 Vgl. hierzu den Nachweis bei E. LOHSE, Kol (s. o. 10.1), 85–103. 14 A. STANDHARTINGER, Entstehungsgeschichte und Intention (s. o. 10.1), 284, minimiert die Bedeutung der gegnerischen Lehre für das Denken des Kol: „Eine bestimmte die Gemeinde gefährdende ‚Häresie‘
oder ‚Philosophie‘ haben die Verf. m.E. nicht im Blick.“ Stattdessen betont sie den Einfluss jüdischdualistischer Weisheitstraditionen auf den Kol und meint, die durch den Tod des Apostels Paulus ausgelösten Probleme seien das Thema des Kol.
510 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
entgegen15. Für die Irrlehrer reicht Christus allein noch nicht aus, um an der Heilsfülle teilzuhaben. Gegenüber der Weltangst und Verunsicherung der Gemeinde betont hingegen der Verfasser des Kol die volle Gegenwart des Heils in Jesus Christus: „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). Über die Auseinandersetzung mit der kolossischen ‚Philosophie‘ hinaus stellt die Christologie des Kol eine eigenständige und wirkungsgeschichtlich einflussreiche Weiterentwicklung paulinischer Christologie dar. Der Kol nimmt nicht die Rechtfertigungslehre des Gal und Röm auf (es fehlen: no´moß; alle Formen des dik-Stammes), sondern orientiert sich an den räumlichen (89mal die Präposition en; 8mal sw˜ma) und partizipatorischen Elementen (vgl. die su´n-Wendungen in Kol 2,12.13.20; 3,3.4) des paulinischen Denkens. Damit positioniert sich der Autor auch im Kontext der zeitgenössischen Philosophie16, für die das Wesen der Gottheit/der Gottheiten und ihr Verhältnis zum All, zur Zeit und zur Fülle des Seins ein zentrales Thema war17. Für den Kol löst Jesus Christus aus den versklavenden Mächten, er ist die wahre Fülle allen Seins (Kol 1,19; 2,9) und stellt die Gemeinde in den Raum der Freiheit des Glaubens und des neuen Seins (Kol 3,11).
15 Treffend H. LÖWE, Bekenntnis, Apostelamt und Kirche im Kolosserbrief, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, (299–314) 310: „Der Autor des Briefes stellt den als göttlich proklamierten traditiones humanae (2,8) die im Taufbekenntnis enthaltene traditio divina von Jesus Christus gegenüber (2,6).“ 16 Für den Hymnus Kol 1,15–20 vgl. die Belege bei J. GNILKA, Kol (s. o. 10.1), 59ff; E. SCHWEIZER, Kol (s. o. 10.1), 56ff; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 76 ff. Zur stoischen All-Formel vgl. E. NORDEN, Agnostos Theos, Darmstadt 61974 (= 1923), 240–250; Belege für stoische und mittelplatonische Schöpfungstheorien und All-Formeln finden sich in: NEUER WETTSTEIN II/1, 313–316. 17 Eine Übersicht zur zeitgenössischen Physik der Stoa und des Mittelplatonismus bietet G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology (s. o. 10.1), 17–58. Aus der Vielzahl der Belege vgl. Cicero, De Nat Deor II 115, wo die Anordnung der Gestirne bewundert wird und es u. a. heißt: „Durch besondere Dauerhaftigkeit
zeichnen sich aber die Körper aus, die miteinander verbunden sind, da sie, wie von einer Art Band umschlungen, zusammengehalten werden. Dafür verantwortlich ist das Wesen, welches, mit Verstand und Vernunft alles bewirkend, das gesamte Weltall durchdringt und die am äußersten Rand befindlichen Teile zum Mittelpunkt hinreißt und -wendet.“ Vgl. ferner Plut, Mor 393A, wo die Existenz Gottes als Füllung der Zeit und des Sein definiert wird: „Aber der Gott hat das Sein, muss man sagen, und er ist nicht in irgendeiner Zeit, sondern in der Ewigkeit, der unbeweglichen, zeitlosen, unveränderlichen, angesichts deren es nichts Früheres und Späteres, nichts Bevorstehendes noch Vergangenes, nichts Älteres noch Jüngeres gibt, sondern sie ist nur Eine, und mit ihrem Jetzt, das Eines ist, hat sie das immerdar erfüllt (allL eıß wn eni` tw˜ nu˜n to` aei` peplv´rwke); und allein, was in diesem ist, ist wahrhaft seiend, etwas, das nicht geworden ist, nicht sein wird, nicht angefangen hat, nicht enden wird.“
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 511
10.1.3 Pneumatologie Der Kolosserbrief bietet keine ausgeführte Pneumatologie (2mal pneu˜ma; 2mal pneumatiko´ß). Im Rahmen der Danksagung Kol 1,3–14 erscheint in Kol 1,8 die konventionelle Wendung „er hat uns auch eure Liebe im Geist kundgemacht“ und in Kol 2,5a lässt der Briefschreiber Paulus sagen: „Wenn ich auch im Fleisch abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch“. Möglicherweise hängt dieses deutliche Zurücktreten der Pneumatologie mit dem räumlich orientierten Denken des Kolosserbriefes zusammen, mit dem dynamische Elemente wie das Geistwirken nur bedingt vereinbar sind. Auch die Aufnahme des Apostels Paulus in den Traditionsgedanken (s. u. 10.1.7) lassen elementare Geisterfahrungen (vgl. 1Thess 5,19; 1Kor 14,1) nicht mehr zu.
10.1.4 Soteriologie Ausgangspunkt für die Soteriologie des Kolosserbriefes ist die Versetzung der Glaubenden in einen neuen Heilsbereich durch Gott, „der uns aus der Macht der Finsternis gerettet und in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt hat“ (Kol 1,13). Im Sohn hat die Gemeinde „die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,14: tv`n apolu´trwsin, tv`n afesin tw˜n amartiw˜n). Das Kreuz wird im Kolosserbrief zum Ort der Entmachtung der Mächte (Kol 2,14f), die nun keinen Zugriff mehr auf die Glaubenden haben18. Am Kreuz vollzieht sich die Versöhnung und realisiert sich der wahre Friede durch das Blut des Sohnes (Kol 1,20). Mit die Wendung dia` tou˜ aıÇmatoß tou˜ staurou˜ autou˜ („durch sein Kreuzesblut“) trägt der Kol ein geschichtliches Datum in die universale Versöhnungsvorstellung19 des Hymnus ein und wahrt so die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Geschehens20. Die Aufnahme von Kreuzestheologie und Versöhnungsvorstellung in Kol 1,22 („er hat euch aber jetzt versöhnt in seinem Fleischesleib durch den Tod, um euch heilig und makellos und unbescholten vor sich hinzustellen“)21 signalisiert die zentrale Stellung des Themas für den Briefschreiber:
18 Vgl. M. KARRER, Jesus Christus (s. o. 4), 110: „Das Zentrum der Soteriologie verlagert sich auf eine Überwältigung der Mächte und Gewalten, die auf den verschuldeten Menschen zurückgreifen könnten.“ Zum Hintergrund von Kol 2,14 in der antiken Schuldnerpraxis vgl. J. LUTTENBERGER, Der gekreuzigte Schuldschein: Ein Aspekt der Deutung des Todes Jesu im Kolosserbrief, NTS 51 (2005), 80–95. 19 Zum hellenistischen Hintergrund der Vorstellung der ‚Versöhnung des Alls‘ vgl. E. SCHWEIZER, Versöhnung des Alls. Kol 1,20; in: ders., Neues Testament
und Christologie im Werden, Göttingen 1982, 164– 178 (er verweist vor allem auf Philo); M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 87f (antike Herrschaftstheorien). 20 Vgl. I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 119 f. 21 Sühnopfervorstellungen sehen in Kol 1,20.22 u. a. A. DE OLIVEIRA, Christozentrik (s. o. 10.1), 87f; A. DETTWILER, Das Verständnis des Kreuzes Jesu im Kolosserbrief, in: J. Zumstein/A. Dettwiler (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, (81–105) 103.
512 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Der gekreuzigte Leib des irdischen Jesus ist der Ort des universalen Versöhnungsgeschehens, in dessen Wirkungsbereich sich nun die Glaubenden und Getauften befinden22. Der Kol steht hier nahe bei Paulus (vgl. 2Kor 5,18–20; Röm 5,10), setzt aber zugleich einen charakteristischen Akzent: Subjekt des Versöhnungsgeschehens ist nicht Gott, sondern Christus (vgl. Eph 2,16)23. Die Taufe
Wie für Paulus (Röm 6,1–11) ist auch für den Kolosserbrief die Taufe der Ort, wo das universale Heilsgeschehen dem einzelnen Christen zugeeignet wird, sich das Versetztwerden in den neuen Heilsbereich real-geschichtlich vollzieht (Kol 2,12: „mit ihm wurdet ihr begraben in der Taufe, in der ihr auch mit auferweckt wurdet durch den Glauben an die Wirkkraft Gottes, der ihn aus den Toten erweckte“)24. Wie in Röm 6,3–5 findet sich hier die Vorstellung einer umfassenden Partizipation der Glaubenden am Schicksal ihres Herrn, allerdings mit einem fundamentalen Unterschied: Während Paulus nie von einer bereits erfolgten Auferstehung der Glaubenden spricht und diesen in der Logik der vorpaulinischen Tradition Röm 6,3b–4 liegenden Gedanken ausdrücklich vermeidet25, überträgt der Kol die Zeitform der Vergangenheit auch auf die Auferstehung der Glaubenden. Allerdings vertritt der Autor damit keinen unreflektierten Heilsenthusiasmus, denn die Näherbestimmung „durch den Glauben“ (dia` tv˜ß pı´stewß) präzisiert und begrenzt das Auferstehungsgeschehen als Glaubenseinsicht. Die Aufnahme von Kol 2,12 in 2,20 („Wenn ihr mit Christus gestorben seid – weg von den Elementen der Welt – was lasst ihr euch Satzungen auferlegen, als lebet ihr in der Welt?“) zeigt, dass auch hier der Akzent auf der Heilsgewissheit liegt. Eine weitere Übereinstimmung mit Paulus (vgl. Röm 6,1–3.12–23) liegt in der Verbindung von Taufe und Sündenvergebung und der dadurch ermöglichten neuen Existenz (Kol 2,13: „Und euch, die ihr tot wart aufgrund eurer Verfehlungen und der Unbeschnittenheit eures Fleisches, euch hat er mit lebendig gemacht mit ihm; er hat uns alle Übertretungen vergeben“). Als Getaufte sind die Kolosser im Glauben mit Christus auferstanden, der über alle Mächte herrscht, und danach sollen sie ihre Existenz ausrichten. Der Unsicherheit und den Selbstzweifeln der Kolosser stellt der Autor ein geschlossenes soteriologisches Konzept gegenüber: So wie 22 Treffend M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 94: „Die Versöhnten sind in den Heilsbereich des erhöhten Sohnes hineingestellt.“ 23 Vgl. M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 93; anders z. B. A. DETTWILER, Verständnis, 95, der auch hier Gott als Subjekt der Versöhnung sieht. 24 Nach P. POKORN, Der Brief des Paulus an die Kolosser, ThHK 10/I, Berlin 1987, 22, konzentriert sich die Theologie des Kol in der These 2,12f: „Diese These unterscheidet den Kolosser- und Epheserbrief von den übrigen Paulusbriefen und bildet hier gleich-
zeitig das Rückgrat der theologischen Argumentation.“ 25 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 80 f. Da die vorpaulinische Tradition Röm 6,3bf auch schon von einer erfolgten Auferstehung der Glaubenden sprach, ist zu vermuten, dass der Kol Repräsentant einer vor- bzw. nebenpaulinischen Tauftheologie ist, die wie 2Tim 2,18 das Heilsperfektum umfassend auf die Eschata übertrug; anders z. B. M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 131f, der einen direkten Bezug auf Röm 6,4 annimmt.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 513
Gott gänzlich Christus erfüllt (pa˜n to` plv´rwma) und in ihm wohnt (Kol 2,9f), sind auch die Kolosser in Christus erfüllt (kai` este` en autw˜ peplvrwme´noi) und damit allen fremden Ansprüchen enthoben. Die Soteriologie des Kolosserbriefes ist durchgehend von dem Postulat des bereits erfolgten Herrschaftswechsels in allen Bereichen des Seins und der Zeit geprägt.
10.1.5 Anthropologie Anthropologische Aussagen finden sich nur vereinzelt im Kolosserbrief. Der Begriff sa´rx („Fleisch“) wird in Kol 2,11.13 als Bezeichnung der überwundenen ‚fleischlichen‘ Existenz der Gemeinde und in Kol 2,18.23 zur Kennzeichnung des nach wie vor ‚fleischlichen‘ Wesens der Gegner verwendet. Der sw˜ma-Begriff ist im Kolosserbrief vor allem christologisch-ekklesiologisch geprägt (s. u. 10.1.7), in Kol 2,11.23 wird damit neutral der Leib des Menschen bezeichnet. Nur in Kol 1,14 erscheint amartı´a und in Kol 2,13 para´ptwma; an beiden Stellen wird die Heils- und Herrschaftswende als Überwindung der Sünde/der Verfehlungen beschrieben. Von zentraler anthropologischer Bedeutung ist der Glaube, aber im Kolosserbrief findet sich charakteristischerweise nur das Substantiv pı´stiß (Kol 1,4.23; 2,5.7.12), das Verb pisteu´ein hingegen fehlt. Dies hängt ursächlich mit der Fassung des Glaubensbegriffes zusammen. Die Aufforderungen ‚fest und standhaft zu sein, nicht abzuweichen‘ in Kol 1,23; 2,5.7 im unmittelbaren Kontext der kolossischen ‚Philosophie‘ (Kol 2,8) zeigen, dass im Zentrum des Glaubens im Kol das Geglaubte steht26. Es geht zweifellos um Lehrinhalte, ohne dass dadurch der Glaubensakt und das Glaubensleben als lebendiges Geschehen ausgeschlossen sind. Die Lehrinhalte umfassen die kosmischen Dimensionen des Christusgeschehens, wie sie im Hymnus Kol 1,15–20 ausgeführt sind und die daraus zu ziehenden soteriologischen Konsequenzen, wie sie in Kol 2,12 formuliert werden: Die gegenwärtige Realität der Auferstehung vollzieht sich im Glauben, d. h. sie zielt auf die Heilsmacht Gottes, die sich in Jesus Christus erwiesen hat. Mit dem Glaubensbegriff eng verbunden ist die Hoffnung (elpı´ß in Kol 1,5.23.27; das Verb elpı´zein fehlt wiederum), die in einem räumlichen (Kol 1,5: im Himmel) und statischen Sinn (Kol 1,23: nicht abweichen) sich auf das Evangelium von Jesus Christus bezieht. Die Hoffnung ist ein objektiv im Jenseits vorfindliches Heilsgut; sie richtet sich nicht mehr auf die Zukunft (vgl. Röm 8,24), sondern liegt im Himmel für die Glaubenden bereit. Grundlegend für die Anthropologie des Kol ist die Aufnahme des paulinischen Konzeptes des ‚neuen Menschen‘ (2Kor 5,17; Gal 3,27.28; 4,19; 6,15; Röm 6,6; 13,14), das in Kol 3,9f so formuliert wird: „Ihr habt den alten Menschen (palaio`n anhrwpon) mit seinen Taten ausgezogen und den neuen angezogen“ (kai` endusa´menoi to`n ne´on). Die aus griechischer Perspektive leicht verän26 Vgl. I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 129 f.
514 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
derte Aufnahme der Tradition Gal 3,28 in Kol 3,11 markiert den Standort des Autors: Der Status des neuen Menschen wird nicht mehr durch heilsgeschichtliche oder kulturelle Zuschreibungen definiert, sondern allein durch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Die ethische Anwendung der Tradition in Kol 3,12 zeigt, dass sich wie bei Paulus auch im Kolosserbrief mit der Grundlegung der neuen Existenz ein neues Handeln verbindet. Weil mit Gottes Handeln durch Jesus Christus in der Taufe eine wirkliche Veränderung menschlicher Existenz eingetreten ist, kann die Gemeinde auch daraufhin angesprochen werden.
10.1.6 Ethik Die theologisch-christologische Fundierung der Ethik zeigt sich bereits im Proömium, wo der Briefschreiber die Gemeinde lobt und für sie betet, „damit ihr erfüllt werdet mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistgewirkten Einsicht, um des Herrn würdig zu wandeln zum vollen Wohlgefallen: in jedem Werk fruchtbringend und wachsend in der Erkenntnis Gottes“ (Kol 1,9b.10)27. In großer Nähe zu Paulus (vgl. Gal 5,25) wird in Kol 2,6 die Entsprechung zwischen neuem Sein und neuem Handeln eingefordert: „Wie ihr nun den Herrn Jesus angenommen habt, wandelt in ihm“; ebenso Kol 3,13: „Wie der Herr euch vergeben hat, so auch ihr.“ Die spezifische Position des Kol im Verhältnis von Heilsgrundlegung und Heilsentsprechung wird in Kol 3,1–4 sichtbar, wo die einen bereits vollzogenen Herrschafts- und Realitätswechsel dokumentierenden Verben (s. u. 10.1.8) mit zwei Imperativen verbunden werden: „Trachtet nach dem, was oben ist“ (3,1) und „seid bedacht auf das, was oben ist“ (3,2). Die vollzogene Wende des Lebens entlässt nicht aus der Verantwortung, sondern bewahrt sie. Anders als die Enthusiasten in Korinth proklamiert der Briefschreiber trotz der starken Betonung des bereits realisierten Heils kein Überspringen der Wirklichkeit. Dies unterstreichen die sich anschließenden ethischen Mahnungen in Kol 3,5–1728. Sie stellen pointiert das „Einst“ und das „Jetzt“ der Existenz gegenüber (Kol 3,7.8) und gehen über Lasterkataloge (3,5.8) und eine Beschreibung des neuen Menschen in Christus (3,9–11) in ein Loblied der alles überragenden Liebe über: „über allem diesen zieht die Liebe an, die das Band der Vollkommenheit ist“ (Kol 3,14). Die Liebe ist das entscheidende Kriterium der Ethik und das, was den neuen Menschen auszeichnet. Schließlich bezeugt die den Briefkorpus abschließende Haustafel 29 Kol 3,18–4,1 27 Zur Ethik des Kolosserbriefes vgl. E. LOHSE, Chris-
28 Zur Analyse vgl. E. SCHWEIZER, Gottesgerechtigkeit
tologie und Ethik im Kolosserbrief, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 249– 261; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 74–84; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 222–231.
und Lasterkataloge bei Paulus (inkl. Kol und Eph), in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen 1976, 453–477. 29 Zur Forschungsgeschichte und Interpretation vgl. M. GIELEN, Tradition und Theologie neutesta-
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 515
die Einbindung der Gemeinde in die irdischen Realitäten. Die römische familia war das grundlegende Gesellschafts- und Ordnungsmodell der Zeit30; sie bildete das Zentrum aller sozialen Bindungen und allen religiösen Lebens, so dass der maßgebliche Einfluss dieses Modells auf die frühchristlichen Gemeinden nur natürlich ist. An der Spitze steht der pater familias, der die grundlegende Autorität darstellt, zugleich aber in vielfältige Beziehungen eingebunden ist. Bereits Paulus erscheint in Analogie zum pater familias als Zeuger und damit auch Vater der Gemeinde (1Kor 4,15). Im Kontext antiken Ordnungsdenkens31 formuliert die Haustafel als christlicher Text die jeweiligen Verpflichtungen von Frau und Mann, Kindern und Eltern/Vätern, Sklaven und Herren. Die Glieder des christlichen Hauses werden in drei Paaren angesprochen, wobei eine absteigende Linie von der engsten Beziehung (Frau und Mann) bis hin zum Verhältnis Sklave/Herr zu erkennen ist. Jeweils wird das schwächere Glied vorangestellt, beide Glieder sind in der wechselseitigen Ermahnung aufeinander bezogen, und jeweils folgen Anrede, Ermahnung und Begründung aufeinander. Die umfangreichen und den reziproken Aufbau sprengenden Ermahnungen an die Sklaven in 3,22–25 zeigen, dass es hier Probleme gab und eine besondere Motivierung vonnöten war. Die gegenseitigen Pflichten sind in dem Bewusstsein zu erbringen, dass alle einen Herrn haben und von ihm ohne Ansehen der Person ihren Lohn empfangen werden (Kol 3,24; 4,1). Die gesamte Ethik des Kolosserbriefes ist von dem Gedanken der den Lebensvollzug prägenden umfassenden Herrschaft Jesu Christi bestimmt. Die Gemeinde richtet sich nicht wie die Gegner an Lehrsätzen von Menschen (Kol 2,22) aus, sondern an Gottes Willen und Wirklichkeit in der Liebe.
10.1.7 Ekklesiologie Zwei Konzepte bestimmen die Ekklesiologie des Kolosserbriefes: 1) Jesus Christus als Weltherrscher, und 2) Der Apostel Paulus und die Grundlegung der Kirche32. mentlicher Haustafelethik, BBB 75, Frankfurt 1990, 24–67.105–203; M. WOLTER, Kol (s. o. 10.1), 194– 198; U. WAGENER, Die Ordnung des „Hauses Gottes“ (s. u. 10.4), 15–65; A. STANDHARTINGER, Entstehungsgeschichte und Intention (s. o. 10.1), 247–275; J. WOYKE, Die neutestamentlichen Haustafeln, SBS 184, Stuttgart 2000; R. W. GEHRING, Hausgemeinde und Mission (s. o. 6.7), 385–413. 30 Vgl. dazu A. D. CLARKE, Serve the Community of the Church (s. o. 6.7), 79–101. 31 Das hinter der Haustafel stehende Gesellschaftsmodell wird entfaltet bei Aristot, Pol 1252ff; vgl. ferner als Anschauungstext Cic, Off I 17; zivilrechtliche Bestimmungen finden sich in Gaius, Instit I 52–107
(hg. v. U. Manthe, Darmstadt 2004). Die wichtigste direkte Parallele ist Sen, Ep 94,1: „Ein Teilgebiet der Philosophie gibt besondere Vorschriften jeder Person und bildet den Menschen nicht insgesamt, sondern rät dem Ehemann, wie er sich verhält gegenüber seiner Frau, dem Vater, wie er seine Kinder erzieht, dem Herrn, wie er seine Sklaven anleitet“; vgl. ferner Epict, Diss II 14,8; 17,31. Zur antiken Ökonomik vgl. insgesamt G. SCHÖLLGEN, Art. Haus II, RAC 13, Stuttgart 1986, 815–830. 32 Vgl. dazu E. SCHWEIZER, Die Kirche als Leib Christi in den paulinischen Antilegomena, in: ders., Neotestamentica, Zürich 1963, 293–316; E. LOHSE, Christusherrschaft und Kirche, in: ders., Die Einheit des
516 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Jesus Christus als Weltherrscher
Das Zentrum der Ekklesiologie des Kol bildet die sw˜ma-Vorstellung, die mit dem Gedanken der Weltschöpfung und Weltherrschaft Christi verbunden wird (Kol 1,16f)33. Während Paulus den Leib-Gedanken im paränetischen Kontext verwendet (vgl. bes. 1Kor 12,12–27; Röm 12,4–8)34, kommt ihm im Kol eine kosmologische Bedeutung zu. Die Präzisierung tv˜ß ekklvsı´aß in Kol 1,18a verdeutlicht die ekklesiologische Zuspitzung der Vorstellung: Die Kirche ist der von Jesus Christus ermöglichte und durchwaltete universale Heilsraum (vgl. Kol 1,18.24; 2,17.19; 3,15). Sie ist nicht primär Ortskirche (wie bei Paulus), sondern universale Kirche. Wird bei Paulus Christus selbst als Leib der Kirche bezeichnet (vgl. 1Kor 12,12f; Röm 12,4f), so erscheint Christus in Kol 1,18 als Haupt des Leibes (vgl. demgegenüber 1Kor 12,21). Damit gibt der Verfasser das bei Paulus an der konkreten Gemeindesituation orientierte Bild auf und übernimmt die kosmologische Vorstellung des weltweiten Leibes der Kirche, dessen Haupt Christus ist. Nicht mehr das Ineinander der Charismen steht im Mittelpunkt, sondern das Verhältnis zwischen dem Haupt und dem dazu gehörenden Leib. Der bei Gott im Himmel thronende Jesus Christus (Kol 3,1) ist das Haupt seines irdischen Leibes, der Kirche, die aber bereits an seiner Herrschaft vollständig partizipiert (Kol 2,10a). Die ekklesiologische Füllung der Soma-Vorstellung schließt aber ihre kosmologische Dimension nicht aus, denn nach Kol 2,10b ist Jesus Christus zugleich und bleibend auch das „Haupt aller Mächte und Gewalten“, d. h. nicht nur die Kirche, sondern alles Sein untersteht seiner Herrschaft. Christus erschuf das All, versöhnte es, und als das Haupt übt er gegenwärtig seine Herrschaft aus35. Die Kirche erscheint dabei als der vorherbestimmte und herausgehobene Ort (Kol 1,24–27), wo sich diese Herrschaft in besonderer Weise und sichtbar realisiert. Für die Haupt-Leib-Metaphorik lassen sich religionsgeschichtliche Parallelen anführen36, von besonderer Bedeutung ist aber die politische Dimension dieses Bildes. Das römische Imperium verstand sich selbst als das exemplarische Großreich, das von den Göttern dazu ausersehen war, über alle anderen Reiche zu herrschen37. Vergil sieht in den Römern Hektors Geschlecht, gezeugt von Mars und von Romulus aufgebaut: „Ihnen setze ich keine Grenzen der Macht und keine zeitlichen SchranNeuen Testaments, Göttingen 1973, 262–275; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 223–231; I. MAISCH, Kol (s. o. 10.1), 40–47. 33 Das religionsgeschichtliche Material bietet E. SCHWEIZER, Art. sw˜ma, ThWNT VII, Stuttgart 1966, 1024–1091; zum Kol vgl. a. a. O., 1073–1075. 34 Für Paulus vgl. hier E. KÄSEMANN, Das theologische Problem des Motivs vom Leibe Christi, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972, 178–210; U. SCHNELLE, Gerechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 4.6), 139–143.243–245. 35 Diesen Aspekt vernachlässigt J. ROLOFF, Kirche
(s. o. 6.7), 227, wenn er formuliert: „Leib Christi ist in der gegenwärtigen Weltsituation allein die Kirche.“ 36 Vgl. vor allem die durch das hellenistische Judentum vermittelte Vorstellung einer über die Weiten des Alls regierenden Gottheit (z. B. Philo, Migr Abr 220; Fug 108–113). 37 Relevante Texte bieten: Roma aeterna. Lateinische und griechische Romdichtung, hg. v. B. Kytzler, Zürich/München 1972; E. FAUST, Pax Christi (s. u. 10.2), 280–314 .
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 517
ken: Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen verliehen“ (Aen 1,278f). Roma aeterna verstand sich deshalb als das Haupt des Erdkreises (Ovid, Metam 15, 434f: „des unermesslichen Erdkreises Haupt wird es sein“; Gratt, Cyn 324: „auferlegt dem Erdkreis Rom als sein Haupt“). Nach Sen, Clem III 2,1.3, ist der Imperator Nero „das Band, durch das die Menschen des Staates zusammen gehalten werden, er ist der belebende Atem, den viele Tausende schöpfen . . . Einst nämlich ging der Kaiser so im Staat auf, dass der eine nicht vom anderen getrennt werden konnte ohne Schaden für beide, denn jener hatte Kräfte nötig, dieser einen Kopf.“ Wenn der Kolosserbrief das HauptLeib-Bild mit seinen universalen Attributen aufnimmt und in das Zentrum seines Denkens stellt, dann relativiert er damit auch die römische Staatsideologie. Wie sehr die Leib-Metaphorik für den Kol zu einem eigenständigen Thema geworden ist, zeigt der für Paulus nicht belegte Gedanke eines ‚Wachstums‘ des Leibes. Die Gemeinde wird aufgefordert, sich an dem Haupt zu orientieren, „von dem aus der ganze Leib, versorgt und unterstützt durch Gelenke und Bänder, das Wachstum Gottes fördert“ (Kol 2,19). Der dem himmlischen Haupt (Christus) zugehörige Leib (die Kirche) wächst und durchdringt so den gesamten Kosmos. Dies vollzieht sich in der Verkündigung des Apostels Paulus, in der Annahme des Evangeliums, der Taufe und im gottesdienstlichen Dank und Bekenntnis der Gemeinde (Kol 3,16: „Das Wort Christi wohne in reichem Maß unter euch, indem ihr einander in aller Weisheit belehrt und ermahnt und Gott Psalmen, Hymnen und Lieder im Geist in dankbarer Gesinnung in euren Herzen singt“). Über allem steht aber die untrennbare lebendige Verbindung der Kirche zu Christus, die als Leib nicht ohne ihr Haupt existieren kann. Der Apostel Paulus und die Grundlegung der Kirche
Paulus schrieb seiner Person und seiner Botschaft immer eine herausragende Bedeutung im Prozess der Evangeliumsverkündigung und des Werdens der Kirche zu (vgl. nur 2Kor 3 und 5)38. Der Kolosserbrief geht einen Schritt weiter, indem er die Person des Apostels in ihren heilsgeschichtlichen Dimensionen ausdrücklich zum Thema macht39. Sie gehört nun selbst in das zu verkündigende paulinische Evangelium, der Apostel ist als Träger der Verkündigung Teil des allumfassenden, vorzeitlichen Plans Gottes, der seiner Kirche gilt, „deren Diener ich geworden bin gemäß dem mir verliehenen göttlichen Amt, um bei euch das Wort Gottes zu vollenden. Das Geheimnis, das seit Äonen und seit Generationen verborgen war, jetzt aber wurde es seinen Heiligen offenbar gemacht“ (Kol 1,25f). Verkündigte Paulus das Evangelium Jesu Christi, so erscheint das mustv´rion heou˜ bzw. Cristou˜ als zentrale Botschaft des Kolosserbriefes (vgl. 1,26.27; 2,2; 4,3)40. Hinter diesem vor ewigen Zeiten beschlossenen und
38 Vgl. dazu J. SCHRÖTER, Der versöhnte Versöhner
(s. o. 6.2), passim. 39 Zur Paulusrezeption des Kol vgl. bes. H. MERKLEIN, Paulinische Theologie in der Rezeption des Ko-
losser- und Epheserbriefes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 409–447. 40 Vgl. dazu H. MERKLEIN, a. a. O., 412 ff.
518 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
nun offenbarten Mysterium steht (gewissermaßen an Israel vorbei) die sich bildende Kirche, die sich ihrerseits wiederum der Verkündigung des Apostels verdankt. Deshalb sind die Person und das Leiden des Apostels auch Inhalt des Mysteriums (vgl. Kol 1,24–29). Als Diener am Leib Christi offenbart Paulus der Gemeinde das Geheimnis des göttlichen Willens, seine Person ist vom Inhalt des Evangeliums nicht mehr lösbar; seine Leiden (als Apostel und Märtyrer) ergänzen/vollenden sogar die Drangsale Jesu Christi für seine Kirche (Kol 1,24). Obwohl leiblich nicht anwesend, ist Paulus doch im Geist in der Gemeinde gegenwärtig (Kol 2,5), die nun Christus so verkünden soll, wie ihn der Apostel verkündigte (Kol 2,6). Jede andere Verkündigung gilt als Lehre vom Menschen (Kol 2,8), nicht aber als apostolische Tradition. Das Evangelium wird nicht mehr nur von seinem Inhalt Jesus Christus her definiert, sondern wesentlich durch die Verkündigung des Apostels. Paulus ist nicht nur der Apostel der Völker (Kol 1,27), sondern der Apostel der universalen Kirche (Kol 1,23b), der allen Menschen (Kol 1,28) das Evangelium verkündigt. Der Brief erhebt damit den Anspruch, gleichermaßen an der Person, der Theologie und der Bedeutung des Märtyrer-Apostels orientiert zu sein. Diese ‚Paulinisierung‘ der Theologie soll die Identität des christozentrischen Evangeliums in nachpaulinischer Zeit sichern.
10.1.8 Eschatologie Die Eschatologie des Kolosserbriefes41 ist von der Christologie her entworfen und schon in ihrem Ansatz kosmologisch orientiert42. Durch die Taufe sind die Glaubenden mit Christus gestorben und mit ihm auferstanden (Kol 2,12f; 3,1), so dass nun andere Mächte über sie nicht mehr herrschen können. Die Mächte gehören dem Bereich des ‚Unten‘ an, während sich die Christen auf das ‚Oben‘ ausrichten sollen, wo Christus ist (vgl. Kol 3,1.2)43. Die vollständige Partizipation des Getauften am Tod und der Auferstehung Jesu Christi und die damit verbundene eschatologische Konzeption zeigt sich vor allem in den su´n-Wendungen in Kol 2,12.13; 3,1. Hier wird im Gegensatz zu Röm 6,3f die Zeitform der Vergangenheit auch auf die Eschata übertragen (vgl. 2,12; 3,1: sunvge´rhvte = „ihr seid mitauferweckt“)44. Für Paulus hingegen ist kennzeichnend, dass die neue Wirklichkeit im Geist (vgl. 2Kor 1,22; 5,5; Röm 41 Eine umfassende Erörterung aller Fragen findet
sich bei H. E. LONA, Eschatologie (s. o. 10.1), 83–240 (der Kol liegt auf der Linie des Paulus, verfolgt aber einen anderen Denkansatz). 42 Vgl. N. WALTER, ‚Hellenistische Eschatologie‘ im Neuen Testament, in: Glaube und Eschatologie, (FS W.G. Kümmel), hg. v. E. Grässer/O. Merk, Tübingen 1985, (335–356) 344 ff.
43 Eine eindringende Analyse von Kol 3,1–4 bietet E. GRÄSSER, Kolosser 3,1–4 als Beispiel einer Interpretation secundum homines recipientes, in: ders., Text und Situation, Gütersloh 1973, 123–151 44 Kontinuität und Diskontinuität zwischen Röm 6 und Kol 3,1–4 werden präzis herausgearbeitet von E. GRÄSSER, Kolosser 3,1–4, 129ff; P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule (s. o. 10), 87–134.
Der Kolosserbrief: Paulus in veränderter Zeit 519
8,23) präsent ist, umfassend und vollständig aber erst bei der Parusie offenbar wird (vgl. neben Röm 6,3–5 bes. 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; 1Kor 15,20–23.46). Paulus spricht deshalb nie von einer bereits vollzogenen Auferstehung und kann unter seinen eigenen theologischen Voraussetzungen auch nicht davon sprechen, so dass hier eine entscheidende Differenz zwischen der Eschatologie des Kol und der Eschatologie des Apostels gesehen werden muss. Beide bestimmen den Grad der Partizipation an der Auferstehungswirklichkeit grundlegend anders!45 Bei Paulus ist der Geist das Angeld (Röm 8,23), der Unterpfand (2Kor 1,22; 5,5) für das zukünftige Endgeschehen, im Kol wird von der Zukunft bereits in der Vergangenheitsform gesprochen. Der zweite große Unterschied: Während der Kol die gegenwärtige und dauerhafte Stabilität des Kosmos in Christus postuliert, erwartet Paulus die endzeitliche Unterwerfung des Kosmos erst bei der Parusie (1Kor 15,23–28). Allerdings baut auch der Kol gegen ein enthusiastisches Überspringen der Gegenwart Kautelen ein46. Die Kolosser haben zwar unverlierbaren Anteil am Heil, jedoch im Glauben (Kol 2,12). Ihr Auferstehungsleben ist eine objektive, aber noch nicht offenbare Realität, denn sie ist verborgen mit Christus in Gott (vgl. Kol 3,3) und damit menschlicher Demonstration entzogen. Die futurischen Aussagen treten im Kol zugunsten der räumlichen Vorstellungsweise deutlich in den Hintergrund, zugleich sind sie aber in das räumliche Denken integriert und von hieraus zu verstehen47. Ihre grundlegende Bedeutung für die Eschatologie des Kol zeigt sich im Festhalten am zukünftigen Heilshandeln Gottes bei der Parusie Christi (vgl. Kol 3,4.24f). Das Gericht erfolgt nach den Werken, „denn es gilt kein Ansehen der Person“ (Kol 3,25). Auch für die Paränese sind die futurischen Aussagen konstitutiv, denn die Christen sind wohl Teilhaber am Heil, leben aber noch nicht im ‚oberen‘ himmlischen Bereich. Vielmehr sollen sie sich auf das zukünftige Offenbarwerden des Heils ausrichten und danach ihr Leben gestalten. Die räumlichen Dimensionen erlauben dem Kol eine Überführung des paulinischen zeitlich-linearen Denkens in eine Konzeption, die einerseits die endgültige Verwirklichung des Heils konstatiert, sie andererseits aber wiederum unter eine räumlich-zeitliche (das Leben ist ‚oben‘ in Christus verborgen; es wird mit Christus offenbar werden) und eine ethisch-zeitliche (die Entsprechung zum neuen Sein ist ein Kriterium bei Parusie und Gericht) Präzisierung stellt48.
45 M. DÜBBERS, Christologie und Existenz (s. o.
10.1), 238–242, versucht diesen grundlegenden Unterschied zu minimieren, wenn er das ‚Mitauferstandensein‘ als „metaphorische Rede“ klassifiziert, „mit der der Verfasser deutlich macht, daß die gegenwärtige Existenz der Adressaten an den Auferstandenen gebunden ist und ausschließlich von ihm heilvoll bestimmt wird“ (a. a. O., 242). Davon geht auch Paulus aus, ohne jedoch von einem ‚Auferstandensein‘ zu sprechen!
46 Vgl. H. MERKLEIN, Rezeption (s. o. 10.1.7), 426ff; gegen G. KLEIN, Art. Eschatologie, TRE 10, Berlin 1982, 286 f. 47 Vgl. H. E. LONA, Eschatologie (s. o. 10.1), 234: „Das Zeitmoment wird im Kol nicht eliminiert, sondern integriert in ein christologisches Konzept.“ 48 Vgl. dazu auch TH. WITULSKI, Gegenwart und Zukunft in den eschatologischen Konzeptionen des Kolosser- und Epheserbriefes, ZNW 96 (2005), 211– 242.
520 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
10.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung Der Kolosserbrief ist das erste Zeugnis einer umfassenden kosmischen Christologie im Neuen Testament. Im Mittelpunkt seines Denkens steht die alles überbietende und alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Jesu Christi über alle Mächte und Gewalten, an der die Glaubenden und Getauften bereits in der Gegenwart vollständig teilhaben. Dieser Entwurf ist mit seiner Christologie, Kosmologie und präsentischen Eschatologie auch eine Antwort auf die Herausforderung der gegnerischen ‚Philosophie‘, zugleich stellt er aber einen neuen eigenständigen Typus frühchristlichen Denkens dar: Das dominierende Schöpfungs-, Herrschafts- und Raumdenken markiert eine christliche Position in der durchgängig religiösen antiken Herrscherund Naturphilosophie. Die Beobachtung, das Sicheinfügen und die Unterwerfung unter die das Schicksal bestimmenden Mächte war ein natürlicher Bestandteil antiken Denkens; es war selbstverständlich und weise, den Mächten des Schicksals ihren Tribut zu zollen49. Zudem war es ein Kennzeichen wirkmächtiger philosophischer Entwürfe, auch den Kosmos mit seinen Phänomenen zu erklären und für die Deutung menschlicher Existenz heranzuziehen. Den natürlichen und zugleich höchst attraktiven Angeboten der gegnerischen Lehre stellt der Kol die Wirklichkeit des Christusgeschehens gegenüber, die jede weitere Heilsvergewisserung überflüssig macht. Die neue Identität kann nicht durch zusätzliche alte Praktiken intensiviert und abgesichert werden, sondern ruht ausschließlich im alles bestimmenden Friedens- und Versöhnungshandeln Gottes in Jesus Christus. Dem Kol gelingt es, ein Gegenmodell zur konkurrierenden Lehre zu entwerfen, das aber zugleich durch die Herrschaftsund Raumdimensionen eine Rezeption dieser Form christlichen Denkens im griechisch-römischen Umfeld zuließ. Angesichts der Rezeption kosmologischer und ekklesiologischer Elemente des paulinischen Denkens ist es bemerkenswert, worauf der Kol nicht zurückgreift: Das Gesetz ist ebenso wenig ein Thema wie das Verhältnis zu Israel oder die Rechtfertigungsthematik50; die Sühn- und Opfervorstellung tritt deutlich zurück und nicht heilsgeschichtliche, sondern räumliche Dimensionen dominieren. Als erste ‚paulinische‘ Schrift nach Paulus dokumentiert der Kol schließlich den Übergang zu einem erweiterten Paulusverständnis. Die Person, das Ansehen, das Werk und die Wirkungen des Apostels werden in Anspruch genommen, um Entwicklungen entgegenzutreten, die aus der Sicht des Briefschreibers das Werk des Apostels und die gesamte Kirche gefährden. 49 Vgl. Sen, Ep 107,11: „Führe, o Vater des hohen Himmels, wohin immer du willst; ich zögere nicht zu gehorchen . . . Es führt einen das Schicksal, wenn man zustimmt; wenn man sich weigert, schleppt es einen fort.“ 50 H. MERKLEIN, Rezeption (s. o. 10.1.7), 432–435, betont zu Recht, dass im Kol (und Eph) die Ekklesio-
logie an die Stelle der paulinischen Rechtfertigungslehre tritt: „Wenn Rettung das Hineinversetztwerden in den Heilsraum Kirche meint, dann wird die Soteriologie, die Paulus mit Hilfe der Rechtfertigungslehre ausgelegt hatte, identisch mit der Ekklesiologie, oder besser ausgedrückt: die Soteriologie wird als Ekklesiologie betrieben.“
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 521
10.2 Der Epheserbrief: Raum und Zeit H. SCHLIER, Christus und die Kirche im Epheserbrief, BHTh 6, Tübingen 1930; E. PERCY, Die Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, Lund 1946; H. SCHLIER, Der Brief an die Epheser, Düsseldorf 71971 (= 1957); C. COLPE, Zur Leib-Christi-Vorstellung im Epheserbrief, in: Judentum – Christentum – Kirche (FS J. Jeremias), hg. v. W. Eltester, BZNW 26, Berlin 1960, 172–187; F. MUSSNER, Christus, das All und die Kirche, TThSt 5, Trier 21968; F.J. STEINMETZ, Protologische Heils-Zuversicht (s. o. 10.1); J. ERNST, Pleroma und Pleroma Christi, BU 5, Regensburg 1970; J. GNILKA, Der Epheserbrief, HThK X/2, Freiburg 31982 (= 1971); K. M. FISCHER, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes, Berlin/Göttingen 1973; H. MERKLEIN, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, StANT 33, München 1973; A. LINDEMANN, Die Aufhebung der Zeit, StNT 12, Gütersloh 1975; R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser, EKK X, Neukirchen 1982; F. MUSSNER, Der Brief an die Epheser, ÖTK 10, Gütersloh 1982; A. LINDEMANN, Der Epheserbrief, ZBK 8, Zürich 1985; H. E. LONA, Die Eschatologie im Kolosser- und Epheserbrief (s. o. 10.1); C.E. ARNOLD, Ephesians: Power and Magic, SNTSMS 63, Cambridge 1989; A. T. LINCOLN, Ephesians, WBC 42, Dallas 1990; E. FAUST, Pax Christi et Pax Caesaris, NTOA 24, Fribourg/Göttingen 1993; H. HÜBNER, An die Epheser, HNT 12, Tübingen 1997; M. GESE, Das Vermächtnis des Apostels, WUNT 2.99, Tübingen 1997; U. LUZ, Der Brief an die Epheser, NTD 8/1, Göttingen 1998; G. SELLIN, Art. Epheserbrief, RGG4 III (1999), 1344–1347; R. SCHWINDT, Das Weltbild des Epheserbriefes, WUNT 148, Tübingen 2002; M. WOLTER (Hg.), Ethik als angewandte Ekklesiologie, SMBen 19, Rom 2005.
Der Autor des Epheserbriefes gehörte der Paulusschule an und verfasste das Schreiben zwischen 80 und 90 n.Chr. in Kleinasien51. Obwohl ihm dabei der Kol als literarische Vorlage diente, verfolgt der Eph eigene theologische Ziele. Als Zirkularschreiben an die paulinischen Gemeinden Kleinasiens versucht er, die bedrohte Einheit der Kirche aus Judenchristen und Christen aus griechisch-römischer Religiosität durch die Vision des in Christus versöhnten und vereinten ‚neuen‘ Menschen zu retten. Er bedient sich dabei einer im Neuen Testament einmalig dichten Sprache und Vorstellungswelt.
10.2.1 Theologie Das theo-logische Fundament des Schreibens bildet die Eulogie Eph 1,3–14, die als Geschichte des Heils prägnant den Ausgangspunkt jeglichen theologischen Denkens markiert: Lobpreis und Dank an Gott (Eph 1,3)52. Gott erwählte die Glaubenden in Christus bereits „vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4: pro` katabolv˜ß ko´smou), er „bestimmte“ sie „vorher“ zur Sohnschaft (Eph 1,5: proorı´saß) und offenbarte ihnen „das Geheimnis seines Willens“ (Eph 1,9: to` mustv´rion tou˜ helv´matoß autou˜). Gottes 51 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 343–357.
52 Zur Analyse von Eph 1,3–14 vgl. R. SCHNACKENBURG, Die große Eulogie Eph 1,3–14, BZ 21 (1977), 67–87.
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Gnade wurde den Glaubenden in Christus geschenkt (Eph 1,6). Es ist Gottes Wille, dass alles in den Himmeln und auf der Erde in Christus zusammengefasst wird (Eph 1,10), den er in seiner Macht von den Toten auferweckte und zu seiner Rechten im Himmel einsetzte (Eph 1,20). Nach Gottes „Vorsatz“ (pro´hesiß) wurden die Glaubenden in Christus als Erben eingesetzt (Eph 1,11; vgl. 3,11). Gottes vor- und durchgängige Aktivität in Christus für die Glaubenden ist die Basis der Argumentation des gesamten Epheserbriefes, denn Gnade, Glaube und gute Werke (Eph 2,8–10) sind ebenso Gaben Gottes wie Friede und Barmherzigkeit (Eph 2,4; 4,32–5,2). Schließlich ist es Gott, der das Mit-auferweckt-Sein mit Christus bewirkt (Eph 2,4–6), den ‚neuen‘ Menschen schafft (Eph 4,24) und als „Vater von allen, der über allem und durch alles in allem“ wirkt (Eph 4,6). Emphatisch preist der Autor des Eph den Reichtum der Gnade Gottes (Eph 3,14–17), der in seiner alles überragenden Macht über alle Mächte und Gewalten herrscht (Eph 1,19–21; 3,10). Mit seiner auffälligen Betonung von Gottes vorgängigem Handeln für die Glaubenden und der damit verbundenen Stärkung des Erwählungsbewusstseins will der Eph offensichtlich einer Verunsicherung in den Gemeinden entgegentreten53. Die ewige Erwählung Gottes betrifft nicht nur Jesus Christus, sondern ebenso die Gemeinde der Glaubenden und Getauften. Die Erwählung enthebt sie der Zufälligkeiten des Seins und bestimmt ihre bedrohte Existenz umfassend von Gott her54. Gott selbst bewirkt, dass die Glaubenden mit seiner ganzen Fülle erfüllt werden (Eph 3,19: ıÇna plvrwhv˜te eiß pa˜n to` plv´rwma tou˜ heou˜); umfassender kann Gottes Heilswille und Heilsgegenwart nicht ausgesagt werden! Gottes ewiger Heilsplan und seine Verwirklichung durch Jesus Christus in der Kirche sind das große Thema des Epheserbriefes.
10.2.2 Christologie Die Christologie des Epheserbriefes ist durch ein räumliches Weltbild geprägt55. Gott als Schöpfer des Alls und Jesus Christus thronen über allem im himmlischen Bereich, in einem Zwischenraum herrschen Äonen, Engel und dämonische Mächte (Eph 2,2; 6,12) und im unteren Bereich befindet sich die Menschen- und Totenwelt. Zugleich erfüllt Jesus Christus die gesamte Wirklichkeit, was der Eph mit ta` pa´nta (vgl. Eph 1,10.11.23; 3,9; 4,10.15) prägnant zum Ausdruck bringt.
53 Diese Intention des Eph sollte davor warnen, ihn im Rahmen einer statischen Ontologie zu interpretieren, wie es H. SCHLIER über weite Strecken unternimmt; vgl. DERS., Eph (s. o. 10.2), 49: „Sofern wir Erwählte sind und als Erwählte prä-existieren, präexistieren wir schon in Christus.“
54 Vgl. dazu die guten Überlegungen bei H. HÜBNER,
Eph (s. o. 10.2), 141–143. 55 Zu antiken Weltbildern vgl. umfassend
R. SCHWINDT, Weltbild (s. o. 10.2), 135–350; zum Weltbild des Eph vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 21f; A. LINDEMANN, Eph (s. o. 10.2), 121–123; R. SCHWINDT, a. a. O., 351–399.
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Erhöhung und Herrschaft
Im Rahmen dieses Weltbildes entfaltet der Verfasser des Eph seine Erhöhungs- und Herrschaftschristologie, wobei er sich an Kol 1,18–20 orientiert und Ps 110,1 (Eph 1,20f), Ps 8,7 (Eph 1,22) und Ps 68,19 (Eph 4,7ff) aufnimmt. Der auferstandene Christus sitzt zur Rechten Gottes (Eph 1,20; vgl. 4,8.10a); Gott hat ihm, seinem ewigen Ratschluss entsprechend, alles unter die Füße gelegt (Eph 1,22a), und er erfüllt das All mit seiner Lebensfülle (Eph 1,23; 4,10b). Christus ist das alles überragende Haupt der Kirche (vgl. Eph 1,22b; 5,23) und sehr viel nachdrücklicher als Kol betont der Eph, dass die Kirche der exklusive Ort ist, wo sich Christi kosmische Herrschaft bereits vollständig realisiert hat56. Als Haupt bestimmt und gewährt Christus die Harmonie der Glieder (Eph 4,15f) und erweist sich als Schnitt- und Zielpunkt alles Seins, denn Gott „hat uns kundgemacht das Geheimnis seines Willens, gemäß seinem freien Ratschluss, den er zuvor gefasst hatte in ihm, zur Durchführung der Fülle der Zeiten: alles zusammenzufassen in Christus, das in den Himmeln und das auf Erden“ (Eph 1,9.10). In Christus erreicht die gesamte Schöpfung ihr Ziel, er ist als Versöhner und Friedensstifter das Haupt der Kirche und als solcher auch Haupt des Kosmos. Dieses Geschehen ist nicht statisch zu denken, sondern sein Offenbarwerden vollzieht sich trotz der protologischen Dimensionen als geschichtlicher Prozess57: In Kreuz und Auferstehung (Eph 2,14–16), in der Verkündigung des Apostels Paulus (Eph 3,1–11) und im gegenwärtigen Wachstum der Kirche (Eph 4,15: „Als die in der Liebe Wahrhaftigen wollen wir in allem auf ihn hin wachsen, der das Haupt ist, Christus“). Die auffällige Betonung der Macht Gottes bzw. Christi in Eph 1,15–23; 3,1419.20–21; 6,10–20 dürfte auch durch das religiöse Umfeld der Gemeinde in Ephesus bedingt sein. Die religiös-kulturelle Situation in Ephesus bestimmten lokale Kulte, Mysterienreligionen und der alles überragende potente Artemis-Kult mit seinen vielfältigen (auch magischen) Praktiken58. Wahrscheinlich bestand bei vielen neuen Gemeindegliedern eine religiöse Verunsicherung, wie sie sich gegenüber den Angeboten dieser Kulte verhalten sollten. Ihnen verkündigt der Eph: Gottes Macht in Jesus Christus steht über den teuflischen Gewalten und Mächten, den Herrschern der Finsternis und den Geistwesen der Bosheit in den himmlischen Bereichen (vgl. Eph 6,12)59.
56 Vgl. G. H. VAN KOOTEN, Cosmic Christology (s. o.
10.1), 147–213. 57 Vgl. H. MERKLEIN, Art. anakefalaio´w, EWNT I, Stuttgart 1980, 197 f. 58 Zum Artemis-Kult vgl. W. ELLIGER, Ephesos, Stuttgart 1985, 113–136; C. E. ARNOLD, Power and Magic (s. o. 10.2), 20 ff. Zur Auseinandersetzung zwischen Christentum und Artemis-Kult vgl. bes. R. OSTER, The Ephesian Artemis as an Opponent of
Early Christianity, JAC 19 (1976), 24–44. Vgl. ferner P. LAMPE, Acta 19 im Spiegel der ephesischen Inschriften, BZ 36 (1992), 59–76; G. H.R . HORSLEY, The Inscriptions of Ephesos and the New Testament, NT 34 (1992), 105–168. 59 Zu den dämonischen Mächten in der Argumentation des Eph vgl. R. SCHWINDT, Weltbild (s. o. 10.2), 363–393.
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Christus als Heilsmittler
Bereits die Eulogie Eph 1,3–14 verdeutlicht, dass sich für den Eph die Heilserschließung Gottes exklusiv in/durch Jesus Christus vollzieht. In ihm als Präexistenten wurden die Glaubenden erwählt (Eph 1,4.9) und „in ihm“ (en w ) empfingen sie alle Gnadengaben (Eph 1,7 f.11 f.13). In keinem proto- oder deuteropaulinischen Brief finden sich so häufig die Wendungen en autw˜ (6mal), en w (7mal), en kurı´w (7mal) und en Cristw˜ (14mal)60. In Jesus Christus wurden die Glaubenden geschaffen (Eph 2,10.15), erlöst (Eph 1,7) und versöhnt (Eph 2,16). In ihm haben sie Frieden (Eph 2,14.17) und Zugang zum Vater (Eph 2,18). Christus „hat uns geliebt und sich für uns hingegeben als Gabe und Opfer für Gott zu köstlichem Wohlgeruch“ (Eph 5,2); er ist der Bräutigam, der sich für die Kirche hingab, um sie zu heiligen (Eph 5,25f). Wie in keiner anderen ntl. Schrift zielt Christi Heilsmittlerschaft im Eph auf die Einheit 61; die Einheit der Gemeinde als Leib Christi (Eph 1,22f; 4,15f), die Einheit des neuen Menschen/der neuen Menschheit in Christus (Eph 2,15f) und die Einheit von Mann und Frau (Eph 5,31). Die Einheit gründet in dem einen Gott (Eph 4,6), dem einen Herrn, dem einen Glauben, der einen Taufe (Eph 4,5) und „in der Einheit des Geistes im Band des Friedens“ (Eph 4,3). Der Epheserbrief stellt seiner Gemeinde die Vision des einen universalen Christusleibes vor Augen, der in Gottes Perspektive schon vor Zeiten beschlossen, in Jesus Christus am Kreuz sichtbar wurde und nun im Wirken des Geistes immer mehr Realität wird.
10.2.3 Pneumatologie Die Pneumatologie gehört zu den zentralen Themen des Epheserbriefes62. Die Geistgabe in der Taufe (Eph 4,4) wird in Eph 1,13 als Versiegelung interpretiert (vgl. 2Kor 1,21f), ihre grundlegende Bedeutung benennt Eph 4,30: „Betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, in dem ihr auf den Tag der Erlösung hin versiegelt seid.“ Der heilige Geist ist der Geist Gottes, der als Unterpfand der kommenden Erlösung (vgl. 2Kor 1,22; 5,5) und als „Geist der Weisheit und der Offenbarung“ (Eph 1,17) bereits jetzt das Leben der Glaubenden bestimmt und gegen dessen Normen nicht verstoßen werden darf. Von grundlegender Bedeutung für die Gesamtkonzeption ist Eph 2,18: durch Jesus Christus „haben wir beide Zugang zum Vater in/durch einen Geist“ (en eni` pneu´mati). Wie in Röm 5,1–5 eröffnet der Geist den Zugang zu Gott und realisiert den durch Jesus Christus erworbenen ‚neuen Menschen‘ aus dem Judentum und den Völkern. Die Erwähnung des Vaters, des Sohnes und des einen Geistes lässt be-
60 Vgl. dazu J. GNILKA, Eph (s. o. 10.2), 66–69. 61 Vgl. dazu E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 471ff;
R. P. MARTIN, The Christology of the Prison Epistles, in: R. N. Longenecker (Hg), Contours of Christology
(s. o. 4), (193–218) 214f. 62 F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 27, vermerkt zu Recht, dass die Pneumatologie in der bisherigen Forschung stark vernachlässigt wurde.
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reits trinitarisches Denken anklingen63, das in Eph 4,3–6 deutlich hervortritt: „. . . Einheit des Geistes . . . ein Leib und ein Geist . . . ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott“. Weil der Einheit stiftende Geist des einen Gottes wirkt, gibt es die Einheit der Kirche! Der Aufbau der Kirche gründet in Christus und vollzieht sich im Geist (Eph 2,22), der nun durch die Apostel und Propheten im Wort als „Schwert des Geistes“ (Eph 6,17) das Geheimnis Christi allen Menschen kundtut (Eph 3,5). Mahnend und auch ein wenig ironisch ist schließlich die Bemerkung in Eph 5,18: „Betrinkt euch nicht mit Wein . . ., sondern lasst euch mit dem Geist erfüllen.“ In der Pneumatologie ist der Eph sehr nahe an Paulus, indem er den Zugang zu Gott, die Taufe und das zentrale Thema der Einheit der Kirche als Geistgeschehen beschreibt. Damit bewahrt der Autor innerhalb seiner teilweise statischen Raum- und Zeitkonzeption (s. u. 10.2.7/10.2.8) ein dynamisches Element, das für das Verständnis von entscheidender Bedeutung ist: Im Pneuma und durch das Pneuma eröffnen sich der Raum und die Zeit Gottes 64.
10.2.4 Soteriologie Die Soteriologie des Eph wird von der Protologie bestimmt, die besonders in der Eulogie vorherrscht: Die Erwählung der Glaubenden erfolgte bereits „vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4); sie wurden vorher bestimmt, Kinder Gottes zu sein gemäß (Eph 1,5) dem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte (Eph 1,9). In Eph 1,11 findet sich sogar zweimal die Vorsilbe pro´- („vorher/zuvor“), um das Heil ausschließlich im vorgängigen Willen Gottes zu verankern: „In ihm wurden wir zu Erben gemacht, die wir vorher bestimmt sind nach dem Vor satz dessen, der alles wirkt, nach dem Ratschluss seines Willens.“ Gottes vorzeitliches Wollen vollzieht sich konkret in der Partizipation an Christi Heilswerk mit der Versiegelung durch den Geist in der Taufe (Eph 1,13f; 4,30). In Jesus Christus haben die Glaubenden „das Evangelium eurer Rettung“ (Eph 1,13) gehört und wissen um die „Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Übertretungen nach dem Reichtum seiner Gnade“ (Eph 1,7; vgl. 1,14; 2,13f). Christus „selbst ist der Retter des Leibes“ (Eph 5,23: auto`ß swtv`r tou˜ sw´matoß), seiner Kirche65. Er ist der wahre Friedensbringer und Versöhner (Eph 2,14–17; 4,3; 6,23), nicht hingegen der Kaiser. In großer Nähe zu Paulus entfaltet der Eph seine Gnaden- und Rechtfertigungslehre : „Denn durch Gnade seid ihr gerettet durch Glauben (tU˜ ga`r ca´ritı´ este seswsme´noi dia` pı´stewß); und dieses nicht aus euch, es ist ein Geschenk Gottes. Nicht aus Werken (ouk ex ergwn), damit sich niemand rühme“ (Eph 2,8f). Die Gnade Gottes als alleiniger Grund der Erlösung und Rettung wird in Eph 1,6f; 2,5f in überschwänglicher Weise gerühmt, so dass der Autor sogar von einer be63 Vg. H. HÜBNER, Eph (s. o. 10.2), 179. 64 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 27.
65 Zum Verhältnis Soteriologie – Ekklesiologie s. u. 10.2.7.
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reits erfolgten Auferstehung und Einsetzung im Himmel sprechen kann (s. u. 10.2.8). Die Gnade gab dem Apostel sein Amt (Eph 3,2.7f), um das „Geheimnis“ Gottes (mustv´rion Eph 1,9; 3,3.4.9; 6,19) den Völkern zu verkünden: das Evangelium von der vor Zeiten beschlossenen rettenden Gnade und Liebe Gottes in Jesus Christus. Welche Funktion haben die starken soteriologischen Aussagen des Eph? Ganz offenkundig zielt der Eph textpragmatisch auf eine Festigung seiner Gemeinde, für die durch die Probleme des Zusammenlebens von Christen aus jüdischer und aus griechisch-römischer Religiosität offenbar die Gewissheit ihrer Erwählung und damit ihres religiösen Status stark gefährdet war. Über diese Funktion hinaus lassen die Dichte und Häufung soteriologischer Motive keinen Zweifel daran, dass der Autor das reale neue Sein der Glaubenden und Getauften benennen will. Die Vorherbestimmung hat dabei nicht nur eine zeitliche, sondern vor allem eine sachliche Dimension: Gottes Wille unterliegt nicht dem Zufall, der Beeinflussbarkeit oder der Willkür66. Seine Entscheidung hat Vorrang und in jeder Hinsicht auch eine Vorsprung gegenüber allen menschlichen Erwägungen; seine Wahl muss und kann nur in ihm selbst begründet sein. Dem launenhaften Schicksal und den hilfreichen Gottheiten des örtlichen Pantheons stellt der Eph den in Liebe frei erwählenden Gott gegenüber. Wen er aber auswählt, bleibt menschlicher Kenntnis entzogen, so dass auch im Eph die Prädestinationsaussagen Grenzaussagen sind, die nicht instrumentalisiert werden dürfen.
10.2.5 Anthropologie Die neue Situation und das veränderte Sein der Glaubenden und Getauften wird im Epheserbrief vielfältig beschrieben. Einst waren sie als aus den Völkern Geborene Gott ebenso fern wie jene, die äußerlich beschnitten sind (Eph 2,11f), „jetzt aber in Christus Jesus seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi“ (Eph 2,13; vgl. 2,17f). Das christologische Fundament der Anthropologie wird im Eph eindrücklich in der Rede vom ‚neuen Menschen‘ sichtbar. Der neue Mensch
Jesus Christus selbst ist als Person der Friede, der aus zweien eins machte und so das Trennende zwischen Christen aus jüdischer und griechisch-römischer Tradition überwand (Eph 2,14)67. Das zu Überwindende, die Scheidewand (V. 14: meso´toicon) ist die Tora (vgl. V. 15a; ferner Aristeas 139!), deren trennende Wirkungen in der ei66 Vgl. H. SCHLIER, Eph (s. o. 10.2), 49f: „Niemals waren ‚wir‘, die Gläubigen und Heiligen, nach Gottes Willen und Wissen nicht in Christus. Sofern wir in ihm sind, waren wir es immer schon.“
67 Zur Analyse von Eph 2,14–16 vgl. E. FAUST, Pax
Christi (s. o. 10.2), 221ff; M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 125–146.
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nen Kirche aus Juden und Menschen aus den Völkern überwunden sind68. Der Eph geht hier deutlich über die paulinische Torakritik hinaus (vgl. Röm 3,31; 7,6f), indem er vom ‚zunichte machen‘, ‚außer Kraft setzen‘ (katarge´w), der Tora samt ihren Geboten/Verordnungen spricht (Eph 2,15a). Das Ziel und zugleich Resultat dieses Geschehens ist, dass Christus „in sich die zwei erschaffe zu einem einzigen neuen Menschen, so Frieden stiftend“ (Eph 2,15b). Der ‚eine neue Mensch‘ (eıß kaino`ß anhrwpoß) ist die in Christus und durch Christus neu geschaffene Existenz (vgl. Gal 3,28; 2Kor 5,17) jenseits von Juden- und Heidenchristentum, die „in einem Leib durch das Kreuz“ (Eph 2,16), d. h. im Raum der Gemeinde mit Gott versöhnt wurde69. In der Kirche realisiert sich die eine neue Menschheit, ohne dass die Ekklesiologie über die Anthropologie und Christologie triumphiert70. Christus schuf ‚in sich‘ (Eph 2,15) den einen neuen Menschen; die Glaubenden haben Christus kennengelernt (Eph 4,20), hinsichtlich ihres Lebenswandels den ‚alten Menschen‘ abgelegt (vgl. Röm 6,6) und „den neuen Menschen angezogen, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und Heiligkeit, gründend auf Wahrheit“ (Eph 4,24; vgl. Gen 1,27). Auch im Epheserbrief bleiben die Theo-logie und Christologie die bestimmenden Ebenen der Anthropologie, auch wenn sie stärker als bei Paulus mit der Ekklesiologie verbunden sind (s. u. 10.2.7). Der ‚neue Mensch‘ hat die Sünden überwunden (Eph 2,1.5) und folgt nicht mehr den Begierden des Fleisches (Eph 2,3), weil er mitlebendig gemacht wurde mit Christus (Eph 2,5; vgl. Röm 6,8). Durch den Geist Gottes soll der in der Taufe neu geschaffene Mensch, der „innere Mensch“ (Eph 3,16; vgl. 2Kor 4,16) stark werden und der Liebe gemäß leben und handeln (Eph 3,17).
10.2.6 Ethik Im Eph artikuliert sich ein nachhaltiges ethisches Interesse71. Es zeigt sich bereits in der Verankerung ethischer Motive in der Protologie, denn die Glaubenden sind „ge-
68 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 75ff; R. SCHNACKENBURG,
Eph (s. o. 10.2), 113–116. Hingegen vermutet A. LINDEMANN, Eph (s. o. 10.2), 47ff, der Verfasser des Eph habe in 2,14–16 „auf einen (nichtchristlichen) gnostischen Text zurückgegriffen“ (a. a. O., 49). 69 Vgl. E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 472: „Der Destruktion des einst Trennenden entspricht positiv die neue Wirklichkeit für beide Gruppen ‚in Christus‘: Hier sind sie zu einem neuen Anthropos neugeschaffen, der als qualitativer Typus jeden einzelnen, nicht aber den vermeintlich kollektiv-ekklesialen Makroanthropos meint.“
70 In diese Richtung interpretiert allerdings M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 137. 71 Vgl. dazu K.M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o. 10.2), 147–172; W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 248–262; U. LUZ, Überlegungen zum Epheserbrief und seiner Paränese, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle/K. Kertelge, Freiburg 1989, 376–396; G. SELLIN, Die Paränese des Epheserbriefes, in: Gemeinschaft am Evangelium (FS W. Popkes), hg. v. E. Brandt u. a., Leipzig 1996, 281–300; R. HOPPE, Ekklesiologie und Paränese im Epheserbrief, in: M. Wolter (Hg.), Ethik als angewandte Ekklesiologie (s. o. 10.2), 139–162.
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schaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche zuvor Gott bereitet hat, damit wir darin wandeln“ (Eph 2,10; vgl. 1,4f.10)72. Die starke Betonung des vorrangigen Handelns Gottes wird auf die Ethik übertragen73; allein Gott ist ursächlich für die guten Werke, indem er die Glaubenden in der Taufe durch die Geistgabe dazu befähigt74. Mit dieser Betonung des ausschließlichen Gnadencharakters des neuen Seins verbindet der Autor vor allem ab Eph 4,1 (parakalw˜) umfangreiche Motivierungen und Ermahnungen, deren Voraussetzung die neue Wirklichkeit der umfassenden Partizipation am Heilsgeschehen ist. Ausgangspunkt ist der bereits in Eph 2,14–18 dominierende Einheitsgedanke, der mit seinen theologischen und politischen Implikationen (s. u. 10.2.7) die ethische Grundlegung in Eph 4,1–16 bildet75. Das Grundprinzip der Ethik ist ein Leben nach der Einheit: „bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens“ (Eph 4,3; vgl. 4,13: „Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes“). Die Einheitsvorstellung wird in Eph 4,4–6 mit Einheitsformeln unterstrichen („ein Leib und ein Geist . . . eine Hoffnung . . . ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott . . .“) und über die Haupt-Leib-Vorstellung auf den Liebesgedanken ausgerichtet: „Wir wollen als in der Liebe Wahrhaftige in allem auf ihn zuwachsen, der das Haupt ist, Christus“ (Eph 4,15). Die sich anschließenden Paränesen setzen mit der Antithetik des ‚alten‘ und ‚neuen‘ Menschen ein (Eph 4,17–24), um dann erste konkrete Anforderungen zu stellen: Keine Lüge und kein Zorn; nicht stehlen, sondern arbeiten; gut denken und reden (Eph 4,25–32). Die zentrale Stellung des Liebesgedankens in der Ethik des Epheserbriefes wird in 5,1– 2 sichtbar: „Werdet also Nachahmer Gottes als geliebte Kinder, und wandelt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und Opfer für Gott zu köstlichem Wohlgeruch.“ Die Verse fungieren als Scharnier76 zwischen 4,25–32 und 5,2–14.15–20 und formulieren inhaltlich das Grundprinzip aller Einzelermahnungen: Gott und Christus haben uns geliebt (Eph 2,4; 3,17), so dass einer den anderen in Liebe (er-)tragen soll (Eph 4,2). Innerhalb der Proto- und Deuteropaulinen finden sich in keinem Schreiben sowohl absolut77 als auch in Relation zur Brieflänge so viele Belege für aga´pv (10mal) und agapa˜n (10mal) wie im Epheserbrief! Die konventionellen Einzelmahnungen (Eph 4,25–32: katalogartige Antithetik/Eph 6,10–20: die ‚geistliche Waffenrüstung‘) dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Liebesgedanke das innere Band des Epheserbriefes ist78: Gott hat
72 Vgl. E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 471, wonach die Glaubenden an der Entmachtung der kosmischen Mächte durch Christus teilhaben: „Damit sind sie zu einer neuen Ethik der von Gott bereitgestellten guten Werke (2,10) befähigt.“ 73 Der Gedanke einer ‚Präexistenz‘ der guten Werke wird in den Kommentaren ängstlich abgewehrt (vgl. z. B. F. MUSSNER, Eph [s. o. 10.2], 66), liegt aber durchaus im Duktus der Argumentation von Eph 2,8–10.
74 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Eph (s. o. 10.2), 100. 75 Vgl. G. SELLIN, Paränese, 294 ff. 76 Vgl. a. a. O., 296. 77 Der 1Korintherbrief ist nur eine scheinbare Ausnahme, denn von den 14 aga´pv-Belegen finden sich allein 9 in 1Kor 13. 78 Im Hintergrund von Eph 4,1–5,20 dürften Röm 12,1–8; 13,8–14 stehen; vgl. dazu U. LUZ, Überlegungen, 392 f.
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aus Liebe ‚zu uns‘ Christus lebendig gemacht (Eph 2,4f), Christus wohnt nun in unseren Herzen (Eph 3,17.19), so dass die Kirche als Leib Christi „sich selbst in der Liebe aufbaut“ (Eph 4,16). Der Liebesgedanke dominiert auch in der Bearbeitung der Haustafel (vgl. Kol 3,18–4,1) in Eph 5,21–6,9 (6mal agapa˜n). Einerseits wird das Grundschema beibehalten (dreimal zwei Gruppen/gleiche Reihenfolge/das schwächere Glied zuerst), andererseits erfolgt eine charakteristische Erweiterung, indem die anthropologische Grundbeziehung von Mann und Frau auf das Verhältnis von Christus und Kirche übertragen wird (Eph 5,23 f.25–33)79. Wie der Mann das Haupt der Frau ist, so „ist Christus das Haupt der Kirche“ (Eph 5,23b: o Cristo`ß kefalv` tv˜ß ekklvsı´aß); wie Christus die Kirche liebte, so sollen die Männer ihre Frauen lieben (Eph 5,25–30). Das Liebes- und Ehemotiv als christologische Ermöglichung und ekklesiologische Realisierung tritt schließlich in Eph 5,31f deutlich hervor, denn in liebender Hingabe und Fürsorge ist Christus das Haupt der Kirche. Stärker noch als der Kolosserbrief überträgt Eph 5,21–6,9 den Liebesgedanken auf das Haus als der politisch-sozialen Grundeinheit der Antike und fordert gerade durch die Übertragung auf das Verhältnis Christus – Kirche, dass für Christen das Haus in jeder Hinsicht zum Raum der Agape wird80.
10.2.7 Ekklesiologie Die Ekklesiologie ist das bestimmende Thema des Epheserbriefes, von dem her die Gesamtargumentation ihr Gepräge erhält81. Die Kirche als Leib Christi
Seit seiner Auferstehung ist Jesus Christus als himmlisch Erhöhter Weltherrscher und Haupt seines Leibes, der Kirche (Eph 1,22f: „und alles hat er unterworfen unter seine Füße, und gab ihn als alles überragendes Haupt der Kirche, welche sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“). Damit erscheint die Kirche umfassend als Raum gegenwärtigen Heils, wie es vor allem im Rahmen der Eheparaklese in Eph 5,32 vom Briefschreiber verdeutlicht wird, wo es im Anschluss an Gen 2,24LXX heißt: „Dieses Geheimnis ist groß, ich aber deute es auf Christus und die Kirche.“ Die Gemeinschaft zwischen Christus und der Kirche ist so unmittelbar und groß, dass es wohl eine Unterscheidung, aber keine Trennung geben kann: „Denn wir sind Glieder seines Leibes“ (Eph 5,30). Die Kirche ist die Partnerin Christi; für sie hat er sich am
79 Zur Analyse vgl. M. GIELEN, Haustafelethik (s. o.
10.1.6), 204–315. 80 Vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 260. 81 Zur Ekklesiologie vgl. H. MERKLEIN, Christus und
die Kirche, SBS 66, Stuttgart 1973; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 231–249; M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 171 ff.
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Kreuz hingegeben (Eph 2,16)82 und er pflegt und nährt die Kirche (Eph 5,29b). Als Leib Christi (vgl. auch Eph 4,3.4.12.15) ist die Kirche der himmlische Bau/Tempel (Eph 2,20- 22; vgl. 1Kor 3,9–17) und die ‚Fülle‘ (plv´rwma) Christi (vgl. Eph 1,23; 3,19; 4,10.13). Die Kirche ist somit in einem exklusiven Sinn der Raum, in dem die alles umspannende Fülle Christi wirksam und mächtig ist. Gleichzeitig befindet sie sich in einem dynamischen Wachstumsprozess (Eph 2,21f; 4,12.15; vgl. Kol 2,19), der vom ‚Eckstein‘ Jesus Christus gesteuert wird. Mit der Metapher der Kirche als Leib Christi verbindet sich nicht nur der Zuspruch gegenwärtigen Heils, sondern auch ein Machtanspruch, denn die Haupt-Leib-Ekklesiologie muss im Kontext der politischen Philosophie der Zeit gelesen werden. Geht es in ihr (z. B. in der Fabel des Menenius Agrippa) um die ungeteilte Herrschaft des Kaisers (= Haupt) über das römische Reich (= Leib), so bietet die Leib-Christologie des Eph einen Gegenentwurf. Der kosmische Herrschaftsanspruch Jesu Christi steht hier bewusst im Gegensatz zum Kaiserkult83. Der Autor des Eph greift mit der Haupt-Leib-Metaphorik eine Vorstellung auf, die beachtliche religionsgeschichtliche Parallelen in der griechisch-römischen Tradition84 und im hellenistischen Judentum (Philo) hat85, in Kontinuität zu Paulus und dem Kolosserbrief steht86, zugleich aber vornehmlich im Dienst seiner politisch-ekklesiologischen Einheitstheologie steht.
82 Während in Kol 1,22 mit sw ˜ ma der Kreuzesleib gemeint ist, bezieht sich eÅn sw˜ma in Eph 2,16 auf die Kirche. 83 Vgl. F. MUSSNER, Art. Epheserbrief, TRE 9, Berlin 1982, (743–753) 747: „Es scheint, daß besonders das kleinasiatische Christentum eine Vorliebe für das Heilspräsens besaß, vor allem im Hinblick auf die Christologie, näherhin auf den Christus-Pantokrator, vermutlich auch in bewußter Frontstellung gegen den Kaiserkult, der besonders in Kleinasien blühte.“ Vgl. ferner E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 475, wonach der römische Kaiser den höchsten Gott auf Erden als Friedensstifter vertritt: „Vor diesem Hintergrund ließ sich der an Enkomientradition anklingende Abschnitt über den Friedensstifter Christus in Eph 2,14–18 gut als strukturell homologer Alternativentwurf zum kaiserlichen Friedensstifter für ta` amfo´tera verstehen: Christus integriert Juden und Heiden in den gemeinsamen Frieden seines Leibes, der zugleich eine gemeinsame Politeia ist (2,19b), auf eine Weise, daß den ehemaligen Juden daraus kein Achtungsverlust erwächst, ganz im Gegenteil besitzen sie sogar einen Achtungsvorsprung (2,19ff).“ Vgl. G. SELLIN, Art. Epheserbrief (s. o. 10.2), 1346: „Damit jedoch gerät Eph in Konkurrenz zum
Röm. Reich. Daß dies dem Vf. bewusst ist, verrät die peroratio 6,10–20, wo die ‚Fesseln‘ des Paulus in den Kampf mit den ‚Weltherrschern dieser Finsternis‘ eingeordnet werden (6,19–20).“ 84 Vgl. Sen, Clem I 3,5; I 4,1–2 (der Kaiser lenkt als mentales Prinzip den Staat und gewährleistet Einheit und Frieden): „Weitergegeben wird diese Sanftheit deiner Gesinnung und allmählich verteilt werden durch den ganzen riesigen Organismus des Reiches, und alles wird sich dir ähnlich bilden. Vom Haupt geht gute Gesundheit zu allen Teilen des Körpers aus; alles ist lebendig und gespannt oder in Schlaffheit ermattet, je nachdem wie ihr Geist lebhaft oder kraftlos ist“); II 2,1; Plut, Numa 20,8; zur Analyse dieser und weiterer Texte vgl. E. FAUST, Pax Christi (s. o. 10.2), 290 ff. 85 Zu Philo vgl. H. HEGERMANN, Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, (s. o. 10.1.2), 58 ff.106ff; DERS., Zur Ableitung der Leib-Christi-Vorstellung im Epheserbrief, ThLZ 85 (1960), 839–842; C. COLPE, LeibChristi-Vorstellung im Epheserbrief (s. o. 10.2) 178 ff. 86 Vgl. M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 175–184.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 531
Die Einheit der Kirche
Mit der Vorstellung der Kirche als Leib Christi bearbeitet der Epheserbrief ein aktuelles Problem. Die Situation der angeschriebenen Gemeinde/Gemeinden wird offenbar durch Spannungen zwischen Christen aus jüdischer und griechisch-römischer Tradition geprägt. Die Leser des Briefes werden in Eph 2,11; 3,1; 4,17 direkt als Christen aus den Völkern angesprochen, und ihr Verhältnis zu den Judenchristen ist der alleinige Inhalt der Unterweisung Eph 2,11–22 und ebenso eines der dominierenden Briefthemen. Der Eph entwirft das Konzept einer Kirche aus Judenchristen und Christen aus griechisch-römischer Tradition, die miteinander den Leib Christi bilden. Damit reagiert der Autor auf eine gegenläufige Entwicklung in den kleinasiatischen Gemeinden: Die Judenchristen stellen bereits eine Minderheit dar, und die Christen aus den Völkern sehen in ihnen nicht mehr gleichberechtigte Partner87. Die Einheit der Kirche ist das angestrebte Exemplum für den durch Christus gestifteten kosmischen Frieden88. Deshalb wird die Erwählung Israels (anders als im Kol) nachdrücklich betont: „dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremdlinge gegenüber den Testamenten der Verheißung, ohne Hoffnung und ohne Gott im Kosmos“ (Eph 2,12). Aus den ‚Fernen‘ sind jetzt aber ‚Nahe‘ geworden (Eph 2,13), wobei nicht der Gedanke einer Eingliederung in das auserwählte Gottesvolk dominiert, sondern die Versöhnung als Überwindung der Feindschaft (Eph 2,14–18)89. Nun gilt: „Ihr seid nun nicht mehr Fremdlinge und Beisassen, sondern Mitbürger (sumpolı˜tai) der Heiligen und Hausgenossen (oikeı˜oi) Gottes“ (Eph 2,19)90. Mit diesen politischen Begriffen wird die Überwindung der in der Gesellschaft ja weiterhin bestehenden Spannungen zwischen Juden und Griechen/ Römern gewissermaßen amtlich festgestellt. Auf dem Hintergrund eines innergemeindlich (und gesamtgesellschaftlich) sich verschärfenden Antijudaismus tritt der Eph für das gleichberechtigte Erbe der Judenchristen am Leib Christi ein. Damit steht er im Gegensatz zu den Tendenzen, die sich in der Kirche Kleinasiens durchsetzten. Allerdings wird die Israel-Thematik nur noch als innergemeindliches und nicht mehr (wie bei Paulus) als universales heilsgeschichtliches Problem wahrgenommen91.
87 Vgl. K. M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o.
10.2), 79–94. 88 Vgl. G. SELLIN, Adresse und Intention des Epheserbriefes, in: Paulus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), hg. v. M. Trowitzsch, Tübingen 1998, (171–186) 186: „Hauptthema des Eph ist die Einsheit. Diese Einheit besteht in der Kirche, die durch das Wirken des Paulus die Mauer zwischen Juden und Heiden beseitigte.“ 89 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 241 f. 90 Vgl. K.M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o. 10.2), 80: „Die These des Eph. ist klar und eindeutig:
Israel ist Gottes Volk und hat seine Bundesverheißungen; die Heiden haben nichts. Das ist die Ausgangsposition. Da aber geschieht das unbegreifliche Wunder, daß Christus den Zaun zwischen Heiden und Juden, das Gesetz mit seinen Geboten, niederreißt und so den Heiden den Zugang zu Gott in der einen Kirche eröffnet (2,11ff).“ 91 Vgl. dazu TH. K. HECKEL, Kirche und Gottesvolk im Epheserbrief, in: Kirche und Gottesvolk (FS J. Roloff), hg. v. M. Karrer/W. Kraus/O. Merk, Neukirchen 2000, 163–175.
532 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Ämter
Die Ämter werden im Epheserbrief als Einheit stiftende Gaben des erhöhten Christus verstanden, ihnen kommt somit eine konstitutive Bedeutung zu: „Und er gab die Apostel, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer zur Zurüstung der Heiligen für ein Werk des Dienstes zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle gelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollkommenen Mann, zum Vollmaß der Fülle Christi“ (Eph 4,11–13). Gegenüber Paulus weist diese Ämterliste auf eine stark veränderte Gemeindestruktur hin92. Während Apostel und Prophet auch in 1Kor 12,28 vorkommen, fehlt bei Paulus der Titel des Evangelisten. Nahmen in 1Kor 12,28 die Lehrer die dritte Position ein, so erscheinen sie in Eph 4,11 nach den Aposteln, Propheten, Evangelisten und Hirten. Da in Eph 2,20; 3,5 die Apostel und Propheten bereits als feste Gruppe erscheinen, müssen sie auch hier als eigene Einheit angesehen werden. Sie repräsentieren die Ämter des Anfangs93, während die Trias Evangelist, Hirte und Lehrer die gegenwärtige Gemeindestruktur verkörpern94. Bei den Evangelisten handelt es sich wahrscheinlich um wandernde Prediger, während die Hirten und Lehrer für Predigt, Unterricht und Unterweisung in den Ortsgemeinden zuständig waren. Das Apostelamt wird nicht mehr funktional, sondern in seiner theologischen Bedeutung bedacht: Die Apostel sind das Fundament der Kirche (Eph 2,20), ihnen wurde das Geheimnis des Christusmysteriums offenbart (vgl. Eph 3,5). Den Propheten kommt wahrscheinlich keine aktuelle Funktion mehr zu; dem entspricht, dass im Eph charismatische Ämter fehlen, wie z. B. Wundertäter, Heilungsbegabte und das Reden in Zungen. Zwar hält der Eph grundsätzlich an der paulinischen Konzeption der Charismen als Gemeindegabe fest (Eph 4,7f), aber er entfaltet dieses Prinzip nicht. Paulus als Apostel der Kirche
Auch in Eph 3,1–13 wird Paulus zum entscheidenden Offenbarungsträger für die Kirche (vgl. Kol 1,24–29), indem er das bisher verborgene Geheimnis der Gewährung des Heils auch für die Völker (Eph 3,6.8) allen Menschen und Mächten offenbar macht (Eph 3,10). In der Anamnese seiner Person/seines Werkes erscheint das paulinische Völkerapostolat nach seinem Tod (vgl. Eph 3,1; 4,1) in heilsgeschichtlichen Dimensionen. Paulus ist der maßgebliche Empfänger der Offenbarung Gottes, die zur universalen Kirche aus Juden und Menschen aus den Völkern führte. Die 92 Zur Analyse vgl. H. MERKLEIN, Das kirchliche Amt (s. o. 10.2), 57–117. 93 Anders K. M. FISCHER, Tendenz und Absicht (s. o. 10.2), 33: Der Eph wehre sich gegen die Einführung einer episkopalen Gemeindeordnung, „für ihn bleiben nach wie vor die Apostel und Propheten das einzige Fundament der Kirche.“ Als Beleg für diese These dient Eph 4,11, wo nicht zwischen gegenwär-
tigen Ämtern (Evangelisten, Hirten und Lehrer) und Ämtern der Vergangenheit (Apostel und Propheten) unterschieden werde. „Es gibt also exegetisch nur eine Möglichkeit: Für Eph. sind die Apostel und Propheten nach wie vor die entscheidenden kirchlichen Ämter, an denen er nachdrücklich festhält“ (a. a. O., 38). 94 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 247.
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Paulus zuteil gewordene Gnade riss die Mauer zwischen diesen beiden Menschengruppen nieder (vgl. Eph 3,3.6) und ermöglichte die eine universale Kirche, deren Dimensionen im Eph bedacht und entfaltet werden. Christus ist der Eckstein der Kirche, die auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut wurde (Eph 2,20). Als Norm für die Bindung an Christus erscheint somit das durch Paulus verbürgte Apostolische. Es ist nichts mehr zu spüren von den Auseinandersetzungen um das paulinische Apostolat (vgl. 1Kor 9,1ff) und von den schweren Konflikten zwischen Christen aus dem Judentum und den Völkern. Paulus erkämpft nicht seine Position, sondern sie wird bereits in ihren kirchengeschichtlichen Dimensionen gewürdigt95. Damit verbindet sich die normative Funktion des Paulus für das Traditionsverständnis des Briefes. Die Apostel und Propheten (und damit vor allem Paulus) bilden das Fundament und die Norm des Christlichen, das nun nicht mehr von trügerischen Spielen der Menschen abhängig ist (Eph 4,14). Weil der Apostel der Bote des Geheimnisses des Evangeliums ist (Eph 6,20), kann dieses Mysterium sachgemäß auch nur von ihm verkündigt werden. Der Rückgriff auf Paulus und der damit verbundene pseudepigraphische Charakter des Eph ergibt sich somit notwendigerweise aus dem im Brief vermittelten Paulusbild96. Ekklesiologie und Christologie/Soteriologie
Für die Beurteilung der Gesamtkonzeption des Eph ist die Frage entscheidend, wie sich Ekklesiologie und Christologie/Soteriologie zueinander verhalten. Ist die Ekklesiologie im Sinn einer ‚ecclesia triumphans‘ zu verstehen, bei der Christologie/Soteriologie zu einer Funktion der Ekklesiologie werden97? Einerseits ist die Dominanz der Ekklesiologie unverkennbar, andererseits gibt es aber auch deutliche Hinweise auf eine christologische Fundierung der Ekklesiologie98: 1) Das Heilsgeschehen wird auch im Eph exklusiv im Kreuz verankert (Eph 2,13.14.16); 2) In Eph 5,23 ist Christus der Erlöser/Retter der Kirche; 3) Im zentralen Abschnitt Eph 2,11–22 ist Christus das entscheidende Subjekt, das Frieden und Versöhnung erwirkt; 4) Die zentrale ekklesiologische Wendung en Cristw˜ bezeichnet im Eph den durch Christus ermöglichten und bestimmten Heilsraum, in dem die Versöhnten mit Gott/Christus und untereinander Gemeinschaft haben. Die Kirche hat somit ihren Raum in Christus und nicht umgekehrt99. 5) Die Wachstumsmetaphern im Eph zeigen deutlich, dass auch die Kirche einem Werden unterworfen ist. 95 Vgl. H. MERKLEIN, Rezeption (s. o. 10.1.7), 32 f. 96 M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 275, betont:
„Unter den nachpaulinischen Briefen bietet der Epheserbrief als einziger eine umfassende und komprimierte Darstellung der paulinischen Theologie, für die zugleich der Anspruch zeitloser Gültigkeit und Verbindlichkeit erhoben wird. Gerade das berechtigt, den Epheserbrief als das theologische Ver-
mächtnis der Paulusschule anzusprechen.“ 97 So tendenziell H. MERKLEIN, Christus und die Kirche (s. o. 10.2), 63, der von einem „Primat der Ekklesiologie vor der Soteriologie“ spricht; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 237: „Die Ekklesiologie ist zur Voraussetzung der Soteriologie geworden.“ 98 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 25. 99 Vgl. M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 171–175.
534 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Die Kirche ist der von Christus eröffnete und durchwaltete Heilsraum (vgl. Eph 1,22f; 2,16; 4,15f). Es gibt die Kirche nicht ohne Christus, ebenso Christus nicht ohne die Kirche. Gott offenbart seine Weisheit den Mächten durch die Kirche (Eph 3,10), in Eph 3,21 ist die Kirche sogar Gegenstand einer Doxologie. Dennoch gilt auch für den Eph, dass die Kirche durchgängig von Christus her gedacht wird und immer auf ihn bezogen bleibt, so dass niemand außer Christus selbst über die Kirche herrschen kann. Wie kein anderes ntl. Schreiben betont der Eph die ekklesiologische Relevanz des Evangeliums, ohne jedoch das christologische Fundament zu vernachlässigen.
10.2.8 Eschatologie Das in der Ekklesiologie vorherrschende Heilspräsens bestimmt auch die Eschatologie. Im Epheserbrief wird nicht nur (wie im Kol) die Zeitform der Vergangenheit konsequent auf die Eschata übertragen, sondern darüber hinaus sogar von einem Versetztsein in den Himmel gesprochen. So wie Christus den Sieg bereits errungen hat (vgl. Eph 1,20–23), befindet sich die erwählte Gemeinde (vgl. Eph 1,5.9.11.19; 2,10; 3,11) schon in einem gegenwärtigen Heilsraum: der Kirche als Leib Christi. Die Glaubenden sind in der Taufe aus Gnade gerettet (Eph 2,5.6.8), sie wurden mit Christus (vgl. Eph 1,20) „mit lebendig gemacht“ (Aor. sunezwopoı´vsen), „mit auferweckt“ (Aor. sunv´geiren) und „mit eingesetzt“ (Aor. suneka´hisen) in den Himmel (Eph 2,5.6). Gegenüber Röm 6,3f; Kol 2,12 betont der Eph ausschließlich den Herrlichkeitsstatus der Glaubenden und Getauften (das ‚mit begraben werden‘ fehlt). Als Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes (Eph 2,19) haben sie vollen Anteil an der Erlösung durch das Blut Christi (vgl. Eph 1,7). Die deutlichen Verschiebungen gegenüber der Eschatologie des Paulus ergeben sich durch das Zurücktreten von Zeitund das Vordringen von Raumkategorien; die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft verliert an Bedeutung. Die starke Betonung der Heilsgegenwart bei Paulus (vgl. z. B. 2Kor 3,18; Röm 8,29f), die räumlich orientierte Theologie des Kol, die hymnischen Traditionen (Gebete: Eph 1,3–23; 6,18–20, Doxologie: Eph 3,14–19) und die Erfahrung der Gegenwart des Heils in den Sakramenten führten im Eph zu einer Theologie, in der nicht die Zukunft die Gegenwart, sondern die Gegenwart die Zukunft bestimmt. Vor allem aber die Haupt-Leib-Metaphorik mit ihren Raumdimensionen und die damit verbundene Einheitstheologie verlangen eine starke Betonung der Gegenwart, denn es geht um die aktuelle Überwindung von Spaltungen und (angesichts herrschender römischer Kaiser) um den Aufweis der umfassenden gegenwärtigen Herrschaft Jesu Christi. Die Problematik der Parusieverzögerung stellt sich bei diesem Konzept fast nicht mehr.
Der Epheserbrief: Raum und Zeit 535
Die präsentische Eschatologie des Epheserbriefes hebt aber Zeit und Geschichte nicht generell auf100. Der Eph vertritt keine zeitlose Ontologie der Kirche und keine Vermischung himmlischer und irdischer Wirklichkeiten. Den Glaubenden und Getauften werden himmlische Wirklichkeiten zugesprochen, nicht aber irdische Zustände: Weil Christus schon zur Rechten Gottes sitzt, weiß sich auch die Gemeinde im gegenwärtigen Besitz des transzendenten Heils, d. h. die strenge Bindung an Christus ist die sachliche Grundlage aller Aussagen101. Auch die Zeit ist im Epheserbrief nicht in eine konturlose Ontologie aufgelöst102. So werden die Getauften aufgefordert, den sie bedrängenden Mächten ‚am bösen Tag‘ entgegenzutreten (Eph 6,13). Das kommende Gericht motiviert die Paränese (Eph 6,8), Götzendiener werden das Reich Gottes nicht ererben (Eph 5,5), denn der Zorn Gottes kommt über die Ungehorsamen (Eph 5,6). Auch der kommende Äon steht unter der Herrschaft Christi (Eph 1,21b). Der Eph erinnert die Christen an ihre Hoffnung (Eph 1,18; 2,12; 4,4), und er spricht vom Tag der Erlösung (Eph 4,30), auf den hin sie versiegelt sind. Die Glaubenden sollen die gegenwärtige Zeit auskosten (Eph 5,16), denn sie ist Endzeit. Wie für Paulus (2Kor 1,21f, 5,5; Röm 8,23) ist auch für den Eph der Geist das Unterpfand für die zukünftige Erlösung (Eph 1,13f; 4,30), die Rettung erfolgte aus Gnade und durch Glauben (Eph 2,8a). Die Kirche als Leib Christi ist einem Wachstums- und Reifungsprozess unterworfen (vgl. Eph 2,21f; 3,19; 4,13.16), der den Blick für die Zukunft mit einschließt. Auch der Epheserbrief formuliert einen ‚Vorbehalt‘, der allerdings völlig anderer Art als bei Paulus ist. Die vorherrschenden räumlichen Dimensionen sind der Statik des gegenwärtig Seienden und nicht dem Kommenden verpflichtet.
100 Vgl. hierzu H. HÜBNER, Eph (s. o. 10.2), 165–168. Von einer Situations- und Geschichtslosigkeit des Eph geht A. LINDEMANN, Aufhebung der Zeit, 248, aus: „Zeit und Geschichte sind für den Epheserbrief ‚in Christus‘ – das heißt für diese Theologie: in der Kirche – aufgehoben. Von solcher Gegenwart aus hebt jede Zukunft sich auf.“ 101 Diesen Aspekt betont F. MUSSNER, Christus, das All und die Kirche (s. o. 10.2), 93; ihm folgt M. GESE, Vermächtnis (s. o. 10.2), 156: „Auch wenn das himmlische Leben der Glaubenden bereits gegenwärtig ist, bleibt es dennoch in seiner Gebundenheit an Christus von den irdischen Lebensvollzügen fundamental getrennt. Durch die räumliche Differenzierung ist eine Identifikation beider Bereiche eindeutig vermieden, von einer Tilgung des eschatologischen Vorbehal-
tes kann keine Rede sein.“ Allerdings bleibt bei dieser Verhältnisbestimmung das Problem, wie die vom Eph auch vorausgesetzte Gegenwart des Himmlischen im Irdischen zu denken ist. Der Verweis auf die Taufe, den Geist und den Glauben reichen hier nicht aus, denn sie repräsentieren auch bei Paulus das gegenwärtige Heil. 102 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 28–30; H.E. LONA, Eschatologie (s. o. 10.1), 241 ff. Lona spricht von einer ‚ekklesiologischen Eschatologie‘ im Eph: „Von Gegenwart und Zukunft des Heils wird nur im Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Kirche gesprochen“ (a. a. O., 442). Zudem zeigen Eph 1,13f; 4,30, „daß die Betonung der Gegenwart des Heils in keinem Gegensatz zur zukünftigen Vollendung steht“ (a. a. O., 427).
536 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
10.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung In keiner anderen ntl. Schrift tritt die Ekklesiologie so hervor wie im Epheserbrief103. Die Kirche ist nicht zufällig, sondern mit besonderer Würde ausgestattet; sie ist erwählt und vorherbestimmt. Ihrer Aufgabe wird sie allerdings nur unter der Perspektive der Einheit gerecht: Die ekklvsı´a ist nur in der Einheit Kirche Jesu Christi. Der Epheserbrief ist die große Einheitsschrift des Neuen Testaments! Sowohl die Protologie (Eph 1,3–14) als auch die präsentische Eschatologie dienen dem Nachweis, dass es dem uranfänglichen und gegenwärtigen Willen Gottes in Jesus Christus entspricht, dass die Kirche als Leib Christi und unter dem Haupt Jesu Christi die gewollte Einheit von Glaubenden aus jüdischer und griechisch-römischer Tradition auch lebt. Das Amtsverständnis verbindet sich ebenfalls unmittelbar mit der Einheitsfrage, denn nach Eph 4,13 ist die Herstellung der Einheit der Glaubenden die zentrale Aufgabe der Amtsträger. Was Paulus nicht gelang und er dem sich bildenden frühen Christentum als Vermächtnis auftrug, wird vom Eph vollzogen: die Proklamation der Einheit in der pneumatischen Politeia des Leibes Christi jenseits aller ehemals trennenden Mauern (Eph 2,19–22). Obwohl sich der Eph mit seiner kosmischen Ekklesiologie und präsentischen Eschatologie von Paulus wesentlich unterscheidet, gibt er zentrale Elemente der exklusiven Rechtfertigungslehre geradezu schulmäßig wieder: „aus Gnade . . . durch Glauben . . . nicht aus Werken“ (Eph 2,8f). Damit ist der Epheserbrief – aus heutiger Perspektive – ein zutiefst ökumenisches Dokument, das gewissermaßen ‚katholische‘ und ‚evangelische‘ Elemente in sich vereinigt104. Zukunftspotential enthält auch die Christologie, denn die kosmische Herrschaft Jesu Christi und sein Sitzen zur Rechten Gottes (Eph 1,20) zielen auf Frieden und Versöhnung (Eph 2,14–16). Christus durchwaltet das All mit seiner Lebensmacht (Eph 1,23), damit durch sein Friedens-Evangelium aus Fernen Nahe werden (Eph 2,13.17). Das „Band des Friedens“ (Eph 4,3) soll die Glaubenden in der Einheit des Geistes verbinden und so Gottes neue Wirklichkeit repräsentieren.
10.3 Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem W. WREDE, Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefes, Leipzig 1903; E. V. DOBSCHÜTZ, Die Thessalonicher-Briefe, KEK 10, Göttingen 1909 (= 1974); H. BRAUN, Zur nachpaulinischen Herkunft des zweiten Thessalonicherbriefes, in: ders., Gesammelte Studien zum NT und seiner Um103 J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 231f, spricht von einer kopernikanischen Wende: „Stand im Mittelpunkt der echten Paulusbriefe stets das Christusereignis und wurde die Kirche in ihrem Bezug zu die-
sem gesehen, so nimmt diese deuteropaulinische Schrift die Kirche zum Ausgangspunkt, um das Christusereignis von ihr her zu interpretieren.“ 104 Vgl. F. MUSSNER, Eph (s. o. 10.2), 175–178.
Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem 537
welt, Tübingen 1962, 205–209; W. TRILLING, Untersuchungen zum zweiten Thessalonicherbrief, EThSt 27, Leipzig 1972; A. LINDEMANN, Zum Abfassungszweck des zweiten Thessalonicherbriefes, ZNW 68 (1977), 35–47; W. TRILLING, Der zweite Brief an die Thessalonicher, EKK 14, Neukirchen 1980; W. TRILLING, Literarische Paulusimitation im 2.Thessalonicherbrief, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl. Spätschriften, QD 89, Freiburg 1981, 146–156; W. MARXSEN, Der zweite Brief an die Thessalonicher, ZBK 11.2, Zürich 1982; R. JEWETT, The Thessalonian Correspondence, Philadelphia 1986; G. S. HOLLAND, The Tradition that you have received from us: 2Thessalonians in the Pauline Tradition, HUTh 24, Tübingen 1988; P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule (s. o. 10); F. W. HUGHES, Early Christian Rhetoric and 2Thessalonians, JSNT.S 30, Sheffield 1989; R.F. COLLINS (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BETL 87, Leuven 1990; K. P. DONFRIED, The Theology of 2 Thessalonians, in: ders. (Hg.), The Theology of the shorter Pauline Letters, Cambridge 1993, 81–113; M. J. J. MENKEN, 2 Thessalonians, London/New York 1994; E. REINMUTH, Der zweite Brief an die Thessalonicher, NTD 8/2, Göttingen 1998; A. J. MALHERBE, The Letters to the Thessalonians, AncB 32B, New York 2000; G. HOTZE, Die Christologie des 2. Thessalonicherbriefes, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der Paulusschule, SBS 181, Stuttgart 2000, 124–148; H. ROOSE, Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalonicherbriefen, NTS 51 (2005), 250–269; E. E. POPKES, Die Bedeutung des zweiten Thessalonicherbriefes für das Verständnis paulinischer und deuteropaulinischer Eschatologie, BZ 48 (2004), 39–64; P. METZGER, Katechon. II Thess 2,1–12 im Horizont apokalyptischen Denkens, BZNW 135, Berlin 2005.
Der 2Thessalonicherbrief ist ein pseudepigraphisches Mahn- und Lehrschreiben, das gegen Ende des 1. Jh. in Makedonien oder Kleinasien abgefasst wurde105 und als Lektüreanweisung für den 1Thessalonicherbrief dienen soll. Theologie
Im Zentrum der Theo-logie des 2Thess steht der richtende Gott. Angesichts der die Gemeinde bedrohenden eschatologischen Falschlehre warnt und motiviert der Autor zugleich: Die Gemeinde wird für ihr Ausharren und ihr Leiden belohnt werden, denn „es ist ja gerecht bei Gott, denen, die euch bedrängen, mit Bedrängnis zu vergelten, und euch, den Bedrängten, Ruhe zu geben mit uns“ (2Thess 1,6.7a; vgl. 1,8). Der Berufung der Gemeinde stehen jene gegenüber, die von der von Gott gesandten Macht der Verführung zur Lüge geführt wurden (2Thess 2,11f). Das eschatologische Enddrama entspricht mit dem Auftreten des Widersachers (2Thess 2,4) dem Heilsplan Gottes. Gott ist somit zugleich Urheber und parteilicher Akteur innerhalb des Geschehens! Diese spannungsreiche Argumentation dient offenbar dazu, die angefochtene Identität der Gemeinde zu stärken. Sie darf sich der Liebe Gottes sicher sein (2Thess 2,16; 3,5), während die Gegner dem Gericht verfallen.
105 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 357–367.
538 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Christologie/Eschatologie
Die Christologie ist im 2Thess ein integraler Bestandteil der Eschatologie106. Das Grundkonzept benennt 2Thess 1,7b, wonach der endzeitliche Parusie-Kyrios sich mit den Engeln vom Himmel her offenbaren wird: „Wenn er kommt, um unter seinen Heiligen verherrlicht zu werden und bewundert zu werden unter allen Glaubenden, an jenem Tag“ (2Thess 1,10). Wann aber ist ‚jener Tag‘? 2Thess 2,2 lässt erkennen, dass um diese Frage erbittert gestritten wurde. Eine prophetische Ankündigung der Gegenwart des Parusietages (2Thess 2,2c: wß oÇti ene´stvken v vme´ra tou˜ kurı´ou = „als ob der Tag des Herrn schon gegenwärtig sei“) löste in den Gemeinden offenbar Verwirrung und Unsicherheit aus. Die Vertreter dieser präsentischen Eschatologie beriefen sich auf vom Geist gewirkte Einsichten, auf ein Wort des Apostels und auf einen (angeblichen oder wirklichen) Paulusbrief (vgl. 2Thess 2,2.15). Die Behauptung des ‚schon jetzt‘ der Endereignisse und die Wirklichkeit der christlichen Gemeinde in einer sich dehnenden Zeit lassen sich aber nicht widerspruchslos vereinen, ohne die Gegenwart in eschatologischer Schwärmerei zu überspringen. Für den Briefschreiber dauert der alte Äon noch an. Der Tag der Wiederkunft des Herrn ist noch nicht da, er kann noch gar nicht angebrochen sein, denn noch herrscht im alten Äon der Widersacher Gottes. Die Verzögerungsproblematik soll durch einen eschatologischen Entwurf entschärft werden, der den Charakter der Gegenwart als noch andauernde Wirkzeit des Antichristen und die Zukunft als Zeitpunkt des endgültigen Offenbarwerdens der Herrschaft Christi bestimmt. Die fundamentalen Unterschiede zwischen den eschatologischen Belehrungen in 1Thess 4,13–18; 5,1–11 und 2Thess 2,1–12; 1,5–10 sind offenkundig107. Die Eschatologie des 1Thess ist geprägt durch die unmittelbare Parusienaherwartung, die bis zum Phil die sachliche Mitte aller eschatologischen Aussagen bildet (vgl Phil 4,5b). In 2Thess 2,2 wendet sich der Verfasser gegen die Parole wß oÇti ene´stvken v vme´ra tou˜ kurı´ou und entwirft dann einen Ablauf der Endereignisse, der mit der Schilderung im 1Thess nicht vereinbar ist. In 1Thess 4,13–18 stehen das Kommen des Kyrios und die Entrückung aller Christen im Mittelpunkt. Als Ziel des eschatologischen Geschehens erscheint das ‚mit dem Herrn sein‘ (1Thess 4,17). Einen völlig anderen Ablauf bietet 2Thess 2,1–12. Vor der Parusie Christi muss zunächst der ‚Mensch der Gesetzlosigkeit‘ (2Thess 2,3) auftreten, der sich als Gegenspieler Gottes an dessen Stelle setzt (2Thess 2,4). Die vollständige Epiphanie dieses Gegenspielers steht zwar noch aus (2Thess 2,6f), dennoch wirkt er bereits in der Gegenwart und verführt die Ungläubigen. Noch wird der Widersacher aufgehalten, aber bei der Parusie vernichtet ihn Christus, und das Gericht ergeht über die im Unglauben Verharrenden. Sowohl die Verzögerungsproblematik (2Thess 2,6f) als auch das Auftreten eines eschatologi106 Vgl. P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule (s. o.
107 Vgl. zur ausführlichen Darstellung P. MÜLLER,
10), 275f; G. HOTZE, Christologie, 147 f.
Anfänge der Paulusschule (s. o. 10), 20–67.
