Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz [1. ed.] 9783835352049, 9783835348790, 9783835348783


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German Pages 256 [257] Year 2022

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Kapitel 1: Einleitung
Kapitel 2: Theodor Herzls Weg
Kapitel 3: Unser Mann in Paris
Kapitel 4: Das Organisationsgenie
Kapitel 5: Der Griff nach den Sternen
Kapitel 6: Wenn ihr wollt, ist es doch ein Traum
Kapitel 7: Epilog: Der Blick vom Herzlberg
Dank
Abkürzungen
Abbildungsverzeichnis
Anmerkungen
Register
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Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat  Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz [1. ed.]
 9783835352049, 9783835348790, 9783835348783

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Derek Penslar Theodor Herzl Staatsmann ohne Staat Eine Biographie

Israel-Studien Kultur – Geschichte – Politik Band 5

Herausgegeben von Michael Brenner, Johannes Becke und Daniel Mahla

Derek Penslar

Theodor Herzl Staatsmann ohne Staat Eine Biographie Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de © der Originalausgabe: Derek Penslar 2020 Erschienen bei Yale University Press (USA ) unter dem Titel »Theodor Herzl. The Charismatic Leader« Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf © des Coverfotos: ullstein bild – Heritage Images ISBN (Print) 978-3-8353-5204-9 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4879-0 ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4878-3

Inhalt

1. Einleitung –7–

2. Theodor Herzls Weg –19–

3. Unser Mann in Paris –59–

4. Das Organisationsgenie –101–

5. Der Griff nach den Sternen –143–

6. Wenn ihr wollt, ist es doch ein Traum –185–

7. Epilog: Der Blick vom Herzlberg –227–

Dank –237– Abkürzungen –239– Abbildungsverzeichnis –239– Anmerkungen –240– Register –253–

Kapitel 1

Einleitung

Theodor Herzls Leben (1860–1904) war ebenso erstaunlich wie kurz. Wie wurde aus diesem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der Anführer der zionistischen Bewegung? Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch von tiefen, bisweilen gar abgründigen Leidenschaften besessen sein? Und warum begrüßten Zigtausende von Juden, darunter unzählige mit einem traditionellen, frommen Hintergrund, Herzl als ihren Führer? Dieses Buch versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Herzls Leben veranschaulicht, dass politische Führer von ihrer Gefolgschaft abhängig sind und auf sie Rücksicht nehmen müssen. Das Buch untersucht Herzls Persönlichkeit, illustriert aber auch, wie er von anderen wahrgenommen wurde und wie diese Wahrnehmungen wiederum auf sein Selbstgefühl wirkten. Die Geschichtstheorie eines »großen Mannes« meide ich bewusst, gerade weil diese Herangehensweise nicht die Geheimnisse von Herzls Größe enthüllt. Mein Werk ist das jüngste in einer langen Reihe von HerzlBiographien. Manche haben ihn als überlebensgroße Lichtgestalt, einen Propheten und Märtyrer für sein Volk oder als bedeutende Figur in der Geschichte jüdischen politischen Denkens beschrieben. Andere haben einen dezidiert kritischen Ton angeschlagen und sich auf Herzls psychische Leiden, gestörte Familienverhältnisse und Rivalitäten mit anderen Zionisten konzentriert.1 Aus all diesen Büchern habe ich viel gelernt, aber ich habe einen anderen Ansatz gewählt, der die Hagiographie ebenso wie die Dekonstruktion der Person vermeidet. Ich betrachte Herzl nicht als großen Denker, sondern als großen Führer, und ich lese seine zionistischen Schriften als Manifeste, nicht als Traktate – als Aufrufe zum Handeln, nicht als theoretische Diskurse. Herzl war ein zutiefst beunruhigter Mensch, und diese Sorgen erklären sicher nicht zuletzt, weshalb er sich 7

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dem Zionismus zuwandte, aber Herzls innere Dämonen beantworten eben nicht die Frage, wie und weshalb es ihm gelang, die Massen anzusprechen und die jüdische Welt zu verändern. Herzl stellte für verschiedene Leute etwas völlig Anderes dar: wie ein Bildschirm, auf den Juden ihre jeweiligen Sehnsüchte und Hoffnungen projizierten. Herzls Status als assimilierter Jude, der zu seinem Volk zurückkehrte, zugleich Zugehöriger und Außenseiter innerhalb der europäischen ebenso wie der jüdischen Gesellschaft, steigerte noch seine Anziehungskraft auf die jüdischen Massen. Zu guter Letzt besaß er ein elektrifizierendes Charisma. Die frühe zionistische Bewegung war besonders stark auf eine charismatische Führung angewiesen, weil sie klein, schwach und verstreut war und über keinerlei strukturelle Schirmherrschaft oder Sanktionsmöglichkeiten verfügte. Herzl hatte seinen Anhängern nur die nackte Hoffnung anzubieten – und nichts als Vertrauen, um sich ihre Unterstützung zu bewahren. Herzl besaß ein beeindruckendes Charisma, und er war sich seiner Macht durchaus bewusst. Aber Charisma ist kulturell bedingt. Wäre Herzl in eine andere Ära oder auf einen anderen Kontinent geraten, dann hätte er womöglich überhaupt nicht charismatisch gewirkt. Unter anderen Rahmenbedingungen wäre er möglicherweise nicht mehr als ein fanatischer Halb-Intellektueller gewesen, der viel Zeit in Kaffeehäusern verbrachte und eifrig Notizen in sein Tagebuch kritzelte. Neben der Aufmerksamkeit für den kulturellen Kontext hebe ich auch Herzls starken Willen und sein Talent zur Selbstinszenierung hervor. Seine provokativen, ausgefallenen und bisweilen empörenden politischen Reden und Aktionen waren sorgsam inszeniert. In dieser Hinsicht kann Herzl mit einem anderen großen Anführer jüdischer Herkunft verglichen werden: Benjamin Disraeli, dessen Anspruch auf die Führungsrolle des englischen Adels sogar noch haltloser und wagemutiger war als Herzls Ambition, der selbsternannte Wächter des jüdischen Volkes zu sein. Die vorliegende Biografie konzentriert sich auf drei miteinander verflochtene Themen: Herzls Innenleben, seine Beziehung 8

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zur zionistischen Bewegung und seine Stellung in der Welt als professioneller Reporter und amateurhafter Staatsmann. Das erste Thema bringt unweigerlich Herzls psychische Instabilität zur Sprache. Er litt an periodischen Anfällen von Depression und unberechenbaren Stimmungsumschwüngen. Er war egozentrisch und von Zweifeln geplagt. Distanziert und zurückhaltend wie er war, hatte Herzl nur wenige Freunde, und er führte keine einzige gesunde Liebesbeziehung. Seine Ehe war beklagenswert, er war ein abwesender Vater und alle drei Kinder litten unter psychischen Störungen. Herzls Hagiographen haben diese Themen stets umschifft oder bemäntelt, seine Kritiker hingegen haben sich darin gesuhlt. Ich habe jedoch die Absicht, weder das eine noch das andere zu tun. Vielmehr möchte ich zeigen, wie Herzls psychisches Leiden seine politische Leidenschaft schürte. Herzl brauchte unbedingt ein Projekt, um sein Leben mit Sinn zu erfüllen und die Finsternis seiner Depressionen in Schach zu halten. Der Zionismus war dieses Projekt, das ihn eindämmte, stützte und inspirierte. Von einer erstaunlichen Arbeitsmoral getrieben, ließ Herzl jedes Gramm seiner enormen Energie in seine zionistischen Aktivitäten fließen, die ihn physisch und psychisch erschöpften und zu seinem frühen Tod beitrugen. In seinem Buch A First-Rate Madness schreibt der Psychiater Nassir Ghaemi, dass viele große politische Führer der neueren Geschichte unter psychischen Störungen gelitten hätten. Indem er Persönlichkeiten wie Abraham Lincoln, Winston Churchill, Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. analysiert, schildert er deren Ringen mit Ängsten und Depressionen bis hin zu Selbstmordversuchen (wie im Fall Gandhis und Kings). Eine schwere Depression entzieht zwar dem Körper Kraft, doch bei milderen Verläufen kann sie einen Sinn für Realismus und die Fähigkeit zur Widerstandskraft und Empathie verleihen. Diese Führer hatten darüber hinaus einen Hang zur Hyperthymie, einem Überschwang der Gefühle, der beinahe einer manischen Psychose gleichkommt und unter Umständen Energie, Kreativität und charismatische Anziehungskraft erzeugt. 9

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Ich bin kein Psychotherapeut, und hier wird keineswegs der Versuch unternommen, Herzl noch postum zu diagnostizieren. Ich habe versucht, Herzl durch seine eigenen Augen zu verstehen, indem ich mich auf seine eigenen Aussagen und die der Menschen stütze, die ihn kannten. Aber auch ohne die sichere Diagnose, dass Herzl unter einer, wie man heute sagen würde, Gemüts- oder Persönlichkeitsstörung litt, ist gut dokumentiert (in erster Linie durch Herzl selbst), dass er häufig zwischen Depressionen und manischer Erregung hin und her schwankte. Darüber hinaus trifft Ghaemis Hauptthese allem Anschein nach außerordentlich gut auf Herzl zu: »Unsere größten Führer rackern sich in Krisen traurig ab, während die Gesellschaft glücklich ist. … Mal sind sie aufgedreht, mal niedergeschlagen, aber es geht ihnen nie richtig gut. Doch sobald ein Unglück eintritt, dann richten sie, sofern sie in einer geeigneten Position sind, den Rest von uns auf, sie sind imstande, uns den Mut zu geben, den wir zeitweilig womöglich verloren haben, die Stärke, die uns festigt.«2 Sowohl in seinen depressiven Neigungen als auch in seiner Anlage zur Größe ähnelt Herzl stark einem anderen Führer der neueren Geschichte: Winston Churchill. In einem klassischen Aufsatz mit dem Titel »Churchill’s Black Dog« merkt Anthony Storr an, dass Churchill, »wenn er ein stabiler und ausgeglichener Mann gewesen wäre, niemals die Nation hätte inspirieren können«. Churchills Triumph im Jahr 1940 trat, genau wie Herzls im Jahr 1896, nur deshalb ein, weil er »sein Leben lang einen Kampf gegen seine eigene Verzweiflung geführt hatte, der es ihm ermöglichte, anderen die Botschaft zu vermitteln, dass Verzweiflung überwunden werden kann«. Beide Männer schwankten zwischen Selbstverachtung und -verherrlichung: Churchill schrieb sicher auch ganz im Sinne Herzls, als er behauptete: »Wir sind alle Würmer. Aber ich glaube, dass ich ein Glühwurm bin.«3 Bei Menschen wie Herzl und Churchill geht der Anspruch auf politische Führung auf etwas Tieferes als das Streben nach Macht oder materiellem Gewinn zurück. Vielmehr ist der Glaube an die eigene heroische Mission Ausdruck eines 10

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zenden psychischen Bedürfnisses. Doch der Möchtegern-Held kann seine Größe ohne eine Anhängerschaft nicht verwirklichen. Diese Beobachtung führt zum zweiten Thema des Buches: dass die zionistische Bewegung Herzl ebenso sehr brauchte, wie Herzl sie brauchte, und dass Herzls Charisma ebenso sehr von seinem Innersten ausging wie es von außen konstruiert wurde. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird »Charisma« mit Charme, Anziehung und Sexappeal assoziiert, aber nach dem Soziologen Max Weber sind wirklich charismatische Menschen per definitionem politische oder religiöse Führer, keine Schauspieler, und sie ziehen Anhänger an, nicht Fans. Weber nennt Charisma »eine als außeralltäglich … geltende Qualität einer Person [des charismatischen Führers] …, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] … gewertet wird«.4 Charismatische Autorität behauptet sich erst in Zeiten kollektiver Bedrängnis und in Umgebungen, wo traditionelle oder bürokratisch-staatliche Machtstrukturen schwach oder überhaupt nicht vorhanden sind. Der charismatische Führer reagiert nicht nur auf die Erwartungen der Menschen, sondern richtet sie auf, bringt sie dazu, auf etwas zu hoffen, das sie andernfalls für unmöglich gehalten hätten. Der oder die Charismatische lindert die Sorgen der Ängstlichen, steigert das Selbstwertgefühl der Unterdrückten und kanalisiert ihren Zorn zu einem zielgerichteten, kollektiven Handeln. Herzl passt perfekt in das Schema eines charismatischen Führers. Die zionistische Bewegung kam zu einer Zeit auf, als die traditionelle Autorität der Rabbiner abnahm und der moderne Staat es versäumt hatte, die physische Sicherheit und das psychische Wohl großer Teile des europäischen Judentums zu schützen. Herzl kam von außerhalb der traditionellen jüdischen Machtzentren: dem Rabbinat und der jüdischen Finanzelite. Er beanspruchte eine Vollmacht dafür, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln, und schuf die zionistische Organisation mit sich als selbsternanntem Oberhaupt. Eine Option, ihn abzuberufen, war nicht vorgesehen. Er 11

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griff die Sehnsüchte der Juden auf und vertrat sie durch die jährliche Einberufung von Zionistenkongressen, die Herzls Stellvertreter, der berühmte Schriftsteller Max Nordau, einmal leidenschaftlich als »bevollmächtigte[n], rechtmäßige[n] Vertreter des jüdischen Volkes« bezeichnete – sozusagen das autonome Parlament des jüdischen Risorgimento.5 Herzls Charisma äußerte sich in einem imposanten Auftreten, seiner Baritonstimme sowie einem eloquenten Deutsch und, vor allem, in seinem einnehmenden Äußeren. In einem Aufsatz von 1937 mit dem Titel »Wie hat Herzl ausgesehen?« schreibt Samuel Bettelheim über Herzls Gesicht, es vereine Züge eines englischen Lords und eines osteuropäischen Rabbis »mit seiner jerusalemitischen Glorie«. Der erste Zionistenkongress hätte, so Bettelheim, wohl kaum Einfluss genommen, wenn auf dem Stuhl des Vorsitzenden nicht ein Mann gesessen hätte, der nicht weniger als »ein Mirakel« gewesen sei, »als ob König Salomon seinem Grabe entstiegen wäre, weil er das Leid seines Volkes und seine Erniedrigung nicht länger ertragen konnte«.6 Viele Beobachter waren von Herzls »assyrischem« Bart fasziniert, der ihm das Aussehen eines semitischen Monarchen verlieh. Der Künstler Ephraim Lilien schilderte Herzl als Moses, jenen ägyptischen Prinzen, der sich wieder seinem Volk anschloss und es aus der Gefangenschaft erlöste, oder auch als die biblischen Figuren Jakob, Aaron, Joschua, David, Salomo und Hiskia. Bettelheim hingegen war, wie die meisten, die uns ihre Eindrücke von Herzl hinterließen, besonders von Herzls Augen fasziniert: »groß und kreisrund«, dunkel und doch mit einem mysteriösen Leuchten ausgestattet, das Staatsmänner und einfache Leute gleichermaßen in den Bann zog. »Herzls Auge war von ganz besonderer Ausdrucksfähigkeit. Er verlor sich beim Gespräch oft in unendliche Fernen, als sähe er Dinge, die uns allen unfühlbar waren, und heftete sich im nächsten Moment bezwingend auf sein Gegenüber.« Es war ein Blick, der von »Adel, Tatkraft, Geist, Genie und Güte« erfüllt war. »Niemals hat er Unentschlossenheit oder Resignation ausgedrückt: je größer das Hindernis oder die Gefahr war, desto kühner war dieser Adlerblick.«7 12

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Es gibt zwei Arten charismatischer politischer Führer: jene, deren Herzlichkeit und Charme ihren Anhängern das Gefühl vermitteln, sie seien wichtig und wertgeschätzt, und jene, die kühl und distanziert sind, aber dennoch Bewunderung und Verehrung hervorrufen, was dann wiederum Solidarität und Hoffnung erzeugt. Herzl zählte zum zweiten Typ. Wie der böhmische Zionist Berthold Feiwel einmal sinngemäß sagte: In seiner frühen Jugend habe Herzl für ihn die ganze Schönheit und Größe bedeutet. Sie alle, die Jugendlichen, hätten sich nach einem Propheten, einem Führer gesehnt und ihn durch die eigene Sehnsucht erschaffen.8 Seine Stellung als säkularer, assimilierter, westlicher Jude, der der Welt der traditionellen jüdischen Bräuche und Kultur fremd war, förderte seine charismatische Anziehungskraft auf die osteuropäischen Juden noch, die wohl niemals jemand aus den eigenen, vertrauten Reihen akzeptiert hätten. Herzl wurde als ein moderner Moses angesehen, ein Prinz, der am Hofe des Pharao aufwuchs und aufgerufen wurde, zu seinem Volk zurückzukehren und es aus der Knechtschaft zu führen. Langjährige zionistische Aktivisten aus Osteuropa ärgerten sich über Herzls Unkenntnis des Judentums und seinen autokratischen Habitus, aber letztlich war es Herzl, nicht sie, der Zehntausende von osteuropäischen Juden in den Bann schlug, sie zwar mit seiner Fremdheit verwirrte, aber ihr Selbstwertgefühl hob. Doch Herzls charismatische Anziehungskraft hatte auch ihre Grenzen. Zum Zeitpunkt seines Todes war nicht einmal ein Prozent der weltweiten Juden offiziell Mitglied der zionistischen Organisation, und der Herzlsche Zionismus provozierte beträchtlichen Widerstand. Die meisten orthodoxen Juden lehnten ihn als gotteslästerlich ab. Jüdische Sozialisten nannten ihn utopisch, und sie zogen das in ihren Augen weit realistischere Szenario einer Revolution vor – eine Revolution, die jede wirtschaftliche Unterdrückung und jeden dadurch geschürten Antisemitismus beenden würde. Assimilierte Juden, die behaupteten, sie seien fest in ihren Heimatländern verwurzelt, hielten Herzl für lächerlich und sogar peinlich. Aber seine Botschaft von der jüdischen nationalen Befreiung, die er mit 13

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geradezu hypnotisierender Redekunst verkündete oder in fein gedrechselte Prosa kleidete, traf bei vielen Juden einen Nerv – und es fällt nicht schwer zu verstehen, woran das lag. Eine weit größere Herausforderung ist es, zu erklären, wie es Herzl gelang, ein Akteur auf der internationalen Bühne zu werden, dem es in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren gelang, Zugang zum deutschen Kaiser, zum osmanischen Sultan, zu den Königen Italiens und Bulgariens, zum britischen Außenund Kolonialminister, zum russischen Innen- und Finanzminister und sogar zum Papst zu erhalten. Das führt uns zum dritten Thema des Buchs: Herzls Präsenz auf der Weltbühne und seine geopolitischen Strategien. Mit Blick auf seinen Zugang zu Staatsoberhäuptern war Herzls Charisma nur einer von mehreren Faktoren. Herzl bezauberte zwar den deutschen Botschafter in Wien, Philipp zu Eulenburg, geradezu, doch die meisten Staatschefs waren weniger von seiner Person vereinnahmt, sondern stärker an dem praktischen Nutzen interessiert, den er für sie hatte. Dem osmanischen Sultan bot Herzl riesige Summen jüdischen Kapitals an, mit dessen Hilfe die horrenden Auslandsschulden des Reiches umverteilt werden konnten. Dem deutschen Kaiser und der russischen Regierung versprach Herzl, ihnen die unerwünschten Juden und die revolutionären Bewegungen, mit denen Juden eng identifiziert wurden, vom Hals zu schaffen. Der britischen Regierung offerierte Herzl die Juden als loyale Kolonialbeamte im britischen Protektorat Palästina, auf der nahe gelegenen Sinai-Halbinsel und sogar in Britisch-Ostafrika. Alle diese Versprechungen basierten auf Fantastereien bezüglich der Macht der Juden – Fantastereien, an die Herzl wohl selbst glaubte. Ob die Geschichten, die Herzl ersann, nun etwas mit der Realität zu tun hatten oder nicht, er befand sich in einer ausgezeichneten Stellung, sie an den Mann zu bringen, zählte er doch zu den prominentesten Journalisten Europas. Von 1891 bis 1895 war Herzl der Pariser Korrespondent der renommiertesten Zeitung Mitteleuropas, Neue Freie Presse, und von 1895 bis zu seinem Tod im Jahr 1904 war er deren Feuilleton14

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teur. In einer Ära, als Zeitungen das meistgenutzte Medium waren, in dem sich die politische Elite der Öffentlichkeit präsentierte, waren wohlgesonnene und einflussreiche Journalisten ein kostbares Gut. Herzl verstand sich mit zwei österreichischen Ministerpräsidenten hervorragend, die ihn über die Nationalitätenkonflikte des Reiches auf dem Laufenden hielten und seinen Beistand bei deren Niederschlagung suchten. Zu Beginn seiner Laufbahn als Zionist führte Herzl mit dem osmanischen Großwesir ein schmeichelhaftes Interview, in dem Herzl es seinem Gesprächspartner auch gestattete, die Gräueltaten an den Armeniern herunterzuspielen. Dank seines Berufs und seiner breit gefächerten Belesenheit kannte Herzl die geopolitischen Machenschaften der europäischen Mächte nur zu gut. So sehr er es liebte, in der Diplomatie mitzumischen, beherrschte er sie doch nicht allzu gut. Immer wieder wurde Herzl manipuliert oder zurückgewiesen, wenn sein Gesprächspartner zu dem Schluss kam, dass er das, was er versprach, nicht würde halten können, oder dass eine Massenmigration von Juden nach Palästina gar nicht zum eigenen Vorteil wäre. Herzl selbst war durchaus zu Doppelzüngigkeit und Opportunismus fähig, da er zum einen versuchte, die Protektion einer europäischen Großmacht über Palästina zu erreichen, während er zum anderen zugleich die Osmanen um Unterstützung bat. Herzl war stolz auf die Eroberung Afrikas und Asiens durch europäische Mächte und überzeugt davon, dass die Juden in Palästina eine zivilisierende Mission übernehmen könnten. Seine Haltungen bezüglich der Araber in Palästina und bezüglich indigener Völker allgemein waren komplex und widersprüchlich: durchsetzt von paternalistischen und kolonialistischen Empfindsamkeiten, bisweilen überheblich und hart – und dann wieder empathisch und menschenfreundlich. Bisweilen gab sich Herzl fantastischen Vorstellungen einer Kanonenbootdiplomatie hin, aber im Kern drehte sich sein Zionismus um die Schaffung einer Modellgemeinschaft, die, wie in seinem Roman Altneuland geschildert, Einheimische als Gleichberechtigte betrachtet und kein Militär kennt. So sehr Herzl danach trachtete, 15

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die verfolgten Juden Europas in Sicherheit zu bringen, wollte er sie doch in einem Land wissen, das über den Wohlstand Europas verfügte – ohne dessen Hass und Ungleichheiten. Es sollte von seinen nahöstlichen Nachbarn und von den europäischen Ländern, die zuvor ihre Juden verhöhnt hatten, bewundert und geachtet werden. Ein Wort zu den Quellen, auf die sich dieses Buch stützt: Für einen Biographen ist eine Flut von Quellen Segen und Fluch zugleich. Zusätzlich zu Hunderten von journalistischen Beiträgen, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, führte Herzl von 1882 bis 1885 ein Tagebuch, und rund 6000 von ihm verfasste Briefe blieben erhalten. (Das Tagebuch und die Briefe wurden in einer siebenbändigen deutschsprachigen Ausgabe von 1983 bis 1996 veröffentlicht.) Die am häufigsten von Herzls Biographen zitierte Quelle ist sein »zionistisches Tagebuch«, wie Herzl es nannte, das er in der Zeit von seiner Bekehrung zum Zionismus im Jahr 1895 bis zu seinem Tod im Jahr 1904 führte. Das zionistische Tagebuch ist eine wichtige, aber problematische Quelle. Einerseits bietet das Tagebuch Einblicke in die innerste Gefühlswelt Herzls, andererseits steckt es voller erfundener Dialoge und Entwürfe oder Kopien politischer Stellungnahmen. Im Jahr 1898 schrieb Herzl in einer »Autobiography« für die Zeitschrift The Jewish Chronicle, dass er hoffe, seine Notizen würden eines Tages als Zeugnis dafür veröffentlicht werden, »welche Kämpfe ich zu bestehen hatte, wer die Gegner meines Planes waren und wer, andererseits, mich unterstützt hatte«.9 Bei der Lektüre der Tagebücher behielt ich die Beobachtung von Georges Gusdorf im Hinterkopf, wonach sich Autobiographen »nicht einer objektiven und neutralen Beschäftigung widmen, sondern einem Werk der persönlichen Rechtfertigung«. Wie eine Autobiographie erweckt Herzls Tagebuch den Anschein, die getreue Schilderung eines Menschenlebens zu sein, vermittelt diesem Leben jedoch eine Struktur und einen moralisch aufgeladenen Handlungsbogen. »Die Wahrheit der Fakten«, schreibt Gusdorf, »ist der Wahrheit des Menschen untergeordnet«.10 In einer Biographie hingegen hängt, im 16

Einleitung

gensatz zur Autobiographie, die Messlatte deutlich höher, weil der Biograph danach trachten muss, sowohl der Wahrheit der Fakten als auch der Wahrheit der Person gerecht zu werden. Ich hoffe, auf den folgenden Seiten zeigen zu können, dass Menschen, auch große Führer, ihre eigene Wahrheit nie aus dem Nichts erschaffen, sondern immer in Reaktion auf ihr inneres Ich, ihre Umgebung und auf Interaktionen mit anderen.

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Theodor Herzl als Gymnasiast. Fotografie (um 1875).

Kapitel 2

Theodor Herzls Weg

Für Menschen, die an Schicksal glauben, dürften schon die Namen, die Theodor Herzl bei seiner Geburt gegeben wurden, angezeigt haben, dass er einmal ein großer Führer würde. Herzls deutscher Rufname Theodor und dessen ungarische Entsprechung Tivadar bedeuten »Geschenk Gottes« (theos »Gott« und doron »Geschenk«). Mit der Zeit sollten viele Anhänger Herzls, und sogar er selbst, Herzl als eine Art Messias ansehen. Herzls hebräischer Name, Benjamin Zev, verweist auf das jüngste Kind des biblischen Patriarchen Jakob, der in der biblischen Genesis beim Segen auf dem Totenbett Benjamin mit einem »reißenden Wolf [zev]« gleichsetzt. In der jüdischen Tradition steht der Name Zev für Stärke und Mut, nicht für eine zerstörerische Kraft. Doch Herzls Widersacher sollten Herzl zeit seines Lebens, und bis heute, als eine Gefahr für das darstellen, was sie am meisten verehren: sei es das heilige jüdische Recht, die Integration der Juden in ihre Heimatländer, der Triumph des Universalismus über den Partikularismus oder seien es die Rechte der Palästinenser in ihrem Kampf gegen Israel. Ungeachtet der Legenden, die sich zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod um ihn rankten, war Herzl nur allzu menschlich. Er war intelligent und begabt, aber er litt auch unter einer psychischen Unruhe, die er mit einer demonstrativen Zurschaustellung von Energie, Witz und Charme kompensierte. Herzl war attraktiv und besaß ein außergewöhnliches Charisma, doch sein Aufstieg war eher das Ergebnis eines Zufalls als planvoller Absicht. Denn in den ersten dreißig Jahren seines Lebens war Herzl ein recht gewöhnlicher und typischer Vertreter der mitteleuropäischen, jüdischen oberen Mittelschicht. Herzl kam zu einer verheißungsvollen Zeit für Mitteleuropa und seine Juden auf die Welt. Er wurde am 2. Mai 1860 in der ungarischen Stadt Pest geboren, von Buda aus gesehen am anderen Donauufer. Nur etwas mehr als ein Jahrzehnt vor seiner 19

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Geburt war Ungarn, wie große Teile Europas, von Revolutionen erschüttert worden, die nationalistische mit liberalen Ideen kombinierten und davon kündeten, dass die Rechte des Einzelnen ausschließlich innerhalb unabhängiger und vereinigter Nationalstaaten realisiert werden konnten. Die gleichen Bewegungen, die danach trachteten, ein modernes Italien, Deutschland und Ungarn zu erschaffen, traten auch für das Recht ein, dass der Einzelne so leben, arbeiten und denken können sollte, wie er wollte. Ein wesentliches Element dieser Revolutionen war die Emanzipation der Juden, deren Freiheit bei der Wahl des Wohnorts und des Arbeitsplatzes seit Jahrhunderten massiv eingeschränkt war. Die Revolutionen scheiterten zwar, aber nichtsdestotrotz befanden sich der Liberalismus und die Rechte für Juden weiterhin auf dem Vormarsch. Als Herzl sieben war, wurde das Habsburger Reich eine konstitutionelle Union, in der die Königreiche Österreich und Ungarn gleichberechtigt waren. In diesem neuen Staatswesen, das als Österreich-Ungarn oder die Doppelmonarchie bekannt war, waren die Juden voll emanzipiert. Im Jahr 1873 verschmolzen Buda und Pest und bildeten die Metropole Budapest, Heimat von fast 200.000 Menschen, von denen 16 Prozent Juden waren. Die Stadtbevölkerung wuchs rasch, doch die jüdische Gruppe nahm noch rasanter zu, und die Budapester Juden erfreuten sich des wachsenden Zugangs zu höherer Bildung und Berufsfeldern wie Justiz und Medizin. Die Geschichte der Vorfahren Herzls erzählt auch die Bewegung von der Peripherie des Habsburger Reiches ins Zentrum, von Armut zu Wohlstand und von einem strengen zu einem gelockerten Einhalten der religiösen Gebote. Die Wurzeln der Familie Herzls liegen in Böhmen, Mähren und Schlesien. Im 18. Jahrhundert zogen die Vorfahren von Herzls Großvater väterlicherseits, Simon Loeb Herzl, in eine Region, die im Lauf der Zeit zwischen türkischer, österreichischer und zuletzt serbischer Herrschaft wechselte. Simon stammte aus Semlin, einem Ort an der Save gegenüber von Belgrad. Simons Sohn Jakob verließ im Alter von siebzehn Jahren Semlin, und mit dreiundzwanzig war er ein etablierter Geschäftsmann in Pest 20

Theodor Herzls Weg

mit ausreichendem Vermögen und Berufschancen, um erfolgreich um die Hand Jeanette Diamants anzuhalten, der Tochter Hermann Diamants, eines wohlhabenden Textilkaufmanns aus Pest. Jakob ging ins Bankwesen, wo er beachtliche Erfolge feierte, allerdings verlor er einen großen Teil seines Vermögens infolge des Börsenkrachs von 1873. Doch auch danach noch waren Jakob und Jeanette wohlhabend, und ihre Kinder Pauline und Theodor wuchsen in luxuriösen Verhältnissen auf. Theodor Herzl erzählte gerne eine andere Version seines familiären Hintergrunds. Seinem ersten Biographen Reuven Brainin teilte er mit, dass er väterlicherseits von spanischen Juden abstamme, die im Zuge der Inquisition gezwungen worden seien, zum christlichen Glauben überzutreten und Mönche zu werden. Sie seien in ihrem Orden aufgestiegen, insgeheim aber dem Glauben ihrer Väter treu geblieben. Als sie den Auftrag erhielten, wegen klösterlicher Angelegenheiten nach Innsbruck zu reisen, seien sie den Klauen der Kirche entkommen und in den Schoß ihrer jüdischen Herde zurückgekehrt. Diese Geschichte sagt viel über Herzl als Mensch aus – seine Fähigkeit zur Selbstinszenierung und seine eigenen Erfolge in der heidnischen Welt, die hier von der Zeitung auf die Welt des Klosters übertragen wurden. Doch die Story sagt auch viel über Herzls Milieu aus, das Milieu gesellschaftlich aufsteigender aschkenasischer Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die meisten mitteleuropäischen Juden gingen zwar nicht so weit, einen Stammbaum zu erfinden, doch sie verehrten das mittelalterliche sephardische Judentum als Vorbild der Integration und kulturellen Adaption. Auf eine ferne sephardische Vergangenheit zu verweisen, war ein Mittel, um von den unmittelbaren Vorfahren abzulenken: nämlich einfache, Jiddisch sprechende Handwerker, Hausierer und Viehhändler aus den Provinzen Osteuropas. Jakob Herzl war ein phlegmatischer, etwas steifer, aber gutmütiger Mann, der Jeanette und seine Kinder verehrte. Er hatte Ehrfurcht vor Jeanette, die eine viel höhere Bildung als er hatte und tief in die deutsche Kultur eingetaucht war. Wie so oft im Fall bürgerlicher, insbesondere jüdischer Familien jener Zeit 21

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und Region überließ Jakob die Leitung des Haushalts und die Erziehung der Kinder der Mutter. Ehrgeizig und willensstark wie sie war, sorgte Jeanette dafür, dass die Kinder eine makellose Bildung und Erziehung genossen. Als Theodor fünf und Pauline sechs war, stellte Jeanette einen Hauslehrer ein, um die Kinder ein ganzes Jahr lang auf die Grundschule vorzubereiten. Sein Leben lang sollte Jeanette ihm, Theodor, als starke, ja dominierende Präsenz ständig über die Schulter schauen. Herzls erstes Zuhause lag in der Nähe der Synagoge an der Dohanystraße, ein eindrucksvoller neomaurischer Bau, der im Jahr vor Herzls Geburt vollendet worden war. Später verwies Herzl darauf, dass er die Synagoge zusammen mit seinem Vater besucht habe. Doch es ist bis heute unklar, wie stark Herzl in seiner Kindheit mit dem jüdischen Glauben und Bräuchen in Berührung kam. Von seinem sechsten bis zum zehnten Lebensjahr besuchte Herzl eine jüdische Schule, wo er Hebräisch und Religion neben Mathematik, Naturwissenschaften und modernen Sprachen lernte. Vermutlich schickten seine Eltern ihn eher wegen ihres guten akademischen Rufes als wegen des Fokus auf das Judentum in diese Schule. Jeanette hatte den konsequenten Antiklerikalismus ihres Vaters übernommen, auch wenn ihr Onkel Samuel Bilitz, höchstwahrscheinlich aus religiöser Überzeugung, nach Jerusalem auswanderte. Als Kind hatte Jakob in Semlin seinerseits eine traditionelle jüdische Erziehung genossen, doch als Erwachsener war seine Frömmigkeit oberflächlich und gründete stärker auf der Ehrerbietung gegenüber den Eltern als auf einem passionierten Glauben. Jakobs Vater Simon ist ein interessanterer Fall. Anders als seine beiden Brüder, die zum Christentum konvertierten, blieb Simon streng orthodox. Hinzu kam: Simon wurde von dem berühmten Rabbiner der Semliner Gemeinde inspiriert, dem proto-zionistischen Yehuda Alkalai. Dieser war überzeugt, dass das Zeitalter des Messias unmittelbar bevorstehe, aber damit es anbrechen könne, müssten die Juden aktiv darauf hinarbeiten, also in Scharen nach Eretz Israel zurückkehren. Da Simon regelmäßig den Haushalt Herzls aufsuchte und starb, als Theodor neunzehn war, kann man davon ausgehen, dass Simon seinem Enkel 22

Theodor Herzls Weg

von Alkalai und der Rückkehr nach Zion erzählt hat. Doch Herzl erwähnt in seinen umfangreichen Schriften den eigenen Großvater kaum, geschweige denn dessen proto-zionistische Ideen. Ebenso wenig schreibt Herzl darüber, ob er eine Bar Mitzwa hatte. Es existieren Archivquellen von Einladungen zu einer »Confirmation«, die im Haus der Familie Herzl am 10. Mai 1873 stattfinden sollte. Zu der Zeit grassierte in Budapest die Cholera, sodass Menschen Versammlungen an öffentlichen Orten mieden. Jakobs finanzielles Unglück mag ebenfalls eine Rolle dabei gespielt haben, die Bar Mitzwa im Kreise der Familie zu feiern, statt sie im Rahmen eines Gottesdienstes in der Synagoge zu begehen. Und doch schrieb Herzls Onkel väterlicherseits, Max, im Jahr 1910, dass Theodor Herzl anlässlich seiner Bar Mitzwa in der Synagoge an der Dohanystraße die Haftara (eine Lesung aus den biblischen Propheten) gesungen und einen Text vorgetragen habe. In Anbetracht der Vorliebe Herzls für Dramatik ist wohl anzunehmen, dass er, hätte es sich wirklich so zugetragen, zu einem späteren Zeitpunkt auf das Ereignis, das sozusagen sein erster öffentlicher Auftritt gewesen wäre, hingewiesen hätte. Wenn er den üblichen Kommentar zur Tora und die prophetischen Lesungen für diese Woche vorgetragen hätte, so hätte er beträchtliche Mühe gehabt, sie zusammenzustellen. Die Tora-Lesung Tazria-Metzora (im Buch Leviticus) geht bis ins kleinste Detail auf Hautkrankheiten und rituelle Unreinheit ein, und die Stelle für die Haftara, die dem zweiten Buch der Könige entnommen ist, erzählt die Geschichte eines aramäischen Kriegers, der eine Hautkrankheit hat, aber auf wundersame Weise geheilt wird, nachdem er in Gegenwart des Propheten Elischa im Jordan gebadet hatte. Herzl hätte sich nicht nur mit einem der undurchsichtigsten Abschnitte der Tora auseinandersetzen müssen, er hätte auch unter beträchtlichem Druck gestanden, seiner Mutter zu gefallen, die eine Rationalistin und Skeptikerin war und diese biblischen Geschichten als atavistischen Aberglauben betrachtet hätte. Herzls Tagebücher im Erwachsenenalter enthalten unzählige Details und stecken voller enthüllender persönlicher 23

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nisse, deshalb sagt das Schweigen über religiöse Einflüsse oder Kenntnisse viel aus. Zu Beginn seiner Karriere als Zionist stieß Herzl wegen seines Pamphlets Der Judenstaat auf Kritik seitens des Wiener Oberrabbiners Moritz Güdemann, der rabbinische Texte verfasste, die einer organisierten Rückkehr der Juden in das Land Israel eine klare Absage erteilten. Herzl vermochte lediglich die schwache Antwort zu erwidern, »dass sich mindestens ebenso viele [Zitate] für den Zionismus würden finden lassen. Ich bin freilich zu unwissend, um sie zu liefern.«1 Herzl erzählte Reuven Brainin, dass er als Schuljunge zum ersten Mal vom Exodus gehört habe, später aber in einem Buch jüdischer Legenden darüber gelesen habe, das er als Geschenk zur Bar Mitzwa bekommen habe. Eben diese Fassung, nicht die biblische, fand Herzl fesselnd und spannend. In seinem Kopf vermischte er Aspekte der Exodus-Geschichte mit der des Messias und fühlte einen Drang, ein Gedicht darüber zu schreiben. Er hatte jedoch Angst, seinen Schulfreunden von diesen leidenschaftlichen Gedanken zu erzählen, damit sie ihn nicht als »Träumer«, wie Herzl selbst es ausdrückte, neckten. Einige Zeit danach, so Herzl, habe er geträumt, dass er den Messias, ehrwürdig und majestätisch, erblickt habe, der ihn auf dem Arm in den Himmel entführte, wo sie Moses begegneten (der in Herzls Beschreibung eine auffallende Ähnlichkeit mit Michelangelos berühmter Statue des Propheten aufwies). Der Messias habe zu Moses gesagt: »Um dieses Kind habe ich gebetet!«2 Man fragt sich, sofern Herzl diesen Traum tatsächlich geträumt hatte, wie er sich nach so langer Zeit, dreißig Jahren, noch so deutlich daran erinnern konnte und ob er als Kind wirklich mit biblischen Wendungen wie der »Träumer« (Joseph wie er von seinen eifersüchtigen Brüdern beschrieben wird; 1.  Mose 37,19) oder »um dieses Kind habe ich gebetet« (aus der Begegnung zwischen Hanna und dem Priester Eli vor der Geburt von Hannas Sohn, dem Propheten Samuel) so vertraut gewesen war. Wir haben bereits gesehen, dass Herzl die Tendenz hatte, Geschichten über sich selbst zu erfinden. Und weil Herzl von seinen Kritikern als Mann lächerlich gemacht wurde, der von verrückten Träumen besessen war, von seinen 24

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Anhängern hingegen als derjenige gefeiert wurde, um den sie gebetet hatten, erscheint es hier durchaus möglich, dass er eine bewusste Fälschung in die Welt gesetzt hatte. Vielleicht aber auch nicht. Im Lauf der Zeit verblasst die Erinnerung, aber sie kann auch die Erfahrung schärfen und umgestalten. Herzl selbst, der sein Leben der Erfüllung eines Traums widmete, vermochte womöglich nicht so ohne Weiteres zwischen einem Ereignis und dessen Ausschmückung zu unterscheiden. Hinzu kommt, große Führer und Befreier faszinierten den jungen Herzl. Als Teenager schrieb Herzl Aufsätze, in denen er Mohammed, dem florentinischen Demagogen Girolamo Savonarola, Martin Luther und Napoleon huldigte, von denen jeder Einzelne, auf seine Weise, ein Revolutionär war. Herzls Traum von seiner Begegnung mit Moses und dem Messias ist von orthodoxen Zionisten als Beweis für Herzls tief verwurzelte Religiosität angeführt worden, aber womöglich ist er eher ein Hinweis auf einen rebellischen Geist und eine Sehnsucht nach Erfolg, die sich schon früh in seinem Leben herausbildeten. Mit dreizehn Jahren schrieb Herzl auf Ungarisch einen Aufsatz mit dem Titel »Soziale Beziehungen der Völker im Altertum«, in dem er die Funktion von Religion aus sozioökonomischer und psychologischer Sicht schilderte. In altertümlichen Gesellschaften seien, so Herzl, »zivile Stellungen eng mit deren Beziehung zur Religion verknüpft gewesen. Die Mitglieder einer Religion verfolgten die Gläubigen einer anderen Religion und gestatteten es ihnen nicht, ihre Posten im Staatsdienst zu behalten.«3 Religion biete, so erkannte der altkluge Jugendliche, rationale Begründungen für gesellschaftlichen Ausschluss, aber sie verlieh Einzelnen und Gruppen auch die Kraft, Widrigkeiten zu überwinden. Herzls erste Aufsätze, die entweder für die Schule oder zum Vergnügen geschrieben wurden, waren – auf Ungarisch ebenso wie auf Deutsch – sorgfältig komponiert, mit mehreren Entwürfen und erheblichen textlichen Abweichungen. Der junge Herzl versuchte sich auch an so vielfältigen Genres wie Literaturkritik, Satire, Übersetzungen und Dichtung. Selbst wenn 25

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man eine Kontinuität zwischen dem Inhalt dieser altklugen Ergüsse und Herzls intellektueller Entwicklung als Erwachsener bestreitet, so ließen die Sorgfalt, die geschliffene Sprache und die Bandbreite der Themen, die Herzl in seine Schriften einbrachte, doch mit Sicherheit Herzls künftigen literarischen Erfolg und seine erstaunliche Redegewandtheit als Sprecher des Zionismus schon erahnen. Herzl saugte Informationen wie ein Schwamm auf, auch wenn seine akademischen Stärken und Erfolge alles andere als einheitlich waren. Im Jahr 1870 schloss er den ersten Abschnitt seiner förmlichen Schulbildung ab und wechselte auf eine technisch ausgerichtete Schule, eine sogenannte förealtanoda. Herzl war jedoch in Wissenschaft und Technik ein höchst mittelmäßiger Schüler, und im Fach Kunst war er ein echter Ausfall. Nach zwei unglücklichen Jahren an dieser Schule erhielt er ein Jahr lang zuhause Unterricht, blieb aber eingeschrieben und legte seinen Lehrern die Hausaufgaben vor. Im Herbst 1873 kehrte Herzl an die Schule zurück, versäumte allerdings aus unbekannten Gründen im Frühjahr einen großen Teil des Unterrichts. Mitte des Schuljahres 1874/75 nahmen Jakob und Jeanette den leidenden Knaben ganz aus der Schule und schickten ihn, nach einer weiteren Phase des Hausunterrichts, in eine sprachlich-geisteswissenschaftlich orientierte Einrichtung: das Evangelische Humanistische Obergymnasium des Augustinischen Bekenntnisses von Pest. (Ungeachtet des Namens der Schule war die Schülerschaft größtenteils jüdisch.) Herzls Noten verbesserten sich, vor allem in Ungarisch, Deutsch, Latein und Algebra. Auch in Griechisch, Geschichte und Geographie war er ein guter Schüler. Am Gymnasium verbesserte Herzl auch sein Französisch so weit, bis er es fast fließend sprach, und erwarb auch Kenntnisse in Italienisch und Englisch. Allerdings rutschten Herzls Noten insgesamt allmählich ab, als er sich zunehmend der literarischen Tätigkeit und dem Journalismus widmete. Mit siebzehn Jahren veröffentlichte er im Pester Lloyd, einer angesehenen, deutschsprachigen Zeitung, einen Aufsatz, und danach schrieb er mehrere Buchrezensionen für das Pester Journal. 26

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Schon in seinen frühen Teenagerjahren ließ Herzl sowohl Führungsqualitäten als auch einen Hang zum Journalismus erkennen. Mit gerade mal vierzehn Jahren gründete er einen Literaturzirkel, zu dessen Mitgliedern seine Schwester, sein Cousin und ein paar Freunde zählten. Herzl nannte ihn großspurig »Wir«, erklärte sich selbst zum Präsidenten und arbeitete umfangreiche und detaillierte Statuten aus. Sowohl in diesem speziellen Fall wie auch im Allgemeinen war Herzls Haltung gegenüber seinen Altersgenossen herzlich, jedoch immer ein wenig herablassend; er wirkte ausgeglichen und beherrscht, aber auch unnahbar und wachsam. Einen Einblick in das, was sich hinter Herzls distanzierter Pose verbarg, vermittelt sein Stück Die Ritter vom Gemeinplatz, das Herzl im Sommer nach Abschluss des Gymnasiums zu schreiben anfing. Der Held des Stücks ist ein Mann von großer Integrität und Courage, der seine Leidenschaften unter Kontrolle hat und selbst unter schwierigsten Bedingungen eine, wie Herzl es nannte, »eisige Ruhe« ausstrahlte. Das Bestreben, die eigenen Gefühle derart zu kontrollieren, ist weit verbreitet unter Heranwachsenden, die vor Emotionen und physischen Bedürfnissen nur so kochen. Die Sehnsucht hormonell geleiteter Jugendlicher, die Kontrolle zu behalten, Gefühle zu unterdrücken, damit sie nicht zurückgewiesen oder verletzt werden, bedingt die Beliebtheit moderner fiktiver Figuren – von Sherlock Holmes bis zu Mr. Spock. Es ist sicher hilfreich für unser Verständnis des jungen Herzl, der in den späteren Teenagerjahren zwei verheerende, emotionale Schicksalsschläge hinnehmen musste: zum einen die nicht erwiderte Schwärmerei für ein Mädchen, das später starb, und zum anderen den Tod seiner geliebten Schwester Pauline. In einem Tagebuch, das Herzl in seinen Zwanzigern führte, schreibt er von der Liebe als Teenager zu einer gewissen Madeleine Kurz. Er notiert, er habe es nicht gewagt, sie anzusprechen, sie stattdessen aus der Distanz verehrt: »Ich verbarg meine Liebe vor ihrem Gegenstand mit größerer Furcht als ein Wilderer das Reh vor den Augen des Försters.«4 (Das ist in der Tat eine seltsame Metapher für Liebe, die zu einer Quelle für Schuld- und Schamgefühle wird, wenn Herzl der Wilddieb, 27

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Madeleine der Jäger und seine Gefühle für sie das erlegte Tier sind.) Der Umstand, dass die Familien Kurz und Herzl sich gut kannten und häufig bei gesellschaftlichen Anlässen trafen, machte Herzls Liebe zu Madeleine mit Sicherheit noch schmerzlicher für ihn. Herzl und Madeleine lernten sich im Jahr 1875 kennen, kurz nachdem er auf das Evangelische Humanistische Gymnasium gewechselt war. Sie waren beide fünfzehn; sie war blond, blauäugig und bezaubernd. Bei einer Familienfeier hielt Herzl Madeleines zweijährige Nichte Magda in den Armen. Madeleine und Pauline standen miteinander in Kontakt, als Herzls erster journalistischer Beitrag im Pester Lloyd veröffentlicht wurde. Madeleine zog im Jahr 1878 nach Wien, im gleichen Jahr, in dem auch die Herzls in die Reichshauptstadt zogen, aber es ist nicht bekannt, ob sie sich weiterhin sahen. Die unerfüllte Beziehung verstärkte Herzls romantische, poetische und melancholische Ader. Herzl verlor seine Liebste schließlich ganz, als Madeleine tragisch im Alter von zwanzig Jahren starb. Sechs Jahre später schrieb Herzl, nach der Begegnung mit Madeleine sei er »zum ersten und einzigen Mal verliebt gewesen. Von damals bis heute dumme eingeredete Gefühlchen ohne rechten Zug. Mein Herz hat seit damals nicht so befangen und laut geschlagen.«5 Noch stärker traf Herzl der Verlust Paulines, die im Februar 1878 an Typhus starb. Paulines Tod vernichtete Herzl, wie er in einem eilig geschriebenen Aufsatz von 1882 gestand. Es war für ihn die erste echte große Trauer seines Lebens. Bei der Beerdigung seien sein Vater, seine Mutter und er selbst dem langsam fahrenden Leichenwagen gefolgt. In dem Sarg lag seine tote Schwester, deren Mund er nie wieder mit einem brüderlichen Kuss verschließen würde, um sich nach einem neckischen Streit wieder mit ihr zu versöhnen. Demnach spürte er die Schwere kaum, doch die Leute am Wege blieben stehen, um dem Zug nachzusehen, und irgendwie schien ihn das ein wenig zu trösten, als er seinen Vater am Arm führte. Der Vater stolperte vor sich hin, fast schon gekrümmt, und so sei er seither geblieben. Acht Tage später seien sie aus der Stadt fortgezogen und hätten sich in einer großen Stadt niedergelassen, nach der 28

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er sich stets gesehnt habe. Dort habe seine Mutter endlich die Tränen gefunden, die sie so lange zurückgehalten habe. Auch seinem Vater und ihm gelang es schließlich, ihre Seufzer in Schluchzer zu verwandeln, ihre Schluchzer in ein unaufhörliches Weinen, das jahrelang anhalten sollte. Herzl fragte sich, was sein Vater unterdessen wohl mit seinen eigenen Tränen gemacht habe. Aber nun, da seine Mutter sich allmählich ein wenig beruhigt habe, sei er an der Reihe. Jetzt flossen seine Tränen, und er trauerte um seine Schwester, die es sicherlich verdiente, betrauert zu werden.6 In einer 1898 geschriebenen autobiographischen Notiz gab Herzl den Kummer seiner Mutter als den ausschließlichen Grund für den plötzlichen Umzug seiner Familie von Budapest nach Wien kurz nach Paulines Beerdigung an. Da er selbst inzwischen eine Person des öffentlichen Lebens und ein aufstrebender Staatsmann war, ließ er sich mit einer »eisigen Ruhe« den Kummer nicht anmerken, den er sechzehn Jahre zuvor noch geäußert hatte. Doch die Trauer hörte nie ganz auf, und in seinem Gedächtnis vermischten sich die Erinnerungen an Pauline mit denen an Madeleine, und damit auch die der familiären und der erotischen Liebe. Herzl datierte Madeleines Tod fälschlich auf Februar 1878, um die gleiche Zeit wie Pauline, doch in Wirklichkeit starb Madeleine am 16. November 1880, wie aus ihrer Todesanzeige am Tag darauf in der Ausgabe der Neuen Freien Presse hervorgeht.7 Tatsächlich hatte die Familie Herzl schon vor Paulines Tod mit Blick auf die Bildungs- und Karriereaussichten ihrer Kinder einen Umzug nach Wien geplant. Pauline war eine talentierte Schauspielerin, und das ungarische Theater bot weniger Möglichkeiten als Wien. Auch konnte Theodor Herzl in Wien besser seinen literarischen Ambitionen nachgehen. Er hatte ferner die Absicht, an der Universität Jura zu studieren, und die juristische Fakultät in Budapest war bereits von antisemitischen Tendenzen durchdrungen, was man von Wien damals nicht sagen konnte. Durch Paulines Tod jedoch wurde aus einer rationalen Überlegung ein emotionaler Ausbruch, und Jeanette bestand darauf, dass die Familie bei der ersten Gelegenheit 29

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Budapest verließ. Die Herzls ließen sich in einer komfortablen Wohnung in der Praterstraße im Zweiten Bezirk nieder, östlich der Innenstadt gelegen und die Heimat von rund 80.000 Juden. Gustav Mahler lebte nur wenige Häuser entfernt, und sowohl Arthur Schnitzler als auch Sigmund Freud verbrachten ganz in der Nähe ihre Kindheit. Weil Herzl vor Abschluss des Gymnasiums aus Budapest herausgerissen worden war, musste er seine Studien selbstständig beenden und drei Monate nach dem Umzug nach Budapest zurückkehren, um das Abschlussexamen abzulegen, das er knapp bestand. Unter den gegebenen Umständen war sein schlechtes Abschneiden begreiflich. Doch als Vorzeichen für die künftige Weigerung Herzls, ein Scheitern einzugestehen, und für seine Fähigkeit, eine schreckliche Belastung zu bewältigen und unter widrigen Bedingungen Ruhe zu bewahren, schnitt Herzl bei der landesweiten Reifeprüfung, der Matura, weit besser ab, einer siebentägigen Reihe schriftlicher und mündlicher Prüfungen. Aufgrund seiner Leistung wurde er für das Studienjahr 1878/79 an der juristischen Fakultät der Universität Wien angenommen. Trotz des tragischen Ereignisses, das ihn so überstürzt nach Wien geführt hatte, war Herzl begeistert über den Umzug in die Kulturhauptstadt des deutschsprachigen Europas, und als er sich an der Universität einschrieb, hatte er weit mehr als eine akademische Laufbahn im Sinn. Er war ein aufstrebender Bühnenautor und Journalist, und seine Veröffentlichungen waren bislang alle auf Deutsch erfolgt. Erstaunlicherweise gab Herzl in seinem ersten Semester zwar Deutsch als Muttersprache an, wechselte aber im folgenden Semester auf Ungarisch und beließ es zwei Jahre lang dabei, ehe er wieder zu Deutsch zurückkehrte. Als Kind hatte Herzl seine allerersten Briefe an die Eltern auf Deutsch wie auf Ungarisch geschrieben, doch als Teenager schrieb er ihnen nur noch auf Deutsch, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich mit ihnen hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich in dieser Sprache unterhielt. Herzl sprach Ungarisch an der Schule, doch es gibt kaum einen Grund zu der Annahme, dass er es als seine Muttersprache 30

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sah. Deshalb kann man wohl annehmen, dass rein zweckdienliche oder bürokratische Gründe den Ausschlag dafür gaben, dass Herzl während des größeren Teils seiner Universitätslaufbahn Ungarisch als Muttersprache angab. Kaum war er an der Universität eingeschrieben, identifizierte sich Herzl öffentlich und kontinuierlich mit dem deutschen Nationalismus. Bei einem Besuch in Budapest im Jahr 1881 schrieb er, dass er sich von der Stadt und ihrer Sprache entfremdet habe. Budapest erschien ihm klein und provinziell: »In der Zeit meines Fernseins ist Ungarn noch viel ungarischer geworden.« Herzl machte sich über deutschsprachige Juden lustig, die entschlossen waren, sich zu magyarisieren, deutsche Namen gegen ungarische eintauschten und sich beim Erlernen der Sprache die Zunge abbrachen. »Ich habe hier«, merkte Herzl nüchtern an, »mit grosser Consequenz keine Silbe Ungarisch geredet.«8 Es gibt jedoch Hinweise, die darauf schließen lassen, dass Herzl der ungarischen Sprache dennoch tief verbunden blieb. In seiner Jugend sprach er seine Eltern in Briefen mit Mama und Papa an, doch als Erwachsener wechselte er zu den ungarischen Kosenamen mamakam und papakam. An der Universität besuchte Herzl hauptsächlich Vorlesungen in Rechtsgeschichte und Philosophie. Er belegte vier Kurse bei Lorenz von Stein, einem gemäßigten Konservativen, der möglicherweise Herzls spätere Ansichten zu den verheerenden Auswirkungen der Industrialisierung und zur Notwendigkeit, einen Mittelweg zwischen einem ungehemmten Kapitalismus und einem revolutionären Sozialismus zu steuern, beeinflusst hat. Darüber hinaus belegte Herzl auch Kurse bei einem weiteren Sozialreformer: Anton Menger. Bezeichnenderweise endet Herzls »Jugendtagebuch« mit einer Sammlung von Aphorismen, die Steins Vorlesungen entnommen sind, unter Verweis auf Platon und den Versuch, aus höheren Zielen der öden Realität gesellschaftlicher Praxis zu entfliehen: »Allem Erscheinenden liegt eine Idee zu Grunde, und diese suche ich!«9 Diese recht nichtssagende Erklärung bezeugt, dass sich Stein der idealistischen Philosophie verpflichtet fühlte, insbesondere Hegel, mit dem er studiert hatte. Doch für Herzl glichen Ideen 31

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men; sie waren keine abstrakten Wahrheiten, die von menschlichem Handeln erzeugt wurden, sondern Mythen, die Menschen antreiben, beispiellose, nie dagewesene und wundersame Dinge zu tun. Während seiner Zeit an der Universität hatte sich dieser Aspekt von Herzls Charakter noch nicht voll ausgebildet, aber angelegt war er bereits. Herzl sah sich mit der Möglichkeit konfrontiert, sein Studium wegen der Einberufung in den Militärdienst unterbrechen zu müssen. Zu der Zeit unterhielt noch jeder Teil der Doppelmonarchie eine eigene Nationalgarde, die österreichische »Landwehr« und den ungarischen »honvéd«, sowie eine gemeinsame kaiserliche und königliche Armee. Als ungarischer Staatsbürger konnte Herzl nicht in die Landwehr eingezogen werden, doch im November 1879 wurde er aufgefordert, vor dem 20. Infanterieregiment der gemeinsamen Armee zu erscheinen. Herzl brachte sich selbst als »Einjährig-Freiwilliger« ins Spiel, ein Privileg, das jungen Männern vorbehalten war, die eine weiterführende Schule abgeschlossen hatten und in der Regel ein Jahr mit leichten Dienstpflichten absolvierten. Allerdings hatte die Armee im Jahr 1878 im Zuge der Besetzung Bosnien-Herzegowinas reale Kampfhandlungen mit Tausenden von Opfern durchgeführt. Die einjährige Option war einer regulären, erheblich längeren Dienstzeit vorzuziehen, zudem wurden gewöhnliche Wehrdienstleistende für ihre Verdienste lediglich innerhalb der Mannschaftsgrade befördert, während Einjährig-Freiwillige nach Abschluss ihrer Dienstzeit sofort für das Patent eines Reserveoffiziers infrage kamen. Anders als in Preußen, wo jüdische Freiwillige selten Patente erhielten, war dies in der Doppelmonarchie durchaus üblich, und im Jahr 1900 stellten Juden – die ungefähr fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten – knapp ein Fünftel des Reserveoffizierskorps der Armee. Im Januar 1880 erklärte der Musterungsausschuss Herzl aus nicht näher genannten medizinischen Gründen allerdings für untauglich, und die Entscheidung wurde zehn Tage danach von einer übergeordneten Stelle auch bestätigt. Unverdrossen versuchte Herzl am Ende des Jahres bei einem anderen 32

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regiment erneut sein Glück, nur um wiederum für untauglich erklärt zu werden.10 Damals war eine Ablehnung aus medizinischen Gründen seitens der Armee die Regel, nicht die Ausnahme. Im Jahr 1875 etwa wurden in Österreich-Ungarn fast zwei Drittel der einberufenen jungen Männer wegen Krankheiten, Verletzungen oder verkümmerten Wachstums infolge von Unterernährung abgewiesen. Manche Rekruten, die eine Einberufung vermeiden wollten, führten eine Tachykardie, ein Herzrasen, herbei, indem sie fasteten oder exzessiv Koffein konsumierten, manche verstümmelten sogar ihre Hand. Aber Herzl wollte unbedingt dienen und war ein wohlgenährter Mann der Mittelschicht ohne offensichtliche Krankheiten. Gemessen am Standard seiner Zeit und Region war er überdurchschnittlich groß (1,70 Meter gegenüber der mittleren Größe von 1,63 Meter). Da ihm auf den ersten Blick nichts fehlte, erklärt sich seine Ausmusterung am wahrscheinlichsten dadurch, dass die medizinische Untersuchung ein ungewöhnliches Herzklopfen festgestellt hatte. (Im Alter von sechsunddreißig Jahren wurde bei Herzl eine »Herzneurose«, wie er es einmal selbst nannte, diagnostiziert.) Warum wollte Herzl unbedingt eingezogen werden? Es liegen keine Hinweise vor, die diese Frage direkt beantworten würden, aber Herzls Erfahrungen an der Universität lassen einige Rückschlüsse zu. Dort entwickelte er einen Hang zum deutschen Nationalismus, den er mit Männlichkeit und Charakterstärke identifizierte. Zu Beginn seiner Studienzeit trat Herzl in eine Studentenvereinigung namens »Akademische Lesehalle« ein. Die Lesehalle bot Zugang zu einer weitgehend privaten Bibliothek und zu einer Vielzahl gesellschaftlicher Klubs. Es war an sich keine politische Organisation, doch zu der Zeit fiel es allen studentischen Organisationen in Österreich schwer, gegenüber den Nationalitätenkonflikten immun zu bleiben, die zunehmend die Stabilität der Doppelmonarchie gefährdeten. An der Universität Wien befürwortete eine Studentenverbindung Österreich-Ungarn als dynastisches, multinationales Reich, eine andere hingegen predigte die Überlegenheit der ethnisch Deutschen in Österreich und plädierte für enge 33

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hungen zu dem erst kürzlich vereinigten deutschen Kaiserreich. Die Lesehalle stand mehr oder weniger zwischen diesen beiden Polen, doch im Lauf der ersten beiden Jahre von Herzls Mitgliedschaft bewegte sie sich deutlich in die Richtung des deutschen Nationalismus. Herzl hatte nichts dagegen einzuwenden, im Gegenteil: Als er im Herbst 1880 beschloss, in eine Bruderschaft einzutreten, mied er die große Zahl an jüdischen und nichtdeutschen Optionen und meldete sich als Kandidat für die Aufnahme in eine eindeutig deutsch-nationalistische Bruderschaft namens Albia. Nach der vorläufigen Aufnahme nahm Herzl Fechtstunden, um sich auf das hochwichtige Initiationsritual vorzubereiten – ein Duell, das erst endete, wenn Blut geflossen war. In dem kurzen Duell, das am 11. Mai 1881 ausgefochten wurde, floss sowohl bei Herzl als auch bei seinem Gegner Blut, und ein unmittelbar danach gemachtes Foto zeigt Herzl mit einem Heftpflaster auf der linken Wange. Herzl hätte in jeder Bruderschaft das Vergnügen haben können, sich zu duellieren, aber er identifizierte sich mit der Germanophilie der Albia. Er hielt nicht viel von der politischen Idee der ethnischen Deutschen in Österreich, aber er bewunderte zutiefst den preußischen Adel, der für ihn der Inbegriff an Manneskraft, Disziplin und Kontrolle über die Leidenschaften war. Der preußische Kanzler Otto von Bismarck war in seinen Augen ein Held. Wir haben bereits gesehen, wie sehr sich Herzl als Teenager bemühte, seine Gefühle zurückzuhalten. Dieser emotionale Konflikt hielt bis in die späte Adoleszenz und das frühe Mannesalter an. Herzl bezichtigte sich seiner dunklen Emotionen auch selbst. Dazu zählten Furcht und Besorgnis, die Herzl für unehrenhaft hielt, und er warf sich selbst Feigheit vor, als er im Jahr 1885 einem Duell aus dem Weg ging, um bei seinem Vater zu sein, der schwer erkrankt war. Herzl hatte mit einer europäischen, politischen Stimmung zu kämpfen, die seit den 1870er Jahren zunehmend antisemitisch wurde. Antisemiten schilderten jüdische Männer üblicherweise als schwach, es würde ihnen an Tapferkeit und Entschlossenheit mangeln, und sie neigten zu Nervenleiden. Viele mitteleuropäische Juden, die nach gesellschaftlicher 34

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nung lechzten, waren bereit, sich selbst die Schuld für diese Feindseligkeiten zu geben, die sich gegen sie richteten, so auch Herzl. Die Bruderschaft Albia bildete ein Mittel, jüdische Eigenarten auf eine, wie Herzl meinte, ehrenhafte Art zu überwinden. Es ist bezeichnend sowohl für das Bemühen Herzls, seinem Dasein als Jude zu entrinnen, als auch für die Vergeblichkeit dieses Ansinnens, dass der Spitzname, den er während seiner Zeit in der Albia wählte, Tankred lautete – der Name eines italienisch-normannischen Kreuzfahrers, der als der Fürst Galiläas bekannt wurde. Die Entscheidung für den Namen eines Adligen, der Palästina eroberte, ist noch bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass Herzl womöglich Benjamin Disraelis gleichnamigen Roman von 1847 kannte. Disraeli erzählt darin die Geschichte eines jungen britischen Adligen, der nach Palästina reist und die nationale Auferstehung der Juden in ihrer alten Heimat befürwortet. Hinter Herzls Verehrung für Krieger wie Bismarck und Tankred verbarg sich seine völlige Hingabe an die Idee der persönlichen Ehre, wenn es nicht gar eine Besessenheit war. Da Herzl danach trachtete, ein Mann von Ehre zu sein, störten ihn die antijüdischen, spitzen Bemerkungen nicht, von denen die bierselige, deutsch-chauvinistische Stimmung bei Albia erfüllt war, solange man ihm persönlich Respekt zollte und die Chance bot, sich zu bewähren. Als Albia immer stärker und aggressiver antisemitisch wurde, spürte Herzl jedoch, dass man ihm die Chance nehmen würde, sich vor anderen Juden auszuzeichnen. Im Jahr 1883 reichte er seinen Austrittsantrag ein. Ein Jahr vor Abschluss seiner Doktorarbeit an der juristischen Fakultät 1883 fing Herzl an, ein Tagebuch zu führen, in dem er sein Wissen und seine Sorgen um die Juden dokumentierte. Eugen Dührings boshaftes Buch von 1881, Die Judenfrage als Racen, Sitten und Culturfrage, empörte ihn. Herzl war selbst imstande, Juden mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken zu bedecken. Als sein erstes Stück Tabarin im Jahr 1885 in New York uraufgeführt wurde und ihm zu Ehren im Haus eines Kollegen seines Vaters in Berlin eine Feier 35

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staltet wurde, beschrieb er die Gäste für seine Eltern wie folgt: »An die 30-40 kleine hässliche Juden und Jüdinnen. Kein tröstender Anblick.«11 Diese herabwürdigende Bemerkung könnte durchaus auch als Scherz gemeint gewesen sein – die Art von Selbstironie, die Mitglieder einer ethnischen oder rassischen Gemeinschaft untereinander anwenden, von der sie sich aber beleidigt fühlen würden, wenn sie von außerhalb der Gruppe käme. Unter seinesgleichen bevorzugte Herzl eine humorvolle, ironische und manchmal ein wenig abgehobene Art. Er bemühte sich, nonchalant zu wirken. Doch in Wirklichkeit war er angespannt und litt unter Anfällen von Melancholie. Seine erste dokumentierte depressive Phase war im September 1879 aufgetreten, als Herzl sich selbst, frei nach Goethes Stück Egmont, als »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, – bald in Hoffnungen mich wiegend, […] bald zu Tode, zum Sterben verzagt« bezeichnet.12 Vier Jahre später, im Zuge seines Austritts aus Albia, des unglücklichen Endes einer Liebesaffäre und der Ablehnungen seiner ersten Stücke, erklärte Herzl, »die Trostlosigkeit meines Daseins« sei wieder über ihn gekommen. »Kein Erfolg will kommen. Und ich brauche doch den Erfolg, ich gedeihe nur im Erfolg.«13 Diesen Erfolg konnte er nur über das Theater erzielen, nicht über die juristische Tätigkeit. Nach Abschluss seines Studiums absolvierte Herzl pflichtgemäß in Wien und Salzburg die Gerichtspraxis als Anwalt, eine Art Referendariat, aber ihm erschien die Arbeit als anstrengend und wenig befriedigend. Jahre später sollte Herzl schreiben, dass er in Salzburg glücklich gewesen sei und seine juristische Tätigkeit fortgesetzt hätte, wenn nicht der Antisemitismus gewesen wäre, der seine Karrierechancen eingeschränkt habe. Diese Motivation wird allerdings in Herzls umfangreicher Korrespondenz aus jener Zeit mit seinem Studienfreund Heinrich Kana, mit dem Herzl zum ersten Mal in seinem Leben eine enge und unbekümmerte Beziehung außerhalb des unmittelbaren Familienkreises einging, mit keinem Wort erwähnt. »Offen (albern und eitel?) bin ich ja nur einem einzigen Menschen gegenüber, und der bist 36

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Du«, gestand Herzl seinem Freund Kana, doch Herzls offene Geständnisse waren nie frei von Manierismus und einer gewissen Gewitztheit: »Scheint es doch, als hättest Du noch immer nicht den Schlüssel zu mir gefunden, vielleicht darum, weil ich sperrangelweit offen zu stehen mir das Ansehen gebe. Ich spreche zwar nicht immer, ja nicht einmal oft die Wahrheit, und doch bin ich ein aufrichtiges Thier. (Ich mag auch noch so oft lügen, ich thue es dennoch nie, wenn dabei kein Vortheil herausschaut.)«14 Die Freundschaft zu Kana stärkte Herzl, genau wie die bedingungslose Liebe seiner vernarrten Eltern, die ihn unterstützten, während er sich als Bühnenautor versuchte, und die Kosten für lange Touren durch ganz Europa übernahmen. Als Mittzwanziger bestand Herzl noch darauf, dass seine Eltern ihm jeden Tag schrieben, aber er selbst war nicht bereit, ihnen auch nur die Hälfte dieses Gefallens zu erweisen. Als Antwort auf die Bitte, ihnen doch jeden zweiten Tag zu schreiben, erklärte Herzl seinen Eltern, dass er ihnen nicht regelmäßig schreiben wolle: »Glaubet mir: es ist so besser.«15 Aber wenn er ihre Aufmerksamkeit brauchte, schrieb er täglich, wie bei seinem Besuch in Berlin gegen Ende des Jahres 1885, als er versuchte, in der Hauptstadt des Kaiserreichs im Journalismus und am Theater Fuß zu fassen. Herzl war ein egozentrischer und überreizter junger Mann, besaß aber eine erstaunliche innere Stärke. Er war zwar kein übermäßig fleißiger Student gewesen, doch sobald er die Universität verlassen hatte und im Theater den Durchbruch zu schaffen suchte, wurde er geradezu zum Workaholic. Er komponierte in einem atemberaubenden Tempo Stücke und Essays und klagte gegenüber seinen Eltern über seine chronische Schlaflosigkeit. Im März 1887 hatte Herzl den Punkt erreicht, wo seine »wilde und entnervende Arbeitsmethode«16 ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Aber er brach nicht zusammen. Stattdessen erholte er sich durch Reisen. Sie inspirierten ihn zu einigen seiner besten Schriften, aber sie gaben ihm auch Gelegenheit, einen Gang zurückzuschalten, nachzudenken und die Maske der Sorglosigkeit abzulegen, die 37

