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German Pages 254 Year 2000
TIM WISSMANN
Tarifvertragliehe Gestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 174
Tarifvertragliehe Gestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation Grundlagen und Grenzen der Anpassung gesetzlicher Organisation an veränderte betriebsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen durch Tarifvertrag
Von Dr. Tim Wißmann
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Wißmann, Tim: Tarifvertragliche Gestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation: Grundlagen und Grenzen der Anpassung gesetzlicher Organisation an veränderte betriebsverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen durch Tarifvertrag I von Tim Wißmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 174) Zug!.: Bonn, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-09975-3
Alle Rechte vorbehalten
© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-09975-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Meinen Eltern und der Arbeitsgemeinschaft Mayer - Kuhlmann - Schmucker - Wißmann
Vorwort Die "Tarifvertragliche Gestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation" als eine Form der Flexibilisierung starren Gesetzesrechts und Mittel zur Anpassung von Strukturen und Prozessen der betrieblichen Mitbestimmung an sich stetig ändernde Betriebs- und Unternehmensorganisationen hat erst neuerdings Eingang in die wissenschaftliche Erörterung gefunden. Die vorliegende Abhandlung unternimmt den Versuch, vornehmlich die gegenwärtige einfachgesetzliche Situation zu erörtern und deren verfassungsrechtliche Grundlagen darzustellen und mögliche neue gesetzgeberische Wege aufzuzeigen. Die Arbeit wurde von dem Fachbereich der Rechts- und Staatswissenschaften der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn im Sommersemester 1999 als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im September 1998 abgeschlossen. Teilweise sind jedoch Schrifttum und Rechtsprechung bis Juli 1999 noch berücksichtigt. Zu danken habe ich zunächst meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Herbert Fenn, für seine beständige Förderung und Unterstützung. Als betreuender akademischer Lehrer hat er mein Vorhaben stets interessiert begleitet und mir den notwendigen wissenschaftlichen Freiraum gelassen. Herrn Professor Dr. Meinhard Heinze schulde ich Dank für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens. Ich danke Herrn Dr. Gerd Engels, Ministerialrat und Leiter des Referats Betriebsverfassung im Bundesministerium für Arbeit und SoziaIordnung, für seine vielfliitige Unterstützung, fruchtbare Diskussionen und hilfreiche Anregungen. Bei der Sammlung einschlägigen Materials haben mich Frau Oberamtsrätin Angelika Wascher sowie die Mitarbeiter des Tarifregisters beim Ministerium in geduldiger Weise unterstützt. Frau Katharina Franck, Frau Kirsten Hendricks, Herrn Cedric Mayer, Herrn Marius Müller sowie Herrn Markus Schmucker danke ich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts. Dank schulde ich ferner Herrn Professor Dr. h.c. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme des Werkes in diese Schriftenreihe. Last but not least gilt besonderer Dank meinen Eltern, ohne deren Unterstützung und Ermunterung die Erstellung der Arbeit undenkbar gewesen wäre. Edinburgh, im Juli 1999
Tim Wißmann
Inhaltsverzeichnis Einleitung
19
Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Gang der Untersuchung................................................................
21
1. Kapitel
Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen der tarifautonomen und legislativen Normsetzung im Bereich des organisatorischen Betriebsverfassungsrechts § 1 Normsetzungsrecht der Tarifpartner und gesetzliche Betriebsverfassung
22 23
A. Tarifautonomie und Betriebsverfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
I. Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ............ . .........................
24
11. Bedeutung des § I Abs. I TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .
29
111. Tarifautonome Rechtsetzungsbefugnis und Außenseiterschutz ..............
33
B. Tarifautonomie und staatliche Rechtsetzungsbefugnis ...........................
36
I. Bundesverfassungsgericht ..................................................
37
11. Literatur ...................................................................
41
III. Bewertung und Schlußfolgerung ...........................................
43
C. Die Kodifizierung im Bereich der Organisationsvorschriften des BetrVG .......
46
I. Charakter des Normenkomplexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
11. Zwingende Normierung als Verstoß gegen die tarifautonome Normsetzung?
52
D. Zusammenfassung............... . . . ... . . . . . .. . .. . ... . . . .. . . . . ... . . . . . ... . . . ... .
59
§ 2 Ausnahmetatbestände als Zugang der Tarifpartner zur Organisation der Betriebsverfassung ..................................................................
60
A. Gesetzliche Öffnungsklauseln ohne Zustimmungsvorbehalt ................. . . . .
60
I. Anderweitige Regelung über die Freistellung der Mitglieder des Betriebsrats.........................................................................
61
10
Inhaltsverzeichnis H. Abweichende Regelungen über die Zahl der Mitglieder der übrigen betriebsverfassungsrechtlichen Organe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
III. Tarifliche Schlichtungsstelle und abweichende Vergütungsregelung . . . . . ... .
62
IV. Ergänzende Regelung des Beschwerdeverfahrens ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
V. Errichtung einer Vertretung in Flugbetrieben ................. . ..... . .......
64
B. Die Tarifierungsermächtigung des § 3 BetrVG ....... ... . .. . . . . .. . . . .... . .. . . . . .
65
1. Zusätzliche Vertretungen der Arbeitnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
H. Andere Vertretungen der Arbeitnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
III. Abweichende Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben . . . . . . . . . . .
68
IV. Vorläufige Bilanz ..........................................................
69
C. Exkurs: Die Tarifierungsbefugnis bei Unternehmensumwandlungen (§ 325
Abs. 2 UmwG) .................................................................
70
1. Vorbemerkung ......................................................... . ...
70
H. Normierte Voraussetzungen des § 325 Abs. 2 UmwG .... . ..................
72
I. Voraussetzungen auf Unternehmensebene ...............................
72
2. Spaltung eines Betriebes ................................................
73
3. Verlust von Rechten oder Beteiligungsrechten des Betriebsrats ..........
74
III. Rechtsfolgen ............................................................. . .
77
IV. Befund für § 325 Abs. 2 UmwG ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
§ 3 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen ......................................
80
2. Kapitel
Gesetzlicher Anspruch der Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit § 1 Wertungskriterien der Betriebsverfassung als Zielsetzung der Organisation
84 85
A. Kriterium der Entscheidungsnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
B. Kriterium der Belegschaftsnähe ... . ............................................
87
c.
89
Das Verhältnis der Wertungskriterien zueinander
§ 2 Grundbegriffe der Organisation .................................................
93
A. Betrieb, Nebenbetrieb und Betriebsteil im BetrVG ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
1. Betriebsbegriff .............................................................
94
Inhaltsverzeichnis
ll
11. Einheitlicher Betrieb mehrerer Unternehmen
98
III. Nebenbetrieb und Betriebsteil .............................................. 100
1. Begriff des Betriebsteils ............. . . . . . ............................... 102 a) Untergrenze des Betriebsteils ........................... . . . .......... 103 b) Obergrenze des Betriebsteils ......................................... 105 2. Begriff des Nebenbetriebes ................ ... . . . .. . . .. . . . . . . .. ..... . .. .. 109 B. Unternehmensbegriff im BetrVG ..................... . . . . . . . ... . ...............
114
c.
Konzernbegriff im BetrVG .....................................................
116
D. Schlußfolgerungen ...... . ......................................................
118
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis ........... . .................. . . . .......
119
A. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit ............................. 121
I. Die Untersuchung von Rancke ................ . ............................ 123
11. Bericht der Kommission Mitbestimmung................................... 127 111. Schlußfolgerungen ........ . ..................... . ..... . .......... . ..... . ... 129
B. Tarifvertragliche Vereinbarungen als individuelle Gestaltungsforrn .............. 130
3. Kapitel
GestaItungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
133
§ 1 Kleinbetriebe ..................................................................... 134
A. Rechtliche Grundlagen
135
I. § 3 Abs. 1 BetrVG
136
11. Allgemeine Norrnsetzungsbefugnis ......................................... 137 B. Gestaltungsforrnen ............................................................. 140 § 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen.................. . ........................ 143
A. Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ............................... 144
I. Betriebsbezogene Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 144 1. Zum Begriff "Eigenart" des Betriebes................................... 145
2. Die entgegenstehenden besonderen Schwierigkeiten bei der Errichtung.. 147
12
Inhaltsverzeichnis 11. Betriebs- und unternehmensübergreifende Regelungen ..................... 149 I. Wortsinn ................................................................ 150
2. Bedeutungszusammenhang .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 151 3. Legislative Begründung................................................. 151 4. Teleologischer Norminhalt .............................................. 152 5. Sonstige Gesichtspunkte ............................ . ................... 153 6. Bewertung und Schlußfolgerung .................... . ................ . .. 154 III. Hauptanwendungsfälle ..................................................... 155 I. Betriebliche Besonderheiten. . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . . . .. . . . ... . . .. 156
a) Großbetrieb.......................................................... 157 b) Besondere Belegschaftsstruktur ............................... . ...... 157 c) Ortsungebundene Tatigkeit ........................................... 158 d) Teilzeitbeschäftigung ................................................ 159 e) Rechtsanwendungsschwierigkeiten ................................... 159 2. Besonderheiten in der Unternehmensstruktur ............................ 160 a) Das divisionalisierte Unternehmen ................................... 161 b) Betriebs- und Unternehmensumstrukturierungen ..................... 163 IV. Befund für den Anwendungsbereich ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 B. Ausgestaltung der Vertretung sowie deren rechtliche Qualifikation...... . ....... 168 I. Zwingende Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 168
11. Ausgestaltung des Organs......................... . .......... . ..... . ....... 169 III. Stellung der Mitglieder. . . ... . .. . .. . .. .. .. . .. . .. . ... ... ... ... . . . .. . . . ... . . .. 171
c.