Der zweite Thessalonicherbrief: Ein Terminproblem 539
schen Gegenspielers unterscheidet 2Thess 2,1–12 grundlegend von der Sichtweise des 1Thess. Während 1Thess 5,1 Berechnungen im Hinblick auf die Parusie ausdrücklich ablehnt, findet sich in 2Thess 2,1–12 ein eschatologischer Fahrplan, der Beobachtungen und Berechnungen nicht nur zulässt, sondern fordert (vgl. V. 5!). Steht bei Paulus immer das Erscheinen des Auferstandenen im Mittelpunkt (vgl. 1Thess 4,16; 1Kor 15,23), so ist das Parusiegeschehen in 2Thess 2,8 auf die Vernichtung des Antichristen zugespitzt. Unter Aufnahme prophetisch-apokalyptischer Motive (vgl. Dan 11,36ff; Jes 11,4) werden der kommende Abfall, das Auftreten des Menschen der Bosheit und seine Wirksamkeit als Etappen des Endgeschehens benannt. Sie gehen der Parusie Christi voran, so dass die Gemeinde nun selbst prüfen und beurteilen kann, ob der konkurrierende eschatologische Entwurf der Wirklichkeit entspricht. Das Offenbarwerden des endzeitlichen Gegenspielers steht noch aus, somit kann die Parusie Christi weder eingetreten sein noch unmittelbar bevorstehen. Zugleich weiß aber die Gemeinde, dass der Böse schon in der Gegenwart wirkt und allein Gott das offenkundige Hervortreten des Bösen noch zurückhält. Die Wirksamkeit des Bösen qualifiziert zugleich die Gegenwart als Entscheidungszeit für die Zukunft. Im Hintergrund der in 2Thess 2,1–12 bekämpften Lehre dürfte ein enthusiastisches Prophetentum (vgl. Mk 13,22; Mt 7,15; 24,23f) in alttestamentlich-apokalyptischer Tradition stehen (vgl. Jes 13,10; Ez 32,7f; Joel 2,1–10; 4,15f; äthHen 93,9; 102,2; Jub 23,16ff; Mk 13,7.25)108. Wahrscheinlich beriefen sich die urchristlichen Propheten bei ihrer Ansage der Präsenz des Parusietages auf Eingaben des Geistes und auf einen Paulusbrief (2Thess 2,2), womit nur der 1Thess gemeint sein kann109. Paulus rechnet in 1Thess 4,15.17 damit, bei der unmittelbar bevorstehenden Parusie des Herrn noch zu leben. An diese Aussage knüpften die urchristlichen Propheten möglicherweise an, für sie war der von Paulus als unmittelbar bevorstehend geglaubte Tag des Herrn nach dem Tod des Apostels bereits da. Die Propheten begriffen ihre eschatologische Konzeption als eine konsequente Fortschreibung paulinischer Gedanken, zugleich hoben sie aber die für Paulus charakteristischen Vorbehalte auf. Deshalb bekämpft der Verfasser des 2Thess diese Lehre durchaus im Sinn des Apostels, auch wenn er dabei unpaulinische Vorstellungen aufgreift. In 2Thess 2,6.7 spricht der Briefschreiber von einer Macht, die das Offenbarwerden des Antichristen zurückhält. Dem Katechon (= „das Aufhaltende“) kommt die Funktion zu, das Erscheinen des Wider-Gottes bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzuhalten.
108 E. E. POPKES, Die Bedeutung des zweiten Thessa-
lonicherbriefes, 45ff, meint, der 2Thess greife die (stark) präsentische Eschatologie des Kol und Eph an und dokumentiere mit seinem Festhalten an der futurischen Eschatologie das Auseinanderfallen der Paulusschule. Gegen diese These sprechen vor allem 2Thess 2,2b (der dort genannte Brief kann nur der
1Thess sein), 2Thess 2,2c (die dort attackierte eschatologische Parole trifft die eschatologische Konzeption des Kol und Eph nicht) und der gesamte traditionsgeschichtliche Hintergrund von 2Thess 2,1–12. 109 Vgl. W. TRILLING, 2Thess, 76f; W. MARXSEN, 2Thess, 80.
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Der 2Thess greift hier auf eine Tradition zurück, deren Ausgangspunkt wahrscheinlich Hab 2,3 bildet110: „Denn erst zu der bestimmten Zeit tritt ein, was du siehst; aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung; wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus.“ Mit dem apokalyptischen Motiv des Katechon betont der Briefschreiber, dass Gott das angesagte Ende herbeiführen werde, auch wenn es sich verzögert. Die endzeitlichen Ereignisse unterstehen dem Willen Gottes und vollziehen sich nach seinem Plan. Die aufhaltende Macht muss weder personal noch weltgeschichtlich (Römisches Reich) gedeutet werden111, sondern letztlich ist es Gott selbst, der das Auftreten des Antichristen bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt verhindert. Zwar ist eine direkte Gleichsetzung des kate´con mit Gott nicht möglich (vgl. 2Thess 2,7b), sie erscheint aber als logische Konsequenz der Argumentation. Die Parusieverzögerung entspricht dem Willen Gottes, sie selbst ist die aufhaltende Macht112.
Was ist die eigentliche Intention des 2Thessalonicherbriefes? Wollte er nur eine falsche Auslegung von 1Thess 4,13–5,11 zurückdrängen oder aber den ersten Brief verdrängen? Bejaht man die letztgenannte These113, dann müsste der 2Thess als eine Gegenfälschung verstanden werden. Mit den Mitteln der Pseudepigraphie hätte der Verfasser versucht, den angeblich ‚ersten‘ Thessalonicherbrief durch sein Schreiben zu verdrängen. Allerdings stehen dieser Annahme gewichtige Argumente gegenüber: Sollte es möglich gewesen sein, den 1Thess ca. 40 Jahre nach seiner Abfassung als Fälschung zu bezeichnen? Die starke Anlehnung an den 1Thess lässt darauf schließen, dass der Verfasser des 2Thess von der Echtheit des ihm vorliegenden ersten Briefes überzeugt war. Die im gesamten 2Thess in Anspruch genommene Autorität des Apostels dient nicht dazu, Paulus durch ‚Paulus‘ zu korrigieren, sondern eine falsche Interpretation der eschatologischen Aussagen des 1Thess abzuwehren. Auch der Apostel selbst hätte die eschatologische Parole der Gegner nicht geteilt, so dass der 2Thess unter seinen Bedingungen Paulus zu Recht in Anspruch nimmt, ohne aber genuin paulinische Eschatologie wiederzugeben. Ethik
Unmittelbar mit der Gegnerpolemik verbunden ist auch das einzige im Brief behan-
110 Vgl. hier A. STROBEL, Untersuchungen zum escha-
113 Diese These begründeten A. HILGENFELD, Die bei-
tologischen Verzögerungsproblem, NT.S 2, Leiden 1961, 98–116. 111 Vgl. zu den Einzelfragen und zur Auslegungsgeschichte W. TRILLING, 2Thess, 94–105; P. METZGER, Katechon, 15 ff. 112 Vgl. W. TRILLING, 2Thess, 92; anders P. METZGER, Katechon, 283–295, der das Katechon wieder auf Rom bezieht.
den Briefe an die Thessalonicher, ZWTh 5 (1862), 225–264; H. J. HOLTZMANN, Zum zweiten Thessalonicherbrief, ZNW 2 (1901), 97–108; in der neueren Exegese wird sie u. a. vertreten von: A. LINDEMANN, Abfassungszweck, 39; W. MARXSEN, 2Thess, 33ff; F. LAUB, Paulinische Autorität in nachpaulinischer Zeit, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence (s. o. 10.3), 403–417.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 541
delte ethische Thema: der Umgang mit den ‚Unordentlichen‘. In 2Thess 3,6–15 erwähnt der Verfasser Gemeindeglieder, die unordentlich wandeln, nicht arbeiten und unnütze Dinge tun. Einerseits könnten die Allgemeinheit der Aussage und die Parallelen in 1Thess 5,13.14/2Thess 3,6.10 vermuten lassen, dass hier nicht wirklich (durch die Parole 2Thess 2,2 ausgelöste) Missstände im Hintergrund stehen. Andererseits ist die Vermutung nicht abwegig, dass einzelne Gemeindeglieder in unmittelbarer Erwartung des Endes von Welt und Geschichte aus ihrem bisherigen Leben ausstiegen und die ta´xiß („Ordnung“) des Normalen verließen114. Das Paulus-Bild
Auf der Person des Apostels Paulus basiert die gesamte Argumentation des 2Thess. Die Berufung der Gemeinde ist mit dem paulinischen Evangelium unaufgebbar verbunden (2Thess 2,14). Die Gemeinde widersteht den Irrlehrern, indem sie an der Lehre des Apostels festhält (2Thess 2,5.6; vgl. 1,10b) und – wie er – den bösen Menschen keinen Raum gibt (vgl. 2Thess 3,6). Neben dem autoritativen Wort soll auch die Lebensführung des Apostels (vgl. 2Thess 3,8) der Gemeinde helfen, sich in den Wirrungen der Gegenwart zu orientieren und an der apostolischen Verkündigung festzuhalten. Auch die Paränese im 2Thess ist durch den umfassenden Rückbezug auf den Apostel Paulus geprägt. Als ethische Norm dient die vom Apostel der Gemeinde vermittelte Lehre (vgl. 2Thess 2,15; 3,6.14). Zudem erscheint Paulus als Vorbild, dem die Gemeinde nachfolgen soll (2Thess 3,7–9). Der Apostel ermahnt die Gemeinde (2Thess 3,4.6.10.12), der Erwählung Gottes entsprechend in Heiligung zu leben (2Thess 2,13). Die Orientierung an Paulus kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der 2Thess im Gegensatz zum Kol und Eph die paulinische Theologie nicht produktiv in einer veränderten Situation weiterentwickelt115. Es herrscht eine formelhafte Sprache und Argumentation vor; offenkundig verfolgt der Brief nur das Ziel, eine Fehlinterpretation der Eschatologie des 1Thess zu korrigieren.
10.4 Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit M. DIBELIUS, Die Pastoralbriefe, bearb. v. H. Conzelmann, HNT 13, Tübingen 41966 (= 1955); H. V. CAMPENHAUSEN, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, BHTh 14, Tübingen 21963; N. BROX, Die Pastoralbriefe, RNT, Regensburg 21989 (=1968); H. HEGERMANN, Der geschichtliche Ort der Pastoralbriefe, TheolVers II, Berlin 1970, 47–64; G. HAUFE, Gnostische Irrlehre und ihre Abwehr in den Pastoralbriefen, in: Gnosis und Neues Testament, hg. v. K. W. Tröger, Berlin 1973, 325–339; W. STENGER, Timotheus und Titus als literarische Gestalten, Kairos 16 (1974), 252–267; O. MERK, Glaube und Tat in den Pastoralbriefen, in: ders., 114 Vgl. E. REINMUTH, 2Thess, 164. 115 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 10), 132 f.
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Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, Berlin 1998, 260–271 (= 1975); V. HASLER, Epiphanie und Christologie in den Pastoralbriefen, ThZ 33 (1977), 193–209; J. ROLOFF, Art. Amt/ Ämter/Amtsverständnis, TRE 2, Berlin 1978, 509–533; P. TRUMMER, Die Paulustradition der Pastoralbriefe, BET 8, Frankfurt 1978; H. V. LIPS, Glaube – Gemeinde – Amt. Zum Verständnis der Ordination in den Pastoralbriefen, FRLANT 122, Göttingen 1979; G. LOHFINK, Paulinische Theologie in den Pastoralbriefen, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl. Spätschriften, QD 89, Freiburg 1981, 70–121; P. TRUMMER, Corpus Paulinum – Corpus Pastorale, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl. Spätschriften, a. a. O., 122–145; G. KRETSCHMAR, Der paulinische Glaube in den Pastoralbriefen, in: Der Glaube im Neuen Testament (FS H. Binder), hg. v. F. Hahn/H. Klein, BThSt 7, Neukirchen 1982, 115–140; J. ROLOFF, Pfeiler und Fundament der Wahrheit. Erwägungen zum Kirchenverständnis der Pastoralbriefe, in: Glaube und Eschatologie (FS W.G. Kümmel), hg. v. E. Grässer/O. Merk, Tübingen 1985, 229–247; L.R. DONELSON, Pseudepigraphy and Ethical Argument in the Pastoral Epistles, HUTh 22, Tübingen 1986; J. ROLOFF, Der erste Brief an Timotheus, EKK XV, Neukirchen 1988; M. WOLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT 146, Göttingen 1988; E. SCHLARB, Die gesunde Lehre. Häresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe, MThSt 28, Marburg 1990; U. WAGENER, Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe, WUNT 2.65, Tübingen 1994; L. OBERLINNER, Die Pastoralbriefe, HThK XI 2/1–3, Freiburg 1994.1995.1996; J. ROLOFF, Art. Pastoralbriefe, TRE 26, Berlin 1996, 50–68; K. LÄGER, Die Christologie der Pastoralbriefe, HTS 2, Münster 1996; H. STETTLER, Die Christologie der Pastoralbriefe, WUNT 2.105, Tübingen 1998; I.H. MARSHALL, The Pastoral Epistles, ICC, London 1999; G. HÄFNER, Nützlich zur Belehrung (2 Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption, HBS 25, Freiburg 2000; L.T. JOHNSON, The First and Second Letters to Timothy, AncB 35A, New York 2001; L. OBERLINNER, Öffnung zur Welt oder Verrat am Glauben? Hellenismus in den Pastoralbriefen, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001, 135–163; A. WEISER, Der zweite Brief an Timotheus, EKK XV/1, Neukirchen 2003; A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus, NTOA 52, Göttingen/Fribourg 2004.
Die Pastoralbriefe geben schon formal ihre veränderte Perspektive gegenüber den Protopaulinen (und auch Kol/Eph/2Thess) zu erkennen: Sie sind nicht mehr Gemeindebriefe, sondern sie richten sich an persönliche Mitarbeiter des Paulus in gesamtkirchlicher Verantwortung. Formal und inhaltlich verstehen sie sich offenbar als Ergänzung der bis dahin unter dem Namen des Paulus veröffentlichten Briefe. Wahrscheinlich wurden sie um 100 n.Chr. in Ephesus geschrieben116 und im Rahmen einer Edition des Corpus Paulinum veröffentlicht117. Die Bezeichnung ‚Pastoralbriefe‘ für den 1/2Timotheusbrief und Titusbrief wurde wahrscheinlich im 18. Jh. von dem Hallenser Exegeten P. Anton geprägt118, der damit die Intention aller drei Briefe zutreffend wiedergab: ihr Bemühen um die Be116 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 367–388. 117 Vgl. P. TRUMMER, Corpus Paulinum – Corpus Pastorale, 133, wonach der Verfasser der Past ein unbekanntes Mitglied der Paulusschule war; er schrieb und verbreitete die Briefe „im Zuge einer Neuedition
des bisherigen Korpus.“ 118 P. ANTON, Exegetische Abhandlung der Paulinischen Pastoral-Briefe, Halle I 1753. II 1755; vgl. dazu H. V. LIPS, Von den „Pastoralbriefen“ zum „Corpus Pastorale“, in: U. Schnelle (Hg.), Reformation und Neuzeit, Berlin 1994, 49–71.
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gründung und Ausgestaltung des kirchlichen Hirtenamtes. Die Anweisungen für die rechte Ausübung des Hirtenamtes haben einen allgemeingültigen Charakter. Zudem stimmen die Past in der vorausgesetzten Gemeindesituation und in ihrer theologischen Begriffswelt weitgehend überein. Das verbindende Element ist die durchgehende Aufforderung zur Abgrenzung und Abkehr von den Falschlehrern, dem positiv der Rückbezug auf die Person des Apostels Paulus und die durch ihn verbürgte Tradition entspricht. Der Bedrohung der paulinischen Identität der angeschriebenen Gemeinden begegnet der Verfasser der Past mit der Vorstellung einer personalen und sachlichen Kontinuität, die sich am Vorbild des Paulus orientiert und in den Weisungen konkrete Gestalt gewinnt.
10.4.1 Theologie Die zentrale Gottesprädikation in den Past ist swtv´r („Retter“). Schon die Häufigkeit von swtv´r signalisiert die Bedeutung; bei insgesamt 24 Belegen im NT finden sich allein 10 Belege in den Past (6mal in Bezug auf Gott, 4mal in Bezug auf Jesus). Paulus wurde „gemäß der Anordnung Gottes, unseres Retters“ (1Tim 1,1; vgl. Tit 1,3) berufen. Im Rahmen einer Gebetsaufforderung für Könige und Herrschaften heißt es in 1Tim 2,2b–4: „damit wir ein ruhiges und ungestörtes Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ Die mit dem swtv´r-Titel verbundene universale Perspektive wird auch in 1Tim 4,10b („weil wir unsere Hoffnung gesetzt haben auf den lebendigen Gott, welcher der Retter aller Menschen ist, vor allem der Gläubigen“) und in Tit 3,4 sichtbar („als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschienen ist“). Als herausragende Tugenden des rettenden Gottes erscheinen sein Erbarmen, seine Menschenfreundlichkeit (Tit 3,4f; 1Tim 1,16) und sein universaler Heilswille (Tit 2,11: „Erschienen ist die Gnade Gottes, die allen Menschen Heil bringt“; vgl. ferner 1Tim 2,4.6; 4,10). Der Vater (1Tim 1,2; Tit 1,4), der eine Gott (1Tim 2,5: eıß heo´ß) rettet die Glaubenden „nicht nach unseren Werken“, sondern nach der vor ewigen Zeiten erfolgten „Vorentscheidung und Gnade“ (2Tim 1,9). Im Revelationsschema von 2Tim 1,9f zeigt sich der geschichtstheologische Grundansatz der Past: Gottes vorzeitlicher Heilswille und -entschluss offenbart sich jetzt „durch die Epiphanie unseres Retters Christus Jesus“ (2Tim 1,10a; vgl. Tit 1,1–4; ferner Kol 1,24–29; Eph 3,1–7)119. Die Past stehen mit ihrer Platzierung von swtv´r als theo-logischem und christo-logischem Leitwort in deutlicher Nähe zu hellenistischen Vorstellungen120. Das Be119 Vgl. dazu K. LÖNING, Epiphanie der Menschen-
freundlichkeit. Zur Rede von Gott im Kontext städtischer Öffentlichkeit, in: M. Lutz-Bachmann (Hg.),
Und dennoch ist von Gott zu reden (FS H. Vorgrimler), Freiburg 1994, 107–124. 120 Vgl. F. JUNG, SWTVR. Studien zur Rezeption eines
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griffsfeld swtv´r/swtvrı´a/sw´ zein hat auch einen alttestamentlich/jüdisch-hellenistischen Hintergrund (LXX; Philo; Josephus)121, weist aber in ntl. Zeit vor allem eine politisch-religiöse Konnotation auf: Der römische Kaiser ist der Wohltäter und Retter der Welt, er garantiert nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern gewährt seinen Bürgern Wohlstand, Heil und Sinn122. Diese Botschaft ist mitzuhören, wenn Gott und/oder Jesus Christus als ‚Retter‘ tituliert werden. Der swtv´r-Titel bot sich für die Past vor allem in einem hellenistischen Umfeld an, um die universale Perspektive und den unüberbietbaren Charakter der neuen Religion zu unterstreichen und eine Integration griechisch-römischer Gottesattribute zu ermöglichen. In das Umfeld des Herrscherkults gehört auch die Vorstellung des Sichtbarwerdens der Gottheit (epifa´neia = „Gestaltwerdung“/„Erscheinung“), die vor allem innerhalb der Christologie (s. u. 10.4.2), aber auch der Theologie der Past eine wichtige Rolle spielt: „In der Erwartung der seligen Hoffnung und der Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus“ (Tit 2,13)123. Gottesprädikationen aus dem jüdisch-hellenistischen und dem griechisch-römischen Bereich finden sich in 1Tim 1,17 („Dem König der Äonen aber, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit bis in die Äonen der Äonen“)124 und 1Tim 6,16 („der allein Unsterblichkeit besitzt, der in einem unzugänglichen Licht wohnt, den kein Mensch je gesehen hat noch zu sehen vermag“)125. Die Past zeichnen ein überaus positives Gottesbild, das in deutlicher Nähe zu dem steht, was zeitgenössische Philosophen wie Dio Chrysostomus oder Plutarch über den idealen Fürsten/König sagen126. Es ist kein Zufall, dass Gott in 1Tim 1,17 und 6,15 als König bezeichnet wird und formgeschichtlich die Past eine Nähe zu hellenistischen Königsbriefen aufweisen127. Die Tugenden Gottes sind auch die Eigenschafhellenistischen Ehrentitels im Neuen Testament, NTA 39, Münster 2002, 324–332. 121 Vgl. dazu F. JUNG, a. a. O., 177–261. 122 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–257; ferner Texte und Analysen bei F. JUNG, SWTVR, 45–176. Aus der Vielzahl der Belege zwei Beispiele: 1) Dio Chrys, Or 1,84, wo es nach der Erzählung der Heldentaten über Herakles heißt: „Und deshalb ist er der Retter der Welt und der Menschheit“ (kai` dia` tou˜to tv˜ß gv˜ß kai` tw˜n anhrw´pwn swtv˜ra eınai). 2) Aufschlussreich ist die inschriftlich bezeugte Rede von Nero im Jahr 67 in Korinth (vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 249f), wo der Altar des Zeus Soter (tw˜ Dii` tw˜ Swtv˜ri) Nero gewidmet wird und der Kaiser als Herr der Welt und als der eine und einzige Retter erscheint; vgl. dazu CHR. AUFFARTH, Herrscherkult und Christuskult, in: Die Praxis der Herrscherverehrung in Rom und seinen Provinzen, hg. v. H. Cancik/K. Hitzl, Tübingen 2003, 283–317. Zur Thematik vgl. neben der Arbeit von F. Jung die
nach wie vor sehr informative Einführung von A. DEISSMANN, Licht vom Osten, Tübingen 41923, 287–324. 123 Zur Analyse vgl. L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 137, der zutreffend herausarbeitet, dass Tit hier zwischen Gott und Jesus trennt; zur griechischen Wendung ‚großer Gott‘ vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN II/2 (s. o. 4.5), 1038 f. 124 Vgl. NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 835–837. 125 Vgl. a. a. O., 963–966. 126 Vgl. Dio Chrys, Or 32; Plut, Ad principem ineruditum („An einen ungebildeten Fürsten“); ders., Praecepta gerendae reipublicae („Politische Ratschläge“). 127 Vgl. dazu umfassend M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition (s. o. 10.4), 156–196. Beim 1Tim/ Tit handelt es sich um amtliche briefliche Instruktionen an Einzelpersonen, die ihrerseits über Amtsautorität verfügen und weisungsbefugt sind.
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ten des wahren Königs und umgekehrt128. Es ist der gnädige (2Tim 1,9f; Tit 2,11), sich erbarmende (Tit 3,5; 1Tim 1,13.16) und den Menschen wohlgesonnene Gott (Tit 3,3–7), zu dessen Heilsplan (oikonomı´a in 1Tim 1,4) es gehört, die Menschen durch Erziehung zur Einsicht zu führen (2Tim 2,25; 3,16; Tit 2,12)129. Wer der Besserung bedarf, wird nicht als verlorener Sünder, sondern als Unwissender gesehen, der auf den richtigen Weg gebracht werden kann. Die wiederholte Aufforderung zu einem stillen, vorbildhaften, frommen und damit tugendhaften Leben (1Tim 2,2f.8– 15; 3,2f; 4,12; 5,3ff; Tit 2,1ff) fügen sich in dieses Bild ein, denn es entspricht dem Leben der weisen Männer und Philosophen130. Ein solches Leben fordert keine Askese, denn „alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Dank empfangen wird“ (1Tim 4,4; vgl. 6,17). Gott als Schöpfer will, dass Menschen den natürlichen Ordnungen entsprechend leben. Die Past vertreten ein universales Gottesbild, das bewusst an griechisch-römische Vorstellungen anknüpft und Gott als den idealen Herrscher vorstellt, der nicht mit Gewalt, sondern mit Einsicht und Erziehung regiert. Er ist ein milder, wohlwollender, heilender und rettender Herrscher, der mit Jesus Christus eine neue Heils- und Lebensordnung einsetzte, die der Apostel Paulus verkündigte und die seine Schüler gegen Falschlehren bewahren.
10.4.2 Christologie Im Zentrum der Christologie der Past steht die Erscheinung Jesu Christi als Retter der Menschen. Leitend sind dabei die Begriffe swtv´r („Retter“) und epifa´neia („Erscheinung/Gestaltwerdung“), die sowohl auf Gott als auch auf Jesus Christus bezogen werden. Darin zeigt sich bereits der Grundansatz der Past, der von Gott her auf die einzigartige Würde Jesu Christi ausgerichtet ist. Der Retter
Die Stellung Jesu als ‚Retter‘ (2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6) ist an das Gottesprädikat swtv´r geknüpft, denn 6 von 10 swtv´r-Belegen beziehen sich auf Gott (s. o. 10.4.1). Die Christologie wird somit über die Gotteserkenntnis und das Gottesbekenntnis ge-
128 Vgl. Plut, Mor 781a, wo es im Rahmen eines Fürstenspiegels über das Verhalten Gottes gegenüber Königen heißt: „diejenigen aber, die seiner (= Gottes) Tugend nacheifern und an sich selbst das Schöne und Menschenfreundliche nachzubilden suchen, die erhöht er gern und lässt sie teilhaben an der ihm eigenen Gesetzlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Milde“ (= NEUER WETTSTEIN II/2 [s. o. 4.5], 1051). 129 Vgl. Dio Chrys, Or 32,16, wonach die Götter ge-
gen die Dummheit der Menschen ein einziges wirksames Mittel geschaffen haben: „Erziehung und Vernunft“ (paidaı´an kai` lo´gon); vgl. ferner Or 4,29; 32,3; 33,22. Als Vorbild der göttlichen Erziehung gilt Herakles, der eine gute Seele besaß und dessen Kämpfe allegorisch als Reinigung der Seele gedeutet werden (vgl. Or 1,61; 4,31; 5,21; 60,8). 130 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/1 (s. o. 4.5), 842–847.
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wonnen; zugleich erfährt die Theo-logie in und durch die Christologie ihre inhaltliche Füllung131. Bestimmend ist dabei der universale Heilswille Gottes, der jetzt in Jesus Christus Gestalt gewann; in der Epiphanie Jesu Christi tritt Gott in Erscheinung (Tit 1,4; 2,13). Der swtv´r Jesus Christus „hat den Tod vernichtet, Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium“ (2Tim 1,10). Gottes Barmherzigkeit wurde durch den Retter Jesus Christus in der Taufe über die Glaubenden ausgegossen (Tit 3,6), „der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle“ (1Tim 2,6a). Die universale und soteriologische Konnotation des swtv´r-Titels prägt die Christologie der Pastoralbriefe. Die Gestaltwerdung/Erscheinung Jesu Christi
Mit epifa´neia nehmen die Past einen weiteren Schlüsselbegriff hellenistischer Religiosität auf132. Er bezeichnet „das geschichtlich faßbare Eingreifen des Gottes zugunsten seiner Verehrer“133. Die christologische Füllung des Begriffes in den Past zeigt sich schon darin, dass als ausdrückliches Subjekt nicht Gott, sondern Jesus Christus erscheint (1Tim 6,14; 2Tim 1,10; 4,1.8). In 2Tim 1,10 bezieht sich epifa´neia auf die Inkarnation und das gesamte Heilswirken Jesu Christi, das auch in 2Tim 4,8 dominiert. Im Mittelpunkt von 1Tim 6,14 steht die Wiederkunft Jesu Christi (vgl. 2Thess 2,8), in 2Tim 4,1 verbunden mit seinem Richterhandeln. In Tit 2,13 ist zwar auch die Parusie Christi im Blick, aber epifa´neia bezieht sich zuallererst auf Gott und damit auf dessen Heilshandeln. Die gleichzeitige Verwendung von epifa´neia und swtv´r in 2Tim 1,10; Tit 2,13, die Erwähnung der gegenwärtigen Evangeliumsverkündigung in 2Tim 1,10f und die universal-soteriologischen Aussagen in Tit 2,14 weisen schließlich auch darauf hin, dass epifa´neia nicht auf ein bestimmtes Ereignis (z. B. Inkarnation oder Wiederkunft) zielt, sondern das gesamte Heilsgeschehen meint, in dem Gott durch Jesus Christus rettend eingriff134. LEpifa´neia bezeichnet das Christusereignis als Gesamtgeschehen in seiner helfenden und todesüberwindenden Gegenwart und Zukunft135. Die Verwendung des Verbums epifaı´nw („erscheinen“) in
131 Vgl. dazu K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 119–
133 D. LÜHRMANN, Epiphaneia, 195 f.
126; L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 155f; TH. SÖDING, Das Erscheinen des Retters. Zur Christologie der Pastoralbriefe, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der Paulus-Schule (s. o. 10), (149–192) 153 ff. 132 Vgl. dazu E. PAX, EPIFANEIA. Ein religionsgeschichtlicher Beitrag zur biblischen Theologie, MThS I.10, München 1955; D. LÜHRMANN, Epiphaneia, in: Tradition und Glaube (FS K.G. Kuhn), hg. v. G. Jeremias/H.-W. Kuhn/H. Stegemann, Göttingen 1971, 185–199; L. OBERLINNER, Die „Epiphaneia“ des Heilswillens Gottes in Christus Jesus. Zur Grundstruktur der Christologie der Pastoralbriefe, ZNW 71 (1980), 192–213.
134 K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 119: Mit epifa´neia wird „das gesamte Spektrum göttlicher Hinwendung zu den Menschen bezeichnet: nicht ein einzelnes, konkretes Datum, sondern das helfende Eingreifen Christi in seiner Menschwerdung, sein gegenwärtiges und noch ausstehendes Handeln“; vgl. auch L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 157. 135 Deshalb kann auch nicht von einer ‚ersten‘ und ‚zweiten‘ Epiphanie gesprochen werden, wie es z. B. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 364f; E. SCHLARB, Gesunde Lehre (s. o. 10.4), 166–171; H. STETTLER, Christologie (s. o. 10.4), 331, tun; zur Kritik vgl. K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 116–118.
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Tit 2,11; 3,4 bestätigt diesen Befund, denn die Epiphanie der Menschenliebe Gottes umfasst das gesamte Christusgeschehen. Christologische Traditionen
Die Past gewinnen zentrale christologische Anschauungen aus einer reichhaltigen Überlieferung, wobei besonders die Paulusbriefe, aber auch synoptische Traditionen im Hintergrund stehen136. Eine traditionell formulierte Inkarnationsaussage findet sich in 1Tim 1,15b: „Christus Jesus kam in die Welt, Sünder zu retten“ (vgl. Mk 2,17; Lk 19,10). In 1Tim 2,5f liegt eine Bekenntnisaussage vor, die verschiedene traditionelle Motive aufnimmt137: „Denn einer ist Gott, und einer der Mittler (eıß kai` mesı´tvß) zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst hingegeben hat als Lösegeld für viele (antı´lutron upe`r pa´ntwn).“ Das grundlegende Bekenntnis zum ‚einen (jüdischen) Gott‘ (vgl. 1Kor 8,6) verbindet sich mit der sonst nur im Hebräerbrief (Hebr 8,6; 9,15; 12,24) belegten Mittlervorstellung. Mittler ist ausdrücklich der Mensch Christus Jesus, ein deutlicher Akzent gegen die in den Gemeinden einflussreiche protognostische Falschlehre138 (s. u. 10.4.7). Auch Jesu stellvertretende Hingabe (vgl. Mk 10,45) ‚für alle‘ muss auf diesem Hintergrund gelesen werden, denn damit wird die Heilsbedeutung des Todes Jesu unmissverständlich herausgestellt. In deutlicher Nähe zu Phil 2,6–11; Röm 1,3f; Joh 1,14 beschreibt das hymnusartige dreigliedrige Christusbekenntnis 1Tim 3,16b das Heilsereignis: „der offenbar gemacht wurde im Fleisch, gerechtfertigt im Geist,/geschaut von den Engeln, verkündet bei den Völkern,/geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit“139. Deutlich zu erkennen ist die chiastisch angeordnete Gegenüberstellung von irdischer und himmlischer Wirklichkeit nach dem Muster a-b/b-a/a-b (Fleisch-Geist/ Engel-Völker/Welt-Herrlichkeit). Das Handeln Gottes steht im Passiv voran (Ausnahme: Zeile 3), was dem Grundansatz der theo-logischen Christologie der Past entspricht. Die erste Zeile benennt die Inkarnation und setzt wie 2Tim 1,9f („. . . in Christus Jesus vor aller Zeit, jetzt aber offenbar geworden . . .“) die Präexistenz vorstellung voraus, obwohl der Sohnes-Titel in den Past fehlt. Die zweite Zeile beschreibt die universalen Dimensionen des Christusgeschehens zwischen Himmel und Erde, die dritte Zeile die Erhöhung in die himmlische Welt. In 2Tim 2,8 („Jesus Christus, auferweckt von den Toten, aus Davids Samen“) wird die Auferweckung Jesu wie in Röm 1,3 mit seiner davidischen Abstimmung verbunden, so dass im Bekenntnis zum Auferweckten immer auch der Irdische präsent ist. In Tit 3,5 wird die rettende Selbstof136 Die Past setzen offenbar bereits eine kleine Sammlung von Paulusbriefen voraus; vgl. hierzu A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 10), 134–149. Einen Überblick über alle denkbaren Bezüge vermittelt H. STETTLER, Christologie (s. o. 10.4), 314–325.
137 Zur ausführlichen Analyse vgl. K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 38–43. 138 Vgl. L. OBERLINNER, 1Tim (s. o. 10.4), 74. 139 Vgl. hier die Analysen von J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 192–197; H. STETTLER, Christologie (s. o. 10.4), 80–109; K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 43–54; L. OBERLINNER, 1Tim (s. o. 10.4), 162–169.
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fenbarung Gottes in Jesus Christus als radikaler Ausdruck seines Erbarmens verstanden: Gottes Menschenfreundlichkeit erschien „nicht aufgrund von Werken in Gerechtigkeit, die wir getan haben, sondern nach seinem Erbarmen hat er uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist.“ Tit 3,3–7; 2Tim 1,8–10 geben in zugespitzter Form den Sachgehalt der paulinischen Rechtfertigungslehre wieder: Allein aus Gnade ohne Werke des Gesetzes rechtfertigt Gott den Menschen (vgl. Gal 2,16; Röm 3,21ff). Sogar Werke ‚in Gerechtigkeit‘ können keine Funktion im rettenden Gotteshandeln haben! Die Verbindung Taufe – Gerechtigkeit in Tit 3,5 findet sich auch in 1Kor 6,11; Röm 6. Mit dem philosophischen Terminus paliggenesı´a („Wiedergeburt“)140 wird in Tit 3,5 die Erneuerung des Menschen durch die Geistgabe benannt: Gott schenkt in der Taufe neues Leben „damit wir, durch seine Gnade gerechtfertigt (dikaiwhe´nteß tU˜ ekeı´nou ca´riti), Erben werden entsprechend der Hoffnung auf ewiges Leben“ (Tit 3,7). Gottes Menschenfreundlichkeit in Jesus Christus
Die Past präsentieren eine überraschend aktuelle Christologie: Allen Menschen gilt Gottes gnädiges Retterhandeln in Jesus Christus141. Im Kontext der antiken Stadt (vgl. Tit 1,5b; 2Tim 4,10.12.20) wird das Konzept der Menschenfreundlichkeit Gottes (Tit 3,4: filanhrwpı´a) entwickelt. Allen Menschen erschien Gottes rettende Gnade (Tit 2,11), die uns leitet und erzieht, damit wir „besonnen, gerecht und fromm leben in der gegenwärtigen Weltzeit“ (Tit 2,12). Dieser gemeinantike Pflichtenkanon zeigt, dass auch die Christologie in den Past mit einem Humanitäts- und Erziehungskonzept verbunden ist, nämlich „Freundlichkeit gegenüber allen Menschen zu erweisen“ (Tit 3,2). Die Universalität des rettenden Christusgeschehens ist Ausdruck der Menschenfreundlichkeit Gottes, die an alle Menschen weitergegeben werden soll und sich so mit der wahren Humanität verbindet. Die Universalität und die Sprache der Christologie sind somit bewusste Element einer Konzeption, die offenkundig um kulturell-religiöse Anschlussfähigkeit bemüht ist. Der Ausfall der Kreuzestheologie in den Past ist auf diesem Hintergrund kein Zufall, denn sie war aus der Sicht des Verfassers für breite Schichten griechisch gebildeter Menschen nur schwer vermittelbar (vgl. 1Kor 1,23).
140 Zu Wiedergeburtsvorstellungen im antiken Denken (vor allem in Mysterienreligionen) vgl. F. BACK, Wiedergeburt in der hellenistisch-römischen Zeit, in: R. Feldmeier (Hg.), Wiedergeburt, Göttingen 2005, 45–73.
141 J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 358–365, arbeitet scharf die (vorhandenen) Unterschiede der Christologie der Past zu Paulus heraus, versperrt sich aber durch die Annahme einer Verflachung (vgl. a. a. O., 361) auch neue Interpretationsmöglichkeiten.
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10.4.3 Pneumatologie Die Pastoralbriefe bieten keine ausgeführte Pneumatologie. Die Erwähnung von pneu˜ma erfolgt in 2Tim 1,14 („durch den in uns wohnenden Heiligen Geist“) und in Tit 3,5 („durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist“) im Kontext der Taufe. In 1Tim 3,16 bezieht sich pneu˜ma auf das Handeln Gottes an Jesus („gerechtfertigt im Geist/durch den Geist“), in 1Tim 4,1 erscheint der Geist als göttlicher Offenbarungsträger („der Geist aber sagt ausdrücklich“)142. Diese Minimierung ist innerhalb des theologischen Systems der Past konsequent. 2Tim 1,6f lässt erkennen, dass die Geistgabe eng mit dem Amt verbunden ist, so dass der Geist nicht mehr als umfassende eschatologische Gabe verstanden werden kann. Das pneu˜ma ist zwar nicht auf die Amtsträger begrenzt (vgl. Tit 3,5), dennoch sind sie deutlich die hervorgehobenen Geistträger (vgl. auch 2Tim 1,14; 1Tim 4,14). Bemerkenswert ist 2Tim 3,16, wo von einer Inspiration der ‚Schrift‘, d. h. des Alten Testaments die Rede ist: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben (pa˜sa grafv` heo´pneustoß) und nützlich zur Belehrung, zur Zurechtweisung, zur Besserung und zur Erziehung in Gerechtigkeit.“ Die Schrift wird damit als von Gott inspiriert qualifiziert und in ihrer grundlegenden Funktion innerhalb des Erziehungskonzeptes der Past hervorgehoben143.
10.4.4 Soteriologie Die Christologie (s. o. 10.4.2) und auch die Theo-logie (s. o. 10.4.1) haben bereits die soteriologische Grundausrichtung der Past gezeigt: Gottes ewiger Plan verwirklichte sich in Jesus Christus, dessen rettende Erscheinung den Tod überwand und so ewiges Leben eröffnete144. Dieser Gedanke dominiert schon in den Eröffnungstexten der Briefe (1Tim 1,12–17; 2Tim 1,3–14; Tit 1,1–4). Die häufige Verwendung von swtv´r als Titel für Gott (s. o. 10.4.1) und Jesus Christus (s. o. 10.4.2), aber auch von swtvrı´a („Rettung“) und sw´ zein („retten“) unterstreicht den zentralen Stellenwert der Soteriologie in der theologischen Gesamtkonzeption der Pastoralbriefe. Timotheus wurde von Paulus unterwiesen „zum Heil/der Rettung durch den Glauben in Christus Jesus“, der selbst als erster die rettende Gnade Gottes erfuhr (vgl. 1Tim 1,15; 2Tim 4,18). Paulus duldet alles um der Auserwählten willen, „damit auch sie Rettung erfahren“ (2Tim 2,10). Der Gestalt des Paulus kommt innerhalb dieses universalen Kon-
142 Anthropologisch wird pneu˜ma in 2Tim 1,7 („Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben“) und 4,22 („Der Herr sei mit deinem Geist“) gebraucht. 143 Vgl. dazu A. WEISER, 2Tim (s. o. 10.4), 286–297.
144 Vgl. dazu A. J. MALHERBE, „Christ Jesus came into the World to save Sinners“. Soteriology in the Pastoral Epistles, in: J.G. van der Watt, Salvation in the New Testament (s. o. 6.4), 331–358.
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zeptes eine soteriologische Qualität zu145. Prägnant formuliert dies Tit 1,3: „In den dafür von ihm bestimmten Zeiten hat er aber sein Wort offenbart in der Verkündigung, mit der ich betraut wurde gemäß der Anordnung Gottes, unseres Retters“; vgl. 2Tim 1,10f). Weil sich die Offenbarung des rettenden Willens Gottes in der Evangeliumsverkündigung vollzieht, erscheint Paulus als der ‚Herold/Verkünder‘ (kv˜rux) des Evangeliums und so auch als Apostel und Lehrer der Gemeinden (vgl. 1Tim 2,7; 2Tim 1,11). Von Gott selbst wurde er zum Lehrer des Glaubens und der Wahrheit eingesetzt (1Tim 2,7), so dass er als prototypischer ehemaliger Sünder und jetziger Verkündiger die Wahrheit des Evangeliums verkörpert und garantiert. Die Teilhabe an dieser rettenden Wahrheit vollzieht sich in der Taufe (Tit 3,5: „er hat uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt“) und im Festhalten an der Lehre (1Tim 4,16: „Achte auf dich und auf die Lehre; bleibe dabei! Wenn du das tust, wirst du dich selbst retten und die, die auf dich hören“). Sie ist verbunden mit einem Erkenntnisprozess, denn Gott will, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1Tim 2,4). In der Überwindung der Unkenntnis (1Tim 1,13; Tit 3,3) und in der Erkenntnis (epı´gnwsiß) der Wahrheit (1Tim 2,4; Tit 1,1; 2Tim 3,7) vollzieht sich Gottes rettendes Handeln. Der pädagogischen Grundausrichtung der Past entsprechend sollen die Verkündiger des Evangeliums „in Sanftmut die Widerspenstigen erziehen, damit ihnen Gott vielleicht Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit schenkt“ (2Tim 2,25).
10.4.5 Anthropologie Gravierende Unterschiede zwischen den Pastoralbriefen und Paulus bestehen in der Anthropologie. Während bei Paulus die Sünde (v amartı´a im Singular) eine überindividuelle Macht darstellt (s. o. 6.5.2), erscheint amartı´a in den Past ausschließlich im Plural und ist ein Tatbegriff, der ein abweichendes ethisches (1Tim 5,22) oder lehrmäßiges (1Tim 5,24; 2Tim 3,6f) Verhalten kennzeichnet. Auch amarta´nein (1Tim 5,20; Tit 3,11) und amartwlo´ß (1Tim 1,9.15) werden in diesen Sinn gebraucht. Die Aussagen über das Gesetz weichen ebenfalls grundlegend von Paulus ab (s. o. 6.5.3). Nur zweimal erscheint no´moß in den Past: „Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn man entsprechend mit ihm umgeht; in dem Wissen, dass das Gesetz nicht für die Gerechten gegeben ist, vielmehr für Gesetzlose und Aufrührer, Gottlose und Sünder, Frevler und Gemeine, Vater- und Muttermörder, Totschläger, Unzüchtige, Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner, Meineidige – und was sonst noch der gesunden Lehre widerstreitet“ (1Tim 1,8–10). Das Gesetz erscheint ausschließlich als 145 Vgl. K. LÖNING, „Gerechtfertigt durch seine Gna-
de“ (Tit 3,7). Zum Problem der Paulusrezeption in der Soteriologie der Pastoralbriefe, in: Der lebendige
Gott (FS W. Thüsing), hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 241–257.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 551
eine ethische Größe, derer die ‚Gerechten‘ nicht bedürfen146. Sowohl das Gesetz als auch die Sünde sind ethisch/moralische Kategorien, deren Gradmesser die ‚gesunde Lehre‘ ist, d. h. die in der Auseinandersetzung mit der Falschlehre gewonnene Evangeliumsverkündigung der Pastoralbriefe (s. u. 10.4.6). Der Glaube
Auch im Glaubensbegriff ist ein großer Abstand zu Paulus zu beobachten147. Während der Glaube bei Paulus als unmittelbares Gottesgeschenk die lebendige Gottesbeziehung bezeichnet (s. o. 6.5.4), dominiert beim Substantiv pı´stiß (32mal) die Bedeutung des ‚rechten Glaubens‘ im Gegensatz zur Irrlehre (vgl. 1Tim 1,2.4.19; 2,7; 3,9.13; 4,1.6.16; 5,8; 6,10.12.21; 2Tim 2,18; 3,8; 4,7; Tit 1,1.4.13; 2,2.10) und prägt als Haltung die christliche Existenz. Nicht zufällig werden pı´stiß und aga´pv („Liebe“) in den Past zu Synonymen (1Tim 1,14; 2,15; 4,12; 6,11; 2Tim 1,13; 2,22; 3,10; Tit 2,2). Der Glaube kann mit anderen Tugenden wie ‚gutes Gewissen‘ (1Tim 1,5.19; 3,9), ‚Besonnenheit, Liebe und Heiligung‘ (1Tim 2,15), ‚Reinheit‘ (1Tim 4,12), ‚Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Geduld, Sanftmut‘ (1Tim 6,11) in einer Reihe genannt werden (vgl. ferner 2Tim 1,13; 2,22; 3,10f; Tit 2,2)148. Dieser Formalisierung des Glaubensbegriffes entspricht die Nähe von ‚Glaube‘ und (‚gesunder‘) ‚Lehre‘ (didaskalı´a): „Wenn du dies den Brüdern vorträgst, wirst du ein guter Diener Jesu Christi sein, der lebt aus den Worten des Glaubens und der guten Lehre“ (1Tim 4,6; vgl. 2Tim 3,10). Der Glaubensinhalt wird zur Lehrverkündigung; vom Glauben abzufallen heißt deshalb, sich von der rechten Lehre zu trennen (vgl. 1Tim 4,1). Für Paulus undenkbar ist schließlich der Gedanke des christlichen Glaubens als Element der Familienüberlieferung, wie er in 2Tim 1,5 für Timotheus („Gedenke ich doch deines ungeheuchelten Glaubens, der schon in deiner Großmutter Lo s und in deiner Mutter Eunike wohnte; ich bin sicher, er ist auch in dir“; vgl. 2Tim 3,14f) und in 2Tim 1,3a für Paulus selbst formuliert wird („Dank sage ich Gott, dem ich von den Vorfahren her mit reinem Gewissen diene“)149. Organisch fügt sich jedoch das Motiv der Erziehung zum Glauben in das schon mehrfach beobachtete Erziehungs- und Oi-
146 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 74. 147 Zur Analyse vgl. G. KRETSCHMAR, Der paulinische
Glaube in den Pastoralbriefen (s. o. 10.4), 117–137. 148 Treffend O. MERK, Glaube und Tat (s. o. 10.4),
262: „Mit Attributen des Wohlverhaltens ausgestattet ist sie (sc. die pı´stiß; U.S.) selbst eine Tugend.“ 149 Zur Auslegung vgl. P. TRUMMER, Paulustraditionen (s. o. 10.4), 125–127.129. 2Tim 1,5 gibt deutlich den historischen Ort der Past zu erkennen: um die Jahrhundertwende, wo man schon von familiären christlichen Glaubenstraditionen sprechen konnte; vgl. A. MERZ, Fiktive Selbstauslegung (s. o. 10.4), 83. Schon 2Tim 1,5 macht es m. E. unmöglich, diesen
Brief (oder Tit) Paulus zuzuschreiben, wie es offenbar J. HERZER, Abschied vom Konsens? Die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe als Herausforderung an die neutestamentliche Wissenschaft, ThLZ 129 (2004), 1267–1282, will. Überspielt werden die Probleme auch bei L. T. JOHNSON, 2Tim (s. o. 10.4), 342, der keine Belege für ein derartiges Glaubensverständnis bei Paulus beibringen kann und dann feststellt: „And our analysis of 1 Timothy has shown some of the richness and complexity of pistis in that letter.“ Eine klare petitio principii, denn der 1Tim stammt ebenso wenig von Paulus wie der 2Tim!
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koskonzept der Past ein: Das Haus wird zum Ort der Glaubensüberlieferung und -erziehung. Mit dem Glauben eng verbunden ist in den Past der Gewissens begriff150. So wird für Timotheus in 1Tim 1,19 ausdrücklich festgestellt, „im Besitz von Glauben und gutem Gewissen“ zu sein; über die Diakone heißt es in 1Tim 3,9: „Sie sollen das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren.“ Das ‚gute‘ Gewissen ist in den Past nicht wie bei Paulus eine den Menschen beurteilende neutrale Instanz, sondern das Bewusstsein, in Übereinstimmung mit der geforderten Lehre und dem erwarteten Handeln zu stehen: „Das Ziel der Weisung ist aber Liebe aus reinem Herzen, aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben“ (1Tim 1,5). Die lehrmäßige Füllung des Gewissensbegriffes zeigt sich auch in der Rede vom ‚reinen‘ bzw, ‚unreinen‘ Gewissen im Kontext der Falschlehrerpolemik (Tit 1,15; 1Tim 4,2). Die starken Unterschiede zu Paulus in der Anthropologie sind kein Zufall, sondern ergeben sich aus der veränderten historischen Situation und theologischen Argumentation: Die Auseinandersetzungen des Apostels um die Tora gehören schon längst der Vergangenheit an und in der akuten Bedrohung durch die Falschlehre (s. u. 10.4.7) gewinnt notwendigerweise der Glaube als rechte Lehre immer mehr an Bedeutung. Die Verzeitigung des Christusgeschehens verbindet sich mit einer Stärkung der innergemeindlichen Organisationsformen und einer Ethisierung des Christlichen.
10.4.6 Ethik Die Ethik der Pastoralbriefe setzt eigene Akzente, indem sie entschieden das Christusgeschehen für das zeitgenössische Ethos erschließt151. Zum Schlüsselbegriff wird euse´beia („Ehrfurcht/Frömmigkeit“; lat.: pietas)152, der 15mal im Neuen Testament und davon allein 10mal in den Pastoralbriefen belegt ist. Als zentraler Terminus griechisch-römischer Religiosität und Ethik153 fand euse´beia bereits Eingang in das hellenistische Judentum (4Makk; Philo; Josephus)154; er meint, sich dem Willen Gottes/
150 Vgl. hierzu H.-J. ECKSTEIN, Syneidesis bei Paulus (s. o. 6.5), 303–306; J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 68– 70. 151 Zur Darstellung vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 263–274; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 95–109. 152 Vgl. dazu W. FOERSTER, Art. eusebv´ß, ThWNT 7, Stuttgart 1964, 175–184; D. KAUFMANN-BÜHLER, Eusebeia, RAC 6, Stuttgart 1966, (985–1052) 986–999; A. STANDHARTINGER, Eusebeia in den Pastoralbriefen.
Ein Beitrag zum Einfluss römischen Denkens auf das entstehende Christentum, NT 48 (2006), 51–82. 153 Vgl. Xen, Mem IV 8,11, wo Sokrates als fromm und gottesfürchtig, zugleich aber als unerschrocken und gerecht gegenüber den Menschen dargestellt wird. 154 Vgl. R. WEBER, Das Gesetz im hellenistischen Judentum (s. o. 3.8.1), 226f; DERS., Das „Gesetz“ bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus (s. o. 3.8.1), 159–164.213–219
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 553
der Götter entsprechend zu verhalten, die Wert- und Weltordnung zu beachten. In diesem Sinn erscheint euse´beia in 1Tim 2,2, wo zum fürbittenden Gebet aufgerufen wird: „für Könige und alle, die Herrschaft ausüben, damit wir ein ruhiges und ungestörtes Leben führen können, in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit (en pa´sU eusebeı´a kai` semno´tvti).“ Den Ordnungen des Lebens entsprechend sollen nach 1Tim 5,4 Kinder und Enkel in ihrem Haus fromm leben und ihre verwitweten Eltern/Großeltern unterstützen. Als Tugend wird euse´beia in 1Tim 6,11 aufgezählt: „Strebe nach Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glaube, Liebe, Geduld und Sanftmut“ (vgl. 1Tim 6,6; Tit 2,12)155. Es benennt das gottgefällige und damit auch den Menschen fördernde Verhalten. Im Sinn von ‚Glauben‘ und ‚Lehre‘ erscheint euse´beia in 1Tim 3,16; 4,7f; 6,3.5; 2Tim 3,5.12; Tit 1,1. Es ist kein Zufall, dass sich innerhalb dieses ethischen Konzeptes der Glaubens- und Lebenstugenden auch die meisten Belege von swfrosu´nv („Besonnenheit/Sittlichkeit“) und seinen Derivaten in den Past finden (10 von 16). So soll der Bischof „nüchtern, besonnen, maßvoll“ (1Tim 3,2; vgl. Tit 1,8) sein, ebenso die alten Männer, die Frauen und die jungen Männer (Tit 2,2.4.5.6). Für alle Glaubenden gilt nach 2Tim 1,7, dass „Gott uns nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (duna´mewß kai` aga´pvß kai` swfronismou˜) gegeben hat.“ Natürlicherweise greifen das Tugend- und das Erziehungskonzept der Past ineinander, denn die göttliche Gnade bewegt/erzieht uns dazu, „besonnen, gerecht und fromm zu leben in der gegenwärtigen Weltzeit“ (Tit 2,12)156. In besonderer Weise wird den Frauen die swfrosu´nv anempfohlen: sie „sollen sich mit Besonnenheit“ und nicht mit Perlen schmücken (1Tim 2,9). Die Tugendkataloge in 1Tim 2,15; 4,12; 6,11; 2Tim 1,7; 2,22; 3,10 lassen deutlich erkennen, dass die Past auch die aga´pv („Liebe“) unter die Tugenden rechnen. Allerdings ist die Liebe „aus reinem Herzen“ nach 1Tim 1,5 „die Summe/das Ziel der Unterweisung“, so dass der Liebe zwar keine exklusive, wohl aber eine hervorgehobene Stellung innerhalb der Ethik zukommt. Die Tugendlehre der Past ist eingebettet in ein antikes Ordnungsdenken, das die Strukturen des christlichen Hauses bestimmt (vgl. 1Tim 3,15: „damit du weißt, wie man sich im Hause Gottes verhalten muss“). Neben den Tugend- (1Tim 3,2–4.8– 10.11f; 4,12; 6,11; Tit 3,2) und Lasterkatalogen (1Tim 1,9f; 6,4; 2Tim 3,2–4; Tit 3,3) sind hier besonders die Weisungen für die einzelnen Stände des ‚Hauses‘ zu nennen.
155 Vgl. dazu Epict, Ench 31: „Wer daher Begehren und Ablehnen auf die rechten Gegenstände richtet, der ist auch fromm.“ 156 Vergleichbare Vorstellungen finden sich z. B. bei Dio Chrys, Or 33,28, wonach der Gottheit nichts an Schätzen gelegen ist: „Besonnenheit und Vernunft allein bringen Rettung (alla` swfrosu´nv kai` nou˜ß esti ta` sw´ zonta). Sie machen jeden, der sich an sie
hält, glücklich und Gott wohlgefällig“. Zur stoischen Tugendlehre vgl. SVF 3, 264: „Oberste Gattungen gibt es vier: Einsicht, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit (fro´nvsin, swfrosu´nvn, andreı´an, dikaiosu´nvn). Die Einsicht bezieht sich auf das angemessene Handeln, die Besonnenheit auf die Triebe der Menschen, die Tapferkeit auf die Standhaftigkeit, die Gerechtigkeit auf die Zuteilungen.“
554 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Das Frauenbild der Past ist im Gegensatz zu den Paulusbriefen nicht vom Modell der selbstverständlichen Mitarbeit und Teilhabe, sondern vom Aufruf zur Unterordnung geprägt157. So formuliert 1Tim 2,11f: „Eine Frau aber soll schweigend und in aller Unterordnung lernen. Ich gestatte aber einer Frau nicht, zu lehren und dem Mann dazwischen zu reden, sondern sie soll in Stille verharren.“ Es schließt sich eine schöpfungstheologische Begründung an, die im Gebären die Bestimmung der Frau sieht (1Tim 2,15; vgl. 5,14). Diese restriktive Argumentation hängt sicherlich mit der Rolle von Frauen im Kontext der bekämpften Falschlehre zusammen (vgl. 2Tim 3,6; 1Tim 2,9f; 3,11; Tit 2,3), denn die dort vertretene Askese (von der Ehe, von Speisen) wird von den Past ausdrücklich schöpfungstheologisch zurückgewiesen (1Tim 4,3f). Bedeutsam sind aber auch die Parallelen in der zeitgenössischen Ökonomik, die deutlich machen, dass die Past sich in eine breitere Entwicklung einordnen158. Bemerkenswert sind die Anweisungen für Witwen in 1Tim 5,3–16. Sie bilden offenbar eine große Gruppe in der Gemeinde159 und es existiert eine Gemeindekasse zur Versorgung der Witwen (vgl. 1Tim 5,16). Diese soll allerdings nur von Frauen in Anspruch genommen werden, die den Anforderungen eines vorbildlichen Lebens entsprechen. Der Missbrauch dieser Einrichtung (vgl. 1Tim 5,4–15) zeugt nicht nur von der Leistungsfähigkeit des Fürsorgesystems, sondern auch von Konflikten um die Frage, wer als ‚Witwe‘ innerhalb der Gemeinde gelten darf. Möglicherweise gab es eine Art ‚Witwenstand‘: Frauen wurden von der Gemeinde versorgt und übernahmen dafür spirituelle und soziale Aufgaben in der Gemeinde. Dieses Modell war so attraktiv, dass es zu Missbrauch und Auseinandersetzungen kam. Auch die Sklavenparänese in 1Tim 6,1.2 lässt Probleme erahnen, denn über die Aufforderung, ihre Herren zu ehren, werden die Sklaven christlicher Herren besonders angesprochen: „Die aber, die gläubige Herren haben, sollen sie nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern sollen noch eifriger ihren Dienst als Sklaven tun, weil sie Gläubige und Geliebte sind, die sich als solche der Wohltätigkeit widmen“ (1Tim 6,2). Der theologische Statuswechsel verbindet sich hier nicht (wie bei Paulus im Philemonbrief angestrebt) mit
157 Vgl. umfassend U. WAGENER, Die Ordnung des
„Hauses Gottes“ (s. o. 10.4), 62ff (sie betont die restriktiven Tendenzen der Past). 158 In den fast zeitgleichen pseudepigraphischen Pythagorasbriefen heißt es: „Denn daß du mit Eifer davon hören willst, was eine Frau ziert, gibt berechtigte Hoffnung, du seiest auf dem besten Wege, in Ehren zu ergrauen. Die sittsame, freigeborene Frau muß also mit ihrem gesetzmäßigen Mann zusammenleben, mit Zurückhaltung geschmückt; sie muß ein weißes, schlichtes, einfaches Kleid tragen, kein kostbares und prunkvolles. . . . Denn nicht um auf-
wendige Kleidung bemühen darf sich die Frau, die nach Sittsamkeit strebt, sondern um die Leitung des Haushaltes. . . . Denn die Wünsche des Mannes sollen ungeschriebenes Gesetz für die ehrbare Frau sein, nach dem sie leben muß“ (zitiert nach: A. STÄDELE, Die Briefe des Pythagoras und der Pythagoreer, Meisenheim 1980, 161). 159 Vgl. hierzu E. DASSMANN, Witwen und Diakonissen, in: ders., Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Bonn 1994, 142–156; U. WAGENER, Die Ordnung des „Hauses Gottes“ (s. o. 10.4), 115– 233.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 555
einem sozialen Statuswechsel, sondern es wird umgekehrt das Brudersein als besondere Verpflichtung zur Unterordnung verstanden160. Insgesamt propagieren die Past einen Lebens- und Frömmigkeitsstil, der durch ein besonnenes und tugendhaftes Glaubensleben, Werke der Liebe (Tit 3,8.14), Ausdauer, Bescheidenheit, Gastfreundschaft und umfassende Wohltätigkeit geprägt ist (vgl. 1Tim 2,2; 4,7.12; 6,6–11.17–19; 2Tim 1,7; 2,22; 3,10; Tit 1,8; 2,1f.6.11–13; 3,4– 7). Der Verfasser der Past orientiert sich damit an konventionellen Normen seiner Zeit161, sein Ziel liegt in der sozialen Integration der Gemeinden (vgl. 1Tim 2,2). Der Bischof muss auch bei den Nichtchristen einen guten Ruf haben (1Tim 3,7), Frauen dürfen nicht lehren (1Tim 2,12), Sklaven sollen in ihrem Stand verbleiben (1Tim 6,1; Tit 2,9) und der Obrigkeit sollen die Christen untertan sein (Tit 3,1). Für die Gemeinden der Past bestand offenbar zwischen dem grundlegenden Rückbezug auf den Apostel Paulus (s. u. 10.4.7) und der gleichzeitigen Adaption/Integration paganer Ethik kein Widerspruch, beides war Voraussetzung für die Identität und Stabilität der Gemeinden. Versuchten doch die Falschlehrer (s. u. 10.4.7), den Gemeinden eine neue Identität zu geben, die einerseits den grundlegenden Rückbezug auf Paulus in Frage stellte und zugleich eine Entweltlichung propagierte. Dann hätten soziale Isolation und Traditionsabbruch die Existenz der Gemeinden gefährdet. Dagegen stellen die Past den Schöpfungsglauben in den Mittelpunkt (1Tim 4,4f) und verschränken die Ethik eng mit der Kirchenordnung.
10.4.7 Ekklesiologie Die Ekklesiologie in ihrer konkret prägenden Form als ‚Ordnung‘ und ‚Lehre‘ ist zweifellos ein Zentrum der Pastoralbriefe. Von den insgesamt 21 Belegen von didaskalı´a („Lehre“) im Neuen Testament finden sich allein 15 in den Past! Damit wird die christliche Lehre insgesamt (vor allem im Gegenüber zur Falschlehre) bezeichnet: die ‚gesunde‘ (1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1) und ‚gute‘ (1Tim 4,6) Lehre, die der wahrhaften Frömmigkeit (1Tim 6,3) entspricht. Auf der anderen Seite stehen jene, die ‚Falsches lehren‘ (1Tim 1,3) und bereits ‚von der Wahrheit abgeirrt‘ sind (2Tim 2,17f; vgl. 1Tim 1,19f; 6,5; Tit 1,10f; 2Tim 3,8). In der Verwendung von didaskalı´a als einem festen terminus technicus (1Tim 1,10; 4,6.16; 6,1.3; 2Tim 3,10; 4,3; Tit 1,9; 2,1.10) spiegeln sich somit tiefgreifende soziologische und theologische Veränderungen wider.
160 Vgl. L. OBERLINNER, 1Tim (s. o. 10.4), 265. 161 Diese (notwendige und unausweichliche) Ent-
wicklung rechtfertigt es nicht, die Ethik der Past
pauschal und abwertend als ‚bürgerlich‘ zu etikettieren, vgl. dazu M. REISER, Bürgerliches Christentum in den Pastoralbriefen?, Bib 74 (1993), 27–44.
556 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Die soziale Gestalt der Gemeinden
Die Gemeinden der Pastoralbriefe zeichnen sich durch soziale Vielschichtigkeit aus. Mehrfach werden christliche Hausbesitzer erwähnt (vgl. 1Tim 3,4 f.12; 5,4.8; 2Tim 1,16; 4,19; vgl. ferner 1Tim 5,13; 2Tim 3,6; Tit 1,11), große Häuser mit einer wertvollen Ausstattung waren offenbar nichts Ungewöhnliches (vgl. 2Tim 2,20). Auch der Frauenschmuck (vgl. 1Tim 2,9), die Sklaven christlicher Herren (vgl. 1Tim 6,2), die Warnung vor Gewinnsucht und Geldgier (vgl. 1Tim 6,6–10; 2Tim 3,2; Tit 1,7) und die separate Unterweisung der Reichen in 1Tim 6,17–19 zeigen, dass Angehörige der Oberschicht zu den Gemeinden der Past gehörten162. Die Gemeinden verfügten über beträchtliche finanzielle Mittel, denn einige der Ältesten wurden (wie sicherlich auch die hauptamtlichen Bischöfe)163 bezahlt (vgl. 1Tim 5,17f; 3,1). Neben den im Gemeindeleben offenbar dominierenden Reichen erwähnen die Past Sklaven (vgl. 1Tim 6,1; Tit 2,9f) und Witwen (vgl. 1Tim 5,3–16), Handwerker (vgl. 2Tim 4,14) und Juristen (vgl. Tit 3,13) und rufen zur Armenpflege auf (vgl. 1Tim 5,10). In der Gemeinde wirken urchristliche Lehrer (vgl. 1Tim 1,3.7; 4,1; 6,3; 2Tim 4,3; Tit 1,11), die durch ihre teilweise erfolgreiche Agitation eine Krise auslösten. Nach außen versuchen die Gemeindeglieder durch bürgerliches Wohlverhalten Verleumdungen vorzubeugen, sie beten für die Obrigkeit und führen ein untadeliges Leben (vgl. 1Tim 2,2; Tit 3,1). Das öffentliche Ansehen der Gemeindeleiter liegt dem Verfasser der Past ebenso am Herzen (vgl. 1Tim 3,1–13) wie das Zusammenleben der einzelnen Stände in der Gemeinde (vgl. Tit 2,1–10). Die Falschlehre
Es besteht in den Past ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem relativ hohen Anteil wohlhabender Gemeindeglieder, den Erfolgen der Falschlehre in den Gemeinden und der Herausbildung einer festen ‚Lehre‘ und konstitutiver Ämter. Wahrscheinlich drang die gegnerische Lehre nicht von außen in die Gemeinden ein, denn die Vertreter dieser Lehre traten öffentlich in Gemeindeversammlungen auf (vgl. 2Tim 2,16.25; 3,8; Tit 1,9; 3,9). Sie hatten beträchtlichen Erfolg innerhalb der Gemeinde, ganze Häuser schlossen sich der neuen Lehre an und unter den wohlhabenden Frauen fand die Lehre viele Anhängerinnen (vgl. 2Tim 3,6). Auch die Namensnennungen in 1Tim 1,20; 2Tim 2,17; 4,14 zeigen, dass die Irrlehre von Teilen der Gemeinde getragen wurde. Der Autor der Past untersagt den Gemeinden die Beschäftigung mit der Falschlehre; nicht Diskussion, sondern Distanz wird gefordert (vgl. 1Tim 6,20; 2Tim 2,14.16.23; 3,5; Tit 3,9–11). Über weite Strecken lesen sich die Past wie amtliche Anordnungen (vgl. z. B. 1Tim 2,1.8.12; 3,2.7; Tit 2,1.15; 2Tim 1,13f; 2,1 f.14.22f; Tit 3,10), deren Befolgung vor allem die Falschlehre zurückdrängen sollen. 162 Vgl. dazu P. DSCHULNIGG, Warnung vor Reichtum und Ermahnung der Reichen, BZ 37 (1993), 60–77.
163 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 308 f.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 557
Diese innergemeindliche Falschlehre vereinigte offenbar in sich sehr verschiedenartige Elemente. So behaupten die gegnerischen Lehrer, über ‚Gnosis ‘ (gnw˜siß = „Erkenntnis“) zu verfügen (1Tim 6,20f; vgl. auch 1Tim 4,3; 2Tim 3,7; Tit 1,16). In die Richtung einer Frühform christlicher Gnosis weisen auch die asketischen Forderungen der Enthaltung von der Ehe und von bestimmten Speisen (1Tim 4,3; vgl. dazu Iren, Haer I 24,2; 28,1). Gnostische Parallelen finden sich auch zu der Behauptung der Gegner, die Auferstehung sei schon geschehen (2Tim 2,18; vgl. NHC I/4 49,15f). Zur Irrlehre gehören nach 1Tim 1,4; 4,7; 2Tim 4,4; Tit 1,14; 3,9 Mythen und endlose Genealogien. In gnostischen Texten finden sich ebenfalls zahlreiche mythologische Spekulationen. Auch jüdische Elemente prägten die Irrlehre. So erheben die Gegner den Anspruch, Gesetzeslehrer zu sein (1Tim 1,7; vgl. Tit 1,9). Nach Tit 1,10 stammen die Verführer aus der Beschneidung, in Tit 1,14 werden die mythologischen Spekulationen als mu´hoi bezeichnet. Religionsgeschichtlich wird die gegnerische Lehre164 zumeist als eine Form judenchristlicher Gnosis eingestuft165. Bei dieser These sind die jüdischen Elemente konstitutiver Bestandteil der Irrlehre, häufig wird dabei auch ein jüdischer Ursprung der Gnosis vorausgesetzt. Diese Annahme ist allerdings stark umstritten, denn zentrale Elemente des jüdischen Glaubens (strikter Monotheismus, Schöpfergott, positive Wertung der Schöpfung) lassen sich nur schwer mit der schöpfungsfeindlichen Grundeinstellung gnostischer Systeme verbinden. Werden zudem die jüdischen Elemente nur als Randphänomene der Irrlehre eingestuft, legt es sich nahe, in ihr eine Frühform christlicher Gnosis zu sehen166, in die jüdische Elemente einflossen, ohne sie inhaltlich zu bestimmen. Offenkundig vertraten die Gegner mit ihrer Behauptung einer bereits erfolgten Auferstehung ein massiv präsentisches Heilsverständnis167, das sich wahrscheinlich aus ihrer Interpretation der Taufe und dem damit verbundenen Geistbesitz herleitet. Die asketischen Tendenzen der gegnerischen Lehre weisen darauf hin, dass die bestehende Welt als Ort der Gefangenschaft begriffen wurde, aus der sich der Gnostiker durch die erlösende Gotteserkenntnis zu befreien versuchte. Schöpfung und Schöpfergott erfahren eine negative Beurteilung, denn die Überwindung der feindlichen materiellen Welt war das Ziel der gegnerischen Lehre. Demgegenüber betont 1Tim 4,4f Gottes gutes Schöpfungswerk, an dem nichts verwerflich ist. Die Mission der Falschlehrer vollzog sich überwiegend in kleinen Hausgemeinden (2Tim 3,6–9), was zu dem esoterischen Charakter gnostischer Lehren passt168. 164 Zur Forschungsgeschichte vgl. E. SCHLARB, Gesun-
de Lehre (s. o. 10.4), 73–82; der aktuelle Stand der Diskussion wird umsichtig von L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 52–73, reflektiert. 165 Vgl. z. B. M. DIBELIUS, Past (s. o. 10.4), 53; W. SCHMITHALS, Neues Testament und Gnosis, Darmstadt 1984, 93f; N. BROX, Past (s. o. 10.4), 33 ff. 166 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 228–239;
M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition (s. o. 10.4), 265f; H. MERKEL, Past (s. o. 10.4), 10.13; L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 63ff; A. WEISER, 2Tim (s. o. 10.4), 217 f. 167 Vgl. E. SCHLARB, Gesunde Lehre (s. o. 10.4), 93; L. OBERLINNER, Tit (s. o. 10.4), 54, die ebenfalls in 2Tim 2,18 das Zentrum der Falschlehre sehen. 168 Zur Frage, ob in 1Tim 6,20 eine Anspielung auf
558 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Autor der Past seinerseits ‚das Haus‘ zum Zentrum seiner Ekklesiologie macht; allerdings in einer anderen Weise als die Falschlehrer169. Die Gemeinde als Haus Gottes und ihre Ämter
Nicht mehr die einzelne Hausgemeinde, sondern die nach dem Modell des antiken Hauses gegliederte Ortsgemeinde bildet die angestrebte Organisationsstruktur der Pastoralbriefe170. Durch eine neue Amtsstruktur sollen die isolierten und von der Falschlehre bedrohten Hausgemeinden zur Ortsgemeinde als dem einen Haus Gottes zusammengeführt werden, dem der eine epı´skopoß („Episkopos/Vorsteher/Bischof“) vorsteht171. Dieses Konzept verbindet sich mit dem grundlegenden Rückbezug auf Paulus, wie exemplarisch 1Tim 3,15 zeigt: „wenn sich aber mein Kommen verzögert, damit du weißt, wie man sich im Haus Gottes (en oıkw heou˜) verhalten muss, welches die Kirche des lebendigen Gottes (ekklvsı´a heou˜ zw˜ntoß) ist, Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (vgl. 2Tim 2,20f; Tit 1,7). Die Rückbindung an Paulus gibt dem Leitungsamt in der Gemeinde seine Autorität172. Der Dienst am Paulus von Gott anvertrauten Evangelium (vgl. 1Tim 1,12) wird nun in Abwesenheit des Apostels von Timotheus und Titus als Prototypen des Gemeindeleiters wahrgenommen. So wie Paulus in allem der Wahrheit des Evangeliums verpflichtet war, kommt auch dem Gemeindeleiter die Aufgabe zu, die durch die paulinische Verkündigung legitimierte Tradition zu bewahren (vgl. 1Tim 6,20; 2Tim 1,14). Dabei stand der Verfasser der Past vor der Aufgabe, zwei (in den Gemeinden wahrscheinlich bereits existierende)173 Verfassungsformen zusammenzufügen und neu zu interpretieren. In den Past finden sich sowohl Aussagen über eine Ältes-
die ‚Antithesen‘ des Marcion vorliegt, vgl. E. SCHLARB, Miszelle zu 1Tim 6,20, ZNW 77 (1986), 276–281. 169 Vgl. zum oıkoß-Gedanken in den Past bes. E. SCHLARB, Gesunde Lehre (s. o. 10.4), 314–356; D. C. VERNER, The Household of God: the Social World of the Pastoral Epistles, SBL.S 71, Chico 1983. 170 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 255. 171 Vgl. dazu E. DASSMANN, Hausgemeinde und Bischofsamt, in: ders., Ämter und Dienste in den frühchristlichen Gemeinden, Bonn 1994, 74–95. 172 Vgl. dazu J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 169–189; H. MERKEL, Past (s. o. 10.4), 90–93. 173 Nach J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 170, führt der Verfasser keine neuen Ämter ein, sondern es geht ihm darum, „die bereits vorhandenen Ämter und Dienste zunächst so weit wie möglich in einer Gesamtschau zu integrieren und sie durch eine vertiefte Neuinterpretation so umzugestalten, daß sie den Aufgaben und Anforderungen seiner kirchlichen Si-
tuation entsprechen können.“ Demgegenüber erklären sich nach H. MERKEL, Past (s. o. 10.4), 13, die spannungsreichen Aussagen zu kirchlichen Ämtern in den Past „am einfachsten mit der Annahme, in den Gemeinden sei das Presbyteramt bekannt gewesen, während der Briefverfasser das Episkopen/Diakonen-Modell einführen will.“ Kritisch zu diesen Modellen D.-A. KOCH, Die Einmaligkeit des Anfangs und die Fortdauer der Institution, in: Die kleine Prophetin Kirche leiten (FS G. Noltensmeier), hg. v. M. Böttcher/A. Schilberg/A.-Chr. Tübler, Wuppertal 2005, (157–168) 167, der die These einer ‚Verschmelzung‘ ablehnt: „Weder gab es eine paulinische Episkopenverfassung, noch ist das Amt des presbyteros charakteristisch für die jüdischen Synagogengemeinden des 1. und 2. Jh. n.Chr. Die Organisations- und Ämterstruktur der Pastoralbriefe ist also ein Neuentwurf der dritten Generation.“
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 559
ten-Verfassung (1Tim 5,17f.19; Tit 1,5f) als auch Pflichten-Spiegel für Bischöfe und Diakone (1Tim 3,2–13; Tit 1,7–9). Das Zusammenfließen des Ältesten-Amtes und des Episkopen/Diakonen-Amtes ist für das Ende des 1. Jh. vielfach bezeugt (vgl. Apg 14,23; 20,17; 1Petr 5,1–5; 1Clem 40–44). Das aus jüdischer Tradition entstandene Ältestenamt174 sieht in dem Alter und der Reife eines Mannes ein entscheidendes Qualifikationsmerkmal. Bei Paulus findet sich dieses Amt nicht, denn für ihn ist das Alter kein Charisma, alle Funktionen und Dienste verdanken sich der Autorität des Geistes (vgl. 1Kor 12,28–31)175. Der Phil aus der Spätphase des paulinischen Wirkens bezeugt die Dienste des epı´skopoß und dia´konoß (Phil 1,1). Die Episkopen trugen offenbar – zunächst als Leiter von Hausgemeinden – vielfältige Verantwortung in den einzelnen Ortsgemeinden. Auch die dia´konoi nahmen innerhalb der Gemeinden Funktionen wahr, so z. B. Aufgaben im Rahmen der Eucharistie und der Armenpflege (vgl. Mk 10,43f; 2Kor 3,6; 4,1; 5,18). Das Nebeneinander dieser beiden Verfassungsformen in den Past wirft die Frage auf, welche Ordnung der Verfasser der Briefe anstrebte. Eine Verschmelzung beider Verfassungsstrukturen war offensichtlich nicht das Ziel, denn nur in Tit 1,5–9 stehen beide Ordnungen nebeneinander, ohne wirklich miteinander verbunden zu werden. Vielmehr favorisiert der Verfasser der Past eine Episkopen-Ordnung verbunden mit dem Diakonenamt176. Nach 1Tim 3,1 ist das Episkopen-Amt eine gute Sache, die man anstreben soll. Der Episkopos steht nicht mehr nur einer Hausgemeinde vor, sondern ihm obliegt die Leitung einer Ortsgemeinde, umgeben von Diakonen und Verantwortung wahrnehmenden Ältesten. Die angestrebte Neugestaltung des Episkopen-Amtes und die allmähliche Überwindung des Presbyteriums veranschaulicht die Ordination des Timotheus in 1Tim 4,14. Zwar legen die Presbyter Timotheus die Hand auf (nach 2Tim 1,6 wurde Timotheus durch Paulus ordiniert), er wird aber zum epı´skopoß der Gesamtgemeinde ordiniert. Die Ordination als geistlicher und rechtlich-institutioneller Akt zielt gleichermaßen auf die Autorität der Amtsträger und die Wahrung der Tradition177. Nicht zuletzt das Auftreten der Falschlehre und ihre Erfolge in den Hausgemeinden beschleunigten die Etablierung eines funktionstüchtigen Leitungsamtes, denn der epı´skopoß soll für die gesamte Gemeinde verantwortlich sein (vgl. 1Tim 5,1–21). Die Kirche als heiliger Bau und auf Gott gegründete Institution, in der die in Jesus
174 Vgl. hierzu die bei A. DEISSMANN, Licht vom Osten
176 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 175; L. OBERLIN-
(s. o. 10.4.1), 378–380, abgedruckte Jerusalemer Inschrift aus der Zeit vor 70 n.Chr.; vgl. ferner Apg 1,30; 14,23; 15,2.4.22f; Jak 5,14; vgl. ferner M. KARRER, Das urchristliche Ältestenamt, NT 32 (1990), 152–188. 175 Zum Zurücktreten der Geistaussagen in den Past vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition (s. o. 10.4), 41 ff.
NER,
Tit (s. o. 10.4), 91.
177 Vgl. H. V. LIPS, Glaube – Gemeinde – Amt (s. o.
10.4), 279: „Die Bedeutung der Ordination als Bevollmächtigung und Befähigung für den Amtsträger zielt auf dessen amtliche Funktion und Autorität in der Gemeinde einerseits, auf die Wahrung der Tradition durch Hineinstellen in amtliche Kontinuität andererseits.“
560 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
Christus erschienene und allein rettende Wahrheit gegenwärtig ist (vgl. 1Tim 3,15f; 2Tim 2,19–21), muss sich gegenüber der Falschlehre abgrenzen. Dennoch erfassen rechtliche Kategorien nicht das Wesen des Episkopenamtes, das primär ein geistliches Amt ist, denn die Fähigkeit zur Lehre qualifiziert den Gemeindeleiter (1Tim 3,2; Tit 1,9). Der Bischof wird als Haushalter Gottes angesprochen (Tit 1,7–9), der an der rechten Lehre festhält und den Gegnern widersteht. Der Bischof herrscht nicht, sondern er ist Garant der Einheit der Gemeinde! Wie der Apostel seine Gemeinden durch das Evangelium leitete, so treten nun die Apostelschüler, ausgestattet mit den Weisungen des Paulus, in diese Aufgabe ein (vgl. 1Tim 4,1113.16; 2Tim 1,13; 2,24; 3,10.14–17; Tit 2,1). Auch in der Abwesenheit des Apostels bleiben das von ihm verkündigte Evangelium und sein unermüdlicher Dienst an den Gemeinden Norm des Dienstes der Apostelschüler, an denen sich wiederum die Gemeindeleiter orientieren sollen. Als vom Geist Gottes erfüllte Schrift (vgl. 2Tim 3,16) erheben die Past den Anspruch, den für die Gemeinden verpflichtenden Willen des Apostels Paulus umfassend und abschließend zu formulieren. Paulus als Modell
Was für die Past generell gilt, trifft für die Ekklesiologie im Besonderen zu: Grundlegend ist der Rückbezug auf den Apostel und Lehrer Paulus. Paulus ist der durch den Willen Gottes beauftragte Apostel Jesu Christi, der Diener des Evangeliums, dessen Apostolat Bestandteil der göttlichen Heilsordnung ist (vgl. 1Tim 1,1; 2,7; Tit 1,1; 2Tim 1,1.11). Das paulinische Apostolat gilt allen Völkern (vgl. 1Tim 2,7; 2Tim 4,17), ihnen verkündet Paulus das ihm von Gott anvertraute Evangelium (1Tim 1,11; 2,6f; 2Tim 1,10 f.12; Tit 1,3). Dieses Evangelium ist der kostbarste Schatz der Kirche (vgl. 1Tim 6,20f; 2Tim 1,12.14), den es als parahv´kv („das anvertraute Gut“) zu bewahren gilt. Als einzig legitimer Verkündiger wird Paulus selbst zum Inhalt der Verkündigung, so dass seinem Wirken eine soteriologische Dimension 178 zukommt (s. o. 10.4.4). Das Geschick des Apostels wird zur Botschaft, mit ihm und an ihm erfüllt sich exemplarisch Gottes Heilswille (vgl. nur 1Tim 1,16: „Aber dazu wurde mir Erbarmen zuteil, damit an mir als erstem Christus Jesus seine ganze Langmut kundtue, zum Urbild für die, die zum Glauben an ihn kommen sollen, zu ewigem Leben“). Paulus verkörpert die rettende Botschaft, so dass von einer Kerygmatisierung (vgl. 2Tim 4,17) seiner Person in den Past gesprochen werden kann179. Als autorisierter Verkündiger und Inhalt des Evangeliums wird Paulus in den Past zum Garanten der Tradition und zum legitimierten Lehrer. Er unterweist die Gemeinden in der gesunden Lehre, wobei didaskalı´a und parahv´kv die Gesamtheit dessen bezeichnet, was in den Past als Verkündigung und ethischer Unterweisung den Ge178 Vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition
179 Vgl. M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition
(s. o. 10.4), 82; K. LÄGER, Christologie (s. o. 10.4), 128.
(s. o. 10.4), 52.
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 561
meinden aufgetragen wird180. Während die Irrlehrer mit ihrer Falschlehre die Gemeinden spalten, sollen Timotheus und Titus und damit die angesprochenen Gemeinden an der ursprünglichen Lehre und an der Schrift festhalten (vgl. 1Tim 1,3–7; 6,3–5; 2Tim 3,10–12.15f; Tit 1,10–2,15). Als Urbild des Glaubens ist Paulus zugleich auch Vorbild und Modell für die Gemeinden (vgl. 1Tim 1,15f). In der Lehre, in der Lebensführung, im Glauben und in den Leiden soll die Gemeinde dem Apostel nachfolgen (vgl. 2Tim 3,10f; 1,13). So wie Paulus auf der textinternen Ebene dem Timotheus als Vorbild erscheint, so wird Timotheus den Gemeinden zum Vorbild (vgl. 1Tim 4,12; 2Tim 3,10f; vgl. ferner Tit 2,7). Timotheus und Titus sind Kinder des Apostels im Glauben (vgl. 1Tim 1,2.18; 2Tim 1,2; 2,1; Tit 1,4) und repräsentieren den Idealtypus des nachapostolischen Amtsträgers. Das Vorbild Paulus ist somit in den legitimierten Amtsträgern der Gemeinden und in den Past gegenwärtig, obwohl sich dessen leibhaftiges Kommen nach 1Tim 3,15 möglicherweise verzögert. Insgesamt zeichnen die Past ein überaus kraftvolles Bild des Paulus, der als Verkündiger, Lehrer, Seelsorger und Kirchenorganisator für seine Gemeinden eintritt und kämpft. Paulus ist gleichermaßen Apostel, kirchliche Autorität, Identitätsstifter und das Ideal/Modell eines Christen181. Seine überragende Stellung in den Gemeinden musste vom Verfasser der Past nicht begründet werden, vielmehr schrieb er im Kontext einer lebendigen paulinischen Tradition. Die Past versuchen ein sich jeder christlichen Gemeinschaft stellendes Problem zu lösen, „nämlich das der bleibenden Orientierung an dem für normativ erachteten Anfang angesichts einer veränderten historischen Vorfindlichkeit der Gemeinde und der Bedrohung durch einen Identitätsverlust, die durch von außen kommende fremde Identitätsangebote noch verschärft wird.“182
10.4.8 Eschatologie Die Eschatologie ist nur ein Randthema der Pastoralbriefe183. Die Parusie Christi wird zur Epiphanie, sie tritt zur vorherbestimmten, aber unbekannten Zeit ein (1Tim 6,14b–15: „bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, die zur rechten Zeit anbrechen lassen wird der selige und alleinige Herrscher, der König der Könige, und Herr der Herren“). Mit dem Erscheinen verbindet sich vor allem das Gericht (2Tim 4,1 „Ich beschwöre dich vor Gott und Christus Jesus, der richten wird Lebende und Tote, angesichts seines Erscheinens und seiner Königsherrschaft“), das sich als Gericht nach den Werken vollziehen wird (vgl. 1Tim 5,24f; ferner 2Tim 4,8; Tit 2,13). 180 Vgl. G. LOHFINK, Paulinische Theologie (s. o. 10.4), 99. 181 Vgl. dazu auch B. FIORE, The Function of Personal Example in the Socratic and Pastoral Epistles, AB 105, Rom 1986.
182 M. WOLTER, Pastoralbriefe als Paulustradition (s. o. 10.4), 270. 183 Vgl. J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 213.
562 Die Deuteropaulinen: Paulus weiter-denken
In den Past herrscht deutlich eine eschatologische Unbestimmtheit vor; die Parusie des Herrn erfolgt ‚zur rechten Zeit‘ (1Tim 6,15) und rückt damit zugleich in eine unbestimmte Ferne. Dies hängt mit dem theologiegeschichtlichen Ort des Autors zusammen: Er hielt einerseits an der Parusieerwartung fest, um so auch die Parole der Falschlehrer zurückzudrängen, die Auferstehung sei schon geschehen (vgl. 2Tim 2,18); andererseits musste er der sich dehnenden Zeit Rechnung tragen. Er nimmt beide Anliegen auf, indem er die Parusie in das offenbarungstheologische Gesamtkonzept der epifa´neia (s. o. 10.4.2) einfügt und damit in einer bewussten Schwebe lässt. Zudem bestimmt er als wirklich tragendes und beständiges Fundament der Kirche die ‚gesunde Lehre‘, wie die Interpretation der apokalyptischen Motive in 2Tim 4,1 durch den Lehrgedanken in 2Tim 4,2f zeigt. So prägt letztlich nicht das Unbestimmte, sondern allein das Beständige die Eschatologie der Past.
10.4.9 Theologiegeschichtliche Stellung Die Pastoralbriefe wurden in der neueren Theologiegeschichte zumeist im Rahmen einer kirchengeschichtlichen Dekadenztheorie interpretiert: Am Anfang steht Paulus, dann folgen der Kolosser- und Epheserbrief (und der 2Thess), bis schließlich die Pastoralbriefe die paulinische Theologie vollständig in zeitgenössische Moral und Bürgerlichkeit auflösen184. Diese Perspektive stellt in mehrfacher Hinsicht eine Verkürzung der historischen und theologischen Leistung der Past dar: 1) Die Past entfalten ein umfassendes Erziehungs-Konzept (vgl. 1Tim 1,20; 2Tim 2,25; 3,16; Tit 2,12), das zugleich ein Humanitäts-Konzept ist. In seinem Zentrum steht die Menschfreundlichkeit Gottes (vgl. 1Tim 2,4; Tit 3,4.11), die allen Menschen gilt und allen Menschen helfen soll. Das Ziel des göttlichen Wirkens ist ein besonnenes Leben in Gerechtigkeit und Frömmigkeit (2Tim 3,16; Tit 2,4). 2) Mit diesem Konzept verbindet sich unmittelbar eine nachhaltige Integration hellenistischer Tugenden in die Ethik. Die Past vollziehen damit nicht nur die historisch unumgängliche Öffnung für pagane Ethik, sondern sie proklamieren die selbstverständliche Integration des Humanum in die neue Bewegung und damit einen universalen Anspruch: Gottes Erscheinen in Jesus Christus ist auch das Sichtbarwerden des Menschlichen! Schließlich ist
184 So spricht M. DIBELIUS, Past (s. o. 10.4), 32, von ei-
nem „Ideal christlicher Bürgerlichkeit“; vgl. ferner S. SCHULZ, Die Mitte der Schrift, Stuttgart 1976, 109: „Blickt man schließlich auf die Wirkungsgeschichte dieser Thesen eines frühkatholischen Amts-, apostolischen Sukzessions- und Traditionsverständnisses, des Ideals der christlichen Brüderlichkeit wie eines frommen Lebens . . . , dann wird man diese frühkatholische Entwicklung gerade um Paulus willen
nicht nachvollziehen, sondern rückgängig machen müssen.“ Aber auch J. ROLOFF, 1Tim (s. o. 10.4), 380, konstatiert in den Pastoralbriefen eine wesentliche Verkürzung der paulinischen Rechtfertigungslehre, sie „nehmen das Spannungsfeld von Sünde, Gesetz und Gesetzeswerken einerseits, Christus, Gnade und Glaube andererseits, in dem bei Paulus die Rechtfertigung steht, nicht mehr wahr . . . .“
Die Pastoralbriefe: Gottes Menschenfreundlichkeit 563
das Konzept christlicher Tugenden von großer ethischer Attraktivität. 3) Die häufig kritisierte Ämterlehre der Past verdient ebenfalls eine Neuinterpretation. Das sich bildende Bischofsamt ist ein wesentliches Instrument einer historisch notwendigen und theologisch legitimen Identitätssicherung. Jede Organisationstheorie empfiehlt eine Veränderung und Straffung der Organisation, wenn das Wachstum und die inneren/ äußeren Gegebenheiten dies notwendig machen. 4) Auch das in den Past vorherrschende Traditionsprinzip erscheint aus identitäts- und sinntheoretischer Perspektive in einem veränderten Licht. Die Schaffung und die Bestimmung von Tradition/Traditionen gehört zu den grundlegenden kulturellen Sinnbildungs- und Stabilisierungsfaktoren, die einem vorschnellen Wandel und einer vorschnellen Entleerung von Inhalten und Verhaltensweisen vorbeugen. Einübung und Wiederholung waren und sind die Grundelemente jeden gelungenen Lernens und jeder erfolgreichen Erziehung. Die Pastoralbriefe sind in ihrem Bemühen ernstzunehmen, das Christentum in den überwiegend städtischen Gemeinden Kleinasiens angesichts starker innerer (und wohl auch äußerer) Bedrohungen zu stabilisieren. Sie repräsentieren einen wichtigen Schritt hin zur durch Ämter strukturierten Kirche und zur Bildung des Kanons.
11.
Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
11.1 Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden R. BULTMANN, Bekenntnis- und Liedfragmente im ersten Petrusbrief, in: ders., Exegetica, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (= 1947), 285–297; C.H. HUNZINGER, Babylon als Deckname für Rom und die Datierung des 1Petrusbriefes, in: Gottes Wort und Gottes Land (FS H. Hertzberg), hg. v. H. Reventlow, Göttingen 1965, 67–77; L. GOPPELT, Prinzipien neutestamentlicher Sozialethik nach dem 1.Petrusbrief, in: Neues Testament und Geschichte (FS O. Cullmann), hg. v. B. Reicke u. a., Zürich/Tübingen 1972, 285–296; G. DELLING, Der Bezug der christlichen Existenz auf das Heilshandeln Gottes nach dem ersten Petrusbrief, in: Neues Testament und christliche Existenz (FS H. Braun), hg. v. H.D. Betz u. a., Tübingen 1973, 95–113; E. LOHSE, Paränese und Kerygma im 1. Petrusbrief, in: ders., Die Einheit des NT, Göttingen 1973, 307–328; J.B. BAUER, Der erste Petrusbrief und die Verfolgung unter Domitian, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann), hg. v. R. Schnackenburg u. a., Leipzig 1977, 513–527; CHR. WOLFF, Christ und Welt im 1Petrusbrief, ThLZ 100 (1975), 333–342; L. GOPPELT, Der erste Petrusbrief, KEK XII/1, Göttingen 1977; W. MARXSEN, Der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, in: Theologia Crucis – Signum Crucis (FS E. Dinkler), hg. v. C. Andresen/G. Klein, Tübingen 1979, 377–393; N. BROX, Der erste Petrusbrief, EKK 21, Neukirchen 21986; F. NEUGEBAUER, Zur Deutung und Bedeutung des 1Petrusbriefes, NTS 26 (1980), 61–86; F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1. Petrusbrief, Passau 1981; J. H. ELLIOTT, A Home for the Homeless. A Sociological Exegesis of 1Petr, its Situation and Strategy, Philadephia 1981; W. L. SCHUTTER, Hermeneutic and Composition in 1Peter, WUNT 2.30, Tübingen 1989; A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad martyrium, BET 22, Frankfurt 1989; M. KARRER, Petrus im paulinischen Gemeindekreis, ZNW 80 (1989), 210–231; F.R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle im ersten Petrusbrief, fzb 63, Würzburg 1990; E. SCHWEIZER, Zur Christologie des ersten Petrusbriefes, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 369–381; R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde, WUNT 64, Tübingen 1992; J. HERZER, Petrus oder Paulus?, WUNT 103, Tübingen 1998; J.H. ELLIOTT, 1 Peter, AncB 37B, New York 2000; K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung im Maskenspiel. Epistolographie, Rhetorik und Narrativik der pseudepigraphischen Petrusbriefe, HBS 38, Freiburg 2003; R. FELDMEIER, Der 1. Petrusbrief, ThHK 15/1, Leipzig 2005; J. DE WAAL DRYDEN, Theology and Ethics in 1Peter, WUNT 2.209, Tübingen 2006.
Der 1Petrusbrief nimmt eine Sonderstellung im Neuen Testament ein, weil er das erste Zeugnis für den grundlegenden Konflikt zwischen dem christologischen Monotheismus des entstehenden Christentums und der sich sakral begründeten antiken römischen Gesellschaft ist1. Er behandelt zu seiner Zeit eine theologische Thematik, 1 Verfasst wurde der 1Petrusbrief wahrscheinlich um 90 n.Chr. in Kleinasien; vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 437–452.
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 565
die auch für das Christentum des 21. Jahrhunderts zentral sein wird: Christliche Minderheit zu sein in einer überwiegend ablehnend gesinnten Umwelt.
11.1.1 Theologie Das Präskript 1Petr 1,1.2 hat eine hermeneutische Basisfunktion und lässt die theologische Dimension des gesamten Schreibens (39mal heo´ß) deutlich erkennen, indem die Adressaten als „auserwählte Fremde“ angesprochen werden. Diese Fremdlingschaft ist gleichermaßen eine soziologische und theologische Bestimmung2: Sie bezeichnet die Situation der Gemeinde als Außenseiter und Fremdkörper der Gesellschaft; zugleich korrespondiert die Fremdlingschaft theologisch mit der Erwählung durch Gott und gewinnt so einen positiven Inhalt. Weil die Glaubenden durch einen Akt der göttlichen Neuschöpfung konstituiert wurden, sind sie der Nichtigkeit des bisherigen Lebens enthoben; sie haben einen neuen Ursprung und sind deshalb theologisch ‚Fremde‘ in der Welt. Christliche Existenz vollzieht sich zwischen göttlicher Erwählung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Beides bedingt einander, denn die Konflikte mit der Umwelt sind eine Folge der Aussonderung durch Gott und der Zugehörigkeit zu dessen Volk. Die Prädikate ‚unvergänglich, unbefleckt, unverwelklich‘ in 1Petr 1,4 bestimmen in Aufnahme zeitgenössischer (mittelplatonischer) negativer Theologie das Göttliche und das von ihm gewährte Erbe durch seine Andersartigkeit und Unabhängigkeit vom menschlichen Sein und lokalisieren es im ‚Himmel‘. Die Erwählung gründet im „Vorauswissen Gottes, des Vaters“ (1Petr 1,2), dessen Heilswille sich in der Auferweckung Jesu Christi von den Toten vollzog und sich nun in der gottgewollten Existenz der Gemeinde der Erwählten fortsetzt3. Die theologische Linienführung wird mit einer Eulogie4 fortgeführt: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner reichen Barmherzigkeit von neuem zu einer lebendigen Hoffnung gezeugt hat durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1Petr 1,3). Damit wird der Blick der Gemeinde wiederum auf Gott und das durch ihn eröffnete Heil gelenkt. Gott veränderte ihr Leben von Grund auf, denn sie wurde von neuem geschaffen und lebt nun in der wah-
2 Vgl. R. FELDMEIER, Christen als Fremde (s. o. 11.1), 124, wonach der gesellschaftliche und der daraus resultierende politische Anstoß dieselbe Ursache haben: „Er gründet in der exklusiven religiösen Bindung der Christen, der zugleich ein eigenes soziales und ethisches Bezugssystem schafft, das zu der bisherigen religiösen, gesellschaftlichen und politischen Koine in Konkurrenz tritt.“ 3 Die Frage nach der Vorherbestimmung/Vorher-
sehung Gottes und seinem allmächtigen Wirken wird auch in der zeitgenössischen antiken Philosophie intensiv erörtert; vgl. als Apologien der providentia Dei die Schriften von Seneca, De providentia, und Plutarch, De sera numinis vindicta („Über die spät eintretenden Strafen der Gottheit“). 4 Vgl. hierzu R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus (s. o. 4), 77 f.
566 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
ren Hoffnung. Die gegenwärtige Bedrängnis wird durch die Zusage des Heils Gottes verstehbar gemacht; Gottes Lob, Heilzuspruch, Leidensbereitschaft und Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge greifen so ineinander. Die in 1Petr 1,3–2,3 dominierende Metapher der Wiedergeburt (s. u. 11.1.4) hat zuallererst eine theologische Dimension: Sie benennt die neue, eschatologische Existenz der Christen, die nun als Verwandelte in einer feindlichen Umwelt den Willen Gottes tun (vgl. 1Petr 2,12.15.16.17; 4,2) und sich damit kategorial von ihrer Umwelt unterscheiden, so dass Leiden eine unausweichliche und notwendige Folge des Glaubens ist (vgl. 1Petr 2,19f; 3,17; 4,14.16.17.19). Wie Gott Jesus auserwählte (1Petr 2,4), zum unschuldigen Leiden bestimmte (1Petr 2,21–25) und von den Toten auferweckte (1Petr 1,3.21), so sind auch die Glaubenden zum Volk Gottes auserwählt (1Petr 2,9f; 5,2) und dürfen sich gerade im Leiden von der Gnade Gottes beschenkt wissen (1Petr 4,10f; 5,5 f.10.12). Jesu Leiden und Sterben dient dazu, „dass er euch hinführe zu Gott“ (1Petr 3,18b). Die Erwählung durch Gott im Leiden ist das zentrale theologische Thema des 1Petrusbriefes. Obwohl die Christen zu einem rechten Verhalten innerhalb der gesellschaftlichen Institutionen aufgefordert werden, müssen sie aufgrund ihrer Bindung an Gott als Fremde in der Welt leiden. Dieses Leiden ist Gnade vor Gott, nicht hingegen Leiden aufgrund begangener Sünden (1Petr 2,19; 2,20; 3,14).
11.1.2 Christologie Ausgangspunkt und Basis der Christologie ist die Auferstehung Jesu Christi von den Toten (1Petr 1,3.21). In der Auferstehung Jesu Christi überwand Gott die Sünde und den Tod und ermöglichte jene Existenz, in der die Glaubenden leben. Wie in Röm 1,3f vollzieht sich nach 1Petr 3,18 die Auferstehung durch den Geist Gottes: „Denn auch Christus hat einmal für die Sünde gelitten, ein Gerechter für Ungerechte, damit er euch zu Gott bringe, getötet zwar im Fleisch, lebendig gemacht jedoch im Geist.“ Demnach war Christus durch seine Zugehörigkeit zum ‚Fleisch‘ dem Tod ausgeliefert, der aber durch seine Zugehörigkeit zum Geist Gottes überwunden wurde. Mit der Auferstehungsvorstellung verbindet sich eine christologische Sonderüberlieferung in 1Petr 3,19–21; 4,6: die Predigt Jesu zu den Geistern im Gefängnis und seine Evangeliumsverkündigung an die Toten, wobei sich in 1Petr 3,22 die ‚Höllenfahrt‘ Christi mit seiner Himmelfahrt verbindet (vgl. Eph 4,9f). Der Abstieg zu den Geistern im Gefängnis verdeutlich, dass auch die Bereiche der Schuld, des Todes und der Vergangenheit nicht aus dem Machtbereich Christi ausgeschlossen sind. Die pneu´mata in 1Petr 3,19 sind wahrscheinlich nicht gefallene Engel5, sondern die „Seelen der un5 Vgl. zur umfassenden Analyse A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad martyrium (s. o. 11.1),
213–247; vgl. ferner F. SPITTA, Christi Predigt an die Geister, Göttingen 1890; H. J. VOGELS, Christi Abstieg
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 567
bußfertigen Zeitgenossen Noahs“6. Im Neuen Testament bedeutet kvru´ssein durchweg Heilspredigt, pneu´mata als Bezeichnung der postmortalen Existenz ist vielfach belegt7 und 1Petr 4,6 betont ausdrücklich die Verkündigung des Evangeliums auch an die Toten. Der Verfasser des 1Petr unterstreicht die Universalität des Heilsangebotes, wobei er von der in der Taufe zugeeigneten Heilswirklichkeit ausgeht und über das Motiv des Wassers zur unbußfertigen Noah-Generation gelangt. Die Erhöhung Jesu führt zur Inthronisierung zur Rechten Gottes, zur umfassenden Teilhabe an der göttlichen Macht und Herrschaft, die sich in der Unterwerfung aller Mächte und Gewalten unter Christus zeigt. Das Motiv der Erhöhung zur Rechten Gottes hat in Eph 1,20 (vgl. ferner Phil 2,9–11; Mt 28,18; Joh 3,14; 12,32ff; Lk 24,49–51; Apg 1,8ff) seine engste Parallele, traditionsgeschichtlich steht Ps 110,1 LXX im Hintergrund. Obwohl räumlich entgegengesetzt, sind Höllen- und Himmelfahrt Bestandteile der einen großen Bewegung Jesu Christi zu Gott. Das Leiden und Sterben Jesu Christi wird überstrahlt durch seine Einsetzung zum Herren der ganzen Welt. Mit den Motiven des Leidens und der Erhöhung verwandt ist die metaphorische Rede von Christus als dem „lebendigen Stein“ (1Petr 2,4). Unter Aufnahme von Jes 28,16 und Ps 118,22 wird der verworfene Jesus Christus in 1Petr 2,4–8 als der Eckstein bezeichnet, der die Gemeinde trägt8. An seinem Schicksal kann die Gemeinde ihre aktuelle Situation ablesen: Sie wurde durch das Blut Christi erkauft (vgl. 1Petr 1,19; 2,21–24; 3,18–22), der als Sündloser (1Petr 2,22) die Sünde der Menschen mit ans Kreuz nahm und überwand (1Petr 2,24). Darin wurde er zum bleibenden Vorbild im Leiden (1Petr 2,21–24; 4,1.13), an dem sich die Gemeinde in ihrer Situation ausrichten soll. Gott nahm Jesus Christus durch das Leiden hindurch in seine Herrlichkeit auf, und auch der im Leiden treuen Gemeinde ist es verheißen, an der Herrlichkeit Gottes teilzuhaben. Diese Gewissheit führt zu der Einsicht, dass Gott schon vor aller Zeit bestimmte, um der Rettung der Gemeinde willen, am Ende der Zeiten Jesu Christi Blut zu vergießen (1Petr 1,19–21). Die Präexistenzvorstellung findet sich neben 1Petr 1,20 auch in 1Petr 1,10f, wo vom Geist Christi die Rede ist, der bereits in den Propheten wirkte. Die zentralen christologisch-soteriologischen Themen des stellvertretenden Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi werden in 1Petr 1,18–21; 2,21–25 und 3,18–22 in liturgisch geprägter Sprache entfaltet, wobei die literarkritische Abgrenzung und formgeschichtliche Einordnung der Texte unterschiedlich ausfällt. Stilistisch un-
ins Totenreich und das Läuterungsgericht an den Toten, FThSt 102, Freiburg 1976. 6 L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1), 249; vgl. zur anthropologischen Auslegung auch H. J. VOGELS, Christi Abstieg ins Totenreich, 86; A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad martyrium (s. o. 11.1), 247.
7 Vgl. Hebr 12,23; zu jüdischen und paganen Belegen vgl. A. REICHERT, a. a. O., 239–243. 8 Zur Analyse vgl. L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1), 142ff; J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 143– 157.
568 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
einheitlich ist 1Petr 1,18–21 (V. 18.19.21 gehobene Prosa, V. 20 rhythmischer Parallelismus), aber die Elemente dieses Textes weisen sich durch ihre vielfältigen Bezüge als traditionell aus (V. 18: Bezug auf Jes 52,3; V. 19: Christus als Passalamm [vgl. 1Kor 5,7; Joh 1,29; 19,36]; V. 20: Einst-Jetzt-Schema [vgl. Röm 16,25f; Kol 1,26; Eph 3,5.9; 2Tim 1,9f]; V. 21: Auferweckungsformel [vgl. 2Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 8,11]). Ein geschlossenes Traditionsstück liegt in 1Petr 2,21–25 vor9. V. 21b fällt sowohl inhaltlich als auch formal (nur hier Partizipialstil) aus der Tradition heraus. Es folgen in der Vorlage vier Relativsätze, die dreimal mit oÇß und einmal mit ou einsetzen. V. 25 ist eine bildhafte Interpretation des Textes in prosaischem Stil und dürfte vom Briefschreiber stammen. Möglicherweise sind neben V. 21b.25 auch V. 23c10 und V. 24b11 Eintragungen des Briefschreibers. Die rekonstruierte Vorlage ist deutlich gegliedert, traditionsgeschichtlich an Jes 53LXX orientiert und kann formgeschichtlich als Christushymnus bezeichnet werden. Die rein soteriologischen Aussagen der Vorlage werden durch den Verfasser des 1Petr im Sinne des Vorbildgedankens paränetisch interpretiert. In 1Petr 3,18–22 zeigt sich wiederum eine Verarbeitung verschiedener Traditionsstoffe, ohne dass eine einheitliche Vorlage rekonstruiert werden könnte12.
Insgesamt betont die Christologie des 1Petr sehr stark die soteriologischen und ethischen Dimensionen des Christusgeschehens13, das so zum Vorbild und Modell christlicher Existenz wird (1Petr 2,21). Die Gemeinde soll sich an der vorbildhaften Erfüllung des Willens Gottes durch Jesus Christus im unschuldigen Leiden orientieren und so ihre Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes dokumentieren.