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ihm eine so schwere Bürde war. Herzl war ein einsamer Mann, doch er war auch entschieden fähig, allein zu sein: »Wenn man soviel allein ist, so ununterbrochen«, schrieb er seinen Eltern, »hat man natürlich Zeit und Anlass, viel nachzudenken. Ich bin ja auch heute ein ernsterer und nachdenklicherer Mensch als je zuvor. Ich verstehe mehr vom Leben, verstehe es gründlicher, als in früherer Zeit.«17 Ein wichtiger Bestandteil des Lebens, mit dem Herzl nie zurechtkommen sollte, war die Frage, wie er sich Frauen gegenüber verhalten sollte. Er hing noch dem allzu verbreiteten, bürgerlichen Klischee an, das Frauen in zwei Kategorien einteilte: die jungfräulichen und reinen sowie jene »leichten Mädchen«, die sich zum Objekt der niedersten sexuellen Begierden eigneten. An der Universität und unmittelbar nach seinem Examen hatte Herzl ein paar Tändeleien mit Prostituierten und einer Verkäuferin. Im Juni 1880 holte er sich einen Tripper, dessen schmerzhafte Symptome und die angewendete Standardtherapie (Zinksulfat) er in einem Brief an Kana erwähnte. Das Zinksulfat war aus medizinischer Sicht kein wirksames Heilmittel, doch Herzl trug allem Anschein nach keine langfristigen Komplikationen wie Unfruchtbarkeit davon. (Er zeugte später drei Kinder.) Herzl hatte zwar weiterhin Affären, entwickelte aber eine tief sitzende Angst vor dem Geschlechtsakt. In einem Brief an Kana von 1882 verglich Herzl das Schreiben eines Romans auf besonders drastische Weise mit einem längeren Geschlechtsverkehr: »Die ersten zwei, drei Capitel haben ihm selber Spass gemacht, aber nun gewahrt er [der Autor], dass die exigeante Holde weitergevögelt sein will – bis zum Capitel zwölf! Die Kräfte drohen den armen dankbaren Jüngling zu verlassen, aber er stachelt und peitscht sich immerfort zu neuen Thaten auf, um seiner Muse zur gewollten Wollustepilepsie zu verhelfen.« Herzl schließt daraus: »Ich sage dir – beides aus Erfahrung! – ein Verhältniss und eine Novelle können einen aufreiben …«18 Einen Roman würde Herzl noch schreiben – ein Werk, das sein größter Trost sein sollte, als seine zionistischen diplomatischen Bemühungen scheiterten –, doch seine Tagebücher und 38

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spondenz lassen darauf schließen, dass er die Vorstellung einer erotischen Liebe, ob nun ehelich oder anderweitig, aufgab und sich mit Fantasien von unerreichbaren jungen Frauen, ja sogar kaum pubertierenden Mädchen zufriedengab. Im Jahr 1882, als Herzl zum Jahrestag von Paulines Tod nach Budapest reiste, entwickelte er eine starke Zuneigung zu seiner sechzehnjährigen Cousine. Der Zeitpunkt des Besuchs und Herzls Erregung waren womöglich nicht zufällig. Dass Herzl mitunter brüderliche und erotische Liebe miteinander vermischte, zeigte sich noch deutlicher, als er in einem Zug in den Schweizer Alpen im August 1883 eine junge Französin beobachtete, die ihn an seine Schwester erinnerte: So matt glänzte ihr leichtbräunlicher Teint, so bescheiden und klug sahen einst ihre für ewig verloschenen Augen in eine Welt, die damals um Vieles reicher war, wie heute. So nahm sich ein weisser Schleier auch auf ihrem lieblichen Gesicht aus. Der weisse Schleier hat mich sehr gerührt … Der junge Ehemann warf mir böse Blicke zu, weil ich seine Frau unausgesetzt betrachtete. – Was hätte ich dafür gegeben, wenn selbst so ein läppischer Kerl mein Schwager wäre! Sie würde ja leben. Ich hätte ihn schon gezwungen, sie gut zu behandeln. … Umsonst taugt mein Herz wie kein anderes für die Gefühle eines Onkels. – Andere geniessen dieses Glück in reichem Mass und verstehen es gar nicht.19 Die Ähnlichkeit der Frau mit Pauline dämpfte Herzls romantische Glut. Frauen, die Madeleine Kurz glichen, hatten jedoch unterschiedliche Wirkungen auf ihn. Gelegentlich war sie relativ unschuldig, wie im Fall eines »blonde[n], klugäugige[n] kleine[n] Mädchen[s]«, das Herzl in einem Zug in Bayern begegnete. Sie ließ ihn »die Reisepoesie zum erstenmale aus Kinderaugen« erblicken. »Darum sei Dir ein Blättchen im Denkbuch gewidmet, kleine, liebenswürdige Reisegefährtin. Ich wette: der, dem Du einst angehören wirst, wird glücklich sein, Du holdes, zartes Kind … Dass man sich in ein Kind verlieben kann, heute hab’ ich es zum erstenmal begriffen.«20 39

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Hingegen war die Begegnung zwischen Herzl und einem kleinen Mädchen an Bord eines Boots auf dem Rhein im August 1885 weniger unschuldig: »Wie sie den Crayon mit ihrem zarten, lichtbraun beschuhten Händchen so zierlich führte; wie sie nicht minder zierlich ihn zuweilen an den rothen Mund führte, um den Stift zu benetzen, wobei sekundenlang die schimmernden weissen Zähnchen sichtbar wurden; wie der graue Schleier im Morgenwind um ihr rosiges Gesicht flog; wie ihre blauen Augen nachdenklich glänzten: das alles war so lieblich anzuschauen, dass ich ihr augenblicklich mit jener starken und heissen Neigung zugethan war, die ich von jeher allen meinen Reisegefährtinnen entgegenbrachte – versteht sich, den schönen.« Das Mädchen reiste zusammen mit seinem Vater, den Herzl in seinem Reisetagebuch als »mürrischen, dicken alten Papa« bezeichnete. Einige Zeit nachdem alle drei von Bord gegangen waren, schrieb Herzl in sein Tagebuch, dass er noch lange nach ihr gesucht habe, »um ihr das Büchlein zurückzustellen, aus dem mich noch jetzt der Duft dieses Tages halb verflüchtigt anweht. Nun veröffentliche ich es. Vielleicht meldet sie sich.«21 Fünf Monate später wurde aus diesem Wunsch, in Kontakt mit dem Objekt seiner Zuneigung zu bleiben, eine Obsession, als er auf einem Kinderball in Budapest Magda Kurz, Madeleines Nichte, erblickte, die er als Kleinkind auf den Armen gehalten hatte und die inzwischen dreizehn war. (Herzl war sechsundzwanzig.) »Noch kurz das Kleidchen, der süsse Körper unentwickelt – aber dieses feine, vornehme, holde Gesicht! … Und die theuren Augen, dieses goldene, goldene Haar! Frisur wie einer Erwachsenen. Als sie später zerzaust war und vor einer Lampe stand, sah ich eine Aureole um das süsse Köpfchen.« Herzl wurde extrem eifersüchtig auf die Knaben, die mit ihr tanzten – so stark: »Ich war ganz toll. Musste an mir halten, um ihr nicht, wie einer Erwachsenen zu sagen, dass ich sie liebe.« Herzl träumte auch von ihr. An den nächsten Tagen suchte er sie geradezu, fand sie auf einem Eislaufplatz und starrte sie aus der Ferne an. Fünf Tage danach ging er noch einmal zur Eisbahn und fand sie nicht, aber auf die Rückseite 40

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seiner Eintrittskarte kritzelte er, er werde »als Andenken an traurig verbrachte Stunden, an eine kindische, aber schmerzliche Enttäuschung, … dieses Billet für kommende Zeiten aufbewahren. Werde ich dieses Zeichen einer tiefen Zärtlichkeit jemals der Geliebten zeigen können?«22 Herzl beschloss, sie zu heiraten, noch drei Jahre zu warten, bis sie volljährig war. Er war sich bewusst, dass seine Gedanken nicht klar, sondern von einem »Wahn, der mich beglückt«, erfüllt waren. Es quälte ihn, dass er sie ohne finanziellen Erfolg nicht würde heiraten können: »Aeussere Erfolge brauche ich. Ein Nest für den goldenen Vogel!« Prompt kamen ihm jedoch Zweifel, ob der einzigartige, himmlische Charme seiner Geliebten wohl die Pubertät überdauern würde: »Wenn sie ausgewachsen, ist sie vielleicht die durchschnittliche heiratsfähige Tochter.«23 Herzl wartete nicht auf Magda. Vielmehr richtete er kaum einen Monat nach diesen Ereignissen seine erotische Ausstrahlung auf Julie Naschauer, die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmanns, dessen Familie die Herzls seit dem Umzug nach Wien im Jahr 1878 kannten. Im Jahr 1886 war Julie eine voll ausgewachsene junge Frau von achtzehn Jahren: hübsch, blond, blauäugig und betörend. Bei einem Besuch im Hause Naschauer, die Eltern blieben in der Nähe, tauschte das Paar Küsse aus, die Herzl in Verzückung versetzten. Mit Herzls Sehnsucht nach einer erwachsenen Frau ging jedoch auch ein Aufwallen von Gefühlen der Abneigung, des Selbsthasses, voller »wildem Ekel«, wie Herzl es nannte, einher, die ihn zu Selbstmordgedanken trieben. Zumindest zum Teil ging diese Beklemmung auf das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit zurück, weil Herzl sich als Bühnenautor noch keinen Namen gemacht hatte, aber er war allem Anschein nach auch überwältigt von der Wucht seiner Leidenschaft, die er lange versucht hatte zu unterdrücken. Indem Herzl Julie gegenüber Gleichgültigkeit vortäuschte, brach er den Kontakt zu ihr ab und stürzte sich in die Arbeit. Für den Rest des Jahres 1886 produzierte er einen journalistischen Beitrag nach dem anderen für Zeitungen in Berlin, Budapest und Wien, bis er quälende Kopfschmerzen bekam und 41

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dringend einen Orts- und Tempowechsel benötigte. Wie so oft, ging Herzl auf Reisen, diesmal nach Italien, wo er im Frühjahr 1887 sechs Wochen blieb. Unterwegs verfasste er Reiseskizzen, die den Redakteuren des Wiener Allgemeinen Tageblatts gefielen, in dem er bereits mehrere Beiträge veröffentlicht hatte. Am 15. April wurde er der Feuilleton-Redakteur der Zeitung. Das war ein großer Erfolg, und Herzls erste richtige Stelle seit seinem Abschied aus Salzburg, aber nach nur drei Monaten wurde er wieder entlassen. Die Gründe sind nicht ganz klar, aber es scheint durchaus möglich, dass dieser Mann mit gerade siebenundzwanzig Jahren, der abgesehen von seinem kurzen Praktikum als Anwalt noch nie eine richtige Stelle gehabt hatte, das halsbrecherische Tempo in der Redaktion einer großen Tageszeitung einfach nicht mitgehen konnte. So kurzlebig die Erfahrung auch war, sie steigerte, im Verein mit wichtigen Erfolgen am Theater, Herzls Selbstvertrauen. Nunmehr fühlte er sich bereit, wieder mit Julie in Kontakt zu treten. Wie ambivalent seine Gefühle ihr gegenüber, oder gegenüber Frauen allgemein, auch gewesen sein mochten, Herzl sah sich mit einem elterlichen und gesellschaftlichen Druck konfrontiert, zu heiraten, und Julie schien eine gute Partie zu sein. Er machte ihr einen Antrag, sie nahm an, und so heirateten sie am 25. Juni 1889. Herzl hatte in der Tat eine gute Partie gemacht: Julies Mitgift betrug die damals enorme Summe von 75.000 Gulden. Über die Hochzeit sind keine Unterlagen erhalten, und um Julie selbst rankte sich so manches rätselhafte Gerücht. Die Familie ihrer Großmutter mütterlicherseits war womöglich gar nicht jüdisch. Von ihrer Person und ihrer Persönlichkeit wissen wir nur über Theodor und andere Beobachter, weil ihre Briefe entweder vernichtet wurden oder den Zweiten Weltkrieg nicht überdauerten. Es herrscht auch eine gewisse Verwirrung um das Geburtsdatum ihres ersten Kindes: ein Mädchen, das, wie zu erwarten, Pauline genannt wurde. Die meisten Biographien und zionistischen und israelischen Websites geben den 29. März 1890 als Geburtsdatum an. Doch ein Brief Herzls, vom 5. März, kaum mehr als acht Monate nach der Heirat, verkündet, dass 42

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Julie soeben entbunden habe und dass Herzl froh sei, dass eine geplante Geschäftsreise nach Prag auf den 7. März verschoben worden sei. Als Herzl aus Prag zurückkehrte, fand er »zum Glück Frau und Kind bei bestem Wohlsein«.24 Bei der Rückdatierung der Geburt könnte es sich um einen simplen Irrtum handeln, wie es in Alex Beins bahnbrechender und immer noch häufig zu Rate gezogener Biographie Herzls offenbar der Fall ist, und viele andere haben das Datum seither abgeschrieben. Es ist auch möglich, dass Bein oder andere das Datum fälschten, getrieben von der Sorge, dass eine Geburt vier Wochen vor Ablauf der vollen Schwangerschaft als Beweis dafür gedeutet werden könnte, dass Theodor und Julie vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hätten. Die Geburt des Babys kam jedoch offensichtlich für Herzl sehr überraschend, und das spräche dafür, dass Pauline in den Flitterwochen der Herzls gezeugt wurde und nach nur sechsunddreißig Wochen zur Welt kam, ein wenig, aber nicht gefährlich vor dem Termin. Dabei hatten die Hüter von Herzls Andenken viel größere Sorgen als Paulines Geburtsdatum. Julie hatte nicht weniger psychische Probleme als Theodor, womöglich sogar größere. Laut Schilderungen von Herzl und Zeitgenossen, die die Familie kannten, war sie launenhaft und neigte zu Wutausbrüchen, gab reichlich Geld für Einrichtung, Vergnügungen und Kleidung aus und drohte mehrmals (und theatralisch) mit Selbstmord. Laut Herzls Korrespondenz hatte das Paar kaum drei Monate nach Paulines Geburt einen furchtbaren Streit, und Herzl verließ das Haus. Das war nicht die erste Auseinandersetzung: »Ich werde mir überlegen«, schrieb Herzl seinen Eltern, »ob ich noch einmal zu Julie zurücksoll oder ob ich mich schon jetzt von ihr scheide – was leider Gottes nur eine Frage der Zeit ist.« In einem anderen Brief an seine Eltern gibt Herzl zumindest zum Teil seinem eigenen künstlerischen Temperament die Schuld an den Eheproblemen: »Die Reizbarkeit, die leichte Empfindlichkeit für jeden Eindruck, die beim Schriftsteller ein Vorzug sind, sind ein Fehler beim [gewöhnlichen] Menschen. Vielleicht ist meine Art zu leben, die falsche. Vielleicht ist die Frau an meiner Seite, weil sie nicht die Hingabe 43

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und Entsagung einer Mutter für mich hat, mehr zu bedauern als anzuklagen.«25 Herzl brachte zwar eine Bedürftigkeit und Unreife zum Ausdruck, doch er meinte es aufrichtig. Und nicht weniger aufrichtig erwog er die unschönen Optionen einer Scheidung oder eines Lebens mit Julie: »Ebensowenig ich euch verhehle, dass ich kein Vertrauen zu der Haltbarkeit unserer Ehe habe, ebensowenig verschweige ich, dass mich ihre Auflösung furchtbar schmerzen wird.« Im Grunde lassen sich Herzls Ausführungen über ihre Beziehung wie folgt zusammenfassen: »Ich habe sie gern und kann nicht mit ihr leben.« Oder: »Wir passen eben nicht zu einander. Wenn zwei Thiere in einem Käfig sich fortwährend anfallen, so gebietet das Mitleid und der gewöhnlichste Verstand, sie zu trennen, bevor sie sich zerfleischt haben.«26 Das Paar versöhnte sich wieder, vor allem um Paulines willen, und Julie wurde erneut schwanger. Doch sie zerstritten sich auch schon bald wieder. Herzl wollte sich nicht von Julie trennen, während sie guter Hoffnung war, doch diesmal war er entschlossen, nicht um des Kindes willen bei ihr zu bleiben. Herzl schickte seinem Schwiegervater eine Liste mit Beschwerden und Forderungen und sprach darin unter anderem Julies »liebloses, verletzendes Betragen gegen meine Eltern« an.27 Herzl erklärte Herrn Naschauer, dass dessen Tochter entweder ein niederträchtiger Mensch oder »hochgradig hysterisch« sei, und dass er sie vor mehreren Versuchen, sich aufzuhängen oder zu vergiften, gerettet habe. Herzl gab Julies Eltern die Schuld daran, dass sie eine ungezogene, verdorbene und wenig intelligente Tochter hatten. Hinter diesem Affront steckte Herzls lang schwelende Abneigung gegen die Naschauers für ihr Vermögen, das um ein Vielfaches höher war als das seiner Familie. Herzl war auf Julie wegen ihres groben Benehmens seiner Mutter gegenüber wütend, aber er zeigte sich auch nicht gerade respektvoll gegenüber seinem Schwiegervater und verbreitete hinter dessen Rücken über ihn, er habe einen »listigen, unterwürfigen Charakter«. Herzls boshafte Kommentare erinnern an die Zeit, als er von Magda Kurz betört war und wütend in 44

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sein Tagebuch schrieb, dass Mädchen wie sie »nur reiche, rohe Börsegesellen« heiraten würden. Die Geburt von Hans am 10. Juni 1891 verschaffte dem Paar eine gewisse Verbesserung der Situation, weil Herzl hocherfreut darüber war, einen Sohn zu haben: »Wir etwas verträumten und ehrsüchtigen Menschen sehen ja in so einem kleinen Kerl gleich das sichere Versprechen, dass in dieser Fortsetzung unserer Person Alles in Erfüllung gehen werde, was unser eigener schäbiger Anfang nicht brachte.«28 Aber Herzl änderte schon bald wieder seinen Sinn und verfolgte die Absicht, bei einer Trennung zumindest das Sorgerecht für eins der Kinder zu bekommen. Ende Juni schrieb er einen langen Brief in einem herablassenden und bitteren Ton an Julie. Er behauptete, er habe schon schlechte Vorahnungen gehabt, bevor die Ehe geschlossen worden sei, sein Ehrgefühl habe ihn jedoch davon abgehalten, seinen Antrag zurückzunehmen. Indem er erklärte, dass sie beide niemals etwas miteinander gemeinsam gehabt hätten und auch nie haben würden, und Julie mit dem Zorn seines Anwalts drohte, verlangte Herzl, dass sie einer Scheidung zustimmte, wobei Pauline bei ihr bleiben und Hans in Herzls Obhut gegeben werden solle. Während Herzls Beziehung zu Julie einen Kreislauf langer Frostphasen und kurzer Tauwetter durchlief, waren seine Eltern die einzige Konstante in Herzls Leben, und gerade wegen seiner tiefen Bindung zu ihnen wollte er seine Ehe mit Julie nicht länger ertragen: »1.) Weil ich um keinen Preis der Welt mehr in das verworrene, arbeitsunfähige Leben, welches meine Ehe war, zurück will. 2.) Dass ich Euch, meine guten, braven zärtlichen Eltern desavouiren, kränken und auf das Undankbarste zurücksetzen würde, wenn ich es thäte. Ihr sage ich das als zweiten Grund – Ihr wisst, dass es für mich der erste und hauptsächlichste ist.«29 Zu Beginn seiner bedauernswerten Ehe konnte Herzl noch bei seinen Freunden Zuflucht suchen. Nicht, dass er wirklich mit ihnen mitgefühlt hätte, vielmehr tauchte er in ihre Probleme ein, um für kurze Zeit seine eigenen zu verdrängen. In seinem ersten Brief an Heinrich Kana nach Paulines Geburt 45

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mühte sich Herzl, seinen Freund aufzumuntern, der nach Berlin gezogen und nun wegen seiner ausgebremsten journalistischen Laufbahn in eine tiefe Depression gesunken war. »Aber verfalle doch nicht in den Fehler«, schrieb Herzl, »der oft, oft der meine war: dass die Augen der ganzen Welt auf mich gerichtet seien. Die ganze Welt hat ganz etwas anderes zu thun. Uns fehlt die niedere Lebensklugheit, mein lieber Heinrich, Dir noch mehr als mir. Die muss man aber haben, sich gewaltsam aneignen, sonst erträgt man das Leben nicht. Also nochmals: sei gescheit!«30 Tragischerweise nutzte der Rat nichts. Anfang Februar 1891 beging Kana Selbstmord. Als Herzl vom Tod seines Freundes erfuhr, verließ er Julie, die damals im sechsten Monat mit Hans schwanger war, und machte sich nach Italien und Frankreich auf. Erst in den letzten Schwangerschaftswochen kehrte er nach Wien zurück und flüchtete dann zwei Monate nach der Geburt wieder gen Süden. Auf dieser zweiten Reise, auf der er an zauberhaften Orten wie Biarritz und San Sebastián Station machte, fing Herzl an, an einem Roman zu arbeiten, der auf Kanas Leben basierte und der fürs Erste den Titel Samuel Kohn bekam. In einem ersten Entwurf stellt sich Herzl die Hauptfigur an ihrem letzten Lebensabend wie folgt vor: »Er spazirte am Abend Unter den Linden, fühlte sich durch seinen nahen Tod allen überlegen.« Während Kohn über die Berliner Prachtstraße Unter den Linden schlendert, geht er an einer Einheit der königlichen Garde vorüber und stellt sich vor, dass er einen von ihnen mit in den Tod reißen könnte. Diese Aussicht erfüllt Kohn mit Stolz: »In dem Augenblick, wo er seinen Selbstmord verwerthen wollte, war er ein Gebieter. Er ging auch so stolz und herrisch daher, dass ihm Alle unwillkürlich auswichen. Das stimmte ihn wieder versöhnlich, und er ging still nach Hause und erschoss sich.«31 Herzl vollendete den Roman nie, und auch wenn er sich fraglos mit Selbstmordgedanken trug, so unternahm er doch, soweit wir wissen, nie einen Versuch, sich umzubringen. Selbst in dieser finsteren Zeit blieb er voller Tatendrang und freute sich am Leben. In Frankreich und Spanien stand er früh auf, machte täglich Sport, schrieb jeden Vormittag und las 46

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tags. Sogar in tief melancholischer Stimmung hielt Herzl einen festen Stundenplan ein und genoss die ungestörte Einsamkeit. Nach Kanas Tod war Herzls einziger enger Freund sein Schulkamerad Oswald Boxer, der wie Kana aus Wien nach Berlin gezogen war, um sein Glück im Journalismus zu versuchen. Anders als Kana hatte Boxer jedoch beruflich Erfolg. Dennoch schiffte sich Boxer im Mai 1891 auf Geheiß des deutschen Zentralkomitees für russische Juden nach Rio de Janeiro ein, um Möglichkeiten zu erkunden, in Brasilien jüdische landwirtschaftliche Siedlungen zu gründen. Er war bereits seit geraumer Zeit für die Organisation tätig und hatte eine frühere Einladung, die anstrengende Reise auf sich zu nehmen, abgelehnt. Kanas Tod könnte ihn veranlasst haben, ein Abenteuer im Ausland zu suchen, genau wie Herzl nach Spanien gereist war. Auf ebenfalls tragische Weise starb Boxer am 26. Januar 1892 an Gelbfieber. Herzl hatte jetzt keine Freunde mehr, und er und Julie wechselten zwischen langen Phasen des offenen Krieges und zerbrechlichen Waffenstillständen. Herzl reagierte auf diese Anhäufung von Verlusten, indem er zu der »eisigen Ruhe« seiner Jugendzeit zurückkehrte: Das Leben sei nicht nur Kummer, sondern auch ein Spiel, bei dem sich die Götter nach der Art Homers amüsierten, denkt er. »Man muss es nur in der richtigen Entfernung betrachten.«32 Die Arbeit blieb der Mittelpunkt in Herzls Leben. Seit seiner Adoleszenz hatte er sich nach Erfolg auf der Bühne gesehnt, und sein größter Ehrgeiz war es, seine Stücke im renommierten Wiener Burgtheater gespielt zu sehen. Wie zu seiner Zeit üblich waren Herzls Stücke überwiegend Gesellschaftskomödien, die sich um die Liebe und ums Heiraten drehten, und von possenhaften Szenen und stereotypen Figuren nur so wimmelten. Milde machten sie sich über menschliche Schwächen wie Eitelkeit und Ehrgeiz lustig. Herzls Stücken mangelte es jedoch an Herzlichkeit, was an seiner persönlichen Distanziertheit gelegen haben mag. Der Schauspieler Ernst Hartmann schrieb 1887 Herzl: »Sie haben offenbar, zweifellos, Talent, Erfindung – alles, was man braucht –, nur scheint es mir, müssen sie die Menschheit doch etwas respektvoller behandeln, etwas tiefer 47

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anschauen, wenn Sie nach ihr formen wollen.«33 Ungeachtet der manierierten Handlungen und flachen Figuren seiner Stücke hatten einige beachtlichen Erfolg. Herzls Schauspiel Seine Hoheit (1888) erhielt relativ gute Kritiken, als es in Prag und Wien gespielt wurde. Zu Beginn des folgenden Jahres arbeitete Herzl mit dem Wiener Journalisten Hugo Wittmann zusammen, einem beliebten Autor, der für die renommierte Neue Freie Presse schrieb und einen spritzigeren Sinn für Humor als Herzl hatte. Das Ergebnis war eine oberflächliche, aber bezaubernde Komödie mit dem Titel Wilddiebe. Unter einem Pseudonym, damit seine früheren Fehlschläge die Erfolgschancen nicht schmälerten, reichte Herzl das Stück beim Burgtheater ein, und es wurde zu seiner großen Freude angenommen. Das Stück bekam nicht nur gute Kritiken, es wurde sogar in das Standardrepertoire des Theaters aufgenommen und regelmäßig aufgeführt. Später, im Jahr 1889, schrieb Herzl eine Komödie für das Burgtheater, die angenommen wurde, ohne dass er es nötig hatte, ein Pseudonym zu benutzen. Herzls Erfolgsphase hielt jedoch nicht lange an. Wenige Monate nach seiner Heirat schrieb Herzl eine düstere und offensichtlich autobiographische Komödie über unglückliche Ehen, die das Burgtheater ablehnte und die glatt durchfiel, als sie in Prag und Berlin inszeniert wurde. In den nächsten Jahren schrieb Herzl das Libretto für eine Operette, die wiederum sehr gut ankam, doch zwei weitere Versuche einer Zusammenarbeit zwischen Herzl und Wittmann scheiterten ebenfalls, und Herzls Stück Prinzen aus Genieland wurde nach nur einer Aufführung wieder abgesetzt. Hätte Herzl seine schriftstellerische Tätigkeit auf das Theater beschränkt, wäre er als Fußnote der Geschichte in Vergessenheit geraten. Aber er zeichnete sich im Journalismus aus, und auf diesem Feld erwarb er sich auch einen internationalen Ruf. Herzl hatte zwar Schwierigkeiten, menschliche Gefühle auszuloten, und die Vielschichtigkeit des Antriebs echter Menschen entzog sich seinem linear denkenden Verstand, doch er war geschickt darin, die Szenerie eines Ortes und die Interaktionen der Menschen darin zu skizzieren. Er hatte ein Talent 48

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für lebhafte Beschreibungen des Äußeren der Menschen und deren Handlungen. Und die distanzierte, abwehrende Haltung, mit der er sich der Welt näherte, der trockene und bisweilen boshafte Witz, der eine aufgewühlte Melancholie kaum verhüllte, eigneten sich perfekt für das journalistische Genre des Feuilletons, das damals überall auf dem europäischen Kontinent eine Blütezeit erlebte. Das Mitte des 19. Jahrhunderts von dem großen Schriftsteller Heinrich Heine aufgewertete Feuilleton war ein beobachtender Essay oder ein Beitrag der Kultur- oder Literaturkritik, verfasst in einer anschaulichen, leicht zugänglichen Sprache und gewürzt mit einem Schuss mildem Humor. Nach und nach umfasste das Feuilleton so gut wie jedes Thema unter der Sonne, manchmal in Form einer Kurzgeschichte, manchmal als Essay, solange der Text eine gewisse Leichtigkeit des Seins aufwies und zugleich unterhaltsam und belehrend war. Im Wien des Fin de Siècle stürzte sich die Mittelschicht – die in der verknöcherten Struktur der Doppelmonarchie keine Gelegenheit hatte, sich ernsthaft politisch einzubringen – in die Kunst, Musik, Oper und Literatur. Die ästhetische Dimension des Feuilletons und dessen Fähigkeit zu innerer Reflexion wurden besonders geschätzt. Herzl war ein Meister geschliffener, eleganter Prosa, und sein Ton, der zugleich weltläufig und ein wenig der Welt überdrüssig war, traf genau die richtige Balance zwischen Ironie und Empfindsamkeit. Herzl schätzte seine Feuilletons nicht sonderlich. Im reifen Alter von neunzehn Jahren schrieb er, dass er am liebsten auf alle weiteren Versuche in diesem Genre verzichtete, das er für oberflächlich und minderwertig im Vergleich zu seiner großen Liebe, dem Theater, hielt. Sein Leben lang betrachtete Herzl das Schreiben von Feuilletons als eine Bürde, als etwas, das er tun musste, um die Familie zu ernähren. Herzl schrieb mehr als dreihundert Feuilletontexte, zwei Drittel davon erschienen zwischen 1895, als er Feuilleton-Redakteur der Neuen Freien Presse wurde, und seinem Tod im Jahr 1904. Als er bereits ein bekannter Zionist war, klagte Herzl gegenüber einem seiner Anhänger, seine Feuilletons hätten keinen literarischen Wert. 49

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Herzl war hier vielleicht ein wenig hart gegen sich selbst, doch es trifft zu, dass seine Texte häufig formelhaft und manieriert sind, eher dazu gedacht, seiner durchschnittlichen mitteleuropäischen Leserschaft zu gefallen, nicht sie herauszufordern. Bisweilen sind die Feuilletons jedoch auch überaus erhellend, weil sie sich wiederkehrender Motive und Figuren bedienen, die stark autobiographische Züge tragen. Die Tatsache, dass Herzl sie in einem hohen Tempo produzierte, bedeutete, dass er sich auf Material stützen musste, das schnell verfügbar war und das er einer Schilderung für würdig hielt – also er selbst. Mühelos wird man quer durch das filigrane Gerüst seiner prickelnden Prosa Einflüsse seiner eigenen Person entdecken. Im Jahr 1887 veröffentlichte Herzl seine erste Sammlung von Feuilletons unter dem Titel Neues von der Venus. In der prüden Epoche Herzls weckte das Wort »Venus« unter Umständen sofort Assoziationen mit fleischlicher Liebe, doch die Essays waren alles andere als eine Verherrlichung des Eros. Allgemeine Themen waren die Torheit der romantischen Liebe und die weit verbreitete Neigung der Menschen zur Heuchelei. In dem Titelaufsatz des Bändchens sprechen drei junge Männer, ungefähr in Herzls Alter, über die Liebe, und einer von ihnen gesteht, ein ganzes Jahrzehnt lang eine Frau angebetet zu haben. Erst vor kurzem hatte er sich endlich mit ihr zum ersten Mal getroffen, nur um herauszufinden, dass sie eine sehr tiefe, männliche Stimme hatte. Seine Leidenschaft war sofort verpufft. Einer seiner Freunde kommentiert: »Solche Leute, wie du, Heinrich, sollten eben niemals die genaue Beschaffenheit der Sterne zu ergründen suchen, sonst erfahren sie …« »Neues von der Venus!«, stimmt der zweite Freund ein. In einer anderen Geschichte gesteht ein junger Edelmann seine Liebe zu einer Frau. Er will sie überzeugen, dass seine Gefühle rein und nicht eine nur »weltmännische Liebe« (ein Euphemismus für sexuelle Anziehung) seien. Am Ende der Geschichte verwechselt der Edelmann den Namen der Frau und beweist damit, dass er die ganze Zeit unaufrichtig war. Eine geradezu siedende Menschenfeindlichkeit kommt in Herzls Geschichte »Der Gedankenleser« über einen Hellseher 50

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zutage, der um die hinterhältigen Gedanken weiß, die seinen Gesprächspartnern durch den Kopf gehen: Ich glaube, von Anfang ist jeder gut, oder wie ich das nenne: echt. … Dann tritt etwas ein, vielleicht nur der Verlauf der Zeit, und sie werden unecht. Von der Liebe bleibt nur der zärtliche Blick, von der Freundschaft nur der warme Händedruck. Ich aber finde es gleich heraus, und wenn es dem Vorherigen auch noch so täuschend ähnlich sieht  … Ich wittere das Unechtwerden … Versetzen Sie sich in die Lage eines Unglücklichen, der so fabelhaft scharf sehe, dass er die Infusorien im Trinkwasser mit bloßem Auge bemerkte. Zwischen Durst und Ekel würde er zugrundegehen. Das ist mein Fall…34 Eine Kritik der lähmenden gesellschaftlichen Normen und die Entlarvung von Heuchelei waren gängige Topoi in der Literatur des Fin de Siècle (siehe etwa die psychologisch aufgeladenen Stücke Henrik Ibsens oder die donnernde Polemik von Max Nordaus Bestseller Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit). Herzl empfand auch eine Seelenverwandtschaft mit einem anderen Kämpfer gegen Heuchelei: dem irischen Satiriker Jonathan Swift des 18. Jahrhunderts. Das Bild von den mikroskopisch kleinen Kreaturen im Trinkwasser ruft das zweite Kapitel von Swifts Gullivers Reisen auf, in dem Gulliver eine sehr enge Begegnung mit den Hautunreinheiten einer Riesenfrau erleidet. Herzls zweite Sammlung von Feuilletons, Buch der Narrheit (1888), enthält ein Epigramm, das einem anderen Buch Swifts, A Tale of a Tub (deutsch: Ein Märchen von einer Tonne), entnommen ist: »This is the sublime and refined point of felicity, called the possession of being well-deceived, the serene, peaceful state of being a fool among knaves.« Oder auf Deutsch: »Dies ist der erhabene und raffinierte Punkt der Seligkeit, der da heisst der Besitz des Gut-getäuscht-werdens; der heitere, friedvolle Zustand, in dem man unter Halunken ein Narr ist.«35 Das Wiener Feuilleton des Fin de Siècle war randvoll mit Melancholie und Ironie, und auch Herzl war wahrlich 51

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cholisch und ironisch. Beim Schreiben musste er eine bestimmte Haltung einnehmen, doch das war genau die Pose, die er in einem Großteil seines Lebens eingenommen hatte. Wie die meisten Zyniker hatte Herzl jedoch auch einen sentimentalen Zug, der gut zum Wiener Geschmack sowohl für Scharfes als auch für abscheulich Süßes passte. Anziehende Frauen waren Gegenstand der Begierde und des Misstrauens, aber Kinder waren der Inbegriff an Unschuld und Reinheit, und während eine Geschichte über die Jagd nach der Venus vermutlich ein schiefes Grinsen hervorrufen würde, dürfte die Geschichte eines Kindes ein freundliches Lächeln und die eine oder andere Träne hervorlocken. In seiner Geschichte »Familie Rizzolini« (1887) zieht Herzl sämtliche Register, beschreibt einen fünfjährigen Jungen aus einer Artistentruppe, der seine Liebste verliert, sich der Gewalt beugt und am Ende stirbt. In »Der Sohn« (1890), das geschrieben wurde, während Julie mit Hans schwanger war, erzählt Herzl die Geschichte eines Mannes, der wegen Veruntreuung und Betrugs vor Gericht steht, sich schuldig bekannt hat, aber das Gericht in seiner Fantasie um Mitleid anfleht, weil er diese Verbrechen aus Liebe zu seinem Sohn begangen habe. Das eingebildete Schlusswort des Angeklagten beginnt mit einer herzerwärmenden Bemerkung: »Kennen Sie meinen Sohn? Dort sitzt er … Obwohl er, nur er daran schuld ist, dass ich jetzt neben dem Herrn Justizsoldaten vor Ihnen sitze. … Als er mir geboren wurde, da war die Welt plötzlich so voll … Noch als er in der Wiege lag, heilte er mich von allerlei spöttischen und leichtfertigen Anschauungen, die ich vor ihm gehabt. Die Kinder sind unsere größten Lehrmeister. Er lehrte mich eine sinnvolle Liebe zum Leben.« Aber je länger der Angeklagte so vor sich hin grübelt, desto bizarrer und verstörender werden seine Gedanken: »Ich war vom ersten Tag an in ihn verliebt, leidenschaftlich, närrisch. Ich hatte sozusagen die Monomanie des Sohnes.« Indem er jeden wachen Moment und jeden Pfennig seinem Sohn opfert (und vermutlich seine Frau und Tochter vernachlässigt, die nur nebenbei erwähnt werden), verschuldet sich der Angeklagte, und zwar so hoch, dass er beschließt, sich umzubringen. Den Revolver auf 52

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dem Schreibtisch, macht der Mann sich bereit, als sein Sohn hereinstürzt, den Revolver schnappt und sich selber an die Schläfe hält. Er droht, sich zu erschießen, wenn sein Vater nicht schwöre, weiterzuleben. Der Mann willigt ein und steht nunmehr vor Gericht, in Erwartung einer schweren Haftstrafe. Die Erzählung bietet eine derbe Mischung aus krankhafter Liebe, Bedürftigkeit, Narzissmus und einer gehörigen Portion Verbitterung, denn ohne die große Geste des Sohns wäre dem Erzähler sein Elend erspart geblieben.36 Herzl schrieb »Der Sohn«, als er dreißig war. Er hatte es nicht geschafft, über Heirat, Familie oder Freundschaft menschliche Beziehungen zu knüpfen und ein Gefühl der Sinnhaftigkeit zu entwickeln. Für einen Mann wie ihn und zu seiner Zeit gab es eine andere mögliche Quelle des Engagements und der Erfüllung: die Religion. Doch Herzls existenzielle Ängste wurden nicht von seinem Glauben gelindert. Er glaubte weder an einen allwissenden und allmächtigen Gott noch an die Vorsehung, und obwohl er häufig über seine eigene Sterblichkeit sinnierte, schrieb er nie über ein Leben nach dem Tod, abgesehen von seinem politischen Vermächtnis. Im August 1895 umschrieb Herzl in seinen Tagebüchern eine vage Auffassung von Gott in Begrifflichkeiten, die den Pantheismus Spinozas, einen Hegelschen Glauben an den Fortschritt der Vernunft im Lauf der Geschichte und einen zeitgenössischen Monismus (eine Lehre, die predigt, dass allem, was existiert, eine Materialität zugrunde liegt) miteinander vermischten. Herzl ging davon aus, dass es einen elementaren Sinn des Lebens gebe, dass er ihn aber weder ergründen könne, noch es überhaupt wolle. Dennoch, auch wenn Herzl selbst keinen Glauben hatte, so gab es in seinem Herzen doch einen Platz für Gläubige. Nach einem Besuch in Lourdes im September 1891 schrieb er ein Feuilleton, das Bernadette Soubirous (später die Heilige Bernadette) – also jenem Bauernmädchen, das erzählte, mehrere Visionen der Jungfrau Maria gehabt zu haben – große Achtung entgegenbrachte. Herzl empfand ein ähnliches Mitgefühl für diejenigen, die auf der Suche nach Heilung von furchtbaren Krankheiten zu dem Wallfahrtsort pilgerten, obwohl er an den 53

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Heilkräften der heiligen Stätte zweifelte. Er erzählt von zwei Pilgerinnen, von denen eine augenscheinlich geheilt wurde und daraufhin in einen Zustand der Ekstase fiel, während die andere, die nicht weniger fromm oder tugendhaft war, ebenso niedergeschlagen wie zuvor aus der Grotte trat. Seine Ironie und seinen Spott hob sich Herzl für die Kirche auf, die sich, behauptete er, am Leid der Menschen bereicherte. Er konzentrierte sich auf den Bischof des Wallfahrtsorts. Wie es sich für einen Bühnenautor gehört, und als Mann mit theatralischem Charakter, war Herzl von der Größe der Person des Bischofs und von seinen eindringlichen Gesten, während er die Messe feierte, beeindruckt. Allerdings lehnte Herzl das eigentliche Wesen der heiligen Stätte ab, wenn er schrieb, dass es »in jedem finsteren Walde, in allen Verlassenheiten des Menschen eine Liebe Frau« gebe. »Überall, wo ein armes Herz nach Vorwänden sucht, weiter zu schlagen, erscheint sie – die eine oder die andere. Denn es gibt mehr als eine, Herr Bischof von Meaux. Poesie, Kunst, Philosophie (die wahre), Arbeit, Hoffnung sind lauter solche schmerzensreiche liebe Frauen.«37 Auf diesen Beitrag war Herzl stolz. Seinen Eltern schrieb er: »Wenn ich nicht irre, ist es das beste. Es ist ernst. Es ist mir dabei zum erstenmal passirt, dass etwas, was ich geschrieben habe, mich selber zu Thränen rührte.«38 Er war sich darüber im Klaren, aber auch trotzig stolz darauf, dass diese Kritik an der Kirche der Frankfurter Zeitung, die den Beitrag veröffentlichte, juristische Schwierigkeiten nach sich ziehen könnte. Während Herzl den frühherbstlichen Glanz von San Sebastián genoss, fühlte er sich bereit, die Trauer um Kana zu verdrängen und damit aufzuhören, unablässig seine Ehe zu beklagen. Er fing an, abends auszugehen. Seinen Eltern schrieb er: »Jetzt wird meine größere Zeit beginnen. Wie ich im Verkehr die weltmännische Ruhe zu erlangen glaube, so wird mein Werk auch anfangen, den Mann zu zeigen.«39 Herzl hatte seinen eigenen Rat aus dem Feuilleton zu Lourdes befolgt. Die Arbeit war seine »Liebe Frau«, und ihr Lohn war überaus großzügig. Kaum eine Woche nach diesen optimistischen Worten an seine Eltern boten die Herausgeber der Neuen Freien Presse, Eduard Bacher und 54

Theodor Herzls Weg

Moriz Benedikt, Herzl die Stelle als Pariser Korrespondent der Zeitung an. Herzl nahm die Stelle sofort probeweise für vier Monate an, mit einem sehr ordentlichen monatlichen Gehalt von 1000 Francs. Glücklich in verschiedenen Hotels untergebracht und weit weg von den familiären Ärgernissen, hatte Herzl das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Mit seinem makellosen Französisch fand er Zugang zur politischen und literarischen Elite des Landes, und Herzl hatte nun reichlich Gelegenheit, seinen ironischen Witz auf einer Bühne voller Korruption, Heuchelei und Habgier, die für tausend Gesellschaftskomödien ausreichten, einzusetzen. Herzl war der Bürde entbunden worden, dreidimensionale Figuren erschaffen zu wollen (in der Regel vergeblich). Die Menschheit lag in ihrer ganzen Vielschichtigkeit vor ihm, und er brauchte nur zu beobachten und zu dokumentieren. Es dauerte ein paar Monate, bis Herzl den Übergang vom edlen, feinsinnigen Feuilleton zur hartgesottenen politischen Reportage wagte, aber als er es tat, wurde er zu einem Meister des Genres. Herzl fing an, seine Kinder zu vermissen, die er seit der Abreise kurz nach Hans’ Geburt nicht mehr gesehen hatte. Seinen Eltern teilte er jedes noch so intime Detail mit und räumte ihnen gegenüber ein, dass er und Julie um der Kinder willen ihre Ehe fortführen sollten, wenn auch eine lieblose. (Er beschloss auch, dass sie getrennte Schlafzimmer haben sollten.) Im Februar 1892 besuchte Julie ihn mit Pauline und Hans in Paris. Das Paar verständigte sich darauf, sich zu versöhnen. Herzl und Familie kehrten nach Wien zurück, um den langfristigen Umzug nach Paris vorzubereiten, und Herzl mietete ein Apartment in der Rue de Monceau Nr.8, in einer der nobelsten Gegenden von Paris. Die Miete schluckte die Hälfte von Herzls Monatsgehalt, und Julie bestand zudem darauf, ein Gefolge an Bediensteten mitzubringen, doch ihre Mitgift deckte das Defizit zwischen dem Gehalt eines Journalisten und dem von Julie gewünschten Lebensstandard ab. Im April zog die ganze Familie Herzl ein. Zu Julies Leidwesen umfasste die »ganze« Familie auch Herzls Eltern, die, auf dessen beharrlicher Forderung hin, bei 55

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ihnen wohnten. Julies Anwesenheit im Haushalt sollte lediglich dazu dienen, dass die Kinder unter einem Dach und bei beiden Eltern bleiben durften. Herzl war den eigenen Eltern, insbesondere seiner Mutter, weit enger verbunden als seiner Ehefrau. Jetzt hatte er eine angesehene und wichtige Stelle, und Julie erwartete die angenehme Aussicht, faszinierende und berühmte Menschen zu unterhalten. Die fundamentale Unvereinbarkeit zwischen Ehemann und Frau, sowie die explosiv-giftige Dynamik zwischen Julie und ihrer Schwiegermutter Jeanette sorgten jedoch dafür, dass die Familie Herzl auch künftig eine unglückliche Familie bleiben würde. In Wien unglücklich zu sein, war eine Sache, aber es war etwas ganz Anderes, in Paris unglücklich zu sein. Paris war damals Europas pulsierendste und dynamischste Großstadt, »die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, wie der Literaturkritiker Walter Benjamin sie einmal nannte. In Paris machte Herzl seinen Leiden und Ängsten nicht länger in mehr oder weniger gelungenen Geschichten und Stücken Luft. Vielmehr tauchte er nun in die Politik, sozialen Probleme und am Ende in die Not der Juden ein.

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Theodor Herzl mit seinen Kindern Hans, Trude und Pauline in seinem Arbeitszimmer in Wien-Währing, Haizingergasse 29/Ecke Carl LudwigStraße (heute: Weimarerstraße) 50. Fotografie (1890).

Kapitel 3

Unser Mann in Paris

Im Jahr 1891 steckte Frankreich mitten in der belle époque, wie man sie im kalten Licht des 20. Jahrhunderts nennen würde – der Zeitspanne vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Heute assoziieren wir das Paris von damals weitgehend mit der Kunst, mit dem Zenit des Impressionismus und der Geburt der literarischen Moderne – oder mit technischen Wunderwerken wie dem Eiffelturm, der auf der Pariser Weltausstellung von 1889 präsentiert wurde. Doch es war auch eine Phase sozialer Unruhen. Wie im Rest der westlichen Welt brachte die Industrialisierung ein städtisches Proletariat und in vielen Betrieben entsetzliche Arbeitsbedingungen hervor, insbesondere im Kohlebergbau. Paris war nicht nur für Künstler der Bohème ein Magnet, sondern auch für eine wachsende Unterschicht. Nach dem verheerenden deutsch-französischen Krieg von 1870/71 hatte es ein Jahrzehnt gedauert, bis sich Frankreich politisch wieder stabilisierte. Die republikanische Regierung des Landes war zwischen Gemäßigten und Radikalen gespalten, und sie wurde zum einen von Konservativen attackiert, die die Monarchie wiederherstellen wollten, und zum anderen von Anarchisten, die die Regierung ganz abschaffen wollten. Das Land wurde von der Erinnerung an die Pariser Kommune von 1871 heimgesucht, dem Experiment eines revolutionären Sozialismus, das die Gründerväter der Republik blutig niedergeschlagen hatten, sowie von zwei bonapartistischen Diktatoren, deren letzter, Louis-Napoléon, im Jahr 1871 zusammen mit Frankreich gefallen war. In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre führte General Georges Ernest Boulanger eine populistische Bewegung an, die ihn um ein Haar als Diktator eingesetzt hätte, aber dank des unerbittlichen Widerstands der Regierung und seiner eigenen schlechten Führung fand der Boulangismus bei 59

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den Wahlen von 1889 ein jähes Ende. Das war das Paris, in das Herzl im Herbst 1891 kam. Vier Jahre lang sollte Herzl die parlamentarischen Debatten im prächtigen Palais Bourbon aus dem 18. Jahrhundert verfolgen, Opern im kürzlich vollendeten Palais Garnier besuchen und durch den Jardin des Tuileries schlendern. Er war mehr als nur ein weiterer aufstrebender Schriftsteller, er war ein Journalist, der bei der renommiertesten Tageszeitung ÖsterreichUngarns angestellt war. Die Neue Freie Presse wurde von der gebildeten Mittel- und Regierungsschicht im ganzen Reich gelesen, und der Einfluss ihrer kulturellen Berichterstattung machte sich im ganzen deutschsprachigen Europa bemerkbar. Sie hatte nur rund 35.000 Abonnenten, die Hälfte davon in Wien, ein Drittel anderswo in Österreich-Ungarn und der Rest im Ausland. Doch die Zeitung hatte großen Einfluss. In kleinen Gemeinden in der östlichen Provinz der österreichischen Reichshälfte schmückte sich das kleinstädtische Bürgertum auf der Visitenkarte gerne mit dem Etikett »Abonnent der Neuen Freien Presse«. Am anderen Ende der Machtleiter begaben sich frisch eingesetzte Ministerpräsidenten oder auch Intendanten des renommierten Burgtheaters schnurstracks zu den Herausgebern der Zeitung und baten sie um Unterstützung. Die Verleger, die so große Macht hatten, waren Eduard Bacher (1846–1908) und Moriz Benedikt (1849–1920). Die aus Böhmen beziehungsweise Mähren stammenden Partner waren, wie Herzl, assimilierte deutschsprachige Juden mit einer Neigung zum wirtschaftlichen und politischen Liberalismus. Allerdings waren beide, jeder auf seine Art, erfolgreicher und stabiler als Herzl. Bereits als junger Mann ließ Bacher ein Talent für politische Berichterstattung erkennen. Im Alter von dreiunddreißig Jahren wurde er Chefredakteur der Neuen Freien Presse und ein Jahr später Mitherausgeber. Der zurückhaltende, bescheidene und phlegmatische Bacher war geschickt darin, Freundschaften unter den »großen Tieren« zu knüpfen. Benedikt hingegen hatte ein lebhafteres Temperament und ein kreatives Talent. Seine literarischen Ambitionen zeigten sich wie bei Herzl schon früh: Als Gymnasiast hatte er ein Stück 60

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über den Tod des rebellischen römischen Sklaven Spartacus geschrieben. Doch im Gegensatz zu Herzl kombinierte Benedikt sein schriftstellerisches Talent mit einem Geschick in geschäftlichen und wirtschaftlichen Fragen. Nach dem Beginn bei der Zeitung mit dreiundzwanzig Jahren war er innerhalb von sieben Jahren zum Mitherausgeber aufgestiegen. Der für seine Fachkenntnis vom österreichischen Finanzministerium geschätzte Benedikt half im Jahr 1892 bei der Ausarbeitung der Währungsreform und Übernahme des Goldstandards, und die Revision des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 im Jahr 1907 enthielt eine »Benedikt-Klausel« zur Währungsunion.1 Bacher war nur drei Jahre älter als Benedikt, doch er hatte eine eher onkelhafte Art und ging sanfter mit Herzl um als Benedikt. (In späten Jahren sollte Herzl Benedikt den Spitznamen »Maledikt« geben.) Nach 1895 sollten Herzl und seine Herausgeber wegen Herzls zionistischer Aktivität mehrmals aneinandergeraten, bei der sowohl Bacher als auch Benedikt kein gutes Gefühl hatten. Sie lehnten diese Tätigkeit sogar so sehr ab, dass sie in ihrer Zeitung mit keinem Wort erwähnt wurde. Als Herzl die Stelle antrat, waren seine Herausgeber in erster Linie bestrebt, aus diesem Schreiber unbekümmerter Stücke und Feuilletons einen unerbittlichen und einflussreichen Reporter zu machen. Herzl war kaum in Paris angekommen, als ihn ein Brief von Bacher mit einer langen Liste von Anweisungen erreichte: Er sollte vormittags sämtliche Pariser Tageszeitungen lesen, um rechtzeitig für die Abendausgabe wichtige Informationen nach Wien zu telegrafieren. Seine Hauptaufgabe sei es, persönlich an den Parlamentssitzungen teilzunehmen, wo es bisweilen recht turbulent zuging. Er sollte telegrafisch über jede Sitzung mit Blick auf Innen- und Außenpolitik sowie auf die Zukunft der Regierungskoalition berichten. Zu guter Letzt sollte er die politische Orientierung der Zeitung im Blick behalten, die mit den zentristischen Republikanern Frankreichs sympathisierte. Bisweilen würde die Zeitung redaktionell eine kritische Haltung gegenüber dem einen oder anderen Aspekt der französischen Politik einnehmen, doch Herzl stehe es frei, sich freundlicher über Frankreich zu äußern.2 61

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Herzls Arbeit wies noch einige Kinderkrankheiten auf, allerdings nur geringfügige. Im Januar 1892 wurde er von Bacher sanft für seine flache, hölzerne Berichterstattung über einen spektakulären Vorfall in der Abgeordnetenkammer, der französischen Legislative, getadelt. Es war zu einem handfesten Streit im Saal zwischen Francis Laur, einem Abgeordneten der Boulangisten, und Ernest Constans, dem Innenminister und Mitglied des Senats, des Oberhauses des Parlaments, gekommen. Laur warf Constans verschiedene Vergehen vor und schleuderte ihm etliche Beleidigungen ins Gesicht. Constans antwortete, indem er quer durch den Saal zu Laur lief und ihn ins Gesicht schlug. Ein Tumult brach aus, vereinzelt kam es zu Kämpfen und Duellen in den Hallen und Fluren des Palastgebäudes. Erst nach mehreren Stunden wurde die Sitzung fortgesetzt, Constans entschuldigte sich und die Kammer machte sich wieder an ihre Arbeit, ignorierte allerdings die wütenden Forderungen Laurs nach Schadenersatz. »Solche Berichte«, schrieb Bacher an Herzl, »werden vom Publicum verschlungen und man kann den Lesern nicht genug davon bieten.« Deshalb drängte er Herzl, anschaulicher und ausführlicher zu schreiben, zumindest über Sitzungen, auf denen es hoch hergehe.3 Die Kritik war alles andere als streng, aber Herzl war dennoch besorgt, dass man ihn entlassen würde. Im Februar 1892, gegen Ende seiner Probezeit, schrieb ein verzagter Herzl an Bacher, dass er, da er von der Zeitung noch nichts gehört habe, annehme, er solle entlassen werden, weil er die Erwartungen nicht erfüllt habe. Herzl fing bereits an, Pläne für die Einstellung seines Nachfolgers und für seine Abreise zu machen. Bacher beruhigte Herzl, man sei außerordentlich zufrieden mit seiner Arbeit und wünschte sich, dass er bleibe. Tatsächlich erhielt Herzl von Bacher zwei Wochen später ein Angebot über eine unbefristete Stelle, plus einer Vereinbarung von zusätzlichen 100 Francs pro Feuilleton über sein Jahresgehalt von 12.000 Francs hinaus. Herzl verlangte mehr, doch Bacher blieb höflich, aber bestimmt bei seinem Angebot. Die Bedingungen waren bereits mit Herzls Vater Jakob vereinbart worden, der an den Verhandlungen von Anfang an beteiligt war.4 Bacher 62

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hatte Jakob auch wegen der Bedingungen für Herzls Probezeit kontaktiert, als Herzl im Herbst 1891 durch Spanien und Frankreich gereist war, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Herzl im März 1892 jederzeit für seine Herausgeber erreichbar war, fragt man sich, warum Herzl weiterhin seinem Vater die Regelung der eigenen finanziellen Angelegenheiten überließ. Herzl passte sich rasch an seinen neuen Zeitplan an, stand früh auf, sammelte und schrieb im Lauf des Tages Material und pendelte immer wieder zum Telegrafenamt, wenn nötig auch stündlich. Herzl arbeitete vierzehn bis sechzehn Stunden täglich, mit nur einem Sekretär, um der unablässigen Forderung Bachers nachzukommen: »Das erste ist: Futter für den weitgeöffneten Schlund der Begierde! Wenn keine Zeit zum Kochen ist, dann in Gottes Namen den Rohstoff, so roh er auch sein mag.«5 Diese aufreibenden Arbeitszeiten hielt er bis Oktober 1893 durch, als er auf einer geschäftlichen Reise in Südfrankreich schwer erkrankte und sieben Wochen lang das Bett hüten musste. Es war eine rätselhafte Erkrankung, vielleicht Malaria, allerdings gibt es auch Hinweise, dass es sich um eine allgemeine Autoimmunerkrankung gehandelt haben könnte. Auch wenn er sich erholte und später zu seinem halsbrecherischen Arbeitstempo zurückkehrte, ist nicht auszuschließen, dass diese Krankheit seinen Herzfehler verschlimmerte, mit langfristig tödlichen Konsequenzen. Aus gesellschaftlicher wie auch aus beruflicher Sicht waren die ersten Jahre in Paris für Herzl gute Jahre. Er sollte zwar niemals wieder einen Seelenverwandten wie Kana finden, doch im Jahr 1892 baute er allmählich eine enge Freundschaft zu dem Schriftsteller Max Nordau auf. Wie Benedikt und Bacher glich auch Nordau in vielerlei Hinsicht Herzl, war aber älter, selbstsicherer und prominenter. Wie Herzl war er in Budapest geboren und aufgewachsen und hatte die Stadt als Teenager verlassen. Ebenfalls genau wie Herzl fühlte er sich in der deutschen wie in der französischen Kultur zuhause. Orthodox erzogen, vernachlässigte er als Heranwachsender die religiösen Bräuche, wurde Arzt und entwickelte eine völlig materialistische, rationalistische Weltanschauung. Mit seiner breiten Brust 63

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und der späteren Angewohnheit, einen mächtigen, schneeweißen Bart zu tragen, war Nordau eine physisch ähnlich beeindruckende Figur wie Herzl, außerdem war er ein begnadeter Redner. Der äußerst produktive Journalist und Bühnenautor Nordau erlangte für seine kulturkritischen Schriften Berühmtheit, insbesondere für sein Werk Entartung (1892). Entartung war ein massiver Angriff auf die künstlerische Moderne in ihrer Gesamtheit, auf die ästhetisierte Mythologie Richard Wagners, die Dekadenz Charles Baudelaires, den draufgängerischen Naturalismus Émile Zolas oder die psychologische Innenschau Henrik Ibsens. Für Nordau waren sie allesamt »Ichsüchtige«, welche die Kardinaltugenden der Rationalität und der Selbstdisziplinierung aufgegeben hatten. Rückblickend ist es einfach, Nordau für sein mangelndes künstlerisches Urteilsvermögen abzukanzeln. Doch seine Gesellschaftskritik war, bisweilen, durchaus hellsichtig. In seinem früheren Buch Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (1883) hatte Nordau vor einer zukünftigen Gesellschaft gewarnt, die sich von rastloser Produktion und freudlosem Konsum versklaven lasse. Am Ende schwankt Entartung zwischen einer handwerklich glänzenden Utopie und einer finsteren Dystopie, inklusive vertrauter Bestandteile wie Drogenhandel, willkürliche Erschießungen, extrem gewalttätige Unterhaltung und eine massive Reduktion der menschlichen Aufmerksamkeitsspanne. Herzl hingegen war ein großer Bewunderer eines großen Teils der modernen Kunst, Literatur und Musik, doch sein schon in der Adoleszenz offenbartes Bestreben, eine vornehme, »eisige Ruhe« zu bewahren, hatte er mit Nordau gemeinsam; und der allgemeine Geist, der Nordaus Werk durchzog, sowie etliche Details gefielen Herzl. Nordau heiratete, im Gegensatz zu Herzl, erst spät (im Alter von neunundvierzig Jahren) und war in seiner Ehe sehr glücklich, auch wenn er, als er Herzl kennenlernte, in einer leidenschaftlichen, ein Jahrzehnt währenden Affäre mit einer antisemitischen russischen Adligen namens Olga Nowikowa steckte. (Die beiden trafen sich nur selten, schrieben sich aber sehr regelmäßig.) 64

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Anfangs diskutierten Herzl und Nordau gelegentlich die Stücke des jeweils anderen und genossen es, über Theaterkritiken herzuziehen. Aber Ende 1894 suchte Herzl häufig Nordaus Wohnung in Paris auf. (Eines Abends kam Herzl zu einem frühen Abendessen vorbei; anschließend las Nordau sein neuestes Stück komplett vor, ein Vergnügen, das weit über zwei Stunden dauerte.) Die Korrespondenz der beiden Männer enthielt zunehmend lange, ernste Reflexionen über Literatur und Philosophie. Die Briefe erwähnten mit keinem Wort familiäre Angelegenheiten oder persönliche Gefühle. Die Beziehung der beiden lässt sich am besten als literarische Freundschaft beschreiben, eine, die auf gegenseitigem Interesse und Wertschätzung basierte. Es ist sicher kein Zufall, dass Nordau im Jahr 1895, als Herzl sich dem Zionismus zuwandte, zu seinen frühen Unterstützern zählte und sein treuester Verbündeter blieb. Eine noch engere Freundschaft knüpfte Herzl zu dem berühmten Wiener Bühnenautor Arthur Schnitzler (1862–1931). Die beiden Männer kannten sich noch aus Wiener Zeiten, aber Herzl behauptete, er habe Schnitzler damals für »unsympathisch« und »dünkelhaft« gehalten. Tatsächlich war Herzl neidisch auf den aufstrebenden jungen Schriftsteller, und er war sich der Niederträchtigkeit seiner Gefühle durchaus bewusst: »Wenn ich aber so ein Talent wie Ihres aufblühen sehe, freue ich mich, wie wenn ich nie ein Literat, das heisst ein engherziger unduldsamer neidischer boshafter Tropf gewesen wäre, … Denn Ihre Art zu schreiben, muthet mich ganz verwandtschaftlich an. So ungefähr mein Lieber, hätte ich wol auch schreiben mögen.«6 Ein Jahr nach dem Antritt seiner Stelle in Paris schrieb Herzl, er sei in der Vergangenheit womöglich Schnitzler ein paar Schritte voraus gewesen, dass er inzwischen aber seine literarischen Ambitionen aufgegeben habe: »Heute wie gesagt sitze ich schon auf einem Stein der Landstrasse u. lasse die Anderen an mir vorüberkommen.«7 Herzl versicherte, keine Stücke mehr zu schreiben, und behauptete, er habe sich damit abgefunden, lediglich ein Journalist zu sein, und habe nicht länger das Bedürfnis, »dem Premierenpublikum von Wien oder Berlin oder irgend einer anderen Stadt sein 65

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klatschen hervorzulocken«.8 Die Beteuerung erschien eine Spur zu laut. Ungeachtet dieser Ausbrüche von Unsicherheit und Rivalitätsrangeleien freundete sich Herzl tatsächlich mit Schnitzler an, und im Sommer 1894 machten sie sogar gemeinsam im österreichischen Kurort Altaussee Urlaub, zusammen mit den Schriftstellern Hugo von Hofmannsthal und Richard Beer-Hofmann. Anfang 1895 schrieben die beiden Männer bereits ganz offen über die Freundschaft und Sympathie, die sie füreinander empfanden. »Ich habe ein großes Bedürfnis nach einer guten Freundschaft«, schrieb Herzl mutig und beklagte, dass er in Paris keine engen Freunde habe: »Ich weiss nicht, bin ich zu misstrauisch oder zu schüchtern oder hab ich zu gute Augen … Der Eine ist zu dumm, der Andere zu perfid, der Dritte verstimmt mich an der heikelsten Stelle, weil er Bekanntschaften zum Vorwärtskommen ausnützt«.9 Einige Jahre später jedoch bewirkte beider Empfindlichkeit, dass sich die Freundschaft wieder abkühlte, sodass Nordau Herzls engster Vertrauter blieb. Herzls Familienleben blieb turbulent. Die Geburt des dritten Kindes Trude im Jahr 1893 bewirkte nur eine zeitweilige Atempause in den unablässigen Auseinandersetzungen zwischen Julie und Jeanette auf der einen Seite und Herzl und Julie auf der anderen. Mit dem Tod des Schwiegervaters im Januar 1895 verschoben sich die familiären Machtverhältnisse zu Herzls Gunsten, da er die volle Kontrolle über Julies Mitgift und Erbschaft erhielt. In seiner schriftstellerischen Arbeit gab es zudem Anzeichen, dass Herzl eine etwas reifere Haltung gegenüber romantischen Beziehungen als in seinen frühen Stücken und Feuilletons entwickelte. Im Frühjahr 1894 schrieb er ein merkwürdiges kleines Stück namens Die Glosse. Darin gewinnt ein gewisser Philippus von Montaperto im Bologna des 13. Jahrhunderts seine untreue Frau zurück, indem er eine alte, römische Heiratsformel rezitiert. Das Stück war nicht frei von herkömmlichen Motiven des Lustspiels, wie dem Streben nach Liebe oder der Fähigkeit des Menschen zur Heuchelei und zum Selbstbetrug, aber es lotete auch die Kraft der Rede und die gesellschaftliche Notwendigkeit des Rechts aus. Das Burgtheater 66

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lehnte das Stück ab, und Herzl versuchte nicht, es an einem anderen Theater aufführen zu lassen. Es ist schwer zu sagen, ob er dies aus trotziger Frustration oder aus reifer Überlegung entschied, aber Herzl kam zu dem Schluss, das Stück werde als gedruckter Text für das Lesepublikum eine größere Wirkung haben. Mit Nordaus Unterstützung versuchte er, Bacher und Benedikt zu überreden, es in Fortsetzungen in der Neuen Freien Presse zu drucken. Als sie ablehnten, ließ er es auf eigene Kosten veröffentlichen. Trotz der vergleichsweise ernsthaften Thematik von Die Glosse bestand eine Kluft zwischen Herzls unbeschwerten Stücken und Feuilletons auf der einen Seite und dem düsteren Material seiner politischen Reportagen aus dem Palais Bourbon auf der anderen. Herzl genoss es, in der ersten Reihe zu sitzen, während Frankreichs Dritte Republik von einer Krise in die nächste stolperte. Er berichtete ausführlich über den Niedergang der Bewegung der Boulangisten und einen Skandal im Umfeld des Konkurses der »Panama Kanalgesellschaft« 1892. Später schrieb Herzl an Hugo Wittmann, seinen Kollegen bei der Neuen Freien Presse, dass die journalistische Tätigkeit ihn politisch geschult habe. Dieser Kommentar ist bezeichnend, hat sich Herzl doch zu dieser Zeit ernsthafte Gedanken über Antisemitismus und über seine eigene potenzielle Rolle als Führer in der Gegenkampagne gemacht. Es würde jedoch in die Irre führen, Herzls Zeit in Paris allein mit Blick auf seine Sorgen um die Juden und auf die Akzeptanz des Zionismus im Juni 1895 zu analysieren. Von rund dreihundert Artikeln und Feuilletons, die Herzl in den Jahren 1891 bis 1895 an seine Zeitung telegrafierte, befasste sich nur ein Dutzend unmittelbar mit dem Thema Antisemitismus. Während seiner Zeit in Paris erhielt Herzl eine Schulung in Massenpolitik, Demagogie, Hochfinanz und sozialem Radikalismus, die allesamt nicht nur seinen Zionismus, sondern auch seine allgemeine Weltanschauung und Ansichten zur Natur des Menschen beeinflussen sollten. Herzl berichtete ausführlich über den Panamaskandal und die Gerichtsverfahren und schrieb mehr als vierzig Artikel darüber. Die »Panama Kanalgesellschaft« war 1876 von dem 67

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gendären Diplomaten und Unternehmer Ferdinand de Lesseps gegründet worden. (Lesseps war der Spiritus Rector des Suezkanalprojekts, das im Jahr 1869 vollendet worden war.) Im Gegensatz zum Suezkanal geriet das Bauvorhaben in Panama jedoch in große Schwierigkeiten. Die technischen Herausforderungen eines Kanals auf Meeresspiegelhöhe waren enorm hoch, und tropische Krankheiten dezimierten die Bautrupps. Als das Budget immer weiter überschritten wurde und der Gesellschaft der Konkurs drohte, schmierten Lesseps und seine Komplizen Abgeordnete des französischen Parlaments, damit diese den Weiterbetrieb der Gesellschaft genehmigten. Als der Skandal an die Öffentlichkeit drang und die Gesellschaft bankrottging, verloren Hunderttausende französischer Bürger ihre Ersparnisse, weil die Aktien der Gesellschaft wertloses Papier geworden waren. Rund fünfhundert Parlamentarier wurden der Korruption angeklagt, und über hundert wurden verurteilt, darunter auch Lesseps und der hochdekorierte Ingenieur Gustave Eiffel. Der Skandal bekam eine stark antisemitische Tendenz, als sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die angebliche Rolle zweier Juden bei der Verteilung der Schmiergelder konzentrierte: des Bankiers Jacob Adolphe Reinach und Cornelius Herz’, eines Unternehmers, der mehrere Gesellschaften gegründet hatte, um Frankreich mit Strom zu versorgen. Der Panamaskandal hatte maßgeblich Anteil an der Verschärfung des französischen Antisemitismus. Unter anderem diente er als Sprungbrett für den Aufstieg Édouard Drumonts, dessen Buch von 1886, La France juive (deutsch: Das verjudete Frankreich), ein Bestseller wurde, und der 1892 die antisemitische Tageszeitung La libre parole gründete. Die Zeitung gewann an Zulauf, als sie die Namen der Parlamentarier veröffentlichte, die mit dem Panamaskandal in Verbindung standen, publizierte aber auch eine breite Palette an antisemitischen Verleumdungen – etwa die Behauptung, jüdische Offiziere der französischen Armee wären über Schmiergelder und Seilschaften befördert worden. Im Juni 1892 veranlassten diese Artikel einen eigensinnigen jüdischen Leutnant der Kavallerie namens André Cremieu-Foa, zuerst Drumont und dann dessen Kollegen Paul 68

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de Lamase herauszufordern. Es folgte ein Duell zwischen Lamases rechter Hand, dem Marquis de Morès, und einem jüdischen Artilleriehauptmann, Armand Mayer, dem Neffen eines prominenten französischen Rabbis. Mayer war ein Fechtmeister an der renommierten École Polytechnique, doch er war erst vor kurzem am rechten Arm verwundet worden. Nur wenige Sekunden nach Beginn des Duells durchbohrte Morès ihn. Herzl war bei all diesen Ereignissen nah am Geschehen. Er berichtete für seine Zeitung über Mayers Tod und seine Beisetzung. Herzl las Drumonts La France juive und war ihm einmal bei einer Gesellschaft im Haus des Autors Alphonse Daudet begegnet, seinerseits ein selbsterklärter Antisemit. Trotz der augenscheinlich vergifteten Atmosphäre für Juden bereitete der Antisemitismus in Frankreich Herzl zwar Sorge, beunruhigte ihn jedoch nicht allzu sehr. Während er in Deutschland oder Österreich stets befürchtet hatte, von der ganzen Wucht antisemitischer Gewalt getroffen zu werden, bewegte er sich in Frankreich »doch ›unerkannt‹ durch die Menge«.10 Ende August schrieb Herzl in der Neuen Freien Presse, dass der Antisemitismus in Frankreich relativ harmlos sei, sogar »gutartig«, weil er nicht mit einer pauschalen Verurteilung der Juden als verantwortlich für die Korruption und Grausamkeit der kapitalistischen Gesellschaft einhergehe. Vielmehr nehme der französische Antisemitismus eine Form der Fremdenfeindlichkeit an: »In Frankreich wurde den Juden hauptsächlich vorgeworfen, dass sie aus Frankfurt stammten.« Juden, die sich ehrenhaft benähmen und die wie der verstorbene Hauptmann Mayer einen edlen Charakter bewiesen, würden geliebt: Wie Herzl dokumentierte, kamen die Pariser in Scharen, um zuzusehen, wie der Sarg des Hauptmanns durch die Rue de Douai in Montmartre getragen wurde. Und sogar der Marquis de Morès, der Mayer getötet hatte, nannte sein Opfer einen »Ehrenmann«. »Ein Jude kann«, schrieb Herzl ohne einen Hauch von Ironie, »ohne unbescheiden zu sein, wahrhaftig nicht mehr verlangen.«11 Das Duell sei streng nach Ehrenkodex abgehalten worden, und es wäre die Pflicht des Hauptmanns gewesen, seinen Gegner über seine Verletzung in Kenntnis zu setzen, 69

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dere weil die Degen, die Morès wählte, in der Regel sehr schwer waren. Die Emanzipation der Juden, schrieb Herzl, habe sich in einer Epoche des wachsenden gesellschaftlichen Wohlstands zugetragen. Aus diesem Grund halte das gesamte französische Volk den Antisemitismus für fremdartig, sogar unbegreiflich. Herzl stellte eine Verbindung zwischen dem Antisemitismus und dem Boulangismus her, da beide Protestbewegungen seien, die unweigerlich abebben würden, weil »ein Kern von gesunder Vernunft und Gerechtigkeitsliebe im französischen Volke« stecke. Somit werde die Bewegung in Frankreich vorübergehen, »wenn auch wahrscheinlich nicht ohne Exzesse und einzelne Katastrophen«. In den Monaten nach Erscheinen dieses Artikels ließ Herzls Optimismus deutlich nach, als die antisemitischen Parolen in Frankreich immer präsenter und aufgeheizter wurden. Er konstatierte die Existenz von Antisemitismus unter der französischen Linken ebenso wie unter der Rechten, und er verurteilte die Demagogie des französischen Sozialistenführers Paul Lafargue, der Juden und Unternehmern vorwarf, ein Blutbad am französischen Volk zu verüben. Tatsächlich war Herzl sehr in Sorge um die französische Linke, allerdings aus Gründen, die über die Judenfeindlichkeit einiger Führer hinausgingen.12 Während Herzls Aufenthalt in Paris wurde Frankreich von anarchistischer Gewalt erschüttert. Im Jahr 1892 wurde François Koenigstein, der den Mädchennamen seiner Mutter Ravachol als Decknamen angenommen hatte, mehrerer extremistischer Morde angeklagt. 1893 warf Auguste Vaillant eine Bombe in die Abgeordnetenkammer, und ein Jahr später verletzte Sante Geronimo Caserio den französischen Staatspräsidenten Sadi Carnot tödlich mit einem Dolch. Herzl berichtete über alle diese Prozesse. Schon zuvor veröffentlichte Herzl eine pauschale Verurteilung des Anarchismus: »Wer Anarchisten mit Rührung betrachtet, der ist dem Staate untreu geworden; wer sie mitleidig berurtheilt, mag ein guter Mensch sein, ist aber ein schlechter Bürger.«13 In dem Artikel über Vaillant erklärte Herzl über dessen äußerliche Erscheinung: »Das Hässliche und Abschreckende in dem sonst nicht unangenehmen 70

