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German Pages 344 [348] Year 2000
Theaterstücke aus Chile Heidrun Adler, Maria de la Luz Hurtado (Hrsg.)
THEATER IN LATEINAMERIKA Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 7
Theaterstücke aus Chile Herausgegeben von Heidrun Adler und Maria de la Luz Hurtado
Vervuert • Frankfurt am Main 2000
Die Übersetzungen aus dem Spanischen wurden mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. und vom Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Theaterstücke aus Chile / hrsg. von Heidrun Adler und Maria de la Luz Hurtado. Frankfurt am Main : Vervuert, 2000 (Theater in Lateinamerika ; Bd. 7) ISBN 3-89354-327-9 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Egon Wolff INVASOREN ( 1 9 6 3 )
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Juan Radrigán VERRÜCKT UND TRAURIG ( 1 9 8 0 )
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Marco Antonio de la Parra S O L O FÜR C A R L O S UND S I G M U N D ( 1 9 8 4 )
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Ramón Griffero CINEMA-UTOPPIA ( 1 9 8 5 ) - —
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Jorge Díaz A U S DEN A U G E N , AUS DEM SINN ( 1 9 8 5 )
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Ariel Dorfman DER LESER (1995)
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Benjamin Galemiri EIN ZARTER HAUCH VON GEMEINHEIT ( 1 9 9 5 )
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Alfredo Castro D U N K L E M Ä N N E R , MARMORFÜBE ( 1 9 9 5 )
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Inés Margarita Stranger HOCHZEITSNACHT ( 1 9 9 9 )
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Vorwort Die Zeiten sind vorbei, in der die Gesellschaften Lateinamerikas sich im Spiegel der europäischen Kunst betrachteten und diese als gültige Interpretation der eigenen Realität anerkannten. Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts haben die lateinamerikanischen Theaterautoren nach einer eigenen Orientierung gesucht. Im Dialog mit ihrem Publikum, das seine spezifischen Lebenserfahrungen und Rituale einbringt, haben sie neue szenische Sprachen entwickelt. Sehr unterschiedliche Autoren mit starker persönlicher Ausstrahlung haben sich dabei hervorgetan, und sie sind nicht ohne weiteres in die anderswo geläufigen Strömungen und Ästhetiken einzuordnen, selbst wenn sie sich von denen auch nicht vollkommen unterscheiden. Auch in Europa beginnt man sich für jene Prozesse zu interessieren, da diese Manifestationen unserer Kulturen einerseits ihren Ursprung in europäischen Traditionen haben, andererseits aber vollkommen eigenständig sind. Vielleicht hofft man, quasi von außen, mit dem anderen Blick, der nicht in der Logik der in einem etablierten Medium festgelegten Codizes befangen ist, das zu entdecken, was das abendländische Bewußtsein unterdrückt. Die Auswahl für diese für ein deutsches Publikum bestimmte Anthologie chilenischer Theaterstücke zu treffen, war nicht leicht. Ein wichtiges Kriterium war, daß der Text wohl auf die jüngste Geschichte Chiles anspielt, in der er entstanden ist, aber Erfahrungen und Konflikte dramatisiert, die Parallelen in der Kultur und Geschichte des Abendlandes finden. Bei aller Vielfalt der Stimmen lassen sich Gemeinsamkeiten aufzeigen. Alle Stücke durchklingt ein tiefer, tragischer Ton, der von der Vergeblichkeit spricht, nach vollkommener Menschlichkeit zu streben, nach Harmonie mit sich selbst und mit der Welt. Ein Klima von Gewalt, von Unterdrückung, von physischer, materieller und psychischer Unzulänglichkeit hält die Figuren gefangen. Die Harmonie ist zerstört oder konnte niemals erlebt werden. Komplizierte Formen der Macht quälen Leib und Seele, während der Mensch um einen Augenblick der Erfüllung oder des Friedens kämpft. Natürlich gibt es bestimmende politisch-soziale Koordinaten: da ist die Welt der Armen, der Besitzlosen, die Welt der von einem aggressiven Kapitalismus an den Rand der Gesellschaft Gedrängten; ferner gibt es die Welt der Opfer des politischen Systems, der Diktatur, der Herrschaft des institutionalisierten Mordens, der Folter, der Überwachung,
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Vorwort
der Ausweisung ins Exil. Ein Kontext, der als Ausgangspunkt zur Erforschung der komplexen, paradoxen und unerwarteten Reaktionen dient, die der Mensch in Grenzsituationen an sich selbst entdeckt, und die jene Möglichkeiten streifen - die niedrigsten und die edelsten die versteckt in der Kultur und vielleicht in unserer Natur schlummern, bereit aufzubrechen, wenn es die Umstände erlauben. Die Zeichen, die Wunden der Geschichte reproduzieren sich und nähren sich aus dem, was im Innersten der Figuren lebt; wir wissen, daß es nicht mehr möglich ist, die verschiedenen Bereiche von Macht, Leidenschaft, Ehrgeiz, Herrschsucht oder Verlangen in festumrissene Welten abzugrenzen. Man geht das Persönliche nicht mehr als Metapher des Gesellschaftlichen an und umgekehrt, wie man es im Naturalismus oder dem psychologischen Realismus tat, sondern etabliert zwischen der einen und der anderen Ebene zahlreiche, sich überlappende Netze. Daher wird sowohl die psychische Spur im weiblichen Unterbewußtsein verfolgt, die eine gewaltsame Entjungferung in einer von den Eltern geschlossenen Ehe verursacht, wie die Verwirrung eines Mannes, der von seinem Vater als Kind psychologisch wie physisch unterdrückt wurde; die archetypischen Figuren, die unsere Phantasie bevölkern, sind auch Teil jener allgemeinen Frage nach den psychisch-kulturellen Mustern in denen sich Verführung und Unterwerfung, Ehrlichkeit und Verrat, Schuld und Schmerz vollziehen. Charakteristisch für diese Dramatik ist daher die offene Form, die den Leser/Zuschauer stimuliert, seine eigene Fabel zu vervollständigen oder aufzubauen. Es gibt parallel verlaufende Geschichten, asynchron in Zeit und Raum, die sich gegenseitig auflösen; das ist zum Beispiel der Fall in Cinema-Utoppia, Dunkle Männer, Marmorfüße und Hochzeitsnacht. Oder die Parallele stellt sich zwischen der imaginierten und der gelebten Welt, zwischen Realität und Traum, in der Fiktion innerhalb der Fiktion; die Grenzen sind flüchtig, beunruhigend, sie heben sich auf, überschreiten gefährlich die Hürden von Identität, von Besitz und auch die deontologischen und axiologischen Implikationen des Handelns der Personen, deren Vergangenheit in einer aufklärenden Gegenwart und bedrohlichen Zukunft neu geschrieben und neu bezeichnet wird (Invasoren, Solo fiir Carlos und Sigmund, Aus den Augen, aus dem Sinn, Der Leser). Die hier versammelten Autoren haben jeweils eine kraftvolle szenische Sprache gefunden, die sich nicht in herrschende Tendenzen einreiht, sondern mutig einen eigenen Weg sucht. Wir finden einen entmythifizierenden nahezu perversen und in seiner Unverfrorenheit obszönen Spieltrieb bei de la Parra, eine poetische Sprache, die aus der Erfahrung
María de la Luz
Hurtado
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äußerster Marginalisierung entsteht, voller grausamem, niemals wehleidigen Humor bei Radrigän, zynische Satire mit einem Schuß schutzloser Zärtlichkeit bei Galemiri; superrealistischen Expressionismus, der sich rasant in Unordnung und Selbstzufriedenheit entfesselt bei Wolff, oder tief im geheimnisvollen Dunkel des Mythos und Archetypos versunkenen essentiellen Schmerz bei Castro und Stranger. Diese Stücke werden sich nicht nur am europäischen Theater messen lassen müssen, sie werden auch mit den Vorstellungen konfrontiert, die ein europäisches Publikum von Chile und chilenischem Theater hat. Wir sind davon überzeugt, daß sie stark genug sind, sich zu behaupten. María de la Luz Hurtado
Egon Wolff Invasoren Los invasores
Deutsch von Gerd-Rainer Prothmann
Mit freundlicher Genehmigung des Escena Verlags.
Invasoren
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Egon Wolff (1926) ist in Chile geboren, er hatte deutsche Eltern. Sein gelernter Beruf ist Ingenieur. 1957 begann er für das Theater zu schreiben. 1 In allen seinen Stücken beschäftigt er sich mit den Problemen der chilenischen Mittelklasse, ihren gesellschaftlichen und ihren persönlichen Konflikten. International bekannt wird Wolff mit Invasoren (1963). Dieses Stück ist um die ganze Welt gegangen. Es zeigt eine an Jorge Luis Borges erinnernde logische Irrealität, mit der sich dem chilenischen Theater ganz neue, „neokonventionelle" 2 Möglichkeiten auftun. Das Haus des wohlhabenden Fabrikanten Meyer wird von Bettlern und Landstreichern besetzt. Sie bedrohen die Familie in physischer und psychischer Weise, Haus und Garten werden systematisch zerstört. Der Anführer der Invasion verkündet eine Art sozialistisch-anarchistischer Zukunftsvision, in der alle Menschen gleich sein und arbeiten sollen. Erleichtert stellt Meyer am Ende fest, daß er dies alles nur geträumt hat. Doch wenn die Familie sich wieder zur Ruhe begeben hat, wiederholt sich die Szene, die Meyers Alptraum einleitete: eine Scheibe wird eingeschlagen, und eine Hand reicht herein, um das Fenster zu öffnen. Invasoren ist vordergründig eine politische Allegorie vom Aufstand der Ärmsten gegen die Wohlhabenden und Mächtigen und im Hinblick auf die chilenische Geschichte ein nahezu prophetisches Stück. Wolff wählt das Traumspiel, das sowohl aus der konkreten sozialen Situation erwächst, als auch aus dem subjektiven Gewissen des Protagonisten, dem Archetypus des Kapitalisten, der „über Leichen geht". Was zunächst als Chaos einer Revolution gesehen werden kann, zeigt in seiner zunehmenden logisch-unlogischen Übertreibung die chaotische Welt des Unterbewußtseins, das schlechte Gewissen des Bürgertums und die wachsende Angst. Die letzte Szene hat die außerordentlich dramatische Funktion, dem Zuschauer zu suggerieren, der Traum wiederhole sich in der Realität, oder er beginne von vorn als eine sich unendlich wiederholende Bedrohung. Dieser irrationale Realismus ist auch für Flores de papel (1970) charakteristisch. Das Stück zeigt das klassische Sujet vom Gast, der nicht wieder geht. Merluza, ein Straßenjunge, trägt Eva die Einkäufe nach Hause, bittet sie um ein Glas Wasser und bleibt. Nach und nach zerstört 1
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Werke von Egon Wolff: Mansión de lechuzas (1957), Discípulos de miedo (1958), Parejas de trapo (1959), Niñamadre (1960), Esas 49 estrellas (1962), Los invasores (1963), El signo de Caín (1969), Flores de papel (1970), Kindergarten (1977), Espejismos (1979), José (1980), Álamos en la azotea (1981), El sobre azul (1983), La balsa de la Medusa (1984), Habíame de Laura (1986), Invitación a comer (1993), Cicatrices (1994), Claroscuro (1995). Juan Guerrero Zamora: Historia del teatro contemporáneo. Barcelona 1967, S. 559.
Egon Wolff
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er E v a s W o h n u n g u n d ihre Persönlichkeit. A m E n d e v e r s c h w i n d e t E v a h i n t e r e i n e r r i e s i g e n B l u m e a u s Z e i t u n g s p a p i e r . Flores de papel ist d i e G e schichte einer U n t e r w e r f u n g u n d ein Stück ü b e r die M a c h t d e r S p r a c h e : die gebildete Sprache E v a s beherrscht anfangs die Situation, d a n n weicht sie z u r ü c k v o r d e m D i s k u r s d e r S t r a ß e u n d v e r s t u m m t s c h l i e ß l i c h g a n z . 3 M i t Kindergarten, ( 1 9 7 6 ) , Álamos en la azotea ( 1 9 8 1 ) u n d Habíame de Laura ( 1 9 8 6 ) w i r d E g o n W o l f f s k e p t i s c h u n d i r o n i s c h . E r z e i g t a l t e M e n schen, die sich ihrer z u n e h m e n d e n A r m u t s c h ä m e n , u n d weil die ause i n a n d e r g e f a l l e n e Familie i h n e n keine sinnvolle A u f g a b e m e h r bietet, b e g i n n e n s i e z u s p i e l e n . D a s S p i e l ist d i e e i n z i g e M ö g l i c h k e i t , s i c h w e n i g s t e n f ü r e i n e n A u g e n b l i c k e i n z u b i l d e n , s i e h ä t t e n i h r L e b e n n o c h in d e r H a n d . 4 Es sind b ö s e Spiele, die die politische G e g e n w a r t w i d e r s p i e geln.5 Herbert Araúz
Literatur Chrzanowski, Joseph: „Theme, Characterization and Structure in Los invasores", in L 4 T R l l , 2 ( 1 9 7 8 ) , S . 5-10. Lyday, Leon F.: „Egon Wolff's Los invasores: A Play within a Dream", in LATR 6, 1 (1972), S. 19-26. Pina, Juan Andrés: „El retorno de Egon Wolff", in LATR 14, 2 (1981), S. 61-65. Sayers Peden, Margaret: „Three Plays of Egon Wolff," in LATR 3,1 (1969), S. 29-35. : „The Theater of Egon Wolff", in Dramatists in Revolt, hrsg. von Leon F. Lyday; George W. Woodyard. Austin, London 1976, S. 190-201. : „Kindergarten, A new Play by Egon Wolff", in LATR 10, 2 (1977), S. 5-10.
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Jennifer Boyd interpretiert das Stück als Künstlerroman des grausamen Theaters, in dem Eva die Tradition repräsentiert und Merluza den jungen Künstler, der sich in der Tradition definieren muß. Der Künstler wird in die Tradition geboren, assimiliert sie, zerstört die traditionellen Werte und nimmt sie auf, wenn sie machtlos geworden sind. Siehe auch Diana Taylor: „Art and Ant-Art in Egon Wolff's Flores de papel", in LATR 1 8 , 1 (1984), S. 65-68.
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Weitere Stücke dieser Art sind El sobre azul und La balsa de la Medusa. Jacqueline E. Bixler: „Los juegos crueles de Egon Wolff: ¿Quién juega?", in ALBA DE AMÉRICA 7,12-13 (1989), S. 245-261. Siehe auch: Bixler: „Machtspiele und existentielle Lähmung im Theater von Egon W o l f f " , in Widerstand und Macht: Theater in Chile, h r s g . von H. Adler, G. Woodyard. F r a n k f u r t / M a i n 2000, S. 39-58.
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Invasoren Personen: Pietà - Meyer - China - Toletole - Marcela - Bobby - Ali Babà - El Cojo. I. Bild Ein großzügiges Wohnzimmer mit teurer Einrichtung. Eine Türßhrt zur Eingangshalle mit der Tür zur Straße, eine andere führt in die Küche. Im Hintergrund eine Treppe zum ersten Stock. Wenn der Vorhang aufgeht, ist die Bühne halbdunkel. Es ist Nacht. Nach einer Weile hört man von draußen Stimmen, die Tür wird aufgeschlossen und eine Hand greift zum Lichtschalter. Lucas Meyer und seine Frau Pietà treten ein. Sie tragen Abendkleidung von schlichter Eleganz. MEYER Ich habe mich den ganzen Abend an deinem Anblick erfreut. Er küßt sie. PIETÀ Das verdanke ich dir, Lucas. MEYER Ich kaufe dir die Welt, wenn es dir Spaß macht. PIETÀ Das macht mir Angst. MEYER W a s ? PIETÀ DU machst mir Angst. Du willst etwas haben und bekommst es einfach. MEYER umarmt sie Du übertreibst. PIETÀ Mich hast du genauso bekommen. Ich habe Angst, Lucas. Lach nicht. Es kann doch nicht immer nur denselben gutgehen. MEYER Jetzt sind wohl die anderen dran, was? PIETÀ Vielleicht waren es die Leute heute abend. Sie waren so unverschämt, so frech! ... Heute abend bei den Andreanis habe ich unter all den Leuten plötzlich eine solche Leere verspürt. MEYER plötzlich kurz angebunden Das wird deine Schlaflosigkeit sein. PIETÀ Ich leide nicht an Schlaflosigkeit. Hast du denn nicht das Gleiche empfunden? Wie ein böses Omen? MEYER Absurd. PIETÀ Wird irgend etwas Schlimmes passieren, Lucas? MEYER Gestern nachmittag sind ein paar Nonnen in mein Büro gekommen. Ich habe ihnen einen Scheck über eine riesige Summe ausgeschrieben. Fast hätte ich die Fabrik zu ihren Gunsten mit einer Hypothek belastet... Ich habe seit gestern viel darüber nachgedacht... Das Merkwürdige ist... sie haben gar nicht besonders um meine Hilfe gebeten... Sie standen plötzlich im Büro, als wären sie durch die Wand gekommen, streckten die Hände aus, und ich schrieb ihnen
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den Scheck aus... Danach zogen sie sich mit kleinen Verbeugungen ironisch, fast spöttisch lächelnd zurück... Es war so, als wäre die ganze Szene so vorherbestimmt gewesen. PIETÀ Hast du dabei keine Angst gehabt? MEYER Nein. Ich hatte das Gefühl, ich müßte so handeln, damit diese Nonnen nicht um mich weinen. PIETÀ Nicht um dich weinen? MEYER Ja. Ich glaube, ich wollte ihnen diesen... schmerzhaften Augenblick ersparen. Merkwürdig... PIETÀ Wie eine Lähmung... Ahnliches ist Bobby neulich passiert; an diesem kalten und feuchten Tag letzte Woche, erinnerst du dich? Da haben sie im Hof der Universität Bobbys Lederjacke verbrannt. MEYER Seine Lederjacke verbrannt? PIETÀ Ja, ich habe es dir nicht erzählt, ich wollte dich nicht belästigen. Als die Jungen am Nachmittag aus ihren Vorlesungen kamen und ihre Mäntel aus der Garderobe holen wollten... war alles weg. MEYER Was haben sie denn damit gemacht? PIETÀ Der Pförtner, dieser Albino, den die Jungen immer aufziehen, weil ihm im Winter die Gelenke schwellen, und er vor Schmerzen wimmernd hinter seiner Tür hockt, hatte im Universitätshof einen Scheiterhaufen aus Mänteln aufgeschichtet und wärmte sich die Hände über der Glut. MEYER Aber das gibt es doch gar nicht! Was haben denn die Verantwortlichen gemacht, um das zu verhindern? PIETÀ Nichts. Der Rektor und der Senat haben sich das Schauspiel von der Galerie aus angesehen... Einige haben sogar applaudiert. MEYER Das ist doch nicht möglich. PIETÀ Doch, genauso war es... MEYER Wohin soll das noch führen? Wenn wir solche Unverschämtheiten nicht verhindern? Warum haben sie dieses verkommene Subjekt nicht rausgeworfen? PIETÀ Aus dem gleichen Grund, aus dem du den Scheck ausgeschrieben hast. MEYER Aber das ist doch idiotisch! Rausschmeißen! Genau das werde ich tun, wenn diese Nonnen noch einmal in meinem Büro auftauchen! PIETÀ Das war geschmacklos von Renée, heute auf dem Fest mit dem Kellner zu tanzen. Findest du nicht? Man sah genau, daß sie es widerwillig machte. Als Hausherrin ist sie doch nicht dazu verpflichtet, oder?