11.1.3 Pneumatologie Ausgangspunkt der Pneumatologie des 1Petr ist der Geist Gottes, der als „Geist Christi“ bereits unter den Propheten wirkte (1Petr 1,10f), Jesus Christus von den Toten auferweckte (1Petr 3,18) und nun auf der Gemeinde ruht: „Wenn ihr geschmäht werdet um des Namens Christi willens, selig seid ihr, denn der Geist der Herrlichkeit und Gottes ruht auf euch“ (1Petr 4,14). Der Geist Gottes erweist sich somit als bewahrende Kraft in den gegenwärtigen Bedrängnissen. Einzigartig innerhalb des Neuen Testaments sind die pneumatologischen Aspekte der Predigt Christi an die Toten (1Petr 3,19f; 4,6). Der Plural pneu´mata in 1Petr 3,19 bezieht sich wahrscheinlich auf die Seelen der Toten, denen bei der Annahme der Evangeliumspredigt durch den Geist Gottes das Leben ermöglicht wird. In 1Petr 4,6 wird diese Vorstellung aufgenommen: „Denn dazu wurde auch den Toten das Evangelium gepredigt, damit sie 9
te (s. o. 11.1), 296.
BER,
11 So R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christus-
Vgl. neben den Kommentaren bes. R. DEICHGRÄGotteshymnus und Christushymnus (s. o. 4), 140–143; K. WENGST, Christologische Formeln (s. o. 4), 83–85. 10 Vgl. R. BULTMANN, Bekenntnis- und Liedfragmen-
hymnus (s. o. 4), 141. 12 Vgl. L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1), 239–264. 13 Vgl. M. DE JONGE, Christologie (s. o. 4), 120–124.
Der erste Petrusbrief: Bewährung durch Leiden 569
zwar im Fleisch so wie die Menschen gerichtet sind, aber so wie Gott durch den Geist leben sollen.“ So wie Christus durch den Geist Gottes lebt (1Petr 3,18), können sich auch die bereits Gestorbenen in den Wirkungskreis der lebendig machenden göttlichen Geistmacht begeben. Wie bereits den Propheten durch den Geist die Leiden Christi verkündigt wurden, so soll nun die gegenwärtige Gemeinde „in der Heiligung durch den Geist“ (1Petr 1,2), im Gehorsam gegen Gottes Willen und in Entsprechung zum Geschick Jesu Christi die Leiden in der Gegenwart ertragen.
11.1.4 Soteriologie Die Basis der Soteriologie bilden die Aussagen über Jesu stellvertretendes Leiden, Sterben und seine Auferstehung (1Petr 2,21: „denn Christus hat für euch gelitten“; 1Petr 3,18a: „Christus hat ein für allemal für [die Vergebung] der Sünden gelitten“). Gott erweckte Jesus von den Toten (1Petr 1,21), so dass der Sündlose (1Petr 2,22) und Gerechte (1Petr 3,18b) den Menschen einen neuen Zugang zu Gott eröffnen konnte (1Petr 3,18c; vgl. Röm 5,1ff). Die Glaubenden wurden nicht durch vergängliche Dinge von ihrer bisherigen nichtigen Lebensführung losgekauft (1Petr 1,18f), „sondern durch das kostbare Blut Christi, als eines untadeligen und makellosen Lammes.“ Die Loskauf-Terminologie (lutro´omai) und die Opferlamm-Metaphorik verweisen auf Jes 52,3LXX und sind umfassender Ausdruck des stellvertretenden Dienstes Jesu Christi14. Prägnant formuliert 1Petr 2,24 das soteriologische Grundgeschehen: „der unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat mit seinem Leib an das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Wunden ihr heil geworden seid.“ Ein zentrales Motiv der Soteriologie des 1Petr ist das hellenistische Konzept der Wieder-/Neugeburt als Überwindung der Vergänglichkeit, Nichtigkeit und Todgeweihtheit menschlichen Lebens15. Das Verb anagenna´w (= „von neuem gebären“) fehlt in der LXX und erscheint im NT nur in 1Petr 1,3.23; d. h. es benennt in besonderer Weise das soteriologische Konzept des 1Petr. Die Neuzeugung durch den Geist und das Wort eröffnet die Teilhabe für die Gemeinde an der Lebensfülle Gottes: „Als von neuem Geborene, nicht aus vergänglichem Samen, sondern aus unvergänglichem, d. h. durch das lebendige und bleibende Wort Gottes“ (1Petr 1,23). Die Unvergänglichkeit ist im paganen Sprachgebrauch ein exklusives Gottesprädikat, das z. B. bei Epikur16 14 Zur Analyse vgl. J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 70–134. 15 Vgl. dazu R. FELDMEIER, 1Petr (s. o. 11.1), 85–87. 16 Vgl. Cic, Nat Deor I 51, wonach Epikur lehrt: „Denn ein Gott tut nichts, ist in keine Geschäfte verwickelt, plagt sich mit keiner Arbeit, sondern freut sich seiner Weisheit und Tugend und verlässt sich
darauf, stets in höchsten und vor allem in ewigen Wonnen zu leben“; Nat Deor I 45: „Etwas, das glückselig und ewig ist, empfindet selbst keinerlei Unannehmlichkeiten und bereitet sie auch keinem anderen; daher kennt es weder Zorn noch Sympathie, da alles Derartige ein Zeichen von Schwäche wäre . . . Man begreift nämlich, dass sich Zorn und Sympathie
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oder Plutarch17 das wahre Sein Gottes vom vergänglichen Sein der Menschen abgrenzt. Die Prädikate „unbefleckt" und „unverwelklich“ in 1Petr 1,4 weisen in dieselbe Richtung: Den Erwählten wird durch die göttliche Neuzeugung die Teilhabe an der unzerstörbaren, unvergänglichen göttlichen Lebensmacht gewährt. Die Wiedergeburt ist ein Geschehen aus dem Erbarmen Gottes (1Petr 1,3); sie gründet allein im Wesen Gottes, der sich frei den Menschen zuwandte und die Glaubenden zu seinem Volk erwählte (1Petr 2,9). Weil Gottes Wort wie ein Samen wirkt und bleibend einen neuen Gottesbezug und eine neue Existenz gewährt (vgl. 1Petr 1,23), ist die Neugeburt zugleich immer auch ein neuer Anfang. Im Rahmen der vorherrschenden Familien- und Hausmetaphorik werden die Gemeindeglieder als „neugeborene Kinder“ angesprochen, die Gottes Freundlichkeit geschmeckt haben (1Petr 2,2f). Das Konzept der Wieder-/Neugeburt verbindet sich im 1Petrusbrief ausdrücklich mit der Taufe : Das Wasser, „das euch jetzt im Gegenbild der Taufe rettet, nicht als Entfernen des Schmutzes vom Fleisch, sondern als Bitte zu Gott um ein gutes Gewissen“ (1Petr 3,21). Die Taufe ist weitaus mehr als ein äußeres Abwaschen, sondern eine innere Reinigung des Menschen, die sein Innerstes berührt und sich im Tun des Guten (1Petr 2,20) und dem guten Wandel (1Petr 3,16) als Zeugnisse für ein gutes Gewissen zeigt. Wieder-/Neugeburt und Taufe sind nicht einfach deckungsgleich, zugleich aber auch nicht zu trennen18. Die Wieder-/Neugeburt bezeichnet den grundlegenden Wandel im Leben der Christen, der sich im Ritual der Taufe sichtbar und verpflichtend vollzog19. Die Wiedergeburt hat ihren rituellen Ort in der Taufe! Insgesamt tragen zwei Wörter die Soteriologie des 1Petrusbriefes: diL uma˜ß (= „um euretwillen“). In der Erlösung durch das Blut des Lammes ereignete sich die Zeitenwende, die Gott schon vor aller Zeit für und wegen der Glaubenden bestimmt hatte (1Petr 1,20: „Ausersehen zwar vor der Gründung der Welt, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen “). Die Universalität des Geschehens betont 1Petr 4,6 nachdrücklich mit der Verkündigung an und für die Toten, denen ebenso wie die gegenwärtigen und zukünftigen Generationen die Möglichkeit des Glaubens zur Rettung (1Petr 1,5.9f) eingeräumt wird.
mit einem glückseligen und unsterblichen Wesen nicht vereinbaren lassen.“ 17 Plutarch als führender Vertreter einer negativen Theologie bestimmt das Göttliche vornehmlich durch seinen Gegensatz, so dass es der Vergänglichkeit grundsätzlich entzogen ist. Vgl. z. B. Delphi 20.21, wo das Sein Gottes allem Entstehen, Werden, Vermischen und Vergehen entnommen wird und gilt: „Also kommt es dem Unzerstörbaren und Rei-
nen zu, eins und immer unvermischt zu sein“ (Delphi 20). 18 Zu stark differenzieren J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 215–226; R. FELDMEIER, 1Petr (s. o. 11.1), 85f, zwischen Wort/Glaube einerseits und der Taufe andererseits, denn die neue Wirklichkeit gewinnt im Ritual Gestalt. 19 Vgl. zur Taufe im 1Petr bes. F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1. Petrusbrief (s. o. 11.1), 31–54.
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11.1.5 Anthropologie Die Anthropologie ist in die Gesamtausrichtung des 1Petrusbriefes eingebettet: Der glaubende Mensch hat vollständigen Anteil am Heilswerk Gottes in Jesus Christus und ist dennoch der Bedrängnis und den Anfechtungen nicht entnommen. Der Glaube ist rettendes Geschehen (1Petr 1,5a: „die ihr in Gottes Macht behütet werdet durch den Glauben zur Rettung“), zugleich muss er sich aber im Leiden bewähren (1Petr 1,7a: „damit sich die Echtheit eures Glaubens herausstelle“). Der Glaube ist somit mehr als ein Für-wahr-halten, sondern die Ausrichtung des ganzen Menschen auf Gott hin (1 Petr 1,21). Im Glauben kann Gottes Kraft in den Menschen wirksam werden, so dass sie den Versuchungen widerstehen und das unausweichliche Leiden tragen können. Die Versuchung (vg. 1Petr 1,6; 4,12) tritt vor allem als Anfeindung durch die Mitwelt auf und eröffnet die Chance zur Bewährung des Glaubens. Der Glaube ist somit angefochtener Glaube, der sich in der Bedrängnis bewährt und so das Heil empfängt. Dieses Heil gilt der Seele; keine andere ntl. Schrift entwickelt eine vergleichbar differenzierte Seelenlehre in hellenistischer Tradition wie der 1Petrusbrief. Soteriologie und Anthropologie verbinden sich in 1Petr 1,9, wo „als Ziel des Glaubens das Heil/ die Rettung der Seelen“ genannt wird (to` te´loß tv˜ß pı´stewß swtvrı´an yucw˜n). Diese in der Antike hier erstmals erscheinende Wendung bezeugt die große Bedeutung der Seelen-Vorstellung für den 1Petrusbrief. Die yucv´ („Seele“) erscheint als Empfängerin des göttlichen Heilshandeln (1Petr 1,9; 2,25: „aber ihr wurdet jetzt hingewendet zu dem Hirten und Hüter eurer Seelen“; 4,19: „deshalb sollen auch die, die nach Gottes Willen leiden, dem treuen Schöpfer ihre Seelen anbefehlen, durch Tun des Guten“). Die Seele reinigt sich im Gehorsam gegenüber der Wahrheit (1Petr 1,22) und bewährt sich im Kampf mit „den fleischlichen Begierden, die gegen die Seele Krieg führen“ (1Petr 2,11). Ansätze zu einer dualistischen Anthropologie sind unverkennbar, denn mit yucv´ bezeichnet der 1Petrusbrief das Selbst des Menschen, während das ‚Fleisch‘ (sa´rx) der Sphäre des Vergänglichen (1Petr 1,24), des Leidens (1Petr 4,1) und des Todes (1Petr 3,18; 4,6) angehört. Hier zeigt sich eine hellenisierte Anthropologie, die nicht in dicho- oder trichotomischen Kategorien denkt, wohl aber in Aufnahme hellenistischer Begrifflichkeit mit yucv´ das Selbst des Menschen im Gegenüber zu Gott bezeichnet und so die bei den Adressaten zweifellos vorhandene Wertschätzung der Seele aufnimmt20. Von hieraus entwickelte sich im frühen Christentum eine Seelenlehre, die eine große Anschlussfähigkeit gegenüber antiken Vorstellungen hatte. Mit der Leidens- und Versuchungsthematik sind auch die Aussagen über die Sünde im 1Petr verbunden (1Petr 4,1: „Da nun Christus im Fleisch gelitten hat, bewaff20 Vgl. hierzu bes. R. FELDMEIER, 1Petr (s. o. 11.1),
58–60.
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net auch ihr euch mit derselben Gesinnung, denn wer im Fleisch gelitten hat, hat mit der Sünde Schluss gemacht“). Während hier amartı´a („Sünde“) im Singular erscheint und eine gewisse Nähe zum paulinischen Sündenverständnis vorliegt, sind mit den Sünden in 1Petr 2,20.24; 3,18; 4,8 konkrete Verfehlungen gemeint. Die Logik der Sündenlehre des 1Petrusbriefes zeigt sich in 1Petr 2,22.24: Christus hat keine Sünde getan und trug unsere Sünden ans Kreuz, damit wir durch sein Leiden der Sünde absterben und in Gerechtigkeit leben (1Petr 3,18; vgl. Röm 6,8.11.18). Das Gewissen erscheint in 1Petr 2,19; 3,16 in gut hellenistischer Tradition als Instanz der Selbstbeurteilung; als christliches Gewissen weiß es, dass Unrecht erleiden zur christlichen Existenz dazugehört (1Petr 2,19; 3,16). Die in der Taufe vollzogene Reinigung und Wiedergeburt betrifft nicht die äußeren, sondern die innersten Schichten des Menschen: sein Gewissen (1Petr 3,21). Deshalb ist bei Gott der „verborgene Mensch des Herzens“ kostbar (1Petr 3,4).
11.1.6 Ethik Die ethische Konzeption des 1Petr kann nur im Kontext der gesellschaftlich-politischen Situation der Gemeinden erfasst werden21. Ausschlaggebend für die Beurteilung der Empfängersituation ist die Interpretation der in den Leidensparänesen des 1Petr vorausgesetzten Konfliktsituation. Die Bedeutsamkeit des Themas signalisiert bereits der sprachliche Befund: Von 42 pa´scein-Belegen im Neuen Testament finden sich allein 12 im 1Petr! Die Leiden der Christen in Kleinasien umfassen sowohl lokale Repressionen als auch bereits umfassendere Aktionen gegen Christen. In 1Petr 2,21– 25; 3,18; 4,1 werden das Leiden Christi und das Leiden der Christen verbunden: Die Vorbildlichkeit des Leidens Christi prägt die Leidensbereitschaft der Christen. Das Leiden erscheint als konstitutiver Bestandteil christlicher Existenz (1Petr 2,21), es ist die natürliche Folge der Fremdlingschaft22 der Glaubenden in dieser Welt (vgl. 1Petr 1,6f; 5,10). Texte wie 1Petr 2,19 f.23; 3,14.17; 4,15.19 weisen in den Raum der sozialen Diskriminierung. Die Christen legen öffentlich von ihrem Glauben Zeugnis ab, sie unterscheiden sich durch ihr Ethos von der Umwelt (vgl. 1Petr 2,11–18; 3,1–4.7.15f) und rufen dadurch ungerechte Sanktionen hervor. Einige Stellen in 1Petr lassen sich jedoch nicht hinreichend als Reflex sozialer Spannungen erklären. Nach 1Petr 4,15f werden Christen allein wegen ihres Christseins (wß Cristiano´ß) wie Mörder, Diebe oder Übeltäter vor Gericht verurteilt. Ein Läuterungsfeuer bricht über die Christen herein (vgl. 1Petr 4,12), sie sollen dem Teufel widerstehen, der im gesamten Kosmos untergeht und allen Christen dieselben Leiden zufügt (1Petr 5,8f). Hier hat die Verfolgung deutlich eine andere Perspektive und Qualität, denn es geht um mehr als lo21 Zur Ethik des 1Petr vgl. W. SCHRAGE, Ethik (s. o.
3.5), 274–285; F. R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle (s. o. 11.1), passim.
22 Vgl. R. FELDMEIER, Christen als Fremde (s. o. 11.1), 192: „Den Christen wird gerade als den Fremden eine zeichenhafte Existenz zugemutet.“
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kale Repressionen23. Dies weist in die Spätzeit Domitians, der den Herrscherkult besonders in den griechischen und kleinasiatischen Provinzen ausbaute24. Nicht direkte umfassende staatliche Maßnahmen, sondern eine Aktivierung des Kaiserkultes durch lokale Instanzen und damit verbundene Aktionen führten zur Diskriminierung und Verfolgung der Christen, wobei die bereits in der Apg sich andeutenden und später durch Tac, Ann 15,44; Plin, Ep X 96 belegten Vorwürfe gegen die Christen von Bedeutung waren: kulturelle und soziale Abgrenzung, Menschenhass, Staatsfeindlichkeit, Gottlosigkeit, Aberglaube, kultische Unzucht und wirtschaftliche Schädigung. Sichtbare Gestalt gewinnt die Neuheit der christlichen Existenz im Tatzeugnis des Glaubens gegenüber der Welt. Die Christen wandeln in Heiligkeit (1Petr 1,14f; 2,1f) und Bruderliebe (1Petr 1,22). Sie enthalten sich fleischlicher Begierden (1Petr 2,11f), meiden die Laster ihrer Umwelt (1Petr 4,3) und führen ein rechtschaffenes Leben (1Petr 4,1f). Weil dem neuen Sein deutlich ein neues Handeln entspricht, sind die Glaubenden den Schmähungen ihrer Umwelt ausgesetzt (vgl. 1Petr 3,17). Das Anderssein der Christen befremdet die Heiden (1Petr 4,4) und ruft Aggressionen hervor. Die sozialethischen Weisungen des 1Petr zielen in diesem Kontext auf eine Integration der Gemeinden in die Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung ihrer neuen Identität. Insbesondere der sozialethische Pflichtenkatalog 1Petr 2,13–17.18.25; 3,1–6.7 zeigt, dass der 1Petrusbrief die gesellschaftlichen Gegebenheiten voraussetzt, zugleich aber innerhalb der Gemeinden das neue christliche Ethos der Liebe und der Demut in den bestehenden Machtstrukturen durchsetzen will. Die Ermahnungen in 1Petr 2,13–3,7 stehen in der Tradition antiker bzw. urchristlicher Haus- und Ständetafeln25. Gegenüber den typischen Merkmalen des urchristlichen Haustafelschemas (s. o. 10.1.6) weist der 1Petrusbrief Besonderheiten auf26: 1) Neu sind die Anweisung für das Ver23 Vgl. A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad martyrium (s. o. 11.1), 74f; gegen N. BROX, 1Petr (s. o. 11.1), 30: „Der Brief erklärt sich hinreichend aus dieser ‚Alltagssituation‘ der frühen Kirche.“ 24 Die im 1Petr vorausgesetzte Situation weist in zwei zentralen Punkten Parallelen zu den im Briefwechsel zwischen Plinius d. J. (ca. 111–113 n.Chr. kaiserlicher Legat von Bithynien und Pontus) und Kaiser Trajan (98–117 n.Chr.) behandelten Fragen auf (s. o. 9.1): 1) Christen werden allein wegen ihres Christseins (nomen ipsum) verfolgt (1Petr 4,16; Plin, Ep X 96,2); 2) Der Staat fahndet nicht nach Christen (Plin, Ep X 97,2), sie werden offenbar (anonym) angezeigt (Ep X 96,2.5.6). Dies entspricht der im gesamten 1Petr dokumentierten Verleumdungssituation der christlichen Gemeinden (1Petr 2,12; 3,14; 4,4c.12 f.16 u. ö.). Plinius setzt bei seiner Anfrage be-
reits eine (teilweise willkürliche und deshalb reformbedürftige) Prozesspraxis gegen Christen voraus, und er betont ausdrücklich, dass einige Apostaten bereits 20 Jahre zuvor – in den Tagen Domitians – dem Christsein abgesagt hätten (Ep X 96,6). Zudem bezeugen 1Klem 1,1; Offb 2,12f; 13,11–18 Christenverfolgungen für die ausgehende Regierungszeit Domitians (s. u. 13.1). 25 Vgl. zur umfassenden Analyse zuletzt F. R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle (s. o. 11.1), 141–448. 26 Die Bezeichnung ‚Haus- bzw. Ständetafel‘ für 1Petr 2,13–3,7 wird der besonderen Struktur dieses Abschnittes nicht gerecht, denn nicht nur Stände werden angesprochen (vgl. 1Petr 2,13–17), und innerhalb des Haustafel-Schemas fehlt eine Anrede an die Herren, Väter und Kinder. Sachgemäßer erscheint daher die Bezeichnung ‚sozialethischer
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halten von Christen gegenüber staatlichen Ordnungen. 2) Die Situation des nichtchristlichen oıkoß („Haus“) wird miteinbezogen. 3) Die Polarität der Ermahnungen entfällt bis auf eine Ausnahme (Männer – Frauen). 4) Bei den Weisungen an die einzelnen Gruppen des Hauses tritt ein Partizip an die Stelle des Imperativs. Für die Interpretation des Pflichtenkataloges sind zwei Aspekte grundlegend: 1) Die ethische Grundausrichtung, einander mit Liebe und Demut zu begegnen (vgl. 1Petr 1,22; 2,17; 3,8f; 4,8ff; 5,5f), bestimmt mit dem Verb agahopoieı˜n („Gutes tun“) in 1Petr 2,15.20; 3,6 auch die sozialethische Pflichtenlehre. Die Rahmungen in 1 Petr 2,12 und 3,11 unterstreichen diese Gesamtausrichtung; indem dieses Verhalten im Vergeltungsverzicht (1Petr 2,23; 3,9) und der Leidensnachfolge (1Petr 2,21) Gestalt gewinnt, geht es um das nichtverbale Zeugnis gegenüber den Nichtglaubenden (1Petr 2,12; 3,1f). Im Ertragen ungerechten Leidens erweist sich die Nähe der Glaubenden zu Christus. Dies wird in der Sklavenparänese in 1Petr 2 besonders deutlich; die Unterordnung zielt auf die Überwindung des Bösen durch das Gute. 2) Die Anrede der Christen als „Fremde“ und „Gäste“ (1Petr 2,11) stellt alles christliche Leben und Handeln im Alltag unter dieses Vorzeichen. Die Stellung der Christen in den Institutionen ist ohne diese Neubestimmung christlicher Existenz nicht zu verstehen. Die Gemeinde ist aufgefordert, sich am Weg und Beispiel ihres Herren auszurichten, der auch ethisches Vorbild ist27: „Denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, damit ihr seinen Spuren folgt“ (1Petr 2,21). Dies bedeutet gerade nicht Rückzug aus den Institutionen der Gesellschaft, sondern durch ihr Verhalten und ihre guten Werken bringen die Christen die Vorwürfe ihrer Mitwelt zum Verstummen (1Petr 2,12.15).
11.1.7 Ekklesiologie Die ekklesiologische Konzeption ist in die theologische Gesamtausrichtung des 1Petr eingebettet28. Bereits das Briefpräskript 1Petr 1,1 hat hermeneutische Basisfunktion, denn bereits durch die Anrede der Gemeinden als „auserwählte Fremdlinge in der Diaspora“ verdeutlicht der Verfasser sein Verständnis christlicher Existenz und christlicher Gemeinde: Die Welt ist nicht die Heimat der Christen, Geborgenheit und
Pflichtenkatalog‘; G. STRECKER, Literaturgeschichte (s. o. 4), 111, spricht von ‚sozialethischer Pflichtenlehre‘. 27 Die kompositorische Eigenart des 1Petr besteht nach F. R. PROSTMEIER, Handlungsmodelle (s. o. 11.1), 480, „in seiner eigentümlichen Kombination von Weltstrukturen und Weltkompetenz mit dem Christusmuster in Gestalt der ‚tafel‘-artigen Mahnungen.“ Die Pragmatik dieser Mahnungen zielt auf die Be-
reitschaft zum Zeugnis im Alltag der Welt. „Das Christus-Muster ist sowohl bindende Norm als auch die Bedingung der Möglichkeit und das Maß für die Sittlichkeit jener ethischen Inhalte, die mit den Weltstrukturen einfach da sind“ (a. a. O., 512). 28 Vgl. hier bes. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 268– 277; J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 158– 195.
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Ruhe können sie in ihr nicht finden29. Christen leben verstreut in der Fremde, selbst wenn sie sich an dem Ort aufhalten, wo sie geboren wurden und aufwuchsen. Als in der Taufe Wiedergeborene sind sie in der Welt der Welt enthoben. Dieses Selbstverständnis wird ekklesiologisch vor allem mit der Gottesvolk-Vorstellung und der Hausmetaphorik zum Ausdruck gebracht. Mit der Hausmetaphorik nimmt der 1Petrusbrief ein wichtiges Motiv ntl. Ekklesiologie auf, das sich z. B. in 1Kor 3,9–11 findet. Das Bild des Hauses wird in 1Petr 2,5 in charakteristischer Weise eingeführt: „Lasst euch selbst wie lebende Steine als geistliches Haus erbauen zu einer heiligen Priesterschaft, geistliche Opfer darzubringen, angenehm für Gott durch Jesus Christus.“ Die Gemeinde gründet sich nicht selbst wie ein religiöser Verein, sondern der Imp. Passiv (oikodomeı˜shai = sich erbauen lassen) zeigt an, dass sie durch das Wirken Gottes im Heiligen Geist konstituiert wird. Als Begründung dient eine Zitatkombination in 1Petr 2,6–8 (Jes 28,16; Ps 118,22; Jes 8,14), die sich auch sonst im Neuen Testament findet30. Die Gemeinde als ‚Haus‘ erscheint als ein von Gott geschaffener und geheiligter Bereich, in dem die Glaubenden als Priesterschaft ein Leben nach dem Willen Gottes führen und so ‚geistliche Opfer‘ erbringen. Die lutherische Konzeption des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen findet hier einen zentralen exegetischen Beleg. Mit der Hausmetaphorik unmittelbar verbunden ist der bereits in 11.1.6 (Ethik) behandelte sozialethische Pflichtenkatalog 1Petr 2,13- 3,7. Die Gottesvolk-Vorstellung schließt sich in 1Petr 2,9 an: „Ihr aber seid das erwählte Geschlecht, das Königshaus, die Priesterschaft, der heilige Stamm, das Volk des Eigentums (Gottes), damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat.“ Im Hintergrund stehen Ehrentitel für Israel, die auf die Gemeinde übertragen werden (vgl. Ex 19,6; Jes 43,20f). Damit verbinden sich allerdings keine heilsgeschichtlichen Reflexionen, denn weder die Abrahamsverheißung noch die Israelthematik oder das Gesetz (no´moß fehlt!) spielen in den mehrheitlich heidenchristlichen Gemeinden (vgl. 1Petr 1,14.18; 2,25; 4,3) eine Rolle31. Das Verhältnis der Gemeinde zur Völkerwelt ist das Thema, das in 1Petr 2,10 unter Aufnahme von Hos 1,6.9f; 2,1.25) radikalisiert wird: „die ihr einst NichtVolk wart, jetzt aber Volk Gottes seid, die ihr einst kein Erbarmen, jetzt aber Erbarmen erfahren habt.“ Allein Gottes Erwählung begründet den neuen Status der Glaubenden, die nun als Fremde in der Welt ihre neue Gemeinschaft und Heimat in der Gemeinde finden. Als einzige nichtpaulinische Schrift enthält 1Petr 4,7–11 eine Charismen-Ordnung, bei der das Dienen und das Wortzeugnis (1Petr 4,10.11), aber auch die Gast-
29 Vgl. F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1.Petrusbrief (s. o.
31 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 275, der darauf
11.1), 234: „Gemeinde zeigt sich als das Volk, das in der Welt fremd, zuhause im Himmel ist.“ 30 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 272 f.
hinweist, dass Sara und Abraham in 1Petr 3,6 nur als ethische Beispiele in den Blick kommen.
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freundschaft (1Petr 4,9) und die beständige Liebe (1Petr 4,8) von entscheidender Bedeutung sind. Wie in den Pastoralbriefen und der Apostelgeschichte wird eine presbyteriale Verfassung (1Petr 5,1–4) vorausgesetzt. Hauptaufgabe der Presbyter ist es, die Herde Gottes zu weiden, d. h. auch hier verläuft die Verfassungsentwicklung in Richtung Episkopenamt32. In den Händen der Presbyter lag offenbar die Leitung der Ortsgemeinden, in denen zugleich charismatische Dienste wahrgenommen wurden33.
11.1.8. Eschatologie Das zentrale eschatologische Thema des 1Petr ist die Hoffnung im Leiden. Die Hoffnung gründet in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten, denn die Christen sind wiedergeboren „zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1Petr 1,3; vgl. 1,13.21). Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten entnahm die Glaubenden der Nichtigkeit und Vergänglichkeit menschlicher Existenz; Jesus kaufte sie durch sein Todesleiden los (1Petr 1,18f), er hat sie geheilt (1Petr 2,24) und gerettet (1Petr 4,18). Die so begründete Hoffnung erscheint als Lebensprinzip des erneuerten Menschen, so dass die Gemeinde den Nichtglaubenden Auskunft über die in ihr gegenwärtige Hoffnung schuldet (1Petr 3,15: en umı˜n elpı´ß). Weil das unvergängliche Erbe bereits in den Himmeln aufbewahrt ist (1Petr 1,4), sind die Glaubenden in der Lage, die bedrängenden Leidenserfahrungen durch die Freude der Hoffnung zu ertragen. Sie nehmen ihre Verantwortung in den gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen wahr, setzen innerhalb der Gemeinde neue Maßstäbe und wissen zugleich, da sie ihre wahre Heimat nicht in dieser Welt haben und auf den kommenden Jesus Christus zugehen (vgl. die eschatologischen Motive innerhalb der Gerichts- und Lohnmetaphorik 1Petr 1,17; 3,7.9–12; 4,5.17; 5,1.4). Das Leiden erscheint nicht nur als Folge des neuen Verhaltens der Christen in der Gesellschaft, sondern es ist ein konstitutiver Bestandteil christlicher Existenz. Das Leiden geschieht zur Prüfung des Glaubens (1Petr 1,6; 4,12); wer jetzt unschuldig leidet, nimmt das zukünftige Gericht Gottes vorweg. Die dem Evangelium Gottes gegenüber Ungehorsamen wird hingegen in Kürze das Gericht treffen (1Petr 4,16–19). Wie für Christus ist auch für die Christen das Leiden Durchgang zur Herrlichkeit (1Petr 1,11; 4,13; 5,1). Nur noch eine kurze Zeit müssen sie auf die endzeitliche Rettung (vgl. 1Petr 1,5.9.10; 2,2) hoffen, die sie von den zeitlichen Bedrängnissen befreien wird34. Die freudige Hoffnung auf die Parusie (1Petr 4,7.17f; 5,6) bestimmt 32 Vgl. J. ROLOFF, a. a. O., 277. 33 Vgl. hierzu F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1.Petrus-
brief (s. o. 11.1), 110–124.
34 E. SCHWEIZER, Christologie (s. o. 11.1), 372, spricht von einem ‚Achtergewicht auf der Zukunft‘ im 1Petr.
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nun das Leben der Glaubenden. Hineingestellt in die Zeit zwischen Ostern und Parusie sind sie der Welt und ihren Bedrängnissen nicht enthoben, wohl aber befähigt, sie zu bewältigen. Die Eschatologie ist für den 1Petr von grundlegender Bedeutung, denn er interpretiert die Gegenwart aus der Zukunft Gottes, die als Freude im Leiden bereits angebrochen ist.
11.1.9 Theologiegeschichtliche Stellung Die theologiegeschichtliche Bedeutung des 1Petrusbriefes liegt in der theologischen Durchdringung der individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen der Leidensthematik. Der Autor will die bedrängten Christen Kleinasiens ermahnen und stärken (vgl. 1Petr 5,12b) und entwickelt eine zweifache Strategie, um die neue christliche Identität zu stabilisieren und den Gemeinden Kleinasiens ihr Überleben in einer feindlichen Umwelt zu sichern: 1) Grundlegend ist zunächst die Inanspruchnahme frühchristlicher Autoritäten zur Legitimationssicherung35, denn der 1Petr stellt sich explizit in den petrinischen und implizit in den paulinischen Traditionsstrom. Beide Apostel sind bereits Vorbilder für die Standhaftigkeit des Glaubens im Leiden und wirkten missionarisch in Kleinasien. Das Pseudonym Petrus wurde gewählt, weil der Apostel nach Apg 10 der Begründer der Heidenmission war und als einer der ersten Märtyrer im frühen Christentum verehrt wurde36. Seine Leidensbereitschaft prädestinierte ihn zum Verfasser dieses Schreibens. Bewusst tritt Paulus als indirekter Briefschreiber hinzu, denn die angeschriebenen Gemeinden liegen in seinem Missionsgebiet und er ist neben Petrus der Märtyrer des frühen Christentums. Auch der mit der Erwähnung Babylons37 in 1Petr 5,13 erhobene Selbstanspruch des 1Petr, in Rom geschrieben zu sein38, unterstreicht diese Zusammenhänge. Die in Rom beheimateten Petrus-Paulus-Traditionen (vgl. 1Klem 5,4; IgnRöm 4,3) und die Nähe des 1Petr zum 1Klem verstärken das biographisch-theologische Anliegen: Die Gemeinden sollen sich an Petrus und Paulus ausrichten und ihre Leidensbereitschaft als Vorbild übernehmen. Der Paulinismus des 1Petrusbriefes muss als ein Element der pseudepigraphischen Strategie des Schreibens verstanden werden, er ist eine Form von Interpersonalität und
35 Zum historischen Petrus vgl. CHR. BÖTTRICH (s. o. 7); M. HENGEL, Der unterschätzte Petrus (s. o. 7). 36 Vgl. K. M. SCHMIDT, Mahnung und Erinnerung (s. o. 11.1), 295. 37 Babylon erscheint nach 70 n.Chr. als Chiffre für Rom (vgl. Offb 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21); vgl.
ferner Sib 5,143; 5,159; syrBar 11,1; 67,7; 4Esr 3,1.28.31. 38 N. BROX, 1Petr (s. o. 11.1), 42, betont zutreffend, dass ‚Babylon‘ in 1Petr 5,13 nur besage, „daß der 1Petr in Rom geschrieben sein will, nicht schon, daß er tatsächlich dort abgefaßt wurde.“
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damit zugleich von Intertextualität39. Die geographischen Angaben in 1Petr 1,1f, die starke Anlehnung an das paulinische Briefformular und die Inanspruchnahme der Paulusmitarbeiter Silvanus (vgl. 1Thess 1,1; 2Kor 1,19; 2Thess 1,1; Apg 15,22.27.32. 40; 16,19–25.29; 17,4.10.14f; 18,5) und Markus (vgl. Phlm 24; Kol 4,10; 2Tim 4,11; Apg 12,12.25; 13,5.13; 15,37.39) lassen die Hörer/Leser des Briefes unwillkürlich an Paulus denken. Zentrale Begriffe und Vorstellungen der paulinischen Theologie bestimmen auch die Theologie des 1Petr: ca´riß (1Petr 1,2.10.13; 2,19f; 4,10; 5,10.12), dikaiosu´nv (1Petr 2,24; 3,14), apoka´luyiß (1Petr 1,7.13; 4,13), eleuherı´a (1Petr 2,16; vgl. Gal 5,13), kaleı˜n für die Berufung zum Heil (1Petr 1,15; 2,9.21; 3,9; 5,10), Erwählung (1Petr 1,1; 2,9). Die für Paulus zentrale en Cristw˜ -Vorstellung ist nur noch in 1Petr 3,16; 5,10.14 belegt! Schließlich lassen sich zahlreiche Berührungen zwischen dem paränetischen Gut des 1Petr und der paulinischen Paränese aufzeigen, unter denen die großen Übereinstimmungen zwischen 1Petr 2,13–17 und Röm 13,1–7 herausragen.
2) Mit den Märtyrergestalten Petrus und Paulus verbindet sich das zentrale und durchgängige theologische Thema des 1Petr40: Das unschuldige Leiden der Glaubenden in einer feindlichen Umwelt. Die Leiden sind bedrängend, christlicher Identität aber nicht fremd, denn seit ihrer Berufung sind die Glaubenden Fremde in der Welt, d. h. das Leiden erscheint nicht nur als Folge des neuen Verhaltens der Christen in der Gesellschaft, sondern es ist ein konstitutiver Bestandteil christlicher Existenz. Der Gerechte litt für die Ungerechten (1Petr 3,18), so dass die Christen ihr Leiden als Bewährung des Glaubens und innere Verbindung mit dem leidenden Christus verstehen dürfen.
11.2 Der Jakobusbrief: Handeln und Sein M. DIBELIUS, Der Brief des Jakobus, KEK 15, Göttingen 61984 (= 1921); A. MEYER, Das Rätsel des Jakobusbriefes, BZNW 10, Gießen 1930; F. MUSSNER, Der Jakobusbrief, HThK XIII 1, Freiburg 4 1981; R. HOPPE, Der theologische Hintergrund des Jakobusbriefes, fzb 28, Würzburg 1977; W. H. WUELLNER, Der Jakobusbrief im Licht der Rhetorik und Textpragmatik, LingBibl 43 (1978), 5–66; CHR. BURCHARD, Gemeinde in der strohernen Epistel, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 315–328; U. LUCK, Die Theologie des Jakobusbriefes, 39 Vornehmlich wurden diese Fragen bisher unter traditionsgeschichtlichem Aspekt behandelt; vgl. die Auflistung und (kritische) Bewertung der Parallelen bei F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1.Petrusbrief (s. o. 11.1), 212–216.223–228; L. GOPPELT, 1Petr (s. o. 11.1), 48–51; N. BROX, 1Petr (s. o. 11.1), 47–51; A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 10), 252–261; J. HERZER, Petrus oder Paulus? (s. o. 11.1), 22 ff. 40 Vgl. A. REICHERT, Eine urchristliche praeparatio ad
martyrium (s. o. 11.1), 37–39, die darauf hinweist, dass die im 1. Briefteil vorherrschenden usuellen und die im 2. Briefteil vorherrschenden aktuellen Mahnungen inhaltlich miteinander verbunden sind: a) Leiden als Erprobung (vgl. 1Petr 1,6f mit 4,12); b) Jesu Leiden und das Leiden der Christen (vgl. 1Petr 2,18ff; 2,21; 4,1 mit 4,13); c) das Leiden geht auf den Willen Gottes zurück (vgl. 1Petr 1,6; 3,17 mit 4,19); d) Leiden und zukünftige Herrlichkeit (vgl. 1Petr 1,7 mit 4,13; 5,4).
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 579
ZThK 81 (1984), 1–30; W. POPKES, Adressaten, Situation und Form des Jakobusbriefes, SBS 125/ 126, Stuttgart 1986; W. PRATSCHER, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987; F. SCHNIDER, Der Jakobusbrief, RNT, Regensburg 1987; H. PAULSEN, Art. Jakobusbrief, TRE 17, Berlin 1987, 488–495; M. KARRER, Christus der Herr und die Welt als Stätte der Prüfung, KuD 35 (1989), 166–188; M. LAUTENSCHLAGER, Der Gegenstand des Glaubens im Jakobusbrief, ZThK 87 (1990), 163–184; H. FRANKEMÖLLE, Der Brief des Jakobus, ÖTK 17/1.2, Gütersloh 1994; M. TSUJI, Glaube zwischen Vollkommenheit und Verweltlichung, WUNT 2.93, Tübingen 1997; M. KONRADT, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief, SUNT 22, Göttingen 1998; R. BAUCKHAM, Wisdom of James? Disciple of Jesus the Sage, London/New York 1999; CHR. BURCHARD, Der Jakobusbrief, HNT 15/1, Tübingen 2000; W. POPKES, Der Brief des Jakobus, ThHK 14, Leipzig 2001; F. AVEMARIE, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefes, ZThK 98 (2001), 282–309; M. HENGEL, Jakobus der Herrenbruder – der erste „Papst“?, in: ders., Paulus und Jakobus, WUNT 141, Tübingen 2002, 549–582; DERS., Der Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: ders., Paulus und Jakobus, 510–548; P. V. GEMÜNDEN/M. KONRADT/G. THEISSEN, Der Jakobusbrief, BVB 3, Münster 2003; G. GARLEFF, Urchristliche Identität in Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief, BVB 9, Münster 2004, 222–321.
Der Jakobusbrief ist eine frühchristliche pseudepigraphische Weisheitsschrift, die den Anspruch erhebt, vom Herrenbruder Jakobus verfasst zu sein41 und das Ziel hat, in nachpaulinischer Zeit zwischen 80–100 n.Chr. gefährdete judenchristliche Identität neu zu definieren.
11.2.1 Theologie Der Jakobusbrief ist von einer theozentrisch-weisheitlichen Grundkonzeption geprägt42. Ausgangspunkt und Zentrum des jakobeischen Denkens ist die schöpfungstheologische Vorstellung der Weisheit ‚von oben‘ (vgl. Jak 1,5.17; 3,15.17)43, die dem Christen in der Taufe als Neuschöpfung im rettenden Wort der Wahrheit geschenkt wird (Jak 1,18.21)44 und ihn in die Lage versetzt, den im Gesetz offenbar gewordenen Willen Gottes zu vollbringen45. Die ‚von oben‘ kommende Weisheit er-
41 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 421–436; Forschungsüberblicke bieten M. KONRADT, Theologie in der „strohernen Epistel“, VuF 44 (1999), 54–78; K.-W. NIEBUHR, „A New Perspective on James“? Neuere Forschungen zum Jakobusbrief, ThLZ 129 (2004), 1019–1044. 42 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 16; DERS., Das semantische Netz des Jakobusbriefes, BZ 34 (1990), 161–197. 43 Vgl. hierzu R. HOPPE, Der Jakobusbrief als briefliches Zeugnis hellenistisch und hellenistisch-jüdisch geprägter Religiosität, in: J. Beutler (Hg.), Der neue
Mensch in Christus, QD 190, Freiburg 2001, 164– 189. 44 Für einen Taufbezug in Jak 1,18.21 sprechen vor allem die Neuschöpfungsmotive; vgl. F. MUSSNER, Jak (s. o. 11.2), 95 f. 45 R. HOPPE, Hintergrund (s. o. 11.2), 147, beschreibt die theologische Konzeption des Jak folgendermaßen: „Im Glauben teilt sich die verborgene Weisheit Gottes mit, die dem Menschen eschatologische Verheißung zuspricht, im Glauben muß der Mensch die Weisheit, welche er empfangen hat, aufgreifen und je neu verwirklichen.“
580 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
neuert als Gabe Gottes den Menschen und befähigt ihn erst, seinen Glauben zur Tat zu bringen und so vor Gott gerecht zu werden. Auf einer theozentrischen Basis kommt es Jak darauf an, seinen Gemeinden Weisungen für ein gelingendes Leben zu geben; für eine ganzheitliche Existenz, die Spannungen und Widersprüche im Denken und Handeln überwindet. Mit dieser Grundkonzeption verbinden sich zahlreiche traditionelle jüdische und hellenistische Gottesprädikate. Gott erscheint als der eine Gott (Jak 2,19: „Du glaubst, dass Gott ein einziger ist“; vgl. Jak 4,12), der als Schöpfer (Jak 3,9) unwandelbar und „Vater der Lichter“ ist; „bei dem weder Veränderung ist noch eine zeitweise Verfinsterung“ (Jak 1,17). Die hellenistische Vorstellung der Unwandelbarkeit Gottes verbindet sich mit der ebenfalls in der griechischen Tradition46 beheimateten Lehre von der Affektlosigkeit Gottes: „Denn Gott ist unangefochten von Übeln, er seinerseits ficht niemanden an“ (Jak 1,13b). Gott erscheint als der Herr des Lebens, dem sich die Glaubenden in ihren Plänen unterwerfen dürfen (Jak 4,7.13–15). Damit verbunden ist die Absage an jede Art der Verfallenheit an die Welt (Jak 4,4: „Ihr Treulosen, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft Gottes ist? Wer ein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind Gottes dar“). Im traditionell atl.-jüdischen Gottesbild verankert sind die Erwähnungen Gottes als Gesetzgeber und Richter (Jak 4,12: „Einer ist Gesetzgeber und Richter, der retten und verderben kann“). Die Gerichtsthematik erscheint auch in Jak 2,13 und verbindet sich in Jak 2,5; 5,1–6 mit Gottes Parteinahme für die Armen und seine Kritik am Reichtum. Insgesamt dominieren im Jakobusbrief Aussagen über den Heilswillen Gottes : Er zeigt sich als der Gott, der allen seine Weisheit gibt und nicht zürnt (Jak 1,5); er erschafft durch sein Wort der Wahrheit eine neue Wirklichkeit (Jak 1,18) und liebt die soziale Gerechtigkeit (Jak 1,27); er lässt seinen Geist in uns wohnen (Jak 4,5) und gibt den Demütigen seine Gnade (Jak 4,6.10); an Gott kann man sich im Bittgebet wenden (Jak 1,6), er hört den Klageruf der Notleidenden (Jak 5,4) und schenkt allen den Kranz des Lebens, die ihn lieben, sein Wort beachten und sich im Leben bewähren (Jak 1,12). Insgesamt kann bei Jakobus „von einer im Wort zentrierten Theologie“47 gesprochen werden, denn mit dem ‚Wort der Wahrheit‘ (Jak 1,18) wird den Glaubenden eine Kraft gestiftet, die sie zur Bewährung des Glaubens in der Tat befähigt.
46 Vgl. Plat, Resp 380b; Epikur nach Diog L 10,139; Plut, Mor 1102d. 47 M. KONRADT, „Geboren durch das Wort der Wahrheit“ – „gerichtet durch das Gesetz der Freiheit“. Das
Wort als Zentrum der theologischen Konzeption des Jakobusbriefes, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/ G. Theissen, Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), (1–15) 1.
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 581
11.2.2 Christologie Auffallend ist zunächst, dass im Jak der Name Jesus Christus nur zweimal erwähnt wird (Jak 1,1; 2,1). Auch sonst sind christologische Themen oder Prädikationen spärlich, Stellung und Inhalt dieser Texte verleihen aber der Christologie ein besonderes Gewicht. Die Wendung „Jakobus, Gottes und des Herrn Jesu Christi Knecht“ in Jak 1,1 fungiert als Leseanleitung für den gesamten Brief, beinhaltet hoheitliche Christologie und begründet eine durchgängige Zuordnung von Christologie und Theologie. Gott und Jesus Christus gehören gerade bei der Wahrung ihrer Differenz zusammen!48 Auch in Jak 2,1 werden Jesus zahlreiche Prädikate zugeschrieben, er erscheint als ‚Herr‘ und als ‚Gesalbter der Herrlichkeit‘. Für den Jakobusbrief wurde Jesus in die Herrlichkeit Gottes mit hineingenommen, „er ist der Herr, der in der Herrlichkeit Gottes den Glauben der Christen und ihr Wirken bestimmt.“49 Die außergewöhnlichen Prädikationen in Jak 1,1; 2,1 und die Erwähnungen des ku´rioß („Herrn“) Jesus in Jak 5,7.8.15 unterstreichen die grundlegende Bedeutung der Christologie für die Theologie des Jakobusbriefes50. Der ku´rioß-Begriff kann sowohl auf Gott (Jak 1,7; 3,9; 4,10.15; 5,4.10.11) als auch auf Jesus (Jak 1,1; 2,1; 5,7.8.14.15) bezogen werden, was auf eine bewusste interne Vernetzung von Theologie und Christologie hinweist. Hinzu kommen die inneren Verbindungen zwischen der Christologie und dem Glaubensbegriff bzw. der Parusie. Der Glaubensbegriff ist durch Jak 2,1 („Glauben an unseren Herrn Jesus Christus“) und 5,15 („und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten“)51 christologisch gefüllt. Im Zentrum der Parusieaussagen in Jak 5,7–11 steht die Erwartung des kommenden Herrn Jesus Christus. Schließlich dokumentiert auch die Rezeption von Jesustraditionen ein eminent christologisches Interesse, denn durch den vorliegenden Briefkontext werden diese vornehmlich am irdischen Jesus orientierten Überlieferungen in den Interpretationshorizont des erhöhten (Jak 1,1; 2,1) und wiederkommenden (Jak 5,7f) Herrn gestellt. Als Gemeinsamkeiten zwischen Jak und der synoptischen Jesusüberlieferung52, speziell der Bergpredigt sind zu nennen: Jak 1,2–4/Mt 5,48par (Vollkommenheit), Jak 1,5/Mt 7,7par (Bitte um Weisheit), Jak 1,22f/Mt 7,24–26par (Täter und nicht nur Hö48 Sollte sich heou˜ in Jak 1,1 auf Jesus beziehen, so läge ein bemerkenswertes theologisches Bekenntnis vor (so z. B. M. KARRER, Christus der Herr [s. o. 11.2], 169); dagegen spricht allerdings der strenge Monotheismus des Jak (vgl. 2,19; 4,12!), zur Auslegung vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 121–132. 49 H. FRANKEMÖLLE, a. a. O., 173. 50 Während in der älteren Forschung (M. Dibelius) die Bedeutung der Christologie bestritten oder minimiert wurde, nimmt die neuere Entwicklung eine
eigenständige Christologie im Jak wahr und würdigt sie in ihrer Bedeutung; vgl. in diesem Sinn CHR. BURCHARD, M. KARRER und H. FRANKEMÖLLE. 51 Jak 5,7 f.14 weisen darauf hin, dass mit ku´rioß auch in Jak 5,15 Jesus Christus gemeint ist; vgl. F. MUSSNER, Jak (s. o. 11.2), 221. 52 Vgl. zur Analyse der Texte R. HOPPE, Hintergrund (s. o. 11.2), 123–145; W. POPKES, Adressaten, Situation und Form (s. o. 11.2), 156–176.
582 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
rer des Wortes), Jak 2,5/Mt 5,3par (das Reich Gottes für die Armen [im Geist]), Jak 2,13/Mt 5,7 (der Lohn der Barmherzigkeit), Jak 3,18/Mt 5,9 (die Verheißung an die Friedfertigen), Jak 4,13–15/Mt 6,34 (Verzicht auf das Planen), Jak 5,1/Lk 6,24 (Wehe den Reichen), Jak 5,2/Mt 6,20par (die Motten fressen den Reichtum), Jak 5,10/Mt 5,12par (die Propheten als Vorbilder im Leiden), Jak 5,12/Mt 5,33–37 (das Verbot des Schwörens). Die Übereinstimmungen zwischen Jak und der Bergpredigt erstrecken sich auf die Reichtumsproblematik, die rechte Frömmigkeit, die Barmherzigkeit, das rechte Verständnis des Gesetzes und das Beachten des Willens Gottes. Sie dürften weder durch eine literarische Abhängigkeit noch durch die Behauptung zu erklären sein, der Herrenbruder Jakobus habe die Jesustraditionen gekannt und wiedergegeben53. Vielmehr sind Jak und die Bergpredigt in einen gemeinsamen Traditionsstrom eingebettet, der sich einem stark weisheitlich geprägten Judenchristentum verdankt. Zugleich verbindet Jak mit der Aufnahme dieser Traditionen zwei Ziele54: Er stellt seine Theologie in einen breiten Strom frühchristlicher Überlieferung und gibt ihr mit den gewollten Anklängen an Jesus zusätzliche Autorität. Anders als Matthäus weist er seine Traditionen aber nicht als Jesusüberlieferungen aus (selbst beim Schwurverbot nicht!); ein deutlicher Hinweis auf den pseudepigraphischen Charakter des Jakobusbriefes, denn der Verfasser verfügt als frühchristlicher Lehrer (Jak 3,1) nicht über persönliche Beziehungen zu Jesus55.
Der Glaube an den erhöhten und wiederkommenden Jesus Christus bestimmt die Christologie des Jak, die keineswegs nur ein Nebenthema ist. Zugleich ist aber nicht zu verkennen, dass Jak die Eigenständigkeit der Person Jesu Christi minimiert und sie in der Herrlichkeit Gottes aufgehen lässt (Jak 2,1), um so in der Soteriologie mögliche Spannungen mit dem Gesetz zu vermeiden. Zudem lässt der Jak naheliegende christologische Realisierungsmöglichkeiten aus, indem er Jesusüberlieferungen nicht als solche kennzeichnet und Hiob (und nicht seinen ‚Bruder‘) als Vorbild des Leidens hervorhebt (Jak 5,11)56. Deshalb ist es angemessen, von einer Christologie im Jakobusbrief, nicht aber von der Christologie des Jakobusbriefes zu sprechen.
11.2.3 Pneumatologie Eine ausgeführte Pneumatologie findet sich im Jakobusbrief nicht57. In Jak 4,5 wird in Aufnahme von Gen 2,7 Gottes eifersüchtiges Wachen über den Geist betont, „den 53 So M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 547, der
die im Jakobusbrief aufgenommenen Jesustraditionen einem frühen Überlieferungsstadium zuordnet. 54 Vgl. W. POPKES, Traditionen und Traditionsbrüche im Jakobusbrief, in: J. Schlosser (Hg.), The Catholic Epistles and the Tradition, BEThL 176, Leuven 2004, (143–170) 167. 55 Gegen K.-W. NIEBUHR, „A New Perspective on
James“? (s. o. 11.2), 1039f, der unter der Überschrift: „Jakobus und sein ‚großer Bruder‘“ den Jak als ein Zeugnis über Jesus verstanden wissen will, „das herrührt von einem seiner ‚nächsten Verwandten‘.“ 56 In Jak 5,11 bezieht sich ku´rioß durchgehend auf Gott; vgl. W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 330 f. 57 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 133: „Vom Geist als endzeitlicher Heilsgabe schweigt Jak.“
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 583
er in uns wohnen ließ“. Deshalb dürfen und können sich Christen nicht mit der Welt einlassen58. Eine anthropologische Dimension weist pneu˜ma in Jak 2,26 auf: „Denn wie der Körper ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Taten tot.“ Jak nimmt mit diesem Vergleich ein gemeinantikes Motiv auf59 und wendet es auf sein Argumentationsziel an: Glaube und Taten ergänzen sich natürlicher- und notwendigerweise.
11.2.4 Soteriologie Soteriologie, Anthropologie und Ethik sind im Jak aufs engste miteinander verwoben. Das soteriologische Grundkonzept ist nicht christologisch, sondern theozentrisch-weisheitlich geprägt: Die von Gott verliehene ‚Weisheit von oben‘ (Jak 3,15.17) ermöglicht es den Glaubenden, das ‚vollkommene Gesetz der Freiheit‘ (Jak 1,25; 2,12) als Einheit von Glauben und Werken/Taten zu befolgen60. Das Gesetz ist für Jakobus im umfassenden Sinn ein Gottesgeschenk, aber nicht das Gesetz rettet61, sondern Gottes Handeln: „Mit Willen gebar er uns durch das Wort der Wahrheit, damit wir gleichermaßen die Erstlingsgabe seiner Geschöpfe seien“ (Jak 1,18; vgl. 1,21: „nehmt an in Sanftmut das eingepflanzte Wort, das eure Seelen zu retten vermag“). Dieses ‚Wort der Wahrheit‘ ist identisch mit dem ‚Gesetz der Freiheit‘ (Jak 1,25)62, das durchgängig mit dem Aspekt des Tuns bzw. Nichttuns (Jak 2,8–12; 4,11f) verbunden ist63. Das Handeln Gottes wird so von Jakobus als ein verpflichtendes Geschehen verstanden, das den Menschen in seiner Gesamtheit fordert. Deshalb kommt dem mit dem Gesetz verbundenen Handeln, dem Werk/der Tat (ergon in Jak 1,4.25) bzw. den Werken/den Taten (erga in Jak 2,14.17 f.20 f.24–26; 3,3) im soteriologischen Geschehen anders als bei Paulus (vgl. Röm 3,21) bereits in der positiven Grundlegung eine entscheidende und bleibende Bedeutung zu. Die Gespaltenen (vgl. dı´yucoß in Jak 1,8; 4,8), Zweifler (Jak 1,6.8), Wankelmütigen (Jak 4,8), Hochmütigen (Jak 2,1ff; 4,6), die von den Begierden Getriebenen (Jak 1,14) und die Reichen (Jak 1,11; 5,1–6) werden daher aufgerufen und motiviert, die Einheit ihrer christlichen Existenz wiederherzustellen. Die eigenen Taten holen den Menschen im Gericht ein, so dass er sich ihrer Folgen stets bewusst sein muss. Das Gericht erfolgt
58 Vgl. F. HAHN, Theologie I, 402. 59 Vgl. z. B. Plutarch, Mor 137: „Zu Recht fordert
Platon, weder den Körper ohne die Seele noch die Seele ohne den Körper in Bewegung zu setzen, sondern beide wie ein Zweiergespann in guter Balance zu halten“; weitere Parallelen bei CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 132 f. 60 Die Doppelübersetzung von erga mit ‚Werke/Taten‘ versucht die mögliche Mehrschichtigkeit des
Begriffes zu erfassen; die neueren Kommentare übersetzen in Jak 2,14–26 unterschiedlich (Frankemölle: Werke; Burchard und Popkes: Taten). 61 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 90. 62 Vgl. CHR. BURCHARD, a. a. O., 88. 63 Treffend M. KONRADT, „Geboren durch das Wort der Wahrheit“ – „gerichtet durch das Gesetz der Freiheit“ (s. o. 11.2.1), 12: „Werkloser Glaube hingegen ist soteriologisch nutzlos.“
584 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
nach Jak 2,8–13 ausdrücklich nach dem Kriterium der Beachtung des Gesetzes (Jak 2,12f: „So redet und handelt als solche, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn erbarmungsloses Gericht trifft den, der nicht Erbarmen übte. Erbarmen triumphiert über das Gericht“). Jakobus meint mit dem ‚Gesetz der Freiheit‘ vor allem das ‚königliche Gesetz‘, nämlich das Nächstenliebegebot (Lev 19,18 in Jak 2,8)64, das aber unmissverständlich die Glaubenden dazu verpflichtet, das „ganze Gesetz“ (oÇlon to`n no´mon) zu halten65: „Denn wer das ganze Gesetz hält, aber sich in einem verfehlt, ist aller schuldig geworden“ (Jak 2,10). Die prinzipielle Gleichwertigkeit und soteriologische Relevanz aller Gebote wird durch die Ausrichtung am Liebesgebot nicht aufgehoben. Gerade weil das im Liebesgebot konzentrierte ganze Gesetz den Maßstab des christlichen Handelns bildet, erfolgt auch das Gericht nach dem Maßstab des ganzen Gesetzes (vgl. Jak 2,12f; 3,1b; 4,12; 5,1.9). Retten im Gericht kann freilich nicht das Gesetz, sondern allein Gott als Gesetzgeber und Richter (Jak 4,12a). Dieses soteriologische Konzept ist Ausdruck einer bewussten judenchristlichen Identität, die Gottes Barmherzigkeit und die Barmherzigkeit des Menschen gegenüber dem Nächsten unmittelbar verbindet und nach dem Kriterium des Handelns gemäß dem Gesetz beurteilt66. Der entscheidende Unterschied zu Paulus liegt im Sündenbegriff (s. u. 11.2.5), denn Sünde ist bei Jakobus ein Tatbegriff und nicht eine vorgängige Unheilsmacht: „Wenn ihr aber (eine Person) bevorzugt, bewirkt ihr Sünde (amartı´an erga´zeshe!) und werdet vom Gesetz als Übertreter überführt“ (Jak 2,9; vgl. 4,17). Das Gesetz ist nicht der Sünde hilflos ausgeliefert, sondern ihm wohnt eine bleibende überwindende und begründende positive Energie inne, so dass es in der Grundlegung des Heils mit verankert werden kann. Freiheit gibt es für Jakobus nicht als Freiheit vom Gesetz, sondern nur als Freiheit im Gesetz.
11.2.5 Anthropologie Der Jakobusbrief entfaltet sein Denken vornehmlich als Anthropologie und Ethik, um so gefährdete judenchristliche Identität zu stärken67. Jakobus wendet sich an 64 Vgl. W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 180 f.
nem Fehlschluß erlegen.“
65 Um den – unberechtigten – Vorwurf des rigoro-
66 Der Gedanke der völligen Ausrichtung am Wil-
sen Nomismus abzuwehren, schwächen neuere Kommentare die positive Bedeutung von 2,10 für die Argumentation ab; CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 106, formuliert: „Also nicht: der übertritt alle Gebote . . ., sondern: der verneint die Würde aller Gebote, auch wenn er sie im übrigen hält“; W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 177, dreht die Verantwortung um: „Nicht Jak vertritt einen solchen (sc.: rigorosen Nomismus; U.S.), sondern die Adressaten sind ei-
len Gottes ist auch im Hellenismus weit verbreitet: „Der sittlich hochstehende Mann denkt deswegen immer daran, was er ist, woher er entsprungen, von wem er geschaffen ist, und ist nur darauf bedacht, dass er seinen Platz in völliger Unterwerfung und Gehorsam gegen Gott ausfülle“ (Epiktet, Diss III 24,95). 67 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 16: „Der Jakobusbrief ist ein theozentrisches Schreiben mit ei-
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 585
den aus sich selbst, von innen gefährdeten Menschen; dem entspricht eine Anthropologie, die auf die Einheit des Menschen, seine Vollkommenheit, zielt (vgl. Jak 1,2– 4; 3,2.13–18)68. Die Gespaltenheit des Menschen (vgl. Jak 1,8; 4,8) soll überwunden werden. Jakobus will den heilen, in Wort und Tat mit sich selbst übereinstimmenden Menschen. Die Zerrissenheit des Menschen äußert sich in seinen Zweifeln (Jak 1,6), im Auseinanderklaffen von Wort und Tat (Jak 1,22–27), im Missbrauch der Zunge (Jak 3,3–12), in der Liebe zur Welt (Jak 4,4ff), in der Missachtung des Willens Gottes (Jak 2,1–13; 5,1ff), im ständigen Streit (Jak 4,1–3) und im Vermischen von Ja und Nein (Jak 5,12). Diese innere Gespaltenheit des Menschen geht auf die Begierde zurück (vgl. Jak 1,14f; 4,1f), die die Sünde hervorbringt und den Menschen in den Tod führt (Jak 1,15; vgl. Röm 7,5.7–10). Die äußeren Konflikte sind somit Folge eines inneren Konfliktes 69. Viele Gemeindeglieder streben nach sozialem Prestige, und sie werden im Umgang mit den Schwestern und Brüdern rücksichtslos. Nicht die Weisheit ‚von oben‘, sondern die ‚irdische‘ Weisheit bestimmt den zerrissenen Menschen (vgl. Jak 3,15). Scharf kritisiert der Jak eine an der Welt orientierte Autonomie, die sich besonders in den eigenmächtigen Plänen der Fernhändler (Jak 4,13–17) und dem unsozialen Verhalten der Großgrundbesitzer zeigt (Jak 5,1–6). Statt aus falscher Selbstsicherheit heraus Gottes Weltregiment zu ignorieren, sollten sie sagen: „Wenn der Herr will, werden wir leben und dieses oder jenes tun“ (Jak 4,15). Der Christ kann sich nicht gleichzeitig an Gott und der Welt orientieren; Eigensucht und Weltliebe stehen dem Willen Gottes gegenüber. Diese Gespaltenheit überwindet der Mensch nach Jakobus nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch die heteronomen Gaben Gottes. Der Glaube entsteht durch einen Schöpfungsakt Gottes (Jak 1,6.17f; 2,5; 5,15)70 und gewinnt Gestalt in einer frommen und festen Haltung, die entschieden gegen die Begierden kämpft und sich im Tun vollzieht und vollendet. Sowohl der Glaube als auch die Weisheit sind an den Werken aufweisbar, die ihrerseits am ‚königlichen Gesetz‘ (Jak 2,8) und am ‚vollkommenen Gesetz der Freiheit‘ (Jak 1,25; 2,12) orientiert sind. Weil für Jakobus das Liebesgebot das Ziel und das Zentrum des Gesetzes ist (vgl. Jak 2,8), besteht zwischen der geschenkten Weisheit, dem Glauben und den Werken/Taten eine organische Einheit71. Allein die Weisheit von oben und ner im Neuen Testament singulären, sehr durchdachten theologischen Konzeption. Auf der Basis der Theozentrik liegt Jakobus wie den jüdischen Weisheitslehrern alles daran, den Lesern Weisungen für ein gelingendes Leben zu geben – in und trotz aller Ambivalenzen und Konflikte mit sich selbst und den Mitchristen.“ 68 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Gespalten oder ganz. Zur Pragmatik der theologischen Anthropologie des Jakobusbriefes, in: H. U. v. Brachel/N. Mette (Hg.), Kommunikation und Solidarität, Freiburg/Münster 1985, 160–178; DERS., Jak I (s. o. 11.2), 305–320;
W. POPKES, Adressaten, Situation und Form (s. o. 11.2), 191 ff. 69 Vgl. P. V. GEMÜNDEN, Einsicht, Affekt und Verhalten. Überlegungen zur Anthropologie des Jakobusbriefes, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theissen, Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), 83–96. 70 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 56. 71 Treffend CHR. BURCHARD, ebd.: „Glaube muß begleitet sein von Taten, wie das Gesetz der Freiheit sie fordert und fördert. Sie entspringen nicht aus dem Glauben selbst, wenngleich er an ihnen mitwirkt; wohl aber machen Glaube und Taten zusammen
586 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
damit der Glaube ermöglicht die Vollkommenheit durch die Erfüllung des Gesetzes im Liebesgebot und so die Einheit von Glauben und Werken/Taten in einer theonomen Existenz72. Glaube und Werke/Taten
Glaube und Gesetz sind im Jakobusbrief ebenso wenig ein Gegensatz wie Glaube und Werke/Taten, vielmehr erscheinen sie als zwei Seiten derselben Medaille. Gottesliebe, Nächstenliebe und das Halten des Gesetzes bilden eine vollkommene Einheit. Der im Gesetz geoffenbarte ganzheitliche Wille Gottes überwindet das unvollkommene, parteiliche und gespaltene Tun der Christen73. Die Unterschiede zwischen Jakobus und Paulus sind offenkundig : Während für Paulus die Sünde eine überindividuelle Macht darstellt, die sich des Gesetzes bedient und den Menschen betrügt (vgl. Röm 7,7ff), kann die Sünde bei Jakobus durch das Halten des ganzen Gesetzes überwunden werden (Jak 2,9; 4,17; 5,15b.16.20), d. h. Sünde ist im Jakobusbrief ein Tatbegriff, ein Handeln gegen Gottes Gesetz74. Folglich existiert für ihn auch kein Gegensatz zwischen Glauben und Werken/Taten, den er aber bei seinem Gesprächspartner voraussetzt. Ist dieser Gesprächspartner Paulus? Da sich der Gegensatz ‚pı´stiß – erga (no´mou)‘ vor Paulus nirgendwo nachweisen lässt75, liegt ein Bezug auf Paulus im Jakobusbrief nahe76. Zudem scheint sich Jak 2,10 auf Gal 5,3 zu beziehen (oÇlon to`n no´mon im Akk. nur hier; ansonsten Mt 22,40), und die Anspielung auf Röm 3,28 in Jak 2,24 ist offensichtlich, was sich in den sprachlich/sachlichen Übereinstimmungen und dem polemisch-rhetorischen mo´non zeigt77. Schließlich liegen Berührungen in der Abrahamsthematik vor (vgl. Röm 4,2/Jak 2,21), und das Zitat aus Gen 15,6 in Röm 4,3/ Jak 2,23 weicht übereinstimmend in zwei Punkten vom LXX-Text ab: LAbraa´m statt LAbra´m, Hinzufügung von de´ hinter epı´steusen78. Paulus wird von der Polemik in Jak 2,14–26 allerdings nicht getroffen, denn für ihn gibt es keinen Glauben ohne Werke (vgl. nur Röm 1,5; 13,8–10; Gal 5,6). Jak könnte die paulinische Position bewusst verzeichnet oder missverstanden haben. Vielleicht kannte er den Gal/Röm nicht,
den ganzen, lebendigen Christenmenschen aus.“ 72 Vgl. U. LUCK, Theologie des Jakobusbriefes (s. o. 11.2), 10–15. 73 Zum Gesetz im Jak vgl. bes. H. FRANKEMÖLLE, Gesetz im Jakobusbrief, in: Das Gesetz im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge, QD 108, Freiburg 1986, 175–221. 74 Vgl. CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 74. 75 Vgl. M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 526; F. AVEMARIE, Werke des Gesetzes (s. o. 11.2), 291. 76 Vgl. W. POPKES, Traditionen und Traditionsbrüche (s. o. 11.2.2), 161: „Entscheidend zugunsten der Annahme, dass Jakobus von Paulus herkommende
(nicht unbedingt genuin paulinische) Traditionen aufgreift, ist m.E. der Umstand, dass Jakobus antithetisch auf Positionen reagiert, die in dieser Gestalt im frühchristlichen Schrifttum nur bei Paulus bezeugt sind.“ 77 Vgl. M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 527 A 46: „Daß sich Jak 2,24 gegen einen paulinischen Kampfsatz wie Röm 3,28 wendet, sollte nicht mehr bestritten werden.“ 78 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 10), 244–251; G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o. 6), 197–201.
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 587
sondern nur uns unbekannte mündliche und/oder literarische Zwischenstufen. Möglicherweise argumentiert er gegen Christen, die einen Glauben ohne Werke/Taten praktizierten und sich dabei auf Paulus beriefen. 2Thess 2,2 und 2Tim 2,18 bezeugen eine eschatologische Hochstimmung in den nachpaulinischen Missionsgemeinden Kleinasiens und Griechenlands, die möglicherweise zu einer Vernachlässigung der Werke/Taten führte und der von Jakobus bekämpften Position entspricht. Bei einer solchen Annahme muss man zudem Jakobus nicht ein völliges Unverständnis der paulinischen Theologie oder eine bösartige Verzeichnung des paulinischen Denkens unterstellen. Ein möglicher Bezug auf Paulus bzw. paulinische Theologie wird in der Forschung nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Nach einer Forschungsrichtung hat die Theologie des Jakobus ihre eigenen Denkvoraussetzungen und entwickelte sich nicht im Gegensatz zu Paulus. In dieser Weise interpretieren den Jakobusbrief u. a. H. Windisch, E. Lohse, U. Luck, H. Frankemölle, R. Heiligenthal, Chr. Burchard79 und M. Konradt80. H. Frankemölle meint sogar: „Im ganzen Brief entwickelt Jakobus keine Gesetzes-Lehre, nirgendwo wird das Gesetz im eigentlichen Sinne thematisiert; wo es auftaucht, bildet es nicht den Hauptgedanken, steht vielmehr in Funktion zu diesem."81 Demgegenüber wird vielfach an einer antipaulinischen Frontstellung des Jak festgehalten. Nach A. Lindemann wollte der Verfasser des Jakobusbriefes „die paulinische Theologie treffen und widerlegen, und zwar mit ihren eigenen Mitteln.“82 M. Hengel bezeichnet den Jakobusbrief „als ein Meisterstück frühchristlicher Polemik“83, Polemik gegen Paulus. Nach F. Avemarie setzt sich der Jakobusbrief intensiv mit der paulinischen Rechtfertigungslehre auseinander und attackiert gerade das genuin paulinische Verständnis von erga (no´mou)84. Nicht gegen Paulus direkt, sondern gegen Hyperpauliner wendet sich der Jakobusbrief nach Meinung von M. Dibelius, W. G. Kümmel, Ph. Vielhauer, W. Schrage, F. Schnider und M. Tsuji85. Zwei Extreme sind bei der Frage des Verhältnisses Jakobus – Paulus zu vermeiden: Weder lässt sich der Brief insgesamt als antipaulinische Polemik verstehen, noch kann er 79 Vgl. H. WINDISCH, Der Jakobusbrief, HNT 15, Tü-
81 H. FRANKEMÖLLE, Gesetz, 202.
bingen 31951, 20f; E. LOHSE, Glaube und Werke, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, Göttingen 1973, (285–306) 290f; U. LUCK, Theologie des Jakobusbriefes (s. o. 11.2), 27f; H. FRANKEMÖLLE, Gesetz, 196ff; R. HEILIGENTHAL, Werke als Zeichen, WUNT 2.9, Tübingen 1983, 49–52; CHR. BURCHARD, Jak (s. o. 11.2), 125 f. 80 Vgl. M. KONRADT, Der Jakobusbrief im frühchristlichen Kontext, in: J. Schlosser (Hg.), The Catholic Epistles and the Tradition, BEThL 176, Leuven 2004, (171–212) 189: „Die Genese der in 2,14(ff) angegangenen Problematik lässt sich ohne weiteres auf der Basis der allgemein-frühchristlichen Rede vom rettenden Glauben und damit abseits spezifisch paulinischer Zuspitzung durch die Antithese von ‚Glauben – Werken des Gesetzes‘ verständlich machen.“
82 A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum
(s. o. 10), 249; vgl. auch G. LÜDEMANN, Paulus II (s. o. 6), 199: „Der Verf. des Jak greift daher in Jak 2,24 die paulinische Rechtfertigungslehre an.“ 83 M. HENGEL, Jakobusbrief (s. o. 11.2), 525 (der historische Jakobus gegen Paulus); vgl. zuvor z. B. H. LIETZMANN, Geschichte der Alten Kirche I, Berlin 2 1937, 213, wonach der Jak „klare und bewußte Polemik gegen die Lehre des Paulus“ ist. 84 Vgl. F. AVEMARIE, Die Werke des Gesetzes (s. o. 11.2), 296 ff. 85 Vgl. M. DIBELIUS, Jak (s. o. 11.2), 220f; W. SCHRAGE, Der Jakobusbrief, NTD 10, Göttingen 21980, 35; F. SCHNIDER, Jak (s. o. 11.2), 77; M. TSUJI, Glaube zwischen Vollkommenheit und Verweltlichung (s. o. 11.2), 154–171.
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ohne jeden Bezug auf Paulus verstanden werden. Zahlreiche Themen des Jak weisen keinerlei Verbindung zu Paulus auf und müssen aus dem Grundanliegen des Briefes heraus verstanden werden, gefährdete judenchristliche Identität zu sichern bzw. neu zu gründen: Bedeutung des Gesetzes, Wesen des Glaubens, Verhältnis Hören – Tun, Wesen der Weisheit, arm – reich, ethisches Verhalten in der Gemeinde. Zugleich kann für Jak 2,20- 26 ein Bezug auf Paulus und/oder Paulusschüler nicht bestritten werden, denn die oben bereits erwähnten sprachlichen und sachlichen Bezüge sind zu deutlich. In diesem begrenzten Abschnitt liegt Intertextualität und Interpersonalität vor86! Hermeneutisch kann Paulus bei der Interpretation des Jakobusbriefes nicht einfach ausgeblendet werden, zugleich darf er aber das Verständnis auch nicht bestimmen.
Der Jakobusbrief betont die natürliche und unauflösliche Einheit von Glauben und Handeln; er vertritt einen integrativen Glaubensbegriff, denn der Glaube umschließt selbstverständlich das Hören und das Tun des Wortes. In Jak 2,22 wird die Position des Autors sichtbar: Glaube und Werke/Taten wirken selbstverständlich zusammen, so dass der Glaube zur Vollendung gelangt. Dieser vollkommene Glaube erlangt die Rechtfertigung vor Gott. Das Zusammenwirken von Glauben und Werken/Taten bei Jakobus darf nicht als Synergismus im späteren dogmengeschichtlichen Sinn aufgefasst werden, denn in Jak 2,22 bleibt – wie durchgehend in Jak 2,14–26 – der Glaube das Subjekt. Nicht der Glaube wird ‚ergänzt‘, sondern das Wesen des Glaubens als bewusste Tathaltung definiert. Jakobus geht es um den rechtfertigenden Glauben, der Werke/Taten hervorbringt, sich in den Werken/Taten bewährt und aus den Werken/ Taten vollendet wird. Die Vollkommenheit ist das Ziel des Glaubens, und die Werke/ Taten dienen diesem Ziel. Gott selbst pflanzte den Menschen in der Taufe das Wort der Wahrheit ein (vgl. Jak 1,18.21), das kein anderes ist als das vollkommene Gesetz der Freiheit (Jak 1,25). Die Gerechtigkeit vollzieht sich als unauflösliche Einheit von göttlicher Gabe und menschlicher Annahme (Jak 3,18: „Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird in Frieden denen gesät [Passiv: speı´retai], die Frieden stiften“)87. Die Einheit von Hören und Tun entspringt somit dem Willen Gottes und entspricht der dem Christen eröffneten Vollkommenheit.
11.2.6 Ethik Das ethische Grundkonzept des Jakobusbriefes ist bereits in der Soteriologie (s. o. 11.2.4) und Anthropologie (s. o. 11.2.5) deutlich sichtbar geworden: Das Handeln nach dem Maßstab des Liebesgebotes als Leitsatz des Gesetzes ist sichtbarer Ausdruck der Einheit christlicher Existenz. Einerseits ist die Ethik des Jak unmittelbar mit dem Aufruf 86 Dies betont zu Recht F. AVEMARIE, Die Werke des
87 H. FRANKEMÖLLE, Jak II (s. o. 11.2), 559, spricht in
Gesetzes (s. o. 11.2), 289.
diesem Zusammenhang treffend von einer „Anthropologie des Werdens“.
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 589
zum Tun des Gesetzes verbunden (Jak 1,22.25; 4,11f), andererseits gilt aber, dass die Christen auch hier immer Empfangende sind (Jak 1,17). Deshalb sind Begriffe wie ‚Leistungsethik‘ oder ‚Werkgerechtigkeit‘ dem Konzept des Jak unangemessen. Es kommt vielmehr darauf an herauszuarbeiten, wie Jakobus ethisch argumentiert88. Kennzeichnend ist zunächst ein Wechsel zwischen imperativischen und indikativischen Abschnitten. So wird Jak 1,2–18 durch das Motiv der Versuchung bestimmt, der Übergang zu Jak 1,19–27 erfolgt durch die direkte Anrede adelfoı´ mou agapvtoı´, inhaltlich entfaltet Jak 1,19–27 die indikativischen Aussagen über das ‚vollkommene Geschenk von oben‘ und das ‚Wort der Wahrheit‘ in Jak 1,17.18. Insgesamt ist Jak 1 durch die Form der traditionellen Spruchweisheit geprägt, Einzelsprüche werden durch gemeinsame Stichworte zusammengestellt und durch den Autor interpretiert. In Jak 2; 3 finden sich geschlossenere und umfangreichere Einheiten. Charakteristisch ist die Anrede adelfoı´ in Jak 2,1; 2,14; 3,1, inhaltlich handelt es sich jeweils um diatribenartige paränetische Abhandlungen, die sich durch eine innere Geschlossenheit auszeichnen. Liegt das Ziel der Paränese in Jak 2,1–3,12 im durch die Weisheit gewährten guten Wandel in Niedrigkeit (kein Ansehen der Person, Einheit von Glaube und Werke, Umgang mit dem Wort), so ergibt sich daraus sachgemäß die Frage nach dem Woher der Weisheit in Jak 3,13–18. Im unmittelbaren Kontext stellt Jak 4,1–12 einen Neueinsatz dar (Freundschaft mit Gott oder der Welt), im Makrokontext nimmt dieser Abschnitt aber das Thema der Versuchungen aus Jak 1,2–18 wieder auf. Die Mahnungen in Jak 4,13–17 (falsche Selbstsicherheit) und die prophetische Anklage gegen die Reichen in Jak 5,1–6 heben sich jeweils vom Kontext ab und stellen selbständige Überlieferungen dar. Mit der typischen Anrede adelfoı´ leitet der Verfasser die Mahnungen zur Geduld und die Aufforderung zum helfenden Gebet Jak 5,7–20 ein, die der traditionellen Spruchparänese zugerechnet werden können. Insgesamt lässt Jak ein klares Argumentationsgefüge erkennen, ohne dass sich in jedem Fall Einzelbegründungen für die ethischen Anweisungen finden. Sowohl langatmige Ausführungen (Jak 3,1–12) als auch kurze apodiktische Aussagen (Jak 1,20: „Der Zorn eines Mannes bewirkt nicht Gerechtigkeit bei Gott“; Jak 5,12: Schwurverbot; vgl. Mt 5,37) können der ethischen Urteilsbildung dienen. Um diese Urteilsbildung weiter zu fördern, wählt Jakobus einen originellen Ausgangspunkt: Am Anfang steht das Hören (Jak 1,19), das sich in der Einheit von Reden und Handeln vollendet und so im Gericht Bestand haben wird (Jak 2,12: „So redet und handelt als solche, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen“). Gute Worte oder Gedanken reichen nicht aus, sondern ein am Gesetz orientiertes konkretes Handeln ist gefordert. Von hieraus entwickelt der Jakobusbrief 88 Eine eher distanziert skeptische Übersicht bietet
W. SCHRAGE, Ethik (s. o. 3.5), 286–300; vgl. ferner F. MUSSNER, Die ethische Motivation im Jakobusbrief,
in: Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 416–423.
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– neben wenigen anderen ntl. Schriften – Ansätze zu einer Sozial- und Wirtschaftsethik, weil die Forderung des Liebesgebotes uneingeschränkt für alle Bereiche des Lebens gilt und den Zorn definitiv ausschließt (Jak 1,20)89. Die Situation der angeschriebenen Gemeinden prägen soziale Spannungen. Die Versorgung der Bedürftigen gelingt nicht (Jak 1,27; 2,15f), Reiche und Arme werden ungleich behandelt (Jak 2,1ff). Es herrschen Neid, Streit und Kampf (Jak 3,13ff; 4,1ff.11f; 5,9). In den Gottesdiensten werden die Reichen bevorzugt (Jak 2,1ff) und die Armen mit religiösen Floskeln abgespeist (Jak 2,16). Die Reichen vertrauen auf sich selbst und nicht auf Gott (Jak 4,13–17), Großgrundbesitzer beuten weiterhin ihre Arbeiter aus (Jak 5,1–6). Schließlich sind die Gemeinden lokalen rechtlichen Diskriminierungen ausgesetzt (vgl. Jak 2,6)90. Die zahlreichen Aussagen über Arm und Reich im Jak entspringen keineswegs einer spiritualisierten Armen-Frömmigkeit91, sondern diese Thematik muss einen Erfahrungshintergrund in den angesprochenen Gemeinden haben, zielt doch der Jakobusbrief auf eine Veränderung des Verhaltens der Christen92. Die Parteinahme für die Armen (Jak 1,27) und gegen die Reichen (Jak 2,1–13; 4,13–5,6) entspricht dem Willen Gottes, denn „hat Gott nicht die in der Welt Armen erwählt als Reiche im Glauben und Erben seines Reiches, das er denen verhieß, die ihn lieben?“ (Jak 2,5). Jakobus zielt nicht auf einen innergemeindlichen Ausgleich zwischen Arm und Reich, er nimmt auch nicht das oıkoß-Konzept auf, sondern er vertritt eine innergemeindliche Solidarität (Jak 2,14–16) und propagiert die Egalität der Gemeindeglieder (Jak 2,1–7)93. Die im Jak erkennbaren Spannungen können in die Sozialgeschichte des nachpaulinischen Christentums eingeordnet werden94. Hier setzt sich eine bereits bei Paulus beginnende Entwicklung fort: Die Integration verschiedener Schichten mit unterschiedlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stellung. Schon die paulinischen Missionsgemeinden stellten soziologisch keine homogene Gruppe dar, vielmehr schlossen sich ihnen Angehörige aller Schichten an. In nachpaulinischer Zeit verschärften sich offenbar die Konflikte, weil immer mehr Reiche in die christlichen Gemeinden kamen und sich die Kluft zwischen den einzelnen sozialen Gruppen erhöhte. So rufen die Pastoralbriefe zur Selbstgenügsamkeit auf (vgl. 1Tim 6,6–8), und sie warnen eindrücklich vor den Folgen der Geldgier (vgl. 1Tim 6,9.10). Kaum zufäl-
89 Vgl. dazu P. V. GEMÜNDEN, Die Wertung des Zorns
im Jakobusbrief auf dem Hintergrund des antiken Kontexts und seine Einordnung, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theißen, Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), 97–119. 90 Vgl. hierzu F. SCHNIDER, Jak (s. o. 11.2), 61. 91 Gegen M. DIBELIUS, Jak (s. o. 11.2), 161–163. 92 Vgl. F. SCHNIDER, Jak (s. o. 11.2), 57f; H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 57–62.251–259. 93 Vgl. G. GARLEFF, Urchristliche Identität (s. o.
11.2), 269; G. THEISSEN, Nächstenliebe und Egalität, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theißen, Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), 120–142, der zu Jakobus betont: „kein neutestamentlicher Autor hat so eindeutig wie er das Liebesgebot als Verpflichtung zur Gleichbehandlung verstanden und es gleichzeitig relativ offen für Außenstehende formuliert“ (a. a. O., 120f). 94 Vgl. dazu P. LAMPE/U. LUZ, Nachpaulinisches Christentum und pagane Gesellschaft (s. o. 9.1).
Der Jakobusbrief: Handeln und Sein 591
lig endet der 1Tim mit einer Mahnung an die Reichen (1Tim 6,17–19). Auch der Verfasser des lk. Doppelwerkes lässt mit seinen Warnungen vor dem Reichtum deutlich erkennen, dass in seinen Gemeinden Reichtum und Besitz zu einem Problem geworden sind. Der Hebräerbrief warnt vor Habgier (Hebr 13,5) und einem Erlahmen des Glaubens (Hebr 2,1–4). Die Trägheit soll durch Werke der Liebe überwunden werden (Hebr 6,10–12). Schließlich ist die Offenbarung des Johannes ein eindrückliches Zeugnis für die scharfe Kritik judenchristlicher Kreise am Reichtum (vgl. Offb 3,17– 19; 18,10 ff.15ff.23f). Das soziologische Bild der Gemeinden des Jak lässt sich somit in eine Gesamtentwicklung des hellenistisch-nachpaulinischen Christentums integrieren, für die ein tiefgreifender Wandel in der sozialen Schichtung der Gemeindemitglieder und damit verbunden ein Auseinanderklaffen von Glaube und Tat charakteristisch sind. Diesen Entwicklungen begegnet Jakobus mit einer vornehmlich weisheitlich95 geprägten Ethik, in deren Zentrum der Gedanke der ethischen Vollkommenheit in Demut und Niedrigkeit durch die Erfüllung des Gesetzes steht, die durch die göttliche Gabe der Weisheit ermöglicht wird.
11.2.7 Ekklesiologie Der Jakobusbrief bietet keine ausgeführte Ekklesiologie, Ämter werden lediglich in Jak 3,1 und 5,14 erwähnt. Weil in den Gemeinden des Jak der verantwortliche Umgang mit dem Wort von großer Bedeutung ist, scheint es einen Ansturm auf das Amt des Lehrers gegeben zu haben: „Werdet nicht (zu) viele Lehrer, meine Brüder, wissend, dass wir ein größeres Gericht empfangen werden“ (Jak 3,1). Die Aufgabe der Lehrer bestand in der Pflege, Weitergabe und Interpretation von Jesusüberlieferungen, der Auslegung des Alten Testaments und in der Formulierung konkreter ethischer Weisungen96. Jakobus war wahrscheinlich selbst ein solcher Lehrer (vgl. den Plural in 3,1b), denn sein Brief erfüllt alle Bedingungen eines Lehrschreibens. Der starke Zulauf zum Amt des Lehrers setzt einen offenen Zugang voraus, so dass es notwendig wurde, die Frage der Qualifikation und der Verantwortung (angesichts des kommenden Gerichtes) stärker in den Vordergrund zu rücken97. Das Ältestenamt bezeugt Jak 5,14: „Ist jemand unter euch krank, so rufe er die Ältesten der Gemeinde [tou`ß presbute´rouß tv˜ß ekklvsı´aß] herbei, und sie sollen über ihn beten, ihn mit Öl salbend im Namen des Herrn.“ Das Ältestenamt wurde im Kollegium ausgeübt (vgl. 95 Vgl. zur weisheitlichen Ausrichtung des Jak bes. R. HOPPE, Hintergrund (s. o. 11.2), passim; U. LUCK, Weisheit und Leiden, ThLZ 92 (1967), 253–258. Für H. FRANKEMÖLLE, Jak I (s. o. 11.2), 85, gilt: „Der Jakobusbrief präsentiert sich als eine relecture von Jesus Sirach.“
96 Zur Auslegung von Jak 3,1 vgl. A. ZIMMERMANN,
Die urchristlichen Lehrer, (s. o. 6.7.2), 194–208. 97 Vgl. W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 220 f.
592 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
1Petr 5,1ff) und mit ihm war offensichtlich auch eine charismatische Dimension verbunden: die Krankensalbung mit Öl (vgl. Mk 6,13b; Lk 10,34). Dabei handelte es sich gleichermaßen um einen therapeutischen und geistlichen Akt, wie die sonst mit der Taufe verbundene Bestimmung ‚im Namen des Herrn‘ (vgl. 1Kor 6,11; Röm 6,3) und die Interpretation der Taufe als ‚Salbung‘ in 2Kor 1,21f zeigen. Nur hier erscheint im Jak der Begriff ekklvsı´a, der nicht ‚die Kirche‘, sondern die lokalen Versammlungen meint. Der Kraft des Gebetes kommt in den Gemeinden des Jakobusbriefes nach Jak 1,5f und vor allem 5,15a eine große Bedeutung zu: „Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten.“ Die körperliche Hilfe und das eschatologische Heil liegen gleichermaßen in der Macht des Herrn, der durch das Gebet und den Dienst der Ältesten wirkt. Die eher beiläufigen und nicht konzeptionell ausgebauten ekklesiologischen Aussagen korrespondieren mit einem Ethik-Konzept, das an Autonomie98 gegenüber der Welt und an Egalität und tatkräftigem Glauben innerhalb der Gemeinde orientiert ist99.
11.2.8 Eschatologie Eschatologische Aussagen finden sich im Jakobusbrief in drei Bereichen: 1) Die Eschatologie dient zur Motivierung der Ethik; bewusst schließen die ethischen Ausführungen jeweils in Jak 1,12.26f; 2,13.26; 3,18; 4,12.17; 5,20 mit einem präsentischen oder futurischen Ausblick. 2) Damit eng verbunden sind die bereits erwähnten Gericht saussagen (s. o. 11.2.4): Gott ist Richter und kann retten oder verdammen, wen er will (Jak 4,12). 3) Mit der Gerichtsthematik ebenfalls verknüpft ist die Parusie als ein offenbar aktuelles Gemeindethema; vgl. vor allem Jak 5,7f: „Übt nun Geduld, Brüder, bis zur Parusie des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde, in Geduld im Hinblick auf sie, bis sie Früh- und Spätregen empfängt. Übt auch ihr Geduld, stärkt eure Herzen, denn die Parusie des Herrn ist nahe herbeigekommen (v parousı´a tou˜ kurı´ou vggiken).“ Das Bewusstsein einer Parusieverzögerung zeigt sich im Aufruf zur Geduld, in der Sicherheit und Zuversicht vermittelnden Landwirtschaftsmetaphorik sowie in der Ermahnung, nicht untereinander zu seufzen100, „damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht bereits vor den Tü98 G. THEISSEN, Ethos und Gemeinde im Jakobus-
brief, in: P. v. Gemünden/M. Konradt/G. Theißen, Der Jakobusbrief (s. o. 11.2), 143–165, betont die Autonomie als Grundkonzept der Ekklesiologie des Jak: „Es ist eine Gemeinde, die sich autonom an ihrer eigenen Grundlage orientiert: am Gesetz der Freiheit. Es ist eine Gemeinde, die sich von ihren eigenen Lehrern unterrichten lässt, wie sie sich verhalten
soll. Es ist eine Gemeinde, die ihren Glauben in Verhalten umsetzen will“ (a. a. O., 165). 99 Vgl. G. GARLEFF, Urchristliche Identität (s. o. 11.2), 315; möglicherweise polemisiert Jakobus in 2,1–7 gegen Patronatsstrukturen (vgl. a. a. O., 251ff). 100 Anders W. POPKES, Jak (s. o. 11.2), 322, wonach der Text kein Parusieverzögerungsproblem signalisiere.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 593
ren“ (Jak 5,9b). Der ankommende Herr ist zugleich der Richter, der nach dem Tun der Menschen entscheiden wird (Jak 5,12; vgl. 2,4.6.12f; 3,1; 4,11f).
11.2.9 Theologiegeschichtliche Stellung Innerhalb der in den Kanon aufgenommenen Schriften vertritt neben dem Matthäusevangelium vor allem der Jakobusbrief eine dezidiert judenchristliche Position101. Bereits das Präskript hat Signalfunktion, denn durch die Erwähnung der 12 Stämme und die Wahl des Pseudonyms Jakobus soll ein Kontinuitätsbewusstsein zu Israel aufgebaut werden. Jakobus steht im frühen Christentum für eine bleibende Ausrichtung auch der Christusgläubigen an der Tora (vgl. Gal 2,12f; Apg 15,13–21). So lag es nahe, seine nachösterliche Autorität in Anspruch zu nehmen, um innerhalb des nachpaulinischen hellenistischen Christentums in einer durch soziale und theologische Konflikte geprägten Umbruchphase die bedrohte judenchristliche Identität zu wahren und/oder neu zu begründen. Dies versucht Jak aus einer theozentrischen Grundposition heraus, um mit einer starken Betonung von Anthropologie und Ethik die Einheit von Glauben und Werken/Taten zu wahren. Jakobus will die Gespaltenheit christlicher Existenz überwinden, ihm geht es um die Ganzheit und Vollkommenheit des Christen. Bezugspunkt ist dabei aber nicht die individuelle Existenz, sondern die Gemeinde. Ethik und Anthropologie bilden das Zentrum dieser Identitätskonstruktion, die geprägt ist von der Frage nach dem der Weisheit gemäßen und am Gesetz orientierten Glauben in der Einheit von Sein und Tun, wobei das Gesetz als Ordnung der Freiheit in der Liebe erscheint. Im Kontext des frühen Christentums bringt Jak eine Grundforderung nachdrücklich zu Gehör: Die Kontinuität zu Israel ist mit der Frage nach der Bedeutung des Gesetzes und des damit verbundenen Tatzeugnisses des Glaubens theologisch zu denken. Anders als die Gegner des Paulus (vgl. Gal 5,3; Phil 3,3) zielt der Jakobusbrief aber auf einen Ausgleich und fordert nicht eine Beschneidung der Christen aus griechisch-römischer Religiosität. Indem Theologie und soziale Wirklichkeit unmittelbar aufeinander bezogen werden, vertritt Jakobus ein ethisches Christentum und weiß sich damit in der Kontinuität zu Israel.
11.3 Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes H. WINDISCH, Der Hebräerbrief, HNT 14, Tübingen 21931; E. KÄSEMANN, Das wandernde Gottesvolk, FRLANT 55, Göttingen 21957; F. J. SCHIERSE, Verheißung und Heilsvollendung. Zur theologischen Grundfrage des Hebräerbriefes, MThS 9, München 1955; E. GRÄSSER, Der Glaube im 101 Vgl. G. GARLEFF, Urchristliche Identität (s. o. 11.2), 324.
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Hebräerbrief, MThSt 2, Marburg 1965; G. THEISSEN, Untersuchungen zum Hebräerbrief, StNT 2, Gütersloh 1969; O. HOFIUS, Katapausis, WUNT 11, Tübingen 1970; H. ZIMMERMANN, Das Bekenntnis der Hoffnung, BBB 47, Bonn 1977; F. LAUB, Bekenntnis und Auslegung, BU 15, Regensburg 1980; W. R. G. LOADER, Sohn und Hoherpriester, WMANT 53, Neukirchen 1981; H. BRAUN, Der Hebräerbrief, HNT 14, Tübingen 1984; A. VANHOYE, Art. Hebräerbrief, TRE 14, Berlin 1985, 494– 505; M. RISSI, Die Theologie des Hebräerbriefes, WUNT 41, Tübingen 1987; H. HEGERMANN, Der Brief an die Hebräer, Berlin 1988; H.W. ATTRIDGE, Hebrews, Hermeneia, Philadelphia 1989; A. VANHOYE, Structure and Message of the Epistle to the Hebrews, Rom 1989; F. LAUB, ‚Schaut auf Jesus‘ (Hebr. 3,1). Die Bedeutung des irdischen Jesus für den Glauben nach dem Hebräerbrief, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle/K. Kertelge, Freiburg 1989, 417–432; L. D. HURST, The Epistle to the Hebrews. Its Background of Thought, MSSNTS 65, Cambridge 1990; H. HEGERMANN, Christologie im Hebräerbrief, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 337–351; A. STROBEL, Der Brief an die Hebräer, NTD 9, Göttingen 41991; F. LAUB, ‚Ein für allemal hineingegangen in das Allerheiligste‘ (Hebr 9,12). Zum Verständnis des Kreuzestodes im Hebräerbrief, BZ 35 (1991), 65–85; TH. SÖDING, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des Hebräerbriefes, ZNW 82 (1991), 214–241; B. LINDARS, The Theology of the Epistle to the Hebrews, Cambridge 1991; H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 1991; E. GRÄSSER, An die Hebräer, EKK XVII/1–3, Neukirchen 1990.1993.1997; E. GRÄSSER, Aufbruch und Verheißung. Ges. Aufsätze zum Hebräerbrief, hg. v. M. Evang/O. Merk, BZNW 65, Berlin 1992; H. LÖHR, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief, BZNW 73, Berlin 1994; K. BACKHAUS, Der neue Bund und das Werden der Kirche, NTA 31, Münster 1996; K. BACKHAUS, Per Christum in Deum. Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief, in: Der lebendige Gott (FS W. Thüsing), hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 258–284; H. LÖHR, Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief, in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), hg. v. M. Evang/H. Merklein/M. Wolter, BZNW 89, Berlin 1997, 169–199; C. R. KOESTER, Hebrews, AncB 36, New York 2001; M. KARRER, Der Brief an die Hebräer, ÖTK 20/1, Gütersloh 2002; W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief, BZNW 116, Berlin 2003; W. ÜBELACKER, Paraenesis or Paraclesis – Hebrews as a Test Case, in: Early Christian Paraenesis in Context, hg. v. J. Starr/T. Engberg-Pedersen, BZNW 125, Berlin 2004, 319–352; R. KAMPLING (Hg.), Ausharren in der Verheißung. Studien zum Hebräerbrief, SBS 204, Stuttgart 2005; G. GÄBEL, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes, WUNT 2.212, Tübingen 2006.
Der Hebräerbrief gehört zu den großen Rätseln des Neuen Testaments. Seine historische Situierung ist völlig unklar, denn im Brief finden sich nur vage Verweise auf die Gemeindesituation und keinerlei Hinweise auf den Autor. Eine paulinische Verfasserschaft und eine Abfassung in Rom sollen durch den Briefschluss Hebr 13,23f nahegelegt werden. Allerdings wird die Authentizität dieses Schlusses bezweifelt und auch die Form des Hebr und seine religionsgeschichtlichen Bezüge werden sehr kontrovers diskutiert102. Wie bei keiner anderen ntl. Schrift gilt deshalb beim Hebr die Regel, dass der Text aus sich selbst heraus verstanden werden muss. 102 Die Überschrift Pro`ß KVbraı´ouß wird heute allgemein zu Recht als sekundär angesehen, vgl. E. GRÄS-
SER,
Hebr I, 41–45; zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 405–420 (Abfas-
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 595
11.3.1 Theologie Die Basis des theo logischen Denkens des Hebräerbriefes ist das Reden Gottes : „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Hebr 1,1–2a). Das Wort Gottes konstituiert den Zugang zum Hebr, wie die worttheologische Rahmung des 1. Hauptteils in Hebr 1,1f und 4,12 („Lebendig nämlich ist das Wort Gottes, wirksam und schneidender als jedes zweischneidige Messer; es dringt bis in die Mitte von Leben und Geist“) zeigt. Eine worttheologische Linie durchzieht vom Prolog ausgehend das gesamte Schreiben103, neben der Ouvertüre sind vor allem Hebr 1,5.13; 2,1–4; 4,2.12; 5,5.12; 11,3; 12,25; 13,7 zu nennen. Gottes Wort ist im Hebr als wirksames Geschehen ewiges, schöpferisches, richtendes und rettendes Wort. Es geschieht im Himmel und auf Erden (Hebr 12,22–29) und umfasst Schöpfung (4,3; 11,3), Geschichte (3,7–4,11; 11) und Gericht (4,13). In seinem Sprechen erweist sich Gott als gerechter (Hebr 6,10) und gnädiger Gott (12,15), der zu seinen Verheißungen (6,17) und zum Bund (7,22–25; 8,10; 9,20; 10,16; 12,24) steht. Gott hat die Vollendung der Glaubenden vorgesehen (Hebr 11,39f) und erweckt die Toten (11,19), zugleich ist er ein verzehrendes Feuer (12,29), er hilft und züchtigt zugleich (12,7). Das Sprechen Gottes als grundlegende Dimension seines Handelns wird literarisch vor allem durch die zahlreichen LXX-Zitate hervorgehoben, in denen zumeist Gott selbst redet (ca. 22mal)104 und deren Fülle und Dichte im Neuen Testament einzigartig ist. Neben den ca. 35 wörtlichen Textzitaten finden sich ca. 80 Anspielungen auf atl. Textstellen. Der Hebr zitiert ausschließlich die LXX, Abweichungen lassen sich daraus erklären, dass dem Autor andere LXX-Kodizes vorlagen oder er aus dem Gedächtnis zitierte105. Auffällig sind eine Vorliebe für den Psalter und die Länge einzelner Zitate. So wird Jer 31,31–34 im Neuen Testament allein in Hebr 8,8–12 vollständig zitiert, um dann noch einmal in Hebr 10,15–18 in einer verkürzten Form aufgenommen zu werden. Durch den überwiegenden Verzicht auf Einleitungsformeln werden die Zitate zu Sprechakten. Sie veranschaulichen und bezeugen nicht nur Gottes anhaltendes machtvolles Reden in der Geschichte mit Israel und letztgültig und unüberbietbar in Jesus Christus, sondern setzen es fort.
sung durch einen unbekannten Judenchristen zwischen 80 und 90 n.Chr.). 103 Vgl. hierzu E. GRÄSSER, Das Wort als Heil, in: ders., Aufbruch und Verheißung (s. o. 11.3), 129– 142; H. HEGERMANN, Das Wort Gottes als aufdeckende Macht, in: Das lebendige Wort (FS G. Voigt), hg. v. H. Seidel, Berlin 1982, 83–98; D. WIDER, Theozentrik und Bekenntnis, BZNW 87, 1997. 104 Vgl. M. THEOBALD, Vom Text zum „lebendigen
Wort“ (Hebr 4,12), in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift (FS O. Hofius), hg. v. Chr. Landmesser, BZNW 86, Berlin 1997, 751–790. 105 Vgl. zur Analyse F. SCHRÖGER, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, BU 4, Regensburg 1968, 35–197.247–256. Bei den Formen der Schriftauslegung zeigen sich Parallelen zu den Auslegungsmethoden des antiken Judentums; vgl. die ausführliche Auflistung bei F. SCHRÖGER, a. a. O., 256–299.
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Im Dienst der Worttheologie steht auch das literarisch-rhetorisch wirkungsvolle Zurücktreten des Autors hinter die Botschaft durch den Verzicht auf ein Präskript106. Die Anonymität dient zur Ermöglichung des unmittelbaren Hörens der Botschaft Gottes ohne Zwischeninstanzen und Zwischentöne. In Hebr 1,1f ist ausschließlich Gott das Subjekt des Redens, während der Autor sich in 1,2 unter die Zuhörer begibt. Mit dieser Stilfigur verbindet sich ein unmittelbares textpragmatisches Interesse, denn die Gemeinde hört nicht mehr auf die Heilsbotschaft. Deshalb warnt der Autor die Gemeinde: „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, welcher redet. Denn wenn jene nicht entkamen, die den auf Erden sich Kundgebenden abwiesen, wie viel mehr wir, wenn wir uns von dem abwenden, der vom Himmel her spricht“ (Hebr 12,25). Stehen sie aber im Glauben und im Gehorsam gegenüber der Verheißung unerschütterlich fest, ist ihnen verheißen, im Gegensatz zur Wüstengeneration in die eschatologische Ruhestätte einzugehen. Die Gemeinde soll die Glaubenszuversicht nicht wegwerfen (Hebr 10,35), die müden Hände und die wankenden Knie müssen gestärkt werden (Hebr 12,12), damit der Kreuzestod Jesu Christi durch ihr Verhalten nicht zum Spott wird (Hebr 6,6). Das Sprechen Gottes zielt somit auf das unmittelbare Hören der Gemeinde, es soll die Zweifel und Trägheit überwinden, damit wieder die Glaubenszuversicht dominiert (Hebr 11,1) und Gottes Wirklichkeit in ihrer überrragenden Fülle erkannt wird107. Dies soll der Hebräerbrief leisten, so dass er selbst sowohl in seiner Form (Hebr 13,22: lo´goß tv˜ß paraklv´sewß = „Wort der Ermahnung“) als auch in seinem Inhalt zu einem Bestandteil des Redens Gottes wird. Die sachgemäße Antwort der Gemeinde auf das Sprechen Gottes ist das Bekenntnis. Die auch bei Paulus und seiner Tradition (2Kor 9,13; Röm 10,9; 1Tim 6,12f; Tit 1,16) belegten Termini omologı´a („Bekenntnis“: Hebr 3,1; 4,14; 10,23) und omologeı˜n („bekennen“: Hebr 11,13; 13,15) zielen nicht so sehr auf vorgegebene, geprägte Texte108 oder auf Einzelaspekte, sondern auf das Einstimmen in Gottes Reden. Das Bekenntnis zielt immer auf das Ganze des Heilsgeschehens, wie Hebr 4,14 zeigt: „Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus den Sohn Gottes, lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.“ Die Gemeinde soll wieder ihren Rhythmus im Gleichklang mit dem Wort Gottes finden. Um dies zu ermöglichen, schlägt der Hebr vom Wort Gottes als Basis und Mitte seiner Theo-logie einen Bogen in alle Richtungen, der bei der Christologie beginnt.
106 Vgl. M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 42–44. 107 M. KARRER interpretiert die Worttheologie des
Hebr im Rahmen eines liminalen Denkens: „Der Hebr führt seine Leserinnen und Leser mit dem Wort über die Schwelle zu Gottes Wirklichkeit und traut dem Wort als Wort zu, sie auf ihrem Weg dort weiter in die Höhen Gottes zu prägen und jenseits der Schwelle zur Gottesferne zu halten“ (ders., Hebr I [s. o. 11.3], 57).
108 In Hebr 1,3 wird möglicherweise ein urchristlicher Hymnus zitiert; vgl. neben den Kommentaren J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. u. 12.2.1), 267–299); für Hebr 5,7–10; 7,1–3.26 kann hymnischer Charakter erwogen werden (vgl. H. ZIMMERMANN, Das Bekenntnis der Hoffnung [s. o. 11.3], 44ff; skeptisch hingegen E. GRÄSSER, Hebr I [s. o. 11.3], 312ff).