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Gesicht sind unter den buschigen Brauen die tiefliegenden Augen, deren Blick stechend und hart ist.« Bei Ravachols Prozess wurde Herzl nicht müde, die Zielstrebigkeit, Courage, Aufrichtigkeit und das Selbstvertrauen des Terroristen zu bewundern. Herzl meinte sogar, Ravachol lege besessen von einer »Wollust« eine »große Idee« dar. Neben der Berichterstattung über diese Prozesse nahm Herzl an Versammlungen der Sozialisten teil, wobei er die Wirkung der Sprecher auf die Massen genau beobachtete, wenn die aufgeputschte Stimmung die Individualität der einzelnen Teilnehmer transzendierte. Er verglich den Vorgang mit einem großen Untier, das erst anfange, seine Gliedmaßen auszustrecken, und sich der eigenen Macht noch nicht voll bewusst sei.14 Herzl selbst war ein Mann mit makellos bürgerlichen Wertvorstellungen, hatte Angst vor sozialen Unruhen, und eben diese Angst ließ ihn nach Mitteln Ausschau halten, das Untier zu töten, ehe es ihn und seinesgleichen verschlang. Herzl las das Werk einflussreicher linker Theoretiker wie des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon und des Sozialisten Ferdinand Lassalle. Er berichtete über den Bergarbeiterstreik in Carmaux im Jahr 1892 und kannte die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Minen. Humanitäre Sorge wegen der Not der Arbeiterklasse, gepaart mit einer Befürchtung wegen ihres Gewaltpotenzials, veranlasste ihn, einen umfangreichen Plan für die Beschäftigung im öffentlichen Wohnungsbau auszuarbeiten, den er im Juli 1893 Baron Johann von Chlumecky mitteilte, einem österreichischen liberalen Politiker, der im Kabinett für die Ressorts Landwirtschaft und Handel zuständig war. Wie viele bürgerliche Sozialreformer jener Zeit hoffte Herzl, den Armen mehr als die »unzureichenden Almosen« zu geben, die ihnen die Kirche oder städtische Wohlfahrtsverbände zukommen ließen. Herzl teilte die verbreitete Stimmung jener Zeit, dass große Städte die Arbeiterklasse krank, ängstlich und wütend gemacht hätten und dass sie über Arbeit im Freien in der Landwirtschaft oder die Erschließung von Grundstücken geheilt würden. Das wäre eine Form des Staatssozialismus, der die Staatskasse für das Allgemeinwohl öffnen würde: 71

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»Wenn schon nichts Anderes als eine innere Colonisirung, eine Befruchtung des flachen Landes mit dem gefährlichen u. hilflosen Proletariat der großen Städte erreicht würde, wäre schon viel gethan.«15 Herzls Vorschlag an Chlumecky umfasste zwei lange Briefe und ging, auf eine Art, die an seine späteren Schriften zum Zionismus erinnert, erstaunlich detailliert darauf ein, wie das Projekt geplant und umgesetzt werden sollte. (Beispielsweise dachte er daran, die staatlichen Eisenbahnen dazu zu bewegen, kostenlose oder ermäßigte Fahrten für diejenigen anzubieten, die zu Bauprojekten unterwegs waren.) Der Vorschlag bildete die Grundlage für seinen Leitartikel in der Neuen Freien Presse im August, und zwei Jahre später schickte er eine Kopie des Artikels, samt einer Beschreibung seiner zionistischen Pläne, an den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck, um diesen zu überzeugen, dass er kein Sozialdemokrat sei. Herzls Einschätzung der Gefahr, die von der radikalen Linken ausging, wurde in Paris geprägt, aber seine Versuche, die »soziale Frage« zu lösen, bezogen sich auf die Situation in Österreich-Ungarn. Hier grassierte der Antisemitismus, und Juden wurden regelmäßig für die Übel der kapitalistischen Gesellschaft und für die Versäumnisse der Regierungen, sich um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu kümmern, verantwortlich gemacht. Im Jahr 1878 war die Christlichsoziale Partei, die Antisemitismus mit einer Kritik des Säkularismus und der freien Marktwirtschaft kombinierte, im deutschen Reich gegründet worden. In den 1880er Jahren breitete sich die Christlichsoziale Bewegung nach Österreich aus, und 1891 wurde die österreichische Christlichsoziale Partei gegründet. Die Katalysatoren der Wiener Christlichsozialen waren der Journalist Karl von Vogelsang und der charismatische Stadtrat Karl Lueger, der den Juden dreist und wiederkehrend vorwarf, das Bankwesen und die Presse zu dominieren, und der nichts als Verachtung für den selbstgefälligen Liberalismus der Neuen Freien Presse übrig hatte. Luegers Wiener Partei, die seit 1888 unter dem Namen Vereinigte Christen firmierte, bot ein besonderen Anlass zur Sorge für Herzl. 72

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Als Herzl diese Entwicklungen beobachtete, schrieb er 1890: »Die Judenfrage ist weder eine nationale noch eine konfessionelle, sie ist eine soziale. Sie ist ein früher schiffbar gemachter Arm des großen Stroms, welcher die soziale Frage heißt. Aber die großen Ströme lassen sich nicht künstlich ablenken, und wenn an Frühlingstagen der Schnee schmilzt, graben, wühlen, reißen sich die Fluten ihren eigenen Weg.«16 Ende 1892, während er von Paris aus beklommen die Debatten im österreichischen Parlament über die angebliche jüdische Dominanz des Bankwesens und der Wirtschaft verfolgte, bekräftigte Herzl seine Aussage von 1890, dieses Mal allerdings noch kühner: »Denn es handelt sich da [bei der jüdischen Frage] längst nicht mehr um theologische Geschichten oder um Religion und Gewissen, und das ist auch allen bekannt. … Die Zeiten sind vorüber, wo man sich wegen der Form des Abendmahls die Köpfe blutig schlug. Heute handelt es sich nicht mehr um das Abendmahl, sondern um das Mittagsbrot.«17 Antisemitismus hatte, davon war Herzl überzeugt, nichts mehr mit dem Hass auf die Juden zu tun, weil sie Jesus Christus ermordet und zurückgewiesen hatten. Er sei mit der historischen Konzentration der Juden im Handel und Geldwechsel und mit ihrem aktuelleren Eintritt in das Justizwesen und den Journalismus verknüpft, wo sie mit zunehmend frustrierten und wütenden Christen wetteiferten. Von Ende 1892 bis 1894 führte Herzl ein Doppelleben. Er produzierte einen Strom politischer und kultureller Reportagen über Frankreich für die Neue Freie Presse, aber er widmete immer mehr Zeit und Energie der »Judensache«, für die er zahlreiche und widersprüchliche Lösungen formulierte. Manche konzentrierten sich auf Veränderungen innerhalb Deutschlands und Österreich-Ungarns. So sehr Herzl auch die Massen fürchtete, regte er doch an, dass seine Zeitung das allgemeine Wahlrecht in Österreich-Ungarn befürworten solle, denn dadurch »könnten die Liberalen den verlorenen festen Boden im Volk, in der intelligenten Arbeiterschaft wiedergewinnen«.18 In Deutschland gab es bereits ein allgemeines Männerwahlrecht bei den Wahlen zum Reichstag, sodass diese Taktik hier nicht 73

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funktionieren würde. Womöglich war das der Grund dafür, dass Herzl im April 1893, unmittelbar vor den Parlamentswahlen, die Juden in Deutschland aufrief, die Sozialdemokratie rundum zu begrüßen. (Bei den vorigen Reichstagswahlen von 1890 hatten die Sozialdemokraten zwanzig Prozent der Stimmen bekommen, mehr als jede andere Partei, die Grenzen der Wahlbezirke waren jedoch so gezogen, dass sie anschließend weniger als zehn Prozent der Sitze im Reichstag besetzten.) Herzl war bereit, die deutschen Juden der Sozialdemokratie in die Arme zu treiben, aber was sein Vaterland ÖsterreichUngarn anging, da warnte er lediglich vor der Gefahr eines politischen Radikalismus und mahnte, dass die Juden der Doppelmonarchie, wenn es hart auf hart käme, womöglich keine andere Wahl hätten, als Sozialdemokraten zu werden. Allerdings zog er eine ganz andere Lösung für das Problem des Antisemitismus in Österreich-Ungarn vor, die weniger die Umgestaltung der Gesellschaft umfasste, sondern die Transformation der Juden selbst. Österreichs Juden, schrieb er im Januar 1893, müssten sich vollständig assimilieren, bis hin zu Mischehen und Taufen. Gleichzeitig müssten sie den Respekt der Nichtjuden erwerben, indem sie um ihre Ehre kämpften: »Ein halbes Dutzend Duelle würde die gesellschaftliche Position der Juden sehr heben.«19 Die Tapferkeit und Selbstlosigkeit, die Herzl mit dem Duellieren assoziierte, würden das wettmachen, was Herzl als Ghetto-Vermächtnis betrachtete, das einerseits Juden schüchtern und unterwürfig machte, andererseits aber auch peinlich erpicht auf Erfolg und Anerkennung. Die Folge davon sei, so Herzl, eine Neigung unter Juden zur Banalität, zum Materialismus, zur Seichtheit und zu zwielichtigen Machenschaften. Herzl plädierte für die Gründung einer Zeitung, die den Kreuzzug gegen den Antisemitismus aufnähme, aber kein jüdisches Personal beschäftigte und unermüdlich die von Juden begangenen Missetaten detailliert schilderte. Herzl wollte, dass die Juden ihre kollektive Identität ablegten, wie immer man sie auch definieren mochte. Aber er glaubte auch, wie er in einem ausführlichen Brief an Baron Friedrich Leitenberger, den Präsidenten des Vereins zur Abwehr des 74

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Antisemitismus in Wien, erläuterte, dass Juden »sich unaufhörlich in Feindesland aufhalten«.20 Wie konnten sie sich an eine durchweg und immer schon feindlich gesinnte Umgebung assimilieren? Diese paradoxe Situation verlangte eine paradoxe Lösung, die Herzl in einem inszenierten Massenübertritt der österreichischen Juden zum Katholizismus sah. Er brachte diese Idee Ende 1892 vor seinem Herausgeber Benedikt zur Sprache und im Januar 1893 erneut vor Baron Leitenberger. Nüchtern erläuterte Herzl, der Übertritt müsse unter der Bedingung erfolgen, dass der Papst eine Kampagne gegen Antisemitismus ausrufe. Die christliche Welt würde so zwar ein Ende der Juden erleben, aber im Gegenzug müsste sie aufhören, diese zu hassen. Herzl fantasierte davon, dass die Zeremonie des Übertritts im Stefansdom, mitten in Wien, vollzogen werden solle, unter dem Vorsitz des Papstes persönlich. Was auf den ersten Blick wie eine assimilationistische Fantasie erscheint, entpuppt sich als ein mehrdeutigeres Projekt. Herzl erklärte, dass er selbst nicht konvertieren werde, sein Sohn Hans hingegen schon. (Seine Töchter erwähnte Herzl mit keinem Wort.) Der Respekt gegenüber den Eltern und ein persönliches Ehrgefühl würden Herzl davon abhalten, das jüdische Volk im Stich zu lassen, solange es noch verfolgt würde. Er sei ein bereitwilliger Märtyrer für sein Volk, ein Paria, dessen Taten die Sünden der vulgären Emporkömmlinge büßen würden, die Herzl so sehr verabscheute. Benedikt und Leitenberger waren über Herzls Plan entsetzt und lehnten ihn rundweg ab. Herzl kehrte jedoch zum erklärten Ziel der Assimilierung zurück, das er im Sommer 1894 mit Ludwig Speidel, einem Kollegen von der Neuen Freien Presse in Speidels Sommerhaus im Kurort Baden in der Nähe von Wien diskutierte. Herzl sinnierte, dass Antisemitismus eine natürliche Konsequenz der Emanzipation sei, und behauptete, die Juden hätten sich bestimmte Charaktereigenschaften bewahrt, die Nichtjuden als bedrohlich empfänden. Er äußerte jedoch die Hoffnung, dass der Antisemitismus dem jüdischen Charakter Stärke verleihen werde, und war überzeugt, dass die Juden aufgrund dessen eine »Darwinsche mimicry« durchliefen, die 75

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letztlich zu ihrer erfolgreichen Assimilierung führen werde. Indem er an der Verknüpfung von moralischer Tugend, Tapferkeit und Männlichkeit festhielt, die er in den Beiträgen über Hauptmann Mayer postuliert hatte, äußerte sich Herzl begeistert über die Fähigkeit der Juden, für ihr Land zu kämpfen: »Wir waren ja Männer, die den Staat auf der Kriegsseite zu verteidigen wussten, und müssen ein hochbegabtes Volk gewesen sein, wenn wir zweitausend Jahre hindurch erschlagen wurden und nicht umgebracht werden konnten.«21 Trotz dieses Lobs für die Kampfkunst des alten Israel hatte Herzl zu dieser Zeit noch kein Interesse daran, das Problem der Juden durch die Wiederherstellung der alten jüdischen Heimat zu lösen. Im Herbst 1893 hatte er in Betracht gezogen, »die neuen Zionscolonien« neben jüdischen Gemeinden in ganz Osteuropa und im Nahen Osten zu besuchen, aber lediglich um »das unverschuldete Unglück der Juden [zu dokumentieren]. Zeigen, dass es Menschen sind, die man beschimpft, ohne sie zu kennen«.22 Ein Jahr später schrieb er: »Und wenn die Juden wirklich ›heimkehrten‹, so würden sie am andern Tag entdecken, dass sie längst nicht mehr zusammengehören. Sie wurzeln seit Jahrhunderten in neuen Heimaten, nationalisirt, von einander verschieden, in einer Charakter-Ähnlichkeit nur durch den sie überall umgebenden Druck erhalten.«23 Herzl gingen zunehmend die möglichen Lösungen für ein Problem aus, das nicht nur die Juden als Kollektiv, sondern auch ihn persönlich betraf. Auf der Rückfahrt von Speidels Haus im Fiaker, schrieb Herzl später, erblickten zwei junge Männer, die am Wegrand standen – einer von ihnen in Kadettenuniform –, Herzls »Judennase und Judenbart« und riefen ihm »Saujud!« nach. Kurz danach kehrte Herzl nach Paris zurück, aber sein Aufenthalt dort näherte sich dem Ende, er plante bereits den Umzug zurück nach Wien im kommenden Jahr, um bei der Neuen Freien Presse den Posten des Feuilleton-Redakteurs anzutreten. (Herzls Familie kehrte schon früher zurück, angeblich, damit Julie bei ihrem sterbenden Vater sein konnte. Herzl zog daraufhin in ein Hotel.) Dieser Hintergrund bildete Mitte Oktober die Kulisse, als Herzl eine Inspiration überkam 76

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und er binnen weniger als drei Wochen sein ernsthaftestes Stück Das neue Ghetto [ursprünglich: Das Ghetto] schrieb. Es war das Gegenteil einer Gesellschaftskomödie, vielmehr ein tragisches Melodram, und es war noch stärker autobiographisch geprägt als seine bisherigen Stücke und Feuilletons. Die Hauptperson, Jacob Samuel, ist ein ernster junger Anwalt, der zwar stramm bürgerlich ist, jedoch mit der Arbeiterklasse sympathisiert. Jacob hat ein schlechtes Gewissen, nachdem er sich aus einem Duell mit einem niederträchtigen Kavallerieoffizier, dem Grafen von Schramm, zurückgezogen hat, um sich um seinen schwerkranken Vater zu kümmern. (Wie oben dargelegt, sagte Herzl in seiner Jugend ein Duell ab, um für seinen Vater zu sorgen.) Jacob ist mit einer leichtsinnigen Frau verheiratet, die, wie Julie, aus einer wohlhabenden Familie stammt. An diesem Punkt wird die Handlung fiktiver, auch wenn sie Elemente aus Herzls lange gehegten Fantastereien übernimmt. Jacobs Schwager Fritz Rheinberg ist ein schmieriger Börsenspekulant, und Jacob verliert wegen dieser unseligen familiären Verbindung die Freundschaft eines rechtschaffenen Nichtjuden. Von Schramm wiederum ist ein ehrloser Adliger, Miteigentümer einer vernachlässigten Kohlemine, deren Arbeiter schlecht behandelt werden. Von Schramm tritt erneut in Jacobs Leben, allerdings nicht um gegen ihn zu kämpfen, sondern um sich gemeinsam mit ihm und Rheinberg die Mine einzuverleiben und deren Wertpapiere mit einem ordentlichen Profit zu verkaufen. Die Bergarbeiter treten in Streik, bei einem furchtbaren Unfall kommen viele von ihnen ums Leben, und der Wert der Aktien bricht ein, sodass von Schramm ruiniert ist. Jacobs Rolle bei den schäbigen Machenschaften hatte sich zwar auf das Verfassen von Dokumenten beschränkt, aber von Schramm beleidigt und schlägt ihn dennoch. Dieses Mal lässt Jacob seine Ehre nicht ungesühnt; er fordert den Grafen zum Duell, in dem von Schramm ihn erschießt. Im letzten Entwurf des Stücks lässt Herzl seinen Protagonisten Jacob im Todeskampf verkünden: »Juden, meine Brüder, man wird euch erst wieder leben lassen, bis ihr zu sterben gelernt habt. … Warum haltet ihr mich – so fest? … Ich will hinaus! Hinaus – aus 77

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– dem – Ghetto!« Auf Schnitzlers Empfehlung strich Herzl die Worte »bis ihr zu sterben gelernt habt« aus dem Text, doch gerade diese Passage vermittelt eindrucksvoll die Essenz der Botschaft Herzls.24 Herzls Alter Ego Jacob zufolge sind die Juden emanzipiert worden, aber in einem unsichtbaren Ghetto geblieben, das ihnen nicht nur der Antisemitismus, sondern auch die eigenen moralischen Beschränkungen errichtet hat. Genau wie Herzl in seiner Jugend fühlt Jacob eine Scham über das, was er als Schwäche und Feigheit wahrnimmt, und strebt danach, männlich, altruistisch und selbstbeherrscht zu sein. Die missliebigsten Eigenschaften der Juden werden mit den Börsenspekulanten verkörpert, denen es an Ehre und moralischem Kompass mangele. Die jüdischen Frauen in dem Stück sind töricht und prätentiös, dabei behangen mit Juwelen. Eine weitere unsympathische Figur in dem Stück ist ein Rabbi, der soziale Ungerechtigkeit nicht verurteilt und sogar selbst an der Börse spekuliert. In den stereotypen jüdischen Figuren und der hölzernen Handlung des Stücks lässt sich eine unausgewogene, fast schon neurotische jüdische Selbstkritik erkennen, die im Mitteleuropa des Fin de Siècle bisweilen das Ausmaß eines Selbsthasses annahm. Schnitzler sah in dem Stück viel Positives, kritisierte es aber dafür, dass die Juden in einem zu negativen Licht dargestellt würden. Interessanterweise gibt es jedoch auch eine sympathische Figur in dem Stück: einen jüdischen Börsenmakler namens Wasserstein, der zwar einerseits vulgär und schäbig wirkt, aber auch wahrhaftig, gutmütig und großzügig. Er ist nicht männlich, aber authentisch. Und eben darin liegt die Krux des Stücks: Juden müssen hier nach Ehre streben, selbst wenn das bedeutet, in einem Duell zu sterben, und Authentizität demonstrieren, auch wenn sie in ihrem Innersten schlichte Händler sind. Wie Jacobs Frau sagt: »Wenn Du Dir selbst untreu wurdest, mein Kind, so darfst Du Dich nicht beklagen, wenn auch andere Dir untreu werden.« Nur wenige Wochen vor dem Schreiben des Stücks hatte Herzl die Assimilation noch für wünschenswert und durchführbar angesehen. Im Stück aber 78

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lässt Herzl Jacob erkennen, dass es ebenso unmöglich wie unehrenhaft ist, sich in der christlichen Gesellschaft zu assimilieren. Die Juden müssten lernen, mit Jacobs Worten, »wie man sich ohne Kriecherei verbeugt und wie man sich ohne Trotz aufrichtet«.25 Herzl nahm die deutlich später von den Philosophen Hannah Arendt und Jean-Paul Sartre entwickelten Konzepte vorweg, und er war überzeugt davon, dass Juden nur Authentizität erreichen könnten, wenn sie ihren Pariastatus akzeptierten. Kurz nach Vollendung des Stücks schloss sich Herzl für kurze Zeit wieder seinem ausgestoßenen Volk an, als er zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben in die Synagoge ging. In der großen Pariser Synagoge an der Rue de la Victoire fand Herzl »den Gottesdienst wieder feierlich und rührend« und dachte liebevoll an die Synagoge seiner Jugend in der Dohanystraße. Dabei fällt auf, dass Herzl die Juden nun als eine Unglücksgemeinschaft identifizierte. Während er unter den Glaubensgenossen saß, bemerkte er deren »Familienähnlichkeit«: »Kühne, verdrückte Nasen, scheue und listige Augen.«26 Letztlich wurde Herzl der edlen Botschaft seines Stücks von Offenheit und Authentizität nicht ganz gerecht. Er drängte Schnitzler, das Stück unter einem Pseudonym verschiedenen Theatern vorzulegen, damit es nicht gleich aufgrund der jüdischen Herkunft des Autors abgelehnt würde. Herzl schrieb, trotz der Leidenschaft, die ihn getrieben habe, das Stück zu schreiben, und die ihn nunmehr antrieb, es auf der Bühne zu sehen, sehne er sich doch danach, »mich zu verbergen u. zu vergraben. Es ist Hochmuth, Feigheit oder Scham … Im besonderen Fall dieses Stückes will ich meine Geschlechtstheile noch mehr verbergen, als irgendwann.«27 Hinter der Anspielung auf seine Beschneidung, seine »jüdische Nase« und seinen »jüdischen Bart« verbarg sich eine tiefe Angst davor, sein innerstes Ego könne entblößt werden und die seit seiner Jugendzeit bewahrte Patina der eisigen Ruhe Risse bekommen. Das Schauspiel wurde zu diesem Zeitpunkt nicht angenommen; erst im Dezember 1897 wurde es aufgeführt, als Herzl bereits als zionistischer Führer einen gewissen Ruhm erlangt hatte und das 79

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Stück als ein Bekenntnis des jüdischen Nationalismus gedeutet wurde. Allerdings hatte das Stück noch eine andere Qualität, die nicht ignoriert werden sollte. Es ist kein Zufall, dass das erste Stück, in dem sich Herzl explizit mit der jüdischen Frage befasst, auch das erste war, in dem er sich unmittelbar für die soziale Frage engagierte. Die tragischen Schicksale der Juden und die der Bergarbeiter sind miteinander verknüpft. Beide werden durch äußere Faktoren ruiniert, nicht durch ihr inneres Wesen. Jacob sagt zu seinem christlichen Freund: »Mit Gewalt habt ihr uns auf das Geld geworfen – und jetzt sollen wir auf einmal nicht am Geld kleben? Zuerst habt ihr uns tausend Jahre in der Sclaverei gehalten – dann sollen wir von einem Tag auf den anderen auch innerlich frei werden?« Die Kinder seien bereits tief ins Innere der Erde eingedrungen und zerrten für einen Hungerlohn Kohlekarren. Und wenn sie groß seien, würden sie in der Dunkelheit Kohle hauen, in ständiger Gefahr, aber: »Sie müssen! Sonst verhungern sie draussen im Freien.« Sowohl die soziale als auch die jüdische Frage schrien nach Antworten, doch Herzl hatte noch keine. Herzl vollendete Das neue Ghetto am 8. November. Zehn Tage zuvor hatte die Zeitschrift La libre parole die Nachricht von der Verhaftung Alfred Dreyfus’ gebracht, eines jüdischen Artillerieoffiziers im französischen Generalstab, der der Spionage für das deutsche Kaiserreich angeklagt wurde. Andere Zeitungen sprangen auf die Story auf, und Herzl schrieb unmittelbar danach seine ersten Berichte über Dreyfus: »Die hässliche Geschichte des Hauptmannes Dreyfus bildet das Tagesgespräch. Noch ist nicht ganz genau bekannt, ob Dreyfus wirklich schuldig ist, aber der Umstand, dass officiell die Verhaftung dieses Generalstabs-Hauptmannes zugegeben wird und der Kriegsminister dem heutigen Ministerrathe die Sache vorlegte, lässt annehmen, dass Dreyfus wirklich die schmähliche Handlung begangen habe.«28 Herzl berichtete ausführlich über den Prozess gegen Dreyfus vom 19. bis 22. Dezember, aber erst am 27. Dezember erwähnte er explizit, dass Dreyfus Jude war, und auch da nur beiläufig, in einem Verweis auf eine Bemerkung, die Dreyfus angeblich gegenüber seinen Wachen fallen ließ, 80

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dass er nämlich nur wegen seines Glaubens strafrechtlich verfolgt werde. Als Dreyfus schuldig gesprochen und zu lebenslanger Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt wurde, protestierte Herzl in seinen Beiträgen nicht gegen das Urteil. Sogar Herzls Bericht über die öffentliche Degradierung Dreyfus’ am 5. Januar 1899 war knapp und sachlich. Herzl mag gewisse Zweifel an Dreyfus’ Schuld gehegt haben, doch gibt es keine öffentlichen Anhaltspunkte, dass die Verhaftung, der Prozess und die Verurteilung des Hauptmanns ihn erschüttert hätten. Wie kommt es also, dass Herzl in einem Aufsatz von 1899 behaupten sollte: »Zum Zionisten hat mich der Prozess Dreyfus gemacht«?29 Warum schrieb er im selben Aufsatz, der Prozess habe ihn dazu inspiriert, das Stück Das neue Ghetto zu schreiben? Tatsächlich hatte Herzl das Stück über einen Monat vor dem Prozess bereits abgeschlossen. Um Herzls Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, könnte die öffentliche Stimmung im Vorfeld des Prozesses, die weitgehend hasserfüllt war, durchaus Einfluss auf den Text genommen haben. Aber Herzl behauptet selbst, dass ihm die Idee zu dem Stück plötzlich gekommen sei und dass er das gesamte Stück gedanklich bereits fertig gehabt habe, noch ehe er den Stift zur Hand genommen habe. Was den Dreyfus-Prozess angeht, wäre denkbar, dass Herzls Artikel für die Neue Freie Presse von seinen Herausgebern zensiert wurden oder dass er Selbstzensur praktizierte und seine wahre Haltung verbarg. Aber auch in Herzls Briefen aus jener Zeit fällt der Name Dreyfus nicht, taucht auch in Herzls Tagebuch erstmals am 17. November 1895 auf, ein halbes Jahr nachdem Herzl Zionist geworden war. Und auch dort verweist Herzl lediglich auf die Beklemmung, welche die Anklage, Dreyfus habe Hochverrat begangen, bei ihm ausgelöst hatte. Es finden sich keinerlei Hinweise auf dessen vermutete Unschuld oder auf antisemitische Reaktionen im Zusammenhang mit der Verhaftung und dem Prozess. Und im März 1896 brachte die hebräische Zeitung aus Odessa, HaMelitz, Herzls Wende zum Zionismus mit dem in Wien grassierenden Antisemitismus in Verbindung. Auch hier: Dreyfus wurde mit keinem Wort erwähnt. 81

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Herzls Version war ein Akt der Selbsterfindung, der, so scheint es, nicht bewusst erfolgte. Er trat exakt zu dem Zeitpunkt ein, als sich der Dreyfus-Prozess zu einem internationalen Skandal auswuchs, der unter dem Namen Dreyfus-Affäre bekannt werden sollte. Im November 1897 schrieb Herzl in sein Tagebuch: »Nachher sprach ich mit dem Statthalter über die Affaire Dreyfus, die merkwürdigerweise gerade jetzt wieder im Rollen ist – wie vor drei Jahren, als ich das Ghetto schrieb.«30 In Herzls Erinnerung waren der Dreyfus-Prozess und die Arbeit an dem Stück miteinander amalgamiert. Zwei Monate nach diesem Tagebucheintrag verfasste der gefeierte Schriftsteller Émile Zola den polemischen Artikel »J’accuse …!«, der die These aufstellte, dass Dreyfus das unschuldige Opfer einer französischen Militärverschwörung sei. Frankreich war fortan gespalten in Unterstützer und Gegner von Dreyfus, und im Jahr darauf kam Dreyfus vor ein Militärgericht und wurde erneut verurteilt (»mit mildernden Umständen«, schrieb das Gericht) und anschließend vom Präsidenten der Republik begnadigt. Die Legitimität des Zionismus bekäme einen Schub, wenn der Führer der Bewegung behaupten könnte, er habe die tragischen Folgen der Verhaftung, des Schauprozesses und der brutalen Strafe eines Offiziers, aus keinem anderen Grund als seinem jüdischen Glauben, vorausgesehen. Herzl erinnerte im Jahr 1899, der Mob habe bei der Degradierung von Dreyfus »Tod den Juden« gerufen, während die Menge laut seinem Bericht aus dem Jahr 1895 »Tod dem Verräter« skandiert hatte, eine Gruppe Reserveoffiziere hingegen erinnerte sich an: »Nieder mit dem Judas!« (Die zeitgenössischen französischen Zeitungen sowie die New York Times bestätigen Herzls ursprünglichen Wortlaut.)31 Die Verurteilung von Dreyfus, oder wohl eher das Anschwellen der antisemitischen Parolen und Demonstrationen, die sie auslöste, mag durchaus zu den Kräften gezählt haben, die Herzl zu etwas drängten, das er weder begreifen noch in Worte fassen konnte. Wichtiger als die Personalie Dreyfus waren jedoch die Kommunalwahlen in Wien im April und Mai 1895. Keine Partei errang damals die Mehrheit, aber der 82

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semit Karl Lueger wurde zum Bürgermeister gewählt. Herzl war entsetzt, auch wenn Lueger nicht unmittelbar das Amt antrat, sondern es vorzog, die nächsten Wahlen abzuwarten, in der Hoffnung, bis dahin seine Autorität zu festigen. (Bei den Wahlen später im Jahr 1895 und erneut im Jahr 1896 gewannen Lueger und seine Partei der Vereinigten Christen eine eindeutige Mehrheit, doch der Kaiser von Österreich-Ungarn weigerte sich bis April 1897, Luegers Ernennung zu bestätigen.) Die Doppelmonarchie hatte neben dem Antisemitismus noch viele andere ungelöste Probleme. Herzl machte sich, wie gezeigt, wegen der sozialen Probleme ernste Sorgen, und er war sich auch der Nationalitätenkonflikte bewusst, die das Reich zu zerreißen drohten. Aber letztlich war es der Antisemitismus, der wiederum den separatistischen Nationalismus noch schürte, der Herzl den Verstand raubte. Er fantasierte davon, sich mit Lueger oder dem gehässig-antisemitischen und chauvinistischen österreichisch-deutschen Politiker Georg von Schonerer zu duellieren. Würde er getötet werden, so sinnierte er, wäre er als Märtyrer des Kampfes gegen Antisemitismus gestorben. Wenn er hingegen seinen Gegner tötete, würde man ihn vor Gericht stellen. Und das Gericht würde er dann mit einer so packenden Rede zur Judenfrage in den Bann ziehen, dass man ihn freispräche – und dem Antisemitismus hätte er einen tödlichen Schlag versetzt. Zu diesen politischen Faktoren kam noch der Umstand hinzu, dass Herzl plante, in Kürze nach Wien zurückzukehren: zu seinen altersschwachen Eltern und zu seiner dysfunktionalen Familie. Seine neue Aufgabe als Feuilleton-Redakteur der Neuen Freien Presse war eine angesehene Stelle, aber auch eine, bei der er in eingereichten Beiträgen von Verseschmieden, die er verachtete, oder von begabten Schriftstellern, die er beneidete, ertrinken würde. Von der zunehmend bedrohlichen politischen Atmosphäre in Paris war er erschöpft und abgestoßen, doch jetzt stand ihm die Aussicht bevor, zum Schreiben seichter Feuilletons zurückzukehren, vor denen er wenig Respekt hatte. Und das Stück Das neue Ghetto, von dem er gehofft hatte, dass es die Juden aufrütteln und die Antisemiten 83

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sichern würde, hatte keinen einzigen Produzenten überzeugt. (Im Gegensatz zu seinem Stück Die Glosse zog Herzl eine gedruckte Veröffentlichung von Das neue Ghetto nicht in Betracht, dessen dramaturgische Stärke in den großartigen, öffentlichen Deklamationen lag.) Im Mai 1895 steckte Herzl mitten in einer existenziellen Krise. Doch dieses Mal verfiel er nicht in eine depressive Episode, sondern machte eine längere Phase des gesteigerten Tatendrangs durch, der im Juni zu einer Raserei eskalierte. Wenn eine in der Psychiatrie des 21. Jahrhunderts ausgebildete Expertin Herzl damals untersucht hätte, wäre sie wahrscheinlich zu dem Schluss gelangt, dass Herzl an einer bipolaren Störung litt und eine manische Phase durchlief. Allerdings hat es wenig Sinn, im Rückblick eine psychiatrische Diagnose stellen zu wollen. Vielmehr geht es darum zu verstehen, wie Herzl die Wochen im Jahr 1895 erlebte – und später in Erinnerung behielt –, die sein Leben für immer veränderten. Herzl hinterließ in einem Tagebuch, das er »um Pfingsten [2. Juni] 1895« zu führen begann, eine umfangreiche Dokumentation dieser Phase. Anfangs hielt er seine Gedanken »gehend, stehend, liegend, auf der Gasse, bei Tisch, bei Nacht wenn es mich aus dem Schlaf aufjagte« auf losen Blättern fest. Zehn Monate später übergab Herzl diese seinem Vater, damit der sie in ein gebundenes Buch übertrage: »Ich weiß jetzt und wusste auch während dieser ganzen stürmischen Productionszeit, dass Vieles was ich aufschrieb kraus und phantastisch war. Ich übte aber keinerlei Selbstkritik, um den Schwung dieser Einbildungen nicht zu lähmen.«32 Der Strom der »Einbildungen« begann in der ersten Aprilhälfte, als Herzl dem Autor Alphonse Daudet mitteilte, er wolle ein Buch über die Juden schreiben. Daudet riet ihm, einen didaktischen Roman wie Onkel Toms Hütte zu schreiben, aber Herzl hatte Bedenken und wandte ein, er wolle lieber »ein Buch für Männer« schreiben. Die Idee eines Romans verfing jedoch, und Herzl griff wieder auf, was er vor vier Jahren vorgehabt hatte: eine Geschichte über seinen verstorbenen Freund Kana zu schreiben, allerdings diesmal unter umgekehrten 84

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zeichen: Kana sollte eine Nebenfigur sein. Auch in diesem Konzept sollte er sich selbst umbringen, aber während in der früheren Version der Akt der Selbstopferung eine Form der Ermächtigung war, sollte es dieses Mal tragisch und pathetisch sein. Unterdessen gelang es dem Helden, der eindeutig Herzl selbst entspricht, »das gelobte Land zu entdecken, richtiger zu gründen«. Und am Ende des Buchs brach der Held, »auf dem Schiff, das ihn nach den neuen Gestaden führen soll, mit dem Stab seiner Landsuchungsoffiziere«, zur großen Fahrt auf: »Er gibt Befehl zur Abfahrt. Dann steht er am Schiffsbug schaut steif hinaus ins Weite, wo das gelobte Land liegt.«33 Herzl verstand selbst nicht, wie und weshalb die Idee eines Romans in den nächsten Wochen allmählich in einen konkreten Plan überging, die Massenemigration der Juden aus Ländern, in denen sie verfolgt wurden, in ein sicheres Gebiet umzulenken. Anfang Mai nahm er Kontakt zu Baron Maurice de Hirsch auf, einem jüdischen Bankier, Eisenbahnunternehmer und Philanthrop, der seit 1891 Programme für die Ansiedlung russischer Juden in der Neuen Welt, vor allem in Argentinien, finanzierte. Pathetisch versprach Herzl nicht weniger als eine »neue Judenpolitik«, die Hirsch zu mehr als einem reinen Philanthropen machen würde. Hirsch gewährte ihm die Bitte um eine Audienz – immerhin war Herzl ein hochangesehener Journalist und gewiss eine Stunde der Zeit des Magnaten wert –, und die beiden Männer trafen sich am Morgen des 2. Juni. Vor dem Treffen bereitete Herzl fieberhaft ein »dickes Bündel« an Notizen vor und ordnete und filterte sie zu zweiundzwanzig handbeschriebenen Seiten, die er versuchte, auswendig zu lernen. Mit einem neuen Paar Handschuhe, das er absichtlich am Vortag leicht abgetragen hatte (»Reichen Leuten darf man nicht zu viel Ehre erweisen«), verließ Herzl sein Hotel und begab sich zu Hirschs Herrenhaus in der prachtvollen Rue de l’Élysée.34 Herzls Tagebucheintrag ist der einzige überlieferte Bericht von der Begegnung. Herzl gibt hier, wie durchweg im Tagebuch, wenn er seine Interaktionen mit anderen beschreibt, die Kulisse vor, erschafft einen Dialog voller dramatischer Spannung und präsentiert sich selbst in der Hauptrolle. Wie 85

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lässig können die Tagebücher also sein? Für gewöhnlich schrieb Herzl ins Tagebuch, solange die Ereignisse des Tages in seiner Erinnerung noch frisch waren. Wo andere Quellen vorliegen, bestätigen sie in der Regel die Hauptpunkte des Gesprächs. Darüber hinaus überschnitt sich das, was Herzl in seine Tagebücher schrieb, zum großen Teil mit seiner Korrespondenz, von der viel erhalten ist, zusammen mit den Antwortbriefen an Herzl. Abgesehen davon sind die Tagebücher, auch wenn sie nicht immer »wahrhaftig« sind, von großem Wert, weil sie uns helfen zu erkennen, wie sich Herzl vor sich und vor der Nachwelt darstellen wollte. Unmittelbar nach der Begegnung mit Hirsch fing Herzl an, seine Tagebucheinträge nicht länger nur als Notizen zu betrachten, sondern als Dokumente, die sorgfältig als sein Vermächtnis aufzubewahren waren. Laut Herzls Schilderung also hielt er dem Baron einen Vortrag über die Unzulänglichkeit von dessen Programmen, über die Tausende von Juden in der Neuen Welt angesiedelt würden, wenn doch Millionen in Gefahr seien. Zu Beginn des Gesprächs lenkte Herzl auf das Thema der Wiederherstellung der jüdischen Ehre und Selbstachtung, wie er es in Das neue Ghetto dargelegt hatte. »Zum Bleiben wie zum Wandern muss die Race zunächst an Ort und Stelle verbessert werden. Man muss sie kriegsstark, arbeitsfroh und tugendhaft machen. Nachher auswandern – wenn es noch nöthig ist.«35 Herzl schlug vor, der Baron solle Juden, die in Ländern mit virulentem Antisemitismus lebten, mit stattlichen Prämien belohnen »für Handlungen von großer moralischer Schönheit, für Muth, Selbstaufopferung, sittliches Verhalten, grosse Leistungen in Kunst und Wissenschaft, … kurz, für alles Grosse«. Als Hirsch darauf beharrte, dass die Auswanderung die einzige Lösung sei, »schrie« Herzl beinahe: »Ja, wer sagt Ihnen denn, dass ich nicht auswandern will?« Dann fügte er hinzu, er werde seinen Plan dem deutschen Kaiser vorlegen und von den reichsten Juden Europas eine Anleihe in Höhe von »zehn Milliarden Mark«36 aufbringen – eine gigantische Summe, beinahe das Fünffache der gesamten Schulden des deutschen Kaiserreichs. 86

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Unmittelbar nach dem Treffen stellte Herzl zu seiner Bestürzung fest, dass er lediglich sechs der zweiundzwanzig Seiten an Notizen vorgetragen hatte. Also schrieb er Hirsch einen langen Brief, der klarer und emotionaler als ihre Unterhaltung war, und schilderte seinen im Entstehen befindlichen Migrationsplan: »Geld, Geld, Geld. Fortschaffungsmittel, Verpflegung grosser Massen … Erhaltung der Mannszucht, Organisirung der Abtheilungen, Entlassungsverträge mit Staatshäuptern, Durchzugsverträge mit anderen, Garantieverträge mit allen, und Anlage neuer herrlicher Wohnorte«. Inzwischen sprach er von einer Milliarde Mark als »arbeitendes Kapital«, mit dem man »Häuser, Paläste, Arbeiterwohnungen, Schulen, Theater, Museen, Regierungsgebäude, Gefängnisse, Spitäler, Irrenhäuser – kurz Städte« bauen werde. Es brauchte eine zentral gelenkte Propaganda über Druckerzeugnisse und symbolhafte Bilder, von denen eine Flagge das Wichtigste sei: »Mit einer Fahne führt man die Menschen, wohin man will, selbst ins gelobte Land. Für eine Fahne leben und sterben sie …« In einem sich geradezu überschlagenden Eifer skizzierte Herzl ein technisches und administratives Unternehmen, das eine überaus strenge, rationale Leitung erforderte. Aber Herzl nannte das Projekt auch eine »Imponderabilie«, eine Manifestation des Willens und des Geistes, denn »nur das Phantastische ergreift die Menschen«. Jeder, der diese Wahrheit nicht erkenne, »wird die Menschen nicht [führen], und es wird keine Spur von ihm bleiben«. Und Herzl, der sich nun als »Politiker« bezeichnet, wird dieser Führer sein. Gewiss, räumte er Hirsch gegenüber ein, er sei noch jung – erst fündunddreißig Jahre alt –, doch in diesem Alter sei Napoleon bereits gekrönter Kaiser gewesen.37 Herzl verbrachte den größten Teil des Juni in diesem erregten Zustand, der gegen Ende des Monats ein wenig nachließ, aber, wohl nicht zufällig, bis zu seiner Abreise aus Paris nach Wien Ende Juli anhielt. Im Juni kritzelte er das Äquivalent von hundertsechzig gedruckten Seiten in sein Tagebuch, im Juli nur noch dreißig. Anfang Juli schrieb er, er sei unsicher, ob er nun einen Roman schreiben oder sich ernsthaft politisch engagieren solle. Erst Ende des Monats wurde ihm selbst deutlich, dass er 87

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einen kohärenten Plan für eine jüdische Massenmigration ausgearbeitet hatte, die er versuchen wollte, in die Realität umzusetzen. Wenn sie scheiterte, werde er auf die Option, einen fiktiven Roman zu schreiben, zurückgreifen: »Ich erzähle den Juden Märchen mit Lehren, die sie allmälig in fünf zehn oder zwanzig Jahren verstehen werden. Ich senke die Samenkörner in die Erde.« Allerdings warnte er düster: »Nur fürchte ich, bis die Körner aufgehen, sind Alle verhungert.«38 Die Tagebucheinträge von Juni und Juli sind fesselnd und aufschlussreich, aber auch nervenaufreibend und in gewisser Weise verstörend. Anfälle von Paranoia wechseln mit weiser Voraussicht, mit Größenwahn und altruistischem Idealismus und umsichtiger Selbsterkenntnis. Während des größten Teils des Juni feuerte Herzl wie ein Schnellfeuergewehr mehr oder weniger rationale Aphorismen ab, doch am 14. Juni schrieb er ein kohärenteres, ausführliches Dokument, das Moritz Güdemann, der Oberrabbiner von Wien, Albert Salomon Anselm von Rothschild vortragen sollte, dem Oberhaupt des Wiener Ablegers der Bankdynastie Rothschild – die Herzl als Eckstein seines gigantischen Spendensammelprojekts betrachtete. Die Rubrik »Dem Familienrat«, wie Herzl sie nannte, wiederum bildete die Grundlage seines Pamphlets Der Judenstaat, das im Februar 1896 veröffentlicht wurde. Der Prozess, in dessen Verlauf sich Herzls zionistisches Programm herausbildete, war eine Art Verdichtung, in der sich ein Strahl psychischer Energie allmählich verdichtete und verfestigte. In den Tagebucheinträgen vom Juni präsentierte sich Herzl selbst als großer Staatsmann, der Hirsch und anderen reichen Juden, die er stets beneidet und verachtet hatte, die Bedingungen diktierte. Er schrieb, er werde ein allmächtiger Führer sein und im künftigen jüdischen Staat bedingungslosen Gehorsam verlangen. Die Töchter von Bankiers sollten zum Wohl des Staates mit »aufstrebenden jungen Männern« verheiratet werden. Er nannte dies »die Selbstbefruchtung der Nation«. Eine »gut geleitete Geheimpolizei« werde Herzls Sicherheit garantieren. Der jüdische Staat würde von einer Herzlschen Dynastie regiert; seinen Vater Jakob sah er als ersten Senator des 88

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schen Staates, seinen Sohn Hans als Dogen. Herzl stellte sich die Krönungszeremonie mit Kürassieren, Artillerie und Infanterie vor: »Denn während Alle in goldblitzenden Staats-Gewändern … gehen, hat der Doge die Schandtracht eines mittelalterlichen Juden, den spitzen Judenhut und den gelben Fleck.« Erst im Innern des Tempels werde dem Dogen ein fürstliches Gewand um die Schultern gelegt und die Krone aufs Haupt gesetzt. Herzl war ob der Größe seiner eigenen Vision und der Aussicht, den eigenen Sohn zum Dogen zu krönen, so ergriffen, dass ihm sogar die Tränen kamen. »Zärtliche Küsse, meinem Vater-König«, schrieb Herzl in einem Telegramm an seinen Sohn an dessen viertem Geburtstag.39 Ein verblüffender Aspekt der Gedanken Herzls zu diesem Zeitpunkt ist der Umstand, dass er keine klare Vorstellung davon hatte, wo dieser jüdische Staat sein sollte: »Niemand dachte daran, das gelobte Land dort zu suchen, wo es ist – und doch liegt es so nahe. Da ist es: in uns selbst!« Er schien einen Auszug der Juden nach Südamerika zu befürworten, fern »vom militarisirten und versumpften Europa«. In Südamerika könnten die Juden nach und nach »unbemerkt das Heer zusammen[bringen], werden aber lange Zeit behutsam vorgehen, die Feindschaft der Republiken ausnützen, uns ihre Freundschaft durch Geschenke, Bestechungen, Anleihen, etc. erhalten«. Es werde jedoch eine Zeit kommen, in der die jüdische Armee eine eigenständige Macht bilde.40 Das Tagebuch steckt voller Überlegungen zu militärischen Angelegenheiten, in denen sich Herzls eigene anhaltende Scham darüber, dass er keinen Wehrdienst geleistet hatte, und seine Besessenheit von Disziplin und Männlichkeit widerspiegeln. Bisweilen ist sein Verweis auf das Militär metaphorisch, wenn er etwa von »Arbeitscompagnien … wie Militär« spricht, oder davon, dass Europas allzu gebildete und unterbeschäftigte jüdischen Intellektuellen »die Generalstäbe und Cadres des Landsuchungs- Landfindungs- und Landeroberungsheeres« bilden werden.41 Die Vorbereitung und Struktur der jüdischen Streitkräfte des neuen Staates beschreibt er jedoch detailliert, angefangen bei den englischen Sportarten, die Jugendliche 89

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len werden, um sie für die Armee zu »gediente[n] Krieger[n]« auszubilden, die in der Schlacht dem Tod ins Auge sehen werden. Das Militär ist nur ein Teil der riesigen bürokratischen Aufgabe, die Herzl in seiner Vorstellung durchspielt, um den Transfer von Menschen und Kapital, die Auflösung von Grundbesitz in jüdischer Hand und den Ankauf des Bodens in der neuen jüdischen Heimat zu realisieren. Die Bürokratie wird nicht allein eine Masseneinwanderung der Juden steuern, sie wird auch »den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien … sachte expropriiren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muss ebenso wie die Fortschaffung der Armen, mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen. Die Immobilienbesitzer sollen glauben, uns zu prellen, uns über dem Werth zu verkaufen. Aber zurückverkauft wird ihnen nichts.« Die Einheimischen würden zwar vertrieben, doch die Freiheit und Besitzrechte von Nichtjuden, die sich dort aufhalten, werde man schützen, und ausländische Gäste werden »mit edlem Wohlwollen, mit stolzer Liebenswürdigkeit« aufgenommen.42 Wenn dieser inkohärente sprudelnde Gedankenstrom überhaupt ein übergreifendes Thema hat, so ist es die Umkehr antisemitischer Klischees und Praktiken zur jüdischen Selbstermächtigung. Die Juden werden ihre eigene Abreise in ein gelobtes Land organisieren, »wo wir krumme Nasen, schwarze oder rothe Bärte und gebogene Beine haben dürfen, ohne darum schon verächtlich zu sein«. Die ersten Pioniere würden gelbe Bänder tragen, die, genau wie das gelbe Abzeichen des Dogen, auf die diskriminierenden Markierungen zurückgehen, die Juden im mittelalterlichen Europa tragen mussten. In dem Streben nach Ehre fordert Herzl, dass jene, die versuchen, sich umzubringen, in ein »Irrenhaus« gesteckt würden, und dass die Testamente derjenigen, denen es gelungen war, sich umzubringen, für ungültig erklärt würden. Selbstmord und Anarchismus 90

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hingen für Herzl irgendwie miteinander zusammen; also war er überzeugt, dass Selbstmord unter Strafe gestellt gehörte. Duelle hingegen würden erlaubt sein, allerdings nur mit Säbel, nicht mit Pistolen. (Wer auf einem Duell mit Pistolen besteht, wird stattdessen auf »lebensgefährliche Missionen« ausgeschickt, von der Verabreichung von Impfstoffen in der Versuchsphase bis hin zur Bekämpfung eines ungenannten »Volksfeindes«.) Obwohl Herzl einerseits argumentiert, die Wehrpflicht für die Juden Europas gehöre aufgehoben, besteht er zugleich darauf, dass jene Juden, die in Europa blieben, ritterlich in den Kriegen ihrer Länder dienten und, »wenn sie in feindlichen Lagern stehen, aufeinander schiessen«. Das sei eine »Ehrenschuld«.43 Herzl war sich dessen bewusst, dass seine Ergüsse »lächerlich, übertrieben, verrückt« erscheinen könnten. »Ich arbeite es aus? Nein! Es arbeitet mich«: »Ich habe in diesen Tagen öfters befürchtet, irrsinnig zu werden. So jagten die Gedankenzüge erschütternd durch meine Seele. Ein ganzes Leben wird nicht ausreichen, Alles auszuführen. Aber ich hinterlasse ein geistiges Vermächtnis. Wem? Allen Menschen. Ich glaube, ich werde unter den grössten Wohltätern der Menschheit genannt werden. Oder ist diese Meinung schon der Größenwahn? Ich muss vor Allem mich selbst beherrschen.«44 Ihn trieb zwar die Sorge um, dass andere ihn für verrückt halten könnten, doch »sie haben Unrecht. Ich weiss, dass zweimal zwei vier sind.« In einem Brief an Güdemann verwies Herzl vage auf seinen Plan, nannte keine Details, erklärte aber, dass dies eine Lösung für die Judenfrage zu sein verspreche, und dass er seine Gesprächspartner von der Durchführbarkeit überzeugen werde: »Ach, ich werde ja auch in meinen höchsten Ausführungen hie und da wie zufällig einflechten müssen, dass zweimal zwei vier, zweimal drei sechs ist und 17 x 07 = 119, und dass ich ganz deutlich weiss, was Sie oder ein Anderer bei früheren Zufällen meines Lebens mir gesagt, ja was er sich über mich gedacht haben muss. Damit man sieht, dass ich meinen Verstand noch hübsch beisammen habe.«45 Während Herzl, »vom Nachdenken überreizt«, am 18. Juni 1895 durch die Jardins de Tuileries schlenderte, griff er die Idee 91

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auf, seine Pläne dem deutschen Kanzler Otto von Bismarck darzulegen, denn: »Der ist groß genug, mich zu verstehen, oder zu heilen.« Am nächsten Tag schickte er dem Kanzler einen langen, zerfahrenen Brief, in dem er die mathematische Formel wiederholt, die er auch Güdemann vorgelegt hatte, und sich selbst als jemanden bezeichnet, den man in die »Abtheilung der Erfinder von lenkbaren Luftballons« stecken könnte. (Drei Tage vorher hatte der Arzt und Journalist Friedrich Schiff im Scherz zu Herzl gesagt, er sehe aus, als habe er das lenkbare Luftschiff erfunden, also ein Objekt, das leichter als Luft und dabei lenkbar war, was damals als Symbol für ein Hirngespinst galt.) Bismarck antwortete Herzl nicht, woraufhin dieser überlegte: »Ob er mich für einen leichten oder schweren Narren halten wird?«46 Ungeachtet der Bismarckschen Abfuhr betrachtete sich Herzl weiterhin als Visionär, als Führer und bezeichnenderweise als Erfinder, der soeben eine »gewaltig erschütternde Überraschung« der Entdeckung erlebte: »wenn das Alchymistengold zum erstenmal aufblitzt, die Dampfmaschine zu gehen anfängt, das Luftschiff sich plötzlich lenkbar zeigt«.47 Ende Juli stellte Herzl fest, dass er inzwischen bereit sei, sich für die Sache der Juden zu opfern, aber nichts unternehmen dürfe, um seinen Eltern oder der Zukunft seiner Kinder zu schaden. Schon aus diesem Grund, so schrieb er, dürfe man ihn nicht für »meschugge« halten. Im Übrigen, beruhigte Herzl sich selbst: »Im Dichten liegt noch keine Verrücktheit, auf den Gedanken kommt es an, den die Grosse Schrift [sic] hinmalt; wenn der gesund und klar ist, dann macht sich nur der Zweifler lächerlich.«48 In seinen veröffentlichten Schriften grübelte Herzl häufig über den Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn nach, etwa in einem Aufsatz von 1895: »Die Einbildungen eines Wahnsinnigen sind viel bunter, wilder, herrlicher und schrecklicher als die des Shakespeare, ja selbst von [dem französischen Romanautor] Ponson du Terrail.«49 In einem zionistischen Essay von 1897 berief sich Herzl auf einen anderen französischen Schriftsteller, Pierre-Jean de Beranger, den er selbst wie folgt übersetzt: »Wie lange harrt eine Idee/Als dunkle Jungfrau ihres Freiers!/Die Dummen schelten sie 92

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rückt./Der Weise spricht zu ihr: Verbirg dich!/Da trifft sie fern von allen Leuten/Ein Narr, der noch an Morgen glaubt/ Und freit sie; da sie fruchtbar wird,/Ist es der ganzen Menschheit Glück.«50 Herzl lotet die sozialen Aspekte seines Vorhabens in enthusiastischen, dabei jedoch vernünftig klingenden Worten aus. Herzl sinniert, ob er »nicht viel mehr als die Judenfrage löse. Nämlich tout bonnement die sociale Frage!«51 Gerade weil er eine neue Gesellschaft auf »jungfräuliche[m] Boden« gründen wolle, könne er radikale Reformen einführen und damit das soziale und das jüdische Problem gemeinsam lösen. Herzl regte politische Maßnahmen wie ein staatliches Monopol auf Spirituosen und Tabak an, die Regulierung der Versicherungsbranche und der Börse und, das war ihm wichtig, die Einführung eines humanen Siebenstundentags. Aus diesem Grund sollte die Flagge des jüdischen Staats sieben Sterne haben. Ende Juli verabschiedete sich Herzl von seinem früheren Hang zum Militarismus. Einen jüdischen Chauvinismus vermeidend, forderte er eine multinationale Konföderation wie die Schweiz. Ungeachtet des mühseligen Prozesses der Migration und der Gründung des neuen Staats war es das erklärte Ziel, das Gegenteil einer spartanischen, kriegerischen Gesellschaft zu schaffen: »Zu verhindern auch spätere Eroberungspolitik. Neu-Judäa soll nur durch den Geist herrschen.«52 Sein neues Staatengebilde sollte auch von den Annehmlichkeiten der westlichen Zivilisation durchdrungen sein. Auf der Schiffspassage in das neue Land würden sich die Passagiere zum Abendessen umziehen, und im neuen Land würden sie den heimatlichen Luxus vorfinden: »Salzstangel, Kaffee, Bier, gewohntes Fleisch«. Die neue Hauptstadt werde ein europäisches Paradies, umgeben von Bergen und Wäldern, sein. Ungeachtet seiner Bemerkung über das Verlassen des »militarisirten und versumpften Europas« wollte Herzl sehnlichst ein Teil davon bleiben. »Jetzt erkennt man mich nicht als Deutschen an. Das wird schon kommen, bis wir erst drüben sind.« Der jüdische Staat werde gewiss von der ganzen Welt bewundert werden, und zu guter Letzt würden die Juden respektiert: 93

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»Anfangs werden wir nur in aller Stille an und für uns arbeiten. Aber der Judenstaat wird merkwürdig werden. Das Siebenstundenland ist nicht nur das Musterland für sociale Versuche, nicht nur die Schatzkammer der Kunstwerke – auch in aller Cultur ein Wunderland. Es wird ein Ziel für die Culturwelt, die uns besuchen kommen wird, so wie man nach Lourdes, Mekka, Sadagora geht.«53 Lourdes in Frankreich, Mekka im heutigen Saudi-Arabien und Sadigora (Sadagora) in der heutigen Ukraine (ehemals in der habsburgischen Bukowina) waren die Stätten christlicher, muslimischer und jüdischer Pilgerreisen. Zu Lourdes und Sadigora hatte Herzl eine besondere Beziehung als Orte, an denen sich dem Vernehmen nach Wunder ereignet hatten. Herzls jüdischer Staat sollte mindestens ebenso wundersam sein. Die mit Lourdes assoziierten Erscheinungen der Jungfrau Maria sowie das Wirken Israel Friedmans, des chassidischen Rabbis (auch Wunderrebbe genannt) von Sadigora, würden hinter dem neuen jüdischen Wunderland zurückstehen, dem Ort säkularer Pilgerreisen. Herzl glaubte nicht, dass Gott in Lourdes Wunder bewirkt hatte, noch weniger, dass Rabbi Israel Friedman mit dem Himmlischen kommuniziert habe. Aber er würdigte die Wandel herbeiführende Kraft, die von dem Glauben der Menschen an das Wundersame ausgehen konnte. Aus diesem Grund schrieb Herzl: »Wunderrabbi von Sadagora ausführen u. eine Art Bischof einer Provinz machen. Überhaupt ganzen Clerus gewinnen.« Wenn der Wunderrabbi einmal im zionistischen Lager war, dürfte das keine allzu große Schwierigkeit sein: »Brauche ich das Phänomen der Menge, und wie man sie nach beliebigen Punkten zieht, auch noch an den frommen Wanderungen zu erklären? … Nur kurz deute ich an, was in der mohammedanischen Welt der Zug der Pilger nach Mekka ist. In der katholischen Welt Lourdes und so zahllose andere Punkte, von wo Menschen durch ihren Glauben getröstet heimkehren, und der heilige Rock zu Trier. So werden auch wir dem Wunderrabbi drüben ein schöneres Sadagora aufbauen. Unsere Geistlichen werden uns ja zuerst verstehen und mit uns gehen.«54 94

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Herzl hoffte, an den religiösen Eifer der Juden zu appellieren, wollte jedoch verhindern, dass dieser Eifer Gehorsam einforderte oder gar die staatlichen Angelegenheiten diktierten würde. »Wir wollen ja drüben Jeden nach seiner Façon selig werden lassen«, merkte er unbekümmert an. In der »Familienrede« schreibt er: »Der Glaube hält uns zusammen – die Wissenschaft macht uns frei – … Wir werden sie [die Geistlichen] in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden.« Nach Herzl hatte die Religion im künftigen jüdischen Staat eine klar umrissene, aber unerlässliche Funktion, genau wie das Wesen der jüdischen Volkszugehörigkeit in der Ausübung einer Religion lag, die Herzl selbst kaum eingehalten hatte. Es sei ein grundlegendes Paradox, wie er einmal sinngemäß anmerkte, dass das Einzige, woran Juden ihre Sippe noch erkannten, der Glaube ihrer Väter sei.55 Dabei lag das eigentliche Paradox viel tiefer: Noch im Juni schrieb Herzl zwar, dass das Judentum auf der Religion basiere, doch nur einen Monat später erklärte er: »Mit dem Glauben hat das nichts zu thun.« Und alle Juden seien »von einer Race«.56 Vier Monate später schien er sich abermals selbst zu widersprechen, als er dem englisch-jüdischen Autor Israel Zangwill begegnete, den er wie folgt beschrieb: »langnasige[r] Negertypus, sehr wollige tiefschwarze in der Mitte gescheitelte Haare«. Eine rassische Definition des Judentums, so Herzl, könne er »schon nicht acceptiren …, wenn ich ihn und mich ansehe … Wir sind eine historische Einheit, eine Nation mit anthropologischen Verschiedenheiten. Das genügt auch für den Judenstaat. Keine Nation hat die Einheit der Race.«57 So schwer es Herzl auch fiel zu definieren, was es hieß, Jude zu sein, hielt er konsequent an der Überzeugung fest, dass man die jüdische Eigenart im Bereich der Ideen, Empfindungen und Erwartungen suchen müsse, statt sie über materielle oder biologische Faktoren zu definieren. Die Annahme des Judentums über den Zionismus war Herzls Errettung, seine Erlösung, das Erlebnis, das er später den Sabbat seines Lebens nennen sollte. Der Antisemitismus in Österreich war der Katalysator gewesen, doch ironischerweise 95

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dete ausgerechnet die Kunst eines berüchtigten deutschen Antisemiten Herzl in diesen erschöpfenden Wochen im Juni Inspiration und Trost. Im späten Frühling führte die Pariser Oper Richard Wagners Tannhäuser auf. Herzl schrieb im Mai ein Feuilleton darüber, und im Juni besuchte er mehrmals Aufführungen der Oper, die ihn eigenem Bekunden zufolge beruhigte. Warum kühlte ausgerechnet diese Oper Herzls fieberhaften Geist herunter, und warum fühlte er sich der Oper so stark verbunden, dass er Abschnitte daraus 1898 auf dem Zweiten Zionistenkongress vorspielen ließ? Tannhäuser erzählt die Geschichte eines talentierten, aber arroganten Barden, der seine Minnesänger für die Göttin Venus verlässt, die ihn in einer Grotte unter einem Hügel namens Venusberg verbirgt. Tannhäuser fühlt sich in der erotischen Gefangenschaft elend und sehnt sich nach einer Rückkehr ins irdische Leben, wo er seine Sünden bereuen und zur spirituellen Liebe der keuschen Elisabeth zurückkehren kann. Außerstande, seinen Stolz und seine Vergangenheit zu überwinden, singt Tannhäuser ein Loblied auf die körperliche Leidenschaft, und das in Gegenwart Elisabeths und seiner Kollegen, die ihn aus ihrer Mitte verbannen. Der nunmehr wirklich reumütige Tannhäuser bittet den Papst um Vergebung, wird jedoch zurückgewiesen. In seiner Verzweiflung ruft er Venus an, damit sie ihn wieder in ihr Versteck entführe, doch er wird an (die inzwischen verstorbene) Elisabeth erinnert, die ihn noch aus dem Grab erlöst. Venus verschwindet, und Tannhäuser stirbt, seine Seele ist jedoch für alle Ewigkeit gerettet. Herzls Vorliebe für diese Oper ist häufig ästhetisch gedeutet worden, als Wertschätzung der bombastischen und dramatischen Musik, aber auch politisch als Allegorie auf das Entrinnen aus dem Ghetto (der Grotte der Venus) beziehungsweise die Unmöglichkeit der Assimilierung (Tannhäusers vergebliche Gesuche beim Papst). Wenigstens ebenso aufschlussreich ist jedoch eine autobiographische Deutung. Herzl war in Bezug auf seine literarischen Talente ebenso stolz wie unsicher, und er war außerordentlich ehrgeizig. Noch wichtiger aber: Er suchte nach einem Ausweg aus seiner unglücklichen und erotisch 96

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merten Ehe. Im Jahr 1887, nur ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Julie, hatte Herzl den ersten Band Feuilletons, Neues von der Venus, veröffentlicht, in dem die Göttin der Liebe symbolisch für Selbsttäuschung und Heuchelei stand. Acht Jahre später fand Herzl im Zionismus seine Elisabeth – eine Quelle der spirituellen Rettung und ein Anliegen, dem er sich ganz opfern konnte, die ihn, wie Tannhäuser, in einen vorzeitigen Tod trieb.58 Freudig erregt, wenn auch erschöpft von dieser Metamorphose, blickte Herzl nunmehr distanziert und sogar zärtlich auf Julie, denn er hatte eine Berufung gefunden, welche die Kleinlichkeit und das Melodram seines Familienlebens transzendieren würde. Am 19. Juni schrieb er Julie, dass er sich mit einem großen Projekt befasse – er verglich es mit der Geburt eines Kindes –, das aber noch geheim gehalten werden müsse. Im Juli spielte er immer noch mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben, aber dieses Vorhaben war nun eindeutig seinen zunehmend ambitionierten Plänen für eine jüdische Massenauswanderung untergeordnet. Herzls Plan, um die Judenfrage zu lösen, war fesselnd und bestechend, wenn auch häufig verworren, doch sobald er über den Roman nachdachte, wurden seine Gedanken banal und schnulzig. Er zog den Plot einer fiktiven Rache in Betracht, demzufolge das Geld Baron Hirschs unwissentlich der zionistischen Sache diente, aber sowohl Hirsch als auch der Held (ein Platzhalter für Herzl) sich in dem Moment aus der Öffentlichkeit zurückziehen, in dem der Staat im Begriff ist, anerkannt zu werden, sodass die beiden sich notgedrungen versöhnen mussten. Unter den Figuren in dem Roman fanden sich ein blonder, blauäugiger Held, dessen Geliebte – »eine spanische Jüdin, schlank, schwarzhaarig, feine Race« – ein »sinnreicher Betrüger« und ein tugendhaftes Mädchen.59 (Ihr Name ist Pauline.) Es scheint, als wäre Herzls gesamte Kreativität in die zionistische Vision eingeflossen und habe für die Literatur nichts übrig gelassen. In seinen letzten Wochen in Paris begann Herzl, zunächst zögerlich, nach Verbündeten zu suchen. Am 6. Juli diskutierten er und Nordau über einem Bier die Judenfrage: »Nie habe ich 97

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mit Nordau so harmonirt wie da. Wir sprachen uns Einer dem Anderen das Wort aus dem Mund. Nie merkte ich so stark, dass wir zusammengehören.« Herzl wagte es jedoch erst vier Monate später, Nordau seinen Plan mitzuteilen. Unablässig bestürmte Herzl Rabbi Güdemann mit seinen Briefen und bat um ein Treffen, ohne konkrete Details über das zu nennen, was er im Sinn hatte. Güdemann war zurückhaltend, skeptisch und machte sich sogar Sorgen um Herzls Gesundheitszustand. Doch Herzl ließ sich nicht abschrecken. Am 25. Juli schrieb er: »Nichts thun, zuschauen, wenn das Haus brennt, ist doch wahnsinniger, als mit einer modernen Dampfspritze herbeieilen. Und das will ich.« Zwei Tage später kehrte Herzl nach Wien zurück. In sein Tagebuch schrieb er: »Und heute verlasse ich Paris! Es endigt ein Buch meines Lebens. Es beginnt ein neues. Welches?«60

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Theodor Herzl auf dem ersten Zionistischen Kongress in Basel 1897, bei dem die Delegierten das Basler Programm angenommen haben. Gemälde

Kapitel 4

Das Organisationsgenie

Als Herzl im Juli 1895 nach Wien zurückkehrte, war er fünfunddreißig Jahre alt und im besten Mannesalter. Irgendwann während seiner Zeit in Paris hatte er sich die Koteletten abrasiert und einen Vollbart wachsen lassen, der mit der Zeit immer dichter und üppiger wurde. Der Bart verlieh Herzl den Hauch einer überlieferten semitischen Herrlichkeit sowie eine geradezu übernatürliche Anziehungskraft. Er sollte seinen Eifer, seine Hingabe und Bindungen zur jüdischen Vergangenheit und zum jüdischen Volk symbolisieren.1 In einem Vieraugengespräch in Paris im November 1895 enthüllte Herzl Nordau, der ihn als Pariser Korrespondent für die Neue Freie Presse abgelöst hatte, seine zionistische Vision. Nordau war nur einer von vielen, an die Herzl sich nun auf der fieberhaften Suche nach Verbündeten wandte. Aus den Jahren, als Herzl seine Stücke verschiedenen Theatern angeboten hatte, hatte er Übung im Knüpfen von Kontakten und in der Öffentlichkeitsarbeit; und seine prickelnde Prosa, die bislang das Leben anderer beschrieben hatte, wurde nunmehr in den Dienst seiner eigenen politischen Vision gestellt. Zwischen Ende 1895 und Anfang 1898 entwickelte sich Herzls charismatische und organisatorische Genialität zu voller Blüte, als er eine internationale, zionistische Institution gründete, deren ersten Kongress einberief und sich anschickte, die Aufmerksamkeit und Billigung der Welt für seinen fantastischen Plan zu gewinnen. Herzl glaubte an die Macht des Wortes. Als Bühnenautor war er es gewohnt, seine Werke laut und in voller Länge den potenziellen Unterstützern und Intendanten vorzulesen. Indem er den Entwurf seines Gesuchs bei der Familie Rothschild wie ein Skript behandelte, inszenierte er in der zweiten Hälfte des Jahres 1895 zweistündige Lesungen bei Begegnungen mit Würdenträgern wie den Oberrabbinern von Frankreich und Wien, dem Mitgründer der Alliance Israélite Universelle mit 101

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Sitz in Paris und einem angesehenen jüdischen Architekten, der im Wiener Stadtrat saß. Herzl hoffte, dass die Rothschilds und andere jüdische Magnaten den massenhaften Transfer von Juden aus Orten des Antisemitismus und der Verfolgung finanzieren würden, doch seine Gesprächspartner dämpften seine Hoffnungen erheblich. Herzls Vater Jakob war von Anfang an der Meinung gewesen, dass es würdelos und undurchführbar sei, die Rothschilds um Hilfe anzuflehen. Also beschloss Herzl, seine Ideen »gleich ins Volk [hinauszutragen], und zwar in Form eines Romans«.2 Herzl schwebte damals eine Version des melodramatischen Werks vor, mit Protagonisten nach den Vorlagen des verstorbenen Freundes Kana und der Schwester Pauline. Im Herbst hatte Herzl jedoch die Romanidee fallen gelassen und stattdessen beschlossen, ein Traktat auszuarbeiten. Im Dezember begab er sich auf die Suche nach Verlegern. Seine ersten beiden Kandidaten lehnten das Projekt ab, aber Herzls Chancen stiegen, als die Jewish Chronicle, damals eine der einflussreichsten jüdischen Zeitungen, im Januar einwilligte, eine Zusammenfassung der Hauptargumente Herzls unter dem Titel »The Solution of the Jewish Question« zu veröffentlichen. Einen Tag nach Erscheinen des Beitrags unterschrieb Herzl einen Vertrag bei einem kleinen Verlagshaus mit Sitz in Leipzig und Wien. Der Artikel im Jewish Chronicle zog vereinzelte, sowohl unterstützende als auch spöttische Beiträge nach sich, doch die noch unveröffentlichten Fahnen des Pamphlets erwiesen sich als weit größerer Anlass zur Sorge für Herzl. Als seine Herausgeber bei der Neuen Freien Presse, Bacher und Benedikt, sie in die Finger bekamen, drängten sie Herzl, das Werk nicht zu veröffentlichen, da es, so Bacher, die Stellung der Juden in ihren derzeitigen Vaterländern gefährde, ohne ihnen ein neues zu garantieren. Herzl erwiderte, dass mit Erscheinen der Zusammenfassung im Jewish Chronicle die Katze ohnehin bereits aus dem Sack sei. Er blieb standhaft, doch in den folgenden Tagen litt er unter Herzklopfen und Atemnot. Am 14. Februar 1896 erhielt Herzl ein Bündel von fünfhundert Gratisexemplaren seiner Streitschrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. 102