Rechtsfolgen der tarifvertraglichen Regelung ................................... 172 I. Ablösen des Gesetzes durch Tarifvertrag ................................... 172
11. Rückkehr zur gesetzlichen Regelung ....................................... 174 III. Ablösung tariflicher Regelungen ........................................... 176 D. Ergebnis......... . .......................... ... . . . .. . . .. ... ... . . . . . . . . .. . ...... . 176 § 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
A. Anwendungsbereich des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG ............................... 179 I. Die Erleichterung der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
11. ErfaBte Organisationseinheiten ............................................. 181
Inhaltsverzeichnis I. Regelungen in bezug auf Betriebsteile ................................. "
13 181
a) Dezentralisierung .......................... . .......... . .............. 182 b) Zentralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 c) Selbständiger Betriebsteil als Grenze? ...... . . . ... . . ... . .. .. .. . . . . . . . . 184 2. Regelungen in bezug auf Nebenbetriebe ................................. 186 3. Regelungen in bezug auf selbständige Betriebe.......................... 188 a) Abgrenzungsschwierigkeiten ......................................... 190 b) Unternehmenseinbindung als ausreichende organisatorische Verknüpfung ................................................................. 191 c) Entsprechende Anwendung des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG .... . ..... . .. 194 4. Unternehmensübergreifende Regelungen ................................ 197 111. Befund für den Anwendungsbereich .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 B. Rechtsfolgen der tarifvertraglichen Regelungen................................. 200 I. Bisheriges Lösungsmodell
201
11. Tarifliche Betriebsidentität
202
111. Übergangsmandat ........... . .............................................. 203 C. Ergebnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 204 § 4 Kommunikationsorgane ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 205
A. Anwendungsbereich des § 3 Abs. I Nr. I BetrVG ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 206 I. Zweckmäßigere Gestaltung der Zusammenarbeit ............ . . . ............ 207
11. Beschäftigungsarten und Arbeitsbereiche ........... . . . . . . . .. . . . . . . . .... . . .. 208 111. Betriebs- und unternehmensübergreifende Regelungen ..................... 210 IV. Andere zusätzliche betriebsverfassungsrechtJiche Strukturen ........ . ...... 213 I. Vertikale Gremien....................................................... 214
a) Betriebliche Vertrauensleute .................. . ...................... 214 b) Gewerkschaftliche Vertrauensleute................................... 216 2. Horizontale Gremien.................................................... 216 V. Befund für den Anwendungsbereich .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 217 B. Rechtliche Qualifikation und Stellung des Organs und seiner Mitglieder........ 218 I. Organ ...................................................................... 219 I. Stellung gegenüber dem Betriebspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 219
2. Stimm- und Teilnahmerecht an den Sitzungen der regelmäßigen Organe 220 3. Organisation, Geschäftsführung und Wahl ............................... 222
14
Inhaltsverzeichnis 11. Mitglieder.................................................................. 224 111. Amtszeit ......... . ......................................... . ............... 225
C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226 § 5 Die übrigen Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226 § 6 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen ....... . .............................. 227
A. Zusammenfassung...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 227 B. Schlußfolgerungen ............................................. . ............... 229
Gesetzgebungsvorschlag ............................................................. 232
Anhang: Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 237
Literaturverzeichnis ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. 238
Sachregister .......................................................................... 248
Abkürzungsverzeichnis aA aaO. ABI. Abs. a.F. AG AK
anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt Absatz alte Fassung Aktiengesellschaft
AktG
Aktiengesetz
Anm.
Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Arbeitsrechtliche Praxis, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts
AöR AP ArbG ArbGG ArbRdGegw ARS
Alternativkommentar (herausgegeben von Rudolf Wassermann)
Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Das Arbeitsrecht der Gegenwart (ab Bd. 36 (1998J ,Jahrbuch des Arbeitsrechts ') Arbeitsrechtssammlung, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte
Art.
Artikel
Aufl. AuA
Auflage Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift)
AuR BAG BAGE BayPersVG BB Bd. BDA Begr. Beil.
Arbeit und Recht (Zeitschrift) Bundesarbeitsgericht
Bensh. Slg. BetrVG BetrVG 1952 BGB BGBI. BGB-RGRK
Amtliche Sammlung des Bundesarbeitsgerichts (Band, Seite) Bayerisches Personalvertretungsgesetz Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Band Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände Begründung Beilage Bensheimer Sammlung Betriebsverfassungsgesetz 1972 Betriebsverfassungsgesetz 1952 Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Reichsgerichtsräte-Kommentar (herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesgerichtshofs)
16
BGHZ BMA BPersVG BR-Drucks. BRG bspw. BT-Drucks. BUrlG BVerfG BVerfGE bzw. CDU CSU DB DBGrG ders. Diss. E
EBRG EDV EG Ein\. ErfurterKomm EuGH EWG EzA f. ff. Fn. FS GdED GenG GewO GG GK-BetrVG GmbH GmbHG Grund\. GVB\. HAG HBV
Abkürzungsverzeichnis Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Band, Seite) Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Personalvertretungsgesetz des Bundes Drucksache des Deutschen Bundesrates Betriebsrätegesetz von 1920 beispielsweise Drucksache des Deutschen Bundestages Bundesurlaubsgesetz Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) beziehungsweise Christlich-Demokratische Union Christlich-Soziale Union Der Betrieb (Zeitschrift) Deutsche Bahn Gründungsgesetz derselbe, dieselbe Dissertation Entscheidung, amtliche Entscheidungssammlung Gesetz über Europäische Betriebsräte Elektronische Datenverarbeitung Europäische Gemeinschaft Einleitung Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (herausgegeben von Thomas Dieterich u.a.) Europäischer Betriebsrat Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht folgende (Seite, Randnummer, Paragraph) folgende (Seiten, Randnummern, Paragraphen) Fußnote Festschrift, Festgabe Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands Gesetz über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Gewerbeordnung Grundgesetz Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz (herausgegeben von Fritz Fabricius u. a.) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Grundlagen Gesetz- und Verordnungsblatt Heimarbeitsgesetz Handel, Banken und Versicherungen (Gewerkschaft)
Abkürzungsverzeichnis Hervorh.
Hervorhebung
hM
herrschende Meinung
17
HS
Halbsatz
idR iVm
in der Regel
JbArbR
Jahrbuch des Arbeitsrechts (ab Bd. 36 [1998J, vormals ,Das Arbeitsrecht der Gegenwart')
jew.
jeweils
JZ
Juristenzeitung
KapErhG
Kapitalerhöhungsgesetz
KassArbR
Kasseler Handbuch zum Arbeitsrecht (herausgegeben von Wolfgang Leinemann)
KG
Kommanditgesellschaft
in Verbindung mit
KGaA
Kommanditgesellschaft auf Aktien
KR
Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz (herausgegeben von Friedrich Becker u.a.)
krit.
kritisch
KSchG
Kündigungsschutzgesetz
LAG
Landesarbeitsgericht
LAGE
Entscheidungen der Ladesarbeitsgerichte (herausgegeben von Eugen Stahlhacke )
lit.
litera
MitbestG
Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer
Montan-MitbestG
Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie
MünchArbR
Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht (herausgegeben von Reinhard Richardi und Otfried Wlotzke)
MünchKomm
Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (herausgegeben von Kurt Rebmann u.a.)
mwN
mit weiteren Nachweisen
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
Nr.
Nummer
nv.
nicht amtlich veröffentlicht
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
NZA-RR
NZA Rechtsprechungsreport
ÖTV
Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (Gewerkschaft)
OHG
offene Handelsgesellschaft
OLG
Oberlandesgericht
PersVG
Personalvertretungsgesetz
RAG RdA
Reichsarbeitsgericht
RdNr.
Randnummer
2 Wißmann
Recht der Arbeit (Zeitschrift)
18
Abkürzungsverzeichnis
RG
Reichsgericht
RGBI.I
Reichsgesetzblatt Teil I
RGZ
Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rechtsprechung
Rspr.
S. SAE sog. SpTrUG st. Rspr. TVG TVVO
Satz oder Seite Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) sogenannt Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Vermögen ständige Rechtsprechung Tarifvertragsgesetz Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten
u. a.