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 597
11.3.2 Christologie Das Sprechen Gottes ist die Grundlage der Christologie des Hebr; die Theologie trägt die Christologie. Gottes Sprechen ‚im Sohn‘ (Hebr 1,2) vollzieht sich in der Rede des Vaters an den Sohn und der Präsentation des Sohnes durch den Vater: „Zu welchen nämlich sprach er (Gott) je von den Engeln: ‚Mein Sohn bist du; heute habe ich dich gezeugt!; und wiederum: ‚Ich werde ihm zum Vater sein, und er wird mir zum Sohn sein‘“? (Hebr 1,5). Der Vater verlieh dem Sohn seinen einzigartigen Status, denn er ist (präexistenter) Schöpfungsmittler (Hebr 1,2b.10); Abglanz der Herrlichkeit und Abdruck der Wirklichkeit Gottes (Hebr 1,3a), er allein ist ewig (Hebr 1,11f), von allem Irdischen und Vergänglichen unterschieden und „er trägt alles durch das Wort seiner Macht“ (Hebr 1,3b). Diese umfassende Partizipation des Sohnes am Wesen Gottes erreicht in Hebr 1,8 und 1,10 einen Höhepunkt, wo der Sohn vom Vater im Schriftwort als ‚Gott‘ (o heo´ß) und ‚Herr‘ (ku´rioß) angeredet wird. „Der Sohn gehört nicht unter die vielen Götter der Völker und auch nicht wie ein zweiter, gleichsam unterer Gott unter den einen Herrn. Gott spricht ihm vielmehr zu, was er selbst tut und ist.“109 Der Wortakt und das Schriftmedium wahren die Unterscheidung zwischen Vater und Sohn, dennoch wird in keiner anderen ntl. Schrift der Sohn so eng mit dem Vater identifiziert! Der Hebr zielt mit dieser Konzeption einmal auf die Abwehr einer defizitären angelogischen Christologie110 (vgl. Kol 2,18), die Jesus Christus (sicherlich an erster Stelle) den Engeln subsumierte. Deshalb betont der Autor so stark die kategoriale Überlegenheit Jesu gegenüber den Engeln (Hebr 1,4–8.13f; 2,5.16), wofür sich der Sohnestitel (15 Belege) als christologischer Leitbegriff in besonderer Weise eignete. Zugleich weist der Hebr den Engeln aber positiv die Funktion des Dienens und Eintretens für die Geretteten zu (Hebr 1,14). Ein zweiter Aspekt kommt bei der starken Betonung der Gottheit Jesu Christi hinzu: Die vielfach beklagte Trägheit der Gemeinde versucht der Autor des Hebr mit dem Aufweis der überlegenen Gewissheit des Heils zu überwinden. Bewusst wird die in Hebr 1,5 bereits verwandte Sohnesprädikation aus Ps 2,7LXX in Hebr 5,5c aufgenommen und in überbietender Weise mit dem Erlösungsdienst Jesu Christi verbunden. Jeder irdische Hohepriester muss für seine eigenen Sünden sühnen (Hebr 5,3), so dass allein der sündlose und gottgleiche Sohn befähigt ist, Sühne und Heil für die Glaubenden zu erwirken. Damit verbindet sich ein dritter Aspekt: Der theozentrische Grundzug der Christologie des Hebr verweist auf ein intellektuelles Milieu, das von Gedanken des Mittelplatonismus beeinflusst war (s. u. 11.3.8)111. Plutarch, Maximos von Tyros und Apuleius bezeugen den starken Einfluss des Mittelplatonismus im ausgehenden 1.
109 M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 144.
111 Vgl. J. W. THOMPSON, The Beginnings of Christian
110 Vgl. dazu L. T. STUCKENBRUCK, Angel Veneration
Philosophy: The Epistle to the Hebrews, CBQ.MS 13, Washington 1982; K. BACKHAUS, Per Christum in Deum (s. o. 11.3), 261ff.
and Christology (s. o. 4.5), 128–135.
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und im 2. Jh. n.Chr., der vor allem eine negative Theologie vertrat. Die starke Betonung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit Gottes, sein kategoriales Geschiedensein von allem Menschlichen musste die Frage aufwerfen, wie eine Kommunikation zwischen Gott und Mensch überhaupt möglich ist. Der Hebr widmet sich durchgängig der Beantwortung dieser Frage! Der Hebr entfaltet aus dem Sprechen Gottes heraus eine einzigartige hoheitliche Christologie, denn Gott selbst verleiht dem Sohn das Gottesprädikat und den Gottesnamen 112, so dass er umfassend und ohne Einschränkung nicht nur dem himmlischen Bereich, sondern unmittelbar Gott zuzuordnen ist. Aus der worttheologischen Linie entwickelt sich auch die kulttheologische Konzeption des Hebräerbriefes. Die auf das Sprechen Gottes konzentrierte Eröffnung mündet und gipfelt in der Schlüsselthese vom sühnenden Hohenpriester in Hebr 2,17f: „Daher musste er in allen Dingen seinen Brüdern gleichgemacht werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hohepriester für die Dienste vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn weil er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen, die versucht werden, zu helfen.“ Ab Hebr 5,1 beherrscht die HohepriesterChristologie113 die gesamte Argumentation, wobei das bereits in Hebr 1,1f beherrschende Motiv der offenbarungsgeschichtlichen Überbietung bestimmend bleibt: Der Hohepriester Jesus Christus agiert nicht in einem irdischen Tempel, sondern er wirkt im himmlischen Heiligtum und ist damit allen anderen Kulten überlegen. Hebr 4,14–16 und 10,19–23 als Rahmung des Hauptteils des Hebr lassen die Grundthese der Hohepriester-Christologie deutlich erkennen: Der sündlos leidende Jesus wurde als Sohn von Gott zum Hohenpriester eingesetzt, er durchschritt die Himmel und ermöglicht der glaubenden Gemeinde den freien Zugang zu Gott. Wirkliche Vorformen für diese Konzeption gibt es im frühen Christentum nicht114, erst mit dem Hebr wird die Hohepriestervorstellung auf Jesus Christus angewandt. Zeitgeschichtlich bildet die Zerstörung des Tempels in Jerusalem eine Voraussetzung, denn damit war der alttestamentlichjüdische Kult an sein irdisches Ende gekommen. Religionsgeschichtlich bieten die Aussagen über den Hohenpriester bei Philo von Alexandrien das Material für eine vollständige Transzendierung und Universalisierung des Hohenpriesters (vgl. Fug 108: „Denn wir dürfen behaupten, dass mit dem Hohenpriester kein Mensch ge-
112 Unter diesen Voraussetzungen wird man den Hebr kaum in einem innerjüdischen Diskurs verorten können; so aber M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 90: „Der Hebr sieht sein Christentum – pointiert gesagt – innerhalb des Judentums.“ K. BACKHAUS, Der neue Bund (s. o. 11.3), 278ff, benennt überzeugend die Argumente, die gegen eine Lokalisierung des Hebr innerhalb eines jüdischen bzw. judenchristlichen Diskurses sprechen. 113 Vgl. dazu neben den Kommentaren vor allem
H. ZIMMERMANN, Die Hohepriester-Christologie des Hebräerbriefes, Paderborn 1964; W. R. G. LOADER, Sohn und Hohepriester (s. o. 11.3), passim; J. KURIANAL, Jesus Our High Priest, EHS.T 693, Frankfurt 1999. 114 Verwiesen wird häufig auf die Stephanustradition (Apg 6,8ff) und Röm 3,25, die allerdings Jesus nicht als Hohenpriester bezeichnen; vgl. zur Diskussion M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 85–91. Erst in 1Klem 36; 40 finden sich parallele Vorstellungen.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 599
meint ist, sondern der göttliche Logos“; Spec Leg I 230, wo gegen Lev 16,6 behauptet wird: „dass der wahre Hohepriester, der diese Bezeichnung nicht fälschlich trägt, frei von Sünden ist, und wenn er einmal straucheln sollte, ihm dies nicht durch eigene Schuld, sondern durch das Vergehen des ganzen Volkes widerführe“; vgl. ferner Spec Leg I 82–97.228; II 164; Som I 214–216; Fug 106–118; Vit Mos II 109–135)115. Das Besondere und Einmalige des Hohenpriestertums Jesu wird unter Verweis auf Ps 110,4 ( „Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“; vgl. Hebr 5,6.10; 6,20) als schlechthinnige Überlegenheit (vgl. Hebr 7,11) des ewigen Hohenpriestertums des Melchisedek (vgl. Gen 14,18–20) gegenüber dem aaronitisch-levitischen Priestertum entfaltet. Während der levitische Hohepriester am großen Versöhnungstag (vgl. Lev 16) auch für seine eigenen Sünden opfern muss (Hebr 5,3; 7,27; 9,7.25; 13,11), ist Jesus ohne Sünde (Hebr 4,15) und deshalb derjenige, der wirklich Sühne erwirken kann. Darin ist Jesus als Sohn Gottes (Hebr 5,5f) der Hohepriester nach der Ordnung des Melchisedek (Hebr 7,1–10), der wie Jesus (vgl. Hebr 7,14) nicht levitischer Abstammung war und von Abraham den Zehnten erhielt116. Der Hebr entwickelt in diesen Kontexten eine eigenständige Konzeption : 1) Der irdische Jesus vermittelt unter den Bedingungen menschlicher Existenz (Hebr 2,17f; 4,15; 10,19f) und im vollkommenen Gehorsam gegenüber Gott (Hebr 2,17; 3,1f; 5,5– 10) als sündlos Mitleidender (Hebr 4,15; 7,26–28) zwischen Gott und den Menschen und wird so von Gott zum einen, wahren Hohenpriester eingesetzt (Hebr 2,17; 5,5: „Ebenso hat auch Christus sich die Ehre nicht selbst beigelegt, Hohepriester zu werden“; 6,20; 7,16.21f; 10,21). 2) Durch die Darbringung seines Lebens (Hebr 7,27; 10,10) und Blutes (Hebr 9,11ff; 10,19) an Karfreitag als dem Versöhnungstag im himmlischen Allerheiligsten (Hebr 6,20; 8,1–3; 10,19f) erwirbt Jesus als Sühnopfer für die Menschen Reinigung von den Sünden und Erlösung (Hebr 9,11–15; 10,19 f.22). 3) Für die Seinen bahnt der auffahrende Jesus den Weg zu Gott (Hebr 4,14–16; 5,9; 7,19; 10,19–21; 12,2). 4) Bei Gott tritt der Erhöhte als himmlischer Hohepriester für die bedrängte Gemeinde als Fürsprecher ein (Hebr 7,22–25; 8,1.6; 9,24; 10,21). Für die Beurteilung der Christologie des Hebräerbriefes ist es von entscheidender Bedeutung, wie die irdische Existenz und das Leiden Jesu in diese hoheitlich-kulttheologische Konzeption integriert werden117. Dominiert die himmlische Siegesmetaphorik so stark, dass Jesu irdische Existenz nur noch zu einem notwendigen, aber nicht entscheidenden Durchgangsstadium wird? In der (älteren) Exegese wurde diese Frage 115 Zwischen Hebr und Philo lassen sich über die Hohepriesterspekulationen hinaus zahlreiche Parallelen aufzeigen; vgl. dazu neben den Kommentaren von H. HEGERMANN und H.-F. WEISS bes. R. WILLIAMSON, Philo and the Epistle to the Hebrews, ALGHJ IV, Leiden 1970, der alle relevanten Parallelen untersucht.
116 Zu den Melchisedek-Traditionen im antiken Judentum vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 373–392. 117 Vgl. hier bes. J. ROLOFF, Der mitleidende Hohepriester, in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche, Göttingen 1990, 144–167.
600 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
teilweise bejaht und der Hebr als Vorform oder Zeugnis christlicher Gnosis angesehen118. Dagegen sprechen jedoch gewichtige Beobachtungen: 1) In Hebr 2,14a („Da nun die Kinder an Fleisch und Blut Anteil erhalten haben, hat auch er an denselben Anteil erhalten. . .“) findet sich die neben Joh 1,14 klarste Inkarnationsaussage im Neuen Testament. 2) Charakteristisch für die gesamte Briefargumentation ist eine unauflösliche Verschränkung von himmlischem und irdischem Geschehen (Hebr 2,10/2,11–18; 4,14/4,15; 5,1–7/5,7–10; 9,11/9,12–15; 10,12). Auf Erden übte Jesus das Amt des Hohenpriesters mit dem einmaligen Opfer aus, das er mit seinem Tod am Kreuz als dem endzeitlichen Versöhnungsgeschehen erbrachte (Hebr 9,11–28; 10,10). Im einmaligen Tod am Kreuz (vgl. Hebr 7,27; 9,28; 10,10.12.14) durchschritt der Sohn den himmlischen Vorhang, tou˜tL estin tv˜ß sarko`ß autou˜ = „dies ist sein Fleisch/Leib“ (Hebr 10,20), um nun fürbittend für die Glaubenden einzutreten (vgl. Hebr 7,25; 9,24; 4,16). Weder versteht der Hebr die Erhöhung in Überbietung des Kreuzes als das entscheidende Heilsereignis, noch spricht er von einer ewigen Selbstdarbringung des Sohnes, sondern es gelingt ihm, „das Christusgeschehen von Kreuz und Erhöhung kulttheologisch als das eine Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit umschließende Heilsereignis nahezubringen“119 (Hebr 2,9: „Den aber, der kurz geringer als die Engel gemacht war, sehen wir, Jesus, wegen des Leidens am Tod mit Herrlichkeit und Ehre bekränzt, damit er durch Gottes Gnade den Tod für jeden schmecke“). Im Hebr fallen Kreuz und Erhöhung, der irdische und der himmlische Bereich ineinander, so dass im efa´pax („einmal“) Räume und Zeiten neu qualifiziert werden. 3) Das für die gesamte Christologie und Soteriologie (s. u. 11.3.4) zentrale Motiv der mitfühlenden Solidarität des Heilsbringers verweist auf das Kreuz als Ort des Heils (Hebr 2,17f; 5,7–10), die Inkarnation Jesu ist ein Akt rettender Solidarität. Jesus ist der „Anführer des Heils“ (arcvgo`ß tv˜ß swtvrı´aß), der durch sein Leiden vollendet wird und so die Söhne zur Herrlichkeit führt (Hebr 2,10). Die Hohepriester-Christologie gründet auf der Überzeugung, dass sich im Tod des sündlosen Jesus die Entmachtung von Tod und Teufel vollzogen hat (Hebr 2,14b: „. . .damit er durch den Tod den vernichte, der die Todesgewalt innehat, das heißt den Teufel“), so dass allein er und nicht der irdische (jüdische) Hohepriester die Tilgung der Sünden erwirken kann. Wie andere Formen der Christologie beschreibt auch die Hohepriestervorstellung den von Jesus ausgeübten Dienst der Vermittlung zwischen Gott und Mensch, der zugleich ein irdischer und ein himmlischer ist.
118 Vgl. E. KÄSEMANN, Das wandernde Gottesvolk (s. o. 11.3), 90ff; E. GRÄSSER, Hebräer, 1,1–4. Ein exegetischer Versuch, in: ders., Text und Situation, Gütersloh 1973, (182–228) 224: „Das Leben Jesu und das Kreuz behalten ihren Charakter als Episode: Die Erhöhung bleibt das Ziel“; DERS., Hebr I (s. o. 11.3), 135f; zur Kritik an gnostischen Erklärungsmodellen
vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 385. 119 F. LAUB, Zum Verständnis des Kreuzestodes (s. o. 11.3), 80; andere Akzente setzt H. LÖHR, Wahrnehmung und Bedeutung des Todes Jesu nach dem Hebräerbrief, in: Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, hg. v. J. Frey/J. Schröter, WUNT 181, Tübingen 2005, 455–476.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 601
11.3.3 Pneumatologie Im Hebräerbrief findet sich keine ausgeformte Pneumatologie, aber der Geist (Gottes) wird in zentrale Argumentationsgänge eingebunden. Grundlegend ist die Herkunft des Heiligen Geistes von Gott, der ihn nach seinem Willen austeilt (Hebr 2,4). Der Heilige Geist tritt im Rahmen des Sprechens Gottes auf (Hebr 3,7) und bezeugt Gottes Heil schaffendes Handeln (Hebr 10,15). Der Versöhnungsdienst Christi am Kreuz vollzieht sich nach Hebr 9,14 durch den ‚ewigen Geist‘, d. h. den Geist Gottes (vgl. Röm 1,3f; 1Tim 3,16)120. Im Selbstopfer Jesu handelt Gott selbst, er führt ihn von den Toten herauf (Hebr 13,20), setzt ihn zum ewigen Hohenpriester ein und erwirkt so die Erlösung der Glaubenden. Deshalb schmähen all jene Gott und den Heiligen Geist, die Jesu einmaliges Opfer durch ihren Abfall vom Glauben „mit Füßen treten“ (Hebr 10,29; vgl. Hebr 6,4.6). 11.3.4 Soteriologie Die gesamte Hohepriester-Christologie des Hebräerbriefes steht im Dienst der Soteriologie. Das levitische Hohepriestertum und das Gesetz haben nicht die Kraft, den Menschen zu seiner Bestimmung zu führen: Anteil an der Heiligkeit und Herrlichkeit des Wesens Gottes zu erlangen und freien Zugang zu Gott zu bekommen. Dies allein vermochte der Sohn, der seinen Brüdern in allem gleich wurde, „damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester für die Dienste vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes“ (Hebr 2,17). Jesu Mitgefühl mit den Menschen (Hebr 4,15; 2,17) gründet in der Erfahrung des eigenen Angefochtenseins im Leiden (Hebr 5,7–10). Weil Jesus selbst litt und den Versuchungen der Sünde ausgeliefert war, der Macht der Sünde aber nicht unterlag, kann nur er wirklich von den Sünden reinigen: „Denn sofern er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden“ (vgl. Hebr 2,18; vgl. ferner 1,3; 2,17; 4,15; 5,7.8). Das soteriologische Heil ist für den Hebr zuallererst die Sündenvergebung; die gesamte soteriologische Konzeption hängt an den beiden Worten cwri`ß amartı´aß („ohne Sünde“) in Hebr 4,15! Weil Jesus ohne Sünde war, vermag nur er die Sünden hinwegzunehmen. Die Sündlosigkeit Jesu folgt aber nicht nur aus seiner göttlichen ‚Natur‘, sondern sie ist auch Ergebnis eines Kampfes und bewusster Entscheidung (vgl. Hebr 12,2–3). Sündlosigkeit markiert somit die inkarnatorische und epiphaniale Differenz Jesu gegenüber allen Menschen. Der verlorene Mensch, dessen schuldhafte Gottesferne durch das Gesetz nicht überwunden werden kann, wird allein durch das Blut Jesu der Sünde entrissen und zur Vollendung geführt (Hebr 7,11–19; 9,11f). Der Hebr entfaltet so eine Mittler-Soteriologie121; Jesus ist im und durch dass Kreuzesgeschehen der Mitt120 Vgl. H. HEGERMANN, Hebr (s. o. 11.3), 180.
121 Vgl. K. BACKHAUS, Per Christum in Deum (s. o. 11.3), 269 f.
602 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
ler zwischen der irdischen und der himmlischen Wirklichkeitssphäre und ermöglicht den freimütigen Zutritt zu Gott: „Da wir nun, Brüder, das freie Recht zum Eintritt haben in das Heiligtum durch die Kraft des Blutes Jesu, den er uns eingeweiht hat als einen neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das heißt durch sein Fleisch“ (Hebr 10,19f). Die Vollendung des Weges Jesu hat soteriologische Qualität, denn „durch seine Darbringung vollendete er für immer die, welche geheiligt werden“ (Hebr 10,14). Diese Botschaft gilt es zu hören, denn dem worttheologischen Grundansatz des Hebr entspricht das Hören auf der Seite des Menschen. Das Heil hängt am Hören des Wortes, hier offenbart sich die rettende Macht Gottes (Hebr 2,1: „Deshalb müssen wir um so mehr auf das Gehörte Acht geben, damit wir nicht etwa vorbeitreiben“; vgl. Hebr 4,1–2.12f; 6,4f).
11.3.5 Anthropologie Die Anthropologie ist ein zentrales Thema im Hebräerbrief, denn die hoheitliche Sohneschristologie von Hebr 1 wird in Kap. 2,5–18 unter Aufnahme von Ps 8 und Gen 1 mit einer hoheitlichen Anthropologie weitergeführt. Der Mensch ist nur wenig geringer als die Engel, Gott hat ihm alles unter seine Füße gestellt (Hebr 2,7f). Die Söhne stammen ebenso wie der Sohn als Geschöpfe aus Gott, die Menschen sind unmittelbar verwandt mit Jesus (Hebr 2,11), der sich nicht durch die Heiligkeit des Himmlischen vom Elend der Menschen abgrenzt, sondern bewusst das Leiden auf sich nimmt, um so den Menschen in seiner ursprünglichen Herrlichkeit wiederherzustellen. Hier wird deutlich, dass im Hebräer die Anthropologie aus der Christologie erwächst122, es geht dem Hebr um die Rettung des gefährdeten Menschen. Weil sich Jesus in seinem Selbstopfer vollständig mit den Menschen gleichgemacht hat und die Todesgrenze durchstieß (Hebr 2,14f), eröffnet sich für den Menschen nun die Freiheit und Zuversicht, die Todesverfallenheit zu überwinden und zu Gott zu treten (vgl. parrvsı´a in Hebr 4,16; 10,19.35). Die Sünde
Die grundlegende Gefährdung des Menschen verbindet sich im Hebräerbrief mit dem Sündenbegriff. Das Wirken des Teufels und des Todes bündelt sich in der Sünde, denn in der Sünde greift der Tod auf das Leben über und im Tod findet die Sünde ihren Lohn. Inhaltlich weist er eine starke Variationsbreite auf123: Zentral ist die Vorstellung, dass Jesus durch seinen Kreuzestod die Sünde weggenommen und die Glaubenden gereinigt hat (Hebr 1,3: „er hat die Reinigung von Sünden erwirkt“; 122 Vgl. M. KARRER, Hebr I (s. o. 11.3), 164.
123 Zur Einzelanalyse vgl. H. LÖHR, Umkehr und Sünde (s. o. 11.3), 11–135.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 603
2,17: „damit er ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott würde, um die Sünden des Volkes zu sühnen“; 10,12: „dieser hat dagegen ein einziges Opfer für Sünden dargebracht“; vgl. Hebr 10,10.14.18). Hier erscheint die Sünde als eine Macht, die von keiner irdischen Instanz einschließlich des Hohenpriesters beseitigt werden kann (vgl. Hebr 5,1.3; 7,27; 10,6.8; 13,11). Programmatisch formuliert Hebr 10,4: „Denn unmöglich ist es, dass das Blut von Kälbern und Böcken eine Beseitigung der Sünden bewirkt.“ Zugleich spricht der Hebr vom Betrug der Sünde (Hebr 3,13) und fordert nachdrücklich dazu auf, der Sünde zu widerstehen (Hebr 12,1: „. . . lasst uns jede Last ablegen, vor allem die uns ständig umgarnende Sünde“; 12,4: „Noch habt ihr nicht bis aufs Blut Widerstand geleistet im Kampf gegen die Sünde“). In Hebr 10,26 erscheint die Sünde als ein vermeidbares Handeln: „Denn wenn wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, ist kein Opfer für Sünden mehr übrig.“ Dem entspricht positiv der Verweis auf Jesus als Vorbild im Kampf gegen die Sünde (Hebr 12,3). Der Hebr versucht offensichtlich zwei (notwendigerweise) nicht völlig widerspruchsfreie Gedanken miteinander zu verbinden, um so die Gemeinde neu in der Heilsgewissheit zu stärken und im Heilsvollzug zu motivieren: Jesus hat am Kreuz die Sünde überwunden, weil er allein ohne Sünde ist (Hebr 4,15; 7,26). Zugleich gilt es aber, der Sünde zu widerstehen und den negativen Zusammenhang zwischen Schwachheit, Versuchung und Sünde zu durchbrechen. Die christologische und die anthropologisch-ethische Linie nehmen die Sünde aus verschiedenen Perspektiven in den Blick, um so ihre grundsätzliche Überwindung im Christusgeschehen und ihre bleibende gefährliche Realität zu erfassen. Sie zeigt sich vor allem in der Möglichkeit der Abkehr vom Heil, die vom Hebr als die Sünde schlechthin aufgefasst wird und gegen die er sich eindrücklich wendet. Mit der Ablösung der alten Kultordnung hat auch das Gesetz jegliche Bedeutung verloren. Der Hebr vertritt keine eigenständige Gesetzesauffassung, sondern das Gesetz kommt nur noch unter kulttheologischem Aspekt zur Sprache. Es ist definitiv abgelöst, denn die vom Heil trennende Macht der Sünde kann durch das Gesetz nicht aufgehoben werden. Das Gesetz ist dem äußerlichen Bereich und nicht dem Leben zuzuordnen (Hebr 7,16); es vermag nicht zur Vollendung zu führen (Hebr 7,18.19a), weil es schwach und unfähig ist, Sünden wegzunehmen (Hebr 10,1f.11). Der Glaube
Der Hebräerbrief ist die einzige Schrift des Neuen Testaments, die eine Definition des Glaubens bietet124: „Es ist aber der Glaube ein Feststehen bei dem, was man hofft, und eine Gewissheit der Dinge, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Das Substantiv pı´stiß begegnet 32mal im Hebr, ein deutliches Signal für die Bedeutsamkeit der Glau124 Zum Glaubensbegriff im Hebr vgl. E. GRÄSSER,
Der Glaube im Hebräerbrief (s. o. 11.3), passim; G. DAUTZENBERG, Der Glaube im Hebräerbrief, BZ 17
(1973), 161–177; D. LÜHRMANN, Glaube im frühen Christentum (s. o. 6.5), 70–77; H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 564–571.
604 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
bensthematik. Angesichts des angefochtenen Glaubens der Adressaten betont der Hebr die Standhaftigkeit und Festigkeit des Glaubens. Der Glaube ist in seinem Kern eine Gewissheit, die in Gottes Handeln durch den Sohn ruht und somit seine Gewissheit bei Gott und von Gott her in sich selbst trägt. Ähnlich wie Philo betont der Hebräerbrief die Ausrichtung des Glaubens auf das Unsichtbare und damit auf Gott selbst. Der Glaube ist ein Sich-Verlassen auf das Unsichtbare, das als himmlische Welt im Gegensatz zur irdisch sichtbaren Welt unwandelbar und unvergänglich ist. Im Wandel der sichtbaren Welt gewährt allein die Ausrichtung auf die himmlische, unwandelbare Welt im Glauben wirklichen Halt. Die eher theoretische Fassung des Glaubensbegriffes im Hebr zeigt sich auch darin, dass fast durchgehend kein Objekt des Glaubens angegeben wird. Lediglich in Hebr 6,1 ist vom „Glauben an Gott“ und in Hebr 11,6 vom Glauben, dass Gott „auch wirklich Gott ist“, die Rede. Die Glaubensreihe in Hebr 11 orientiert sich an einer vorchristlichen Geschichte des Glaubens, an deren Ende Jesus steht als derjenige, der als Gründer und Vollender des Glaubens sich zur Rechten Gottes niedersetzte. Im Unterschied zu Johannes und Paulus wird im Hebr der Glaube nicht streng christologisch definiert; er bezeichnet vielmehr in erster Linie eine Haltung des Menschen, die Bewährungen standhält, sich durch Geduld auszeichnet und aus unbedingter Gewissheit heraus lebt. Der Glaube gerät damit in die Nähe einer Tugend bzw. ethischen Grundhaltung, ohne jedoch darin aufzugehen125. Der im Glauben ermöglichte freie Zutritt zu Gott ist allein durch Jesus ermöglicht worden, der durch sein Opfer als wahrer Hohepriester die Sünde überwand. Deshalb kann in Hebr 10,22f aufgefordert werden: „Lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in der Fülle des Glaubens . . . und lasst uns festhalten am Bekenntnis der Hoffnung als einem unwandelbaren, denn zuverlässig ist der, der die Verheißung gab.“ Die vom Glauben erhofften Güter sind die ‚kommende Welt‘ (Hebr 2,5), die ‚zukünftige Stadt‘ (Hebr 13,14), die ‚endzeitliche Gottesruhe‘ (Hebr 4,1ff) und das ‚ewige Erbe‘ (Hebr 9,15). Der Glaubensbegriff des Hebr steht deutlich in der Kontinuität biblisch-jüdischer Tradition, zugleich hat aber jede Glaubenstreue des Menschen ihren Grund im Heilswirken des Hohenpriesters Christus. Allein das Leidensgeschick Jesu begründet den Glauben (Hebr 2,17f), denn die Zuversicht des Glaubens gründet in der Gewissheit, dass Jesus wirklich die Macht der Sünde und damit des Todes überwunden hat. Das Gewissen und die Seele
Der Hebräerbrief hat ein ausgeprägtes psychologisches Interesse, denn er thematisiert die innersten und tiefsten Schichten des Menschen. Von den insgesamt 30 Belegen von suneı´dvsiß („Gewissen“) im Neuen Testament finden sich allein 5 im Hebr. Das Gewissen ist der Ort des Wissens des Menschen um sich selbst angesichts des Willens Gottes. 125 Anders E. GRÄSSER, Hebr III (s. o. 11.3), 84f, der Pistis als christliche Tugend der Standhaftigkeit im
Kontext „einer Konservierung des geistlichen Besitzstandes“ (a. a. O., 84) interpretiert.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 605
Deshalb ist es ein entscheidendes Defizit der alten Kultordnung, dass ihre Opfer das Gewissen nicht wirklich beruhigen können (Hebr 9,9), während das Blut Christi „unser Gewissen reinigt von den toten Werken“ (Hebr 9,14). Weil das Gewissen der Ort ist, wo sich der Mensch seiner Sünden bewusst wird, erlangen jene keine Ruhe und Sicherheit, die Jahr für Jahr durch Opfer die Sünde hinwegzunehmen suchen (Hebr 10,2). Demgegenüber dürfen all jene mit einem befreiten Gewissen hinzutreten, die in der Gewissheit des Glaubens stehen (Hebr 10,22). Im Gewissen sind die Sünden des Menschen präsent; indem er sich von ihnen trennt, reinigt er zugleich sein Gewissen. Das Gewissen als Organ und Ort realistischer Selbstbeurteilung führt den Autor des Hebr in 13,18 zu der Schlussbemerkung: „Betet für uns, denn wir sind überzeugt, dass wir ein gutes Gewissen haben.“ Hier erscheint suneı´dvsiß im gemeinantiken Sinn als Selbstbeurteilungsinstanz, die ihre Kriterien aus einer vorbildlichen Lebensführung gewinnt. Das lebendige Zentrum des Menschen, sein inneres Selbst wird im Hebr mit yucv´ (6 Belege) bezeichnet126. Gottes Wort dringt nach Hebr 4,12 ins Innerste des Menschen vor und trennt Seele und Geist, Gelenk und Mark. Als Verheißungswort ist es ein „Anker für die Seele“ (Hebr 6,19) und wer sich im Glauben bewährt, wird „das Leben gewinnen“ (Hebr 10,39: eiß peripoı´vsin yucv˜ß). Es ist die Aufgabe der Lehrer, über die Seelen der Gemeinde zu wachen (Hebr 13,17), d. h. für die Bewahrung des Heils zu wirken. Mit yucv´ benennt der Hebr somit das Innerste des vor Gott stehenden Menschen; jenes Organ, das gleichermaßen empfänglich und verletzlich für Gottes Wort ist.
11.3.6 Ethik Im „Wort von Christus“ (Hebr 6,1) spricht Gott selbst in höchster Unmittelbarkeit, so dass sich alles daran entscheidet, ob und wie es zum Hören kommt (Hebr 2,1–4). Eine Missachtung dieses Wortes hätte den unwiederbringlichen Verlust der einmaligen Gnade zur Folge: „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der redet“ (Hebr 12,25a). Um dies zu verhindern, redet der Hebräerbrief nicht polemisch nach außen, sondern parakletisch nach innen. Es geht ihm um die Selbstvergewisserung seiner Gemeinde, für die tragende Pfeiler des Glaubens ins Wanken geraten sind. Die Gemeinde war gegenüber der Heilsbotschaft ‚schwerhörig‘ und träge geworden (vgl. Hebr 5,11; 6,11.12). Der Gottesdienstbesuch lässt nach (vgl. Hebr 10,25), die Gemeinde muss bei den Grundlagen des Glaubens wieder ganz von vorn anfangen (vgl. Hebr 5,12– 6,2). Wie die Wüstengeneration steht auch die Gemeinde des Hebr in der Gefahr, die 126 Vgl. auch H. LÖHR, Anthropologie und Eschatologie (s. o. 11.3), 185: „Die Seele ist der Teil des Menschen, der in hervorragender Weise auf das Heil und
die letzten Dinge bezogen ist. Am Zustand der Seele entscheiden sich Heil oder Verderben der Menschen insgesamt.“
606 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
Gnade Gottes gering zu schätzen (vgl. Hebr 3,7–4,13; 12,15). So ist der Abfall vom Glauben und das damit verbundene Problem der zweiten Buße ein aktuelles Thema in der Gemeinde (vgl. Hebr 6,4–6; 10,26–29; 12,16f; ferner 3,12; 12,25)127. Hier verdichtet sich die soteriologische, anthropologische und ethische Argumentation des Hebr: Wer den Glauben verleugnet, tritt den Sohn Gottes mit Füßen und verunreinigt das Blut des Bundes (Hebr 10,29). Aus der Einmaligkeit und Größe des Opfers Jesu Christi folgt konsequenterweise die Mahnung, das Heilswerk Jesu nicht durch Apostasie zu verachten. Ein Zurück kann es für Abgefallene nicht geben, denn dadurch würde Jesu Kreuzestod entleert (vgl. Hebr 6,4–6; 10,26–29; 12,16f). Der Einmaligkeit des Opfers Christi entspricht die eine Taufe, nicht aber eine zweite Buße. Das für die Christologie und Soteriologie grundlegende efa´pax („einmal“) des Heilsgeschehens lässt eine Wiederholung der meta´noia („Umkehr“) nicht zu. Die Mahnungen und Warnungen in diesem Kontext haben zuallererst eine positive parakletische Funktion128, denn sie erinnern an das einmal von Gott gelegte Heilsfundament und wollen die Einsicht stärken, nicht hinter den einmal erreichten Stand zurückzufallen. Die passivischen Formulierungen in Hebr 6,4f („. . . die einmal erleuchtet wurden . . . geschmeckt haben . . . des Heiligen Geistes teilhaftig geworden sind“) zeigen, dass die Umkehr weitaus mehr als eine Sinnesänderung des Menschen ist, sondern immer und zuallererst gewährte Gnade, die wieder verloren gehen kann129. Wenn die Gemeinde aber im Glauben und im Gehorsam gegenüber der Verheißung unerschütterlich feststeht, ist es ihr verheißen, im Gegensatz zur Wüstengeneration in die eschatologische Ruhestätte einzugehen. Die Gemeinde soll die Glaubenszuversicht nicht wegwerfen (vgl. Hebr 10,35), die müden Hände und die wankenden Knie müssen gestärkt werden (vgl. Hebr 12,12), damit der Kreuzestod Jesu Christi durch ihr Verhalten nicht zum Spott wird (vgl. Hebr 6,6). Die späteren bußtheologischen Ausdifferenzierungen liegen dem Hebr noch fern130, ihm geht es um die Vergewisserung der Glaubenden, die das eschatologische Heil bereits gekostet haben und dennoch in der Gefahr stehen, den einmal eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Die Aussagen zur nochmaligen Buße fügen sich in die ethische Gesamtkonzeption des Hebr ein: Es dominieren grundlegende Aussagen (z. B. Hebr 2,1–4; 4,14–16; 10, 19–21), die ethische Folgerungen mit Aufforderungs- und Einsichtscharakter aus sich heraussetzen (vgl. Hebr 3,1; 4,1.11; 10,22–24; 12,1f.12)131. Der Autor appelliert an die Einsicht, ebenso aber an die Emotionen und die Grundüberzeugungen der Adressaten und beteiligt sie so an der ethischen Sinnbildung. Er führt Beispiele an
127 Zur Analyse der Texte vgl. neben den Kommentaren bes. I. GOLDHAHN-MÜLLER, Die Grenze der Gemeinde (s. o. 6.7.3), 75–114. 128 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 347–351. 129 Vgl. H. LÖHR, Umkehr und Sünde (s. o. 11.3), 286 ff.
130 Vgl. dazu I. GOLDHAHN-MÜLLER, Die Grenze der Ge-
meinde (s. o. 6.7.3), 225–278. 131 Vgl. zum Nachweis W. ÜBELACKER, Paraenesis or
Paraclesis (s. o. 11.3), 327–346.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 607
(negativ: der Unglaube und Ungehorsam der Wüstengeneration 3,7–19; 4,1–11; Esau 12,16; positiv: der Glaube und Gehorsam Jesu 3,1–6; 5,1–10; die ‚Wolke der Zeugen‘ 11; ein Beispiel aus der Natur: 6,7f), formuliert rhetorische Fragen (Hebr 1,5.10; 3,16–18; 7,11; 12,7.9) und stärkt durch Zuspruch die Bereitschaft der Glaubenden (Hebr 6,9f: „Gleichwohl sind wir im Blick auf euch, Geliebte, vom Besseren und dem Heil [swtvrı´a] Dienenden überzeugt – auch wenn wir hart reden. Denn Gott ist ja nicht ungerecht, dass er euer Tun und eure Liebe vergäße“). Die ethischen Aussagen des Hebr können deshalb als Paraklese bezeichnet werden, insofern „paraclesis also includes ‚new‘ or deepening and clarifying explanations, which allow for reasoning, argumentation and the establishment of a theoretical foundation for a specific exhortation in a specific situation.“132 Während die Paränese kurze und praktisch orientierte Anweisungen umfasst, zielt die Paraklese in begründender Form umfassend auf Verstand, Herz und theologische Einsicht. Nur ein vertieftes theologisches Erkennen, Wissen und Zustimmen führt zur Aktivierung verschütteter Einsichten und/oder neuen Ausrichtungen133. Auch der semantische Befund spricht für die Klassifizierung Paraklese, weil para´klvsiß in Hebr 6,18; 12,5; 13,22, parakaleı˜n in 3,13; 10,25; 13,19.22 erscheint und der Autor sein Schreiben in Hebr 13,22 als lo´goß tv˜ß paraklv´sewß („Wort der helfenden Einsicht“) bezeichnet. Schließlich finden sich lediglich in Hebr 13,1–5.7.17–19 kurze aktuelle Mahnungen.
11.3.7 Ekklesiologie Die parakletische Theologie des Hebräerbriefes hat insgesamt eine ekklesiologische Dimension, denn sie zielt auf ein verändertes und erneuertes Denken und Handeln der Gemeinde. Weil die Gemeinde von dem einst angenommenen Bekenntnis nicht mehr in der Tiefe durchdrungen ist, erwächst die Gefahr des Abfalls (vgl. Hebr 2,1–4; 3,12–19; 4,1–13; 10,26–31; 12,14–17). Es geht um die Überwindung der aus der Glaubens- und Handlungsschwäche resultierenden Unsicherheit der Gemeinde. Sie gehört der 3. Generation des frühen Christentums an (vgl. Hebr 2,3; 3,14; 5,12; 6,10–12; 10,32–34), hat sich in Verfolgungen bewährt (Hebr 10,32–34; ferner 6,10; 13,7) und zugleich aber die Energien der Anfangszeit verbraucht. Darum mahnt der Autor des Hebr besonders zum Festhalten am überlieferten Bekenntnis (vgl. Hebr 1,2; 2,3f; 3,14; 4,14; 10,23; 13,7–9) und versucht nachdrücklich, die Aufmerksamkeit der Gemeinde wieder auf die theologische Durchdringung des Christusgeschehens zu lenken.
132 W. ÜBELACKER, a. a. O., 348. 133 Vgl. hier auch Seneca, Epistulae 94, wo Seneca
sich umfassend zu den Formen und Begründungen ethischer Unterweisungen äußert.
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Der neue Bund
Als ekklesiologische Basismetapher dient dem Autor dabei der Bundes-Begriff; 17 von den insgesamt 33 Belegen von diahv´kv erscheinen allein im Hebr, hier wiederum konzentriert auf den zentralen Abschnitt Hebr 7,1–10,18134. Jesus stiftet am Kreuz den besseren Bund (Hebr 7,20–22) und er ist der Mittler eines neuen Bundes, der allein die Erlösung zu bringen vermag (Hebr 9,15; vgl. ferner Hebr 7,22; 8,6.10; 10,16– 18.29; 12,24). Der neue Bund (kainv` diahv´kv in Hebr 8,8; 9,15) überragt den ersten Bund, weil Jesus als der Anführer (Hebr 2,10) und Vorläufer (Hebr 6,20) des Heils in das himmlische Heiligtum eingetreten ist und das wahre Opfer somit vollbracht hat (vgl. Hebr 7,26; 8,1f; 9,11.24). Die Glaubenden dürfen Jesus in dem Bewusstsein nachfolgen, gerade in ihrem eigenen Leiden durch das Leiden des Sohnes zur Vollendung zu gelangen und der Erlösung teilhaftig zu werden. Bewusst schließt der Autor sein Schreiben in Hebr 13,20 mit der Zusicherung, dass Jesus durch sein Blut den „ewigen Bund“ ausgeführt habe. Die Bundestheologie übernimmt atl.-frühjüdische Sprachkonventionen (vgl. die Rezeption von Jer 31,31–34 und Ex 24,8 in Hebr 8,8–12; 9,20; 10,16), transformiert aber zugleich ihr Zentrum und prägt es neu. Die Vielfalt atl. Bundestraditionen wird vom Hebr nicht in den Blick genommen, sondern er konzentriert sich auf die Motive des Bundesbruches und der Verblendung des alten Bundesvolkes. Auch die zentrale Verbindung zwischen Bund und Gesetz wird nicht aufgegriffen135. Die eigentliche Verbindung zwischen atl. Bundeskonzeptionen und der Bundestheologie des Hebr liegt in der Theozentrik: Gott ist Ursprung, Mitte und Ziel des Bundes136. Zugleich wird diese Theozentrik aber christologisch gefüllt und erhält so ein neues Profil, denn die Christus-Homologie ist das Zentrum der Bundes-Vorstellung im Hebr. Textpragmatisch ist der Begriff ein wichtiges Element zur Selbstvergewisserung und zur Selbstdefinition einer Gemeinde, die auf ihrem Weg ihre Identität wieder neu bestimmen muss. Das wandernde Gottesvolk
Eine weitere zentrale Metapher der Ekklesiologie ist die Vorstellung vom wandernden Gottesvolk (vgl. bes. Hebr 3,7–4,11)137. Während dem in der Wüste wandernden Volk aufgrund seines Ungehorsams der Zugang zum verheißenen Ruheort Gottes versagt blieb, gilt es in der Gegenwart daraus die Konsequenzen zu ziehen und ‚heu134 Vgl. neben der grundlegenden Arbeit von K. BACKHAUS, Der neue Bund (s. o. 11.3) bes. U. LUZ, Der alte und der neue Bund bei Paulus und im Hebräerbrief, EvTh 27 (1967), 318–336; E. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, Tübingen 1985, 1–134 (ausführliche Behandlung des gesamten neutestamentlichen Befundes); H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 411–415.
135 Vgl. K. BACKHAUS, Der neue Bund (s. o. 11.3), 333. 136 Vgl. K. BACKHAUS, a. a. O., 350. 137 Vgl. hierzu E. GRÄSSER, Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes, in: ders., Aufbruch und Verheißung (s. o. 12.3), 231–250; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 282–287.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 609
te‘ die Stimme Gottes zu hören und das Herz nicht zu verschließen (Hebr 3,7f). Zum Gottesvolk des Hebr gehören gleichermaßen ehemalige Juden und Heiden, die die gleiche Botschaft hören wie die Wüstengeneration (Hebr 4,2). Der Israel verheißene Ruheort wird so mit dem von Christus erschlossenen endzeitlichen Heilsort in Verbindung gesetzt. Innerhalb des Gedankens des einen Gottesvolkes gibt es eine klare Steigerung und Überbietung, denn die Situation des Gottesvolkes zur Zeit des alten Bundes ist eine andere als die in der Zeit des neuen Bundes. Die Hausmetaphorik in Hebr 3,4–6 bringt dies zum Ausdruck: „Jedes Haus wird von jemandem erbaut; der aber alles erbaut hat, ist Gott. Und so war Mose wohl treu in seinem ganzen Hause als Diener zur Bezeugung der auszurichtenden Worte, Christus aber als Sohn über sein Haus; sein Haus aber sind wir, wenn wir die Freiheit und das Rühmen der Hoffnung festhalten.“ Reflexionen über das heilsgeschichtliche Verhältnis Kirche-Israel finden sich im Hebr nicht, sondern die Konzeption des einen Gottesvolkes verbindet sich mit der Wort-Gottes-Theologie, denn zu allen Zeiten hat allein das Reden Gottes im Wort das Volk Gottes konstituiert. Jede Generation steht vor der Herausforderung, sich diesem Wort zu stellen und in Bewegung bringen zu lassen hin zum endzeitlichen Ruheort und damit den Weg zu gehen, den Christus endgültig erschlossen hat. Dem wandernden Gottesvolk des neuen Bundes gilt allein die Verheißung (vgl. Hebr 11,1–12,3) und es kommt darauf an, „mit Ausdauer in dem vor uns liegenden Kampf zu laufen“ (Hebr 12,1). Die Gemeinde des Hebr ist dadurch bestimmt, dass sie auf ein Ziel jenseits von Geschichte und Welt unterwegs ist; es gilt: „Wir haben hier nicht eine bleibende Stadt, vielmehr die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14). Die himmlische Gottesstadt ist gegenwärtig noch verschlossen, hat aber ihre Wirklichkeit in der unbedingten Zusage des Wortes (Hebr 12,22). Von Ämtern ist im Hebr explizit nicht die Rede, innerhalb der Gemeinde haben vor allem die Leitenden (Hebr 13,7.17.24) die Aufgabe, das Wort Gottes in allen Lebenssituationen der Gemeinde hörbar zu machen und sie durch Zuspruch und vertieftes Eindringen in dieses Wort vor dem drohenden Abfall zu bewahren. Die Autorität der Lehrer ist allein vom Wort Gottes abgeleitet, das von ihnen in der nachgehenden Seelsorge für die Glieder der Gemeinde verstehbar gemacht wird. Nach Hebr 13,17 sind die Lehrer auf ihren Auftrag hin ansprechbar und sie müssen gegenüber Gott Rechenschaft ablegen. Terminologische Anklänge an die Taufe (Hebr 3,14; explizit in 6,2) und das Abendmahl (Hebr 6,4f; 9,20; 10,29; 13,9f)138 liegen vor, werden aber nicht theologisch ausgeführt. Die Kirche des Hebr (ekklvsı´a in Hebr 2,12; 12,23) ist ausschließlich Kirche des Wortes, die davon lebt, dass ihr dieses Wort immer wieder neu gegeben wird und sie in der Lage ist, es neu zu durchdringen. Jesus ermöglichte diese Gemeinschaft durch seine Menschwerdung und eröffnete ihr durch seine Ein-
138 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 726–729.
610 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
setzung als himmlischer Hohepriester Gottes Zukunft. Dessen darf sie sich als die „Gemeinde der Erstgeborenen, die in den Himmeln aufgezeichnet sind“ (Hebr 12,23) gewiss sein.
11.3.8 Eschatologie Auch die eschatologischen Aussagen müssen im Kontext der parakletischen Gesamtausrichtung des Hebräerbriefes gesehen werden. Der Autor greift verschiedene Traditionen auf und prägt sie teilweise neu, um der Gemeinde die große Verantwortung für das erlangte und noch ausstehende Heil einzuschärfen und sie zum Festhalten am Heil zu ermuntern. Dabei verschränken sich räumliches und zeitliches Denken, ohne vollständig miteinander ausgeglichen zu werden. Auferstehung und Parusie
Zu den grundlegenden Glaubensinhalten gehört nach Hebr 6,2 die Auferstehungshoffnung, denn die Gemeinde wurde unterwiesen in der Lehre von „Taufen und Auflegen der Hände, Auferstehung der Toten und ewigem Gericht.“ Diese Hoffnung basiert auf der Auferstehung Jesu von den Toten als dem eschatologischen Heilsereignis: „Der Gott des Friedens, der den großen Hirten der Schafe von den Toten heraufgeführt hat kraft des Blutes der ewigen Heilsordnung, unseren Herrn Jesus“ (Hebr 13,20). Durch seinen Tod vernichtete Jesus den Teufel und damit die Todesmacht, so dass nun die Glaubenden der Knechtschaft des Todes nicht mehr verfallen sind (Hebr 2,14–16). Zwar wird der Mensch sterben und dem Gericht überantwortet werden (Hebr 9,27; 10,27; 12,29), aber auch für Jesus galten die Einmaligkeit des Lebens und Sterbens. Gott erweckte ihn von den Toten und die Glaubenden dürfen hoffen, dass er an ihnen ebenso handeln wird. Von einer anderen Art von Auferstehung spricht der Autor in Hebr 11,5.19.35: Für die Zeugen des alten Bundes gab es bereits eine innerweltliche und gleichnishafte Auferstehung, die allerdings scharf unterschieden wird von der eschatologischen Auferstehung, die in Hebr 11,35 als die ‚bessere Auferstehung‘ bezeichnet wird139. Die Parusie Jesu kommt in Hebr 10,25 („dies um so mehr, je mehr ihr den Tag nahen seht“) und in 10,37 („Denn noch eine kleine, sehr kleine Weile, so wird kommen der Kommende und nicht säumen“) in den Blick. Auch in Hebr 1,6 („denn wenn er den Erstgeborenen wiederum einführt in die Welt“) dürfte ein Bezug auf die Parusie vorliegen, wofür pa´lin („wiederum“) und die Verbindungen zu Hebr 2,5 sprechen („kommende Welt“/Engel)140. Die primär zeitlich gedachte Parusie-Vorstellung wird jedoch im Hebr auch mit räumlichen Kategorien verbunden, wie Hebr 139 Vgl. H. LÖHR, Anthropologie und Eschatologie
(s. o. 11.3), 187–189.
140 Vgl. W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich (s. o. 11.3), 127 f.
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 611
9,24–28 zeigt. Jesus ist in den Himmel eingegangen, um dort „für uns vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen“ (Hebr 9,24b). Am Kreuz trug er die Sünden vieler und wird nun „zum zweiten Mal ohne Bezug auf die Sünde erscheinen zur Rettung derer, die auf ihn warten“ (Hebr 9,28). Himmlische Wirklichkeiten
Das Weltbild des Hebr ist wesentlich durch eine dualistische Seinsordnung geprägt, wonach alles Sichtbare/Veränderliche vergeht, während das Unsichtbare/Unveränderliche das wirklich Bleibende und Seiende ist. Hinter der sichtbaren Welt steht als Urbild die unsichtbare himmlische Welt; der Glaube erkennt, „dass die Äonen durch Gottes Reden bereitet sind, so dass aus dem, was nicht wahrnehmbar ist, das Sichtbare entstanden ist“ (Hebr 11,3; vgl. auch 4,3c). Gott hat beide Welten erschaffen, aber wirklich beständig ist allein die himmlische Welt. Die unerschütterliche Welt des Himmels, in die Christus mit seiner Erhöhung eintrat, die ihm unterworfen ist und an der auch die Glaubenden teilhaben, ist für den Hebr das zentrale eschatologische Gut (Hebr 8,1: „Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln gesetzt hat“). Während der irdische Kult in Jerusalem nur ein ‚Abbild‘ und ‚Schatten‘ des Himmlischen ist (Hebr 8,5), besteht die Verheißung des Neuen Bundes darin, dass die Glaubenden durch den wahren Hohenpriester Jesus Zugang zu Gott im Allerheiligsten des Himmels haben (Hebr 10,19–23). Während die Wüstengeneration am Sichtbaren (Hebr 12,18f: Berg, Feuer, Sturm) scheiterte, ermöglicht Jesu Tod für die Glaubenden nach ihrem Tod die Teilnahme an der himmlischen Festversammlung (Hebr 12,22–23). Im Glauben (Hebr 3,1: der „himmlische Ruf“) und in ihren Gottesdiensten (Hebr 6,4: das Schmecken der „himmlischen Gabe“) ist die Gemeinde dieser Wirklichkeit bereits teilhaftig. Darum kommt alles darauf an, den nicht abzuweisen, der diese himmlische Wirklichkeit eröffnet: „Deshalb lasst uns, die wir ein unerschütterliches Reich empfangen, dankbar sein“ (Hebr 12,28a). Räumliche Dimensionen dienen als Metaphern für die Qualifizierung von Seinsbereichen, wobei für den Hebr eine Verbindung von apokalyptischen und mittelplatonischen Vorstellungen charakteristisch ist. Während zahlreiche Einzelmotive aus der jüdischen Apokalyptik stammen141, weist die Diastase von Erde und Himmel, sichtbar und unsichtbar, Vergänglichem und Bleibendem, Erschütterbarem und Unerschüttertem, Veränderlichem und Unveränderlichem, Fremde und Heimat, Zeit und Ewigkeit142 auf einen mittelplatonischen Einfluss hin (vgl. z. B. Hebr 8,5; 9,23; 11,3.10.13; 12,22–24.25–29; 13,14)143. 141 Vgl. z. B. für Hebr 12,18–24 die Auslegung von H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 668–683. 142 Vgl. z. B. Plut, Delphi 19: „Was ist nun wirklich seiend? Das Ewige und Ungewordene und Unvergängliche, dem auch keine Zeit Veränderung bewirkt.“
143 Vgl. umfassend zur Begründung W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich (s. o. 11.3), 375–414. Zu beachten ist auch die stoische Vorstellung der wahren Polis: „Denn es sagen die Stoiker, dass der Himmel im eigentlichen Sinn Polis ist, während es jene hier auf Erden es keineswegs sind“ (SVF III 327).
612 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
Der endzeitliche Ruheort
Unter Aufnahme von Ps 95,7f.11 wird in Hebr 3,7–4,11 die Teilhabe der Glaubenden am Endgeschehen als „Eingehen in die Ruhe (kata´pausiß) Gottes“ bezeichnet144. Gemeint ist damit der endgültige Zielort der Verheißungen Gottes; wer dort angelangt ist, hat teil an der göttlichen Sabbatruhe (Hebr 4,4) und ruht wie Gott selbst (Hebr 4,10). Die Vorstellung der endzeitlichen Ruhe als umfassendes Sein bei Gott gehört wie die ‚himmlische Stadt‘ (Hebr 11,10; 12,22; 13,14) oder das ‚himmlische Vaterland‘ (Hebr 11,14.16) zu jenen Bildern des Hebr, die den endgültigen Heilsort bezeichnen sollen. Die kata´pausiß ist eine theologische Ortbestimmung, das Ziel der Wanderschaft des Gottesvolkes. Dieser Ort ist nicht einfach gleichzusetzen mit dem Allerheiligsten, in das der Hohepriester Jesus bereits eingegangen ist (Hebr 6,20; 9,12; 10,19), zugleich macht aber Hebr 4,16 deutlich, dass mit dem ‚Eingehen in die Ruhe‘ das ‚Hinzutreten zum Gnadenthron Gottes‘ verbunden ist. Das Eingehen in die Ruhe ist die durch die Zeiten gleichbleibende eschatologische Verheißung Gottes, die von der Wüstengeneration verfehlt wurde und sich nun für die Glaubenden unter Führung des Hohenpriesters Jesus realisiert. Die Vielzahl der eschatologischen Motive und Aussagen zeigt das Bemühen des Hebr, die Problematik der Parusieverzögerung eigenständig zu verarbeiten145. Er hält an einer Naherwartungsperspektive fest, bevorzugt aber zugleich (unter mittelplatonischem Einfluss) räumliche Aussagen, um so den zeitüberschreitenden ontologischen Status des neuen Seins stärker zu betonen146. Dies legte sich schon aufgrund einer primär kultisch und damit auch räumlich konzipierten Christologie nahe. Das verheißene Erbe (Hebr 1,14; 6,12; 9,15b), die „bessere Hoffnung“ (Hebr 7,19), das „Bekenntnis der Hoffnung“ (Hebr 10,23) und das „Land der Verheißung“ (Hebr 11,9) gründen in der Einmaligkeit des Opfers Jesu, der nun zum Anführer des Heils geworden ist und den Weg in das himmlische Heiligtum eröffnet hat. Das noch Ausstehende (vgl. Hebr 13,14) bezieht der Hebr nicht auf die Glaubensinhalte und den gegenwärtigen Heilsstand, sondern auf die Bewahrung des Heils in den unmittelbar bedrängenden Glaubenskämpfen. Die Glaubenden sind Teilhaber Christi (Hebr 3,14a), wenn sie in der „Zuversicht des Anfangs bis zum Ende festhalten“ (Hebr 3,14b).
144 Vgl. hierzu O. HOFIUS, Katapausis (s. o. 11.3); H.-
F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 268–273. 145 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 11.3), 72–74. 146 Vgl. W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich (s. o. 11.3), 132: „Das traditionell zeitliche Schema der Apokalyptik tritt bei ihm hinter räumlich-ontologi-
sche Vorstellungen zurück. An die Stelle der Spannung zwischen Schon und Noch nicht rückt die Diastase zwischen erschütterlicher und unerschütterlicher Welt, die beide schon jetzt nebeneinander existieren.“
Der Hebräerbrief: Das Sprechen Gottes 613
11.3.9 Theologiegeschichtliche Stellung Der Hebräerbrief nimmt innerhalb des Neuen Testaments in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein147: 1) Er ist das Zeugnis einer Wort-Gottes-Theologie im Neuen Testament. Das Reden Gottes durch die Zeiten hindurch ist der Grund und das Ziel alles Seienden; in Jesus Christus als dem Begründer und Vollender des Heils (Hebr 12,2) wurde es am Ende der Zeiten zum rettenden Geschehen. 2) Der Hebr ist das Zeugnis parakletischer Theologie im Neuen Testament, denn der Autor versucht, die Ermüdung und Erschlaffung der Gemeinde, den Erkenntnisschwund, den Kleinmut und das Gefühl der Unerlöstheit durch seine vertiefte Auslegung des Bekenntnisses und d. h. durch Theologie zu überwinden. Die Glaubenden dürfen Jesus in dem Bewusstsein nachfolgen, gerade in ihrem eigenen Leiden durch das Leiden des Sohnes zur Vollendung zu gelangen und der Erlösung teilhaftig zu werden. Heilsgewissheit und Heilsgegenwart sollen den Glaubensstillstand in der Gemeinde überwinden, denn die Gemeinde darf sich an der Verlässlichkeit des im Sohn sprechenden Gottes orientieren. Aus der Einmaligkeit und Größe des Opfers Jesu Christi folgt konsequenterweise die Mahnung, das Heilswerk Jesu durch Apostasie nicht zu verachten. Lehre und Ermahnung beziehen sich im Hebr stets aufeinander und durchdringen sich beständig, wobei in der konsequenten Ausrichtung der Lehre auf die Paraklese das besondere Profil des Hebr zu sehen ist. 3) Der Hebr ist das Dokument einer theologischen Komparativik im Neuen Testament: Das Heilshandeln des Sohnes wird im Gegenüber zum alten Kult breit entfaltet. Antithetisch stellt der Hebr die Überlegenheit der neuen Heilsordnung dar, wobei sich die offenbarungsgeschichtliche Überbietung vor allem in Jesu Stellung gegenüber den Engeln und dem irdischen Hohenpriester zeigt. Die dualistische Lesart des Alten Testaments unter dem Einfluss jüdisch-hellenistischer und mittelplatonischer Traditionen ist Ausdruck eines umfassenden Neubewertungs- und Umwertungsprozesses, der vom Gedanken der qualitativen Überbietung geprägt ist. Innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte lassen sich Verbindungslinien zwischen dem Hebr und anderen Traditionsströmen aufzeigen. So weist Hebr 1,1–4 Übereinstimmungen mit Joh 1,1–18; Phil 2,6–11; Röm 1,3–4; 1Kor 8,6; Kol 1,15ff auf. Wie Paulus (vgl. Gal 3; Röm 4) greift auch der Hebr in 6,13–20; 11,8–19 die Abrahamsverheißung auf. Sühnopfervorstellungen finden sich sowohl in Röm 3,25 als auch in Hebr 2,17f, und wie Paulus (vgl. 2Kor 3) kennt der Hebr die Antithese Erster Bund – Neuer Bund. Zugleich bestehen erhebliche Unterschiede zwischen der paulinischen Theologie und dem Hebr (Gesetz, Gerechtigkeit, Glaubensbegriff)148, so dass
147 Zur Leistung und zu den Grenzen der Theologie des Hebräerbriefes vgl. H.-F. WEISS, Hebr (s. o. 12.3), 767–786.
148 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum (s. o. 10), 233–240; K. BACKHAUS, Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule, BZ 37 (1993), 183–208.
614 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
sein Verfasser trotz Hebr 13,23f nicht als Schüler des Paulus angesehen werden kann. Vielmehr repräsentiert der Hebr eine eigenständige Theologie, die gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. das Problem der Glaubensmüdigkeit gleichermaßen durch Vergewisserung und Mahnung zu lösen versucht.
11.4 Der Judas- und der zweite Petrusbrief: Identität durch Tradition und Gegnerpolemik F. SPITTA, Der zweite Brief des Petrus und der Brief des Judas. Eine geschichtliche Untersuchung, Halle 1885; F. MAIER, Der Judasbrief, BSt X/1–2, Freiburg 1906; H. WERDERMANN, Die Irrlehrer des Judas- und des 2. Petrusbriefes, BFChTh XVII 6, Gütersloh 1913; T. FORNBERG, An Early Church in a Pluralistic Society. A Study of 2Peter, CB.NT 9, Lund 1977; F. HAHN, Randbemerkungen zum Judasbrief, ThZ 37 (1981), 209–218; R. BAUCKHAM, Jude, 2Peter, WBC 50, Waco 1983; G. SELLIN, Die Häretiker des Judasbriefes, ZNW 77 (1986), 206–225; H. PAULSEN, Art. Judasbrief, TRE 17 (1988), 307–310; D.F. WATSON, Invention, Arrangement and Style. Rhetorical Criticism of Jude and 2Peter, SBLDS 104, Atlanta 1988; A. VÖGTLE, Christologie und Theo-logie im zweiten Petrusbrief, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 383–398; R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes, TANZ 6, Heidelberg 1992; H. PAULSEN, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief, KEK XII/2, Göttingen 1992; A. GERDMAR, Rethinking the Judaism-Hellenism Dichotomy. A Historiographical Case Study of Second Peter and Jude, CB.NT 36, Stockholm 2001; J. FREY, Der Judasbrief zwischen Judentum und Hellenismus, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, 180–210; TH.K. HECKEL, Die Traditionsverknüpfungen des Zweiten Petrusbriefes und die Anfänge einer neutestamentlichen biblischen Theologie, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003, 189–204.
Der Judas- und der 2Petrusbrief gehören als pseudepigraphische Schreiben eng zusammen, denn der 2Petrusbrief übernimmt fast vollständig den Judasbrief149. Beide Briefe haben in unterschiedlicher Weise das Ziel, eine konkurrierende Lehre zu entkräften und ihre Gemeinden so zu sichern. Die theologische Konzeption des Judasbriefes
Ausgangspunkt des Judasbriefes ist eine aktuelle Gefährdung des Glaubens der angeschriebenen Gemeinde(n) (Jud 3). Gottlose haben sich (aus der Sicht des Verfassers) in die Gemeinde eingeschlichen und „leugnen unseren einzigen Herrscher und Herrn Jesus Christus“ (Jud 4). Die Gegnerpolemik des Jud arbeitet durchgehend mit traditionellen Motiven, so dass kaum zu entscheiden ist, ob es sich bei den Gegnern 149 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 452–460.460–469.
Der Judas- und der zweite Petrusbrief 615
um umherziehende Wanderprediger oder ortsansässige Gemeindeglieder handelt150. Ihre Teilnahme an Agapefeiern der Gemeinde (Jud 12) spricht jedoch für die letztere Möglichkeit (vgl. ferner Jud 19.22.23). Der Jud versucht auf verschiedenen Ebenen die Identität seiner Gemeinde zu stärken. Mit der Inanspruchnahme des Herrenbruders Judas und dem Verweis auf den Herrenbruder Jakobus (und damit auf den Jakobusbrief) in Jud 1 wird ein intertextuelles Netz aufgebaut, das deutlich einen pauluskritischen Standort signalisiert. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Gegner des Jud (möglicherweise mit Berufung auf Paulus und/oder seine Schüler) eine enthusiastische Lehre (und Praxis) vertraten. Sie verachteten die Engelmächte (Jud 8), sahen sich selbst als Pneumatiker (Jud 19) und fühlten sich traditionellen Begrenzungen enthoben (Jud 7ff). Die zahlreichen Verbindungslinien zur paulinischen/ deuteropaulinischen Theologie (speziell Kol) zeigen ebenfalls deutlich, dass Jud (wie der 2Petr) in das Umfeld der Auseinandersetzungen um das Erbe paulinischer Theologie gehört151. Auch die Anrede der Gemeinde als ‚Berufene‘ (Jud 1) und ‚Heilige‘ (Jud 3) dient der Abgrenzung gegenüber den Falschlehrern, deren Lehre und unmoralisches Tun ins Verderben führen werden (vgl. Jud 4.7–11). Schließlich kommt dem Traditionsgedanken im Judasbrief eine grundlegende Bedeutung für die Identitätssicherung zu. Die Gemeinde kämpft für den Glauben, der „ein für allemal den Heiligen überliefert ist“ (Jud 3). Er ist identisch mit den ‚zuvor gesagten‘ Worten der Apostel (Jud 17) und bildet das Fundament der Gemeinde (Jud 20). Die Gefährdung durch die Falschlehre verlangt nach einer Formulierung und Durchsetzung der Tradition, die vor allem im jüdischen Denken wurzelt. Wesentliche Bestandteile sind apokalyptische Spekulationen und die Henoch-Überlieferung152, aber auch hellenistische Vorstellungen werden aufgenommen (Jud 19b: „sie sind Psychiker, die den Geist nicht haben“). Allerdings wird der Traditionsgedanke nicht als formales Prinzip eingesetzt, sondern die Gemeinde weiß sich ihrem Erbe verpflichtet. Besonderes Gewicht kommt der Doxologie am Ende des Schreibens zu (V. 25), wo die Einzigkeit Gottes (mo´noß heo´ß), des Retters, betont wird. Im Zentrum der Christologie des Jud steht die Erwartung des kommenden Kyrios, der mit seinen Engeln zum Gericht erscheint (Jud 14.15). Gegenüber der Gemeinde wird Christus sich barmherzig zeigen (Jud 21), die Gegner werden jedoch für ihre gottlosen Werke bestraft. Engelverehrung war in der Gemeinde des Jud eine Selbstverständlichkeit (Jud 6.9.14), während die Gegner sie offenbar ablehnten, so dass hier ein Zentrum der Kontroverse zu sehen ist. Innerhalb der Ethik scheinen jüdische Reinheitsvorstellungen von Bedeutung gewesen zu sein (vgl. Jud 8.12.23). Die Gemeinde zeichnet Heiligkeit und Un150 Vgl. H. PAULSEN, Jud, 55. 151 Vgl. dazu mit (erheblichen) Unterschieden in der
Einzelargumentation z. B. U. B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte (s. o. 9), 23–26; R. BAUCKHAM, Jud, 12; G. SELLIN, Häretiker, 224f; R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Paulus, 128ff;
J. FREY, Judasbrief, 206–209 (Jud vertritt tendenziell eine Position, die im Kol bekämpft wird). 152 Vgl. R. HEILIGENTHAL, Zwischen Henoch und Paulus, 89–94, der über diese allgemeine Bestimmung hinaus als Trägerkreis des Jud christliche Pharisäer vermutet.
616 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
beflecktheit aus und sie lebt in einer gespannten eschatologischen Erwartung: Der endzeitlichen Verwerfung der Irrlehre (vgl. Jud 4.11.13.15) steht ihre Rettung zum ewigen Leben gegenüber (Jud 21). In Jud 22.23 werden der Gemeinde Anweisungen für den Umgang mit abweichenden Gruppen gegeben: Dem Erbarmen des Kyrios gegenüber der Gemeinde (Jud 21) entspricht ein Erbarmen mit den umkehrwilligen Irrenden, die dem kommenden Gerichtsfeuer entrissen werden sollen153. So zeichnet den Judasbrief bei aller Polemik ein seelsorgerlicher Grundzug aus. Die theologische Konzeption des 2Petrusbriefes
Der Verfasser des 2Petr war ein gebildeter hellenistischer (Juden)Christ154, der seiner Gemeinde im Streit um die (ausbleibende) Parusie mit seinem Schreiben ein Lösungsmodell anbot. Der bewusste Rückgriff auf den 1Petr (2Petr 3,1) lässt vermuten, dass sich auch der 2Petr an die in 1Petr 1,1 genannten kleinasiatischen Gemeinden richtet155. Auf heidenchristliche Gemeinden mit einem maßgeblichen judenchristlichen Anteil weisen auch die hellenistische Begrifflichkeit156 und die Art der Gefährdungen hin. Ethische Unbestimmtheit (vgl. 2Petr 1,5.10; 2,2; 3,14 u. ö.), Kontroversen um die Schriftauslegung (vgl. 2Petr 1,20f), vor allem aber Zweifel gegenüber der überlieferten Parusienaherwartung prägen die Gemeinden. Verschärft wurde diese Situation durch Falschlehrer, deren theologisches Profil, zieht man die übliche, austauschbare Gegnerpolemik ab157, sich folgendermaßen bestimmen lässt: 1) Die Gegner betreiben eine eigenwillige Schriftauslegung (2Petr 1,20.21), und sie werden deshalb ausdrücklich als ‚Pseudopropheten‘ bezeichnet (2Petr 2,1). Zu den ‚falsch‘ ausgelegten Schriften gehören auch Paulusbriefe (2Petr 3,15f). 2) Offenbar verwerfen die gegnerischen Lehrer wesentliche Elemente der traditionellen eschatologischen Lehre (Engel, Parusie, Endgericht, Weltuntergang) und es herrschen Skeptizismus und Spott gegenüber diesen Anschauungen vor (vgl. 2Petr 1,16; 3,3–5.9). 3) Die Gegner ‚leugnen‘ den Herrn (2Petr 2,1), sie ‚lästern‘ und ‚verachten‘ die Wahrheit und die himmlischen Mächte (2Petr 2,2.10). Sie sind stolz, übermütig und proklamieren eine falsche Freiheitslehre (2Petr 2,18a.19). 4) Die Gegner veranstalten ‚Schlemmereien‘ am Tag (2Petr 2,13), aus der Perspektive des 2Petr führen sie ein unreines Leben (vgl. 2Petr 2,10.18b.20). Offenbar lieferte das Sterben der Väter und das Ausbleiben der Parusie die Begründung für einen zu Beginn des
153 Zu Jud 23b vgl. H. PAULSEN, Jud, 85. 154 Auffällig ist der selbstverständliche Gebrauch re-
ligiös-philosophischer Termini des Hellenismus; zur Analyse des grundlegenden Tugendkataloges 2Petr 1,3–7 vgl. T. FORNBERG, Early Church, 97–101. 155 Vgl. O. KNOCH, 2Petr, RNT 8, Regenburg 1990, 199. 156 T. FORNBERG, Early Church, 112ff, schließt aus
dem gehobenen Griechisch des 2Petr auf eine Stadtkultur als historischen Kontext der Gemeinden. 157 Vgl. die Auflistung typischer Motive bei K. BERGER, Streit um Gottes Vorsehung. Zur Position der Gegner im 2. Petrusbrief, in: Tradition and Re-Interpretation in Jewish and Early Christian Literature (FS J. C. H. Lebram), StPB 36, Leiden 1986, (121– 135) 122.
Der Judas- und der zweite Petrusbrief 617
2. Jh. verbreiteten Skeptizismus (vgl. 1Klem 23,3–4; 2Klem 11,2–4)158, der jüdische bzw. judenchristliche Erlösungs- und Endzeitvorstellungen (vgl. 2Petr 2,1: Sühnopferchristologie; 2Petr 1,16: Die überlieferten Parusievorstellungen als mu˜hoß [„Mythos“]) als überwunden ansah. Die Gegner beriefen sich für ihre Position auf Paulusbriefe159 und proklamierten eine vernunftgeleitete Gotteserkenntnis (vgl. die betonte Verwendung von gnw˜siß in 2Petr 1,5.6; 3,18; epı´gnwsiß in 2Petr 1,2.3.8; 2,20) und eine am Freiheitsbegriff orientierte Glaubenspraxis. Der 2Petr begegnet der Fundamentalkritik der Gegner auf verschiedenen Ebenen. Schon die Wahl des Pseudonyms ‚Simon Petrus‘ signalisiert Standort und Absicht des Verfassers: Er versteht sich als Sprecher der Mehrheits-Kirche und reklamiert für sich die korrekte Auslegung der Schriften. Die Rezeption von Elementen der Gattung Testament dient ebenfalls der aktuellen Auseinandersetzung, denn die Worte eines Sterbenden besitzen unbestrittene Autorität. Sie können weder zurückgenommen noch geändert werden. Auf der fiktiven Ebene des Briefes behauptet Petrus, im Besitz des ‚prophetischen Wortes‘ zu sein (2Petr 1,19) und so die Gewissheit des ‚Tages des Herrn‘ verbürgen zu können. Um die Verlässlichkeit der Verheißungen Gottes zu erweisen, greift der 2Petr auf die Vorstellung der typologischen Entsprechung von Sintflutgericht und Endgericht (2Petr 3,5–7), auf Ps 90,4 (2Petr 3,8: ‚ein Tag bei dem Herrn ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag‘) und auf das Motiv des Diebes (2Petr 3,10; vgl. 1Thess 5,2; Mt 24,29ff.43; Offb 3,3; 16,15) zurück. Die Unberechenbarkeit und die unerschütterliche Hoffnung auf die Parusie des Herrn gehören für den 2Petr zusammen. Den Grund für die bisher ausgebliebene Parusie nennt 2Petr 3,9: Die Langmut Gottes gewährt noch die Möglichkeit zur Umkehr. Gott als Herr der Schöpfung und der Geschichte hat nicht nur eine andersartige Zeitperspektive, sondern es ist in Wahrheit seine Güte, die von den Gegnern verspottet wird! Damit offenbaren sie ihr wahres Wesen, sie leben in Selbsttäuschung und Sünde (vgl. 2Petr 1,9; 2,10–12.14.18) und erkennen nicht, dass Gottes gerechtes Gericht über sie kommen wird (vgl. 2Petr 2,3b.12f). Der 2Petr zielt auf die rechte ‚Erkenntnis Jesu Christi, des Herrn und Heilandes‘ (vgl. 2Petr 1,1f). In ihm offenbarte sich Gott (2Petr 1,17) und er ist nun der Herr der Geschichte (vgl. 2Petr 3,8–10.15a.18). Die göttliche Natur Jesu wird vom Autor betont herausgestellt (vgl. 2Petr 1,3f; 3,18; ferner 1,1.11,), denn die Teilhabe an der ‚göttlichen Natur‘ Jesu Christi ist das Ziel christlichen Lebens (2Petr 1,4). Die starke 158 Für den paganen Bereich vgl. die Belege (bes. Plut, SerNumVind) bei K. BERGER, Streit um Gottes Vorsehung, 124 f. Vornehmlich aus der paganen Umwelt heraus erklären die Position der Gegner T. FORNBERG, Early Church, 119f; J. H. NEYREY, The Form and Background of the Polemic in 2 Peter, JBL 99 (1980), 407–431; R. BAUCKHAM, 2Petr, 154–157;
K. BERGER, Streit um Gottes Vorsehung, passim. In der älteren Literatur werden die Gegner häufig als Gnostiker eingestuft; zur Kritik an dieser Forschungsposition vgl. H. PAULSEN, 2Petr, 95 f. 159 Auflistung möglicher Bezugsstellen bei O. KNOCH, 2Petr, 210 f.
618 Die Kirchenbriefe: Stimmen in gefährdeter Zeit
christologische Ausrichtung des 2Petr zeigt sich auch in dem christologischen Doppeltitel ‚unser Herr und Retter Jesus Christus‘ (2Petr 1,11; 2,20; 3,18) und in der Korrespondenz zwischen Briefanfang und -ende: Der Lobpreis des ku´rioß („Herrn“) und swtv`r LIvsou˜ß Cristo´ß („Retter Jesus Christus“) rahmt das Schreiben (vgl. 2Petr 1,1f; 3,18). Der 2Petr kann nicht einfach mit dem Verdikt des ‚Frühkatholizismus‘ diskreditiert werden160, sondern er lehrt das Ernstnehmen der Geduld Gottes, um möglichst viele Menschen zu retten. Er lenkt den Blick „auf die Anerkennung der Entwicklung der ‚apostolischen‘ zur ‚katholischen‘ Kirche im Vollsinn des Wortes und auf das ernsthafte Bemühen, alle legitimen christlichen Traditionen in der Kirche zu wahren und zur Geltung zu bringen.“161 Von der faktischen historischen Situation des 2Petr kann bei der Interpretation nicht abgesehen werden. Die Hermeneutik des Vergangenen und der umfassende ethische Diskurs sind wirksame Mittel der Identitätssicherung in einer hellenistischen Umwelt. In der Wahl des Pseudonyms ‚Petrus‘, dem Verweis auf die synoptische Tradition (speziell Matthäus)162, dem Rückgriff auf den 1Petr (2Petr 3,1) und vor allem mit der Inanspruchnahme des Paulus (und seiner Briefe) in 2Petr 3,15f artikuliert der 2Petr seinen Anspruch, die Gesamtheit der Zeugen für seine Interpretation der Parusieverzögerung auf seiner Seite zu haben. Im 2Petr treten nun Petrus und Paulus als Zeugen der Einheit und der Wahrheit auf163. Der Ethik kommt vor allem in einer hellenistischen Umwelt eine Schlüsselstellung zu. Faktisch ist der 2Petr über weite Strecken nichts anderes als Paränese, bei der die christlich-hellenistischen Glaubenstugenden Enthaltsamkeit/Selbstbeherschung (egkra´teia), Geduld/Ausharren (upomonv´), Frömmigkeit/Gottesfurcht (euse´beia) und Liebe (aga´pv) im Mittelpunkt stehen. Die Zuverlässigkeit des Zeugnisses und die Treue zu den Anfängen haben für den 2Petr auch am Anfang des 2. Jh. nichts von ihrer Aktualität verloren.
160 So vor allem E. KÄSEMANN, Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 61970, 135– 157. 161 O. KNOCH, 2Petr, 231. 162 Vgl. die Auflistung bei P. DSCHULNIGG, Der theologische Ort des Zweiten Petrusbriefes, BZ 33 (1989),
(161–177) 168–176. Nach Dschulnigg ist der Verfasser des 2Petr im Judenchristentum des Matthäusevangeliums beheimatet, „dessen Theologie er in seinem Brief auf der ganzen Linie verteidigt“ (a. a. O., 177). 163 Vgl. TH. K. HECKEL, Traditionsverknüpfungen, 193–195.
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Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
R. BULTMANN, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen 101968 (= 1941); DERS., Theologie, 354–445; C. H. DODD, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1978 (= 1951); R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium I-IV, HThK IV 1–4, Freiburg 51981.31980.31979. 1984; F. MUSSNER, Die johanneische Sehweise, QD 28, Freiburg 1965; E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 31971; G. RICHTER, Studien zum Johannesevangelium, BU 13, Regensburg 1977; J.L. MARTYN, History and Theology in the Fourth Gospel, Nashville 21979; E. RUCKSTUHL, Die literarische Einheit des Johannesevangeliums, NTOA 5, Fribourg/Göttingen 2 1987; A. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel, Philadelphia 1983; K. WENGST, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, München 41992; R.T. FORTNA, The Fourth Gospel and Its Predecessor, Edinburgh 1989; J. ASHTON, Understanding the Fourth Gospel, Oxford 1991; J. BE3 CKER, Das Evangelium nach Johannes I.II, ÖTK 4/1–2, Gütersloh 1991; M. W. G. STIBBE, John as Storyteller, Cambridge 1992; L. SCHENKE, Das Johannesevangelium, Stuttgart 1992; J. PAINTER, The Quest for the Messiah, Edinburgh 21993; M. HENGEL, Die johanneische Frage, WUNT 67, Tübingen 1993; C. R. KOESTER, Symbolism in the Fourth Gospel, Minneapolis 1995; O. HOFIUS/H.CHR. KAMMLER, Johannesstudien, WUNT 88, Tübingen 1996; J. FREY, Die johanneische Eschatologie I.II.III, WUNT 96.110.117, Tübingen 1997.1998.2000; F. J. MOLONEY, John, SP 4, Collegeville 1998; U. WILCKENS, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998; K. WENGST, Das Johannesevangelium, ThKNT 4/1–2, Stuttgart 2000.2001; M. THEOBALD, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg 2002; TH. SÖDING (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons?, QD 203, Freiburg 2003; U. SCHNELLE, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 32004; J. BECKER, Johanneisches Christentum, Tübingen 2004; J. ZUMSTEIN, Kreative Erinnerung, AThANT 84, Zürich 2004; J. FREY/U. SCHNELLE (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums, WUNT 175, Tübingen 2004; G. VAN BELLE/J. G. VAN DER WATT/P. MARITZ (Hg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel, BETL 184, Leuven 2005; H. THYEN, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005; E.E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften, WUNT 2.197, Tübingen 2005.
Wie bei keinem anderen ntl. Autor lässt sich beim 4. Evangelisten der Prozess der Theologiebildung als kreative Sinnbildung durch Erzählen erfassen1. Johannes steht an einem Wendepunkt; er sieht deutlich, dass seine Zeit (um 100 n.Chr. in Kleinasien)2 Jesus und dem Ursprung des Christentums nur treu bleiben kann, wenn sie 1 Vgl. U. SCHNELLE, Das Johannesevangelium als neue Sinnbildung, in: G. van Belle/J.G. van der Watt/P. Maritz (Hg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel, 291–313. 2 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einlei-
tung (s. o. 2.2), 503–544 (Joh 1–20 als literarische und theologische Einheit); andere Akzente setzt R. E. BROWN, An Introduction to the Gospel of John, New York 2003.
620 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
das Wagnis einer sprachlichen und gedanklichen Neuformulierung des Christusgeschehens eingeht. Dabei ist dem 4. Evangelisten der Rückbezug auf Jesus von Nazareth ebenso wichtig wie die Neuformulierung der Jesusbotschaft für seine eigene Zeit. Ohne den geschichtlichen Jesus, um dessen historisch-geographische Verortung er sich nachdrücklich bemüht (vgl. z. B. Joh 1,28.44; 2,1.13; 3,22; 4,4; 5,2; 6,1; 7,1; 11,1), gibt es für Johannes kein Christentum. Zugleich gilt aber: Ohne eine neuartige sprachliche und gedankliche Vermittlung bleibt die Jesusbotschaft unerschlossen, bringt sie keine ‚Frucht‘ (vgl. Joh 15,1–8). Die Sprache des 4. Evangeliums beschreibt eine Wirklichkeit, die sich nicht vordergründig auf einen Begriff bringen lässt. Sie ist rätselhaft und geheimnisvoll, weil sie das Geheimnis des Seins und Handelns Gottes bildhaft und symbolträchtig zu Gehör bringt. Sie nähert sich dem Unsagbaren so an, dass es bestehen bleibt und sich zugleich in neuer Weise verstehen lässt. Diese Neuerschließung vollzieht Johannes als produktive und weiterführende Aneignung der Jesus-Offenbarung mit seiner Evangelienschreibung. Dabei handelt es sich nach dem Selbstverständnis des Evangelisten nicht um einen eigenmächtigen Prozess, sondern durch den Parakleten legt sich Jesus im Johannesevangelium gewissermaßen selbst aus. Der nachösterliche Rückblick ist für Johannes gleichermaßen theologisches Programm und Erzählperspektive, er ermöglicht es dem 4. Evangelisten, theologische Einsichten in erzählte Geschichte umzusetzen. Dabei bedenkt Johannes entschiedener als alle anderen ntl. Autoren das Wirken und die Bedeutsamkeit Jesu Christi als unaufhebbare Einheit und setzt grundlegende theologische Einsichten in eine Erzählung um, so dass sein Evangelium als die erste Einführung in den christlichen Glauben gelesen werden kann (s. u. 12.9).
12.1 Theologie C. H. DODD, Interpretation of the Fourth Gospel (s. o. 12), 151–168; M.L. APPOLD, The Oneness Motif in the Fourth Gospel, WUNT 2.1, Tübingen 1976; C. K. BARRETT, Christocentric or Theocentric?, in: ders., Essays on John, 1–18, Philadelphia 1982; DERS., The Father is greater than I, a. a. O., 19–36; A. REINHARTZ (Hg.), God the Father in the Fourth Gospel, Semeia 85 (1999); T. LARSSON, God in the Fourth Gospel, CB.NT 35, Stockholm 2001; M. M. THOMPSON, The God of the Gospel of John, Grand Rapids 2001; F. HAHN, Theologie I, 600–611; D. R. SADANANDA, The Johannine Exegesis of God, BZNW 121, Berlin 2004; E. ZINGG, Das Reden von Gott als „Vater“ im Johannesevangelium, HBS 48, Freiburg 2006.
Im 4. Evangelium erscheint heo´ß 82mal, zumeist in christologisch determinierten Genitivverbindungen. Dies zeigt bereits das theologische Programm des Evangeliums: Theo logie als Christo logie, ohne dass dadurch die Theologie in ihrer grundlegenden Bedeutung geschmälert wird3. Bereits der Prolog Joh 1,1–18 signalisiert eine Vgl. R. E. BROWN, Introduction to the Gospel of John (s. o. 12), 249: „Thus Johannine Christology
3
never replaces theology.“
Theologie 621
theologische Protologie 4. Das Fundament des joh. Gottesbildes ist das AT, wie z. B. der Bezug auf Gen 1,1LXX in Joh 1,1f, die Vorstellung der ‚Herrlichkeit‘ Gottes (Joh 1,14; 5,44; 17,1.24), die Zitate in Joh 2,17; 6,31.45; 12,13.38.40, die Wendung „der eine wahre Gott“ in Joh 17,3 (vgl. Joh 3,33) und die ‚Ich-bin-Worte‘ (s. u. 12.2.4) belegen. Das Johannesevangelium verkündet keinen neuen Gott, wohl aber Gott in neuer Weise. Es geht um den einen, wahren und lebendigen Gott (Joh 6,57), der aus Liebe zur Welt den Sohn sandte, um die Glaubenden zu retten (Joh 3,16f). Niemand hat diesen unsichtbaren und jenseitigen Gott gesehen außer dem Sohn, der nun Kunde vom Vater bringt (1Joh 4,12a; Joh 1,18; 5,37; 6,46).
12.1.1 Gott als Vater Die alles überragende Gottesanrede und Gottesprädikation im 4. Evangelium ist patv´r („Vater“); sie erscheint 121mal bei Johannes, bei keinem ntl. Autor finden sich mehr Belege. Im AT ist ‚Vater‘ eine seltene, in den Schriften des antiken Judentums eine geläufige Gottesbezeichnung bzw. Gottesanrede5; häufig belegt ist sie auch als Anrede für Zeus6. So konnten joh. Christen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen in das Grundbekenntnis zu Gott als patv´r einstimmen. Vater ist Gott zuallererst in seiner Relation zum Sohn 7, Jesus wiederum spricht von ‚seinem Vater‘ (Joh 6,32.57; 8,19.54; 10,18.25 u. ö.). Der Vater liebt den Sohn (Joh 3,35; 14,21.23; 15,9) und sendet ihn (Joh 3,16; 5,37; 6,29 u. ö.). Er bewirkt (Joh 5,17.19.20.36.8,18; 14,10) und beglaubigt das Tun des Sohnes (Joh 5,43) und zeugt für den Sohn (Joh 5,37; 10,25). Den Willen des Vater vollzieht der Sohn (Joh 4,34; 5,30; 6,38.39.40). Der Vater ist Lebensträger und verleiht dem Sohn die Macht über das Leben (Joh 5,25.26; 6,57)8. Die Glaubenden legt der Vater in die Hand des Sohnes (Joh 6,37.44.65; 13,3), denn alles, was der Vater hat, gehört auch dem Sohn (Joh 16,15). Der Vater lehrt den Sohn (Joh 8,28), der nur redet, was er vom Vater hört (Joh 8,38; 12,49.50; 14,24). Der Sohn vollbringt die Werke des Vaters (Joh 10,37; 14,31), der vom Sohn geehrt wird (Joh 8,49). Der Vater richtet (Joh 8,16) und hat dem Sohn die Vollmacht übergeben, ebenfalls zu richten (Joh 5,22b). Schließlich verherrlicht der Vater den Sohn, so wie der Sohn den Vater verherrlichte (Joh 8,54; 12,28; 17,1). Innerhalb der joh. Familienmetaphorik erscheinen die Glaubenden als „Kinder Gottes“; vgl. zu teknı´a 1Joh 2,1.12.28; 3,7.18; 4,4; 5,21; Joh 13,33; zu te´kna heou˜ vgl. 4 Vgl. zur Prologlektüre aus theo-logischer Sicht D.R. SADANANDA, Johannine Exegesis of God, 151–217. 5 Vgl. M. M. THOMPSON, God (s. o. 12.1), 58–68; E. ZINGG, Gott als „Vater“ (s. o. 12.1), 304–308. 6 S. o. 3.3.1; vgl. weitere Belege in: NEUER WETTSTEIN I/1.2 zu Mt 6,9.
7 Vgl. hierzu D. R. SADANANDA, Johannine Exegesis of God (s. o. 12.1), 59–80. 8 Vgl. M. M. THOMPSON, „The Living Father“, in: A. Reinhartz (Hg.), God the Father in the Fourth Gospel (s. o. 12.1), 19–31.
622 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
2Joh 1.4.13; 3Joh 4; 1Joh 3,1.2.10; 5,2; Joh 1,12; 11,529. Sie sind ‚aus Gott gezeugt‘ (1Joh 2,29; 3,9; 4,7; Joh 1,13; 3,3ff) und gehören einem anderen Wirklichkeitsbereich an als die aus dem Irdischen stammenden Menschen. Johannes löst die Existenz der Glaubenden von allen geschichtlichen und blutsmäßigen Voraussetzungen und propagiert eine universale familia dei. Die Neuschaffung des Menschen vollzieht sich im Glauben durch die Kraft des Geistes in der Taufe (Joh 3,3.5). Der besondere Status der Glaubenden in ihrer Ausrichtung auf den Vater und den Sohn kommt auch in den Ehrenbezeichnungen adelfo´ß („Bruder“; 3Joh 3.5.10; Joh 20,17; 21,23) und fı´loi („Freunde“; 3Joh 15; Joh 11,11; 15,14f) zum Ausdruck. Die Jünger sind nicht Fremde oder Knechte, sondern Brüder und Freunde Jesu, denn sie erfüllen den Willen des Vaters. Der Konflikt um den wahren Vater
In der antiken Welt begründet die Abstammung die Würde und legitimiert Ansprüche. Der exklusive Bezug des Vaters auf den Sohn und der einzigartige Anspruch des Sohnes innerhalb der joh. Theologie konnten nicht ohne Widerspruch bleiben. Der Evangelist verarbeitet ihn im Disput um die wahre Abrahamskindschaft in Joh 8,37– 4710. Ausdrücklich erkennt Jesus die Berufung der LIoudaı˜oi („Juden“) auf die Abrahamskindschaft an (Joh 8,37: „Ich weiß, dass ihr Same Abrahams seid; aber ihr sucht mich zu töten, weil mein Wort nicht in euch haftet“). Zugleich gilt aber: „Wäre Gott euer Vater, so würdet ihr mich lieben. Denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Denn nicht von mir aus bin ich gekommen, sondern jener hat mich gesandt“ (Joh 8,42). Die wahre Gottes- und Abrahamskindschaft entscheidet sich am Glauben bzw. Unglauben gegenüber dem Gottessohn. Johannes sucht nach einer Erklärung für den Unglauben und die daraus resultierende Absicht, Jesus zu töten. Urheber des Unglaubens sind die LIoudaı˜oi nicht aus sich selbst heraus, sondern der Unglaube wird auf die übermenschliche Macht des Bösen, auf den Teufel zurückgeführt: „Ihr stammt von dem Vater, dem Teufel, und wollt die Begierden eures Vaters tun“ (Joh 8,44a). Johannes steht damit in der Tradition des antiken Judentums, in dem zunehmend die menschliches Begreifen übersteigenden Erfahrungen des Bösen einem Gegenspieler Gottes zugeschrieben wurden. Zwar bleibt Gott der Herr von Schöpfung und Geschichte, aber unerklärliche oder mit dem Heilsplan Gottes unvereinbare Ereignisse finden nun durch diesen Gegenspieler eine Erklärung. Im 4. 9 Vgl. dazu D. RUSAM, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes, (s. u. 12.7); E. ZINGG, Gott als „Vater“ (s. o. 12.1), 314–317. 10 Vgl. hier vor allem E. GRÄSSER, Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium, in: ders., Der Alte Bund im Neuen, Tübingen 1985, 135–153; U. SCHNELLE, Die Juden im Johannesevangelium, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hg. v. Chr. Kähler/
M. Böhm/Chr. Böttrich, Leipzig 1999, 217–230; R. BIERINGER/D. POLLEFEYT/F. VANDECASTEELE-VANNEUVILLE (Hg.): Anti-Judaism and the Fourth Gospel, Assen 2001; M. DIEFENBACH, Der Konflikt Jesu mit den „Juden“, NTA 41, Münster 2002; E. ZINGG, Gott als „Vater“ (s. o. 12.1), 107–131; L. KIERSPEL, The Jews and the World in the Fourth Gospel, WUNT 200, Tübingen 2006, 13–110.
Theologie 623
Evangelium und im 1Joh finden sich zahlreiche satanologische Aussagen: Der Teufel ist der Herr der Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11; lJoh 5,19), er lässt die Taten der Welt böse sein (Joh 3,19; 7,7). Er ist nicht nur für den Verrat Jesu verantwortlich, indem er in Judas hineinfährt (vgl. Joh 6,70; 13,2.27), vielmehr hat jede Art von Sünde in ihm ihren Ursprung (vgl. 1Joh 3,8). Nicht die Wahrheit, sondern die Lüge ist das Kennzeichen des Teufels. Wenn die Gegner Jesus töten wollen, dann erweisen sie damit ihr Sein „aus dem Vater, dem Teufel“. Für das Verständnis des schwierigen Verses Joh 8,44 sind zwei Erkenntnisse grundlegend: 1) Die Juden sind nicht wesenhaft Teufelskinder, sie wurden es vielmehr unter dem Einfluss einer fremden, unentrinnbaren Macht: dem Teufel. 2) Jesus spricht nicht generell von der Teufelskindschaft der Juden, sondern er wendet sich mit der direkten Anrede umw˜n („euer“) ausschließlich gegen jene LIoudaı˜oi, die ihn töten wollen, d. h. vor allem gegen die Führer des Volkes11. Zudem finden sich auch sehr positve Aussagen über die Juden im 4. Evangelium (s. u. 12.4.1)! Damit verbindet sich die Beobachtung, dass der Kosmos der qualifizierende Leitbegriff des 4. Evangeliums ist (s. u. 12.2.2), dem die LIoudaı˜oi unterzuordnen sind12. Die Juden können nicht einfach als die Repräsentanten des ungläubigen Kosmos gesehen werden, sondern sie sind eine (und nicht die einzige!) Verkörperung des Kosmos, die sich innerhalb der Erzählstruktur des Evangeliums aus der konkreten historischen Situation des Wirkens Jesu und bei Johannes zudem aus den Anfängen seiner Gemeinde (Konflikte mit Juden) und der dramatischen Struktur seines Evangeliums13 ergibt. Nicht nur die Juden, auch Pilatus und damit die griechisch-römische Welt erweisen sich als Gegner Jesu, wenn sie im Unglauben verharren. Nicht mehr die ethnische Zugehörigkeit legitimiert die Berufung auf den einen wahren Gott, den Vater, sondern allein die Stellung zu Jesus Christus, der spricht: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6).
12.1.2 Das Wirken des Vaters im Sohn Die zentrale theo logische Vorstellung im Johannesevangelium ist das Wirken des Vaters im Sohn. Es ist nicht ein Wirken des Vaters durch den Sohn, denn der Sohn ist weitaus mehr als Instrument, Bote oder Agent des Vaters: Er hat teil am Wesen des Vaters14. Die Einheit von Vater und Sohn ist die Basis der joh. Theo logie und Christo 11 Vgl. auch M. DIEFENBACH, Der Konflikt Jesu mit den „Juden“, 280. 12 Grundlegender Nachweis bei L. KIERSPEL, The Jews and the World, 111–213. 13 Die Konzentration auf Kap. 5–11 und den Passionsbericht zeigt deutlich, dass die Verwendung von LIoudaı˜oi im Johannesevangelium als dramatur-
gisches Element verstanden werden muss; vgl. U. SCHNELLE, Joh (s. o. 12), 180–183. 14 Gegen D. R. SADANANDA, Johannine Exegesis of God (s. o. 12.1), 64f, der die Seins- und Handlungseinheit von Vater und Sohn durch den Begriff des „self-emptying“ Gottes minimieren will und von einer „divine Agent Christology“ (a. a. O., 280) bzw.
624 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
logie (Joh 10,30). Der Vater offenbart sich umfassend im Sohn, der beansprucht, in Einheit mit dem Vater/Gott zu sein und zu wirken. Die Offenbarung des Vaters aus Liebe
Die Offenbarung des Vaters im Sohn gründet ausschließlich in Gottes Liebe: „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzig geborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ Joh 3,16; vgl. 1Joh 4,9: „Denn darin ist offenbar geworden die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzig geborenen Sohn sandte“. Anders als z. B. Epikur15 geht der Evangelist gerade nicht von einem Desinteresse Gottes an der Welt oder einer Abwesenheit Gottes in der Welt aus. Mit Joh 3,16 gilt die erste Erwähnung des Begriffsfeldes aga´pv/agapa˜n („Liebe/lieben“) im 4. Evangelium der Liebe Gottes zur Welt; deutlicher kann Johannes seine Position der Weltzugewandtheit Gottes in der Sendung des Sohnes nicht signalisieren!16 Die Liebe des Vaters zum Sohn (vgl. Joh 3,35; 10,17) ist Ausdruck der wesensmäßigen Verbundenheit zwischen ihnen und deshalb zeigt der Vater dem Sohn alles, was er selbst tut (Joh 5,20). Der Vater hat ihn mit ewiger Liebe geliebt (17,26; 15,9), und in dieser Liebe bleibt Jesus (15,10); durch sie empfängt er seine Vollmacht (3,35; 5,20). Sie hält ihn auch, wenn er sein Wirken in der Lebenshingabe vollendet (10,17). Die Einheit zwischen Gott und Jesus ist also eine Einheit in der Liebe. Vom Vater geht eine umfassende Liebesbewegung aus, die den Sohn (Joh 3,35; 10,17; 15,9.10; 17,23.26) ebenso umfasst wie die Welt (Joh 3,16) und die Jünger (Joh 14,21.23; 17,23.26). Sie setzt sich fort in der Liebe Jesu zu Gott (Joh 14,31) und den Jüngern (Joh 11,5; 13,1.23.34; 14,21.23; 15,12.13; 19,26), sowie der Liebe der Jünger zu Jesus (Joh 14,15.21.23) und zueinander (Joh 13,34.35; 15,13.17). Das joh. Denken ist im Innersten vom Liebesgedanken geprägt: die vom Vater ausgehende Liebe setzt sich im Wirken des Sohnes und der Jünger fort, bis schließlich trotz des Unglaubens Vieler auch die Welt erkennt, „dass du mich gesandt hast und du sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast“ (Joh 17,23). Die narrative Präsentation der Jesus-Christus-Geschichte im 4. Evangelium wird insgesamt durch eine „dramaturgische Christologie der Liebe Gottes“ bestimmt17. Es entspricht dem Wesen der Liebe, nicht bei sich selbst zu bleiben; weil Liebe Bewegung ist, setzt sie sich fort und bestimmt der Liebes-
„sub-ordinate Christology“ (a. a. O., 285) spricht. Damit wird er weder den ‚Ich-bin-Worten‘ (s. u. 12.2.3) noch der ausdrücklichen Qualifizierung Jesu als Gott (s. u. 12.2.4) gerecht. 15 Vgl. Cic, Nat Deor I 121: „Epikur jedoch hat die Religiosität aus den Herzen der Menschen mit Stumpf und Stiel herausgerissen, indem er den un-
sterblichen Göttern sowohl Hilfsbereitschaft als auch Liebesfähigkeit absprach.“ 16 Vgl. zur ausführlichen Analyse E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 239–248, der zu Recht Joh 3,16 als ‚Fundamentalaussage des Johannesevangeliums‘ bezeichnet. 17 E. E. POPKES, a. a. O., 173.
Theologie 625
gedanke nicht nur die Theologie, sondern gewinnt Gestalt in der Christologie, um von dort alle Bereiche des joh. Denkens zu füllen18. Gegenseitige Immanenz
Unmittelbarer Ausdruck der Wesens- und Wirkeinheit vom Vater im Sohn in der Liebe ist die gegenseitige Immanenz19. Auch hier kann von einer theologischen Protologie gesprochen werden, denn bereits in Joh 1,1–3 bezieht sich das Sein und Wirken des Logos streng auf den absoluten Anfang: Gott20. Die reziproke Immanenzaussage in Joh 10,38 („damit ihr erkennt, dass der Vater in mir ist und ich im Vater“) und Joh 14,10 (Jesus sagt zu Philippus: „Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir?“) bringt die joh. Konzeption prägnant zum Ausdruck: Weil Jesus aus der vom Vater gewollten und gewährten Einheit lebt, offenbart sich in seinem Reden und Wirken der Vater selbst. Aus der Einheit erfolgt ein gegenseitiges Erkennen (Joh 10,15) und vollkommene Teilhabe eines am anderen: Alles was der Vater besitzt, hat auch Jesus (Joh 16,15; 17,10). Der Vater ist ganz im Sohn gegenwärtig und der Sohn im Vater; zugleich bleiben beide grundlegend unterschieden: Der Sohn wird nicht zum Vater und der Vater bleibt durchgehend der Vater, der sich im Sohn offenbart. Wie Christus in Gott ist und Gott in ihm (Joh 14,10), so bleibt der Gläubige in Christus (Joh 6,56; 15,4–7; 1Joh 2,6.24; 3,6.24) und Christus im Gläubigen (Joh 15,4–7; 1Joh 3,24). Ebenso bleibt Gott im Gläubigen (1Joh 4,16; 3,24) und der Gläubige in Gott (1Joh 2,24; 3,24; 4,16). Dabei erscheint die Vereinigung des Christen mit Gott bzw. Jesus Christus als eine Ausweitung der Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn (Joh 17,21: „damit sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“; vgl. ferner Joh 14,20; 17,11; 1Joh 2,24; 5,20). Wie dem paulinischen en Cristw˜ kommt auch der joh. Vorstellung der Immanenz eine starke ethische Dimension zu. Speziell mit dem Verbum me´nein wird die praktische Bewährung der seinshaften Gottes- und Christusgemeinschaft zum Ausdruck gebracht, denn dem Bleiben in Gott bzw. in Christus korrespondiert das Bleiben in der Liebe (vgl. Joh 15,9.10; 1Joh 2,10.17; 3,15.17; 4,12.16).
18 Vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 355: „Die liebessemantischen Motive haben eine Schlüsselfunktion für das Verständnis des vierten Evangeliums. Sie stehen in einem wechselseitigen Bezugssystem, durch welches die theologische Gedankenführung des vierten Evangeliums eindrücklich zutage tritt. Diese Konzeption kann als ‚dramaturgische Christologie der Liebe Gottes‘ bezeichnet werden, da die Worte und Taten Jesu die
menschgewordene Liebe Gottes verkörpern.“ 19 Grundlegend K. SCHOLTISSEK, In Ihm sein und
bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg 2000. 20 Treffend K. SCHOLTISSEK, a. a. O., 193: „Als Metatext und hermeneutischer Schlüssel zum Corpus Evangelii ist der Johannesprolog zugleich der Metatext der joh. Immanenz-Sprache.“
626 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
Gott erkennen
Mit der Vorstellung der Immanenz verbindet sich ein weiterer grundlegender Gedanke: Wenn niemand jemals Gott gesehen hat (Joh 1,18; 3,13; 5,37f, 6,46; 8,19) und seine Worte und Werke nur durch Jesus erfahrbar sind, dann kennt, wer Jesus kennt, zugleich den Vater (Joh 8,19; 14,7), und wer Jesus sieht, hat den Vater gesehen (Joh 14,7.9; 12,45). Gott bleibt nicht jenseitig und verborgen, sondern lässt sich in Jesus erkennen; nur im Sohn wird der Vater auf Erden sichtbar (vgl. Joh 8,19; 14,8)21. Wiederum beantwortet Johannes damit eine religionsphilosophische Grundfrage: Wer ist Gott, wie und wo trete ich in Verbindung mit ihm, wie erkenne ich Gott, lerne ich ihn kennen? Gottes Wort kann auf Erden nur in Jesus Christus gehört, das Wesen des Vaters nur im Sohn geschaut werden. Damit wird keine Identität behauptet, sondern ein Paradoxon: Jesus ist nicht der Vater selbst, und dennoch ist Gott allein in ihm unter den Menschen in Zeit und Geschichte erschienen und anwesend (8,24.29.58; 14,9; vgl. 6,20). Folgerichtig bekennt Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“ (20,28). Das ‚Erkennen‘ Gottes (vgl. 1Joh 2,3–5.13f; 3,1.6; 4,6–8; Joh 1,10; 8,55; 14,7; 16,3 u. ö.) ist bei Johannes identisch mit dem Glauben an Jesus Christus als Gottes Sohn (s. u. 12.5.1), denn wer ihn gesehen hat und an ihn glaubt, kennt Gott. Die Werke des Vaters im Sohn
Die joh. Theologie (und Christologie) ist durch einen grundlegenden Gedanken geprägt: Der Wille des Vaters ermöglicht und legitimiert das Werk/die Werke des Sohnes. Jesus wirkt nicht allein, sondern der Vater ist in und bei ihm (Joh 8,16.29; 16,32). Zweimal erscheint der Singular ergon („Werk“), um Jesu Tun umfassend zu benennen (Joh 4,34; 17,4)22, wobei der zweite Beleg das gesamte Wirken Jesu unter die Perspektive der Passion stellt: „Ich habe dich auf der Erde verherrlicht, indem ich das Werk vollendet habe, das zu tun du mir gegeben hast.“ Indem Jesus das ihm vom Vater aufgetragene Werk in der Welt vollendet, wird er vom Vater verherrlicht. Deshalb kommt auch das Werk des Vaters im Leiden- und Sterbenmüssen des Sohnes zu seinem Ziel, d. h. Gottes Werk vollendet sich am Kreuz (vgl. Joh 19,30). Der Plural erga („Werke“) findet sich 27mal im Evangelium; zu den verschiedenen erga gehören zunächst die Wunder Jesu. Ein deutlicher Bezug auf die svmeı˜a („Zeichen/Wunder“) liegt in Joh 5,20.36; 6,29.30; 7,3.21; 9,3.4; 10,25.32ff; 14,10f; 15,24 vor. Die Wunder als Werke Jesu haben sowohl Offenbarungsqualität als auch Legitimationsfunktion und sind sinnfälliger Ausdruck der Einheit des Sohnes mit dem Vater. Als Zeugen für die Einheit des Vaters mit dem Sohn erscheinen die erga in Joh 4,34; 5,36 („Denn die Werke, die mir der Vater übergeben hat, damit ich sie vollende, . . ., legen Zeugnis für mich ab, dass der Vater mich gesandt hat“); 6,28 f; 9,4; 10,25.32.37; 14,10; 17,4. Der 21 Vgl. weiterhin R. BULTMANN, Art. ginw´skw,
ThWNT I, Stuttgart 1933, (688–719) 711–713.
22 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. u. 12.2), 161–167.