Das O rganisationsgenie

Mit knapp mehr als 20.000 Wörtern ist Der Judenstaat womöglich das kürzeste Beispiel der scherzhaften Definition eines »Klassikers«: eines Werks, das viel gepriesen, aber kaum gelesen wird. Seit mehr als hundert Jahren werden Auszüge aus dem Pamphlet in den Schriften und Reden zionistischer Aktivisten und israelischer Politiker zitiert, in erster Linie um Herzls hellsichtige Erkenntnis der Gefahren des Antisemitismus und seine Vision eines jüdischen Staates zu demonstrieren, der ein Vorbild an sozialer Gerechtigkeit und technischem Fortschritt sein sollte. Diese Dimensionen sind in der Tat im Text enthalten, doch ein Großteil der ursprünglichen Bedeutung von Herzls Ausführungen ist verloren gegangen. Darüber hinaus sind diese Diskussionen überaus aufschlussreich in Bezug auf Herzls geistigen und psychischen Zustand – darüber, welche Aspekte seiner eigenen Befindlichkeit sich seit der manischen Phase nur ein halbes Jahr zuvor verändert hatten und welche konstant geblieben waren. Das Pamphlet ist in einem knappen, markigen und vor allem emotionslosen Stil verfasst. Herzl nimmt darin den Antisemitismus »ohne Hass und Furcht« unter die Lupe, betrachtet ihn als eine unvermeidliche Reaktion auf die jüdische Konkurrenz oder als, wie er es nennt, »gemeinen Brotneid«. Diese Eifersucht ziele auf die jüdische Ober- und Mittelschicht ebenso wie auf die armen und proletarischen jüdischen Massen. Herzl beschränkt sich dabei nicht, wie die jüdischen Nationalisten in Osteuropa und jüdische Philanthropen im Westen, auf die Not der russischen oder rumänischen Juden: In Russland werden Judendörfer gebrandschatzt, in Rumänien erschlägt man ein paar Menschen, in Deutschland prügelt man sie gelegentlich durch, in Oesterreich terrorisiren die Antisemiten das ganze öffentliche Leben, in Algerien treten Wanderhetzprediger auf, in Paris knöpft sich die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles schliessen sich gegen die Juden ab. Die Nuancen sind zahllos. Es soll hier übrigens nicht eine wehleidige Aufzählung aller jüdischen Beschwerden versucht werden. Wir wollen uns nicht bei Einzelheiten aufhalten, wie schmerzlich sie auch seien. 103

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Ich beabsichtige nicht, eine gerührte Stimmung für uns hervorzurufen. Das ist Alles faul, vergeblich und unwürdig. Ich begnüge mich, die Juden zu fragen, ob es wahr ist, dass in den Ländern, wo wir in merklicher Anzahl wohnen, die Lage der jüdischen Advocaten, Aerzte, Techniker, Lehrer und Angestellten aller Art immer unerträglicher wird? Ob es wahr, dass unser ganzer jüdischer Mittelstand schwer bedroht ist? Ob es wahr, dass gegen unsere Reichen alle Leidenschaften des Pöbels gehetzt werden? Ob es wahr, dass unsere Armen viel härter leiden, als jedes andere Proletariat? Ich glaube, der Druck ist überall vorhanden. In den wirthschaftlich obersten Schichten der Juden bewirkt er ein Unbehagen. In den mittleren Schichten ist es eine schwere, dumpfe Beklommenheit. In den unteren ist es die nackte Verzweiflung.3 Auch wenn Herzl sich Sorgen wegen des Antisemitismus gegen Juden der Mittelschicht macht, so bleibt doch der Schaden, den diese Verfolgung anrichten kann, in Grenzen; die Emanzipation der Juden könne nicht rückgängig gemacht werden. Zumal sämtliche Versuche, die Emanzipation aufzuheben, die Juden in die Arme revolutionärer Bewegungen treiben würden. »Man kann also eigentlich wenig Wirksames gegen uns thun, wenn man sich nicht selbst weh thun will.« Aus heutiger Sicht wissen wir, dass sich Herzl bezüglich der Unantastbarkeit der Judenemanzipation irrte. Denn sie wurde tatsächlich in den 1930er und 1940er Jahren in großen Teilen Europas aufgehoben und ging dem NS -Völkermord voraus. Darüber hinaus überrascht an Herzls Streitschrift die positive Haltung gegenüber der jüdischen Assimilation und gegenüber Juden, die nicht den Wunsch hatten, in den Judenstaat auszuwandern. Herzl äußert sich keineswegs missbilligend über Assimilation als solche, erklärt jedoch ihre Unmöglichkeit angesichts des allgegenwärtigen Grolls gegen Juden. Doch das werde sich ändern, sobald eine größere Schar europäischer Juden, die als ökonomische Konkurrenten der Nichtjuden angesehen würden, in ihrem eigenen Staat lebe. Herzl denkt dabei nicht nur an arme Juden, sondern auch an das gebildete 104

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riat jüdischer Anwälte und Journalisten, die sich in Europas großen Städten gerade so über Wasser hielten. (Mit dieser Anmerkung bezog sich der gelernte Jurist und als Journalist arbeitende Herzl auch auf sich selbst.) Ferner würden Juden, die Europa verließen, Herzl zufolge ihr Hab und Gut zu einem fairen Preis zum Nutzen der Nichtjuden übertragen. Zu guter Letzt werde ein jüdischer Staat ein allgemein bewundertes soziales und technisches Feuerwerk sein. Alle diese Faktoren hätten zur Folge, dass der Antisemitismus letztlich verschwinden werde. Keineswegs werde es alle Juden in den neuen Judenstaat ziehen, aber sobald dieser einmal existierte, würden Juden, die in der Diaspora bleiben wollten, ein angenehmes und friedliches Leben führen. Deren vollständige – und dieses Mal erfolgreiche – Assimilation wäre die Folge. Herzls Argumente für die Gründung eines jüdischen Staatswesens nehmen lediglich einen kleinen Teil des Pamphlets ein. Hauptsächlich geht es um die organisatorische Frage, wie sich der massive Transfer an Menschen und Besitz über Tausende von Kilometern bewerkstelligen ließe. Herzl ruft zur Gründung von zwei Organen auf: die Society of Jews und die Jewish Company. Die Society werde eine »staatsbildende Macht« sein, also eine Proto-Regierung: »Die Juden, welche sich zu unserer Staatsidee bekennen, sammeln sich um die Society of Jews. Diese erhält dadurch den Regierungen gegenüber die Autorität, im Namen der Juden sprechen und verhandeln zu dürfen.« Jeder Anhänger von Herzls Plan dürfe in die Society eintreten, doch jeder demokratischen Organisationsform, wo über Fragen diskutiert und abgestimmt werden könnte, schiebt Herzl kurzerhand einen Riegel vor: »Dabei [bei einer Abstimmung] wäre die Sache von vorneherein verloren. Wer nicht mit will, mag da bleiben.« Konsequenterweise regte Herzl an, dass der Judenstaat eine Adelsrepublik werden solle. Aus seinen Erfahrungen in Paris und Wien hatte Herzl die Exzesse der Demokratie des Pöbels, sofern sie von Christen begangen wurden, fürchten gelernt, und offensichtlich war sein Vertrauen in die Juden kein Deut größer. Die Society of Jews sollte auch statistische und wissenschaftliche Forschungen betreiben, um den am besten geeigneten Ort 105

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für die jüdische Massenansiedlung zu finden. Herzl bringt ebenso Argentinien wie Palästina als mögliche Standorte des Judenstaates ins Spiel. Allerdings lässt sich seine Präferenz leicht erkennen, denn auch wenn er an einer Stelle kurz den ausgezeichneten Boden und das Klima Argentiniens hervorhebt, ist seine Wortwahl im Zusammenhang mit Palästina doch deutlich leidenschaftlicher. Palästina sei, schreibt er, unsere unvergessliche historische Heimat. Dieser Name allein wäre ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk. Wenn Seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln. Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Cultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantiren müsste. Für die heiligen Stätten der Christenheit liesse sich eine völkerrechtliche Form der Exterritorialisirung finden. Wir würden die Ehrenwache um die heiligen Stätten bilden, und mit unserer Existenz für die Erfüllung dieser Pflicht haften. Diese Ehrenwacht wäre das grosse Symbol für die Lösung der Judenfrage nach achtzehn für uns qualvollen Jahrhunderten.4 Die Assoziation Asiens mit »Barbarei« ist verstörend, und ich werde darauf im Zusammenhang mit Herzls kolonialistischen Empfindungen im nächsten Kapitel ausführlicher eingehen. An dieser Stelle möchte ich die Unterschiede zwischen Herzls Idee des Territoriums im Pamphlet und in seinen Tagebucheinträgen vom Juni 1895 herausarbeiten, wo er noch einen jüdischen Staat in Lateinamerika befürwortete. Was war geschehen? Herzl durchlebte einen graduellen, aber stetigen Prozess einer stärkeren Identifizierung mit dem Judentum; und damit einher ging ein wachsendes Bewusstsein für Palästina. Ebenso wichtig waren Herzls Gespräche mit zionistischen Aktivisten, während er an dem Pamphlet schrieb. Diese verwiesen immer wieder darauf, dass nur Palästina eine Volksbewegung mobilisieren könnte. 106

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Die Society of Jews behandelt Herzl relativ knapp, den Großteil des Pamphlets widmet er den Bestimmungen für die Tätigkeit der Jewish Company, einer als öffentlich gedachten Institution, welche den Aufbau des neuen jüdischen Staates umsetzen sollte. Wie in den Tagebucheinträgen vom Juni, allerdings nunmehr in einer strukturierteren und kohärenteren Form, schildert Herzl die Tätigkeit der Company bis ins kleinste Detail. Sie wird die Aufstellung der Einwandergruppen nach Herkunftsland beaufsichtigen und das Tempo der Migration in das neue Land regeln. Arme Einwanderer werden den Vortritt vor bürgerlichen haben, die Reichen kommen als Letzte ins Land. Die Company wird auch die Auflösung des Besitzes der Einwanderer in ihrer alten Heimat übernehmen und für sie Grundstücke im neuen Land erwerben. Arme Einwanderer wird sie für den Aufbau der Infrastruktur des Landes einsetzen und sie in sauberen und gesunden Wohnungen unterbringen, in keiner Weise vergleichbar mit den »traurigen Arbeiterkasernen der europäischen Städte«. Wer arbeitsfähig ist, wird über eine schützende Verwaltung vermittelt, »ganz militärisch … mit Chargen, Avancement und Pensionirung«. Männer und Frauen werden jung heiraten und kräftigen Nachwuchs zeugen. Für herausragende Leistungen werden Prämien vergeben. Die Entscheidung über die Einhaltung religiöser Bräuche wird jedem selbst überlassen, aber jede Einwanderergruppe wird einen eigenen Rabbi haben, denn »wir erkennen unsere historische Zusammengehörigkeit nur am Glauben unserer Väter, weil wir ja längst die Sprache verschiedener Nationen unverlöschbar in uns aufgenommen haben«. Auch werde es den Bewohnern des neuen Staates freistehen, jede beliebige Sprache zu sprechen, doch Jiddisch werde verschwinden, nicht weil die Company dies vorgibt, sondern weil sich die Juden »die verkümmerten und verdrückten Jargons … diese Ghettosprachen«, die »Sprachen von Gefangenen« waren, automatisch abgewöhnen würden, sobald sie frei seien. Dem Paternalismus der Jewish Company liegt ein Imperativ zur Wohltätigkeit zugrunde. Schwangere Frauen werden nicht arbeiten. Der Siebenstundentag wird eingeführt, bestehend aus 107

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zwei dreieinhalbstündigen Schichten, unterbrochen von Muße und Ruhe: »Wir werden für alle Lebensalter, für alle Lebensstufen die sittliche Beseligung der Arbeit suchen. So wird unser Volk seine Tüchtigkeit wiederfinden im Siebenstundenlande.« Darüber hinaus wird sich die Jewish Company bei ihren finanziellen Transaktionen in ehemaligen Heimatländern der Juden an strengste moralische Standards halten. Die Company »wird den Regierungen und Parlamenten, welche die innere Wanderung der christlichen Bürger [zu ehemals jüdischen Immobilien] leiten wollen, dabei Hilfe leisten«. »Darum müssen alle Verpflichtungen in den bisherigen Wohnorten rechtschaffen erfüllt werden. … Alle privatrechtlichen Forderungen, die noch aus den verlassenen Ländern stammen, sind im Judenstaate leichter klagbar als irgendwo. Wir werden gar nicht auf Reciprocität warten. Wir thun das nur um unserer eigenen Ehre willen.« Als Zeichen der Anerkennung der jüdischen Ehre würden, so Herzl, sogar »anständige Antisemiten« Anteile an der Jewish Company erwerben und sich an dem geordneten Transfer des jüdischen Besitzes an die neuen Eigentümer beteiligen. Herzls Leidenschaft – man könnte schon Besessenheit sagen – für die detaillierte Planung und zentrale Steuerung des Ansiedlungsprojekts hilft nicht zuletzt, um eine der merkwürdigsten Leerstellen in Herzls Schriften zu erklären. In den Tagebucheinträgen von 1895 und Anfang 1896 benutzt Herzl den Begriff »Zionist«, um andere zu bezeichnen, nicht sich selbst. Auch in Der Judenstaat taucht der Begriff »Zionist/zionistisch« nur drei Mal auf, noch dazu durchweg kritisch. Als Herzl zum ersten Mal eine jüdische Erweckung erlebte, hatte er noch nie vom »Zionismus« gehört, einem um 1890 von Nathan Birnbaum geprägten Begriff, einem Wiener Juden galizischer Abstammung. Birnbaum hatte sich als Student in Wien politisch engagiert und im Jahr 1882 an der Universität die jüdisch-nationalistische Gesellschaft Kadimah (Vorwärts) gegründet. Unter Zionismus verstand Birnbaum einen jüdischen Nationalismus mit einer Bindung an Palästina. Das bedeutete eine Intensivierung und Betonung der sentimentalen Bindung zum Land Israel, wie sie von der ersten Generation 108

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sächlich osteuropäischer jüdischer Nationalisten befürwortet wurde. Diese hatten sich im Jahr 1884 in einer Föderation zusammenschlossen, den sogenannten Zionsfreunden (Chowewe Zion). Als Herzl im Juni 1895 seine manische Phase durchlebte, hatte er noch kein geeignetes Wort oder eine Wendung für sein neu entdecktes Anliegen. Und als er vom Zionismus erfuhr, assoziierte er diesen mit den Ideen der Zionsfreunde, die kleine und unsystematische jüdische Siedlungen in Palästina förderten. Folglich beschrieb Herzl in seinen Tagebüchern Menschen als »Zionisten«, die wie er selbst ein jüdisches nationales Programm verfolgten, denen es aber an einem Masterplan für die Durchführung mangelte. In Der Judenstaat wird noch die gleiche Unterscheidung vorgenommen. Erst nach der Veröffentlichung des Pamphlets übernahm Herzl das Etikett des Zionismus für sich und sein Projekt. Er schätzte die Aussagekraft und Schlichtheit des Begriffs und übertrug sie auf die Zionistische Organisation und den Zionistenkongress, die er beide gründete. Die Broschüre Der Judenstaat eroberte die Welt nicht im Sturm. Sie erhielt in der jüdischen Presse einige Aufmerksamkeit, wurde aber ansonsten weitgehend ignoriert. Nur halb im Scherz bezeichnete Herzl Ivan von Simonyi, einen Antisemiten aus Bratislava, der Herzl mit journalistischen Schriften bombardierte, als seinen »glühendsten Anhänger«. In der jüdischen Welt fielen die Reaktionen sehr gemischt aus. Die Jewish Chronicle widmete dem Pamphlet eine ironische Rezension, der Oberrabbiner von Sofia hingegen erklärte Herzl kurzum zum Messias. Osteuropäischen Zionisten erschien das Büchlein sowohl vertraut als auch alarmierend waghalsig. Langjährige Aktivisten der Zionsfreunde blickten missbilligend auf Herzls assimilierten Hintergrund und seine Geringschätzung für ihre eigene Siedlungstätigkeit in Palästina in den vergangenen fünfzehn Jahren. Sie befürchteten, sein Plan könnte den Herrscher Palästinas, also das Osmanische Reich, ebenso empören wie das reaktionäre russische Zarenreich, das sämtliche nationalistische Aktivitäten der eigenen Minderheiten ächtete. Wichtiger noch: Ein Großteil der Ideen Herzls, sowohl bezüglich der Diagnose als auch der Bestimmungen, war bereits fast fünfzehn Jahre vor 109

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dem Erscheinen von Der Judenstaat aufgetaucht. Im Jahr 1882 hatte Leo Pinsker, ein Gründer und Führer der Zionsfreunde, auf Deutsch ein Pamphlet namens Autoemancipation veröffentlicht. Wie Herzl hielt schon Pinsker die Gründung einer nationalen jüdischen Heimat für die einzig wirksame Medizin gegen Antisemitismus, und wie Herzl forderte er die Mobilisierung der Juden in aller Welt zu einer staatsgründenden Organisation. In seinem Tagebuch schreibt Herzl, er habe vor September 1895 noch nie etwas von Pinsker gehört und dass er Pinskers Pamphlet erst fünf Monate später gelesen habe, als Der Judenstaat bereits im Druck war. Herzl räumte eine »verblüffende Übereinstimmung im kritischen, grosse Ähnlichkeit im constructiven Theil« ein und gestand, er sei froh, dass er die Schrift nicht schon früher zu Gesicht bekommen habe, denn sonst hätte er sein eigenes Pamphlet wohl nicht geschrieben.5 Da Pinsker im Jahr 1891 gestorben war, hatte Herzl keine Gelegenheit mehr, dem Pionier seine Bewunderung persönlich zu übermitteln. In diesem Punkt, wie in vielen anderen, ist eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber Herzls Tagebuch angebracht, weil es von Anfang an für die Veröffentlichung nach seinem Tod als Chronik seiner Errungenschaften gedacht war. Doch gibt es keinen Hinweis darauf, dass Herzl bezüglich der Ereignisse, seiner persönlichen Erlebnisse oder seiner Verfassung mutwillig gelogen hätte. Der Judenstaat ging aus den Tagebucheinträgen vom Juni 1895 hervor, die wie geschmolzene Lava zu einer festen, kohärenten Form erstarrten, jedoch noch die Anzeichen ihres vulkanischen Ursprungs zeigten. Herzl nahm sich selbst als einen Mann mit nur wenigen Vorläufern und ohne Gleichgesinnte wahr, als einzigartigen Geist, besessen von einer einzigartigen Vision und der Fähigkeit, sie zu verwirklichen. »Ich werde der Parnell der Juden sein«, notierte er im Oktober 1895, indem er sich mit dem irischen Führer der Nationalisten, Charles Stewart Parnell, verglich, der nur vier Jahre zuvor gestorben war.6 (Die beiden Männer hatten tatsächlich viel gemeinsam: Parnell kam aus einer wohlhabenden anglo-irischen Familie, die in vieler Hinsicht mit Herzls assimilierter österreichisch-ungarischer Familie vergleichbar war. Beide Männer 110

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starben jung: Herzl mit vierundvierzig und Parnell mit fünfundvierzig Jahren.) Sicher teilte Herzls Freund Nordau die Einschätzung, dass Herzl ein einzigartiger und begabter Führer sei. Seine Antwort auf Der Judenstaat kam prompt und war tiefgründig: Ich habe Ihren »Judenstaat« zweimal gelesen. Zu diskutieren habe ich heute leider keine Zeit. Also nur lapidarisch meinen Eindruck: objektiv ist die Arbeit auf manche Weise zu beurtheilen, subjektiv ist sie einfach eine Grossthat. Wenn Sie nie eine andere Zeile geschrieben hätten, nie wieder eine schreiben würden, weist Ihnen diese eine Broschuere dauernd einen Rang unter den Helden an. Heldenmuethig ist fuer einen stilverliebten Kuenstler – der Verzicht auf jeden Wortprunk, die keusche, herbe Knappheit des Vortrags; unsagbar heldenmuethig das Abbrechen aller Bruecken hinter sich. Sie gaben es auf, ein »deutscher Schriftsteller«, ein (oesterreichischer) Patriot zu sein; Sie koennen kuenftig nur noch wirken, indem Sie das Tiefstmenschliche im Leser anrufen; die billigeren Emotionen, die durch das Spielen auf den Saiten der Vaterlandsgefuehle, der Landsmannschaft usw. wachgerufen werden, haben fuer Sie von jetzt an stumm zu bleiben; und hoch heldenmuethig ist das mehr als tapfere, das todeskuehne Bekennen der letzten Gefuehle, die alle Juden bisher in den tiefsten Grund ihrer Seele vergraben haben. Uriel Acosta hat weniger, Luther hat in Worms nicht mehr getan. Es ist nicht die von Ihnen beabsichtigte Wirkung, dass ich hauptsächlich an das Subjective, an Sie, und nicht an das Werk denke. Aber Sie muessen es mir nachfuehlen koennen, dass ich es thue. Denn was aus dem Werke wird, weiss ich nicht, aber dass Sie sich in der Broschuere geoffenbart haben, weiss ich.7 Genau wie Nordau bewunderten auch osteuropäische Zionisten Herzls Leidenschaft für ihre gemeinsame Sache, machten sich jedoch Sorgen, wohin das führen mochte. Im März 1896 merkte die hebräische Zeitung Ha-Melitz billigend an, dass Herzl zwar »ohne Tora«, ja »mit kaum einem Anzeichen für jüdischen Geist, wie ein trockener Knochen« erzogen worden 111

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sei, aber nichtsdestotrotz bewirkt habe, dass die Vision des Propheten Hesekiel von den trockenen Knochen, die zu neuem Leben erweckt werden, wiederbelebt worden sei. Herzl sei »mit absoluter Reue zurückgekehrt; seine Seele werde heiße Kohlen entfachen und sein Herz brennt mit der Hitze der Liebe zu seinem Volk … ›an dem Ort, wo Büßer stehen, da stehen nicht einmal die ganz Rechtschaffenen‹.«8 Der Artikel konstatiert sogar, dass Herzl konzentrierter, talentierter und bekannter als der geliebte und verstorbene Pinsker sei. Gleichzeitig mahnt er jedoch, Herzls Träume seien allzu großartig. Wenn es jemals einen jüdischen Staat geben sollte, so werde er schrittweise entstehen und nur eine bescheidene Anzahl der Juden aufnehmen. Nachum Sokolow, der Chefredakteur einer anderen bedeutenden hebräischen Zeitung, Ha-Tzefirah, äußerte sich unverblümter und bezeichnete Herzl abschätzig als »Wiener Feuilletonisten, der Diplomatie spielt«. Er verglich ihn sogar mit einem Kind, das in der Nähe eines Getreidespeichers mit dem Feuer spiele. Das Silo war in diesem Bild das Osmanische Reich, das, wie Sokolow ganz richtig anmerkte, die kleine jüdische Gemeinde Palästinas duldete, aber phasenweise Maßnahmen gegen die jüdische Einwanderung ergriff und auf keinen Fall eine Masseneinwanderung der Juden hinnehmen würde. Im Jahr 1896 war Sokolow siebenunddreißig, ein Jahr älter als Herzl. Andere führende Vertreter des russischen Zionismus waren ungefähr gleichaltrig. Ascher Hirsch Ginsberg, eine wichtige Persönlichkeit in der hebräischen Literatur, die unter dem Pseudonym Achad Ha-Am (Einer aus dem Volk) schrieb, war vier Jahre älter als Herzl. Menachem Ussischkin, einer der einflussreichsten Führer der Zionsfreunde, war drei Jahre jünger. Die Spannungen zwischen Herzl und den russischen Zionisten hatten mehrere Ursachen. Unterschiede in der Vorgehensweise – lautlos gegen öffentlichkeitswirksam, schrittweise gegen inszeniert – vermischten sich mit kulturellen Unterschieden zwischen dem assimilierten Herzl und russischen Juden, die mit der jüdischen Tradition eng vertraut waren, häufig Jiddisch als Muttersprache sprachen und schon als Kinder Hebräisch gelernt hatten. Die russischen Zionisten waren 112

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wiegend nicht orthodox, und die meisten hatten eine weltliche Bildung genossen, aber selbst die am stärksten säkularisierten unter ihnen konnte man nicht mit Herzl vergleichen, der sich so wenig um jüdische Bräuche scherte, dass er seinen Sohn Hans nicht einmal beschneiden ließ. Als der Oberrabbiner von Wien ihn im Dezember 1895 in seinem Haus besuchte, schmückte Herzl gerade den Weihnachtsbaum für die Kinder. Von Herzls Unkenntnis der jüdischen Bräuche ließ sich David Wolffsohn jedoch nicht abschrecken, ein freundlicher litauischer Jude, der eine gründliche Jeschiwa-Bildung genossen hatte und als Holzkaufmann erfolgreich war. Als Jugendlicher hatte Wolffsohn unter Rabbi Isaac Rulf gelernt, einem Führer der Zionsfreunde in der Stadt Memel in Ostpreußen. Wolffsohn sprach fließend Deutsch und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Köln. Er bewunderte Herzl mit einer tiefen und unerschütterlichen, doch keineswegs naiven Loyalität und wurde dessen effektivste und loyalste rechte Hand. Zudem war Wolffsohn frei von dem für Männer mittleren Alters sonst so üblichen Konkurrenzdrang. In dieser Beziehung trennten ihn Welten von Nathan Birnbaum, der einerseits Herzl nachahmte, aber andererseits sich über dessen spektakulären Eintritt in die zionistische Gemeinde Wiens ärgerte. Diese Gemeinde versammelte sich in dem Zion Verband der Österreichischen Vereine für Colonisation Palästinas und Syriens. Hier hielt Herzl Vorträge und traf sich mit Zionisten aus allen Bevölkerungsschichten; viele waren Medizinstudenten, die ihn glühend verehrten. Die Bewunderung seitens der Jugend war für Herzl zwar befriedigend, aber sie verschaffte ihm nicht den nötigen Zugang zu den Politikern und großen Finanziers. Er benötigte darüber hinaus erfahrene Führungspersonen für seine Jewish Company. Herzl glaubte, so einen Mann in Oberst Albert Goldsmid gefunden zu haben, dem ranghöchsten Juden innerhalb der britischen Streitkräfte und glühenden Anhänger der Zionsfreunde. Im November 1895 traf Herzl Goldsmid und dessen Familie in deren Haus in Cardiff. Nach dem Abendessen, als sich die Männer in das Raucherzimmer zurückzogen, schilderte der Oberst Herzl auf dramatische Weise, dass er sich mit 113

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Daniel Deronda vergleiche, dem Helden in George Eliots Roman von 1876 über einen Engländer, der als christlicher Gentleman aufgezogen wurde, aber entdeckte, dass er in Wirklichkeit ein Jude sei. Ganz ähnlich sei auch er, so Goldsmid, als Christ aufgewachsen, habe als junger Erwachsener von seiner jüdischen Herkunft erfahren und sei anschließend konvertiert. Er heiratete eine Frau mit einem ähnlichen Schicksal – also eine Christin jüdischer Abstammung –, und sie wurden beide orthodoxe Juden. Goldsmid beharrte gegenüber Herzl darauf, dass der jüdische Staat nur im Heiligen Land gegründet werden könne und niemals in Lateinamerika, das Herzl damals in Betracht zog. Goldsmid äußerte darüber hinaus seine Absicht, die Grabeskirche »Stein für Stein« abzutragen und sie zwischen Moskau und Rom aufzuteilen. Ungeachtet dieser Vorstellung eines Angriffs auf eine der heiligsten Stätten des Christentums war Goldsmid überzeugt: »Die frommen Christen Englands würden uns helfen, wenn wir nach Palästina gingen. Denn sie erwarten nach der Heimkehr der Juden das Erscheinen des Messias.«9 Rund drei Monate nach dem Abendessen in Cardiff meldete sich solch ein frommer Christ bei Herzl. William Hechler, der Kaplan der britischen Botschaft in Wien, hatte über den polnischen Journalisten und zionistischen Aktivisten Saul Landau von Herzl gehört. Hechler positionierte sich an den Rändern einer Bewegung innerhalb des Protestantismus, hauptsächlich in Großbritannien und in den USA , die sich bereits seit den 1830er Jahren für die Wiederherstellung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina als Voraussetzung für die Wiederkehr Christi aussprachen. Der graubärtige Hechler, der fast selbst einem Propheten ähnelte, hatte errechnet, dass die Juden in den kommenden beiden Jahren in großer Zahl nach Palästina zurückkehren würden. Hechler legte Herzl in seinem Büro in der Botschaft seine messianische Vision dar. Herzl schilderte die Begegnung folgendermaßen: Schon auf der Treppe hörte ich Orgelspiel. Das Zimmer, in das ich trat, ist mit Büchern ringsum bis an die Decke bestellt. Es sind lauter Bibeln. 114

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Ein Fenster des ganz lichten Zimmers war offen, kühle Frühlingsluft kam herein, und Mr. Hechler zeigte mir seine biblischen Schätze. Dann breitete er seine vergleichende Geschichtstabelle vor mir aus, und endlich die Landkarte von Palästina. Es ist eine große Generalstabskarte in vier Blättern, die auf den Boden gelegt wurde und so das ganze Zimmer ausfüllt. »Wir haben Ihnen vorgearbeitet!« sagte Hechler triumphierend. Er zeigte mir, wo nach seiner Berechnung unser neuer Tempel stehen müsse: in Bethel! Weil das der Mittelpunkt des Landes sei. Er zeigte mir auch Modelle des alten Tempels: »wir haben Ihnen vorgearbeitet.«10 Herzl hielt Hechler für einen »naiven Schwärmer«, doch dieser Schwärmer hatte weltweite politische Verbindungen. Hechler war Hauslehrer des Sohns des Großherzogs von Baden, Friedrich I., der wiederum ein Onkel des deutschen Kaisers Wilhelm II . war. Hechler verschaffte Herzl eine Einladung des Großherzogs, und die beiden trafen sich am 21. April 1896 in der badischen Hauptstadt Karlsruhe zum ersten Mal. Dieses Datum markierte den Beginn von Herzls diplomatischem Zionismus, ein Unternehmen, das mit schwindelerregendem Tempo an Fahrt aufnahm. Nachdem Herzl den betagten, leutseligen Herzog gedrängt hatte, ihn mit Kaiser Wilhelm bekannt zu machen, brachte er zudem noch das Kunststück fertig, eine Audienz beim päpstlichen Nuntius in Österreich zu erhalten. Die Begegnung verlief jedoch nicht gut. Dem Katholizismus war der biblische Philosemitismus der Protestanten fremd, und die Rückkehr der Juden nach Palästina rangierte in der römisch-katholischen Glaubenslehre nicht an oberster Stelle. Wie nicht anders zu erwarten, konnte der Repräsentant des Papstes keinen Grund erkennen, warum er Herzls Vorschlag unterstützen sollte. Landau führte Herzl daraufhin zu dem zwielichtigen polnischen Aristokraten Baron Philipp de Newlinski, der als korrupter diplomatischer Agent im Namen mehrerer europäischer Staaten sowie des Osmanischen Reichs unterwegs war. Gegen eine beträchtliche 115

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Geldsumme versprach Newlinski, Herzl in Konstantinopel die Türen zu öffnen. Mitte Juni saßen die beiden Männer im OrientExpress, der erst sieben Jahre zuvor als direkte Bahnverbindung zwischen Wien und Konstantinopel eingesetzt worden war. Diese Reise sollte Herzl in seinem Leben noch vier Mal machen. In der Hauptstadt des Osmanischen Reichs angekommen, traf Herzl sich mit Untergebenen, doch der Sultan Abdul Hamid II . selbst wollte ihm keine Audienz gewähren. In der Kommunikation mit Herzl über Newlinski (der durchaus auch auf der Gehaltsliste des Sultans gestanden haben könnte) stellte der Sultan klar, dass er unter keinen Umständen Palästina den Juden übergeben werde. Herzl und Newlinski erdachten verschiedene Strategien, um den Sultan doch noch zu überzeugen. Als erste wurde angeboten, von jüdischen Bankern eine beträchtliche Summe aufzutreiben, die ausreichen würde, um die riesigen Auslandsschulden des Osmanischen Reichs zu tilgen. Jahrzehntelang hatte sich das Reich massiv Geld vom Westen geliehen, bis es im Jahr 1875 bei der Tilgung in Rückstand geraten war, und zwar in Höhe von einer Viertelmilliarde Pfund. Sechs Jahre danach wurde die Administration de la Dette Publique Ottomane, also Osmanische Staatsschuldenverwaltung, die internationaler Aufsicht unterstand, ins Leben gerufen, und die Schuldenlast wurde auf knapp über hundert Millionen Pfund gesenkt. Dennoch verschlang der Schuldendienst rund ein Drittel des gesamten Reichshaushalts. Herzl versprach, er könne zwanzig Millionen Pfund auftreiben – nur ein Bruchteil der tatsächlichen Schulden, aber immerhin eine spektakuläre Summe, die damals dem jährlichen Bundeshaushalt der Vereinigten Staaten entsprach. Darüber hinaus versicherte er, dass die jetzigen Inhaber von Anleihen, sobald das Syndikat jüdischer Bankiers die Schuldenlast neu strukturiert und die Administration de la Dette aufgelöst habe, noch höhere Zinszahlungen erhalten würden als ohnehin schon. An einer möglichen Umsetzung darf man zweifeln, schließlich brachten osmanische Anleihen bereits im Durchschnitt fünf Prozent ein, eine Rendite mit einem beträchtlichen Risiko und doppelt so hoch wie grundsolide britische Regierungsanleihen. 116

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Newlinski brachte einen realistischeren, oder opportunistischeren, Ansatz ins Gespräch. Er schlug vor, dass Herzl als bekannter Journalist mit Verbindung zu einer der einflussreichsten Zeitungen Europas doch von großem Nutzen für die Öffentlichkeitsarbeit des Osmanischen Reiches bezüglich der verfolgten armenischen Minderheit sein könnte. In der Folge schickte Herzl seiner Zeitung ein schmeichelhaftes Interview mit dem Großwesir Halil Rifat Pascha sowie eine protürkische Darstellung der jüngsten Massenmorde in Armenien und des Konflikts mit Griechenland um Kreta. Herzl sympathisierte durchaus mit der armenischen Sache, glaubte jedoch, dass die armenischen »Revolutionäre« selbst das Unheil über sich heraufbeschwörten. Bei einer Begegnung mit dem Führer der armenischen Nationalisten, Avetis Nazarbekian, in London drängte er diesen, seinen Anhängern zu befehlen, die Waffen niederzulegen. Herzl betrachtete das Schicksal der Armenier womöglich mit Mitgefühl, aber er wusste, dass der Sultan, solange ihn die »armenische Frage« umtrieb, auf keinen Fall über Zugeständnisse an eine andere nichtmuslimische Minderheit verhandeln würde. Herzl hatte sich, wie er seinem Tagebuch anvertraute, zum Ziel gesetzt, Geld und Menschen in politische Macht umzuwandeln. Sobald die volle Summe für das Darlehen zugeteilt sein würde und die Einwanderung einen kritischen Punkt erreicht hatte, wären »so viel Juden mitsammt jüdischer Heereskraft in Palästina …, dass Würgversuche der Türken nicht mehr zu befürchten sind«.11 Er bezweckte, dass Goldsmid in die Reihen der ausländischen Offiziere im osmanischen Militär eintrat und sich ein Kommando in Palästina sicherte. »Beim Zerfall der Türkei würde uns oder unseren Söhnen dann Palästina unabhängig zufallen.«12 Herzl sah keinen Widerspruch zwischen dieser aggressiven Haltung und seiner Bereitschaft, einen Status unterhalb der Souveränität – etwa als autonomer, tributpflichtiger Staat wie Ägypten oder Bulgarien – zu akzeptieren, also nominell Teil des Reiches, aber doch mit eigenen Gesetzen und Armee ausgestattet. Zumindest auf kurze Sicht lag es Herzl zufolge im 117

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resse der Zionisten, dass das Reich stabil und intakt blieb. Wenn Abdul Hamid abgesetzt würde, dann könnte, so befürchtete Herzl, ein tüchtigerer Herrscher an die Macht kommen, der vielleicht imstande wäre, auf eigene Faust Kapital aufzutreiben, ohne die von Herzl versprochenen (aber nicht existierenden) jüdischen Bankiers. Im türkisch-griechischen Krieg von 1897 unterstützte Herzl die Spendensammlung für verwundete türkische Soldaten und schrieb anerkennend über junge türkische Juden, die sich freiwillig zum Kampf für das Osmanische Reich meldeten. Er versicherte dem Sultan in einem auf Französisch geschriebenen Brief, dass die Zionisten nicht die Absicht hegten, irgendjemanden in Palästina zu enteignen: »Eigentum ist ein Privatrecht und darf nicht angetastet werden.« Überdies würden die Juden das Reich stärken, nicht schwächen: »Die Energie und die Bedeutung der Juden im Handel und Finanzwesen sind bekannt. Es ist ein Strom des Goldes, des Fortschritts, eine Vitalität, die der Sultan mit den Juden, die seit dem Mittelalter stets dankbare Freunde der Türken gewesen waren, in sein Reich einlassen wird.«13 Während Herzl also dem osmanischen Sultan Honig um den Mund schmierte, versuchte er auch den britischen Außenminister Lord Salisbury zu überzeugen, dass ein intaktes Osmanisches Reich mit einem autonomen jüdischen Vasallenstaat auch im britischen Interesse liege. Ein solcher Staat würde den Bau einer britischen Bahnlinie unterstützen, die das Mittelmeer mit dem Persischen Golf verbände und eine Verkehrsachse zu den Bahnlinien durch Zentralasien nach Indien bilden könnte. »Und das alles«, so Herzl, »ohne dass England einen Penny auslegen oder sich irgendwie sichtbar zu engagieren hätte.«14 Sollten die Briten einmal Ägypten verlieren, wären sie auf ein jüdisches Palästina angewiesen, das den Suezkanal absicherte, Großbritanniens Lebensader nach Indien. Für Herzl bedeutete Diplomatie, sich mit mehreren Gesprächspartnern zu treffen, widersprüchliche Botschaften auszusenden und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, wie unwahrscheinlich oder abwegig sie auch sein mochte. Zum Glück erforderte seine Tätigkeit für die Neue Freie Presse 118

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fige Reisen. Herzl war auf Europas weitverzweigtes und integriertes Netz aus Bahnlinien angewiesen, das am Ende des 19. Jahrhunderts die Fahrt von Wien nach Paris in nur wenig mehr als einem Tag ermöglichte. (Binnen fünf Tagen konnte man von London aus an so weit entfernte Orte wie Nordskandinavien, Nordafrika, Kleinasien und den Ural gelangen.) Raffiniert kombinierte Herzl die zionistische Tätigkeit mit seinen journalistischen Aufträgen. Im September berichtete er über die Besuche des deutschen Kaisers in Breslau und in der sächsischen Stadt Görlitz. Während der Tage in Görlitz bekam Herzl keine Audienz bei Wilhelm, aber er nutzte die Gelegenheit, ihn aus nächster Nähe zu beobachten: Dieser oberste Kriegsherr würde von der Assentirungscommission abgelehnt werden, wenn er ein gewöhnlicher Stellungspflichtiger wäre. Daher kommt vielleicht seine krankhafte Vorliebe für alles Militärische. Er kann auch keine ungezwungene Haltung haben, weil er immer an die Verbergung seines Gebrechens [des verkümmerten linken Arms] denken muss. … Auch liebt er blendende glänzende Uniformen, strahlende Helme, die den Blick anziehen, ablenken. Er ist aber, wie mir scheint, ein sympathischer Mensch, besser noch und kürzer: ein Mensch! Der Menge will er zwar stark imponiren, und er spielt den Kaiser mit Macht. Denen, die ihm näher kommen, will er jedoch liebenswürdig gefallen. Er hat eine gewinnende Art des Händedrucks, wie ein Parteiführer. Er schaut Jedem, mit dem er spricht tief in die Augen, indem er dicht herantritt … Zweifellos ist er ein hoch und vielseitig begabter Mensch, der nur mit seinem einzigen Arm zuviel angreifen möchte und immer die Hände voll zu thun hat, weil er verbergen will, dass er nur eine Hand hat. Wenn ich ihn recht verstehe, werde ich ihn für die Sache gewinnen, falls es mir gelingt mich ihm zu nähern.15 Diese Zeilen lassen eine paradoxe Mischung aus Erkenntnis, Scharfsicht und Beschränktheit erkennen – eine Beschränktheit bezüglich der Verkennung des schwachen Charakters des 119

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sers sowie mit Blick darauf, dass Herzl die eigene, durch die Ablehnung vom Wehrdienst ausgelöste Unsicherheit auf den Souverän projizierte. Herzl war derjenige, der vieles in Angriff nahm und »immer die Hände voll« zu tun hatte. Während er die Rolle des Staatsmanns spielte und unablässig durch die Gegend reiste, setzte er seine Arbeit als Journalist fort, nicht nur weil er das Geld für den Lebensunterhalt brauchte, sondern auch weil er eine direkte Verbindung zwischen Journalismus und Politik sah. Herzl hoffte nicht zuletzt, dadurch die Unterstützung der Großen und Mächtigen zu gewinnen, dass er eine Zeitung mit Sitz in Wien gründete, welche die Regierungs- und Wirtschaftselite der Doppelmonarchie unterstützte und zugleich energisch den Zionismus befürwortete. »Mit dem grossen Blatte«, schrieb Herzl, »verhandeln die Regierungen wie von Macht zu Macht.«16 Der österreichische Ministerpräsident Kasimir Badeni hatte ihm als Erster vorgeschlagen, solch eine Zeitung zu gründen, und Herzl erwärmte sich sofort für diese Idee. Er wünschte nicht nur ein Vehikel für die Verbreitung des Zionismus, unabhängig von den missbilligenden Augen seiner Herausgeber bei der Neuen Freien Presse, sondern er sehnte sich auch danach, sein eigener Herr zu sein. Herzl gefiel es, dass Badeni ihn ernst nahm, ein Meister des freundlichen Händedrucks und Kennerblicks, und Herzl hatte keine Bedenken, das moderat liberale österreichische Regime zu unterstützen. Die Gründung einer Zeitung erforderte jedoch die Summe von einer Million Gulden, mehr als das Doppelte von Herzls beträchtlichem Familienvermögen. Also wurde der Plan auf Eis gelegt, sollte allerdings später erneut aufkommen. Herzl sehnte sich danach, ein Gestalter der Geschichte zu sein, nicht nur ein Beobachter. Nach der Rückkehr aus Konstantinopel fragte ihn sein Redakteur, ob er nicht für die Zeitung einen Artikel über die Stadt schreiben könne. Herzl antwortete: »In Konstantinopel hatte ich nur geschichtliche Erlebnisse, keine feuilletonistischen.«17 Die Reise hatte ihn jedoch lediglich in die Vorzimmer der Staatsmacht geführt. Er hatte nichts Handfestes vorzuweisen außer einer bedeutungslosen 120

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Auszeichnung vom Sultan. Die europäische Dynastie der Rothschilds hatte ihn bislang abgewiesen, und Angehörige des englisch-jüdischen Adels behandelten ihn mit überaus kühler Höflichkeit. In Wien sprachen sich Herzls Redakteure entschieden gegen seine zionistische Tätigkeit aus. In der journalistischen Welt hatte er nur einen einzigen Helfer: Sidney Whitman, einen umherreisenden Korrespondenten für den New York Herald, der ausgezeichnet Deutsch sprach und viel Zeit in der Türkei verbrachte. Auch er ließ sich, wie Newlinski, seine Dienste von Herzl bezahlen. Wenn es um selbstlose, ehrlich überzeugte Unterstützung ging, musste sich Herzl also außerhalb der Eliten und in der jüdischen Öffentlichkeit umsehen. Im Juli 1896 ertappte sich Herzl dabei, wie er gleichzeitig diplomatischen Luftschlössern nachjagte und ernsthaft über einen Strategie- und Adressatenwechsel nachdachte. Seit seiner Pariser Zeit hatte Herzl die Arbeiterklasse sowohl bemitleidet als auch gefürchtet. Auf der Fahrt nach Konstantinopel begegnete Herzl einer anderen Form der Macht der Massen, als er in der bulgarischen Hauptstadt Sofia Station machte. Während er über die politische Energie der Massen nachdachte, notierte Herzl ein lateinisches Zitat aus Vergils Aeneis: »Flectere superos si nequeo, Acheronta movebo.«18 (Wenn ich die Oberen nicht umstimmen kann, werde ich die Unterwelt bewegen.) Herzl blieb jedoch ambivalent, ob und wie er sich dieses Potenzial zunutze machen sollte. Am 12. Juli verglichen Jiddisch sprechende Einwanderer im Londoner jüdischen »Workingmen-Club« Herzl mit Moses und Kolumbus. Tags darauf schwankte Herzl hin und her, ob er eine Massenbewegung anführen wollte oder lieber darauf verzichtete, »wenn ich irgendwie die Rothschilds durch meinen Austritt aus der Bewegung erkaufen kann«.19 In Kürze sollte Herzl Gelegenheit bekommen, diesen Schachzug einem Rothschild persönlich anzubieten: Er und Baron Edmond de Rothschild einigten sich auf ein Treffen in Paris am 18. Juli. Anfang der 1880er Jahre hatte der Baron einigen jüdischen Agrarsiedlungen in Palästina, der Heimat von rund fünftausend der dreißigtausend Juden in Palästina, aus ihrer finanziellen 121

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Not geholfen, und im Jahr 1890 hatte er den Siedlungen einen Betrag zwischen sechs und zehn Millionen Francs zukommen lassen (die Zionsfreunde hingegen hatten nicht einmal eine Viertelmillion Francs gespendet). Der Baron lehnte jüdischen Nationalismus jedoch ab und war kategorisch gegen die Gründung eines jüdischen Staats. Vielmehr wollte er sein Unternehmen auf dem derzeitigen Niveau halten, ohne Einmischung, schon gar nicht von einem fanatischen Journalisten ohne den geringsten politischen Rückhalt. Die Begegnung verlief so erfolglos, wie man es sich nur vorstellen konnte, und sie bestärkte Herzl in dem Entschluss, auf die Unterstützung der jüdischen Finanzelite zu verzichten und stattdessen »die Unterwelt zu bewegen«. Bereits bei der Begegnung in London beobachtete Herzl sich dabei, wie sich der Heldenmantel um ihn legte: »Ich sah u. hörte zu, wie meine Legende entstand. Das Volk ist sentimental, die Massen sehen nicht klar. Ich glaube, sie haben schon jetzt keine klare Vorstellung mehr von mir. Es beginnt ein leichter Dunst um mich herum aufzuwallen, der vielleicht zur Wolke werden wird, in der ich schreite. Wenn sie aber auch meine Züge nicht mehr deutlich sehen, so errathen sie doch, dass ich es sehr gut mit ihnen meine, u. dass ich der Mann der armen Leute bin. Freilich brächten sie wahrscheinlich auch einem geschickten Verführer u. Betrüger dieselbe Liebe entgegen, wie mir, in dem sie sich nicht täuschen.«20 Der Sommer 1896 kam einer zweiten Wiedergeburt Herzls gleich. Ein Jahr zuvor hatte er sich selbst der Rettung des jüdischen Volkes verschrieben. Jetzt sollte er nicht nur ihr Retter, sondern auch ihr Führer werden. Die Entscheidung selbst brachte Herzl allerdings noch längst keine große Anhängerschar ein. Sein Ruhm breitete sich allmählich aus. Die meisten Juden hatten gegenüber dem Zionismus eine gleichgültige oder gar feindselige Haltung. Orthodoxe Juden lehnten ihn für gewöhnlich als blasphemischen Akt der Selbsterhöhung ab, weil sich menschliche Hände den Akt der Wiederherstellung der Juden im Heiligen Land anmaßten, die erst in den Tagen des Messias eintreten sollte. Jüdische Sozialisten hingegen – und diese waren am Ende des 19. Jahrhunderts zahlreich in Osteuropa und 122

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amerika – lehnten den Zionismus als einen utopischen Versuch ab, das Problem des Antisemitismus zu lösen, dessen Wurzeln, nach ihrer Überzeugung, im kapitalistischen Produktionssystem lagen. Sie waren zuversichtlich, dass der Antisemitismus, sobald der Kapitalismus einmal gestürzt sei, verschwinden werde. Im Gegensatz dazu betrachteten wohlhabende Juden in der westlichen Welt den Zionismus als eine Gefahr für ihren eigenen Anspruch, ein vollständig integrierter Bestandteil der Gesellschaften ihrer Heimatländer zu sein. Auch wenn sie Mitgefühl für die armen und unterdrückten Juden anderswo empfanden, waren sie doch von Herzls schriller Proklamation in Der Judenstaat irritiert: »Wir sind ein Volk. Ein Volk.« Und eben jene Juden, die sich tatsächlich mit dem Zionismus identifizierten, hielten Herzl, wie gezeigt, für lächerlich, wenn nicht gar gefährlich. Angesichts dieser imposanten Hindernisse widmete sich Herzl dem Aufbau einer zionistischen Organisation und der Einberufung eines Zionistenkongresses. Die einsetzende hektische Korrespondenz mit zionistischen Aktivisten in ganz Europa erregte viel Interesse, wenn Herzl auch nicht immer Verbündete fand. Herzl und die Zionsfreunde blieben meilenweit voneinander entfernt in der Frage der Dimension einer jüdischen Einwanderung in Palästina, und Herzl bezeichnete die Einwanderung im kleinen Stil verächtlich als »Infiltration«. Er fand es richtig, mit jeglicher Form der Einwanderung zu warten, bis die internationale Gemeinschaft einen jüdischen Anspruch auf Palästina anerkannt hatte und eine Charta oder ein Protektorat für das Territorium garantiert worden war. Doch seine Zugkraft reichte immerhin aus, um weiterhin das Ziel eines Zionistenkongresses zu verfolgen. In Wien mobilisierte er eine schlafmützige Gruppe von Sympathisanten zu einem »Aktionskomitee«, wie er es nannte. Das Komitee bestand aus liebenswürdigen Anhängern, darunter Johann Kremenezky, ein Elektroingenieur und Magnat für Glühbirnen, der Herzl mit der Idee begeisterte, man könne aus dem Toten Meer womöglich Chemikalien gewinnen. In Köln wurde Herzl von Wolffsohn und dem Anwalt Max Bodenheimer unterstützt. In Berlin gab es mehrere zionistische 123

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Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen Orientierungen: orthodox, nationalistisch und rein philanthropisch. Herzls ganze Überredungskraft war nötig, um diese Gruppen für die Einberufung eines Kongresses zu gewinnen, der mehr als ein Treffen wohltätiger Organisationen sein sollte. Herzl hielt an der Idee eines Kongresses als nationales Parlament fest, das regelmäßig tagen und die Bildung eines Rates autorisieren sollte, um das diplomatische Unternehmen im Sinne Herzls zu leiten. Mit anderen Worten, Herzl wollte einen Kongress, der die von ihm erdachte Society of Jews ins Leben rief. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1897 kam Herzl ein Hindernis nach dem anderen für seine Pläne in die Quere. Hermann Adler, der aschkenasische Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs, hatte von Anfang an nichts von der zionistischen Idee gehalten. In seinen Augen verstieß sie gegen die Grundsätze des jüdischen Glaubens, der die Tora und die Zehn Gebote, nicht die nationale Identität in den Mittelpunkt des Judentums stellte. Der Oberrabbiner von Wien, Moritz Güdemann, mag privat eine gewisse Sympathie für Herzl geäußert haben – Herzls Tagebücher behaupten dies, aber Güdemanns eigene Memoiren bestreiten es –, doch in der Öffentlichkeit verurteilte er den Zionismus, sei es aus Überzeugung oder aus Sorge, damit einen unbeliebten Standpunkt einzunehmen. Der Kongress sollte in München stattfinden, da die Stadt aus Osteuropa bequem mit der Bahn erreichbar war und weil sie angemessene, koschere Speisemöglichkeiten zu bieten hatte. Die lokale jüdische Gemeinde der Stadt weigerte sich jedoch, ihn auszurichten. Im Juli gaben fünf prominente deutsche Rabbis – zwei orthodoxe und drei liberale – eine gemeinsame Stellungnahme ab, in der sie den Zionismus als Verstoß sowohl gegen die jüdischen religiösen Bräuche als auch gegen die Pflicht der Juden, ihre Vaterländer zu ehren, verunglimpften. Diese Angriffe machten Herzl physisch zu schaffen. Seit Herbst 1895 hatte er unter Herzklopfen und Erschöpfungszuständen gelitten, und im März des folgenden Jahres diagnostizierte Herzls Familienarzt eine Herzerkrankung bei ihm und warnte ihn vor den potenziell gefährlichen Konsequenzen. 124

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Ende 1896 stürzte Herzl in eine Depression, weil er überzeugt war, dass seine Mission gescheitert war. Er setzte seinen letzten Willen und ein Testament auf. Voller Verbitterung, Selbstmitleid und mit einer Spur Paranoia bezüglich der ungebärdigen Menge, die zu führen ihm bestimmt war, schrieb er: »Auch die Zustimmungskundgebungen machen mir ja kein Vergnügen«, »weil ich hinter der Masse, die mir Beifall zollt, auch schon die Undankbarkeit, den kommenden Neid u. den möglichen Wankelmuth des morgigen Tages sehe.«21 Selbst nachdem die Bewegung gut gestartet war, blieb Herzl in dieser trübseligen Stimmung. Ende 1898 klagte er: »Welche dumpfe, namenlose Kämpfe ich um jeden kleinen Schritt, den ich machte, bestehen musste, werden die undankbaren Juden, die mich bald nach dem Erfolg anfeinden werden, nie ahnen u. nie einsehen.«22 Herzl war ein ausnehmend ängstlicher Mensch. Häufig steigerte er sich in eine Panik hinein, weil er befürchtete, dass Bacher und Benedikt ihn aufgrund seines Engagements für die zionistische Bewegung in Kürze entlassen würden. Aber er würde eher seinen Traumjob riskieren, als den Zionismus aufgeben, der zur Quelle seiner Identität, seines kreativen Drangs und Lebenswillens geworden war. Herzl nahm die Rolle des Märtyrers für eine große Sache an, eines Moses, der sein Volk anführen, das Gelobte Land jedoch nie selbst betreten sollte. Im März 1898 verglich sich Herzl ausdrücklich mit Moses, als er darüber nachdachte, einen Roman über den biblischen Helden zu schreiben, der eindeutig Bezüge auf sich selbst enthielt: »Ich denke mir ihn als einen grossen, lebensstarken, überlegenen, humorvollen Menschen. Das Drama, wie er innerlich mürbe wird u. doch an seinem Willen sich aufrechthält. Er ist der Führer, weil er es nicht sein will. Es ordnet sich ihm alles unter, weil er keinen persönlichen Wunsch hat. Ihm ist es nicht um das Ziel, sondern um die Wanderung zu thun. Erziehung durch die Wanderung. … Der alternde Moses erkennt immer wieder Korah, das Kalb, immer dieselben Sclavenzüge. Er wird von alledem müde u. muss sie doch mit immerneuer Frische weiterlocken. Es ist die Tragödie des Führers, jedes 125

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rers von Menschen, der kein Verführer ist.«23 Herzl behauptete, er habe als Kind geträumt, dass der Messias ihn Moses vorgeführt habe. Ob das nun stimmt, sei dahingestellt, doch bis Herzl Mitte dreißig war, betraf das Judentum lediglich seine persönliche Identität, nicht seine öffentliche, und es war eher ein Quell der Scham und Angst als des Stolzes und der Anteilnahme. Aber seit Ende 1895 schrieb und sprach Herzl häufiger darüber, was Judentum für ihn bedeutete und was es anderen bedeuten sollte. Im November 1896 hielt Herzl einen Vortrag in der österreichisch-israelitischen Union, der später unter dem Titel »Judentum« in einer österreichisch-jüdischen Wochenzeitung veröffentlicht wurde. Judentum ist ein zweideutiges Wort, das sich sowohl auf den Judaismus als Religion als auch auf die Juden als Kollektiv beziehen kann. Aus dem Inhalt des Artikels geht eindeutig hervor, dass Herzl Letzteres meinte, genau wie sein Pamphlet Der Judenstaat keinen »jüdischen Staat« im religiösen Sinn meinte. Herzl sprach über die enorme Kraft des Judentums, in all den Jahrhunderten der Verfolgung zu überdauern, und erklärte: »Darum wollen wir uns wieder in das Judentum zurückziehen und uns aus dieser Burg nicht mehr werfen lassen.« Aber was bedeutete es denn nun, Jude zu sein? Herzls Definition war völlig funktional: »Wir bleiben wahrnehmbar, wir sind eine Gruppe, eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehört und einen gemeinsamen Feind hat, das scheint mir die ausreichende Definition für die Nation zu sein. Ich verlange von der Nation nicht eine Gleichsprachigkeit oder vollkommen gemeinsame Merkmale der Rasse. Diese ganz ruhige Definition genügt für die Nation. Wir sind eine erkennbar zusammengehörende historische Gruppe von Menschen, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten werden. Das sind wir, ob wir es leugnen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht.«24 Sogar in einem Vortrag über das Wesen des Judentums hatte Herzl wenig Konkretes über die jüdische Besonderheit des Geistes oder des Glaubens zu sagen, konzentrierte sich stattdessen auf die externen 126

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Faktoren, die Juden als ein Volk definieren. Seinen geschätzten Themen Technologie und Geopolitik schenkte er ebenfalls viel Aufmerksamkeit. Die Druckerpresse, der Telegraf und die Eisenbahn, europäische koloniale Eroberungen in Afrika und der chinesisch-japanische Krieg fasste er zusammen als Beweis dafür, dass die Wiederherstellung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina ebenso durchführbar wie notwendig sei. Herzls frühe zionistische Schriften ignorierten keineswegs den Faktor Religion, doch für ihn hatte sie wenig mit Transzendenz, Vorsehung oder Verpflichtung zu tun. Sie bildete vielmehr den Rahmen, innerhalb dessen kollektive Identität Gestalt annimmt. Herzls Wertschätzung für diesen Aspekt des Judentums geht aus seiner aufschlussreichen Kurzgeschichte »Die Menorah« hervor, die im Dezember 1897 veröffentlicht wurde. Um diese Zeit hatte er bereits aufgehört, Weihnachten zu feiern, und Chanukka hatte für ihn eine neue Bedeutung gewonnen. »Die Menorah« ist eine schmerzhafte autobiographische Geschichte über einen Künstler in einer psychischen Krise: »Es war ein Mann, der hatte die Not ein Jude zu sein, tief in seiner Seele empfunden.«25 Ein erfolgreicher Künstler leidet unter dem Antisemitismus und ist auf der Suche nach seiner eigenen Identität. Diese Identität findet er, indem er das Leid seiner Mitjuden teilt, bis seine Seele »eine einzige blutende Wunde« war. Nur indem er die lange Leidensgeschichte des jüdischen Volkes annimmt, kann er seine eigenen Qualen beenden. In Anbetracht der Tatsache, dass Herzl selbst ein tief unglücklicher Mensch war, geplagt von Depressionen und einer toxischen Ehe, war es nicht nur heroisch, sich ganz einer nationalen Sache zu verschreiben, sondern auch eine Form von Therapie. Von Sommer 1896 an verbesserte sich Herzls Beziehung zu Julie, teils weil er sich persönlich erfüllter fühlte, teils weil er kaum zuhause war. Die Spannungen zwischen den beiden blieben jedoch bestehen. Julie billigte Herzls zionistische Aktivitäten jedoch niemals, denn die Bewegung verschaffte ihrem Mann den Ruf, ein Fantast zu sein, und brachte ihn in die Nähe von Menschen unter seinem und Julies gesellschaftlichem Stand. 127

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Schlimmer noch, er unterstützte die aufkeimende Bewegung nicht allein mit seinen eigenen Mitteln, sondern auch mit Julies Mitgift. Sollte Herzl seine Stelle bei der Neuen Freien Presse verlieren, wären sie finanziell ruiniert. Erwin Rosenberger, ein Medizinstudent und Redakteur der zionistischen Zeitung Die Welt, erinnerte sich an einen Tag, an dem die beiden Männer im eleganten Heim der Familie in der Berggasse an der Zeitung arbeiteten. Julie habe sich Herzl von hinten genähert, ihn sanft auf den Hals geküsst und gefragt, warum ihn wohl alle so sehr mochten.26 Der noch junge Rosenberger, der Herzl geradezu verehrte, deutete Julies Bemerkung als Zeichen der Zuneigung, dabei war sie wohl viel eher ein Ausdruck des Unverständnisses, wenn nicht offener Feindseligkeit. Herzl ließ sich von Julie nicht aus der Fassung bringen, beschwerte sich jedoch häufig bei ihr über seinen Zustand der Überarbeitung und Ermüdung. Auch versprach er ihr, sich von der zionistischen Tätigkeit zurückzuziehen und mehr Zeit mit ihr und den Kindern zu verbringen, sobald er sicher sein könne, dass sein Projekt Erfolg haben werde. Da Herzl ähnliche Aussagen in sein Tagebuch schrieb, kann man davon ausgehen, dass er selbst glaubte, er meine es auch so. Herzl hielt sich auch für einen liebevollen Vater, dabei verbrachte er kaum Zeit mit den Kindern. Im Juni 1897 notierte er, dass sein Sohn Hans sieben werde, obwohl der Junge in Wirklichkeit seinen sechsten Geburtstag feierte. Nichtsdestotrotz schilderte Herzl seine Kinder in Feuilletons für die Neue Freie Presse verständnisvoll und mit viel Einfühlungsvermögen. Er schwärmte von ihrer sprachlichen und künstlerischen Entwicklung und äußerte sich besorgt um ihr Wohl. (In einem besonders makabren Feuilleton von 1896 schrieb Herzl über einen Wachalptraum, in dem er sich den Tod seiner Tochter Trude vorstellte.) Man mag diese öffentlichen Zurschaustellungen großer väterlicher Liebe als journalistische Konvention abtun, aber Herzl war tatsächlich ganz außer sich, als seine Tochter Pauline im Juni 1898 schwer erkrankte. Über einen Monat lang blieb er zu Hause und schrieb auch nicht in sein Tagebuch. Die zionistischen Angelegenheiten legte er in dieser Zeit in die Hände Wolffsohns 128

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und informierte diesen auch über den Gesundheitszustand seiner Tochter. Mitte August hatte sich Pauline wieder erholt, und Herzl war schon bald wieder unterwegs. Er kehrte in die Rolle des abwesenden Vaters zurück, der Pauline schrieb, er sei zu beschäftigt, um ausführlich auf ihre Briefe zu antworten. Mit Intensivierung seiner zionistischen Tätigkeit verschwammen bei Herzl nach und nach die Trennlinien zwischen seinen zionistischen Schriften und den Feuilletons für die Neue Freie Presse. Einige Feuilletons brachten immer wieder Herzls abgedroschenen vorzionistischen Erlebnisse und Sentiments. Etwa in der Geschichte »Sarah Holtzman« (1896), in der die unwiederbringlich verlorene junge Frau aus Herzls Vergangenheit die Gestalt eines hübschen Mädchens mit traurigem Gesicht annimmt, deren ordinäre, juwelenbehängte Mutter eine Affäre hat. Der Erzähler ist ein Freund der Familie, ein geplagter und sich abrackernder Künstler – ein Platzhalter für Herzl selbst –, dessen Liebe zu dem Mädchen ebenso onkelhaft wie romantisch ist. Zwei andere Feuilletons aus dem Jahr 1896 spielten jedoch offensichtlich auf die jüngste Veränderung in seinem eigenen Leben an. Das erste handelt von einem unglücklich verheirateten Mann, der versucht sich zu ertränken, aber gerettet wird und aus der Erfahrung gestärkt hervorgeht: »Denn die Verzweiflung ist ein kostbarer Stoff, aus dem sich die herrlichsten Dinge erzeugen lassen: Muth, Standhaftigkeit, Aufopferung… Den Störrigsten empfahl ich, ihren Untergang in einer großen Aufgabe zu suchen, und die haben es am weitesten gebracht. … Und blicke ich zurück in die Vergangenheit, so meine ich, dass alle großen Menschen der Geschichte einmal am letzten Ufer waren und umkehrten, damit ihre Verzweiflung Früchte trage.27 In der zweiten Geschichte mit dem Titel »Das lenkbare Luftschiff« ist der Held ein fünfunddreißigjähriger Mann, der einen Flugapparat entwickelt und von seiner Erfindung so überwältigt ist, dass er in Tränen ausbricht. Er bemüht sich, für die Konstruktion Millionen Gulden aufzutreiben, wird aber von Freunden, Kollegen und sogar von der Frau, die er liebt, verspottet. Der Mann wird in ein Irrenhaus eingeliefert, doch 129

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täuscht er dort eine ruhige Ernsthaftigkeit vor, damit er wieder entlassen wird. Mit verschiedenen Erfindungen verdient er anschließend ein Vermögen, und die Frau, die ihn zurückwies, fleht ihn an, er möge sie zurücknehmen, doch er gibt ihr einen Korb. Er zieht sich auf eine noch unentdeckte Insel zurück und lässt dort das Schiff in die Luft steigen. »Das lenkbare Luftschiff« hangelt sich eng an Herzls eigener Lebensgeschichte und Selbstwahrnehmung, und das Ende, zu dem der Erfinder und seine Erfindung entschwinden, illustriert Herzls Ängste, dass sich sein zionistisches Projekt womöglich als undurchführbar erweisen werde. Eine weitere Verschmelzung von Herzls zionistischer und journalistischer Tätigkeit lässt sich anhand seines Wirkens für die Wochenzeitung Die Welt, die am 4. Juni 1897 zum ersten Mal erschien, beobachten. Herzl beaufsichtigte die Redaktion und die Herstellung, hatte allerdings Helfer, darunter Saul Landau und Erwin Rosenberger. Wie die erste Ausgabe ausdrücklich erklärte, verfolgte die Zeitung das Ziel, den Zionismus zu propagieren, eine Heimat für jene Juden zu schaffen, »die sich an ihren jetzigen Wohnorten nicht assimiliren können oder wollen«.28 Stolz bezeichnete sie sich als »Judenblatt« und vereinnahmte dieses antisemitische Etikett für sich. Die Wochenzeitung sollte »das Blatt der Armen, der Schwachen, der Jungen, aber auch aller derjenigen [sein], die sich, ohne selbst in bedrängter Lage zu sein, zu ihrem Stamm heimgefunden haben«. Herzl trieb das noch auf die Spitze, indem er die erste Seite auf gelbem Papier druckte, der Farbe des mittelalterlichen Judenmals. Ungeachtet der dezidiert jüdischen Botschaft und des Inhalts erklärte die Zeitung den Zionismus zu einer universalen Sache, »wohl geeignet, edlere Menschen – sie seien Christen, Mohammedaner oder Israeliten – zu begeistern«.29 In diesem Geist brachte eine frühe Ausgabe einen Artikel von Pater Ignatius, einem walisischen christlichen Zionisten. »Die göttliche Wahrheit«, schrieb er, »ist bereits durch die Juden allen Völkern der Erde bekannt gemacht. Der Name Zion wurde zum Segen und zur Erleuchtung für ungezählte Myriaden. … Die Juden sind Gottes auserwähltes Werkzeug: Sie haben, wie 130

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es ja ihre Propheten vorausgesagt, genug Wunderbares erfüllt unter den Völkern der Erde, und sie werden auch in der Zukunft die übrigen Weissagungen erfüllen.«30 Herzls Name erschien aus Rücksicht auf seine antizionistisch gesinnten Arbeitgeber bei der Neuen Freien Presse nicht im Impressum, doch im ersten Heft steuerte er den Leitartikel unter seinem eigenen Namen bei. Danach schrieb er bisweilen anonym oder unter dem Buchstaben »H.«, einige der schrillsten Beiträge wurden jedoch unter seinem hebräischen Namen Benjamin Zev veröffentlicht. Herzl bemühte sich nicht mehr, seine jüdische Identität zu verbergen, wie er es noch getan hatte, als er 1894 seinen Freund Schnitzler bat, das Stück Das neue Ghetto dem Burgtheater vorzuschlagen. Auf den Seiten der Welt griff Herzl Antizionisten, die sich für die Assimilation aussprachen, scharf an. Eine Tirade dieser Art vom September 1897 mit dem Titel »Mauschel« verweist auf das deutsche Schimpfwort für Juden, das untrennbar mit den Konnotationen Gerissenheit, Betrug und Unaufrichtigkeit verbunden ist. Der Infinitiv »mauscheln« transportiert Doppelzüngigkeit und unehrenhaftes Verhalten. Indem er das Substantiv »Mauschel« gebraucht, verkündet Herzl: »Mauschel ist in der Armut ein erbärmlicher Schnorrer, im Reichtum ein noch erbärmlicherer Protz.« Der Unterschied zwischen einem guten Juden und einem schlauen Mauschel bestand demnach darin, dass Letzterer ehrlos war: »Was heißt Ehre? Wozu braucht man die Ehre? Wenn die Geschäfte gehen und man gesund ist, lässt sich das übrige ertragen.« Herzl kommt zu folgendem Schluss: »Kein wahrer Jude kann Antizionist sein, nur Mauschel ist es.«31 Herzl war bereit, sogar erpicht darauf, sich bei dem bevorstehenden internationalen Zionistenkongress auf der Weltbühne als Jude zu präsentieren. Er fand in dem extrovertierten Nordau, der Herzls Einschätzung in Der Judenstaat eifrig beigepflichtet hatte, dass die Juden fast zweitausend Jahre lang wie »Kriegssklaven« gelebt hätten, einen Seelenverwandten. Nordau fügte noch hinzu, dass die Juden »nur durch eine Kriegsthat wieder freie Maenner werden koennen«.32 Nordau betrachtete den Kongress als eine Chance, die jüdischen 131

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sen über die Notwendigkeit einer mutigen zionistischen Geopolitik zu belehren, welche Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich, Großbritannien und Russland beinhalten werde. Während Nordau und Herzl ihre Ansichten über die Funktion des Kongresses diskutierten, sahen russische Zionisten das Potenzial einer Katastrophe. Menachem Ussischkin fürchtete, man werde den Zorn des russischen und osmanischen Regimes provozieren. Laut der Aussage Joschua Buchmils, eines russischen Kongressdelegierten, der seinerseits Herzl unterstützte, hielten russische Zionisten Herzl für einen »merkwürdigen und speziellen Träumer, einen wütenden Wahnsinnigen, dessen lautes Gebrüll lediglich alles niederreißen werde, was Baron Rothschild mit seinem Geld aufgebaut habe«.33 Viele russische Zionisten erklärten sich dennoch bereit teilzunehmen, auch wenn Herzl noch Ende Juli nicht wusste, wo der Kongress stattfinden würde, weil die jüdische Gemeinde von München sich geweigert hatte, die Durchführung in ihrer Stadt zu gewähren. Ursprünglich hatte Herzl erwogen, die Veranstaltung in Zürich zu organisieren, entschied sich aber wegen der recht großen Gemeinde exilierter russischer Revolutionäre in der Stadt dagegen. Er nahm die Bedenken seiner russischen Kollegen durchaus ernst und wollte nicht das Misstrauen der zaristischen Regierung schüren. Da München nicht infrage kam, wählte Herzl Basel, eine verschlafene Stadt mit einer kleinen jüdischen Gemeinde und einem gefügigen Oberrabbiner. In der Schweiz war es illegal, Tiere koscher zu schlachten, aber man konnte Fleisch aus Deutschland importieren. Der Veranstaltungsort, den Herzls Vertreter in Basel für die Zusammenkunft angemietet hatte, entpuppte sich als heruntergekommenes Varietétheater, doch das Stadtcasino, ein öffentliches Gebäude mit einem großen Konzertsaal, war eine attraktive und verfügbare Alternative. Gut zweihundert Teilnehmer kamen zu dem Kongress. Im Vorfeld hatten keine Wahlen stattgefunden, also konnten die Teilnehmer nicht als Delegierte im formalen Sinn angesehen werden. Etwa siebzig Teilnehmer repräsentierten jüdische Gemeinden oder Organisationen, und die übrigen, darunter zehn 132