und andere
UmwBerG
Gesetz zur Bereinigung des Umwandlungsrechts
UmwG VAG Verf. VermG vgl. WirtschaftsGBI. WRV zB ZfA ZIP ZPO
Umwandlungsgesetz Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungs unternehmen Verfasser Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen vergleiche Gesetzblatt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozeßordnung
Einleitung Einführung in die Thematik Der spätere Präsident des Bundesarbeitsgerichts, H. C. Nipperdey, erblickte 1949 in der Möglichkeit tarifvertraglicher Gestaltung der Betriebsverfassung "ein bedeutsames Feld für fruchtbare Arbeit" der Tarifvertragsparteien. 1 Bereits mit Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 sind jedoch die Schnittstellen zwischen Betriebsverfassung und Tarifautonomie in der arbeitsrechtlichen Wissenschaft in den Vordergrund gerückt, die das Verhältnis von Sozialpartnervereinbarungen zu Betriebsvereinbarungen oder die Rechte der Verbände im Betrieb betreffen. Tarifliche Betriebsverfassungsnormen haben nur im Rahmen der Diskussion um die Möglichkeit der Erweiterung von Beteiligungsrechten des Betriebsrates eine zentrale Rolle gespielt. Die Frage, ob und inwieweit Tarifverträge die gesetzlichen Vorgaben der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation abweichend gestalten können, wurde dagegen stets vernachlässigt. Bis vor kurzem haben sich dementsprechend die Auseinandersetzungen zu den Rechtsfragen betriebsorganisatorischer Tarifverträge fast ausschließlich in der Kommentarliteratur abgespielt. Rechtsprechung der Instanzgerichte zu dieser Thematik ist kaum vorhanden, höchstrichterliche Entscheidungen sucht man - von sehr wenigen obiter dicta einmal abgesehen - vergebens. Dies verwundert zunächst, denn das Betriebsverfassungsgesetz selbst formuliert mit § 3 zu Beginn eine auf den ersten Blick ausführliche Bestimmung, weIche sich mit der tarifvertraglichen Gestaltung der Organisation der Betriebsverfassung auseinandersetzt. Hat diese Norm in der juristischen Diskussion vielleicht deswegen bis vor kurzen ein Schattendasein geführt, weil sich die gesetzlichen Organisationsstrukturen im wesentlichen als geeignet erwiesen haben und deshalb eine tarifvertragliche Anpassung gar nicht notwendig ist? Die nicht enden wollende Debatte um den Betriebsbegriff und die Diskussion um eine Anpassung der gesetzlichen Betriebsverfassung an sich ändernde wirtschaftliche Rahmenbedingungen deuten eher auf das Gegenteil hin. 2 Das Betriebsverfassungsgesetz ist 1972 in Kraft getreten und nunmehr über ein Vierteljahrhundert gültig. Es baut - wie schon sein Vorläufer - auf dem Betrieb, 1
Nipperdey, RdA 1949,81 (86).
Vgl. nur Kreßel, AuA 1998, 145 (145 ff.) sowie neuerdings ders., JbArbR Bd. 36 (1998), S. 49 (49 ff.) und Heither, JbArbR Bd. 36 (1998), S. 37 (37 ff.); Däubler, Frankfurter Rundschau vom 13. 11. 1997,S. 12. 2
2"
20
Einleitung
dem Unternehmen als Zusammenfassung mehrerer Betriebe unter unternehmerischer Leitung und dem Konzern als Zusammenfassung mehrerer Unternehmen unter einheitlicher Leitung auf. Dies unterstellt, daß allein diese Ebenen die betriebsverfassungsrechtlich relevanten Operations- und Entscheidungseinheiten darstellen. Allein ihnen sind daher jeweils korrespondierende Mitbestimmungsorgane zugeordnet: Der Betriebsrat, der Gesamtbetriebsrat und der Konzernbetriebsrat. Daneben geht das Gesetz davon aus, daß in einer Einheit - dem Betrieb - die wesentlichen und für die Betriebsverfassung erheblichen Maßnahmen einheitlich entschieden und durchgeführt werden. Damit eine funktionierende Betriebsverfassung gewährleistet ist, wäre es daher erforderlich, daß die Betriebs- und Unternehmenswirklichkeit diesem Leitbild entspricht. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland haben sich jedoch seit Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 entscheidend verändert. Durch Betriebs- und Unternehmensumstrukturierungen werden neue, Entscheidungslinien geschaffen, die fernab von den eigentlichen Produktionseinheiten operieren und unabhängig von den Strukturen der Rechtsträger sind. Genannt seien hier nur die höchst unterschiedlichen Formen divisionalisierter Unternehmen. Zu denken ist ferner an die wegen ihrer Mannigfaltigkeit kaum abschließend aufzählbaren Betriebs- und Unternehmensstrukturen, die im Zusammenhang mit Ausgliederungen, Auf- und Abspaltungen sowie unternehmens- und betriebsübergreifenden Verbindungen entstehen können. Insbesondere der klassische Betriebsbegriff, der sich durch eine einheitliche Leitung definiert, droht an diesen Veränderungen zu scheitern. Gleichwohl blieb das Betriebsverfassungsgesetz von diesen Entwicklungen weitgehend unberührt. Geringfügige Anpassungen im Hinblick auf das gesetzliche Organisationsmodell sind, wie z. B. im Umwandlungsrecht, außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes verankert worden. Haben sich jedoch Organisationsstrukturen herausgebildet, welche nicht mehr dem gesetzlichen "Einheitsmodell" des Betriebsverfassungsgesetzes entsprechen, droht die betriebliche Mitbestimmung in den für sie fremden Strukturen leerzulaufen. Der Betriebsrat wird zum Organ, das seine Ansprechpartner nicht mehr findet, die Beteiligungsrechte werden zur leeren Hülse. Der gänzliche Verzicht auf eine betriebliche Interessenvertretung ist unter diesen Umständen naheliegend. Vor diesem Hintergrund drängt sich zwangsläufig die Frage auf, inwieweit das gesetzliche Organisationsmodell durch Tarifvertrag einer individuellen Anpassung an vorhandene Gegebenheiten des Einzelfalls zugänglich ist. Der Betrieb selbst als klassischer Anknüpfungspunkt der betrieblichen Mitbestimmung bildet dabei den Mittelpunkt. Wie auch die übrige Betriebsverfassung steht § 3 BetrVG nach über 25 Jahren auf dem Prüfstand neu entstandener Betriebs- und Unternehmensformen sowie veränderter betriebsverfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen. Die Kommission Mitbestimmung 3 hat Mitte 1998 einen umfassenden Bericht zur gegenwärtigen Situation der Mitbestimmung vorgelegt und dabei mögliche Per-
Einleitung
21
spektiven aufgezeigt. Zu den Forderungen der Kommissionsmitglieder gehört es unter anderem, die Mitbestimmung mehr als bisher Verhandlungslösungen zu öffnen. Der Schwerpunkt wird dabei in der tariflichen Gestaltung der Struktur und Arbeitsweise der Mitbestimmungsorgane gesehen. 4 Im Vordergrund der hiesigen Untersuchung steht jedoch zunächst die Frage, was de lege lata der tarifautonomen Normierung und damit innerhalb des gesetzlichen Organisationsrechts einer individuellen Anpassung zugänglich ist. Erst anschließend kann beantwortet werden, ob das Verhältnis tarifautonomer Gestaltung zur betriebsverfassungsrechtlichen Organisation einer Neubestimmung bedarf.
Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt im 1. Kapitel mit der Klärung des arbeitsverfassungsrechtlichen Grundproblems der jeweiligen Reichweite gesetzlicher und tarifautonomer Regelungsmacht auf dem Gebiet der Betriebsverfassung. Dies ist erforderlich, um zu beantworten, ob sich der Umfang der Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien auf die durch § 3 BetrVG zugewiesenen Bereiche beschränkt oder ob auch verfassungsrechtliche Kompetenzzuweisungen eine Rolle spielen. Das folgende 2. Kapitel legt zunächst die Wertungskriterien der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation und darauf aufbauend die gesetzlichen Grundbegriffe der Organisation auch im Hinblick auf die Öffnungsklauseln dar. Im Anschluß daran setzt sich die Untersuchung mit einem Blick auf die Betriebs- und Unternehmenspraxis fort. Dieser soll den Umgang der Praxis mit dem Organisationsrecht aufzeigen und etwaige Defizite verdeutlichen. Das Kapitel schließt mit grundsätzlichen Erwägungen zu tarifvertraglichen Regelungen als individueller Gestaltungsform in bezug auf die betriebsverfassungsrechtliche Organisation. Das 3. Kapitel bildet den Hauptteil und ermittelt die Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifpartner insbesondere in bezug auf § 3 BetrVG. Daneben werden die Rechtsfolgen tarifvertraglicher Regelungen erörtert. Die Untersuchung schließt mit einem Gesetzesvorschlag zur Änderung des § 3 BetrVG.
3 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue UnternehmenskuIturen - Bilanz und Perspektiven (1998). Siehe dazu Streek, JbArbR Bd. 36 (1998), S. 21 (21 ff.). 4 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 115.
1. Kapitel
Verfassungs rechtliche und gesetzliche Grundlagen der tarifautonomen und legislativen Normsetzung im Bereich des organisatorischen Betriebsverfassungsrechts Das Grundgesetz nennt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG die Betriebsverfassung ausdrücklich als Gegenstand konkurrierender Gesetzgebung. Der staatliche Gesetzgeber hat hiervon Gebrauch gemacht und mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1972 eine umfassende gesetzliche Grundlage zur Betriebsverfassung geschaffen. Die hoheitliche Normierung dieses elementaren Teilbereichs des kollektiven Arbeitsrechts hat eine lange Tradition. Das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 markiert den Einstieg des demokratischen Gesetzgebers in diese Materie. Mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10. April 1946 gab es frühzeitig nach dem Kriege eine gesetzliche Basis für die Beteiligung der Arbeitnehmerschaft innerhalb der Betriebsverfassung. Die erste Kodifizierung auf Bundesebene erfolgte bereits 1952. Gleichzeitig können betriebsverfassungsrechtliche Fragen jedoch durch die Rechtsnormen eines Tarifvertrages geordnet werden. So jedenfalls formuliert es § 1 Abs. 1 TVG. Zu dieser einfachgesetzlichen Bestimmung über den möglichen Inhalt eines Tarifvertrages tritt die in Art. 9 Abs. 3 GG grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit hinzu, deren Bestandteil nach allgemeiner Auffassung auch die Tarifautonomie ist. Nach § 3 Abs. 1 BetrVG können die Koalitionen durch zustimmungsbedürftigen Tarifvertrag zusätzliche oder andersartige betriebsverfassungsrechtliche Vertretungen schaffen sowie die Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben anders bestimmen, als dies im BetrVG vorgesehen ist. An nicht wenigen weiteren Stellen verweist das BetrVG auf die mögliche Gestaltung durch Tarifvertrag. Die Pluralität der Grundlagen einer möglichen Normsetzung macht deutlich, daß die Klärung einer möglichen Reichweite tariflicher Bestimmungen zur Betriebsverfassung zunächst die Klärung des Rangverhältnisses erfordert. Die Bestimmung der Grenzen der tarifautonomen Gestaltung des betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrechts stößt damit zunächst auf die Frage des Verhältnisses und der möglichen Reichweite gesetzlicher und tarifautonomer Regelungsmacht auf dem Gebiet der Betriebsverfassung.