Theologie 627
Sohn vollbringt die erga tou˜ heou˜, tut den Willen dessen, der ihn gesandt hat, und gerade deshalb bezeugen ihn die Werke. Auch die Worte Jesu können als erga erscheinen, vgl. Joh 5,36–38; 8,28; 14,10; 15,22–24. Prägnant wird die Seins- und Wirkeinheit des Vaters mit dem Sohn in Joh 5,17ff entfaltet, denn der Vater ermächtigt den Sohn, wie er selbst Macht über Leben und Tod auszuüben. In der Begegnung mit Jesus vollzieht sich nun der Schritt vom Tod zum Leben, in Jesus ist das Heilsgut des ewigen Lebens bereits gegenwärtig (s. u. 12.8). Allein im Willen des ihn sendenden Vaters (s. u. 12.2.2) liegen Jesu Anspruch und Werk begründet, d. h. die Theologie begründet auch bei Johannes umfassend die Christologie.
12.1.3 Gott als Licht, Liebe und Geist Nicht zufällig finden sich die drei einzigen Definitionen Gottes in der joh. Literatur: Gott ist Licht (1Joh 1,5: o heo`ß fw˜ß estı´n), Gott ist Liebe (1Joh 4,8b.16b: o heo`ß aga´pv estı´n) und Gott ist Geist (Joh 4,24: pneu˜ma o heo´ß). Dies entspricht der joh. Tendenz, sowohl begrifflich zu fixieren und zu präzisieren als auch geläufige religiöse Symbole aufzunehmen, um so Verstehen zu ermöglichen. Subjekt und Prädikatsnomen sind in der joh. Symbolsprache unumkehrbar; Symbole menschlicher Religiosität werden mit Gott verbunden, dürfen aber nicht mit ihm verwechselt werden23. Licht als Symbol für Gott findet sich bereits vielfach im AT (vgl. Jes 2,3.5; 10,17; 45,7; Ps 27,1; 104,2) und ist in der gesamten Antike verbreitet24. Licht kommt von ‚oben‘, ist hell und rein und weist somit Eigenschaften des Göttlichen auf, ebenso ist die Finsternis fest in der menschlichen Erfahrung als Ort der Gefährdung verankert. In der joh. Konzeption werden diese Elemente aufgenommen und spezifisch bearbeitet: ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ konstituieren sich angesichts der Offenbarung in Jesus Christus (Joh 8,12: „Ich bin das Licht der Welt“; vgl. 1,9; 9,5; 12,36.46), die Menschen sind nicht selbst das Licht, vielmehr werden sie vom Licht betroffen und finden sich im Schein des Lichtes vor (vgl. Ps. 36,10). So wie das Licht ein Kennzeichen der Offenbarung ist, zeugt die Finsternis von ihrer Abwesenheit. Innerhalb der joh. Symbolsprache bezeichnet Licht als Inbegriff der Offenbarung den Bereich der Gottzugehörigkeit und damit des wahren Lebens, während Finsternis für Gottesferne, Gericht und Tod steht. Ausgehend von den starken Impulsen Jesu (s. o. 3.5) spielt die Liebesvorstellung in der frühchristlichen Symbolsprache von Anfang an eine zentrale Rolle. Im Johannes23 Vgl. C. R. KOESTER, Symbolism in the Fourth Gos-
24 Vgl. dazu umfassend O. SCHWANKL, Licht und
pel (s. o. 12), 4: „A symbol is an image, an action, or a person that is understood to have transcendent significance. In Johannine terms, symbols span the chasm between what is ‚from above‘ and what is ‚from below‘ without collapsing the distinction.“
Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg 1995; C. R. KOESTER, Symbolism in the Fourth Gospel (s. o. 12), 123–154; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 229–239.
628 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
evangelium und im 1Joh wird sie auf den Begriff gebracht25: Weil die Selbstmitteilung Gottes als umfassende Liebesbewegung verstanden wird, ist die Selbstdefinition Gottes als Liebe folgerichtig. Gottes Liebe bildet den Ausgangspunkt und das Zentrum eines Prozesses, der den Sohn ebenso umfasst wie die Glaubenden (s. o. 12.1.2). Damit ist die Wendung o heo`ß aga´pv estı´n (1Joh 4,16b) aber noch nicht ausgeschöpft, denn sie sagt zuallererst etwas über Gott selbst aus: Das Sein, das Wesen und das Wirken Gottes ist von Liebe geprägt. Jenseits menschlicher Emotionen zielt Gottes Liebe darauf, alles Geschaffene in die Einheit von Vater und Sohn aufzunehmen und ihm so wahres Leben zu schenken. Die Wendung pneu˜ma o heo´ß (Joh 4,24: „Gott ist Geist“) ist ein Spitzensatz hellenistischer Religionsgeschichte und joh. Theologie26. Weil Gott Geist ist und nur im und aus dem Geist richtig angebetet werden kann, ist das joh. Gottesdienstverständnis universal und lässt weder religiös-nationale noch soziale oder geschlechtliche Differenzierungen und Diskriminierungen zu. Samaritaner, Griechen und Juden können an diesen Gottesdiensten ebenso teilnehmen wie Frauen. Mit dem Auftreten Jesu vollzieht sich die wahre Anbetung Gottes ‚im Geist und in der Wahrheit‘, ohne blutige Opfer und darin dem Wesen Gottes als Liebe entsprechend. Die Frage nach dem ‚Wo‘ der Gottesverehrung stellt sich nicht mehr, denn Jesus Christus ist der neue Ort des Heils (vgl. Joh 2,14–22). Theologie als Basis des johanneischen Denkens
Für Johannes gibt es nur einen Gott, der sich selbst umfassend und einmalig in Jesus Christus offenbarte und mit ihm in der Einheit des Wesens, des Willens und des Wirkens ist27. Es handelt sich bei der Gottessohnschaft des Sohnes nicht um eine Usurpation gottgleicher Würde (so der Vorwurf der Juden in Joh 5,18; 19,7) oder um eine Aufhebung des Monotheismus, sondern um eine präzise Bestimmung des Wollens des Vaters. Der Gedanke der Einheit von Vater und Sohn ermöglicht es Johannes, in seiner Jesus-Christus-Geschichte uneingeschränkt am Monotheismus festzuhalten und zugleich die für sein Denken charakteristischen Relationierungen vorzunehmen (s. u. 12.3.3). Johannes denkt nicht statisch, sondern in dynamischen, kommunikativen Relationen: Die Liebe des Vaters zum Sohn ist die Basis ihrer Einheit (vgl. Joh 3,35; 10,17 u. ö.), in der Hinordnung des Sohnes zum Vater sind beide uneingeschränkt aufeinander ausgerichtet, d. h. die Christologie ist die sachgemäße Entfaltung der Theologie28. 25 Zur ethischen Dimension des joh. Liebesbegriffes s. u. 12.6; zum 1Joh vgl. G. STRECKER, Die Johannesbriefe, KEK 14, Göttingen 1989, 224–230. 26 Vgl. nur Philo, Det Pot Ins 21; Sen, Ep 42,1f; weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 226– 234. 27 Vgl. U. WILCKENS, Monotheismus und Christolo-
gie, in: ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde. Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften, FRLANT 200, Göttingen 2003, 126–135. 28 Vgl. C. K. BARRETT, Christocentric or Theocentric? (s. o. 12.1), 16: „The figure of Jesus does not (so John in effect declares) make sense when viewed as a national leader, a rabbi, or a heı˜oß anv´r; he makes
Christologie 629
12.2 Christologie (vgl. auch die Literatur zu 12)
W. THÜSING, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA XXI/1.2, Münster 31979; J. BLANK, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg 1964; G. BORNKAMM, Zur Interpretation des Johannes-Evangeliums, in: ders., Geschichte und Glaube I, BEvTh 48, München 1968, 104–121; L. SCHOTTROFF, Der Glaubende und die feindliche Welt, WMANT 37, Neukirchen 1970; K. M. FISCHER, Der johanneische Christus und der gnostische Erlöser, in: Gnosis und Neues Testament, hg. v. K.-W. Tröger, Berlin 1973, 245–266; J. RIEDL, Das Heilswerk Jesu nach Johannes, FThSt 93, Freiburg 1973; U. B. MÜLLER, Die Geschichte der Christologie in der johanneischen Gemeinde, SBS 77, Stuttgart 1975; J. GNILKA, Zur Christologie des Johannesevangeliums, in: Christologische Schwerpunkte, hg. v. W. Kasper, Düsseldorf 1980, 92–107; W. GRUNDMANN, Der Zeuge der Wahrheit, Berlin 1985; W. KLAIBER, Die Aufgabe einer theologischen Interpretation des 4. Evangeliums, ZThK 82 (1985), 300–324; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium, FRLANT 137, Göttingen 1987; W. R. G. LOADER, The Christology of the Fourth Gospel, BET 23, Frankfurt 2 1992; R. SCHNACKENBURG, „Der Vater, der mich gesandt hat“. Zur johanneischen Christologie, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 275– 291; DERS., Die Person Jesu Christi (s. o. 8.2.2), 246–326; P. N. ANDERSON, The Christology of the Fourth Gospel, WUNT 2.78, Tübingen 1996; M. LABAHN, Jesus als Lebensspender, BZNW 98, Berlin 1999; TH. POPP, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001; J.F. MCGRATH, John’s Apologetic Christology, SNTS.MS 111, Cambridge 2001; R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder im Johannesevangelium, WUNT 171, Tübingen 2004; P. E. KINLAW, The Christ is Jesus. Methamorphosis, Possession, and Johannine Christology, SBL.AB 18, Atlanta 2005; R. SCHWINDT, Gesichte der Herrlichkeit. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie, HBS 50, Freiburg 2007.
Basis des joh. Denkens ist die Wesens-, Offenbarungs- und Wirkeinheit von Vater und Sohn (vgl. Joh 1,1; 17,20–22), bewusst steht Joh 10,30 („Ich und der Vater sind eins“) genau in der Mitte des 4. Evangeliums. Das Zentrum der joh. Theologie ist die Menschwerdung des präexistenten Gottessohnes Jesus Christus29. Hinter Jesus steht Gott selbst, hierin liegt der tiefste Grund für die Wahrheit des Anspruches Jesu. Sein Wirken gründet umfassend in der Einheit mit dem Vater, und nur aus dieser Einheit bezieht er selbst seine einzigartige Würde. Aus der vollkommenen Einheit mit Gott erwächst die Selbstverkündigung Jesu als hervorstechendes Element joh. Christologie.
sense when in hearing him you hear the Father, when in looking at him you see the Father, and worship him.“
29 Vgl. H. WEDER, Die Menschwerdung Gottes (s. u.
12.2.1), 391; ferner M. M. THOMPSON, The Incarnate Word (s. u. 12.2.1), 117 ff.
630 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
12.2.1 Präexistenz und Inkarnation
M. THEOBALD, Im Anfang war das Wort, SBS 106, Stuttgart 1983; DERS., Die Fleischwerdung des Logos, NTA 20, Münster 1988; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament, EHS.T 362, Frankfurt 1990; U. B. MÜLLER, Die Menschwerdung des Gottessohnes, SBS 140, Stuttgart 1990; H. WEDER, Die Menschwerdung Gottes, in: ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen 1992, 363–400; M. M. THOMPSON, The Incarnate Word. Perspectives on Jesus in the Fourth Gospel, Peabody (Mass.) 1993; F. HAHN, Theologie I, 612–624.
Die Präexistenz aussagen30 sprechen von der himmlischen Vorgeschichte Jesu, sie bringen Jesu zeitunbegrenztes und vorschöpferisches Sein31 sowie seine Teilhabe an der Ewigkeit des Vaters zur Sprache (vgl. Joh 1,1–3.30; 6,62; 17,5.24). Niemand hat jemals Gott gesehen außer der Logos/der Sohn (vgl. Joh 1,18; 3,11.13.32; 5,37f, 6,46; 8,19); es gilt: „Vom Vater bin ich ausgegangen und in die Welt gekommen. Ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater zurück“ (16,28). Jesus kommt von „oben“ (Joh 3,31; 8,14.23), vom Himmel (Joh 3,13; 6,33.38.41f.46.50.62) und geht wieder zum Vater zurück (13,33; 14,2.28; 16,5). Johannes bringt diese Bewegung des Herab- und Hinaufsteigens durch katabaı´nein/anabaı´nein („herabsteigen/hinaufsteigen“; vgl. Joh 1,51; 3,13; 6,33.62 u. ö.) und des Kommens und Weggehens durch erceshai/upa´gein („kommen/weggehen“; vgl. Joh 1,9.11; 3,2; 8,14.21; 13,3; 16,27fin. 28 u. ö.) prägnant zum Ausdruck. Auch Mose (Joh 5,45f) Abraham (Joh 8,58) und Jesaja (Joh 12,41) bezeugen, dass Jesus als präexistenter Gottessohn schon immer zu Gott gehört. Seine Existenz unterliegt keinen zeitlichen oder sachlichen Grenzen. Nachdem Jesus auf Erden den Willen Gottes getan und dessen Werk vollendet hat (4,34), kehrt er zum Vater zurück (7,33; 13,1.3; 14,12; 12,28; 17,11). Der Präexistenz korrespondiert die Postexistenz, in die Jesus beim Vater eingeht (vgl. Joh 17,5). Weil Gottes Wirklichkeit irdisch gar nicht anders wahrzunehmen ist als durch Jesu Worte und Werke, weisen die Präexistenzaussagen von Anfang an auf Jesus von Nazareth und sein Wirken hin. Die Präexistenz zielt auf die Inkarnation, denn in Jesus kommt Gott, insofern er sich offenbaren und zum Heil der Welt wirken will, auf die Menschenwelt zu32. Präexistenz und Inkarnation bedingen einander, denn die Präexistenzaussagen unterstreichen den Anspruch des Menschen Jesus und erweisen, dass seine Worte zugleich die Worte Gottes, seine Werke zugleich die Werke 30 Als Parallelen zum gesamten Prolog vgl. vor allem Spr 8,22–31; Sir 1,1–10.15; 24,3–31; Kleanthes, Fragm 537; Cic, Tusc V 5; alle relevanten Texte sind aufgeführt in: NEUER WETTSEIN I/2 (s. o. 4.3), 1–15. 31 J. HABERMANN, Präexistenzaussagen, 403, spricht treffend von einer ‚Präkreatorischen Präexistenz‘. 32 Völlig anders J. BECKER, Johanneisches Christentum (s. o. 12), 131: „Man sollte das Interpretations-
modell ‚Inkarnation‘ als Matrix für die joh. Christologie am besten aufgeben“; ähnlich U. B. MÜLLER, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums (s. u. 12.2.5), 54; E. STRAUB, Der Irdische als der Auferstandene (s. u. 12.2.5), 255. Mit dem Postulat der Uneigentlichkeit der Inkarnation verbindet sich bei diesen Autoren das Postulat der Uneigentlichkeit des Kreuzesgeschehens (s. u. 12.2.5).
Christologie 631
Gottes sind, dass er als Mensch zugleich von oben ist. Präexistenz und Inkarnation beantworten damit auch die alte religionsphilosophische Frage, wie und wo es zu einer Begegnung zwischen Transzendenz und Immanenz gekommen ist. Jesu wahrer Ursprung ist Gott, von dem er ausgegangen ist; er stammt somit vom Himmel, ist in die Welt herabgestiegen und bringt authentische Kunde von Gott. Das bedeutet zugleich, dass alles, was er sagt, lehrt und tut, ebenfalls bei Gott seinen Ursprung hat, Gottes Worte, Lehre und Werke sind. Das Gefälle von der Präexistenz zur Inkarnation und damit der inkarnatorische Grundzug joh. Theologie zeigt sich bereits im Prolog (Joh 1,1–18), der als programmatischer Eröffnungs- und Modelltext das Verständnis des gesamten Evangeliums präjudiziert. Mit dem Beginn einer Jesus-Christus-Geschichte fällt die Entscheidung über ihren Charakter. Als Setzung des Erzählers ist der Anfang der Geschichte der Weg, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Der Prolog präsentiert das notwendige Vorwissen und leitet so das Verstehen33. Der Prolog als Zuwendungsgeschichte (1) en arcU˜ vn o lo´goß, kai` o lo´goß vn pro`ß to`n heo´n, kai` heo`ß vn o lo´goß. (2) outoß vn en arcU˜ pro`ß to`n heo´n. (3) pa´nta diL autou˜ ege´neto, kai` cwri`ß autou˜ ege´neto oude` eÇn, oÅ ge´gonen. (4) en autw˜ zwv` vn, kai` v zwv` vn to` fw˜ß tw˜n anhrw´pwnk
Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott und Gott war der Logos Dieser war im Anfang bei Gott. Alles ist durch denselben geworden und ohne denselben war nicht eines, was geworden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. (5) kai` to` fw˜ß en tU˜ skotı´a faı´nei, (5) Und das Licht scheint in der Finsternis, kai` v skotı´a auto` ou kate´laben. und die Finsternis hat es nicht erfasst. (6) LEge´neto anhrwpoß, apestalme´noß para` (6) Es trat ein Mensch auf, gesandt von heou˜, onoma autw˜ LIwa´nnvßk@ Gott, sein Name Johannes. (7) outoß vlhen eiß marturı´an (7) Dieser kam zum Zeugnis, ıÇna marturv´sU peri` tou˜ fwto´ß, damit er zeuge für das Licht, ıÇna pa´nteß pisteu´swsin diL autou˜. auf dass alle gläubig würden durch ihn. (8) ouk vn ekeı˜noß to` fw˜ß, (8) Nicht war jener das Licht, allL ıÇna marturv´sU peri` tou˜ fwto´ß. sondern er sollte zeugen für das Licht. (9) KVn to` fw˜ß to` alvhino´n, (9) Es war das wahre Licht, oÅ fwtı´zei pa´nta anhrwpon, das jeden Menschen erleuchtet, erco´menon eiß to`n ko´smon. gekommen in die Welt. 33 Meisterhaft erfüllt der Prolog damit, was Cicero vom Redeanfang fordert: „Jeder Anfang muss aber entweder die Bedeutung des gesamten Gegenstandes der Verhandlung in sich tragen oder einen gang-
baren Zugang zu dem Fall eröffnen oder ein gewisses Maß von Glanz und Würde mit sich bringen“ (Orat II 320).
632 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
(10) en tw˜ ko´smw vn, kai` o ko´smoß diL autou˜ ege´neto, kai` o ko´smoß auto`n ouk egnw. (11) eiß ta` ıdia vlhen, kai` oı ıdioi auto`n ou pare´labon. (12) oÇsoi de` elabon auto´n, edwken autoı˜ß exousı´an te´kna heou˜ gene´shai, toı˜ß pisteu´ousin eiß to` onoma autou˜, (13) oıÅ ouk ex aıma´twn oude` ek helv´matoß sarko`ß oude` ek helv´matoß andro`ß allL ek heou˜ egennv´hvsan. (14) Kai` o lo´goß sa`rx ege´neto kai` eskv´nwsen en vmı˜n, kai` eheasa´meha tv`n do´xan autou˜, do´xan wß monogenou˜ß para` patro´ß, plv´rvß ca´ritoß kai` alvheı´aß. (15) LIwa´nnvß martureı˜ peri` autou˜ kai` ke´kragen le´gwnk outoß vn oÅn eıponk o opı´sw mou erco´menoß emproshe´n mou ge´gonen oÇti prw˜to´ß mou vn. (16) oÇti ek tou˜ plvrw´matoß autou˜ vmeı˜ß pa´nteß ela´bomen kai` ca´rin anti` ca´ritoßk@ (17) oÇti o no´moß dia` Mwu¨se´wß edo´hv, v ca´riß kai` v alv´heia dia` LIvsou˜ Cristou˜ ege´neto. (18) Heo`n oudei`ß ew´raken pw´potek monogenv`ß heo`ß o wn eiß to`n ko´lpon tou˜ patro`ß ekeı˜noß exvgv´sato.
(10) Es war in der Welt, und die Welt war durch dasselbe geworden und die Welt hat es nicht erkannt. (11) Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. (12) Die aber, welche ihn aufnahmen, ihnen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, den an seinen Namen Glaubenden. (13) Die nicht aus Blut noch aus Fleischeswillen noch aus Manneswillen, sondern aus Gott gezeugt sind. (14) Und der Logos ist Fleisch geworden und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie die des Einziggeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (15) Johannes zeugt für ihn und ruft: Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir Kommende ist vor mir geworden, denn er war eher als ich. (16) Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade um Gnade. (17) Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden. (18) Gott hat niemand jemals gesehen; der einziggeborene Gott, der an der Brust des Vaters ist, er hat Kunde mitgebracht.
Der Johannesprolog ist eine Zuwendungsgeschichte, denn an jemanden das Wort zu richten heißt, sich ihm zuzuwenden: Gott wendet sich im Logos Jesus Christus den Menschen zu. Der Prolog entfaltet die Grundzüge der joh. Sinnbildung34, an deren
34 Vgl. zur Prologauslegung E. KÄSEMANN, Aufbau und Anliegen des johanneischen Prologs, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttin-
gen 31970, 155–180; G. RICHTER, Die Fleischwerdung des Logos im Johannesevangelium, in: ders., Studien (s. o. 12), 149–198; O. HOFIUS, Struktur und Gedan-
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Anfang die für alle Kulturen und Religionen zentrale Frage der Legitimation durch Abstammung definitiv beantwortet wird: Der Logos Jesus Christus gehört von Anfang an zu Gott. Der Anfang ist im antiken Denken menschlicher Verfügung entzogen, er gehört Gott bzw. den Göttern und ihren Agenten. Auch bei Johannes setzt Gott das Sein, die Zeit und die Ordnung. Die Art und Weise des Anfangs wird im Mythos präsentiert, der erzählt, was dem Bestand der Welt vorausging. Durch Temporalisierung wird Wirklichkeit gebildet und treten die Hauptakteure der folgenden Erzählung in Relation zueinander. Der Temporalisierung entspricht eine theologische Hierarchie, die das gesamte Evangelium prägt und als durchgängige christologische Priorität zu bestimmen ist: Gott und der im Anfang bei ihm weilende Logos gehen allem Sein voraus, das nach dem Willen Gottes durch den Logos geschaffen, erhalten und bestimmt wird. Die in Joh 1,1 vorgenommene Relationierung zielt auf eine ursprüngliche und umfassende Partizipation des Logos an dem einen Gott35, der Usprung und Grund allen Seins ist. Gott und der Logos sind nicht gleichursächlich, wohl aber gleichzeitig, gleichartig und gleichwirksam. Gott tritt aus sich heraus als Redender; sein Wort geht jedoch weit über die bloße Mitteilung hinaus: Es ist lebenschaffendes Schöpferwort. Gott ist ohne sein Wort nicht zu denken, er teilt sich im Wort nicht nur mit, sondern offenbart sein Wesen und lässt die Menschen im Glauben an den Logos Jesus Christus daran teilhaben, so dass der Logos gleichermaßen Gestaltwerdung, Erschließung und Kommunikator des Göttlichen ist. Der Mensch ist ein Geschöpf des Logos (Joh 1,3) und somit in seiner Herkunft von diesem geprägt36. Es gibt für Johannes eine ursprüngliche Bestimmtheit des Menschen durch das Wort Gottes, denn Leben als spezifisches Kennzeichen des Menschseins ist ein Attribut des Logos (Joh 1,4). Der Logos erscheint als das Licht, „das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,4b.9b). Die Lebendigkeit des Menschen wird von Johannes als Widerschein des Lichtes verstanden, das dem Logos von Anbeginn zu eigen war. Im Logos ist das Leben gegenwärtig, er ist der Ort des Lebens, und nur das Licht des Logos erhellt das Leben der Menschen. Der Logos will das Leben der Menschen erleuchten, er bewegt sich auf die Menschen zu. Von dieser Bewegung des Logos ist der gesamte Prolog geprägt37. Der Logos scheint in der Finsternis (Joh 1,5), er kommt in die Welt (Joh 1,9c), in sein Eigentum (Joh 1,11) und ermächtigt Menschen, Kinder Gottes zu sein (Joh 1,12f). Die Ablehnung (V. 11) und die Aufnahme (V. 12) des Logos strukturieren das gesamte folgende Erzählgeschehen; es ist kengang des Logos-Hymnus in Joh 1,1–18, in: ders./ H.-Chr. Kammler, Johannesstudien (s. o. 12), 1–23; U. SCHNELLE, Joh (s. o. 12), 34–55; W. PAROSCHI, Incarnation and Covenant in the Prologue to the Fourth Gospel (Joh 1: 1–18), EHS 23.820, Frankfurt 2006. 35 Treffend TH. SÖDING, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes Dtn 6,4f, ZNW 93
(2002), (177–199) 192: „So wenig der Logos o Heo´ß ist, der Gott und Vater Jesu, so sehr hat der Logos an seiner Gottheit teil.“ 36 Vgl. J. BLANK, Der Mensch (s. u. 12.5), 151. 37 Vgl. H. WEDER, Der Mythos vom Logos, in: H.H. Schmid (Hg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988, (44–80) 53.
634 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
bereits deutlich, dass in der Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben jene Gestaltung der Erzählstruktur zu sehen ist, durch die das Geschehen gleichermaßen vorangetrieben und differenziert wird. In Joh 1,14a erreicht die Bewegung der Zuwendung des Logos zur Welt ihren Zielpunkt: kai` o lo´goß sa`rx ege´neto („Und das Wort ward Fleisch“). Der Logos will den Menschen so nahe sein, dass er selbst Mensch wird. Der Schöpfer wird selbst Geschöpf, das Licht für die Menschen wurde Mensch. Sarx bezeichnet im Johannesevangelium den geschöpflichen Menschen aus Fleisch (vgl. Joh 1,13; 3,6; 6,51–56; 6,63; 8,15; 17,2) und Blut, die ‚pure Menschlichkeit‘. Der Logos ist nun, was er zuvor nicht war: wahrer und wirklicher Mensch38. Das Ereignis der Fleischwerdung des präexistenten Logos beinhaltet gleichermaßen eine Identitäts- und Wesensaussage: Jener Logos, der im Uranfang bei Gott war und Schöpfer allen Seins ist, wurde wirklich und wahrhaftig Mensch. Obgleich sich Zeit und Geschichte Gott und dem Logos verdanken, ging der Logos real in die Zeit und Geschichte ein, ohne darin aufzugehen. Die Menschwerdung sagt die volle Teilhabe Jesu Christi an der Geschöpflichkeit und Geschichtlichkeit allen Seins aus. Damit ist Gott selbst Subjekt wirklicher menschlicher Existenz. Zugleich gilt aber: Inkarnation bedeutet nicht die Preisgabe der Göttlichkeit Jesu, vielmehr ist im 4. Evangelium Jesu Menschlichkeit ein Prädikat seiner Göttlichkeit. Jesus ist Mensch geworden und zugleich Gott geblieben: Gott im Modus der Inkarnation. Er wurde Mensch ohne Abstand und Unterschied, Mensch unter Menschen. Zugleich ist er Gottes Sohn, auch zu ihm ohne Abstand und Unterschied39. Hier verdichtet sich die grundlegende Paradoxie der joh. Christologie: Der geschichtliche Jesus von Nazareth nimmt für sich in Anspruch, unbegrenzte und bleibende Gegenwart Gottes zu sein. Deshalb ist die Menschwerdung im Johannesevangelium nicht Ausdruck einer Erniedrigung, sondern im Menschen Jesus ist Gott/der Logos erschienen. Die Inkarnation ist gewissermaßen ein Wechsel des Mediums, der ein neues Wirken Gottes unter und für die Menschen ermöglicht. Durch die Metareflexionen in V. 12c.13.17.18 erweitert Johannes das Aussagespektrum seiner Vorlage. Das Christusgeschehen hat für ihn universale Züge, es entschränkt jeden Heilspartikularismus und muss als einzigartige Auslegung Gottes verstanden werden. Auch in V. 17 wird die christozentrische Interpretation des Evangelisten sichtbar, denn die Nomoszeit wurde durch die Gnadenzeit abgelöst. Johannes unterstreicht diesen Gedanken mit dem alv´heia-Begriff, der nicht nur die Exklusivität der Person Jesu hinsichtlich seiner Herkunft, sondern vor allem hinsichtlich sei38 Gegen E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille (s. o. 12), 28, der in Joh 1,14a nur die ‚Berührung mit dem Irdischen‘ sehen will. 39 Völlig anders K. WENGST, Joh I (s. o. 12), 61: „Die Aussage, dass ‚das Wort Fleisch ward‘, legitimiert nicht die christlich beliebte Redeweise von der ‚Menschwerdung Gottes‘. Johannes spricht genauer
von der Fleischwerdung des Wortes. . . . Gott teilt sich wirklich in der Konkretheit des Menschen Jesus von Nazaret mit, aber es bleibt indirekte Mitteilung . . .“ Diese bewusste Minimierung der joh. Christologie scheitert bereits an Joh 1,1 und 1,18; vgl. ferner Joh 10,30; 20,28.
Christologie 635
ner soteriologischen Funktion beschreibt. Nur in V. 17 erscheint innerhalb des Prologs der Name Jesus Christus, und V. 18 unterstreicht, dass allein Jesus Kunde von Gott bringen kann. Die Offenbarung der Herrlichkeit und Wahrheit
Im Prolog findet sich eine weitere zentrale Vorstellung joh. Christologie: Die Inkarnation des Präexistenten zielt auf die Offenbarung der do´xa heou˜ = „Herrlichkeit Gottes“ (vgl. Joh 1,14c: „. . . und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie die des einzigen Sohnes vom Vater. . .“)40. Das Sehen der Doxa gilt dem sa`rx geno´menoß („Fleischgewordenen“), d. h. die Inkarnation hat das Offenbarwerden der Doxa zum Inhalt. Die Gottzugehörigkeit Jesu kennt keine zeitliche oder sachliche Beschränkung, sie ist vielmehr umfassend und total, weil sie ihren Ursprung vor Zeit und Kosmos hat41. Do´xa benennt sowohl die göttliche Seinsweise als auch die erfahrbare Erscheinung Jesu Christi. Für Johannes befindet sich Jesus immer und durchgehend im Bereich der einen Herrlichkeit Gottes, zugleich kann er zwischen einer Präexistenz-Doxa (Joh 17,5.24c.d; 12,41), der Erscheinung der Doxa in der Inkarnation (Joh 1,14), dem Offenbarwerden der Doxa in den Wundern (Joh 2,11; 11,4.40) und einer Postexistenz-Doxa (Joh 17,1b.5.10b.22.24c) unterscheiden, in die Jesus durch die Verherrlichung Gottes am Kreuz (Joh 7,39; 12,16) zurückkehrt. Jesu gesamtes Offenbarungswirken gilt der Verherrlichung des Vaters durch den Sohn und des Sohnes durch den Vater (vgl. Joh 8,54; 12,28; 13,31f; 14,13), deshalb spricht der scheidende Jesus in Joh 17,4f: „Ich habe dich auf der Erde verherrlicht, indem ich das Werk vollendete, das du mir gabst, damit ich es tue. Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war.“ Auch die Gemeinde bekommt Anteil an der göttlichen Herrlichkeit, die Jesus bereits vor der Grundlegung der Welt hatte, die er in seinem Erdenwirken offenbarte und in der er nun für immer verweilen wird42 (Joh 17,22: „Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins sind, wie wir eins sind“). Neben dem Logos greift Johannes bereits im Prolog mit dem Wahrheitsbegriff 43 einen weiteren zentralen Terminus antiker Philosophie auf44. In Joh 1,14.17 erscheint Jesus Christus als Ort der Gnade und Wahrheit Gottes, d. h. Wahrheit hat Widerfahrnischarakter und wird von Johannes personal gedacht. Wahrheit ist damit weitaus 40 Vgl. dazu W. THÜSING, Erhöhung und Verherrli-
chung Jesu (s. o. 12.2), 227–229. 41 Do´xa als Bezeichnung der Epiphanie der Gottheit knüpft an atl. Theophanietraditionen an (vgl. Ex 16,10; 24,16 f.; 33,18 f; 40,34 f. u. ö.); vgl. ferner Weish 7,25. 42 Vgl. dazu W. THÜSING, Erhöhung und Verherrlichung (s. o. 12.2), 214–219.
43 Vgl. hier Y. IBUKI, Die Wahrheit im Johannesevangelium, BBB 39, Bonn 1972. 44 Vgl. dazu Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 794 f. Ein Beispiel: Plato, Leg II 663e: „Etwas Schönes ist die Wahrheit, Fremder, und etwas Dauerhaftes; es scheint allerdings nicht leicht, ihr Glauben zu verschaffen.“
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mehr und etwas völlig anderes als der Konsens subjektiver Vermutung. Als Wahrheit erschließt Jesus den Glaubenden den Sinn seiner Sendung, offenbart ihnen den Vater und befreit sie dadurch von den Mächten des Todes, der Sünde und der Finsternis. Jesus Christus ist nicht nur Zeuge der Wahrheit45, sondern die Wahrheit selbst. Freiheit ist somit die unmittelbare Wirkung der Wahrheitserfahrung der Glaubenden: „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32). Die personale Dimension des joh. Wahrheitsbegriffes zeigt deutlich Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Jesus ist der Weg, weil er selbst die Wahrheit ist und das Leben spendet. Der Evangelist bindet das Verständnis Gottes exklusiv an die Person Jesu; wer Gott ist, kann nur an Jesus abgelesen werden. Damit formuliert Johannes einen nicht mehr zu überbietenden Exklusivitätsanspruch46 und erhebt einen inneren Absolutheitsanspruch : Die Möglichkeit, Gott zu erkennen und zu Gott zu gelangen als Ziel jeden religiösen Lebens und Strebens, eröffnet sich nur in Jesus Christus. Jede Religion/Bewegung lebt von ihrer inneren Überzeugungskraft – wird sie in Frage gestellt, ist eine Existenz auf Dauer nicht möglich. Innerer Absolutheitsanspruch heißt, Jesus als den einen und einzigen Weg zu Gott zu glauben und zu bekennen. Es bedeutet, die Zusage Jesu, dass er den einen wahren Weg zu Gott eröffnet, wirklich ernst zu nehmen und nicht von vornherein zu relativieren. Ein äußerer Absolutheitsanspruch wäre, diesen Wahrheitsanspruch unter allen Umständen durchzusetzen, möglicherweise sogar mit Gewalt. Davon ist das joh. Christentum weit entfernt, denn es ist eine Religion der Liebe; nicht Wahrheit und Gewalt, sondern allein Wahrheit und Liebe gehören für Johannes zusammen. Die Ausschließlichkeit der Manifestation göttlicher Wirklichkeit in Jesus Christus richtet sich kritisch gegen alle konkurrierenden Ansprüche. Wahrheit und Leben im umfassenden Sinn sind für die Menschen nicht verfügbar, es gibt sie nur bei Jesus Christus. Weil Johannes Wahrheit nicht abstrakt versteht, sondern personal denkt, muss der Wahrheitsbegriff inhaltlich präzisiert werden. Gottes Heilswerk in Jesus Christus kann nach joh. Sicht nur adäquat als ein Akt der Liebe Gottes zu den Menschen verstanden werden (vgl. Joh 3,16; 1Joh 4,8.16), so dass sich Wahrheit und Liebe gegenseitig auslegen. Der joh. Absolutheitsgedanke ist nichts anderes als eine Variation der Absolutheit der göttlichen Liebe zu den Menschen in Jesus Christus. Gott wendet sich im Sohn in absoluter Liebe den Menschen zu.
45 Zur hellenistischen Vorstellung, dass Wahrheit immer eine Gabe Gottes/der Götter ist, die sich im rechten Gebrauch der Vernunft vollzieht, vgl. Plut, Is et Os 1: „Kein Ziel ist für Menschen bedeutsamer, und keine Gnadengabe Gottes entspricht seiner Würde mehr als die Wahrheit. Alles andere, dessen
Menschen bedürfen, ‚schenkt‘ Gott ihnen, aber an Vernunft und Denken ‚gibt er ihnen Anteil‘; denn diese sind sein ureigenster Besitz, von diesen macht er selber Gebrauch.“ 46 Dieser Anspruch ist im atl. Gottesbegriff angelegt; vgl. nur Ex 20,2 f; Jes 44,6; Dtn 6,4 f.
Christologie 637
Die Wunder als Zuwendungsgeschehen
Den Menschen wendet sich Jesus vor allem in seinen Wundern zu, das Konzept der erkennbaren Zeichen ist ein zentrales Element der Inkarnationschristologie des 4. Evangelisten47. Johannes integrierte sieben Wundergeschichten in sein Evangelium, wobei die Zahl Sieben nach Gen 2,2 als Zahl der Fülle und Vollendung gilt. Jede Art von Wunder kommt bei Johannes nur einmal vor, die einzelnen Wunder sind planmäßig über das öffentliche Wirken Jesu verteilt und verdeutlichen einen zentralen Aspekt der joh. Christologie: Die heilvolle Nähe des Göttlichen im Inkarnierten, der als Schöpfungsmittler das Leben schuf (Joh 1,3), das Leben ist (Joh 1,4) und Leben spendet 48. Diese Schöpfer- und Lebensmacht zeigt sich in der Größe der Wunder; Johannes erhebt den Komparativ der Synoptiker zum Superlativ. Jesus verwandelt nicht nur Wasser in Wein, er füllt darüber hinaus sechs gewaltige Krüge mit einer Menge von fast 700 Litern (Joh 2,1–11). Die Fernheilung des Sohnes eines königlichen Beamten in Kapernaum findet nicht mehr am Ort selbst statt, sondern Jesus ist in Kana (Joh 4,46–54). Der Lahme am Teich Bethesda ist schon 38 Jahre krank (Joh 5,1–9). Bei der wunderbaren Speisung der 5000 können alle so viel nehmen, wie sie wollen, und dennoch bleiben zwölf Körbe voll Brot übrig (Joh 6,1–15). Jesus wandelt nicht nur auf dem See und hilft den Jüngern aus ihrer Not (Joh 6,16–20), er vollbringt noch ein weiteres Wunder, indem er das Boot an das gewünschte Ufer versetzt (Joh 6,21). Einem von Geburt an Blinden gibt Jesus das Augenlicht wieder (Joh 9,1–41). Lazarus ist schon vier Tage tot und steht schon am Rand der Verwesung, als Jesus ihn von den Toten erweckt; obgleich er an Händen und Füßen gebunden war und sein Angesicht von einem Schweißtuch verdeckt wurde, fand Lazarus aus der Grabstätte heraus (Joh 11,1–44). Der Mensch Jesus
Die Wunder zeugen mit ihren außergewöhnlichen Dimensionen und der ausdrücklichen Nachprüfbarkeit ihrer Realität (vgl. Joh 2,9f; 4,51ff; 5,2.5; 6,13; 9,9.20.25.39; 11,18.39.44) von der Anwesenheit des Göttlichen in der Welt. Zugleich wird in den Wundern und in anderen zentralen Erzählzusammenhängen Jesu Menschsein hervorgehoben49. Er feiert eine Hochzeit (Joh 2,1–11); er liebt seinen Freund Lazarus (Joh 11,3), er ergrimmt über die Trauer der Menge (Joh 11,33f) und weint über La-
47 Zur Analyse der joh. Wunderüberlieferung vgl. W. NICOL, The Semeia in the Fourth Gospel, NT.S 32, Leiden 1972; H.P. HEEKERENS, Die Zeichen-Quelle der johanneischen Redaktion, SBS 113, Stuttgart 1984; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), 87–194; W.J. BITTNER, Jesu Zeichen im Johannesevangelium, WUNT 2.26, Tübingen 1987; CHR. WELCK, Erzählte Zeichen, WUNT 2.69, Tübingen 1994; M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o.
12.2), passim; zur Forschungsgeschichte vgl. G. VAN BELLE, The Signs Source in the Fourth Gospel, BEThL 116, Leuven 1994. 48 Vgl. M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o. 12.2), 501, im Inkarnierten kommt „Gott selbst den Menschen zum Leben nahe.“ 49 Vgl. dazu M. M. THOMPSON, The Incarnate Word (s. o. 12.2.1), 53–86.
638 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
zarus (Joh 11,35). Jesus stammt aus Nazaret in Galiläa (1,45f 4,44; 7,41.52) und nicht aus Bethlehem (vgl. Joh 7,42!); seine Eltern sind ebenso bekannt (1,45; 2,1.3.12; 6,42; 19,26) wie seine Brüder (2,12; 7,1–10). Er besitzt einen sterblichen Leib (2,21) aus Fleisch (6,51) und Blut (19,34). Aus höchster Leidenschaft reinigt er den Tempel (Joh 2,14–22); auf Wanderungen ist er erschöpft und durstig (Joh 4,6f). Angesichts des ihm bevorstehenden Schicksals (Joh 12,27; vgl. 13,21) ist Jesus verwirrt bzw. erregt (tara´ssw) und verlangt am Kreuz nach einem Getränk (Joh 19,28). Pilatus lässt ihn von seinen Soldaten durch Geißeln und Dornen foltern (19,1f), um dann gewissermaßen amtlich zu bestätigen: „Siehe, der Mensch!“ (19,5: idou` o anhrwpoß). Ein Mitglied des Hinrichtungskommandos stellt eindeutig fest, dass Jesus tatsächlich tot ist (19,33) und schließlich wird der Leichnam Jesu amtlich freigegeben (19,38). Bei seiner Bestattung soll der zu erwartende Leichengeruch durch Duftstoffe gebannt werden (19,39f). Die Jünger und zuletzt Thomas dürfen sich schließlich durch Augenschein davon überzeugen, dass der Leib des Auferstandenen mit dem des irdischen und gekreuzigten Jesus identisch ist (20,20.27). Die theologische Zuspitzung ist offenkundig: Gott bindet sich in seiner heilvollen Zuwendung zur Welt ganz an diesen Menschen Jesus von Nazareth und sein Wirken. Gott selbst redet und wirkt in Jesus, und zwar in einer exklusiven und unüberholbaren Weise. Nirgendwo anders ist sein Wort zu hören (5,39f), nirgendwo sonst sein Wirken zu erfahren (3,35; 5,20–22) als in dem Menschen Jesus. Die bleibende Inkarnation
Johannes versteht die Inkarnation des Präexistenten in seiner Grundlegung als einen abgeschlossenen, in seinen Wirkungen als einen andauernden Vorgang. Der ‚von oben‘ stammende Gottessohn ist zum Vater zurückgekehrt und dennoch gegenwärtig: in Taufe und Eucharistie. Raum- und Zeitebenen lassen sich bei Johannes nicht im weltlichen Sinn verobjektivieren, sondern dienen dazu, Jesu zeitum- und zeitübergreifendes Wirken zu beschreiben. Taufe und Eucharistie zeugen von der andauernden heilvollen Zuwendung und Präsenz des vom Himmel kommenden Offenbarers. Weil der ‚von oben‘ (Joh 3,31; 8,14.23) stammende, herab- und wieder aufgestiegene Menschensohn in ständiger Verbindung mit der himmlischen Wirklichkeit steht (Joh 1,51), können und müssen die Glaubenden ‚von oben/von neuem‘ (anwhen) geboren werden, um in das Reich Gottes einzugehen (Joh 3,3.5)50. Jesus Christus ist das vom Himmel herabgestiegene Brot des Lebens, das gegenwärtig in der Eucharistie Leben spendet (Joh 6,26ff). Zugespitzt artikuliert sich der inkarnatorische Grundzug der joh. Theologie im eucharistischen Abschnitt (Joh 6.51c–58). Er wurde vom Evangelisten verfasst und an die traditionelle Lebensbrotrede Joh 6.30–35.41–51b angefügt, um eine zentrale christologische Aussage zu formulie50 Zur Stellung von Joh 3 im Kontext sowie zur literarkritischen und theologischen Einheit des Textes
vgl. TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 81– 107.206–220.233–255.
Christologie 639
ren51: Die Eucharistie ist der heilvolle Ort der Gegenwart des Inkarnierten, Gekreuzigten, Erhöhten und Verherrlichten, der den Glaubenden die Gabe des ewigen Lebens zuteil werden lässt und ihnen damit Anteil an der Einheit von Vater und Sohn gewährt. Jesu wahrer Tod hat seine wahre Menschwerdung zur Voraussetzung, beides wiederum ist die Ermöglichung der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die in Taufe und Eucharistie als Lebensgabe andauernd gegenwärtig ist (vgl. Joh 19,34b–35). Das christologische Schisma
Der Inkarnationsgedanke ergibt sich aus dem theologischen Grundansatz und der Logik des joh. Denkens, zugleich ist er aber auch die Antwort auf eine christologische Kontroverse in der joh. Schule52. Innerhalb des Erzählablaufs des Evangeliums löste der eucharistische Abschnitt mit seiner Betonung der unauflöslichen Einheit von Menschheit und Gottheit in der Person Jesu Christi ein Schisma unter den Jüngern aus (Joh 6,60–71)53. Dieses Schisma ist ein Reflex der Spaltung innerhalb der joh. Schule, die sich an der soteriologischen Bedeutung der irdischen Existenz Jesu entzündete und die vor allem im 1Joh belegt ist. Die dort bekämpften Gegner gehörten ehemals zur Gemeinde (vgl. 1Joh 2,19) und leugneten aus der Sicht des Briefschreibers die soteriologische Identität zwischen dem irdischen Jesus und dem himmlischen Christus (vgl. 1Joh 2,22: LIvsou˜ß ouk estin o Cristo´ß; vgl. ferner die Identitätsaussagen in 1Joh 4,15; 5,1.5). Offenbar waren für die Gegner nur der Vater und der himmlische Christus heilsrelevant, nicht jedoch das Leben, Leiden und Sterben des geschichtlichen Jesus von Nazareth. Für den Verfasser des 1Joh hat hingegen der den Vater nicht, der das Wirken des Sohnes falsch lehrt. Die Inkarnationsaussage in 1Joh 4,2 (vgl. 1Joh 1,2; 3,8b) lässt zudem auf die Bestreitung der Fleischwerdung des präexistenten Christus durch die Gegner schließen. Die Passion des geschichtlichen Jesus von Nazareth (vgl. 1Joh 5,6b) hatte ebenso wie sein Sühnetod (vgl. 1Joh 1,9; 2,2; 3,16; 4,10) für sie keine Heilsbedeutung. Sie unterschieden strikt zwischen dem allein heilsrelevanten himmlischen Christus und dem irdischen Jesus, der seiner irdischen Erscheinung nach nur einen Scheinleib hatte. Die Gegner „eliminierten Jesus aus ihrer Lehre, leugneten die menschliche Seite des Erlösers“54. Auch Ignatius von Antiochia wendet sich in seinen Briefen (abgefasst im Zeitraum 110–117 n.Chr.) gegen eine doketische Christologie55. Er wirft seinen Gegnern vor, die 51 Zur umfassenden Begründung der literarischen und theologischen Einheit von Joh 6 vgl. TH. POPP, a. a. O., 256–276. 52 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 498– 500. 53 Vgl. hier L. SCHENKE, Das johanneische Schisma und die ‚Zwölf‘ (Joh 6,60–71), NTS 38 (1992), 105– 121; TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 386–437.
54 P. WEIGANDT, Der Doketismus im Urchristentum und in der theologischen Entwicklung des zweiten Jahrhunderts, Diss. theol., Heidelberg 1961, 105; zum Doketismus vgl. auch P. E. KINLAW, The Christ is Jesus (s. o. 12.2), 74–93. 55 Umfassende Analyse der Ignatiustexte bei W. UEBELE, „Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen“. Die Gegner in den Briefen des Ignatius von
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Leiblichkeit Jesu Christi zu bestreiten, denn sie bekennen nicht, dass der Herr einen Leib trägt (Sm 5,2). Demgegenüber betont Ignatius, dass Jesus Christus von der Jungfrau Maria wirklich geboren, von Johannes getauft und unter Pontius Pilatus wirklich für uns im Fleisch angenagelt wurde (Sm 1,1; vgl. Trall 9,1). Für die Gegner hat Jesus Christus nur zum Schein gelitten (vgl. Trall 10; vgl. Sm 2; Sm 4,2). Nachdrücklich verweist hingegen Ignatius auf das Leiden und Sterben Christi (vgl. Eph 7,2; 20,1; Trall 9,1; 11,2; Röm 6,1; Sm 1,2; 6,2). Ist Jesus Christus auf Erden nur ‚to` dokeı˜n‘ erschienen, litt er nicht wirklich, so müssen die Gegner auch seine Auferstehung leugnen. Nur so erklärt sich die Vehemenz, mit der Ignatius im Blick auf die Gegner die Auferstehung Jesu Christi im Fleisch betont (vgl. Sm 1,2; 3,1; 7,1; Trall 9,2; Eph 20,1; Magn 11). Leugnen die Gegner die Auferstehung, dann ist auch die Eucharistie entleert und die Gnade Christi geschmälert (Sm 6,2), so dass es nur folgerichtig ist, wenn die Gegner der Eucharistiefeier fernbleiben (vgl. Sm 7,1, ferner Sm 6,2).
Insbesondere die Parallelität zu den bei Ignatius und Polykarp (vgl. Polyk, Phil 7,1) bekämpften Gegnern bestätigt, dass auch die Widersacher des 1Joh eine doketische Christologie lehrten56. Der Doketismus bestreitet als monophysitische Christologie die soteriologische Bedeutung der Leiblichkeit des Gottessohnes; sein Erdenwandel, sein Leiden und sein Tod betreffen ihn nur scheinbar (doke´w = „scheinen“). Während die Gegner faktisch die Erlösergestalt auseinanderfallen lassen, betonen der 1Joh und und vor allem der Evangelist Johannes (vgl. Joh 1,14; 6,51–58; 19,34b–35)57 die durchgängige soteriologische Einheit des irdischen Jesus mit dem himmlischen Christus. 12.2.2 Die Sendung des Sohnes
E. SCHWEIZER, Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der ‚Sendungsformel‘ Gal 4,4 f., Röm 8,3 f., Joh 3,16 f., 1Joh 4,9, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970, 83–95; J.P. MIRANDA, Der Vater, der mich gesandt hat, EHS.T 7, Frankfurt 1972; DERS., Die SenAntiochien und in den Johannesbriefen, BWANT 151, Stuttgart 2001, 37–92. 56 Vgl. u. a. R. BULTMANN, Die Johannesbriefe, KEK 14, Göttingen 21969, 67; P. WEIGANDT, Doketismus, 193ff; G. STRECKER, Johannesbriefe (s. o. 12.1.3), 131– 139; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), 74–83; M. HENGEL, Die johanneische Frage (s. o. 12), 185.192; W. UEBELE, „Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen“, 147–163. Andere Positonen in der Gegnerfrage vertreten z. B. J. RINKE, Kerygma und Autopsie. Der christologische Disput als Spiegel johanneischer Gemeindegeschichte, HBS 12, Freiburg 1997; H. SCHMID, Gegner im 1. Johannesbrief?, BWANT 159, Stuttgart 2002.
57 Antidoketische Züge in der Christologie des 4. Evangeliums sehen u. a.: W. WILKENS, Die Entstehungsgeschichte des vierten Evangeliums, Zürich 1958, 171; F. NEUGEBAUER, Die Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums, AzTh I/36, Stuttgart 1968, 19f; U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), passim; M. HENGEL, Die johaneische Frage (s. o. 12), 183.247 u. ö.; J. FREY, Eschatologie III (s. o. 12), 396f u. ö.; TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 365; P. E. KINLAW, The Christ is Jesus (s. o. 12.2), 171; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 261. Skeptisch gegenüber einer antidoketischen Ausrichtung des Evangeliums ist z. B. H. THYEN, Joh (s. o. 12), 91.
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dung Jesu im vierten Evangelium, SBS 87, Stuttgart 1977; J.-A. BÜHNER, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium, WUNT 2.2, Tübingen 1977; W. A. MEEKS, Die Funktion des vom Himmel herabgestiegenen Offenbarers für das Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde, in: ders. (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, TB 62, München 1979, 245–283; J. BECKER, Johanneisches Christentum (s. o. 12), 126–179.
Ein weiteres zentrales Element der joh. Christologie sind die Sendungsaussagen. Von Jesus darf geglaubt werden, dass der Vater/Gott ihn gesandt hat (Joh 5,36; 11,42; 17,8.21.23.25). Durchgängig verweist Jesus auf den Vater, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 3,16; 5,23.24.30.37; 6,29.38.39.44.57; 7,16.18.28.29.33; 8,16.18.26.29.42; 10,36; 12,44.45.49; 13,16.20; 14,24; 15,21; 16,5; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21). Die Sendung Jesu ist selbst Inhalt des Glaubens, ihre Erkenntnis ist geradezu das Ziel des Lernprozesses beim Hören/Lesen des Evangeliums. Damit hat sie einen unvergleichbar höheren Stellenwert als die Sendung des Täufers Johannes (1,6.33), der dadurch zwar für sein Wirken legitimiert wurde, gleichwohl aber nichts als ein Mensch war (vgl. 5,34). Seine Sendung hatte keine Geltung in sich, sondern war bezogen auf Jesus (3,28). Demgegenüber ist die Sendung Jesu ein Heilsgeschehen in sich (3,17; 17,3), denn mit ihr gibt Gott seinen Sohn der Welt als ein Liebesgeschenk (3,16; 6,32). Die Sendung des Sohnes hat ihren Grund in der Liebe Gottes und ihr Ziel in der Rettung der Welt: „Denn Gott sandte den Sohn nicht in die Welt, damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde“ (Joh 3,17; vgl. 1Joh 4,9f)58. Der Gesandte repräsentiert nicht nur den Sendenden, sondern er ist wie der Sendende selbst; er bringt nicht nur eine Botschaft, sondern er ist die Botschaft selbst. Er handelt anstelle des Sendenden, und sein Handeln hat die gleiche Gültigkeit wie das des Sendenden: Jesus redet frei und offen als der Gesandte die Worte Gottes (3,34; 12,49.50; 14,24; vgl. 14,10)59; seine Lehre stammt nicht von ihm selbst, sondern von dem, der ihn gesandt hat (7,16); sie ist aus Gott (7,17). Gleiches gilt von seinem Urteil (5,30; 8,16). Jesus tut, wenn er wirkt, nur die Werke dessen, der ihn gesandt hat (9,4); er handelt in dessen Namen (10,25) und nicht aus sich selbst heraus (5,19.30). Er kann auch gar nichts anderes tun, als der Vater tut (5,19); dieser zeigt ihm alles, was er tun soll (5,20.36). Somit gilt: In Jesus wirkt der Vater (14,10). Als Gesandter hat Jesus auch keinen eigenen Willen, sondern er sucht den Willen des Sendenden (5,30), setzt ihn
58 Die Übereinstimmungen mit Gal 4,4; Röm 8,3.32 und 1Joh. 4,9.10.14 weisen auf die jüdisch-hellenistische Weisheitsliteratur als gemeinsamen traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergrund hin (vgl. z. B. Weish 9,9f.17; Sir 24,4.12ff.; Philo, Agric 51; Her 205; Conf 63; Fug. 12); weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 156–163. Zu beachten ist ferner Epict, Diss III 22,23–24, wonach der wahre
Kyniker „von Zeus als Bote zu den Menschen gesandt wurde, um sie über das Gute und das Böse aufzuklären“. 59 Zum Motiv der parrvsı´a („Offenheit“) vgl. M. LABAHN, Die parrvsı´a des Gottessohnes, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), 321–363.
642 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
durch (4,34; 6,38ff), befolgt sein Gebot (8,29; 10,18; 14,31) und vollendet sein Werk (4,34; 17,4). Mit den Sendungsaussagen kommt also zum Ausdruck: In dem Menschen Jesus, der redet, lehrt und wirkt, ist zugleich ein anderer präsent und redet, lehrt und wirkt: Gott selbst. Wer glaubt, dass Jesus von Gott gesandt wurde, erkennt diese Präsenz Gottes in Jesus an. Damit wird bereits deutlich, dass die joh. Sendungschristologie nicht isoliert werden darf, sondern als ein organischer Bestandteil des Ganzen der joh. Christologie angesehen werden muss. Sie setzt die Präexistenz und Inkarnation des Sohnes ebenso wie seinen Tod am Kreuz und seine Erhöhung voraus, denn die Sendung ereignet sich nicht in einem zeitlosen Auf- und Abstieg, sondern sie vollendet sich am Kreuz60. Das Sein bei und das Kommen von Gott ist die gemeinsame Grundlage der Präexistenz-, Inkarnations- und Sendungsaussagen. Die Zeugen der Sendung
In der Sendung durch den Vater liegt Jesu Offenbarungsanspruch begründet. Die Pharisäer fassen Jesu Selbstoffenbarung jedoch als Selbstzeugnis auf, das dem Verdacht der Selbstbegünstigung unterliegt und aus ihrer Perspektive hinterfragt werden muss (vgl. Joh 7,14ff). Jesus antwortet auf diesen Einwand, indem er die Wahrhaftigkeit seines Zeugnisses betont61: „Meine Lehre ist nicht meine eigene, sondern dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 7,16b). Im Hintergrund steht der jüdische Rechtsgrundsatz, wonach das übereinstimmende Zeugnis zweier Menschen wahr ist (vgl. Num 35,30; Dtn 17,6; 19,15). Kein anderer als Jesus kann diesen Grundsatz in Anspruch nehmen, denn das Verhältnis von Vater und Sohn zeichnet sich nicht durch eine äußerliche, sondern eine innere, vollständige Übereinstimmung aus. Nicht nur der Vater, sondern auch weitere Zeugen bestätigen den Anspruch Jesu. Neben dem Täufer (1,6–8.15.19ff) und den ‚Werken‘ (Joh 14,11) bezeugt vor allem die Schrift den Offenbarungsanspruch Jesu, denn sowohl Mose (Joh 5,45–47) als auch Abraham (Joh 8,56) und Jesaja (Joh 12,41) haben von ihm geschrieben. Auch die Zitate aus dem Alten Testament (Joh 1,23; 1,51; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13.15.27.38.40; 13,18; 15,25; 16,22; 19,24.28.36.37; 20,28; vgl. ferner Joh 3,13; 7,18.38.42; 17,12) zielen auf die Erfüllung des Gotteswillens in Jesus Christus62. Dieses Schriftverständ-
60 Gegen U. B. MÜLLER, Zur Eigentümlichkeit des Jo-
umfassenden Begründung s. u. 12.3.5).
hannesevangeliums (s. u. 12.5.2), 39f, der die Sendungschristologie gegen die Kreuzestheologie ausspielen will. Gegen die Auffassung, dem Tod Jesu käme im Rahmen einer dominierenden Sendungschristologie keine Heilsbedeutung zu, kann neben Joh 1,29.36; 2,14–22; 3,14–16; 10,15.17 f.; 11,51 f.; 12,27–32 vor allem auf Joh 19,30 verwiesen werden: Das Kreuz als Ort der Erhöhung und Verherrlichung ist zugleich das Ziel der Sendung Jesu (zur
61 Zum Zeugnismotiv vgl. J. BEUTLER, Martyria, FTS
10, Frankfurt 1972. 62 Zum joh. Schriftverständnis vgl. M. J. J. MENKEN,
Old Testament Quotations in the Fourth Gospel, BET 15, Kampen 1996; B. G. SCHUCHARD, Scripture within Scripture (s. o. 4.4); A. OBERMANN, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium (s. o. 4.4); W. KRAUS, Johannes und das Alte Testament (s. o. 4.4).
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nis ergibt sich aus der joh. Christushermeneutik. Die erst- und zugleich letztgültige Offenbarung in Jesus Christus (vgl. Joh 1,1–18) kann nicht in einem Widerspruch zur Offenbarung in der Schrift stehen. Die höchste und bleibende Bedeutung der Schrift besteht in ihrem grundlegenden Zeugnis, so dass nach joh. Verständnis die Schrift nur auf Jesus Christus hin gelesen werden und von ihm her verstanden werden kann. Johannes relativiert keineswegs die Stellung der Schrift, sondern weist ihr im Rahmen der temporären und sachlichen Priorität des Christusgeschehens einen außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge kommentiert und vertieft die Schrift die wahre Erkenntnis des Gottessohnes. Dualisierungen
Das Johannesevangelium erwuchs aus der nachösterlichen, geistgewirkten Anamnese des Christusgeschehens (vgl. Joh 2,17.22; 10,6; 12,16; 13,7; 14,26; 18 32; 20,9) und bedenkt die Entscheidung der Menschen gegenüber dem fleischgewordenen Logos in den Kategorien der Ablehnung und Annahme63. Wenn Jesus Christus der von Gott gesandte Offenbarer ist, dann stehen sich Glaube und Unglaube als mögliche Antworten auf dieses Geschehen antithetisch gegenüber und bestimmen umfassend das Leben des Einzelnen. In der Dualisierung drückt sich nicht ein gleichrangiges antithetisches Prinzip aus, sondern sie erscheint als eine notwendige Folge des Offenbarungsgedankens. Sie betrifft verschiedene theologische Sachverhalte, so dass nicht von dem joh. Dualismus, sondern von Dualisierungen innerhalb des joh. Denkens gesprochen werden sollte64. Johannes benennt präzis mit ek („aus“) das jeweilige Woher und damit auch das Wesen menschlichen Seins. Die Glaubenden sind ek tou˜ heou˜ („aus Gott“), sie hören Gottes Wort (vgl. Joh 8,47) und vollbringen den Willen Gottes (vgl. 1Joh 3,10; 4,6; 5,19). Sie sind Kinder des Lichtes (Joh 12,36a), aus Gott gezeugt (Joh 1,13) und aus der Wahrheit (1Joh 2,21; 3,19; Joh 18,37). Demgegenüber ist der Unglaube der Welt verhaftet. Die Nichtglaubenden (Joh 8,23) und die Irrlehrer sind ek tou˜ ko´smou („aus der Welt“, 1Joh 4,5). Sie haben den Teufel zum Vater (Joh 8,44; vgl. 1Joh 3,8.10) und sind auf das ‚Untere‘ ausgerichtet (Joh 8,23: eınai ek tw˜n ka´tw). Diese Unterscheidungen ergeben sich bei Johannes aus dem Offenbarungsgedanken selbst, denn 63 Prägnant F. MUSSNER, Die ‚semantische Achse‘ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle/K. Kertelge, Freiburg 1989, (246–255) 252, der über den Verfasser des Johannesevangeliums sagt: „Er reflektiert die Jesusgeschichte als Glaubensund Entscheidungsgeschichte und bringt das gegensätzliche Verhalten dem Logos-Christus gegenüber durch Opponenten und Adjuvanten auf die sprachliche Grundopposition ‚annehmen‘ / ‚nicht annehmen‘ . . .“
64 Der Begriff ‚Dualismus‘ wurde bereits von J. BLANK, Krisis (s. u. 12.8), 342f, vehement abgelehnt; zur Forschungsgeschichte vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 11–51; J. FREY, Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, in: D. Sänger/U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 3–73, die von ‚dualistischen Motiven/Dualismen‘ bei Johannes sprechen.
644 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
der Offenbarer ist „von oben her“ (Joh 8,23: egw` ek tw˜n anw eimı´; Joh 3,31: „Der von oben her kommt, ist über allem. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Wer aber vom Himmel kommt, der ist über allem“). Weil der Offenbarer selbst nicht ek tou˜ ko´smou ist, sind auch die Seinen nicht aus der Welt (vgl. Joh 17,16). Das joh. Konzept unterscheidet sich grundlegend von gnostischen Systemen, wo die Glaubenden von Anfang an zur oberen Sphäre gehören und der Dualismus eine protologische Funktion hat65. Eine Antithese (‚Licht – Finsternis‘) erscheint innerhalb des Evangeliums erstmals in Joh 1,5. Für ihr Verständnis ist die Vorordnung der Schöpfung (Joh 1,3f) von großer Bedeutung. Sie geht der ‚Finsternis‘ voraus und gilt somit nicht wie in gnostischen Systemen als ein Werk der ‚Finsternis‘. ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ konstituieren sich angesichts der Offenbarung, so dass die joh. Dualisierungen im Gegensatz zu gnostischen Schriften keine protologische Bedeutung haben, sondern als eine Funktion der Christologie verstanden werden müssen66. Gottes Zuwendung zur Welt im Logos Jesus Christus kommt jedem Dualismus zuvor! 67 Nicht ein dem Offenbarungsgeschehen zeitlich oder sachlich vorgeordneter antikosmischer Dualismus zeigt sich im 4. Evangelium, vielmehr vollzieht sich mit der Offenbarung eine Scheidung zwischen dem im Unglauben verharrenden Kosmos und der glaubenden Gemeinde. Der Kosmos wird keineswegs durchgehend negativ betrachtet. Die Welt Gottes und die Welt des Menschen gehören ursprünglich zusammen. Bereits in der Schöpfung zeigt sich eine Vorzeitigkeit des Guten, sie ist ein Werk des im Anfang bei Gott seienden Logos. Aus Liebe sandte Gott seinen Sohn in die Welt (Joh 3,16; vgl. 10,36; 1Joh 4,9 f.14); Jesus Christus ist der in die Welt gekommene Prophet bzw. Sohn Gottes (Joh 6,14; 11,27). Als das vom Himmel herabgestiegene Brot gibt er dem Kosmos Leben (Joh 6,33; vgl. 6,51), er ist das Licht der Welt (Joh 9,5). Jesus kam, um den Kosmos zu retten (vgl. Joh 3,17; 12,47), er ist der swtv`r tou˜ ko´smou (Joh 4,42: „Retter der Welt“; vgl. 1Joh 2,2). Ganz bewusst bittet der scheidende Christus den Vater, die Gemeinde nicht aus der Welt zu nehmen (Joh 17,15), sondern sie vor dem Bösen zu bewahren. Die Gemeinde lebt im Kosmos, sie ist aber nicht ek tou˜ ko´smou (vgl. Joh 15,19; 17,14). Jesus sendet seine Jünger in die Welt (Joh 17,18), und dem Kos-
65 Vgl. dazu H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung (s. u. 12.2.5), 137–139. Auch die vielfach behaupteten Parallelen zu dualistischen Aussagen in den Qumranschriften halten einer genauen Prüfung nicht stand; vgl. J. FREY, Licht aus den Höhlen. Der ‚johanneische Dualismus‘ und die Texte von Qumran, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), 117–203. Eine nach wie vor lesenswerte Darstellung der möglichen religionsgeschichtlichen Kontexte und Zusammenhän-
ge bietet O. BÖCHER, Der johanneische Dualismus im Zusammenhang des nachbiblischen Judentums, Gütersloh 1965. 66 Vgl. T. ONUKI, Gemeinde und Welt (s. u. 12.7), 41 ff. 67 Völlig anders J. BECKER, Johanneisches Christentum (s. o. 12), 142: „Das Wirklichkeitsverständnis des Evangelisten ist also durch einen horizontalen Schnitt gekennzeichnet, der Gott und Mensch durch eine Barriere trennt.“
Christologie 645
mos werden sogar die Fähigkeiten des Erkennens und Glaubens an Jesu Sendung zugesprochen (vgl. Joh 17,21.23). Nicht der Kosmos an sich wird negativ bewertet, sondern der Unglaube macht den Kosmos zur widergöttlichen Welt (vgl. Joh 16,9; 1,10; 7,7; 8,23; 9,39; 14;17)68. Weil durch das Kommen des Lichtes eine neue Situation für die Menschen eingetreten ist und sich allein im Glauben an Jesus Christus die Heilsfrage entscheidet (vgl. Joh 3, 16f; 12,46 und die egw´ eimi-Worte in Joh 6,35; 8,12; 10, 7.11; 11,25; 14,6; l5,1), bleiben konsequenterweise all jene in der Finsternis, die sich der Christusbotschaft verweigern. Die joh. Dualisierungen zielen auf eine Entscheidung und sind zugleich deren Folge, da die Entscheidung des Menschen angesichts der Christusoffenbarung über sein Woher und sein Wohin bestimmt. Lässt er im Glauben die Heilszuwendung Gottes in Jesus Christus auch für sich gelten, so erhält damit seine Existenz als Wiedergeburt ‚von oben‘ in der Kraft des Geistes (vgl. Joh 3,5f) eine neue Grundlage und Ausrichtung. Demgegenüber verbleibt der Unglaube im Bereich der Finsternis und des Todes. Mit den Dualisierungen drückt Johannes die Bedeutsamkeit des Christusgeschehens aus, sie benennen die eschatologischen Dimensionen der geforderter Entscheidung, weil Glaube und Unglaube bereits jetzt endgültig über Leben und Tod entscheiden (vgl. Joh 3,18.36; 5,24 u. ö.). Die joh. Dualisierungen weisen keine religionsgeschichtliche Eigendynamik auf69, sondern sind in ein übergreifendes Argumentationsgefälle integriert: Es ist der Liebesgedanke, der allen Formen der joh. Dualisierungen vorausgeht, sie flankiert und interpretiert 70. Während die Dualisierung eine jeweilige Grenzlinie beschreibt, bestimmt die Dynamik der Liebe Gottes zur Welt (Joh 3,16), zum Sohn (Joh 3,35; 10,17; 15,9.10; 17,23.26) und zu den Jüngern (Joh 14,21.23; 17,23.26), die Liebe Jesu zu Gott (Joh 14,31) und den Jüngern (Joh 11,5; 13,1.23.34; 14,21.23; 15,12.13; 19,26) sowie die Liebe der Jünger zu Jesus (Joh 14,15.21.23) und zueinander (Joh 13,34.35; 15,13.17) das joh. Denken positiv: Die vom Vater ausgehende Liebesbewegung setzt sich im Wirken des Sohnes und der Jünger fort, bis schließlich die Welt erkennt, „dass du mich gesandt hast und du sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast“ (Joh 17,23).
12.2.3 Die ,Ich-bin-Worte‘ E. SCHWEIZER, Ego Eimi, FRLANT 56, Göttingen 21965; J.-A. BÜHNER, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium (s. o. 12.2.2), 166–180; B. HINRICHS, „Ich bin“. Die Konsistenz des Johannes68 Vgl. R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 34. 69 Vgl. J. FREY, Zu Hintergrund und Funktion des jo-
hanneischen Dualismus, 70, der den Adressatenbezug der dualistischen Motive und ihre Einbettung in die johanneische Dramaturgie betont: „Der Gestal-
tungswille des johanneischen Autors ist daher höher zu bewerten als der Einfluß religionsgeschichtlicher Milieus.“ 70 Grundlegender Nachweis bei E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), passim.
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Evangeliums in der Konzentration auf das Wort Jesu, SBS 133, Stuttgart 1988; H. THYEN, Ich bin das Licht der Welt. Das Ich- und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, JAC 35 (1992), 19–46; DERS., Ich-Bin-Worte, RAC XVII, Stuttgart 1996, 147–213; D. M. BALL, ‚I Am‘ in John's Gospel, JSNT.S 124, Sheffield 1996; CHR. CEBULJ, Ich bin es. Studien zur Identitätsbildung im Johannesevangelium, SBB 44, Stuttgart 2000; M. THEOBALD, Herrenworte (s. o. 12), 245–333.
Die ‚Ich-bin-Worte‘ sind das Zentrum der Selbstverkündigung Jesu und Schlüsselworte joh. Offenbarungstheologie und Hermeneutik. In ihnen sagt Jesus aus, wer er ist, was er für die Menschen sein will und wie sie ihn verstehen sollen. In den ‚Ichbin-Worten‘ verdichten sich in einzigartiger Weise Christologie und Soteriologie71. In konzentrierter Form signalisieren die Worte vom Brot des Lebens (Joh 6,35a), Licht der Welt (Joh 8,12), der Tür (Joh 10,7), des Hirten (Joh 10,11), der Auferstehung und des Lebens (Joh 11,25), des Weges, der Wahrheit und des Lebens (Joh 14,6) und des Weinstocks (Joh 15,1) das besondere Verhältnis von Vater und Sohn. In bewusster Aufnahme des offenbarenden Sprechens des Vater (vgl. Ex 3,14LXX; vgl. ferner Ex 3,6.17; Jes 43,10.11LXX; 45,12LXX) wird der Sohn zum Offenbarungsträger72. Es geht um das in Christus erschienene Leben; die ‚Ich-bin-Worte‘ sind Lebensworte, denn in fünf der klassischen sieben ‚Ich-bin-Worte‘ findet sich das Stichwort ‚Leben‘ (zwv´, yucv´). Die egw´ eimi-Worte haben eine metaphorische Dimension und sind Bestandteil eines umfassenden Bildfeldes/von Bildreden (Joh 6/8/10/11/14/15), mit deren Material der Autor arbeitet und das für die Interpretation von entscheidender Bedeutung ist. Niemand kann nach dem alltäglichen Sprachgebrauch von sich behaupten, er sei ‚das Brot‘ oder ‚das Licht‘. Zugleich zeigt der bestimmte Artikel an, dass Jesus nicht nur ‚das Brot‘, ‚das Licht‘ usw. bringt, sondern es ist. Im egw´ eimi tritt der Sprecher selbst in die Aussage ein, er gibt sich kund, stellt sich für die Hörer/Leser des 4. Evangeliums als Gott vor. Mit den egw´ eimi-Worten antwortet Jesus zuallererst darauf, wer er ist, woraus folgt, was er für die Glaubenden ist. Beide Aspekte bedingen und ergänzen einander. Das ‚Brot‘, das ‚Licht‘, die ‚Auferstehung‘ u.s.w. kann Jesus für die Glaubenden nur sein, weil er der Sohn Gottes ist. Planvoll verdeutlicht Johannes in sieben ‚Ich-bin-Worten‘ mit Metaphern aus der menschlichen Erfahrungswelt die Messianität Jesu. Die ‚Ich-bin-Worte‘ sind Summarien der joh. Offenbarungstheologie73, in denen sich der Sohn wie zuvor der Vater im egw´ eimi offenbart.
71 Die Grundstruktur der ‚Ich-bin-Worte‘ ist klar erkennbar: Auf die Präsentation (egw´ eimi) folgen das Bildwort mit Artikel sowie Invitation und Verheißung; vgl. S. SCHULZ, Komposition und Herkunft der Johanneischen Reden, BWANT 1, Stuttgart 1960, 85–90.
72 ‚Ich-bin-Worte‘ gibt es in der ägyptischen, der griechischen und der jüdischen Überlieferung; vgl. NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 357–373. 73 Treffend bezeichnet J. ASHTON, Understanding (s. o. 12), 186, die ‚Ich-Bin-Worte‘ als „miniature Gospels“.
Christologie 647
Christologie der Bilder
Die ‚Ich-bin-Worte‘ illustrieren nachdrücklich einen Grundzug der joh. Christologie: Die Präsentation christologischer Aussagen in bildhafter Form74. Bilder sind speziell im 4. Evangelium die zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung75. Die Bildsprache verwendet in der joh. Schule verwurzelte Symbole76, die einen Verweischarakter haben und das Wesen Gottes (s. o. 12.1.3) und/oder des Sohnes Jesus Christus erschließen sollen: Licht (1Joh 1,5; Joh 1,4f; 3,19; 8,12; 12,46 u. ö.), Liebe (1Joh 4,16; Joh 3,35; 17,26), Geist (Joh 4,24); Jesus Christus als ‚lebendiges Wasser‘ (Joh 4,14; 7,37–39). Die Bildsprache greift Metaphern auf, die im Gegensatz zum Symbol bereits auf der unmittelbaren Textebene einen Überstieg auf eine neue Sinnebene fordern: Jesus als Lebensbrot (Joh 6), wahrhaftiger Hirte (Joh 10), Tür (Joh 10), Weizenkorn (Joh 12,24), Weinstock (Joh 15). Darüber hinaus ist die joh. Bildsprache durch räumliche Kategorien (oben – unten/kommen – weggehen/Sendung), Titel/ Namen (Vater/Sohn/Logos/Lamm/Messias/Christus/Herr) und durch eine starke narrative Bildlichkeit gekennzeichnet (vgl. vor allem Joh 2,1–11; 3,1–11; 4,4–42; 6; 8,12–20; 9; 10; 11,1–45)77. Die Bildlichkeit zielt auf Vermittlung, Erkennen und Zustimmung; die Leser/Hörer sollen durch geeignete/positive Bilder, Bildworte und Bildreden78 von ihrer unmittelbaren Lebenserfahrung und von ihrem kulturellen Hintergrund her immer tiefer zu einer wahren Erkenntnis Jesu Christi geführt werden. Dazu bedient sich die joh. Bildersprache einer bemerkenswerten Vielfalt, von Einzelmotiven (z. B. Jesus als Tempel Joh 2,19–22), über Verknüpfungen (z. B. Joh 2–4 als Kana-Ring-Komposition) bis hin zu Bildnetzwerken (z. B. Jesus als ‚König‘ in Joh 1,49; 12,13; 19,21). Bildhafte Begriffe wie z. B. Licht, Leben, Herrlichkeit werden (oft im Zusammenspiel 74 Vgl. neben den Arbeiten von C. R. KOESTER (s. o. 12) und R. ZIMMERMANN (s. o. 12.2) vor allem J. FREY, Das Bild als Wirkungspotential, in: R. Zimmermann (Hg.), Bildersprache verstehen, München 2000, 331–361; J. G. VAN DER WATT, Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John, BIS 47, Leiden 2000. 75 Zum (antiken) Bildbegriff vgl. R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. o. 12.2), 61–74. Konstitutiv sind drei Aspekte: 1) Ein Bild bringt eine spezifische Wirklichkeit zwischen wahrhaft Seiendem und Nicht-Seiendem zum Ausdruck; 2) Ein Bild steht immer in einem Verweiszusammenhang, in dem es sich als Bild ‚von etwas‘ qualifiziert; 3) Bilder haben eine grundlegende Funktion im Erkenntnisvorgang, indem sie wahrgenommen und interpretiert werden, d. h. den Rezipienten von Bildern kommt eine grundlegende Bedeutung zu. Zimmermann (a. a. O., 102f) geht von fünf Grundtypen der Bildlichkeit bei Johannes aus: metaphorische, symbolische, titulare,
narrative und konzeptuelle Bildlichkeit. Zur aktuellen Diskussion vgl. J. FREY/J. G. VAN DER WATT/R. ZIMMERMANN (Hg.), Imagery in the Gospel of John, WUNT 200, Tübingen 2006. 76 Zur Definition von ‚Symbol‘ und ‚Metapher‘ s. o. 3.4; vgl. ferner die umfangreiche Theoriediskussion bei R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. o. 12.2), 137–165. 77 Vgl. dazu R. ZIMMERMANN, a. a. O., 197–217. 78 Die von Bildworten/Metaphern geforderten Übertragungsleistungen sind nur möglich, wenn die Einbettung in die gesamte Narration (dies betont J. G. VAN DER WATT, Family of the King, 91f) und die kontextualen Ausdrücke beachtet werden. Innerhalb der joh. Welt kommt hinzu, dass eine Übertragungsleistung nur dann möglich ist, wenn die Hörer/Leser über ihre Alltagserfahrung hinaus in der Lage sind, das Bild zu lesen, d. h. in der Kraft des Geistes die wahre Bedeutung z. B. des ‚Hirten‘ Jesus Christus zu erfassen.
648 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
mit ihren Opponenten) zu Leitbegriffen, die sowohl innerhalb kleinerer Textabschnitte als auch über große Textsequenzen hinweg eine vernetzende Funktion haben. Durch Wiederaufnahme, Amplifikation, Aufbau von Spannungsbögen, Rückverweise oder Substitution79 strebt der Evangelist gerade durch seine Bildsprache eine Verdichtung seiner Botschaft an. In der joh. Bildsprache fließen ständig bekannte Wirklichkeiten zu einer neuen Wirklichkeit zusammen, die gesehen, erkannt und geglaubt werden will; der Glaube wird so im Sehen zu einem Erkenntnisakt (vgl. Joh 20,31)80. 12.2.4 Christologische Titel S. SCHULZ, Untersuchungen zur Menschensohn-Christologie im Johannesevangelium, Göttingen 1957; R. RHEA, The Johannine Son of Man, AThANT 76, Zürich 1990; D. BURKETT, The Son of the Man in the Gospel of John, JSNT.S 56, Sheffield 1991; CHR. BÖTTRICH, „Gott und Retter“. Gottesprädikationen in christologischen Titeln, NZSTh 42 (2000), 217–236; M. SASSE, Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes, TANZ 35, Tübingen 2000; F. J. MOLONEY, The Johannine Son of Man Revisited, in: G. van Belle/J. G. van der Watt/P. Maritz (Hg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. o. 12), 177–202.
Die Hoheitstitel sind ein zentrales Element der joh. Christologie, denn sie qualifizieren Jesus von Nazareth in besonderer Weise und benennen prägnant den Inhalt des christlichen Glaubens: „Diese aber (sc.: die Zeichen) wurden aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Die textpragmatische Funktion christologischer Titel im Johannesevangelium verdeutlicht die Korrespondenz zwischen Prolog (Joh 1,1–18) und Epilog (Joh 20,30f): Die Leser werden mit einem christologischen Titel als Leitlexem in das Werk eingeführt, und sie dürfen sich des Verstehens gewiss sein, wenn sie in die von christologischen Titeln geprägte Glaubensaussage Joh 20,31 einstimmen können81. Logos
Kaum zufällig findet sich das absolute o lo´goß („Wort/Rede/Denken/Vernunft“) als christologischer Titel nur im joh. Traditionsbereich (Joh 1,1.14; Offb 19,13; vgl. 1Joh 79 Zu diesen literarischen Verfahrensweisen vgl. TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 237– 241.444–446. 80 Vgl. R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. o. 12.2), 444: „Christologie erweist sich in dieser Hinsicht als ein Sehvorgang, bei dem sich die Vielfalt der Bilder zwar nicht in der Einheit des Begriffs, wohl aber in der ‚Einheit des Blicks‘ zusammenfassen lässt.“
81 S. VAN TILBORG, Reading John in Ephesus, NT.S 83, Leiden 1996, hat gezeigt, dass die Göttlichkeit Jesu und alle zentralen christologischen Titel des 4. Evangeliums speziell in Ephesus auf dem Hintergrund des Kaiserkultes problemlos rezipiert werden konnten.
Christologie 649
1,1). Logos ist bei Johannes wie in der griechischen Tradition göttliches Wirk- und Lebensprinzip, es benennt die Zuwendung Gottes zum Menschen und die ursprüngliche Einheit menschlichen Denkens mit Gott. Der lo´goß-Begriff eröffnet bewusst einen weiten Kulturraum: die Welt der griechisch-römischen Philosophie/Bildung82 und des hellenistischen Judentums alexandrinischer Prägung83. Als Schlüsselwort der griechischen Bildungsgeschichte aktiviert lo´goß ein umfangreiches Anspielungspotential, das bei der produktiven Mitarbeit der Hörenden/Lesenden in den Verstehensprozess mit einfließt. Das jeweilige kulturelle Wissen ist mit der Enzyklopädie einer Sprache verbunden, die von einem Autor aktiviert werden kann. Begriffe und die mit ihnen verbundene Normativität entfalten ihre Kraft nur innerhalb einer bereits existierenden Sprachgemeinschaft, die Regeln für das Verstehen, Handeln und Urteilen vorgibt und ständig neu prägt84. Indem Johannes den Schlüsselbegriff der griechisch-römischen Kulturgeschichte zum christologischen Leitbegriff erhebt (s. o. 12.2.1), drückt er einen universalen Anspruch aus: Der Logos Jesus Christus ist aus der ursprünglichen Einheit mit Gott hervorgegangen, er ist Gottes schöpferische Kraft, er ist der Ursprung und das Ziel allen Seins und im Logos Jesus Christus findet die antike Religions- und Geistesgeschichte ihr Ziel. Sohn Gottes
Der Titel o uıo`ß (tou˜ heou˜) findet sich 38mal im Evangelium und ist ein Schlüsselbegriff joh. Christologie (s. o. 12.1.1/12.1.2). Er ist besonders geeignet, das besondere Verhältnis zwischen Gott und Jesus von Nazareth auszusagen und muss auf der Basis der seinshaften Einheit von Vater und Sohn (vgl. Joh 10,30) relational und funktional verstanden werden85. Zum ersten Mal erscheint der Titel im vollen offenbarungstheologischen Sinn in Joh 1,34 (Der Täufer sagt: „Und ich habe ihn gesehen und habe bezeugt, dieser ist der Sohn Gottes“), um dann im weiteren Verlauf des Werkes mehr und mehr entfaltet zu werden86. Die Aufnahme des Titels an dieser Stelle lässt
82 Zum Logosbegriff insgesamt vgl. B. JENDORFF, Der
Logosbegriff, EHS 20.19, Frankfurt 1976; A. SCHMIDT, Die Geburt des Logos bei den frühen Griechen, Berlin 2002. Klassisch Diog L 6,3: „Als erster definierte Antisthenes den Logos, indem er sagte: Ein Logos ist das, was klar macht, was etwas war oder ist“ [Lo´goß esti`n o to` tı´ vn v esti dvlw˜n]. Fast zeitgleich mit dem Johannesevangelium formuliert z. B. Dio Chrys, Or 36,31: „So zielt der Logos, um es kurz zu sagen, darauf ab, das Menschengeschlecht mit der Gottheit harmonisch in Verbindung zu bringen und in einem Begriff alles Vernunftbegabte zusammenzufassen; denn in der Vernunft sieht sie die einzige sichere und unauflösliche Grundlage von Gemeinschaft und
Gerechtigkeit“; weitere Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 10–15. 83 Vgl. hier B. L. MACK, Logos und Sophia, SUNT 10, Göttingen 1973. 84 Deshalb ist es nicht möglich, den Logosbegriff auf einen jüdisch-hellenistischen Hintergrund zu beschränken, wie es z. B. F. HAHN, Theologie I, 616f, tut. 85 F. HAHN, Art. uıo´ß, EWNT III, Stuttgart 1983, 922f, betont z.R., dass mit dem Sohnestitel zwar verschiedene Traditionen verbunden sind, die johanneische Konzeption aber als eigenständiges Modell anzusehen ist. 86 Vgl. bes. die Bekenntnisse des Nathanael (Joh 1,49) und der Marta (Joh 11,27).
650 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
die sorgfältige Komposition des Evangelisten erkennen: Johannes verweist mit o uıo`ß tou˜ heou˜ auf den Abschlussvers des Evangeliums (Joh 20,31), so dass der Titel ‚Sohn Gottes‘ das Wirken Jesu in seiner Gesamtheit von der Berufung der ersten Jünger bis hin zur Sendung der Jünger umspannt. Inhaltlich umfasst der Titel das Offenbarungswirken des Sohnes, dem vom Vater alles übergeben wurde (Joh 3,35; 17,2), der allein Kunde vom Vater bringt (Joh 1,18; 6,46), der den Willen des Vaters tut (Joh 5,19f) und dessen Sendung auf die Rettung der Welt zielt (s. o. 12.2.2). Wer den Sohn sieht und an ihn glaubt, hat das ewige Leben (Joh 3,36; 6,40), besitzt die wahre Freiheit (Joh 8,32.36) und sieht zugleich den Vater (Joh 12,45; 14,9). Es verwundert nicht, dass der Vorwurf des Ditheismus sich am Sohnes-Titel entzündet (Joh 5,18; 10,33–39; 19,7). Der Sohnes-Titel bringt die ausschließliche Offenbarungsvollmacht und die alleinige Heilsmittlerschaft Jesu Christi prägnant zum Ausdruck. Christus
Der Titel-Name LIvsou˜ß Cristo´ß („Jesus Christus“) erscheint nur in Joh 1,17 und 17,3 (vgl. aber 1Joh 1,3; 2,1; 3,23; 4,2; 5,5.20), im Mittelpunkt steht das an der atl. Messiaserwartung orientierte absolute (o) Cristo´ß (17mal im Evangelium; Transkription ins Griechische in Joh 1,41; 4,25). Der Täufer lehnt diesen Titel für sich ausdrücklich ab (Joh 1,20.25; 3,28). Positiv signalisieren vor allem die Bekenntnisaussagen in Joh 4,29; 7,26.41; 10,24 („Dieser ist der Christus“), Joh 11,27 („Marta spricht: Ja, Herr, ich glaube jetzt, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt“) und Joh 20,31 den damit verbundenen Anspruch: Jesus von Nazareth ist der im AT verheißene Messias. Die damit verbundenen Fragen werden ausdrücklich thematisiert: Herkunft (Joh 4,25; 7,27.41f), Wundertätigkeit (Joh 7,31) und die ewige Existenz des Messias (Joh 12,41). Das Nebeneinander in Joh 11,27 und 20,31 zeigt deutlich, dass für Johannes Messianität und Gottessohnschaft zusammengehören. König Israels/der Juden
Das Königsmotiv umrahmt das Wirken und Reden Jesu (vgl. Joh 1,49; 12,13.15; 18,33.36.37.39; 19,3.12.14.15.19.21): Am Anfang steht das Bekenntnis des Nathanael zum König Israels (Joh 1,49), das in der Einzugsakklamation wieder aufgenommen wird (Joh 12, 13); am Ende des Evangeliums dominiert das Motiv der Königswürde Jesu. Damit verbindet sich die Wendung basileı´a tou˜ heou˜ („Reich Gottes“) in Joh 3,3.5, deren Bezüge zum Pilatusverhör offenkundig sind (s. u. 12.2.5). So wie Jesu basileı´a nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36), müssen die Menschen „von oben/ von neuem“ geboren werden, um am Heil zu partizipieren. Im Gegensatz zu der vordergründig urteilenden Menge (vgl. Joh 6,15) wissen die Leser/Leserinnen des Evangeliums um Jesu Christi wahres Königtum, das allein in seiner Legitimation durch den Vater besteht.
Christologie 651
Kyrios
Der Titel ku´rioß („Herr“) erscheint 43mal im Johannesevangelium, gewinnt aber erst in den Ostererzählungen an Profil. Während zuvor ‚Herr‘ zumeist ohne hoheitliches Gewicht gebraucht wird (vgl. Joh 4; 11 und 13 [13,13f: Gleichsetzung von ku´rioß und dida´skaloß; vgl. ferner 15,15.20]), dient ku´rioß in Joh 20,2.18.20.25 zur Bezeichnung des Auferstandenen bis hin zum Bekenntnis des Thomas: „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28: o ku´rio´ß mou kai` o heo´ß mou). Das ‚Sehen des Herrn‘ in Joh 20,18.20.25 verweist auf 1Kor 9,1 und zeigt, dass ku´rioß auch im joh. Traditionskreis als spezielle Bezeichnung für den Auferstandenen gebraucht wurde. Menschensohn
Die Menschensohn-Vorstellung ist völlig in die Gesamtkonzeption joh. Christologie eingearbeitet. Die Verbindung mit dem Präexistenz- und Sendungsmotiv zeigt sich deutlich in der Rede vom ‚Hinab- und Hinaufsteigen‘ des Menschensohnes (vgl. Joh 1,51; 3,13f; ferner 6,27.53 mit 6,33.38.41 f.50 f.58), wobei in Joh 6,62 ausdrücklich die Präexistenz des Menschensohnes ausgesagt wird („Wenn ihr nun den Menschensohn dorthin aufsteigen seht, wo er zuvor gewesen ist . . .“). Als der vom Himmel Hinabgestiegene und dorthin wieder Aufsteigende vollzieht der Menschensohn für Johannes bereits in der Gegenwart seine Funktionen als Richter (Joh 5,27), Lebensspender (Joh 6,27.52.62) und Messias (Joh 8,28; 9,35; 12,23.34; 13,31f)87. Der pointierte Zusatz o heo´ß zu patv´r in Joh 6,27 („denn diesen [den Menschensohn] hat Gott der Vater mit seinem Siegel beglaubigt“) verweist dabei auf die durchgängige sachliche Priorität des Vaters, dessen Handeln am Menschensohn das Heil der Menschen ermöglicht. Der von Gott herkommende Logos hat auch nach seiner Inkarnation immerwährenden Zugang zur himmlischen Welt, er eröffnet als gegenwärtig wirkender Menschensohn den Glaubenden den Zugang zur himmlischen Welt und damit zu Gott (Joh 1,51: „Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes aufsteigen und niedersteigen über dem Menschensohn“). Die interne Vernetzung verschiedener Motivkomplexe wird in Joh 3,13f sichtbar, wo die Präexistenz und Sendung mit der Erhöhung und Verherrlichung des Menschensohnes verbunden werden. Die joh. Menschensohnworte erhalten durch ihre Interpretation im Rahmen der Kreuzes- und Erhöhungstheologie ihr besonderes Gepräge88. Die Anabasis des Menschensohnes wird in spezifisch joh. Weise als ‚Erhöhung‘ gedeutet; wie in Joh 8,28; 12,32 meint uyou˜n auch in Joh 3,13f die Kreuzigung Jesu89. Wie die Erhöhung der Schlange in der Wüste, so hat auch die Erhöhung Jesu rettende Funk-
87 Vgl. hierzu R. SCHNACKENBURG, Joh I (s. o. 12), 411–423. 88 Vgl. J. FREY, Die johanneische Eschatologie III (s. o. 12), 260–280.
89 Vgl. W. THÜSING, Erhöhung (s. o. 12.2), 3 f.
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tion. Nicht erst Jesu Erhöhung in den Himmel, sondern bereits seine Erhöhung an das Kreuz ist rettendes Geschehen (s. u. 12.2.5). Neben den christologischen Titeln, die sich jeweils in größerer Zahl über das Evangelium erstrecken, finden sich an einzelnen Stellen christologische Prädikationen, die in besonderer Weise Jesu Würde und Heil schaffendes Wirken hervorheben. Retter der Welt
Im Gespräch mit der samaritanischen Frau am Brunnen (Joh 4,4–42) wird Jesus in einer aufsteigenden Linie als Jude (V. 9), bedeutender als Jakob (V. 12), als Prophet (V. 19) und Messias (V. 25 f.29) bezeichnet, dann heißt es in Joh 4,42: outo´ß estin alvhw˜ß o swtv`r tou˜ ko´smou („Dieser ist wahrhaft der Retter der Welt“). Der Begriff swtv´r stammt aus dem hellenistischen Herrscherkult (s. o. 10.4.1) und wurde im Urchristentum auf Jesus übertragen (vgl. Luk 2,11; Apg 5,31; 13,23; Phil 3,20; 1Tim 4,10; 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6; Eph 5,23; 2Petr 1,1.11; 2,20; 3,2.18; 1Joh 4,14)90. Das Begriffsfeld swtv´r/swtvrı´a/sw´ zein weist in ntl. Zeit eine politisch-religiöse Konnotation auf: Der römische Kaiser ist der Wohltäter und Retter der Welt, er garantiert nicht nur die politische Einheit des Reiches, sondern gewährt seinen Bürgern Wohlstand, Heil und Sinn91. Auch hier setzt Johannes einen Elativ, denn für ihn rettet allein Jesus Christus, der bereits in der Gegenwart ewiges Leben im Glauben schenkt92. Das universale Heil der Welt kann nicht von politischen Herrschern erwartet werden, sondern nur von dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Zugleich drückt sich in dieser Prädikation auch das Selbstverständnis der joh. Christen aus: Sie wissen sich mit ihrer Botschaft an den gesamten Kosmos gesandt, weil Jesus allein der Retter der Welt ist (vgl. Joh 3,16; 6,33; 12,47). Der Heilige Gottes
In Joh 6,69 spricht Petrus im Namen der Jünger, die nicht von Jesus abgefallen sind: „Und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes (aÇgioß heou˜) bist“. Diese im 4. Evangelium einmalige christologische Prädikation bringt in besonderer Dichte die Einheit von Vater und Sohn zum Ausdruck. Jesus hat als aÇgioß heou˜ Anteil am innersten Wesen Gottes (vgl. Joh 10,30.36; 14,10; 17,17.19). Für Johannes bilden das exklusive Verhältnis des Gesandten zum Sendenden (vgl. Joh 17,18.20), sein Wirken als Wahrheit in der Welt, seine Rückkehr zum Vater und die Vergegenwärti90 Vgl. dazu C. R. KOESTER, The Savior of the World, JBL 109 (1990), 665–680; F. JUNG, SWTVR. Studien zur Rezeption eines hellenistischen Ehrentitels im Neuen Testament (s. o. 10.4.1), 45–176; M. KARRER, Jesus der Retter (StÞr), ZNW 93 (2002), 153–176. 91 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 239–257.
92 Vgl. M. LABAHN, ‚Heiland der Welt‘. Der gesandte
Gottessohn und der römische Kaiser – ein Thema johanneischer Christologie?, in: M. Labahn/J. Zangenberg (Hrsg.), Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen 2002, 147–173.
Christologie 653
gung dieses Geschehens im Wort, in der Kraft des Geistes und in den Gaben der Eucharistie eine innere Einheit. In all diesen Dimensionen vollzieht sich Jesu Heiligung, deshalb ist er der ‚Heilige Gottes‘. Lamm Gottes
In der erzählerischen Eröffnung des Evangeliums wird Jesus zweimal als amno`ß heou˜ („Lamm Gottes“)93 bezeichnet; ihm gilt das Offenbarungswort des Täufers, das als erste positive Würdebezeichnung programmatischen Charakter hat: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt“ (Joh 1,29). Die Variation in Joh 1,36 (der Täufer spricht: „Siehe, das Lamm Gottes“) unterstreicht die Bedeutung dieses Wortes über Jesus. Das Lamm als Kontrastbild zu vordergründiger Macht und Stärke zeigt, dass Gottes Liebe in Schwachheit und Verborgenheit zu den Menschen kommt. Paradoxerweise offenbart sich die Macht der Liebe in der Ohnmacht des Kreuzes (s. u. 12.2.5). Jesus erscheint in der Gestalt der Niedrigkeit und hat dennoch die Macht vom Vater, die Welt zu erlösen. Jesus als Gott
Nicht zufällig finden sich die klarsten Belege für die Bezeichnung Jesu als ‚Gott‘ in den joh. Schriften: 1Joh 5,20; Joh 1,1.18; 20,28; Vorwurf des Ditheismus in Joh 5,18; 10,33 (vgl. ferner Hebr 1,8–9; Tit 2,13; 2Petr 1,1; umstritten Röm 9,5; Jak 1,1; Apg 20,28; 2Thess 1,2). Im Kontext des römischen Kaiserkultes und lokaler Verfolgungen (vgl. 1Joh 5,21) heißt es in 1Joh 5,20 über den Gottessohn Jesus Christus: „Dieser ist der wahre Gott (o alvhino`ß heo´ß) und das ewige Leben.“ Damit setzt der Briefautor einen deutlichen Akzent gegen den Anspruch des römischen Kaisers, als Gott verehrt zu werden. Einen ähnlich polemischen Kontext lässt das Bekenntnis des Thomas in Joh 20,28 erkennen: „Mein Herr und mein Gott“ (o ku´rio´ß mou kai` o heo´ß mou). Die Verbindung von o ku´rioß und o heo´ß verweist auf Ps 34,23LXX und hat eine auffallende Parallele in der von Domitian in seiner Spätzeit geforderten Anrede „Dominus et Deus noster“94, wobei die Kritik antiker Autoren erkennen lässt95, wie stark dieser Herrschaftsanspruch das Leben und Verhalten der Menschen beeinflussen konnte. Wenn auf diesem Hintergrund die vom Kaiser beanspruchten Attribute von Johannes auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus übertragen
93 Umfassende traditionsgeschichtliche Analysen finden sich bei M. HASITSCHKA, Befreiung von Sünde (s. u. 12.5.3), 52–109 (votiert für die Gottesknechtvorstellung); TH. KNÖPPLER, theologia crucis (s. u. 12.2.5), 67–88; R. METZNER, Das Verständnis der Sünde (s. u. 12.5.3), 143–156 (sehen die Passatradition im Hintergrund). 94 Suet, Dom 13,2 (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 855).
95 Vgl. Dio Chrys, Or 45,1; Martial X 72, 1–3, wo Martial die Veränderungen am Hof mit dem neuen Kaiser Trajan beschreibt: „Schmeicheleien, ihr naht euch mir vergeblich, ihr elenden, mit euren abgefeimten Lippen. Von einem ‚Herrn und Gott‘ habe ich nicht vor zu sprechen“ (= NEUER WETTSTEIN I/2 [s. o. 4.3], 854); vgl. ferner Martial V 8,1; VII 34,8; VIII 2,6; IX 66,3; Dio Chrys, Or 1,21.
654 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
werden, dann beinhaltet dies auch eine deutliche Kritik am Kaiserkult96. Joh 1,1.18 zeigen allerdings, dass in solchen polemischen Bezügen die Bezeichnung Jesu als ‚Gott‘ nicht aufgeht. Sie hat ihren sachlichen Grund in der seinshaften Einheit von Vater und Sohn (Joh 10,30), die in Joh 1,1f so beschrieben wird: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott.“ Der Logos weilt von Anfang an bei Gott, beide sind gleich ursprünglich, und Gott ist nicht ohne sein Wort zu denken (s. o. 12.2.1). In V. 1c kommt dem Logos das Prädikat heo´ß zu. Weder ist der Logos einfach mit Gott identisch, noch gibt es neben dem höchsten Gott einen zweiten Gott, sondern der Logos ist vom Wesen Gottes97. Philo lässt den unterschiedlichen Gebrauch von o heo´ß und heo´ß deutlich erkennen, wonach allein dem einen Gott das Prädikat o heo´ß gebührt98. Bewusst steht in V. 1c das Prädikatsnomen heo´ß, um so gleichermaßen das göttliche Wesen des Logos und seine Unterschiedenheit vom höchsten Gott auszudrücken. V. 1c enthält die Spitzenaussage über das Sein und Wesen des Logos99, er ist an Würde und Bedeutung nicht zu übertreffen. Gott ist der Ort des Wortes, im Wort spricht Gott umfassend aus sich heraus. Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung sind hier eins, denn das Wort ist schon im Anfang kein anderes als Jesus Christus. Deshalb vermag allein Jesus Christus Kunde von Gott zu geben und gebührt nur ihm das Prädikat: monogenv`ß heo´ß (Joh 1,18: „einziggeborener Gott“). 12.2.5 Kreuzestheologie U. B. MÜLLER, Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Johannesevangelium, KuD 21 (1975), 49–71; H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium, AThANT 72, Zürich 1987; TH. KNÖPPLER, Die theologia crucis des Johannesevangeliums, WMANT 69, Neukirchen 1994; U. B. Müller, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu, ZNW 88 (1997), 24–55; J. RAHNER, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazareth als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117, Bodenheim 1998; J. ZUMSTEIN, Die johanneische Interpretation des Todes Jesu, in: ders., Kreative Erinnerung (s. o. 12), 219–239; J. FREY, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament, hg. v. A. Dettwiler/J. Zumstein, WUNT 151, Tübingen 2002, 169–238; E. STRAUB, Der Irdische als der Auferstandene. Kritische Theologie bei Johannes ohne ein Wort vom Kreuz, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament, a. a. O., 239–264; DIES., Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz, FRLANT 203, Göttingen 2003; TH. SÖDING, Kreuzerhöhung. Zur Deutung des Todes Jesu nach Johannes, ZThK 103 (2006), 2–25; U. SCHNELLE, Markinische und johanneische Kreuzestheologie, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, EThL 200, Leuven 2007, 233–258. 96 In den Inschriften von Ephesus findet sich das Prädikat heo´ß für zahlreiche Kaiser; vgl. S. VAN TILBORG, Reading John in Ephesus, 41–47. 97 Vgl. E. HAENCHEN, Das Johannesevangelium, Tübingen 1980, 117 f.
98 Vgl. Philo, Somn I 229 f.; ferner Leg All II 86; Somn I 239–241. 99 Vgl. R. SCHNACKENBURG, Joh I (s. o. 12), 211; E. HAENCHEN, Joh, 116.
Christologie 655
Die Frage, ob bei Johannes von einer Kreuzestheologie gesprochen werden kann und inwieweit sie ein bestimmendes Element des joh. Denkens ist, steht im Mittelpunkt der neueren Diskussion um das 4. Evangelium100. Das hinter dieser Debatte stehende Sachproblem lautet, ob die joh. Rede vom Tod Jesu durch die Einordnung in ein übergeordnetes Interpretationsschema (z. B. Dualismus; Gesandtenchristologie; Jesu Weg der Selbstoffenbarung vom Vater her und zum Vater hin) neutralisiert und zum uneigentlichen Geschehen wird101, oder auch bei Johannes das Kreuz theologisch/christologisch bedacht wird und ihm grundlegende und bleibende Bedeutung zukommt102. Hinzu kommt: Was ist Kreuzestheologie? In der aktuellen Debatte finden sich verschiedene Bestimmungs- und Differenzierungsversuche103; von Kreuzestheologie sollte erst dann gesprochen werden, wenn vier Bedingungen erfüllt sind: Es muss a) staur-Semantik vorliegen, b) nicht nur auf das Kreuz als Ort des Todes Bezug genommen werden, sondern c) das Kreuz innerhalb eines theologischen Systems als erzählerisch und sachlich strukturierende Grundlage und Mitte fungieren und schließlich d) eine theologisch reflektierte Zuordnung von Kreuz und Auferstehung erkennbar sein. Die Kreuzesperspektive der Evangelienkomposition
Explizit kommt der Tod Jesu erstmals in Joh 1,29.36 in den Blick. Als amno`ß heou˜ („Lamm Gottes“) rettet Jesus durch seinen stellvertretenden Sühnetod am Kreuz den widergöttlichen Kosmos aus seiner Verfallenheit an die Sünde. Genau an der Stelle, wo der joh. Jesus zum ersten Mal die Erzählbühne betritt, erscheint er als der Gekreuzigte104. Bereits am Anfang ist damit das Ende präsent und die Hörer/Leser wissen, dass der Weg des präexistenten und inkarnierten Logos ans Kreuz führt. Die erzählerische Wiederaufnahme der Metaphorik des ‚Tragens‘ in Joh 19,17 verdeut-
100 Einen Abriss der neueren Forschung bieten: J. RAHNER, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“, 3–117; J. FREY, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, 169–191. 101 So stellt R. BULTMANN, Theologie, 405, fest: „Dieser (sc. der Tod Jesu) hat bei Johannes keine ausgezeichnete Heilsbedeutung . . .“ Nach E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille (s. o. 12), 111, fehlt bei Johannes „die tiefe Paradoxie, daß Auferstehungsmacht nur im Schatten des Kreuzes erfahren wird und Auferstehungswirklichkeit irdisch den Platz unter dem Kreuz bedeutet“; vielmehr „ist der Tod als Weg zur Herrlichkeit des Erhöhten verstanden“ (a. a. O., 23 Anm. 7). Vgl. ferner in diesem Sinn: U.B. MÜLLER, Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, 69; J. BECKER, Johanneisches Christentum, 151; E. STRAUB, Der Irdische als der Auferstandene, 264. 102 So z. B. U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie
(s. o. 12.2), 189–192; H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung, passim; M. HENGEL, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchristlichen Exegese, JBTh 4 (1989), (249–288) 271ff; TH. KNÖPPLER, theologia crucis, passim; J. FREY, Die johanneische Eschatologie II (s. o. 12), 432 ff. u. ö. 103 Vgl. hierzu K. HALDIMANN, Kreuz – Wort vom Kreuz – Kreuzestheologie. Zu einer Begriffsdifferenzierung in der Paulusinterpretation, in: A. Dettwiler/ J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, 1–25. 104 Wer die Bedeutung des Kreuzes bei Johannes minimieren will, muss V. 29b ohne hinreichende Gründe für sekundär erklären; so J. BECKER, Johanneisches Christentum (s. o. 12), 152; U. B. MÜLLER, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums, 51 f.