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MEYER Die Leute haben die Nerven verloren. In letzter Zeit hat es soviel Gerede vom aufrührerischen Volk gegeben. Wir haben alle ein bißchen den Verstand verloren... Aber die Welt ist völlig im Lot. PIETÄ Wir haben uns doch nichts zuschulden kommen lassen, oder? MEYER Ich glaube nicht. PIETÄ Deine Fabrik... dieses Haus, das haben wir doch nicht gestohlen? MEYER Alles ordentlich im freien Wettbewerb erworben. PIETÄ Was ist es denn? MEYER Ich sage dir, es ist Schwachsinn... niemand wird die bestehende Ordnung zerstören wollen, weil alle an ihrer Erhaltung interessiert sind... Sie ist die Belohnung für die Leistung der Fähigsten. Komm, es ist spät. Sie gehen umschlungen zur Treppe. Pietä kuschelt sich an ihn während sie die Treppe nach oben gehen. Meyer macht im Vorbeigehen das Licht aus, das Wohnzimmer wird dunkel bis auf ein schwaches Licht, das vom Garten durch das Fenster fällt. Nach einer Weile zeichnen sich auf diesem Fenster Schatten ab. Kurz daraufdrückt eine Hand von außen grob gegen das Fenster. Ein Schlag und die Fensterscheibe zersplittert. Die Hand öffnet die Fensterriegel und China fällt ins Wohnzimmer. Er ist in Lumpen gekleidet. Um die Füße hat er Lappen gewickelt. Im Gegensatz zu seinen Lumpen hat er einen makellosen, steifen, weißen Kragen um. Noch am Boden liegend betrachtet er sorgfältig das Zimmer. Oben hört man Schritte. Das Licht geht an. Meyer ist am oberen Treppenabsatz zu sehen. Er kommt vorsichtig herunter, sieht China, läuft zur Konsole, holt einen Revolver heraus und zielt auf den Eindringling. MEYER Was machen Sie hier? CHINA Brot... ein Stück Brot... MEYER Was? CHINA Ein Stück Brot. MEYER Bist du verrückt geworden? Raus! Raus, sag ich dir! ... Hörst du nicht? ... Oder soll ich die Polizei rufen? eine quälende Pause Was ist mit dir los, Mann? Bist du taub? CHINA Ein Stück Brot... MEYER Ich brenne dir eins aufs Fell, wenn du nicht sofort verschwindest! Er zielt. CHINA Das mußte jetzt kommen. MEYER Was sagst du? CHINA Das mußte kommen, daß Sie sagen: Ich brenne dir eins aufs Fell, wenn du nicht sofort verschwindest. Genau das habe ich zu Mariscal gesagt. MEYER Ich gebe dir 10 Sekunden! Eins... zwei... drei...
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CHINA Nur ein Stück Brot? MEYER Vier... fünf... CHINA SO eine Kugel kostet mehr als das Stück Brot, um das ich bitte. Mariscal hat gesagt, er wäre sicher, daß Sie so ein Ding da im Haus haben. Das sei praktisch... und logisch. Ich würde mich nicht beklagen, wenn es auch nur ein Stückchen hartes Brot wäre. MEYER Schon gut, ich gebe dir das Brot, aber dann gehst du sofort dahin, woher du gekommen bist, verstanden? Er geht in die Küche und kommt mit einem Stück Brot zurück; reicht es ihm. Und jetzt, raus! CHINA Sehen Sie? Mariscal hatte recht. Er lächelt treuherzig. Schließlich... ein Penner. Wer tauscht schon einen Penner gegen ein schlechtes Gewissen. MEYER Sechs... sieben... acht... CHINA Das bringt nichts. Machen Sie sich nicht lächerlich. MEYER Was bringt nichts? CHINA Daß Sie bis zehn zählen wollen... MEYER Warum? CHINA breit grinsend Wir wissen doch, daß Sie viel weiter als bis zehn zählen können... MEYER wütend Neun! CHINA Machen Sie nicht weiter! Sie werden ja doch nicht schießen! Besser, Sie zählen nicht weiter... ersparen wir uns diese Peinlichkeit... MEYER Zehn! CHINA Sehen Sie! Schade... jetzt haben wir noch größere Schwierigkeiten, uns zu verständigen... Jetzt hassen Sie mich... mit gespieltem Bedauern Ich wußte, daß Sie nicht schießen würden. Als Sie sagten: Ich brenne dir eins aufs Fell, wenn du nicht sofort verschwindest, wußte ich es. Die jemanden umbringen können, die reden nicht erst lange. Die drücken ab, und man ist tot. Erklärungen macht man nur, um Zeit zu gewinnen. Er beißt in das Brot. MEYER etwas verdutzt Wer sind Sie? CHINA Ja, das macht man sofort: den Namen herausfinden. Wenn wir die Namen unserer Feinde wissen, fällt es uns wohl leichter, ins Schwarze zu treffen. Mich nennt man China, und Sie sind der Industrielle Lucas Meyer... Er macht es sich auf dem Boden bequem. Nachdem wir nun diese erste Formalität erledigt haben, können Sie ins Bett gehen, wenn Sie wollen... Ich kann verstehen, daß es Ihnen reicht für eine erste Begegnung. Möge Gott Sie und Ihre schöne Frau in Ihren Träumen begleiten... Gute Nacht. MEYER schimpfend Was fällt Ihnen ein? Verlassen Sie sofort das Haus! Verstanden!? China bleibt unbeeindruckt.
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Hören Sie mich? Raus, habe ich gesagt!! Pause Na gut, diese Nacht können Sie hier schlafen, aber morgen, bei Tagesanbruch, bevor jemand in diesem Haus einen Finger rührt, gehen Sie da wieder raus, wo Sie reingekommen sind. Haben Sie mich verstanden? Ich will Sie dann hier nicht mehr sehen. Er geht zur Treppe. CHINA ohne den Kopf zu heben Das hab ich schon Mariscal gesagt... Sie sind ein guter Mensch. Ein Mann, der so vielen Leuten Arbeit in seiner Fabrik gibt, muß ein guter Mensch sein... Wie könnten Sie es zulassen, daß ein Penner vor Kälte stirbt, weil er im eisigen Tau schlafen muß? Danke, guter Mann! PIETÄ Stimme von oben Lucas, was machst du so lange? Was ist los? MEYER Nichts, Mädchen! Eine Katze. Ich habe sie wieder auf die Straße gescheucht. CHINA Das war intelligent! Sehr intelligent! Eine bessere Ausrede aus dieser Situation hätte man kaum finden können. Großartig! PIETÄ Stimme von oben Was ist denn, Lucas? MEYER Ich komme schon. Er macht das Licht aus. Es bleibt eine Weile dunkel auf der Bühne. Kurz darauf erscheint im Halblicht eine andere Hand am Fenster, die an der Verriegelung herumtastet. Sie trommelt gegen die Scheiben. TOLETOLE Mach auf China! Es ist kalt! CHINA steht umständlich auf öffnet das Fenster und murmelt Ich habe dir doch gesagt, du sollst erst morgen reinkommen. Er wird sich erschrecken, wenn hier plötzlich zwei von uns sind. TOLETOLE Es paßt nur einer in die Hundehütte. Ali Babä hat sich als erster reingelegt... und als ich mich dazulegen wollte, hat er mir ins Gesicht getreten. Guck dir das an, China! CHINA Sei still! Einer hätte für die erste Nacht gereicht. Leg dich da hin und halt den Mund. Toletole hockt sich hin. Sie ist jung. Man erkennt, daß sie blond und hübsch gewesen sein muß. Ihr struppiges Haar hat sie mit einer blutroten Rose geschmückt. Sie trägt einen viel zu großen abgetragenen Männeranzug. Die ausgebeulten Taschen sind vollgestopft mit Sachen. TOLETOLE nachdem sie eine Weile reglos gewartet hat Wie hat er's aufgenommen, China? CHINA Schlaf... TOLETOLE nach einer Weile Hat er einen Revolver gezogen und dir mit den Behörden gedroht? CHINA Das Beste, er hat Mitleid gezeigt. TOLETOLE Der erste Tag ist einfach, warten wir ab, was morgen ist. CHINA Schnauze! Schlaf!
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TOLETOLE nach einer Pause Wie ist denn das Haus? ... Schön? keine Antwort Ich hab Salami... Willst du? Sie holt ein Stück Salami aus der Tasche, zwei an einen Drahtstiel gewickelte Stoff Sonnenblumen, Tischlerwerkzeug, eine Holzraspel usw., bunte Rasseln und einen vierfach zusammengefalteten Kalender, der ein nacktes Mädchen zeigt. Sie breitet alles sorgfältig vor sich aus. Den Kalender mit der Nackten hängt sie über ein Bild an der Wand. Dabei betrachtet sie jeden Gegenstand mit kindlichem Interesse. Schmücken bringt Entzücken... Blumen für mein Zimmer... Ein nacktes Mädchen für Ali Babä... ich wollte sie ihm in der Hundehütte geben, aber er hat mir ins Gesicht getreten, nimmt die Rasseln Und das ist für die Kinder, falls du mal welche von mir haben willst... Sie macht ein gewaltiges Getöse mit den Rasseln. CHINA springt auf und entreißt sie ihr Was machst du da, dumme Kuh? Ich hab dir doch gesagt, du sollst keinen Lärm machen! Jetzt wird er sich erschrecken!... besieht sich die Rasseln Wo hast du das her? TOLETOLE kleinlaut Aus den Geschäften an der Plaza Victoria. CHINA Geklaut? Ich habe dir doch gesagt, daß du nicht klauen sollst! TOLETOLE Es war doch alles offen, China... Sie hatten die Türen rausgerissen. Alle sind reingegangen. CHINA Schwachköpfe! TOLETOLE Ich wollte nicht, aber sie haben mich reingeschubst... und da blieb mir nichts anderes übrig, als einfach einzusacken, China, elektrische Eisenbahnen... So ein Berg... und Bademäntel in allen Farben... und 80 große Puppen! Ich hab mir selbst die Hände festgehalten, aber ich konnte nicht anders, China, ich mußte zugreifen. CHINA Jetzt werden sie das letzte Wort haben... TOLETOLE Aber alle sind doch so glücklich gewesen, das ist doch auch gut. Wir waren überall... saßen auf den Verkaufstresen... sind die Treppengeländer runtergerutscht... Wir haben den Mund vor Lachen gar nicht mehr zugekriegt. Weißt du, was Tisico gemacht hat? Der ist mit 'ner nackten Schaufensterpuppe auf der Straße rumgetanzt. Alle haben sich im Kreis um ihn rumgestellt, und er hat getanzt und in ihre Plastikbrüste gebissen. Sie lacht. CHINA Plünderungen werden sie sagen und die gesetzmäßige Ordnung beschwören. MEYER erscheint auf dem Treppenabsatz Wer ist dieses Mädchen? CHINA Toletole... zu Toletole Sag dem Herrn guten Tag. Toletole steht auf und macht einen tiefen Knicks, wie ein wohlerzogenes kleines Mädchen. MEYER Sie werden doch wohl kaum glauben, daß ich das auch noch hinnehmen werde?
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Toletole irrt im Zimmer herum, betrachtet alles verzückt und berührt es mit den Fingerspitzen. CHINA Natürlich nicht. W a r u m sollten Sie auch? D a s ist zuviel. MEYER Ja, und? CHINA W e n n Sie es w ü n s c h e n , schmeißen wir sie raus, egal, o b es draußen kalt ist oder nicht. MEYER Nun, ich wollte sagen... CHINA vertraulich G a n z unter uns gesagt, d i e s e s c h a m l o s e Person hat nichts dadrunter an. Nichts. N u r das Unterteil v o n e i n e m Bikini, das sie irgendwo geklaut hat. noch vertraulicher D a r u m ist ihre Haut ganz blau angelaufen, b e s o n d e r s in so eiskalten N ä c h t e n w i e heute. Das ist zwar nicht sehr aufregend, aber w a s w o l l e n Sie m a c h e n ? ... M a n m u ß sich mit d e m zufriedengeben, w a s m a n hat, oder? MEYER weiß nicht, was er sagen soll Scheint so... CHINA M a n c h m a l hat m a n das G e f ü h l , mit einer L e i c h e z u schlafen. lacht Sollen wir sie rausschmeißen? MEYER Sie wissen ganz genau, daß ich das nicht fertigbringe... CHINA W a r u m nicht? Schließlich ist das Ihr Haus... MEYER Und dann können Sie uns als herzlos hinstellen, nicht? Nein, den Gefallen tue ich Ihnen nicht. Sie bleibt bei Ihnen diese Nacht und bei Morgengrauen verschwinden Sie beide, verstanden? CHINA Sie sind ein Herr. MEYER Was? Wie? CHINA Es gibt auch uns, die Dankbaren... die wissen, w a s dazugehört, das alles hier z u s a m m e n z u k r a t z e n , zeigt auf die Wohnung Es ist ein Segen, von d e m ab u n d zu etwas für uns, die Verantwortungslosen, abfällt. MEYER befremdet Denken Sie wirklich so? CHINA steht auf und schlägt sich mit der geschlossenen Faust an die Brust Mein Ehrenwort, falls Ihnen das etwas gilt. MEYER Pst! Meine Frau schläft oben! In diesem Augenblick läßt Toletole eine Porzellanvase fallen, die sie gerade bewundert hat. Sie zerscheppert mit lautem Getöse. CHINA G u c k dir an, w a s du g e m a c h t hast, du d u m m e Kuh! W i e sollen wir ihm das bezahlen? MEYER Pst!... Das macht nichts... ist doch nur eine v o n vielen... CHINA D u S c h w a c h k o p f . . . TOLETOLE Aber China... W a s regst du dich auf? W i r h a b e n doch noch so viele davon... A u ß e r d e m hat sie mir nicht b e s o n d e r s gefallen... Meyer sieht China sprachlos an. D u hast mir gesagt, d a ß jetzt alles mir gehört, oder nicht?
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MEYER Wovon spricht dieses Mädchen? CHINA Tanz, Toletole, tanz! Zahlen wir für die Gastfreundschaft des Herrn! Er spielt auf seiner Flöte eine schnelle Tanzmusik, nach deren Rhythmus Toletole mit hängenden Armen, den Blick in die Ferne gerichtet, einen faden und traurigen Tanz ausführt, bei dem sie nur die Füße bewegt. Das ist unsere Nummer! Die bringen wir immer auf den Plätzen für ein paar Münzen. Schön, nicht! beiläufig Haben Sie nicht ein bißchen Wein im Haus? Meyer macht Anstalten zu gehen. Bemühen Sie sich nicht. Wo ist er? Meyer zeigt in die Richtung, China geht zur Küche. Mit Ihrer Erlaubnis. Meyer betrachtet die tanzende Toletole. MEYER nach einer Weile entnervt Genug! Es reicht! Toletole hält abrupt inne und beginnt zu weinen, während China mit zwei Flaschen Wein und einer Schüssel aus der Küche zurückkommt. CHINA Dem Herrn hat die Nummer wohl nicht gefallen! zu Toletole Du Schwachkopf! Bedankt man sich so für die Gastfreundschaft? zu Meyer Sie müssen ihr verzeihen... nach ihrer Lungenentzündung im letzten Jahr hat sie ihre ganze Anmut verloren. Stellen Sie sich einmal den Blödsinn vor. Zwei Stunden im eiskalten Kanal zu stehen, nur um einen vorbeischwimmenden Blumenkohl zu erwischen... Wir haben sie ganz blau aus dem Morast des Abwasserkanals gefischt. Das ist wirklich kein attraktiver Anblick. Sie müssen ihr bitte verzeihen. Ich denke doch, Sie leisten uns Gesellschaft? MEYER Nein, danke. Ich werde Ihnen von hier aus zusehen. CHINA Natürlich... früher war sie blond... schön. Verdammter Blumenkohl! MEYER Bitte? CHINA Verdammter Blumenkohl, zeigt auf das Essen Sie werden das verzeihen, nicht wahr? Ich hatte nicht vor, das zu tun. Aber Sie haben Ihre Gastfreundschaft so selbstverständlich angeboten... MEYER Sie haben sich ja schon bedient. CHINA Das stimmt... Höflichkeit, das ist die richtige Form des Umgangs mit Pennern, mit vollem Mund Und Geduld. Pause Unser Gestank stört Sie doch nicht, oder? bevor Meyer Anstalten machen kann, zu protestieren Nein, nein... verbergen Sie es nicht... Wir verstehen uns schon... Der Mief hiervon zupft an seinen Lumpen ist gräßlich. Wissen Sie, womit man ihn sehr gut zudecken kann? MEYER Nein.
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CHINA grinst breit Mit P a r f ü m . Mit P a r f ü m . Ich d a c h t e , Sie hätten das gewußt. Mariscal sagt, der eigentliche Z w e c k des P a r f ü m s sei, den Gestank des Elends zu vertreiben. Er übertreibt natürlich. MEYER Ist dieser... Mariscal... einer von Ihnen? CHINA Sie m e i n e n , einer von der anderen Seite des Flusses? Meyer nickt. Ja, das ist ein Spinner. W e n n es nach i h m ginge, m ü ß t e m a n allen Reichen die Gurgel durchschneiden. TOLETOLE Er ist ein schlechter Mensch... ein schlechter Mensch. CHINA Sei still u n d iß! zu Meyer Das sagt sie nur, weil sie Angst v o r seiner Wildheit hat. W e n n der von den Reichen redet, wird er ganz rot vor Wut. H a b e n Sie schon mal die Farbe v o n R ü b e n gesehen? G e n a u die Farbe. Er ist Nihilist. Er glaubt, mit d e n R e i c h e n sei nichts zu machen. Die w ü r d e n an einem unheilbaren... u n d ansteckenden Fieber leiden. Er sagt, m a n sollte sie v e r g a s e n . D e r S p i n n e r ! Er w e i ß nicht, d a ß Reichtum eine besondere Form von... M a r t y r i u m ist. MEYER In gewisser Hinsicht... CHINA Seien Sie nicht so bescheiden... in jeder Hinsicht, absolut in jeder Hinsicht. K o m m e n Sie, bitte erzählen Sie m a l Toletole w e l c h e Anstrengung es Sie gekostet hat, das alles hier aufzubauen. Meyer macht eine ausweichende Geste. K o m m e n Sie, seien Sie nicht so zurückhaltend. Erzählen Sie es. U n d d u zu Toletole stell die Ohren auf. Es lohnt sich zuzuhören. MEYER Nun... ich habe gearbeitet. CHINA zu Toletole, nähert sein Gesicht dem ihren H a s t d u gehört? Er hat gearbeitet, sagt er. Siehst du? W a s noch? MEYER Habe nichts verschwendet... CHINA Opfer... Entsagungen... Siehst du, d a s kriegt M a r i s c a l n i c h t in seinen sturen Schädel rein, trinkt, wird immer lebhafter U n d weiter? MEYER Ich h a b e gespart... CHINA schreit Siehst du? Er hat gespart, sagt er. H a s t d u das gehört? gereizt J e d e n C e n t a v o , j e d e n miesen C e n t a v o hat er mit heiliger Geduld gespart! Jeden miesen C e n t a v o , der d u r c h seine H ä n d e , oder die seiner Arbeiter oder Angestellten ging, hat er beiseite geschafft u n d gerettet! Da gab es keinen Centavo in der N ä h e , auf den er nicht seine H a n d gelegt hätte. U n d wir dagegen: Verprassen u n d verprassen! Weiter, bitte, m a c h e n Sie weiter! MEYER erregt sich seinerseits, angesichts der bewundernden Euphorie des anderen N u n , ich habe nicht gedacht, d a ß m a n es so sehen könnte, aber Sie haben recht, wissen Sie? Es steckt ein Verdienst dahinter...