§ I Normsetzungsrecht der Tarifpartner
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§ 1 Normsetzungsrecht der Tarifpartner und gesetzliche Betriebsverfassung Die Tatsache, daß das BetrVG an einigen Stellen in Verbindung mit bestimmten Tatbeständen ausdrücklich auf den Tarifvertrag verweist, legt den Schluß nahe, daß im übrigen die Organisation der Betriebsverfassung tariflicher Regelungskompetenz entzogen ist. Würde man nämlich eine umfassende Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien für sämtliche Normenbereiche des Betriebsverfassungsrechts annehmen, so machten Bestimmungen wie die des § 3 BetrVG keinen Sinn. Damit bleibt gleichwohl unbeantwortet, welche Position § 1 Abs. 1 TVG einnimmt, der eine solche Beschränkung nicht erkennen läßt, und insbesondere, inwieweit der Verfassungsrang der Koalitionsfreiheit eine Betätigung im Bereich der Betriebsverfassung in besonderem Maße gewährleistet. Will man die Prämisse einer im Grundsatz unabänderbaren Kodifikation der Betriebsverfassung durch das BetrVG voranstellen, so ergibt sich die Frage nach dem zwingenden Charakter des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts und dementsprechend nach dem Verhältnis zwischen Tarifautonomie und gesetzlicher Betriebsverfassung. Für die Bestimmung der tarifautonomen Rege\ungskompetenzen im Bereich der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation kann daraus die Erkenntnis gezogen werden, ob und inwieweit das Gesetz selbst - sprich das BetrVG - allein Quelle und Begrenzung der Normsetzungsmacht der Tarifpartner ist oder ob verfassungsrechtliche und sonstige Erwägungen bei der Grenzziehung eine Rolle spielen müssen. Bevor man also einen Blick auf die Regelungskompetenzen wirft, die das BetrVG selbst den Tarifvertragsparteien an die Hand gibt, muß man sich mithin die Kemstrukturen des Überschneidungsbereiches zwischen gesetzlicher und tariflicher Betriebsverfassung vor Augen führen. Der Blick auf die Kemstrukturen bringt dabei den Blick auf die Verfassung mit sich.
A. Tarifautonomie und Betriebsverfassung Zur Betätigungsfreiheit der Koalitionen gehört als Teil der funktionstypischen Koalitionsbetätigung die Tarifautonomie. 1 Dies wird auch ungeachtet der Tatsache angenommen, daß Art. 9 Abs. 3 GG anders als Art. 165 WRV die Vereinbarungen
=
I BVerfG 18. 11. 1954 AP Nr. I zu Art. 9 GG E 4,96 (grundlegend); 26. 06. 1991 AP Nr. 117 zu Art. 9 GG Arbeitskampf unter C I la; MünchArbR-Löwisch § 239 RdNr. 40; Dreier-Bauer, GG Art. 9 RdNr. 78; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz. GG Art. 9 RdNr. 299 ff. mwN.; vgl. Henssler, ZfA 1998, I (3 f.. 13); Reuter, RdA 1991, 193 (201) mwN.; Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen nach deutschem Recht, S. 16 f. Allgemein hierzu Säcker I Zander-Müller, Mitbestimmung und Effizienz. S. 427 ff., 430 f.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
der Koalitionen nicht nennt. 2 Damit ist die Tarifautonomie ein Teil der Betätigungsfreiheit, soweit sich diese auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bezieht. 3 Aus der Autonomie folgt die Ermächtigung der Tarifvertragsparteien, im Rahmen dieses Rechts mit dem Instrument des Tarifvertrages verbindliche Regelungen zu treffen. 4 Dementsprechend ist der verfassungsrechtliche Schutz der tarifautonomen Regelungsbefugnis aber auf die Gegenstände begrenzt, die unter das Begriffspaar der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen fallen. 5 Das Begriffspaar des Art. 9 Abs. 3 GG ist damit zugleich Gegenstand und Begrenzung der verfassungsrechtlich geschützten tarifautonomen Gestaltungs- und Betätigungsfreiheit.
I. Arbeits- und Wh"tschaftsbedingungen
Der von Art. 9 Abs. 3 GG bestimmte Kompetenzbereich der Koalitionen erstreckt sich gleichfalls auf die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen, wenn die Betriebsverfassung als Gegenstand der "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" verstanden werden muß. Forsthoff zu folge sind die Tarifvertragsparteien auf die Regelung der unmittelbaren Lohn- und Arbeitsbedingungen beschränkt.6 Damit wird der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG offenbar so verstanden, daß die Gewerkschaften als Koalition der Arbeitnehmer die ,,Arbeits bedingungen" ihrer Mitglieder zu "fördern" versuchen, während es das Ziel des tarifrechtIichen Gegenübers ist, die "Wirtschaftsbedingungen" aus der Sicht des Unternehmers zu wahren. 7 Die Nennung der "Wirtschaftsbedingungen", so Zöllner, diene der KlarsteIlung und solle nur zum Ausdruck bringen, daß die Arbeitsbedingungen aus der Sicht der Unternehmen "gleichsam ( ... ) Kehrseite" der Wirtschaftsbedingungen seien. 8 Was für die Gewerkschaft die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder sind, erscheint aus dem Blickwinkel der von den Arbeitgeberverbänden repräsentierten Unternehmen als deren Wirtschaftsbedingungen. In der Sache decken sich folglich die Ansätze von Zöllner und Forsthoff: Das Begriffspaar ,,Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" in Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht anders als das im 19. Jahrhundert in § 152 Gewerbeordnung verwendete Begriffspaar "Lohn- und Arbeitsbedingungen,,9 zu verstehen. Bei einem derartigen MünchArbR-Löwisch § 239 RdNr. 40. BVerfGE 84, 212 (224). 4 BVerfGE 58, 233 (246); 50, 290 (367) mwN. 5 BVerfGE 44,322 (349); 19,303 (312); Söllner, ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (27); vgI. auch Badura, ArbRdGegw Bd. 15 (1977), S. 17 (27) und Dieterich. FS-Schaub, S. 117 (126). 6 Forstlwff. BB 1965,381 (385). 7 VgI. dazu Söllner, ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (19). 8 Zöllner / Loritz. Arbeitsrecht § 8 III 1. 2
3
§ I Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner
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Verständnis der tarifvertraglichen Betätigungsfreiheit der Koalitionen stellt sich die Frage, ob die Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Bereiche noch zu der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie zu zählen ist. Die Betriebsverfassung regelt als Ausschnitt aus dem Bereich Wirtschaft und Arbeit die Mitwirkung der Belegschaft bei innerbetrieblichen Angelegenheiten. 10 Ein nicht unerheblicher Teil der betriebsverfassungsrechtlichen Gestaltungsbereiche bezieht sich dabei auf die Arbeitsbedingungen. Dies gilt insbesondere etwa für die Mitbestimmung in personellen und sozialen Angelegenheiten und bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsablaufes, die der Gesetzgeber im vierten und fünften Abschnitt des BetrVG verwirklicht hat. Zur Betriebsverfassung gehören aber desgleichen die betriebliche Ordnung und Organisation sowie die Beteiligung der Belegschaft in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Diese Bereiche ergeben das Gesamtbild der Betriebsverfassung erst aus ihrem Zusammenwirken und sind insofern, sich gegenseitig bedingend, nicht im einzelnen ablösbar. Damit ist aber die Gesamtheit der Betriebsverfassung nicht unter den Begriff der Arbeitsbedingungen subsumierbar, sondern bezieht sich auch auf Wirtschafts bedingungen. II Dies gilt um so mehr, wenn man die Tarifautonomie nur auf die unmittelbaren Arbeitsbedingungen beschränktP Die herrschende Meinung in der Literatur geht bei der Beurteilung des Begriffspaares "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" von einem anderen Ansatz aus. So werden die beiden Begriffe nicht alternativ, sondern kumulativ verstanden. 13 Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit knüpft damit zwar an die historische Entwicklung des kollektiven Arbeitsrechts an, löst sich aber, wie bereits Art. 159 der WRV,14 von der ursprünglichen Formulierung in § 152 der Gewerbeordnung von 1869, indem es neben die Arbeits- auch die Wirtschaftsbedingungen setzt. Vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG wird demgemäß die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird, umfaßt. 15 Da mit diesem Verständnis 9 § 152 I der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. 06. 1869 lautete: ,,Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabreden und Vereinigungen zum Behufe günstiger Lohnund Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter werden aufgehoben."; vgl. dazu Söllner; ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (20); Forsthoff, BB 1965, 381 (385). 10 MünchArbR-v.Hoyningen-Huene, § 289 RdNr. 4. 11 So auch im Ergebnis, aber ohne Begründung Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 34. 12 So Forslhoff, BB 1965, S. 381 (385). 13 Bonner Kommentar-v.Münch, GG Art. 9 RdNr. 123; Beuthien, ZfA 1984, I (11); Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 9 RdNr. 257; Söllner; ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (23 ff.); Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 34. 14 In Art. 159 WRV wurde erstmals das Begriffspaar der "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" verwandt. Dieser Fonnulierung folgten nach 1945 einige Länderverfassungen; vgl. Verfassung von Bayern (Art. 170 I), von Rheinland-Pfalz (Art. 66 I), von Bremen (Art. 48) und des Saarlandes (Art. 56).