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nichtjüdische Sympathisanten, hatte Herzl selbst eingeladen. Ungefähr ein Drittel der Teilnehmer kam aus Osteuropa. Mit Blick auf die Gesamtstärke der zionistischen Bewegung waren Deutschland mit zweiundvierzig Teilnehmern, die Schweiz mit dreiundzwanzig und Frankreich und Großbritannien mit je elf Teilnehmern stark überrepräsentiert. Rund zwanzig Frauen waren unter den Teilnehmern. Julie Herzl gehörte nicht dazu. Sie weigerte sich, an einem in ihren Augen lächerlichen Spektakel teilzunehmen, das zudem ihr Familienvermögen aufzehrte. Herzl quartierte sich allein im Gasthof zu den drei Königen ein, mit Blick auf den Rhein und zu Fuß nur zehn Minuten vom Stadtcasino entfernt. Die angenehmen Wetterbedingungen, gut zwanzig Grad Celsius, erleichterten es den versammelten Teilnehmern, Herzls Anweisung zu befolgen, zum Zeichen der Ernsthaftigkeit der Veranstaltung bei der Eröffnungssitzung am Vormittag des 29. August, einem Sonntag, Gesellschaftskleidung (mit Krawatte und Frack) zu tragen. In jeder Hinsicht inszenierte Herzl die Ästhetik und die Struktur der dreitägigen Zusammenkunft. Am Vortag ging er in die Synagoge und rezitierte die hebräischen Segenssprüche für die Tora-Lesung. Teils geschah dies mit Rücksicht auf die religiösen Empfindlichkeiten vieler Teilnehmer, teils aber auch aus Herzls aufrichtigem Gefühl der Rückkehr zum Judentum heraus. Bei der Eröffnungssitzung gestattete Herzl es dem chassidischen Juden Aron Marcus, einen Kaftan anstelle der Gesellschaftskleidung zu tragen. Um den Zionsfreunden entgegenzukommen, wurde die Eröffnungsrede von einem betagten Aktivisten der Organisation gehalten: Karpel Lippe aus Jassy, Rumänien. Herzl richtete es so ein, dass auf dem Kongress sowohl die vertrauenswürdigen Verbündeten als auch jene Gegenspieler zu Wort kamen, die angehört werden mussten. Das Programm musste streng eingehalten werden, es gab zeitliche Begrenzungen für die Reden und die Diskussion. In seiner Begrüßungsrede wies Herzl nüchtern darauf hin, dass es nach den ersten Reaktionen der Juden auf den modernen Antisemitismus von Verblüffung, Schmerz und Wut nun möglich sei, die Lage in 133

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aller Ruhe zu beurteilen und die gesammelte Energie des Kongresses auf die Entwicklung der effektivsten Maßnahmen zu bündeln, die eine jüdische Massenansiedlung in Palästina ermöglichten. Herzls Versuch, einen pragmatischen, möglichst wenig emotionalen Ton anzuschlagen, wurde jedoch umgehend von dem Gefühlsausbruch konterkariert, der seinen ersten Gang zum Rednerpult begleitete. Es gab einen Beifallssturm, Taschentücher wurden geschwenkt, Füße gestampft. Viele Männer griffen nach seinen Händen, manche küssten sie gar. Inmitten des Tumults, der eine Viertelstunde lang anhielt, schrieb der russische zionistische Journalist Mordechai BenAmi: »Das ist nicht länger der elegante Doktor Herzl aus Wien, es ist ein königlicher Spross Davids, dem Grabe entstiegen, der vor uns in der ganzen Größe und Schönheit erscheint, mit der die Legende ihn umgeben hat. Jeder ist ergriffen, als hätte sich ein historisches Wunder ereignet. … es war, als stünde der Messias, der Sohn Davids, vor uns.« Ben-Ami konnte sich nicht zurückhalten und rief »yehi hamelekh [lang lebe der König]!«; andere stimmten spontan ein.34 Max Nordau, der nach Herzl sprach, besaß ebenfalls Charisma. Sein Schlusswort über die ernste Gefahr, die den Juden auf der ganzen Welt drohe, und insbesondere den russischen Juden, vereitelte jedoch Herzls eigenes Bestreben, Russland möglichst nicht zu erwähnen, um die russischen Zionisten oder ihre Regierung nicht zu reizen. Doch von Nordau ging unleugbar eine Anziehungskraft aus, die von dem anglo-amerikanischen Zionisten Jacob de Haas wie folgt beschrieben wird: »ein radikaler Pariser Schriftsteller, charmant, breitschultrig, mit einem majestätischen Bart, einer der modernsten Intellektuellen, von dem man ein Jahr zuvor nicht einmal wusste, dass er Jude ist«. Mit »bebender Betonung stimmte er Jeremia an: ›Man hört Klagegeschrei und bittres Weinen in Rama: Rahel weint über ihre Kinder‹ [Jeremia 31,15]«, sowie die rabbinische Auslegung dieses Verses, die den Juden die Rückkehr nach Eretz Israel versprach.35 Einige osteuropäische Teilnehmer zeigten sich unbeeindruckt. Achad Ha-Am schnaubte, der Kongress hätte vielleicht 134

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einen gewissen Wert haben können, wenn er nur einen Tag gedauert hätte und rein symbolisch gewesen wäre. Als man zur organisatorischen Arbeit übergegangen sei, um die Schaffung eines jüdischen Staates zu fördern, habe man sich jedoch auf einen Irrweg begeben. Ein jüdischer Staat sei ein Ding der Unmöglichkeit, schrieb Achad Ha-Am, und selbst wenn es ihn gäbe, so wäre er schwach und winzig, ständig von seinen Nachbarn bedroht und zu einer Diplomatie »fortwährender Erniedrigung« gezwungen. Herzl verglich Achad Ha-Am mit dem notorischen falschen Messias Sabbatai Zvi aus dem 17. Jahrhundert. Reuben Ascher Braudes, der für die hebräische Zeitung Ha-Maggid über den Kongress berichtete, beschrieb Herzls erste Rede lauwarm als »nett«, Nordaus Worte hingegen als »direkt wie ein Pfeil«. Seine allgemeine Einschätzung fiel jedoch positiv aus: »Der Kongress war wie ein wunderbarer Traum, ein fabelhaftes, himmlisches Schauspiel. … Es war ein außergewöhnliches Ereignis, nicht weil es zu großartigen Entscheidungen gelangt wäre, irgendwelche großartigen Debatten erlebt hätte oder großartige Erkenntnisse hervorgebracht hätte, sondern allein an und für sich. … Es genügt unserem Volk zu wissen, dass es jetzt etwas hat, auf das es hoffen kann, dass es noch den Lebenswillen hat, dass es sein Schicksal selbst in die Hand genommen hat.«36 Viele andere jedoch waren von Herzls Charisma in denn Bann gezogen. Reuven Brainin, der für Ha-Melitz schrieb, schilderte Herzl als »den hebräischen Typus in seiner reinsten Form, mit einer seltenen Ausstrahlung, einer orientalischen Würde und zwei dunklen Augen, die wie Kohlen brennen«.37 Nachum Sokolow, der anfangs skeptisch gewesen war, änderte seine Haltung nach der Begegnung mit Herzl auf dem Kongress: »Und ich sah vor mir einen Mann, hochgewachsen … der erste Eindruck, den er auf mich machte, war der eines Mannes mit einem stattlichen, ernsten und nachdenklichen Antlitz. … Es war seine Art, dem Gesprächspartner direkt ins Gesicht zu starren, mit seinem stechenden, adlerähnlichen Blick, in seinen wunderschönen Augen und in der Stärke seiner Autorität. … Vom ersten Moment an entstand der Eindruck einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, seine äußere Gestalt hatte etwas 135

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von Leiden. Sein Kopf war groß und leicht oval, wunderbar symmetrisch, eine Mischung aus Stärke und Würde.«38 Herzl wurde erwartbar zum Präsidenten des Kongresses gewählt und hatte den Vorsitz über eine Reihe ernsthafter und bisweilen lärmender Diskussionen darüber, wie man die unzähligen zionistischen Gruppierungen weltweit zu einer vereinigten zionistischen Organisation zusammenfassen sollte. Neben der Schaffung einer Struktur für die neue Organisation debattierte der Kongress auch über das politische Programm. Es gab einen tiefen Graben zwischen jenen Teilnehmern, die ein Staatswesen anstreben und dieses Ziel auch ausdrücklich proklamieren wollten, und jenen, die es, sei es aus substanziellen oder taktischen Gründen, vorzogen, lediglich von einer Heimat zu sprechen. Herzl selbst wollte sich einen maximalen Verhandlungsspielraum mit den Großmächten sichern und tendierte deshalb zu Minimalismus. Das Programmkomitee, dem Nordau, Bodenheimer, Birnbaum und der Mathematiker Hermann Schapira angehörten, brachte in aller Eile einen Kompromiss zustande, der, nach weiteren Feinjustierungen durch das Plenum, fast ein halbes Jahrhundert lang zum offiziellen Programm der zionistischen Organisation werden sollte: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer (öffentlich-)rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Congress folgende Mittel in Aussicht: 1. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden; 2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen; 3. die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins; 4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmung, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.«39 Jedes Wort dieses Programms formuliert einen Kompromiss zwischen den abweichenden Fraktionen – zwischen Befürwortern und Gegnern einer sofortigen Siedlungstätigkeit in Palästina; zwischen dem Streben nach einer zentralisierten zionistischen Organisation und nach der Autonomie aller nationalen 136

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Vereinigungen; und zwischen jenen, für die sich Zionismus nicht von der Förderung der hebräischen und jiddischen Kultur trennen ließ, und jenen wie Herzl, für die jüdische Kultur von weit geringerer Bedeutung war. Um die Befürchtungen assimilierter Juden zu beschwichtigen, wiederholte der Kongress in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Die Welt, dass der Zionismus sich lediglich an jene Juden richte, die sich an ihren jeweiligen Wohnorten nicht assimilieren konnten oder wollten. Herzl erkannte, dass die osteuropäischen Juden den größten Teil der Unterstützung auf künftigen Kongressen und bei der Arbeit der neuen Zionistischen Organisation (ZO ) allgemein einbringen würden. Er wünschte sich jedoch auch die Freiheit, ungehindert zu handeln, und er war sich durchaus im Klaren, dass die osteuropäischen Zionisten seine diplomatischen Abenteuer misstrauisch, wenn nicht gar widerwillig beäugten – so wie er selbst den Eifer der Osteuropäer bei ihrer anhaltenden  Siedlungsaktivität in Palästina beobachtete. Folglich rief er zwei Exekutivkomitees ins Leben: ein kleines, fünfköpfiges, inneres »Actionscomité« mit Sitz in Wien, das im Wesentlichen zur Autorisierung seiner Initiativen dienen sollte, und ein »Großes Actionscomité«, das aus dem kleinen Komitee sowie achtzehn gewählten Vertretern bestand, von denen die Hälfte aus Russland, Galizien und Rumänien stammen sollte. (Im Gegensatz dazu erhielt Palästina nur einen Sitz, einen weiteren gab es für die Gesamtheit der Juden im Nahen Osten und in Nordafrika.) Bei den Orthodoxen sah sich Herzl mit einem weitaus heikleren Problem konfrontiert. Er wurde von einigen prominenten orthodoxen Rabbis unterstützt, wie dem französischen Oberrabbiner Zadoc Kahn, Shmuel Mohilewers in Białystok und Isaac Rulfs in Memel. In Der Judenstaat hatte Herzl jedoch ausdrücklich geschrieben, dass der neue Staat die Rabbis in ihren Synagogen zurücklassen werde, genau wie die Soldaten in den Kasernen blieben. Herzl wollte die Kontrolle über die aufkeimende Bewegung unbedingt fern von den Rabbinern halten. Er sorgte dafür, dass kein Rabbiner im kleinen Aktionskomitee der ZO saß und setzte nur zwei in das dreiundzwanzigköpfige große Komitee. 137

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Da er sich darüber im Klaren war, dass die meisten orthodoxen Juden den Zionismus ablehnten, wusste Herzl um die Bedeutung der Erklärung des Kongresses, wonach der Zionismus nichts beabsichtige, »was die religiöse Überzeugung irgend einer Richtung innerhalb des Judenthums verletzen könnte«.40 Es gab nur eine Gruppe, deren Empfindungen auf dem Kongress nicht berücksichtigt wurden: die Frauen. Zu Beginn des Kongresses erklärte Herzl gönnerhaft, Frauen seien als Gäste willkommen, hätten aber kein Stimmrecht. Laut Brainin akzeptierten »die Frauen, darunter Schriftstellerinnen und Intellektuelle, dies stillschweigend, aber mit gebrochenem Herzen. Ein männlicher Teilnehmer kommentierte: ›Wenn die Frauen keine Rechte haben, dann haben wir nichts gewonnen!‹«41 Eine weibliche Teilnehmerin, Marie Reinus, bestand darauf, selbst zu sprechen und abzustimmen. (Bei den Vorbereitungen für den Zweiten Kongress, nur ein Jahr später, wurde Frauen das Recht zugestanden, Kongressdelegierte zu wählen, darüber hinaus durften weibliche Delegierte abstimmen und im Plenum sprechen.) Dieser Akt der Rebellion durch zionistische Aktivisten gegen Herzl war nur der erste von vielen. Herzl hatte, wenn er seinen Willen bekam – und meistens war dies der Fall –, weder die vom Kongress, noch die von dessen neuen Institutionen getroffenen Entscheidungen allein zu verantworten. Die Verwaltungsstruktur der Zionistischen Organisation (ZO ) bildeten Komitees, unter anderem jenes, das die Haupteinnahmequelle der ZO begründete: einen jährlichen Mindestmitgliedsbeitrag namens Schekel, der vierzig russischen Kopeken oder einem britischen Shilling, einer deutschen Mark oder einem französischen Franc entsprach. Herzl verständigte sich mit anderen Zionisten über Initiativen wie eine Nationalbank oder einen Fonds für den Erwerb von Land und für die Wiederaufforstung. Aber Herzl allein hatte die Veranstaltung ersonnen, sie einberufen und publik gemacht; und unmittelbar nach der Schlusssitzung stürzte er sich auf die Produktion einer besonderen »Kongressausgabe« der Zeitschrift Die Welt, die die historische Zusammenkunft für die Juden auf der ganzen Welt dokumentierte. 138

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Ein volles Dutzend Journalisten vertrat auf dem Kongress die jüdische Presse, die ausführlich über die Debatten berichtete, wenn auch nicht immer positiv. Der jiddische Autor Scholem Aleichem verfasste ein Pamphlet über den Kongress, von dem rasch 30.000 Exemplare verkauft wurden. Die Berichterstattung schlug sich auch in aktivem Handeln nieder: In Osteuropa schnellte die Zahl der Ableger der Zionsfreunde, die weitgehend in die ZO eingegliedert wurden, von 1896 bis 1898 auf das Fünffache. Weniger erfolgreich hingegen waren Herzls Bestrebungen, mit Hilfe der Presse in der nichtjüdischen Welt Zustimmung zu seiner Bewegung zu generieren. Nahezu alle Journalisten in der internationalen Presse waren freie Mitarbeiter, die knappe, rein deskriptive Berichte für mehrere Zeitungen oder Nachrichtenagenturen einreichten. Die liberale und pro Dreyfus eingestellte Zeitung Le Matin drückte ihre Hochachtung für Herzl aus, hielt den ganzen Plan jedoch für exotisch. In den Vereinigten Staaten hatten die ersten Beschreibungen von Herzl in der New York Times eine eher kauzige Note: »Welche Vorzüge dieses Projekt auch haben mochte, der Doktor bringt den Elan der Reife und eine gehörige Portion unterschiedlicher Erfahrungen in dessen Durchführung ein. … Dr. Herzls Plan ist absolut praktisch – wie immer es um seine Durchführbarkeit bestellt sein mag.«42 Die Platzierung des Beitrags ist bezeichnend; sie wurde in die Rubrik »Topics of the Times«, also »Themen der Zeit« verlegt, die voller drolliger Leckerbissen über Inhalte wie Steuerhinterziehung durch die Gutachter von Lewiston in Maine steckten, oder Versuche Prinz Ferdinands von Bulgarien und des osmanischen Sultans, fähige Killer anzuwerben, oder auch eine ungewöhnliche Freundschaft in einer lokalen Tierschau zwischen einem Nashorn und einer Katze. Immerhin verschaffte der Kongress Herzl einige nichtjüdische Freunde. Der prominente deutsche Orientalist Johannes Lepsius nahm daran teil, und seine Eindrücke, die wenige Monate nach Ende des Kongresses veröffentlicht wurden, deuteten an, dass er den Eifer der Zionisten teilte: »Wer den fanatischenthusiastischen Beifall, mit dem Dr. Herzl auf dem Kongress 139

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in Basel begrüsst wurde, miterlebt hat, musste den Eindruck gewinnen, dass hier nicht nur ein Parteiführer in die Mitte seiner Anhänger, sondern ein Herzog in die Mitte seiner Mannen trat.« Mit seiner »hohe[n], männliche[n] Erscheinung von klassischem semitischem Typus würde er auf dem ›Stuhl des Statthalters diesseits des Wassers‹ [Nehemia 3,7] im Ephraimtor zu Jerusalem, den einst Serubabel inne hatte, seinem Vorfahren keine Unehre machen. Aber auch das ruhige Ebenmass eines herrschenden Geistes und der sittliche Ernst, der über der Größe der Aufgabe sich selbst vergisst, scheint ihm eigen zu sein.«43 Herzls Wirkung auf Menschen spiegelte sowohl sein eigenes Charisma als auch die innersten Sehnsüchte seiner Gesprächspartner wider. Für Lepsius war Herzl ein biblischer König. Für osteuropäische Juden war er ein später Moses, aufgewachsen am Hof des Pharao, aber nunmehr zu seinem Volk zurückgekehrt. Für junge Zionisten wiederum war Herzl eine Vaterfigur, die Bewunderung und Ehrfurcht weckte. Frauen flirteten mit ihm und schickten ihm Liebesbriefe. In Erinnerungen wird Herzl meist als geradezu majestätisch hochgewachsen beschrieben, dabei war er in Wirklichkeit 1,70  Meter groß, also nur etwa 7,5 Zentimeter größer als der damalige durchschnittliche Mitteleuropäer. Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Nordamerikaner heute etwa 1,73 Meter groß ist, können wir uns – ins Verhältnis gesetzt –Herzl als etwas über 1,80 Meter groß vorstellen – eine keineswegs ungewöhnliche Größe. Allerdings ist ein Vater oder König immer in den Augen derer groß, die ihn verehren. In seinen eigenen Augen war Herzl mit Sicherheit ein Stück gewachsen. Am 3. September schrieb er in sein Tagebuch: Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen. Der Staat ist wesentlich im Staatswillen des Volkes, ja selbst eines genügend mächtigen Einzelnen (l’état c’est moi Ludwig XIV .) begründet. Territorium ist 140

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nur die concrete Unterlage, der Staat ist selbst wo er Territorium hat immer etwas Abstractes. … Ich habe also in Basel dieses Abstracte u. darum den Allermeisten Unsichtbare geschaffen. Eigentlich mit infinitesimalen Mitteln. Ich hetzte die Leute allmälig in die Staatsstimmung hinein u. brachte ihnen das Gefühl bei, dass sie die Nationalversammlung seien.44 Es oblag jedoch Nordau, die vollen Konsequenzen des Kongresses für Herzl als Person zu erkennen. Indem er einräumte, dass er selbst nicht bereit sei, Herzls Engagement in diesem Ausmaß für die zionistische Sache zu teilen, warnte Nordau: Es steht Jedem frei, Bewegungen wie den Zionismus nicht anzuregen. Es steht Niemand frei, sich von einer derartigen Bewegung, wenn er sie einmal angeregt und in Fluss gebracht hat, leichten (oder meinetwegen selbst schweren) Herzens loszusagen. Nur der Tod kann von den selbstübernommenen Pflichten befreien. Jede andere Form der Selbstbefreiung heisst – Abfall. Das ist mir so klar, dass ich deshalb um keinen Preis eine amtliche Führerrolle übernehmen möchte, sondern immer nur der Freiwillige Helfer meiner Freunde bleiben will. Ich weiss nicht, ob Sie den Brief aufbewahrt haben, den ich Ihnen schrieb, als ich »Judenstaat« gelesen hatte. Dort sagte ich Ihnen voraus, was künftig Ihr Leben sein werde. Ich sah die Tragic Ihrer Entschlüsse. Darum grüsste ich einen Helden, fast einen Moritorus. Jacon kann die Argos nicht auf halber Fahrt verlassen. Er muss siegen oder sterben. Das liegt in der Definition des Wortes Heros. Rechnen Sie stets damit.45 Herzl trug tatsächlich dem Ernst seiner Entscheidungen Rechnung. Im Jahr 1898 war er, in seinen Augen und in den Augen seiner Anhänger, zu etwas geworden, das der Philosoph Hegel eine welthistorische Figur, einen Gestalter der menschlichen Angelegenheiten nannte. Es gab kein Zurück.

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Herzl im Gespräch mit Kaiser Wilhelm II. auf seiner Palästinareise. Bei dem Foto handelt es sich um eine Montage aus zwei Fotos. Das Treffen hatte tatsächlich so stattgefunden, doch es war dem Fotografen, David Wolffsohn, misslungen, Herzl und den Kaiser auf einem Foto abzulichten (1898).

Kapitel 5

Der Griff nach den Sternen

Zwischen 1898 und 1901 war Herzls zionistische Karriere auf dem Zenit angelangt. Die Zionistenkongresse, die weiterhin regelmäßig tagten, waren nur die Spitze des Eisbergs. In der Zentrale der Zionistischen Organisation in Wien und in den Hauptbüros der zionistischen Vereinigungen in Deutschland und Großbritannien herrschte ein hektisches Treiben. Herzl beaufsichtigte die Gründung einer zionistischen Bank, eines Fonds für den Kauf von Land in Palästina und eine Flut an Initiativen, um in Europa und Nordamerika Unterstützer für den Zionismus anzuwerben. Und die Hauptsache: Dies waren die Jahre, in denen Herzl endlich Audienzen beim deutschen Kaiser und beim osmanischen Sultan gewährt wurden. In einer farbenfroheren und dramatischeren Szenerie als in allen seinen Stücken oder Geschichten begegnete Herzl in Palästina Kaiser Wilhelm II . unmittelbar vor den Stadtmauern Jerusalems und Sultan Abdul Hamid II . in der Pracht des Yildiz-Palastes in Konstantinopel. Herzl war überzeugt, dass der Sieg nun zum Greifen nahe war und dass Palästina ein deutsches Protektorat oder ein osmanischer Vasall werden würde. Herzls gesellschaftliches Umfeld beschränkte sich nicht auf die zionistische Bewegung. Er und Nordau waren weiterhin Seelenverwandte. Nichtsdestotrotz blieb eine gewisse Förmlichkeit in ihrer Beziehung erhalten, wie etwa daraus hervorgeht, dass sie sich durchweg mit »Sie« anredeten. Allerdings knüpfte Herzl zu zwei anderen Männern eine engere Beziehung. Im Jahr 1903 wechselte Herzl nach Jahren der Bekanntschaft zum Du, wenn er Alexander Marmorek schrieb, einem Arzt und Bakteriologen, den Herzl in Wien über die Studentengruppe Kadimah kennengelernt hatte und der im großen Aktionskomitee der ZO tätig war. Herzl bewunderte Marmorek für sein Engagement bei der Suche nach einem Heilmittel gegen Tuberkulose und schrieb: »Ich liebe ihn sehr.«1 Herzls 143

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engster Kollege, oder zumindest die Person, auf die er sich am stärksten verließ, war jedoch David Wolffsohn. 1898 fing Herzl an, ihn mit dem Kosenamen »Daade« anzusprechen, und zwei Jahre später gingen die beiden Männer in ihrer umfangreichen Korrespondenz zum Du über. Wolffsohn war ein unkomplizierter, umgänglicher Mensch, und er und seine Frau Fanny kamen immerhin so gut mit Julie aus, dass die Herzls und die Wolffsohns gelegentlich miteinander essen gingen. Während Herzl Nordau mit tiefem Respekt behandelte, schwankte sein Ton gegenüber Wolffsohn zwischen herablassender Vertraulichkeit und einem aus Frustration und Enttäuschung geborenen Zorn. Er lobte Wolffsohn zwar für seinen Eifer, doch Herzl konnte rasch gebieterisch werden und warf Wolffsohn Unfähigkeit, Kleinmut und Illoyalität vor. Häufig schrieb Herzl, Wolffsohn dürfe nie vergessen, dass er der Stellvertreter und Herzl der Führer sei, weil nur er den Mut und die Ausdauer besitze, mit dem außerordentlichen Druck fertigzuwerden, der auf ihm laste. Gereizt schrieb Herzl an Wolffsohn, dass er sich, im Gegensatz zu vielen unentschlossenen, risikoscheuen zionistischen Kollegen, »nämlich nicht in die Hosen scheisse«.2 Herzls Gefühl, dass es seine Pflicht sei, außergewöhnliche Aufgaben auf sich zu nehmen, erstreckte sich auch auf seine Familie. Häufig schrieb er an Freunde – und in sein Tagebuch –, dass er die Neue Freie Presse verlassen würde, wenn er nicht seine Frau und Kinder ernähren müsste. Im Januar 1900, als eines seiner Kinder an einer Lungenentzündung erkrankte, und zwei Jahre später, als Julie krank wurde, blieb er zu Hause, bis sie wieder so weit genesen war, dass er auf Reisen gehen konnte. Unablässig machte er sich Gedanken über die finanzielle Zukunft der Kinder nach seinem Tod. All diesen Demonstrationen väterlicher Zärtlichkeit und Autorität zum Trotz irrte er sich doch ständig beim Datum von Hans’ Geburtstag und legte auch kein großes Interesse bei der Erziehung seiner Kinder an den Tag. Während eines kurzen Besuchs zu Hause Anfang 1901 bat Herzl seine Kinder jedoch, dem deutschen Gebet, das sie für gewöhnlich vor dem Schlafengehen aufsagten, ein 144

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isches hinzuzufügen. Wenn Herzl an seine Kinder dachte, sah er sie meist als Reflexion seiner selbst. Im Mai 1901 etwa schrieb er kurz vor seiner Abreise von Wien nach Konstantinopel, die Kinder ahnten ja nicht, welches großartige Schicksal ihren Vater erwarte. Herzls Tätigkeit für die Neue Freie Presse bereitete ihm ebenfalls unablässigen Stress. Zusätzlich zum eigenen regelmäßigen Schreiben von Feuilletons war Herzl für die Kontrolle der Texte verantwortlich, die im Feuilleton der Zeitung eingingen. Dazu zählten Essays und Rezensionen in den Gesellschafts- und Naturwissenschaften ebenso wie Belletristik und die schönen Künste. Herzl beaufsichtigte die Arbeit von Schreibern vom ganzen Kontinent. (Einer von ihnen war Nordau, der von Paris aus unablässig über die unzureichende Bezahlung und die einengende redaktionelle Kontrolle klagte.) Arbeitsmüdigkeit führte jedoch keineswegs zu vermindertem Ehrgeiz. Ende 1899 mutmaßte Herzl, dass Bacher in Kürze in den Ruhestand gehen werde, und drohte, die Zeitung zu verlassen, wenn man ihm nicht dessen Posten übertrage. Bacher ging jedoch nirgendwohin, also versuchten er und Benedikt, Herzl zu besänftigen, indem sie ihm das »höchste Gehalt« bewilligten, das ein Mitarbeiter der Neuen Freien Presse bekam: »um 3000 fl [Gulden] mehr als [Hugo] Wittmann hat«.3 Die Stelle hatte auch andere Vorteile. Zum einen verschaffte sie Herzl Zugang zur österreichischen Regierungselite. Kurz nach Amtsantritt Anfang 1900 bat Ernest von Koerber, der österreichische Regierungschef, Herzl um Rat wegen eines Vorschlags für die Wiener Wahlreform. Wenige Wochen danach schrieb Herzl eine lange Rede für Koerber, die dieser im Parlament zu der wohl heikelsten Frage des Reichs halten wollte: über den offiziellen Status der vielen Sprachen, die in der österreichischen Hälfte der Monarchie gesprochen wurden. (Insbesondere tschechische Nationalisten forderten besonders nachdrücklich, Schulunterricht und Verwaltung in ihrer Sprache zu ermöglichen.) Genaugenommen verwendete Koerber kaum etwas von Herzls Text, abgesehen von einer nichtssagenden, blumigen Erklärung am Ende. Herzl war über die 145

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zung gekränkt und schrieb in sein Tagebuch, dass er sich nur deshalb beim Regierungschef einschmeichle, damit dieser beim österreichischen Außenminister Graf Agenor von Goluchowski ein gutes Wort für ihn einlegte. Letzterer wiederum werde, so hoffte Herzl, daraufhin beim osmanischen Sultan in Herzls Namen vorstellig werden. Herzl träumte weiterhin davon, sein eigener Herr zu sein und sich Zugang zu einer großen Zeitung zu verschaffen, welche die zionistische Sache verbreiten könne. Dem Journalismus zu entfliehen war dabei gar nicht das erklärte Ziel, vielmehr suchte er die Beschränkungen seines Jobs zu überwinden, indem er entweder einen Anteil an der Zeitung seiner Arbeitgeber erwarb oder seine eigene Zeitung gründete. Vom eigenen Aufstieg keineswegs besänftigt, unternahm Herzl einen weiteren Versuch, der Verleger einer eigenen Zeitung zu werden, die nominell unabhängig sein sollte, jedoch mit der Regierung sympathisierte. Dieses Mal hatte er sich in Graf Leopold Auersperg einen Schirmherrn gesucht, einem prominenten Industriellen, der eine Versicherungsgesellschaft und eine Munitionsfabrik besaß. Auersperg versammelte ein Konsortium an Investoren, und die Verhandlungen dauerten von Oktober 1900 bis Januar 1901. Während dieser Zeit blieben Herzl und Koerber in engem Kontakt, sogar so vertraut, dass Herzl eines Abends beim privaten Wohnsitz des Regierungschefs vorbeischaute, der ihn in Unterhemd und Pantoffeln begrüßte. Die Verhandlungen um die Zeitung waren so zeitraubend, dass Herzl darüber die zionistische diplomatische Arbeit vernachlässigte, doch er versprach sich davon einen großartigen Fortschritt, der ihm eine so viel einflussreichere Position verschaffen würde. Doch das Projekt scheiterte. Anfangs gab Herzl sich selbst die Schuld, weil er ein zu hohes Gehalt verlangt habe; dann spekulierte er, dass seine zionistische Tätigkeit die Investoren womöglich abgeschreckt habe. Herzl erkannte frustriert, dass er für die österreichischen Magnaten nur wegen seiner Verbindung zur Neuen Freien Presse von Interesse war, mit deren Kauf die Investoren liebäugelten. Nur zu diesem Zweck wollten sie Herzl als ihren Agenten nutzen. 146

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Nach dem Scheitern hatte Herzl das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Er sehnte sich danach, Wien zu verlassen, und London schien ihm eine reizvolle Alternative. Am Ende des Jahrhunderts hatte Herzl allmählich den Eindruck gewonnen, dass das Schicksal der zionistischen Bewegung von ihrer Beziehung zum Vereinigten Königreich abhängen werde. Er forderte von Bacher und Benedikt, dass sie ihn von Wien nach London versetzten, wo er die öde Arbeit des Feuilletonredakteurs hinter sich ließe und zum Status eines Auslandskorrespondenten wie seinerzeit in Paris zurückkehrte. Die Herausgeber waren geneigt zuzustimmen, doch Herzls Eltern weigerten sich, noch einmal in ein fremdes Land zu ziehen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als in Wien zu bleiben. Zusätzlich zu diesen beruflichen Enttäuschungen verliefen Herzls Versuche, an die Bühne zurückzukehren, enttäuschend, um nicht zu sagen, katastrophal. Seine Komödie Unser Käthchen (1899) wurde sehr kontrovers diskutiert, weil ihr Inhalt – die Gegenüberstellung der Heuchelei einer bürgerlichen Heirat mit der Aufrichtigkeit einer standesamtlichen Vereinigung zwischen zwei Proletariern – Herzl für Vorwürfe des Radikalismus und der Unschicklichkeit anfällig machte. Ein Jahr darauf wurde die Premiere seines Lustspiels I Love You vom Publikum mit einem hörbaren Zischen (so von Herzl selbst bezeichnet) quittiert und von der Presse kritisch rezensiert. Nicht nur war das Lustspiel platt und wenig lustig, Herzl war inzwischen allgemein zu einem Objekt der Satire, des Spotts und sogar des Hasses geworden. In der zunehmend toxischen Atmosphäre von Karl Luegers Wien war Herzl ein gut sichtbares Angriffsziel für Antisemiten, während wohlgesonnene Wiener Juden ihn inzwischen für peinlich hielten. Hier und da fand Herzl auch einen unerwarteten Sympathisanten wie den Schriftsteller Hermann Bahr, den Herzl aus seiner Studentenverbindung Albia kannte und der damals ein gehässiger Antisemit gewesen war. Jahre später jedoch bereute Bahr dies und wurde zu einem Sympathisanten der Zionisten. Viel zahlreicher waren jedoch Menschen, die Herzl aufs Korn nahmen oder ihn verfolgten – entweder weil sie Juden hassten bzw. den 147

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Zionismus ablehnten, oder weil sie den Zionismus allzu eifrig begrüßten. Herzl nannte diese Menschen »Messiasse aller Art«. Ein solcher Fanatiker war Joseph Marcou-Baruch, ein türkischer Jude, der in seinem kurzen Leben Stationen als Soldat in den italienischen Unabhängigkeitskriegen, als Anarchist (der möglicherweise an der Ermordung des französischen Präsidenten Sadi Carnot beteiligt war) und als umherziehender zionistischer Aktivist in Ägypten und auf dem Balkan durchlief. Marcou-Baruch bedrohte Herzl immer wieder und so heftig, dass Herzl um seine persönliche Sicherheit fürchtete und sogar Erleichterung empfand, als Marcou-Baruch 1899, im Alter von siebenundzwanzig Jahren, Selbstmord beging. Die Wechselfälle des Schicksals forderten bei Herzl ihren Tribut. Die zionistische Tätigkeit verschlang weiterhin Herzls Einkommen und zehrte nach und nach auch die Ersparnisse von ihm und seiner Frau auf. In der zweiten Hälfte des Jahres 1899 und im August 1901 wurde er von einem schmerzhaften Schreibkrampf geplagt, was in Anbetracht der vielen Stunden, die er jeden Tag am Schreibtisch saß und Briefe und Artikel schrieb, nicht verwundert. Bedenklicher war: Von 1899 an klagte Herzl zunehmend über Herzklopfen, Atemnot, einen unregelmäßigen Puls und eine »Gehirnanämie«, wie er es nannte, ein Nachlassen der Hirnaktivität, verursacht durch einen verringerten Blutzufluss. Alle diese Symptome könnten psychische Ursachen gehabt haben, aber sie könnten auch – und waren es sehr wahrscheinlich – Anzeichen für eine Herzerkrankung gewesen sein. Anfang 1901 spürte Herzl, obwohl er erst vierzig war, bereits, dass der Herbst seines Lebens begonnen hatte. Während die chronische Überlastung unablässig an Herzls Gesundheit zehrte, veränderte sich seine journalistische Arbeit – und zwar zum Besseren. Seit Beginn seiner Laufbahn hatte Herzl in den Feuilletons einen ironischen und leicht melancholischen Ton angeschlagen, der für die bürgerliche literarische Kultur in Wien damals typisch war. Aber seit 1898, und bis zu seinem Tod, schlugen die Feuilletons einen sanfteren, stärker introspektiven Ton an, mit einem Zug der Distanziertheit, 148

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gar Resignation. Wie in der Vergangenheit schrieb Herzl weiterhin auf sich selbst bezogen und konstatierte die feine Trennlinie zwischen künstlerischem Genie und Wahnsinn. Mit einem Zitat Gustave Flauberts beobachtete Herzl im Jahr 1900: »Die Perle ist eine Krankheit der Muschel«4 – was bedeutet, dass es keine Perle ohne jenes Steinchen gebe, zu dessen Abwehr die Muschel mehrere Schichten von Perlmutt produziert. Doch die kinetische, bisweilen chaotische Energie, die noch »Das lenkbare Luftschiff« geprägt hatte, ließ von 1896 an allmählich nach. Herzls Schriften verströmten nunmehr eine Stimmung der nahen Sterblichkeit. »Wer schon viel gelebt oder gelitten hat – beides ist gleich –, dem kommt ein Abschied von allem nicht notwendig als das Bitterste vor.«5 In Essays von 1900 und 1901 spielte Herzl indirekt auf seine eigenen Bemühungen an, das eigene Sendungsbewusstsein mit den zufälligen Ereignissen in Einklang zu bringen, die ihn rasant berühmt gemacht hatten. Er meinte: »Die Einzigen [Personen] waren vermutlich nicht so selten, wie man nach der Geschichte glauben müsste. … Nur Zeit, Ort, Umstände lieferten selten das Zusammentreffen von Bedingungen, das für die Erscheinung der großen Person nicht minder wichtig ist, als deren Charakter.« Unter welchen Bedingungen auch immer der Führer jedoch auf die historische Bühne katapultiert worden war, ist er doch eine unverzichtbare Figur: »Die Massen denken niemals in Ideen und immer in Personen.«6 Herzl betrachtete sich selbst als die Person, die die Sehnsüchte der Massen personifizierte. Auch nahm er weiter ein Konzept aus dem römischen Recht für sich in Anspruch, das er kurz in Der Judenstaat erwähnt, nämlich das Konzept vom negotiorum gestio oder selbsternannten Akteur, der sich in einer Notsituation bereiterklärt, seinem Partner zu helfen, auch ohne dessen ausdrückliche Zustimmung. Doch in Herzls späteren Feuilletons kommen immer weniger Retter oder Führer vor, die große Taten vollbringen oder andere zu großen Taten motivieren. Sie spiegeln Herzls Ängste bezüglich seiner Unzulänglichkeiten als Führungskraft und bezüglich der drohenden Möglichkeit wider, dass alles, wonach er trachtete, am Ende zu 149

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nichts führen werde. Im Jahr 1900 veröffentlichte er »Solon in Lydien«, eine im antiken Griechenland situierte Geschichte über einen jungen Mann namens Eukosmos (auf Griechisch »schöne Welt«), der eine Maschine erfindet, die Weizen aus Luft produziert und so verspricht, dem Hunger ein Ende zu bereiten. Der weise Äsop rät dem König von Lydien, die Maschine in Betrieb zu nehmen – und kaum hat er das getan, wird die Bevölkerung faul, habgierig und gewalttätig. Der Gesetzgeber Solon befiehlt daraufhin, Eukosmos zu töten. Während Eukosmos das Volk unabsichtlich auf einen Irrweg führt, ist die zentrale Figur einer anderen Geschichte von 1900, »Epaphroditus«, ein mächtiger Mann, der zu einem schlichteren Leben zurückkehren möchte.7 Die Geschichte basiert auf Plutarchs Darstellung des römischen Diktators Lucius Cornelius Sulla. In Herzls Fassung genießt Sulla die neu erlangte Freiheit, unbewaffnet auf öffentlichen Plätzen zu wandeln. Ein Zenturio tadelt ihn für dieses, in seinen Augen, Zeichen der Schwäche, doch für Sulla ist, in Herzls Version, gerade dieses unbewaffnete oder, wie er es nennt, »unbegleitete« Auftreten in der Öffentlichkeit ein Zeichen männlicher Stärke. Das könnte eine Anspielung auf Herzls eigene Selbstentlarvung als Jude sein, und Herzl hält dieses Verhalten offensichtlich für ehrenhaft, doch in der Geschichte nimmt Sulla kein glückliches Ende. Er schläft mit der Geliebten seines Feindes und wird in flagrante delicto von ihr ermordet. Wie in Herzls ersten Feuilletons steht die Liebesgöttin symbolisch für die zersetzende Kraft erotischer Liebe. In Herzls Welt gab es nur wenige Geliebte. Er flirtete auf den Zionistenkongressen oder auf den Straßen Wiens mit jungen Frauen, doch sein Herz gehörte der Bewegung. Die einzige Frau, die es in die Nähe seines engeren Kreises schaffte, war die österreichische Friedensaktivistin Bertha von Suttner. Sie zählte zu Herzls kleinem Gefolge nichtjüdischer Anhänger, aber im Gegensatz etwa zu Hechler stand ihre Sympathie für den Zionismus in keinem Zusammenhang mit einem christlichen Messianismus. Sie fühlte sich von Herzls charismatischer Persönlichkeit angezogen und sah im Zionismus ein Vehikel der 150

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Befreiung für ein unterdrücktes Volk. Suttner war siebzehn Jahre älter als Herzl, besaß ihrerseits Charisma und war glücklich verheiratet, auch wenn sie diese Ehe mit einer langjährigen romantischen Beziehung zu Alfred Nobel, dem zum Friedensaktivisten bekehrten Erfinder des Dynamits, flankierte. Suttner war möglicherweise eine Art Mutterfigur für Herzl, der ihr im April 1898 gestand, dass er in eine Depression gefallen sei: »Ich will Ihnen aber nicht verschweigen, dass ich jetzt wieder eine Krise durchmache, in der ich nicht glaube, dass man mit Großmuth u. edlen Gedanken die Menschen bessert. … J’ai le printemps triste. Die ganze Stadt Wien liegt mir auf der Brust; unter solchen Umständen wird es Einem einigermassen schwer, aufzuathmen.«8 Herzl sah in Suttner zudem eine wertvolle Unterstützerin, weil sie eine gefeierte Autorin war, deren Roman Die Waffen nieder! (1889) ein Bestseller war und die 1905 den ersten Friedensnobelpreis verliehen bekommen sollte. Die Beziehung zwischen Herzl und Suttner war symbiotisch, weil die beiden sich gegenseitig brauchten. Bei all ihrem Ruhm war Suttner knapp bei Kasse, und Herzl bezahlte sie dafür, dass sie ihn zu der internationalen Friedenskonferenz 1899 in Den Haag begleitete. Zwei Jahre danach waren Herzl und Suttner gemeinsam in Paris, um an einer Zusammenkunft zu Ehren Paul-Henri d’Estournelles de Constant teilzunehmen, einem französischen Politiker und Visionär, der die Vereinigten Staaten von Europa voraussagte. Herzl hoffte, die Teilnahme an Versammlungen zur Feier der internationalen Kooperation werde die Sichtbarkeit und die Strahlkraft des Zionismus steigern. Allerdings war er weiterhin überzeugt, dass der kürzeste Weg zu einem zionistischen Erfolg auf diplomatischer Ebene über direkte Verhandlungen zwischen seiner Person und den Herrschern und höchsten Vertretern der Großmächte führe. Gleichzeitig war es ihm ein Anliegen, die Bewegung von innen zu stärken, indem er die Zahl der Mitglieder in der ZO und deren einzelnen landesweiten Vereinigungen erhöhte und die finanziellen Mittel aufstockte. Es bestand ein offensichtlicher Widerspruch zwischen den beiden Ichs von Herzl: auf der einen Seite ein einzelner Mann, der 151

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das Schicksal des jüdischen Volkes über Geheimdiplomatie bestimmte, und auf der anderen ein gewählter Führer einer demokratischen Bewegung, der verpflichtet war, Autorität ebenso zu delegieren wie zu beanspruchen. Nordau drängte Herzl, die diplomatische Tätigkeit fallen zu lassen und sich auf die Anwerbung jüdischer Gemeinden für den Zionismus zu konzentrieren. Erst wenn Herzl eine echte Massenbewegung anführe, argumentierte Nordau, könne er legitim beanspruchen, das weltweite Judentum gegenüber Staatschefs zu repräsentieren. Herzl wies Nordaus Kritik zurück, doch die beiden Männer einigten sich auf die Notwendigkeit, ein zionistisches Bankinstitut zu gründen. In Herzls Augen hatten die Juden zwei mögliche Machtquellen: Worte und Geld. Insofern ist es kein Wunder, dass er den größten Teil seiner organisatorischen Tätigkeit für eine zionistische Zeitung und eine zionistische Bank aufwendete. Herzl hatte die Reichen stets ebenso bewundert wie beneidet, und er fühlte sich von Magnaten wie Baron Maurice de Hirsch und Baron Edmond de Rothschild persönlich verraten. In den Tagebucheinträgen vom Juni und Juli 1895 schwor Herzl, Hirsch zu zerschmettern oder zu »demoliren«. Ende 1897 schrieb Herzl über die zionistische Bank als ein »nationales Finanzinstrument«, das den Interessen des jüdischen Volkes diene, und wenn die Rothschilds versuchen sollten, dagegen zu protestieren, werde er einen »Barbarenfeldzug« gegen sie organisieren: »Nöthigt man uns aber, wie die Soldaten der Ersten Republik [während der Französischen Revolution] ohne Stiefel zu marschieren, so werden wir unsere Not rächen.«9 Vier Monate später teilte Herzl dem Oberrabbiner Frankreichs, Zadoc Kahn, mit, dass es sich für Rothschild als ein Akt der Selbsterhaltung gezieme, die Bank zu unterstützen. Herzl warnte, dass der Antisemitismus in Frankreich auf dem Vormarsch sei, dass französische Juden ihre Freiheiten durch Sondergesetze eingeschränkt sehen könnten und dass die Bank Rothschild gezwungen sein könnte, sich aufzulösen. Wenn Rothschild imstande sei, sein, wie Herzl es nannte, »Geldhändlerleben« hinter sich zu lassen, könnte es zu einer beiderseitig nützlichen Allianz kommen. Das jüdische Bankinstitut werde 152

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nämlich ohnehin gegründet – »finanzdemokratisch oder finanzaristokratisch«.10 (Diese Idee folgte aus Herzls Auffassung, dass durch einen Erfolg der zionistischen Bewegung der Antisemitismus abnehmen werde, indem die jüdische Ehre wiederhergestellt werde.) Bemerkenswerterweise bestand Herzl, obwohl die jüdische Bank ein nationales Projekt sein sollte, darauf, dass das Wort »national« nicht in deren Namen auftauchte, um die Osmanen nicht zu verärgern. Deshalb nannte Herzl das Institut lieber die »Jüdische Colonialbank«, auch wenn das Wort »kolonial« lediglich »Aufputz, Mumpitz, eine Firma« war – nicht allein weniger beängstigend für die Osmanen, sondern auch eindrucksvoller für die Europäer.11 Die Gründung der Bank wurde auf dem Zweiten Zionistenkongress beschlossen, der wie der erste Ende August im Basler Stadtcasino veranstaltet wurde. Anders als der erste kamen zu diesem Kongress gewählte Delegierte aus zionistischen Vereinigungen auf der ganzen Welt. Während der Vorbereitungen legte Herzl Wert darauf, Delegierte aus Asien und Afrika ebenso wie aus Europa und Nordamerika anzulocken. Jacques Bahar, ein zionistischer Aktivist aus Frankreich mit Verbindungen zum Maghreb, versprach, »einen Algerier in der Tracht der Eingeborenen« sowie »Tunesier und Marokkaner, … so viel man wolle«, zu schicken, solange die ZO deren Reise bezahlte. Bahar teilte mit, dass der Herausgeber einer algerischen Zeitung, den Nordau »vollstaendig assimiliert, dabei mehr Araber als Jude« nannte, auf den Kongress kommen wolle und nicht nur nordafrikanische Juden, sondern »sogar einen schwarzen Juden« aus der algerischen Sahara auftreiben werde. Herzl war begeistert von der Aussicht auf die Teilnahme »echter« nordafrikanischer Juden: »Die nordafrikanischen Juden müssen wir schon wegen des Colorits unbedingt auf dem Congress haben.« Herzl hielt es auch für unerlässlich, auf die unheilvolle Zunahme des Antisemitismus in Algerien im Zusammenhang mit der Verschärfung der Dreyfus-Affäre aufmerksam zu machen. Nordau wandte mürrisch ein: »Ich glaube nicht an den Zionismus der Algerier. … Von einem jüdischen 153

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bewusstsein habe ich nicht die leiseste Spur entdecken können.«12 Herzl wünschte sich sehr, dass Nordau auf dem Kongress eine wichtige Rolle spielte, aber Nordau war in Europa in der jüdischen Presse angegriffen worden, weil er kürzlich die junge dänische Protestantin Anna Dons-Kaufmann geheiratet hatte. Entsprechend dachte Nordau, dass er sich besser zurückhalten sollte. Herzl versicherte ihm jedoch: »Wäre unser Werk heute schon vollbracht, so wäre es doch wohl einem jüdischen Staatsbürger, das heisst einem Bürger des bestehenden Judenstaates, nicht verwehrt, eine Ausländerin zu heiraten.«13 Nordau nahm schließlich am Kongress teil und hielt auch eine weitere leidenschaftliche und begeistert aufgenommene Ansprache über die vielfältigen Gefahren, die dem Weltjudentum drohten. In vielerlei Hinsicht unterschied sich der zweite Kongress jedoch vom ersten. Er hatte fast doppelt so viele Teilnehmer, und es wurde erheblich ausführlicher über ihn in der Presse berichtet. Frauen wurden als Delegierte begrüßt, und auf einer abendlichen Sitzung rezitierte Bahar ein Gedicht zu Ehren des Heldenmuts jüdischer Frauen, von den biblischen Zeiten bis zur Gegenwart. (»Oh Jüdin, meine Göttin!«, stimmte er an.) Es lag eine feierliche Stimmung in der Luft. Eine Gruppe Schweizer Soldaten, die am Casino vorbeigingen, riefen: »Hoch die Juden!« Auf der Eröffnungsfeier spielte ein Basler Orchester Stücke aus Wagners Tannhäuser – jener Oper, die im Juni 1895 Herzls überhitzten Verstand beruhigt hatte, wie einst die Musik von Davids Harfe in der Gegenwart des wahnsinnig gewordenen Königs Saul.14 Der Kongress einigte sich auf ein Design für die offizielle Fahne, das dem ähnelte, das seit 1891 in Palästina verwendet wurde: blaue Streifen, die an einen Gebetsschal erinnerten, und ein blauer Davidstern in der Mitte, vor weißem Hintergrund. Als handfesteres Ergebnis genehmigte der Kongress nicht nur die Gründung der zionistischen Bank, sondern verabschiedete auch einen Vorschlag, demzufolge sich Zionisten in der ganzen Diaspora – insbesondere im russischen, habsburgischen und 154

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osmanischen Reich – für die Verbesserung der jüdischen Bürgerrechte engagieren sollten. Doch eine Bank ließ sich nicht einfach durch pure Willensbekundung ins Leben rufen. Kein großer Investor wollte sich hier die Finger verbrennen, folglich gab die Bank Ein-Pfund-Anteile aus, die über Ratenzahlungen gekauft werden konnten, und kündigte an, den Betrieb aufzunehmen, sobald sie über Einlagen in Höhe von 250 Pfund Sterling verfügte. Es dauerte drei Jahre, bis die Bank dieses bescheidene Ziel erreicht hatte. Der stets technologisch begeisterte Herzl schlug vor, die Bank sollte in die Forschung Marmoreks investieren, der an einem Heilmittel gegen Tuberkulose experimentierte. (Die Experimente scheiterten jedoch schließlich, und Marmorek erlitt einen Nervenzusammenbruch, was Herzl große Sorgen bereitete.) Darüber hinaus erwies es sich als kompliziert, die Forderungen zionistischer Aktivisten nach politischer und kultureller Aktivität in der Diaspora mit den wachsenden Ängsten selbst der wenigen orthodoxen Rabbis in Einklang zu bringen, die mit dem Zionismus sympathisierten. Hinter der »Gegenwartsarbeit«, wie die zionistische Bewegung es später nannte, verbarg sich eine direkte Förderung, oder implizite Bestätigung, eines jüdischen säkularen Nationalismus, der die Einhaltung jüdischer Bräuche ebenso wie die Autorität des jüdischen Textkanons und der Rabbis, die ihn auslegten, untergraben würde. Ungeachtet seiner autokratischen Neigungen blieb Herzl bei internen Angelegenheiten der Zionistischen Organisation nichts anderes übrig, als in Teams zu arbeiten: in ständigen und spontan gegründeten Ausschüssen, mit Vorständen von Institutionen wie der Jüdischen Kolonialbank und mit dem Kongress selbst. Bei seinen diplomatischen Tätigkeiten legte Herzl Wert darauf, allein zu verhandeln, doch um bei ausländischen Mächten, insbesondere dem Osmanischen Reich, Fuß zu fassen, bediente er sich einiger verwegener Abenteurer zweifelhaften Charakters. Einer dieser Helfer, Philipp de Newlinski, starb im April 1899, nachdem er nicht das Geringste erreicht, aber eine ansehnliche Summe gekostet hatte. Im Jahr darauf nahm Arminius Vambery seine Position ein, ein älterer ungarischer Jude, 155

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der an der Universität von Budapest einen Lehrstuhl für orientalische Sprachen innehatte. Laut Herzls Beschreibung wusste Vambery nicht, »ob er mehr Türke oder Engländer ist, deutsch schriftstellert, 12 Sprachen mit gleicher Perfection spricht u. 5 Religionen bekannt hat, wovon er in zweien Priester war. … Er erzählte mir 1001 Geschichte aus dem Orient, von seiner Intimität mit dem Sultan etc. Er fasste sofort volles Vertrauen zu mir u. sagte mir unter Ehrenwort, er sei englischer u. türkischer Geheimagent.«15 Ein weiterer Agent Herzls, der Journalist Sidney Whitman, tourte in Herzls Namen durch ganz Europa und traf sich mit Würdenträgern, vom römisch-katholischen Bischof von Westminster bis hin zum König von Rumänien. Die Treffen führten allerdings zu nichts. Der rumänische Monarch Carol zeigte sich besonders bärbeißig, merkte an, dass er den Zionismus zwar für »interessant« halte, Dreyfus jedoch auf der Teufelsinsel schmachten solle. Außerdem dürfe es jüdischen Gastwirten nicht gestattet sein, die Bauern abzufüllen.16 Auf Herzls Anweisung hin arbeiteten diese Männer hinter verschlossenen Türen, Verwicklungen wie Ende 1897 sollten vermieden werden, als er mit einem österreichischen Archäologen namens Eduard Glaser aneinandergeraten war. Einige Jahre zuvor hatte Glaser vorgeschlagen, einen jüdischen Staat in Arabien zu errichten. Womöglich aus Groll darüber, dass die Zionisten damals nicht auf seine Idee eingingen, veröffentlichte Glaser einen Zeitungsartikel, in dem er Herzl vorwarf, er habe sich mit Großbritannien darauf verschworen, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen und das Osmanische Reich aufzulösen, was wiederum nicht den Interessen Deutschlands, Frankreichs und Russlands entspreche. Nordau und Herzl, sowie ein Mitarbeiter der Neuen Freien Presse, veröffentlichten eine ganze Salve an Artikeln, die Glaser attackierten. Herzl erwog sogar, ihn zum Duell zu fordern, doch die Aufregung verzog sich bald wieder. Hatte Glaser recht? Plante Herzl wirklich, das Osmanische Reich aufzuteilen? Einerseits unterstützte Herzl enthusiastisch den europäischen Kolonialismus. Im Jahr 1898 legte er während einer öffentlichen Debatte über den Zionismus in Berlin 156

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dar: »Wissen Sie denn nicht, in welchem kolonialen Zeitalter wir leben? Es ist eine Konsequenz der Überbevölkerung und der sich dadurch immer krasser gestaltenden sozialen Frage, dass manche Völker bestrebt sind, überseeische Kolonien zu gründen, um den Strom der Auswanderung dorthin zu lenken. Dies ist die Politik, die England seit Dezennien treibt, und die für viele Völker vorbildlich wirkt. Ich glaube, dass Deutschland auch ein Größer-Deutschland zu werden den Anlauf genommen hat, seit es über die Meere blickt und überall Kolonien zu gründen sich bemüht.«17 Andererseits ging es bei Herzls Plänen zum Osmanischen Reich, wie bei den meisten europäischen Staatsmännern jener Zeit, eher um Einfluss als um Eroberung. Herzl schrieb in dem Artikel »Leroy-Beaulieu über den Antisemitismus«, dass es »mit der Teilung der Türkei … noch seine guten Wege« habe. »An die Teilung der Türkei denkt gegenwärtig kein ernsthafter Politiker mehr.« Er verhehlte nicht seine Sehnsucht nach einem europäischen Protektorat über Palästina, welches die osmanische Souveränität erheblich einschränken würde – wie es in Ägypten bereits der Fall war. Das Land war damals eine autonome Provinz des Osmanischen Reiches, wurde aber de facto von Großbritannien kontrolliert. Herzl blieb jedoch auch offen für direkte Beziehungen zwischen dem jüdischen Staat und den Osmanen, wie er in einem detaillierten Vorschlag von 1901 ausführte. Darin schlug er vor, dass die Bürger des jüdischen Staates loyale osmanische Untertanen sein und für das Reich sogar Wehrdienst leisten sollten. Herzl redete die beträchtlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Szenarien klein, als er öffentlich verkündete, dass die Zionisten weder eine Gefahr für die Türken noch für irgendjemand sonst darstellten: »Wenn es überhaupt legitime Ansprüche auf ein Stück der Erdoberfläche gibt, so müssen alle Völker, die an die Bibel glauben, das Recht der Juden anerkennen. Sie können es aber auch neidlos und ohne Sorge anerkennen, denn die Juden sind keine politische Macht und werden nie eine politische Macht sein.« Oder wie Herzl auf der Debatte in Berlin sagte: »Nun, was ist ein Staat? Eine große 157

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nie. Was eine Kolonie? Ein kleiner Staat.« Gerade unter einem Protektorat, betonte Herzl, stünden die Heiligen Stätten in Jerusalem weiter unter einem internationalen Status, oder wie er es in seiner Vorliebe für römische Rechtsbegriffe nannte, extra commercium: »Dieses Land kann und wird wohl nie in den Besitz einer einzelnen großen Macht gelangen, denn es ist das bestbehütete; es wird nicht nur von seinem jetzigen Eigentümer, sondern auch von allen übrigen sorgfältig bewacht.«18 Herzls Schriften über Konstantinopel wimmelten nur so von orientalistischen Klischees, aber er respektierte das Reich als den Sitz einer (wie er es ausdrücken würde) einst großen Zivilisation, die unter westlicher Lenkung und Technologie zu neuem Ruhm gelangen könnte. Weit negativere Ansichten – und drastischere Pläne – hatte Herzl für Schwarzafrika, über das er in Feuilletons für die Neue Freie Presse schrieb, als Angehörige exotischer Völker im Wiener Vergnügungspark Prater präsentiert wurden. (Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es Hunderte solcher Völkerschauen in Europa und Nordamerika.) Nach dem Besuch einer Ausstellung von Dorfbewohnern der Aschanti im Prater 1897 beschrieb Herzl sie als »Menschen der Urzeit … Echte Urzeitmenschen, kenntlich an ihrer Einfalt und Grausamkeit, an ihrer Wildheit, die nur [ein Ausdruck von] Angst ist, an ihrem Werkzeug, ihrer kindlichen Kunst und ihrem Glauben.«19 Zwei Jahre später besuchte Herzl abermals eine solche Ausstellung im Prater, dieses Mal von Bischaris, Angehörigen eines Beja-Stammes, der vor allem im Sudan und im Süden Ägyptens beheimatet war. Herzl beschrieb sie als »ein Volk des Hinterhaltes, des Abfalles, und wer sie überwältigt, kann sie nur besser machen, denn sie stehen auf einer der untersten Stufen des menschlichen Bewusstseins, haben kaum eine Spur von Begriffen körperlicher und moralischer Reinlichkeit«. Seiner Meinung nach waren sie »zum Aussterben verurtheilt. Ihre Vernichtung als Barbaren wird sich in unseren und den nächsten Zeiten mit wachsender Raschheit vollziehen.« Herzl beteuerte, dass ihre »Vernichtung« friedlich erfolgen werde und dass sie in Wien überall, wo die Bischaris zur Schau 158

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gestellt wurden, bereits begonnen habe. Sie würden nach und nach ein Selbstbewusstsein und eine Findigkeit entwickeln, indem sie Verträge aushandelten, den Wert des Geldes kennenlernten und, wenn nötig, sogar in Streik träten. Ihre Vorführung für die zahlenden Gäste war genau das – eine Vorführung: »Sie dürfen sich nicht zahm wie Regierungsräthe benehmen, sondern müssen die Augen bösartig rollen, drohend mit den plumpen Waffen herumfuchteln und den Spießbürgern Entsetzen einflößen.«20 Indem Handel trieben, würden sie auch lernen, wie man ein anständiges Exemplar der westlichen Menschheit werde. Karl Kraus, ein sarkastischer Wiener, jüdischer Journalist und Kritiker bürgerlicher Konventionen, ließ sich von Herzls gönnerhafter Haltung gegenüber den Bischaris keineswegs einnehmen. Kraus hegte eine doppelte Abneigung gegen Herzl, zum einen weil er der biedere Feuilleton-Redakteur der Neuen Freien Presse war, und zum anderen wegen seines Zionismus, den Kraus, der sein eigenes Judentum verleugnete und eine vollständige Assimilation forderte, für abscheulich hielt. Darüber hinaus war Kraus ein Gegner des Kolonialismus. Er verurteilte die Zurschaustellung von Menschen ganz grundsätzlich, war aber besonders aufgebracht über Herzls Versuche, angeblich ernsthafte ethnographische Beobachtungen auf ein vulgäres und erniedrigendes Spektakel zu stützen. Kraus zog gar eine Verbindung zwischen Herzls Begeisterung für die Ausstellung und seinem Zionismus: »Sein Interesse für die Pratercolonie ist leicht erklärlich; er ist ja fest entschlossen, demnächst Europäer am Fuße des Libanon auszustellen.«21 Ob Herzl nun selbst einen Zusammenhang zwischen seinen Schriften über Afrika und seinen langfristigen Plänen, »Europäer am Fuße des Libanon auszustellen«, sah oder nicht und ob seine besänftigenden Äußerungen über das Osmanische Reich nun aufrichtig oder strategisch waren, in einem Punkt haben wir Gewissheit: Der osmanische Sultan wollte die Juden nicht in Palästina. Mit den Worten Abdul Hamids: »Warum sollten wir Juden akzeptieren, welche die zivilisierten europäischen Nationen in ihren Ländern nicht haben wollten und die sie 159

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trieben haben?« Die lokalen Behörden waren bemüht, Juden gar nicht nach Palästina hineinzulassen oder ihnen, wo dies doch gelang, Visa auszustellen, die nur drei Monate lang gültig waren. Den Zionisten blieb nur das Mittel des Geldes, um die osmanischen Regierungsvertreter für ihre Sache einzunehmen, doch diese merkten sehr wohl, dass Herzl bluffte. Der osmanische Botschafter in London schrieb im Juni 1898, dass reiche Juden »nicht die geringste Neigung hätten, ihren Luxus, ihre Gewohnheiten, ihren Kontakt zu allem, das in den großen Hauptstädten Europas brillant und erhaben ist, gegen ein beschränktes und bescheidenes Dasein in Palästina einzutauschen«.22 Laut Abdul Hamids Tochter versicherte der Sultan, dass er Palästina niemals den Juden abtreten werde, solange er noch atme: »Nur unser Leichnam kann aufgeteilt werden. Einer Vivisektion werde ich niemals zustimmen.«23 Mitte 1898 waren Herzls diplomatische Initiativen allem Anschein nach in eine Sackgasse geraten. Er fing an, radikalere Lösungen in Betracht zu ziehen: etwa eine vorübergehende jüdische Heimstätte außerhalb Palästinas: »Die armen Massen brauchen sofortige Hilfe u. die Türkei ist noch nicht so verloren, dass sie auf unsere Wünsche einginge. … So müssen wir uns für ein zunächst erreichbares Ziel unter der Zionsfahne, unter Aufrechterhaltung aller unserer historischen Ansprüche organisiren.« Zypern oder ein Gebiet in Südafrika oder Nordamerika wären eine annehmbare Übergangslösung – »bis zur Auflösung der Türkei«.24 Damit hatte Herzl die Samen einer Idee gelegt, die im Jahr 1903 um ein Haar die Zionistische Organisation zerrissen hätte und die im Lauf der Zeit zu der territorialistischen Bewegung, wie sie später genannt wurde, heranreifen sollte. Ausgerechnet in dem Moment, als sich Herzls Blick allmählich von Palästina abwandte, realisierte sich plötzlich die deutsche Verbindung, die Herzl über Hechler und Großherzog Friedrich hatte schmieden wollen. Sie erwirkten für Herzl ein Treffen am 16. September 1898 mit Philipp zu Eulenburg, dem deutschen Botschafter in Wien. Eulenburg war ein hochgewachsener und höfischer, preußischer Aristokrat, hinter dessen 160

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abweisendem Äußeren sich eine Leidenschaft für Kunst und Okkultes verbarg. Er war ein erklärter Rassist und Antisemit. Darüber hinaus war er diskret bisexuell, und seine Affären mit anderen adligen Männern gelangten am Ende an die Öffentlichkeit und führten zu seinem Untergang. Zu guter Letzt wollte es der Zufall, dass Eulenburg auch der engste Vertraute Wilhelms II . war. Eulenburg war von Herzl eingenommen, den er später »unleugbar« als »eine der interessantesten Persönlichkeiten, die mir in meinem Leben begegnet sind« bezeichnete, als den »Typus des streitbaren, führenden Juden aus der Zeit der jüdischen Könige, ohne ein Atom von dem was wir Handelsjuden nennen«.25 Eulenburg fand Herzl möglicherweise auf mehreren Ebenen interessant: politisch als Autor eines Plans, die Juden aus Europa zu schaffen; beruflich als berühmter Journalist, der irgendwann einmal für PR -Arbeit (oder Enthüllungen) nützlich sein könnte; ästhetisch als Sprachkünstler und Fantast mit charismatischem Charme; und auch physisch als Mann von großer Schönheit. Das Schicksal wollte, dass sich zwei Tage nach dieser Begegnung der Kaiser und sein Außenminister Bernhard von Bülow in Wien aufhielten. Nach einer Begegnung mit Bülow, der liebenswürdig und umgänglich war, wartete Herzl in den Büroräumen der Zeitung Die Welt nervös auf einen Anruf, um den Kaiser noch vor Abfahrt des Abendzugs zu treffen. Herzl besorgte sich ein Paar schwarze Handschuhe und sogar »einen Flor« für den Hut (»um in der schicklichen Hofverfassung zum Bahnhof zu kommen«). Als der Anruf kam, war es jedoch Hechler, der ihm mitteilte, dass Wilhelm und Eulenburg soeben zum Bahnhof abgefahren seien. Davon nicht entmutigt, legte Herzl wenige Tage später Eulenburg eindringlich seinen Plan dar, indem er nicht um eine brutale Implementierung eines deutschen Protektorats über Palästina bat, sondern um die Intervention Kaiser Wilhelms bei Abdul Hamid, eine Masseneinwanderung der Juden nach Palästina zu erlauben. Sie würden in die Türkei ein »intelligente[s], wirtschaftlich energische[s] Volkselement« einbringen, was »eine unverkennbare Kräftigung« bedeute. »Die Rückkehr selbst der halbasiatischen 161

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Juden unter der Führung vollständig moderner Menschen«, schrieb Herzl, »müsste zweifellos die Assanirung [Sanierung] dieses verwahrlosten Orientwinkels bedeuten. Cultur u. Ordnung käme dahin. So wäre die Wanderung der Juden schliesslich ein effectiver Schutz der Christen im Orient.«26 Ohne Herzls Wissen wurde der Kaiser von Eulenburg und von seinem Onkel Friedrich, dem Großherzog von Baden, über den Führer der Zionisten auf dem Laufenden gehalten. Wilhelm hatte den Eindruck, wie er seinem Onkel schrieb, dass »wir es hier mit einer Frage von der allerweitgehendsten Bedeutung zu thun haben. … Ich bin der Überzeugung, dass die Besiedlung des heiligen Landes durch das kapitalkräftige und fleissige Volk Israel dem ersteren bald zu ungeahnter Blüthe und und Segen gereichen wird.« Jüdisches Geld werde nicht nur dem Osmanischen Reich zu finanzieller Gesundheit verhelfen, sondern »die Energie, Schaffenskraft und Leistungsfähigkeit vom Stamme Sem [würden] auf würdigere Ziele als auf Aussaugen der Christen abgelenkt«, statt die sozialistische Revolution zu schüren. Wilhelm war sich darüber im Klaren, dass die meisten Deutschen aus religiösen Gründen seiner großzügigen und mitfühlenden Unterstützung für eine jüdische Sache ablehnend gegenüberstanden, aber auch wenn »die Juden den Heiland umgebracht [hätten], das weiss der liebe Gott noch besser wie wir, und er hat sie demgemäss bestraft«. Abgesehen davon wäre es »bei der gewaltigen Macht, die das internationale jüdische Kapital nun einmal in aller seiner Gefährlichkeit repräsentirt, … doch für Deutschland eine ungeheure Errungenschaft …, wenn die Welt der Hebräer mit Dank zu ihm aufblickt!«27 Anders ausgedrückt: Deutschland musste den Zionismus als Instrument der Selbstverteidigung unterstützen. Zwei Tage nachdem der Kaiser diesen Brief geschrieben hatte, erfuhr Herzl von Eulenburg, dass der Kaiser ihn und eine zionistische Delegation während der bevorstehenden Pilgerfahrt Wilhelms ins Heilige Land in Jerusalem empfangen werde. Herzl war verblüfft. Bald danach wurde er zu einer Reihe von Begegnungen mit Eulenburg, Großherzog Friedrich, von Bülow und, zum ersten Mal, dem deutschen Kanzler Fürst von 162

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Hohenlohe nach Berlin gerufen. Herzl war ganz aus dem Häuschen über die Aussicht, unter der Elite des preußischen Adels zu weilen, den er doch seit seiner Jugend verehrte: »Das ist die forsche alte grosse Art«, schwärmte er. »Aus dem Busch!« Bülow war jedoch etwas distanzierter als bei der letzten Begegnung, und Hohenlohe war regelrecht gehässig. Er fragte Herzl, ob die Juden denn wirklich ihre geliebte Börse aufgeben würden. Das tat jedoch Herzls Optimismus keinen Abbruch, denn der basierte auf der Überzeugung, dass die Macht letztlich in den Händen des Kaisers liege. Die Zionisten würden nunmehr mit Sicherheit ein Protektorat oder eine osmanische Lehnshoheit oder beides bekommen. In seinem Tagebuch sprudelte die Begeisterung nur so aus ihm heraus: »Unter dem Protectorate dieses starken, grossen, sittlichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisirten Deutschlands zu stehen, kann nur die heilsamsten Wirkungen für den jüdischen Volkscharakter haben.«28 Herzl deutete die langfristigen Wirkungen der politischen Macht Wilhelms II . allerdings gänzlich falsch. Auch erkannte er anscheinend nicht, dass der Kaiser, wenn er auch weit mächtiger als der Herrscher einer konstitutionellen Monarchie war, Deutschland nicht im Alleingang regierte, dass Wilhelm sprunghaft war und sich seine Launen jederzeit ändern konnten. Es war unvermeidlich, dass die Initiative, sobald Wilhelm das Thema Zionismus gegenüber dem türkischen Botschafter in Berlin, Ahmet Tevfik Pascha, ansprach, keine Chance mehr hatte. Doch der Kaiser selbst hatte Herzl eingeladen, sich mit ihm zu treffen, zunächst in Konstantinopel, dann in Palästina. In aller Eile stellte Herzl eine Delegation zusammen, der er selbst, Wolffsohn, Bodenheimer, der Arzt Moritz Schnirer und der Ingenieur Joseph Seidener angehörten. Am 14. Oktober befand sich Herzl auf dem Weg nach Konstantinopel, wo er nervös in einem Palast auf den Kaiser wartete, der speziell für diesen Zweck gebaut worden war. Als die beiden Männer sich begegneten, war Herzl wie gebannt: »Er hat wirklich kaiserliche Augen. Solche Augen habe ich noch nie gesehen. Es liegt eine merkwürdige, kühne, suchende Seele darin. … Er ist 163