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CHINA mit immer heftiger werdender Wut Verdienst? Fähigkeit, mein Herr, Fähigkeit! Wie lange will man denn noch die Habsucht als Sünde bezeichnen? So urteilen doch nur wir, die Frustrierten, die vor lauter Humanitätsduselei und Skrupel vor einer leeren Sardinenbüchse philosophieren! TOLETOLE gähnend China, ist es nicht Zeit, raufzugehen? Ich bin müde. MEYER Raufgehen? CHINA Sie hat sich in den Kopf gesetzt, daß Ihre Frau einwilligen wird, ihr ein Plätzchen in ihrem Bett zu überlassen... Der Wunsch war so stark, daß er zur fixen Idee geworden ist. Arme Kleine! Er streichelt sie. Zu Meyer Fahren sie fort, bitte... MEYER Nun... Sie müssen nicht denken, daß alles Gold ist, was glänzt. Der Reichtum hat auch seine undankbaren Seiten... CHINA Wiedas? MEYER Leute, die einen anklagen, man würde ihnen das wegnehmen, was ihnen gehört, man würde ihnen weniger geben, als ihnen zusteht... häßliche kleine Arbeiterinnen mit Haßgebärden... ein Dikkicht von Beschuldigungen, die einem den Genuß am Erworbenen vergällen... CHINA Ich verstehe... MEYER Und dann, die ewige Sorge, den Besitz zu wahren. Das ist, als ob man auf einem Sieb säße, verstehen Sie? CHINA WO alle anderen durch die Löcher fallen und nur Sie oben sitzen bleiben? MEYER Ich sprach von Geld... CHINA Ach so, und das Geld? MEYER Ist wie Sand. Es rinnt aus den Taschen wie Sand. Die Regierung, das Finanzamt, die Wohlfahrtseinrichtungen, alle grapschen danach. Man muß erst Geld haben, um diese Angst zu kennen... CHINA Begreifst du, Toletole, wie schwierig das ist? Und trotzdem gibt es noch Leute, die reich werden wollen... MEYER Sie scheinen Verständnis zu haben. Ich werde Ihnen einen Fall schildern, der deutlich macht, wie... CHINA Erzählen Sie... erzählen Sie... MEYER Vor Jahren hatte ich einen Partner, mit dem ich zusammen eine Fabrik aufgebaut habe. Er gab das Kapital, und ich sollte die Geschäfte führen. Am Tag der Einweihung brannte alles nieder. Eine Katastrophe. Wissen Sie, was der Mann gemacht hat? CHINA mit größter Selbstverständlichkeit Er hat sich an einem Stahlträger der abgebrannten Halle mit einem elastischen blauen Blumenband, das mit weißen Lilien bedruckt war, aufgehängt. MEYER Woher wissen Sie das?
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CHINA Weil es unausweichlich ist, daß sich jemand, der seine Fabrik in die er seine ganze Hoffnung und sein Leben gesetzt hat, am Tag der Einweihung abbrennen sieht, sich mit einem Blumenband mit weißen Lilien an einem Träger oder etwas Ahnlichem aufhängen muß. MEYER Und ließ seinen Partner mit der Last der absurdesten Beschuldigungen zurück. CHINA Daß Sie für den Tod verantwortlich sind, weil Sie die Beute für sich allein haben wollten. MEYER Das ist nicht wahr!... Das war niemals die Wahrheit! CHINA Daß Sie die Sache so hingebogen hatten, daß die Versicherung der Fabrik auf Ihren Namen lief. MEYER Das ist nicht wahr! CHINA Oder, daß seine Frau und seine drei Kinder - zwei Jungen und ein Mädchen - jetzt in Elend und Not leben mußten. MEYER Wie können Sie das wissen? CHINA mit Nachdruck Welcher Art sind wohl die Beschuldigungen, die man gegen Leute erhebt, die nach dem Tod eines Freundes über Nacht Chef der Firma werden? Einstige Habenichtse mit Piratenschlund und verfaulter Seele! MEYER Wer sind Sie? CHINA Ein Herumtreiber... MEYER aufgeregt Der Bruder, der geschworen hat, sich zu rächen. CHINA das erste Mal mit Kälte in der Stimme Sie irren sich... Sie sehen etwas, was nicht vorhanden ist... Ich heiße China, bin einer unter Tausenden. Zwischen uns beiden gibt es keine Gefühle der Rache, nur die große Ruhe des sich Belauerns. MEYER Mirelis... was willst du von mir? CHINA verändert plötzlich seine Stimme, wie vorher, bittend Ein Dach, um uns vor der Kälte zu schützen, Herr, ein Stückchen Brot... MEYER Veraiber mich nicht, Mirelis! Raus! ... Ich biete keinem Mörder Schutz unter meinem Dach! CHINA Ganz ruhig, Chefchen, ganz ruhig... MEYER Raus, habe ich gesagt! Raus, oder ich schmeiße dich raus! Er geht zur Konsole, in die er den Revolver gelegt hat. In diesem Moment wird die Haustür mit großen Lärm geöffnet. Marcela die Tochter Meyers kommt herein. Sie ist ein schönes Mädchen von Anfang zwanzig, energisch und sicher. Sie hat etwas Anmaßendes an sich, etwas, was sie von der Familie unterscheidet. Sie trägt ein elegantes Abendkleid. MARCELA schleift ihren Pelzmantel hinter sich her Papa, was ist los? Die Straße ist voller Penner! Zwei Männer liegen in unserem Hausflur! Einer wollte mir den Mantel wegreißen, als ich vorbeiging!
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TOLETOLE Ali Babá. MARCELA Sie haben Nerón an einem Zaunpfahl aufgehängt. Was geht hier vor, Papa? MEYER während er China ansieht Ein Besuch, den ich schon lange nicht mehr erwartet hatte... MARCELA Aber Papa, sie haben den Hund aufgehängt... Was bedeutet das? Nach einer Pause, die Bedrohung begreifend Papa, ruf die Polizei, ruf doch die Polizei, Papa. Was ist denn mit dir los? Da Meyer keine Anstalten macht, geht sie entschlossen zum Telefon und wählt. Hallo? Polizeirevier? Hier ist das Haus von Lucas Meyer... Insurgentes 241. Es sind ein paar Penner ins Haus eingedrungen, die wir nicht wieder hinausbekommen... Hallo? Warum pfeifen Sie? Warum pfeifen Sie, Polizei? ... Hallo? Was ist los? Wer ist denn da? TOLETOLE Manigua... der hat bei einer Schlägerei seine halbe Zunge verloren, jetzt kann er nur noch pfeifen. Marcela läßt den Hörer fallen und schaut verwirrt die Gruppe an. Aus dem herunterhängenden Hörer ist ein beharrliches Pfeifen zu hören. MEYER nach kurzer Pause Komm, mein Kind... gehen wir schlafen. Es ist spät. MARCELA Aber Papa... Was tust du denn? Wirf diese Leute raus! ... Sorge dafür, daß sie das Haus verlassen! MEYER Komm, mein Kind, höre auf zu schreien... Weck deine Mutter nicht. Ich werde dir alles erklären. Er faßt sie um die Schultern und führt sie nach oben. CHINA wenn sie allein sind Sie sind erschrocken, siehst du? ... Das hatte ich befürchtet. Man muß äußerst rücksichtsvoll mit ihnen umgehen, sie leben immer in der Erwartung des großen Knalls. Er sucht sich einen Läufer, mit dem er Toletole und dann sich selbst zudeckt. Auf jeden Fall muß man anerkennen, daß er uns das Haus mit Haltung angeboten hat... Komm, schlafen wir noch ein bißchen, morgen wird es härter werden. 2. Bild Der folgende Morgen. Dasselbe Zimmer. Neben dem zurückgeschlagenen Teppich sind Teller mit Essensresten und Flaschen. Von draußen schallt jetzt Gelächter und Geschrei herein. Weiter entfernt hört man Stimmengeheul und Trommeln und Gitarren. PIETÁ während sie die Treppe herunterkommt Lucas, was ist los? Was sind denn das für Leute im Garten? Was machen die hier? Hast du sie hereingelassen? Was machen diese Leute in unserem Garten? Was sind das für Leute, Lucas?
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MEYER Invasoren Pause Männer, die Mäntel ins Feuer werfen, die Nonnen schicken, die durch Wände gehen... Sie haben uns mit ihren Blindenstöcken Fallen gestellt und mit Gewalt Blumen ans Revers gesteckt... PIETÀ Was ist mit dir los, Lucas? Bist du verrückt geworden? MEYER Am Ende sind sie doch gekommen, Pietä... zu uns. Sie haben den Fluß überquert... Wir können sie nicht mehr aufhalten. PIETÄ Aber die Polizei? MEYER Manigua sitzt auf dem Stuhl des Präfekten... Sie sind über alles hergefallen wie ein Heer von Termiten... Wir haben ihre Zahl zu sehr anwachsen lassen... viel zu sehr. PIETÄ Und was sollen wir tun? Uns einfach so ausliefern? MEYER Ich weiß es noch nicht. Ich kann keinen Gedanken fassen! Es ist alles so verwirrend... plötzlich Die Fabrik! Er läuft zum Telefon und wählt. Hallo? Camilo? Der Chef... Wie geht es dort? ... Es ist nichts Besonderes passiert? Er atmet erleichtert auf Es ist nichts, nichts... Hör zu, Camilo, hänge doppelte Schlösser vor die Tore, hast du verstanden? ... Doppelte! Und mach niemandem auf, bis ich da bin, verstanden? Was sagst du? ... Die Arbeiter? ... Den Arbeitern mußt du natürlich aufmachen, du Idiot, die sollen arbeiten, was denn sonst? hängt ein Camilo hat nichts gesehen, das bedeutet, es handelt sich nur um Plünderungen... Wir dürfen keinen Widerstand leisten, verstehst du? Auf keinen Fall Widerstand! PIETÄ Aber das Haus... meine Sachen? MEYER Das Haus ist unwichtig... das geht alles vorüber... die sind nur gekommen, um ihre leeren Mägen zu füllen. Geben wir ihnen, was sie wollen, und sie werden schon wieder gehen. PIETÄ Willst du deine Tochter Marcela zusammen mit diesen Primitivlingen im Haus lassen? MEYER Das Mädchen darf unter keinen Umständen ihr Zimmer verlassen. Für sie existieren sie einfach nicht. Gott sei Dank, schläft Bobby außerhalb... da gibt es keine Probleme. Marcela kommt die Treppe herunter. MARCELA Was willst du damit sagen, daß ich mein Zimmer nicht verlassen soll, Papa? Du glaubst doch nicht, daß ich Angst vor diesen Tieren habe? PIETÄ Marcela, geh sofort in dein Zimmer zurück! MARCELA Mach dich nicht lächerlich, Mama. Wir leben nicht im Mittelalter. zu Meyer Was ist denn mit dir los, Papa? Hast du etwa Angst? ... Gut, es sind Plünderer, na und? Sie mußten ja eines Tages kom-
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men, erst recht, wenn wir uns verkriechen wie verschreckte Kaninchen. Sie geht zur Tür, die in den Garten fährt. PIETÄ Was machst du denn, Marcela? MARCELA Ich werde das schon regeln. Sie nimmt eine Reitpeitsche, die als Dekoration in einer Ecke des Zimmers hängt. MEYER Laß das sein! MARCELA an der Tür zum Garten In der Fabrik habe ich nie gesehen, daß du Befehle gibst. Das liegt vielleicht daran, daß man dir da gehorchen muß? Geht hinaus. Man hört ihre Stimme von draußen. Das wollen wir doch mal sehen, ihr Dreckschweine! Was habt ihr hier zu suchen? Raus! Die Trommelei verstummt, es folgt bedrohliche Stille. Raus, habe ich gesagt! Sammelt euer Dreckzeug zusammen und ab auf die Straße! CHINA Stimme von außen Ruhig, Ali Babä! Tun Sie das nicht, Fräulein. Ruhig, Ali Babä! Man hört einen Peitschenknall und ein Wimmern. Kurz darauf einen Aufschrei Marcelos und dann ein Durcheinander von Stimmen. Laßt sie in Ruhe, ihr Idioten! Laß sie los, Ali Babä! Laß sie los! Meyer läuft hinaus. Pietä bedeckt sich weinend das Gesicht. Draußen bricht das Geschrei ab, es ist wieder still. Meyer kommt mit Marcela im Arm zurück. Sie blutet im Gesicht. Hinter ihnen kommen China und kurz darauf Ali Babä, ein knochiger, plumper Bursche, herein. Er blutet ebenfalls auf der Wange. PlETA Ungeheuer! Ungeheuer! Was habt ihr mit meiner Tochter gemacht?! Sie läuft die Treppe hinauf. MEYER bleich und bebend Das reicht, Mirelis, ich verstehe dich... du willst dich rächen... Was muß ich also tun? CHINA während er auf die Peitsche in seinen Händen schaut, hart Unsere Haut ist empfindlich für Berührungen mit dieser Art von... Spielzeug geworden. Sie sollte so etwas nicht benutzen... MEYER Ich habe dich gefragt... was ich tun soll? CHINA Ein bißchen die Umgangsformen wahren und vernünftig sein, Herr.... Sie werden sehen, zu guter Letzt ist alles viel einfacher, als es jetzt aussieht. Er wirft die Peitsche weg. Das behindert nur die Verständigung. MEYER Ihr seid in mein Haus eingedrungen... CHINA Ja, die Situation ist ungewöhnlich, aber Sie müssen Ihren Verstand benutzen... dazu gibt es immer Gelegenheit... genauso wie Sie ihn benutzt haben, um sich Ihrer Konkurrenten zu entledigen. MEYER Geschäfte sind eine saubere Sache... Das hier ist Plünderung.
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CHINA Worte, sehen Sie? Genauso wie ,Ich brenne dir eins aufs Fell'. Geschäfte, Plünderung... Worte. Wer bestimmt, was sie bedeuten? MEYER Ich will nicht mit dir diskutieren. Ich habe dich gefragt... CHINA zu Ali Babä, der im Begriff ist, die Treppe hinaufzusteigen Nicht dorthin, Ali Babä. Keiner geht da rauf. Das ist der private Bereich der Herrschaften. Ali Babä geht in den Garten. Sagen Sie Ihrer Tochter, daß sie in Zukunft solche Provokationen vermeiden soll. Der Bursche da kann sich nämlich nicht beherrschen. MEYER So eine Bestie! CHINA Ich würde diesen Ausdruck nicht benutzen. Das ist eine törichte Bezeichnung für einen Jungen, der kein anderes Dach kennt, als den Körper anderer Kinder und keine andere Wärme, als den Atem seines Hundes... MEYER Das hindert mich nicht daran, ihn mit Kugeln zu durchlöchern, falls diese Bestie versuchen sollte, meine Marcela zu berühren... CHINA setzt sich müde, lacht Sie bringen mich zum Lachen... Mit Kugeln durchlöchern... Ihnen ist nicht zu helfen... Wie viele solcher Worte passen in Ihren Kopf? ... Was würden Leute wie Sie machen, wenn sie keine Worte hätten, um sich gegen all das zu wappnen? Haben Sie jemals daran gedacht, daß das Verbrechen eine Reaktion ist, und daß es ohne Grund keine Worte gibt? MEYER Deine Wortspiele interessieren mich nicht, Mirelis. Sag deinen Leuten, daß sie mein Haus verlassen sollen, Mirelis... Was soll ich dir geben? C H I N A Geduld. Lärm von draußen. Meyer läuft zum Fenster um nachzuschauen. MEYER Was machen die mit meinen Bäumen? CHINA Die Nächte werden lang und kühl sein. Sie schneiden die Zweige ab, um ihre Leiber damit zu wärmen. MEYER Sag ihnen, sie sollen damit aufhören. CHINA Bei uns gibt keiner Befehle. MEYER holt ein Bündel Banknoten, die er hinter den Büchern der Bibliothek versteckt hatte Ich habe nur diese Hunderttausend im Haus. Wenn wir von Ursachen reden, ist das wohl die wichtigste von allen. Nimm es und verschwinde! Draußen wird wieder ein Baum gefällt. CHINA nimmt das Geld Hunderttausend sagen Sie, he? MEYER Ja! ... Und nun räumt das Feld! Das da wird ihnen helfen zu begreifen.
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CHINA schlau Glauben Sie, daß Ihre Nachbarn uns auch noch mal so viel geben werden? MEYER Vermutlich. Ein weiterer Baum wird gefällt. Sag deinen Leuten, sie sollen damit aufhören, mein Eigentum zu zerstören. CHINA Ein hübsches Sümmchen, hunderttausend, eh? Er wiegt es in der Hand Was bedeuten hunderttausend? Kann ich mir dafür, zum Beispiel, einen Lastwagen kaufen? Einen Lastwagen voll mit... Blumenkohl, mit hunderttausend? MEYER Selbstverständlich... vielleicht zweieinhalb Lastwagen. CHINA grinsend Bewundernswert! Sie müssen eine Rechenmaschine im Kopf haben! Wie können Sie das so schnell ausrechnen? MEYER Übung... CHINA Zweieinhalb, eh? ruft Toletole! Toletole kommt herein. Hier gibt es was zu sehen. Weißt du, was dieser Herr hier im Kopf hat? TOLETOLE Was denn, China? CHINA Eine Rechenmaschine. Du solltest mal sehen, wie der Zahlen ausspuckt... der macht die unglaublichsten Kalkulationen schneller, als du dir einen Floh fangen kannst, zu Meyer Bitte, mein Herr, demonstrieren Sie das doch mal. MEYER Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt, Mirelis... CHINA Das hat uns der Herr gegeben. Frag ihn doch mal, was man sich dafür kaufen kann. Das sind hunderttausend, er wird es dir sagen. Frag ihn, wieviel Blumenkohl du dir dafür kaufen kannst. Na los, frag ihn, los! TOLETOLE verwirrt Blumenkohl? CHINA Ja, Blumenkohl, den magst du doch so gern. Zweieinhalb Lastwagen voll, Mädchen! TOLETOLE kann es nicht glauben Zweieinhalb. CHINA Zweieinhalb, nicht mehr und nicht weniger. Wenn er es sagt, muß es stimmen, er irrt sich nicht. Was sagst du nun, eh? Was hältst du davon, dir zweieinhalb Lastwagen voller Blumenkohl zu kaufen und die Ladung dann in den Fluß zu werfen, um zu sehen, wie sie mit der Strömung davonschwimmt. Der ganze dreckige Fluß voller Blumenkohl, eh? beide lachen Sie kullern mit der Strömung, springen über die Brücken, über die Molen und bleiben dann unter den Stegen in den Abwasserkanälen stecken wie abgehauene Schädel, eh? Haben Sie nicht noch ein paar von diesen... Scheinchen? MEYER Warten Sie! Er läuft zur Treppe und ruft hinauf. Pietä!