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
die Wirtschaftsbedingungen Bestandteil der Koalitionsfreiheit sind, lassen sich auch Bereiche, die unternehmerische Belange berühren, grundsätzlich unter das Begriffspaar fassen. Die Betriebsverfassung wiederum bezieht sich als arbeitsrechtliche Grundordnung 16 auf die betriebliche Ordnung und Organisation, wobei Anknüpfungspunkt das Verhältnis ist, unter dem die abhängige Arbeit geleistet wird. 17 Dies gilt auch, wenn man mit einer engen Auslegung des Begriffes "Wirtschaftsbedingungen" , die Bedingungen ausklammert, die nicht auf den sozialen Gegenspieler bezogen sind. 18 Die Betriebsverfassung regelt gerade einen Teil des Verhältnisses zwischen Belegschaft und Unternehmer, also der sozialen Gegenspieler auf Betriebsebene. Deutlich wird dies um so mehr, wenn man von dessen Konzeption als Arbeitnehmerschutzrecht ausgeht. 19 Mit dieser Interpretation des Begriffspaares ist die Betriebsverfassung also ein grundsätzlich von der in Art. 9 Abs. 3 GG begründeten Tarifautonomie erfaßter Regelungsbereich. 2o Das Bundesverfassungsgericht hat nur angedeutet, was unter Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG zu verstehen iSt. 21 Wiederholt hat es die "sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens" als Zweck der Koalitionsfreiheit bezeichnet,22 indessen ohne näher darzulegen, was darunter zu verstehen ist. Ausdrücklich hat es später ausgeführt, daß der Staat den Tarifvertragsparteien die "Bestimmung über alle regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrages" überlassen habe?3 Eine Beschränkung der Normsetzungsbefugnis auf das Individualarbeitsrecht oder den Arbeitsvertrag kann wegen der beispielhaften Art hierin jedoch nicht gesehen werden. 24 Für die Frage einer tarifautonomen Regelungsbefugnis der Betriebsverfassung nicht viel aufschlußreicher 25 ist eine Entscheidung aus dem 15 Grundlegend Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I1I, Art. 159 S. 397 f.; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 39 ff.; Badura, ArbRdGegw Bd. 15 (1977), S. 17 (27); Beuthien, ZfA 1984, I (1\); Söllner, ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (23 ff.); Sachs-Höfling, GG Art. 9 RdNr. 87; Dreier-Bauer, GG Art. 9 RdNr. 70; MünchArbR-Löwisch, § 236 RdNr. I; zu den einzelnen Differenzierungen Söllner, aaO. S. 20. 16 MünchArbR-v.Hoyningen-Huene, § 289 RdNr. 4. 17 Nach Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 79 f. liegt die notwendige Verknüpfung mit der "abhängigen Arbeitsleistung" darin, daß durch die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte die ObjektsteIlung des Arbeitnehmers im arbeitsteiligen Produktionsprozeß abgemildert werden soll. 18 So Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 6 11 I b) (I) mwN. 19 Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § I RdNr. 1. 20 So auch ausdrücklich Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 101. 21 Vgl. dazu Seiter, AöR 109 (1984), S. 88 (120); Wiedemann-Wiedemann, TVG Einl. RdNr. 95 jeweils mit Rechtsprechungsübersicht sowie Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 30. 22 V gl. etwa BVerfGE 4, 96 (107); 18, 18 (28); 20, 312 (317); 50, 290 (367). 23 BVerfGE 34,307 (316) =AP Nr. 7 zu § 19 HAG. 24 So auch Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 31.
§ I Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner
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Jahre 1965,26 welche sich auf das Personalvertretungswesen, also einen Bereich der kollektiven Arbeitsordnung, bezieht: " ... so dient auch die Tatigkeit der Gewerkschaften im Personalvertretungswesen, der Wahrung und Förderungen der Dienstbedingungen. ( ... ) Art. 9 Abs. 3 GG unterscheidet nicht danach, ob die Koalitionen es unternehmen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unmittelbar oder mittelbar zu wahren und zu fördern." (E 19, 303 [313]).
Im Ergebnis hält das Gericht fest, daß Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen und ihren Mitgliedern das Recht gewährleiste, sich im Bereich der Personalvertretung zu betätigen. Zu dieser Betätigungsfreiheit gehöre "auch die Werbung vor Personalratswahlen".27 Rückschlüsse auf eine Normsetzungsbefugnis im Personalvertretungswesen lassen sich hieraus jedoch nicht ohne weiteres ziehen, da die Entscheidung im Kern nur den Zugang der Gewerkschaft im Betriebsbereich des öffentlichen Dienstes betrifft. 28 Gegenstand der Entscheidung ist die Frage, ob die Verfassungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG auch Betätigungen der Koalitionen schützt, die auf andere Weise als durch den Abschluß von Tarifverträgen die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wahren und fördern sollen. So können Konsequenzen für eine Normsetzungsbejugnis im Bereich der Personalvertretung oder Betriebsverfassung dieser Entscheidung nicht entnommen werden, sondern lediglich der Mitgliederwerbung entsprechende Rechte der Verbände in der Betriebsverfassung. 29 Diese Rechte betreffen aber nicht die Tarifautonomie, sondern lediglich die Koalitionsfreiheit, deren Schutzbereich nicht notwendigerweise gleich ge faßt ist. 30 Überdies besteht im Bereich des Personalvertretungsrechts wegen § 3 und § 97 BPersVG wenigstens nach gesetzgeberischer Wertung keine Gestaltungsbefugnis der Tarifparteien, so daß das BVerfG mit den von ihm angesprochenen personalvertretungsrechtlichen Befugnissen keine personalvertretungsrechtliche Normsetzungsbefugnis gemeint haben kann, wenn es sich mit § 78 Abs. 1 und § 92 PersVG 1955 31 nicht auseinandersetzt. Dies läßt gleichwohl nicht den Umkehrschluß zu, die Tarifautonomie erstrecke sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf die Betriebsverfassung. Vielmehr war dies lediglich noch nicht Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Stellungnahme. Mit Söllner32 und Säcker33 läßt sich 25 Vgl. dagegen Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 31 sowie Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 75, welche dieser Entscheidung wesentliche Bedeutung beimessen. 26 BVerfGE 19,303 =AP Nr. 7 zu Art. 9 GG. 27 BVerfGE 19, 303 (312). 28 Insofern eine andere Beurteilung bei Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 31 f. 29 So im Ergebnis auch Schwarze. Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 67 u. 89. 30 Dies verkennt Meier-Krenz. wie vor. 31 § 78 Abs. I PersVG 1955 entspricht § 3 BPersVG 1974, § 92 PersVG 1955 entspricht § 97 BPersVG 1974. 32 Söllner, ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (26).
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
dieser Entscheidung aber zumindest eine Absage an die restriktive Interpretation der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne der "Lohn- und Arbeitsbedingungen" entnehmen, wenn das Gericht eine Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Arbeitsbedingungen ausdrücklich ablehnt. 34 Daneben ergibt sich aus dem Gesamtbild der Entscheidungen desgleichen nicht etwa, daß das Gericht an (irgend)einer Betätigungsgarantie auch im Bereich der Betriebsverfassung zweifeln würde. In der Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz von 1976 erkennt es in einem obiter dictum eine Betätigungsgarantie der Koalitionen im Bereich der Betriebsverfassung an, ohne jedoch ausdrücklich darauf einzugehen, weiche Betätigungsformen es meint, da nur von einem "Kern bereich der Koalitionsbetätigung" die Rede ist. 35 Da aber ebenfalls die tarifautonome Rechtsetzungsbefugnis Teil der Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG ist, kann hierfür nichts anderes gelten. Bereits wenn man den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG betrachtet, muß bezweifelt werden, daß der Verfass'lllgsgeber mit Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nur zwei Seiten ein und desselben Phänomens, je aus Sicht der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite darstellen wollte. Da dann auch das Begriffspaar "Wahrung und Förderung" notwendigerweise in einer parallelen Beziehung zu den "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" stehen müßte, würden die Arbeitnehmerverbände nur die ,,Arbeitsbedingungen zu wahren" und die Arbeitgeberkoalitionen nur die "Wirtschaftsbedingungen zu fördern" versuchen. 36 Betrachtet man die Praxis der Tarifverhandlungen, so ist die Zielsetzung der Verhandlungspartner aber je nach wirtschaftlicher Entwicklung und Tendenz unterschiedlich, also in beide Richtungen denkbar. Damit jedoch bleibt letztlich nur die Interpretation, daß beide Begriffspaare erst in ihrer Gesamtheit eine sinnvolle Bedeutung erfahren und als funktionale Verknüpfung zu begreifen sind. Daneben kann die Parallele zu der Formulierung in § 152 Abs. 1 GewO - "Lohn- und Arbeitsbedingungen" - kaum gezogen werden, da der Verfassungsgeber der Weimarer Reichsverfassung 1918 diese Formulierung gerade nicht übernommen hat. Damit wurde offensichtlich eine Erweiterung bezweckt,37 die dann vom Grundgesetzgeber beibehalten wurde. Gegen eine Begrenzung des Doppelbegriffes der "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" auf einen Einzelbegriff der "Arbeitsbedingungen" spricht zudem ein verfassungssystematisches Argument. Das Grundgesetz trennt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG zwischen dem Recht der Wirtschaft und dem Arbeitsrecht. Auch im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen geht es inhaltlich um Normsetzungsbefugnisse. Das gleiche gilt - zumindest auch - für Art. 9 Abs. 3 GG, dessen inhaltlicher BeSäcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 59 bei Fn. 104. BVerfGE 19, 303 (313), siehe Zitat im Text. 35 BVerfGE 50,290 (372). Vgl. dazu SäckerlOetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 78 f. 36 Ähnlich in der Argumentation Söllner, ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (23). 37 Vgl. Badura. ArbRdGegw Bd. 15 (1977), S. 17 (27); Gamillscheg. Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 6 11 1 a). 33
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§ 1 Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner
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reich mit der Koalitionsfreiheit als deren Kern die Tarifautonomie, also auch die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis, zum Gegenstand hat. Damit sind diese Normen vergleichbar, woraus sich für die Auslegung des Begriffspaares ergeben muß, daß jeder einzelne Begriff einen eigenen Sinngehalt hat und eine gewisse Kombination beider Bereiche gewollt ist. 38 Ansonsten müßte man dem Verfassungsgeber unterstellen, nur in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG dem Begriff Wirtschaft einen eigenen Sinn- und Regelungsgehalt gegeben zu haben. Mit der herrschenden Meinung 39 ist daher davon auszugehen, daß vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG die Gesamtheit der Bedingungen um faßt ist, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird. Hierzu gehört jedoch ebenfalls, wie oben dargestellt, die Betriebsverfassung als Gegenstand der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Der von Art. 9 Abs. 3 GG bestimmte Tarifierungsbereich erstreckt sich mithin grundsätzlich auf die Materie der Betriebsverfassung.