656 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
licht die Zusammenhänge: Jesus trägt selbst sein Kreuz zur Hinrichtungsstätte, das Kreuz, das bereits in Joh 1,5 („Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“) und Joh 1,11b („und die Seinen nahmen ihn nicht auf“) im Blick ist und als Ort des Leben schaffenden Todes Jesu der gesamten Jesus-Christus-Geschichte bei Johannes die Perspektive gibt105. Auch die Frage, warum Johannes nur hier amno´ß (das einzelne männliche Schaf) verwendet106, erhält im Rahmen einer kreuzestheologischen Interpretation eine Antwort: Für das einmalige Kreuzesgeschehen verwendet der Evangelist einmalig amno´ß (vgl. Jes 53,7LXX). Der Erzählfaden von Joh 1,29.36 wird in der Kanaerzählung mit Joh 2,1a („am dritten Tag“) und 2,4c („Meine Stunde ist noch nicht gekommen“) aufgenommen und verstärkt. Der ‚dritte‘ Tag kann für die Rezipienten des Evangeliums kein anderer als der Auferstehungstag sein. Die wÇra Jesu ist die ‚Stunde‘ der Passion (und Verherrlichung) des präexistenten Gottessohnes. Die (immer schon mitzudenkende) kreuzestheologische Füllung dieses Geschehens wird durch die Anwesenheit Marias unterstrichen. Nur beim Weinwunder und bei der Szene unter dem Kreuz (Joh 19,25–27) tritt die Mutter Jesu auf und wird jeweils mit gu´nai angeredet. Mit der Voranstellung der Tempelreinigung 107 folgt der 4. Evangelist einer theologischen Chronologie: Weil die Tempelreinigung historisch Auslöser für den Kreuzestod Jesu war und das Kreuz von Beginn an die Dramaturgie des 4. Evangeliums inhaltlich und kompositionell bestimmt, muss die Tempelreinigung am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu stehen. Explizit thematisiert Johannes die kreuzestheologische Dimension der Tempelreinigung in Joh 2,17.22 mit dem hermeneutischen Konzept des ‚Erinnerns‘. Wiederholt verweist der Evangelist mit kurzen Kommentarworten auf den Tod Jesu (vgl. Joh 11.13; 12.16,33; 13.7; 18.32; 20.9), wobei die Motive des ‚Erinnerns‘ bzw. ‚Noch-nicht-Verstehens‘ in Joh 12,16; 13,7; 20,9 den joh. Denkansatz nochmals deutlich benennen: Erst in der nachösterlichen Anamnese eröffnet sich in der Gegenwart des Parakleten (Joh 14,26) Jesu vorösterliche Geschichte. Die Metaphorik des Einreißens und Wiederaufbaus des Tempels in drei Tagen (Joh 2,19– 22) kann von der nachösterlichen Gemeinde nur auf Kreuz und Auferstehung bezogen werden. Wenn Johannes gerade mit der Tempelreinigung sein hermeneutisches Konzept der nachösterlichen Erinnerung einführt, dann gibt er damit seiner Hörer-/ Lesergemeinde ein deutliches Signal: Bei der Tempelreinigung handelt es sich nicht um eine beliebige Episode aus dem Leben Jesu, sondern bereits hier geht es um das Verstehen der gesamten Sendung Jesu. Damit gewinnt die Tempelreinigung den Charak105 Zur kreuzestheologischen Interpretation von Joh 1,29 vgl. auch R. METZNER, Das Verständnis der Sünde (s. u. 12.5.3), 115–158; J. FREY, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, 197–207. 106 Pro´bata 17mal in Joh 1–20 im Sinn von ‚Schafherde‘.
107 Vgl. hierzu U. SCHNELLE, Die Tempelreinigung
und die Christologie des Johannesevangeliums, NTS 42 (1996), 359–373; J. RAHNER, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“, 176–340.
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ter einer kreuzestheologischen Grundsatzerklärung! Kreuz und Auferstehung werden nicht nur erwähnt, sondern umfassend theologisch bedacht. Nach begrifflichen Reflexionen in Joh 3,14–16; 10,15.17 f; 11,51 f; 12,27–32, der Betonung des wirklichen Sterbens Jesu als Ermöglichungsgrund der Eucharistie in Joh 6,51c–58 (s. u. 12.7.2) und zahlreichen passionstheologisch konnotierten Verweisen in Joh 2,23; 5,1; 6,4; 7,2.10; 11,18.55ff; 12,1.12 lenkt Johannes mit der Fußwaschung in Joh 13,1–20 wieder nachdrücklich den Blick auf Kreuz und Auferstehung (s. u. 12.6.1). Als Prolog des 2. Hauptteils und Portal zur Leidensgeschichte nimmt die Fußwaschung die vorangegangenen Passionsverweise auf und richtet den Blick endgültig auf das bevorstehende Geschick Jesu108. Für Johannes ist die Fußwaschung die Vorwegnahme des Weges Jesu zum Kreuz, denn hier wie dort dominiert die Bewegung nach unten, dient Jesus den Menschen aus Liebe. Paradoxerweise zeigt sich die Macht des Gottessohnes in der Gestalt des Dienens, ebenso wie das wahre Leben nur durch den Tod gewonnen werden kann. Eine Entsprechung findet dieses Geschehen in der Verspottungsszene (vgl. Joh 19,1–5), wo der König der Juden als lächerliche Gestalt mit Dornenkrone und Purpurmantel der Menge vorgeführt wird109. Jesus führt die Seinen in die neue Existenz der Bruderliebe ein, indem er sie selbst lebt und durch den Kreuzestod ermöglicht. Inkarnation, Fußwaschung und Kreuz sind gleichermaßen Bewegungen der Liebe nach unten, in die Tiefe menschlichen Seins. Auch die Abschiedsreden erscheinen somit im Licht der ans Kreuz führenden Liebe Gottes. Bewusst steht das neue Gebot der Liebe an ihrem Anfang (Joh 13,34f), denn allein die Liebe vermag den Schmerz der Trennung zu überwinden und die bleibende Verbindung zu gewährleisten. Schließlich sind auch die joh. Passions- und Ostererzählungen kreuzestheologisch ausgerichtet110. Verschiedene Linien der Erzählung treffen sich hier und geben dem gesamten Evangelium ihr Gepräge. Gerade bei Johannes erreicht die Offenbarung am Kreuz ihr Ziel, hier erfüllt der Sohn den Willen des Vaters (vgl. Joh 13,1.32; 14,31; 17,5; 18,11; 19,11.23f). Im Pilatusverhör steht das Wesen des Königtums Jesu zur Debatte, wobei die Rede von Jesus als basileu´ß (vgl. Joh 1,49; 12,13.15; 18,33.36.37.39; 19,3.12.14.15.19.21)111 die Wendung basileı´a tou˜ heou˜ in Joh 3,3.5 aufnimmt und interpretiert. Es bestehen deutliche Bezüge zwischen dem Nikodemusgespräch und dem Pilatusverhör: Der erste Dialog Jesu mit einem Juden und der letzte mit einem Heiden entsprechen sich darin, dass beide Gesprächspartner Jesu 108 Die kreuzestheologischen Dimensionen der Fußwaschung betonen z. B. H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung, 192–198; U. SCHNELLE, Die johanneische Schule (s. u. 12.6.1), 215f; J. ZUMSTEIN, Die johanneische Auffassung der Macht, gezeigt am Beispiel der Fußwaschung (Joh 13,1–17) (s. u. 12.6.1), 174 (die Fußwaschung wird „zur Metapher des
Kreuzes“); H. THYEN, Joh (s. o. 12), 586. 109 Vgl. H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung, 209. 110 Vgl. M. LANG, Johannes und die Synoptiker, FRLANT 182, Göttingen 1999, 305–342. 111 Vgl. J. FREY, Die johanneische Eschatologie III (s. o. 12), 271–276.
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wahres Wesen nicht erkennen und auf einer irdisch-vordergründigen Ebene stehenbleiben. Die Kreuzesinschrift (vgl. Joh 19,19) verdeutlicht aller Welt, dass Jesu Tod am Kreuz als basileu´ß die Voraussetzung und der Ermöglichungsgrund des Eingehens der Glaubenden und Getauften in die basileı´a tou˜ heou˜ ist. So wie Jesu basileı´a nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 18,36), müssen die Menschen „von oben/von neuem“ geboren werden, um am Heil zu partizipieren. Der geschundene Jesus von Nazareth trägt sein Kreuz selbst (Joh 19,17; vgl. Joh 1,29) und sitzt als König der Juden nackt auf seinem Thron: dem Kreuz. Vom Kreuz herab setzt Jesus seine Gemeinde ein, die sich wie Maria in die Obhut des Lieblingsjüngers begeben darf. Die joh. Gemeinde wird vom Kreuz herab und unter dem Kreuz gegründet (s. u. 12.7.1)! Im Kreuz vollendet sich die Schrift (Joh 19,28) und am Kreuz sagt der Fleischgewordene tete´lestai (Joh 19,30: „es ist vollbracht“). Der dürstende, erschöpfte Jesus spricht sein letztes Wort am Kreuz, wobei teleı˜n („vollenden/erfüllen“) in V. 28.30 auf die präpositionale Bestimmung eiß te´loß in Joh 13,1 zurückverweist, die eine zeitliche („bis ans Ende“) und qualitative („bis zur Vollendung“) Dimension enthält. Das Kreuz ist der Ort, an dem die Liebe Jesu zu den Seinen an ihr Ende und ihre Vollendung gelangt, am Kreuz vollendet sich der Weg des Offenbarers. Das Verstehen dieses Geschehens durch die Jünger wird durch bewusste Strukturanalogien zwischen Joh 6,19f und Joh 20,19–23 herausgearbeitet: Hier wie dort befinden sich die Jünger in Gefahr und jeweils erscheint Jesus auf wunderbare Weise, um sie zu retten. Während es vorösterlich zu keinem Erkennen Jesu durch die Jünger auf dem See kommt, verdeutlicht Joh 20,20, dass sich Jesus von Nazareth auch bei Johannes (wie bei Markus) erst als Gekreuzigter und Auferstandener voll begreifen lässt. Die augenfällige Realität des Todes Jesu betont Joh 19,34b.35 mit dem Heraustreten von ‚Wasser und Blut‘ aus der Seitenwunde Jesu. In der Thomasperikope Joh 20,24–29 gewinnt die Identität des Präexistenten und Inkarnierten mit dem Gekreuzigten und Erhöhten handgreifliche Dimensionen. Hier endet die Erzählung und wird zugleich auf eine neue Verstehensebene gehoben: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29b). Begriffliche Interpretationen des Kreuzesgeschehens
Zu den Besonderheiten der joh. Erzähltechnik gehört die theologische Neukonnotation von Begriffen, um so zentrale Themen in komprimierter Form zu präsentieren und damit Überraschungs- und Verfremdungseffekte zu erzielen. Im Zusammenhang mit Kreuz und Auferstehung sind dies vor allem die ‚Stunde‘ Jesu und seine ‚Erhöhung und Verherrlichung‘. Mit dem Begriff der ‚Stunde‘ (wÇra) stellt Johannes das gesamte öffentliche Wirken Jesu unter eine kreuzestheologische Perspektive112. Der Evangelist spricht von der 112 Johannes nahm dieses Motiv wahrscheinlich aus Mk 14,41 auf („Und er kommt zum dritten Mal und
spricht zu ihnen: Ihr schlaft weiter und ruht euch aus! Genug, die Stunde ist gekommen, siehe, der
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Stunde der Verherrlichung Jesu (Joh 12,23.27f; 17,1), der Stunde, die für die Sendung Jesu vom Vater zeugt (Joh 13,1; 7,30; 8,20), der Stunde der Annahme der Passion (Joh 12,27) und der Stunde, die da kommt (Joh 4,21.23; 5,25; 16,2.4.25). Beim ersten Auftreten sagt Jesus unvermittelt zu seiner Mutter: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4c), womit die Stunde der Passion und der Verherrlichung des präexistenten und inkarnierten Gottessohnes gemeint ist113. Wie in Joh 7,6.8.30; 8,20 trennt oupw („noch nicht“) die Zeit vor der Passion und die Passion. Johannes baut mit diesem ‚noch nicht‘ eine erzählerische Spannung auf, die erst durch die Proklamation ‚der‘ Stunde in Joh 12,23 aufgelöst wird („Jesus aber antwortet ihnen und spricht: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“). Mit Verherrlichung benennt Johannes die Erhebung in den göttlichen Bereich, sie ist eine Tat Gottes, die sich in Kreuz und Auferstehung vollzieht (vgl. Joh 12,27–33). Das Motiv der ‚Stunde‘ prägt auch die Fußwaschungserzählung (Joh 13,1). Nach dem Abschluss seines öffentlichen Wirkens weiß Jesus um die kommende Stunde seines Leidens, die in die Verherrlichung führen wird (vgl. Joh 12,23). Eine Eigentümlichkeit der joh. Christologie besteht in der Bestimmung des Todes Jesu als Erhöhung und Verherrlichung 114. In Joh 3,13f wird die Anabasis des Menschensohnes als ‚Erhöhung‘ gedeutet: „Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn. Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss der Menschensohn erhöht werden.“ Die joh. Symbolsprache verweist hier mit uyou˜n („erhöhen“) wie in Joh 8,28; 12,32 auf die Kreuzigung Jesu115. Wie die Erhöhung der Schlange in der Wüste, so hat auch die Erhöhung Jesu rettende Funktion. Nicht erst Jesu Erhöhung in den Himmel, sondern bereits seine Erhöhung an das Kreuz ist rettendes Geschehen. Die Erhöhungsvorstellung ist im Neuen Testament sonst fest mit der Auferstehung verbunden, wie Phil 2,9; Apg 2,33; 5,31 zeigen. Johannes nimmt eine Neudefinition vor, indem er in der Erhöhung Kreuz und Auferstehung konsequent zusammendenkt. Als Gekreuzigter ist Jesus in zweifacher Weise ‚erhöht‘: Er hängt am Kreuz und ist zugleich beim Vater, das Sitzen zur Rechten Gottes ist das Sitzen am Kreuz! 116. Diese Auslegung wird vor allem durch Joh 12,27–33 unterstützt, wo sich Erhöhung und Verherrlichung gegenseitig interpretieren. Mit dem Kommentarwort V. 33 („Dies sagte er aber, um deutlich zu machen, welchen Todes er sterben würde“) deutet der Evangelist durch poı´w hana´tw (poı˜oß = „wie beschaffen“) sein Verständnis von Kreuz, Erhöhung und
Menschensohn wird in die Hände der Sünder ausgeliefert“); zur Auslegung der Texte vgl. TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 102–115. 113 Vgl. TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 103; J. FREY, Die johanneische Eschatologie II (s. o. 12), 182. 114 Vgl. hierzu J. FREY, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat . . .“, in: Schriftauslegung im
antiken Judentum und im Urchristentum, hg. v. M. Hengel/H. Löhr, WUNT 73, Tübingen 1994, 153– 205; TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 154–173. 115 Vgl. W. THÜSING, Erhöhung und Verherrlichung (s. o. 12.2), 3 ff. 116 Zu den Realien der Kreuzigung vgl. H.-W. KUHN, Der Gekreuzigte von Givcat hat-Mivtar (s. o. 4.2)
660 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
Verherrlichung semantisch sehr genau an. Es geht nicht um den Tod Jesu allgemein, sondern um die Art und Weise des Todes/die Todesart, d. h. um das Kreuz!117 Am Kreuz erlangt Jesus die Würde der Erhöhung und Verherrlichung118. Das Kreuz ist gerade bei Johannes Grunddatum und bleibender Ort des Heils, und nur vom Kreuz her kann Jesu Gang zum Vater sachgemäß in den Blick genommen werden119. Die Erhöhung am Kreuz und die Erhöhung zum Vater fallen bei Johannes zusammen (vgl. Joh 13,31f). Die Perspektive des hohenpriesterlichen Gebetes unterstreicht diesen Gedanken: „Vater, die Stunde ist gekommen, verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche“ (Joh 17,1; vgl. V. 4.5.22.24). Als Sohn und Gesandter des Vaters geht Jesus Christus der Stunde des Kreuzes und der Erhöhung entgegen, in der die Doxa des Vaters aufleuchtet und die Macht des Todes besiegt wird. Gerade weil der Heilssinn des Kreuzes so betont wird, ist bei Johannes das Leiden Jesu schon vom Ostersieg überblendet. Deshalb kann der 4. Evangelist das Gekreuzigtwerden als ‚Erhöhung‘ und ‚Verherrlichung‘ verstehen. In diesem Sinn ist die Kreuzestheologie Voraussetzung für die Herrlichkeitschristologie. Schließlich thematisieren die Aussagen über den Einsatz Jesu für die Seinen nachdrücklich die Bedeutung des Kreuzes für die joh. Christologie120. Speziell in der Hirtenrede Joh 10 greift der Evangelist diese Vorstellung auf; Jesus Christus ist der gute Hirte, der Messias, der aus Liebe und in Übereinstimmung mit dem Vater sein Leben für die Seinen gibt. Die Wendung tihe´nai tv`n yucv`n upe´r („das Leben geben für“) ist eine zentrale soteriologische Formel im 4. Evangelium (vgl. Joh 10,11.15.17; 13,37 f; 15,13; ferner 1Joh 3,16)121, sie betont in Übereinstimmung mit der joh. Passionsgeschichte den Gedanken der von Jesus ausgehenden Selbsthingabe des Lebens, um Leben für die Glaubenden zu ermöglichen. Bemerkenswert ist die Aufnahme hellenistischer Verantwortungs- und Freundschaftsethik122 in Joh 15,13: „Größere Liebe 117 Wer die theologische Bedeutung des Kreuzestodes zugunsten einer Herrlichkeitschristologie bei Johannes minimieren will, muss Joh 12,33 in seiner Bedeutung reduzieren, indem diese Stelle entweder übergangen wird (so J. BECKER, Johanneisches Christentum [s. o. 12], 151), oder für ‚vordergründig‘ erklärt wird (so U. B. MÜLLER, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums, 44). 118 Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der joh. Erhöhungs- und Verherrlichungschristologie bildet Jes 52,13LXX, wo es über den Gottesknecht heißt: idou` sunv´sei o paı˜ß mou kai` uywhv´setai kai` doxashv´setai sfro´dra; vgl. dazu TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 162 f. Aus dem paganen Bereich vgl. Artemid II 53; IV 49. 119 Gegen J. BECKER, Joh II (s. o. 12), 470: „Nicht das
Kreuz ist also bleibender Realgrund der Erlösung, sondern die Erhöhung, die sich als Abschluß der Sendung ergibt.“ 120 Vgl. dazu TH. KNÖPPLER, theologia crucis, 201–216. 121 Gegen U.B. MÜLLER, Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, 63, der behauptet, in Joh 10,11.15 „liegt nur vorgeprägte Rede vor, die noch nicht das Eigentliche johanneischer Theologie umgreift.“ J. BECKER, Joh I (s. o. 12), 388, entledigt sich dieser Texte mit der Bemerkung: „Alle diese Stellen gehören nicht zu E“. 122 Vgl. die Texte in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 592–598.715–725; zur Sache vgl. K. SCHOLTISSEK, „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und
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hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Die Liebe Jesu in seiner radikalen Hingabe für die Seinen wird so in einen traditionsträchtigen Kulturraum gestellt und anschlussfähig gemacht. Das Kreuz als Schandpfahl und der heroische Einsatz für andere verschmelzen im Liebeshandeln des Vaters am Sohn und des Sohnes für die Seinen. So wie Jesus die Glaubenden in seinem vorbildhaften Tun bis zum Tod liebte, so sollen auch die Glaubenden einander lieben. Jesu Tod für die Freunde ist ein stellvertretender Tod, der Leben ermöglicht und das neue Sein in der Liebe eröffnet. Die zu Beginn des Abschnittes genannten vier Kriterien für Kreuzestheologie werden von Johannes auf allen Ebenen umfassend bedacht123: a) Sachgemäß konzentriert sich die staur-Semantik auf den Passionsbericht (stauro´w in Joh 19,6.10.15. 16.18.20.23.32.41; stauro´ß in Joh 19,17.19.25.31). b) Es wird nicht nur auf das Kreuz Bezug genommen, sondern c) sowohl in der erzählerischen als auch in der theologisch-begrifflichen Linienführung bildet das Kreuz den Zielpunkt des Evangeliums, von dem her sich ein Verstehen der Sendung und des Geschicks des Gottessohnes Jesus Christus erschließt. d) Schließlich signalisiert die eigentümliche Verschränkung von Kreuzigung und Erhöhung/Verherrlichung ebenso wie die Thomasperikope eine eigenständige und kreative Bearbeitung des Verhältnisses von Kreuz und Auferstehung: Im Kreuz offenbart sich gleichermaßen als Ohnmacht und Macht die Liebe Gottes. Kreuz und Auferstehung
Der enge Zusammenhang zwischen Kreuz und Auferstehung im Johannesevangelium ist bereits deutlich geworden; erzählerisch lenkt Johannes vor allem mit der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44), dem endgültigen Todesbeschluss der Führer der Juden (Joh 11,53), der Salbung in Bethanien (Joh 12,1–8.9–11) und dem Einzug in Jerusalem (Joh 12,12–19) den Blick auf dieses Thema124. Die Auferweckung des Lazarus ist der Höhepunkt des öffentlichen Wirkens Jesu und zugleich der Anlass des endgültigen Todesbeschlusses der Führer der Juden (Joh 11,53)125. Bewusst wurde
das Johannesevangelium, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), 413–439. 123 Weil es um Jesu Christi Tod am Kreuz geht, gehören für mich theologia crucis und theologia crucifixi zusammen: es ist Jesus Christus, der stirbt; er stirbt aber an einem bestimmten und nicht austauschbaren Ort: am Kreuz. Anders J. FREY, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, 235: „Es ist nicht das Kreuz (als Hinrichtungsinstrument und ‚Schandpfahl‘), sondern der verherrlichte Gekreuzigte in Person, dem im johanneischen Denken die zentrale Bedeutung zukommt.“
124 Zur Schlüsselfunktion von Joh 11 und 12 im Aufbau und der erzählerischen Dramatik des Evangeliums vgl. M. LABAHN, Bedeutung und Frucht des Todes Jesu im Spiegel des johanneischen Erzählaufbaus, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, EThL 200, Leuven 2007, 431– 456. 125 Neben den Kommentaren vgl. zu Joh 11,1–44 bes. M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o. 12.2), 378–465; W.E. SPROSTON NORTH, The Lazarus Story within the Johannine tradition, JSNT.S 212, Sheffield 2001; J. FREY, Die johanneische Eschatologie III (s. o. 12), 403–462.
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das größte Wunder im Neuen Testament von Johannes an diesen Ort gestellt. Für Jesus leitet dieses Geschehen endgültig den Weg zum Kreuz ein; die Hörer/Leser des Evangeliums wissen aber zugleich: Wie Jesus den Lazarus vom Tod erweckte, wird Gott Jesus vom Tod erwecken, so dass die Lazarusgeschichte immer auch eine Modellgeschichte für Jesu eigenes Geschick ist. In zweifacher Weise zeichnet Johannes am Ende der Erzählung die Auferstehung des Lazarus als Vorabbildung der Auferstehung Jesu: 1) Sowohl bei Lazarus als auch bei Jesus handelt es sich bei der letzten Ruhestätte um ein Felsengrab (vgl. Joh 11,38/20,1); 2) Von beiden heißt es, sie seien nach jüdischer Sitte beigesetzt worden (vgl. Joh 11,44/19,40), beide Häupter wurden mit einem Schweißtuch verhüllt (vgl. Joh 11,44/19,40). Zugleich zeigen sich in kleinen Details die großen Unterschiede zwischen Lazarus und Jesus: 1) Bei Lazarus ist die Grabhöhle noch verschlossen (11,38), beim Grab Jesu hingegen ist der Stein bereits weggeräumt (20,1). 2) Während der eine, mit Binden vollständig umwickelt, umständlich befreit werden muss (11,43f), löst sich der andere selbst aus den Banden des Todes (vgl. Joh 20,6f), wovon die säuberlich gefalteten Schweißtücher zeugen. 3) Schließlich wird durch das dreifache oÅn vgeiren ek tw˜n nekrw˜n („den er von den Toten auferweckte“) in Joh 12,1.9.17 für Lazarus und vge´rhv ek nekrw˜n in Joh 2,22 für Jesus eine deutliche Verbindung zwischen der Auferweckung des Lazarus und Jesu hergestellt, denn nur an diesen drei Stellen erscheint egeı´rein im Sinn von ‚auferstehen‘ (vgl. noch Joh 21,14). Die Salbung in Bethanien (Joh 12,1–8.9–11)126 und der Einzug in Jerusalem verstärken wiederum als Prolepsen die Verbindungslinien zwischen Leiden, Tod und Auferstehung, zwischen der Lazarusperikope und dem Passions- und Ostergeschehen. Das Passionsgeschehen ist durch das unaufrichtige Verhalten des Judas (12,4–6) und den Todesbeschluss gegen Lazarus (12,10) präsent. Die Salbung ist ein kaum verhüllter Hinweis auf Ostern: 1) In 12,7 wird ausdrücklich auf das Begräbnis Joh 19,38–42 verwiesen; 2) Das Nardenöl ist als Gegensatz zum Gestank des Lazarus ein Zeichen für Lebensduft127, d. h. es symbolisiert die Auferstehungswirklichkeit, die schließlich durch die refrainartige Erwähnung der Auferweckung des Lazarus (12,1.9.17) unterstrichen wird. Maria salbt einen Lebenden, der ein Lebender bleibt, so dass sie die Salbe wieder abwischen kann. 3) Die ausdrückliche Erwähnung des Wegganges Jesu zum Vater in 12,8b antizipiert die Abschiedsreden und das gesamte Ostergeschehen. 4) Schließlich thematisiert die Sentenz128 Joh 12,24 ausdrücklich Jesu Tod und Auferstehung: „Amen, amen, ich sage euch, wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Je126 Vgl. M. GRUBER, Die Zumutung der Gegenseitigkeit. Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu anhand einer pragmatisch-intratextuellen Lektüre der Salbungsgeschichte Joh 12,1–8, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, EThL 200, Leuven 2007, 647–660.
127 Vgl. M. GRUBER, Die Zumutung der Gegenseitigkeit, 650. 128 Vgl. dazu Epict, Diss IV 8,36–39.
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sus muss sterben, wenn er ‚Frucht‘ bringen soll, d. h. allein aus seinem Tod kommt die Frucht und damit das Leben. Den Hörern und Lesern des Evangeliums soll durch die szenische Abfolge in Joh 11 und 12 deutlich werden, dass der Weg Jesu nicht in die Leere des Todes führt, sondern gerade in seinem Schicksal das Leben triumphiert, während Lazarus am Ende wohl doch sterben muss. Genau dort, wo sich die Hinweise auf den Tod Jesu unübersehbar verdichten, tritt zugleich die Auferstehungswirklichkeit unübersehbar in den Blick! Umgekehrt bleibt in den von der Auferstehungsherrlichkeit geprägten Erscheinungsgeschichten in Joh 20 der Gekreuzigte im Blick. In wunderbarer Weise darf Thomas die Identität des Auferstandenen mit dem Irdischen in Raum und Zeit nachprüfen und kommt dadurch zum Glauben (Joh 20,24–29). Er bestätigt damit, dass in der Identität der Leiblichkeit des Gekreuzigten und Auferstandenen Kreuz und Auferstehung ineinanderfallen! 12.2.6 Die Einheit der johanneischen Christologie Bei der Frage nach der Struktur der joh. Christologie geht es um die Bestimmung des denkerischen Profils des 4. Evangelisten. Bei Johannes kann von einem Nebeneinander oder sogar Gegeneinander christologischer Entwürfe nicht die Rede sein, sondern die joh. Christologie zeichnet sich durch ein Gesamtkonzept aus: Präexistenz und Inkarnation, Sendung und Erhöhung/Verherrlichung am Kreuz treffen sich im Liebesgedanken. Die Liebe des Vaters zum Sohn vor der Grundlegung der Welt und die Sendung des Sohnes fallen nach Joh 17,24.25 ebenso zusammen wie die Sendung des Sohnes und sein Gang ans Kreuz (Joh 3,13f.16; 10,17; 13,1) aus Liebe zur Welt. Kaum zufällig verbinden sich die ersten ko´smoß-Belege im Evangelium mit Präexistenz/Inkarnation (Joh 1,9f), Kreuz (Joh 1,29) und Sendung (Joh 3,16). Johannes nahm wie alle maßgeblichen ntl. Autoren traditionsgeschichtlich differente christologische Entwürfe auf und integrierte sie in ein beeindruckendes Gesamtmodell: Der Präexistente, Inkarnierte und Gesandte ist für ihn kein anderer als der Gekreuzigte und Erhöhte (vgl. Joh 20,24–29), denn im Kreuz fallen die Bewegung des Sohnes zum Vater und des Vaters zum Sohn ineinander129. Jesus Christus als Präexistenter und Inkarnierter, Gesandter und am Kreuz Verherrlichter ist die umfassende personale Antwort auf die Frage nach einer gottbestimmten Existenz in Liebe. Die joh. Dualisierungen nivellieren die Bedeutsamkeit des Kreuzes in keiner Weise, denn sie sind in ein übergreifendes Argumentationsgefälle integriert: Es ist der Liebesgedanke, der das Kreuz zum Ort des Lebens macht und auch die joh. Dualisierungen flankiert und interpretiert (s. o. 12.2.2). Jesu Weg zum Kreuz steht in der Kontinuität seines gesamten Seins und Wirkens, in der Kontinuität der Liebe. Jesus 129 Vgl. H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung, 201 f.
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definiert Liebe als die Bereitschaft, sein Leben für die Freunde zu lassen. Er stirbt in dieser Liebe beispielhaft und ermöglicht so die Sammlung und die Rettung der Kinder Gottes.
12.3 Pneumatologie F. PORSCH, Pneuma und Wort, FTS 16, Frankfurt 1974; R. SCHNACKENBURG, Die johanneische Gemeinde und ihre Geisterfahrung, in: ders., Das Johannesevangelium, HThK IV/4 (s. o. 12), 33– 58; G. M. BURGE, The Anointed Community. The Holy Spirit in the Johannine Tradition, Grand Rapids 1987; CHR. DIETZFELBINGER, Der Abschied des Kommenden, WUNT 95, Tübingen 1997; U. SCHNELLE, Johannes als Geisttheologe, NT 40 (1998), 17–31.
Die Pneumatologie ist eine Tiefenschicht joh. Theologie: ‚Gott ist Geist‘ (Joh 4,24), auf Jesus Christus ruht bleibend der Geist (Joh 1,32f), die Glaubenden wurden aus ‚Wasser und Geist‘ wiedergeboren (Joh 3,3.5) und wissen sich gegenwärtig unter der Führung des Parakleten. Der Geist schafft die Gemeinde, er erschließt den Glaubenden das Wesen Jesu Christi, trennt sie von der todbringenden Sphäre der Sarx und ermöglicht ihnen ein sinnerfülltes Leben in der Geschwisterliebe. Die Einheit der Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn ist die Einheit in der Liebe und im Geist.
12.3.1 Jesus Christus und die Glaubenden als Geistträger Im Johannesevangelium erscheint Jesus Christus als der Geistträger schlechthin. Jesu Taufe (Joh 1,29–34) weist drei Besonderheiten auf: 1) Johannes d. T. bezeugt lediglich die Taufe, die – nach der Logik des Textes – von Gott vollzogen wird. Kein anderer als Gott kann den präexistenten und inkarnierten Logos ‚taufen‘. 2) Es handelt sich ausschließlich um eine Geisttaufe (vgl. Jes 61,1LXX), die der Wassertaufe des Täufers qualitativ überlegen ist. 3) Das Bleiben des Geistes auf Jesus Christus wird nachdrücklich betont (V. 32f), so dass sein gesamtes Auftreten, seine Taten und Reden, als ein Geschehen in der Kraft des Geistes verstanden werden130. Die Geistgabe in der Taufe
In die Kontinuität dieses Geistgeschehens weiß sich die joh. Gemeinde miteinbezogen, denn ihre Taufe vollzieht sich ex uÇdatoß kai` pneu´matoß (Joh 3,5: „aus Wasser und Geist“) und nur sie verankert ihre eigene Taufpraxis im Leben Jesu (vgl. Joh 4,1)131. Für den Evangelisten ist die Zeugung/Geburt aus Wasser und Geist und damit die 130 Vgl. hierzu G. M. BURGE, Anointed Community
131 Zur Analyse der joh. Tauftexte vgl. U. SCHNELLE,
(s. o. 12.3), 50 ff.
Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), 196–213.
Pneumatologie 665
Taufe die Bedingung für die Teilhabe am eschatologischen Heil. Es gibt keinen anderen Zugang zum Reich Gottes als die Taufe, denn nur sie vermittelt die eschatologische Heilsgabe des Geistes. Einen natürlichen Übergang in das Reich Gottes kann es nicht geben, denn: „Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist“ (Joh 3,6). Für Johannes bestimmt der Ursprung das Sein, so dass die mit ek benannte Ursprungsbezeichnung zugleich eine Wesensaussage darstellt. Weil das Wesen eines Seins durch seine Herkunft bestimmt wird, kann Gleiches nur Gleiches hervorbringen. Gehört der aus Fleisch Gezeugte wesensmäßig zur Sphäre der sa´rx, so ist er damit von der Sphäre des Pneumas grundlegend geschieden. Für den sarkischen Menschen gibt es keinen Zugang zum Reich Gottes, sondern nur durch einen von Gott gewährten neuen Ursprung kann der Mensch Einlass in den Herrschaftsbereich Gottes erlangen132 (Joh 6,63a: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch ist nichts nütze“). Pneuma bezeichnet somit nicht einfach nur eine Gabe, es muss in einem umfassenderen Sinn als göttliches Wirkprinzip bzw. Schöpfermacht verstanden werden. Die Neugeburt bezeichnet somit bei Johannes eine umfassende Neuschöpfung, die sich in der Taufe vollzieht und in ein vom Geist bestimmtes Leben hineinführt. Diese Zeugung aus dem Geist steht nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen, sondern: „Der Wind bläst wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So verhält es sich mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,8). Damit wird die Unverfügbarkeit der Neugeburt hervorgehoben, die ausschließlich göttliche, nicht jedoch menschliche Möglichkeit ist. Johannes wahrt das extra nos des Heilsgeschehens und gibt zugleich den Ort an, wo der Mensch des Heils teilhaftig werden kann: in der Taufe der joh. Gemeinde. Der 1 Johannesbrief verdeutlicht ebenfalls, dass in der joh. Schule Taufe und Abendmahl als geistgewirktes Geschehen begriffen wurden (1Joh 5,6–8). Der Geist vergegenwärtigt und bezeugt das sich in den Sakramenten ereignende Heilsereignis. Das Leben des Getauften vollzieht sich nun im Wirkungsfeld des Geistes. Der von Gott gegebene Geist bleibt (me´nein) im Glaubenden und bestimmt sein Leben: „Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat“ (1Joh 4,13; vgl. 1Joh 3,24). So sind die im Evangelium präsenten Worte Jesu Geist und Leben (vgl. Joh 6,63b). Weil in den Worten Jesu der lebendig machende Geist gegenwärtig und wirksam ist, sind sie Leben und gewähren sie Leben. Der gesamte Gottesdienst der joh. Gemeinde vollzieht sich als Anbetung des Vaters im Geist, denn: „Gott ist Geist, und darum müssen diejenigen, die ihn anbeten, ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh 4,24). Auch die Mission der joh. Schule (s. u. 12.7.4) vollzieht sich in der Kraft des Geis132 Vgl. F. PORSCH, Pneuma und Wort (s. o. 12.3),
124 f.
666 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
tes, den der Auferstandene seinen Jüngern gab: „Friede sei mit euch! Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch. Nach diesen Worten hauchte er sie an und spricht zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist!“ (Joh 20,21b–22). Was in den Abschiedsreden verheißen wird, erfüllt sich in der Geistgabe des Erhöhten im Sendungsauftrag! In Joh 7,39 wird die Erhöhung Jesu ausdrücklich als Voraussetzung für die Geistesgabe genannt: „Das sagte er aber von dem Geist, den die an ihn Glaubenden empfangen sollten, denn der Geist war damals noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.“ Die joh. Gemeinde lebt in der Zeit nach der Erhöhung Jesu, so dass alle Aussagen im Evangelium über den Geist für sie bereits Realität sind.
12.3.2 Der Heilige Geist als Paraklet H. WINDISCH, Die fünf johanneischen Parakletsprüche, in: Festgabe für A. Jülicher, hg. v. H. v. Soden/R. Bultmann, Tübingen 1927, 110–137; G. BORNKAMM, Der Paraklet im Johannes-Evangelium, in: ders., Geschichte und Glaube I, BEvTh 48, München 1968, 68–89; F. MUSSNER, Die johanneischen Parakletsprüche und die apostolische Tradition, BZ 5 (1961), 56–70; O. BETZ, Der Paraklet, AGSU 2, Leiden 1963; U. B. MÜLLER, Die Parakletvorstellung im Johannesevangelium, ZThK 71 (1974), 31–77; Y. IBUKI, Der andere Paraklet, BSU 13 (1977), 19–43; CHR. DIETZFELBINGER, Paraklet und theologischer Anspruch im Johannesevangelium, ZThK 82 (1985), 389–408; E. FRANCK, Revelation Taught. The Paraclete in the Gospel of John, CB.NT 14, Lund 1985; CHR. HOEGEN-ROHLS, Der nachösterliche Johannes, WUNT 2.84, Tübingen 1996; H.-CHR. KAMMLER, Jesus Christus und der Geistparaklet, in: O. Hofius/H. Chr. Kammler, Johannesstudien (s. o. 12), 87–190.
Das besondere Bewusstsein der joh. Christen als Träger des Heiligen Geistes zeigt sich in der Paraklet-Vorstellung. Die Verwendung des Begriffes para´klvtoß dürfte sich bei Johannes aus der Gattung Abschiedsrede erklären133. Als substantivisch gebrauchtes Verbaladjektiv (mit passivischer Bedeutung) von parakaleı˜n wird para´klvtoß in der Profangräzität im Sinn von Anwalt, Beistand oder Fürsprecher gebraucht134. Weil in der Abschiedssituation die Wahrung der Kontinuität als Fortführung des Ermahnens und der Lehre begriffen wurde, nahm Johannes den Begriff para´klvtoß in diesem Sinn auf und weitete ihn aus: Der Paraklet bekommt vor allem eine hermeneutische Funktion; er erschließt als Lehrer, Zeuge und Interpret für die Gemeinde die Bedeutung der Person Jesu Christi und führt die Glaubenden in die Zukunft.
133 So U. B. MÜLLER, Parakletvorstellung, 61. 134 Zu den sprachlichen Aspekten vgl. J. BEHM, Art.
para´klvtoß, ThWNT 5, Stuttgart 1954, 799–801. Die relevanten religionsgeschichtlichen Ableitungsversuche (Gnosis, Vorläufer-Vollender-Idee; Fürspre-
cher-Vorstellung, Qumran, Gattung Abschiedsrede) sind zusammengestellt bei R. SCHNACKENBURG, Joh III (s. o. 12), 156–173; G. M. BURGE, Anointed Community (s. o. 12.3), 10–30.
Pneumatologie 667
Der Paraklet erscheint in der nachösterlichen Situation der Gemeinde als der Christus praesens, als die Vergegenwärtigung des verherrlichten Jesus Christus in seiner Gemeinde135. Der ausdrücklich mit dem pneu˜ma aÇgion (‚Heiliger Geist“) bzw. pneu˜ma tv˜ß alvheı´aß („Geist der Wahrheit“, vgl. Joh 14,17.26; 15,26; 16,13) identifizierte Paraklet weilt und wirkt in der Gemeinde bis in Ewigkeit (vgl. Joh 14,16f). Er lehrt und erinnert die Gemeinde an das, was Jesus sagte (vgl. Joh 14,26) und ist so das Gedächtnis der Gemeinde. Der Paraklet zeugt von Jesus (vgl. Joh 16,13f). Er nimmt aus der Offenbarungsfülle Jesu und gibt es der Gemeinde weiter: „Alles, was der Vater hat, ist mein. Deshalb habe ich gesagt, dass er (sc. der Paraklet) aus dem Meinigen nimmt und es euch verkündigen wird“ (Joh 16,15). Der Paraklet ist somit der Ermöglichungsgrund der geistgewirkten Auslegung des Christusgeschehens, wie sie im Johannesevangelium als umfassende Vergegenwärtigung dieses Heilsgeschehens entfaltet wird. Letztlich macht der Paraklet eine Trennung zwischen dem verkündigenden Jesus und dem verkündigten Christus unmöglich. Durch den Parakleten spricht der verherrlichte Christus selbst, so dass im Parakleten der Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben ist. Es findet eine Horizontverschmelzung statt, die Betonung der Einheit vom präexistenten, gegenwärtigen, verherrlichten und wiederkommenden Christus ermöglicht sie136. Das gesamte Johannesevangelium ist nichts anderes als eine Auslegung des Christusgeschehens durch den Parakleten, in dem wiederum der verherrlichte Christus spricht und die joh. Tradition legitimiert. Umfassender als bei Johannes kann die Gegenwart des Geistes in der christlichen Gemeinde nicht gedacht werden137. Der Geist bewirkt den Übergang in den Bereich Gottes, im Geist vollziehen sich der Gottesdienst und das Leben in den joh. Gemeinden, im Geist ist Jesus bei den Seinen gegenwärtig, er lehrt sie, erinnert sie an das von ihm Gesagte, enthüllt ihnen das Kommende und schützt sie vor dem Hass der Welt.
135 Allerdings sind der erhöhte Christus und der Pa-
raklet nicht einfach identisch, wie die Differenzierungen in Joh 14,16 (allon para´klvton [„anderen Parakleten“]); 14,26 (en tw˜ ono´matı´ mou [„in meinem Namen“]); Joh 15,26c („jener wird von mir zeugen“) und die Sendung des Parakleten durch Jesus in Joh 15,26a; 16,7e zeigen. Der Erhöhte wirkt im Parakleten und durch den Parakleten, er ist aber nicht der Paraklet! Gegen R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 477: „Wie die Weissagung des Parakleten den urchristlichen Pfingstgedanken aufnimmt, so die der Wiederkunft Jesu die urchristliche Parusieerwartung; eben im Kommen des Geistes kommt er selbst . . .“
136 Grundlegend hier F. MUSSNER, Die johanneische
Sehweise (s. o. 12), 56 ff. 137 Zutreffend bezeichnet J.-A. BÜHNER, Denkstruk-
turen im Johannesevangelium, ThBeitr 13 (1982), (224–231), 228, die Pneumatologie als die tiefste Schicht des johanneischen Denkens: „Die kultische Zuspitzung der Verschränkung von Räumen und Zeiten in der Gemeindeversammlung ist getragen vom pneumatischen Zugang zur himmlischen Welt, wie er Jesus gewährt war und wie er ihn weitergibt . . .“ (229).
668 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
Die Abschiedsreden
Sinnbildungen können nur dann entstehen, erfolgreich sein und bestehen, wenn sie über Plausibilität, Anschlussfähigkeit und Erneuerungskraft verfügen. Bei Johannes ist dies der Fall, weil es ihm gelingt, Kontinuität herzustellen und das Bleibende des Vergangenen für die Zukunft zu benennen. Dies leisten die Abschiedsreden, die als besonderer theologischer und literarischer Kunstgriff des 4. Evangelisten anzusehen sind138. Was auf der dramatischen Erzählebene als prospektive Verhältnisbestimmung erscheint, ist zugleich eine Retrospektive, die als bestimmende Zeitebene die Gegenwart hat. Die Abschiedsreden behandeln ein grundlegendes theologisches Problem des frühen Christentums: Die Präsenz Jesu Christi in und bei seiner Gemeinde bei körperlicher Abwesenheit. Sie präsentieren dieses Problem in einer für die Evangelien neuen Gattung, und sie thematisieren schließlich die zentrale Frage der bedrängten joh. Gemeinde: Warum ist Jesus fortgegangen und ließ die glaubende Gemeinde in einer feindlichen Welt zurück? Die Antwort: Wäre Jesu nicht zum Vater zurückgekehrt, hätte die Gemeinde nicht den heiligen Geist, den Parakleten empfangen, in dem Vater und Sohn gegenwärtig sind und der den Glaubenden in der Bedrängnis beisteht. Die Abschiedsreden erklären und trösten zugleich; sie haben eine consolatorische Funktion139, indem sie die Unabänderlichkeit des Geschehens plausibel machen, seinen Mehrwert benennen und zugleich Handlungsanweisungen für die Zukunft geben: ein furchtloses Bleiben in der Liebe (vgl. Joh 13,34f; 14,1.27; 15,9–17). Insgesamt weisen die Abschiedsreden eine überlegte Gesamtkomposition auf, indem ein Spannungsbogen von der größten inneren Einheit (vgl. Joh 13,31–38) bis zur größten äußeren Gefährdung (vgl. Joh 16,4b–15) aufgebaut wird. Es ist auch kein Zufall, dass Johannes ausschließlich in den Abschiedsreden vom Parakleten spricht, denn die Funktionen des Parakleten sind eng mit der literarischen Gattung ‚Abschiedsrede/Vermächtnisrede/literarisches Testament‘ verbunden. Die Gattung Abschiedsrede hat auch eine legitimierende Funktion; der sterbende Held bestimmt seinen Nachfolger und stattet ihn mit dem notwendigen Charisma aus140. Der Evan138 Zu den literarischen Problemen und theologischen Dimensionen der Abschiedsreden vgl. U. SCHNELLE, Die Abschiedsreden im Johannesevangelium, ZNW 80 (1989), 64–79; M. WINTER, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter, FRLANT 161, Göttingen 1994; A. DETTWILER, Die Gegenwart des Erhöhten, FRLANT 169, Göttingen 1995; CHR. HOEGEN-ROHLS, Der nachösterliche Johannes, 82–229; J. FREY, Die johanneische Eschatologie III (s. o. 12), 102–239; K. HALDIMANN, Rekonstruktion und Entfaltung. Exegetische Untersuchungen zu Joh 15 und 16, BZNW 104, Berlin 2000; J. RAHNER, Vergegenwärtigende Erinnerung, ZNW 91 (2000), 72–90; K. SCHOLTISSEK, Abschied und neue Gegenwart, EThL LXXV (1999), 332–358; L. SCOTT KELLUM,
The Unity of the Farewell Discourse. The Literary Integrity of John 13.31–16.33, JSNTS 256, London 2004; G. L. PARSENIOS, Departure and Consolation. The Johannine Farewell Discourses in Light of Greco-Roman Literature, NT.S 117, Leiden 2005. 139 Vgl. M. LANG, Johanneische Abschiedsreden und Senecas Konsolationsliteratur, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), 365–412. 140 Vgl. bes. Dtn 31–34; Jos 23–24; 1Sam 12; 1Kön 2,1–10; zur Analyse vgl. M. WINTER, Vermächtnis Jesu, 65–87. Weitere Beispiele für Abschiedsreden aus dem jüdisch-hellenistischen und dem griechisch-römischen Bereich finden sich in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 655–664.
Pneumatologie 669
gelist verankert mit den Abschiedsreden durch den Parakleten ausdrücklich die Gegenwart in der Vergangenheit, um so die gefährdete Identität seiner Gemeinde durch eine Zuversicht und Mut machende Zukunftsperspektive zu sichern: Die Gemeinschaft der Glaubenden mit Gott und Jesus von Nazareth wird nicht zerbrechen. Die Abschiedsreden sind sowohl in literarischer als auch in theologisch-hermeneutischer Hinsicht ein konstitutiver Bestandteil der joh. Form des Evangeliums.
12.3.3 Trinitarisches Denken im Johannesevangelium M. THEOBALD, Gott, Logos und Pneuma. ‚Trinitarische‘ Rede von Gott im Johannesevangelium, in: Monotheismus und Christologie, hg. v. H.-J. Klauck, QD 138, Freiburg 1992, 41–87; U. WILCKENS, Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften, in: ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde, FRLANT 200, Göttingen 2003, 9–28; U. SCHNELLE, Trinitarisches Denken im Johannesevangelium, in: Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), hg. v. M. Labahn/K. Scholtissek/A. Strotmann, Paderborn 2003, 367–386.
Innerhalb seiner Neuschreibung der Jesus-Christus-Geschichte kommt es Johannes wesentlich darauf an, das Verhältnis zwischen Gott-Vater, dem Sohn Jesus Christus und dem Geist-Parakleten zu klären. Dazu nötigte ihn die theologische Logik, die mit fortschreitender Zeit auf eine Bestimmung des Status der göttlichen Personen und ihrer Handlungsfelder drängte. Hinzu kam der vom Judentum erhobene Vorwurf des Ditheismus (vgl. Joh 5,18; 10,33.36; 19,7)141, der die frühchristliche Verkündigung und damit auch die joh. Sinnbildung in ihrem Kern traf. Johannes begegnet diesen Gefährdungen, indem er eine grundlegende Funktion der Erzählung aufnimmt und zur Präzisierung einsetzt: die Relationierung. Sie setzt in Beziehung und stellt kausale Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen. Die Relationierungen in Joh 1,1 zielen auf eine ursprüngliche und umfassende Partizipation des Logos an dem einen Gott, der Ursprung und Grund allen Seins ist. In Joh 1,18 wird die Vorstellung der einzigartigen Beziehung Jesu zum Vater in ihren geschichtlichen Dimensionen entfaltet. Jesus ist der Exeget Gottes, er allein vermag wirklich Kunde vom Vater zu bringen. Mit der Inkarnation ging auch die einmalige und unmittelbare Gotteserfahrung Jesu in die Geschichte ein und ist nun für die Menschen als Offenbarung des Gottessohnes vernehmbar. In Korrespondenz zu Joh 1,18 betont Joh 20,28 die Gottheit Jesu, die ihm von Anfang an zu eigen war, auch in seinem Erdenwirken sichtbar blieb und die Erscheinungen des Auferstandenen prägt. Die Einheit von Vater und Sohn vollzieht sich in Joh 5,17–30 als Willens-, Hand141 Vgl. dazu auch Mk 14,61–64par. Nach Lev 24,15 f ist die Strafe für Gotteslästerung der Tod durch Steinigung, nach Dtn 21,22 f soll die Leiche an einem Kreuz aufgehängt werden; vgl. ausführlich
D. L. BOCK, Blasphemy and Exaltation in Judaism and the Final Examination of Jesus, WUNT 2.106, Tübingen 1990.
670 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
lungs- und Offenbarungseinheit in der Konzentration auf die Begegnung mit Jesus Christus, der in ungebrochener Kontinuität zum Vater und in direkter Abhängigkeit von ihm als Lebensspender agiert. In sachlicher Kontinuität zu Joh 5 steht Joh 10,30: „Ich und der Vater sind eins“! Die reziproken Immanenzaussagen in Joh 10,38 („. . .damit ihr erkennt, dass der Vater in mir ist und ich im Vater“) und Joh 14,10 (Jesus sagt zu Philippus: „Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir?“) bringen die joh. Konzeption prägnant zum Ausdruck. Weil Jesus aus der vom Vater gewollten und gewährten Einheit lebt, offenbart sich in seinem Reden und Wirken der Vater selbst142. Die Gottzugehörigkeit Jesu kennt keine zeitliche oder sachliche Beschränkung, sie ist vielmehr umfassend und total, weil sie ihren Ursprung vor Zeit und Kosmos hat (vgl. Joh 12,41;17,5.24c.d). Wiederum erscheint die Bindung an den Vater als Grundlage des Heilswerkes Jesu, das vor aller Zeit begann und in Ewigkeit bleiben wird. In konzentrierter Form signalisieren schließlich die ‚Ich-bin-Worte‘ (s. o. 12.2.3) das besondere Verhältnis von Vater und Sohn. Wer den Sohn sieht, sieht den Vater (Joh 12,45; 14,9); wer den Sohn hört, hört den Vater (Joh 14,24); wer an den Sohn glaubt, glaubt an den Vater (Joh 14,1) und wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht (Joh 5,23). Wie verhalten sich dazu Texte, die auf eine Unterordnung des Sohnes hinweisen? Unmittelbar vor Joh 10,30 betont der joh. Jesus: „Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alle“ (Joh 10,29). Durchgängig verweist Jesus auf den Vater, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 3,16; 5,23.24.30.37; 6,29.38.39.44.57; 7,16.18.28.29.33; 8,16. 18.26.29.42; 10,36; 12,44.45.49; 13,16.20; 14,24; 15,21; 16,5; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21). Der Vater ist der ‚alleinige‘ Gott (Joh 5,44) und er hat dem Sohn alle Macht gegeben, so dass dieser von sich aus nichts tun kann (vgl. Joh 5,19f; 6,37). Der Sohn verherrlicht den Vater (Joh 14,13b) und bezeugt ausdrücklich in Joh 14,28c: „Der Vater ist größer als ich.“ In Joh 17,1 hebt Jesus die Augen zum Himmel und betet zu seinem Vater, dem einen, wahren Gott. Schließlich hebt Johannes durchgängig das wahre Menschsein des präexistenten Gottessohnes hervor (s. o. 12.2.1)143. Er wurde „Fleisch“ (Joh 1,14), unterwarf sich damit den Bedingungen des irdischen Daseins, lebte als Jude (Joh 4,9) und wird im Evangelium häufig als (o) anhrwpoß („Mensch“) bezeichnet (Joh 5,12; 8,40; 9,11; 11,50; 18,17.29). Wie lassen sich diese scheinbar gegensätzlichen oder zumindest spannungsreichen Aussagereihen zuordnen? Zwei Extreme sind auszuschließen: 1) Für Johannes gibt
142 Treffend bemerkt K. SCHOLTISSEK, In ihm sein und
bleiben (s. o. 12.1.2), 371: „Die Theozentrik Jesu ermöglicht es dem Vater, sich selbst ganz und gar im Sohn zu vergegenwärtigen. Jesus repräsentiert nicht den Vater, er präsentiert ihn.“
143 Vgl. TH. SÖDING, „Ich und der Vater sind eins“ (s. o. 12.2.1), 193–196.
Pneumatologie 671
es nur einen Gott, der sich als Vater Jesu Christi offenbart hat (vgl. Joh 10,30). Nur der Vater ist eıß heo´ß („der eine Gott“)! Der Vater sendet und ermächtigt den Sohn, der allein aus der ihm verliehenen Vollmacht heraus handelt. Deshalb sagt der Auferstandene zu Maria Magdalena: „Ich steige auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh 20,17). Der Vorwurf einer ditheistischen Konstruktion ist bei Johannes gegenstandslos. 2) Ebenso muss aber festgehalten werden, dass der aus der späteren dogmengeschichtlichen Entwicklung entlehnte Begriff der Subordination nicht geeignet ist, das Ziel der joh. Relationierungen zu erfassen. Der Sohn ist weitaus mehr als ein Agent des Vaters, er hat nicht nur an dessen Wesen teil, sondern ist vom Wesen des Vaters. Deshalb muss von einer Wesenseinheit von Vater und Sohn bei Johannes gesprochen werden, die sich als Willens- und Wirkeinheit realisiert. Johannes vertritt einen exklusiven Monotheismus in binitarischer Gestalt : Die Verehrung des einen Gottes wird ausgeweitet auf seinen Sohn. Innerhalb dieser Konzeption erfasst der Begriff der Hinordnung des Sohnes zum Vater den Zielpunkt der joh. Relationierung. Semantisch legt sich dieser Begriff durch die Präposition pro´ß („hin/zu“) nahe, die nicht nur in Joh 1,1.2 zur Bestimmung des Verhältnisses von Vater und Sohn dient, sondern einen Grundzug des gesamten joh. Denksystems benennt: So wie der Sohn auf den Vater ausgerichtet ist, sollen sich die Menschen auf Jesus Christus ausrichten, um wahrhaft zueinander zu finden (Joh 17,11: „damit sie eins seien wie wir“). Die Relationierung zielt auf Partizipation, auf die bleibende Einheit in der Differenz. Der Sohn kehrt zurück zum Vater (vgl. Joh 13,1) und nimmt die Glaubenden zu sich (vgl. Joh 14,3), so dass sie teilhaben an der besonderen Beziehung zwischen Vater und Sohn. Aus der Fülle dieser Einheit senden der Vater und/oder der Sohn den Geist der Wahrheit, der in seinem Ursprung ganz auf den Vater und den Sohn bezogen ist, ohne dass eine gegenseitige Immanenz ausgesagt wird. In seinem Wirken ist der Geist ganz auf den Sohn bezogen, indem er das Offenbarungsgeschehen immer neu vergegenwärtigt, so dass in ihm der Sohn und der ihn sendende und beglaubigende Vater immer gegenwärtig sind. Dies verdeutlicht der letzte Parakletspruch in Joh 16,13–15. Dem Parakleten kommt die Aufgabe zu, in der joh. Gemeinde zu einem tieferen Verstehen der Person Jesu Christi zu führen144. Der Paraklet ist in seinem Wirken beständig auf den erhöhten Jesus Christus zurückbezogen, aus dessen Offenbarungsfülle er ‚nimmt‘. Es gibt nur einen Parakleten, der als ‚Geist der Wahrheit‘ den Vater und den Sohn repräsentiert. Weil für Johannes die geschichtliche Offenbarungswahrheit in Jesus Christus und die Wahrheit Gottes eins sind, kann das Wirken des Geistes sich nur auf diese grundlegende Einheit beziehen. Zugleich hat die eine Offenbarung noch eine Zukunft vor sich, die durch das Wirken des Parakleten geprägt 144 Vgl. A. DETTWILER, Gegenwart des Erhöhten (s.o.
12.3.2), 234.
672 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
ist. Hier zeigt sich die trinitarisch orientierte Grundkonzeption des joh. Denkens: Der Vater gibt dem Sohn das Wort, das der Sohn verkörpert und offenbart; der Geist wiederum bringt als Gesandter von Vater und Sohn das Wort nachösterlich zur Geltung. Erst die Pneumatologie überführt die joh. Relationierungen in ein synthetisch strukturiertes Gesamtsystem; sie bietet Johannes die Möglichkeit zusammenzudenken, was im antiken wie im modernen Weltbild zumeist getrennt wahrgenommen wird: Himmel und Erde, Raum und Zeit, Geschichte und Eschaton. In besonderer Weise weiß sich die joh. Gemeinde durch die Sendung des Parakleten in die Kontinuität des Geisthandelns des Vaters am Sohn miteinbezogen. Bereits Joh 14,16.17 weisen die Parakletsprüche als ein Zentrum joh. Relationierung aus. Die Wirkeinheit von Vater und Sohn bei der Sendung des Parakleten kommt auch in Joh 15,26 zum Ausdruck, jetzt sendet der Sohn den Parakleten. Gott als Geist, der pneumatisch begabte Jesus und die Paraklet-Gemeinde vereinen sich in ihrer gemeinsamen Herkunft ‚von oben‘. Innerhalb einer trinitarischen Grundkonzeption erscheint die Einheit der Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn als Einheit im Geist und in der Liebe (vgl. Joh 17,21–23), denn das gesamte Offenbarungsgeschehen zielt auf die Partizipation der Glaubenden an der Liebesgemeinschaft von Vater und Sohn: „Wenn mich jemand liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14,23). Das joh. Denken ist trinitarisches Denken!
12.4 Soteriologie Das joh. Denken ist immer auch Soteriologie, insofern es stets um Gottes rettendes Handeln in Jesus Christus geht; alles im 4. Evangelium mündet in soteriologische Aussagen ein, denn wer an Jesus glaubt, hat das ewige Leben (3,15.16.36; 5,24; 6,40 u. ö.)145. Auch bei der Rettung der Glaubenden wirkt Jesus nicht allein, sondern gemeinsam mit dem Vater: Er ist der Weinstock und der Vater der Winzer (15,1f). Jesu Liebe zu den Seinen (13,1.3) wird vom Vater aufgegriffen (14,21), der damit auf die Liebe der Jünger zu Jesus antwortet (14,23). Jesus und der Vater wohnen gemeinsam in den Jüngern (14,23; vgl. 14,20; 17,21–23), die in Jesu Hand so sicher sind wie in Gottes eigener Hand (10,28f). Jesus Christus ist gestorben und auferstanden, „damit er die zerstreuten Kinder Gottes zur Einheit zusammenführe“ (Joh 11,52). Trotz der durchgängigen Vernetzung aller joh. Themen mit der Soteriologie ist es sinnvoll, begriffliche und thematische Komplexe hervorzuheben, die in besonderer Weise die Soteriologie berühren. 145 Einen Überblick bietet J. G. VAN DER WATT, Salvation in the Gospel of John in: ders., Salvation in the New Testament (s. o. 6.4), 101–128.
Soteriologie 673
12.4.1 Begriffliches Gottes Sendung und Offenbarung im Sohn zielt nicht auf das Gericht, sondern auf die Rettung der Welt (Joh 12,47: „Denn ich bin nicht gekommen um die Welt zu richten, sondern dass ich die Welt rette“). Gottes Heilswille überragt und überwindet die Ablehnung der Welt, denn er wird von der Liebe zur Welt getragen. Nicht ein römischer Kaiser, sondern allein Jesus Christus ist „der Retter der Welt“ (Joh 4,42: o swtv`r tou˜ ko´smou), weil sein Wirken den einen wahren Gott und damit das wirkliche und alleinige Heil bringt (s. o. 12.2.4). Neben sw´ zein („retten“) und swtv´r („Retter“) findet sich auch swtvrı´a („Rettung“) im Johannesevangelium: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22b: v swtvrı´a ek tw˜n LIoudaı´wn estı´n). Die grundlegende und uneingeschränkt positive Feststellung ‚Das Heil kommt von den Juden‘ überrascht angesichts zahlreicher negativer Aussagen über ‚die Juden‘ im 4. Evangelium und wird häufig als Glosse ausgeschieden146. Die Annahme einer Glosse ist ohne eine textgeschichtliche Grundlage immer problematisch, und es stellt sich die Frage, ob Joh 4,22b wirklich mit der joh. Theologie unvereinbar ist. Mit dem Auftreten des Offenbarers Jesus Christus wurde aus joh. Sicht eine neue Epoche eröffnet, die sich durch eine unmittelbare Gotteserfahrung und Gottesverehrung auszeichnet (vgl. Joh 4,23f). Wo Menschen Gott wirklich als ihren Vater verehren, lieben und vertrauen, hört der Streit um den richtigen oder falschen Kultort auf, denn für Johannes ist allein Jesus Christus der neue Ort des Heils. Deshalb kann er sagen: Das Heil kommt von den Juden, denn Jesus ist Jude, was Joh 4,9 ausdrücklich betont. In dieser christologischen Bestimmung geht allerdings die Aussage nicht auf, verbindet Johannes doch mit dem Plural LIoudaı´wn eine weitere Dimension: Die Juden sind und bleiben Träger des göttlichen Verheißungszeugnisses147. Gott hat sich an sein Verheißungswort gebunden, aus dem Volk der Juden kommt mit Jesus von Nazareth das Heil. Joh 4,22b ist deshalb nicht als spätere Glosse, sondern als eine Grundüberzeugung und Spitzenaussage joh. Soteriologie zu lesen. Der Verheißungsanspruch der Juden wird von Johannes keineswegs negiert; im Juden Jesus von Nazareth hält sich Gott an sein Verheißungswort148.
12.4.2 Prädestination
J. BECKER, Beobachtungen zum Dualismus im Johannesevangelium, ZNW 65 (1974), 71–87; R. BERGMEIER, Glaube als Gabe nach Johannes, BWANT 112, Stuttgart 1980; R. KÜHSCHELM, Ver146 Vgl. nur R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 139 Anm. 6; J. BECKER, Joh I (s. o. 12), 207 f. 147 Vgl. F. HAHN, „Das Heil kommt von den Juden“. Erwägungen zu Joh 4,22b, in: ders., Die Verwurze-
lung des Christentums im Judentum, Neukirchen 1996, 99–118; U. SCHNELLE, Die Juden im Johannesevangelium (s. o. 12.1.1), 224–230. 148 Zu der negativen Aussage Joh 8,44 s. o. 12.1.1.
674 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
stockung, Gericht und Heil, BBB 76, Frankfurt 1990; U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie (s. o. 6.5), 148–151; J. A. TRUMBOWER, Born from Above, HUTh 29, Tübingen 1992; G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung (s. o. 6.1.3), 179–243; H.-CHR. KAMMLER, Christologie und Eschatologie (s. u. 12.8) 128–150; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 204– 211.
Das zentrale Problem der joh. Soteriologie besteht in der Frage, ob Heil und Rettung unabhängig vom menschlichen Verhalten vorherbestimmt sind oder ob der Glaubensentscheidung eine grundlegende Bedeutung zukommt. Wie verhalten sich menschliche Aktivität und göttliches Handeln, Verantwortung und Bestimmtsein bei Johannes zueinander149? Determinismus
Eine Reihe von Aussagen scheinen es nahezulegen, von einem joh. Determinismus bzw. von Prädestination bei Johannes zu sprechen. So heißt es in Joh 6,44a: „Niemand vermag zu mir zu kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht.“ Nicht nur die Sendung des Sohnes, sondern auch der Glaube erscheint hier als ein gottgewirktes Werk (Joh 6,65: „Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommen kann, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben wird“). Es gilt: „Keiner kann sich etwas nehmen, es sei denn vom Himmel gegeben worden“ (Joh 3,27). Der Vater hat dem Sohn die Seinen ‚gegeben‘, so dass sie nun Anteil am ewigen Leben erhalten (vgl. Joh 17,2.6.9). Niemand vermag die Glaubenden aus der Hand des Sohnes zu reißen, denn „mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand des Vaters reißen“ (Joh 10,29). Keiner von ihnen geht verloren, nur der Verräter, der von Anfang an dazu bestimmt war (vgl. Joh 6,64; 17,12). Alle werden sie die Doxa des Sohnes sehen (vgl. Joh 17,24). Grundsätzlich formuliert Johannes seine Position in Kap. 8,47: „Wer aus Gott ist, der hört Gottes Worte“ (o wn ek tou˜ heou˜ ta` rv´mata tou˜ heou˜ akou´ei). Die ungläubigen Juden sind dem Teufel verhaftet und deshalb können sie Jesu Wort nicht verstehen (Joh 8,43: „Weshalb versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt [ou du´nashe]“). Nur die Seinen hören die Stimme des Hirten (Joh 10,3f), während die Ungläubigen nicht zu seinen Schafen gehören (Joh 10,26). Dem ‚Nicht-HörenKönnen‘ entspricht das ‚Nicht-Sehen-Können‘ in Joh 9,39–41; wem Gott den Glauben nicht gibt, der kann nicht glauben. Der natürliche Mensch urteilt nach dem äußeren Schein (vgl. Joh 7,24; 8,15), er erkennt in Jesus nur Josefs Sohn (vgl. Joh 6,42). So wie der Unglaube als Verhaftetsein an die Welt weit mehr ist als eine individuelle Entscheidung (vgl. die Aufnahme der Verstockungsvorstellung aus Jes 6,9f in Joh 12,40), so geht auch der Glaube letztlich auf die Initiative Gottes zurück150. Nur
149 Einen Forschungsüberblick bietet G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, 179–192.
150 R. BULTMANN, Theologie, 377f, wird diesem Textbefund nicht gerecht, wenn er sagt: „In der Ent-
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wer aus der Wahrheit ist, hört die Stimme des Sohnes (vgl. Joh 18,37c). Nur was der Vater dem Sohn gibt, kommt zum Sohn (vgl. Joh 6,37.39; 10,29; 17,2.9.24). Jesus erwählte seine Jünger aus der Welt, nicht sie ihn (vgl. Joh 15,16.19). Der Glaube ist nach joh. Verständnis ein Werk Gottes: „Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den jener gesandt hat“ (Joh 6,29). Der Glaubende muss „von neuem/von oben“ (anwhen) geboren werden (Joh 3,3.5). Weil der natürliche Mensch zur Sphäre des Fleisches gehört (Joh 3,6) und von sich aus nicht zu Gott gelangen kann, erhält er einen neuen Ursprung von Gott. Die Freiheit der Entscheidung
Weisen diese Sätze in Richtung Prädestination und Determinismus, so finden sich im Johannesevangelium andererseits zahlreiche Aussagen, die Aufforderungs- und Entscheidungscharakter haben. In Joh 6,27a wird imperativisch formuliert: „Verschafft euch nicht vergängliche Speise, sondern Speise, die zum ewigen Leben bleibt.“ Unmittelbar nach der Betonung des göttlichen Wirkens in Joh 6,44 wird in 6,45c das individuelle Moment des Hörens und Antwortens hervorgehoben. Der joh. Christus kann zum Glauben auffordern: „Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir. Wenn nicht, so glaubt doch um der Werke selbst willen“ (Joh 14,11; vgl. 10,38; 14,1). Ein Entscheidungsruf ist Joh 8,12: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wandelt nicht in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (vgl. auch Joh 5,24; 6,35 u. ö.). Der joh. Offenbarer lädt geradezu dazu ein, an ihn zu glauben: „Ich bin als ein Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt“ (Joh 12,46; vgl. auch Joh 3,36). Die Invitation gehört ebenso wie die Verheißung bzw. Drohung zur Grundform der ‚Ich-bin-Worte‘ (s. o. 12.2.3) und dominiert in Joh 12,44–50: Hier entscheidet allein das Verhalten des Menschen angesichts der Offenbarung über sein Schicksal. Positiv als Rettung im Glauben, negativ als Selbstgericht durch Unglauben (Joh 3,36b; 12,48). Das gesamte Evangelium kann als ein Aufruf zum Glauben verstanden werden, denn es wurde geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“ (Joh 20,31a). Eine bleibende Spannung
Wie verhalten sich beide Aussagereihen zueinander? Für den 4. Evangelisten sind weder der Glaube noch der Unglaube einfach individuelle Entscheidungen, sondern ihr Woher liegt außerhalb des Menschen151. So wie Gott den Glauben wirkt, so entsteht der Unglaube als Verhaftetsein an die Welt durch das Werk des Teufels (vgl. Joh 8,41–46; 13,2) oder als Verstockungstat Gottes (vgl. Joh 12,37–41). Gott allein scheidung des Glaubens oder des Unglaubens konstituiert sich definitiv das Sein des Menschen, und jetzt erst erhält sein Woher seine Eindeutigkeit.“
151 Damit betont Johannes auch „das Voraussein der Gnade“ (J. GNILKA, Neutestamentliche Theologie im Überblick, NEB, Würzburg 1989, 136).
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entscheidet nach Johannes über Heil und Unheil, womit die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes gewahrt bleibt. Zugleich berührt das vorgängige Handeln Gottes die menschliche Existenz, so dass die Entscheidung für den Glauben und das Verharren im Ungehorsam als mögliche nachfolgende menschliche Reaktionen auf das Heilsangebot Gottes für den Evangelisten ebenso Realität sind. Der Mensch soll sich zum Glauben bewegen lassen, denn der Heilswille Gottes hebt die Entscheidungsfreiheit des Menschen nicht auf. Die damit ausgesagte Spannung ist sachgemäß, weil sich beide Aussagekomplexe nicht widerspruchslos zuordnen lassen152. Die auch für Johannes konstitutive Vorstellung der Unverfügbarkeit des Heils lässt Gott als alleiniges durchgängiges Subjekt des Heilsgeschehens in all seinen Dimensionen erscheinen. Zugleich erfordert der Gedanke der dem Handeln Gottes nachgängigen menschlichen Freiheit und Verantwortung die Betonung der Entscheidung gegenüber dem Heilsgeschehen. Was sich bei Johannes auf der theologischen Reflexionsebene als Vorherbestimmung zeigt, ist auf geschichtlicher Ebene der nachträgliche Erklärungsversuch der Erfahrung, dass es Glauben und Unglauben gibt. Ein solcher Erklärungsversuch muss notwendigerweise an Grenzen stoßen153, weil in ihm der Mensch sich gewissermaßen an die Stelle Gottes setzt, Einblicke in Gottes Geheimnisse erlangen will. Prädestinationsaussagen sind immer theologische Grenzaussagen, sie dienen dazu, die Unverfügbarkeit Gottes zu wahren und nicht Menschen von vornherein auf Heil oder Unheil festzulegen. Entscheidend für das soteriologische Programm des 4. Evangelisten ist letztlich nicht das Woher des Glaubens, sondern die Zusage des Gekreuzigten und Auferstandenen: „Von denen, die du mir gegeben hast, habe ich keinen verloren“ (Joh 18,9; vgl. 10,28; 17,12).
12.5 Anthropologie F. MUSSNER, ZWV. Die Anschauung vom Leben im vierten Evangelium, MThS I/5, München 1952; J. BLANK, Der Mensch vor der radikalen Alternative, Kairos 22 (1980), 146–156; H. V. LIPS, Anthropologie und Wunder im Johannesevangelium, EvTh 50 (1990), 296–311; U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie (s. o. 6.5), 134–170; CHR. URBAN, Das Menschenbild nach dem 152 Treffend R. BERGMEIER, Glaube, 231: „Der Evangelist denkt prädestinatianisch, entfaltet aber nicht eine den Gesetzen der Logik genügende Prädestinationslehre“; vgl. ferner F. HAHN, Theologie I, 676: „Insofern sind Glaube wie Unglaube bedingt durch göttliches Handeln, gleichwohl aber menschliche Reaktion auf das Betroffensein durch das Offenbarungsgeschehen.“ 153 Es ist nicht verwunderlich, dass gerade bei der Prädestination die Forschungspositionen weit ausei-
nandergehen; während G. RÖHSER, Prädestination und Verstockung, 253f, eine Prädestinationslehre im 4. Evangelium bestreitet, interpretiert H.-CHR. KAMMLER, Christologie und Eschatologie (s. u. 12.8), 148, sehr stark in Richtung einer starren Prädestination, wonach „der Evangelist einen radikalen, im Sinne der praedestinatio gemina zu verstehenden Prädestinatianismus vertritt“. Beide Positionen werden dem exegetischen Befund nicht gerecht.
Anthropologie 677
Johannesevangelium, WUNT 2.137, Tübingen 2001; E. REINMUTH, Anthropologie (s. o. 6.5), 137– 184.
Grundlegung für die joh. Anthropologie ist der Schöpfungsgedanke; die Welt und die Existenz des Menschen werden auf den Willen Gottes zurückgeführt und von dort bedacht. Der Logos Jesus Christus schuf alles Sein (Joh 1,3f) und ging in das Geschaffene ein. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus als Offenbarung der Herrlichkeit des Lebens, der Wahrheit und der Gnade im Wort ist für Johannes die Ermöglichung der Selbstwerdung des Menschen im Weg der Liebe. Theologie und Christologie sind somit das Fundament der Anthropologie. Bleiben die Glaubenden im Wort Jesu Christi, dann haben sie an dessen Lebensfülle teil und überwinden die Macht der Sünde; sie werden selbst wahre Menschen, indem sie die Liebe des Gottessohnes aufnehmen, so dass einer dem anderen Mensch wird. Diese positive anthropologische Bestimmung mündet bei Johannes in den Begriff der ‚Gotteskindschaft‘ (Joh 1,12: te´kna heou˜); als solche treten die Glaubenden in das Beziehungsgeflecht von Vater, Sohn und Geist ein.
12.5.1 Der Glaube H. SCHLIER, Glauben, Erkennen, Lieben nach dem Johannesevangelium, in: ders., Aufsätze zur Biblischen Theologie, Leipzig 1968, 290–302; F. HAHN, Sehen und Glauben im Johannesevangelium, in: Neues Testament und Geschichte (FS O. Cullmann), hg. v. H. Baltensweiler/B. Reicke, Zürich/Tübingen 1972, 125–141; DERS., Das Glaubensverständnis im Johannesevangelium, in: Glaube und Eschatologie (FS W.G. Kümmel), hg. v. E. Gräßer/O. Merk, Tübingen 1985, 51–69; R. BERGMEIER, Glaube als Gabe nach Johannes (s. o. 12.4.2); C. HERGENRÖDER, Wir schauten seine Herrlichkeit, FzB 80, Würzburg 1996.
Kein anderer ntl. Autor dachte so intensiv über das Wesen des Glaubens nach wie der Evangelist Johannes. Schon der sprachliche Befund ist signifikant: Bei Johannes erscheint das Verbum pisteu´ein („glauben“) 98mal, bei Matthäus hingegen nur 11mal, bei Markus 14mal und bei Lukas 8mal154. In der Mehrzahl der Fälle steht pisteu´ein mit eiß („an“), womit ein grundlegender Zug des joh. Glaubensverständnisses offenbar wird: Die Bindung des Glaubens an die Person Jesus Christus 155. Glauben an Jesus Christus heißt für Johannes zugleich: „glauben an sein Wort“ (Joh 4,41.50; 5,24), „glauben an Mose und an die Schrift“, die von Jesus zeugen (Joh 5,46f), und vor allem: glauben an den, der ihn gesandt hat (vgl. Joh 5,24; 6,29; 11,42; 12,44; 17,8). Jesus erscheint als der Repräsentant Gottes, es gilt: „Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45) und: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ 154 Im 1Joh ist pisteu´ein 9mal belegt; das Substantiv pı´stiß findet sich nur in 1Joh 5,4.
155 Vgl. F. HAHN, Glaubensverständnis, 56 f.
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(Joh 14,9). Deshalb kann Jesus auch sagen: „Glaubet an Gott und glaubet an mich“ (Joh 14,1b). Der Glaube an Gott und der Glaube an Jesus Christus sind identisch, weil Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Das ganze Johannesevangelium wurde geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31)156. Glaube und Wunder
Dient Jesu gesamtes Offenbarungswirken der Verherrlichung des Vaters durch den Sohn und des Sohnes durch den Vater (vgl. Joh 8,54; 12,28; 13,31f; 14,13), so ist das Wunder der besondere Ort dieses Geschehens. Es ist nicht nur ein Hinweis auf die Doxa, sondern Ausdruck der Doxa selbst157. Diese Offenbarung der Doxa Jesu im Wunder ruft Glauben hervor, denn bei Johannes ist der Glaube unmittelbar an das Wirken Jesu gebunden. Bei der Hochzeit zu Kana entfaltet der Evangelist beispielhaft an den Jüngern sein Verständnis von Wunder und Glaube (Joh 2,11: „Dies tat Jesus als erstes Zeichen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn“). Nicht der Glaube schaut das Wunder, sondern durch die Offenbarung der Doxa im Wunder entsteht Glauben. Weil das Wunder Offenbarungscharakter hat und machtvoll von der Einheit des Sohnes mit dem Vater zeugt, vermag es Glauben zu wecken. Wie unmittelbar für den Evangelisten Wunder und Glaube zusammengehören, zeigt Joh 10,40–42, wonach sich Jesus und der Täufer wesenhaft darin unterscheiden, dass allein Jesus Wunder tut. Deshalb können die ‚Vielen‘ auch nur an Jesus glauben. Joh 11,15 macht ebenfalls deutlich, dass der Glaube durch Wunder entsteht. Jesus freut sich für die Jünger, beim Tod des Lazarus nicht dabei gewesen zu sein. Nun kann er seinen Freund von den Toten auferwecken, damit die Jünger zum Glauben gelangen. Hier ist das Wunder nicht zufälliger Anlass des Glaubens, es wird vielmehr bewusst eingesetzt, um Glauben hervorzurufen158. Für den Evangelisten Johannes bewirkt das Wunder den Glauben, folgt auf das Sehen des svmeı˜on („Zeichen/Wunder“) ein pisteu´ein eiß LIvsou˜n Cristo´n („glauben an Jesus Christus“). Dieser völlig undualistische Zusammenhang zwischen Sehen und Glauben wird in Joh 2,11.23; 4,53; 6,14; 7,31; 9,35–38; 10,40–42; 11,15.40.45; 12,11; 20,8.25.27.29a explizit ausgesprochen, so dass ihm für das Glaubensverständnis des 4. Evangelisten eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Glaube ist das Resul156 Joh 20,31 ist (ebenso wie Joh 1,1–18) eine Lektüreanweisung, die den Leser bzw. Hörer des Evangeliums zum rechten Verständnis des Gesamtwerkes anleiten soll; zur Auslegung von Joh 20,31 vgl. F. NEUGEBAUER, Entstehung (s. o. 12.2.1),10–20. 157 Vgl. hier U. SCHNELLE, Antidoketische Christologie (s. o. 12.2), 182–185.
158 In Joh 2,24f; 4,48; 6,30; 20,29b artikuliert sich keine grundsätzliche Wunderkritik, denn Jesus weist nur die bloße Forderung nach dem Wunder (4,48; 6,30) bzw. einen zweifelhaften Glauben seitens der Menge (2,24f) zurück; vgl. W.J. BITTNER, Jesu Zeichen (s. o. 12.2.1), 122–134.
Anthropologie 679
tat des zuvor geschehenen Wunders, nicht dessen Ermöglichung. Johannes sieht somit im Wunderglauben keineswegs nur einen ‚vorläufigen Glauben‘; durch das Wunder entsteht nicht nur ein hinweisender, minderwertiger oder unvollständiger Glaube159, sondern Glaube im Vollsinn des Wortes: erkennen und anerkennen der Gottessohnschaft Jesu Christi. Entsteht der Glaube in der Begegnung mit Jesus, der im Wunder seine Doxa offenbart, so umfasst er gleichermaßen Jesu sarkische und himmlische Existenz. Er hat damit auch nicht nur das ‚Dass‘ der Offenbarung zum Inhalt160, vielmehr beschreiben die Wunder mit einer kaum zu überbietenden Anschaulichkeit und Realität das Wirken des Offenbarers in der Geschichte. Das Sehen des Wunders ist somit kein geistiges Schauen, sondern ein sinnfälliges Sehen161. Bei Johannes erscheinen „erkennen“ und „sehen“ als Strukturelemente des Glaubens. Glauben und Erkennen/Sehen
An Jesus glauben ist für Johannes gleichbedeutend mit Jesus ‚erkennen‘ (ginw´skein)162. So heißt es in Joh 14,7: „Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an erkennt ihr ihn und habt ihn gesehen.“ Jesus sagt von sich: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen erkennen mich“ (Joh 10,14). Die Glaubenden haben Jesus erkannt (1Joh 4,16; Joh 6,69), sie erkennen ihn und wissen, wer er ist: Der Gesandte Gottes, der Menschensohn, die Wahrheit (vgl. Joh 7,17, 8,28; 14,6.17.20; 17,7 f.25; 1Joh 2,4; 3,19; 5,20). Denen, die im Wort Jesu bleiben, gilt die Verheißung: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh 8,32). Das joh. Erkennen orientiert sich nicht am äußerlich Vorfindlichen, es dringt durch zum Wesen des Erkannten. In Jesus von Nazareth offenbart sich die Herrlichkeit Gottes, er ist der von Gott gesandte Retter der Welt (Joh 4,42). Deshalb beinhaltet ‚erkennen‘ bei Johannes, Jesus als Herrn anzuerkennen und damit in ein persönliches Verhältnis zu ihm zu treten. Jesus erkennen heißt, ihm nachzufolgen (Joh 10,27: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“). Damit führt das Erkennen Jesu und die Annahme der Christusbotschaft in die Beachtung des Willens Gottes hinein. 1Joh 2,3: „Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten“ (vgl. auch 1Joh 2,4f; 3,19.24; 4,13). Die Bruderliebe ist das Kennzeichen derer, die 159 Gegen R. BULTMANN, Theologie, 425, der behauptet: „Der echte Glaube darf nicht mit einem scheinbaren verwechselt werden, der etwa durch die svmeı˜a Jesu geweckt ist . . .“. Dieser Beurteilung folgen u.a F. HAHN, Glaubensverständnis, 54 (Abwehr eines falschen, „an der Sichtbarkeit und Beweisbarkeit“ orientierten Glaubens); J. GNILKA, Neutestamentliche Theologie im Überblick (s. o. 12.4.2), 132 (‚vordergründiger Wunderglaube‘). 160 So die klassische These von R. BULTMANN, Theologie, 419: „Johannes stellt also in seinem Evangelium
nur das Daß der Offenbarung dar, ohne ihr Was zu veranschaulichen.“ 161 R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 43, bezeichnet hingegen die Anschaulichkeit des Offenbarers als ein „pietistisches Mißverständnis“ und meint: „So fehlt denn auch der johanneischen Darstellung des fleischgewordenen Offenbarers jede Anschaulichkeit; die Begegnung mit ihm ist nur Frage und nicht Überredung.“ 162 Vgl. zu ginw´skein G. STRECKER, Johannesbriefe (s. o. 12.1.3), 319–325.
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Gott bzw. die Liebe Gottes kennen (vgl. 1Joh 3,16; 4,7f). Demgegenüber kennt der Gott nicht, der sündigt (1Joh 3,6). Das tvreı˜n to`n lo´gon („das Wort bewahren“, Joh 8,51; 14,23; 15,20; 17,6) und das me´nein en tw˜ lo´gw („bleiben im Wort“, Joh 8,31) gehören zum Wesen des Glaubens, weil das Erkennen des Offenbarers das Bekennen zu seinem Wort und Willen mit einschließt163. Das Erkennen löst sich nicht vom Glauben, sondern der Glaube ist ein erkennender Glaube. Im Verhältnis von Vater und Sohn löst hingegen das unmittelbare Erkennen den Glauben ab: „So wie mich der Vater kennt, so kenne ich den Vater“ (Joh 10,15a; vgl. 17,25). Ein weiteres zentrales Wesensmerkmal des Glaubens ist bei Johannes das ‚Sehen‘ (ora˜n, ble´pein, hewreı˜n)164. Bereits in Joh 1,14 steht das ‚Sehen‘ der Doxa des Inkarnierten im Mittelpunkt; ein das gesamte Evangelium durchziehendes Motiv (vgl. Joh 11,40; 17,24). Die ersten Worte des joh. Jesus sind eine Frage (Joh 1,38b: „Was sucht ihr?“) und eine Einladung (V. 39a: „Kommt und seht!“); die Hörer und Leser des 4. Evangeliums werden damit aufgefordert, in die Textwelt einzutreten, nach Sinn zu suchen und wie die Jünger in Jesus Christus den Messias zu sehen (Joh 1,41). Über die Jüngerberufungen hinaus sind Begegnungs-Texte wie Joh 4,1–42; 5,1–15; 7,25– 28; 9,35–38 und 20,1–10.11–18 vom Motiv des ‚Suchens‘ und ‚Findens‘ und der Überführung des ‚Nicht-Kennens/Nicht-Sehens‘ in den Glauben geprägt. Der Evangelist baut damit eine Sinnlinie auf, die von einem Grundgedanken geprägt ist: Jesus Christus offenbart und erschließt sich selbst den Seinen165. Exemplarisch wird das joh. ‚Sehen‘ in Joh 9 entfaltet; während der Blindgeborene durch Jesus sein Augenlicht erhielt und durch den Glauben zu einem wahrhaft Sehenden wurde, verfallen die Pharisäer der Krisis, weil sie im Unglauben verharren und so zu den wahrhaft Blinden werden (Joh 9,39–41). Johannes fordert damit seine Gemeinde auf, ebenso wie der Blindgeborene durch den Glauben auf Jesu heilendes Handeln zu reagieren. Wenn dies geschieht, öffnet Jesus nicht nur dem Blindgeborenen, sondern auch der Gemeinde die Augen und schenkt ihr das wahre Sehen. Wie die Jünger und Maria Magdalena (Joh 20,18.25) bekennt sie dann: ‚Ich habe/wir haben den Herrn gesehen‘. Programmatisch werden Sendung und Sehen in Joh 12,44f parallelisiert: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.“ Mit dem Makarismus Joh 20,29 („Selig, die nicht sehen und doch glauben“) präzisiert der Evangelist das vor- und nachösterliche ‚Sehen‘166: Der Makarismus gilt den Generationen, die nicht mehr durch das unmittelbare Sehen des Auferstandenen zum Glauben gelangen können. An Thomas wird exemplifiziert, was z.Zt. des Johannesevangeliums schon gilt: Glau163 Vgl. hier J. HEISE, Bleiben (s. u. 12.7), 44 ff. 164 Ausführliche Analysen der relevanten Texte bei
C. HERGENRÖDER, Wir schauten seine Herrlichkeit, 56ff; vgl. ferner O. SCHWANKL, Licht und Finsternis (s. o. 12.1.3), 330–347; R. ZIMMERMANN, Christologie der Bilder (s. o. 12.2), 45–59.
165 Vgl. dazu P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium, Münster 2000. 166 Zur Auslegung vgl. U. SCHNELLE, Johannes (s. o. 12), 332–334.
Anthropologie 681
be ohne das Thomas gewährte wunderhafte direkte Sehen des Auferstandenen, Angewiesensein auf die Überlieferung der Augenzeugen. Die unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven sind für die Interpretation der Thomasperikope entscheidend. Während Joh 20,24–29a von einem Geschehen berichtet, das nur z.Zt. der Epiphanien des Auferstandenen und der ersten Jüngergeneration möglich war, richtet V. 29b den Blick auf die Zukunft. V. 29b kritisiert oder relativiert somit nicht das vorherige Sehen des Thomas, sondern formuliert lediglich, was für die folgenden Generationen im Unterschied zu den Augenzeugen bereits gilt. Das unmittelbare Sehen ist auf die Generation der Augenzeugen beschränkt. Indem dieses Sehen aber die joh. Tradition begründet, hat es im Kerygma für die joh. Gemeinde gegenwärtige Bedeutung. Die Abwesenheit des Leibes Jesu darf nicht missverstanden werden als Abwesenheit seiner Person. Vielmehr verdeutlichen die Erzählungen vom leeren Grab und den Erscheinungen vor Maria Magdalena, den Zwölfen und Thomas, dass es gerade nach Ostern ein verändertes Sehen und Glauben gibt. In diesem Sinn ist der Zusammenhang von Sehen und Glauben keineswegs auf die vita Jesu beschränkt, sondern hat in der Verkündigung der Gemeinde gegenwärtige Bedeutung, d. h. das Johannesevangelium ist als eine Schule des Sehens zu lesen und zu verstehen167. Der Unglaube
Die Sendung Jesu in die Welt ruft Glauben, aber auch Unglauben hervor. Glaube und Unglaube sind die Grundmöglichkeiten menschlicher Existenz angesichts der Offenbarung. Geradezu programmatisch wird dieser Sachverhalt vom Evangelisten in Joh 12,37 formuliert: „Und obwohl er solche Zeichen vor ihren Augen tat, glaubten sie doch nicht an ihn.“ Selbst Jesu Brüder glaubten nicht an ihn (Joh 7,5), obwohl sie seine Werke sahen (Joh 7,3). Die Heilung des Blindgeborenen hat auf der Seite der Juden Glauben und Unglauben zur Folge (vgl. Joh 9,16). Auch die Auferweckung des Lazarus führt viele Juden zum Glauben (Joh 11,45), gleichzeitig wird das größte Wunder Jesu der Anlaß, um Jesus zu verraten (Joh 11,46). Johannes demonstriert besonders an den Wundern das Wesen des Unglaubens, denn angesichts der svmeı˜a leugnet der Unglaube einen offenkundigen Tatbestand: Jesus Christus ist der Sohn Gottes. Nicht Unwissenheit oder Unvermögen sind Merkmale des Unglaubens, sondern die bewusste Ablehnung eines nicht zu übersehenden Faktums. Joh 6,36: „Ihr habt mich gesehen und glaubt doch nicht.“ Gerade weil Jesus die Wahrheit ist und die Wahrheit sagt, glauben viele nicht an ihn (Joh 8,45: „Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht“). Johannes weiß um das Verhaftetsein des Menschen an die Mächte der Welt, er kennt das Sich-Verschließen der Menschen vor der Wahrheit (vgl. Joh 5,47; 6,64; 8,46; 10,26; 16,9). Jesu Reden und Wunder wirken 167 Treffend O. SCHWANKL, Licht und Finsternis (s. o. 12.1.3 ), 397: „Johannes hat eine Vorliebe für das Visuelle; er ist der ‚Optiker‘ unter den Evangelisten“.
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nicht automatisch bzw. magisch, sondern fordern trotz ihres Offenbarungscharakters auf der Seite des Menschen eine Entscheidung (s. o. 12.4.2). Der Glaube als Heilsgeschehen
Der Glaube ist für Johannes ein rettendes Geschehen. Er bleibt nicht folgenlos, denn der Wille des Vaters lautet, „dass, wer den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag“ (Joh 6,40). Der Glaube erschließt das Heilsgut des ewigen Lebens, weil er sich auf den richtet, der das Leben ist (vgl. Joh 3,15f; 5,24; 6,47; 11,25f; 20,31). Das Gericht gehört für den Glaubenden schon der Vergangenheit an, denn der Glaube rettet vor dem kommenden Zorn des Richters (Joh 3,18: „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet, wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet“). Der Glaube erscheint somit nicht als ein beliebiger Vorgang, sondern er entscheidet über Leben und Tod. Daher muss die Botschaft vom rettenden Glauben an Jesus Christus den Menschen weitergesagt werden.
12.5.2 Das ewige Leben Das neue Sein des Christen wird von Johannes umfassend als zwv´ („Leben“) bzw. zwv` aiw´nioß („ewiges Leben“) qualifiziert. Erst im Glauben erschließt sich somit das Wesen des Menschseins: das durch Gott ermöglichte Leben. Leben ist bei Johannes zuallererst ein Attribut des Vaters168, der dem Sohn das Leben gibt: „Denn wie der Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn verliehen, Leben in sich selbst zu haben“ (Joh 5,26; vgl. Joh 6,57). Der Sohn wiederum erhielt vom Vater die Macht über alle Menschen, „damit er das ewige Leben allen gebe, die du ihm gegeben hast“ (Joh 17,2b). Schon der präexistente Logos hatte das Leben in sich, das zum Licht der Menschen wurde (Joh 1,4; 1Joh 1,2). Hier zeigt sich die für Johannes charakteristische Verschmelzung der Zeit- und Sachebenen: Nicht erst die Auferstehung ermöglicht die Aussage, dass Jesus das Leben ist und Leben gibt. Vielmehr kommt Jesus von Gott als dem Inbegriff des Lebens her, er ist gerade als der Präexistente zugleich der Inkarnierte, Gekreuzigte und Auferstandene. In einer konkreten historischen Person ist das göttliche Leben im Kosmos gegenwärtig169. Gerade als Voraussetzung für die Rettung des Menschen aus der Todesverfallenheit zielt die gesamte Inkarnation auf die Gabe des ewigen Lebens für die Glaubenden (vgl. Joh 3,16.36a). Die Erkenntnis Gottes und seines Gesandten eröffnen das ewige Leben (Joh 17,3) und sind zugleich dessen Inhalt. Wahres Leben erschließt sich nur in der Glauben weckenden Begegnung mit Jesus Christus, denn in ihm brach die göttliche Lebensmacht in die Welt des Todes ein. Weder der in der Philosophie zu beschreitende Weg der Erkennt-
168 Vgl. dazu F. MUSSNER, ZWV (s. o. 12.5), 70 ff.
169 Vgl. a. a. O., 82 ff.
Anthropologie 683
nis des wahren Selbst noch der Glaube an eine substanzhafte Identität mit einem himmlischen Erlöser in der Gnosis befreien den Menschen aus dem Bereich des Todes170. Für Johannes spendet allein Jesus das Wasser, das zu einer Quelle wird, die zum ewigen Leben sprudelt (Joh 4,14). Aus Jesu Leib werden Ströme lebendigen Wassers hervorströmen (Joh 7,38), nämlich der Geist (vgl. Joh 7,39), der als göttliches Lebensprinzip die Heilsgabe des ewigen Lebens schenkt. Als Licht der Welt ist Jesus zugleich das Licht des Lebens (Joh 8,12). Er kann von sich sagen, dass er die Auferstehung und das Leben sei (Joh 11,25), und: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten in Joh 4,46–54, vor allem aber die Auferweckung des schon vier Tage toten Lazarus (Joh 11,1–44) zeigen Jesus als Herrn über Tod und Leben171. Jesus ermöglicht Leben, indem er Menschen ins Leben zurückholt oder eingeschränkte Lebensmöglichkeiten überwindet (Heilung des Lahmen und des Blinden in Joh 5,1–9a.b; 9,1–41). Hunger (Joh 6,1–15) oder Seenot (Joh 6,16–25) als Gefährdungen des Lebens werden von Jesus abgewendet. Der Schöpfungsmittler Jesus Christus gewährt Leben und verdeutlicht die bleibende Angewiesenheit des Geschöpfes auf den Schöpfer. Die Schöpfergabe des Lebens greift über das Zeitliche und damit Vergängliche, Begrenzte hinaus. Wer das ewige Leben hat, geht nicht mehr verloren und kommt nicht in das Gericht (vgl. Joh 10,28; 3,36; 5,24). Jesu Verheißung hat nur einen Inhalt: das ewige Leben (vgl. 1Joh 2,25). Jesus ist das Brot des Lebens (Joh 6,35a). Wer davon ißt, stirbt nimmermehr (Joh 6,50), vielmehr lebt er in Ewigkeit (Joh 6,58). Während die Väter in der Wüste starben (Joh 6,49), gewährt das vom Himmel herabgekommene Brot das ewige Leben. Die Anspielungen auf das Herrenmahl in der Lebensbrotrede (Joh 6,30–51a.b) und der eucharistische Abschnitt in Joh 6,51c– 58 verdeutlichen die sakramentale Dimension des joh. Lebensbegriffes: Im Mahl der Gemeinde erschließt sich der Auferstandene als Inbegriff des Lebens den Glaubenden und gewährt ihnen Anteil an seiner eigenen Lebensfülle (s. u. 12.7.2). Ebenso erscheint gerade bei Johannes die Taufe als Inbegriff eines lebenspendenden Geschehens (Joh 3,3–5). Die Neugeburt in der Kraft des Geistes erfolgt als vertikaler Einbruch in das bisherige Leben des Menschen. Der Geist als lebendige Macht Gottes stellt den Glaubenden in eine neue Wirklichkeit. Die nach wie vor existierende Realität des physischen Todes begrenzt nicht mehr das Leben, der Gemeinde kann gesagt werden: „Wir wissen, dass wir hinübergeschritten sind aus dem Tod ins Leben“ (1Joh 3,14; vgl. Joh 5,24). Wer das Wort Jesu annimmt, „wird den Tod nicht
170 K.-W. TRÖGER, Ja oder Nein zur Welt. War der
und der Erlöste wird nicht zum Erlöser.“
Evangelist Johannes Christ oder Gnostiker?, ThV VII, Berlin 1976, (61–80) 75, benennt diese grundlegende Differenz zwischen Johannesevangelium und Gnosis: „Der Gedanke der Identität ist fallengelassen,
171 Diese grundlegende Dimension der johannei-
schen Wundererzählungen hat M. LABAHN, Jesus als Lebensspender (s. o. 12. 2), passim, umfassend herausgearbeitet.
684 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
schauen in Ewigkeit“ (Joh 8,51; vgl. Joh 11,26). Im Sohn gewährt der Vater ein Leben, das durch den biologischen Tod nicht zerstört wird. Als eine in der Gegenwart beginnende Gemeinschaft des Glaubenden mit Gott eröffnet das ewige Leben eine nie endende Zukunft. Nicht Unsterblichkeit, sondern andauerndes wahres Leben bei Gott verheißt Johannes den Glaubenden. 12.5.3 Die Sünde M. HASITSCHKA, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium, ITS 28, Innsbruck 1989; TH. KNÖPPLER, Die theologia crucis des Johannesevangeliums (s. o. 12.2.5), 67–101; A. STIMPFLE, „Ihr seid schon rein durch das Wort“ (Joh 15,3a). Hermeneutische und methodische Überlegungen zur Frage nach „Sünde“ und „Vergebung“ im Johannesevangelium, in: H. Frankemölle (Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament, QD 161, Freiburg 1996, 108–122; R. METZNER, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122, Tübingen 2000.
Die Bedeutung des Sündenbegriffes wird schon durch den sprachlichen Befund signalisiert: Das Substantiv amartı´a („Sünde“) ist im Johannesevangelium 17mal belegt, nur der Römer- und Hebräerbrief bieten im NT eine größere Anzahl von Belegen. Deutlich darunter liegen z. B. die Synoptiker (Mk: 6mal; Mt: 7mal; Lk: 12mal). Hinzu kommt, dass auch im 1 Johannesbrief amartı´a 17mal vorkommt. Der Sündenbegriff steht zunächst in den Gesprächsgängen der Wundertraditionen Joh 5 und 9 zur Debatte. Sie verdeutlichen, dass es Jesus nicht darauf ankommt festzustellen, wer Sünder ist oder war, sondern dass sein Kommen das Wesen der Sünde aufdeckt und Sünde überwindet. Dieses Profil des joh. Sündenbegriffes wird in den Auseinandersetzungen Jesu mit den LIoudaı˜oi („Juden“) und dem Kosmos in den Offenbarungsreden Jesu in Joh 8 sowie Joh 15 und 16 weiter entfaltet. In Joh 8 kommt der Begriff amartı´a 6mal vor, ein deutlicher Hinweis auf die Brisanz des Themas. Die Sünde wird hier als Unverständnis der LIoudaı˜oi gegenüber dem göttlichen Gesandten Jesus Christus und seinem Weg präzisiert. Dieses Unverständnis erweist sich als der Unglaube selbst, Sünde ist Unglaube gegenüber dem Gesandten Gottes. Ferner erscheint Sünde als Verhaftetsein an die Welt, wobei sich das Sein in der Sünde und das Tun der Sünde wechselseitig konstituieren. Die Sünde besteht in der bewussten Ablehnung eines angesichts der Wunder und Reden offenkundigen Tatbestandes: Jesus Christus ist der sündlose Sohn Gottes (vgl. Joh. 8,46). Den eigentlichen Grund für diese Verweigerung sieht Johannes in der Eigenliebe der Welt. Die Welt greift nach der ihr eigenen Ehre und lässt die Liebe zu Gott vermissen (vgl. Joh 15,19). Während sich Gott der Welt liebend und werbend zuwendet (vgl. Joh 3,16), reagiert diese nur abweisend und mit Hass. Sünde erscheint somit bei Johannes als Eigenehre, Eigenliebe und als ein Sich-Entziehen aus der Liebe Gottes. Einen bewussten kompositorischen und theologischen Bogen spannt Johannes mit der ersten und letzten Aussage über die Sünde: Joh 1,29 und 20,23. Damit das
Anthropologie 685
Leben der Welt zugute kommt, muss die Sünde überwunden werden. Der Ort, an dem die Sünde der Welt und die zwv´ Gottes aufeinandertreffen, ist das Kreuz. Hintergründige joh. Ironie wird sichtbar: Am Kreuz beseitigt das Lamm Gottes die Sünde der Welt, zugleich beseitigt die Welt das Lamm Gottes am Kreuz. Joh 20,23 verbindet das Wirken Jesu und das Wirken der Jünger im Blick auf das Wirken des Geistes und die Befreiung von Sünde: So wie zur Sendung Jesu wesentlich das Hinwegnehmen der Sünde gehört, so zur Sendung der Jünger die Sündenvergebung im Auftrag des Sohnes. Der 1 Johannesbrief zeigt, dass es bei der Frage nach vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden zu Konflikten in der joh. Schule kam172. Während in 1Joh 1,8–10 ausdrücklich gesagt wird, die Behauptung der Sündlosigkeit der Christen sei wider die Wahrheit, betont 1Joh 3,9: „Jeder, der aus Gott gezeugt ist, sündigt nicht, weil Gottes Same in ihm bleibt, und er vermag nicht zu sündigen, weil er aus Gott gezeugt ist.“ Das Gezeugtsein aus Gott und die Verbundenheit mit Christus schließen Sünden aus. Es existiert eine klare Trennung zwischen den Kindern Gottes und den Kindern des Teufels (1Joh 3,10). In eine andere Richtung weist 1Joh 5,16f: „Wenn jemand seinen Bruder eine Sünde begehen sieht, eine Sünde, die nicht zum Tode ist, dann soll er bitten und Gott wird ihm Leben geben, denen, die eine Sünde begehen, die nicht zum Tode ist. Es gibt Sünde, die zum Tode ist; nicht im Hinblick auf jene sage ich, dass er bitten soll. Jedes Unrecht ist Sünde, doch es gibt Sünde, die nicht zum Tode ist.“ Wer sündigt, ist nicht im Bereich des Geistes und des Lebens, er gehört in den Bereich des Todes. Andererseits trägt der Verfasser des 1Joh der Gemeinderealität Rechnung, wenn er von Sünden spricht, die nicht zum Tode führen. Für diese Sünden darf der Mitbruder Gott um Vergebung bitten. Kaum zufällig fehlt sowohl im 1Joh als auch im Johannesevangelium eine Definition der beiden Sündenarten. Die Gemeinde behält dadurch die Freiheit, in ihrer Mitte jeweils selbst darüber zu entscheiden, welche Verfehlung als vergebbare Sünde anzusehen ist und wo eine Sünde zum Tode vorliegt. Mit dieser Konzeption wird der wesenhafte Gegensatz zwischen Sünde und Christsein grundsätzlich beibehalten und zugleich der Imperativ verschärft: Es gibt Sünden, die das Gottesverhältnis zerstören, so dass auch Getaufte aus dem Lebensbereich Gottes wieder herausfallen können173.
Das joh. Sündenverständnis weist ein klares theologisches Profil auf: Sünde ist weder eine nomistische noch eine moralische Kategorie. Vielmehr weist der prävalent singularische Gebrauch darauf hin, dass Johannes Sünde in einem generellen Sinn versteht: Sünde ist der Unglaube. Der generelle Charakter des Sündenbegriffs erlaubt es nicht, ihn einzugrenzen und historisierend auf die LIoudaı˜oi anzuwenden174. Viel172 Zur Analyse der Texte vgl. I. GOLDHAHN-MÜLLER,
ständnis der Sünde, 325–327.
Die Grenze der Gemeinde (s. o. 6.7), 27–72. 173 Zu Übereinstimmungen und Unterschieden beim Sündenbegriff zwischen dem 1 Johannesbrief und dem Johannesevangelium vgl. R. METZNER, Ver-
174 So R. BULTMANN, Theologie, 380: „Die Sünde der
‚Juden‘ ist . . . ihre Verschlossenheit gegen die ihre Sicherheit in Frage stellende Offenbarung.“
686 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
mehr befindet sich nach joh. Anschauung jeder im Bereich der Sünde, der nicht an den Offenbarer Jesus Christus glaubt, egal ob Jude oder Nichtjude. Der joh. Glaubensbegriff erlaubt eine weitere Schlussfolgerung: So wie der Glaube das Leben, das ewige Leben gewährt, trennt der Unglaube und d. h. die Sünde vom Leben. Der eigentliche Gegenbegriff zur Sünde ist im Johannesevangelium das Leben, das ewige Leben. Warum verharrt die Welt angesichts der Heilsbotschaft vom Handeln Gottes in Jesus Christus im Unglauben? Sie erliegt aus joh. Sicht der Sünde, wobei die Sünde gleichermaßen Tat- und Verhängnischarakter hat. Johannes bringt die Eigenverantwortung des Menschen dadurch zum Ausdruck, dass er die Ablehnung der Gottesoffenbarung als willentliche Verweigerung versteht. Zugleich baut sich die Sündentat zur Sünde der Welt auf und bewirkt einen Schicksalszusammenhang, der in die Versklavung durch die Welt und ihre teuflischen Mächte, aber auch in die Verstockung durch Gott (Joh 12,39) führt und im eschatologischen Tod sein Ziel findet (Joh 8,21.24). Es handelt sich im wahrsten Sinn des Wortes um einen sich selbst aufbauenden Teufelskreis. Für Johannes ist diese Realität des Unglaubens so bedrückend, weil Gott am Kreuz ein Nein zur Sünde und ein Ja zum Leben gesprochen hat. Am Kreuz wird die Sünde offenbar und zugleich überwunden. Auch im Zusammenhang mit der Sündenthematik kann bei Johannes von einer Prävalenz des Heils gesprochen werden.