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Pietä erscheint. Mädchen, suche alles Geld, das wir im Haus haben, zusammen und bringe es mir! da Pietä zögert Bringe es mir, habe ich gesagt! Pietä verschwindet. Ihr macht das alles doch nur... um die gleichgültige Bourgeoisie zu erschrecken? Ist es nicht so? CHINA Ein wenig, ja.
MEYER Und nach ein paar Tagen, wenn ihr euch... ausgetobt habt... dann
geht ihr wieder, oder? So habt ihr das doch geplant, oder? CHINA In gewisser Weise schon. MEYER freundschaftlich Das habe ich doch gewußt. Und ich kann euch auch keinen Vorwurf machen. Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, ich finde sogar, daß ihr ein bißchen im Recht seid. Das ist ja kein Leben da, auf der anderen Seite des Flusses... Das sage ich meinen Freunden auch immer... Man muß für diese Leute etwas tun. China stimmt ihm zu. Aber nun ja, der Egoismus... CHINA Natürlich. Draußen fällt wieder ein Baum. MEYER Sag doch diesen Leuten, sie sollen meine Bäume nicht fällen! CHINA geht zum Fenster Laßt das! Der Herr Meyer kratzt alle Kohlen zusammen, die er im Haus hat, damit wir seinen Besitz in Ruhe lassen. Also, Schluß damit! MEYER Das nennt man, Macht haben! Ein Pfiff von dir und... pfeift auf den Fingern Ja, sie sind es, die die Welt bewegen, die Führer. All die Sozialpolitiker und Winkeladvokaten, die in den Geschichtsbüchern herumwühlen, sind auf dem Holzweg. Christus hat sich umsonst ans Kreuz nageln lassen. Der Mensch liebt seinen Nächsten nicht; das ist Gras für die Schafe. Was zählt, ist Talent... Mut... graue Zellen. Oder? CHINA Ja, wenn Sie rückwärts schauen, aber auch die Zukunft gehört zur Geschichte... MEYER Das sind nur Zuckungen des sozialen Körpers, die der unerschütterlichen Gesundheit der Welt nichts anhaben können. Pietä kommt herunter. Laß sehen, gib her! Er reißt ihr das Geld aus den Händen. Da habt ihr es! Er reicht es China und holt eine Visitenkarte heraus. Falls du irgendwann etwas brauchst, da kannst du es finden... Meine Adresse ... Die anderen müssen ja nichts davon wissen... hm? CHINA Man wird es Ihnen danken...
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MEYER Laß nur, ich will keine Sentimentalitäten. Geh und sag den guten Leuten, daß sie diese Feuer ausmachen und die Gartenlaube wieder aufstellen sollen, sei so gut... Sie sollen die Unordnung ein wenig beseitigen, die sie angerichtet haben, eh? Er schubst ihn fast zur Tür, die in den Garten führt. Und sag ihnen, daß Lucas Meyer i m m e r ihr Freund sein wird... Von nun an werde ich mich persönlich eurer Sache annehmen... CHINA Sie sind eine große Seele. Das wußte ich in dem Augenblick, als ich die Größe Ihres Kühlfachs sah, mein Herr... geht hinaus. PIETÄ Wie gehst du mit diesen Leuten um? Wie kannst du mit denen überhaupt reden? MEYER Was? Mit diesen Unglücklichen? PIETÄ Hast du nicht gesehen, wie sie deine Tochter zugerichtet haben? MEYER Sie hat als erste geschlagen. PIETÄ Ihr Gesicht ist mit dieser Narbe völlig ruiniert! MEYER Sie hat als erste geschlagen, betont jedes Wort Solche Zeiten sind vorbei, Pietà... die Haut dieser Leute ist empfindlich geworden für diese Art von... Spielzeug. Sie haben jetzt Rechte, die wir respektieren müssen. Pietà ist verwirrt. Außerdem verdienen sie vom christlichen Standpunkt aus unsere... Fürsorge, meinst du nicht auch? PIETÄ Lucas, DU HAST ANGST ! MEYER Ich, Angst? In diesem Augenblick kommt Bobby, der Sohn, in Sportdress mit Tennistasche und Tennisschläger. Er ist ein kräftiger, offener und gesunder junger Mann. Pietà stürzt sich auf ihn, umarmt und küßt ihn angstvoll. PIETÄ Mein Kind, mein Kind! Sie betastet sein Gesicht. Nichts? Sie haben dir nichts getan? BOBBY sich fast gewaltsam freimachend Aber Mama... Was ist denn mit dir los? PIETÄ Bist du in Ordnung? BOBBY Aber natürlich, Mama... warum denn nicht? Er schaut Meyer an. W a s ist mit ihr los. PIETÄ Es ist etwas Grauenhaftes passiert, mein Junge... MEYER Hör nicht auf deine Mutter... PIETÄ schreit Du sei still! zu Bobby Etwas Grauenhaftes, Junge! Gestern nacht ist eine Horde Vandalen über unser Haus hergefallen! Dieser Haufen Banditen hat deine Schwester mißhandelt... meinen Garten zerstört... MEYER K o m m Mädchen, beherrsche dich... PIETÀ Ein Rudel von Lumpen der schlimmsten Sorte, Bobby, Wüstlinge aus der Unterwelt, Bestien!
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BOBBY zu Meyer Wovon redet sie? ganz natürlich Von den Leuten auf der anderen Seite des Flusses? PIETÀ Ja, von denen, Bobby... Sie sind draußen im Garten. Sie zeigt auf Meyer. Und dein Vater tut nichts. BOBBY Das sind keine Wüstlinge. Das sind die Armen aus deiner Stadt. PIETÀ Bobby, jetzt ist nicht der Augenblick für deine albernen Ideen. BOBBY Dann nenne sie nicht Wüstlinge, Mama! Ich habe Sie heute nacht kommen sehen. Sie kamen, ja, strömten in großen Gruppen heran, sprangen über Zäune und Gitter zu Hunderten, zu Tausenden, zu Meyer Endlich, Vater! Endlich! Keiner kann es mehr aufhalten! PIETÀ Nicht einmal die Ehre deiner Familie... BOBBY Habe ich dir nicht gesagt, Vater, daß so etwas nicht mehr zu verhindern ist? ... Jahrhunderte von Vergewaltigung, mit einem Federstrich beseitigt... Hast du wirklich geglaubt, daß sie den Zustand von Ausbeutung noch lange ertragen könnten? PIETÀ Sie werden dich in Baracken leben lassen, in Säcke voller Flöhe gehüllt. Aus fettigen Töpfen mußt du essen. Sie werden dich wieder zu einem Wilden machen. Dafür habe ich dich nicht aufgezogen... dafür nicht... BOBBY Ich verstehe nicht... Sie begreift nicht... MEYER Komm, Mädchen. Lassen wir uns durch diese Sache nicht beirren. Wir müssen die Ruhe bewahren. PIETÀ Wie könnte ich das? Unser eigener Sohn... MEYER In diesem Augenblick ist es vor allem wichtig, die Einheit der Familie aufrecht zu erhalten. BOBBY Aber sie sieht nur den persönlichen Aspekt der Sache. MEYER Und du bist still! ... Du hast es am nötigen Respekt deiner Mutter gegenüber fehlen lassen. Er beruhigt sich, wird wieder der Mann, der in seinem Haus das Sagen hat. Diese Leute wollen sich nur... vergnügen, Bobby, ein bißchen zerstreuen... Wenn die erst einmal ihre Instinkte befriedigt haben, werden sie wieder gehen... Sie werden die ersten sein, die sich in dieser Umgebung unwohl fühlen... Sie werden sich zurücksehnen in die Promiskuität... Es wird alles vorübergehen, wie alles einmal ein Ende hat... Geh du studieren... Und du, Pietà, geh rauf in dein Zimmer und ruh dich aus... Ich gehe an meine Arbeit. In diesem Moment hört man von draußen Lärm. Eine Mauer stürzt ein. PIETÀ fassungslos Die Mauer. Sie reißen die Mauer der Andreanis ein! Schau, durch die Öffnung kommen noch mehr Leute. Sie dreht sich zu Meyer um. Was bedeutet das, Lucas? Mein Gott! Was soll das alles bedeuten?
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BOBBY Der Untergang des Privateigentums. Er wendet sich wie erleuchtet zur Tür, die in den Garten führt. PIETÀ ihn auflialtend Wohin gehst du, Bobby? BOBBY schaut sie an, ohne sie zu sehen Ihnen sagen, was ich fühle... PIETÀ Du bleibst. MEYER kommt ihr zuvor, eifrig Nein, laß ihn... Geh, mein Sohn, geh nur... Du kannst die Sprache dieser Leute sprechen, dich werden sie verstehen. Geh und sag ihnen, daß Lucas Meyer ihr Freund ist. Daß ich ihnen nichts Schlechtes wünsche. Sag ihnen das mit all deiner Überzeugungskraft, mein Sohn. PIETÀ entsetzt Lucas ! MEYER Und daß sie deine Mutter respektieren sollen, Bobby. Sag ihnen das auch. Bobby geht hinaus. Wir sind alt, Pietà, rückständig... Diese Kinder lehren uns das. PIETÀ jetzt ganz sicher Du hast Angst. BOBBY Stimme von draußen Willkommen in diesem Haus. Studenten mit Klassenbewußtsein. MEYER Hör dir diesen Jungen an. BOBBY Stimme von draußen Die Diktatur des Proletariats... Beifall, Trillerpfeifen Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit... MEYER Hör dir das an. BOBBY Stimme von draußen Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit... Trillerpfeifen. MEYER Er ist auf der Höhe der Zeit. BOBBY Stimme von draußen Gleiche unter Gleichen... Gegröle. MEYER Hör mal. Trillerpfeifen. BOBBY Stimme von draußen Gleichheit der Gleichen ... Gegröle. MEYER Hör, was er sagt. BOBBY Stimme von draußen Gleichmacherei... gleichgemacht... wir werden gleichmachen... gleichen... machen... wir... Plötzlich Stille. Ein langes Schweigen. Und dann von neuem Bobbys Stimme Was denn... stimmt ihr nicht mit mir überein? ... Fühlt ihr nicht dasselbe? ... Mißtraut ihr mir? ... Was macht ihr denn? ... Nein, laßt mich!... Laßt mich los! Vater! Vater! H I L F E ! MEYER der zur Tür gestürzt ist Was macht ihr mit dem Jungen? ... Laßt ihn los! Sag ihnen, daß sie meinen Sohn loslassen sollen! China erscheint. Du verfluchter Hund! ... Sag ihnen, daß sie meinen Sohn in Ruhe lassen sollen! CHINA Wie viele blaue Blumenbänder mit aufgedruckten weißen Lilien kann man für hunderttausend Pesos kaufen, Herr Meyer? Er holt ein
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paar Blumenbänder hervor und zeigt sie ihm. Draußen wird es still. Toletole kommt herein. Sie hat sich mit einer Blumenkrone geschmückt. MEYER in die Stille hinein Das war eine saubere Sache, Mirelis. Dein Bruder war nicht unschuldig. Du kannst meine Familie nicht dafür bestrafen... Ich gebe dir alles, alles, verstehst du? ... Aber laß mich in Ruhe. CHINA Es gibt wohl nichts, was Sie nicht bezahlen könnten. MEYER Meine Fabrik, alles, verstehst du? ... Was immer du von mir verlangst ! CHINA Rufen Sie an! MEYER Gut, ich werde anrufen... werde sie anweisen, dir zu geben, was du willst. Alles gehört dir. Er wählt eine Nummer. Hallo Camilo, Hallo... Was? Sprich lauter! Lauter, habe ich gesagt... Wer spricht denn da? ... Hallo, wer spricht? Lauter, ich verstehe Sie nicht! TOLETOLE Benito Juárez. MEYER wendet sich entsetzt China zu Oh, mein Gott, hab Erbarmen mit meiner Familie! Er läßt den Hörer fallen, aus dem noch eine Stimme zu hören ist. CHINA langsam, ausdruckslos, unerbittlich Benito Juárez redet leise, weil er Angst vor Gewalt hat... Er ist ein großer Mestize, fast ein Riese. Er hat grobe Züge und schwarzes Haar. Trotz seines brutalen Äußeren hat er das Gemüt eines Kindes... Er kann einen Hund mit zwei Fingern erwürgen oder einem Kalb die Hörner abbrechen, wenn er nur seinen Arm anwinkelt, aber unter uns ist er nur als Kinderhüter bekannt. Hier sind Ihre Hunderttausend, mein Herr. Sie fallen zu Boden. Es fehlt kein Peso. MEYER Mirelis... was wird mit uns passieren? CHINA Ich weiß es nicht, alles geschieht zu seiner Zeit. Ich sagte Ihnen schon, haben Sie Geduld. MEYER Ihr müßt doch einen Plan haben. Was für einen Plan habt ihr? CHINA Unseren Plan für die Zukunft werden wir improvisieren. PIETÁ Und Bobby ? Was werdet ihr mit ihm machen? CHINA Er ist ein guter Junge... In diesem Augenblick wird Bobby aus dem Garten ins Zimmer gestoßen. Er ist mit Stricken wie ein Bündel zusammengeschnürt. Aufseiner Brust ist ein Plakat festgebunden, daraufsteht mit ungelenker Schrift: WORTE. Einen Augenblick stolpert er im Zimmer herum und bricht dann mitten im Raum zusammen.
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3. Bild Vier Tage später. Das Zimmer ist jetzt aufgeräumt. Es herrscht Ordnung. Bobby, mit einem groben Overall bekleidet, zerschlägt systematisch ein Stilmöbel. Auf einmal hört man von oben einen Schrei. Marcela läuft schaudernd die Treppe herunter. Sie hat ein Pflaster im Gesicht. MARCELA Hilfe! Hilfe! Hilfe... Bobby... Hilfe! BOBBY gleichgültig Was ist denn jetzt mit dir los? MARCELA Diese Männer, Bobby!... Diese Vogelscheuchen! BOBBY Welche Männer? Welche Vogelscheuchen?? MARCELA Sie sind in meinem Zimmer! BOBBY Wer? MARCELA Diese Gesichter! Dieselben Gesichter, die durchs Fenster gesehen haben. Jetzt sind sie in mein Zimmer gekommen, durch die Wand, Bobby... und sie haben angefangen zu tanzen... die sind um mein Bett herumgetanzt, ein gräßlicher Tanz... sie haben mit den Augen gerollt, sie haben mit der Zunge gezischelt wie teuflische Vogelscheuchen... Bobby, hilf mir! Laß mich nicht allein! BOBBY Arbeite, tu etwas, dann lassen sie dich in Ruhe! ... Wenn du dich den ganzen Tag in deinem Zimmer einschließt, hast du den Kopf voller Gespenster! Er fährt fort, das Möbelstück zu zerkleinern. Stell dich den Tatsachen! MARCELA Ich kann nicht... Es ist alles zu schrecklich! BOBBY DU wirst es können müssen... Es wird in Zukunft keine andere Welt geben. MARCELA Ich bin wie gelähmt. Keiner hat mir gesagt, daß so etwas passieren könnte. Es stimmt schon, man hat darüber geredet, aber es war so unwahrscheinlich, daß niemand wirklich daran gedacht hat. Bobby, wir können nichts machen. Sie werden uns niederwalzen... BOBBY Es ist nicht so, wie du denkst. Er schüttelt den Kopf. MARCELA Siehst du denn nicht, daß sie wie wild gewordene Ameisen arbeiten? BOBBY Genau... wie wild gewordene Ameisen, um die verlorene Zeit aufzuholen. Schließ dich ihnen doch an... Noch ist es Zeit. Du bist jung. Marcela schüttelt den Kopf. Marcela, fühlst du es nicht, ist dir nicht klar, daß wir bis jetzt wie... lebendig begraben gewesen sind, daß sich unsere Gräber nun zu öffnen beginnen? MARCELA Ich habe Angst. BOBBY Daß das Leben zurückkehrt? MARCELA Wir gehören nicht zu ihnen!... Ich kann es nicht... BOBBY beginnt intensiv zu arbeiten Wir haben nicht viel Zeit, um die von uns verübte Ungerechtigkeit zu büßen. MARCELA Sie werden uns das nachtragen... das spüre ich...
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BOBBY Ich soll Holz holen, haben sie befohlen, damit sie das Frühstück für die Leute wärmen können... MARCELA Bobby, was wird mit uns geschehen? BOBBY geht in Richtung Garten mit einem Stapel Holz im Arm Heute kommen Maschinen und hundert Leute zum Ausheben und Mauern... Daß die Kolonne ihr Frühstück bekommt, haben sie mir befohlen. MARCELA versucht ihm zu folgen Bobby! Was soll das? Was bedeutet das? Was soll ich tun, Bobby? BOBBY Arbeite. Er geht hinaus. In dem Augenblick in dem Bobby hinausgeht, kommen drei Gestalten herein. Es sind Toletole, Ali Babà und El Cojo. MARCELA Was wollen Sie? Wer sind Sie? TOLETOLE Gespenster des Hungers! MARCELA Lassen Sie mich! Ich habe Ihnen nichts getan... ALLE Nichts... nichts... nichts... nichts... MARCELA Was wollen Sie wirklich? TOLETOLE Gib ihr ein paar Geschenke! EL COJO Damit sie sich nicht erschreckt! ALI BABÀ Damit ihr der Schrecken nicht vor Schreck entweicht! Sie lachen. Dann halten sie plötzlich inne. Damit du unseren guten Willen siehst. Holt aus dem Sack, den er auf dem Rücken getragen hat, das trokkene Skelett eines Hundes, das er ernst präsentiert. Hast du schon einmal bei Mondschein einen toten Hund in einer Schlammpfütze gesehen? Er säubert es vor ihr. TOLETOLE holt einen gelben Fetzen hervor. Es ist ein zerknittertes Kleid einer armen Frau. Sie hält es vor ihren Rock Oder einen zappelnden gelben Schmetterling in einer leeren Bierflasche? ALI BABÀ holt ein zerbrochenes Holzbein hervor Oder eine Sklavenfaust zum Umrühren von Cremetorte? EL COJO Mein Bein! Mein! ...schönes Beinchen! ALLE Gefallen der hübschen Prinzessin unsere Geschenke nicht? MARCELA Lassen Sie mich um Gottes Willen... ALLE Gefallen sie ihr nicht? MARCELA Bitte... wimmert. ALI BABÀ enttäuscht Sie gefallen ihr nicht. EL COJO traurig Das ist schlecht... das ist schlecht... TOLETOLE Seltsam... wo sie sich ihr Leben lang nur gesonnt hat. MARCELA Bitte... ALI BABÀ Ich könnte dir allen Saft aus deinem weißen Körper drücken. Marcela läuft schreiend die Treppe hinauf Sie hindern sie nicht.