11. Bedeutung des § 1 Abs. 1 TVG Gleichfalls § 1 Abs. 1 TVG ermächtigt die Tarifvertragsparteien ausdrücklich zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen. Zu dieser Materie gehört nach allgemeinem Verständnis die Gesamtheit der Regeln über die Rechtsstellung der Arbeitnehmerschaft im Betrieb, einschließlich ihrer Organe, ihrer Rechte und Pflichten und ihre Stellung gegenüber dem Arbeitgeber. 4o Um faßt davon ist damit auch die Organisation der Betriebsverfassung. 41 Auch unter Geltung der TVV042 - zur Weimarer Zeit - konnten Vorschriften zur Betriebsverfassung vereinbart werden; diese hatten hingegen seinerzeit nur schuldrechtliche Wirkung. 43 Das TVG hat mit § 1 Abs. 1 nunmehr diesem Regelungskomplex normative Wirkung zugewiesen. Nach § 3 Abs. 2 TVG sind betriebsverfassungsrechtliche Normen daneben Kempen/Zachert, TVG Grundl. RdNr. 96. Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. m, Art. 159 S. 397 f.; Badura, ArbRdGegw Bd. 15 (1977), S. 17 (27); Beuthien, ZfA 1984, 1 (11); Söllner, ArbRdGegw Bd. 16 (1978), S. 19 (23 ff.); Sachs-Höfling, GG Art. 9 RdNr. 87; Dreier-Bauer, GG Art. 9 RdNr. 70; MünchArbR-wwisch, § 236 RdNr. 1; zu den einzelnen Differenzierungen Söllner, aaO. S. 20. 40 Wiedemann-Wiedemann, TVG § I RdNr.587. 41 wwisch/Rieble, TVG § I RdNr. 100. 42 Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und AngesteIltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsrechtsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918, RGBI. I S. 1456. 43 Die nonnative Wirkung betraf nach § I Abs. I S. I TVVO nur solche Bestimmungen, die sich auf den Inhalt des Arbeitsvertrages bezogen; vgl. Wiedemann- Wiedemann, TVG § 1 RdNr. 588; Gamillscheg, KoIlektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 2,5 b) (5) S. 115; Hueck/Nipperdey, Bd. 11, S. 216 f.; MünchArbR-vHoyningen-Huene, § 289, RdNr. 47; Krummei, Die Geschichte des Unabdingbarkeitsgrundsatzes und des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht, S. 66 ff.; Spilger, TarifvertragJiches Betriebsverfassungsrecht, S. 69 f.; vgl. auch BAGE 2, 165 (168 f.). 38 39
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
insoweit koalitionsunabhängig, als sie für den ganzen Betrieb gelten, soweit nur der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Die ausdrückliche Ermächtigung der Koalitionen in § I Abs. I TVG zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Materien durch Tarifverträge erklärt sich aus dem historischen Zusammenhang. 44 Das TVG wurde mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und Art. 125 Nr. I GG im ehemaligen Vereinigten Wirtschaftsgebiet, also den Ländern der amerikanischen und britischen Zone, Bundesrecht; in der französischen Zone 45 1953.46 Es ist auf das Gesetz Nr. 68 des Wirtschaftsrates vom 9. April 194947 zurückzuführen und löste so mittelbar die TVVO, welche während des Nationalsozialismus nicht galt,48 ab. Zum Zeitpunkt der Entstehung des TVG war eine einheitliche Kodifizierung des Betriebsverfassungrechts jedoch nicht vorhanden. Das Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10. April 1946 über Betriebsräte49 ermöglichte zwar die Errichtung von Betriebsräten und galt zudem für ganz Deutschland, stellte aber ansonsten nur ein Rahmengesetz dar. 5o Die tarifliche Ausgestaltung der Betriebsverfassung wurde daher als Möglichkeit gesehen, diese Materie näher zu kodifizieren. 51 Die Tarifvertragsparteien sollten in die Lage versetzt werden, die Angelegenheiten der Betriebsverfassung in eigener Verantwortung erschöpfend zu regeln. 52 Diese Ermächtigung wurde auch nicht etwa später bei Verabschiedung der einheitlichen Kodifikationen der Betriebsverfassung durch die Gesetze von 195253 und 197254 in der Weise zurückgenommen, daß dieser Passus aus § I Abs. I TVG gestrichen worden wäre. 55 Daß für eine tarifliche Normsetzungsbefugnis im Betriebsverfassungsrecht auch nach diesen Kodifikationen ein Mindestraum zur Ver-
44 Zur Geschichte des tarifvertragJichen Betriebsverfassungsrechts vgl. Spilger, TarifvertragJiches Betriebsverfassungsrecht, S. 60 ff. 45 Das in der französischen Zone geltende Landestarifrecht wurde mit der Erstreckung des TVG durch Gesetz v. 23. 04. 1953 (BGBI. 1953 I S. 156) abgelöst. 46 Im Saarland trat das TVG am 6.07. 1959 in Kraft (G. v. 30. 06. 1959, BGBI. I S. 361), in BerIin (West) wurde das TVG für Großberlin v. 12. 09. 1950 (GVBI. S. 417) erst 1975 durch das TVG abgelöst (§ 12b TVG). 47 WirtschaftsGBI. 1949 S. 55. 48 Die TVVO wurde durch § 65 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG) vom 20. 01. 1934 aufgehoben. Vgl. Gamillseheg. Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 2, 6.
S.124.
Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland, S. 133 ff. MünchArbR-vHoyningen-Huene. § 289 RdNr. 50; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG Einl. S. 55; GK-BetrVG-Wiese. Einl. RdNr. 17. 51 Nipperdey. RdA 1949.81 (86): "eröffnet sich ( ... ) hier der Tarifautonomie der Verbände ein bedeutsames Feld für fruchtbare Arbeit". 52 Hersehel. ZfA 1973. 183 (187). 53 BetrVG 1952 v. 11. 10. 1952 (BGBI. I S. 681 ff.). 54 BetrVG 1972 v. 15.01. 1972 (BGBI. I S. 13 ff.). 55 V gl. dazu Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten. S. 38. 49
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fügung steht und ein solches Bedürfnis besteht, zeigen schon allein die Öffnungsklauseln 56 im gesetzlichen Betriebsverfassungsrecht. 57 Grundlage der Normsetzungsmacht der Koalitionen ist nach der sog. Delegationstheorie 58 § 1 Abs. 1 TVG selbst, also durch Rechtsetzung (TVG) vom Staat abgeleitete Macht. Der Gesetzgeber habe mit dem TVG von seiner Ausgestaltungsbefugnis Gebrauch gemacht, so daß er durch dieses Gesetz auch die Grenzen tariflicher Regelungsmacht im einzelnen bestimmen könne. 59 Insoweit sei die Aufzählung in § 1 Abs. 1 TVG abschließend zu verstehen. 60 Nach der sog. Integrationstheorie 61 ist die Legitimation der tarifautonomen Rechtsetzungsmacht in Art. 9 Abs. 3 GG selbst zu suchen. Für die Bestimmung von Umfang und Grenzen der tariflichen Regelungsmacht sei damit auf Art. 9 Abs. 3 GG zurückzugreifen;62 § 1 Abs. 1 TVG müsse sich daher an ihm messen lassen. 63 Um von einer Delegation staatlicher Macht sprechen zu können, wäre es erforderlich, daß es sich bei der Normsetzung im Arbeitsrecht um eine im verfassungsrechtlichen Sinne alleinige Aufgabe des Staates handelte. Denn bei der Delegation geht es um die Übertragung der Zuständigkeit zur Erledigung einer Aufgabe, die eine Institution des Staates hat, auf eine andere Stelle. 64 Diese Form der Delega-
56 §§ 38 Abs. 1,47 Abs. 4, 55 Abs. 4, 72 Abs. 4, 76 Abs. 8, 76a Abs. 5, 86 und 117 Abs. 2 S. I sowie § 3 Abs. I BetrVG und § 117 Abs. 2 S. 2 als zustimmungsabhängige Öffnungsklauseln. 57 V gl. Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 25 f.; näher zu diesen unten im 3. Kapitel. 58 BAGE 1,258 (262); 4, 240 (250); 59, 217 (221); [vgl. aber anders mit einem obiter dictum BAG AP Nr. 56 zu Art. 9 GG]; MünchArbR-Löwisch, § 239 RdNr. 42 ff.; WiedemannWiedemann, TVG § 1 RdNr. 39 ff., 43 ff. der jedoch einen Rückgriff auf die Generalklausel der ,,Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" verlangt, s. Einl. RdNr. 95; HuecklNipperdey, Bd. II S. 346 ff.; Peters lOssenbühl, Die Übertragung von öffentlich-rechtlichen Befugnissen auf die Sozialpartner, S. 13 ff.; SäckerlOetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 100 ff. 59 SäckerlOetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 102; MünchArbR-Löwisch, § 239 RdNr. 44. 60 MünchArbR-Löwisch, § 239 RdNr. 43. 61 Misera, Tarifrnacht und Individualbereich, S. 20 ff.; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 103 f.; Weber, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem, S. 24; Kunze, BB 1964, 1311 (1313); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bnd I, § 15 III 2 b) S. 558; ders., Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 24 ff., 76 f.; Waltermann, RdA 1990, 138 (141, Anm. 23); Meier-Krenz, Die Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 40. 62 Misera, Tarifrnacht und Individualbereich, S. 22; anders, aber ohne nähere Begründung Feichtinger, Die betriebsverfassungsrechtliche Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, S.87. 63 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 88. 64 Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Betriebsautonomie, S. 115; zum Begriff der Delegation: Triepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, S. 23, 28 f., 51, 80 ff.