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nauso hoch wie ich  …«. Der Kaiser war seinerseits ebenfalls beeindruckt. In seinen Erinnerungen bezeichnete er Herzl als einen »enthusiastische[n] Idealist[en] von vornehmer Denkungsart«. Die beiden Männer plauderten angenehm über die Weltpolitik und die Dreyfus-Affäre (Wilhelm hielt Dreyfus für unschuldig), bevor Herzl sein zionistisches Programm darlegte, das er mit folgenden Worten zusammenfasste: »Eine chartered Company – unter deutschem Schutz« – also eine mit einem Schutzbrief oder einer Charta ausgestattete Gesellschaft.29 Auf dem Schiff nach Jaffa schrieb Herzl für die Neue Freie Presse ein lyrisches Feuilleton über das östliche Mittelmeer, erwähnte aber seine eigene Destination mit keinem Wort. Herzl hatte seine Herausgeber über die Reise informiert, und sie waren alles andere als begeistert darüber, dass ihr Starautor den Zionismus, den sie immer noch für befremdlich und peinlich hielten, den mächtigsten Staatsoberhäuptern der Welt nahebringen wollte. Herzl war wegen der bevorstehenden Audienz beim Kaiser ebenso aufgeregt wie angespannt, und seine Ängste wuchsen, dass vonseiten türkischer Regierungsvertreter, die den Zionismus ablehnten, Gewalt drohte. Diese Gefühle überschatteten jede Erwartung, die er womöglich bei der Aussicht, zum ersten Mal in seinem Leben das Land Israel zu betreten, empfunden haben mochte. Es ist keineswegs sicher überliefert, dass Herzl den dringenden Wunsch verspürte, Palästina zu besuchen. Er reiste nur auf Einladung des Kaisers dorthin und blieb kaum zehn Tage, in denen er sich in Jaffa, Jerusalem und Umgebung aufhielt. Dies blieb seine einzige Reise ins Land. Zuvor war ihm Palästina ein abstrakter Begriff gewesen; während des Besuchs erwies es sich als eine herbe Enttäuschung. Herzl wusste bis lange nach Erscheinen von Der Judenstaat so gut wie gar nichts über Palästina – über Geografie, Demografie, Klima, Flora und Fauna. Anfang 1897 teilte der Direktor des Rothschild Hospitals in Jerusalem einem verblüfften Herzl mit, dass Palästinas Boden keineswegs unfruchtbar sei, dass hier Orangenbäume wüchsen, dass es jüdische Arbeiter gebe (die seit Anfang der 1880er Jahre einwanderten) und dass die Mehrheit der Bewohner Jerusalems Juden seien (wie schon seit 164

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der Mitte des Jahrhunderts). Im Januar 1898 traf Herzl sich mit dem Botaniker Otto Warburg, einem Experten für koloniale Landwirtschaft und seit neuestem Anhänger des Zionismus. Obwohl Warburg hauptsächlich über Afrika und den Südpazifik forschte – jene Regionen, in denen das Kaiserreich Kolonien besaß –, zeigte er großes Interesse am Nahen Osten. Außerdem war er an deutschen Initiativen beteiligt, in Anatolien Baumwolle anzupflanzen. Von Warburg erhielt Herzl detaillierte Auskunft über Palästinas Flora und Klima. Diese eher naturwissenschaftlich geprägte Bildung ging anscheinend nicht mit einer Lektüre über die Geschichte Palästinas oder dessen zahlreiche und überaus diverse jüdische Gemeinden, die Muslime und christlichen Araber einher, die mehr als neun Zehntel der Landbevölkerung ausmachten, sowie über die Bedeutung Jerusalems für den Islam. Während seines Aufenthalts in Palästina erwähnte Herzl in seinen Tagebüchern die Araber nur an zwei Stellen. Eine bezog sich auf die Gegend südlich von Jaffa, für ihn eine »arabisch verwahrloste Landschaft«. An der anderen Stelle führte er aus, dass die Arbeiten zur Trockenlegung der Malariasümpfe vermutlich am besten von einheimischen Arabern erledigt würden, die, so dachte er, gegen Malaria immun seien. Wenige Monate nach der Reise führte Herzl eine kurze Korrespondenz mit Youssuf Zia al-Khalidi, dem ehemaligen Bürgermeister von Jerusalem. Al-Khalidi brachte darin sein Mitgefühl für das Leid der Juden und ein Verständnis für ihre Verbindung mit dem Land Israel zum Ausdruck, stellte jedoch fest, dass das Land bevölkert sei und dass weder die Palästinenser noch die 300 Millionen Muslime auf der Welt eine jüdische Herrschaft in diesem Land dulden würden. Herzl erwiderte darauf, die einheimischen Araber hätten von den Juden nichts zu fürchten. Sie würden die Palästinenser weder verdrängen noch versklaven, sondern deren Leben durch westliche Technik verbessern und bereichern. Herzl war sowohl zu einem doppelten Spiel als auch zu Fantastereien fähig, doch es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Herzls Beteuerungen gegenüber al-Khalidi nicht aufrichtig gewesen wären. 165

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Schwieriger ist es, die Differenzen zwischen Mythos und Realität von Herzls Besuch in Palästina aufzulösen. So schrieb zum Beispiel der russische zionistische Aktivist Z. H. Masljanski im Jahr 1929, Wolffsohn habe ihm 1908 von der Nacht vor der Ankunft der zionistischen Delegation in Jaffa erzählt. Laut dieser Version gingen alle Männer hinunter in ihre Kabinen, bis auf Herzl, der an Deck blieb. Mitten in der Nacht habe Herzl Wolffsohn geweckt, damit sie beide gemeinsam an Deck das Nahen ihrer geliebten Heimat beobachteten. Herzl war in dieser Schilderung »wie für eine Audienz bei einem Herrscher gekleidet«. Als sie die Minarette Jaffas erblickten, seien sich Wolffsohn und Herzl »in die Arme [gefallen], und Tränen stiegen ihnen in die Augen, als sie leise flüsterten: ›Unser Land! Unsere Mutter Zion!‹«30 Herzls eigener Tagebucheintrag über dieselbe Nacht ist im Vergleich dazu ausgesprochen nüchtern gehalten: Demzufolge schlief die ganze Gruppe an Deck, weil es unten zu heiß war. Gegen sieben Uhr erblickten sie die »jüdische Küste«, schreibt Herzl: »Mit gemischten Gefühlen näherten wir uns dem Lande unserer Väter.«31 Eine weitere Legende basiert auf der wahren Begebenheit, dass Herzl am Freitagnachmittag, als er und sein Gefolge mit dem Zug von Jaffa nach Jerusalem reisten, Fieber hatte und dass der Zug wegen Verspätungen erst nach Beginn des Sabbat ankam. Von da an weicht die Geschichte jedoch von der Realität ab: Herzl habe, obwohl er krank war, darauf bestanden, zu Fuß zum Hotel zu gehen – ein Marsch von über einer halben Stunde –, um den Sabbat nicht mit einer Kutschfahrt zu entweihen. Aus Herzls Tagebuch geht jedoch hervor, dass er gerne eine Kutsche genommen hätte. Seine Reisegefährten hätten jedoch »bedenkliche Gesichter« gemacht, »so musste ich mich entschliessen, mit meiner Fiebermüdigkeit in die Stadt zu gehen«.32 Herzl empfand im Lauf seines kurzen Aufenthalts in Palästina in der Tat gemischte Gefühle. Jaffa, Palästinas Handelsdrehscheibe, charakterisierte er knapp mit folgenden Worten: »Wieder Armuth u. Elend u. Hitze in lustigen Farben.« Er blühte jedoch in der landwirtschaftlichen Siedlung Rechowoth auf, wo eine Gruppe junger Juden zu Pferde Herzl und seine 166

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Gefährten begeisterte, indem sie ihre Reitkünste vorführten und dabei hebräische Lieder sangen. Der Delegation kam beim Anblick der mutigen Reiter, »in die sich die hosenverkaufenden Jünglinge verwandeln können«, gar die Tränen. Ein denkwürdiges Erlebnis hatte Herzl auch in Mikweh Israel, einer jüdischen, landwirtschaftlichen Schule in der Nähe von Jaffa. Da er wusste, dass der Kaiser und sein Gefolge laut Zeitplan hier passieren würden, hatte Herzl mit dem Schülerchor Preußens königliche Hymne einstudiert, die sie sangen, als der Kaiser nahte. Er und Herzl tauschten ein paar Worte aus – der Kaiser hoch zu Pferde, Herzl unter ihm: »Wie ist die Reise Majestät bisher bekommen?« Er blinzelte mächtig mit den Augen: »Sehr heiß! Aber das Land hat eine Zukunft.« »Vorläufig ist es noch krank«, sagte ich. »Wasser braucht es! Viel Wasser!«, sprach er herab. »Ja, Majestät, Canalisirungen in grossem Massstab!« Er wiederholte: »Es ist ein Land der Zukunft!«33 Kurz darauf zogen der Kaiser und sein Gefolge weiter, während der Chor erneut die königliche Hymne anstimmte. Jerusalem war jedoch nicht ganz so erbaulich, nicht nur wegen Herzls Krankheit, die jedoch erfreulich schnell wieder abklang. Obwohl die Silhouette der abendlichen Altstadt bei ihrer Ankunft beeindruckend gewesen war, nahm Herzl in der Hitze des Tages nur Schmutz und Elend wahr. Er stellte sich Jerusalem unter seiner Aufsicht vor: »Alles, was nicht Heiligthum ist, liesse ich räumen, würde Arbeiterwohnungen außerhalb der Stadt errichten, die Schmutznester leeren, niederreissen … Dann unter möglichster Beibehaltung des alten Baustyls eine comfortable, ventilirte, canalisirte neue Stadt um die Heiligthümer herum errichten.« Und an der Klagemauer machte sich laut Herzl »ein hässlicher, elender, speculativer Bettel breit«. Er sah sich nicht nur mit dem Verfall der Stadt konfrontiert, sondern auch mit dem »Aberglauben u. Fanatismus« der dort lebenden Juden und schließlich sogar seiner Reisegefährten, die sich weigerten, die Via Dolorosa zu betreten, und es Herzl 167

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nicht erlaubten, in die Grabeskirche oder auf den Tempelberg zu gehen.34 Herzl kam weder als Pilger noch als Tourist nach Palästina, sondern als Staatsmann mit einer Mission. Seine Gedanken waren ganz auf die Audienz beim Kaiser fokussiert. Da der genaue Tag und die Uhrzeit noch nicht feststanden, vertrödelten Herzl und seine Gefährten die Zeit mit Besichtigungen. Kurz nach der Ankunft in Palästina hatte Herzl Eulenburg einen langen Entwurf seiner Rede zukommen lassen, die er vor dem Kaiser halten wollte. Am 1. November erhielt Herzl den Entwurf zurück, allerdings waren sämtliche Verweise auf die zionistischen politischen Ziele durchgestrichen. Sollte sich Herzl an diesem Punkt über den Rückzug von einer Unterstützung für den Zionismus im Klaren gewesen sein, so vertraute er dies nicht einmal seinem Tagebuch an. Es zählte der Moment, und das war die Audienz, die für den nächsten Tag, zur Mittagszeit, angesetzt war. Am nächsten Morgen legte die außerordentlich ängstliche Gruppe Gesellschaftskleidung an und begab sich bei drückender Hitze zum Zeltlager des kaiserlichen Gefolges, etwas nördlich der Altstadt. Kaum traf Herzl auf den Kaiser und Bülow, da trug er seine Rede vor. Anschließend sprach Wilhelm ein paar Minuten lang über Banales wie den dringenden Wasserbedarf des Landes und den westlichen Einfluss, der zum Wohl der einheimischen Bevölkerung dienen sollte. Es blieb noch Zeit für einen antisemitischen Seitenhieb Wilhelms und Bülows: »Ja, das Geld, das uns so viele Schwierigkeiten macht, haben Sie reichlich.«35 Kurz danach war die Audienz vorüber. Drei Tage später befanden sich Herzl und seine Gruppe auf einem Orangenfrachter, der von Jaffa nach Alexandria und von dort nach Neapel fuhr. So endete die kurzlebige Beziehung zwischen Wilhelm II . und Herzl. Mit dem Großherzog Friedrich korrespondierte Herzl weiter, und er und Eulenburg trafen sich auch weiter gelegentlich, doch der Kaiser trat nie wieder in Herzls Leben. Aber Herzl konnte nicht loslassen. Neun Monate nach dem Fiasko in Jerusalem geriet er in helle Panik, als er fürchtete, er 168

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habe einen Brief Eulenburgs verloren, der das aufrichtige Interesse des Kaisers an der zionistischen Sache beteuerte. Ein Jahr später gab sich Herzl immer noch selbst die Schuld am Scheitern seiner Begegnung mit dem Kaiser in Jerusalem. Wenn er sich doch am Dungtor der Altstadt mit Wilhelm getroffen hätte, dem Eingang in das alte jüdische Viertel, fantasierte Herzl, so hätte der Kaiser gewiss erkannt, dass Herzl tatsächlich der König der Juden war. Im Jahr 1901 schrieb Herzl an den Journalisten Maximilian Harden, dass er immer noch ein Faible für den Kaiser habe, »obwol u. vielleicht weil er manchmal irrt. Er ist ein Vollmensch, ein Vollkönig, durch und durch.«36 Wenige Monate vor seinem Tod träumte Herzl von Wilhelm II .: »Er u. ich waren allein auf einer Barke im Meer.«37 Nachdem sich seine Hoffnung auf deutsche Unterstützung zerschlagen hatten, nahm Herzl Anlauf, beim osmanischen Regime Wohlwollen für das zionistische Projekt zu gewinnen, obwohl diese Strategie bislang völlig erfolglos geblieben war. Im Jahr 1899 wandte er sich zwei Mal an den stellvertretenden osmanischen Außenminister Artin Dadyan Pascha und zeichnete ein rosiges Szenario von einem Osmanischen Reich, das dank jüdischer finanzieller Unterstützung unabhängig geworden war. Da er unbedingt eine Audienz beim Sultan erreichen wollte, bot Herzl Mehmet Nuri Bey, dem Chefsekretär des osmanischen Außenministeriums, sogar ein Schmiergeld an, doch auch dieser Schachzug scheiterte. Bis Ende 1900 änderte sich nichts an der Situation, doch dann teilten seine Kontaktleute in Konstantinopel Herzl mit, dass die Regierung nach einem Darlehen in Höhe von 700.000 Pfund Ausschau halte und dass die Zionisten den Deal arrangieren sollten. Herzl, der seit Jahren von einem Luftschloss über jüdische Bankiers faselte, die Millionen von Pfund daherredete, musste auf einmal etwas Konkretes vorweisen. Zum Glück für Herzl hatte er in Jacobus Kann, einem holländischen Bankier, der dem Team für die Gründung der Jüdischen Kolonialbank angehörte, einen Verbündeten. Zwei Monate lang arbeitete Herzl mit Kann daran, das Darlehen zusammenzubringen, doch die osmanische Regierung entschied sich für einen anderen Kreditgeber. 169

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Tief getroffen zog Herzl in seinem Tagebuch vom Leder und schrieb, dass er die großen jüdischen Bankiers überreden werde, sämtliche Verbindungen zu den Türken abzubrechen. Wiederum zitierte er Vergil: »Wenn ich die Oberen nicht umstimmen kann, werde ich die Unterwelt bewegen.« Mit jedem Mal, dass er diese Wendung erneut heraufbeschwor, verlor sie jedoch etwas von ihrer Macht. Das erste Mal war es seiner Entscheidung vorausgegangen, einen Zionistenkongress einzuberufen, der ein großer Erfolg war. Beim zweiten Mal war ihm klar geworden, dass große jüdische Bankiers seine Bewegung nicht unterstützen würden und dass er die zionistische Bank mit Hilfe kleiner Anteile gründen musste. Und jetzt steigerte sich Herzl in einen Wutanfall, der in Wirklichkeit ein Eingeständnis der Ohnmacht war. Er versuchte, seine Schwäche mit arroganter Würde zu überspielen, etwa als er Anfang 1901 um eine Audienz beim Sultan ersuchte, mit dem Hinweis: »Allein diese gnädige Tat vermag den Fehler wettzumachen, den Ihre Beamten begangen haben. Daraufhin werde ich kommen und vollständige Loyalität am Fuß Ihres Throns bezeugen.«38 Allerdings richtete sich Herzls Aufmerksamkeit nie ausschließlich auf den Sultan. Eine Woche bevor er diesen Brief versendete, griff Herzl erneut seine Idee aus dem Jahr 1898 auf, wonach Zypern eine Alternative zu Palästina sein könnte. Es wäre zu hart, Herzls diplomatische Bemühungen als völligen Fehlschlag abzutun. Er erreichte zwar weder das ersehnte deutsche Protektorat noch eine Charta vom osmanischen Sultan, aber er brachte den Zionismus zu einer bekannten Größe auf der Weltbühne. In seinem letzten Lebensjahr sollte Großbritannien der zionistischen Bewegung eine beispiellos hohe Anerkennung gewähren. Bis dahin bestanden Herzls große Errungenschaften jedoch vor allem im Ausbau der Zionistischen Organisation und in der Ausbreitung des Zionismus in den jüdischen Gemeinden Europas. Im Jahr 1900 hatte er in Wien bereits so viel Einfluss, dass er die bedeutendste jüdische philanthropische Einrichtung Österreichs, die Israelitische Allianz zu Wien, dazu bewegen konnte, drei Zionisten in den Vorstand aufzunehmen. Die Trennlinie zwischen Diplomatie und 170

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ner jüdischer Politik verschwamm gelegentlich, wie im Fall der Versuche Herzls, beim Zar vorstellig zu werden, »damit durch die Thatsache dieser Audienz unsere Bewegung in Russland als anerkannt erscheine«.39 Herzl bestritt ausdrücklich, dass er den Zar zu einer Billigung des Zionismus bewegen wolle, denn das könnte, in Anbetracht der Heftigkeit des Antisemitismus in Russland, als »Ausweisungsbefehl« gedeutet werden. Die zionistische Zeitung Die Welt musste einen vergleichbaren Drahtseilakt vollführen. Von den ersten Ausgaben an berichtete sie über antisemitische Vorfälle in ganz Europa, musste aber bei Artikeln über antijüdische Vorfälle innerhalb Österreich-Ungarns Vorsicht walten lassen, dessen Rechtsprechung die Zeitung unterstand. Im Juli 1897 wurde eine Ausgabe der Welt per Dekret konfisziert, als sie Auszüge aus einem polnischen Zeitungsartikel über eine österreichische Armeeeinheit nachdruckte, die in Tarnow, Galizien, Amok gelaufen sei: Dort heißt es: »Mit gezückten Bajonneten marschirten die Soldaten durch die Straßen, schlugen und stachen jeden Juden, der ihnen nur in den Weg kam. Die Gendarmerie vertrieb das Publicum von den Gassen, hinderte aber die Soldaten nicht in der ›Arbeit‹.«40 Zwei Jahre später wurde ein Jude, Leopold Hilsner, aus dem böhmischen Ort Polna, des Ritualmordes an zwei christlichen Frauen angeklagt. Als er für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurde, musste sich Die Welt zurückhalten, weil journalistische Kritik an einem Gerichtsurteil strafbar war. Herzl gewährte es Rosenberger (inzwischen der Chefredakteur der Zeitung) jedoch, ganz offen über die gehässige, antisemitische Rhetorik im Gerichtssaal und über die Fadenscheinigkeit der Argumentation der Staatsanwaltschaft zu schreiben. Herzl war verständlicherweise stolz auf Die Welt, eine exzellente Zeitung, über die er (wenn auch nur inoffiziell) die alleinige Kontrolle hatte. Sein anderes Lieblingsprojekt, die Jüdische Kolonialbank, war vergleichsweise frustrierend, da er in Anbetracht der Komplexität des Unterfangens sich gezwungen sah, die Vollmacht an andere zu delegieren. Herzl hielt nicht viel von Kann (obwohl der ein professioneller Banker war) und 171

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warf auch Wolffsohn vor, nichts von Finanzen zu verstehen, obwohl Wolffsohn ein erfolgreicher Geschäftsmann war und in Geldangelegenheiten sicher über mehr Expertise verfügte als Herzl. Wegen der Bank und unzähligen anderen Dingen pflegten Herzl und Moses Gaster, der Oberrabbiner der britischen sephardischen Gemeinde, eine besonders intensive Feindschaft. Ein Ausgangspunkt dieser Spannungen war die Trennlinie zwischen altgedienten Aktivisten der Zionsfreunde wie Gaster und Herzl, der als Emporkömmling und Ignorant gegenüber den essenziellen Fragen des Judentums angesehen wurde. Eitelkeit, Unbeweglichkeit, Kleinlichkeit und Ehrgeiz seitens seiner Mitstreiter wie auch seiner Rivalen spielten gewiss ebenfalls eine Rolle, und nicht zuletzt Herzls eigene Unfähigkeit, Kritik zu beherzigen, und sein tiefer Widerwillen gegen jede Form von Kompromiss. Wie Herzl sich einmal gegenüber Ussischkin äußerte: »Es genügt nämlich in der Regel, dass ich mich für eine Sache ausspreche, damit entweder bei dieser oder bei jener Fraction der Unabhängigkeitsgeist erwache, und dann findet man, um dem ›Tyrannen‹ seinen Willen nicht zu thun, alle möglichen Gründe, die dagegen sprechen.«41 Zwischen den osteuropäischen Zionisten und Herzl bestand auch eine kulturelle Kluft, doch diese sollte nicht überbewertet werden. Herzl machte sich gelegentlich über seine jiddischund russischsprechenden Kollegen lustig, aber er betrachtete die osteuropäischen Juden auch als Quellen der Aristokratie und der Authentizität – Qualitäten, die er über alles schätzte. Folglich schrieb Herzl über die osteuropäischen Juden: »Das ist nicht [der Sklave] Kaliban, sondern [der Zauberer] Prospero!« [Figuren aus Shakespeares Stück Der Sturm, Anm. d. Ü.]42 Herzls manchmal arrogante Haltung gegenüber Wolffsohn sollte nicht als bloße Demonstration der Arroganz eines »westlichen« Juden gegenüber einem »östlichen« interpretiert werden. Herzl forderte von jedem bedingungslose Loyalität ein, auch von britischen und amerikanischen Zionisten. Die von Herzl geschaffenen Strukturen waren so stark, dass sie die Streitigkeiten aushielten, die einen so großen Raum in Herzls Tagebuch und seiner Korrespondenz einnehmen. Die 172

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eigentliche Frage war, ob Herzl selbst stark genug war um weiterzumachen. Der Vierte Zionistenkongress fand Mitte August 1900 in London statt. Kurz nach der Ankunft in London erkrankte Herzl schwer, hatte vierzig Grad Fieber und litt unter Angina-Anfällen. Drei Tage lang war er außerstande, das Bett zu verlassen. Unter den Delegierten kursierten bereits Gerüchte, dass er nicht teilnehmen werde. Doch da erscholl, der Erzählung des ungarischen Zionisten Samuel Bettelheim zufolge, »plötzlich ein Aufschrei, ein tausendstimmiger! Alles wendet sich zum Eingang am untersten Ende der Halle, woher der Lärm kam. Herzl kommt!! Hoch über die Masse ragt sein prachtvoller Kopf, wie einst Saul, mit der Schulter höher als das ganze Volk. Die Wirklichkeit übertrifft alle von seinen Porträts gewonnenen Vorstellungen. So hoheitsvoll und gleichzeitig so urjüdisch, hatten sie ihn nicht geahnt.«43 Herzls Anwesenheit auf dem Kongress war aus Gründen unerlässlich, die weit über die Leitung der Angelegenheiten der Zionistischen Organisation hinausgingen. Er hatte ganz bewusst den Veranstaltungsort des Kongresses von Basel nach London verlegt, um die Aufmerksamkeit der britischen Regierung und Öffentlichkeit zu erregen. Seine Eröffnungsrede war eine wohlberechnete Umwerbung, indem er Großbritannien als den letzten Ort auf Erden anpries, wo »Gottes Volk nicht verwünscht und verfolgt« werde und wo es »volle Freiheit« genieße.44 Die Presse schluckte den Köder. Der Glasgow Herald kommentierte: »Das Kompliment, das der Präsident des Zionistenkongresses diesem Land machte, ist desto willkommener, weil es nicht nur ehrlich, sondern auch wohl verdient ist.« Die Birmingham Post würdigte ebenfalls Herzls »Dankbarkeit« gegenüber Großbritannien. Die Leeds Mercury beschrieb Herzl als »jemanden, der sich für uns zu Wort meldet«, und das in einer Zeit, in der Großbritannien vom Kontinent »schikaniert« werde. Die Presse ging auch auf Herzls Warnungen ein, dass die jüdische Einwanderung aus Russland nach Großbritannien für das Land und für die Juden gleichermaßen »verheerend« sei und dass eine Massenwanderung der Juden aus Osteuropa nach Palästina im Interesse aller liege. Zwar wurde Herzls 173

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nungsrede von der Presse unisono gelobt, doch die Stimmung bezüglich der Durchführbarkeit war gemischt. Im Glasgow Herald hieß es etwa: »Eine Dachstube in einem Elendsviertel von Whitechapel mag nicht gerade ein sehr wünschenswertes Vermächtnis sein, aber sie ist zumindest realer als visionäre Hektar auf den kargen Hügeln Galiläas oder Judäas.« Eine walisische Zeitung verwies auf die Kluft zwischen »der frommen Idee, die dem Zionismus zugrunde liegt« und der Skepsis der reichen englischen Juden, die »sich von der Bewegung fern halten«.45 Herzl gelang es nicht, diese Kluft zu überbrücken. Die prominenten Bankiers Nathaniel Mayer Rothschild und Samuel Montagu lehnten den Herzlschen Zionismus ebenso ab wie der Aktivist Claude Montefiore. Mehrmals versuchte Herzl, den englisch-deutschen Bankier Isaac Seligman zu überzeugen, jedoch erfolglos. König Edward VII . und Lord Salisbury, der britische Außenminister, blieben unerreichbar, obwohl Herzl endlos auf Salisburys Privatsekretär einredete. Herzl rackerte sich weiterhin an allen drei Fronten ab: Er versuchte, mit Großbritannien warm zu werden, die sich rasch abkühlende Asche des Begeisterungsfeuers mit Deutschland erneut zu schüren und einzelne Funken aus dem Osmanischen Reich zu einem Feuer zu entfachen. Monatelang nach dem Kongress ereignete sich erst einmal nichts, doch dann machten sich Vamberys Interventionen bezahlt. Am 8. Mai 1901 teilte Vambery Herzl mit, dass der Sultan ihn empfangen wolle, »nicht als Zionisten, sondern als Chef der Juden u. einflussreichen Journalisten«.46 Er mahnte Herzl, mit keinem Wort den Zionismus zu erwähnen, und ließ auch die ernüchternde Bemerkung fallen, dass der Sultan Herzls Namen nicht gekannt habe. Aber Herzl war glücklich und glaubte, er benötige lediglich eine Stunde der Zeit des Sultans, in der er in einer brillanten Rede sein Anliegen vortragen werde. Herzls Familie steckte gerade mitten im Umzug in eine andere Wohnung, doch er packte eilends seine Taschen und reiste nach Konstantinopel ab, in Begleitung von Wolffsohn und einem Mitglied des Wiener ZO Komitees, dem Architekten Oskar Marmorek (Alexanders 174

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Bruder). Aus Angst, dass der Band des Tagebuchs, an dem er gerade schrieb, gestohlen werden könnte, begann Herzl einen neuen. Der Zeitpunkt war bemerkenswert, nicht nur wegen der bevorstehenden Reise nach Konstantinopel, sondern auch, weil, wie Herzl notierte, die Pfingstferien näher rückten – und damit der sechste Jahrestag von Herzls psychischem Wirbelwind, der ihn zur zionistischen Bewegung geführt und an ihre Spitze katapultiert hatte. Auch die erste Ausgabe der Zeitung Die Welt war um diese Zeit erschienen, nach der Veröffentlichung hatte Herzl geschrieben: »Die Pfingstwoche 1897 werde ich mir merken.«47 Dass Pfingsten ein christlicher Festtag ist, an dem die Niederkunft des Heiligen Geistes zu den Aposteln Jesu gefeiert wird, hielt Herzl nicht davon ab, Schlüsselereignisse in seinem Leben daran festzumachen. Am 13. Mai war er in Konstantinopel und nahm dieselbe Suite im Hotel Royal, die er fünf Jahre zuvor bezogen hatte, mit demselben atemberaubenden Blick auf das Goldene Horn, die Meerenge, die das byzantinische Konstantinopel von den jüngeren Teilen der Stadt trennte. Aber Herzl kam sich wie »ein anderer Mensch« vor. »Die Schönheit rührt mich nicht mehr.« Herzl ließ die Tage voller Gespräche mit hochrangigen Funktionären und belanglosen Besichtigungen über sich ergehen. Seine Stimmung war deutlich trüber als noch vor seiner Begegnung mit dem Kaiser in Jerusalem. Doch ihm schossen unzählige Pläne durch den Kopf, wie er den »märchenhafte[n] Wunschmoment« am besten nutzen konnte. Am Morgen des 17. Mai übte Herzl laut in der Badewanne ein, was er (auf Französisch) dem Sultan zu sagen beabsichtigte, und fragte sich: »Wie viel von dem Allen werde ich placiren können?« Noch am selben Vormittag erhielt er die Nachricht, dass der Sultan ihn empfangen wolle. Zwei Tage später schrieb er jubelnd in sein Tagebuch: »Alles habe ich placirt.«48 Die lang ersehnte Audienz hatte stattgefunden. Herzl trug einen Überzieher, den er zwei Jahre zuvor extra für dieses Ereignis hatte maßschneidern lassen. Wie im Jahr 1896 wurde er zum Yildiz-Palast geführt, und wieder 175

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tete er die wöchentliche Demonstration der Macht, die man Selamlik nennt: »Jeden Freitag das gleiche. Truppen marschiren auf u. bilden undurchdringlichere Mauern als die von Stein. Der Hofstaat, Eunuchen, Prinzessinnen in geschlossenen Landauern, Paschas, Würdenträger, Schranzen u. Lakaien de toutes les couleurs. Alles marschirt bei Musikbegleitung vorüber. Drüben blaut wie ein Wunder der Bosporus. Dann ruft der Muezzin vom Minaret u. der Padischah fährt im halbgeschlossenen Wagen zur Moschee.«49 Herzl beschrieb Sultan Abdul Hamid knapp als »klein, mager, mit grosser Hakennase, gefärbtem Vollbart, schwacher, zitternder Stimme«. Seiner eigenen Darstellung zufolge übernahm Herzl den größten Teil des Gesprächs, beschwor Bilder von technischen Wunderwerken herauf, welche die Juden dem Reich bringen würden, den Reichtum, den sie durch Elektrizität und Eisenbahnmonopole hervorbringen würden, und von der Bereitschaft jüdischer Financiers, die osmanischen Verpflichtungen umzuschulden. Herzl erwähnte den Zionismus mit keinem Wort, bat allerdings gegen Ende der Audienz vage um eine, wie er es nannte, »judenfreundliche Kundgebung«. Herzl hegte eine tiefe Abneigung gegenüber dem osmanischen Hof, und seine Schmeicheleien für den Herrscher waren absolut unaufrichtig: »Ich that also sehr vergnügt bei der Aussicht, unter das bewährte glorreiche Scepter Abduls Hamids zu kommen«, schrieb er. Obwohl Herzl von Kaiser Wilhelm schäbig behandelt worden war, verehrte er diesen weiterhin und war von der Großherzigkeit der deutschen Politik überzeugt. Ganz anders war seine Haltung zum Sultan oder seinem Hof: Ich kam in die Gewalt eines Despoten, den ich alle Ursache hatte für halb irrsinnig zu halten. … Mein Eindruck vom Sultan war, dass er ein schwacher, feiger, aber durch u. durch gutmüthiger Mensch ist. Ich halte ihn weder für tückisch, noch für grausam, sondern für einen tief unglücklichen Gefangenen, in dessen Namen eine räuberische, infame, verlumpte Camarilla die äussersten Schändlichkeiten begeht. … Abdul Hamid Khan II ist ein Sammelname für das schuftigste Spitzbubengesindel, welches jemals ein Land unsicher und 176

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unglücklich gemacht hat. Ich habe nie die Möglichkeit einer solchen troupe de malfaiteurs [Verbrecherbande] auch nur geahnt. Die Ehrlosigkeit der Trinkgeldnehmerei, die an den Thoren des Palastes beginnt u. erst an den Stufen des Throns aufhört, ist wahrscheinlich noch das Schlimmste nicht. Alles ist Geschäft u. jeder Beamte oder Functionär ist ein Gauner.50 Ungeachtet dieser zutiefst empfundenen Antipathie versprach Herzl in seiner Kommunikation mit osmanischen Regierungsvertretern nach der Rückkehr nach Wien, dass Juden in einem autonomen Palästina loyale Verteidiger des Reiches wären und auch Wehrdienst leisten würden. Ein Luftschloss auf das andere bauend, schlug Herzl dem Sultan im Juni eine von Juden gegründete Aktiengesellschaft mit einem Eigenkapital in Höhe von fünf Millionen Pfund vor, die in die Schatulle des Reichs fließen sollten. Bei seiner Audienz beim Sultan, und in diesem Vorschlag nochmals, verwies Herzl auf die Fabel von Androclus und dem Löwen, wobei er sich selbst in der Rolle des Androclus sah, der dem Löwen, dem Sultan, den Dorn aus der Pfote ziehen und so dessen Dankbarkeit erwerben werde. Zwei Monate nach der Rückkehr aus Konstantinopel verbrachten Herzl und seine Familie die Sommerferien wie üblich in Altaussee, einem Kurort rund 320 Kilometer von Wien entfernt. An Jom Kippur waren sie immer noch dort, und trotz Julies endlosen Streitereien mit Herzl und ihrer Schwiegermutter Jeanette war Herzl bester Laune: »Heute saß ich am See u. er war schön. Da dachte ich mir, wie es wäre, wenn ich im nächsten Frühling so am See von Genezareth sitzen könnte, u. entschloss mich, zu schreiben.« Er notierte eine neue Liste an Staatsmännern, zu denen er sich Zutritt verschaffen wollte: der südafrikanische Magnat Cecil Rhodes, Zar Nikolaus II ., König Edward VII . und der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, der nach der Ermordung William McKinleys erst kürzlich das Amt übernommen hatte.51 Vorstöße an der diplomatischen Front waren für Herzl stets ein Ansporn, auch weil sie eine willkommene Ablenkung von seinem Verhältnis zur Zionistischen Organisation boten, das immer angespannter wurde und allmählich dem eines 177

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teils zu einem rebellischen Heranwachsenden ähnelte. Der Zionistenkongress entwickelte sich von einer Versammlung von Einzelpersonen, die als nationale Delegierte zusammenkamen, zu einem Parlament, das sich aus politischen Parteien zusammensetzte. Die ersten dieser Parteien waren ein Produkt der kritischen Masse der Bewegung in Osteuropa. Seit den ersten Tagen der ZO sprachen sich osteuropäische Zionisten von den Zionsfreunden für eine sofortige Siedlungstätigkeit aus, die Herzl für Geldverschwendung und eine unnötige Provokation der osmanischen Regierung hielt. Er stimmte jedoch mit den Osteuropäern in der Notwendigkeit überein, eine Agentur für den Landkauf in Palästina zu gründen. Er hatte selbst diese Idee im Jahr 1896 aufgeworfen, und auf dem Ersten Zionistenkongress ein Jahr später hatte der russisch-jüdische Mathematiker Hermann Schapira einen Fonds vorgeschlagen, dessen Landkäufe niemals weiterverkauft werden dürften, sondern für alle Zeit im Besitz des jüdischen Volkes blieben. Schapira starb im Jahr 1898, doch auf dem Fünften Zionistenkongress im Jahr 1901 beaufsichtigte Herzl die Gründung des Jüdischen Nationalfonds (JNF ). Diese Geste spornte die siedlungsorientierten Zionisten an, aber Herzl hatte nicht die Absicht, über den JNF Land zu kaufen, bis Palästina sicher in jüdischer Hand war. Eine sich überlappende, aber eigenständige Gruppe Zionisten war weniger an der Ansiedlung von Juden in Palästina interessiert als an der Förderung einer nationalen jüdischen Kultur. Die Gruppe scharte sich um den langjährigen Zionisten Achad Ha-Am, der Herzls Träume von einem jüdischen Staat verwarf und vielmehr glaubte, das jüdische Volk benötige vor allem eine kulturelle Erneuerung, gestützt auf die hebräische Sprache und eine bescheidene, aber lebendige jüdische Gemeinde in Eretz Israel. Achad Ha-Am rückte von der ZO ab und zog es vor, aus der sicheren Distanz seiner Zeitung Ha-Shiloah heraus die Bewegung zu kritisieren. Innerhalb der ZO ging nun von einem ehemaligen Verbündeten, Leo Motzkin, einem der wenigen russischen Zionisten, die Herzls politisches Programm gebilligt hatten, Widerstand gegen Herzl aus. Motzkin schloss sich einer Gruppe junger Männer an, darunter Chaim 178

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mann, der gerade kürzlich seinen Doktortitel in Chemie abgelegt hatte, und der Gelehrte Martin Buber. Im Jahr 1901 organisierten sich diese und rund dreißig weitere Männer zu einem Gremium namens Demokratische Fraktion, die rund zehn Prozent der Delegierten auf dem Fünften Kongress stellte. Zum Teil spiegelte der Name den Groll der Mitglieder über Herzls autokratische Leitung der Bewegung wider. Aber tatsächlich waren für diese Männer jüdische Kultur und Demokratie untrennbar verbunden, weil Erstere ein Ausdruck des Volkswillens und Letztere Voraussetzung für die Ausübung dieses Willens war. Herzl war die jüdische Kultur keineswegs gleichgültig. Wie die Neue Freie Presse enthielt auch die zionistische Zeitung Die Welt historische und literarische Essays. Herzl Kenntnisse des Hebräischen waren zwar begrenzt, aber er schätzte dessen Bedeutung für die osteuropäische zionistische Elite. Er ließ seinen Judenstaat unmittelbar nach Erscheinen ins Hebräische übersetzen und sorgte dafür, dass das Organ der ZO sowohl auf Hebräisch als auch auf Deutsch erschien (Ha-Olam, was ebenfalls Die Welt heißt). Herzl befürchtete jedoch, dass jene Zionisten, die sich so stark für die Entwicklung neuer Formen der jüdischen Kultur einsetzten, auf die eine oder andere Art Fürsprecher der Säkularisierung des jüdischen Lebens waren. Das brachte die Unterordnung des traditionellen Textkanons und die Priorisierung von modernen Auffassungen der historischen Entwicklung und der Naturwissenschaften sowie eine selektive Haltung zur Einhaltung ritueller Gebote mit sich. Herzl selbst hielt sich nicht an jüdische Bräuche und Gebote und scherte sich auch nicht darum, wie andere ihr Leben führten, aber die Kulturzionisten brachten die orthodoxen Zionisten gegen sich auf, deren Unterstützung Herzl dringend brauchte, um die osteuropäischen Massen zu erreichen. Jene orthodoxen Juden, die sich für den Zionismus erwärmten, betrachteten ihn als eine rein humanitäre Bewegung, um die Juden von Armut und Unterdrückung zu erlösen. Darauf konnten sie sich mit Herzl einigen. Somit ergab sich eine seltsame Allianz zwischen dem erzsäkularen Herzl und den orthodoxen 179

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Zionisten, die im Jahr 1902 eine eigene Fraktion namens Mizrahi bildeten, ein Kürzel für Merkaz Ruhani (spirituelles Zentrum). Herzl ließ der aufkeimenden Fraktion finanzielle Unterstützung zukommen, damit sie einen guten Start hatte und ein Gegengewicht zu den Kulturzionisten bilden konnte. Zusätzlich zu den nicht leicht zu durchschauenden Streitigkeiten innerhalb der ZO sah sich Herzl mit einer gleichgültigen, mitunter feindseligen Reaktion der osteuropäischen Zionisten auf seine diplomatischen Manöver konfrontiert. Sie waren darüber aufgebracht, dass er für die Reise nach Konstantinopel auf die Reserven der Bank zurückgegriffen hatte (obwohl Herzl betonte, es handle sich lediglich um ein kurzfristiges Darlehen), und hielten das ganze Unterfangen für reine Geldverschwendung. Ein verbitterter Herzl schrieb in sein Tagebuch: Wenn einmal der Judenstaat existiren wird, wird Alles klein u. selbstverständlich erscheinen. Vielleicht wird ein gerechterer Geschichtsschreiber finden, dass es immerhin etwas war, wenn ein mittelloser jüdischer Journalist inmitten der tiefsten Erniedrigung des jüdischen Volkes, zur Zeit des ekligsten Antisemitismus, aus einem Lappen eine Fahne u. aus einem gesunkenen Gesindel ein Volk gemacht hat, das sich aufrecht um diese Fahne schaarte [sic]. Aber dies Alles u. die Geschicklichkeit in den Verhandlungen mit Mächten u. Fürsten sind nichts. Niemand kann würdigen, was ich gethan u. gelitten habe …52 Vier Tage nach dem Schreiben dieser Zeilen wurde Herzl während einer Kutschfahrt im Pariser Bois de Boulogne ohnmächtig. Er legte sich im Dickicht des Waldes zunächst über zwei Stühle und fuhr anschließend »mit stark vermindertem Bewusstsein nach Hause«.53 Wenige Monate nach dem Vorfall schrieb er an Wolffsohn, dass er seine Nerven überanstrengt und Vorahnungen eines plötzlichen Todes habe. Er beauftragte Wolffsohn »als ein heiliges Vermächtnis« damit, unmittelbar nach seinem Tod einen Fonds für die Unterstützung seiner Kinder einzurichten. Die Familie seiner Frau sollte keinen Cent bekommen.54 180

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Herzl war am Boden, aber noch nicht ausgezählt. Als die Schwierigkeiten rings um ihn herum immer größer wurden, erwies sich das Schreiben von Fiktion als Balsam. Er war entschlossen, einen Roman zu komponieren, der seine innersten Gefühle und Sehnsüchte im Zusammenhang mit dem Zionismus ausdrückte. Es sollte kein längeres Feuilleton sein, geschweige denn eine Flucht vor dem Zionismus, sondern ein alternatives Instrument für dessen Verwirklichung. Dieser Gedanke ging ihm seit den fieberhaften Wochen im Sommer 1895 immer mal wieder durch den Kopf. Die Ideen für die Handlung waren im Wandel, aber die Rolle des Helden war stets für Herzl selbst vorgesehen. Anfang 1898 zog er in Betracht, die Geschichte eines aufrechten jüdischen Journalisten zu schreiben, der Zionist wird und mit einer liebenswürdigen Frau an seiner Seite auf einem Schiff ins Gelobte Land reist. Ein Jahr später wählte er einen ganz anderen Ansatz. Auf dem Dritten Kongress gab Herzl bekannt, dass er begonnen habe, an einem Roman zu arbeiten, über den Die Welt gemäß seinen Anweisungen schrieb, er schildere Bedingungen in der geplanten neuen Gemeinschaft zwanzig Jahre nach deren Gründung.55 Am Tag nachdem Herzl diese Anweisung abgeschickt hatte, kam ihm während einer holprigen Busfahrt in den Vororten Wiens der Titel des Romans in den Sinn. Das Buch sollte Altneuland heißen, nach der mittelalterlichen Altneu-Synagoge in Prag. Pflichtschuldig kündigte Die Welt auch dies an. In den folgenden Jahren bemühte Herzl sich nach Kräften, trotz aller Verpflichtungen die Zeit zum Schreiben des Romans zu stehlen. Und er tadelte sich selbst, wenn er die Arbeit daran ruhen ließ, damit er nicht »immer schlechter u. lustloser wird, je länger er liegt«. Herzl fühlte sich verpflichtet, das Werk zu vollenden: »Die Erfolgshoffnungen im Praktischen sind zerflossen«, vertraute er im März 1901 seinem Tagebuch an. »Mein Leben ist jetzt kein Roman. So ist der Roman mein Leben.«56 Herzl meinte hier sein gesamtes Leben, nicht nur die Jahre seit seiner Wendung zum Zionismus, sowie sein Bestreben, nicht nur als Anführer, sondern auch als ernsthafter Autor anerkannt zu werden. »So bin ich zum Beispiel auf dem Felde«, schrieb er, 181

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»auf dem ich geistig fast gar nichts geleistet habe … in der Judenfrage wurde ich als Agitator weltberühmt. Als Schriftsteller, namentlich als Dramatiker gelte ich nichts, weniger als nichts. Man nennt mich nur einen guten Journalisten. Obwol ich fühle, weiss, dass ich ein Schriftsteller von grosser Race bin oder war, der nur sein volles Mass nicht gegeben hat, weil er angeekelt u. entmuthigt wurde.«57 Tatsächlich sollte es im letzten Akt seines Lebens von der Fiktion zu einem echten diplomatischen Durchbruch kommen, der dazu führte, dass eine Großmacht ein Territorium zum Wohle des jüdischen Volkes anbot. Allerdings hatte die Sache einen Haken: Es war nicht Palästina.

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Theodor Herzl vor der Baseler Synagoge, anlässlich des Sechsten Zionistenkongresses (August 1903)

Kapitel 6

Wenn ihr wollt, ist es doch ein Traum

An Freitag, dem 24. Januar 1902, wachte Herzl in den frühen Morgenstunden in einer nachdenklichen Stimmung auf. »Der Zionismus war der Sabbath meines Lebens«, schrieb er. Ohne dies näher auszuführen, ging er anschließend zu einem Moment ehrlicher Selbsteinschätzung über: »Ich glaube, meine Wirkung als Führer ist darauf zurückzuführen, dass ich, der ich als Mensch u. Schriftsteller so viele Fehler habe u. hatte u. so viele Fehler u. Dummheiten beging, in der zionistischen Sache reinen Herzens u. ganz selbstlos war.«1 Diese Aussagen spiegeln einen hohen Grad an Emotionalität wider. Und statt bei anderen die Schuld zu suchen und, wie so häufig, in Selbstmitleid zu ertrinken, räumte Herzl auch eigene Fehler ein. Die Analogie, die Herzl zwischen seiner Beziehung zum Zionismus und der des jüdischen Volkes zum Sabbat herstellte, war ein Eingeständnis, dass selbst dieser überaus säkulare Mensch nicht ganz ohne das Heilige auskam. Es war auch eine schmerzhafte Aussage über Herzls Haltung zum Judentum – in all seiner Ambivalenz des Wortes, das sowohl den »Judaismus« als auch das »jüdische Volk« bedeuten kann. Herzls »Sabbath« war keine geheiligte Zeit, genauso wenig wie das Heilige Land in seinen Augen heilig war. Der Zionismus war vielmehr ein Projekt, ein Gerüst, das Herzls Leben Struktur und Sinn verlieh. Bei allem Stress, den die zionistische Bewegung für ihn bedeutete, war sie doch das Auge seines psychischen Sturms und eine Quelle innerer Ruhe. Die Ruhe wurde durch Taten herbeigeführt, nicht durch die Ruhe des Sabbats. Taten sollten Träume real werden lassen – Träume von der Linderung jüdischer Not und einem Ende industrieller Hast und ökonomischer Ungleichheit, die den europäischen Kontinent plagten. In Herzls bestem Stück, Das neue Ghetto, waren das »jüdische Problem« und das »soziale Problem« miteinander verflochten. Das Gleiche gilt für Herzls 185

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man Altneuland, wobei der Hauptunterschied zwischen beiden natürlich darin besteht, dass im Roman beide Probleme gelöst werden. Das Motto des Romans »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen« wurde zum Wahlspruch der zionistischen Bewegung und des Staates Israel. Für Herzl war der Roman eine wahre Fundgrube an Träumen, die wenig Ähnlichkeit mit den verzweifelten diplomatischen Manövern aufwiesen, die er bis kurz vor seinem Tod führte. Herzl war ein Sozialreformer, aber kein Extremist. Im Jahr 1898 versicherte er dem deutschen Außenminister Bülow, der die Juden verdächtigte, den internationalen Marxismus zu lancieren, dass Moses den Individualismus in Reaktion auf den pharaonischen Sozialismus erfunden habe. Die Botschaft seines Feuilletons »Solon in Lydien«, derzufolge Ungleichheit und der Kampf ums Überleben notwendige Übel seien, nahm Herzl in einem seiner letzten Feuilletons wieder auf, das er 1903 über einen Protestmarsch von Arbeitslosen in London schrieb. Beim Beobachten dieser Masse der verarmten Menschheit empfand Herzl großes Mitleid, konstatierte jedoch, dass die Angst vor Armut und das Bestreben, diese zu vermeiden, der Schlüssel zu jedem gesellschaftlichen Erfolg seien. Herzl blieb dem Kapitalismus treu, solange dieser nicht von Habgier oder Betrug korrumpiert war. Im Jahr 1901 schrieb Herzl anerkennend über einen Aufsatz mit dem Titel »Zur Physiologie der Geschäfte«, verfasst von dem mächtigen deutsch-jüdischen Industriellen Walther Rathenau. Der Aufsatz basierte nicht auf realen Begebenheiten, gab vorgeblich die Memoiren des Neffen eines kürzlich verstorbenen ethnisch deutsch-russischen Staatsrats wieder. Der fiktive Onkel wurde als preußischer Adliger dargestellt, der den aristokratischen Ehrenkodex mit heldenhafter finanzieller Risikobereitschaft verband. Herzl war begeistert über die Schilderung des Geschäftsmanns, der naturgemäß ein Herrscher war: stark, robust und aufrichtig. In seiner Rezension des Beitrags rühmte Herzl das Talent des Unternehmers, »Bedürfnisse [zu] erkennen und Bedürfnisse [zu] schaffen« – als Dramaturg zu fungieren, der Wünsche hervorruft, dieses jedoch ohne Manipulation oder Unehrenhaftigkeit bewirkt.2 186

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Als Rathenau Herzl enthüllte, dass er die Geschichte in Wirklichkeit erfunden habe, zuckte Herzl nicht mit der Wimper, sondern betrachtete dies als Gesprächseinstieg mit einem Mann, den er gerne für den Zionismus gewinnen wollte. Die Wege der beiden Männer hatten sich in der Vergangenheit bereits gekreuzt. Im Jahr 1897 schrieb Rathenau einen verletzenden Essay mit dem Titel »Höre, Israel«, in dem er den Antisemitismus auf das rüpelhafte und unmoralische Verhalten der Juden selbst zurückführte. Damals schrieb Herzl an den Redakteur der Zeitschrift, die den Artikel veröffentlicht hatte, dass Rathenau nicht ganz unrecht habe – dass sich die Juden in der Tat ändern müssten. Sich selbst präsentierte er als Beispiel: »Sie kennen mich nicht, aber auch wenn Sie mich früher gekannt hätten, würden Sie mich jetzt nicht mehr kennen. Eine solche Idee wirkt auf den Menschen wie der Märchenbrunnen, aus dem andere Gestalten hervorgehen als die eingetaucht sind. Durch den Brunnen soll nun das jüdische Volk hindurch.« Vier Jahre später korrespondierten Herzl und Rathenau direkt miteinander. Diesmal sprach Herzl nicht davon, dass sich die Juden verändern müssten, sondern schwärmte: »Viele wunderbare Möglichkeiten stecken in der Auferstehung des jüdischen Volkes.« Sobald es seine Heimstätte wiedererlangt habe, werde es eine »Bodenreform, … Socialreformen … und Orientreformen« durchführen.3 Herzl sprach seit der Vollendung von Der Judenstaat in diesem Tenor. Im Jahr 1898 bemerkte er, die Landwirtschaft im jüdischen Staat werde von Genossenschaften übernommen werden, die von der Jewish Company einen Kredit bekämen. In Paris im Juni 1899 dachte Herzl intensiv über die gesellschaftlichen Grundlagen des jüdischen Staates nach. Seine Fantasie wurde von einer Automobilausstellung angeregt, fortan malte er sich Flotten elektrisch angetriebener Autos und ein Netzwerk aus »Cementwegen« und Ladestationen in ganz Europa aus. Dieses Fantasienetzwerk aus Verkehrswegen und Elektrizität führte ihn dazu, über die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen nachzudenken. Während er über die Rue Cambon und durch die Tuilerien schlenderte, kam Herzl auf 187

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das Wort »Mutualismus«, um die gesellschaftsphilosophischen Grundlagen zu bezeichnen, die ihm vorschwebten: »Zwischen Capitalismus und Collectivismus scheint mir der Mutualismus der Mittelweg.« Dieser sollte von Produktions- und Konsumgenossenschaften geprägt sein, nach dem Vorbild bestehender genossenschaftlicher Betriebe in Europa und Amerika.4 Auf dem Fünften Zionistenkongress im Jahr 1901 verkündete Herzl: »Jede Ansiedlung soll sich nach den Grundsätzen, die uns Erfahrung und Wissenschaft heute schon an die Hand geben, als landwirtschaftliche Produktivgenossenschaft selbst verwalten.«5 Noch im selben Jahr traf sich Herzl mit dem deutschen Ökonom Franz Oppenheimer, einem unermüdlichen Fürsprecher landwirtschaftlicher Genossenschaften als geeignetes Mittel, um den Armen Zugang zu Boden und Krediten zu verschaffen. Oppenheimer war selbst Jude und fühlte sich zum Zionismus schon aus philanthropischer Besorgnis um die osteuropäischen Juden hingezogen. Darüber hinaus aber lag ihm daran, den Antisemiten zu beweisen, dass Juden tatsächlich Land bebauen konnten. Herzl und Oppenheimer korrespondierten miteinander, während er an Altneuland schrieb, und Herzl beauftragte Oppenheimer, mehrere Artikel für Die Welt zu schreiben. Diese Artikel beeindruckten Herzl sehr. Nachdem er im Januar 1902 den letzten gelesen hatte, schrieb er in sein Tagebuch: »Der Schlussappell, der Vergleich eines Rahaline-Experiments [einer Genossenschaftssiedlung in Irland in den 1840er Jahren] mit der elektrischen Versuchsbahn Berlin-Zossen frappirte mich, u. ich entschloss mich sofort, das Opp[enheimer]’sche Experiment auszuführen.«6 Herzl lehnte es jedoch ab, in Palästina vor dem Erhalt einer osmanischen Charta oder der Gründung eines europäischen Protektorats eine Genossenschaftsfarm zu gründen. Stattdessen beschloss er, die Farm im »ägyptischen Palästina«, wie er es nannte, anzusiedeln, also in El-Arisch im Norden der Sinai-Halbinsel, der unter britischer Verwaltung stand. Er war sich auch noch unschlüssig, ob es sich bei dem Projekt um eine »Nationalangelegenheit« zugunsten der »zionistischen Agitation« handeln sollte oder ob er es 188

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»in aller Stille anfangen lasse«. So oder so, Ziel des Experiments war es, eine effiziente und erfolgreiche landwirtschaftliche Siedlung von Juden in Palästina zu ermöglichen. Drei Monate nach diesem Tagebucheintrag beendete Herzl seinen Roman und sah erwartungsvoll der Veröffentlichung entgegen. Die Vorfreude wich jedoch schon bald tiefer Trauer, als sein Vater Jakob im Juni starb. Während eines Aufenthalts in London erhielt Herzl ein Telegramm seiner Frau, dass sein Vater schwerkrank sei, aber obwohl er umgehend Vorkehrungen für die Abreise nach Wien traf, war er noch in London, als die Nachricht einging, dass Jakob gestorben sei. Herzl war am Boden zerstört: »Was war er mir für eine Stütze fort u. fort, was für ein Rathgeber. Wie ein Baum ist er neben mir gestanden. Jetzt ist der Baum weg.« Offenbar hatte Jakob den ganzen Entwurf von Herzls Roman bis auf den Schluss gelesen, den er nun, wie Herzl klagte, nie zu Gesicht bekommen sollte. Und sein Vater würde auch nie erfahren, dass Herzl für den nächsten Tag mit Nathaniel Mayer Rothschild verabredet war, eine Begegnung, »die vielleicht entscheidend für den Zionismus werden konnte«.7 Herzl schickte seinem Kollegen Johann Kremenezky in Wien ein Telegramm mit der Anweisung, dass es keine Reden, sondern nur hebräische Gebete auf Jakobs Begräbnis geben sollte. Nach seiner Rückkehr arrangierte Herzl die Beisetzung seines Vaters in einem provisorischen Grab, nicht in einem Mausoleum, da der Tag schon bald kommen werde, so glaubte er, an dem Jakob exhumiert und in Palästina seine letzte Ruhe finden werde. Während er diesen vagen Träumen nachhing, stand Herzl auch vor der akuteren Sorge um seine verwitwete und betagte Mutter Jeanette. Nach der Beerdigung brachte er sie und den Rest seiner Familie den Sommer über nach Altaussee. Von Anfang Juli bis Mitte August, als er zwischen Paris und London pendelte, ehe er eine dreiwöchige Reise nach Konstantinopel unternahm, ließ er sie allein. Wenn er nicht auf Reisen war, bestand Herzl darauf, zionistische Würdenträger in Altaussee zu empfangen, damit er in der Nähe seiner Mutter bleiben konnte. Er wollte David und Fanny Wolffsohn mit 189

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nette bekannt machen, damit sie sich mit ihnen anfreunden konnte. Herzls Gedanken waren ganz bei Jeanette, nicht bei Julie, mit der er weiterhin auf Kriegsfuß stand. Er beschwerte sich über sie bei ihrem Cousin Moriz Reichenfeld, sie sei ein Drache und eine Lügnerin, und dass er lediglich aus einem »schweren Pflichtconflict« heraus bei ihr bleibe: »Ich kann meine alte unglückliche Mutter nicht vereinsamen lassen; [aber] ich will auch meinen Kindern das väterliche Haus erhalten.«8 Herzl regelte aus dem sommerlichen »väterlichen Haus« die zionistischen Angelegenheiten, korrespondierte etwa mit Nathaniel Mayer Rothschild, mit dem er sich im Juli in London getroffen hatte. Rothschild blieb unerschütterlich bei seiner Ablehnung eines jüdischen Staats: »Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich der Gründung einer jüdischen Siedlung rein und schlicht mit Entsetzen entgegensehe; so eine Kolonie wäre ein imperium [in] imperio, sie wäre ein Ghetto mit den Vorurteilen des Ghettos, sie wäre ein kleiner, winziger jüdischer Staat, orthodox und illiberal, der die Nichtjuden und Christen ausschlösse.« Mit Verweis auf seinen Roman erwiderte Herzl: »Ich habe drei Jahre lang an einer zusammenhängenden Antwort auf dieses u. ähnliche Bedenken gearbeitet.«9 Der Roman Altneuland wirkte somit auf mehreren Ebenen: Er diente dazu, die Skeptiker von der Durchführbarkeit des Zionismus und Herzl von seinem eigenen literarischen Talent zu überzeugen. Außerdem bot er Herzl eine Gelegenheit, die psychischen Dämonen zu vertreiben, die ihn sein Leben lang verfolgt hatten und die mehrfach in seinen Schriften auftauchten. »Dr. Friedrich Löwenberg«, beginnt der Roman, »saß in tiefer Melancholie an dem runden Marmortische seines Kaffeehauses.«10 Der Inhalt ruft Herzls tote Jugendfreunde Heinrich Kana und Oswald Boxer auf, denn auch Friedrich hat seine beiden engsten Freunde verloren: einen durch Selbstmord und den anderen durch eine Tropenkrankheit, während er in Brasilien jüdische Siedlungen aufbaute. Im Lauf der Geschichte vermischen sich wahre Begebenheiten aus Herzls Leben mit seinen langjährigen Selbstwahrnehmungen, Überzeugungen, Vorurteilen und Sehnsüchten. 190

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Friedrich ist arm, ein Anwaltsanwärter, verliebt in eine reiche und verwöhnte Jüdin, die ihm das Herz bricht, als sie sich mit dem Sohn eines wohlhabenden Bankiers verlobt. Als Friedrich von einer Versammlung reicher vulgärer Juden flüchtet, geht er in sein Kaffeehaus, wo er einem jüdischen Hausierer aus Osteuropa und dessen Sohn begegnet. Friedrich begleitet sie zu ihrer ärmlichen Unterkunft, gibt ihnen Geld und ist über sich selbst überrascht, als er zu dem Jungen zum Abschied sagt: »Möge dir der Gott unserer Väter beistehen!« Bei sich denkt er: »Seit den Tagen der Kindheit, da er mit seinem Vater zum Tempel gegangen war, hatte Friedrich vom ›Gott unserer Väter‹ nichts mehr gewusst.« Noch weiß er es nicht, aber hier erlebt er den Beginn einer Wiedergeburt und Rückkehr. Am Rand des Selbstmords stehend, antwortet Friedrich auf eine mysteriöse Zeitungsanzeige, nach der ein »gebildeter und verzweifelter junger Mann [gesucht wird], der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes Experiment zu machen«. Der Mann, der die Anzeige inseriert hat, ein gewisser Kingscourt, ist ein deutscher Adliger mittleren Alters, der ebenfalls Pech in der Liebe gehabt hat. Kingscourt lebt mit zwei Dienern, einem stummen Schwarzen und einem Tahitianer, der seinerseits ein gebrochenes Herz hatte, auf einer verlassenen Insel. Der offenherzige, aber gutmütige Kingscourt sucht nach einem Reisegefährten und findet in Friedrich einen, der die Reise als seinen »Abschied vom Leben« betrachtet. Er hat nur eine einzige Bitte an Kingscourt: eine beträchtliche Geldsumme für die arme Familie, der Friedrich einige Abende zuvor begegnet war. Auf dem Weg zu der verlassenen Insel machen die beiden Männer in Palästina halt, wo sie »arme[n] Juden, schmutzige[n] Araber[n], scheue[n] Juden« begegnen. Sie sehen: »Schwärzliche Dörfer von Arabern. Die Bewohner hatten ein räuberisches Aussehen. Die Kinder spielten nackt im Straßenstaube.« Auch die Hügel sind nackt, »entwaldet«, ja sogar »verkarstet«. Einen lichten Moment gibt es in der jüdischen Siedlung Rechoboth, wo die jungen Siedler sehr zur Freude Kingscourts eine Fantasia zu Pferde vorführen. Doch die Vorführung kann nicht verhindern, dass Friedrich in eine melancholische Stimmung 191

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stürzt, und die beiden Männer begeben sich auf die Reise zu ihrer verlassenen Zuflucht. Zwanzig Jahre später, im Jahr 1923, kehren die Männer nach Palästina zurück. Friedrich ist in der Zwischenzeit muskulös geworden, hat einen sonnengebräunten Teint, und Kingscourt ist über diese Veränderung stolz und froh. So wie Friedrich wurde auch Palästina wiedergeboren. Die Männer gehen in Haifa von Bord, das inzwischen »einem großen Hafen Italiens« gleicht. Der Völkerplatz der Stadt ist der Sitz verschiedener europäischer Handelsgesellschaften und Bankhäuser, und die Präsenz von Kirchen, Moscheen, sowie buddhistischer und hinduistischer Tempel wie auch Synagogen zeugt von der kosmopolitischen Bevölkerung. Friedrich und Kingscourt werden von David Littwak begrüßt, einem stattlichen jungen Mann, der sich als jener Junge entpuppt, dem Friedrich zwanzig Jahre zuvor vor dem Kaffeehaus begegnet war. Er und seine Familienangehörigen sind inzwischen gesund und wohlhabend, dank der großzügigen Spende Kingscourts, die es ihnen ermöglicht hatte, in Palästina ein neues Leben anzufangen. Littwak ist eine führende Persönlichkeit der Neuen Gesellschaft Palästinas – die Regierung der Region heißt so, weil sie kein souveräner Staat ist. Davids Schwester Mirjam ist eine vortreffliche und tugendhafte »junge Dame von großer Schönheit«. Eine weitere Hauptperson, Reschid Bey, ist ein fließend Deutsch sprechender Araber, der in Berlin an der Universität studiert hat. Nachdem die Personen eingeführt sind, ist der Rest des Buches relativ statisch und besteht aus Beschreibungen und Demonstrationen des technischen Paradieses, das die Juden in Palästina geschaffen haben. Die einzige echte Spannung herrscht zwischen Littwak und Rabbi Geyer, einem Nationalisten, der den Mob aufhetzt und bei der Wahl des Präsidenten der Neuen Gesellschaft mit fremdenfeindlichen Parolen als Gegner von Littwak antritt. Gegen Ende des Buches gibt es eine melodramatische Wende, als Littwaks kleiner Sohn schwer erkrankt, worauf der barsche Kingscourt, der an dem Jungen Gefallen gefunden hat, ganz verzweifelt ist. Der Junge übersteht die Krankheit, Davids und Mirjams Mutter jedoch verstirbt. Damit 192

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steht es Friedrich frei, Mirjam zu heiraten, ohne dass eine dominante Schwiegermutter ihm das Leben zur Hölle machen kann. Littwak erinnert an Wolffsohn; sie haben nicht nur denselben Rufnamen, sie sind auch beide traditionelle osteuropäische Juden mit einem außergewöhnlich ausgeglichenen Gemüt. Littwak wird zum Präsidenten der Neuen Gesellschaft gewählt, was Herzls Ernennung Wolffsohns zu seinem Nachfolger als Kopf der Zionistischen Organisation vorwegnimmt. Der Bakteriologe Steineck, der an einem Heilmittel gegen Malaria forscht, ist ein Abbild des zionistischen Aktivisten Alexander Marmorek, der an einem Heilmittel gegen Tuberkulose forschte. Die schöne Mirjam hat frappierende Ähnlichkeit mit Herzls verstorbener Schwester Pauline. Und Friedrich ist, das versteht sich, Herzls Alter Ego. Ein verzweifelter, verlorener junger Mann findet in der altneuen jüdischen Heimstätte Liebe und Sinn. Was Friedrich an den Juden Palästinas am stärksten beeindruckt, ist der Umstand, dass sie ihre Ehre wiedergefunden haben, die sie infolge der schmählichen Assimilierung verloren hatten. Sie sind »stolz und frei« geworden. Es ist kein Zufall, dass gegen Ende des Romans, in wohl einer der stärksten Szenen, der lange innere Monolog Friedrichs am Sabbatabend steht; Friedrich sitzt in Jerusalem, im wiederaufgebauten Tempel. Der Tempel steckt voller biblischer Motive, die Kontinuität, Stärke und Würde bedeuten: Kalksteinwände, ein Bronze-Altar und Becken sowie die Zwillingssäulen, die im Zweiten Tempel Boaz und Jachin genannt wurden (»in Ihm ist Macht« und »Er hat gegründet«). Vor dieser überwältigenden Kulisse grübelt Friedrich: »Das Judentum sah jetzt einfach darum anders aus, weil die Juden sich seiner nicht mehr schämten. … auch die Starken, Freien, Erfolgreichen waren heimgekehrt, und sie empfingen wahrlich mehr als sie gaben. … Dennoch war nur hier allein der Tempel. Warum? Weil sie erst hier zu der freien Gemeinschaft gediehen waren, in der sie für die höchsten Zwecke der Menschheit wirken konnten. … Aber in der Judengasse waren sie ehrlos, wehrlos, rechtlos, und als sie die Gasse verließen, hörten sie auf, 193

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den zu sein. Beides musste da sein: Freiheit und Gemeingefühl. Da erst durften sie das Haus des Unsichtbaren und Allmächtigen errichten …« Der Tempel steht für die Besonderheit des Judentums, doch für Friedrich, wie für Herzl, ist die Integration der Juden in die Gemeinschaft unabhängiger Nationen der Zweck des Zionismus. Auf dem Tempelplatz steht ein riesiger Friedenspalast – ein Ort für internationale Kongresse, Wohnsitz für Gelehrte und Künstler und eine Quelle für humanitäre Hilfe für die Opfer von Katastrophen auf der ganzen Welt. Nicht alle in Altneuland verfolgen ehrenhafte Ziele. Doch jene, die sich nicht auf ehrliche Weise durch Produktion, Dienstleistung oder Forschung und Kunst ihren Lebensunterhalt verdienen, können auch nicht Teil der neuen Gesellschaft sein. Die versnobte, juwelenbehängte Dame, die in so vielen Stücken und Erzählungen Herzls vorkommt, darf auch hier nicht fehlen. Die Frau, die Friedrich in seiner Jugend geliebt hatte, ist inzwischen gealtert und verblüht, aufgetakelt und trägt ein tiefes Dekolleté. Die neue Gesellschaft führt eine Ehrenlegion, über deren Mitgliedschaft allein die Leistung der Betreffenden entscheidet, nicht ihr Vermögen. Das Abzeichen ist »ein gelbes Band im Knopfloch«: gelb, wie das Mal, das europäischen Juden im Mittelalter aufgezwungen wurde. »Aus dem Zeichen der Schande haben wir das Zeichen der Ehre gemacht.« Komplementär zur nach innen erlangten Ehre ist der nach außen erwiesene Respekt. Da die Neue Gesellschaft vom Osmanischen Reich eine Charter erhalten hat, lebt sie mit ihren Nachbarn in Frieden, Bahnlinien führen nach Damaskus und Bagdad. Sie braucht keine Armee. In Europa hat der Wegzug der jüdischen Bevölkerung bewirkt, dass der Antisemitismus verschwunden ist; in manchen Ländern schätzen die Nichtjuden ihre Juden so sehr, dass sie diese anflehen, nicht auszureisen. Dank der neuen jüdischen Heimstätte sind Juden in der Diaspora voll emanzipiert. Reschid Bey spricht auch für die arabische Bevölkerung Palästinas, wenn er seine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck bringt, dass die Juden die westliche Technologie in ein rückständiges Land gebracht haben. Reschid 194

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nimmt sogar an einem ökumenischen Seder anlässlich des Passahfestes teil, zusammen mit den Protagonisten des Romans und christlichen Geistlichen unterschiedlicher Konfessionen. Allerdings ist weder ein Imam noch ein Rabbi anwesend. Der Zweck des Seders ist es nicht, den wundersamen Auszug der Juden aus Ägypten zu feiern, sondern die technischen Wunder, welche die altneue jüdische Heimat hervorgebracht hat. Der Höhepunkt des Abends ist das Abspielen einer phonographischen Aufnahme durch Joe Levy, den Generaldirektor des Industrieamtes. Diese Wiedergabe von technischen und administrativen Prozessen wird sehr detailliert geschildert und erstreckt sich über etliche Buchseiten. Was hat dieser Monolog auf einem Seder anlässlich des Passahfestes zu suchen? Die traditionelle Passah-Liturgie, die Haggada, wird laut rezitiert, genau wie Herzl sein Werk Der Judenstaat laut vorzulesen pflegte, und wie die Hauptfigur in seinem Stück Die Glosse seine Ehe rettet, indem er seiner untreuen Ehefrau eine abstruse Regelung aus dem Gesetzeskodex der Römer vorhält. Hier, wie im ganzen Leben Herzls, hat das gesprochene Wort die Kraft, eine Veränderung zu bewirken. Der Leser entnimmt dieser Stelle, wie auch dem ganzen Roman, dass der Zionismus das Problem der Juden nicht einzig dadurch gelöst hat, dass er arme und verfolgte Juden nach Palästina brachte, sondern vor allem dadurch, dass aus Hausierern und Händlern Bauern, Handwerker und Wissenschaftler wurden. Um die Entstehung eines landlosen Proletariats zu verhindern, befindet sich der gesamte Boden in öffentlichem Besitz, wird von der neu gegründeten Gesellschaft gepachtet, unterliegt aber alle fünfzig Jahre einer Umverteilung, gemäß dem »Jubeljahr« in der Bibel. (Nur wenige zeitgenössische Bodenreformer vertraten so extreme Anschauungen wie Herzl; die meisten plädierten für hohe Grundsteuern und günstige Kredite für Bauern, hielten aber am Privatbesitz fest.) In Altneuland wird eine ungleiche Vermögensverteilung darüber hinaus durch eine Maximierung der Zusammenarbeit bei Produktion und Konsum der Güter gelindert, gleiches gilt für das Angebot von Dienstleistungen. 195