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TOLETOLE traurig Sie ist erschrocken. Schade, aber sie ist erschrocken. Das wird China gar nicht gefallen... ALI BABÄ schreit Dein China kann mich mal! EL COJO Wir haben es satt, darauf zu warten, daß sie es begreifen. Andere schließen sich uns schneller an. ALI BABÄ Ja, ich würde gern endlich ein paar Hälse umdrehen... TOLETOLE Das wird China gar nicht gefallen. Er sagt, wenn es Gewalt gibt, dann muß sie von ihnen kommen... Wenn die Gewalt von uns ausgeht, sagt er, werden Jahrhunderte nicht ausreichen, das ganze Blut wieder wegzuwaschen. ALI BABÄ Das heißt, abwarten. Will er das? TOLETOLE Genau das. Sie haben es noch nicht begriffen, sagt er. Wir müssen Geduld haben, sagt er. CHINA kommt herein Warum seid ihr reingekommen? ALI BABÄ Um sie zu erschrecken... EL COJO Ja, um das Häschen ein bißchen zum Springen zu bringen... Und wie es springt! macht Marcela nach Oh! ... Uuuh! ... Lassen Sie mich! Ich habe Ihnen nichts getan! ... Ich habe Ihnen nichts getan! Sie lachen. CHINA Gut, das Spiel ist jetzt vorbei... Draußen gibt es viel zu tun. ALI BABÄ Meyers Schuhe putzen? Sein Hemd anwärmen? E l COJO Wir warten schon sehr lange, und ihm ist noch nichts passiert. CHINA Wir müssen abwarten... ALI BABÀ So lange, bis sich alle getarnt haben? Sein Sohn läuft schon zwischen uns rum, als wäre er einer von uns... Er versteckt seinen Hals im Kragen eines Overalls... CHINA schaut ihn zum ersten Mal an Für dich scheint alles nur eine Frage von Hälsen zu sein, Ali Babà, eh? ALI BABÄ Jeder hat einen, und jedem wird er einmal umgedreht... ElCOJO Als ich gestern von meiner Suche nach einem Schmorbraten aus dem Kaufhaus zurückkam, hab ich ein paar von ihnen gesehen. Sie waren an die Türen ihrer Häuser gespießt und hatten Schilder am Hals hängen, auf denen stand: WEIL WIR WIDERSTAND GELEISTET HABEN. Im Fluß gibt es noch andere, die sind an die Turbinenblätter gebunden, drehen sich mit den Turbinen und produzieren Strom für die Stadt. ALI BABÄ Er begreift es doch nicht... Er gehört zu den Friedlichen... CHINA Eine Rache zieht die andere nach sich... Den Köpfen, die man mit der Axt abschlägt, wachsen neue Körper... ALI BABÄ macht eine verächtliche Geste Ach komm, Cojo! ... Ich hau hier ab... Ich geh mit den anderen arbeiten. Ergeht zur Tür.
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CHINA Junge, ich glaube auch, daß die Ideen sich verbraucht haben. Das sehe ich genau wie ihr, aber... ich will keine Toten. Ich will sie lebendig! ... Verstehst du? Ein langsames Leben, lang und bewußt... mit der schrecklichen Gewißheit, nicht mehr raffen zu können! beruhigt sich Dafür will ich Meyer habe... ALI BABÀ Das sind deine Vorstellungen. Für mich müssen die Veränderungen gemacht werden, oder sie gehen ein. CHINA Ich kann euch hier nicht festhalten... ALI BABÀ Dir wird alles zwischen den Fingern zerrinnen... Warte nur ab, sie werden dir entwischen... CHINA Keine Angst, ich weiß, wann der Augenblick gekommen ist... ALI BABÀ Und... wann wird das sein? CHINA Warten wir, bis Ruhe eintritt, und er den guten Willen erkennt. Und jetzt laßt mich allein... Nur Toletole bleibt. Die andere gehen. TOLETOLE Sie treiben die Frauen zusammen. Sie sollen die Hügel pflügen, aber ich möchte hier bei dir bleiben. CHINA Geh!... Wir müssen jeder auf seine Art helfen. TOLETOLE Aber ich möchte hier bei dir bleiben, China! CHINA Dann bleib doch. TOLETOLE Aber es sieht so aus, als ob du mich gar nicht brauchst. CHINA Ich brauche dich. TOLETOLE Dann bleib ich also. Auf den Plätzen bringen sie denen, die es nicht können, das Lesen bei. Lerne ich lesen, China? Sie nimmt ein Buch. CHINA Versuche es. TOLETOLE Kann ich das Buch mitnehmen? CHINA Nimm es. TOLETOLE zitiert auswendig einen ökonomischen Text Eines Tages kann ich lesen. Alles. Geht hinaus. Nach einer Weile kommt Bobbi/ herein. BOBBY Die Lagerfeuer sind angezündet... Was soll ich jetzt machen? CHINA ohne ihn anzusehen Alles, was im Haus aus Metall ist, muß zur Gießerei gebracht werden... Wir brauchen Werkzeug zum ArbeitenMorgen will ich keinen Gegenstand aus Metall mehr im Hause sehen... BOBBY Gut... Er geht die Treppe hinauf. CHINA Auch das Silberbesteck... Und die goldenen Leuchter. BOBBY Das Gold? CHINA Ist Gold kein Metall? Hole auch den Schmuck deiner Mutter... BOBBY Den Schmuck?
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CHINA Ja, den Schmuck... BOBBY Wenn das alles in Zukunft keinen Wert mehr haben wird, warum kann man ihr nicht wenigstens diesen Spaß lassen? CHINA Glaubst du denn, daß deine Mutter irgendeine Freude daran haben wird, das aufzuheben, was in Zukunft nichts weiter sein wird als bunte Steine? Oder glaubst du, daß Schmuck etwas anderes ist als... bunte Steine? BOBBY Sie denkt nicht so darüber. CHINA Dann sorge dafür, daß sie es begreift. BOBBY Ich bin glücklich, daß ich für euch arbeiten kann. Ich bin dabei zu lernen. Er geht hinauf. PIETÀ Stimme von oben Bobby, was machst du? Was machst du denn, Junge? Aber doch nicht meinen Schmuck! ... Warum meinen Schmuck? Bobby! Beide kommen die Treppe herunter. PlETÄ Bobby, gib her! Was tust du denn? Was machst du mit uns? Bobby reicht den Schmuck. Sie! Sie geht auf China los und trommelt mit den Fäusten gegen seine Brust. Räuber! ... Verbrecher! ... Räuber! Sie schlägt auf China ein, der sich nicht rührt und einen Punkt vor sich fixiert. Verbrecher! Ihre Stimme wird schwächer. Räuber! ... Bandit... Sie sinkt schließlich vor seinen Füßen nieder. Räuber!... Räuber! Meyer erscheint am Fuß der Treppe. CHINA nach einer Pause, ehrlich betroffen von der Szene Ja, meine Dame, es ist grausam und schwer. Pietà schluchzt. Der Reichtum krallt sich mit sehr tiefen Wurzeln fest. Er wird zur zweiten Natur, die jeden Realitätssinn verbiegt. Aber er hat auch verborgene Kräfte. Es gilt noch einen langen Weg zurückzulegen... Morgen werden Sie Ihrem Sohn Ihre Pelze übergeben. Es gibt Leute, die das brauchen. Sie werden nur das Notwendige behalten. In den nächsten Wochen werden auch Sie arbeiten müssen. PlETÄ blickt zu ihm auf Was haben wir Ihnen getan, daß Sie uns so behandeln? ... Sie haben Ihr Leben gelebt, wir unseres. Wir haben Ihnen nie etwas Schlechtes gewünscht. China blickt zu Meyer. MEYER Bobby, bringe deine Mutter nach oben. PlETÄ wehrt sich dagegen, daß Bobby sie fortbringt Sag ihnen, Lucas, sag ihnen, daß wir Sozialarbeit geleistet haben. Sag ihnen, daß wir uns immer um die Armen gekümmert haben, zu Bobby Geh und hol' die Hausangestellten, mein Junge, sie sollen es bezeugen... daß sie in diesem Haus mit allergrößter Rücksicht behandelt worden sind.
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Bobby zögert. Lauf, Junge, worauf wartest du? BOBBY beklommen und gequält Es gibt keine Angestellten mehr in diesem Haus, Mama. PIETÀ Wie? Keine mehr? Was soll das? W o sind sie denn? MEYER Bring deine Mutter nach oben, Bobby. BOBBY Sie sind weggegangen, Mama. PIETÀ Weggegangen?... Wohin? BOBBY dumpf Sie werden nicht zurückkommen, Mama... PIETÀ Sarah? Nicht zurückkommen? Das ist unmöglich! Sie hat in diesem Haus gedient, seit meiner Kindheit. BOBBY Sie ist mit den anderen weggegangen, um auf den Hügeln zu arbeiten. PIETÀ Sarah haben sie sicher dahin schleppen müssen! Die geht nicht einfach so weg. BOBBY Ich habe gestern gesehen, wie sie untergehakt mit anderen Frauen singend durch die Straßen gezogen ist, Mama... Bitte, geh nach oben in dein Zimmer! Hör auf, alles noch schwieriger zu machen! PIETÀ vernichtet W a s bedeutet das, Lucas? Sie hat mir doch nie ein Wort gesagt... nie gejammert. Wie konnte sie ihren Groll so verheimlichen? Sie läßt sich jetzt wegführen, schon auf der Treppe zu China Wir haben immer geglaubt, daß es A r m e und Reiche gibt... Wir glaubten immer, sie würden sich damit abfinden. Schließlich, sind sie nicht selbst an ihrer Lage schuld? Sind sie nicht selbst die Schuldigen? Sind sie es nicht? Läßt sich von Bobby die Treppe hinaufführen. MEYER nun allein mit China Es reicht jetzt, Mirelis... Er pflanzt sich vor ihm auf. Was willst du? Sag es endlich. Meinen Kopf! Ich habe gesehen, wie man in der Nachbarschaft gewütet hat. Von hier bis zur großen Brücke steht kein Haus mehr. Worauf willst du hinaus? CHINA Ich warte... MEYER Worauf? CHINA Daß der Augenblick kommt. MEYER Der Augenblick, in dem was passiert? Ich kann viel aushalten, mehr als du glaubst... Auch wenn ihr die ganze Stadt einreißt, ich bleibe hier. Ich bin Lucas Meyer, begreifst du, was das bedeutet? Ich habe es zu zweihundert Angestellten gebracht. Zweihundert Männer mit ihren Familien. Und ich habe ihnen Glück gegeben, die Art Glück, die du noch niemandem geben konntest. Das ist mein Werk. Leben schaffen! ... Und deines? Was ist dein Werk, du Lump, eh? Flöhe knacken? ... Immer wieder kaputtmachen? ... W i e viele Kinder laufen denn herum, weil du ihren Eltern die Möglichkeit geschaffen
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hast, sie überhaupt zu bekommen und zu ernähren? Wie viele? ... Antworte mir! Rede, du Lump! Rede! Pause. Er setzt sich vor ihn hin Ich liebe das Geld? ... Selbstverständlich. Wer denn nicht? ... Du hättest an meiner Stelle das Gleiche getan, Mirelis. Wenn die Gesellschaft, in der du lebst, deine Habgier belohnt, warum sollte ich da anders sein? ... Mit nichts angefangen zu haben, das war meine größte und auffälligste Leistung. Wem sollten da Zweifel kommen in einer Gesellschaft, in der alle zufrieden gelebt haben? Eh, Mirelis, wer sollte da Zweifel haben, eh? Was bedeutet das, was ihr da jetzt tut, eh? Rache... Die miese Rache der Zukurzgekommenen? Antworte mir! ... Antworte mir! ... Antworte mir, du Miesling! Rede! Rede, du Reptil! Was ist mit dir los, du Hurensohn, hast du deine Zunge verschluckt? Pause, leise, ängstlich Was bedeutet das alles, Mirelis? Bitte, sag es mir! Was macht ihr in meinem Haus? CHINA Wir warten.. MEYER Warten worauf, um Gottes Willen? CHINA Daß der Augenblick kommt. MEYER steht erschrocken auf Du redest im Kreis! Redest nur um zu reden. Du hörst nicht mal zu. CHINA Nein, ich höre nicht zu, das stimmt. MEYER Rede! CHINA Reden Sie. Sie sind jetzt an der Reihe... Ich werde zuhören. MEYER weicht zurück Ihr seid also entschlossen, eh? Verfolgt unerbittlich euer Ziel? CHINA Ohne Umwege... Worte sind jetzt nutzlos, weil wir alle Antworten und Rechtfertigungen kennen. Aber sprechen Sie nur, mein Herr, seit tausend Jahren hören wir den Klang dieser Worte. Nie haben sie aufgehört, eine merkwürdige Faszination in unseren Ohren zu erwecken. Reden Sie nur, bis Sie müde werden. Ich werde hierbleiben und zuhören. MEYER Und wenn ich dir die Namen gebe? Die Namen aller, die in krumme Geschäfte verwickelt sind. CHINA Würden Sie das wirklich tun? MEYER Frag, Mirelis... CHINA schnell Von wem stammte der Plan für die Hamsterkäufe von Mehl im letzten Jahr? MEYER Von Bonelli, dem Mehlproduzenten zusammen mit Cordobés, dem Gerber. Sie haben es in den Geschäften der Brüder Schwartz gehortet. CHINA Wer hat die künstliche Preiserhöhung für Antibiotika im letzten Winter ausgebrütet?
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MEYER Der Apotheker Hoffmann zusammen mit einer Gruppe von Ärzten. CHINA Warten Sie. ruft Die Fragen! ALI BABÄ Stimme Wer hat die Ausbildungsgesetze diktiert, die den Hasen lehren langsamer zu sein als die Kugeln? MEYER schaut China verständnislos an Ich verstehe nicht! CHINA Er sagt, daß er es nicht versteht ... Er möchte konkrete Fragen haben. FRAUENSTIMME Wer hat den Milchpreis so erhöht, daß mein Kind mir im letzten Jahr trocken von den Brüsten fiel? MEYER sofort Der Großgrundbesitzer Caldas mit den Stimmen der Demokraten. KINDLICHES FREUDENGESCHREI Es lebe Herr Meyer! ... etc. CHINA Seht ihr? Das will er, konkrete Fragen. STIMME Wer hat den Müll vor das Haus der Armen geschüttet? MEYER denkt nach Ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern... CHINA Habt ihr nicht gehört? Merkt ihr nicht, daß er sich bei solchen Fragen verwirrt fühlt? ... Er ist ein ehrlicher Mann, geradeheraus... Fragt ehrlich! STIMME Wer beschuldigt uns, daß wir faul sind? MEYER Alle... Die ganze Welt, ein wenig... CHINA Nein, sowas nicht... Sachen, auf die er antworten kann. Fragt zum Beispiel: Wer stiehlt den Armen die Zähne? STIMME kreischend Ja, meine Zähne! Wer hat meine Zähne gestohlen? MEYER langsam zweifelnd Konkret... MÄDCHENSTIMME Wer sagt, daß wir häßlich sind? STIMME Wer behauptet, daß wir besoffen sind? MEYER Auf solche Fragen kann ich nicht antworten... Ich will Namen nennen! Ich kenne die Namen! KINDERSTIMME Wer behauptet, daß wir Diebe sind? MEYER außer sich durch das Geschrei, das immer bedrängender geworden ist. Alle... Die ganze Welt, ein wenig! ... Gibt es etwa keine Diebe unter euch? CHINA Vorsicht, Herr Meyer, es könnte passieren, daß sie das nicht verstehen... MEYER Aber ich bin es, der diese Fragen nicht versteht. Sie haben schließlich alle auf der andere Seite des Flusses gelebt... Warum sollte ich mich mit diesen Dingen herumschlagen? Plötzlich unterbricht er sich. Der Lärm verwandelt sich in tiefe Stille und kurz darauf beginnen ein paar Kinder sehr sanft und langsam zu rezitieren, als erzählten sie ein Märchen.
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1. KIND Warum gibt es nichts als Angst, um die Flöhe zu töten? 2. KIND Warum frißt eine häßliche Ente die schöne? 3. KIND Warum ist es besser, nicht lesen zu können, um Mandeln zu essen? 4. KIND Warum kann man nichts anderes tun, als warten, bis der Wind einen fortträgt? MEYER Wer... wer sind diese Kinder? MÄDCHEN Juanito, soll ich dir das Märchen von den Bäumen erzählen? JUNGE Erzähl... MÄDCHEN Alle Bäume hatten so große Angst vor den Ameisen, daß sie auf der Stelle stehenblieben, als sie sie kommen sahen. Reglos ertrugen sie es, daß die Ameisen auf ihnen herumspazierten... MEYER Was sind das für Kinder, Mirelis? CHINA Kinder, die aus den Schimmelpilzen einer Elendshütte kommen... Sie haben nur mit Kakerlaken und Zecken gespielt, bis sie fünf Jahre alt waren. Danach entdeckten sie, daß sie mit frischen Hundedärmen Luftballons machen konnten. Heute haben sie eine etwas fremdartige Phantasie. JUNGE Siehst du die schwarzen Vögel auf dem Glockenturm, Juanita? MÄDCHEN Ja... JUNGE Wollen wir sie mit Glockengeläut töten? MÄDCHEN Ja... ALLE KINDER Gehen wir... gehen wir... Pietä kommt die Treppe herunter und geht an Meyer vorbei hinaus. PlETÄ Es ist nutzlos, Lucas... man kann nichts mehr machen. Es wird sich ein Platz für uns unter ihnen finden... Sie geht wie von einer fremden Kraft gezogen hinaus. MARCELA kommt herunter und geht an Meyer vorbei Komm mit uns, Papa, niemand hindert dich daran. Sie geht hinaus. BOBBY kommt die Treppe herunter Warum gehst du nicht, Papa? Niemand hindert dich daran... MEYER Alles, mein Sohn! ... Alles hindert mich daran. Er richtet sich auf Dieses hungernde Volk mit seinem Durst nach Gerechtigkeit gibt es gar nicht... Das ist nur ein Vorwand von diesem China, der sie gegen mich aufgestachelt hat. BOBBY Nein, Papa. Schau doch, was passiert... Bitte, guck dir an, was u m dich herum vorgeht. Er umarmt ihn. Es ist die letzte Gelegenheit für dich... Danach kannst du nur noch in Einsamkeit versinken... Für alle, die es nicht verstehen, bleibt in Zukunft nur Einsamkeit... Nicht der Tod, den du fürchtest. Einsamkeit und Verbitterung... MEYER Bobby, glaubst du das wirklich? BOBBY Ja, Papa, das glaube ich.