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
tion geht von einer verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Zuständigkeits- und Aufgabenordnung aus, da sie zu einer Verschiebung der Zuständigkeit auf eine andere Stelle führt, so daß eine irreguläre Zuständigkeit begründet wird. 65 Das Normsetzungsrecht der Koalitionen fußt jedoch in der Tarifautonomie, welche sich aus der Aufgabe der Koalitionen ableitet, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu regeln. Diese Aufgabe ist durch Art. 9 Abs. 3 GG bereits in der Verfassung prinzipiell - zumindest auch - den Koalitionen zugewiesen. Wenn also die Verfassung selbst die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen den Koalitionen zuweist, so kann diese Aufgabe nicht durch den einfachen Gesetzgeber erneut zugewiesen werden - nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet. 66 Auch wenn Art. 9 Abs. 3 GG den Gesetzgeber verpflichtet, der Tarifautonomie einen gesetzlichen Rahmen bereitzustellen,67 so genügt es nicht, die Normsetzungsbefugnis mit der Delegationstheorie allein auf § 1 Abs. 1 TVG zu gründen, da diese einfachgesetzliche Vorschrift im Belieben des Gesetzgebers steht und so jederzeit wieder aufgehoben werden könnte. Die Aufhebung des § 1 Abs. 1 TVG müßte jedoch nach dieser Theorie zur Konsequenz haben, daß die tarifliche Normsetzungsbefugnis keine Rechtsgrundlage mehr hat, was angesichts der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 3 GG nicht vertretbar erscheint. Entscheidend gegen eine Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG durch das TVG spricht daneben bereits die Tatsache, daß das TVG, wie oben gezeigt, das ältere Gesetz ist und so dieses Grundrecht von seiner ursprünglichen Intention her nicht konkretisieren kann. Selbst wenn man dieses historische Moment beiseite schiebt, ergibt sich aus dem Tarifvertragsgesetz nicht, daß es um die Zuweisung einer Aufgabe geht. Es geht vielmehr bei der Ausgestaltung "nur" um die Festlegung des Modus. 68 Weiterhin vermag die Delegationstheorie nicht zu erklären, warum die Tarifvertragsparteien bei der Normsetzung keiner parlamentarischen Verantwortung unterliegen und nicht die Voraussetzungen des Art. 80 GG wahren müssen; es fehlt die staatliche Kontrolle. 69 Dies spricht dafür, daß der Umfang der tarifautonomen Rechtsetzungsmacht an dem Auftrag an die Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG zu messen ist, die Gesamtheit der "Arbeits- und Wirtschafts bedingungen" zu ordnen, und nicht an § 1 Abs. 1 TVG. Ob damit die Herausnahme einzelner Materien aus dem tarifautonomen Rechtsetzungsbereich durch § 1 Abs. 1 TVG (bspw. Personalvertretungsrecht und Unternehmensmitbestimmung) eine unzulässige Einschränkung 65 Wolf!/ Bachojl Stober, Verwaltungsrecht 11 (4. Aufl. 1976), § 72 V b 2. Um eine derartige Form der Delegation bzw. Zuständigkeitsverschiebung handelt es sich etwa in Fällen der Verordnungsermächtigung nach Art. 80 GG (vgl. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 524 ff.). 66 Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 115 ff., 120 f. 67 Vgl. dazu BVerfGE 50, 290 (368 f.). 68 Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 119. 69 Reuter, ZfA 1990,535 (551).
§ I Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner
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der Koalitions freiheit darstellt, braucht hier nicht erörtert zu werden,7o da die Betriebsverfassung, wie dargelegt, ebenso in § 1 Abs. 1 TVG genannt ist. Die Befugnis der Tarifvertragsparteien zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen ist im Rahmen der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich verfassungsrechtlich gewährleistet. Die Auslegung des § 1 Abs. I TVG muß sich an dem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GO messen lassen.
III. Tarifautonome Rechtsetzungsbefugnis und Außenseiterschutz
Das soeben gefundene Ergebnis wirft für die betriebsverfassungsrechtliche Materie eine weitere Frage auf. Nach § 3 Abs. 2 TVG gelten Rechtsnormen eines Tarifvertrages über betriebsverfassungsrechtliche Fragen für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist. Insofern formuliert § 3 Abs. 2 TVG eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Rechtsnormen eines Tarifvertrages nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen gelten. 7I Mit dieser Ausnahme wird mithin bei betriebsverfassungsrechtlichen Normen keine Rücksicht darauf genommen, ob die Arbeitnehmer des betroffenen Betriebes nicht oder anders organisiert sind, also einer Gewerkschaft gar nicht angehören oder Mitglied einer Gewerkschaft sind, die an dem Tarifvertrag nicht beteiligt ist. Sinn und Zweck dieser Vorschrift liegen auf der Hand. Es liegt in der Natur der betriebsverfassungsrechtlichen Normen, daß diese nur betriebseinheitlich gelten können. 72 Eine Differenzierung nach Verbandszugehörigkeit auf Beschäftigtenseite ist nicht nur nicht sachgerecht,73 sondern in weiten Teilen der Betriebsverfassung schlechthin unmöglich, wenn die Einheit des Betriebes nicht angetastet werden soll. Letzteres gilt insbesondere für die Organisationsstruktur, auf der die Betriebsverfassung aufbaut. So ist es undenkbar, daß beispielsweise eine Tarifnorm, weIche die Zuordnung eines Betriebsteils oder Nebenbetriebs regelt,74 nur für die Tarifgebundenen gilt. Das Resultat wären zwei nicht im Ganzen deckungsgleiche Organisationseinheiten als Anknüpfungspunkte für die Interessenvertretung der Arbeitnehmer auf Betriebsebene; die Einheit der Betriebsverfassung, auf der die kollektive Interessenwahrnehmung aufbaut, wäre durchbrochen. Die Notwendigkeit der Erstreckung der betriebsverfassungsrechtlichen Normen auf Außenseiter mag zunächst den Sinn dieser Bestimmung verdeutlichen, erklärt jedoch (noch) nicht, ob die oben festgestellte verfassungsrechtliche Grundlage der Koalitionsbetätigung auf diesem Gebiet nicht eine Einschränkung erfährt. Führt Dazu allgemein unten B., S. 36 ff. Wiedemann-Oetker. TVG § 3 RdNr. 127; eine weitere Ausnahme stellt § 5 Abs. 4 TVG (Allgemein verbindlichkeit) dar. 72 MünchArbR-Löwisch, § 238 RdNr. 42 f. und § 260 RdNr. 30. 73 Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten S. 73. 74 Vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG. 70 71
3 Wißmann
I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
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man die tarifautonome Rechtsetzungsbefugnis auf die Koalitionsfreiheit, also inzident auch auf die Freiheit, einer Koalition nicht beizutreten (negative Koalitionsfreiheit),75 zurück, so ergibt sich die Fragestellung, ob nicht die verfassungsrechtliche Legitimation der Tarifautonomie aus Gründen des Außenseiterschutzes für die Materie der betriebsverfassungsrechtlichen Normsetzung gänzlich entfällt oder doch zumindest teilweise nicht gilt. 76 Es ist eingangs festzuhalten, daß sich dieses Problem zunächst für die Arbeitgeberseite und die tarifgebundenen Arbeitnehmer nicht stellt. 77 Im Gegensatz zu § 5 Abs. 4 TVG ist bei § 3 Abs. 2 TVG die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers erforderlich. Er gehört entweder dem vertragschließenden Arbeitgeberverband an (Verbandstarifvertrag), oder ist selbst Vertragspartei (Firmentarifvertrag). Die verfassungsrechtliche Koalitionsbetätigungsgarantie soll sich nach einer Konzeption nur auf solche Angelegenheiten erstrecken, die ausschließlich Koalitionsmitglieder betreffen. 78 Eine Erstreckung der Koalitionsbetätigung auf tarifliche Außenseiter könnte dann ausschließlich auf einfachgesetzlicher Legitimationsbasis beruhen. 79 Ein solcher Standpunkt scheint sich auch mit einigen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts 80 zu decken, jedoch ist den Ausführungen eine eindeutige Stellungnahme nicht zu entnehmen, wenn es heißt: "Dem besonders stark ausgeprägten Schutz des Grundrechts auf Koalitionsfreiheit unterliegt eine auf Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder gerichtete Tätigkeit der Koalitionen ... " [E 57,29 (37)].