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Im Roman legt Herzl die pessimistischen sozialen Empfindlichkeiten ab, die seine journalistischen Schriften prägten. Und anders als in seiner Korrespondenz mit Rathenau befriedigt in Altneuland eine rationale, bürokratische Politik und nicht das heroische kapitalistische Unternehmertum die Bedürfnisse der Bevölkerung. Noch in Der Judenstaat waren die Diskriminierungen der Juden im Wesentlichen politischer und juristischer Natur, und sie sollten einerseits von der internationalen Gemeinschaft und andererseits von einer jüdischen Adelsrepublik gelöst werden. In Altneuland hingegen treffen wir auf eine demokratische, genossenschaftliche Gemeinschaft, ohne Militär, ja sogar ohne bewaffnete Polizei – eine Gemeinschaft, die durch ökonomische und kulturelle Einrichtungen zusammengehalten wird. Herzls Fantasie dekonstruierte jenen Staat, den sie im Jahr 1896 selbst geschaffen hatte. Diese Kehrtwende verwundert, wenn man bedenkt, wie viel Energie Herzl in geopolitische Überlegungen mit militärischen Mitteln investiert hatte, um einen jüdischen Staat zu erlangen. Man mag die pazifistische Grundhaltung des Romans als Propaganda abtun, um die osmanische Regierung nicht zu verärgern, oder als Luftschlösser einer utopischen Zukunft. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Herzl drei Jahre seines Lebens einer Lüge gewidmet oder ein solches Werk als seine größte literarische Leistung angesehen hätte. Er wehrte sich auch erbittert dagegen, das Wort »utopisch« auf seinen Roman anzuwenden, und versicherte, alles darin könne binnen relativ kurzer Zeit zur Verwirklichung gelangen – konkret: in den zwanzig Jahren ab Veröffentlichung bis zum Besuch der Hauptfiguren im Palästina das Jahres 1922. Ungeachtet der wilden Fantasiesprünge handelt der Roman ebenso sehr von der Wahrung des Status quo wie vom Wandel, und er spiegelt einen Großteil der langjährigen Empfindlichkeiten Herzls wider. In der Neuen Gesellschaft sind die Frauen zwar gleichberechtigt, heiratsfähige Frauen ziehen sich jedoch aus dem öffentlichen Leben zurück, um sich um Mann und Kinder zu kümmern. Nur »die alten Mädchen, die einsamen Frauen« gehen einer Arbeit nach, und ihre Berufsfelder 196

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schränken sich auf soziale Berufe wie Pflege und Bildung. Die Neue Gesellschaft steckt voller technischer Innovationen, doch überwiegend hat sie bereits bestehende Technologien weiterentwickelt, statt völlig neuartige hervorgebracht zu haben. (Die »Telephonzeitung«, wenn man so will ein Vorläufer des Radios oder Internets, bildet hier eine Ausnahme.) Friedrich beschreibt die Neue Gesellschaft als Zeuge einer friedlichen, sozialen Evolution: »Dabei braucht der alte Staat keineswegs aufzuhören, er besteht vielmehr fort und schützt die Entwicklung der neuen Gesellschaft, die ihm ja zugute kommt, die ihn stärkt und erhält.« Landwirtschaftliche Genossenschaften sollen bewirken, dass die Menschen auf dem Land verwurzeln, und sie davon abhalten, in die Städte zu strömen, wo sie sich zu einem gefährlichen, rebellischen Pöbel auswachsen. Die medizinische Forschung in der Neuen Gesellschaft ermöglicht zudem eine Massenmigration der »proletarischen Massen« Europas in die kolonisierte Welt, insbesondere nach Afrika. Die gleichen medizinischen Fortschritte werden es versklavten oder unterdrückten Schwarzen in der westlichen Welt ermöglichen, nach Afrika zurückzukehren. Diese kleine Modellgesellschaft im östlichen Mittelmeerraum wird also eine stabilisierende Wirkung auf die ganze westliche Welt haben. Die wenigsten Leser dürften heute dem Roman mit seiner leicht manierierten Handlung, den flachen Figuren und hölzernen Dialogen einen literarischen Wert zuerkennen. Seit der Gründung des Staates Israel ist der Roman jedoch für die Zionisten, die Israel als die Erfüllung von Herzls Vision einer toleranten und fortschrittlichen Gesellschaft ansehen, eine Quelle des Stolzes. Sie rühmen die vielen zutreffenden Prophezeiungen des Romans, etwa die Entstehung des modernen Haifas und Jerusalems, sowie die fortschrittliche Infrastruktur und westliche Kultur, derzufolge Israel stärker den europäischen als den nahöstlichen Staaten ähnelt. Seine Kritiker halten jedoch den Eurozentrismus für tief problematisch, weil die Neue Gesellschaft keine kulturelle Verbindung zum Nahen Osten hat. Tiberias ist ein Touristenmagnet für gut situierte Amerikaner und Europäer, die sich dort von Musikern aus Ungarn, 197

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nien und Italien unterhalten lassen. Wenn Mirjam »die Musik aller Völker« singt, so meint dies Musik aus Deutschland, Italien, Frankreich und Russland. Palästinenser kommen mit Ausnahme von Reschid Bey im Buch schlicht nicht vor. Ganz ähnliche Kritik am Eurozentrismus des Romans kam zur Zeit der Veröffentlichung aus der zionistischen Bewegung, wenn auch nicht aus der Perspektive des arabischen Nahen Ostens, sondern aus der des jüdischen Osteuropas. Für Achad Ha-Am bestätigte der Roman seine schlimmsten Befürchtungen mit Blick auf Herzl. In einer Rezension, die auf Hebräisch, Russisch und Deutsch erschien, lehnte Achad Ha-Am Altneuland vehement ab, da das Buch jeglichen jüdischen Inhalt entbehre. Die Mitglieder der Neuen Gesellschaft würden ein Sammelsurium an Sprachen reden, ohne erkennbare hebräische Kultur. Religiöse Symbole wie der Tempel oder Rituale wie der Seder am Passahfest seien heilig. (Achad Ha-Am war nicht amüsiert darüber, dass im Roman im Opernhaus ein Werk über das Leben des falschen Messias Sabbatai Zwi aufgeführt wurde, mit dem Herzl gelegentlich von seinen Gegnern verglichen wurde.) Auch erkannte Achad Ha-Am keinen Wert im sozialreformerischen Ethos des Romans, das universal und keineswegs spezifisch auf die Eigenschaften oder Bedürfnisse der Juden zugeschnitten war: Wir fragen nun, wodurch würde sich das Neger-Altneuland vom zionistischen unterscheiden? Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass der Verfasser nur wenige Aenderungen in dem vorliegenden Buche vornehmen müsste, um es ganz zu »negrisieren«. … Ohne eine Spur originellen Talents Andere bloss kopieren, sich von dem »nationalen Chauvinismus« derart fernhalten, dass nichts von den Eigentümlichkeiten des Volkes, von seiner Sprache, Litteratur und Geistesbeschaffenheiten mehr zurückbleibt; sich zusammenrollen und zurückziehen, nur um den Fremden zu zeigen, dass man unendlich tolerant, tolerant bis zum Ekel ist – das vermochten wohl auch die Neger zu vollbringen. … Hier dagegen findet man nur mechanisches Nachäffen ohne jegliche nationale Eigenheit, von dem Duft jener »Knechtschaft 198

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mitten in der Freiheit« durchweht, die ein Kennzeichen des abendländischen Golus bildet.11 Achad Ha-Ams Kritik führte zu einer noch gehässigeren Hetzrede von Nordau, der seinerseits Ha-Am der niedersten Form des Provinzialismus und der Bigotterie bezichtigte. (»Achad Haam will keine Toleranz. Fremde sollten vielleicht geschlachtet, wenigstens verjagt werden, wie in Sodom und Gomorrha. Der Gedanke der Toleranz erregt seinen Ekel.«) Nordaus Polemik löste wiederum eine Flut von Gegenkritik und Verteidigungen aus. Auch wenn die Kritik an Herzl von den osteuropäischen Zionisten am schärfsten ausfiel, hatten Herzl und Nordau doch auch Sympathisanten im ganzen Ansiedlungsrayon des Zarenreichs, darunter der russische Zionist Max Mandelstamm, der Herzl mit auf den Weg gab, er solle sich um die »halbasiatischen Jeschiwa-Typen« nicht kümmern. »Der russische Sumpf ist zum Leben erweckt worden, und seine Frösche quaken.« Die wohl geistreichste Verteidigung Herzls kam von dem deutschen Zionisten Sammy Gronemann, der scherzhaft einwarf, wenn Achad Ha-Am einmal Achilles persönlich begegnen sollte, dann würde er nur dessen Ferse sehen.12 Herzl war von diesen Angriffen persönlich tief getroffen. In seinen Augen waren die jüdischen Aspekte der Neuen Gesellschaft wesentlich, keinesfalls albern. Er hatte seine innersten Hoffnungen und Sehnsüchte enthüllt, und ein Buch, von dem er meinte, es werde die jüdische Welt vereinen und inspirieren, entpuppte sich als Anlass für einen Parteienstreit. Die Polemik tat ihr Übriges zu seinem allgemeinen Gefühl der Erschöpfung und des nahenden Todes. Seine Anfälle von »Gehirnanämie« und Herzklopfen wurden immer häufiger, und er sah voraus, dass er bald sterben werde. »Ich selbst bin anhaltend sehr unwohl«, klagte er dem Arzt Marmorek. »Herzneurose! Daran u. an den Juden werde ich zu Grunde gehen.«13 Seine Familie hielt er über seine Verfassung im Unklaren. Julie zu informieren würde sie, schrieb er in sein Tagebuch, »darum auch nicht liebevoller« machen.14 Im März 1903 setzte Herzl ein drittes (und letztes) Testament auf, in dem er seine Kinder als Erben einsetzte, seiner Mutter jedoch ein Altenteil 199

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zusprach. Sein Sohn Hans sollte in England auf die Schule gehen, jenem Land, zu dem Herzl eine tiefe Zuneigung entwickelt hatte. Herzl verfügte, dass er neben seinem Vater beigesetzt werden solle, bis das jüdische Volk seine Überreste nach Palästina überführe.15 Jedes verstorbene enge Familienmitglied solle ebenfalls nach Palästina überführt werden, mit Ausnahme von Julie, es sei denn, sie verlangte es ausdrücklich in ihrem letzten Willen. Das Testament gab Julie der Verachtung preis und warf ihr ganz explizit horrende Ausgaben vor, die ihre Mitgift und das Vermögen ihrer Eltern verschlungen hätten. Herzl seinerseits gab für die zionistische Bewegung ebenfalls reichlich Geld aus, das aus demselben Topf stammte: für die Zeitung, seine Reisen und für die Zahlungen an seine Agenten im Ausland. Aber trotz wachsender Geldsorgen weigerte sich Herzl bis zum Schluss, für die zionistische Tätigkeit eine Bezahlung anzunehmen. Wolffsohn drängte ihn mehrfach dazu, aber Herzl erwiderte zornig: »Irre Dich nicht u. komm mir nicht wieder mit den Dummheiten, dass ich mich in der Bewegung bezahlt machen soll. Das ist heller Wahnsinn u. wird nie geschehen. Nicht nur weil ich mich vor mir selbst ekeln würde, sondern auch weil es mich um alle Autorität brächte.«16 Herzl war unbestechlich, und er legte großen Wert darauf, dass die Welt ihn auch so sah. Wie er Goldsmid schrieb: »Alle meine Feinde warten begierig darauf, dass ich Fehler mache, alle diese Leute, welche vom Ehrgeiz oder von anderen persönlichen Interessen getrieben sind, werden nur für solche Leute gefährlich, wie sie es selbst sind. Ich besitze weder Ehrgeiz noch persönliche Interessen.«17 Finanzielle Missgeschicke seitens seiner Kollegen empörten ihn, und als er einmal von Wolffsohn einen finanziellen Gefallen erbitten musste, war es Herzl aufrichtig peinlich. Wolffsohn musste schwören, die Sache geheim zu halten. In seinen letzten Jahren spiegelten Herzls Schriften für die Neue Freie Presse das Selbstbild eines Mannes wider, der über »Ehrgeiz und persönlichen Interessen« stand, aber auch seine Sorgen angesichts von Altern und Sterblichkeit. Die Geschichte »Die Brille« aus dem Jahr 1902 handelt von einem Mann mittleren Alters, der sich seine erste Lesebrille angeschafft hat und 200

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darüber trübselig grübelt: »Erst die Brille ist die Grenze, die Wasserscheide. Von hier ab fließen die Wasser nach der anderen Seite. Da muss man daran glauben. Die Brille ist der offizielle Beginn des Alters.«18 Dem Erzähler zufolge verlieren wir zuerst unseren Sehsinn, dann unsere Leidenschaft, und das Lesen verbleibt als einziges Vergnügen. Der Erzähler trägt seine neue Brille, während er in einem Hotelsalon schreibt. Er sieht – oder besser: nimmt wahr –, wie eine junge Dame den Raum betritt. Durch die Brille kann er ihre Züge nicht klar erkennen, aber er riecht den Duft ihres Parfüms und hört das Rascheln ihres Kleides. Er widersteht dem Drang, mit ihr zu flirten oder die Brille in ihrer Gegenwart zu verstecken, um sein Alter zu verbergen. Die Frau mit dem verschwommenen Gesicht im Salon erinnert ihn an ein vierzehnjähriges Mädchen, das er als junger Mann geliebt habe. In dieser Geschichte ist Herzl in seine eigene Jugend abgetaucht, zu seiner Liebe zu Madeleine Kurz und deren Nichte, elf Jahre später. Doch die nostalgische Sehnsucht bleibt blass, und die Emotionen bleiben im Hintergrund. Dem Erzähler ist nun jene Distanzierung gelungen, die der junge Herzl, sowie seine diversen fiktiven Alter Egos, angestrebt hatte, aber nie erreichen konnte. Trotz insgesamt nachlassender Tatkraft brachte Herzl noch genügend Vitalität auf, um seine eigenen diplomatischen Anstrengungen fortzusetzen. Im Januar 1902 bereitete er einen Brief an Cecil Rhodes vor, den Gouverneur der Kapkolonie im heutigen Südafrika und einen der einflussreichsten Architekten des britischen Empires. Herzl glaubte, Rhodes wäre in der Lage, Investoren für ein hohes Darlehen an das Osmanische Reich zu mobilisieren. Als Gegenleistung für diese finanzielle Unterstützung würde die Zionistische Organisation wiederum die langersehnte Charter für die jüdische Ansiedlung in Palästina erhalten. »Sie werden eingeladen, Geschichte machen zu helfen«, schrieb Herzl. »Das kann Sie weder erschrecken, noch werden Sie darüber lachen.« Herzl zeichnete die zionistische Bewegung als eine gewaltige und vereinigte Macht: »Die Zionisten gehorchen einem mot d’ordre von der Mandschurei bis nach Argentinien, von Canada bis nach dem Capland u. 201

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Seeland. Am dichtesten sitzen unsere Anhänger in Osteuropa. Von den fünf Millionen Juden in Russland schwören gewiss vier Millionen auf unser Programm.«19 Herzl schickte den Brief nie ab, gab sich stattdessen mit Versuchen zufrieden, über Mittelsmänner eine Begegnung zu arrangieren. Gleichzeitig unterstützte Herzl Anstrengungen seiner Verbündeten im Vereinigten Königreich, ein Konsortium wohlhabender Investoren in einer jüdischen Siedlungsgesellschaft in Palästina zu gründen. Weder der eine noch der andere Plan ging auf. Rhodes reagierte auf Herzls Vorstöße gar nicht und starb im März des Jahres. Die Anleger blieben auf Distanz. Auch Herzls Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich trugen weiterhin keine Früchte. Seine Reise nach Konstantinopel im Juli erreichte kaum etwas und stärkte desto mehr seine Überzeugung, dass die Günstlinge des Herrschers sich gegen ihn verschworen haben mussten. Herzl zog die Möglichkeit in Betracht, Palästina scheibchenweise zu erwerben, eventuell angefangen mit kleinen Konzessionen in Haifa oder Akka. Er schmeichelte dem Sultan weiterhin mit Beteuerungen, dass die Juden »sachliche, fleißige, loyale Elemente« wären, »die sich den Muslimen durch rassische Verwandtschaft und religiöse Nähe verbunden fühlten«.20 Als seine Hoffnungen auf eine positive osmanische Antwort jedoch schwanden und sich an der deutschen Front weiterhin nichts rührte, konzentrierte sich Herzl auf das Vereinigte Königreich. Großbritannien kontrollierte zwar nicht Palästina, aber es regierte Ägypten und Zypern, die sich beide als vorübergehende Heimstätte für die Juden eigneten, bis Palästina gewonnen werden konnte. Herzl hatte seit 1898 gehofft, Zutritt zu britischen Regierungskreisen zu bekommen, und der Vierte Zionistenkongress von 1900 hatte eigens zu diesem Zweck in London getagt. Aber seine große Chance kam erst im März 1902, dank der Intervention Leopold Greenbergs – ein Anhängers Herzls und zugleich Politiker und Verleger in Birmingham. Greenberg kannte Joseph Chamberlain, den Kolonialminister, der selbst aus Birmingham stammte und dessen politische Laufbahn als Bürgermeister der Stadt begonnen hatte. Greenberg verschaffte Herzl 202

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die Gelegenheit, vor der Royal Commission on Alien Immigration zu sprechen, die man einberufen hatte, um über Beschränkungen für die Einwanderung armer und verfolgter Juden aus Osteuropa in das Vereinigte Königreich zu beraten. Mit einmonatiger Verspätung wegen des Todes seines Vaters hielt Herzl am 7. Juli 1902 seinen Vortrag. Das war eine großartige Gelegenheit, aber sie barg auch etliche Fallstricke. Sein Englisch war alles andere als perfekt, und er konnte auf Englisch nicht so schnell reagieren wie in seinen Muttersprachen Deutsch und Ungarisch oder in dem für ihn fast muttersprachlichen Französisch. Herzl musste eine schmale Gratwanderung zwischen der Argumentation gegen eine unbegrenzte Einwanderung nach Großbritannien auf der einen Seite, die dem jüdischen Staat seine potenzielle Bevölkerung entziehen würde, und einer scheinbaren Billigung des Antisemitismus auf der anderen Seite wagen. Eingangs der Rede machte Herzl deutlich, dass die osteuropäischen Juden nicht bleiben könnten, wo sie jetzt seien. »Wo wollen sie hin? Will man sie hier nicht, dann muss ein Ort gefunden werden, wohin sie emigrieren können, sonst wird das Problem geschaffen, mit dem Sie hier beschäftigt sind. Diese Probleme entstehen aber nicht, wenn [für sie] eine Heimat gefunden wird, welche rechtlich als jüdische anerkannt wird.«21 Herzl war der Meinung, dass sich die jüdischen Einwanderer in Großbritannien als »betriebsame, nüchterne und sparsame Leute« erweisen würden, aber ungeachtet ihrer positiven Eigenschaften würden sie, je größer ihre Zahl, desto mehr Angst und Hass unter der einheimischen arbeitenden Bevölkerung hervorrufen. England sei gewiss kein antisemitisches Land, versicherte Herzl der Kommission, er fürchte aber, »dass die nicht abgelenkte Einwanderung einmal eine antijüdische Stimmung erzeugen könnte«. Obwohl Herzl den Zionismus als ein Instrument vorstellte, das die Einwanderer von Großbritannien weglenkte, wies er die Vorstellung weit von sich, britische Juden müssten ihre Häuser in Richtung einer neuen jüdischen Heimat verlassen. »Sie müssen es jedermann überlassen, selbst zu entscheiden, ob er sich assimilieren will oder nicht.« 203

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Ungeachtet seines etwas holprigen Englisch beeindruckten Herzls souveränes Auftreten und besänftigenden Worte seine Gesprächspartner. Selbst Lord Rothschild begeisterte er, dessen Gegnerschaft gegen den Zionismus ihn keineswegs gegen eine jüdische Ansiedlung in Herzls neuen Interessengebieten einnahm: Zypern und die Sinai-Halbinsel, insbesondere ElArisch, wo Herzl sechs Monate zuvor enthusiastisch die experimentelle Gründung einer jüdischen Genossenschaftsfarm geplant hatte. Er sprach leidenschaftlich mit Rothschild darüber, dass die jüdische Ansiedlung britische Interessen im östlichen Mittelmeerraum stärken würde. Mit Rothschild und Greenberg im Rücken traf Herzl im Oktober Chamberlain. Wiederum sonnte sich Herzl darin, sich in der Gesellschaft mächtiger Männer zu befinden, und in dem Gefühl, in der Weltpolitik eine Rolle spielen zu können. Chamberlain verwies kurzerhand jede Diskussion über ägyptisches Territorium an Lord Cromer, den britischen Generalkonsul, der, de facto, wenn auch nicht nominell, in Ägypten das Zepter in der Hand hielt. Chamberlain wies ferner darauf hin, dass Zypern bereits griechische und muslimische Bevölkerungsanteile habe, welche wohl einer jüdischen Einwanderung ablehnend gegenüberstehen würden. Herzl war mit der Begegnung dennoch zufrieden: »Die colossale Hauptsache, die ich gestern erzielt habe, war, dass Joë Chamberlain den Gedanken eine self governing jewish colony [sic] in der Südostecke des Mittelmeers zu gründen, nicht a limine abweist.«22 »Sollten wir«, fragte er sich zwei Wochen später nach dem Treffen mit dem britischen Außenminister Lord Lansdowne, »knapp vor dem Abschluss eines – englischen – Charters u. vor der Begründung des Judenstaates stehen?«23 Die Ansichten des Außenministers waren entschieden zynischer. Lord Lansdowne schrieb an Cromer, dass El-Arisch »vielleicht nicht gerade der geeignete Ort wäre, um Juden aus dem Londoner East End oder aus Odessa abzuladen«.24 Der ganze Plan sei, so Lansdowne, »sehr visionär«, ein Euphemismus für absolut undurchführbar. Ehe Herzl sich den gewaltigen technischen Herausforderungen dieses »visionären« Plans widmete, musste er die Billigung 204

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seines Aktionskomitees einholen, das skeptisch, wenn nicht gar konfrontativ war. Für mehrere Komiteemitglieder war die Vorstellung einer jüdischen nationalen Heimstätte außerhalb Palästinas schmerzhaft bis unerträglich. Doch Herzl betonte nachdrücklich, es sei wegen der akuten Nöte der europäischen Juden erforderlich, sofort einen Zufluchtsort zu schaffen. Um die Region schmackhafter zu machen, bezeichnete er sie als das biblische »Land Goschen« oder »ägyptische Palästina«. Im Verlauf der Sitzung erlitt Herzl einen körperlichen Zusammenbruch, aber am Ende erhielt er grünes Licht vom Komitee, die Möglichkeit einer Ansiedlung von Juden auf dem Sinai weiter auszuloten. Zwei Monate nach der Sitzung, unmittelbar vor Weihnachten 1902, schickte das britische Foreign Office Herzl ein Telegramm, in dem es hieß, dass »die Sache auf der Sinai Halbinsel … möglich sein [werde]«, sofern eine Erkundungskommission »die realen Verhältnisse möglich findet«.25 Bald darauf wurde die Kommission zusammengestellt. Ihr gehörten ein belgischer Agrarexperte an, der bereits an mehreren Expeditionen in den Kongo teilgenommen hatte, und ein britischer ziviler Ingenieur, der den Bau des Assiut-Damms am Nil in Oberägypten beaufsichtigte. Die übrigen Mitglieder waren zionistische Aktivisten aus diversen Fachgebieten: ein Bergbauingenieur, ein Arzt, ein Architekt und ein ehemaliger Militärbefehlshaber (Albert Goldsmid, den Herzl zu Beginn seiner zionistischen Karriere kennengelernt hatte). Sie alle waren mit Tagebüchern und Federhaltern ausgerüstet, um Herzl Berichte zu schicken, dazu ein ausgeklügeltes System telegrafischer Codes, die dem ganzen Projekt ein abenteuerliches Flair verliehen. Greenberg war jetzt Herzls Mann in Kairo – eine Entscheidung, die Herzl bald bereuen sollte, spielte er doch gern selbst die Rolle des Chefdiplomaten. Als es Greenberg nicht gelang, von Cromer eine Charter zu bekommen, packte Herzl seine Sachen und machte sich Mitte März 1903 auf die Reise nach Ägypten. Nach fünf Reisen nach Konstantinopel und dem kurzen Besuch in Palästina sollte dies Herzls letztes Nahostabenteuer werden. Es begann, wie könnte es anders sein, mit einem Feuilleton. »Eine Reise nach Ägypten« erzählt Herzls Seereise 205

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nach Alexandria, wo er bereits fünf Jahre zuvor auf dem Weg nach Palästina angelegt hatte. Anschließend schildert der Beitrag die Weiterreise nach Kairo, mit den üblichen, orientalistisch gefärbten Beobachtungen zur Größe des Nils, über den Lärm, den Schmutz und die Farben sowie darüber, dass die Ägypter immer noch die armseligen Brote der alten Israeliten äßen, und über die Allgegenwart von Eseln, Kamelen und die »viele[n] schwarz vermummte[n] Weiber«. Den Kern des Textes bildet jedoch nicht die umfassende Kritik an der Rückständigkeit der Araber, sondern vielmehr ein Loblied auf die britische Kolonialmacht und deren positive Auswirkungen auf das Land. Während er das Menschengedränge auf dem Platz unter der Terrasse seines Hotelzimmers betrachtet, schreibt Herzl: Aber mitten drin stehen etliche Wachleute, streng, britisch angehaucht, fast schon policemen. Eine Abteilung Hochländer marschiert vorüber, schottische Hosen, flotte Jungen – die Okkupation. Andere englische Herren, Offiziere, haben den Tarbusch, der höher ist als der Fez der Türken auf dem Kopfe. Und wie sie es verstehen, Ordnung zu machen, ohne Brutalität, ohne Tropenkoller, nimmt sich wunderbar genug aus. Das Volk Ägyptens war seit vordenklichen Zeiten gewohnt, von Fremden beherrscht zu werden. Nun ist ein Fremder gekommen, der freilich fabelhafter aussieht, als alle Eroberer, Raubfürsten und Despoten vergangener Zeiten; ein Zwingherr, der das Volk nicht aussaugen oder zertreten, sondern es heben und bessern will. Dieser rätselhafte Eindringling verbreitet Licht, schafft Ordnung, sorgt für Reinlichkeit, schützt die Gesundheit, bringt Gerechtigkeit, regelt die Finanzen, lässt jeden nach seiner Façon selig werden, sichert die Straßen, baut Dämme und wirtschaftet mit dem Wasser, dem Wasser des Nils, wie in den Jahrtausenden noch niemals ein Herrscher Ägyptens. Dass der Zwingherr all dies Gute einem hohen und fernen Machtgedanken zuliebe schafft, weiß der Fellah nicht und verstünde es nicht, wenn er es wüsste.26 Herzl schwärmt von britischen Bewässerungs- und Staudammprojekten in Oberägypten, welche die Produktivität und damit 206

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auch die Steuereinnahmen, die daraus strömen, erheblich gesteigert haben: »Dieses früher bankerotte Land hat jetzt verblüffende Überschüsse, aus denen die öffentlichen Bauten bestritten werden. … Es [der Bau des Staudamms] hat eine Menge Geld gekostet, aber jetzt funktioniert er tadellos. Das ist die Okkupation der Ingenieure.«27 Herzl war, daran ließ er keinen Zweifel, ein begeisterter Befürworter der Kolonisation. Doch über diese Ingenieure schrieb er in einer merklich veränderten Tonlage am 26. März 1903 in sein Tagebuch. Bei dem Besuch eines recht trivialen Vortrags durch den britischen Bewässerungsexperten Sir William Willcocks in Kairo interessierte sich Herzl am meisten für »die auffallend grosse Zahl intelligent blickender junger Egypter, welche den Saal gedrängt füllten. Das sind die kommenden Herren. Es ist wunderbar, dass die Engländer das nicht sehen. Sie glauben, sie werden es ewig mit Fellachen zu thun haben. Heute genügen ihre 18.000 Mann Truppen für das grosse Land. Aber wie lange noch? … Die Function der Engländer ist grandios. … Aber mit der Freiheit u. dem Fortschritt lehren sie die Fellachen auch die Auflehnung. Ich glaube, die englische Schule in den Colonien zerstört entweder Englands Colonialherrschaft – oder sie begründet Englands Weltherrschaft.«28 Drei Tage später, anlässlich eines Besuchs der Pyramiden, notierte Herzl in sein Tagebuch: »Das Elend der Fellachen am Wege unbeschreiblich. Ich nehme mir vor, auch an die Fellachen zu denken, wenn ich einmal die Macht habe. Ich werde mich in Geduld fassen müssen.«29 Politische Rücksicht, sowohl gegenüber seinen Wiener Arbeitgebern als auch gegenüber seinen britischen Schutzherren, veranlasste ihn zur Selbstzensur. Er wagte es auch nicht, öffentlich seine Empfindungen gegenüber Lord Cromer auszudrücken, jenem Mann, der für die gewaltigen Infrastrukturprojekte verantwortlich war, die Herzl so sehr bewunderte. Als die beiden Männer sich begegneten, behandelte Cromer Herzl mit kaum verhohlener Verachtung, und Herzl hielt Cromer für den »unangenehmste[n] Engländer, den ich bisher vor mir hatte. … Etwas zu viel morgue [Hochmut], eine Spur von Tropenkoller 207

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u. unbeschränktem Statthalterthum. Ich glaube, ich gefiel ihm nicht.« Tatsächlich war Cromer nicht kategorisch gegen eine Ansiedlung der Juden auf dem Sinai, aber er und Herzl waren sich über manches uneinig: über die Dauer der Pacht des Territoriums, dessen Größe und darüber, ob es durchgehend oder parzelliert sein sollte. Herzl forcierte sein Anliegen und ersuchte die Jewish Colonization Association des verstorbenen Baron Hirsch um finanzielle Unterstützung. Vor Rothschild baute er die Drohkulisse auf, dass ohne eine jüdische Enklave, welche die osteuropäische Abwanderung aufnehmen könnte, ein fremdenfeindliches britisches Parlament unter Umständen eine jüdische Einwanderung ganz verhindern könnte – was Herzl »für einen der grössten moralischen Verluste [hielt], die uns drohen«.30 Als Chamberlain und Herzl sich am 24. April in London trafen, versuchte der Kolonialminister, Herzl vom Sinai abzubringen, und schlug stattdessen ein Gebiet, das er »Ugande« nannte, in Britisch-Ostafrika an der Uganda-Bahnlinie vor (im heutigen Kenia). Fern der Küste, versicherte Chamberlain Herzl, sei das Klima erträglich, »auch für Europäer«. Man könne dort Zucker und Baumwolle anbauen. Chamberlain hatte seine Gründe dafür, dass er die Juden in Ostafrika ansiedeln wollte. Wie die kürzlich importierten Inder könnten auch die Juden die Landwirtschaft und den Handel der Region entwickeln, zudem wären sie, wie er hoffte, nicht so streitbar wie die südafrikanischen Buren, mit denen sich die Briten damals im Krieg befanden. Herzl konnte dem Gedanken nichts abgewinnen. Er bestand darauf, eine Basis »in oder nächst Palästina« zu bekommen, um dem Siedlungsprojekt eine, wie er es nannte, »nationale Basis« zu verschaffen. Drei Wochen nach dem Treffen mit Chamberlain schlossen britische Regierungsvertreter die Option Sinai jedoch offiziell aus, als der Unterstaatssekretär für öffentliche Bauten in Ägypten zu dem Schluss kam, dass eine Ansiedlung dort fünf Mal mehr Wasser erfordern würde, als der zivile Ingenieur der Erkundungskommission geschätzt hatte. Herzl war geknickt. »Ich hielt die Sinai-Sache für so fertig, dass ich keine Familiengruft mehr auf dem Döblinger Friedhof 208

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kaufen wollte, wo mein Vater provisorisch ruht. Ich halte die Sache jetzt für so gescheitert, dass ich schon auf dem Bezirksamt war u. die Gruft Nr.28 erwerbe.«31 Infolge der Verschlechterung seines Gesundheitszustands wurde Herzl immer launischer, zog wegen eingebildeter Illoyalität über Kollegen her und verlangte bedingungslosen Gehorsam. Auch seine Verzweiflung wuchs. Die Lage der osteuropäischen Juden, die ihn dazu veranlasst hatte, eine jüdische Ansiedlung auf der öden Sinai-Halbinsel zu forcieren, wurde nach dem 19. und 20. April immer schlimmer, als bei einem Pogrom in der bessarabischen Stadt Kischinjow (heute Chișinău in der Republik Moldau) neunundvierzig Juden ums Leben kamen. Das Blutbad erregte internationales Aufsehen. Die große Herausforderung für Herzl bestand nicht nur in der Allgegenwart des Antisemitismus in Russland, der physischen Gefahr für die dort lebenden Juden und das Fehlen eines Territoriums, das die Juden ihr Eigen nennen konnten und in dem sie eine sichere Zuflucht fanden. Darüber hinaus warf ihm die russische Regierung Steine in den Weg, um eine Auswanderung zu verhindern, und betrachtete den Zionismus als eine illegale Form sozialen Extremismus. Wollte er auch nur eines dieser Probleme lösen, musste er sich allen gleichzeitig widmen. Es dauerte einige Zeit, bis Herzl von dem gescheiterten Sinai-Projekt loslassen konnte, doch Mitte Mai unternahm er den schicksalhaften Schritt, an das Laien-Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Konstantin Pobedonoszew, und an den russischen Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe zu appellieren. Er schrieb nicht, um gegen den Mord an unschuldigen Juden zu protestieren, sondern um demütig eine Audienz beim Zaren zu erbitten. Statt die Vorwürfe, dass die russischjüdische Jugend einen Hang zum Sozialismus zeige, zurückzuweisen, billigte Herzl sie und forderte eindringlich, die zionistische Bewegung zu legalisieren, damit sie rasch die Juden aus dem Zarenreich, wo sie nicht willkommen seien, heraus und nach Palästina bringen könne. Bertha von Suttner schaltete sich in Herzls Namen ein sowie eine weitere einflussreiche Frau mit Sympathien für den Zionismus, eine polnische Adlige namens 209

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Paulina Korvin-Piatrovska, die in St. Petersburg wohnte und Plehwe persönlich kannte. Herzl erhielt die Erlaubnis, zu einem Treffen nach Russland einzureisen, und war am 7. August in St. Petersburg. An dieser Reise war kaum etwas erfreulich. Herzl empfand keinerlei Sympathie oder Bewunderung für seine Gesprächspartner, wie etwa in Deutschland oder Großbritannien, geschweige denn hatte Russland den üppigen Charme des Osmanischen Reiches. Er und Plehwe redeten über geschäftliche Dinge von rein pragmatischer Natur. Plehwe würde die Legalisierung einer zionistischen Bewegung voll und ganz unterstützen, die sich ausschließlich der Auswanderung von »einige[n] Millionen Juden« widmete, insbesondere »die schwachen Intelligenzen u. die geringen Vermögen«.32 (Plehwe gestand ganz offen, dass er die reichsten und klügsten gern im Land behalten würde.) Allerdings werde es keine Toleranz für den Zionismus geben, wenn er jüdische politische Aktivitäten in Russland schüre. Die jiddische und hebräische Kultur waren ihm ebenso suspekt. Im Gegenzug bat Herzl um die Aufhebung der Auswanderungssteuer und um finanzielle Zuwendungen für die jüdische Auswanderung – Zuwendungen, die über Steuern finanziert würden, welche Russlands reichste Juden gezahlt hatten. Darüber hinaus bat Herzl um eine russische Intervention beim Sultan zugunsten des jüdischen Anspruchs auf Palästina. Während Herzl Plehwe für zwar kühl, aber aufgeschlossen hielt, erschien ihm der Finanzminister Sergej Witte brüsk, fast schon feindselig, gerade weil er weniger dogmatisch antisemitisch war. Witte ließ keinerlei Empathie für die Lage der Juden erkennen und meinte gar, er würde ohne Weiteres Millionen von ihnen im Schwarzen Meer ertränken, wenn er könnte. Da dies jedoch ein Ding der Unmöglichkeit sei, müssten sie wohl in Russland bleiben und dürften nicht noch stärker unterdrückt werden. Witte äußerte seine Bedenken gegen einen jüdischen Staat in Palästina, weil Juden auf diese Weise zu Wächtern der Heiligen Stätten wie Jerusalems Grabeskirche würden. Wie die Christenheit so etwas akzeptieren könne, wollte er wissen. Herzl kommentierte dies indirekt damit, das sei »der bekannte 210

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Einwand jüdischer Banquiers [sic]«.33 In Herzls auf den ersten Blick unlogischer Reaktion spiegeln sich seine anhaltende Wut über assimilationistische jüdische Plutokraten wider sowie seine Überzeugung, dass eben diese unablässig seine Pläne hintertreiben würden. Es trug jedoch nicht dazu bei, den Finanzminister zu besänftigen. Herzl wurde keine Audienz beim Zaren gewährt, doch er war überzeugt, dass Plehwe ein tüchtiger Mittelsmann sei, der in guter Absicht handle. Dieses eine Mal hatte Herzl allem Anschein nach Recht. Er bekam einen Brief von Plehwe, der später in der Zeitschrift Die Welt veröffentlicht wurde und in dem er sich für einen jüdischen Staat in Palästina aussprach, sofern dieser in der Lage sei, beträchtliche Zahlen der russischen Juden aufzunehmen. Die russische Regierung werde der osmanischen Regierung mitteilen, dass man die ungehinderte zionistische Betätigung im Zusammenhang mit der Auswanderung in Russland gestatte und es jüdischen Gemeinden erlaube, eine Sondersteuer zu erhalten, um die jüdische Migration zu finanzieren. Der Brief stimmte sämtlichen Bitten Herzls zu. Er ging sogar noch auf einen Punkt ein, den Herzl gegenüber Plehwe vorgebracht hatte, wonach konkrete Maßnahmen zugunsten der russischen Juden vor Ort diese von dem guten Willen der Regierung überzeugen würden. Demzufolge versprach der Brief, mehr Juden in die Lage zu versetzen, außerhalb des Ansiedlungsrayons zu leben, jenes Gebiets in West- und Südrussland, auf das die Juden damals gesetzlich beschränkt waren. Es ist eine große Ironie der Geschichte, dass die erste Billigung eines modernen, jüdischen Staatswesens durch eine Großmacht ausgerechnet von Russland kam, einem historischen Unterdrücker der Juden. Gewiss, dabei handelte es sich um eine sorgfältig umrissene Unterstützung, die im Zionismus eine Art Energiequelle sah, die, sofern sie richtig eingespannt und gelenkt werde, zum Wohle Russlands eingesetzt werden könnte. Für wie gefährlich man diese Energiequelle hielt, lässt sich an Herzls Erlebnis ablesen, nachdem er aus St. Petersburg abgereist war und auf dem Weg nach Basel, um den Sechsten Zionistenkongress einzuberufen, in Vilnius für die Nacht Station 211

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machte. Es kursierten Gerüchte, dass der antizionistische und sozialistische jüdische »Bund«, der wegen des Treffens mit Plehwe großen Groll auf Herzl hegte, Letzterem etwas antun könnte. Die lokalen Behörden erlaubten es Herzl nicht, aus Angst vor Unruhen, die lokale Synagoge aufzusuchen oder mit einer Schar Aktivisten in der Stadt zu Mittag zu essen. Besucher und Telefonanrufe in seinem Hotel wurden sorgfältig überwacht. Als der Abend anbrach, schlüpfte Herzl aus der Stadt und fuhr eine Stunde zu einem Sommerhaus, wo sich rund fünfzig Gäste zu einem Abendessen zu Ehren Herzls versammelt hatten. Scharenweise kamen jüdische Jugendliche aus Vilnius zu dem Treffpunkt, um Herzl zu sehen, den einer der Gäste als »gerade und hochgewachsen« beschrieb, »ein prächtiger Anblick, als er sich vor dem Hintergrund der Natur der ersten Reihe von Bäumen näherte – ein Bild der Glorie, die nur wenige Augenblicke währte, bis seine Gefährten aus dem Wald traten und sich ihm anschlossen«.34 Laut Herzls Version sprach ein junger Mann im blauen Arbeitskittel, den Herzl für einen Revolutionär hielt, einen Toast auf Ha-Melech Herzl – Herzl, den König – aus. Als sein Wagen um ein Uhr morgens nach Vilnius zurückkehrte, waren die Straßen von Gratulanten gesäumt, die von der Polizei zurückgedrängt wurden. Kaum eine Woche nach der Abreise aus Vilnius war Herzl in Basel. Er reiste mit einem ganzen Bündel Sorgen: um seine eigene Gesundheit, wegen der Gefahren, die den russischen Juden drohten, und wegen der erdrückenden Herausforderung, die Delegierten für etwas zu begeistern, das, wie er beschlossen hatte, der einzig mögliche diplomatische Weg war: eine jüdische Ansiedlung in Afrika. Nur seine engsten Mitarbeiter wussten, dass Herzl im Juni beschlossen hatte, den Ostafrika-Plan Chamberlains von April weiterzuverfolgen. Er fühlte auch im portugiesischen Mosambik vor, und eine jüdische Ansiedlung in Belgisch-Kongo ging ihm ebenfalls durch den Kopf. Die Verknüpfung des zionistischen Projekts mit Afrika fiel Herzl keineswegs leicht. Es ging dabei nicht nur um die geographische Distanz, die Afrika von Palästina trennte. Herzl hielt Konstantinopel möglicherweise 212

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für dekadent und Palästina in einer elenden Lage, doch er sah im Nahen Osten die Wiege der menschlichen Zivilisation, und er respektierte dessen Ruhm in der Antike und Potenzial für die Zukunft. Gegenüber Afrika empfand Herzl keine solchen positiven Gefühle, und wenn er darüber schrieb, war es häufig lediglich eine Metapher für eine Alternative. Schon im Jahr 1886 hatte sich Herzl mit einem Afrikaforscher, Henry Morton Stanley, verglichen, und zu Beginn der zionistischen Tagebücher im Jahr 1895 tat er es erneut. Auf diesen Seiten gab er sich einer Fantasievorstellung hin, genau wie in einem späten Feuilleton, in dem ein unglücklich verheirateter Mann nach Afrika auswandert, um Forscher zu werden. Afrika als Fantasiegebilde taucht auch in einer späteren Geschichte über zwei Kindheitsfreunde auf, die davon tagträumen, sich nach Afrika durchzuschlagen, um Entdecker zu werden. Doch ihre Pläne scheitern, als ihnen bald nach ihrem Aufbruch die Wurst ausgeht. Wenn Herzl ernsthaft über Afrika schrieb, wie etwa in den Feuilletons über die Menschenausstellungen von Aschanti und Bischari 1897 und 1899, stellte er es so dar, als befinde sich der Kontinent am Rand des zivilisatorischen Abgrunds. Bis sich die Möglichkeit, Juden in Britisch-Ostafrika anzusiedeln, ergab, hatte sich Herzl somit noch nie auf positive Weise mit Afrika beschäftigt. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: eine beiläufige Bemerkung in seinem Roman Altneuland über medizinische Vorstöße von Juden zur Heilung der Schwarzafrikaner von Tropenkrankheiten, um eine schwarze Massenwanderung aus der westlichen Welt nach Afrika zu ermöglichen. Doch das war ein futuristisches Szenario. Eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart erfolgte in Form einer ausführlichen Denkschrift, die von Herzl selbst oder zumindest mit seiner Billigung geschrieben und von Greenberg im Juli dem britischen Foreign Office vorgelegt wurde. Das Dokument forderte die Gründung eines weitgehend autonomen jüdischen Protektorats in Britisch-Ostafrika.35 Das Gemeinwesen sollte, wie Herzl später auf dem Kongress bekannt gab, eine »jüdische Verwaltung, jüdische Lokalregierung und eine[n] 213

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dischen Oberbeamten an der Spitze« bekommen. Es sollte »Neu-Palästina« heißen und eine eigene Nationalflagge bekommen. Es hätte das Recht, seine Grenzen zu erweitern – vorgeblich durch Kauf, nicht durch Eroberung –, und obwohl die Denkschrift eine Armee mit keinem Wort erwähnte, sollte die Kolonie über eine Polizei verfügen, um »jede Person aus dem Gebiet zu vertreiben« – sei es ein Siedler oder Einheimischer –, die gegen die Verordnungen des Territoriums verstieß. War diese Denkschrift ein Szenario für philanthropische Hilfsmaßnahmen für verfolgte Juden oder handelte es sich um politisches Theater? Es fällt schwer, diese beiden in Herzls Verstand auseinanderzuhalten. Nordau protestierte vehement gegen diesen Plan und wies darauf hin, dass eine jüdische Ansiedlung in Ostafrika auf schwarze Arbeitskräfte angewiesen wäre und Juden in der Folge zu nutzlosen Plantagenbesitzern würden. Außerdem würden dort Tropenkrankheiten grassieren, und die »kriegerischen Negerstämme« hätten sich sogar der Befriedung durch die europäischen Kolonialmächte widersetzt.36 Bezeichnenderweise bestritt Herzl diese Behauptungen gar nicht erst, sondern flüchtete sich in seiner Erwiderung stattdessen ins Abstrakte. Die Zionisten würden erhalten, was seit Langem, von Anfang an, der Herzenswunsch Herzls gewesen sei: eine Charter, Fahne und Selbstverwaltung. Herzl schwebten jüdische Chartergesellschaften auf der ganzen Welt vor, als eine Art politischer Aussage, Zwischenstationen bis zum ultimativen Ziel: Eretz Israel. »Dieser britisch-ostafrikanische Anfang ist politisch ein Rischon Le-Zion«, schrieb Herzl an Nordau, »sicherlich näher zu Zion, als was Edmond der Bornirte [Edmond de Rothschild] errichtete.«37 Zusammengenommen würden diese temporären Zufluchtsorte die Not der Juden lindern, aber was noch wichtiger war: Sie würden dem späteren Erwerb Palästinas Vorschub leisten. Das britische Foreign Office reagierte frostig auf die Forderungen der Zionisten und wies darauf hin, dass die Zionisten danach trachteten, einen Staat im Staate zu schaffen, noch dazu mit einem weit höheren Grad an Autonomie, als die Briten bereit waren zu gewähren. Unverdrossen trotz dieser 214

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weisung, und noch ohne offizielles Angebot eines Territoriums in Afrika in der Tasche, trug Herzl die Angelegenheit auf dem Zionistenkongress vor. Die Anerkennung der jüdischen, kollektiven Notlage durch die britische Regierung war ein zu großes Versprechen, um es liegen zu lassen. Herzl wusste, dass er das bislang größte Publikum haben würde: nicht nur die sechshundert anwesenden Delegierten, sondern auch akkreditierte Korrespondenten der großen Tageszeitungen aus aller Welt, darunter die Times aus London und die italienische La Stampa. Wie üblich konnte er sich auf Nordaus eindrucksvolle Rhetorik verlassen. Welche Bedenken Nordau auch privat geäußert haben mochte: als er in Basel auf der Rednertribüne stand, sprach er mit donnernder Stimme über die Sehnsucht der Juden nach einem »Nachtasyl« und über die Verantwortung des Kongresses, die physischen Bedürfnisse des jüdischen Volkes zu berücksichtigen. Unterstützung für den Vorschlag kam aus unerwarteten Lagern, darunter von einigen orthodoxen Zionisten, für die Zionismus hauptsächlich die Rettung jüdischer Leben bedeutete. Und wenn dieses Projekt in Ostafrika, statt in Palästina, verwirklicht werden konnte, das die Kulturzionisten ohnehin in etwas verwandeln wollten, das die Orthodoxen als eine säkulare, hebräische Farce ansahen, umso besser. Die Kulturzionisten hingegen waren, wie zu erwarten, entsetzt. Die Fraktion der russischen Zionisten hielt eine separate Sitzung ab und verabschiedete eine Resolution, die jeden Vorschlag ablehnte, das Aktionskomitee zu bevollmächtigen, den Uganda-Plan offiziell in Erwägung zu ziehen. Als ein entsprechender Vorschlag ins Plenum eingebracht wurde, wurde er mit einem prozentualen Verhältnis von 62:38 angenommen; allerdings hatte sich ein Viertel der Delegierten enthalten. Nach der Abstimmung brach ein Tumult aus, und die russische Fraktion stürmte aus dem Saal. Der erschöpfte Herzl bemühte sich, die aufgebrachten Dissidenten zu besänftigen, und am nächsten Morgen erhob Herzl, in seiner Schlussansprache, die rechte Hand und zitierte Psalm 137: »Wenn ich dein [je] vergesse, Jerusalem, verdorre meine Rechte.«38 Er rezitierte diese Zeilen auf Hebräisch – vielleicht das einzige Mal in seinem Leben, 215

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dass er außerhalb der Synagoge einen Satz auf Hebräisch sagte. Der Sturm der Empörung gegen die Uganda-Pläne zog auf dem Kongress und in den meisten Schlagzeilen anschließend die größte Aufmerksamkeit auf sich. Aber Herzl war auch für etwas Anderes verantwortlich, das auf dem Kongress geschah und das weit weniger Aufsehen erregte. Herzl bat den Wirtschaftsexperten Oppenheimer, zum Kongress zu sprechen und die Tugenden landwirtschaftlicher Genossenschaften anzupreisen, die von professionellen Geschäftsführern geleitet wurden und landlose Arbeiter beschäftigten. Oppenheimers Rede wurde höflich aufgenommen, doch ihre wahre Bedeutung zeigte sich, als der Kongress seine letzten Resolutionen beschloss. Oppenheimer wurde in eine frisch gegründete Palästina-Kommission berufen, die in naher Zukunft Forschungen und Erkundungen bezüglich einer jüdischen Ansiedlung in Palästina anstellen würde, ohne auf eine osmanische Charter oder die Garantie einer Großmacht zu warten. Sechs Monate später gab Herzl noch weiter nach. Er kündigte an, dass der Jüdische Nationalfonds Land für eine Modellgenossenschaft erwerben wolle, die nach Oppenheimers Vorstellungen verwaltet werden sollte. In den letzten Monaten seines Lebens verwandelte Herzl, bisweilen widerwillig, bisweilen voller Enthusiasmus, die Zionistische Organisation von einer rein politischen in eine politisch-ökonomische Organisation, die Aspekte der Society of Jews und der Jewish Company in Der Judenstaat miteinander vereinte. In Palästina und in der ZO wurde Herzl von den Ereignissen überholt. Ein Strom von Einwanderern aus Osteuropa setzte im Jahr 1903 ein. Die meisten Neuankömmlinge, zum Beispiel Juden, die in den 1880er und 1890er Jahren nach Palästina gekommen waren, waren keine zionistischen Idealisten. Sie waren von einer Mischung aus ökonomischen und religiösen Faktoren motiviert und wollten ihren Lebensunterhalt im Handel, in der Bildung und im Handwerk in Jaffa und Jerusalem verdienen. Einige junge Einwanderer waren jedoch durchaus nationalistische Idealisten, entschlossen, den Boden zu bearbeiten, auf 216

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der Suche nach einer persönlichen und kollektiven Wiedergeburt. Die jugendlichen Arbeitskräfte waren in der Regel unerfahren und manchmal auch politisch radikal, also alles andere als ideale Beschäftigte auf den langjährig angelegten zionistischen Agrarsiedlungen. Sie benötigten Unterstützung von außen, und die ZO würde mit der Zeit zu ihrer wichtigsten Quelle für Zugang zu Land und Arbeit werden. Unterdessen stand die ZO , nach dem sechsten Kongress, am Rand einer Spaltung in der Uganda-Frage. Im November drohte eine Versammlung russischer Zionisten in Charkow mit dem Austritt, falls Herzl den Uganda-Plan nicht fallen ließ und allen künftigen Kolonisierungsgambits, außer Palästina, abschwor. Ein empörter Herzl sah seine russischen Kollegen in einem offenen Aufstand. Er beschwor abermals das verblasste Schreckgespenst der »niederen Massen« herauf, die er gegen all jene mobilisieren werde, die sich ihm widersetzten. Eben die leidenschaftliche Energie, die Herzl hoffte aufzubieten, richtete sich jedoch nunmehr gegen ihn. Im Dezember schoss bei einer Chanukka-Feier in Paris ein siebenundzwanzig-jähriger Student namens Chaim Louban auf Nordau, unter dem Ausruf: »Tod Nordau, dem Ostafrikaner!« Nordau wurde nicht getroffen, eine andere Person im Saal erlitt jedoch einen Streifschuss. Tags darauf konstatierte Nordau lakonisch, dass er gestern Abend eine Rate für die Dankesschuld erhalten habe, welche das jüdische Volk ihm wegen seiner selbstlosen Bemühungen in dessen Namen schulde. Er konstatierte das ohne Bitterkeit, nur voll Trauer. Wie unglücklich sein Volk doch sein müsse, wenn es imstande sei, solche Taten zu vollbringen, sinnierte er.39 Herzl befürchtete: »Und wenn auf Sie geschossen wird, ist wol auch meine Kugel schon gegossen. … Der Zusammenhang ist schwer nachweisbar, aber der Revolver Loubans wurde nach meiner Überzeugung in Russland geladen. In dem Ultimatum, das mir die Charkower ankündigten, sah ich schon den Revolverlauf.«40 Herzl hatte bereits einen Brief an den britischen Zionistenführer Francis Montefiore geschrieben, in dem er bekräftigte, dass die jüdische Frage lediglich auf dem Boden Israels gelöst werden könne, ein britisches Angebot anderer Territorien 217

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doch begrüßte, solange das Land bewohnbar sei und das Angebot vom jüdischen Volk begeistert aufgenommen werde. Der Brief wurde in der Weihnachtsausgabe des Jewish Chronicle veröffentlicht. Das war ein förmliches, wenn auch euphemistisches Eingeständnis der Niederlage, doch auf einer Sitzung des zionistischen Aktionskomitees im Januar weigerte Herzl sich, die Bedingungen des Charkow-Ultimatums zu akzeptieren. Er hatte verstanden, dass die zionistische Öffentlichkeit Uganda niemals akzeptieren würde, wollte sich aber von seinen Gegnern nicht erniedrigen lassen. Ironischerweise ging Ende Januar bei der ZO das offizielle britische Angebot eines Territoriums mit einer Fläche von 12.800 Quadratkilometern – ungefähr die Größe des Staates Israel ohne die Wüste Negev – auf der Hochebene Gwas Ngishu ein. Zu diesem Zeitpunkt war der Plan, abgesehen von einer Handvoll Herzl-Getreuer wie Greenberg, bereits zu den Akten gelegt. Im Übrigen organisierten britische Siedler in der Region ihre eigenen Proteste gegen eine jüdische Präsenz. Uganda war Herzls letzte große Schlacht, und sie ging auf der Sitzung des Großen Aktionskomitees vom 11. bis 15. April 1904 zu Ende. Obwohl er furchtbar müde und kurzatmig war, putschte Herzl sich noch einmal auf und tadelte seine russischen Kollegen. Das Entscheidende sei, so Herzl, die Vorgehensweise, nicht der Inhalt. Es gehe nicht darum, ob Uganda eine durchführbare Option sei, sondern um die Bestimmung innerhalb der ZO , sich an rechtsstaatliche Prinzipien zu halten und den Willen des Zionistenkongresses zu befolgen. Ohne das könne der Zionismus nicht mehr sein als das, was er vor Herzl war: ein Kader unbedeutender Männer, die sich in kleinen Zirkeln trafen und ein wenig Geld sammelten. Herzl erklärte, dass er die Organisation der Nation mit dem Instrument des Kongresses auf den Weg gebracht habe, und als der Kongress einmal gegründet war, mussten die Mitglieder des Großen Aktionskomitees sich seinen Entscheidungen unterwerfen. Am Ende lief die Grundsatzdebatte jedoch aus dem Ruder, und verschiedene Egos prallten aufeinander. Herzl warnte seine Kollegen: »Wenn Sie nach dieser Aktionskomiteesitzung 218

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hen werden, gegen den Kongress agitieren werden, so werde ich gegen Sie agitieren, und ich verspreche Ihnen, dass Sie unterliegen werden.«41 Herzl errang einen Scheinsieg, als das Große Aktionskomitee immerhin zustimmte, eine Erkundungskommission nach Afrika zu schicken. Er siegte auch an der weniger lärmenden Front der Genossenschaftssiedlungen, die er auf dem sechsten Kongress aufgemacht hatte. Die Palästina-Kommission schlug vor, eine Versuchsstation, eine Ausbildungsfarm, aufzubauen – sowie, auf Herzls Drängen, eine Oppenheimer-Genossenschaft. Die russischen Zionisten standen diesen Vorhaben skeptisch gegenüber, weil sie einen tüchtigen Verwalter erforderten – ein Amt, das sie in der Praxis der von Baron Edmond de Rothschild geförderten zionistischen Siedlungen zutiefst verachteten, wo Funktionäre sklavisch die Anweisungen des Barons befolgten und den Siedlern ihren Willen aufzwangen. Ihnen wäre es lieber gewesen, wenn die Zionistische Organisation Geld in die Tochtergesellschaft der Jüdischen Kolonialbank mit Sitz in Jaffa, die Anglo-Palestine Bank, gepumpt hätte, die man zwei Jahre zuvor gegründet hatte und die neuen Einwanderern Kredite anbot. So sehr Herzl die Bank auch schätzte, er rückte nicht von seinem Engagement für die Form der Genossenschaft ab. In seinen Augen hatte es einen so modernen Siedlungsversuch auf der Basis dieser genossenschaftlichen Grundsätze bislang noch nicht gegeben, und er hielt dies für eine Angelegenheit von höchster Bedeutung für das jüdische Volk.42 Das war die Stimme des Autors von Altneuland, in dem der Traum von der Wiederansiedlung der Juden im Land ihrer Väter untrennbar mit unternehmerischer Fachkenntnis und wissenschaftlicher Technik verbunden war. Dies zeugt von der Aufrichtigkeit und Dringlichkeit, die dem Roman zugrunde lagen, und es lässt darauf schließen, wie sich Herzls politische und soziale Ideen im Laufe der Jahre seiner zionistischen Tätigkeit immer enger miteinander verflochten. In den letzten Monaten seines Lebens fand Herzl in der Planung der zionistischen Zukunft Trost. Es ist vielleicht kein Zufall, dass seine letzte Auslandsreise ihm die Gelegenheit 219

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schaffte, eine Torheit aus der Anfangszeit wiedergutzumachen. Im Januar reiste Herzl zu einem Treffen mit dem kürzlich eingesetzten Papst Pius X. nach Italien. Elf Jahre zuvor, zu Beginn seiner Beschäftigung mit der jüdischen Frage, hatte Herzl eine Massenkonversion der Juden zum Katholizismus im Rahmen einer Zeremonie vorgeschlagen, die der frühere Papst Leo XIII . leiten sollte. Als Herzl 1904 nach Italien fuhr, reiste er mit einem völlig anderen, wenn auch ebenso abwegigen Vorschlag im Gepäck: dass der Pontifex den Zionismus billigen möge. Ein vorbereitendes Treffen mit dem Staatssekretär des Vatikan, Rafael Merry del Val, ließ nichts Gutes ahnen, als der Kardinal klarstellte, dass die Kirche eine jüdische Herrschaft über das Heilige Land nicht dulden werde. Herzl brachte eine Exterritorialisierung der Heiligen Stätten ins Spiel, aber Merry del Val forderte eine Enklave vergleichbar mit jener des Vatikan, der mit der Vereinigung Italiens alle weltliche Macht verloren hatte. Einen Tag nach dieser Begegnung hatte Herzl eine Audienz bei König Viktor Emmanuel III ., der in Italien als strahlender Sieger aus der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat hervorgegangen war. Im Gegensatz zum Kardinal war der König leutselig und zugänglich und sprach lebhaft, ohne eine Spur Boshaftigkeit, über die prominente Stellung der Juden in Italiens Parlament, Staatsdienst und Offizierskorps. Selbstverständlich konnte Viktor Emmanuel kaum etwas unternehmen, um den Papst dazu zu bewegen, den Zionismus zu unterstützen, aber beide Männer genossen die Begegnung. Es folgte die Audienz bei Pius X., einem »gute[n] grobschlächtige[n] Landpfarrer«, wie Herzl ihn beschreibt. Herzl weigerte sich, dem Pontifex die Hand zu küssen. Der Papst verkündete, es sei schon »nicht angenehm«, dass die Türken das Heilige Land und die geheiligten Stätten der Christenheit kontrollierten, doch eine jüdische Regierung sei völlig ausgeschlossen. Pius sprach von einer grundsätzlichen Tugend, welche die ganze Menschheit vereine, und von seinem guten Willen gegenüber den Juden. Er versicherte Herzl, dass die Juden, wenn sie nach Palästina kämen, um in dem Land zu leben, dort eine Kirche anträfen, die bereit sei, sie zu taufen. Damit war die 220

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Audienz beendet. Wiederum weigerte Herzl sich, dem Papst die Hand zu küssen: »Ich drückte ihm aber auch zum Abschiede nur warm die Hand u. verbeugte mich tief.«43 Ohne Verlust von Ehre oder Würde ging Herzl hinaus. Nach der Rückkehr nach Wien vermochte Herzl noch ansatzweise seine alte Energie und Größe aufzubringen, aber er war ausgelaugt. Ende April war er zu krank, um nach London zu reisen. Sein Arzt schickte ihn zu einer sechswöchigen Kur in den böhmischen Kurort Franzensbad (Františkovy Lazně). Jahrelang hatte Herzl seine Krankheit vor der Familie und vor zionistischen Kollegen verheimlicht, aber kaum war er in Franzensbad, da gestand Herzl Wolffsohn, dass er schwerkrank sei. Lediglich halb im Scherz ermahnte Herzl seinen seit Langem leidenden Stellvertreter: »Machet keine Dummheiten, während ich todt bin!« Von den Ärzten war es Herzl untersagt worden, irgendeine Arbeit zu verrichten, doch er hielt sich nicht daran und verschickte weiterhin eine ganze Salve an Briefen, in dem Versuch, seine reichhaltigen diplomatischen Initiativen nicht einschlafen zu lassen. Daneben langweilte er sich auf angenehme Weise, hatte Zeit, Dickens zu lesen, Musik zu hören und seiner Familie liebevolle Briefe zu schreiben. Er und Hans, den Herzl mal liebevoll »Yankee doodle« nannte, korrespondierten über Nachrichten vom russisch-japanischen Krieg. Hocherfreut über die Schlappe, die die Japaner Russland, dem Unterdrücker der Juden, beibrachten, schrieb Herzl: »Was sagst du zu den Siegen der Japaner? Sind das Kerle, was?«44 Die Kur in Franzensbad umfasste tägliche Bäder in heißem Quellwasser mit einem hohen Kohlensäuregehalt. Vermutlich steigerte das Herzls Blutdruck und Herzfrequenz, sodass seine geschwächte Konstitution noch zusätzlich belastet wurde. Julie blieb eine Stressquelle, doch seine Briefe an sie waren inzwischen herzlich und liebevoll, gerichtet an »mein lieber guter Schatz«. Als Julie ihn in Franzensbad besuchen wollte, schrieb Herzl ihr kurz vor der Abreise: »Die ganze Kur ist wertlos, wenn man sich aufregt. Freilich ist Unruhe auch sonst Gift für ein angegriffenes Herz. Das wollen wir uns Beide für die Zukunft merken, und vor allem jeder unnützen Streiterei 221

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chen.« Als Julie nach Wien zurückkehrte, gerieten sie und Jeanette wie üblich aneinander, doch diesmal ergriff Herzl die Partei seiner Frau: »Du, Mamakám, thu’ Alles was dir beliebt u. lasse aber auch andere erwachsene Menschen frei handeln.«45 Herzl blieb bei seiner neu entdeckten Parteinahme Julies, als er aus Franzensbad, schon vor Halbzeit seiner Kur, wieder abreiste und nach zwei Wochen Erholung in Wien in den rund 100 Kilometer entfernten Kurort Edlach an der Rax fuhr. Mit Julie und Pauline an der Seite schrieb Herzl seiner Mutter: »Ihre Leistung ist über jedes Lob erhaben u. nebst meinem Dank von ganzem Herzen verdient sie auch den Deinigen.« Im Laufe seines Aufenthalts habe sie ihn »ausdauernd u. aufopfernd unermüdlich gepflegt, wie sie ihre Kinder pflegte, wenn sie krank waren«.46 Das war der letzte Brief, den Herzl vor seinem Tod schrieb. Herzls und Julies Versöhnung beruhigte indes weder seine noch ihre Nerven. Herzls Zustand schien sich zwar im Verlauf des Monats Juni zu bessern, doch Julie neigte zu hysterischen Anfällen, und Herzl schwankte zwischen hoher Erregbarkeit und Niedergeschlagenheit. Dennoch hielt ein renommierter Kardiologe, den man an Herzls Krankenbett gerufen hatte, dessen Zustand für so robust, dass er in die Klinik des Kardiologen in Hamburg reisen sollte. Am 1. Juli erkrankte Herzl jedoch an einer Bronchitis, und in der Nacht bekam er kaum Luft. Am nächsten Tag wurde nach seiner Mutter und den beiden jüngeren Kindern geschickt, und am 3. Juli entwickelte er eine Lungenentzündung. Er bewahrte sich noch so viel Kraft, um ruhig mit seiner Mutter und den Kindern zu sprechen. Dann brach er zusammen und starb. Herzls Leichnam wurde von Edlach zurück in seine Wohnung in der Haizingergasse 29 gebracht. Erwin Rosenberger schilderte die Szene: »Der Sarg lag in Herzls Arbeitszimmer, mit sechs nicht angezündeten Kerzen und hohen Kerzenständern aus Silber an beiden Seiten. Die Wände und Fenster des Zimmers waren mit schwarzem Tuch verhängt; mit Krepppapier umwickelte elektrische Lampen und eine Öllampe am Kopf des Sarges lieferten die einzige Beleuchtung. Während ich 222

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vor dem Sarg stand, der von schwarz gekleideten Mitgliedern der Wiener zionistischen Studentengesellschaften bewacht wurde, fragte ich mich ungläubig: Waren all die herrlichen, einzigartigen und unendlich vielfältigen Dinge, die Theodor Herzl für uns bedeutete, nun in diese schmale schwarze Kiste eingeschlossen?« Am 7. Juli, dem Tag der Beerdigung, versammelte sich eine Schar Trauergäste im Haus, ging am Sarg vorbei und bekundete der gramgebeugten Familie ihr Beileid. Dr. Alexander Mintz, ein ehemaliges Mitglied des zionistischen Aktionskomitees und ein eher verschlossener und phlegmatischer Mensch, betrat den Raum, starrte auf den Sarg und fasste sich dann, »plötzlich alle rings um ihn vergessend ins Gesicht und schüttelte sich vor krampfartigen Weinanfällen«.47 Die Beisetzung auf dem Döblinger Friedhof lockte Scharen von Juden aus Österreich-Ungarn und weit darüber hinaus an. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig beschrieb das Chaos auf dem Friedhof: »Zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarge, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem Begräbnis gesehen.«48 Die gedruckten Reaktionen waren zurückhaltender, aber wenigstens ebenso aufrichtig. Der Dichter Naftali Herz Imber, der Autor der zionistischen Hymne »Ha-Tikvah«, komponierte ein hebräisches Klagelied, ein Akrostichon, in dem der erste Buchstabe jeder Zeile den Buchstaben von Herzls Name entsprach. Es begann wie folgt: »Reinen Herzens, ein Held des Volkes, wurde Herzl über die übrigen erhöht. … Wehe! Zion trauert. Baut meine Ruinen wieder auf, fleht Jerusalem.«49 Selbst Herzls Gegner innerhalb der zionistischen Bewegung waren, überwiegend, großzügig. Ussischkin bezeichnete Herzl als einen »nationalpolitischen Helden«, im Gegensatz zu den geistigen, gelehrten und moralischen Helden der jüdischen Vergangenheit: »Und sehet, Herzls Licht schien auf uns. Seit den Tagen Nehemias haben wir keinen Helden mehr gekannt, der so groß in seinen politischen Taten war wie er. … Er war 223

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ein verehrtes Symbol in den Tagen unserer Wiedergeburt; er ist der Held, ohne den kein Volk für sich sein kollektives Leben in politischem Sinn erschaffen kann.«50 Der antizionistische, ultraorthodoxe Rabbiner Isaak Breuer schrieb lobend über Herzl und hob ausdrücklich dessen Engagement, die Reinheit seiner Motive und Absicht, die Klarheit seiner Ziele und seinen Geist der Selbstaufopferung hervor. Nur ein Mensch, der der jüdischen Tradition so völlig entfremdet wie Herzl war, behauptete Breuer, habe so kühn und unerschrocken von den Nichtjuden verlangen können, den Juden ihr Heimatland zu geben. Andere Antizionisten betrauerten Herzl ebenso stark: seine assimilierten Herausgeber bei der Neuen Freien Presse. In einem Nachruf auf der Titelseite, der passenderweise »unter der Linie« abgedruckt wurde, also auf der unteren Hälfte der Seite, wo traditionell der Feuilleton-Abschnitt begann, würdigten Bacher und Benedikt Herzls beispielhafte journalistische Arbeit: seine politischen Reportagen, Kulturkritik und literarischen Beiträge. Der Nachruf verwies auch darauf, dass Herzls Beziehung zu seinen Eltern »etwas ganz Eigenartiges« gewesen sei, »das diese Gefühle zur höchsten Innigkeit und gegenseitigen Ergebenheit steigerte«. In einer knappen Chronik von Herzls Leben weiter hinten in der Ausgabe räumten die Herausgeber, zum ersten Mal, ein, dass Herzl »der Schöpfer der jetzigen zionistischen Bewegung [sei], die er aus kleinen Anfängen zu großer Verbreitung brachte. … Als Führer der Zionisten wurde er auch von mehreren europäischen Souveränen, vom Kaiser von Deutschland, vom Sultan, dem jetzigen Papst und vom König von Italien empfangen.«51 Martin Buber, sowohl ein Bewunderer als auch ein Kritiker Herzls, verstand ihn nie ganz, und dieses fehlende Verständnis teilten viele zionistische Anhänger in Mittel- und Osteuropa. In seinem Nachruf auf Herzl schrieb Buber, dass die jüdische Frage für Herzl eine kollektive und mechanische gewesen sei, die durch die Gründung des jüdischen Staates gelöst werde. Buber warf Herzl vor, er habe die Frage des Judentums vernachlässigt oder sei womöglich zu ignorant gewesen, um sie zu stellen, also die Frage, was es heißt, Jude zu sein, und wie man sich 224

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entscheiden wird, ein Leben als Jude zu führen. Herzl habe sich tatsächlich als ein bestimmter Typ Jude inszeniert: Mitglied einer Nation, jedoch liberal, kosmopolitisch und extrovertiert; nicht religiös, aber respektvoll gegenüber den ästhetischen und inspirierenden Eigenschaften der Religion und, vor allem, stolz, sich angesichts von Spott und Hass als Jude zu bezeichnen. Mehr als ein Jahrzehnt nach Herzls Tod zeigte sich Buber großzügiger, zumindest bezüglich Herzls Wirkung auf andere: »Es ging Etwas Bannendes von ihm aus, dem kaum zu widerstehen war. … Die Volksphantasie wob eine zärtliche Legende um ihn, tauchte seine Handlungen in das Dämmer des Geheimnisses, schmückte seine Stirn mit messianischem Glanze.« Er präsentierte »das Bild einer sonnenhaften, harmonisch gebundenen Erscheinung. Niemand hat die Reinheit seines Wesens, die Treue seiner Hingabe, die Aufrichtigkeit seines Wirkens angezweifelt«. An anderer Stelle drückte sich Buber einfacher aus: »Und nun fühle ich es, wie ich es noch nie fühlte: dass wir verwaist sind.«52

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Kapitel 7

Epilog

Der Blick vom Herzlberg Die Kapitel dieses Buches habe ich in Kanada geschrieben, doch den Epilog schreibe ich in Israel. Derzeit befinde ich mich in Tel Aviv, jener Stadt, die mehr als irgendein Ort in Israel Theodor Herzls Vision einer westlichen Stadt im Nahen Osten verwirklicht: eine pulsierende und kosmopolitische Handelsund Kulturmetropole, die auf das Mittelmeer und darüber hinaus blickt und durch und durch säkular ausgerichtet ist (auch wenn es natürlich Synagogen gibt). Die Stadt Tel Aviv hat ihren Namen von einer biblischen Wendung, die »Frühlingshügel« bedeutet. Mit einer Anspielung sowohl auf das archäologische Altertum als auch auf eine zeitgenössische Wiedergeburt lautet so auch der Titel von Nachum Sokolows hebräischer Übersetzung von Herzls Roman Altneuland. Es gibt in Israel eine Fülle weiterer, noch direkterer Verweise auf Herzl. Unmittelbar nördlich von Tel Aviv liegt der wohlhabende Ort Herzliya. Jede israelische Stadt hat eine Herzl-Straße oder einen Herzl-Boulevard. Von 1969 bis 1986 zierte Herzls Antlitz den 100-Pfund-(später 10-Schekel-)Schein. Allen voran liegt Israels nationale Gedenkstätte auf einem Hügel am westlichen Rand Jerusalems, dem Herzlberg oder Mount Herzl. Hier ist der Ort der Holocaust-Gedenkstätte und des Museums Yad Vashem, des wichtigsten Militärfriedhofs des Landes und der Gräber vieler zionistischer und israelischer Führungspersonen. Die offiziellen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag Israels finden ebenfalls hier statt. Der Herzlberg steht, indem er sowohl Yad Vashem als auch die Symbole des israelischen Staates beherbergt, für den Übergang der Juden von der Machtlosigkeit zur Macht, von der Vernichtung zur Wiedergeburt, die nach dem Zweiten Weltkrieg das zentrale Ziel des Zionismus war. Der Herzlberg ist das, was 227