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MEYER nimmt sein Gesicht in die Hände Dann schreib dir ins Gedächtnis, mein Junge... Habgier ist der Motor, der die Welt bewegt... Niemals, verstehst du? Niemals wird sie zwischen den Menschen verschwinden. Er geht von ihm weg. Jetzt begreife ich, was vorgeht: Wir sind in der Hand von verrückten Kindern... Sie werden die Welt in Schutt und Asche legen. Bobby geht zur Tür. Du willst jetzt auch gehen? BOBBY Ja, Papa. Ich bin jung. Ich will vergessen und lernen. Er geht hinaus. Meyer geht im Zimmer umher. MEYER Oh, Mirelis, wo bist du? ... Wo bist du, Mirelis? ... Was habt ihr Schrecklichen aus dem Leben gemacht? China taucht auf und bleibt im Hintergrund stehen. Du bildest dir ein, auch etwas zu erschaffen? Dieser schmutzige Haufen häßlicher Männer, dieses Rudel trister Mädchen, die ihre Rotznasen hinter sich herschleifen... Glaubst du, man wird das scheußliche Leben, das ihr ihnen bereitet, lange ertragen? Geh raus und guck dir den stinkenden Umzug an, Mirelis... Die schöne Stadt in einen Steinbruch verwandelt... Die großen Museen in Volksküchen, die Kathedralen in Baracken. Glaubst du nicht, daß sie sich eines Tages gegen die Verantwortlichen von so viel Häßlichkeit erheben werden und die Erde dann zu Staub zerfällt? Mirelis! Hast du mir noch nicht genug angetan? Soll ich gestehen? Ja, ich habe deinen Bruder getötet. CHINA Einen Mann aufhängen? Was für eine miese Phantasie! MEYER Wer bist du? CHINA Ein Herumtreiber, jede leere Brücke hat mir schon als Dach gedient. Es gibt viel Traurigkeit in der Welt, Herr Meyer. Aber heute besiegen wir sie... Kommen Sie! Folgen Sie mir. MEYER Ich glaube dir nicht. Nur die Rachsucht hat dich getrieben! CHINA Schade, es ist wirklich schade! MEYER Sag es doch, daß ich ihn getötet habe und daß du deswegen hier bist! CHINA Sie haben eine schreckliche Phantasie, Herr Meyer. MEYER Sag es!... Ich habe ihn getötet!... Sag es! CHINA von der Tür aus Das sind geringere Verbrechen. MEYER Sag es, du Hund!... Ich habe ihn getötet! China geht hinaus. Langsam und sanft erhebt sich ein Canto General nachdem alle Lichter ausgegangen sind. CHOR Adam und Eva hatten Kain und Abel... Kain zeugte Irad und von Irad vermehrten sie sich bis Methusalem... Methusalem zeugte Henoch und von Henoch begann die menschliche Rasse sich auszubreiten... Und als Noah Cham zeugte, Cham und Japhet, war die
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menschliche Rasse schon eine Masse... Die Kinder Japhets waren Gomer, Magog und Madai und Javan und Tubai. Und Meschech und Tiras und Aschkenas. Und Riphat und Elisa und Tarsis. Und jeder von ihnen hatte Millionen von Kindern. Und die Erde bevölkerte sich mit Gesichtern... Jeder hatte Millionen von Kindern... Und die Erde bevölkerte sich mit Elend... Soll ich euch das Märchen von den Bäumen erzählen? Erzähle! Alle Bäume hatten so große Angst vor den Ameisen. MEYER von oben zu hören, er schreit im Schlaf Mirelis! Mirelis! Mirelis! Mirelis! PIETÀ Stimme oben Lucas! Lucas, was hast du? Lucas was ist los? MEYER Ich habe ihn umgebracht... Sie haben das ganze Haus zerstört! Sie sind überall, schnell Wo sind die Kinder!? PIETÄ Lucas, was hast du? MEYER ruft Bobby! Marcela! PIETÀ Die Kinder schlafen. Hast du geträumt? MEYER Ja, ich hatte einen Alptraum. PIETÀ Und wen hast du umgebracht? MEYER Ich habe geschlafen. PIETÀ Und geträumt. Was hast du denn Schreckliches geträumt? Meyer kommt die Treppe herunter. Er macht das Licht an und schaut vorsichtig nach allen Seiten. Er geht zum Fenster und macht es auf. Er schaut hinaus. Pietà folgt ihm. MEYER Das ganze Haus war voll von ihnen. Überall waren sie. Sie haben alles kaputtgemacht! Du bist weggegangen, Pietà... Marcela erscheint oben. Und du auch. PIETÀ zur Tochter Er hat geträumt. MEYER zur Tochter Du bist auch weggegangen. Auf die Hügel. MARCELA heiter Wozu? MEYER Um zu pflügen, zu Pietà Und du hast mich verlassen! PIETÀ Ich, dich verlassen? Alle lachen. Was für ein Blödsinn, Lucas! MEYER lachend Ja, du hast mich verlassen. Alle lachen. PIETÀ Was waren denn das für Leute, die alles kaputtgemacht haben? MEYER Ach, niemand... ist alles vorbei... ein Alptraum... ein ganz normaler Alptraum. Bobby erscheint. BOBBY Habt ihr gerufen? PIETÀ lachend Er hat geträumt... hatte einen Alptraum... einen ganz schlimmen Alptraum. Ich habe ihn verlassen... Marcela ist auch weggegangen... auf die Hügel.
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MEYER Es hatte alles eine klare Logik... einen so gut entworfenen Plan, wie eine Sache, die schon einmal passiert ist... PIETÄ Was für eine Sache? MEYER sich allmählich beruhigend Ich glaube, wir hatten einmal einen Arbeiter, Mirelis, in der Fabrik. Ja, ich erinnere mich... Esteban Mirelis. Der flog raus, weil er eine Feile gestohlen hatte. Wir haben damals etwas voreilig gehandelt. MARCELA Und wer war dieser Esteban Mirelis in deinem Alptraum, Papa? MEYER Oh, das spielt keine Rolle, mein Kind, lügt Ein griechischer Pirat. Ein Wüstling mit dem Holzbein, die Masten voller Geier. Ein Pirat, der sich auf den Meeren herumtrieb, ein Herumtreiber, zu Bobby Stell dir vor, ich habe geträumt, der Albino-Pförtner deiner Universität hat auf einem großen Scheiterhaufen deine Lederjacke verbrannt. Und alle haben zugeguckt, ohne etwas zu tun... Das sind so Sachen, die dein Vater träumt... BOBBY Das hast du geträumt? PIETÄ Das ist doch neulich passiert, zu Bobby Das hast du doch erzählt. Das stimmt wirklich. Oder? BOBBY Das stimmt wirklich. Als wir neulich aus den Vorlesungen kamen, hat sich der Pförtner im Hof die Hände gewärmt. Über einem Feuer aus unseren Jacken und Mänteln... Mitten im Hof stand er, schaute hinauf und rieb sich die arthritischen Hände... und keiner wagte es, sich zu rühren. Der Rektor, die Professoren, die Studenten... keiner. Hast du das geträumt? Das ist wirklich passiert, lachend Wirklich. War es das? PIETÄ Ich habe es ihm vorhin erzählt. Er verwechselt das mit seinem Traum. Die Familie bemüht sich um Meyer. Gehen wir schlafen. Gehen wir schlafen... Alle gehen ab. Das Licht wird ausgemacht. Plötzlich zersplittert am Fenster zum Garten eine Scheibe mit großem Geklirr. Eine Hand greift herein und öffnet die Fensterriegel. Vorhang
Juan Radrigän Verrückt und traurig El loco y la triste
Deutsch von Ulrich Kunzmann
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Juan Radrigán (1937) hat, bevor er sich ganz dem Theater widmete, eine lange Reihe von Berufen ausgeübt. Unter anderem war er Anstreicher, Tischler, Arbeiter und Buchhändler. Er hat Erzählungen geschrieben: Los vencidos no creen en Dios (1962) und drei Romane: El vino de ¡a cobardía, Queda estrictamente prohibido und La ronda de las manos ajenas (1968). Sein Gedichtband El día de los muros erschien 1975. Sein erstes Theaterstück Testimonios sobre la muerte de Sabina wird 1979 aufgeführt. Es zeigt ein altes Ehepaar, einfache, arme Leute, die sich aus Angst und Bedrängnis an ihren Träumen festhalten. Radrigán zeigt die Welt der Armen. In Cuestión de ubicación, sein Teil von ¡¡¡Viva Somozaü! (1980), das in Zusammenarbeit mit Gustavo Meza entstand, leben vier Personen in einem miserablen Zimmer. Das Mobiliar ist auf das Nötigste reduziert. Die Tochter ist krank (Unterernährung), man kann aber keinen Arzt konsultieren, weil erst der Farbfernseher abgezahlt werden muß. Während die Eltern in dem kleinen Raum einen Platz für den Fernseher suchen, stirbt Elizabeth unbeachtet. Dieses Stück zeigt die „perverse" Wirkung der Ziele der Kosumgesellschaft in einem Land der krassen sozialen Unterschiede. Mit Hechos consumados (1982) wird die Welt auf Radrigán und sein Theater der Armen aufmerksam: [...] wir finden keinen Theaterautor, der wie Radrigán jene absolute Grenzsituation auf die Bühne bringt, in die sich ein immer größerer Prozentsatz der chilenischen Arbeiter abgedrängt sieht.1
Hechos consumados ist ein Einakter, der zeigen will, wie aus ruhigen Bürgern Folterer und Denunzianten werden können. Eine Erkenntnis, die uns die Militärdiktatur vermittelt hat. Radrigán sagt dazu: Grundsätzlich sollen alle [meine] Stücke die Würde des Menschen hervorheben, in einer Situation, wie sie uns zugestoßen ist. Diesem Regime gegenüber. [...] Ja, wir haben ein wenig unsere Würde verloren.2
Radrigán drückt seinen Widerstand in einer Bühnensprache aus, die sich den herrschenden Formen widersetzt. Seine Bühnenbilder sind aus den Dingen gemacht, die die bürgerliche Gesellschaft weggeworfen hat. Seine Figuren sind Menschen, denen jede Grundlage für ein Leben in Würde fehlt. Sie sprechen eine subjektive Sprache, die in der Situation 1 2
Grinor Rojo: Muerte y resurección del teatro chileno, 1973-1983. Madrid 1986, S. 129. José Miguel Varas: „Juan Radrigán: teatro de la dignidad y de la marginalidad", in ARAUCARIA
DE CHILE 3 2 ( 1 9 8 5 ) , S. 1 5 7 .
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entsteht. Gewalt, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit eines Lebens in der Randzone der chilenischen Gesellschaft sind seine Themen. Und immer wieder die Mahnung zum Widerstand. „Man stirbt, weil man kämpft und man stirbt auch, wenn man nicht kämpft" 3 demonstrieren Radrigáns Texte. Kämpfen ist gleichbedeutend mit leben und frei sein. Verrückt und traurig zeigt zwei Menschen in einer elenden Hütte. Er ist Alkoholiker, sie eine Dirne. Er wird an Leberzirrhose sterben, sie hat keine Chance mehr, ihren Lebensunterhalt auf der Straße zu verdienen, denn die Konkurrenz wird immer jünger. In dieser vollkommen zukunftslosen Situation widersetzt Eva sich der Misere: sie putzt die Hütte, singt und „heiratet" Huinca in einer bewegenden Zeremonie. Huinca lehrt sie, zu tanzen und laut zu singen, wenn der Tod kommt, denn dann findet man den Weg in das Haus, wo alle gleich und glücklich sind. Er nennt sie, die stets nur das Hinkebein war, bei ihrem Namen. So hat sie, wenn die Bagger das Elendsviertel niederwalzen, eine Identität, eine Würde, die ihr das Leben verweigert hatte. Pedro Bravo Elizondo
Literatur Bravo Elizondo, Pedro: „Juan Radrigán, die Diktatur und sein Theater", in Widerstand und Macht: Theater in Chile, hrsg. von H. Adler; G. Woodyard. Frankfurt/Main 2000, S. 105-118. C á n o v a s , Rodrigo: Lihn, Zurita, ICTUS , Radrigán: Literatura chilena y experiencia
autori-
taria. Santiago de Chile 1986. Luengo, Enrique: „Poder, resistencia y reacción en Hechos consumados de Juan Radrigán", in LATR 3 2 , 2 (1999), S. 69-86. Neghme Echeverría, Lidia: „La resistencia cultural en El toro por las astas de Radrigán", in LATR 2 1 , 1 (1988), S. 23-28. Vidal, Hernán: „Juan Radrigán: Los límites de la imaginación dialógica", in Teatro de Juan Radrigán, hrsg. von M. Hurtado; J. A. Piña; H. Vidal. Minneapolis 1984.
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A u s El toro por las astas (1982).
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Verrückt und traurig Personen: Eva - Huinca Das Stück spielt im großen Zimmer einer Hütte, in einem Slum, den man vor kurzem geräumt hat. Wobei „Zimmer" zuviel gesagt ist, tatsächlich handelt es sich um so etwas wie einen großen Kasten, dem eine Seite fehlt: ein richtiges Mauseloch, schmutzig und voller Risse. Die „Möbel", eine wackelige Kommode, ein alter Nachttisch, ein Strohsack, wie auch die übrigen Gegenstände, mit denen der Raum vollgestopft ist - Bretter, Eisenteile, Töpfe, Pappkisten -, liegen verstreut da, als hätte eine Bombe oder ein Sturm alles durcheinandergewirbelt. Inmitten dieser Verwüstung sieht man zwei unförmige Gestalten; die eine liegt auf dem Strohsack und die andere auf einem Kleiderhaufen, auf der Erde. Durch die Spalten der kaputten Wände dringen hell und heiter ein paar Sonnenstrahlen herein. Nachdem etwas Zeit vergangen ist. HUINCA Stimme Wenn wir alle Viere von uns strecken, das heißt, wie die Leute sagen, wenn wir tot sind, erwachen wir mitten in der Nacht und mitten am Abend. EVA Stimme Wie geht denn das? HUINCA Stimme Zerbrich dir nicht den Kopf, da ist es eben anders als hier. Mitten in der Nacht und mitten am Abend hast du so eine Farbe, wie wenn die Sonne zwischen den Baumstämmen und Zweigen hindurch auf den Weg scheint. Alles ist still und schön warm, man sieht niemand und hört nichts. Aber das macht dir keine Angst, weil es so ist, als wärst du endlich an einem Ort, den du gesucht hast, seitdem du auf der Welt bist. EVA Stimme Aber was siehst du, was? HUINCA Stimme Na, das Haus. Das große Haus, das Haus für alle!... Pause. Huinca ist von unbestimmtem Alter, jedenfalls über Dreißig, er wälzt sich unruhig hin und her, murmelt irgend etwas in einem Rhythmus, der entfernt an den Text des Liedes „La Rosa y el Clavel" erinnert. Er wacht auf und sieht sich erstaunt um. Alles ist still. Unsicher Was ist los? Pause Was ist los! ruft aus tiefster Seele: Hinkebein! Hinkebein! Die auf dem Strohsack liegende Gestalt fährt erschrocken hoch. Es ist Eva, das „Hinkebein", eine hinkende Prostituierte. Sie ist betrunken und krank vor Einsamkeit. Sie sieht ihn unverwandt und verängstigt an. EVA
Was ist los? W e r hat gerufen?
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HUINCA Ich. Ich habe dich nicht gesehen... Hatte es vergessen... Verdammich... EVA WO sind wir? WO? HUINCA blickt sich um Ach, jetzt finde ich mich wieder zurecht... Wir sind im Haus bei meinem Kumpel... Verflixt, die Sache kommt mir aber komisch vor... EVA erinnert sich plötzlich Der hat mich geschlagen, der Vitoco hat mir das gesunde Bein kaputtgeschlagen! Heftig wirft sie die Decken zurück. Sie hat nur einen Unterrock an, besieht und befühlt sich das Bein. Da bleibt was zurück. Deinetwegen haben sie mir das gesunde Bein kaputtgeschlagen, Mistkerl!... Da bleibt was zurück... sie weint. HUINCA verlegen Verdammich... Weine nicht, Hinkebein, na... EVA Sag nicht Hinkebein zu mir, Blödmann! HUINCA Entschuldige... Ich weiß ja nicht, wie du heißt. EVA Du brauchst nichts zu wissen! HUINCA Und was soll ich zu dir sagen? EVA zeigt ihm das Bein Sieh dir an, wie ich zugerichtet bin, sieh dir das an! wütend Warum bist du nicht ins Krankenhaus gegangen? Ich will nichts mit dir zu tun haben, ich ekle mich vor dir, alle Mädchen ekeln sich vor dir! ... Warum bist du nicht ins Krankenhaus, damit du da stirbst und mich in Ruhe läßt? HUINCA beleidigt Wer hat dir gesagt, daß ich was mit dir zu tun haben will? Du bist klappriger als ein altes Auto und willst die feine Dame spielen. Ich habe dir nicht gesagt, du sollst aufs Fest gehen, und ich habe dich nicht hierher gebracht. Mein Kumpel hat mit dem ganzen Rummel angefangen... Ich wollte nie was für mich allein haben, die Sonne und die Straße reichen mir. Also verzieh dich auf der Stelle und mach kein Theater. EVA setzt sich auf die Bettkante, sucht nach den Schuhen Du weißt, daß ich nicht weg kam. Die Mädchen sagen, sie wollen mich mit dem Alten vom Schuhladen verkuppeln, wenn ich nicht bei dir bleibe. Wenn ich mich nicht um dich kümmer, lassen sie mich nicht auf dem Platz arbeiten. Warum ziehst du mich in deine Geschichten rein? Wann hab ich jemals was mit dir zu tun gehabt? HUINCA achselzuckend Ich sage dir doch, ich weiß von gar nichts. EVA zieht sich an Immer haben sie es auf mich abgesehen. Die glauben, weil ich krank bin, hab ich ein dickes Fell oder kann nicht denken. Ich bin anständig, ich bin nicht wie du oder wie die Mädchen, und darum sind sie wütend auf mich.