12.6 Ethik M. LATTKE, Einheit im Wort, StANT 41, München 1975; H. THYEN, „. . . denn wir lieben die Brüder“ (1Joh 3,14), in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen 1976, 527–542; W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. o. 3.5), 301–324; M. RESE, Das Gebot der Bruderliebe in den Johannesbriefen, ThZ 41 (1985), 44–58; S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 486–527; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 148–192; J. AUGENSTEIN, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, BWANT 134, Stuttgart 1993; TH. SÖDING, „Gott ist Liebe“. 1Joh 4,8.16 als Spitzensatz Biblischer Theologie, in: Der lebendige Gott (FS W. Thüsing), hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 306–357; M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein (s. o. 6.6), 95–136; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften (s. o. 12), passim; U. SCHNELLE, Johanneische Ethik, in: Eschatologie und Ethik im frühen Christentum (FS G. Haufe), hg. v. Chr. Böttrich, Frankfurt 2006, 309–327; J. G. VAN DER WATT, Ethics and Ethos in the Gospel according to John, ZNW 97 (2006), 147–176.
Kann bei Johannes von einer Ethik im herkömmlichen Sinn gesprochen werden? E. Käsemann verneint in scharfer Form diese Frage und betont: „Objekt christlicher Liebe ist für Johannes allein, was zur Gemeinde unter dem Wort gehört oder dazu
Ethik 687
erwählt ist, also die Bruderschaft Jesu.“175 Liebe ist danach ein rein nach innen gerichtetes worthaftes Geschehen, eine Bewusstseinshaltung, beschränkt auf die Gemeinschaft der Erwählten und ohne Bezug auf die Welt bzw. die Menschen jenseits der Gemeinde. An dieser Beschreibung trifft zu, dass im Vergleich mit den Synoptikern oder Paulus das Johannesevangelium keine konkreten materialethischen Anweisungen enthält. Es fehlen alle Aussagen zur Individual- und Sozialethik, der Staat ist ebenso wenig im Blick wie die Probleme des Reichtums/der Armut, der Ehe/des Sexualverhaltens oder konkrete Anweisungen für inner-/außergemeindliches Verhalten. Alles läuft auf ein einziges Wort zu: Liebe. Was aber versteht Johannes unter aga´pv („Liebe“) und agapa˜n („lieben“)? Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich davon ab, wie man das joh. Denken in seiner literarischen Ausformung als Evangelium bestimmt. Eine Konzentration des Problems auf zwei Verse (Joh 13,34.35) greift zu kurz, weil sie zwei Voraussetzungen und zugleich Elemente joh. Ethik übersieht: 1) Die ethische Relevanz der Literaturgattung Evangelium und 2) die Bedeutung der Grundstruktur joh. Theologie als einem prinzipiellen Denken. Die ethische Relevanz der Literaturgattung Evangelium
Zu den grundlegenden Funktionen von Erzählungen gehört die Orientierungsbildung (s. o. 1.3). Deshalb weisen Erzählungen auch immer normative Dimensionen auf, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen, Einstellungen und Verhaltensweisen hervorbringen, verändern oder stabilisieren. Gelungene Erzählungen wie die Evangelien haben immer auch eine orientierende Funktion. Ihre Struktur eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen und bestimmt jene Leitfäden, die den Gang der Erzählung prägen. Diese Leitfäden legen fest, welche Orientierungsleistungen mit den einzelnen Geschichten und dem gesamten Evangelium erbracht werden sollen. Schon von der Gattung her sind somit ethische Orientierungen im Johannesevangelium zu erwarten. Ihr besonderer Charakter kann nicht jenseits der spezifischen Art des joh. Denkens erfasst werden. Prinzipielles Denken
Johannes bedenkt die Offenbarung Gottes in Jesus Christus durchgehend in ihren prinzipiellen Dimensionen. Es geht um umfassende Begründungen menschlicher Existenz und grundlegende Ausrichtungen menschlichen Handelns. In diesem Kontext muss das joh. Liebesgebot interpretiert werden, es ist das Zentrum der prinzipiellen Ethik des 4. Evangelisten. Johannes nimmt damit einen zentralen Impuls der Verkündigung Jesu auf (vgl. Mt 5,44; Mk 12,28–34) und führt ihn zur Vollendung: Wer aus der Liebe heraus lebt, benötigt keine Einzelgebote, sondern weiß sich an das Grundprinzip allen Seins gebunden. In der Liebe ist der Mensch nicht nur mit sich 175 E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille (s. o. 12), 136; vgl.
zuvor R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 206.
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selbst und seinen Mitmenschen eins, sondern auch mit dem tragenden Grund seines Seins: Gott (vgl. 1Joh 4,8: o heo`ß aga´pv estı´n). Der Liebegedanke ist kein Randphänomen im 4. Evangelium, sondern das gesamte joh. Denken ist umfassend vom Liebesgedanken geprägt176. Der Evangelist verbindet von Anfang an den Inkarnationsgedanken mit dem Liebesgedanken, indem er das Begriffsfeld aga´pv/agapa˜n („Liebe/lieben“) zum ersten Mal in Joh 3,16 aufgreift: Gottes Liebe zur Welt in der Sendung des Sohnes. Das Evangelium wurde geschrieben, um zu zeigen, dass Gottes vorgängige Liebe alles Leben ermöglicht und trägt, um im Glauben der Menschen an ihr Ziel zu gelangen (vgl. Joh 15,16: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt“).
12.6.1 Das Liebesgebot Johannes platziert das Gebot der Liebe im Kontext des Wegganges Jesu: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34f)177. In der Situation des Abschiedes Jesu benennt das Liebesgebot, wie die Jünger, und damit die textexterne Gemeinde, mit Jesus verbunden bleiben können178. Indem in der Gemeinde die Liebestat Jesu als Bruderliebe Gestalt gewinnt, ist Jesu einmaliger Dienst im Handeln der Glaubenden gegenwärtig179. Die Jünger dürfen und sollen sich hineinnehmen lassen in die durch Gott ausgelöste Liebesbewegung und darin Jesus und ihrer Jüngerschaft entsprechen. Das Gebot der Bruderliebe als zentrale ethische Anweisung der joh. Schule (neben Joh 13,34f vgl. 2Joh 4–7; 1Joh 2,7–11; 4,10.19) lässt die Entsprechung als zentrale ethische Kategorie deutlich erkennen: So wie Jesus die Seinen in seinem urund vorbildhaften Tun bis zur Hingabe in den Tod liebte, so sollen auch sie einander lieben. Während in der syn. Tradition das Liebesgebot in der Gestalt des Doppelgebotes aus der Schrift abgeleitet wird (vgl. die Aufnahme von Dtn 6,4.5; Lev 19,18 in Mk 12,30.31), begründet es hier Jesus selbst. Dies entspricht joh. Logik, denn bereits die Schrift zeugt von Jesus (vgl. Joh 5,46), er ist auch Herr der Schrift. Das Prädikat neu für das Liebesgebot verdankt sich ebenfalls diesem Denkansatz, denn die Neuheit 176 Vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 361, wonach „die ‚dramaturgische Christologie der Liebe Gottes im Johannesevangelium‘ einen Höhepunkt urchristlicher Theologiebildung verkörpert. Sie reflektiert und versprachlicht in analogieloser Weise, warum das Leben und der Tod Jesu als ein Geschehen der Liebe Gottes verstanden werden können.“
177 Ausführliche Analyse bei E. E. POPKES, Die Theo-
logie der Liebe Gottes (s. o. 12), 257–271 178 Vgl. U. WILCKENS, Der Paraklet und die Kirche
(s. u. 12.7), 187; U. SCHNELLE, Abschiedsreden (s. o. 12.3.2), 66; J. FREY, Die johanneische Eschatologie II (s. o. 12), 312 f. 179 Vgl. R. BULTMANN, Joh (s. o. 12), 404.
Ethik 689
liegt nicht in der Anweisung als solcher, sondern allein bei dem, der sie spricht. Indem der präexistente, inkarnierte, gekreuzigte und erhöhte Jesus Christus das Liebesgebot formuliert, erhält es eine neue Qualität. Die Fußwaschung als Ort der Liebe
Bewusst wählt Johannes die Fußwaschung, um den konkreten Gehalt des Liebesgedankens zu illustrieren180. Das Fußwaschen war ein niedriger, zu den Aufgaben des Sklaven zählender Dienst, eine konkrete und auch schmutzige Handlung181, keineswegs nur ein liturgischer oder symbolischer Akt. Jesus selbst gibt seinen Jüngern ein Paradigma christlicher Existenz und Lebensführung, er nimmt sie hinein in das Liebeshandeln Gottes, das ihnen eine neue Existenz in der Bruderliebe eröffnet. Hier geht es keineswegs nur um einen intellektuellen Akt, um ethische Proklamationen oder Forderungen, sondern um ein Tun Jesu! Auch für Johannes ist Liebe ein Geschehen, das nicht bei sich selbst bleiben kann und sich im Tun vollendet. Die paradoxe Gestalt dieser Liebe erzählt Joh 13,4f: Die Fußwaschung der Diener durch den Herrn. Liebe kennzeichnet nicht nur das Sein und Wesen Jesu, in der Fußwaschung gewinnt die Liebe konkret Gestalt, wird sie zum bestimmenden Ereignis. Während von Caligula überliefert wird, er habe römische Senatoren bewusst gedemütigt, indem er ihnen befahl, ihm die Füße zu waschen182, erweist Jesus seine Liebe in der Freiheit, den niedrigsten Dienst an den Jüngern selbst zu verrichten. Jesus offenbart und vollzieht sein Sein aus Gott in der Fußwaschung als Gestaltwerdung der Liebe. Der überraschende Rollentausch ruft bei den Beschenkten Unverständnis, ja Bestürzung hervor (Joh 13,6–10a). Petrus wehrt sich energisch gegen das Tun Jesu, er will nicht begreifen, dass sich Jesu Herrsein gerade im Dienen vollzieht und vollenden wird. Jesus nähert sich in der Fußwaschung dem Menschen und bewirkt dessen Reinheit (Joh 13,10). Eine Umkehr findet statt: Ist es sowohl im antiken Judentum als auch in den paganen Kulten der Mensch, der durch eigenes Verhalten die Reinheit und damit die Voraussetzung für die Gottesbegegnung erbringt, so kommt hier Gott selbst dem Menschen nahe und macht ihn rein. Der Mensch muss und kann dazu nichts beitragen. Die Existenz des Menschen wird so von Gott in eine neue Qualität überführt, die sich in der Entsprechung zu Jesu Tun in der Fußwaschung reali180 Zur Fußwaschung vgl. J. BEUTLER, Die Heilsbedeutung des Todes Jesu im Johannesevangelium nach Joh. 13,1–20, in: Der Tod Jesu, hg. v. K. Kertelge, QD 74, Freiburg 1976, 188–204; H. KOHLER, Kreuz und Menschwerdung (s. o. 12.2.5), 192–229; CHR. NIEMAND, Die Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums, StAns 114, Rom 1993; U. SCHNELLE, Die johanneische Schule, in: Bilanz und Perspektiven der gegenwärtigen Auslegung des Neuen Testaments (FS G. Strecker), hg. v. F. W. Horn, BZNW 75, Berlin 1995, (198–217) 210–
216; J. C. THOMAS, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, JSNT.S 61, Sheffield 1991; J. ZUMSTEIN, Die johanneische Auffassung der Macht, gezeigt am Beispiel der Fußwaschung (Joh 13,1–17), in: ders., Kreative Erinnerung (s. o. 12), 161–176. 181 Vgl. die Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 635–645. 182 Vgl. Suet, Cal 26; vgl. ferner Dio Cass LIX 27,1, wo es über Caligula heißt: „Zu küssen pflegte er nur ganz wenige; denn selbst den meisten Senatoren bot er nur die Hand oder den Fuß zur Huldigung“.
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siert: „Wenn nun ich, der Meister und Herr, euch die Füße gewaschen habe, so müsst auch ihr einander die Füße waschen“ (Joh 13,14). Jesu Tun enthält in sich die Verpflichtung für die Jünger, ebenso zu handeln (Joh 13,15: „Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr tut, wie ich euch getan habe“)183. Jesu Tun ist hier zugleich Urbild und Vorbild für des Menschen Handeln. Wäre Jesus ausschließlich Vorbild, würde der Mensch wieder auf seine eigenen Fähigkeiten zurückgeworfen, indem er seinem Vorbild nach Kräften nacheifern müsste. Dies liefe der Bewegung der zuvorkommenden Liebe Gottes entgegen. Der Mensch kann Jesus nicht nachahmen, weil allein Jesu Tun menschliches Sein begründet und menschliches Handeln aus sich heraussetzt. Wohl aber kann er sich hineinnehmen lassen in die durch Gott ausgelöste Liebesbewegung und darin Jesus entsprechen (Joh 13,34f). Die Fußwaschung macht deutlich, dass es für die Glaubenden keine Entsprechung zu Jesus ohne ein Tun geben kann, d. h. eine rein worthafte Bestimmung des Liebesgedankens bliebe hinter Jesu eigenem Tun zurück! Das Handeln ist ein grundlegender Bestandteil des joh. Liebesgedankens, der gerade in seiner prinzipiellen Struktur höchst konkret ist! Frucht bringen
Die metaphorische Rede vom ‚Frucht bringen‘ in der Weinstockrede ist ein weiteres Zentrum joh. Ethik184: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie noch mehr Frucht bringt“ (Joh 15,1f). Das ‚Frucht bringen‘ ist ausdrücklich auf das Bleiben im Wort konzentriert; durch die Begegnung mit dem Wort Jesu sind die Glaubenden rein und befähigt, Frucht zu bringen (Joh 15,3). Die Erwählung der Jünger durch Jesus (Joh 15,16) ist die Voraussetzung für das Frucht bringen und zielt zugleich darauf. Alles Sein, Können und Tun der Glaubenden ist nur in der Verbindung mit Jesus zu realisieren; Jesus als der Inbegriff des Lebens und der Liebe ermöglicht den Seinen ein Leben in Glauben und Liebe. Demgegenüber folgt aus der Trennung von Jesus oder der Indifferenz ihm gegenüber die radikale Fruchtlosigkeit. Wer als Jünger keine Frucht bringt, ist bereits aus der lebendigen Verbindung mit Jesus herausgefallen und verfällt dem Gericht (Joh 15,6). Der Vater wird nicht nur durch den Hingang des Sohnes (vgl. Joh 13,31f), sondern auch durch das Fruchtbringen der Jünger verherrlicht. Zum wahren Jüngersein gehören das Bleiben in Jesu Wort, das Leben aus dem Gebet und das Handeln in der Liebe. Dieser Grundzug joh. Denkens wird auch in der Weinstockrede mit deutlichem Rückbezug auf die Fußwaschung unter dem Aspekt der Liebe entfaltet. Das in der Weinstockrede geforderte Fruchtbringen ist nichts anderes als die Liebe. Deshalb kann die Forderung des ‚Bleibens in mir‘ abgewandelt 183 Über die Philosophie sagt Seneca: „Handeln lehrt
die Philosophie, nicht reden“ (Ep 20,2: facere docet Philosophia, non dicere).
184 Zur Auslegung vgl. neben den Kommentaren M. PFEIFFER, Einweisung in das neue Sein (s. o. 6.6), 265–303.
Ethik 691
werden in den Aufruf: ‚Bleibt in meiner Liebe‘ (vgl. Joh 15,9f). Die Liebe vollzieht und konkretisiert sich im Halten der Gebote (vgl. Joh 14,15.21.23). Der Plural entolaı´ („Gebote“) weist ebenso wie die Hingabe des Lebens für die Freunde (Joh 15,13) und der Rückbezug auf die Fußwaschung darauf hin, dass für Johannes das ‚Frucht bringen‘ immer die Handlungsdimension mit einschließt. Die Gebote erweisen im Tun der Liebe ihre Verbindlichkeit. Die auffällige Konzentration der aga´pv/agapa˜n Belege in den Abschiedsreden und ihrem unmittelbaren Kontext (aga´pv 7mal im JohEv/6mal in den Abschiedsreden/ Kontext; agapa˜n 37mal im JohEv/25mal in den Abschiedsreden/Kontext)185 unterstreicht aus textpragmatischer Sicht die Handlungsdimension des Liebesgebotes. Angesichts der konkreten Anfeindungen durch die Welt werden die joh. Christen zur Einheit in der Liebe und damit zu einem Tun aufgefordert. Der durch eine ständige Steigerung der dramatischen Elemente gekennzeichnete Gesamtaufbau des Evangeliums lässt überhaupt keinen Zweifel daran, dass von der Gemeinde ein Handeln in und aus Liebe erwartet wird, das auf die Welt ausstrahlt.
12.6.2 Narrative Ethik Das Hineinwachsen in die Liebe zu Gott, zu Jesus und die gegenseitige Bruderliebe bedürfen der Anleitung und Bewährung. Der 4. Evangelist entfaltet in seinem Evangelium an einzelnen Erzählpersonen die Gefährdungen und das Gelingen dieses Prozesses. Er gestaltet in und mit der Erzählung Charaktere mit Identifikationspotential186, die Modelle ethischen Verhaltens anbieten. Eine erste Identifikationsfigur auf dem Weg zum bekennenden Glauben ist Nikodemus187. Zunächst führt ihn der Evangelist als einen wahrhaft Fragenden ein (Joh 3,1–12), der dann Jesus indirekt verteidigt (Joh 7,50f), bis er zu einem öffentlich Bekennenden wird (Joh 19,39f). Josef von Arimathäa und Nikodemus treten aus der Verborgenheit heraus und bekennen sich durch den Liebesdienst der Grablegung öffentlich zu Jesus. Der Prozess des entstehenden bis hin zum bekennenden und sich bewährenden Glauben wird auch in der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9) erzählt188. Diese Wundergeschichte ist ei-
185 Vgl. ferner: fı´loß 6mal im JohEv/3mal in den Abschiedsreden; file´w 8mal in Joh 1–20/3mal in den Abschiedsreden. 186 Zu den narrativen Strategien des 4. Evangelisten vgl. neben den grundlegenden Arbeiten von A. CULPEPPER und M. W. G. STIBBE (s. o. 12) bes. S. VAN TILBORG, Imaginative Love in John, BIS 2, Leiden 1993; D. R. BECK, The Discipleship Paradigm. Readers and Anonymous Characters in the Fourth Gospel, BIS
27, Leiden 1997; J. L. RESSEGUIE, The Strange Gospel. Narrative Designs and Point of View in John, BIS 56, Leiden 2001. 187 Vgl. hier P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen (s. o. 12.5.1), 106–121. 188 Vgl. M. LABAHN, Der Weg eines Namenlosen – vom Hilflosen zum Vorbild (Joh 9), in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), hg. v. R. Gebauer/M. Meiser, MThSt 76, Marburg 2003,
692 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
ne Illustration und Demonstration der christologischen Aussage Joh 8,12, legitimiert Jesu göttliche Herkunft und weist ihn als von Gott gesandten Wundertäter aus (vgl. Joh 9,7c.16.33). Während die Juden im Unglauben verharren, Jesu Umgang mit der Tradition als Sünde interpretieren (V. 14.16a) und sogar die Tatsächlichkeit des Wunders leugnen, gelangt der Blindgeborene in einem stufenweisen Prozess zur Erkenntnis und zum Bekenntnis der göttlichen Herkunft Jesu, die in dem pisteu´w („ich glaube“) von V. 38 ihren Höhepunkt erreicht. Die vorbildhafte Funktion des Blindgeborenen ist offenkundig; er erhält durch Jesus sein Augenlicht, hält den äußeren Bedrohungen stand und wird durch den Glauben zu einem wahrhaft Sehenden. Demgegenüber verfallen die Juden der Krisis, weil sie im Unglauben verharren (V. 39– 41). Der Blindgeborene ist in einem doppelten Sinn sehend geworden: Er erhielt nicht nur sein Augenlicht, sondern erkannte darüber hinaus, dass Jesus von Gott ist und glaubte an ihn. Demgegenüber sind die Pharisäer nur vermeintlich Sehende, denn sie erkennen in Jesus nicht den Offenbarer und sind somit Blinde, obgleich sie das Augenlicht besitzen (vgl. Joh 9,40f). Johannes bietet mit dem Blindgeborenen seiner Gemeinde ein Handlungs- und Bewährungsmuster an und fordert sie auf, ebenso wie der Blindgeborene durch den Glauben auf Jesu heilendes Handeln zu reagieren. Wenn dies geschieht, öffnet Jesus nicht nur dem Blindgeborenen, sondern auch der Gemeinde die Augen. Sehen heißt somit Glauben, Unglaube hingegen Blindsein. Eine weitere Figurenkonstellation bietet die Lazarusperikope, die sich durch eine Vielzahl von Bewegungen und Perspektiven auszeichnet189. Obwohl Lazarus bereits im ersten Vers erwähnt wird, tritt er selbst als Lebender erst im letzten Vers der Erzählung in Erscheinung. In diesen Spannungsbogen arbeitet Johannes Kurzporträts ein, die mögliche Verhaltensweisen gegenüber Jesus zum Inhalt haben190. Während Marta von Jesu Kommen hört und ihm entgegeneilt, verweilt Maria im Haus, wie es sich für eine trauernde Frau geziemt (vgl. Ez 8,14). In diesem Verhalten kommen unterschiedliche Erwartungen zum Ausdruck: Marta erhofft offenbar auch angesichts der Gegenwart des Todes viel von Jesus, während für Maria die Situation hoffnungslos erscheint (Joh 11,20). Nach dem Offenbarungswort Joh 11,25f, das Jesus als Herrn über Tod und Leben, als wahren Lebensspender ausweist, bekennt nicht nur Marta ihren Glauben. Auch bei Maria vollzieht sich eine Wende, sie fühlt sich unmittelbar angesprochen, wendet sich schnell von ihren Tätigkeiten ab und eilt zu Jesus (Joh 11,29). Beide finden trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere zu Jesus und bleiben so in seiner Liebe (Joh 11,5). Auch das Jesusporträt enthält überra-
63–80; vgl. ferner M. REIN, Die Heilung des Blindgeborenen, WUNT 2.73, Tübingen 1995. 189 Zur narrativen Analyse vgl. E. REINMUTH, Lazarus und seine Schwestern – was wollte Johannes erzählen?, ThLZ 124 (1999), 127–137.
190 Vgl. P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen (s. o. 12.5.1), 195–219.
Ethik 693
schende Züge, wird er doch gerade als Herr über Leben und Tod in seiner wahren Menschlichkeit geschildert. Er liebt die Geschwister (Joh 11,5), weint über den Tod des Lazarus (Joh 11,35) und ergrimmt über den Unglauben (Joh 11,33). Die textexterne Hörer- und Lesergemeinde versteht die Auferweckung des in der Liebe Jesu bleibenden Lazarus nicht nur als Vorabbildung des Geschickes Jesu; sie darf hoffen, dass Jesus an den Glaubenden ebenso handeln wird wie an Lazarus. Der Modell-Jünger und damit das Vorbild/die Identifikationsfigur schlechthin im 4. Evangelium ist der Jünger, „den Jesus liebte“ (Joh 13,23: oÅn vga´pa o LIvsou˜ß). Im Rahmen des Symposions liegt der Lieblingsjünger an der Brust Jesu, so wie Jesus nach Joh 1,18 an der Brust des Vaters lag. Damit wird der Lieblingsjünger zum einzigartigen Exegeten Jesu, der seinerseits der exklusive Exeget Gottes ist! Die Verben agapa˜n (Joh 13,23; 19,26) bzw. fileı˜n (Joh 20,2) ordnen den Lieblingsjünger in hervorgehobener Form der Liebesgemeinschaft von Vater und Sohn zu (vgl. Joh 3,35; 10,17; 15,9; 17,23 f. u. ö.). Ganz bewusst nennt Johannes den Meister-Jünger den ‚Jünger, den Jesus liebte‘, denn er verkörpert in seiner Erkenntnis, seiner Treue, seiner Bewährung und seinem Glauben wie kein anderer das wahre Jüngersein in der Liebeseinheit mit dem Sohn und dem Vater (s. u. 12.7.1). 12.6.3 Die Ethik des ersten Johannesbriefes In keiner anderen ntl. Schrift finden sich absolut und im Verhältnis zur Länge so viele Belege von ‚Liebe‘ (aga´pv 18mal) und ‚Lieben‘ (agapa˜n 28mal) wie im 1 Johannesbrief191. In seiner Grundausrichtung ähnelt der Brief dem Evangelium, die Liebe Gottes ermöglicht und fordert die Liebe der Gemeindeglieder untereinander (1Joh 4,10: „Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns liebte und seinen Sohn sandte zur Sühnung für unsere Sünden“; 1Joh 4,19: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt!“; vgl. 1Joh 2,4ff; 5,1–5 u. ö.). Zugleich weist der Brief aber ein bemerkenswertes eigenständiges Profil auf: 1) Kennzeichnend für den Brief ist eine enge Verflechtung der Liebes- mit der Lichtmetaphorik, die sich im Evangelium so nicht findet (1Joh 2,10f: „Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und Anstoß ist nicht in ihm. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis“). Während im Evangelium ‚Licht‘ christozentrisch gefüllt wird (vgl. Joh 1,4f; 3,19; 9,5; 12,36.46), herrscht im 1Joh deutlich eine theozentrische Konzeption vor: Gott ist Licht und Liebe (vgl. 1Joh 1,5; 4,7–12.19–21). Das Licht als Symbol der göttlichen Lebensfülle verbindet sich mit der Liebe als deren sichtbarer Gestalt. 2) Liebe ist im 1Joh in ein umfassendes kommunikatives Geschehen eingebunden: Wer Gott kennt und aus Gott ist, hält seine Gebote und lebt nicht in der Finsternis, 191 Vgl. zum Gebot der gegenseitigen Liebe in den Johannesbriefen vgl. E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 75–165.
694 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
sondern im Licht, so dass er in der Liebe und der Wahrheit wandelt und der Sünde ebenso entzogen ist wie der Irrlehre des Antichristen. 3) Die Handlungsebene dieses Gesamtgeschehens wird im 1Joh ausdrücklich thematisiert: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass jener sein Leben für uns geopfert hat; auch wir sind verpflichtet, für die Brüder das Leben zu opfern. Jeder, der irdisches Vermögen besitzt, seinen Bruder Not leiden sieht und (gleichwohl) sein Inneres vor ihm verschließt, wie kann in ihm die göttliche Liebe bleiben? Kinder, lasst uns nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern durch Tat und Wahrheit!“ (1Joh 3,16–18). Liebe, Leben, Licht und Wahrheit sind hier aufs engste verknüpft: Ausgangspunkt ist die Liebe Christi, die sich in seiner Lebenshingabe für die Brüder vollzog. Dieses vorbildhafte Verhalten Jesu wird auf die joh. Gemeinde angewendet. Die Liebe Gottes zeigt sich darin, ob reiche Gemeindeglieder sich Glaubensbrüdern in Not verschließen oder tatkräftig helfen. Von den Gliedern der joh. Schule wird also ein konkretes vorbildhaftes soziales Verhalten gefordert, das sich in der Unterstützung bedürftiger Gemeindeglieder realisiert. Von einer Gesinnungsethik sind diese Aufforderungen weit entfernt, es geht ausdrücklich um ein bestimmtes Sozialverhalten, eine Liebe, die sich im Tun realisiert. Einheit in Wort und Tat
Die ethischen Aussagen in den joh. Schriften müssen innerhalb eines prinzipiellen Denkens verstanden werden, das auf die grundlegende Ausrichtung des Lebens zielt, ohne einzelne Verhaltensweisen festzulegen. Die Ethik weist bei Johannes über die reine Handlungsebene hinaus, sie umfasst eine Grundhaltung und Lebensform192. Dies ist keine Schwäche, sondern die Stärke einer ethischen Konzeption, die das Lieben und die Liebe als Wesen Gottes und verpflichtendes Kennzeichen des Menschseins begreift und aus diesem grundsätzlichen Ansatz heraus ein der Liebe entsprechendes Denken und Verhalten erwartet. Der ethische Gehalt von aga´pv/agapa˜n bei Johannes zeigt sich in Jesu Tun, das in der Fußwaschung zugleich Voraussetzung, Ermöglichung und inhaltlicher Maßstab des Liebesdienstes der Jünger ist. Das Bleiben in Jesus, die Einheit im Wort ist immer auch eine Einheit im Tun, denn am Anfang steht der Liebesdienst Jesu am Kreuz, dem nur durch ein Handeln in und aus Liebe entsprochen werden kann. Nichts ist konkreter als die Liebe!
12.7 Ekklesiologie E. SCHWEIZER, Der Kirchenbegriff im Evangelium und den Briefen des Johannes, in: ders., Neotestamentica, Zürich 1963, 254–271; J. HEISE, Bleiben, HUTh 8, Tübingen 1967; G. RICHTER, Zum 192 Vgl. auch J. G. VAN DER WATT, Ethics and Ethos (s.o. 12.6), 166–175, der zu Recht den Liebesgedanken in interpersonalen Relationen realisiert sieht, zu
denen er vor allem die gemeinsamen Mahle, die Fußwaschung und die Mission der johanneischen Schule zählt.
Ekklesiologie 695
gemeindebildenden Element in den johanneischen Schriften, in: ders., Studien (s. o. 12), 383– 414; W. A. MEEKS, Die Funktion des vom Himmel herabgestiegenen Offenbarers für das Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde (s. o. 12.2.2); U. WILCKENS, Der Paraklet und die Kirche, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 185–203; A. LINDEMANN, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, in: Kirche (FS G. Bornkamm) a. a. O., 133–161; R. E. BROWN, Ringen um die Gemeinde, Salzburg 1982; T. ONUKI, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, WMANT 56, Neukirchen 1984; M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums, FzB 55, Würzburg 1987; U. SCHNELLE, Johanneische Ekklesiologie, NTS 37 (1991), 37–50; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 290–309; D. RUSAM, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes, BWANT 133, Stuttgart 1993; J. FERREIRA, Johannine Ecclesiology, JSNT.S 160, Sheffield 1998; U. WILCKENS, Zum Kirchenverständnis in den johanneischen Schriften, in: ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde, FRLANT 200, Göttingen 2003, 56–88; J. TH. PAMPLANIYIL, Crossing the Abysses. An Exegetical Study of John 20: 19–29 in the Light of the Johannine Notion of Discipleship, Diss. theol., Leuven 2006.
In der Johannesexegese war die Ekklesiologie lange Zeit nur ein Randthema. Wo die Erwähnungen von Taufe und Abendmahl in Joh 3,5; 6,51c–58; 19,34b–35 für literarisch sekundär erklärt werden und allein eine begrifflich orientierte Christologie für interpretationswürdig gehalten wurde, stellte sich die theologische Sachfrage nach der Gestalt der joh. Ekklesiologie letztlich nicht mehr umfassend193. Die Wahrnehmung verändert sich, wenn man die hermeneutische Perspektive und den Grundgedanken der joh. Theologie umfassend ernst nimmt194: Johannes bedenkt in der nachösterlichen Anamnese unter der Führung des Parakleten die Menschwerdung des Göttlichen. Zu der Gestaltwerdung des Göttlichen gehört nach joh. Überzeugung auch der Raum der Gemeinde.
12.7.1 Eckpunkte: Paraklet und Lieblingsjünger Der für jede Ekklesiologie grundlegende Gedanke der historischen Kontinuität wird von Johannes in besonderer Weise entfaltet: Paraklet und Lieblingsjünger verbinden die Jetztzeit der joh. Gemeinde mit dem Ursprungsgeschehen und verbürgen so die Einzigartigkeit der joh. Theologie.
193 Vgl. R. BULTMANN, Theologie, 443: „Es fehlt auch
jedes spezifisch ekklesiologische Interesse, jedes Interesse an Kultus und Organisation“; E. KÄSEMANN, Jesu letzter Wille (s. o. 12), 65, der zu den Auffälligkeiten des 4. Evangeliums rechnet, „daß es keine explizite Ekklesiologie zu entwickeln scheint.“
194 Das Fehlen von ekklvsı´a („Kirche“) im Johannesevangelium besagt sachlich überhaupt nichts, denn auch bei Markus fehlt dieser Begriff, ohne dass ihm eine ekklesiologische Konzeption abgesprochen werden kann!
696 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
Der Paraklet
Die ekklesiologische Dimension joh. Theologie zeigt sich deutlich in der Parakletvorstellung (s. o. 12.3.2). Das Kommen des Parakleten setzt Jesu andauernden Fortgang zum Vater (vgl. Joh 16,7, ferner 7,39; 20,22) und das bewusste Leben der joh. Gemeinde in der Zeit (vgl. Joh 17,15) voraus und offenbart zugleich in einzigartiger Weise das Selbstverständnis der joh. Schule: Der Paraklet ist bei der Gemeinde bis in Ewigkeit (Joh 14,16), er erinnert die Gemeinde an das von Jesus Gesagte (Joh 14,26), er zeugt von Jesus (Joh 15,26), er überführt den Kosmos (Joh 16,8), er verkündigt den Jüngern das Zukünftige (Joh 16,13) und verherrlicht Jesus in der Gemeinde (Joh 16,14). Damit weiß sich die joh. Schule umfassend in der Gegenwart vom Vater und vom Sohn bestimmt, die den Parakleten senden (vgl. Joh 14,16.25; 15,26; 16.7). Wenn der Paraklet nicht nur an die Worte Jesu erinnert, sondern die Gemeinde in Zukunft umfassend lehrt (Joh 14,26), dann nimmt die joh. Schule für sich in Anspruch, auch in der Zeit zwischen Ostern und Parusie in besonderer Weise mit dem Sohn und dem Vater verbunden zu sein195. Der Lieblingsjünger
So wie der Paraklet die Gegenwart der Gemeinde bestimmt und ihre Zukunft erschließt, verbindet der Lieblingsjünger196 die Gemeinde in einzigartiger Weise mit der Vergangenheit des Erdenwirkens Jesu. Mit dem Lieblingsjünger verbindet Johannes literarische, theologische und historische Strategien. Literarisch erscheint der Lieblingsjünger als ein Modell-Jünger, der im Text Bewegungen vollzieht, innerhalb derer sich die Hörer/Leser selbst konstituieren können. In Joh 1,37–40 und 18,15–18 muss der Lieblingsjünger in den Text eingetragen werden, er fungiert als ‚Leerstelle‘, die besetzt werden muss, damit der Text funktioniert197. Theologisch ist der Lieblingsjünger vor allem Traditionsgarant und idealer Zeuge des Christusgeschehens. Der Lieblingsjünger wurde vor Petrus berufen (Joh 1,37–40), er ist der Hermeneut Jesu und der Sprecher des Jüngerkreises (Joh 13,23–26a). In der Stunde der Anfechtung bleibt er seinem Herrn treu (Joh 18,15–18) und wird so zum wahren Zeugen unter dem Kreuz und zum exemplarischen Nachfolger Jesu (Joh 19,25- 27). Die Szene unter dem Kreuz ist die Gründungslegende der joh. Gemeinde: Maria repräsen-
195 Vgl. F. MUSSNER, Sehweise (s. o. 12), 56–63. 196 Zum Lieblingsjünger vgl. A. KRAGERUD, Der Lieb-
lingsjünger im Johannesevangelium, Oslo 1959; J. ROLOFF, Der johanneische ‚Lieblingsjünger‘ und der Lehrer der Gerechtigkeit, NTS 15 (1968/69), 129–151; T. LORENZEN, Der Lieblingsjünger im Johannesevangelium, SBS 55, Stuttgart 1971; J. KÜGLER, Der Jünger, den Jesus liebte, SBB 16, Stuttgart 1988, R. BAUCKHAM, The Beloved Disciple as Ideal Author, JSNT 49 (1993), 21–44; L. SIMON, Petrus und der
Lieblingsjünger im Johannesevangelium, EHS 23.498, Frankfurt 1994; R.A. CULPEPPER, John. The Son of Zebedee. The Life of a Legend, Columbia 1994; J. H. CHARLESWORTH, The Beloved Disciple, Valley Forge 1995; M. THEOBALD, Der Jünger, den Jesus liebte, in: Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), hg. v. H. Lichtenberger u. a., Tübingen 1996, 219–255. 3 197 Vgl. U. ECO, Lector in fabula, München 1998, 63 f.
Ekklesiologie 697
tiert die Glaubenden aller Zeiten, die wie sie selbst an den Lieblingsjünger gewiesen sind. Vom Kreuz herab setzt Jesus seine Gemeinde ein, die sich wie Maria in die Obhut des Lieblingsjüngers begeben darf. Die Stunde der Kreuzigung wird so bei Johannes zur Stunde der Geburt der Kirche! Der Lieblingsjünger bestätigt den wirklichen Tod Jesu am Kreuz (Joh 19,34b.35) und erkennt als erster die eschatologische Dimension des Ostergeschehens (Joh 20,2–10). In der durchgehend vom Evangelisten Johannes198 eingeführten Gestalt des Lieblingsjüngers verdichten sich typologische und individuelle Züge199. Keineswegs ist der Lieblingsjünger als historische Person „ganz und gar eine Fiktion“200, denn Joh 21,22.23 setzt seinen unerwarteten Tod voraus, was die Herausgeber des Johannesevangeliums zu einer Korrektur der Personaltraditionen über den Lieblingsjünger und seines Verhältnisses zu Petrus veranlasste. Verkörperte der Lieblingsjünger nur als literarische Fiktion einen Typus oder ein theologisches Prinzip, dann wären sowohl seine durchgehende Konkurrenz zu Petrus als auch seine Funktion als anerkannter Traditionsgarant nicht überzeugend201. Historisch wie theologisch ist es am plausibelsten, im Lieblingsjünger den Presbyter des 2/ 3 Johannesbriefes zu sehen, der wiederum mit dem bei Papias erwähnten Presbyter Johannes identisch ist (vgl. Euseb, HE III 39,4). Als Begründer der joh. Schule erscheint der Presbyter bereits im 2/3 Johannesbrief als besonderer Traditionsträger; eine Funktion, die der Evangelist aufnahm und ausweitete. Indem er den Gründer der joh. Schule nachösterlich zum vorösterlichen wahren Augenzeugen und Garanten der Tradition macht, repräsentiert der Lieblingsjünger die nachösterlichen joh. Jünger im Raum der vorösterlichen Jünger! So schließt sich der Kreis: Mit dem Lieblingsjünger und dem Parakleten vollzieht der Evangelist eine doppelte Verschränkung der Zeitebenen nach vorn und hinten, wobei Ostern jeweils zugleich Mitte und Ausgangspunkt ist. So weiß sich die joh. Schule in besonderer Weise mit dem irdischen und dem erhöhten Jesus Christus verbunden. 12.7.2 Die Sakramente Die Bedeutung von Taufe und Eucharistie im Johannesevangelium ergibt sich sachgemäß aus dem Grundbekenntnis des joh. Glaubens: In Jesus Christus wurde Gott Mensch und ist Gott gegenwärtig. Taufe und Eucharistie verleihen diesem Gedanken unmittelbaren Ausdruck. In der Taufe vollzieht sich der Übergang von der Sphäre der Sarx in den Lebensbereich Gottes durch die Pneumagabe (Joh 3,5), die ihrerseits 198 Vgl. T. LORENZEN, Der Lieblingsjünger, 73. 199 Vgl. W. GRUNDMANN, Zeugnis und Gestalt des Jo-
hannesevangeliums, AzTh 7, Stuttgart 1961, 18: „Der Lieblingsjünger ist ebenso Individuum und Typus; stirbt er als Individuum, so bleibt er als Typus.“ 200 A. KRAGERUD, Lieblingsjünger, 149. 201 Zu den wichtigsten Lösungsvorschlägen (Zebe-
daide Johannes, Evangelist Johannes, Presbyter Johannes, Lazarus, Johannes Markus, Paulus, Repräsentant des Heidenchristentums, anonymer Gemeindelehrer) vgl. die Überblicke bei J. KÜGLER, Der Jünger, den Jesus liebte, 439–448; R. A. CULPEPPER, John. The Son of Zebedee, 72–88.
698 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
aus der Inkarnation, dem Tod und der Verherrlichung Jesu Christi hervorgeht. Mit ihrer Taufpraxis erweist sich die joh. Schule in zweifacher Hinsicht als legitime Fortsetzerin des Wirkens Jesu: 1) Sie führt mit der Taufe das Werk des geschichtlichen Jesus weiter (Joh 3,22.26; 4,1). 2) Zugleich gewährt sie in der Taufe Anteil am Heilswirken des erhöhten Jesus Christus202. Zugespitzt artikuliert sich der inkarnatorische Grundzug der joh. Theologie im eucharistischen Abschnitt Joh 6,51c–58. Er wurde vom Evangelisten verfasst und an die traditionelle Lebensbrotrede Joh 6,30–35.41–51b angefügt203, um eine zentrale christologische Aussage zu formulieren: In der Eucharistie erkennt die joh. Schule die Identität des erhöhten Menschensohnes mit dem Inkarnierten und Gekreuzigten. Der Präexistente und Erhöhte ist kein anderer als der wahrhaft Mensch gewordene und am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth. Gerade beim Herrenmahl verdichten sich christologische, soteriologische und ekklesiologische Momente, denn als Ort der heilvollen Gegenwart des Inkarnierten, Gekreuzigten und Verherrlichten lässt das Herrenmahl dem Glaubenden die Gabe des ewigen Lebens zuteil werden. Die vom Evangelisten Johannes eingeführte Erwähnung von aıma kai` uÇdwr („Blut und Wasser“) in Joh 19,34b und das Zeugnis des Lieblingsjüngers in 19,35 unterstreichen diese Interpretation. Jesu wahrer Tod hat seine wahre Menschwerdung zur Voraussetzung, beides wiederum ist die Ermöglichung der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die sich in Taufe und Eucharistie realisiert. Gerade in den Sakramenten zeigt sich die ekklesiologische Dimension des joh. Christusbildes, denn sie sind im Leben und Sterben des geschichtlichen Jesus von Nazareth begründet und gewähren zugleich im Raum der Gemeinde die Gaben der Neuschöpfung (Joh 3,5) und des ewigen Lebens (Joh 6,51c–58). Auch aus ritualtheoretischer Sicht ist es unhaltbar, dem 4. Evangelisten jegliches Interesse an den Sakramenten abzusprechen. Rituale wie die Taufe und die Eucharistie als Verdichtungen von Wirklichkeit können kollektive Identitäten stabilisieren und erhalten. Ihre lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke „von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen“204 zu schlagen. Rituale sind wie Symbole eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung205 und Johannes bedient sich ihrer (vgl. Joh. 3,5; 13,1–20), um den zentralen Gedanken seiner Sinnbildung ein unverkennbares Profil zu geben: Der inkarnierte, gekreuzigte und auferstandene, in der Taufe und der Eucharistie gegenwärtige Jesus Christus ist der wahre Lebensspender.
202 Vgl. zum joh. Taufverständnis U. SCHNELLE, Anti-
doketische Christologie (s. o. 12.2), 196–213; TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2), 233 ff. 203 Vgl. hierzu TH. POPP, a. a. O., 360 ff.
204 A. SCHÜTZ/TH. LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt II (s. o. 1.2) , 95. 205 Vgl. dazu C. GEERTZ, Dichte Beschreibung (s. o. 6.2.7), 44 ff.
Ekklesiologie 699
12.7.3 Die Jünger Die Jünger insgesamt sind Prototypen und damit auch Identifikationsfiguren des Glaubens an Jesus206. Sie müssen nicht berufen werden, sondern folgen Jesus von sich aus (Joh 1,37.40–42), erst an Philippus ergeht Jesu Nachfolgeruf (Joh 1,43). In Joh 1,35–51 erkennt die textexterne joh. Gemeinde in der Berufung der ersten Jünger die Anfänge ihrer eigenen Geschichte, die eng mit dem Wirken des Täufers verbunden ist. Anschaulich wird dargestellt, wie Menschen suchen und zu Jesus finden, um dann ihrerseits durch das Bekenntnis zum Messias wiederum Menschen in die Nachfolge zu rufen. Verben der Bewegung und Wahrnehmung herrschen vor, die Begegnung mit Jesus kann nicht folgenlos bleiben! Die Jüngerberufungen als erste joh. Begegnungsgeschichten verdeutlichen bereits, dass Suchen und Finden als Grundelemente religiösen Seins in Jesus ihre Erfüllung finden. Dabei zielt das Modell der indirekten Jüngerberufung unmittelbar auf die Gemeinde des Evangelisten, sie befindet sich in der Situation der vermittelten Nachfolge. Die Jüngerberufungen entfalten eine Dynamik, die das gesamte Johannesevangelium bestimmt: Auf seinem Offenbarungsweg begegnet Jesus Christus immer wieder Menschen und eröffnet ihnen und damit der textexternen Gemeinde Zugänge zum Geheimnis seiner Person207. Jesu öffentliches Wirken vollzieht sich von Anfang an vor ‚den Jüngern‘ (Joh 2,1– 10) und führt zum Glauben (Joh 2,11b: „und seine Jünger glaubten an ihn“). Als Begleiter ihres Herrn und Zeugen der Wunder und Reden Jesu erscheinen die Jünger in hervorgehobener Stellung auch in Joh 2,22; 3,22; 4,27–38; 6,1–15.16–25. Im Anschluss an den eucharistischen Abschnitt (Joh 6,51c–58) kommt es zu einem Schisma unter den Jüngern (Joh 6,60–66) und zum Petrusbekenntnis (Joh 6,66–71). Hier sind die Texte transparent für die aktuelle joh. Gemeindesituation, denn im Hintergrund von Joh 6,60–66 steht eine Spaltung innerhalb der joh. Schule (vgl. 1Joh 2,19), die sich an der soteriologischen Bedeutung der irdischen Existenz Jesu entzündete und bei der die Eucharistie offensichtlich eine wichtige Rolle spielte208. Programmatisch ist die Bezeichnung der Jünger als oı ıdioi („die Seinen“) in Joh 13,1, mit der die joh. Gemeinden auch ihr besonderes Verhältnis zu ihrem Herrn ausdrü-
206 Vgl. dazu R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium III (s. o. 12), 233–237; K. SCHOLTISSEK, Kinder Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur johanneischen Ekklesiologie, in: Ekklesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertelge), hg. v. R. Kampling/Th. Söding, Freiburg 1996, 184–211; T. NICKLAS, Ablösung und Verstrickung. „Juden“ und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser, RSTh 60, Frankfurt 2001.
207 Vgl. hierzu K. SCHOLTISSEK, „Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), MThZ 48 (1997), 103–121; P. DSCHULNIGG, Jesus begegnen (s. o. 12.5.1), 36–54.82–89. 208 Vgl. dazu TH. POPP, Die Kunst der Wiederholung. Repetition, Variation und Amplifikation im vierten Evangelium am Beispiel von Johannes 6,60–71, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), 559–592.
700 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
cken: Sie gehören zu Jesus, er ist ihr Hirte (Joh 10,11.15), sie zählen zu seinen eigenen Schafen (Joh 10,3.4). Die joh. Christen folgen nicht fremden Eindringlingen, sie halten sich treu und unbeirrbar zu ihrem Hirten. Es gilt: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich“ (Joh 10,14b). Auch die anderen ekklesiologischen Selbstbezeichnungen oı fı´loi („die Freunde“ in Joh 15,14), te´kna heou˜ („Kinder Gottes“ in Joh 1,12; 11,52; 13,33) und adelfoı´ („Brüder“ in Joh 20,17) unterstreichen die enge Gemeinschaft der joh. Christen mit dem Erhöhten. Im geschützten Raum eines Mahles (Joh 13,1–20) spricht Jesus in den Abschiedsreden209 die Jünger vor allem als ‚Freunde‘ an (Joh 15,13.14.15). In aller Offenheit kann die Wahrheit gesagt und darin die Freundschaft gepflegt werden, so dass die Abschiedsreden eine Art der Freundschaftspflege sind. Das Liebesgebot (Joh 13,34.35), die Weinstockrede (Joh 15,1–8) mit dem Motiv des ‚Bleibens‘, die Parakletsprüche (Joh 14,16.17.26; 15,26; 16,7–11.13–15) und die Sendungsaussagen (Joh 17,18–23) unterstreichen jeweils die ekklesiologischen Dimensionen der Abschiedsreden, denn hier spricht sich der Glaube der joh. Schule z.Zt. der Abfassung des Evangeliums aus: Sie sieht die Verheißungen an die textinternen Jünger als erfüllt an, weiß sich geleitet vom Parakleten und bezeugt und verkündet Gottes Heilstat in Jesus Christus für die Welt.
12.7.4 Sendung und Mission Das Johannesevangelium und seine Jüngerdarstellung finden im Sendungsbefehl (Joh 20,21–23) und in der Thomasperikope (Joh 20,24–29) einen sachgemäßen Abschluss, denn hier verschränkt sich die Gegenwart des Erhöhten mit der gegenwärtigen Situation der Gemeinde in der Welt. Sie weiß sich durch den Erhöhten selbst zur Mission und zum vollmächtigen Umgang mit den Sündern berufen. In Joh 20,21 begründet und fordert die Sendung des Sohnes in die Welt die Sendung der Jünger innerhalb der Welt210. Nicht zufällig beauftragt der Auferstandene seine Jünger, denn mit dem Abschluss des irdischen Wirkens des Sohnes ergeht die Sendung an die Jünger. Durch die Gabe des Geistes werden sie zu ihrer Aufgabe befähigt und bevollmächtigt, Sünden zu vergeben, d. h. Menschen aus dem Bereich des Todes in den Lebensbereich Gottes zu holen. Der Auferstandene schließt die Jünger in das Leben ein, mit dem er selbst vom Vater ausgestattet wurde. So wie der Sohn die Gabe des Geistes vom Vater empfing (Joh 1,33; 3,34), so die Gemeinde vom Sohn (Joh 20,22). Weil Jesu Tod und Erhöhung die Voraussetzung und die Begründung für die Mission der joh. Schule sind, finden sich vor allem im ‚Hohenpriesterlichen Gebet‘ Joh 209 Vgl. zur Analyse von Joh 15–17 unter ekklesiologischen Aspekten T. ONUKI, Gemeinde und Welt (s. o. 12.7), 117–182.
210 Zur Analyse vgl. M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums (s. o. 12.7), 257–276.
Ekklesiologie 701
17 Sendungsaussagen mit missionstheologischer Perspektive211. In Joh 17,15 bittet Jesus den Vater ausdrücklich, die Jünger und damit die Gemeinde nicht aus der Welt zu nehmen, vielmehr: „Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ (Joh 17,18). Hier ist der Sendungsauftrag Jesu an die Jünger wesensgleiche Fortsetzung der Sendung Jesu durch den Vater. So wie Jesus in die Welt kam, um Glauben zu wecken und Heil zu bringen, so sind auch die Jünger gesandt, ıÇna o ko´smoß pisteu´U oÇti su´ me ape´steilaß (Joh 17,21c: „damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“; vgl. V. 23c). In Joh 17,20 bittet Jesus sogar für jene, die durch die Verkündigung der Jünger zum Glauben gekommen sind, was deutlich auf eine Missionstätigkeit der joh. Schule hinweist. Programmatisch erscheint Jesus als Missionar in Joh 4,5–42212. Alle Initiative geht von ihm aus, er spricht die Frau aus Samaria am Jakobsbrunnen an (4,7b), offenbart sich ihr als das Wasser des Lebens (4,14b) und als der Messias (4,26). Es kommt zu einem gegenseitigen Erkennen zwischen Jesus und der Frau. Wie Jesus die Frau in ihrem Wesen erkennt und ihre Vergangenheit aufdeckt, so erkennt sie die messianische Bedeutung der Person Jesu. Dies führte die Samaritaner zu Jesus (4,27–30), und durch Jesu Wort gelangen sie zur entscheidenden Erkenntnis: „Dieser ist wahrhaft der Retter der Welt“ (4,42). Die Erntemetaphorik in Joh 4,38 verweist auf das nachösterliche missionarische Wirken der Jünger, das in einem kontinuierlichen Zusammenhang mit der Sendung und dem Wirken Jesu steht. In Jesu Verhalten gegenüber der Samaritanerin wird exemplarisch deutlich, daß der Missionar und die/der Missionierte zu einer kulturellen und theologischen Grenzüberschreitung aufgefordert sind. Die zum Glauben gekommene Frau aus Samaria wird selbst zur Missionarin, indem sie ihren Landsleuten Jesus verkündigt (4,29) und für ihn Zeugnis ablegt (4,39). Menschen werden von Jesus gerufen, gesammelt und zum Glauben geführt, um dann selbst missionarisch zu wirken. Die nachösterliche Missionstätigkeit zeigt sich auch in der merkwürdigen Erwähnung der NEllvneß („Griechen“) in Joh 7,35 f; 12,20–22213. Nach Joh 12,20–22 wollen Griechen am Passafest Jesus sehen. Sie können aber nicht direkt zu ihm kommen, sondern bedürfen der Vermittlung der Jünger. Zur Abfassungszeit des 4. Evangeliums gehörten offensichtlich gebürtige Griechen zur joh. Schule. Darauf weist
211 Zur Auslegung vgl. R. SCHNACKENBURG, Struktur-
analyse von Joh 17, BZ 16 (1973), 67–78; 17 (1974) 196–202; H. RITT, Das Gebet zum Vater, fzb 36, Würzburg 1979; M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums (s. o. 12.7), 222–255; M. TH. SPRECHER, Einheitsdenken aus der Perspektive von Joh 17, EHS 23.495, Frankfurt 1993. 212 Vgl. hier T. OKURE, The Johannine Approach to Mission, WUNT 2.31, Tübingen 1989. 213 Vgl. dazu J. FREY, Heiden – Griechen – Gotteskin-
der, in: Die Heiden, hg. v. R. Feldmeier/U. Heckel, WUNT 70, Tübingen 1994, 228–268. Zur Bedeutung der Heidenmission bei Johannes vgl. ferner M. R. RUIZ, Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums (s. o. 12.7), 73–162. Die Johannesbriefe setzen sowohl eine rege Tätigkeit johanneischer Wandermissionare (vgl. 2Joh 7a; 3Joh 3, 6, 8, 12; 1Joh 4. 1b) als auch planmäßige Heidenmission (3Joh 5–8) voraus.
702 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
auch Joh 10,16 hin, wo Jesus von Schafen spricht, die nicht aus diesem Stall sind und die er sammeln will (vgl. Joh 11,52 mit dem Motiv der Sammlung der ‚zerstreuten Kinder Gottes‘). Auch das ‚Fruchtbringen‘ in Joh 15,2ff; 17,3.9 ist ein missionarisches Motiv, denn so wie Jesus den Heilswillen des Vaters verwirklichte, so tun es die Jünger in der Mission. Sie werden sogar noch ‚größere Werke‘ tun als der Sohn (Joh 14,12). Sowohl in der Sendung des Sohnes als auch in der Verkündigung der joh. Schule setzt sich Gottes Heilswille für die Welt durch. Deshalb nimmt der, der die von Jesus Gesandten aufnimmt, den Herrn selbst auf (Joh 13,20). Schließlich ist es innerhalb der joh. Missionskonzeption konsequent, dass Jesus selbst taufte (Joh 4,1), da sein Heilswirken das Urbild, die Begründung und die Norm der Mission ist. Die Bedeutung des Missionsgedankens ergibt sich aus der Grundüberzeugung der joh. Theologie, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde, um den Menschen das Heil zu eröffnen.
12.8 Eschatologie R. BULTMANN, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums, in: ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 81980, 134–152; G. STÄHLIN, Zum Problem der johanneischen Eschatologie, ZNW 33 (1934), 225–259; L. VAN HARTINGSVELD, Die Eschatologie des Johannesevangeliums, Assen 1962; J. BLANK, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg 1964; G. RICHTER, Präsentische und futurische Eschatologie im 4. Evangelium, in: ders., Studien (s. o.12), 346–382; J. BECKER, Die Auferstehung der Toten, SBS 82, Stuttgart 1976, 117–148; J. NEUGEBAUER, Die eschatologischen Aussagen in den johanneischen Abschiedsreden, BWANT 140, Stuttgart 1995; A. HAMMES, Der Ruf ins Leben. Eine theologisch-hermeneutische Untersuchung zur Eschatologie des Johannesevangeliums mit einem Ausblick auf ihre Wirkungsgeschichte, BBB 112, Bodenstein 1997; J. FREY, Die johanneische Eschatologie I.II.III (s. o. 12); H.CHR. KAMMLER, Christologie und Eschatologie, WUNT 126, Tübingen 2000; H.-J. ECKSTEIN, Die Gegenwart im Licht der erinnerten Zukunft. Zur modalisierten Zeit im Johannesevangelium, in: ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben, Münster 2003, 187–206.
Die theologische Beurteilung der joh. Zeitvorstellungen ist umstritten. Während in der älteren Forschung häufig ein Gegensatz zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie gesehen und Texte wie Joh 5,28.29; 6,39.40.44.54; 11,25f; 12,48 einer sekundären Bearbeitungsschicht zugeschrieben wurden, mehren sich in der neueren Exegese die Stimmen, die sowohl die präsentischen als auch die futurischen Aussagen als genuine Bestandteile der joh. Konzeption ansehen214. Methodisch muss auch 214 Ausführliche Darstellung der Diskussion und der einzelnen Positionen bei J. FREY, Die johanneische Eschatologie I (s. o. 12), passim; vgl. ferner DERS., Eschatology in the Johannine Circle, in: G. van Belle/ J.G. van der Watt/P. Maritz (Hg.), Theology and
Christology in the Fourth Gospel, (s. o. 12), 47–82. F. HAHN, Theologie I, 597, hält an der Klassifizierung von Joh 5,28f; 6,39.40.44 als ‚deuterojohanneischer Nachträge‘ fest.
Eschatologie 703
hier die hermeneutische Perspektive des 4. Evangelisten den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden: die nachösterliche Anamnese. Die im Evangelium dominierenden präsentischen Aussagen decken das gesamte Spektrum der joh. Eschatologie nicht ab, vielmehr erfordert gerade der spezifisch joh. Denkansatz auch futurisch-eschatologische Aussagen. Die nachösterliche Anamnese vollzieht sich bereits in einem Zeitabstand, von der textinternen Ebene des Evangeliums aus gesehen befinden sich die joh. Christen bereits in der Zukunft, so dass sie gerade futurisch-eschatologische Aussagen auf ihre Gegenwart beziehen dürfen. Der Glaube hebt die Zeit nicht auf, sondern gibt ihr eine neue Qualität und Ausrichtung.
12.8.1 Die Gegenwart Die starke Betonung der Gegenwart resultiert aus der elementaren Erfahrung und Überzeugung, dass das Heilsereignis in Jesus Christus nicht der Vergangenheit angehört, sondern in seinen soteriologischen Dimensionen unmittelbar gegenwärtig ist: in den Sakramenten und im Wirken des Parakleten. Daher verschränken sich bei Johannes die Zeit- und Raumebenen215. Die im antiken Weltbild getrennten Räume des göttlichen ‚Oben‘ und des irdischen ‚Unten‘ sind in Jesus Christus vereint. Der ‚von oben‘ stammende Offenbarer geht wirklich in den Bereich des Irdischen ein. Die glaubende Gemeinde wird in dieses Ineinandergehen der Räume hineingenommen. In der Taufe als Wiedergeburt ‚von oben/von neuem‘ (Joh 3,3.7) erfährt die Existenz des Glaubenden eine neue Ausrichtung. In der Eucharistie empfängt die joh. Gemeinde das vom Himmel herabgestiegene Lebensbrot. Joh 6,51a.b: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist. Wer von diesem Brot isst, wird leben in Ewigkeit“ (vgl. Joh 6,33.50.58). Im Parakleten ist der himmlische Offenbarer auch nach der Erhöhung in seiner Gemeinde gegenwärtig, der grundlegende Unterschied zwischen Himmel und Erde wird gerade im Parakleten aufgehoben. Präsentische Eschatologie
Der Verschränkung der Räume entspricht bei Johannes eine Verschränkung der Zeitebenen; traditionell zukünftige Vorgänge reichen bei ihm bereits in die Gegenwart hinein. Unübersehbar ist die Dominanz präsentisch-eschatologischer Aussagen im 4. Evangelium. Im Glauben ist das Heilsgut des ewigen Lebens gegenwärtig, folgerichtig vollzieht sich der Schritt vom Tod zum Leben nicht in der Zukunft, sondern er liegt für den Glaubenden bereits in der Vergangenheit (Joh 5,24: „Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; und er kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben hinü215 Vgl. J.-A. BÜHNER, Denkstrukturen im Johannes-
evangelium (s. o. 12.3.2), 224 ff.
704 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
bergeschritten“). Es gilt: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht schauen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh 3,36; vgl. ferner 6,47; 8,51; 11,25f). Weil in der Gegenwart die Entscheidung über die Zukunft gefallen ist, sind die Glaubenden bereits durch das Gericht hindurchgeschritten (Joh 3,18; 12,48)216. Der Glaube gewährt jetzt vollgültigen Anteil am Leben; wer dem Sohn hingegen nicht gehorcht, wird das Leben nicht schauen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm (vgl. Joh 5,14.26). Auch in die Vergangenheit ragt die Gegenwart hinein: „Ehe Abraham war, bin ich“ (Joh 8,58). Schon Mose schrieb von Jesus (Joh 5,46), und Jesus war bereits vor dem Täufer (Joh 1,15.30). Die präsentische Eschatologie entspricht dem inkarnatorischen Grundzug der joh. Christologie: Die Entscheidung über Leben und Tod fällt in der gegenwärtigen Begegnung mit Jesus Christus. Die Glaubenden wissen sich deshalb bereits in der Gegenwart dem Bereich des Todes entzogen, denn ihre Existenz als Neuschöpfung aus Wasser und Geist ist ‚aus Gott‘ und nicht mehr dem Kosmos verhaftet.
12.8.2 Die Zukunft Die präsentischen Aussagen decken nicht das gesamte Spektrum der joh. Eschatologie ab217. Dies zeigt bereits Joh 5,25, wo trotz des Vorherrschens präsentischer Eschatologie die Zukunft nicht ausgeblendet wird: „Amen, amen, ich sage euch: Es kommt die Stunde und sie ist schon da (ercetai wÇra kai` nu˜n estin), dass die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden und die sie hören, werden leben.“ Das scheinbar paradoxe Nebeneinander der Wendung ercetai wÇra kai` nu˜n estin und der Futurformen in V. 25bc (akou´sousin, zv´sousin) lassen das bi-temporale Denken des Evangelisten deutlich erkennen: Die textinterne Jetzt-Zeit eines Jesuswortes und die Möglichkeit einer Realisierung dieses Wortes können nicht auf einer Zeitstufe liegen, sondern erfordern ein Zeitkontinuum. Futurische Eschatologie
In den Johannesbriefen (vgl. 2Joh 7; 1Joh 2,18.25.28; 3,2f; 4,17) und im Evangelium finden sich weitere futurisch-eschatologische Aussagen, die sich nicht literarkritisch eliminieren lassen. In den Abschiedsreden, deren eigentlicher Adressat die textexterne Hörer- und Lesergemeinde ist218, eröffnet Johannes gerade auf der Basis gegen-
216 Zum johanneischen Gerichtsgedanken vgl. O. GROLL, Finsternis, Tod und Blindheit als Strafe, EHS 23.781, Frankfurt 2004. 217 Gegen R. BULTMANN u. a., die lediglich die präsentischen Aussagen als ‚genuin‘ johanneisch ansehen.
Zu Bultmanns Argumentation vgl. exemplarisch die Auslegung von Joh 5,24–30; DERS., Joh (s. o. 12), 183–197. 218 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Abschiedsreden (s. o. 12.3.2), 66 ff.
Eschatologie 705
wärtigen Heils der joh. Gemeinde eine Zukunft, die vom Wirken des Geistes und der Parusieerwartung geprägt ist. Sie soll nach dem Willen des Vaters und des Sohnes bewusst in der Welt leben (vgl. Joh 17,15a: „Ich bitte dich nicht, dass du sie aus der Welt nimmst“), wo sie den Bedrängnissen der Zeit ausgesetzt ist (vgl. z. B. Joh 15,18: „Wenn euch die Welt hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat“). Dabei darf sie ausdrücklich auf das zukünftige Handeln des Sohnes und des Vaters hoffen, wie Joh 14,2f zeigt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen; wäre es nicht so, hätte ich euch sonst gesagt: Ich gehe hin, um euch eine Stätte zu bereiten? Wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, dann komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr seid, wo ich bin.“ Auffällig sind zwei Aussagen: 1) Jesus bereitet nach seinem Fortgang Wohnungen für die Gläubigen im Himmel. 2) Jesus wird vom Himmel kommen, um die Seinen zu sich zu holen. Damit kann nur die Parusie des Erhöhten gemeint sein, was durch den apokalyptischen Traditionshintergrund (vgl. äthHen 14,15–23; 39,4–8; 41,2; 48,1; 71,5–10.16; slawHen 61,2; ApkAbr 17,16; 29,15) und die ntl. Parallelen (bes. 1Thess 4,16.17) bestätigt wird. Entscheidend für das Verständnis der Tradition sind die Raum- und Zeitaussagen. Das Haus ist eine Metapher religiösen Heils, die Bewohner des himmlischen Hauses sind den Unsicherheiten des irdischen Daseins enthoben, sie werden in der bleibenden Geborgenheit von Vater und Sohn sein219. Die streng futurische Ausrichtung des Spruches zielt auf die Verarbeitung negativer Gegenwartserfahrungen der joh. Gemeinde. Die präsentische Eschatologie ist offenkundig keine ausreichende Antwort auf die Bedrängnisse der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft. Sowohl die Bedrängnisse der Gegenwart als auch die Todesproblematik lassen es sinnvoll erscheinen, das Heil nicht ausschließlich in der Gegenwart zu verorten, sondern Gegenwart und Zukunft sinnvoll aufeinander zu beziehen. Zur Deutung und Bewältigung der durch „Trauer“ (lu´pv in Joh 16,6.20–22) gekennzeichneten Gemeindesituation dienen die Ausblicke auf die Wiederkunft Christi. Erst das Wiederkommen des Sohnes ermöglicht den Glaubenden ein den Nöten der Gegenwart und Zukunft enthobenes, nicht endendes Sein beim Vater. Damit werden die präsentischen Heilsaussagen nicht relativiert, sondern unter der Perspektive der Gemeinderealität präzisiert: Das Leben des Glaubenden in Gegenwart und Zukunft ist vom Heilswillen und Heilshandeln des Vaters umspannt. Unter dieser Perspektive müssen auch die Ausblicke auf die Parusie Christi in Joh 14,18–21.28; 16,13e.16 gesehen werden, denn die Verheißung des Wiedersehens des Sohnes zielt auf die Umwandlung der die Gemeinde bedrückenden Trauer in die endzeitliche Freude (vgl. Joh 16,20–22)220. Auch die Ankündigung einer endzeitlichen Auferweckung in Joh 5,28f; 6,39 f.44.54 219 Belege in: NEUER WETTSTEIN I/2 (s. o. 4.3), 667–
677; vgl. ferner Eur, Alc 364f; Sen, Nat Quaest VI 32,6.
220 Vgl. dazu U. SCHNELLE, Abschiedsreden (s. o. 12.3.2), 68 f.75f; J. FREY, Eschatologie III (s. o. 12), 166.207–215
706 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
zielt auf die textexterne Lesergemeinde. Im Glauben sind die joh. Christen bereits vom Tod ins Leben hinübergeschritten, in der Gegenwart fiel die Entscheidung über die Zukunft. Der Glaube bewirkt jedoch nicht die Auferweckung von den Toten. An keiner Stelle im joh. Schrifttum wird gesagt, dass der Glaubende bereits auferstanden sei. Der joh. Lebensbegriff schließt den physischen Tod nicht aus!221 Vielmehr vollzieht sich die Auferstehung als Wiedererweckung bzw. als Neuschaffung des Leibes in der Begegnung mit Jesus, dem der Vater die Macht gegeben hat, Menschen vom Tod aufzuerwecken (vgl. Joh 5,21). Auf der textinternen Ebene der Evangeliumserzählung illustriert dies die Lazarusperikope (Joh 11,1–44), in der Jesus als Herr über Leben und Tod erscheint. Im Kontrast zur jüdischen Zukunftshoffnung (vgl. Joh 11,24) betont Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und glaubt an mich, der wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,25f). Weil Jesus selbst in Raum und Zeit Lazarus begegnet und ihn ins Leben zurückholt, bedarf es in diesem Fall keiner zukünftigen Totenauferweckung. Die joh. Gemeinde hingegen befindet sich in einer grundsätzlich anderen Situation: Jesus ist beim Vater, erst bei seiner Parusie werden die Glaubenden ihm begegnen. Bei seiner Wiederkunft wird Jesus vollziehen, was in der Gegenwart für den Glaubenden entschieden, nicht aber schon Wirklichkeit ist: die Auferweckung von den Toten. Die Einheit der johanneischen Eschatologie
Präsentische und futurische Eschatologie sind bei Johannes keine Gegensätze, sondern sie ergänzen einander: Was in der Gegenwart festgeschrieben wurde, hat auch in der Zukunft Bestand222. Weil die Christologie die eigentliche Sachebene der Eschatologie ist (vgl. Joh 5,19–30)223, widersprechen sich präsentisch-eschatologische
221 Die Neucodierung des Lebens- und Todesbegriffes als Glaube bzw. Unglaube wird speziell in Joh 5,28f nicht aufgehoben, denn die ‚in den Gräbern Liegenden‘ sind physisch, nicht aber eschatologisch tot. Sie gehen einer Auferstehung des Lebens entgegen, d. h. trotz ihres leiblichen Todes verbleiben sie in der Lebensmacht Gottes/Jesu; vgl. U. SCHNELLE, Joh (s. o.12), 122 f. 222 Für die sachliche Notwendigkeit futurischer Aussagen innerhalb der johanneischen Theologie votieren u. a. L. VAN HARTINGSVELD, Die Eschatologie des Johannesevangeliums, 48–50; L. GOPPELT, Theologie, 640–643; C. K. BARRETT, Das Evangelium nach Johannes, Göttingen 1990, 83–86; U. SCHNELLE, Neutestamentliche Anthropologie (s. o. 6.5), 154–158; J. GNILKA, Theologie, 298f; G. STRECKER, Theologie, 521–523; U. WILCKENS, Joh (s. o. 12); 121; J. FREY, Johanneische Eschatologie III (s. o. 12), 85–87 u. ö.; L. SCHENKE, Jo-
hannes, Düsseldorf 1998, 108f; K. WENGST, Johannesevangelium I (s. o. 12), 202f; E. E. POPKES, Die Theologie der Liebe Gottes (s. o. 12), 101f; H. THYEN, Joh (s. o. 12), 313–318.528. Die Gegenposition vertritt z. B. J. BECKER, Die Hoffnung auf ewiges Leben im Johannesevangelium, ZNW 91 (2000), 192–211. 223 Zur Auslegung dieses Schlüsseltextes vgl. J. FREY, Eschatologie III (s. o. 12), 322–400, der überzeugend die Einheit von präsentischer und futurischer Eschatologie herausarbeitet. Andere Akzente setzt H.CHR. KAMMLER, Christologie und Eschatologie (s. o. 12.8), passim, wonach Johannes durchgängig eine streng präsentische Eschatologie vertritt. Eine Mittelposition nimmt H.-J. ECKSTEIN, Die Gegenwart im Licht der erinnerten Zukunft (s. o. 12.8), 204, ein, der einerseits die präsentische Eschatologie als Grundmodell bei Johannes ansieht, zugleich aber zeittheoretische Modifizierungen vornimmt.
Theologiegeschichtliche Stellung 707
und futurisch-eschatologische Aussagen nicht, denn Jesus Christus ist der wahre Lebensspender in Gegenwart und Zukunft. Als Sohn Gottes will er das wahre Leben für die Menschen, er tritt dafür ein und eröffnet bereits in der Gegenwart vollständige Teilhabe am ewigen Leben, die auch durch den biologischen Tod nicht beendet wird. Dieser Grundgedanke hebt die Zukunft nicht auf, denn in der Zukunft wird mit der Auferstehung von den Toten offenbar, was in der Gegenwart entschieden wurde. Eine ausschließlich präsentische Eschatologie würde mit dem Wegfall der Zukunft die Gegenwart geradezu ideologisch überhöhen und damit der Gemeinde in keiner Weise gerecht werden. Die besondere eschatologische Konzeption ist in das gesamte joh. Denken eingebettet: Aus der Relationierung von Vater und Sohn ergibt sich, dass beide Herr über die chronologische und kairologische Zeit sind. Aus der Inkarnation des Gottessohnes resultiert die starke Betonung der umfassenden Gegenwart des Heils. Aus dem anhaltenden Wirken des Parakleten folgt, dass auch die Zukunft der Gemeinde vom Handeln des Vater und des Sohnes umfangen ist.
12.9 Theologiegeschichtliche Stellung Das Johannesevangelium stellt den Höhepunkt frühchristlicher Theologiebildung dar und gehört zu den ‚Meistererzählungen‘, die Menschen „eine Vorstellung von ihrer Zugehörigkeit, ihrer kollektiven Identität, vermitteln: nationale Begründungsund Erfolgsgeschichten, religiöse Heilsgeschichten“.224 Eine solche neue Sinnbildung gewinnt ihre Kraft nicht jenseits ihrer Inhalte, sondern nur aus der Interdependenz von Inhalt und Form. Faszinierende Inhalte werden in einer meisterhaften Form präsentiert. Johannes war sich der Grundfragen der Repräsentation von Vergangenheit durch Geschichtsschreibung sehr wohl bewusst, er bearbeitete sie und setzte sie literarisch und theologisch in seiner Jesus-Christus-Geschichte um. Ihm war deutlich, dass Ereignisse der Vergangenheit nur dann und dadurch den Status von Geschichte erreichen, wenn sie durch Prozesse historischer Sinnbildung angeeignet werden. Das Resultat eines solchen Aneignungsprozesses ist das 4. Evangelium. Einführung in das Christentum
Dabei gewinnt das Johannesevangelium die Qualität einer ersten Einführung in das Christentum. Johannes vereinigt zwei Hauptlinien frühchristlicher Theologiebildung 225: 224 J. RÜSEN, Kann gestern besser werden? Über die
Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte, in: ders., Kann gestern besser werden?, Berlin 2003, 29 f. 225 Vgl. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen, 255: „Es bildet eine Synthese aus zwei Entwicklungen, die aufeinander zuliefen. Auf der einen Seite
finden wir bei Paulus den Glauben an den Präexistenten und Erhöhten mit gottgleichem Status . . . Auf der anderen Seite wird die Überlieferung vom Irdischen in der synoptischen Tradition geformt und in den ersten Evangelien zunehmend von der Hoheit des Erhöhten durchdrungen, ohne dass es in den synoptischen Evangelien zu einem Glauben an
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Während Paulus eine kerygmatisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte präsentiert, entfaltet Markus eine narrative Jesus-Christus-Geschichte. Johannes verbindet beide Tendenzen, indem er die Erinnerungen an den Irdischen konsequent aus der Perspektive des Erhöhten gestaltet. Er übernimmt die Gattung Evangelium, erweitert sie in Kontinuität zu Paulus226 um die Präexistenzchristologie und intensiviert (anders als Matthäus und Lukas) die bei Markus und vor allem Paulus vorherrschende kreuzestheologische Ausrichtung. Ausgangspunkt ist dabei (wie bereits für Paulus und Markus) der Bruchcharakter des Kreuzes. Theologisch zerbricht das Kreuz alle antiken Gottesvorstellungen, denn es ist mit dem machtvollen Geschichtsgott Jahwe ebenso unvereinbar wie mit jeder Form griechisch-römischer Theologie. Erzählerisch durchbricht das Kreuz die gewohnte Struktur allen Geschehens vom Anfang zum Ende und eröffnet in der Auferstehung neue Dimensionen. Das Kreuz erfährt somit eine semantische Erweiterung und eine literarisch-rhetorische Verdichtung, indem es zur Abbreviatur eines komplexen Geschehens wird. Markus und Johannes (wie zuvor bei Paulus) griffen diese Möglichkeit auf und setzten die historische und theologische Bedeutsamkeit des Kreuzes in ihrer jeweiligen Modellerzählung kompositorisch und begrifflich um. Stärker als bei Markus durchdringt die Hoheit des Erhöhten beim 4. Evangelisten das Bild des Irdischen, anders als bei Paulus bleibt Johannes nicht bei einer vornehmlich begrifflich strukturierten hohen Christologie stehen, sondern überführt sie in eine dramatische Erzählung227. Er thematisiert die Perspektivität historischen Erkennens, weiß um das unauflösliche Ineinander von Ereignissen und ihrer kreativen Aneignung (durch den Parakleten) im und durch Erzählen, er erweitert die sprachliche und theologische Präsentation des Christusgeschehens, um durch den so ermöglichten neuen Blick die gefährdete Identität seiner Gemeinde zu festigen. Die Präsentation der Jesus-Christus-Geschichte in der Gattung Evangelium hat das Ziel, durch Erzählen das Geschehene zu dem zu machen, was es von Anfang an war und nun immer sein kann. Dabei ist im 4. Evangelium deutlich, dass in der Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben jene Gestaltung der Erzählstruktur zu sehen ist, durch die das Geschehen gleichermaßen vorangetrieben und differenziert wird. Das Johannesevangelium wurde geschrieben, um aufzuzeigen, dass Gottes voraussetzungslose Liebe alles Leben ermöglicht und erhält, um im Glauben der Menschen an ihr Ziel zu kommen. Diese Grundeinsicht formulieren Prolog (Joh
die Präexistenz Jesu kommt. Im JohEv verschmelzen beide Entwicklungsstränge.“ 226 Zum Verhältnis Johannes – Paulus vgl. R. SCHNACKENBURG, Paulinische und johanneische Christologie, in: ders., Joh IV (s. o. 12), 102–118; D. ZELLER, Paulus und Johannes, BZ 27 (1983), 167–182; U. SCHNELLE, Paulus und Johannes, EvTh 47 (1987), 212–228; R. SCHNACKENBURG, Ephesus: Entwicklung einer Gemeinde von Paulus zu Johannes, BZ 35
(1991), 41–64; CHR. HOEGEN-ROHLS, Johanneische Theologie im Kontext paulinischen Denkens?, in: J. Frey/U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. o. 12), 593–612. 227 Vgl. U. SCHNELLE, Theologie als kreative Sinnbildung: Johannes als Weiterbildung von Paulus und Markus, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? (s. o. 12), 119–145.
Theologiegeschichtliche Stellung 709
1,1–18) und Epilog (Joh 20,30f), die als Begrenzungszeichen das Werk rahmen und zeigen, wie man in die Welt der Erzählung eintritt und mit welchem Erkenntnisgewinn sie nach sachgemäßer Lektüre verlassen werden kann. Johannes inszeniert seine Jesus-Christus-Geschichte durch eine gekonnte Abfolge dialogischer und monologischer Szenen, die planvoll mit den narrativen Stücken durch die auftretenden Personen und/oder Schlüsselbegriffe vernetzt sind. Johannes fasst für seine Leser und Hörer die Jesus-Christus-Geschichte in neue Begriffe, Bilder und Erzählungen (vgl. Joh 2,1–11; 3,1–11; 4,4–42; 10,1–18; 13,1–20; 15,1–8; 20,11–18) und er führt neue Personen, Namen und Gruppen in seine Jesus-Christus-Geschichte ein (Nathanael: Joh 1,45–49; Nikodemus: Joh 3,1.4.9; 7,50; 19,39; die ‚Griechen‘: Joh 7,35; 12,20ff; Malchus: Joh 18,10.26; Hannas: Joh 18,13.24). Durch die literarischen Kunstmittel der Repetition, Variation und Amplifikation, durch Zitate, Zahlensymbolik und mehrschichtige Ausdrucksweise, Bildworte und Bildreden, Wortspiele und Ironie, durch Leitworte und Schlüsselbegriffe eröffnet Johannes den Lesern/Hörern auf ihrem Weg durch das Evangelium eine inkarnatorisch, pneumatologisch und kreuzestheologisch ausgerichtete Sinnwelt228. In reflektierter und zugleich meditativer Weise umkreist der Evangelist das Urgeheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und entwirft eine neue bildhafte Zeichensprache des Glaubens, in deren Zentrum einfache und zugleich eingängige Symbole und Metaphern stehen, die unmittelbar auf die Hörer/Leser wirken, indem sie gleichermaßen ein Verstehen auf emotionaler und intellektueller Ebene ermöglichen. Johannes nimmt kulturübergreifende religiöse Urphänomene wie Gott und Welt, Oben und Unten, Licht und Finsternis, Tod und Leben, Wahrheit und Lüge, Geburt und Neugeburt, Wasser, Brot, Hunger und Durst, Essen und Trinken auf, um sie in Jesus Christus in positiver Weise zu erfüllen. Die metaphorische Christologie findet in den ‚Ichbin-Worten‘ ihren Höhepunkt (s. o. 12.2.3) und ist so ausgerichtet, dass sie das Geheimnis Jesu Christi ausleuchtet, ohne sich auf eine bestimmte sprachliche Realisierung festzulegen. Damit ermöglicht und lenkt sie jene Denkprozesse, die durch die Lektüre des Evangeliums als Einführung in die Grundfragen des christlichen Glaubens ausgelöst werden sollen. Als Einführung in das Christentum und erste Glaubenslehre des frühen Christentums (Joh 20,30f) erweist sich das Johannesevangelium auch durch seine Bearbeitung und Beantwortung aller zentralen Fragen der neuen Sinnbildung. Bereits der Prolog verbindet Zeit und Ewigkeit mit dem Logos und bestimmt das einzigartige Verhältnis zwischen Gott und dem Logos Jesus Christus, der als Schöpfer Ursprung allen Lebens ist; Gottes Wahrheit und Herrlichkeit wird allein in ihm sichtbar. Aus dem Mund Jesu erfahren die Glaubenden, was Geburt und Neugeburt ist (Joh 3), wer wirklich den Lebensdurst stillt und ewiges Leben schenkt (Joh 4/6) und wer bereits in der Ge228 Vgl. TH. POPP, Grammatik des Geistes (s. o. 12.2),
457–491.
710 Die johanneische Theologie: Einführung in das Christentum
genwart Herr über Leben und Tod ist (Joh 5/11). Der Weg des Blindgeborenen (Joh 9) dient der bedrängten Gemeinde ebenso als Orientierung wie die Hirtenrede (Joh 10) und die Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33), die den theologischen Ertrag des Weggehens Jesu formulieren und ebenso wie das Hohepriesterliche Gebet (Joh 17) das Passionsgeschehen in eine neue Perspektive rücken. Jesus geht bewusst und souverän den Weg ans Kreuz, denn er weiß um dessen Sinnhaftigkeit und lässt die Jünger an der Realität seines Todes und Lebens teilhaben (Joh 20,24–29). Weil das Kommen des Parakleten an den Fortgang Jesu gebunden ist, kann es erst nach Ostern ein Verstehen von Ostern und dem vorangegangenen Geschehens geben (vgl. Joh 20,29b: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“). Allein aus dieser Perspektive wird das Vergangene in seiner Bedeutsamkeit verständlich und zugänglich. Voraussetzung für diese geschlossene Argumentation ist die Verhältnisbestimmung von Vater, Sohn und Geist, die Johannes als erster Theologe im frühen Christentum umfassend vornimmt. Insgesamt erweist sich Johannes als Meister der interpretativen Integration, indem er die sehr verschiedenen Traditonsströme unter der Leiterkenntnis der Liebe Gottes zu den Menschen in Jesus Christus in seinem Evangelium zusammenführt. Abschluss- und Anschlussfähigkeit
Die Systemqualität der joh. Theologie zeigt deutlich, dass weder die Einzeichnung des Evangeliums in die Auseinandersetzungen mit dem zeitgenössischen Judentum229 oder mit gnostischen Strömungen noch literarkritische Schichtenmodelle geeignet sind, um die literarische Kunstfertigkeit und die denkerische Leistung des 4. Evangelisten zu erfassen. Nicht die (vermutete) religionsgeschichtliche Kodierung von Anschauungen (z. B. Dualismen) oder die (postulierte) Fortschreibung von Texten (z. B. in den Abschiedsreden) können der methodische Ausgangspunkt des Verstehens sein, sondern allein das inhaltlich-theologische Funktionieren des vorliegenden Textes! Hier zeigt sich, dass die zahlreichen inneren Verflechtungen/Akzentuierungen im Evangelium Bestandteile/Variationen seines grundlegenden theologischen Programms sind: Die Offenbarung der Liebe Gottes in Jesus Christus als Liebe Gottes zur Welt und für die Glaubenden, für die sich das Bleiben in Gott und Jesus als Bleiben in der Liebe vollzieht. Religionsgeschichtliche Präjudizierungen und literarkritische Reduzierungen werden diesem zentralen Sinngehalt nicht gerecht. Insgesamt nimmt das Johannesevangelium in zweifacher Weise eine Schlüsselstellung innerhalb des frühen Christentums ein: Es schließt nicht nur auf höchstem Niveau 229 Vgl. hierzu J. FREY, Das Bild ‚der Juden‘ im Jo-
hannesevangelium und die Geschichte der johanneischen Gemeinde, in: M. Labahn/K. Scholtissek/ A. Strothmann (Hg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 33–53. Frey betont (wie Schnelle und
Hengel), dass die Auseinandersetzung mit dem Judentum nicht der Schlüssel zur historischen und theologischen Welt des 4. Evangeliums ist; anders z. B. J. L. MARTYN, History and Theology in the Fourth Gospel (s. o. 12); K. WENGST, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus (s. o. 12).
Theologiegeschichtliche Stellung 711
die ntl. Theologiebildung ab, sondern öffnet vor allem durch den Logos-, Wahrheitsund Freiheitsbegriff das Christentum für die griechisch-römische Geistesgeschichte und bereitet dadurch zugleich den Übergang zur Alten Kirche vor230. Wenn im Prolog Jesus Christus mit dem Leitbegriff der griechisch-römischen Kultur- und Bildungsgeschichte identifiziert wird, legt sich ein einzigartiger Anspruch nahe: Im Logos Jesus Christus kulminiert die antike Religions- und Geistesgeschichte, er ist der Ursprung und das Ziel allen Seins. Dieser Anspruch wurde von den Apologeten aufgenommen und weitergeführt, um schließlich in die christologischen Debatten des dritten und vierten Jahrhunderts einzumünden.
230 Vgl. hierzu T. NAGEL, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert, ABG 2, Leipzig 2000.
13.
Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
W. BOUSSET, Die Offenbarung Johannis, KEK 16, Göttingen 61906; R. SCHÜTZ, Die Offenbarung des Johannes und Kaiser Domitian, FRLANT 50, Göttingen 1933; M. RISSI, Was ist und was geschehen soll danach. Die Zeit- und Geschichtsauffassung der Offenbarung des Johannes, AThANT 46, Zürich 1965; E. SCHÜSSLER-FIORENZA, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse, NTA 7, Münster 1972; O. BÖCHER, Kirche in Zeit und Endzeit. Aufsätze zur Offenbarung des Johannes, Neukirchen 1983; J. ROLOFF, Die Offenbarung des Johannes, ZBK.NT 18, Zürich 1984; M. KARRER, Die Johannesoffenbarung als Brief, FRLANT 140, Göttingen 1986; C.J. HEMER, The Letters to the Seven Churches of Asia in their Local Setting, JSNT.S 11, Sheffield 1986; O. BÖCHER, Die Johannesapokalypse, Darmstadt 31988; J.-W. TAEGER, Johannesapokalypse und johanneischer Kreis, BZNW 51, Berlin 1988; E. SCHÜSSLER-FIORENZA, The Book of Revelation, Philadelphia 21989; L. THOMPSON, The Book of Revelation, Oxford 1990; J. FREY, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften des Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage (s. o. 12), 326–429; R. BAUCKHAM, The Theology of the Book of Revelation, Cambridge 1995; U. B. MÜLLER, Die Offenbarung des Johannes, ÖTK 19, Gütersloh 21995; H. ULLAND, Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit in der Apokalypse des Johannes. Das Verhältnis der sieben Sendschreiben zu Apokalypse 12–13, TANZ 21, Tübingen 1997; D. E. AUNE, Revelation, WBC 52A.B.C, Waco 1997.1998; O. BÖCHER, Art. Johannes-Apokalypse, RAC 18, Stuttgart 1998, 595–646; J. FREY, Die Bildersprache der Johannesapokalypse, ZThK 98 (2001), 161–185; G. GLONNER, Zur Bildersprache des Johannes von Patmos, NTA 34, Münster 1999; B. J. MALINA/J. J. PILCH, Social-science Commentary on the Book of Revelation, Philadelphia 2000; H. GIESEN, Studien zur Johannesapokalypse, SBAB 29, Stuttgart 2000; J. U. KALMS, Der Sturz des Gottesfeindes, WMANT 93, Neukirchen 2001; P. PRIGENT, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001; K. BACKHAUS (Hg.), Theologie als Vision. Studien zur Johannes-Offenbarung, SBS 191, Stuttgart 2001; K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder? Die Vernunft der Vision in der Johannes-Offenbarung, EvTh 64 (2004), 421–437; F. W. HORN/ M. WOLTER (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen 2005; S. S. SMALLEY, The Revelation to John, Downers Grove/Ill 2005; F. TTH, Der himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung, ABG 22, Leipzig 2006.
Für den antiken Menschen ist der rituell geordnete Kultvollzug eine Grundbestimmung seiner Religiosität, somit auch ein zentrales Element seiner Lebens- und Weltkonstruktion. Auf dieser Basis entwickelt die Johannesoffenbarung eine beeindruckende Sakralarchitektur, die als himmlische Kultwirklichkeit im Rahmen einer apokalyptisch stilisierten Geschichtsschau die irdischen Geschehnisse und Wider-
Theologie 713
fahrnisse neu deutet und verstehbar macht1. Im Kontext von Christenverfolgungen in Kleinasien unter Domitian (um 95 n.Chr.)2 entwirft der Autor eine Theologie in visionären Bildern, eine kultische Wirklichkeit im Himmel und auf Erden, um mit dieser Sinnbildung die gefährdete Identität seiner Gemeinden zu stärken und ihr Orientierung zu geben. Das kultische Denken gewährt zugleich die Teilhabe an diesem Geschehen, denn die Offenbarung wird im Gottesdienst verlesen (Offb 1,3: „Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest, und die, welche das darin Geschriebene hören und bewahren; denn die Zeit ist nahe“; vgl. Offb 22,18), so dass die angeschriebenen Gemeinden ihre gegenwärtigen Gefährdungen verstehen und Gottes endgültigen Sieg über das Böse miterleben können3. Auch der Aufbau der Offenbarung dient der Verschränkung der Zeiten, denn die Gegenwart wird in den Sendschreiben (Offb 2–3), die Zukunft in den folgenden Visionen thematisiert (Offb 4–22), wobei Offb 1,9–20 beide Hauptteile einleitet4. „So werden die vorgeschalteten Sendschreiben leserlenkend zur Sehschule: Nicht das Reich der Sachverhalte besichtigt der Lesende so, sondern Sinngründe werden ihm transparent, aus denen er leben kann.“5 Die Offenbarung will nicht verschlüsseln, sondern öffnen6, sicht- und einsehbar machen, nicht spekulative Aus-Sichten, sondern Ein-Sichten vermitteln.
13.1 Theologie A. VÖGTLE, Der Gott der Apokalypse, in: J. Coppens (Hg.), La notion biblique de Dieu, BEThL 41, Leuven 1976, 377–398; R. BAUCKHAM, God in the Book of Revelation, in: Proceedings of the Irish Biblical Association 18 (1995), 40–53; M. E. BORING, The Theology of Revelation, Interpr 40 (1986), 257–269; T. HOLTZ, Gott in der Apokalypse, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 329–346; TH. SÖDING, Heilig, heilig, heilig. Zur politischen Theologie der Johannes-Apokalypse, ZThK 96 (1999), 49–76; CHR. G. MÜLLER, Gott wird
1 Die unterschiedlichen Bild-, Raum- und Zeitbezüge in der Offb sind sowohl vom jüdischen als auch vom hellenistischen Traditionsbereich geprägt; vgl. dazu umfassend F. TTH, Der himmlische Kult, 48– 156. Zum lange Zeit unterschätzten hellenistischen Traditionskontext vgl. auch O. BÖCHER, Hellenistisches in der Apokalypse des Johannes, in: Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), hg. v. H. Lichtenberger, Tübingen 1996, 473–492. 2 Zu den Einleitungsfragen vgl. U. SCHNELLE, Einleitung (s. o. 2.2), 545–566. 3 Dem gottesdienstlichen Duktus der Offb entsprechend schließen die Bitte um das Kommen des Herrn (22,21) und der darauf antwortende Gnadenzuspruch das Werk ab (vgl. 1Kor 16,22.23), vgl. J. ROLOFF, Offb, 213.
Vgl. F. HAHN, Zum Aufbau der Johannesoffenbarung, in: Kirche und Bibel (FS E. Schick), Paderborn 1979, 145–154. Zu möglichen Strukturierungen der Offb vgl. auch O. BÖCHER, Art. Johannes-Apokalypse, 605–608 (605: „eine logische Struktur der J. ist nur schwer zu erkennen“). 5 K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder?, 424. 6 Nicht zufällig findet sich das Verb anoı´gein („öffnen“) in keiner anderen ntl. Schrift so häufig wie in der Offenbarung (27mal). Schlüsselstellen sind: 4,1 (Öffnung der Himmelstür); 11,19 (Öffnung des himmlischen Heiligtums); 19,11 (Öffnung des Himmels zum siegreichen Schlussakkord); vgl. K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder?, 426 f. 4
714 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
alle Tränen abwischen – Offb 21,4. Anmerkungen zum Gottesbild der Apokalypse, in: ThGl 95 (2005), 275–297.
Die grundlegende Vergewisserung der Johannesoffenbarung liegt in der Einsicht, dass Gott als Herr der Geschichte alles trägt und bestimmt7: Die Rahmung des Gesamtwerkes durch Offb 1,8 („Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott der Herr, der ist und der war und der kommt, der Allherrscher“) und Offb 21,6 („Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende“) lässt die theozentrische Sinnstruktur deutlich hervortreten: Von Gott her wird für die Glaubenden sowohl ihre eigene Geschichte und Situation als auch die Zukunft im Himmel und auf Erden durchschaubar. Dabei nimmt der judenchristliche Prophet Johannes (Offb 1,3; 10,11; 19,10; 22,7.9.10.18.19) gezielt atl. Gottesprädikationen auf, denn die triadischen Formeln in Offb 1,4.8.17; 2,8; 4,8; 11,17; 16,5; 21,6; 22,13 variieren Ex 3,14; Jes 44,6 und haben zugleich beachtliche Parallelen in den paganen All-Formeln8. Gegenüber den sich selbst vergötternden irdischen Herrschern erscheint Gott als pantokra´twr = ‚Allherrscher‘ (Offb 1,8; 4,8; 11,17; 15,3; 16,7.14; 19,6.15; 21,22), d. h. als der wahrhaft Seiende und Herrschende9. Dem dynamischen Gottesbild der Offenbarung entsprechend beschreiben die triadischen Formulierungen nicht einzelne Aspekte des Handelns Gottes, sondern sie durchdringen und überschneiden sich, denn Gottes Präsenz umfasst und übersteigt alle Zeitdimensionen. Der bereits erfolgte Herrschaftsantritt Gottes (Offb 11,17: „Wir danken dir Gott, Herrscher des Alls, der ist und der war, dass du deine große Macht ergriffen und deine Herrschaft angetreten hast“) und die Aussagen über sein Kommen (Offb 1,4.7f; 4,8) sind Elemente einer Geschichtssicht, die Gottes Herrschaft im Himmel und seine sich durchsetzende Herrschaft auf Erden als Einheit versteht. Gott sitzt auf seinem Thron (Offb 7,10 f.15f; 11,16; 12,5; 21,5; 22,1.3), sein Himmel überspannt die Erde, seine Dominanz überstrahlt alles und irdische wie himmlische Wesen müssen ihn anbeten. Das Denken des Sehers Johannes ist von der Herrscher- und Richterfunktion Gottes bestimmt, die Weltgeschichte wird als Endgeschichte interpretiert. Gottes Schöpferhandeln vor aller Zeit (vgl. Offb 4,11, 10,6; 14,7) findet nun in seinem endzeitlichen Handeln eine Entsprechung und es gilt: „Siehe, ich mache alles neu“ (Offb 21,5)10. Der Teufel in seiner irdischen Gestalt 7 Treffend K. BACKHAUS, Die Vision vom ganz Anderen, in: ders. (Hg.), Theologie als Vision (s. o. 13), 26: „Der Seher plädiert für einen theozentrischen Identitätsentwurf des Christentums, der für ihn eine Integrationsverweigerung gegenüber der (reichsrömisch-kleinasiatischen) Welt einschließt.“ 8 Vgl. dazu G. DELLING, Zum gottesdienstlichen Stil der Johannes-Apokalypse, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Berlin 1970, (425–450) 439–442; vgl. ferner die Texte in: NEUER WETTSTEIN II/2 (s. o. 4.5),
1455 f.1649–1651.1668. 9 Vgl. zum atl. Hintergrund G. DELLING, Zum gottesdienstlichen Stil der Johannes-Apokalypse, 442– 448. 10 Vgl. T. HOLTZ, Gott in der Apokalypse, 332: „So ist Gott, gerade weil er der Schöpfer ist, immer auch der gegenwärtige Gott“; CHR. G. MÜLLER, Gott wird alle Tränen abwischen, 292: „Die Zusage ‚Siehe, neu mache ich alles‘ erfolgt in der Apokalypse des Johannes vor allem und zuerst für die Gegenwart, die von Bedrängnis geprägt ist.“
Theologie 715
des Drachens (Offb 12,12f) vermag nur noch für eine kurze Zeit die Gemeinde zu bedrängen, denn Gott kommt (vgl. Offb 1,4.8; 4,8; 22,6f). Alsbald wird Gott durch seine ‚gerechten Gerichte‘ (Offb 15,3f; 16,5–7; 19,1f) die Satansgestalt des Römischen Reiches und alle Gottlosen vernichten. Am Ende wird Gott dem Bund mit seinem Volk treu bleiben: „Und er wird unter ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er, Gott, wird bei ihnen sein“ (Offb 21,3). Die Spannung zwischen den gegenwärtigen Drangsalen, der sich vollziehenden Herrschaft Gottes und der endgültigen Vollendung wird vom Mitsein Gottes getragen. Darin zeigt sich auch eine politische Theologie, denn der politischen Religion des Kaiserkultes und einer möglichen Kooperation mit ihr in den Gemeinden (vgl. Offb 2,14) erteilt Johannes eine klare Absage11. Es gibt nur einen Herrn und Gott, der herrscht und anzubeten ist. So ist die Wendung o ku´rioß kai` o heo`ß vmw˜n (‚Unser Herr und Gott‘) in Offb 4,11 in direkter Antithese zu der nach Suet, Dom 13,2, von Domitian geforderten Anrede ‚dominus et deus noster‘ gebildet (vgl. auch Offb 15,4; 19,10; 20,4; 22,9)12. Der theozentrische Grundzug der Offb ergibt sich folgerichtig aus dem Gottesbegriff, der durch den Macht-, Herrschafts- und Gerichtsaspekt geprägt ist (Offb 11,17; 15,3.8; 19,1.5 f.15; 20,4; 22,5)13. Der Seher Johannes schreibt sein Werk im Horizont der bereits angebrochenen und sich durchsetzenden Herrschaft Gottes. Alles läuft auf die endgültige Offenbarung der Herrlichkeit Gottes hinaus (Offb 21,11.22f). Das theologische Hauptthema der Offb ist das Kommen Gottes. Dieses Thema bestimmt alle kultischen Vorgänge und ist die tragende transzendente Wirklichkeit. Gott ist der im Erscheinen Jesu Christi zum Gericht und zum Heil eschatologisch Kommende. Im kultischen Vollzug des Gottesdienstes wird diese Wirklichkeit des Kommens und der Präsenz Gottes antizipiert und so Gottes Gegenwart jenseits des Tempels und des Kaiserkults neu definiert. Insgesamt geht es der Offb „um den Erweis der Gültigkeit und Sicherheit der Herrschaft Gottes und Jesu als seines Gesalbten, des Lammes, die den ihnen Zugehörigen Heil gewährt und gewährleistet.“14 Diesem Anliegen dienen auch die mythologische Sprache und die Bilderwelt, es gilt: „The Dass not the Was or Wie, is the focus of John's concern.“15 Dieser Grundperspektive wird nicht eine linear-endgeschichtliche, sondern eine konzentrische Auslegung gerecht, die Gottes und Jesu bereits erfolgten Herrschaftsantritt als Grundlage und Mitte des Denkens des Sehers begreift.
11 Vgl. TH. SÖDING, Heilig, heilig, heilig, 53. „Dagegen stellt Johannes seine politische Theologie des absoluten Anspruchs, der überlegenen Macht, des wahren Rechtes und des letzten Zieles Gottes allein.“ 12 Weitere kritische Bezüge zum Kaiserkult notieren M. KARRER, Stärken des Randes (s. u. 13.2), 411– 416; F. TTH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 302–
305; zur Infrastruktur des Kaiserkultes in Rom und Kleinasien vgl. F. TTH, a. a. O., 82–120. 13 Zum Gerichtsgedanken vgl. T. HOLTZ, Gott in der Apokalypse, 340–342. 14 M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief (s. o. 13), 247. 15 M. E. BORING, Christology in the Apocalypse (s. u. 13.2), 718.
716 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
13.2 Christologie T. HOLTZ, Die Christologie der Apokalypse des Johannes, TU 85, Berlin 21971; R. BAUCKHAM, The Worship of Jesus in Apocalyptic Christianity, NTS 27 (1981), 322–341; CHR. ROWLAND, The Open Heaven. A Study of Apocalyptic in Judaism and Early Christianity, London 1982; M. E. BORING, The Voice of Jesus in the Apocalypse of John, NT 34 (1992), 334–359; DERS., Narrative Christology in the Apocalypse, CBQ 54 (1992), 702–723; M. HENGEL, Die Throngemeinschaft des Lammes mit Gott in der Johannesoffenbarung, ThB 27 (1996), 159–175; O. HOFIUS, Das Zeugnis der Johannesoffenbarung von der Gottheit Jesu Christi, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 223–240; M.-E. HERGHELEGIU, Sieh, er kommt mit den Wolken. Studien zur Christologie der Johannesoffenbarung, EHS 23.785, Frankfurt 2004; D. E. AUNE, Stories of Jesus in the Apocalypse of John, in: R. N. Longenecker (Hg.), Contours of Christology in the New Testament (s. o. 4), 292–319; D. SÄNGER, „Amen, komm, Herr Jesus!“ (Apk 22,20). Anmerkungen zur Christologie der Johannes-Apokalypse, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 71–92; TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005, 477–511.
Theo-logie und Christologie stehen auch in der Offenbarung in einem produktiven Spannungsverhältnis16. Grundlage der Christologie ist die Heilstat Gottes in Jesus Christus, denn sie stiftet eschatologisches Heil und rettet aus dem Machtbereich der widergöttlichen Welt (vgl. z. B. Offb 1,5b.6; 5,9f; 7,15; 12,11). Christus bzw. das Lamm ist in der Offb auf der einen Seite deutlich Gott untergeordnet. Am Anfang steht Gottes Wort, dem das Zeugnis Christi und der Gemeinde folgen (Offb 1,2); Christus ist ‚treuer Zeuge‘ (1,5; 3,14), nicht aber Urheber des Geschehens; die Gottesvision in Offb 4,1–11 geht der Christusvision Offb 5 voran und begründet sie; ebenso werden alle entscheidenden Aussagen zuerst über Gott gemacht, danach folgt die Übertragung auf Jesus Christus (vgl. das Alpha-Omega-Prädikat in Offb 1,8 und 22,13; das Motiv des ‚Kommens‘ in Offb 1,4 und 1,7)17; allein Gott ist ‚Vater‘ (1,6; 2,28; 3,5.21; 14,1)18. Das Trishagion gilt nur Gott (Offb 4,8); Gott ist der Schöpfer des Himmels und der Erde (4,11; 10,6), Christus hingegen der Erste/Anfang der Schöpfung (3,14); allein Gott ist als ‚Pantokrator‘ Herr der Geschichte und steht über allem (11,17; 15,3; 16,7 u. ö.). Gott sitzt auf dem Thron, während das Lamm hinzutritt (Offb 1,4f; 3,21; 4,2; 5,6 f.13; 6,16; 7,10.17; 21,3; 22,1.3); das Lamm empfängt das Buch mit den ‚sieben Siegeln‘ vom auf dem Thron Sitzenden (5,7); Gott ist es, der die Vollendung des Heils einleitet (20,1–8) und er allein vollzieht das endgültige Gericht (20,11–15).
16 Vgl. dazu TH. SÖDING, Gott und das Lamm, Theozentrik und Christologie in der Johannesapokalypse, in: K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision (s. o. 13), 77–120.
17 Vgl. TH. SÖDING, Gott und das Lamm, 109. 18 Vgl. auch die Wendung ‚sein Gesalbter‘ in Offb 11,15; 12,10; 20,4.6.
Christologie 717
Dem erkennbaren Primat der Theo-logie in der Offenbarung korrespondiert andererseits eine umfassende Partizipation Jesu am Wirken Gottes und damit eine theozentrisch profilierte Christologie. Bereits der erste Satz der Offb nimmt eine Verhältnisbestimmung vor: „Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat“ (Offb 1,1a). Der genitivus auctoris LIvsou˜ Cristou˜ begründet eine christologische Offenbarungstheologie, die in das Zeugnis des Sehers und der Gemeinden einmündet (Offb 1,3). Nicht nur auf Gott, sondern auch auf Jesus werden Doxologien bezogen (Offb 1,5b.6); wie Gott (4,9f; 10,6) ist auch Jesus ‚der Lebendige‘ (1,18a); exklusiv sagt Jesus zu Gott: „mein Vater“ (2,28; 3,5.21); ‚der Kommende‘ ist ein Epitheton Gottes (1,4.8; 4,8), aber auch Jesus ist ‚der Kommende‘ (1,7; 2,5.16.25; 3,11; 16,15; 22,7.12.17.20). Das Überreichen der Geschichts-, Gerichts- und Heilsmacht durch Gott (Offb 5ff) ist immer auch eine Übertragung, Jesus Christus handelt nun anstelle Gottes (6,15–17); wie Gott ist auch Jesus ‚heilig‘ (3,7); Anbetung und Lobpreis gelten nach Offb 5,13 „dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm“; wie für Gott gilt auch für Jesus das Attribut des Alpha und Omega (22,13). Jesus Christus (Offb 1,5; 17,14; 19,15f) ist ebenso wie Gott ‚König der Könige/der Völker‘ (15,3); Gott und Christus verschmelzen in ihrem Handeln (11,15; 22,3f) und schließlich werden Gott und das Lamm das neue Jerusalem heraufführen (21,22; 22,3bf). Diese Spannung lässt sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen, sondern sie entspricht der Gesamtdynamik des Werkes und wird von ihr getragen. So können Offb 1,17; 2,28; 3,14b für Präexistenzchristologie in Anspruch genommen werden19, zugleich wird das Kind von einer Frau geboren „und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt“ (Offb 12,5). Weder die These einer „Wesensgleichheit und Seinseinheit“20 noch die Erhöhung als eine bloße funktionale Beziehung21 erfassen die Dynamik der Christologie der Offb, die sachgemäß als umfassende Teilhabe Jesu an der Herrscherfunktion Gottes beschrieben werden kann: Die göttlichen Attribute Jesu Christi und der Primat des Vaters gelten zugleich, ohne dass die Personendifferenzierungen aufgelöst werden22.
19 T. HOLTZ, Christologie, 143–154, leitet die Präexistenz aus der Erhöhungsvorstellung ab; O. HOFIUS, Das Zeugnis der Johannesoffenbarung von der Gottheit Jesu Christi, 228f, hingegen aus der Wesenseinheit mit Gott. M. HENGEL, Throngemeinschaft, 174, spricht von einer Präexistenzchristologie in statu nascendi, die die Inkarnationsvorstellung voraussetzte. Festzuhalten ist allerdings, dass explizit an keiner Stelle in der Offb von der Präexistenz oder Inkarnation Christi die Rede ist!