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der französische Historiker Pierre Nora einen lieu de mémoire oder Erinnerungsort nannte – einen Ort, wo kollektive Erinnerung gleichzeitig geschaffen, bewahrt und präsentiert wird. Ihm haftet eine stille und eher bescheidene Schönheit an. Herzls Grabmal ist ein schlichter schwarzer Granitblock, umgeben von einem Kreis aus Blumen und Pflastersteinen. Es wird nicht bewacht. Viele Besucher kommen zu dem Grab wie zu dem eines Verwandten oder Freundes und legen nach jüdischer Sitte einen Stein auf den Block zum Zeichen des Respekts und des Gedenkens. Das Grab des extrem weit rechts stehenden Zionistenführers Wladimir Jabotinsky, nicht weit davon entfernt, ist ähnlich unaufdringlich. Bei einem Besuch neulich auf dem Berg unterhielt ich mich mit einer Gruppe Offiziere der israelischen Armee, die eine Zeremonie auf dem Platz für einige hundert Soldaten in einer Sondereinheit für im Ausland geborene Bürger koordinierte. Während die Soldaten umherliefen und auf den Beginn warteten, erklärten mir die Offiziere, dass die Zeremonie normalerweise an der Klagemauer abgehalten werde, dass es aber organisatorische Probleme gegeben habe. Deshalb nutzten sie Herzls Grab als alternativen Veranstaltungsort. Herzl hätte es gewiss nicht gefallen, zweite Wahl zu sein. Aber seit israelische Truppen im Jahr 1967 Jerusalems Altstadt erobert haben, wird der Herzlberg, das Symbol schlechthin des Staates Israel, von der Klagemauer in den Schatten gestellt, die für das biblische Land Israel steht. Es war ein Land, das Herzl eher in einer abstrakten als in der konkreten Form liebte – ein Land, das er nur flüchtig kannte. Teile davon, allen voran Jerusalem, betrachtete er voller Enttäuschung und Abscheu. Sogar Herzls Ruhestätte auf dem gleichnamigen Hügel hätte ihm möglicherweise Unbehagen bereitet. Herzl legte nie schriftlich fest, wo er genau bestattet werden wollte, aber manche Kollegen meinten zu erinnern, er habe den Gebirgskamm Karmel bei Haifa erwähnt, der wunderschönen Stadt der Zukunft im Roman Altneuland. Im Jahr 1949 beschloss Israels Innenminister Jitzchak Gruenbaum jedoch, man müsse Herzl in 228

Epilog

rusalem beisetzen, um Israels Anspruch auf die Stadt zu untermauern, die nach dem UN -Teilungsplan eine internationale Enklave hätte sein sollen. Also wurden im August 1949 Herzls Überreste von Wien nach Jerusalem überführt. Sie wurden in einer aufwendigen Bestattungszeremonie mit dem Decknamen »Operation Herzl« – zu der Soldaten aufmarschierten, Trommeln geschlagen und Schofare geblasen sowie vierundvierzig Banner, eines für jedes Lebensjahr Herzls, gehisst wurden – erneut beigesetzt. Im Jahre 1948 fiel das Datum von Herzls Todestag im hebräischen Kalender, 20. Tammuz, mit dem »Tag der Armee« zusammen, einem Feiertag zu Ehren der militärischen Macht des winzigen Landes. Ähnlich wie seine Bestattung in Jerusalem hätte die enge Verbindung zwischen dem Militär und Herzls eigener Vision den vornehmen Wiener Journalisten sehr wahrscheinlich gestört. Andererseits hätte Herzl, in Anbetracht seines Bestrebens, die Ehre und den Stolz der Juden wiederherzustellen, womöglich ähnlich empfunden wie Israels Zeitung Yediot Aharonot: »Denn diese Armee ist unser Retter und Verteidiger, denn diese Armee machte das Wunder, sie veränderte uns von kranken Pazifisten zu einem normalen und gesunden Volk.«1 Im Jahr 2004 beschloss das israelische Parlament, zum Andenken an den hundertsten Todestag Herzls, per Gesetz, »Benjamin Zeevs Herzls Vision, Vermächtnis und Errungenschaften den Generationen zu hinterlassen, seiner zu gedenken und die Ausbildung künftiger Generationen und den Aufbau des Staates Israel, dessen Institutionen, Ziele und Aussehen im Einklang mit Herzls zionistischer Vision zu gestalten«. Doch worin bestand diese Vision? In einem souveränen Staat oder einem Schutzgebiet einer Großmacht? Ein Land, dessen einheimische Bevölkerung die Juden nach Möglichkeit »unbemerkt über die Grenze … schaffen« würde, wie er 1895 in sein Tagebuch schrieb, oder eines, in dem, wie in Altneuland, Araber und Juden als gleichberechtigte und einander liebende Brüder friedlich zusammenlebten? Ein Staat mit einer starken Armee, wie Herzl in seinen frühen Tagebucheinträgen schrieb, oder das friedfertige Paradies aus Herzls Roman? 229

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Ich habe hier argumentiert, dass Herzl im Laufe seiner kurzen und meteorhaften zionistischen Karriere einen rasanten Reifeprozess durchlief. Der Herzl von 1902 war ein anderer Mann mit völlig anderen Ideen als der Herzl von 1895 oder 1896. Aber trotz der gewaltigen Transformationen, die Herzl durchlief, inszenierte er sich konsequent als Symbol des jüdischen Stolzes, der Tatkraft und des Strebens nach kollektiver Wiedergeburt. Wenn Herzl also zu einer universalen Symbolfigur des Zionismus wurde, wie auch immer man ihn definieren mochte, so lag das daran, dass er sich selbst so erfolgreich zu einer Ikone machte. Schon zu seinen Lebzeiten wurde Herzls eindrückliches Antlitz in der ganzen Welt mithilfe von Gemälden und Fotografien bekannt, angefangen mit E.M. Liliens ikonischer Aufnahme von 1898, die Herzl auf dem Balkon seiner Suite im Gasthaus zu den drei Löwen in Basel mit Blick auf den Rhein zeigt. Nach seinem Tod wurde Herzl die Personifizierung des Zionismus. Sein Gesicht blickte auf unzählige Klassenzimmer in jüdischen Schulen und auf Amtszimmer in zionistischen Einrichtungen und israelischen Regierungsbehörden. Er wurde, und wird noch heute, gemeinhin auf Hebräisch als hozeh hamedinah (der Visionär des Staates) bezeichnet. In Schulbüchern und kindgerechten Biografien entspricht Herzls Bild dem George Washingtons und Abraham Lincolns für sein Volk: ein Gründungsvater, Befehlshaber, Befreier, Einiger – und Märtyrer. Die Aufgabe, das Leben einer Legende darzustellen, fiel dem Herzl-Museum zu. Das Museum wurde 1960 eröffnet, zum hundertsten Jahrestag von Herzls Geburtstag. Es war ein bescheidenes Projekt, mit einer Nachstellung von Herzls Arbeitszimmer in Wien, Aufnahmen und Artefakten aus seinem Leben und ernsten Schrifttafeln. Im Lauf der Zeit wurde der Ansatz immer rückwärtsgewandter, und die Besucherzahlen gingen zurück. Mitte der 1990er Jahre wurde das Museum wegen Renovierungsarbeiten geschlossen und 2005 wiedereröffnet. Die neue Ausstellung enthält auch die alten Artefakte, doch ihre Hauptattraktion sind bewegte Bilder. Das erste Video spielt 230

Epilog

in Frankreich im Jahr 1894. Es treten zwei Kadetten auf, die Hebräisch mit französischem Akzent sprechen. Sie murren über einen gewissen jüdischen Hauptmann, der sämtliche Grenzen überschritten habe und zurechtgewiesen werden müsse. Es folgt die Geschichte vom Prozess und der Degradierung Dreyfus’ und der Beginn von Herzls manischer, zionistischer Inspiration. Ein zweites Video handelt von einem israelischen Regisseur (dem verstorbenen Micah Lewensohn), der ein Stück über Herzl geschrieben hat und als Hauptrolle einen unscheinbaren und unmotivierten jungen Schauspieler namens Lior anlegte (gespielt von Zak Berkman). Der Zuschauer erfährt die Geschichte von Herzls Leben durch Liors Augen und und wird Zeuge, wie dieser immer stärker von seiner Rolle eingenommen wird, immer leidenschaftlicher. Am Ende stellt er Herzl bei seiner Rede auf dem Ersten Zionistenkongress dar. Ein drittes Video zeigt Lior in Herzls Abendgarderobe und mit Bart beim Betrachten des heutigen Israel als eine inspirierende, wenn auch unvollständige Verwirklichung seiner Vision. Das Museum ist eine nationale Einrichtung, die nicht nur dem Zweck dient, historisches Wissen zu vermitteln, sondern auch Stolz und Patriotismus. Es ist pädagogisch und kurzweilig zugleich. Doch es gibt viel über Herzl zu sagen, was das Museum nicht vermittelt. Er erscheint hier als ein einsamer Mann, ohne die Gefolgsleute, die ihn zu ihrem Führer erkoren, und die Rivalen, die ihn totsagten. Der Besucher sieht Herzl nach etwas streben, aber nicht leiden, seine Vision, aber nicht seinen Schmerz. Er ist ein Mann ohne Schwächen. Weder seine unglückliche Ehe noch das tragische Schicksal seiner Familie werden thematisiert. Julie, der die Kinder Herzls letztem Willen zufolge weggenommen wurden, starb 1907 an Eierstockkrebs, im Alter von neununddreißig Jahren. Entgegen jüdischer Sitte wurden ihre Überreste verbrannt. Pauline litt unter einer Morphinabhängigkeit und verstarb 1930 in Bordeaux. Hans wurde im Alter von fünfzehn Jahren beschnitten, studierte in Cambridge, konvertierte mehrfach zu verschiedenen Glaubensbekenntnissen und wurde zeitweilig von Carl Jung wegen seiner 231

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keiten, mit Frauen eine intime Beziehung einzugehen, behandelt. Hans wurde zu einem glühenden Anti-Zionisten. »Mein Vater war ein großer Mann, den ich geliebt habe«, schrieb er, »aber ich habe inzwischen erkannt, dass er mit seinen Versuchen, den jüdischen Staat wieder aufzubauen, einen historischen Fehler beging. … Mein Vater erkannte nicht die wahre Mission des jüdischen Volkes, die den Beweis erbracht hat, dass der lebendige und fruchtbare Geist keine territorialen Grenzen braucht, und dass Menschen leben und existieren können, auch wenn Befestigungen und Grenzen verschwunden sind.« Über Paulines Tod war Hans tief erschüttert: »Ich bin mittellos und krank, unglücklich und verbittert. Ich habe kein Zuhause. Niemand schenkt den Worten eines Konvertiten Beachtung. Welchen Nutzen hat die Buße, welche die Kirche zu meiner spirituellen Genesung angeordnet hat. Ich foltere meinen Körper vergebens: Mein Gewissen foltert mich weit schlimmer. Mein Leben ist ruiniert. … Kein Mensch würde es bedauern, wenn ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen würde.«2 Am Tag von Paulines Beerdigung tat Hans genau das. Trude heiratete Richard Neumann, einen jüdischen Industriellen, der siebenundzwanzig Jahre älter war als sie. Nach der Geburt ihres Sohnes Stephan Theodor wurde sie depressiv und litt zudem unter Größenwahn. Trude verbrachte lange Zeiträume in psychiatrischen Kliniken. Im September 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, wo sie sechs Monate später starb. Im Jahr 1935 wurde Stephan Neumann nach England geschickt und änderte dort seinen Namen zu Stephen Norman. Er studierte in Cambridge und diente im Zweiten Weltkrieg in der britischen Armee, wo er in den Rang eines Hauptmanns aufstieg. Im Jahr 1946 bekam er den Posten eines britischen Diplomaten in Washington, D.C., und erfuhr nach Antritt der Stelle, dass seine Eltern im Krieg umgekommen waren. Am Boden zerstört sprang er von der Brücke der Massachusetts Avenue in den Tod. Erst in den Jahren 2006 und 2007 wurden die Überreste von Pauline, Stephen und Hans – denn im Fall der letzten beiden war eine Beerdigung auf einem jüdischen Friedhof untersagt, weil sie Selbstmord begangen hatten – nach 232

Epilog

rael gebracht und neben ihrem Groß- bzw. Urgroßvater Jakob zur letzten Ruhe beigesetzt. Bis ins späte 20. Jahrhundert hinein wagte es in Israel nur eine Handvoll Schriftsteller und Bühnenautoren, die tragische Geschichte von Herzls Familie und seiner eigenen unruhigen Seele zu enthüllen. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Diskussion um Herzl offener geworden, aber immer noch belastet. Herzl dient weiterhin als ein Symbol, aber während er in der Vergangenheit für den Staat und dessen Mission des kibbutz galuiyot (Sammlung der im Exil Lebenden) stand, haben ihn unlängst entgegengesetzte politische Lager für sich beansprucht. Die säkulare und liberale Linke feiert Herzl als Fürsprecher einer humanen, toleranten und friedliebenden Demokratie. Herzls zionistische Vision steht im Mittelpunkt von Büchern wie Herzl Reloaded. Kein Märchen (2015) von Doron Rabinovici (einem in Israel geborenen Österreicher) und Natan Sznaider (einem in Deutschland geborenen Israeli). In dieser fiktiven, längeren E-Mail-Korrespondenz zwischen einem wiederauferstandenen Herzl und den Autoren bieten Passagen aus Herzls Schriften eine Folie für die Autoren, um sich mit ihren eigenen Auffassungen von Zionismus und Israel auseinanderzusetzen. Die gleiche Prämisse, allerdings mit schärferem politischem Einschlag, kommt in der Produktion aus dem Jahr 2018 des Gesher Theaters in Jaffa von Herzl Said zum Tragen, einem tragikomischen Musical, in dem Herzl aus dem Sarg steigt, als er 1949 von Wien in den neu gegründeten Staat Israel überführt werden soll. Vor den Augen eines skeptischen und zunehmend frustrierten orthodoxen Rabbis, eines Offiziers der israelischen Armee und eines israelischen Funktionärs spielt Herzl die Story von Altneuland nach, dessen Prophezeiungen einer friedlichen, toleranten und gerechten Gesellschaft in krassem Widerspruch zu den realen Gegebenheiten des neuen jüdischen Staates stehen. Als Ministerpräsident David Ben-Gurion über Herzls verblüffende Auferstehung unterrichtet wird, schickt er eine Nachricht nach Wien, dass lediglich Herzls Knochen – und damit nicht sein lebender Körper – nach Jerusalem überführt werden sollen. Also arbeiten die israelischen Funktionäre 233

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Pläne aus, wie sie Herzl zurück in seinen Sarg bringen, scheitern jedoch, bis dieser freiwillig hineinklettert, sobald die Vision seines Romans vollendet ist. Ehe seine Stimme für immer schweigt, ermahnt Herzl seine Gesprächspartner, dass das berühmte Motto des Romans: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen« eine Parallele im Nachwort habe in der Warnung: »Wenn ihr aber nicht wollt, so ist und bleibt es ein Märchen, was ich euch erzählt habe.« In dem Stück fügt er zur Betonung noch hinzu: »Wenn ihr es nicht wollt, so gibt es gar nichts! Ihr wollt es nicht? Dann braucht ihr es auch nicht! [Im tirtsu, ein! Lo rotsim, lo tsarich!]« Diese Wendungen sind in der israelischen Alltagskultur allgegenwärtig. In »Gabby and Debby«, einem Musikvideo der frühen 2000er Jahre der israelischen Hip-hop-Band Hadag Nahash, begeben sich junge Israelis auf eine Zeitreise in das Basel von 1897 zum Ersten Zionistenkongress. Die jungen Leute laufen Herzl über den Weg und schelten ihn für den verzweifelten Zustand des heutigen Israel, nur um zu beobachten, dass Herzls dunkle, faszinierende Augen den Einfluss halluzinogener Drogen verraten, die er den Jugendlichen auch nachdrücklich empfiehlt: »Wenn ihr das nehmt, ist es kein Märchen [Im tikehu, ayn zo aggadah]«.3 Vor einigen Jahren entdeckte ich in Jerusalem ein T-Shirt mit Herzls Gesicht und den Worten Im tirtsu, ein. Graffiti mit Herzls Profil und den Worten Lo rotsim, lo tsarich sind überall in Tel Aviv präsent. Und »Lo rotsim, lo tsarich« war auch der Titel einer Aufnahme, die von einem Ensemble israelischer Studiomusiker anlässlich des 61. Jahrestag der Staatsgründung Israels produziert wurde. Die Wendung ist zweideutig, weil sie auch eine Ablehnung des Zionismus bedeuten kann (weder wollen noch brauchen wir einen Staat), aber in der Umgangssprache hat sie eher eine mahnende Konnotation: Wenn ihr so handelt, als würdet ihr es nicht wollen, dann wird es euch weggenommen werden – aber ihr werdet eure Entscheidung bereuen. Diese Texte und Bilder stecken voller Ironie, einem literarischen Stilmittel, das auch Herzl meisterhaft beherrschte. Herzl schätzte die Ironie als Mittel, widrige Umstände zur Sprache zu 234

Epilog

bringen, zu lenken und zu überwinden. Sie war das Gegenteil von Zynismus, den er als Eingeständnis der Niederlage ansah. Es ist Ironie, nicht Zynismus, die die Darstellungen von Herzl in der heutigen Alltagskultur Israels beherrscht, seien es Bilder von Herzl auf einem Esel – eine Anspielung auf die biblische Prophezeiung, dass der Messias auf einem Esel in Jerusalem einziehen werde – oder von Herzls Gesicht, entstellt von einem Muttermal (oder auch einem Schmiss), das den Grenzen der Westbank entspricht, oder von Herzl als vollendetem Hipster mit tadellos gepflegtem Bart und Ohrring. Freilich bleibt Herzl auch für andere Interpretationen offen. Es gab Versuche der israelischen Rechten, Herzl als glühenden Nationalisten zu vereinnahmen, dessen Ideen sich um die Einzigartigkeit des jüdischen Volkes, dessen Recht auf dieses Land und die Notwendigkeit eines jüdischen Staates drehten. Seit 2006 verwendet die Nichtregierungsorganisation Im Tirtsu die berühmte Wendung aus Altneuland, um die Kraft des Willens für Veränderung auszudrücken. Ihre Mitglieder nehmen diese Macht als gesellschaftliche Gefahr von innen wahr, insbesondere von den Universitäten und NGO s ausgehend, die eine israelisch-palästinensische Versöhnung anstreben. Einige Anhänger des israelischen national-religiösen Zionismus stellen dem liberalen Herzl – kosmopolitisch, gesellschaftlich fortschrittlich und entschlossen, das Volk selbst über die Rolle der Religion entscheiden zu lassen – das Bild eines streng religiösen Mannes gegenüber, der im Jahr 1895 ein spirituelles Erweckungserlebnis hatte, der in der Synagoge vor dem Ersten Zionistenkongress vor Gottesfurcht zitterte, den Wiederaufbau des Tempels vorhersah und, auf dem Höhepunkt der Kontroverse um den Uganda-Plan, seine Liebe zu Zion vehement verteidigte. In Israel hat sich noch jedes politische Lager und jede Generation einen eigenen Herzl erfunden. Er selbst hatte sich nach der eigenen Legende als ein zweiter Moses präsentiert: aufgewachsen am Hof des Pharao, ein Fremder in seinem eigenen Volk, der zu ihm zurückkehrte, es aus der Knechtschaft führte, aber sterben musste, bevor die Juden das Gelobte Land betreten konnten. Nach Herzls Tod schmückten seine Anhänger die 235

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Legende noch aus und schnitten sie maßgerecht zu, sodass sie ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen diente. Das ist das Schicksal charismatischer Führer, deren Aura nach dem physischen Tod noch lange weiterlebt, aber von ihrem Ausgangspunkt entkoppelt wird und ein Eigenleben entwickelt. Doch mit der Zeit mag die Aura des Charismas verblassen, der Halbschatten der Inspiration wird vergänglich und verschwindet letztlich ganz. Ungeachtet des lebhaften Geschäfts mit Darstellungen Herzls in unserer Zeit gerät er allmählich in Vergessenheit. Nach einer aktuellen Umfrage weiß nur etwa die Hälfte der israelischen Jugend, wer Theodor Herzl war. Viele dachten, er sei Israels erster Staatspräsident oder erster Regierungschef gewesen. Herzls eindrückliches Gesicht, mit dem assyrischen Bart und den samtschwarzen, tiefliegenden Augen, ist weiterhin ein beliebtes Meme. Doch es löst sich zunehmend von jenem bemerkenswerten Mann, der so begabt wie unruhig war – ein exemplarisches Produkt des Glaubens an die Menschlichkeit im Europa der Jahrhundertwende und der Überzeugung, dass die Welt zum Guten hin verändert werden kann und muss.

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Dank

Ich möchte Anita Shapira und Steven Zipperstein dafür danken, dass sie mich eingeladen haben, für die Serie »Jewish Lives« der Yale University Press über Herzl zu schreiben. Es war mir ein Vergnügen, mit Linda Kurz, Heather Gold, Susan Laity und Joyce Ippolito zusammenzuarbeiten. Meine Agentin Beverley Slopen hat mich stets unterstützt und mir durchweg vernünftige redaktionelle Ratschläge gegeben. Kathrin Bachleitner, Juliane Beck, Marco Brandl, Nimrod Lin und Ela Anna Naegele boten mir bei der Recherche wertvolle Unterstützung. Die Mitarbeiter des Central Zionist Archive in Jerusalem halfen mir geduldig dabei, durch das inzwischen digitalisierte Herzl Archive zu navigieren, und ich hatte das große Vergnügen, die umfangreiche private Sammlung durchzusehen, die David Matlow, ein Anwalt in Toronto, erworben hat. Ich hatte das große Glück, von erhellenden Kommentaren und kritischen Anmerkungen der Kollegen in vielen Ländern zu profitieren: in Großbritannien Peter Bergamin, Michael Berkowitz, David Cesarani (z”l), Faisal Devji, David Feldman, Peter Ghosh, Abigail Green, Todd Hall, Ruth Harris, Sara Hirschhorn, Yaron Peleg und David Rechter; in Deutschland Johannes Becke und Michael Brenner; in Ungarn Zsofia Meszaros und Michael Miller; in Israel Gur Alroey, Motti Friedman, Daniel Gutwein, Amos Morris-Reich, Orit Rozin, Hizky Shoham, Dmitry Shumsky, Michael Silber und Scott Ury; in Kanada Emanuel Adler, Doris Bergen, Eric Jennings, Ivan Kalmar, Jacques Kornberg, James Retallack und Anna Shternshis; und in den Vereinigten Staaten David Biale, Nina Caputo, Arie Dubnov, John Efron, Jonathan Gribetz, Judith Gurewich, Alison Frank Johnson, Liora Halperin, Mitchell Hart, Eran Kaplan, Pnina Lahav, Yehudah Mirsky, Eugene Sheppard, Kenneth Stern und Yael Zerubavel. Bei der Durchsicht des Manuskripts durch zwei Ärzte – ein Internist (Richard Kravitz) und ein 237

Dank

Psychiater (Michael Rosenbluth) – wurden peinliche Fehler korrigiert, und es ergaben sich überzeugende Beobachtungen zu den Herausforderungen einer retrospektiven Diagnose. Der Gegenstand einer Biografie wird zu einer unsichtbaren, aber ständigen Präsenz in der Familie des Biografen. Meine Frau Robin bewältigte den längeren Aufenthalt unseres Hausgasts mit Geduld und Nachsicht. Unser älterer Sohn Josh, der gerade die Facharztausbildung zum Kinderkardiologen absolviert, hat das Manuskript mit Blick auf Herzls Herzprobleme gelesen, während seine Schwester Emmett, eine begabte Schreiberin, den Text Zeile für Zeile streng redigierte. Joshs Frau Marisa, eine deutsche Muttersprachlerin, half bei schwierigen Übersetzungsproblemen. Ihnen allen gebührt meine Dankbarkeit und Liebe. Wenige Wochen bevor ich das Manuskript im Verlag abgab, machte unsere Enkeltochter Selma ihre ersten Schritte. Dieses Buch ist ihr gewidmet.

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Abkürzungen BT

Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, hrsg. v. Alex Bein, Hermann Greive, Moshe Shaerf und Julius Schoeps, Frankfurt a. M. 1983–1996), 7 Bde.

CZA

Central Zionist Archive, Jerusalem

FeuilletonsTheodor Herzl, Feuilletons, hrsg. v. Raoul Auernheimer, 2 Bde., Wien 1911 JT

Jugendtagebuch, in BT, Bd.1

NFP

Neue Freie Presse

Rosenberger Erwin Rosenberger, Herzl as I Remember Him, New York 1959 RT

Reisetagebuch, in BT, Bd.1

TH

Alex Bein, Theodor Herzl, deutsche Ausgabe: Wien 1934; englische Ausgabe: Philadelphia 1941

Zionistische Schriften Theodor Herzl, Gesammelte zionistische Werke, 5 Bde., Bd.1: Zionistische Schriften, Berlin 1934 ZT

Zionistisches Tagebuch

ZW

Theodor Herzl, Zionist Writings. Essays and Addresses, übers. Harry Zohn, 2 Bde., New York 1973–1975

Abbildungsnachweise S. 18:

© picture-alliance / IMAGNO /Austrian Archives | Anonym S. 58: © picture-alliance / IMAGNO /Austrian Archives | Anonym S. 100: © Central Zionist Archives S. 142: © ullstein bild – Roger-Viollet S. 184: © ullstein bild – Imagno

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Anmerkungen Einleitung 1 Frühe Biographien von zionistischen Aktivisten, die Herzl persönlich kannten, sind merklich voreingenommen, stecken aber voller reicher Details und sind aufrüttelnd und malerisch, z.B. Reuven Brainin, Hayei Hertsel, New York 1919; und Jacob de Haas, Theodor Herzl. A Biographical Study, 2 Bde., Chicago 1927. Alex Bein, Theodor Herzl. Biographie, Berlin 1934; englische Ausgabe: Philadelphia 1941, war seinerzeit ein bahnbrechendes Werk der historischen Forschung, auch wenn es noch einen ehrfürchtigen Ton beibehält. Spätere Biographien sind zunehmend kritisch, z.B. Andre Chouraqui, A Man Alone. The Life of Theodor Herzl, französisches Original: Paris 1960; englische Ausgabe: Jerusalem 1970; Desmond Stewart, Theodor Herzl. Artist and Politician, New York 1974; Amos Elon, Herzl, New York 1975 (deutsche Ausgabe: Morgen in Jerusalem. Theodor Herzl, sein Leben und Werk, Wien, München, Zürich 1975); Ernst Pawel, The Labyrinth of Exile. A Life of Theodor Herzl, New York 1989; und Jacques Kornberg, Theodor Herzl. From Assimilation to Zionism, Bloomington 1991. Zu Bewertungen des zionistischen Denkens von Herzl siehe Joseph Adler, The Herzl Paradox. Political, Social, and Economic Theories of a Realist, New York 1962; Steven Beller, Herzl, New York 1991; und Shlomo Avineri, Herzl. Theodor Herzl and the Foundation of the Jewish State, hebräische Ausgabe: Jerusalem 2007; englische Ausgabe: London 2013; deutsche Ausgabe: Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates, Berlin 2016. 2 Nassir Ghaemi, A First-Rate Madness. Uncovering the Links Between Leadership and Mental Illness, New York 2011, S.19. 3 Anthony Storr, Churchill’s Black Dog and Other Phenomena of the Human Mind, London 1989, S.5, 26. 4 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1980, Bd.1, S.140; siehe »Charismatische Herrschaft«. 5 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des Sechsten Zionistenkongresses in Basel, 23.-28. August 1903, Wien 1903, S.64, online verfügbar unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3476266 (Zugriff am 16. September 2021). 6 Samuel Bettelheim, »Wie hat Herzl ausgesehen?«, in: Theodor Herzl Jahrbuch, hrsg. von Tulo Nussenblatt, Wien 1937, S.237. 7 Ebenda. 8 Robert S.Wistrich, »In the Footsteps of the Messiah«, in: Theodor Herzl – Visionary of the Jewish State, hrsg. von Gideon Shimoni und Robert S.Wistrich, Jerusalem 1999, S.331.

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Anmerkungen S. 16–39

9 Theodor Herzl, »Autobiography«, in: The Jewish Chronicle,14. Januar 1898, nachgedruckt in: Theodor Herzl, Zionist Writings, New York 1973-1975, S.19. Vgl. folgende Passage in ZT , BT , Bd.2, S.43: »Welche Träume, Gedanken, Briefe, Begegnungen, Thaten – Enttäuschungen, wenn es zu nichts kommt, und furchtbare Kämpfe, wenn es dazukommt, werde ich zu bestehen haben. Das muss festgehalten werden.« 10 Georges Gusdorf, »Conditions and Limits of Autobiography«, in: Autobiography: Essays Theoretical and Critical, hrsg. von James Olney, Princeton, N.J. 1980, S.39 und 43.

Theodor Herzls Weg 1 »Dr. Güdemann’s National-Judentum«, in: Österreichische Wochenschrift, 23. April 1897, S.62-70; nachgedruckt in: Theodor Herzl, Gesammelte zionistische Werke, Bd.1: Zionistische Schriften. Berlin 1934, S.138-147, hier 141. 2 So zitiert in Bein, Theodor Herzl, S.17. 3 Zitiert in Raphael Patai, »Herzl’s School Years«, in: Herzl Year Book 3, New York 1960, S.61. 4 Zitiert in Amos Elon, Morgen in Jerusalem. Theodor Herzl. Sein Leben und Werk, Wien, München, Zürich 1974, S.35. 5 JT , 10. Januar 1886, BT , Bd.1, S.640. 6 Nachgedruckt in Ernst Pawel, The Labyrinth of Exile. A Life of Theodor Herzl, New York 1989, S.36f. 7 Vielen Dank an Zsofia Meszaros für unsere E-Mail-Korrespondenz zu diesem Thema. 8 Herzl an Heinrich Kana, 21. Dezember 1881, BT , Bd.1, S.100. 9 JT , ohne Datum, BT , Bd.1, S.648. 10 Siehe Akte »Th. H. Militär Dokumente«, CZA , H/10. 11 Brief vom 25. November 1885, BT , Bd.1, S.212. 12 Herzl an Heinrich Kana, 4. September 1879, BT , Bd.1, S.91. 13 JT , 27. November 1883, BT , Bd.1, S.636. 14 Herzl an Kana, 28. Mai und 4. Juli 1883, BT , Bd.1, S.132 und 135. 15 27. Juni 1885, BT , Bd.1, S.182. Siehe auch Herzls Briefe an seine Eltern vom 4. Juni 1884, 19. Juni 1885 und 7. Dezember 1885. 16 Brief an die Eltern, 12. März 1887, BT, Bd.1, S.254. 17 Brief an die Eltern, 12. März 1887, sowie 3. August 1888, BT , Bd.1, S.254 und 298. 18 Herzl an Kana, 18. August 1882, BT , Bd.1, S.116f. 19 RT , 2. August 1883, BT , Bd.1, S.658. 20 RT , 26. Juli 1883, BT , Bd.1, S.657f.

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Anmerkungen S. 40 – 62

21 RT 1885, Anfang August, BT , Bd.1, S.663f. 22 Zitiert nach Elon, Morgen in Jerusalem, S.82. 23 JT , 10., 13. und 18. Januar 1886, BT , Bd.1, S.640-643. Vgl. Nachdruck in Elon, Morgen in Jerusalem, S.82. 24 Herzl an Heinrich Teweles, 5. März 1890; sowie Herzl an Franz Wallner, gleiches Datum; und Herzl an Heinrich Teweles, 12. März 1890, BT , Bd.1, S.344 und 346. 25 Briefe vom 21. und 22. Mai 1890, BT , Bd.1, S.376ff. 26 Briefe vom 24. und 25. Mai 1890 sowie ein nicht datierter, aber vermutlich am Tag darauf geschriebener Brief, BT , Bd.1, S.378-385. 27 Herzl an Jacob Naschauer, 16. Mai 1891, BT , Bd.1, S.441. 28 Herzl an Oswald Boxer, 13. Juni 1891, BT , Bd.1, S.447. 29 28. November 1891, BT , Bd.1, S.481-485, hier 484. 30 Herzl an Kana, 10. April 1890, BT , Bd.1, S.369. 31 Zitiert nach ZT , BT , Bd.2, S.51. 32 Zitiert in Desmond Stewart, Theodor Herzl. Artist and Politician, New York 1974, S.136. 33 Nachgedruckt in TH, S.110; Bein, Herzl, S.51. 34 Nachgedruckt in TH , S.95f.; siehe auch Bein, Herzl, S.44. 35 https://www.projekt-gutenberg.org/swift/tonne/chap002. html?%2051 36 Siehe dazu die brillante Analyse der Geschichte von Michael Stanislawski in Zionism and the Fin de Siècle. Cosmopolitanism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky, Berkeley 2001, S.1-6. Die Zitate sind der online verfügbaren Version der Geschichte entnommen, aufgerufen unter https://de.wikisource.org/wiki/Der_Sohn_(Herzl); Zugriff am 16. September 2021. 37 »Der Herr Bischoff von Meaux« (1891), in: Feuilletons, Bd.2, S.225. 38 Brief vom 19. September 1891, BT , Bd.1, S.471. 39 Brief vom 23. September 1891, BT , Bd.1, S.474.

Unser Mann in Paris 1 Marc Flandreau, »The Logic of Compromise: Monetary Bargaining in Austria-Hungary, 1867–1913«, in: European Review of Economic History 10, Nr.1 (2006), S.3-33. 2 Bacher an Herzl, 6. Oktober 1891, nachgedruckt in: Theodor Herzl, Von Boulanger zu Dreyfus [auf Hebräisch], hrsg. von Alex Bein, Jerusalem 1974, Bd.3, S.1119ff. 3 Bacher an Herzl, 20. Januar 1892, CZA , H VIII . 4 Bacher an Herzl, 16. Februar und 5. März 1892, CZA , H VIII .

242

Anmerkungen S. 63–82

5 Zitiert nach Bein, Herzl, S.57f.; vgl. Shalom Rosenfeld, »Theodor Herzl, Journalist« [Hebräisch], in: Kesher 21 (1997), S.2ff. 6 Herzl an Schnitzler, 29. Juli 1892, BT , Bd.1, S.499f. 7 Herzl an Schnitzler, 16. November 1892, BT , Bd.1, S.503. 8 Herzl an Schnitzler, 13. Mai 1893, BT , Bd.1, S.527. 9 Herzl an Schnitzler, 9. Januar und 16. Februar 1895, BT , Bd.1, S.569, 572. So vertraut Herzl und Schnitzler auch wurden, sie verwendeten durchweg die höfliche Anrede »Sie«. Das galt auch für Herzl und Nordau. (Siehe Kapitel 4.) 10 ZT , in BT , Bd.2, S.45. Die ersten Seiten des Tagebuchs sind nicht datiert. 11 NFP, 3. September 1892. 12 Ebenda. 13 NFP, 29. April 1892. 14 Zum Prozess gegen Auguste Vaillant in NFP, 11. Januar 1894, S.7f.; vgl. Jacques Kornberg, Theodor Herzl. From Assimilation to Zionism, Bloomington 1991, S.124. 15 Der Brief ist nicht datiert, doch die Herausgeber der gesammelten Briefe Herzls gehen davon aus, dass er in der zweiten Hälfte des Juli 1893 geschrieben wurde. BT , Bd.1, S.536. 16 Zitiert in Leon Kellner, Theodor Herzls Lehrjahre (1860–1895). Nach handschriftlichen Quellen, Berlin 1920, S.141. 17 Zitiert in TH, S.145. 18 ZT , BT , Bd.2, S.47. 19 Zitiert in TH, S.147. 20 TH, S.90. 21 ZT , BT , Bd.2, S.49. 22 ZT , BT , Bd.2, S.51. 23 NFP, 17. Oktober 1894, S.3. 24 Kornberg, From Assimilation to Zionism, S.146 und Anm. 32. 25 Alle Zitate aus Das neue Ghetto sind der Wiener Ausgabe von 1903 entnommen (https://archive.org/stream/bub_gb_T5k5AAAAMAAJ /bub_gb_T5k5AAAAMAAJ _djvu.txt). 26 ZT , BT , Bd.2, S.50f. 27 Herzl an Schnitzler, 8. November 1894, BT , Bd.1, S.553. 28 NFP, 2. November 1894, S.8; zitiert in Yaakov Rabi, »Ein Porträt des ›Visionär des Staates‹ als Auslandskorrespondent« [Hebräisch], in: Kesher 21 (1997), S.40. 29 Theodor Herzl, »Zionism«, in: ZW, Bd.2, S.112. Der Aufsatz wurde für die Zeitschrift North American Review geschrieben, aber nie veröffentlicht. 30 ZT , BT , Bd.2, S.556.

243

Anmerkungen S. 82– 95

31 Le Matin, Le Petit Parisien, Le Petit Journal und die New York Times meldeten leicht voneinander abweichende Parolen, aber keine einzige erwähnte ausdrückliche Angriffe auf die Juden. Das galt im Übrigen auch für den gegen Dreyfus eingestellten Schriftsteller und Politiker Maurice Barrès in seinem Bericht des Ereignisses. Zu Barrès siehe Ruth Harris, Dreyfus. Politics, Emotion, and the Scandal of the Century, New York 2010, S.35. 32 ZT , BT , Bd.2, S.62 (16. April 1896). Dieser Eintrag wurde nachträglich in das Tagebuch eingefügt. 33 ZT , BT , Bd.2, S.51, 52. 34 ZT , BT , Bd.2, S.56. 35 ZT , BT , Bd.2, S.59-61 (2. Juni 1895). 36 Adolf Wagner, »The National Debt of the German Empire«, in: The North American Review, Bd.174, Nr.547 (Juni 1902), S.847. 37 ZT , BT , Bd.2, S.63-67 (3. Juni 1895). 38 ZT , BT , Bd.2, S.217f. (21. Juli 1895). 39 ZT , BT , Bd.2, S.90f., 98 (9. und 10. Juni 1895). 40 ZT , BT , Bd.2, S.101f. (11. Juni 1895), und 131 (16. Juni 1895). 41 ZT , BT , Bd.2, S.65f. (3. Juni 1895), 99 (11. Juni 1895) und 115 (12. Juni 1895). 42 ZT , BT , Bd.2, S.117f. (12. Juni 1895). 43 ZT , BT , Bd.2, S.91f. (9. Juni 1895), 104f. (11. Juni 1895) und 128 (14. Juni 1895). 44 ZT , BT , Bd.2, S.107 (11. Juni 1895) 124 (12. Juni 1895) und 131 (16. Juni 1895). 45 ZT , BT , Bd.2, S.122 und 139 (12. und 17. Juni 1895). 46 ZT , BT , Bd.2, S.202 (24. Juni 1895). Ein Jahr später hörte Herzl von einem Dritten, dass Bismarck Herzls Brief für »eine melancholische Schwärmerei« gehalten habe. ZT , BT , Bd.2, S.417 (22. Juli 1896). 47 ZT , BT , Bd.2, S.152 (22. Juni 1895). 48 ZT , BT , Bd.2, S.217 und 228 (21. und 25. Juli 1895). 49 »Ravachol!«, in: Feuilletons, Bd.2, S.64. Pierre Alexis Ponson du Terrail (1829–1871) war ein populärer französischer Schriftsteller von Abenteuer- und Fantasyromanen. 50 Herzl, »Leroy-Beaulieu über den Antisemitismus«, in: Theodor Herzl, Zionistische Schriften, Bd.1, S.168. 51 ZT , BT , Bd.2, S.124 (12. Juni 1895). 52 ZT , BT , Bd.2, S.224f. (24. Juli 1895). 53 ZT , BT , Bd.2, S.132, 190 (15. und 16. Juni 1895). 54 ZT , BT , Bd.2, S.70, 176 (6. Juni 1895, und Familienrede, 15. Juni 1895). 55 ZT , BT , Bd.2, S.176, 190 (Familienrede, 14. und 15. Juni 1895).

244

Anmerkungen S. 95–125

56 ZT , BT , Bd.2, S.210 (5. Juli 1895). 57 ZT , BT , Bd.2, S.281 (21. November 1895). 58 Siehe auch meine Diskussion von Herzls Feuilleton »Epaphroditus« aus dem Jahr 1900 in Kapitel 4. 59 ZT , BT , Bd.2, S.213, 214 und 216 (10., 12. und 16. Juli 1895). 60 ZT , BT , Bd.2, S.210, 228 und 230 (6., 25. und 27. Juli 1895).

Das Organisationsgenie 1 Arthur Kamczyk, »Orientalism, Herzl, and His Beard«, in: Journal of Modern Jewish Studies 12, Nr.1 (2013), S.90-116. 2 ZT , BT , Bd.2, S.243 (18. August 1895). 3 Theodor Herzl, Der Judenstaat, Leipzig, Berlin 1896, S.25, online erhältlich unter https://de.wikisource.org/wiki/Der_Judenstaat. Die englische Übersetzung, die der Autor genutzt hat, The Jewish State, übers. Sylvie D’Avigdor, New York 1946, S.10, ist ebenfalls online verfügbar: http://www.mideastweb.org/jewishstate.pdf. Sämtliche Zitate aus dem Pamphlet sind der deutschen Online-Ausgabe entnommen. Um den Leser nicht mit einer Flut an Anmerkungen zu bombardieren, wird bei kurzen Zitaten auf die Seitenangabe verzichtet, die Stellen können jedoch problemlos in der Datei aufgerufen werden. 4 Der Judenstaat, S.39f. 5 ZT , BT , Bd.2, S.300 (10. Februar 1896). 6 ZT , BT , Bd.2, S.256 (20. Oktober 1895). 7 Nordau an Herzl, 26. Februar 1896, CZA , VIII . 8 Zitiert in Mordechai Friedman, Der Busch brannte und wurde aufgezehrt [Hebräisch], Jerusalem 2015, S.98. Der rabbinische Verweis stammt aus dem babylonischen Talmud, Traktat Sanhedrin, 99a. 9 ZT , BT , Bd.2, S.285f. (25. November 1895). 10 ZT , BT , Bd.2, S.311 (15. März 1896). 11 ZT , BT , Bd.2, S.397 (8. Juli 1896). 12 ZT , BT , Bd.2, S.498 (4. April 1897). 13 ZT , BT , Bd.2, S.514f. (20. Mai 1897). 14 ZT , BT , Bd.2, S.469 (1. Dezember 1896). 15 ZT , BT , Bd.2, S.440 (9. September 1896). 16 ZT , BT , Bd.2, S.474 (6. Januar 1897); siehe auch 459 und 461 (22. Oktober 1896). 17 ZT , BT , Bd.2, S.428 (3. August 1896). 18 Eintrag vom 8. Juli 1896, BT , Bd.2, S.397. 19 Eintrag vom 13. Juli 1896, BT , Bd.2, S.403. 20 ZT , BT , Bd.2, S.401-406 (13. und 15. Juli 1896). 21 ZT , BT , Bd.2, S.503 (25. April 1897). 22 ZT , BT , Bd.2, S.623 (2. Oktober 1898).

245

Anmerkungen S. 126–136

23 ZT , BT , Bd.2, S.575f. (26. März 1898). 24 »Rede in der österreichisch-israelitischen Union (Wien, 7. November 1896)«, in: Herzl, Zionistische Schriften, Bd.1, S.117-133, hier 125 und. 132. 25 https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3383490 26 Rosenberger, S.49. 27 Siehe »Das Wirtshaus zum Anilin«, in: Theodor Herzl, Philosophische Erzählungen, Berlin 1919, S.264f.; zitiert in Peter Lowenberg, »A Psychoanalytical Study in Charismatic Political Leadership«, in: The Psychoanalytic Interpretation of History, hrsg. v. Benjamin B. Wolmon, New York 1971, S.172f. 28 https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3376957 29 Die Welt I, Nr.1 (4. Juni 1897), S.1; online verfügbar unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3376957 (Zugriff am 16. August 2021). 30 Father Ignatius, »Christen über die Judenfrage«, in: Die Welt I, Nr.5 (2. Juli 1897), S 7, online verfügbar unter: https://sammlungen. ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3378269?query=Ignatius. Vgl. Rosenberger, S.91. 31 Theodor Herzl, »Mauschel«, online verfügbar unter http:// www.lexikus.de/bibliothek/Theodor-Herzls-Zionistische-Schriften/ Mauschel. 32 Nordau an Herzl, 14. Dezember 1896, CZA , H VIII . 33 Zitiert in Georges Yitzhak Weisz, Theodor Herzl. A New Reading, Jerusalem 2013, S.7. 34 Zitiert in Robert S.Wistrich, »In the Footsteps of the Messiah«, in: Theodor Herzl. Visionary of the Jewish State, hrsg. von Gideon Shimoni und Robert S.Wistrich, Jerusalem 1999, S.321. 35 Jacob de Haas, Theodor Herzl. A Biographical Study, Chicago 1927, S.169. 36 Hillel Halkin, »What Ahad Ha’am Saw and Herzl Missed— and Vice Versa«, in: Mosaic, 5. Oktober 2016, S.7f., online verfügbar unter https://mosaicmagazine.com/essay/2016/10/what-ahad-haamsaw-and-herzl-missed-and-vice-versa/ (Zugriff am 1. August 2018). Ein ausführlicher Kommentar Achad Ha-Ams zum Zionistenkongress ist nachgedruckt in: Achad Haam, Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1923, Bd.2, unter der Überschrift »Judenstaat und Judennot«, S.45-66, hier 59f. 37 Ebenda. 38 Zitiert in Friedman, The Bush Burned, S.37. 39 Zionisten-Congress in Basel, 29.-31. August 1897, Officielles Protocoll, Wien 1898, hier zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/

246

Anmerkungen S. 138–152

Zionistenkongress#/media/Datei:The_%22Basel_Program%22_at_ the_First_Zionist_Congress_in_1897.jpg 40 Zionisten-Congress in Basel, S.190, vollständiger Wortlaut online erhältlich unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/ periodical/titleinfo/3476257. Vgl. die knappe und fast zeitgenössische Analyse des Basler Programms von Gotthard Deutsch in der Jewish Encyclopedia, erhältlich unter http://www.jewishencyclopedia.com/ articles/2612-basel-program. 41 Joseph Frankel, »The History of the Shekel« (1952, 1956), online erhältlich unter http://begedivri.com/ZionistShekel/History.htm (Zugriff: 1. August 2018). Siehe auch Hayim Orlan, »The Participants in the First Zionist Congress«, in: Herzl Year Book 6, New York 1964/65, S.135; sowie Alison Rose, Jewish Women in Fin-de-Siècle Vienna, Austin 2008, S.130f. 42 New York Times, 11. August 1897. 43 Johannes Lepsius, »Der Zionisten-Congress«, in: Der Christliche Orient 1, Nr.10 (1897), S.434. 44 ZT , BT , Bd.2, S.538f. (3. September 1897). 45 Nordau an Herzl, 19. April 1898, CZA , H VIII .

Der Griff nach den Sternen 1 ZT , BT , Bd.3, S.124 (18. Mai 1900). 2 Herzl an Wolffsohn, 20. Mai 1900, BT , Bd.5, S.437f. 3 ZT , BT , Bd.3, S.76 (12. Dezember 1899). 4 »Maupassants Nachlass« (1900), zitiert in: Theodor Herzl, Feuilletons, Berlin 1911, Bd.1, S.257. Die Perlen-Metapher taucht in einem anderen Licht in Isaiah Berlins Vortrag von 1975 »The Achievement of Zionism« auf: »Der in die Auster eingedrungene Kieselstein verursacht die Krankheit, die letztlich eine Perle hervorbringen kann. Das geschieht vielleicht in nur einem von einer Million Fällen. Aber wenn eine Auster sagen würde: ›Ich will keine Perle hervorbringen, ich will einfach ein normales, gesundes Leben führen‹, so ist das verboten, weil es die Mission der Auster ist, zu leiden und diese Perlen hervorzubringen.« (http://berlin.wolf.ox.ac.uk/lists/nachlass/achiezio.pdf, S.4 [Zugriff am 26. August 2021]). 5 »Nauheim« (1899), nachgedruckt in: Herzl, Feuilletons, Bd.2, S.190. 6 Siehe »Das Trauerspiel des Ruhms« (1900) und »Die unsterbliche Stadt« (1901), nachgedruckt in: Herzl, Feuilletons, Bd.1, S.270 und 280. 7 Der deutsche Titel »Epaphroditus« ist ein griechischer Name, der von Aphrodite abgeleitet ist, der griechischen Entsprechung der Liebesgöttin Venus. 8 Herzl an Suttner, 2. April 1898, BT , Bd.4, S.451. 9 Herzl an Nordau, 13. Dezember 1897, BT , Bd.4, S.392f.

247

Anmerkungen S. 153–161

10 Herzl an Zadoc Khan, 18. März 1898, ZT , BT , Bd.2, S.574. 11 ZT , BT , Bd.2, S.703f. (11. Dezember 1898). Zu diesem Punkt siehe Shlomo Avineri, Theodor Herzl and the Foundation of the Jewish State, hebräische Ausgabe Jerusalem 2007; englische Ausg. London 2013, S.33 (deutsch: Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates, Berlin 2016). 12 Nordau an Herzl, 10. Mai und 5. Juni 1898, CZA , H VIII ; Herzl an Nordau, 19. Mai und 11. Juni 1898, BT , Bd.4, S.472f., 495f. 13 Herzl an Nordau, 25. Januar 1898, BT , Bd.4, S.412f. 14 Erwin Rosenberger, der an dem Kongress teilnahm, behauptet, ein Orchester habe die »Fantasie« aus Tannhäuser gespielt, und einige Biografen Herzls haben diese Aussage wiederholt, während andere schreiben, das Orchester habe die Ouvertüre der Oper gespielt. In Wirklichkeit gibt es in der Oper keine »Fantasie«. Rosenberger meinte möglicherweise einen Ballettteil, die »Baccanale«, die unmittelbar auf die Ouvertüre folgte und der Oper für die Premiere in Paris hinzugefügt wurde – sechzehn Jahre nach der Komposition der Oper. In Anbetracht der Berühmtheit und der aufwühlenden Kraft der Ouvertüre ist jedoch anzunehmen, dass das Orchester Stücke sowohl daraus als auch aus der »Baccanale« spielte. Herzlichen Dank an Peter Bergamin für seine Erkenntnisse zu diesem Punkt. 15 ZT , BT , Bd.3, S.133 (17. Juni 1900). 16 Whitman an Herzl, 8. September 1899, CZA , H12073–48. 17 »Rede in Berlin«, in: Herzl, Zionistische Schriften, S.269-273, hier 270. 18 Ebenda, sowie »Zweite Kongressrede«, in: Herzl, Zionistische Schriften, S.314f.; siehe auch »Leroy-Beaulieu über den Antisemitismus«, in: Zionistische Schriften, Bd.1, S.166f. 19 NFP, 6. Juni 1897, S.5f. 20 »Das Bischari-Lager«, in: Neue Freie Presse, 30. April 1899, S.4f. 21 Aus Die Fackel, April 1899, online verfügbar unter https://fackel.oeaw.ac.at/, nachgedruckt in: Werner Michael Schwartz, Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung »exotischer Menschen«, Wien, 1870–1910, Wien 2001, S.138. 22 Zitiert in David Vital, Zionism. The Formative Years, Oxford 1982, S.52f., 58. 23 Zitiert in Mim Kemal Oke, »The Ottoman Empire, Zionism, and the Question of Palestine (1880–1908)«, in: International Journal of Middle East Studies 14, Nr.3 (1982), S.329-341. 24 ZT , BT , Bd.2, S.593 (1. Juli 1898). 25 Zitiert in Alexander Bein, »Erinnerungen und Dokumente über Herzls Begegnung mit Kaiser Wilhelm II .«, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden 1 (1964), S.38.

248

Anmerkungen S. 162–173

26 ZT , BT , Bd.2, S.615 und 627 (18. und 21. September 1898). 27 Vollständig nachgedruckt in Bein, »Erinnerungen und Dokumente über Herzls Begegnung mit Kaiser Wilhelm II .«, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden 1 (1964), S.46ff. 28 ZT , BT , Bd.2, S.634f. (7. und 8. Oktober 1898); zum Gespräch mit von Bülow und Fürst Hohenlohe siehe S.641-644. 29 ZT , BT , Bd.2, S.659-670, hier 670 (19. Oktober 1898). Siehe auch Herzls Brief an seine Eltern, 20. Oktober 1898, BT , Bd.4, S.553f.; sowie Bein, »Erinnerungen und Dokumente über Herzls Begegnung mit Kaiser Wilhelm II .«, S.40. In seinen Erinnerungen erklärte Wilhelm, dass Herzls Darstellung ihrer Begegnung in Istanbul »durchaus zutreffend und in sehr loyaler Weise« geschrieben sei. 30 »When Herzl Saw Palestine«, in: Theodor Herzl. A Memorial, hrsg. von Meyer Weisgal, New York 1929, S.76. 31 ZT , BT , Bd.2, S.674 (27. Oktober 1898). 32 ZT , BT , Bd.2, S.679 (29. Oktober 1898); Gol Kalev, »Following Herzl’s Footsteps in Jerusalem«, in: Jerusalem Post, 20. Mai 2017; https://www.jpost.com/In-Jerusalem/Following-in-Herzls-footsteps-inJerusalem-490489 (Zugriff am 21. August 2018). 33 ZT , BT , Bd.2, S.675, 677ff. (27. und 29. Oktober 1898). Bülow und Eulenburg behaupten in ihren Memoiren, Herzl sei nie in Palästina gewesen. Wilhelms Memoiren erwähnen die Begegnung bei Mikweh Israel, aber nicht die in Jerusalem. Bodenheimer bestätigt jedoch, dass die Begegnung in Jerusalem stattfand und dass Herzls Darstellung zutreffend ist. Augenscheinlich war die Angelegenheit für den Kaiser und seine Berater von so geringer Bedeutung, dass sie sie ganz vergaßen. 34 ZT , BT , Bd.2, S.680ff. (31. Oktober 1898). 35 ZT , BT , Bd.2, S.690 (2. November 1898). 36 Herzl an Maximilian Harden, 26. Juli 1901, BT , Bd, 6, S.253. 37 ZT , BT , Bd.3, S.658 (27. Januar 1904). 38 An Crespi auf Französisch, ZT , BT , Bd.3, S.196 (10. Januar 1901). 39 ZT , BT , Bd.3, S.63 (27. Oktober 1899). 40 Siehe Die Welt, 16. Juli 1897, S.12, online verfügbar unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3379051. Zur Konfiszierung siehe Rosenberger, S.98. 41 Herzl an Ussischkin, 22. August 1901, BT , Bd.6, S.295. 42 »Der Basler Kongress«, in: Zionistische Schriften, S.198. 43 Zitiert in Andrea Livnat, Der Prophet des Staates. Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels, Frankfurt a. M. 2011, S.39f. 44 »Vierte Kongressrede (17. August 1900)«, in: Zionistische Schriften, S.425.

249

Anmerkungen S. 174–199

45 Vergleiche Birmingham Daily Post, Glasgow Herald, Huddersfield Daily Chronicle (Yorkshire), Leeds Mercury, Liverpool Mercury, London Daily News, Sheffield and Rotherham Independent, Yorkshire Herald und Western Mail (Cardiff), vom 14. und 15. August 1900. 46 ZT , BT , Bd.3, S.243 (8. Mai 1901) 47 ZT , BT , Bd.2, S.519 (6. Juni 1897). 48 ZT , BT , Bd.3, S.251, 253 und 256 (13., 17. und 19. Mai 1901). 49 ZT , BT , Bd.3, S.257 (19. Mai 1901). 50 ZT , BT , Bd.3, S.278 und 271f. (21. Mai 1901). 51 ZT , BT , Bd.3, S.315 (23. September 1901). 52 ZT , BT , Bd.3, S.291 (1. Juni 1901). 53 ZT , BT , Bd.3, S.295 (5. Juni 1901). 54 Brief an Wolffsohn, 8. November 1901, BT , Bd.6, S.354. 55 Erwin Rosenberger, Herzl as I Remember Him, New York 1959, S.150. 56 ZT , BT , Bd.3, S.53, 217, 225 (30. August 1899 und 30. Januar, 14. März 1901). 57 ZT , BT , Bd.3, S.399 (4. Juni 1902).

Wenn ihr wollt, ist es doch ein Traum 1 ZT , BT , Bd.3, S.335 (24. Januar 1902). 2 »Der Kaufmann«, in: Neue Freie Presse, 27. Januar 1901, S.3. 3 Herzl an Maximilian Harden, 16. März 1897, BT , Bd.2, S.206; Herzl an Rathenau, 26. Juli 1901, BT , Bd.6, S.253. 4 ZT , BT , Bd.3, S.39 (21. Juni 1899). 5 »Fünfte Kongressrede«, in: Zionistische Schriften, S.447. 6 ZT , BT , Bd.3, S.336 (25. Januar 1902). 7 ZT , BT , Bd.3, S.401f. (9. Juni 1902). 8 Herzl an Moriz Reichenfeld, 10. und 13. September 1902, BT , Bd.6, S.591f. 9 ZT , BT , Bd.3, S.455 (22. August 1902). 10 Sämtliche Zitate sind dem Nachdruck unter dem Titel Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen entnommen, der von Julius Schoeps herausgegeben und eingeleitet wurde (Theodor Herzl, Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat, Kronberg/Taunus 1978). Die englische Originalausgabe des vorliegenden Buchs stützt sich auf die englische Übersetzung von 1960, die bei der Haifa Publishing Company erschienen ist. 11 Achad Haam [sic], »Altneuland«, in: Ost und West 3, Nr.4 (190/04), S.227-244, hier 243f.; zitiert in Steven J. Zipperstein, Elusive Prophet. Ahad Ha’Am and the Origins of Zionism, Berkeley 1993, S.196.

250

Anmerkungen S. 199–215

12 Max Nordau, »Achad Haam über ›Altneuland‹«, in: Die Welt 7, Nr.11 (13. März 1903), S.1-5; weitere Zitate aus Halkin, »What Ahad Ha’Am Saw and Herzl Missed—and Vice Versa«, in: Mosaic, 5. Oktober 2016, S.13; https://mosaicmagazine.com/essay/2016/10/what-ahadhaam-saw-and-herzl-missed-and-vice-versa/ (Zugriff: 12 September 2018). 13 15. September 1903, BT , Bd.7, S.294. 14 ZT , BT , Bd.3, S.339 (30. Januar 1902). 15 Zitiert in Ernst Pawel, The Labyrinth of Exile. A Life of Theodor Herzl, New York 1989, S.487. 16 Herzl an Wolffsohn, 22. Oktober 1903, BT , Bd.7, S.421. 17 Herzl an Goldsmid, 12. Januar 1904, BT , Bd.7, S.508. 18 »Die Brille«, in: Feuilletons, Bd.2, S.285-295, hier 287. 19 ZT , BT , Bd.3, S.329f. (11. Januar 1902). 20 Brief an den Sultan (französisch), ZT , BT , Bd.3, S.432 (28. Juli 1902). 21 Sämtliche Zitate in diesem und im folgenden Absatz sind aus »Herzl vor der Londoner Fremden-Kommission, 11. Juli 1902«, in: Herzl, Zionistische Schriften, Bd.1, S.452-486. 22 ZT , BT , Bd.3, S.466 (23. Oktober 1902). 23 ZT , BT , Bd.3, S.473 (7. November 1902). 24 Zitiert in David Vital, Zionism. The Formative Years, Oxford 1982, S.147. 25 ZT , BT , Bd.3, S.481 (22. Dezember 1902). 26 »Eine Reise nach Ägypten«, in: Feuilletons, Bd.1, S.235. 27 Ebenda, S.244. 28 ZT , BT , Bd.3, S.532 (26. März 1903). 29 ZT , BT , Bd.3, S.537 (29. März 1903). 30 ZT , BT , Bd.3, S.529 und 555 (25. März, 27. April 1903). 31 ZT , BT , Bd.3, S.551, 564 (24. April und 14. Mai 1903). 32 ZT , BT , Bd.3, S.599 (14. August 1903). 33 ZT , BT , Bd.3, S.595ff. (11. August 1903). 34 Zitiert in Vital, Zionism. The Formative Years, S.263. 35 Herzlichen Dank an Gur Alroey dafür, dass er mir eine Kopie des Originaldokuments und der Antwort des Foreign Office zur Verfügung stellte. Die Dokumente wurden nachgedruckt in Oskar Rabinowicz, »New Light on the East Africa Scheme«, in: The Rebirth of Israel, hrsg. von Israel Cohen, London 1952, S.81-91. 36 Zitiert in Vital, Zionism. The Formative Years, S.275. 37 Herzl an Nordau, 13. Juli 1903, BT , Bd 7, S.207ff. 38 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VI. Zionisten-Kongresses in Basel, 23.–28. August 1903, Wien 1903, S.340; online

251

Anmerkungen S. 217–234

erhältlich unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3476266 (Zugriff am 20. September 2021). 39 Zitiert in David Green, »1903. ›Uganda Plan‹ Prompts Shooting of Zionist Leader«, in: Haaretz, 19. Dezember 2013; https://www.haaretz.com/jewish/.premium-1903-zionist-leader-gets-shot-at-1.5301541 (Zugriff: 16. September 2018). 40 23. Dezember 1903, BT , Bd.7, S.487. 41 Protokoll des Großen Aktionskommitees, Treffen vom 11.–15. April 1904, in CZA Z1/1192, P. 163. 42 Vgl. CZA , Z1/198, 759f. 43 ZT , BT , Bd.3, S.656f. (26. Januar 1904). 44 Herzl an Hans Herzl, 9. Mai 1904, BT , Bd.7, S.581. 45 Herzl an Wolffsohn, 6. Mai 1904; Herzl an Julie Herzl, 8. Mai 1904; Herzl an Jeanette Herzl, 20. Mai 1904; BT , Bd.7, S.578, 580f., 588. 46 Herzl an Jeanette Herzl, 25. Juni 1904, BT , Bd.7, S.591. 47 Rosenberger, S.240f. 48 Stefan Zweig, Die Welt von gestern, Frankfurt a. M. 1970 (Original: 1944), S.88. 49 Nachgedruckt in Mordechai Friedman, Der Busch brannte, und er wurde verbrannt [Hebräisch], Jerusalem 2015, S.298. 50 Ebenda, S.336. 51 NFP, 4. Juli 1904, S.1 und 7. 52 Zitiert in Andrea Livnat, Der Prophet des Staates. Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels, Frankfurt a. M. 2011, S.44f.

Epilog 1 Andrea Livnat, Der Prophet des Staates, S.86f. 2 Zitiert in Georges Yitshak Weisz, Theodor Herzl. A New Reading, Jerusalem 2013, S.15. 3 Siehe »Hadag Nachash Gabi veDebi«, unter http://www.youtube.com/watch?v=uU-n3Lzu1PU , Zugriff am 6. September 2019.

252

Register Abdul Hamid II. (Sultan) 116, 118, 143, 159-161, 176 Adler, Hermann 124 Achad Ha-Am ̹ Ascher Hirsch Ginsberg Ahmet Tevfik Pascha 163 Alkalai, Yehuda 22f. Arendt, Hannah 79 Artin Dadyan Pascha 169 Auersperg, Leopold Graf 146 Bacher, Eduard 54, 60-63, 67, 102, 125, 145, 147, 224 Badeni, Casimir 120 Bahar, Jacques 153f. Bahr, Hermann 147 Baudelaire, Charles 64 Beer-Hofmann, Richard 66 Bein, Alex 43 Ben-Ami, Mordechai 134 Benedikt, Moriz 55, 60f., 63, 67, 75, 102, 125, 145, 147, 224 Ben-Gurion, David 233 Benjamin, Walter 56 Béranger, Pierre-Jean de 92 Berkman, Zak 231 Berlin, Isaiah 247 Bernadette, Heilige ̹ Bernadette Soubirous Bettelheim, Samuel 12, 173 Bilitz, Samuel 22 Birnbaum, Nathan 108, 113, 136 Bismarck, Otto von 34f., 72, 92, 244 Bodenheimer, Max 123, 136, 163, 249 Boulanger, Georges Ernest 59 Boxer, Oswald 47, 190 Brainin, Reuven 21, 24, 135, 138 Braudes, Reuben Ascher 135 Breuer, Isaak 224

Buber, Martin 179, 224f. Buchmil, Joschua 132 Bülow, Bernhard von 161-163, 168, 186, 249 Carnot, Sadi 70, 148 Carol (König von Rumänien) 156 Caserio, Sante Geronimo 70 Chamberlain, Joseph 202, 204, 208, 212 Chlumecky, Johann von Baron 71f. Churchill, Winston 9f. Constans, Ernest 62 Crémieu-Foa, André 68 Cromer, Lord 204f., 207f. Daudet, Alphonse 69, 84 David (König) 12, 134, 154 Diamant, Hermann 21f. Diamant, Jeanette ̹ Jeanette Diamant Herzl) Disraeli, Benjamin 8, 35 Dons-Kaufmann, Anna 154 Dreyfus, Alfred 80-82, 139, 153, 156, 164, 231 Drumont, Édouard 68f. Dühring, Eugen 35 Edward VII. (König) 174, 177 Eiffel, Gustave 68 Eliot, George 114 Estournelles de Constant, PaulHenri d’ 151 Eulenburg, Philipp zu 14, 160162, 168f., 249 Feiwel, Berthold 13 Flaubert, Gustave 149 Freud, Sigmund 30 Friedman, Iisrael 94

253

Register

Friedrich, Großherzog von Baden 115, 160, 162, 168 Gandhi, Mahatma 9 Gaster, Moses 172 Ghaemi, Nassir 9f. Ginsberg, Ascher Hirsch (Achad Ha-Am) 112, 134f., 178, 198f. Glaser, Eduard 156 Goldsmid, Albert 113f., 117, 200, 205 Greenberg, Leopold 202, 204f., 213, 218 Gronemann, Sammy 199 Gruenbaum, Jitzchak 228 Güdemann, Moritz 24, 88, 91f., 98, 124 Gusdorf, Georges 16 Haas, Jacob de 134 Halil Rifat Pascha 117 Harden, Maximilian 169 Hartmann, Ernst 47 Hechler, William 114f., 150, 160f. Hegel, G. W. F. 31, 53, 141 Heine, Heinrich 49 Herz, Cornelius 68 Herzl, Hans (Sohn) 45f., 52f., 55, 58, 75, 89, 113, 128, 144, 200, 221, 231f. Herzl, Jakob (Vater) 20-23, 26, 62f., 88, 102, 189, 232 Herzl, Jeanette Diamant (Mutter) 21f., 26, 29, 56, 66, 177, 189f., 222 Herzl, Julie Naschauer (Ehefrau) 41-47, 52, 55f., 66, 76f., 97, 127f., 133, 144, 177, 190, 199f., 221f., 231 Herzl, Pauline (Tochter) 42-45, 55, 58, 128f., 222, 231f. Herzl, Pauline (Schwester) 21f., 27-29, 39, 102, 193 Herzl, Simon Loeb (Großvater) 20, 22f.

254

Herzl, Trude (Tochter) 58, 66, 128, 232 Hilsner, Leopold 171 Hirsch, Maurice de 85-88, 97, 152, 208 Hofmannsthal, Hugo von 66 Hohenlohe, Prinz von 162f. Ibsen, Henrik 51, 64 Ignatius, Pater 130 Imber, Naftali Herz 223 Jabotinsky, Wladimir 228 Kahn, Zadoc 137, 152 Kana, Heinrich 36-38, 45-47, 54, 63, 84f., 102, 190 Kann, Jacobus 169, 171 al-Khalidi, Youssuf Zia 165 King, Jr., Martin Luther 9 Koenigstein, François 70 Koerber, Ernest von 145f. Korvin-Piatrovska, Paulina 210 Kraus, Karl 159 Kremenezky, Johann 123, 189 Kurz, Madeleine 27-29, 39f., 201  Kurz, Magda 28, 40f., 44, 201 Lafargue, Paul 70 Lamase, Paul de 68f. Landau, Saul 114f., 130 Lansdowne, Lord 204 Lassalle, Ferdinand 71 Laur, Francis 62 Leitenberger, Friedrich Baron 74f. Leo XIII. (Papst) 220 Lepsius, Johannes 139f. Lesseps, Ferdinand de 68 Lewensohn, Micah 231 Lilien, Ephraim 12, 230 Lincoln, Abraham 9, 230 Lippe, Karpel 133 Louban, Chaim 217 Louis-Napoléon 59 Lueger, Karl 72, 83, 147 Luther, Martin 25, 111

Register

Mahler, Gustav 30 Mandelstamm, Max 199 Marcou-Baruch, Joseph 148 Marcus, Aron 133 Marmorek, Alexander 143, 155, 174, 193, 199 Marmorek, Oskar 174f. Masljansky, Z. H. 166 Mayer, Armand 69, 76 McKinley, William 177 Mehmet Nuri Bey 169 Menger, Anton 31 Merry del Val, Rafael 220 Mintz, Alexander 223 Mohilewer, Shmuel 137 Montagu, Samuel 174 Montefiore, Claude 174 Montefiore, Francis 217 Morès, Marquis de 69f. Moses 12f., 24f., 121, 125f., 140, 186, 235 Motzkin, Leo 178 Mohammed 25 Napoleon Bonaparte 25, 87 Naschauer, Julie ̹ Julie Naschauer Herzl Neumann, Richard 232 Neumann, Stephan Theodor (Stephen Norman) 232 Newlinski, Philipp 115-117, 121, 155 Nikolaus II. (Zar) 171, 177, 209 Nobel, Alfred 151 Nora, Pierre 227 Nordau, Max 12, 51, 63-67, 97f., 101, 111, 131f., 134-136, 141, 143-145, 152-154, 156, 199, 214f., 217 Norman, Stephen ̹ Stephan Theodor Neumann Nowikowa, Olga 64 Oppenheimer, Franz 188, 216 Parnell, Charles Stewart 110f.

Pinsker, Leo 110, 112 Pius X. (Papst) 220 Platon 31 Plehwe, Wjatscheslaw von 209212 Plutarch 150 Pobedonoszew, Konstantin 209 Ponson du Terrail, Pierre Alexis 92, 244 Proudhon, Pierre-Joseph 71 Rabinovici, Doron 233 Reichenfeld, Moriz 190 Reinach, Jacob Adolphe 68 Reinus, Marie 138 Rhodes, Cecil 177, 201f. Roosevelt, Theodore 177 Rosenberger, Erwin 128, 130, 171, 222, 248 Rothschild, Albert Salomon Anselm von 88 Rothschild, Edmond de 121, 132, 152, 204, 208, 214, 219 Rothschild, Nathaniel Mayer 174, 189f. Rülf, Isaac 113, 137 Salisbury, Lord 118, 174 Sartre, Jean-Paul 79 Savonarola, Girolamo 25 Schapira, Hermann 136, 178 Schiff, Friedrich 92 Schnirer, Moritz 163 Schnitzler, Arthur 30, 65f., 78f., 131 Seidener, Joseph 163 Seligman, Isaac 174 Scholem Aleichem 139 Simonyi, Ivan von 109 Salomon (König) 12 Soubirous, Bernadette (Heilige Bernadette) 53 Speidel, Ludwig 75f. Stanley, Henry Morton 213 Stein, Lorenz von 31 Storr, Anthony 10

255

Register

Sulla, Lucius Cornelius 150 Suttner, Bertha von 150f., 209 Sznaider, Natan 233 Tankred (Spitzname Herzl) 35 Ussischkin, Menachem 112, 132, 172, 223 Vaillant, Auguste 70 Vambery, Arminius 155, 174 Vogelsang, Karl von 72 Wagner, Richard 64, 96, 154 Warburg, Otto 165 Weber, Max 11

Weizmann, Chaim 179 Whitman, Sidney 121, 156 Wilhelm II. (Kaiser) 115, 142f., 161, 163, 168f., 249 Willcocks, William Sir 207 Witte, Sergej 210 Wittmann, Hugo 48, 67, 145 Wolffsohn, David 113, 123, 129, 142, 144, 163, 166, 172, 174, 180, 189, 193, 200, 221 Wolffsohn, Fanny 144, 189 Zangwill, Israel 95 Zola, Émile 64, 82 Zvi, Shabbetai 135 Zweig, Stefan 223