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HUINCA Ich bin nicht wütend auf dich. Du tust mir leid, weil du so verbittert bist. Aber ich habe keine Lust, mich zu unterhalten. Ich habe nie gern Streit, und erst recht nicht mit Verrückten, also Schluß damit. Er nimmt eine Mundharmonika aus der Hosentasche. EVA Die dich an den Beinen rausgezogen hat, die ist vielleicht verrückt, ich nicht. Huinca klopft die Mundharmonika an der hohlen Hand ab. Und wer tut dir leid? Hast du nicht kapiert, daß du allein kaputtgehst? Statt den Doktor um ein Rezept für deine Säuferleber zu bitten, solltest du ein Mittel gegen Würmer von ihm verlangen, geringschätzig Da will sich dieser Schweinigel mit mir vergleichen... Huinca spielt auf der Mundharmonika und sieht in eine andere Richtung. Warum hast du mich zum Saufen gebracht? W a r u m hast du dich an mich rangemacht, hab ich mich einmal mit dir abgegeben? Antworte, he! kläglich Ich wollte nicht trinken... nie wieder trinken... HUINCA gleichgültig Na und, haben sie dir den Schnabel mit Gewalt aufgerissen und Wein reingeschüttet? EVA Die Verzweiflung hatte mich gepackt. Siehst du nicht, daß sie mir das gesunde Bein kaputtgeschlagen haben? sieht sich an Mein Bein... HUINCA Das war eine schlimme Geschichte, eine riesengroße Sauerei, was sie mit dir gemacht haben. Aber mein Kumpel wußte nicht Bescheid. Der Piter hat ihm gesagt, wenn du nicht mitmachst, muß man dir ein paar Schläge vor das gesunde Bein geben, und dann fängst du an, wie verrückt zu schlucken. EVA Aber wer mich geschlagen hat, das war der Vitoco... Und außerdem wollten sie mich mit dem Alten vom Schuhladen verkuppeln, wenn ich nicht mittrinke. HUINCA Alles Lüge. Wenn einer nicht mitmachen will, dann tut er es nicht. Niemand kann über uns bestimmen, nur wir selber. Darum sind wir ja keine Tiere. Das einzige, was wir armen Hunde haben, ist das Leben. Wollen sie uns da auch noch sagen, was wir mit dem Leben tun sollen? Ach was. Paß auf, im Krankenhaus hat mir so ein feiner Pinkel gesagt, wenn ich weitertrinke, würde ich in einer Woche abkratzen. Aber ich trinke weiter, weil ich sehen muß, was mir bekommt oder nicht. Ich war mein ganzes Leben frei, und jetzt ziehe ich nicht den Schwanz ein. Oh nein, ich gehe meinen Weg weiter. EVA Das kommt, weil du zu nichts taugst, weil du niemanden hast. Du bist wie die Hunde. HUINCA Wie die Vögel. EVA Wie die Hunde, Scheiße. Du bist einsam und allein.
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HUINCA Und du hältst dich wohl für einsame Klasse? Du taugst nicht viel mehr als die häßlichen Weiber in den dunklen Gassen, Mädchen. Noch drei Monate, und nicht mal die Suffköppe kümmern sich noch um dich. Denk dran, dann mußt du was abstauben, damit du was zu beißen hast. EVA läuft los Geh zum Teufel. HUINCA lächelnd Was willst du? EVA Na, mich waschen. HUINCA Ich dachte schon, du tanzt Cueca. Verdammich, machst du einen Aufruhr, wenn du läufst! lacht belustigt. EVA bleibt stehen Ich hab dir nie getraut, das hab ich dir gesagt! Ich vergleiche mich überhaupt nicht mit dir, du Hungerleider! HUINCA Schon gut, Hinkebein... Wir sind alle eine Sorte, du brauchst dich nicht zu deklassieren. EVA Deklassiert bist du vielleicht, du mußt mit dem Daumen unterschreiben. Mich haben sie in die Schulklasse geschickt, als ich klein war. Und meine Mama hat aufgepaßt, daß ich lese, weil sie Lehrerin war und lauter gute Bücher hatte, zählt auf Sie hatte die ganze komplette Sammlung von „Reader's", eingebunden und alles, sie hatte „Genoveva von Brabant", und sie hatte den „Chaoten" von Miguel Cervantes... geringschätzig Was weißt du schon davon. HUINCA Kapierst du nicht, daß du keine Ahnung hast? Du redest nichts als Blödsinn. Deklassiert heißt nicht, daß du keine Schulklasse besucht hast, es bedeutet, daß du ein schwarzes Schaf bist. EVA DU hältst dich für überschlau, und du weißt gar nichts. HUINCA Hören wir auf zu diskutieren, von Philosophie kriege ich nämlich Durst. Er streicht sich über den Mund. Ich habe mehr Durst als ein Fisch in der Wüste. EVA mit übertriebenen Gesten Komm mir nicht mit der Geschichte. Hier trinkst du nichts. Sonst krepierst du, und mich lochen sie vielleicht ein. Wenn ich weg bin, kannst du soviel trinken, wie du willst. HUINCA Weißt du was? Wenn du mir weiter auf die Nerven gehst, hau ich dir das Bein mit ein paar kräftigen Hieben gerade, zeigt Da draußen gibt's anscheinend ein Becken, wasch dir das Gesicht und verdrück dich auf der Stelle. Mir verbietet keiner was. EVA Tst, Mann, bist du ein Kampfhahn. HUINCA Nein, ich bin überhaupt kein Kampfhahn. Aber ich ertrage keinen, der mir Befehle gibt. Ich bin mit allen Freund, aber der Sklave von keinem. So bin ich.
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EVA geht hinaus Hau ab, dreckiger Mistkerl... Dieser Strolch will mit mir streiten... Huinca lacht. Er spielt kurz eine heitere Melodie an. Dann steht er auf. Seine Bewegungen sind langsam und schwerfällig. Er hat einen runden, dicken Bauch. Er untersucht das Zimmer, öffnet die Schubladen der Kommode, rückt einzelne Möbelstücke ab und murmelt etwas. Eva kommt zurück, das Gesicht und die Haare sind naß. Sie sucht mit dem Blick. Mit was kann ich mich abtrocknen? HUINCA ohne die Nachforschungen zu unterbrechen Was weiß ich. EVA trocknet sich mit einem Zipfel der Bettdecke ab Und du willst dich nicht waschen? HUINCA Später. EVA Mir haben sie beigebracht, sauber rumzulaufen, das war meine Mama... Suchst du was? HUINCA Ja, etwas. EVA drohend Ich habe dir schon gesagt, Schluß damit. HUINCA Ich habe Durst, na und! faßt sich an den Bauch Wenn ich nicht trinke, tut es mir da weh. Er sieht, daß Eva plötzlich wie angewurzelt dasteht. Was ist los mit dir? EVA verunsichert Ich habe niemanden gesehen... HUINCA Wo hast du niemanden gesehen? ... Oder siehst du jetzt schon weiße Mäuse? EVA Da draußen. Da ist niemand. HUINCA Nein? Er geht und sieht hinaus Verdammich, das stimmt. Niemand zu sehen. EVA geht hin und sieht ebenfalls hinaus Siehst du, daß es stimmt? ... Man hört nichts, man sieht nichts. Keine Menschen, keine Hunde, nichts... HUINCA Ach ja, jetzt erinnere ich mich! Sie haben alle weggeschafft. Deshalb hat mein Kumpel uns hier untergebracht. EVA WO hat man sie hingeschafft? HUINCA Na, das weiß ich nicht. EVA Dann sind wir also allein hier? HUINCA Allein, das stimmt. EVA sieht sich um, zeigt auf die Sachen im Zimmer Und warum haben sie das Dreckzeug hier nicht mitgenommen? HUINCA Was weiß ich. EVA Womöglich bauen sie einen Boulevard. Weißt du nicht, daß die jetzt modern sind?
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HUINCA Das wäre nichts Besonderes. Er setzt sich auf das Bett. A l s o , kannst du mir ein paar Mäuse rüberreichen? Ich bin steifer vor Kälte als Tarzans Eier. Und der Durst hat mich voll gepackt. EVA sucht in allen Winkeln nach etwas Tst, du bildest dir ein, daß ich dir Geld gebe? Bist du mein Macker? HUINCA Du hast keinen Macker. Selbst die miesesten Luden auf dem Platz haben dich schon weggejagt. Das muß was Tolles sein, sogar der „Schrott-Mufti" hat sich erlaubt, dir den Laufpaß zu geben. Eva hat eine große, ungeheuer geschmacklose Handtasche in Schockfarbe entdeckt, und sie wühlt in ihr herum. EVA würdevoll Ich habe sie alle weggejagt. Mir gibt keiner den Laufpaß! Sie holt einen kleinen Kamm und einen Spiegel heraus und gibt ihm den Spiegel. Halt mal, daß man dich für irgendwas gebrauchen kann. HUINCA hält den Spiegel mit einer Hand, was ihn große Miihe kostet Da sieh nur, wie es mir geht. Als ob ich ein Erdbeben verschluckt hätte. EVA Pack ihn mit beiden Händen, ich kann mich nicht erkennen. HUINCA sieht sie aufmerksam an Verdammich, bist du häßlich. Scheint, daß deine Alten schlimm besoffen waren, als sie dich gemacht haben... Und obendrein, versagt dir auch noch das Laufwerk. EVA Häßlich vielleicht, aber kein vergammelter Mistkerl wie du. HUINCA Spar dir ein paar Scheinchen, und dann kannst du auf deine Würde achten. Wenn nicht, mußt du im Dreck kriechen, damit sie dir ein Stück Brot hinwerfen. Sei nicht blöd, Hinkebein, dein Leben hängt nur noch an einem dünnen Faden, sei nicht unvernü... EVA reißt ihm heftig den Spiegel weg Ich hab gesagt, du sollst nicht Hinkebein zu mir sagen! Stellt den Spiegel irgendwohin und macht sich weiter zurecht. HUINCA Und wie soll ich dann zu dir sagen? Etwa „Fräulein Hinkebein"? nachdenklich Verdammich, das ist eine komische Geschichte. Wir sind verheiratet, und ich weiß nicht, wie du heißt... Verheiratet? gespannt Hast du mich geheiratet? EVA Tst, bist du total durchgedreht? HUINCA Stimmt das auch? Verdammich, wenn du mir sowas angetan hättest, würde ich dir wirklich den Hals umdrehen. Mein ganzes Leben habe ich als freier Mann gelebt, war nie mit jemand verkuppelt. Die können mich doch nicht im letzten Augenblick in die Pfanne hauen. Das dürfen sie mir nicht antun! EVA Haben sie nicht, wie kannst du sowas glauben. HUINCA Mein Kumpel hat schon lange so dumm rumgequatscht, ich würde bald sterben und hätte nie ein Zuhause gehabt, Kinder und
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den ganzen Blödsinn. Er hat gesagt, ich müßte wie ein Mensch leben, selbst wenn es nur ein paar Tage sind. Mann, was für ungebetene Ratgeber es im Leben gibt. Die ganze Zeit hacken sie auf einem rum und sagen noch, sie tun es zu deinem Besten... aggressiv Was ist wirklich passiert? EVA Nichts weiter. Als Vitoco dich ins Krankenhaus gebracht hat und sie gesagt haben, daß du nicht mehr lange machst, hat er für deinen Abgang gesammelt, und dann sind wir alle zum Peteo gezogen... HUINCA Und warum warst du heute morgen mit mir zusammen? Paß auf, später weiß ich alles, bloß am Anfang habe ich einen Filmriß. EVA Ich war heute hier, weil... Kein einziges Mädchen wollte bei dir bleiben, weil du so ein Schweinigel bist und bald draufgehst. Ich wollte auch nicht... Sie haben mich zum Trinken gezwungen. HUINCA Und sie haben uns hergebracht, damit wir denken, daß wir verheiratet sind. EVA Stimmt, aber wir sind überhaupt nicht verheiratet. Wie kann dir bloß einfallen, daß jemand mit dir schlafen will. HUINCA Bist du sicher, daß wir es nicht sind? Ich erinnere mich, daß die Jungs uns dauernd zugeprostet haben. EVA Die haben Blödsinn gemacht, reinen Blödsinn, erstaunt Hast du das wirklich ernst genommen? HUINCA Zum Heiraten braucht man einen Ausweis und so, richtig? EVA Und auch eine Braut, he. Sie nimmt einen Lippenstift aus der Tasche und malt sich die Lippen an. Glaubst du, ich würde einen armen Hund wie dich heiraten? Pff, eher bettle ich. HUINCA Und genau das machst du, oder glaubst du, daß die Freier mit dir schlafen, weil du Haus und Hof hast? Bloß aus Mitleid, was denn sonst, aus reinem Mitleid. EVA Habe ich dich irgendwann um irgendwas gebeten, daß du jetzt die Schnauze aufreißt? Du hast nichts, wo du tot umfallen kannst, und da verkuppeln sie dich... HUINCA Doch, ich habe was, die Straße. Alle Straßen gehören mir, ich kann auf der Straße tot umfallen, wo ich will. Und damit du es weißt, ich habe schon die richtige ausgesucht, also, wenn es mir richtig dreckig geht, verzieh ich mich dahin, bekümmert Das Schlimme ist, ich erinnere mich nicht, wo das ist. Ich habe sie einmal gesehen, als ich voll war, mit Ente und Maiga... sehnsüchtig Als wäre ich auf einmal in die Kinderzeit zurückgekehrt, das hat mir einen solchen Stoß gegeben, daß ich nüchtern wurde... Stellen können sich wiederholen, nicht wahr?
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EVA versteht nicht Sich wiederholen? Was kann sich wiederholen? HUINCA Na, die Stellen, die Gegenden... Verdammich, die... Orte. EVA Die Städte, meinst du. Also kann Santiago auch woanders sein? HUINCA Ja, aber nicht ganz, nur ein kleines Stück. EVA Nein, das geht nicht. HUINCA Wieso nicht? EVA Das geht nicht. Sie legt die Handtasche hin. Paß auf, wenn die Handtasche hier ist, kann sie nicht woanders sein. Sei nicht blöd. HUINCA Das ist was anderes... Was ich meine, einmal habe ich mich da auf dem Land verlaufen, als ich sieben war. Wir waren in einem Ort, der Paillaco heißt, da im Süden. EVA Kennst du den Süden wirklich, oder hast du das nur in den Nachrichten gesehen? HUINCA Ich kenne alles, was man kennen muß. Darum weiß ich, daß es hier für uns nichts gibt. Wenn du was hast, mußt du es verlieren. Aber lenke mich nicht ab. Was ich dir erzählen wollte, als wir im Süden waren, habe ich mich verlaufen, weil ich wie immer gern allein rumgestromert bin... Ich erinnere mich ganz genau an die Gegend, wo ich hingeraten war... Die Bäume waren groß und schlank, und in der Nähe hörte man Wasser plätschern. Ungefähr fünfzig Meter weg sah man vier oder fünf ganz kaputte Häuser, aber nirgendwo gab es Menschen. Wohin du auch sahst, war nichts als Stille und Grün, kein Lüftchen regte sich, und die Sonne glitt ganz sachte über die Berggipfel, wie jemand, der keinen Krach machen will. Aber am schönsten war, wonach der Abend duftete: ein ganz frischer Duft, ein Duft nach Wegen oder so, wie nach was Hübschem, das bald vorübergeht... Ich hatte mich verlaufen, aber ich bekam überhaupt keine Angst, weil das ganze Leben mein Freund war. Da habe ich mich ruhig hingesetzt und auf meinen Vater gewartet, wie wenn jemand sich hinlegt und auf den nächsten Tag wartet. Ich war sicher, daß er in seinem Lastwagen auftauchen würde. Und so war es auch. Er kam und lachte wie immer, und er hat zu meiner Mutter gesagt: „Hab ich es dir nicht gesagt, Alte, wir finden ihn unterwegs? Der Junge weiß, daß ich ihn nicht verpasse." Pause Eine tolle Geschichte, was? EVA zuckt die Achseln Ich habe immer nur Bahnhof verstanden. Du hast von einer Straße gesprochen, und dann bist du bei deinem Papa gelandet. Sie steckt ihre Utensilien in die Handtasche. Du hast ja verrücktere Einfälle als ein altes Haus.
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HUINCA Was ich dir eigentlich sagen wollte, hier in Santiago habe ich eine Stelle gefunden, die genauso aussieht wie die, wo mich mein Vater abgeholt hat. Genau die gleichen Bäume, die gleichen Hütten, und man hört sogar Wasser plätschern. Dahin muß ich gehen, wenn ich spüre, daß es bald soweit ist, als wüßte man, ob der Lastwagen wieder vorbeikommt. Ich glaube ja, nicht wahr? beunruhigt Aber ich weiß nicht mehr, wo das ist, ich kann mich nicht erinnern... Und wie es scheint, kratze ich bald ab... EVA Ach was, abkratzen. Das ist bloß so eine Lügengeschichte, damit du umsonst saufen kannst, mustert ihn fachmännisch Du hast nicht mal einen Bauch. HUINCA Und warum soll ich das? Ich bin doch nicht schwanger. EVA Bei allen, die eine Säuferleber haben und die auf dem letzten Loch pfeifen, bläht sich der Bauch mächtig auf, bevor sie draufgehen. So ist es Chumingo gegangen und Cauquenes. Und auch dem Bauernmädchen, das mit Lobito zusammen war, weißt du nicht mehr? HUINCA sieht sich an Ich habe noch einen Rest Mumm. EVA Ja, aber du hast auch noch Zeit. Pause Wie oft bist du im Krankenhaus gewesen? HUINCA Zweimal. Abgesehen von den vier Tagen, die ich im Barros Luco war. EVA Siehst du? Es muß mehr als dreimal sein, danach gehst du wirklich drauf. Mal sehen, kannst du dich bücken? HUINCA Na klar geht das. Im Turnen bin ich immer gut gewesen. Beachte meinen Stil. Er versucht, den Boden mit den Händen zu berühren. Nachdem er sich sehr angestrengt hat, schafft er es, wobei er aber die Knie beugen muß. Keuchend Wenn du willst, mach ich dir noch was vor. EVA Nein, ist schon gut so, ich wollt ja bloß sehen, erfahren Du hast noch Zeit. Dir müssen mindestens zwei Wochen bleiben. Das Problem ist, daß du zuviel Flüssigkeit hast. Wie lange hast du nicht absaugen lassen? HUINCA Erinnere mich lieber nicht daran, zeigt anschaulich So groß ist die Spritze, die sie dir in den Bauch stoßen. Nein, ich gehe nicht mehr hin, wozu auch? EVA Damit du dich gut bewegen kannst, sonst krepierst du wie die Hunde, die sich nicht rühren können, wenn man sie überfährt. Das mit der Spritze tut überhaupt nicht weh. Ich bin mit Cacaraco gegangen, als er ins Krankenhaus ist, und nach zwei Tagen ist er wie neu zurückgekommen.