20 So O. HOFIUS, Das Zeugnis der Johannesoffenba-
rung von der Gottheit Jesu Christi, 235. 21 Für T. HOLTZ, Christologie, 213 u. ö., dominiert in
der Offb eine Erhöhungschristologie, die sich vor allem in der Inthronisation und der Übergabe des Buches in Offb 5 zeigt; von einer „Funktionseinheit“ spricht U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 55f, „ohne daß an eine seinsmäßige Gottgleichheit zu denken ist“. 22 Vgl. D. SÄNGER, „Amen, komm, Herr Jesus!“, 91.
718 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
Christologische Titel
Die besondere Würde Jesu bringt der Titel ‚Lamm‘ (28 titulare Belege von arnı´on in der Offb) zum Ausdruck23, der gleichermaßen Jesu Hingabe für die Seinen und seine Herrscherstellung umfasst (Offb 5,6)24. Die Würde des Lammes beruht auf seiner Niedrigkeit (Offb 5,6.9.12; 13,8: das geschlachtete Lamm); der Erstgeborene von den Toten (1,5) ist zugleich das erwürgte Lamm. Der herrschaftliche Aspekt kommt besonders in der Throngemeinschaft des Lammes mit Gott zum Ausdruck (Offb 7,9f; 21,22; 22,1.3); das Lamm vollstreckt Gottes Zorn und hat kriegerische Funktionen (6,16; 17,14); es steht als Herrscher auf dem Berg Zion (14,1); es erlöst durch sein Blut (7,14.17; 12,11; 13,8; 14,4) und erwirbt für die Gemeinde das Leben (19,7.9; 21,9.27). Der Tod Jesu ist auch in der Offb die Voraussetzung für seine Herrscherstellung (5,12: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, zu nehmen die Macht und Reichtum und Weisheit und Kraft und Preis und Ehre und Lob“). Eine weitere zentrale christologische Gestalt ist der ‚Menschensohn-Ähnliche ‘ (Offb 1,13; 14,14: oÇmoion uıo`n anhrw´pou)25. Er wird in Offb 1,7 eingeführt und in der Berufungsvision 1,11f und der Prolepse des Endgerichtes 14,14 näher beschrieben. Die Schilderung orientiert sich an Dan 7,9.13; 10,5f und zielt auf die herrscherliche und richterliche Funktion Christi in der Gestalt des ‚Menschensohn-Ähnlichen‘26. In Offb 19,11–21 erscheint Christus als göttlicher Reiter und Kämpfer, der das widergöttliche Tier besiegt. Erstaunlich selten erscheinen die klassischen christologischen Titel in der Offb. Nur in Offb 2,18 ist uıo`ß heou˜ („Sohn Gottes“) belegt, in 21,7 wird das Sohnesprädikat unter Aufnahme von 2Sam 7,14 auf die gesamte Gemeinde bezogen. Als ku´rioß („Herr“) erscheint Jesus in seinen herrschaftlichen Funktionen in Offb 11,8; 14,13; 17,14; 19,16; 22,20f, ansonsten bezieht sich ku´rioß immer auf Gott (11,4.15.17; 15,3f; 16,7; 18,8; 19,6; 21,22; 22,5). Auch der Cristo´ß-Titel („Gesalbter/ Messias“) hebt Jesu hoheitliche Stellung hervor (Offb 1,1.2: die ‚Offenbarung‘ Jesu 23 Vgl. dazu T. HOLTZ, Christologie, 78–80; U.B. MÜLLER,
Offb (s. o. 13), 160–162; P. STUHLMACHER, Das Lamm Gottes – eine Skizze, in: H. Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 530–541. 24 Die Übersetzung ist umstritten; vgl. O. BÖCHER, Johannesapokalypse (s. o. 13), 47; M. KARRER, Stärken des Randes: Die Johannesoffenbarung, in: U. Mell/U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker), BZNW 100, Berlin 1999, (391–417) 406–408, die arnı´on mit ‚Widder‘ übersetzen, um so Ohnmacht und Macht des himmlischen Messias zum Ausdruck zu bringen. Demgegenüber votiert O. HOFIUS, LArnı´on – Widder oder Lamm?, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 241–250, nachhaltig dafür, arnı´on mit ‚Lamm‘ zu übersetzen.
25 Zur Analyse vgl. M.-E. HERGHELEGIU, Sieh, er
kommt mit den Wolken, 111–174. 26 Die Darstellung des ‚Menschensohn-Ähnlichen‘
im Kontext von Engeln (vgl. Offb 14), aber auch die Analologien zwischen Angelologie und Christologie in Offb 1,12–20; 10,1; 15,6 haben immer wieder die Frage aufgeworfen, inwieweit von einer EngelChristologie in der Offb gesprochen werden kann. Vgl. dazu L. T. STUCKENBRUCK, Angel Veneration and Christology. A Study in Early Judaism and in the Christology of the Apocalypse of John, WUNT 2.70, Tübingen 1995, der aufzeigt, dass in der Offb die Engelverehrung im antiken Judentum aufgenommen, zugleich aber kritisiert (Offb 19,10; 22,8–9) und in der Gestalt des geschlachteten Lammes überboten wird.
Christologie 719
Christi; 1,5: der Erstgeborene von den Toten und Herr über die Könige der Erde; 11,15; 12,10: Christus herrscht über die Reiche der Welt und den Satan; 20,4.6: tausendjährige Herrschaft). Nach Offb 19,13 trägt Christus den Namen „das Wort Gottes“ (o lo´goß tou˜ heou˜), womit keine ontologische Aussage gemacht wird, sondern Christus ist als Wort Gottes „Verkörperung des göttlichen Handelns.“27 Christologie in der Narration
Wie die Offb insgesamt ist auch die Christologie von einer Bewegung getragen: Sie setzt mit der Präsentation (Offb 1,4–8) und der Beauftragung (1,9–20) ein, die Jesu Christi Erlösungswerk (1,5 f.18) bereits umfassend thematisieren. Dieser Prolog korrespondiert mit dem Epilog Offb 19,11–22,5, wo die Vollendung des Geschichtsplanes Gottes durch Jesus geschildert wird. Die Übertragung der Alpha-Omega-Prädikation von Gott (1,8) auf Christus (22,13) und das Motiv des ‚Kommens‘ (1,7f; 22,17.20) verdeutlichen die Zusammenhänge. Umfangen von dieser himmlischen Realität sind die Zustände in den Gemeinden der Sendschreiben (Offb 2,1–3,22), die nichts von ihrer bedrückenden Realität einbüßen, zugleich aber von der himmlischen Wirklichkeit her in einem anderen Licht erscheinen. Mit dem Öffnen des Himmels in Offb 4,1 setzt eine neue Perspektive ein, die den gesamten Hauptteil bestimmt, bis sich in Offb 19,1 wiederum der Himmel zum siegreichen Schlussakt öffnet28. Eine Schlüsselfunktion kommt der Thronsaalvision Offb 4,1–5,14 zu29, in der die Wirklichkeit der bereits angebrochenen Herrschaft Gottes und Christi thematisiert wird. Der himmlische Thronsaal wird geöffnet, so dass es (wie im Gottesdienst) zu einer Begegnung zwischen den Glaubenden und der Wirklichkeit Gottes/des Lammes kommen kann. Christologisch steht hier das Kreuzesgeschehen im Mittelpunkt, wobei Offb 1,5 durch Offb 5,9b–10 aufgenommen wird: „Würdig bist du, das Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen! Denn du wurdest geschlachtet und hast für Gott erkauft mit deinem Blut aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation und hast sie für unseren Gott zur Königsherrschaft und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf der Erde.“ Das ‚geschlachtete Lamm‘ (Offb 5,6.12; 13,8) steht im Zentrum der Kreuzestheologie der Offenbarung30, durch sein Blut erkaufte es in Tod und Auferstehung (Offb 1,17f) das Gottesvolk (s. u. 13.4). Das geopferte Lamm und der Erhöhte sind identisch (Offb 1,5), denn Jesu Tod am Kreuz begründet seine Stellung als himmlischer Herrscher und Richter; als solcher ist und bleibt er das geschlachtete Lamm (Offb 19,13). Von diesem Heils27 H. KRAFT, Offb (s. o. 13), 249. 28 Vgl. K. BACKHAUS, Himmlische Bilder? (s. o. 13),
426 f. 29 Vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 66, der diesen Text als theologische Mitte der Offb ansieht; zu Offb 5 vgl. auch T. HOLTZ, Christologie, 27–54; H. GIESEN, Johannes-Apokalypse (s. o. 13), 52 f. Eine umfassende
Auflistung der möglichen Traditionsbezüge in Offb 4–5 und eine ausführliche Interpretation bieten G. SCHIMANOWSKI, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes, WUNT 154, Tübingen 2002; F. TTH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 197–318. 30 Vgl. TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes, 478 ff.
720 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
indikativ aus darf die Gemeinde die Enthüllung des Kommenden getrost schauen. Die Öffnung der sieben Siegel Offb 6,1–8,1 leitet die Darstellung der sich durchsetzenden Macht des Lammes ein. Zu Zyklen zusammengefasste Visionen sind auch die sieben Posaunen (Offb 8,2–14,20) und die sieben Schalen (Offb 15,1–19,10). Im Mittelpunkt stehen dabei die herrscherlichen, richterlichen und kriegerischen Funktionen Jesu Christi. Ab Kap. 12,1ff erscheinen mit der Frau (12,1) und dem Drachen (12,3) neue Handlungsträger, die das Folgende nachdrücklich bestimmen. Die Tiervision Offb 13 ist als Gegenbild zur Heilsgestalt des Lammes Offb 5 konzipiert. Die Heilsvision in Kap. 14 und die sich anschließende Plagenreihe Offb 15,1–6 entsprechen der Abfolge in Offb 7 und 8–9. Der Babylon-Komplex Offb 17–18 wird mit dem Jubel über den Herrschaftsverweis Gottes in 19,1–10 abgeschlossen. Ein Neueinsatz liegt wiederum in Offb 19,11 vor, bis Kap. 22,5 dominiert endgültig der Blick auf das Endgeschehen: das allgemeine Weltgericht, die Sammlung der Auserwählten und Gottes endzeitliches Schöpferhandeln. Der Buchschluss Offb 22,6–21 nimmt ausdrücklich den Anfang wieder auf, er verweist noch einmal auf Jesus als den Urheber des Buches und lässt den eucharistischen Gottesdienst als den Raum erscheinen, wo sich die Visionen und die Lebenswirklichkeit der Gemeinden verschränken31. Insgesamt wird der Aufbau und auch die Christologie der Offb von einer zielgerichteten Bewegung bestimmt: Christi Herrschaft setzt sich trotz der Plagen und der endzeitlichen Widersacher durch. Die Vorstellung der am Kreuz vollzogenen Einsetzung Christi zum Heilsvollender als Herrscher über Leben und Tod, Welt und Geschichte bestimmt die Christologie der Offb32. In der ungeteilten Teilhabe an Gottes Macht vollzieht Christus sein rettendes und richtendes Handeln im Kampf mit den widergöttlichen Mächten. Dabei symbolisiert die Metapher des Lamms als christologisches Leitmotiv gleichermaßen seine Niedrigkeit und Hoheit. Der Gang durch die Visionswelten der Offb führt die Glaubenden zu der Einsicht: Jesus Christus ist zugleich der in der Gegenwart Herrschende und der in der Zukunft Kommende. Die Macht der widergöttlichen Mächte ist bereits gebrochen, aber erst bei seiner Parusie setzt der erhöhte Christus die Macht Gottes endgültig und sichtbar als Erneuerung von Himmel und Erde durch.
13.3 Pneumatologie Die Geistaussagen der Offb sind innerhalb der prophetischen Ausrichtung des Gesamtwerkes zu lesen (Offb 1,3; 22,7: „die Worte der Prophezeiung“)33, wobei als Schlüsselstelle 19,10c anzusehen ist: „Denn das Zeugnis Jesu ist der Geist der Prophe31 Vgl. J. ROLOFF;, Offb (s. o. 13), 209. 32 Vgl. J. ROLOFF, a. a. O., 20. 33 Vgl. hierzu F. HAHN, Das Geistverständnis in der
Johannesoffenbarung, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 3–9.
Soteriologie 721
tie“ (v ga`r marturı´a LIvsou˜ estin to` pneu˜ma tv˜ß profvteı´aß). Der erhöhte Jesus Christus ist Zeuge der ihm von Gott übergebenen Offenbarung (Offb 1,5; 3,14b; 22,20), die er seinerseits an den Seher Johannes weitergibt (1,1f.9). Neben die himmlischen Zeugen tritt so Johannes als einer der irdischen Zeugen des endzeitlichen Handelns Gottes34. Seine geistgewirkte Prophetie erwächst aus dem Zeugnis Jesu, das in der Offb aufgenommen und den Glaubenden vermittelt wird. Die „wahrhaften Worte Gottes“ (Offb 19,9) gibt es für den Seher nur in der Vollmacht des Geistes, der aus dem Zeugnis Jesu hervorgeht und sich immer darauf bezieht. Aus dieser inneren Einheit ergeben sich alle weiteren Aussagen über den Geist in der Offb35: Durch den Geist und in der Kraft des Geistes (en pneu´mati) wird Johannes ergriffen und schaut seine Visionen (Offb 1,10; 4,2; 17,3; 21,10; 22,6), d. h. das Wirken des Geistes ermöglicht den Inhalt der Offb. Die stereotype Wendung ‚was der Geist den Gemeinden sagt‘ in Offb 2,7.11.17.29; 3.6.13.22 verweist auf die geistgewirkten Auditionen des Johannes. Der Prophet redet im Namen des erhöhten Christus, der die Wirklichkeit der Gemeinden kennt und aufdeckt. Das unmittelbare Wirken des Erhöhten durch den Geist zeigt sich auch in Offb 14,13, wo der Geist den Makarismus für die im Herrn Verstorbenen spricht; ebenso in 22,17, wo der Geist und die Braut (als Sinnbild der Kirche) um das Kommen Jesu bitten. In Offb 1,4; 3,1; 4,5 und 5,6 ist von den ‚sieben Geistern Gottes‘ die Rede. Wie auch sonst in der Offb benennt die ‚Sieben‘ als Vollzahl die Ganzheit des Wirkens Gottes (Gen 2,2). Zum Thron Gottes gehören die sieben Geister, die nach Offb 5,6 in direkter Verbindung mit Christus stehen und auf die Erde gesandt sind. Insgesamt sind die Geistaussagen in der Offb von einer Grundkonzeption geprägt: Der erhöhte Christus partizipiert an der von Gott ausgehenden Geistwirklichkeit und ermöglicht so das geistgewirkte kraftvolle Zeugnis des Propheten Johannes.
13.4 Soteriologie (Zur Literatur s. o. 13.2: Christologie)
Im Mittelpunkt der Soteriologie der Offb steht die Vorstellung der erlösenden Kraft des Blutes des Lammes. Programmatisch wird dies bereits in Offb 1,5f formuliert: „und von Jesus Christus, dem treuen Zeugen, dem Erstgeborenen der Toten und Herrscher über die Könige der Erde. Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut und uns zur Königsherrschaft gemacht hat und zu Priestern vor Gott, seinem Vater, ihm sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ In dreifa-
34 Zu weiteren Zeugen vgl. Offb 2,18; 6,9; 12,11.17; 17,6; 19,10b; 20,4. 35 In Offb 13,15 (der Geist des Bildes des Tieres); 16,13.14 (des Drachens/des Teufels); 18,2 (unreine
Geister) werden negative Geister erwähnt, die als Gegenbild der göttlichen Geistwirklichkeit fungieren.
722 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
cher Weise werden mit dieser Doxologie die Grundlagen für das Folgende gelegt36: 1) Die Liebe Christi erscheint als das umfassende Motiv seines Handelns (vgl. Offb 3,9.19; 20,9), das sich 2) in der Erlösung der Seinen durch sein Blut vollzog und 3) zur Konstituierung eines königlich-priesterlichen Gottesvolkes führt. In Offb 5,9 wird 1,5f aufgenommen und um das Motiv des Loskaufes erweitert: „Würdig bist du, das Buch zu empfangen und seine Siegel zu öffnen! Denn du wurdest geschlachtet und hast für Gott erkauft mit deinem Blut aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation.“ Das Blut verdeutlicht die konkrete, einmalige Lebenshingabe Jesu am Kreuz; sein Leben war der Kaufpreis für die Errettung aus der Gewalt der Sünde und dem Bereich der widergöttlichen Mächte. Deshalb sind die 144 000 „losgekauft aus den Menschen als Erstlingsgabe für Gott und das Lamm“ (Offb 14,4b). Das Blutmotiv verbindet darüber hinaus dieses Geschehen mit atl. Verweissystemen; Bezüge werden zu Jes 5337, zur Passa-Tradition38 oder zum Tamidopfer (Num 28,3–8; Ex 29,38–42) gesehen39. Am wahrscheinlichsten bleibt der Bezug auf die Passa-Tradition, da die Verbindungen zu Jes 53 zu schwach sind und beim Tamidopfer immer zwei Schafe geopfert werden und an keiner Stelle im Neuen Testament auf die atl. Tamidtexte Bezug genommen wird. Die Blutvorstellung bringt die sühnende Dimension des Kreuzesgeschehens zum Ausdruck 40. Das Blut löst von der Macht der Sünde (Offb 1,5b), macht die Kleider der Zeugen hell (7,14) und „durch das Blut des Lammes“ haben die treuen Zeugen (die Versuchungen/die Welt) überwunden (12,11). Soteriologische Qualität haben in der Offb natürlich auch die Endereignisse, speziell der Sieg über den Drachen (Offb 12,7–12)41, die Errichtung einer immerwährenden Herrschaft Gottes als Neuschöpfung (s. u. 13.8) und die Einsetzung der Glaubenden zu Priestern für Gott (s. u. 13.7). Die Glaubenden werden in die endzeitliche Heilswirklichkeit Gottes, die Tore des himmlischen Jerusalem eingehen (Offb 22,14). Die Gemeinde ist sich gewiss: „Die Rettung/das Heil (v swtvrı´a) kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm“ (Offb 7,10; vgl. 12,10; 19,1).
36 Vgl. dazu J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 33–35; M.E. HERGHELEGIU, Sieh, er kommt mit den Wolken (s. o. 13.2), 39–72; TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes (s. o. 13.2), 486f; eine umfassende Darstellung bietet J. A. DU RAND, Soteriology in the Apokalypse of John, in: J. G. van der Watt (Hg.), Salvation in the New Testament (s. o. 6.4), 465–504. 37 Vgl. H. KRAFT, Offb (s. o. 13), 108–110. 38 Vgl. z. B. T. HOLTZ, Christologie (s. o. 13.2), 39–47; J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 75f; U.B. MÜLLER, Offb (s. o.
13), 162; TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes (s. o. 13.2), 483 f. 39 Vgl. P. STUHLMACHER, Lamm (s. o. 13.2), 532; F. TTH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 218–224. 40 TH. KNÖPPLER, Das Blut des Lammes (s. o. 13.2), 503. 41 Vgl. dazu P. BUSCH, Der gefallene Drache. Mythenexegese am Beispiel von Apokalypse 12, TANZ 19, Tübingen 1996.
Anthropologie 723
13.5 Anthropologie Auf der Schnittstelle zwischen Anthropologie, Soteriologie und Eschatologie steht der Lebensbegriff in der Offb42. Der Loskauf von der Macht der Sünde durch das Lamm (Offb 1,5) gewährt den Eingang in das wahre, wirkliche und umfassende Leben bei Gott und mit Christus. Das ‚Buch des Lebens‘ (Offb 3,5; 17,8; 20,12.15) ist das „Buch des Lebens des geschlachteten Lammes“ (13,8; vgl. 21,27). In dieses Buch sind von Anfang an all jene eingetragen (vgl. Dan 12,1), die nicht abfallen und das Tier anbeten. Wenn sie ‚überwinden‘ und damit standhaft im Glauben bleiben, empfangen die Christen den ‚Kranz des Lebens‘ (Offb 2,10) und dürfen vom ‚Baum des Lebens‘ essen im endzeitlich wiederkehrenden Paradies (2,7; 22,2.14.19). Mit der Paradiesmetaphorik ist auch die Vorstellung des ‚lebendigen Wassers‘ (Offb 7,17; 21,6; 22,1.17) verbunden. Umfassendes Leben ohne die Bedrohung durch den ‚zweiten‘, eschatologischen Tod (Offb 2,11) eröffnet sich allein denen, die den Glauben nicht verleugnen und im treuen Zeugnis leben (Offb 2,13.19; 13,10; 14,12).
13.6. Ethik W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments (s. o. 3.5), 330–347; R. SCHNACKENBURG, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments II (s. o. 6.6), 257–270; S. SCHULZ, Neutestamentliche Ethik (s. o. 3.5), 527–553; T. HOLTZ, Die „Werke“ in der Johannesoffenbarung, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums, WUNT 57, Tübingen 1991, 347–361; H. RÄISÄNEN, The Clash between Christian Styles of Life in the Book of Revelation, StTh 49 (1995), 151–166; J. KERNER, Die Ethik der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4. Esra, BZNW 94, Berlin 1998; K. SCHOLTISSEK, „Mitteilhaber an der Bedrängnis, der Königsherrschaft und der Ausdauer in Jesus“ (Offb 1,9). Partizipatorische Ethik in der Offenbarung des Johannes, in: K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision (s. o. 13), 172–207; M. WOLTER, Christliches Ethos nach der Offenbarung des Johannes, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 189–209.
Die Offb ist eine durchgehend ethisch ausgerichtete Schrift. Dies verdeutlicht bereits ihre Form, denn die briefliche Rahmung in Offb 1,1–8 und 22,21 muss als unmittelbarer Ausdruck der Adressatenbezogenheit des Gesamtwerkes verstanden werden43. Die briefliche Ausrichtung als direkte Anrede und unmittelbare Einflussnahme zeigt sich deutlich in den Sendschreiben (Offb 2,1–3,22)44. Die Gemeinden sehen sich äuße42 Von einer ausgeführten Anthropologie kann man in der Offb nicht sprechen; zentrale Begriffe fehlen entweder (no´moß, pisteu´ein, suneı´dvsiß), kommen nur vereinzelt (3mal amartı´a, 4mal pı´stiß) oder ohne inhaltliche Prägnanz vor (sa´rx, sw˜ma, kardı´a). 43 Vgl. M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief
(s. o. 13), 160; U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 91 f. 44 Zu den Sendschreiben vgl. F. HAHN, Die Sendschreiben der Johannesapokalypse, in: Tradition und Glaube (FS K. G. Kuhn), hg. v. G. Jeremias/ H.W. Kuhn/H. Stegemann, Göttingen 1971, 357– 394; H.-J. KLAUCK, Das Sendschreiben nach Perga-
724 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
ren und inneren Gefahren ausgesetzt, die zudem innergemeindlich unterschiedlich beurteilt wurden. Von außen lasten nicht nur Kriegsgefahr (Offb 6,2–4)45, Teuerung (6,5f) und Pressionen von Seiten der Juden (2,9f; 3,9) auf den Gemeinden, sondern in Kleinasien herrscht das scheußliche Tier (Offb 13; 17; 18), der römische Imperator, und mit ihm das zweite Tier, die kaiserliche Priesterschaft ( 13,11–17; 16,13f; 19,20). Sie propagiert den Herrscherkult als eine für alle Bürger verpflichtende religiös-politische Loyalitätserklärung. Christen werden bedrängt (Offb 2,9), ins Gefängnis geworfen (2,10), und ein Zeuge wurde bereits getötet (Antipas in Offb 2,13; vgl. 6,9–11). Die Stunde der Versuchung kommt über den Erdkreis (Offb 3,10). Von innen bedrohen Falschlehren die Identität der Gemeinden (vgl. Offb 2,2; 2,6.15; 2,14, 2,20ff). Aber auch von ‚Lauheit‘ im Glauben ist die Rede (Offb 2,4f; 3,15f), einige Gemeinden sind kraftlos (3,8) und ‚tot‘ (3,1). Für den Seher besteht ein innerer Zusammenhang zwischen beiden Gefährdungen, denn ebenso problembeladen wie die Distanzierung vom Götter- und Herrscherkult war in seinen Augen die lautlose Assimilierung an Ausdrucksformen heidnischer Religiosität. Sie stellte die Reinheit der Endzeitgemeinde in Frage, Anpassung erschien somit als eine sublime Form des Abfalls46. Besonders die Polemik gegen Pergamon (Offb 2,12–17) und Thyatira (2,18– 29) mit dem Vorwurf des Genusses von Götzenopferfleisch (2,14.20) lässt erkennen, dass es in den Gemeinden Strömungen gab, die für eine gemäßigte Kooperation mit dem Kaiserkult votierten. Er besaß zweifellos auch eine große Anziehungskraft, wie seine durchgängige Darstellung als verführerische Frau zeigt (Offb 17,1.5; 19,2; 21,8; 22,15). Demgegenüber betont Johannes, dass nur jene das verborgene himmlische Manna essen werden, die sich von den irdischen sakralen Mahlzeiten fernhalten (vgl. Offb 2,17). Das ethische Konzept des Sehers ist der Versuch, angesichts dieser Gefährdungen die Identität der Gemeinden zu wahren. Dazu dienen die Überwindersprüche und die Siegesmetaphorik. In den Überwindersprüchen (vgl. Offb 2,7.11.17.26; 3,5.12.21: „wer überwindet/siegt, dem werde ich geben . . .“)47 tritt die ethische Konzeption der Offb deutlich hervor: Die Verheißung der zukünftigen Durchsetzung der Herrschaft Got-
mon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, Bib 72 (1991), 183–207. 45 Offb 6,2 könnte sich auf die Parthereinfälle beziehen (vgl. Offb 9,13ff; 16,12), Offb 6,3f auf Auseinandersetzungen innerhalb des Römischen Reiches; vgl. U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 167; J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 81. 46 Vgl. U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 113 u. ö.; H.J. KLAUCK, Sendschreiben nach Pergamon, 181: „Als viel gefährlicher betrachtet der Apokalyptiker den ‚weichen‘ Kaiserkult, wenn jemand z. B. in einer Festmenge lediglich mitlief oder an einem geselligen
Vereinsmahl mit religiösen Obertönen teilnahm, weil er sich dem aus beruflichen Rücksichten nicht gut verschließen zu können glaubte und die Bekenntnisfrage davon überhaupt nicht tangiert sah.“ Klauck sieht aus textpragmatischer Perspektive in der Aufforderung „Zieht fort aus ihr (sc. die große Stadt Babylon), mein Volk“ (Offb 18,4) das Hauptanliegen des Verfassers (vgl. a. a. O., 176–180). 47 Die klarste religionsgeschichtliche Parallele zum Überwindermotiv bietet Epict, Diss I 18,21- 24; zur Analyse der Überwindersprüche vgl. M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief (s. o. 13), 212–217.
Ethik 725
tes motiviert zur Standhaftigkeit gegenüber den Verführungen in der Jetztzeit. Das Dulden und Leiden der Christen wird in Entsprechung zum Leiden Christi gesehen (vgl. Offb 2,3; 6,9), dem positiv die Einsetzung der Christen in den Herrschaftsbereich Gottes am Ende der Zeiten entspricht (vgl. Offb 3,21; 20,4; 21,7: „Wer überwindet, wird dies erben und ich werde sein Gott sein, und er wird mir Sohn sein“). Das Motiv des ‚Überwindens/Siegens‘ (nika´w) verbindet die Glaubenden mit dem Weg Christi (Offb 5,5; 17,14); das Weltgeschehen wird ebenso wie der eigene Lebensweg als ein unaufhörlicher Kampf zwischen Gott und den widergöttlichen Mächten aufgefasst. Am Ende steht dabei der Sieg Gottes/des Lammes und damit auch der Glaubenden über das Widergöttliche (Offb 5,5; 12,11; 15,2; 17,14; 21,7)48. Beides wird in Offb 12,11 aufs engste miteinander verbunden: „Sie haben ihn (den Satan) besiegt durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tode.“ Das Zeugnis-Motiv lässt ebenfalls die christologische Grundlegung der Ethik erkennen, denn der erste und bleibende Zeuge ist Jesus Christus selbst (Offb 1,5; 3,14; 22,20). Johannes sieht sich in der Nachfolge als Zeuge (Offb 1,2.9; 19,10) und die Christen insgesamt sind Zeugen, die um des Zeugnisses willen leiden (2,13; 6,9; 11,7; 12,11; 17,6; 19,10; 20,4)49, denn der Drache/Teufel kämpft gegen jene, „die Gottes Gebote halten und das Zeugnis Jesu festhalten“ (Offb 12,17). Nicht zufällig trägt Antipas als erster Blutzeuge den Titel, den Jesus selbst trägt: ‚der treue Zeuge‘ (Offb 1,5; 2,13). Standhaftigkeit und Treue bis in den Tod als ethische Grundhaltungen werden von Johannes ausdrücklich positiv als Werke (erga) der Christen angesehen (Offb 14,13: „Selig die Toten, die im Herrn sterben ab jetzt. Ja, sagt der Geist, damit sie ausruhen von ihren Werken, denn ihre Werke folgen ihnen nach“)50. Die geforderte klare Abgrenzung muss sich im Leben der Gemeinde zeigen, denn das Gericht ergeht nach den Werken (vgl. Offb 2,23; 18,6; 20,12f; 22,12). Es gilt ‚umzukehren‘ (metanoe´w in Offb 2,5.16.21f; 3,3.19; 9,20f; 16,9.11) zu den ‚ersten Werken‘ (2,5). Positiv beschreiben Offb 2,19 und 13,10 die Werke der Christen: Liebe, Glaubenstreue, Gerechtigkeit, Geduld, Dienst und Ausdauer. Bemerkenswert daran ist, dass die Werke an keiner Stelle an das jüdische Gesetz gebunden werden (no´moß fehlt in der Offb!). Diesen Werken stehen negativ die Lasterkataloge in Offb 9,21; 21,8 22,15 gegenüber, in denen mit der Polemik gegen Götzendienst, Zauberei und Unzucht die am Kaiserkult partizipierenden Christen als
48 Vgl. zum Siegesmotiv J.-W. TAEGER, „Gesiegt! O
himmlische Musik des Wortes!“. Zur Entfaltung des Siegesmotivs in den johanneischen Schriften, ZNW 85 (1994), 23–46; J. KERNER, Ethik, 47–52. 49 Vgl. hierzu H. E. LONA, „Treu bis zum Tod“, in: Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 442–46; H. ROOSE,
„Das Zeugnis Jesu“. Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes, TANZ 32, Tübingen 2000. 50 Vgl. T. HOLTZ, Die „Werke“ in der Johannesapokalypse, in: Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 426–441.
726 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
Feiglinge, Treulose und Lügner charakterisiert werden, die nicht in das ewige Heil eingehen51. Der Seher entfaltet eine kraftvolle Ethik, eine Ethik des Widerstandes und Standhaltens, die jede opportunistische Anpassung ausschließt. Zwischen dem ethischen Verhalten der Mehrheit und dem der Gemeinden wird eine klare Trennlinie gezogen (Offb 18,4), die sich am ‚Götzendienst‘, d. h. dem Kaiserkult orientiert52. Ein klarer ethischer Standpunkt sollte nicht mit ethischem Rigorismus gleichgesetzt werden53, denn Johannes vertritt eine die eigene Identität betonende Ethik, die notwendigerweise antithetisch und dualistisch ausgerichtet sein muss, wenn eine Gemeinschaft in Bedrängnis überleben will. Der Seher ist Mitteilhaber an der Bedrängnis (Offb 1,9)54 und er teilt mit den Gemeinden das Schicksal einer stigmatisierten Minderheit, die zugleich in der Gewissheit des bereits erfolgten Sieges und der Teilhabe an der himmlischen Königsherrschaft Christi (Offb 2,26–28; 3,21; 22,7.14) lebt.
13.7 Ekklesiologie A. SATAKE, Die Gemeindeordnung in der Johannesapokalypse, WMANT 21, Neukirchen 1966; E. SCHÜSSLER-FIORENZA, Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse (s. o. 13); A. SATAKE, Kirche und feindliche Welt, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 329–349; CHR. WOLFF, Die Gemeinde des Christus in der Apokalypse des Johannes, NTS 27 (1981), 186–197; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 169–189; P. HIRSCHBERG, Das eschatologische Israel. Untersuchungen zum Gottesvolkverständnis der Johannesoffenbarung, WMANT 84, Neukirchen 1999; C. JOCHUM-BORTFELD, Die zwölf Stämme in der Offenbarung des Johannes. Zum Verhältnis von Ekklesiologie und Ethik, München 2000; R. KAMPLING, Vision der Kirche oder Gemeinde eines Visionärs?, in: K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision (s. o. 13), 121–150.
Ekklesiologie, Ethik und Eschatologie sind in der Offenbarung aufs engste miteinander verbunden. Ausgangspunkt der Ekklesiologie ist die Christologie (s. o. 13.2), deutlich sichtbar in der brieflichen Eröffnung (Offb 1,1–8) und der Beauftragungsvision Off 1,9–20, wo der Gekreuzigte und Erhöhte in der Mitte seiner Gemeinden erscheint. Die Siebenzahl bringt die Fülle und Vollendung des göttlichen Schöpfungs-
51 Vgl. dazu O. BÖCHER, Lasterkataloge in der Apokalypse des Johannes, in: Leben lernen im Horizont des Glaubens (FS S. Wibbing), hg. v. B. Buschbeck u. a., Landau 1986, 75–84; H. GIESEN, Lasterkataloge und Kaiserkult in der Offenbarung des Johannes, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 210–231.
52 Vgl. M. WOLTER, Christliches Ethos, 206. 53 Als ethischer Rigorist wird Johannes eingestuft von S. SCHULZ, Ethik (s. o. 3.5), 550–553; J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 169 f. 54 K. SCHOLTISSEK, Mitteilhaber, 191ff, spricht zutreffend von einer ‚partizipatorischen Ethik‘ bei Johannes.
Ekklesiologie 727
werkes zum Ausdruck und steht ekklesiologisch für die Kirche in ihrer von Gott gewollten und durch Christus ermöglichten Gesamtheit (Offb 1,20)55. Die Kirche als Ort der Herrschaft Christi
In seiner Kirche herrscht Christus durch sein Wort, wie es in den Sendschreiben vom Seher empfangen wurde (Offb 2,1–3,22). Zugleich wird das Herrschaftsmotiv im Horizont der Weltgeschichte thematisiert, so dass die Ekklesiologie universale Züge bekommt. Dies verdeutlicht vor allem die Wortgruppe basileu´ß („König“: 21mal in der Offb), basileı´a („Herrschaft/Reich“: 9mal in der Offb) und basileu´ein („herrschen“: 7mal in der Offb). Bereits in Offb 1,5 erscheint der Gekreuzigte als ‚Herr über die Könige der Erde‘; die Herrschaft über die Welt gehört Gott „und seinem Gesalbten und er wird herrschen in alle Ewigkeit“ (Offb 11,15; vgl. ferner 11,17; 15,3; 19,6.16). Im endzeitlichen Kampf gegen die Könige und Reiche dieser Welt (Offb 6,15; 9,11; 10,11; 16,10.12; 17,2.9.12.18; 18,3.9 u. ö.) wird das Lamm siegen, „denn es ist der Herr der Herren und der König der Könige, und die Seinen sind Berufene, Auserwählte und Getreue“ (Off 17,14b). Die Glaubenden und Getauften partizipieren schon in der Gegenwart an dieser Herrschaft des Lammes, bereits jetzt hat sie Christus durch seinen Opfertod zur Herrschaft und zu Priestern eingesetzt (Offb 1,6.9; 2,26–28; 5,10). Dies wird aber erst in der Zukunft offenbar werden (vgl. Offb 5,10b: „sie werden herrschen über die Erde“; 20,6; 22,5), denn der Kampf zwischen Gott und dem Satan ist zwar im Himmel (und im Prinzip auch auf Erden) definitiv entschieden, aber mit dem Motiv des Satanssturzes (Offb 12,1–17) verdeutlicht Johannes, dass die widergöttliche Macht auf der Erde noch machtvoll gegenwärtig ist und die Kirche bedrängt56. Der Herrschaft Gottes steht auf Erden die Herrschaftsanmaßung des Tieres gegenüber und gefährdet die Gemeinde. Zwar tragen die Christen als Getaufte das Siegel des lebendigen Gottes (vgl. Offb 7,1–8; 3,12), dennoch sind sie sehr real der Macht und den Verlockungen des Tieres ausgesetzt, bis hin zum Tod als Märtyrer (Offb 2,13; 6,9–11; 13,9f). Die Kirche als Ort der Heiligkeit
Angesichts dieser existentiellen Bedrohung propagiert der Seher die ‚Heiligkeit‘ der Gemeinde (25mal aÇgioß in der Offb)57. So wie Gott (Offb 4,8) und Jesus (3,7; 6,10) heilig sind, sollen auch die Glaubenden und Getauften heilig sein, d. h. sich in der Auseinandersetzung mit der widergöttlichen Macht bewähren. Gegen die Heiligen wird Krieg geführt (Offb 13,7) und das Blut der Heiligen ist vergossen worden (16,6; 17,6; 18,24). Deshalb wird von den Heiligen Geduld, Treue und Glaube gefordert (Offb 13,10; 14,12), damit sie dann nach dem Sieg (Offb 18,20; 20,9) in Gerechtigkeit ihren Lohn empfangen (11,18; 22,11f) und an der Hochzeit des Lammes teilnehmen 55 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7), 171–174. 56 Vgl. J. ROLOFF, a. a. O., 176 f.
57 Vgl. dazu TH. SÖDING, Heilig, heilig, heilig (s. o. 13.1), 63 ff.
728 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
(19,8). Heiligkeit erscheint als Prädikat eines konsequenten Glaubens, so dass nicht alle Getauften zu jenen 144 000 gehören, die in das Buch des Lebens eingeschrieben sind, die weißen Kleider anlegen und vom Baum des Lebens essen werden (Offb 3,5). 144 000 als Summe der Christen in der Endzeit ist eine runde, zugleich aber auch nicht überschaubare Symbolzahl (Offb 7,4–8; 14,1–5), die mit den 12 Stämmen Israels mit je 12 000 Mitgliedern all jene umfasst, die ‚makellos‘ sind (14,4f), die nicht ‚lau‘ sind (3,15f) oder sogar abfallen und das Tier oder sein Bild anbeten (20,4). Die Zahl 144 000 ist aber keineswegs auf Israel und damit auf die Judenchristen begrenzt, wie Offb 5,9; 7,9–17 deutlich zeigen58. Sie repräsentiert vielmehr die universale Kirche des Sehers aus allen Völkern. Zu ihr gehören all jene Erwählten, die in Bewährung und Treue aushalten, denn sie kämpfen so auf der Seite des Lammes und werden am Sieg teilhaben (Offb 17,14). In besonderer Weise repräsentieren die Märtyrer (Offb 2,13; 6,9.11; 13,10; 16,6; 17,6; 18,24; 20,4) die Gemeinde der Heiligen, weil an ihnen abgelesen werden kann, was ‚Standhaftigkeit und Glaube‘ heißt (13,10). Ihnen wird die Teilhabe am 1000jährigen Reich verheißen (Offb 20,4). Der besondere Ort der Heiligkeit ist der Gottesdienst. Die liturgische Ausrichtung des Werkes tritt in Offb 1,10 und 22,20 offen hervor: Der Seher empfängt seine Vision am Herrentag und verweist auf das Herrenmahl, um die im Gottesdienst hörende Gemeinde unmittelbar in das Geschehen mit hineinzunehmen (vgl. Offb 3,20). An exponierter Stelle finden sich in der Offb hymnische Stücke (vgl. 4,8ff; 5,9ff; 11,15ff; 15,3f; 16,5f; 19,1ff), die Gott für die vorangehenden oder folgenden Ereignisse preisen und so den Blick von den irdischen Drangsalen hin zur Herrlichkeit Gottes lenken59. Bedeutsam ist ein weiterer Aspekt: Im Gottesdienst realisiert sich für die Gemeinde bereits ihre neue Identität unter der Herrschaft des Lammes und unter bewusster Zurückweisung der Herrschaftsansprüche Babylons/Roms60. Als Ort der wiederholten Einübung und Praxis des neuen Seins ist der Gottesdienst auch ein Ort des Widerstandes gegen die widergöttlichen Mächte und, indem die Offb im Gottesdienst verlesen wird, auch ein Ort des Hörens, Sehens, Lernens und Erkennens61. Dieses Modell einer im Lobpreis, in der Anbetung und in der Erkenntnis solidarischen Kirche erklärt das auffällige Schweigen zu Amtsstrukturen, die für das ausgehende Jahrhundert in Kleinasien vorauszusetzen sind (Past, Ign)62. Johannes erwähnt allein das Prophetenamt, ohne es aber als Institution zu kennzeichnen. Seine Ekklesiologie ist vom Gedanken einer bruderschaftlichen Kirche geprägt. Der Seher bezeichnet sich als Mitbruder (Offb 1,9; 19,10; 22,9), er hat Anteil an den gegenwärtigen Bedräng58 Vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 90 f. 59 Vgl. dazu G. DELLING, Zum gottesdienstlichen Stil
(s. o. 13.1), passim; K. P. JÖRNS, Das hymnische Evangelium, StNT 5, Gütersloh 1971; R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus (s. o. 4), 44–59. 60 Die ‚sieben Hügel‘ in Offb 17,9 sind ein deutlicher Hinweis auf Rom.
61 Vgl. K. WENGST, Pax Romana (s. o. 6.6.2), 166; M. WOLTER, Christliches Ethos (s. o. 13.6), 207 f. 62 U. B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte (s. o. 9.1), 33f, vermutet, dass Johannes bewusst diese Strukturen ignorierte und deshalb an die Gemeindeengel als himmlische Repräsentanten der Gemeinden schrieb.
Ekklesiologie 729
nissen der Gemeinden. Alle Gemeindeglieder sind Knechte (vgl. Offb 2,20; 6,11; 7,3; 19,2.5; 22,3), auch die Engel erscheinen nur als Mitknechte (vgl. 22,9). Sogar Christus wird sich mit den Christen brüderlich den Thron teilen (vgl. Offb 3,21; 20,6; 21,7). Die Kirche als ideale Stadt
Das zentrale ekklesiologische Bild der Offb ist das vom Himmel herabsteigende neue Jerusalem (Offb 21,1–22,5; vgl. 3,12)63. Nachdem die Unheilsstadt Rom/Babylon vernichtet wurde (Offb 18,1–24), erscheint als endzeitliches Gegenbild das neue Jerusalem als Neuschöpfung Gottes. Das Jerusalem-Bild war Johannes aus dem antiken Judentum64 und der ntl. Tradition vorgegeben (Gal 4,21–31) und fügt sich in die für ihn wichtige heilsgeschichtliche Kontinuität zu Israel ein65. Am Ende der Zeit tritt die Idee der Gottesstadt als Realisierung der idealen Herrschaft Gottes und der idealen Gemeinschaft der Glaubenden an die Stelle ihres vergänglichen Abbildes. In der Ausgestaltung des Bildes setzt der Seher bemerkenswerte Akzente: Die Beschreibung der Stadt (vgl. Offb 21,12ff) orientiert sich vor allem an der Vision Ezechiels vom nachexilischen Tempel (Ez 40–48)66, so dass nun die ideale Stadt als Ort des bleibenden Wohnens Gottes erscheint67. In ihr gibt es keinen Tempel mehr, denn „der Herr, Gott, der Allherrscher, ist ihr Tempel und das Lamm“ (Offb 21,22). Im neuen Jerusalem als idealer Stadt eröffnet sich somit in der Gegenwart Gottes das gemeinschaftliche Leben der Mitbrüder. Dieses zukünftige Geschehen entfaltet schon jetzt in der Gemeinde seine heilvolle Wirklichkeit, die hilft, die offenen und verborgenen Gefährdungen zu überstehen, um dann am Ende der Zeit offen hervorzutreten.
63 Zur Analyse vgl. D. GEORGI, Die Visionen vom himmlischen Jerusalem in Apk 21 und 22, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. Lührmann/G. Strecker, Tübingen 1980, 351–372, J. ROLOFF, Neuschöpfung in der Offenbarung des Johannes, JBTh 5 (1990), 119–138; P. SÖLLNER, Jerusalem, du hochgebaute Stadt. Eschatologisches und himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum, TANZ 25, Tübingen 1998; F. HAHN, Das neue Jerusalem in: Kirche und Volk Gottes (FS J. Roloff), hg. v. M. Karrer/W. Kraus/O. Merk, Neukirchen 2000, 284–294. 64 Vgl. Tob 13,16–18; 14,5; äthHen 90,28f; 4Esr 7,26.44; 8,52; 9,26 u. ö. 65 Vgl. J. ROLOFF, Kirche (s. o. 6.7) 178–181, beschreibt zutreffend den mehrschichtigen Befund: Auf der einen Seite fehlen ausdrückliche atl. Schriftbeweise, auf der anderen Seite wird die Symbolik Israels (z. B. Zwölfzahl, Zion, Tempel, Jerusalem) umfassend aufgenommen.
66 Ezechiel ist für den Seher die bevorzugte atl. Re-
ferenzschrift; vgl. dazu B. KOWALSKI, Die Rezeption des Propheten Ezechiel in der Offenbarung des Johannes, SBS 52, Stuttgart 2004; D. SÄNGER (Hg.), Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung, BThSt 76, Neukirchen 2006. 67 D. GEORGI, Die Visionen vom himmlischen Jerusalem in Apk 21 und 22, 354ff, vermutet wahrscheinlich nicht zu Unrecht, dass auch Vorstellungen der idealen hellenistischen Polis im Hintergrund stehen. Eine Skizze des neuen Jerusalem bietet O. BÖCHER, Mythos und Rationalität, in: Mythos und Rationalität, hg. v. H. H. Schmid, Gütersloh 1988, (163–171) 169, der zutreffend die Zahlensymbolik/ Zahlenrätsel, Steinkunde, Astronomie/Astrologie, Engel/Dämonen als rationale Elemente der Weltdeutung einstuft.
730 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
13.8 Eschatologie H. W. GÜNTHER, Der Nah- und Enderwartungshorizont in der Apokalypse des heiligen Johannes, fzb 41, Würzburg 1980; J. ROLOFF, Weltgericht und Weltvollendung in der Offenbarung des Johannes, in: H.-J. Klauck (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994, 106– 127; W. ZAGER, Gericht Gottes in der Johannesapokalypse, in: F. W. Horn/M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. o. 13), 310–327; B. J. MALINA, On the Genre and Message of Revelation. Star Visions and Sky Journeys, Peabody 1995.
Der Gattung entsprechend ist die Eschatologie in der Offb besonders reich ausgestaltet. Innerhalb der mythisch ausformten Grundbewegung von der gegenwärtigen Bedrängnis hin zum endgültigen Sieg im Himmel und auf Erden kommt der Verhältnisbestimmung von präsentischer und futurischer Eschatologie eine besondere Bedeutung zu. Präsentische und futurische Eschatologie
Basis der Eschatologie sind die heilspräsentischen Aussagen in Offb 1,5b.6; 5,9f; 14,3f; die Christen sind durch den Opfertod des Lammes schon Teilhaber an der Königsherrschaft (Offb 1,9)68. Die zukünftigen Ereignisse erbringen nicht die grundlegende Wende der Geschichte, sondern sie sind das endgültige Offenbarwerden und die Bewährung der Macht Gottes69. Zugleich blickt die Gemeinde gespannt auf die Parusie Christi (Offb 1,7; 19,11), die ‚in Kürze‘ erfolgen wird (2,16; 3,11). Weil das Lamm den Drachen in Wahrheit schon besiegt hat, kann Christus den Gemeinden auf das flehentliche „Komm!“ (Offb 22,17) antworten: „Ja, ich komme bald“ (22,20; vgl. 2,16; 3,11.20; 4,8; 22,7.12.17.20). Der Seher sieht sich und seine Gemeinden an der unmittelbaren Wende vom gegenwärtigen zum kommenden Äon, vor dem Anbruch der 1000jährigen Herrschaft Christi (Offb 20,4: die treuen Zeugen „gelangten zum Leben und herrschten mit Christus 1000 Jahre“)70. Mit der Symbolzahl 1000 und der Vorstellung eines messianischen Zwischenreiches vertritt Johannes nicht einen spekulativen Chiliasmus (cı´lioi = „tausend“), sondern betont, dass vor dem endgültigen Ende auch die gegenwärtige Welt von Christus durchdrungen wird71. Auf das 68 Vgl. T. HOLTZ, Christologie (s. o. 13.2), 70: „Die
Erlösung der Gemeinde ist gegenwärtige Wirklichkeit; sie hat das als Besitz, was einst der Gemeinde des alten Bundes als eschatologische Gabe verheißen war.“ 69 Vgl. M. KARRER, Johannesoffenbarung als Brief (s. o. 13), 136. 70 Die Vorstellung eines 1000jährigen Reiches hat hellenistische und jüdische Wurzeln; vgl. O. BÖCHER, Art. Johannes-Apokalypse (s. o. 13), 625f; zur Interpretation der Vorstellung vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 189–192.
71 U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 341, lehnt ein rein symbolisches Verständnis des 1000jähriges Zwischenreiches ab und meint: „Es soll ein irdisches Reich sein, das im Gegensatz steht zur überwundenen Herrschaft des römischen Imperiums“; zur Thematik vgl. ferner J. FREY, Das apokalyptische Millennium, in: C. Bochinger u. a. (Hg.), Deutungen zum christlichen Mythos der Jahrtausendwende, Gütersloh 1999, 10–72; M. KARRER, Himmel, Millennium und neuer Himmel in der Apokalypse, JBTh 10 (2005), 225–259.
Eschatologie 731
1000jährige Zwischenreich folgt nach letzten Kämpfen das ewige Jerusalem (Offb 21f), in dem die Erlösten sich sammeln werden. In der Gegenwart herrscht noch das Tier/die Stadt Rom, aber nur eine ‚kleine Zeit‘ (Offb 17,10). In nur ‚einer Stunde‘ (Offb 18,10) wird das Gericht über die große Stadt kommen und sie wird verbrennen (18,9). Deutlich bestimmen die zukünftigen Ereignisse bereits die Gegenwart, d. h. die im Tod des Lammes begründete Zukunft des Heils prägt entscheidend die Eschatologie der Offb. In der Gegenwart beginnt sich trotz des Widerstandes der Welt durchzusetzen, was Johannes im himmlischen Bereich schon als vollendet schauen darf 72. Schon jetzt sind die Christen Bürger des neuen Jerusalem (Offb 7,4.8; 21,12f), sie sind versiegelt (7,1–8), ihre Namen sind schon in das Buch des Lebens eingetragen (13,8; 17,8) und die Gemeinde ist bereits die Braut des Messias (21,2b.9b). Die gegenwärtig hereinbrechenden Ereignisse können deshalb die Gemeinden nicht überwinden, wenn sie ausharren und erkennen, wie Gottes Handeln in der Geschichte sich vollzog und sich nun vollenden wird. Das Gericht
In der Offb kann von einer durchgehenden Gerichtsbewegung gesprochen werden: Bereits in der Präsentation des ‚Menschensohn-Ähnlichen‘ dominiert der Gerichtsgedanke, deutlich sichtbar in den alles durchdringenden Augen (Offb 1,14) und dem aus seinem Mund hervorgehenden zweischneidigen Schwert (1,16). Die Aufnahme des Schwertmotivs in Offb 2,26 und 19,15.21 zeigt, dass Christus als Richter durch sein Wort (Offb 19,13) fungiert, sowohl gegenüber den Gemeinden als auch der Welt73. Den Gemeinden wird nicht ein allgemeines Zorn- oder Vernichtungsgericht angekündigt, sondern durch die Androhung von Züchtigung sollen sie zur Umkehr bewegt werden (Offb 2,5.16; 3,3.18)74. Die Eröffnung des allgemeinen Zorngerichtes durch das Lamm setzt in Offb 4–5 ein mit dem Bild des thronenden Allherrschers und der Übertragung der Weltherrschaft an das Lamm75. Mit dem Empfang des Buches mit den sieben Siegeln (Offb 5,7) aus der Hand des Thronenden wird das Lamm zum Weltenrichter eingesetzt, dem nun alle Wesen huldigen (5,8–14). Der Vollzug des Gerichtes wird in drei Visionszyklen entfaltet, wobei die jeweils letzte Vision den neuen Zyklus aus sich eröffnet. Zunächst werden die sieben Siegel geöffnet (Offb 6,1–8,5), es schließen sich die sieben Posaunen (8,6–11,19) und nach einem Inne72 Abwegig ist angesichts dieser bewussten Zuordnung von Zukunft und Gegenwart die These von B. J. MALINA, On the Genre and Message of Revelation, 266, Johannes vertrete als ‚astral prophet‘ ausschließlich eine präsentische Eschatologie: „It seems quite certain that ancient Mediterraneans were not future-oriented at all. In other words, there is nothing in the book of Revelation that refers to the fu-
ture. Even the new Jerusalem is descending right now.“ 73 Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund (Jes 11,4; 49,2; Ps Sal 17,35; 18,15f) vgl. T. HOLTZ, Christologie (s. o. 13.2), 127. 74 Vgl. W. ZAGER, Gericht Gottes, 312 f. 75 Zur Analyse vgl. F. TTH, Der himmlische Kult (s. o. 13), 288–294.
732 Die Johannesoffenbarung: Sehen und Verstehen
halten der Bewegung (Offb 12–13: Kampf mit den widergöttlichen Mächten; Offb 14: Bewahrung der Christen im Endgeschehen) die sieben Schalen an (15,1–16,21). Die sieben Schalen werden in Offb 15,1 ausdrücklich als Abschluss bezeichnet, „mit denen sich der Zorn Gottes vollendet“. Dieser Zäsur entsprechend gilt die letzte Schale (Offb 16,17–21; vgl. 14,28) Babylon/Rom, dessen Untergang breit in Offb 17–18 beschrieben und in 19,1–10 bejubelt wird76. Zur vollen und endgültigen Realisierung des Gerichtes durch den Menschensohn (Offb 19,12–16) über die feindlichen Mächte bedarf es vor allem noch der Vernichtung des Drachens/Satans, der nach Offb 20,1–3 für 1000 Jahre in den Abgrund geworfen wird77. Die Fesselung des Satans leitet das 1000jährige messianische Zwischenreich ein, in dem die Märtyrer herrschen werden: „Die übrigen Toten gelangten nicht zum Leben, bis die 1000 Jahre vollendet sind. Dies ist die erste Auferstehung. Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teil hat. Über diese hat der zweite Tod keine Macht; vielmehr werden sie Priester Gottes und Christi sein und mit ihm 1000 Jahre regieren“ (Offb 20,5–6). Für die Auserwählten ist offenbar die ‚erste Auferstehung‘ die endgültige Auferstehung 78, während nach dem endgültigen Sturz des Satans (Offb 20,7–10) ein allgemeines Weltgericht (20,11–15) nach den Werken stattfindet (20,12–13), aus dem jene auferstehen werden, deren Werke in das Buch des Lebens geschrieben sind79. Durch die Differenzierung einer ‚ersten‘ und einer späteren Auferstehung sollen die Leser/Hörer der Offb motiviert werden, standzuhalten und an der ‚ersten‘ Auferstehung teilzuhaben. Mit dem himmlischen Jerusalem in Offb 21–22 verwirklicht sich vollständig die Herrschaft Gottes und des Lammes und prägt bereits die Gegenwart der bedrängten Gemeinden. Die eschatologische Grundkonzeption des Sehers ist klar zu erkennen: Er schreibt sein Werk im Horizont der bereits angebrochenen und sich durchsetzenden Herrschaft Gottes/des Lammes. Er vertritt eine lineare Geschichtsschau, die von den gegenwärtigen Plagen zum endzeitlichen Heil verläuft. Die Geschichte besitzt für ihn einen Anfang und ein Ende, wobei sich mit dem endzeitlichen Kampf der Gedanke einer göttlichen Neuschöpfung verbindet: Gottes himmlische Welt wird an die Stelle des Irdischen treten und alles verwandeln.
76 Zur Frage, ob und inwiefern Offb 13 und 17 auf einzelne Kaiser zu deuten und mit der Vostellung vom Nero redivivus verbunden sind, vgl. U. B. MÜLLER, Offb (s. o. 13), 297–300; H.-J. KLAUCK, Do they never come back? Nero redivivus and the Apocalypse of John, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien, WUNT 152, Tübingen 2002, 268–289.
77 Vgl. Platon, Phaid 249a.b 78 Vgl. J. ROLOFF, Offb (s. o. 13), 11 f. 79 Zur jüdischen Vorstellung einer Auferstehung nur der Gerechten vgl. PsSal 3,12; äthHen 91,10; 92,3.
Theologiegeschichtliche Stellung 733
13.9 Theologiegeschichtliche Stellung Die Offenbarung des Johannes schildert nur scheinbar ein Geschehen in fernen Welten, sie ist im Gegenteil ganz in der Wirklichkeit und ganz nah bei ihren Gemeinden80. Darin liegt ihre einmalige Stärke und erklärt sich ihre nachhaltige Wirkungsgeschichte81. Die Wirklichkeit der Gemeinden wie der Gesellschaft insgesamt war kultisch strukturiert. Alle Städte der Sendschreiben sind vom Kaiserkult beeinflusst82, so dass diese Lebenswirklichkeit sich natürlicherweise auch in der Wirklichkeitskonstruktion der Johannesoffenbarung widerspiegelt. Ebenso evident ist die tiefe Verwurzelung der Offb in jüdischen Vorstellungen, denn die gesamte Schrift ist durchzogen von offenen Anspielungen auf atl. kultische Motive. Im Gegensatz zum Mythos, der im weitesten Sinne Erzählung sein will, ist Kult erhoffte, erbetene und erwartete Epiphanie, Offenbarung und Einbruch des Göttlichen in die Welt des durch Zeit und Raum begrenzten Menschen. Indem der gottesdienstliche Kultvollzug als existentielles Grundphänomen begriffen wird, das Sinnbildung und Orientierungssicherung ermöglicht, eröffnet sich die Partizipation der gegenwärtigen Heilsgemeinde an diesem Geschehen. Zugleich ist die Offb ein Weisheitsbuch83, das umfassend antikes Bildungsgut sammelt und in die kultisch-prophetische Grundausrichtung integriert. Der Seher entfaltet in und mit der Offb ein die irdischen Nöte transzendierendes Kultgeschehen und verbindet es mit einer apokalyptischen Geschichtssicht, aus deren Perspektive heraus das Weltgeschehen und die bedrängte individuelle Existenz gleichermaßen verstehbar werden. Die Offb thematisiert Grundelemente des Glaubens (Bedrängnis/Standhaftigkeit/Bekenntnistreue/Kampf) und führt sie einer ermutigenden Perspektive zu. Partizipation am Sieg Gottes und des Lammes sowie Antizipation des von Gott gestifteten himmlischen Heilsgeschehens münden in ein Geschichtsbild, das trotz seiner Bildvielfalt von einem einzigen Gedanken bestimmt ist: den irdisch Bedrängten die Gewissheit des himmlischen Sieges zu vermitteln84.
80 Vgl. K. BACKHAUS, Apokalyptische Bilder? (s. o. 13), 423: „Die Johannes-Offenbarung bewegt sich leichtfüßig in den Gefilden des Himmels. Und doch lässt sie sich punktgenau historisch erden.“ 81 Zur Wirkungsgeschichte vgl. G. MAIER, Die Johannesoffenbarung und die Kirche, WUNT 25, Tübingen 1981; G. KRETSCHMAR, Die Offenbarung des Johannes. Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend, CThM.B 9, Stuttgart 1985. 82 Zur Einführung des Herrscher-/Kaiserkultes in den Städten des westlichen Kleinasien durch Augustus vgl. Dio Cass 51,20.
83 Vgl. O. BÖCHER, Aspekte einer Hermeneutik der
Johannesoffenbarung, in: W. Pratscher/M. Öhler (Hg.), Theologie in der Spätzeit des Neuen Testaments, Wien 2005, 23–33. 84 Die theologische Qualität dieser Leistung wird auch nicht annähernd erfasst, wenn man wie R. BULTMANN, Theologie, 525, konstatiert: „Man wird das Christentum der Apk als ein schwach christianisiertes Judentum bezeichnen müssen.“
Autorenregister
dna, J. 137 Agamben, G. 182 Agersnap, S. 318 Aland, K. 496, 507 Albani, M. 67, 184 Albertz, M. 386 Alexander, L. 433, 444 Alkier, St. 199, 213, 223, 501 Allison, D. C. 153, 350, 399 Althaus, P. 148, 264 Anderson, P. N. 629 Anton, P. 542 Appold, M. L. 620 Arnal, W. E. 350 Arnold, C. E. 521, 523 Arnold, G. 370 Asgeirsson, J. M. 350 Asher, J. R. 207 Ashton, J. 619, 646 Assmann, A. 23, 25–26 Assmann, J. 36, 41 Attridge, H. W. 594 Auffarth, Chr. 544 Augenstein, J. 686 Aune, D. E. 258, 312, 399, 430, 712, 716 Avemarie, F. 205, 273, 478, 579, 586–588 Ayuch, D. A. 470 Baarlink, H. 483 Bäbler, B. 196 Bachmann, M. 274, 439 Back, F. 548 Backhaus, K. 58–59, 64, 294–295, 297, 387, 389–390, 430, 432, 489, 594, 597–598, 601, 608, 613, 712–714, 716, 719, 723, 726, 733 Badiou, A. 182, 239 Baer, H. v. 437, 460 Balch, D. L. 490–491 Ball, D. M. 646 Balla, P. 38
Balz, H. R. 498 Barnett, P. 105, 173 Barrett, C. K. 173, 432, 620, 628, 706 Bartchy, S. C. 90 Barth, G. 145, 224, 227–228, 258, 283, 399, 422, 462, 464 Barth, K. 211 Barthes, R. 161 Bauckham, R. 344, 579, 614–615, 617, 696, 712–713, 716 Bauer, J. B. 564 Bauer, K.-A. 258–260 Bauernfeind, O. 431 Baum, A. D. 498 Baumbach, G. 116, 185 Baumgarten, J. 185, 316, 319–320 Baumotte, M. 48 Baur, F. Chr. 181 Beck, D. R. 691 Becker, E.-M. 60, 343, 369 Becker, J. 47, 58, 63–64, 66, 70–71, 73, 77, 107, 111, 115, 124, 130, 138, 173, 177, 181, 185, 240, 275, 316, 320, 481, 483, 490, 492, 619, 630, 641, 644, 655, 660, 673, 702, 706 Becker, M. 104–105, 110 Behm, J. 666 Behrends, O. 268 Beker, J. C. 181 Belle, G. van 619, 637, 648, 654, 661–662, 702 Bellen, H. 342–343 Bendemann, R. v. 34, 151, 265, 431, 443, 447, 451, 461 Berger, K. 15, 47, 102, 104, 115, 169, 616– 617 Berger, P. L. 24 Bergmeier, R. 673, 676–677 Berner, U. 494 Best, E. 395 Bethge, H.-G. 51
Autorenregister 735
Betz, H. D. 286, 292, 327, 401, 408 Betz, O. 104, 137, 180, 234, 666 Beutler, J. 258, 286, 295, 642, 669, 689, 710 Bickermann, E. 453 Bieberstein, S. 456 Bieringer, F. 225 Bieringer, R. 622 Birt, Th. 345 Bittner, W. J. 637, 678 Black, C. C. 395 Blank, J. 629, 633, 643, 676, 702 Blass, F. 167 Blinzler, J. 136, 507 Blischke, F. 294–295, 297–299 Böcher, O. 58, 104, 644, 712–713, 718, 726, 729, 730, 733 Bock, D. L. 669 Boers, H. 199 Borg, M. 47 Boring, M. E. 128, 312, 356, 369, 385, 713, 715–716 Bormann, L. 431, 475–476 Bornkamm, G. 47, 50, 102, 116, 170, 181, 248, 292, 399, 405, 418, 424, 503, 506, 510, 629, 666, 695 Bösen, W. 119, 137, 478 Bousset, W. 145, 176, 712 Böttrich, Chr. 335, 577, 622, 648, 686 Bovon, F. 78, 99, 103, 431, 434, 462, 467, 477 Brandenburger, E. 61, 111, 258, 397 Braumann, G. 431, 433, 436–437, 477 Braun, H. 47, 50, 285, 536, 594 Breytenbach, C. 30, 184, 199, 225–228, 230– 232, 368–369, 376, 396–397, 432, 438 Broadhead, E. K. 376 Brockhaus, U. 248, 303, 310 Brodersen, K. 312 Broer, I. 55, 88, 115, 118, 121, 139, 150, 399, 415 Brown, R. E. 137, 619–620, 695 Brox, N. 498, 502, 541, 557, 564, 573, 577– 578 Brucker, R. 48, 54, 111, 134, 145, 163, 168– 169
Büchele, A. 459, 462 Büchsel, F. 252 Bühner, J.-A. 110, 641, 645, 667, 703 Bujard, W. 503 Bultmann, R. 15, 30–32, 37–38, 44, 47–50, 53, 56, 116, 132, 136, 146, 148, 157, 162, 181, 191, 205, 210–211, 232, 240, 246, 254, 256, 258–259, 261, 265, 274, 281, 294–295, 319, 343, 351, 564, 568, 619, 626, 640, 645, 655, 666–667, 673–674, 679, 685, 687–688, 695, 702, 704 Burchard, Chr. 47, 102, 122, 431, 441, 578– 579, 581–587 Burfeind, C. 438 Burge, G. M. 664, 666 Burger, Chr. 404, 504, 507 Burkert, W. 157–158, 332 Burkett, D. 648 Burridge, R. A. 349 Busch, P. 722 Busemann, R. 395 Busse, U. 431, 451 Bussmann, C. 167 Campenhausen, H. v. 41, 149, 204, 541 Camponovo, O. 71, 76 Cancik, H. 494, 544 Cancik-Lindemaier, H. 288 Capes, D. B. 164 Carlson, St. C. 50 Cassirer, E. 21 Catchpole, D. 349 Cebulj, Chr. 646 Charlesworth, J. H. 696 Childs, B. S. 15 Chilton, B. 47, 119 Christoph, M. 244 Clarke, A. D. 303, 311, 515 Clauss, M. 343, 377, 384, 493–494 Collins, A. Y. 376, 496 Collins, J. J. 130–131 Collins, R. F. 537, 540 Colpe, C. 130, 521, 530 Combrink, H. J. B. 389
736 Autorenregister
Conrad, Chr. 17 Conzelmann, H. 32, 44, 47, 61, 66, 131, 163, 166, 181, 213, 240, 254, 256, 304, 314, 386, 431, 436–437, 448–451, 463, 474–475, 486–487, 490, 541 Crossan, J. D. 47, 51–52, 75, 110, 135, 203 Cullmann, O. 145 Culpepper, A. 619, 691, 696–697 Crüsemann, F. 116, 233 Dalferth, I. U. 34, 37, 149, 204, 209, 213, 216, 229 Dassmann, E. 503, 554, 558 Dautzenberg, G. 286, 312, 603 Davies, W. D. 399 Debrunner, A. 167 Dechow, J. 369–370, 373 Degenhardt, H. J. 470 Deichgräber, R. 145, 507, 565, 568, 728 Deines, R. 116, 399, 402, 413–416, 422, 426, 429 Deissmann, A. 181, 252, 544, 559 Delling, G. 225, 237, 296, 331, 495, 506, 564, 714, 728 Delobel, J. 349–350 Demke, Chr. 184 Dettwiler, A. 181, 503, 511–512, 654–655, 668, 671 Dewey, J. 386 Dibelius, M. 343, 431, 437–438, 445, 541, 557, 562, 578, 581, 587, 590 Diefenbach, M. 433, 622–623 Dietzfelbinger, Chr. 664, 666 Dihle, A. 235, 363 Dobbeler, A. v. 258, 418, 423 Dobbeler, St. v. 58 Doble, P. 464 Dobschütz, E. v. 536 Dodd, C. H. 619–620 Doering, L. 123–124 Dohmen, Chr. 40 Dömer, M. 462 Donelson, L. R. 542 Donfried, K. P. 537
Dormeyer, D. 136, 349, 369, 384–385 Downing, F. G. 52, 268, 333, 458 Droysen, J. G. 18–19 Dschulnigg, P. 368, 556, 618, 680, 691–692, 699 Dübbers, M. 504, 519 Du Toit, D. S. 50, 376–377, 388 Dunn, J. D. G. 47, 53, 58, 71, 116, 128–129, 134, 137, 145, 159, 181, 185, 192–193, 199, 244–245, 254, 256, 274–275, 316, 318, 355, 504 Dux, D. 20, 22 Ebel, E. 305 Ebeling, G. 50, 54 Ebersohn, M. 102 Ebner, M. 47, 95, 220, 376, 378, 388 Eckert, J. 101 Eckstein, H.-J. 258, 268, 287–289, 552, 702, 706 Eco, U. 696 Edwards, R. E. 419 Egger, P. 137, 140 Ego, B. 340 Eisele, W. 594, 610–612 Eisen, U. E. 432 Elliger, W. 446, 523 Elliott, J. H. 564 Elliott, N. 190, 203 Ellis, E. E. 483 Eltester, W. 289, 477 Erlemann, K. 83, 331, 338, 476 Ernst, J. 58, 60, 63, 145, 468, 483, 521 Esler, Ph. F. 15, 102, 273, 474 Estel, B. 23 Evans, C. A. 47–48, 50, 119, 447 Faßbeck, G. 75, 119 Fander, M. 456 Fantham, E. 345 Faust, E. 516, 521, 524, 526–528, 530 Fee, G. D. 244, 249 Feldmeier, R. 145, 184, 390, 401, 564–565, 569–572 Fendler, F. 368
Autorenregister 737
Feneberg, M. 370 Fenske, W. 294 Ferreira, J. 695 Fiedler, M. J. 416 Fiedler, P. 115, 399, 401, 418, 425 Fiore, B. 561 Fischer, K. M. 204, 490, 498, 500, 521, 527, 531–532, 629 Fitzmyer, J. A. 164–165, 431 Fleddermann, H. T. 350–351, 354, 356, 358, 360, 362, 367 Flender, H. 431, 477 Flusser, D. 47, 80 Foerster, W. 552 Fornberg, T. 614, 616–617 Forschner, M. 294, 302 Fortna, R. T. 619 Fortner, S. 75 Fossum, J. E. 156 Foster, P. 399, 424 Franck, E. 666 Frankemölle, H. 399, 402, 404, 407, 418, 579, 581, 584–588, 590–591 Frenschkowski, M. 355, 380, 498 Freudenberger, R. 496–497 Frey, J. 30, 51, 54, 134, 136, 145, 225, 258, 274, 614–615, 619, 640–641, 643–645, 647, 651, 654–657, 659, 661, 668, 688, 699, 701–702, 705–706, 708, 710, 712, 716, 730 Freyne, S. 76, 119, 129, 141 Frickenschmidt, D. 349 Friedrich, G. 145, 194, 218, 224, 227, 230, 232, 280–281, 283, 412 Friedrich, J. 234, 237, 301 Friese, H. 23 Fuchs, E. 48, 50 Fulda, D. 25 Funk, R. W. 82 Funke, H. 158 Furnish, V. P. 327 Gäbel, G. 594 Ganser-Kerperin, H. 439 Garleff, G. 579, 590, 592–593
Gathercole, S. J. 273 Gaukesbrink, M. 199, 228 Gebauer, R. 506 Geertz, C. 238, 698 Gehring, R. W. 303, 313, 491, 515 Geist, H. 410 Gemünden, P. v. 579–580, 585, 590, 592 Genette, G. 347 Georgi, D. 729 Gerdmar, A. 614 Gergen, K. J. 26 Gese, M. 521, 526–527, 529–530, 533, 535 Geyer, H.-G. 211–212 Gielen, M. 258, 399, 424, 514, 529 Giesen, H. 415–416, 712, 719, 726 Glonner, G. 712 Gnilka, J. 15, 44, 47, 95, 99, 123–124, 181, 252, 368, 372–373, 380–381, 388, 399–400, 407, 423, 434, 499, 504, 510, 521, 524, 527, 629, 643, 675, 679, 706 Goertz, H.-J. 17–19, 21–22 Goldhahn-Müller, I. 314, 421, 606, 685 Gonz lez, J. L. 460 Goppelt, L. 15, 30, 33, 44, 116, 130, 146, 490, 564, 567–568, 578, 706 Grabner-Haider, A. 301 Grass, H. 204, 210 Grässer, E. 70, 121, 184, 307, 338, 431, 483– 484, 487–488, 518, 542, 593–596, 600, 603–604, 608, 622 Grimm, W. 104 Groll, O. 704 Gruber, M. 662 Grundmann, W. 320, 464, 629, 697 Gubler, M.-L. 145, 390 Gunkel, H. 244 Günther, H. W. 730 Gutbrod, W. 258, 293 Guttenberger, G. 369–370, 374–375, 380 Güttgemanns, E. 220 Guyot, P. 490, 496 Haacker, K. 228, 268, 300, 443 Habermann, J. 168, 189, 507, 596, 630
738 Autorenregister
Haenchen, E. 431, 443, 463, 485, 654 Hafemann, S. J. 307 Häfner, G. 403, 542 Hagene, S. 462, 465 Hahn, F. 15, 30, 33, 37–40, 44, 54, 57, 63, 128, 130, 134, 145–147, 154, 160, 164, 181, 195, 237, 268, 280, 309, 328–329, 351, 369, 376, 379, 385, 395, 401, 420, 459, 465, 468, 499, 542, 551, 583, 614, 620, 629–630, 649, 673, 676–677, 679, 702, 713, 720, 723, 729 Haldimann, K. 655, 668 Hammes, A. 702 Hampel, V. 123, 130 Hanhart, R. 152 Hanson, J. S. 75 Harnack, A. v. 93, 115, 146, 176, 349, 352, 490 Harnisch, W. 82, 102, 316–317 Harrill, J. A. 285 Harrison, J. R. 251, 254–256 Hartingsveld, L. van 702, 706 Hartmann, L. 411 Hasitschka, M. 653, 684 Hasler, V. 542 Hatina, Th. R. 372 Haubeck, G. 250 Haufe, G. 326, 541 Hays, R. B. 294 Heckel, Th. K. 292, 531, 614, 618 Hedinger, H.-W. 17 Heekerens, H. P. 637 Hegermann, H. 507, 530, 541, 594–595, 599, 601 Heidegger, M. 42 Heil, Chr. 59, 89, 350–352, 355–357, 362, 431, 445 Heiligenthal, R. 51, 587, 614–615 Heininger, B. 72, 113, 456 Heise, J. 680, 694 Held, G. 399 Hemer, C. J. 432, 712 Henderson, S. 395 Hengel, M. 71, 73–74, 97, 100, 102, 115, 117,
120, 122, 129, 134, 136, 140, 145, 148, 152, 154, 157, 160, 165, 173–174, 176– 178, 189, 205, 268, 335, 338, 368, 374, 413, 429, 490, 498, 577, 579, 582, 586– 587, 619, 640, 655, 659, 696, 712–713, 716–718 Henten, J. W. van 228 Hergenröder, C. 677, 680 Herghelegiu, M.-E. 716, 718, 722 Hermann, I. 244–245 Herrenbrück, F. 91 Herzer, J. 551, 564, 567, 569–570, 574, 578 Higgins, A. J. B. 130 Hilgenfeld, A. 540 Hinrichs, B. 645 Hintermaier, J. 446 Hirsch-Luipold, R. 159 Hirschberg, P. 726 Hitzl, K. 494, 544 Hoegen-Rohls, Chr. 666, 668, 708 Hoffmann, H. 119, 270 Hoffmann, P. 59, 132, 204, 316, 320, 349– 350, 352–354, 359–360, 362, 366, 420 Hofius, O. 67, 88, 187–189, 202, 230, 263, 265, 275, 390, 594–595, 612, 619, 632, 666, 716–718 Hogan, L. E. 104 Hölkeskamp, K.-J. 16 Holland, G. S. 537 Holmn, T. 51, 127 Holm-Nielsen, S. 234 Holtz, T. 47, 184, 447, 458, 713–719, 722– 723, 725, 730–731 Holtzmann, H. J. 15, 540 Hommel, H. 265 Hoppe, R. 119, 504–505, 527, 578–579, 581, 591 Horbury, W. 135, 155 Horn, F. W. 151, 174, 207, 220, 244–245, 247, 249–250, 262, 336, 366, 431, 470–475, 477, 712, 716, 720, 723, 726, 730 Horsley, G. H. R. 523 Horsley, R. A. 71, 75–76, 190, 203, 207 Hossenfelder, M. 17
Autorenregister 739
Hotze, G. 220, 537–538 Hübner, H. 15, 30, 44, 115, 123–124, 153– 154, 181, 187, 191, 199, 242, 253, 268, 328–329, 504, 521–522, 525 Hübner, K. 161–162, 217 Hughes, F. W. 537 Hulmi, S. 307 Hummel, R. 399, 424 Hüneburg, M. 350, 354, 357 Hunzinger, C. H. 316, 322, 564 Hurst, L. D. 594 Hurtado, L. W. 145, 155–156, 159, 163, 165, 199, 355, 358, 401, 506 Ibuki, Y. 635, 666 Iser, W. 21 Jackson, F. J. F. 431 Jacobson, A. D. 349 Jaeger, W. 195 Janowski, B. 111, 225, 229 Järvinen, A. 352 Jaspers, K. 162 Jaspert, B. 162 Jendorff, B. 649 Jeremias, J. 15, 33, 47, 66, 68, 73, 82, 86–87, 126, 130, 142–143, 146, 169, 431 Jervell, J. 289, 432, 443, 445, 447, 470, 477 Jewett, R. 203, 258–259, 292, 537 Jochum-Bortfeld, C. 726 Johnson, L. T. 542, 551 Jones, S. 258, 285 Jonge, M. de 71, 145, 155, 165, 199, 376, 401, 448, 459, 568 Jörns, K. P. 728 Jung, F. 543–544, 652 Jüngel, E. 82 Kaestli, J.-D. 181 Kahl, W. 104 Kähler, Chr. 83–84, 120 Kähler, M. 31 Kalms, J. U. 712 Kamlah, E. 299
Kammler, H.-Chr. 187, 199, 619, 633, 666, 674, 676, 702, 706 Kampling, R. 375, 391, 399, 594, 726 Karrer, M. 128, 130, 134, 145, 164, 167, 210, 227, 336, 352, 366, 461, 511, 531, 559, 564, 579, 581, 594, 596–598, 602, 652, 712, 715, 718, 723–724, 729–730 Käsemann, E. 38–39, 48, 50, 116, 181, 199, 232, 234, 237, 240, 244, 247, 258, 265, 281, 300, 304, 329, 463, 503, 514, 516, 593, 600, 618–619, 632, 634, 655, 686– 687, 695 Kaufmann-Bühler, D. 552 Kee, H. C. 490 Kerner, J. 723, 725 Kertelge, K. 54, 104, 115, 137, 139, 145, 181, 199, 237, 310, 375, 390, 393, 395, 503, 527, 537, 542 Kessel, M. 17 Kierspel, L. 622–623 Kilgallen, J. J. 458 Killunen, J. 386 Kim, P. 244, 267 Kingsbury, J. D. 376, 399, 410–411 Kinlaw, P. E. 629, 639–640 Kirk, A. 350 Klaiber, W. 303, 629 Klappert, B. 212 Klauck, H.-J. 50, 111, 173, 196, 288, 370, 372, 395, 434, 470, 472, 489, 491, 493, 505, 724, 730, 732 Klehn, L. 252–253 Klein, G. 268, 287, 318, 321, 433, 480, 519, 531 Klein, H. 431, 457, 465, 468 Klein, R. 490, 496 Klinghardt, M. 324, 431, 468 Kloppenborg, J. S. 349–350, 354, 358, 360 Klumbies, P.-G. 184, 189, 369 Kmiecik, U. 378, 397 Knoch, O. 616–618 Knöppler, Th. 199, 226, 228, 309, 459, 653– 655, 659–660, 684, 716, 719, 722 Knorr-Cetina, K. 22
740 Autorenregister
Koch, D.-A. 153, 174, 192, 226, 375, 383, 385, 558 Koch, K. 130 Koch, St. 421 Koch, T. 47 Kocka, J. 19 Koester, C. R. 594, 619, 627, 647, 652 Kohle, K.-H. 43 Kohler, H. 644, 654–655, 657, 663, 689 Köhler, L. 502 Köhler, W.-D. 429 Kolakowski, L. 161 Kolb, F. 491, 494 Kollmann, B. 60, 90–91, 104–105, 107–110, 142–143, 178, 369, 380 Konradt, M. 324–325, 399, 423–424, 426, 579–580, 583, 585, 587, 590, 592 Kooten, G. H. van 504, 506, 510, 523 Korn, M. 431, 437, 449, 451, 459 Kosch, D. 115, 349, 362, 367 Koselleck, R. 36 Koskenniemi, E. 106, 147 Köster, H. 51 Kowalski, B. 460 Kraft, H. 719, 722 Kragerud, A. 696–697 Kramer, W. 145, 160, 164, 166 Kratz, R. 104 Kraus, W. 104, 126, 154, 173, 175, 179–180, 199, 228, 231, 284, 303, 306, 308, 642 Kremer, J. 432, 454, 458–460, 478 Kreplin, M. 130 Kretschmar, G. 542, 551, 733 Krieger, K. St. 139 Kristen, P. 363, 394 Krückemeier, N. 450 Kügler, J. 696, 697 Kuhn, H.-W. 122–123, 140, 149, 219, 222, 368, 386, 659 Kuhn, K. G. 267 Kuhn, P. 371 Kühschelm, R. 673 Kümmel, W. G. 48, 54, 121–122, 130, 217, 258, 264, 338, 436, 488
Kurianal, J. 598 Kurth, Chr. 431 Kurz, G. 72 Laato, T. 258, 264 Labahn, A. 153–154, 165 Labahn, M. 48, 104, 151, 153–154, 165, 199, 202, 244, 268, 294, 354–355, 357, 360, 629, 637, 641, 652, 661, 669, 683, 691, 710 Läger, K. 542, 546–547, 560 Lähnemann, J. 503 Lake, K. 431 Lampe, G. W. H. 460 Lampe, P. 420, 481, 490–491, 523, 590 Landmesser, Chr. 189, 244, 412–413 Lang, F. 61, 291 Lang, M. 151, 445, 657, 668 Lange, A. 340 Lange, J. 399, 405, 419, 422, 430 Larsson, T. 620 Lattke, M. 686 Laub, F. 540, 594, 600 Lautenschlager, M. 579 Lehnert, V. A. 461 Leipoldt, J. 41 Leppä, O. 504 Lessing, G. E. 208 Lichtenberger, H. 71, 116, 128, 205, 234, 263, 267–268 Lichtenberger, P. 225 Lietzmann, H. 228, 587 Limbeck, M. 136, 234 Lincoln, A. T. 521 Lindars, B. 594 Lindemann, A. 15, 34, 166, 181, 248, 272, 298–299, 316–318, 320, 323, 350–351, 357–358, 364, 366, 387, 503–504, 521–522, 527, 535, 537, 540–541, 547, 578, 586– 587, 613, 695 Linnemann, E. 82, 84, 86 Lips, H. v. 155, 189, 309, 355, 360, 542, 559, 676 List, E. 16 Loader, W. R. G. 594, 598, 629
Autorenregister 741
Lohfink, G. 417, 431, 439, 441–442, 444, 448, 453, 461, 477, 542, 561 Lohmeyer, E. 168 Löhr, H. 594, 600, 602, 605–606, 610 Lohse, E. 123–124, 170, 181, 228, 237, 437, 470, 503, 507, 509, 514–515, 564, 587 Loisy, A. 146 Lona, H. E. 504, 518–519, 521, 535, 725 Longenecker, R. N. 145 Löning, K. 431, 434, 437–438, 451, 470, 477, 481, 543, 550 Lorenz, Chr. 21 Lorenzen, T. 696–697 Löser, Ph. 72 Löwe, H. 510 Lübking, H.-M. 328 Luck, G. 106 Luck, U. 578, 586–587, 591 Luckmann, Th. 23–25, 41, 150, 216, 698 Lüdemann, G. 149, 173, 177, 179, 181, 204, 209, 327, 340–341, 432, 586–587 Lüdemann, H. 258 Ludwig, H. 504, 508 Lührmann, D. 54, 123, 258, 283, 349, 354– 355, 366, 369–370, 381, 388, 390, 510, 546, 603 Luttenberger, J. 511 Luz, U. 37, 78–79, 83, 90, 95, 98–99, 114– 115, 120, 122, 126, 147–148, 153, 173, 181, 190, 192, 237, 239, 254, 320, 328, 399, 401–406, 408–409, 412–413, 415–417, 419–426, 428–429, 447, 481, 490, 521, 527–528, 590, 608 Maas, W. 197 Mack, B. L. 51, 92, 649 Maddox, R. 432 Maier, F. 614 Maier, G. 190–191, 733 Maier, J. 139, 234 Maisch, I. 504, 506, 508, 511, 513, 516 Malherbe, A. J. 537, 549 Malina, B. J. 47, 51, 71, 90, 94, 102, 108, 712, 730–731
Mansfeld, J. 158 Mason, St. 59, 342 Marcus, J. 153, 369, 371 Marguerat, D. 47, 181, 428, 432, 434, 441, 443 Maritz, P. 619, 648, 702 Markschies, Chr. 292, 493 Marshall, H. 15, 499, 542 Martin, R. P. 524 Martyn, J. L. 619, 710 Marxsen, W. 204, 208, 368, 537, 539–540, 564 März, C.-P. 431, 440, 482 Mason, St. 59, 342 Matera, F. J. 145, 376, 401, 449, 457 Matthiae, K. 47, 125 Mayer, B. 190 Mayer, G. 89 Mayordomo, M. 334, 402 McGrath, J. F. 629 Meade, D. G. 498–499 Meeks, W. A. 94, 490, 641, 695 Meier, J. P. 47, 54–55, 58, 64, 71, 104 Meiser, M. 474 Mell, U. 203, 258, 275, 375 Melzer-Keller, H. 456 Menken, M. J. J. 153, 155, 537, 642 Merk, O. 60, 121, 294, 461, 483, 487–488, 506, 518, 531, 541–542, 551 Merkel, H. 71, 443, 468, 557–558 Merklein, H. 62, 66–68, 71, 77, 79, 82, 85, 88, 92, 94–95, 98, 107, 113, 122, 130–131, 142–143, 150, 166, 181, 192, 194–195, 300, 329, 517, 519–521, 523, 529, 532–533 Merz, A. 47, 50, 58, 63, 71, 94, 104, 124, 130– 131, 133, 204, 501, 542, 551 Metzger, B. M. 41 Metzger, P. 537, 540 Metzner, R. 309, 653, 656, 684–685 Meyer, A. 578 Meyer, M. W. 350 Meyer-Blanck, M. 72 Meyers, E. M. 119–120 Michel, H.-J. 481, 483
742 Autorenregister
Michel, O. 405 Michie, D. 369 Mikat, P. 476 Mineshige, K. 470, 473 Miranda, J. P. 640 Mittmann-Richert, U. 449 Moessner, D. P. 431 Moloney, F. J. 369, 619, 648 Mönning, B. H. 472 Morgenthaler, R. 431 Moxnes, H. 92, 119, 491 Moxter, M. 22 Moyise, St. 152–153, 155 Müller, Chr. G. 439, 713–714 Müller, K. 118, 131, 139 Müller, M. 130 Müller, P. 48, 373, 376, 394, 503–504, 518, 537–538 Müller, U. B. 58–60, 62–63, 128, 201, 490, 492, 503, 615, 629–630, 642, 654–655, 660, 666, 712, 717–718, 722–724, 728, 730, 732 Müseler, E. 502 Mußner, F. 329, 521–522, 524–525, 527–528, 530, 533, 535–536, 578–579, 581, 589, 619, 643, 666–667, 676, 682, 696 Nagel, T. 711 Nanos, M. D. 273 Nauck, W. 469 Nebe, G. 319, 431, 455 Neirynck, F. 350, 354, 458 Nepper-Christensen, P. 412 Neugebauer, F. 252, 564, 640, 678 Neugebauer, J. 702 Neusner, J. 90, 122, 124 Neyrey, J. H. 617 Nicklas, T. 699 Nicol, W. 637 Niebuhr, K.-W. 104, 120, 279, 284, 579, 582 Niederwimmer, K. 15 Niemand, Chr. 47, 689 Nilsson, M. P. 332 Nissen, A. 102, 118, 234
Nolland, J. 399, 429 Nolte, G. 243 Nützel, J. M. 396, 448 Oberlinner, L. 401, 418, 542, 544, 546–547, 555, 557, 559 Obermann, A. 154, 642 Oegema, G. 135 Oepke, A. 253 Öhler, M. 128, 178 Okure, T. 701 Oliveira, A. de 506, 511 Ollrog, W.-H. 315, 500 Omerzu, H. 336, 474 Onuki, T. 47, 76, 107, 644, 695, 700 Osiek, C. 491 Osten-Sacken, P. v. d. 206, 244, 247, 250 Oster, R. 523 Overman, A. 424 Paesler, K. 137–138 Painter, J. 619 Pamplaniyil, J. Th. 695 Pannenberg, W. 210, 212, 214 Panzram, S. 343 Paroschi, W. 633 Parsenios, G. L. 668 Passow, F. 203, 225 Patsch, H. 143 Paulsen, H. 579, 614–617 Pax, E. 546 Peerbolte, B. J. 104 Percy, E. 503, 521 Peres, I. 198, 324, 488 Perrin, N. 47, 71 Pesch, R. 104, 368, 381–382, 390 Petersen, N. R. 369 Petracca, V. 470, 473 Petzke, G. 104, 106 Petzoldt, M. 86 Pfeiffer, M. 248–249, 294, 686, 690 Pfitzner, V. C. 309 Philonenko, M. 74, 78 Pilch, J. J. 712
Autorenregister 743
Pilhofer, P. 202, 268, 274, 340, 453, 483 Piper, R. A. 349, 355 Plümacher, E. 431–433, 442–443, 488, 490 Pohlenz, M. 334 Pöhlmann, W. 85, 234, 237, 301 Pokorn , P. 145, 431, 449, 498, 512 Pokorny, J. 268 Polag, A. 349, 351, 358, 368 Pollefeyt, D. 622 Popkes, E. E. 51, 537, 539, 619, 624–625, 627, 640, 643, 645, 674, 686, 688, 693, 706 Popkes, W. 145, 167, 171, 579, 581–582, 584– 586, 591–592 Poplutz, U. 309 Popp, Th. 629, 638–640, 648, 698–699, 709 Porsch, F. 664–665 Porter, St. 55, 119 Powell, N. A. 348 Powers, D. G. 183, 237, 251, 256, 317 Prast, F. 481 Pratscher, W. 338, 579 Price, S. R. F. 493 Prigent, P. 712 Prostmeier, F. R. 564, 572–574 Przybylski, B. 415 Radl, W. 431, 449, 451, 454, 462, 473 Rahner, J. 654–656, 668 Räisänen, H. 34–35, 122, 181, 268, 277, 279, 328, 330, 334, 368, 381–382, 443, 723 Rand, J. A. du 722 Ranke, L. v. 18 Rapske, B. 474 Rau, E. 50, 83, 271 Reed, J. L. 47, 52, 75, 203 Rehkopf, F. 167 Reichert, A. 328, 564, 566–567, 573, 578 Reim, R. 154 Reimarus, H. S. 48, 116 Rein, M. 692 Reinbold, W. 60, 137, 490 Reinhartz, A. 620–621 Reinmuth, E. 28, 181, 213, 258, 414, 465– 466, 477, 537, 541, 677, 692
Reiser, M. 111–112, 115, 555 Rese, M. 184, 447, 459, 686 Resseguie, J. L. 691 Rhea, R. 648 Rhoads, D. 369 Ricœur, P. 18, 25 Richter, G. 619, 632, 694, 702 Riedl, J. 629 Riedo-Emmenegger, Chr. 75–76, 300 Riedweg, Chr. 147 Riesner, R. 140, 173, 178 Rigaux, B. 125 Riniker, Chr. 111–112, 114–115, 133 Rinke, J. 640 Rissi, M. 594, 712 Ristow, H. 47, 125 Ritschl, A. 93 Ritt, H. 138, 701 Robinson, J. M. 48, 51–52, 349–350, 355, 359–360, 367–368, 379 Robinson, W. C. 431 Rohde, E. 332 Röhser, G. 190–191, 258, 261, 263–264, 674, 676 Roloff, J. 47, 123–124, 131, 143, 252, 303– 304, 307–308, 310–311, 313, 395, 418, 420, 424, 428, 432, 436–437, 442, 458, 461, 470, 477–478, 480–481, 483, 516, 529, 531–533, 536, 542, 546–548, 551–552, 556–559, 561– 562, 574–576, 599, 608, 695–696, 712–713, 719–720, 722, 724, 726–730, 732 Rondez, P. 350 Roose, H. 537, 725 Rothfuchs, W. 153, 426 Rowland, Chr. 38, 156, 716 Ruckstuhl, E. 619 Ruiz, M. R. 695, 700–701 Rüpke, J. 494 Rusam, D. 447–448, 507, 622, 695 Rüsen, J. 16–20, 22–23, 36, 213–215, 707 S nchez, H. 440 Sabbe, M. 137 Sadananda, D. R. 620–621, 623
744 Autorenregister
Saldarini, A. J. 424, 429 Sand, A. 258, 399 Sanders, E. P. 47, 50, 54, 100, 116, 122, 129, 138, 181, 223, 242, 264, 268, 273–274, 277, 334 Sanders, J. A. 447 Sänger, D. 71, 120, 124, 203, 275, 328, 716– 717, 729 Sappington, T. J. 504 Sariola, H. 391 Sasse, M. 648 Satake, A. 726 Sato, M. 349–350, 360, 365 Sauer, J. 54, 94, 96, 100, 137–138 Schade, H. H. 199, 206–207, 316, 320 Schäfer, P. 71, 75 Scharbert, J. 233 Schelbert, G. 68 Schelkle, K. H. 15 Schenk, W. 465 Schenke, L. 47, 55, 58, 71, 95, 104, 115, 119, 173, 369, 375–377, 387, 393–394, 619, 639, 706 Schiefer-Ferrari, M. 220 Schierse, F. J. 593 Schille, G. 503 Schillebeeckx, E. 47, 54, 145 Schimanowski, G. 145, 719 Schlarb, E. 542, 546, 557–558 Schlatter, A. 36, 282 Schlier, H. 37, 39, 181, 185, 244, 249, 521– 522, 526, 677 Schlosser, J. 358 Schluep, Chr. 226, 251 Schmeller, Th. 295, 303, 364–365, 375, 503 Schmid, H. 633, 640 Schmidt, A. 48, 649 Schmidt, K. L. 343 Schmidt, K. M. 498, 564, 577 Schmidt, W. H. 72 Schmithals, W. 104, 258, 470, 475, 557 Schnabel, E. J. 173, 490 Schnackenburg, R. 94, 294, 376, 390, 393, 401, 415, 420, 448, 453, 470, 514, 521,
527–528, 552, 619, 629, 651, 654, 664, 666, 686, 699, 701, 708, 723, 725 Schneemelcher, W. 173, 490 Schneider, G. 431–432, 434, 437, 447, 451, 454, 462, 473, 483, 485, 487 Schnelle, U. 18, 37, 51, 83, 151, 157, 166, 171, 173, 177, 180–181, 184, 187, 199– 200, 202, 207, 217, 228–229, 234, 237, 240, 244, 246, 250, 252–253, 258, 268, 271–274, 277, 279, 294, 297, 316, 320, 323, 326, 336, 350, 367, 369, 388, 500, 504, 512, 516, 521, 537, 542, 564, 579, 594, 614, 619, 622–623, 626, 629, 633, 637, 639–641, 644, 654–657, 661, 664, 668–669, 673–674, 676, 678, 680, 686, 688–689, 695, 698–699, 704–706, 708, 713 Schnider, F. 128, 579, 587, 590 Schniewind, J. 404 Schoeps, H. J. 181 Schöllgen, G. 515 Scholtissek, K. 368–369, 382–383, 395–396, 503, 506, 537, 546, 625, 660, 668–670, 699, 710, 723, 726 Schottroff, L. 47, 88, 431, 444, 456, 470, 473, 629 Schrage, W. 94, 145, 160, 166, 170, 184, 186, 197, 248, 294–295, 393, 415–416, 443, 468, 470, 474, 514, 527, 529, 552, 572, 587, 589, 686, 723 Schreiber, H.-L. 243 Schreiber, St. 72, 96, 135, 458 Schröger, F. 564, 570, 575–576, 578, 595 Schröter, J. 20, 22, 33–34, 41, 47–48, 51, 53– 54, 72, 111, 119, 131–134, 136, 143, 145, 199, 225, 231, 250, 350, 352–354, 358, 432, 438, 489, 517 Schuchard, B. G. 154, 642 Schulz, S. 94, 349, 415, 418, 438, 470, 562, 646, 648, 686, 723, 726 Schumacher, L. 491 Schunack, G. 283 Schüpphaus, J. 234 Schürer, E. 122 Schürmann, H. 47, 70, 78, 143–144, 296, 349, 351, 449, 478
Autorenregister 745
Schüssler-Fiorenza, E. 712, 726 Schutter, W. L. 564 Schütz, A. 22–24, 216, 698 Schütz, F. 459 Schütz, R. 712 Schwankl, O. 117, 156, 627, 680–681 Schweitzer, A. 48, 50, 93, 100, 116, 181, 183, 200, 223, 238 Schweizer, E. 47, 145, 167, 244, 305, 370, 381–382, 399, 418, 422, 447–448, 504, 506, 510–511, 514–516,564, 576, 640, 645, 694 Schwemer, A. M. 71, 73–74, 102, 134, 152, 173, 176–178 Schwier, H. 340 Schwindt, R. 521–523, 629 Schwöbel, Chr. 215 Scott Kellum, L. 668 Scriba, A. 55, 57 Scroggs, R. 258 Seeley, D. 360 Seelig, G. 157 Seifrid, M. A. 199, 234, 240, 252–253 Sellert, W. 268 Sellin, G. 199, 206–207, 521, 527–528, 530– 531, 614–615 Sellin, S. 161–162, 166 Sevenich-Bax, E. 349, 362, 366 Sherwin-White, A. N. 136 Siber, P. 251, 316, 320 Sim, D. C. 424 Simon, L. 696 Slenczka, R. 48, 210 Smalley, S. S. 712 Smith, M. 50, 104, 110 Soards, M. L. 432 Söding, Th. 38, 40, 137, 145, 170, 181, 187, 189, 199, 220, 237, 239, 244, 248, 253, 257, 262, 284, 294, 296, 302, 368–369, 372–374, 389–393, 395–396, 459–460, 546, 550, 594, 619, 633, 654, 670, 686, 699, 708, 713, 715, 716, 727 Sohm, R. 310 Söllner, P. 729
Sonntag, H. 234–235, 268–269 Speyer, W. 498–499 Spieckermann, H. 72, 233 Spitta, F. 566, 614 Sprecher, M. Th. 701 Sproston North, W. E. 661 Städele, A. 554 Stählin, G. 702 Stambaugh, J. E. 490 Standhartinger, A. 500, 504, 509, 515, 552 Stanton, G. 399 Stark, R. 196, 490 Stauffer, E. 496 Stegemann, E. 128, 137, 173, 490–491 Stegemann, H. 58–60, 63, 95, 107, 117, 124, 401, 403, 430 Stegemann, W. 47, 51, 88, 90, 94, 102, 108, 173, 431, 444, 470, 473–475, 490–491 Steinmetz, F. J. 503, 521 Stemberger, G. 116, 332, 495 Stendahl, K. 399, 426, 429 Stenger, W. 541 Stenschke, Chr. 465, 467 Stettler, Chr. 504, 507 Stettler, H. 542, 546–547 Steyn, G. J. 462 Stibbe, M. W. G. 619, 691 Stimpfle, A. 684 Stolle, V. 263, 431 Storck, G. 322 Straub, E. 630, 654–655 Straub, J. 18, 23, 25–26 Strauss, D. F. 49, 209 Strecker, Chr. 108, 181, 221, 237, 253, 318 Strecker, G. 15, 30, 32, 34, 37, 44, 61, 66, 80, 95–99, 145, 153, 157, 171, 181, 192, 195, 223, 252, 273, 296, 320, 338, 341, 344, 351, 373, 399, 401, 405, 408, 413, 416– 417, 423, 426–427, 429–430, 574, 628, 640, 679, 689, 695, 706 Strobel, A. 136, 540, 594 Stuckenbruck, L. T. 156, 597, 718 Stuhlmacher, P. 15, 30, 33, 37, 39, 44, 130, 133, 181, 192–194, 227–228, 230–231, 234, 237, 240–241, 268, 301, 351, 368, 718, 722
746 Autorenregister
Suhl, A. 104, 371 Synofzik, E. 324, 326
Tuckett, C. M. 38, 130, 132, 350, 352, 354, 365, 431, 448 Twelftree, G. H. 104
Taeger, J.-W. 121, 431, 465–467, 712, 725 Tannehill, R. C. 395, 432, 443 Taubes, J. 182 Teichmann, F. 340 Telford, W. R. 369 Theißen, G. 15, 34–35, 47, 50–51, 54–56, 58, 63, 71, 75, 81, 90–91, 94, 102, 104, 108– 110, 121, 124, 126, 130–131, 133, 137, 173, 204, 250, 258, 264, 330, 343–344, 363–365, 369, 382, 409, 427, 472, 579– 580, 585, 590, 592, 594, 707 Theobald, M. 107, 192, 328, 595, 619, 630, 646, 669, 696 Thomas, J. C. 689 Thompson, J. W. 597 Thompson, L. 496, 712 Thompson, M. B. 274 Thompson, M. M. 620–621, 629–630, 637 Thornton, C. J. 432 Thüsing, W. 15, 30, 33, 44, 57, 146, 170, 184, 186–188, 199, 223, 245, 629, 635, 651, 659, 686 Thyen, H. 619, 640, 646, 657, 686, 706 Tilborg, S. van 648, 654, 691 Tillich, P. 72, 216 Tilly, M. 61, 152 Tiwald, M. 350, 364 Tödt, H. E. 130, 131, 349, 360 Tolmie, D. F. 224 Tth, F. 712–713, 715, 719, 722, 731 Trautmann, M. 128 Trilling, W. 399, 423, 537, 539–540 Trobisch, D. 345 Troeltsch, E. 214 Tröger, K.-W. 493, 683 Troyer, K. De 350 Trumbower, J. A. 674 Trummer, P. 500, 542, 551 Trunk, D. 104, 107 Tsuji, M. 579, 587
Übelacker, W. 594, 606–607 Udoh, F. E. 268, 273 Uebele, W. 639–640 Ulland, H. 712 Umbach, H. 237, 253, 262–263, 303, 314 Untergassmair, F. G. 462 Urban, Chr. 676 Urner, Chr. 496 Vahrenhorst, M. 424 Valantasis, R. 350 Vandecasteele-Vanneuville, F. 622 Vanhoye, A. 594 Vanoni, G. 71 Vegge, T. 182 Verheyden, J. 350, 431, 444, 448, 474 Vermes, G. 47, 50, 105, 128–130, 134, 137, 140, 164 Verner, D. C. 558 Vielhauer, Ph. 130–131, 145, 375, 431, 459 Viering, F. 204, 211 Vittinghoff, F. 496 Vogel, M. 307, 332 Vogels, H. J. 566 Vögtle, A. 130–132, 614, 713 Völkel, M. 483 Vollenweider, S. 107, 145, 156, 169, 181, 199, 202–203, 244, 246, 258, 285–286 Vorster, W. S. 385 Vos, J. S. 244–245 Voss, F. 199, 248 Vouga, F. 15, 104, 173, 369, 376, 490 Waal Dryden, J. de 564 Wagener, U. 515, 542, 554 Walaskay, W. 473 Walker, R. 399, 407 Walter, N. 169, 321–322, 324, 518 Wander, B. 479, 495 Wanke, J. 452, 478
Autorenregister 747
Waschke, E.-J. 135 Wasserberg, G. 431–432, 440–441, 461 Watson, D. F. 614 Watt, J. G. van der 224, 251, 619, 647–648, 672, 686, 694, 702 Webb, R. L. 58 Weber, R. 118, 236, 263–264, 270, 278, 375, 377–378, 381, 552 Wechsler, A. 177 Wedderburn, A. J. M. 173, 274 Weder, H. 71, 80–84, 90, 98, 101, 104, 107, 110, 199, 219, 243, 248, 263, 287, 295, 297, 370, 401, 408, 629–630, 633 Wehnert, J. 341, 432, 469 Weigandt, P. 639–640 Weischedel, W. 182 Weiser, A. 15, 176, 432, 437, 487, 542, 549, 557 Weiss, H.-F. 386, 594, 599–600, 603, 606, 608–609, 611–613 Weiss, J. 50, 93, 170, 350 Weiss, W. 386 Welck, Chr. 637 Wellhausen, J. 176 Welzer, H. 43 Wengst, K. 145, 167, 228, 295, 300, 507, 568, 619, 634, 706, 710, 728 Wenschkewitz, H. 300 Werdermann, H. 614 Westerholm, S. 274 Wetter, P. G. 256 Wibbing, S. 299 Wider, D. 595 Wiefel, W. 316, 321–322, 359 Wilckens, U. 15, 30, 33, 39, 44, 130, 149–150, 187, 210, 227–228, 237, 239, 241, 258, 268, 273, 300, 325–326, 330, 351, 431, 458, 463, 619, 628, 669, 688, 695, 706 Wilken, R. L. 490 Wilkens, W. 640 Williamson, R. 599 Wilson, R. McL. 504 Wilson, S. G. 477
Windisch, H. 240, 262, 295, 315, 587, 593, 666 Winninge, M. 234–235 Winter, D. 54–56 Winter, M. 668 Winter, P. 136 Wischmeyer, O. 102, 181, 248, 258, 274 Witulski, Th. 493, 519 Wolff, Chr. 166–167, 205, 207, 219, 248, 261, 290, 564, 726 Wolff, H.-W. 290 Wolter, M. 61, 71, 104, 111, 114, 199, 231, 294–295, 298, 302, 309, 438, 440, 474– 475, 484, 486–487, 498, 504, 506–507, 510–512, 514, 521, 527, 542, 544, 557, 559–561, 712, 716, 720, 723, 726, 728, 730 Wong, K. Ch. 399, 430 Wördemann, D. 349 Woyke, J. 515 Wrede, W. 33–35, 181, 223, 238, 273, 368, 381–382, 536 Wright, N. T. 47, 48, 71, 111, 128–129, 137, 141, 159, 181, 199, 203, 274 Wuellner, W. H. 578 Würthwein, E. 152 Yueh-Han Yieh, J. 401, 407 Zager, W. 111, 115, 730–731 Zahn, Th. 41 Zahrnt, H. 48 Zeilinger, F. 503, 507 Zeller, D. 95, 104, 134, 157, 165, 170, 173, 207, 240–241, 250, 254, 256, 349, 361, 366, 708 Zimmermann, A. 313, 591 Zimmermann, H. 594, 596, 598 Zimmermann, J. 109, 129, 135, 157, 165 Zimmermann, R. 295, 498–499, 502, 629, 647–648, 680 Zingg, E. 620–622 Zmijewski, J. 483 Zumstein, J. 619, 654–655, 657, 689 Zyl, H. C. van 462
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