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HUINCA Nein, ich weiß ja, daß es nicht schlimm weh tut. Aber du siehst den Eimer und all die Sachen. Tst, und dazu machen sie einen noch zur Sau. Nein, ich gehe nicht hin. EVA Dann gehst du viel schneller drauf. HUINCA Stimmt, weiß ich. EVA erstaunt Und du machst dir nichts draus? HUINCA Was kümmert es mich. Und selbst wenn, was hätte ich davon, wenn ich mich sträubte? Erinnerst du dich an Lobito? Im Krankenhaus haben sie ihn so schlimm leiden lassen, daß er gesagt hat: „Das Sterben tut ungeheuer weh, Kumpel, ich gebe lieber auf meine Gesundheit acht." Und er hat sich rausgehalten, nirgendwo wollte er mit hinkommen. Bis er es eines Tages kapiert hat und zu mir sagte: „Weißt du was, Kumpel? Das Sterben tut ungeheuer weh, aber Scheiße ist es, allein zu sein. Gehen wir lieber einen trinken!" EVA Und er hat es noch drei Tage gemacht, nicht gerade viel. HUINCA Drei Tage, aber froh und zufrieden, darum geht es! Pause Verdammich, ich habe wirklich Glück. Immer wollte ich im Sommer den Löffel abgeben, weil dann alles lustig ist und schön warm und man in Hemdsärmeln abtreten kann. Wenn es mich vielleicht am Morgen packt, das wäre prima, weil ich bis zum Abend durchhalten würde, so gut ich kann, und ich würde an der Stelle warten, von der ich dir erzählt habe... Ich möchte um die Zeit dort sein, wo die Sonne gerade untergegangen ist und alles aussieht, als würde es auf einmal stillstehen... Hast du nicht bemerkt, daß man um die Zeit glaubt, es ruft einen jemand? EVA sieht ihn verständnislos an, dann zuckt sie die Achseln Jeden Tag bist du schlimmer weggetreten. Sie steht auf und zieht die Bettwäsche ab. HUINCA Was machst du da? EVA Das Bett. Wenn man zu Haus ist, muß man das Bett machen. HUINCA Aber das Dreckzeug da ist kein Bett, he. Laß das so liegen. EVA Nein, mir haben sie schon als Mädchen beigebracht, sauber und ordentlich zu sein. Pause Und ich mache das gern. HUINCA Hattest du mal ein Zuhause? EVA Immer. HUINCA Aber ich rede nicht von einem öffentlichen Haus, ich meine die anderen Häuser. EVA Genau so eins... Das war ein Haus mit Bäumen und Büschen. Da war auch eine Holzbank, die stand unter einer Kastanie, da haben wir Geschwister gespielt... Hinten im Hof floß Wasser in einem Graben, da hatte meine Mama die Waschwanne stehen, eine Wanne aus
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Zement, und während mein Vater den Boden abharkte, wusch sie und sang. Sie hatte eine so schöne Stimme... Ich erinnere mich an einen Walzer, den sie immerzu sang, einen uralten Walzer... „Mein Herz, dem sie so weh getan, denn immer denkst du nur daran, auch wenn du es weiter büßen mußt..." Huinca trällert vor sich hin und tanzt, er will sie auffordern. Verzieh dich, verzieh dich, du Flegel, du brauchst dich nicht ranzuschmeißen, halt Abstand. HUINCA Verdammich, stimmt ja, du tanzt nur mit Typen aus der besseren Gegend, tanzt allein Und was ist mit dem alten Haus passiert? EVA Es gab Geschichten. HUINCA Liebesgeschichten? EVA Nein, Liebesgeschichten machen mich nicht heiß. Daran hat es mir nie gefehlt. HUINCA Also bist du anschaffen gegangen, weil du mit einem schiefen Bein zur Welt gekommen bist und deshalb Komplexe hattest? EVA wütend Mach dich nicht lustig über mich, dreckiger Mistkerl! Lache ich über dich, weil du bei lebendigem Leibe verfaulst? HUINCA Entschuldige, das war nur so dahergeredet. Pause Wenn Nutten sich vollaufen lassen, packt sie auf einmal das nackte Elend, und sie erzählen, sie würden gern zurück nach Haus, du auch? EVA Zurück? ... Nein, wohin soll ich zurück. Die sind alle tot. HUINCA Na sowas, sind sie im Krieg gewesen? Wie konnten sie alle zusammen sterben? Jemand muß übrigbleiben. EVA Nein, niemand ist übrig... Und selbst, wenn dort noch einer lebte, wäre er genauso kaputt wie ich. Es wäre nicht mehr dasselbe. HUINCA Zieh dich nicht selber in den Dreck, sonst geht es dir dreckig. Weißt du was? Wenn man dich lange genug ansieht, bist du gar nicht so übel. Mal sehen, lauf ein paar Schritt nach da, damit ich dich richtig sehe. EVA Halt den Mund, frecher Kerl. HUINCA Nein, im Ernst. Du hast dich besoffen hingelegt und bist jetzt ganz abgeschlafft aufgewacht, aber wenn du nüchtern wirst, bist du anscheinend noch zu was gut. Das Problem ist, daß du von Höhenflügen träumst, darum mußt du ständig heulen, obwohl das Glück der Menschen in ganz kleinen Dingen besteht, Dingen, die zum Greifen nahe sind. Wenn ich mir zum Beispiele einen tüchtigen Schluck einhelfe und mich dann ins Gras lege, könnte ich laut schreien vor Freude, aber wenn ich ein Auto haben wollte, müßte ich heulen, verstehst du?
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EVA Das kommt, weil du verrückt bist. Du gibst dich mit allem zufrieden. Du hast nichts, du liebst niemanden. HUINCA Wieso nicht? Ich habe viel mehr lieb als du, ich liebe euch alle. Weißt du nicht, daß ich mit keinem Streit habe? Das ist Liebe, daß man keinen haßt. EVA Betonschädel! Der Mann braucht die Frau, und die Frau braucht den Mann. HUINCA Genau. Und weil ich viele brauche, liebe ich alle. EVA ratlos Mit dir kann man nicht reden, du bist viel zu verdreht, nimmt die Handtasche Wie machen wir es? HUINCA Wie machen wir was? EVA unsicher Ich muß los... HUINCA Dann geh doch. EVA Aber auf dem Platz haben sie gesagt, sie würden mich mit dem Alten vom Schuhladen verkuppeln, wenn ich nicht ein paar Tage mit dir zusammenbleibe... Das heißt, bis du tot bist. HUINCA Wegen der Sache mit der Uhr? Eva nickt. Und warum hast du ihm die geklaut? EVA Na ja, nachdem wir die ganze Nacht zusammen waren, meinte er, ich hätte zum Nulltarif gearbeitet. HUINCA Aber der Alte hat Kohle. EVA Klar, außer dem Schuhladen hat er noch jede Menge andere Geschäfte. Aber der ist hinter dem Geld her wie der Teufel hinter der Seele. Er kommt immer auf den Platz, wenn nichts mehr los ist, und darum müssen wir mit ihm abziehen, bevor die Streife auftaucht und uns mitnimmt. Aber er rückt nichts raus, und wenn man ihn auf den Kopf stellt. HUINCA Dann geht das in Ordnung. Du hast ihn eigentlich nur erleichtert, weil er es auf die Nassauertour versucht hat. Zieh ruhig los, kümmere dich nicht um die Jungs. Die können dich nicht zwingen, hier zu bleiben. EVA Nein, ich habe bloß vor Chofa Angst, sie kann ausrasten, weißt du nicht, daß sie Wut auf mich hat, weil einer von ihren Freiern mit mir losgezogen ist, und danach wollte er mir ein Zimmer einrichten. HUINCA Und hat er? EVA Nein, ich wollte nicht, weil, um immer bei einem einzigen zu bleiben, muß man ihn lieben. Und ich habe ihn nicht geliebt. HUINCA Sieh an, du hast auch dein kleines Herz. EVA Ich hab dir gesagt, daß ich nicht so bin wie ihr. Ich kann denken, und ich hab auch 'ne Bildung.
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HUINCA Die hat dir wenig genützt... Also, wenn du los willst, dann los. EVA Verdammich, ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Ich darf nicht noch mal im Kittchen landen... Ich hab 'ne Akte. HUINCA Ach, du hast schon gesessen. EVA Ja, aber wegen Diebstahl, eine Kleinigkeit. HUINCA Wegen Raub? EVA Nein, wegen Diebstahl. Raub ist, wenn du einen schlägst, um ihm was abzunehmen. HUINCA Und Diebstahl? EVA Wenn du es ihm abnimmst, ohne daß es weh tut, wie bei der Uhr. HUINCA Genau dasselbe. EVA Nein, he, Raub ist schwerer. HUINCA Und was hast du das letzte Mal abgestaubt? EVA Ich war es nicht, sondern der „Schrott-Mufti". Der hat eine Menge Werkzeuge abgezweigt und sie in dem Hotel versteckt, wo ich die Freier hinbrachte, und darum haben sie uns bei der Razzia alle mitgenommen. Ich mußte ungefähr drei Monate sitzen. Pause Mich dürfen sie nicht noch mal erwischen. Wer weiß, wieviel sie mir aufbrummen, weil ich rückfällig bin. hoffnungsvoll Und wenn ich auf dem Bahnhof anschaffe und Kohle mache, damit ich dem Alten eine Uhr kaufen kann? Schließlich habe ich auch im Bahnhof jede Menge Kunden, da hätte ich ganz schnell das Geld zusammen. HUINCA Na klar, das machst du. EVA Und du? HUINCA Nein, wozu soll ich anschaffen gehen. EVA Ich meine, was willst du jetzt machen, du Spinner? HUINCA Weiß ich nicht. Ich gehe auf den Platz, mal sehen, ob ich eine kleine Besorgung aufreiße. EVA Aber Koffer schleppen schaffst du nicht mehr. HUINCA Ich kann Autos waschen. EVA Noch viel weniger, dabei mußt du dich bücken, zuckt die Achseln Na ja, deine Sache. Aber erzähle denen auf dem Platz nicht, daß ich dich alleingelassen hab, sei kein krummer Hund. Sie öffnet die Handtasche. Hier hab ich noch ein bißchen, da, damit du gehst. HUINCA nimmt Klasse, damit habe ich genug, um meine letzten Tage prima auszuleben. Du bist großzügig, was? Du hast wohl Spendierhosen an mit zugenähten Taschen... EVA Mehr habe ich nicht, denk dran, gestern nacht mußte ich dir die Därme mit Wein spülen.
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HUINCA Nein, ist ja gut, jeder gibt, was er kann, und das ist genauso gut, als w e n n m a n alles gäbe. Er versucht, die Glieder zu strecken. Mann, bin ich steif. Als hätte ich Zement geschluckt... D u kommst nicht wieder, stimmt's? EVA Nein, wozu. Und du? HUINCA W e n n ich nicht in der Pension unterkomme, m u ß ich hier schlafen. Weißt du nicht, man kann jetzt nachts nicht auf die Straße? EVA Na klar, weil du so gelenkig bist, halten sie dich bestimmt für einen Extremisten. Ziehen wir los. Sie gehen ab.
2. Akt Dasselbe Bühnenbild, am Abend desselben Tages. Die einzige Veränderung: Auf der ramponierten Kommode liegt ein Einkaufsbeutel voller Pakete, und auf der als Nachttisch dienenden Kiste sieht man eine entkorkte Weinflasche. Huinca sitzt auf dem improvisierten Bett und versucht, mit einem Stock eine Landkarte auf den Boden zu zeichnen. Eva läuft in dem kleinen Raum hin und her und mustert alles sehr aufmerksam. Beide sind genauso gekleidet wie im ersten Akt. Evas Handtasche - eine schlimme Herausforderung an den guten Geschmack - liegt auf einem Bett. HUINCA Du müßtest zuerst hier entlang, zeigt mit dem Stock weil Ente mir damals gesagt hat, wir gehen nach Vivaceta, da gibt es was zu holen. N a c h d e m wir die breite Straße hier überquert hatten, zeigt darauf habe ich plötzlich die schlanken Bäume gesehen und daneben die Hütten... Und das Wasser... Das Wasser, das ich dann hörte, war der Mapocho! Natürlich! Sieht sie an Aber hör mir zu, he! EVA gutgelaunt Ich höre zu, rede nur. HUINCA DU paßt überhaupt nicht auf. Seit du da bist, denkst du an was anderes. Was hast du erlebt? EVA Nichts, mit gespielter Gleichgültigkeit Es ist nicht mehr lange bis zum Achtzehnten... HUINCA Und was hat das mit dir zu tun? Mußt du den Aufmarsch zum Nationalfeiertag mitmachen? EVA Na klar, B l ö d m a n n , deshalb übe ich gerade den Paradeschritt, siehst du nicht? HUINCA Begrabe das Kriegsbeil, Indianerin. Du kommst immer mit komischen Geschichten an.
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EVA Wieso komische Geschichten? Wenn ich sage, es ist nicht mehr lange bis zum Achtzehnten, dann ist es nicht mehr lange. HUINCA Klar, nur daß wir gar nicht darüber reden. EVA Ach ja, ich rede darüber. Immer wenn ein Fest kommt, tut mir noch mehr weh, was ich nie hatte. Pause Aber vielleicht ist es gar nicht wegen dem Achtzehnten, vielleicht ist es wegen einer Sache, die du mir heute morgen erzählt hast. Manchmal geht das so, manche Worte dringen tief ein, dahin, wo man seine eigenen Geheimnisse versteckt hat, und das treibt sie nach draußen... Aber mit dir ist ja nicht viel los, du weißt überhaupt nichts. Was hab ich davon, wenn ich es dir erkläre. HUINCA Verdammich, wozu redest du in einer Geheimsprache, rede klar und deutlich mit mir, damit ich was kapiere. EVA Mich ärgert, daß du, wenn ich mit dir rede, immer so tust, als wüßtest du alles, und dabei hast du keine Ahnung. Du bist genau wie Langfinger Lucho, der rumprahlt, er wäre ehrlich, und dann haben sie ihn als Dieb sogar aus dem Gefängnis rausgeschmissen. HUINCA Also, willst du wieder streiten oder mir Gesellschaft leisten? EVA Keins von beidem. Du bedeutest mir überhaupt nichts. Sie setzt sich aufs Bett. Ich hab nachgedacht. Während ich am Bahnhof stand und auf einen Kunden wartete, hab ich gegrübelt... Das heißt, ich hab nicht überlegt. Der Gedanke ist mir von allein gekommen... Und hat mich so glücklich gemacht... Hast du mal gesehen, wenn ein starker Sturm bläst, wie dann die Fenster auf einmal aufgehen und alles davonfliegt und durcheinanderwirbelt? So hat mich die Freude gepackt bei dem Gedanken, den ich hatte. HUINCA Was für ein Gedanke? EVA Das kann ich dir nicht sagen. Wenn ich ihn schon nicht verstehen kann, wo ich eine Bildung habe, verstehst du ihn erst recht nicht. Du weißt ja nicht mal, wo du bist. Plötzlich hab ich mir gesagt: „Ich steh hier bloß blöde rum, warum gehe ich nicht lieber nach Hause." Verdammich, und als ich gesagt habe: „lieber geh ich nach Hause", bin ich wie festgenagelt stehengeblieben, und ich hatte furchtbar große Lust, was zu tun, ich wußte bloß nicht, was. HUINCA Wieso nicht? Hast du nicht gespürt, was Sache war? EVA Ich war noch nie glücklich, ich weiß nicht, was man mit der Freude anfangen kann. Sie steht auf. Aber kümmer dich nicht um mich, das sind so Ideen, die einen quälen... Also, denkst du immer noch, daß du bald sterben willst?
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HUINCA Nicht sterben, auf die andere Seite gehen. Aber das muß bald sein, weil ich schon ganz kaputt bin. Mir bleiben wohl nur noch ein paar Tage. Wenn ich wüßte, wo diese Stelle ist, gestikuliert würde ich hingehen und warten. Er sieht, daß Eva an den Brettern zerrt, mit denen das Fenster vernagelt ist. Was machst du? EVA Warum haben sie das Fenster verrammelt? HUINCA Was weiß ich. Aber ich rede mit dir! EVA Ich auch, oder glaubst du, ich spiele Klavier? HUINCA lacht Freut mich, daß du gute Laune hast. Aber übertreibe es nicht, paß auf, daß du nicht die Kontrolle verlierst, sei vorsichtig. EVA Ich hab keine gute Laune, sowas kenne ich nicht. Sie zeigt auf das Fenster. Das Problem ist, daß die Leute nicht wissen, was sie haben. Wenn man die Fenster zusperrt, ist das, als würde man den Häusern die Augen zudrücken. HUINCA Und wenn man sich nicht um Kranke kümmert, ist es das gleiche, als würde man sie umbringen. EVA DU bist gar nicht so krank, mir machst du nichts vor. entschlossen Ich breche das Fenster auf. Sie sucht einen Gegenstand, den sie als Brechstange benutzen kann. HUINCA Nein, nicht sowas! Laß es, wie es ist. Das ist nicht dein Haus... Wieso bin ich nicht so krank? EVA Bring mich lieber nicht zum Reden, denk dran, ich hab viel erlebt. Sie findet ein Brett und geht zum Fenster. HUINCA Laß das Dreckzeug in Ruhe! EVA Ich muß es aufkriegen. Misch dich nicht ein. HUINCA Ich will weg, sag ich dir! EVA Hau doch ab. HUINCA zeigt Siehst du nicht, wie geschwollen meine Beine sind? EVA plagt sich Weil du es selber willst. Warum hast du getrunken? HUINCA Weil ich mich nicht wohl fühlen könnte, wenn ich eingesperrt wäre. Wenn man eingesperrt ist, spürt man nicht, wie das Leben einen einlädt, auf seinen Wegen zu wandern. „Eher soll man mich totschlagen, als daß man mich verhaftet." Genau das habe ich gestern dem Bullen gesagt... EVA unterbricht ihr mühseliges Werk Dem Bullen? Was für einem Bullen? HUINCA Einem, der mich abführen wollte. Ich redete gerade mit Don Rafael am Obststand, als die Polente anrückte. Er hat mich verteidigt und gesagt, ich würde ihm helfen, düster Ständig wollen sie mich jetzt einlochen. Und ich tu nichts, ich habe nie jemandem was getan.
Verrückt ind traurig
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EVA Das kommt, weil du soviel rumstreunst. HUINC/ Und was hat das damit zu tun? Weil ich nicht schick angezogen bin, läßt man mich also nicht auf der Straße laufen? Was ist passiert? Was ist passiert, daß das Leben auf einmal so ein Dreck geworden ist? „Ich will dich hier nicht mehr sehen", hat er zu mir gesagr. „Und warum?" habe ich gesagt. „Nein, du machst hier keine lanjen Finger", hat er gesagt, „ich sag es dir nur einmal. Und ich sag es ¿ir einmal und nicht wieder, also, nun weißt du Bescheid"... Ich nehme keinem was weg, das einzige, was ich brauche, ist ein bißchei Luft und ein bißchen Sonne... Das dürfen sie mir nicht verbieten Sie dürfen mich nicht verhaften, bloß weil ich lebe! EVA Dis mußt du denen sagen, was schreist du mich an. Sie müht sich wieler mit dem Fenster ab. HUINC/ Aber merkst du nicht, was Sache ist? Wenn sie mich auf der Stnße sehen, verhaften sie mich, und ich sterbe in einer Zelle, dann stebe ich eingesperrt! Und ich muß im Freien sterben. Darum mußt du nich dahin bringen, damit sie mich nicht allein schnappen und mici einsperren. EVA Uid wie hast du dich aus der Klemme gezogen, als du hergekonmen bist? HUINC/ Ich bin nicht allein gekommen, hergebracht haben mich Señora Sabna und Don Rafael. Er zeigt auf den Beutel und die Flasche. Und sie haben auch gesammelt und Verpflegung gekauft. Sie haben sich mäditig ins Zeug gelegt, um großzügig zu sein... Aber hör endlich mitdem Blödsinn auf und laß das Fenster in Ruhe! EVA ha'tnäckig Nein, ich muß es aufkriegen. Rede nur weiter. Hast du ges