Die in diesen Entscheidungen verwandten formelhaften Passagen sind lediglich allgemeiner Natur_ Es fehlt ein "nur", welches die Ausgangsfrage aus der Sicht des Gerichts beantworten würde. Hinzu kommt, daß es in der Schaffung von Tarifnormen, die der Allgemeinverbindlichkeitserklärung zugänglich sind, keine Überschreitung der verfassungsrechtlichen Befugnisse der Koalitionen sieht. 81 Ein Teil des Schrifttums spricht den Koalitionen für eine Außenseitererstrekkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen nicht nur eine verfassungsrechtliche Legitimationsbasis ab, sondern hält auch eine solche Regelung durch den GesetzMaunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 9 RdNr. 169. Ausführlich dazu unter ähnlicher Fragestellung Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien S. 122 ff. Vgl. auch Dieterich, FS-Schaub, S. 117 (132 f.). 77 Ob es indes erforderlich ist, daß zumindest ein Arbeitnehmer bei Tarifverträgen nach § 3 Abs. 2 TVG Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ist oder nicht (hM), soll hier dahinstehen; vgl. dazu MünchArbR-Löwisch, § 260 RdNr. 31 mwN. 78 Püttner, BB 1987, 1122 (1125); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 246; den, OB 1990, 1613 (1617); Kraft, ZiA 1973, 243 (248 f.); in diesem Sinne wohl auch Maunz/ Dürig / Herzog / Scholl., GG Art. 9 RdNr. 236. 79 Vgl. dazu Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie S. 67. 80 BVerfGE 17, 319 (333); 18, 18 (26); 42, 133 (138); 44, 322 (344); 55, 7 (23); 57, 29 (37). 81 BVerfGE 55, 7 (23). 75
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geber (§ 3 Abs. 2 TVG) wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit für mit Art. 9 Abs. 3 GG (teilweise) unvereinbar. 82 Die herrschende Meinung in der Literatur,83 der sich wohl auch das Bundesarbeitsgericht angeschlossen hat,84 hat sich zugunsten der gegenteiligen Sicht entschieden. Die hiesige Problematik erfordert allerdings keine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Streit um die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 2 TVG. Denn selbst wenn man mit der - durchaus vorzugswürdigen - herrschenden Meinung die Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 GG bejaht, so ist nur geklärt, daß eine Erstreckung auf tarifliche Außenseiter auf einfachgesetzlicher Grundlage (§ 3 Abs. 2 TVG) möglich ist. Offen bleibt, wie weit die entsprechende verfassungsrechtliche Position der Koalitionen dies bereits gewährleistet. Eine in allen Bereichen geltende Reduktion der Koalitionen auf die ausschließliche Wahrnehmung mitgliedschaftlicher Interessen läßt sich angesichts der vielfachen Betätigung auf einfachgesetzlicher Ebene und der historischen Entwicklung der Koalitionsfreiheit nicht aufrechterhalten. 85 Die Koalitionen haben kraft der Tarifautonomie die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe, den Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu ordnen. 86 Sie kann mithin nicht nur auf die mitgliedschaftlichen Interessen reduziert werden. In der Praxis wird die mitgliederübergreifende Wirkung tarifautonomer Tätigkeit bereits durch die teilweise flächendeckend üblichen Entsprechungsklauseln in Einzelarbeitsverträgen von Außenseitern belegt. Diese Aufgabe ist im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich ungeachtet dessen zumindest dann legitimiert, wenn die Wahrnehmung der tariflichen Normsetzungsbefugnis als verfassungsrechtliche Betätigungsgarantie für die Koalitionsmitglieder nicht sinnvoll möglich ist, ohne hierdurch zugleich mittelbar die Rechtsstellung der tariflichen Außenseiter zu beeinflussen. 87 Für die betriebsverfassungsrechtliche Normsetzung gilt aber - dies wurde bereits oben dargestellt -, daß diese sinnvol1erweise nur betriebseinheitlich erfolgen kann. Der Außenseiterschutz kann damit nicht so weit gehen, daß er eine tarifautonome Normsetzung auf diesem Gebiet gänzlich verhindert,88 da ansonsten in gleicher Weise die Tarifautonomie verletzt wäre. Es geht vielmehr darum, diese beiden Rechtspositionen in angemessener Weise zum Ausgleich zu bringen. ledenfalIs 82 Buchner; Tarifvertragsgesetz und Koalitionsfreiheit, S. 68; Wagenitz. Die personellen Grenzen der Tarifmacht, S. 41 ff., 48 f., 57 (eingeschränkt); Zöllner; RdA 1962,453 (458 f.) der jedoch über eine verfassungskonforme Auslegung des § 3 Abs. 2 TVG jedenfalls begünstigende betriebsverfassungsrechtliche Normen auch gegenüber Außenseitern für zulässig erachtet. 83 Vgl. statt aller Spilger; Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 51 mwN. 84 In diesem Sinne kann man BAGE 56,18 (28 f.) AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972 verstehen. 85 SäckerlOetker; Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 69. 86 Vgl. BVerfGE 18, 18 (28). 87 SäckerlOetker; Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 69 f. 88 Vgl. Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 74.
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3'
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kann damit in Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer kein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit gesehen werden,x,> der geeignet wäre, die tarifautonome Rechtsetzungsmacht aus ihrer verfassungsrechtlichen Position zu verdrängen. Die negative Koalitionsfreiheit kann nichts daran ändern, daß die tarifautonome Normsetzungsbefugnis in betriebsverfassungsrechtlichen Fragen verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Bei der Bestimmung ihrer Grenzen sind die Interessen der Außenseiter jedoch zu beachten. Außenseiterschutz und Tarifautonomie sind damit in praktische Konkordanz 90 zu bringen. Beide Positionen müssen einander so zugeordnet werden, daß sie jeweils zu optimaler Wirksamkeit gelangen.'» Auch dabei gilt - zweiseitig - das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. 92 Mit Gamillscheg läßt sich dieser Gedanke prägnant so umschreiben: "Soviel Legitimation wie möglich, soviel Außenwirkung wie nötig",93 wobei die Notwendigkeit der Außenwirkung freilich nicht allein Freibrief ist. Für die Betriebsverfassung ist ausreichende Legitimation - wie schon bei der Diskussion um § 3 Abs. 2 TVG für dessen Verfassungsmäßigkeit angeführt wird 94 -, daß diese notwendigerweise nur betriebseinheitlich geregelt werden kann und durch Regelungen, welche den gesetzlichen Standard nicht herabsetzen, Rechtspositionen der Außenseiter nicht eingeschränkt werden. Der mangelnden Legitimation der Normsetzung gegenüber Außenseitern wird damit Rechnung getragen. Ein direkter Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit im Sinne des Rechtes, der Koalition fernzubleiben, ist in diesen Regelungen ohnehin nicht zu sehen, da auf den Außenseiter kein auch nur mittelbarer Druck ausgeübt wird, einer Koalition beizutreten, und er durch die Nichtmitgliedschaft keine Nachteile erfährt.
B. Tarifautonomie und staatliche Rechtsetzungsbefugnis Selbst wenn man das Betriebsverfassungsrecht als Regelungsgegenstand der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie begreift, so ist unbeantwortet, in welchem Maße dies zu einer Tarifierungsbefugnis in diesem Bereich führt. Bekanntermaßen ist in Art. 74 Abs. I Nr. 12 GG die Betriebsverfassung als Teil des Arbeitsrechts ausdrücklich als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung genannt. Um also die aufgeworfene Frage zu beantworten, gilt es zunächst, das Verhältnis der tarifautonomen zur gesetzgeberischen Normsetzungsbefugnis zu bestimmen. Dies anerkennt auch Zöllner, RdA 1962,453 (458 f.). Dazu Lerche in Isensee I Kirchhof, Bd. V. § 122 RdNr. 6; Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 72 u. 317. 9) Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 72. 92 Hesse, wie vor. 93 Gamillscheg, Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit. S. 97. 94 Vgl. dazu Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 53. 89
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Nach den grundlegenden Schriften von Biedenkop!5 und Säcker96 war dieses Konkurrenzverhältnis zwar weiterhin in gewissem Umfang Gegenstand der wissenschaftlichen Erörterungen. 97 Entscheidungen der Bundesgerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, waren aber selten und gaben - so scheint es jedenfalls - nie Anlaß, dieses Thema grundlegend und abschließend zu behandeln. 98 Aus den Einzelfallentscheidungen des BVerfG, auch wenn sie sich auf andere Bereiche des Art. 9 Abs. 3 GG bezogen,99 wurden so Schlußfolgerungen gezogen, die das Gericht so anscheinend seIbst nicht ziehen wollte. Insofern kam es, so meint jedenfalls offenbar das Gericht jetzt,100 zu Fehldeutungen seiner Entscheidungen und ,,Mißverständnissen". 101
I. Bundesverfassungsgericht Ursprünglich ging das Gericht davon aus, daß nur der von der staatlichen Gesetzgebungjreigelassene Raum im Rahmen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen zur Normsetzung verbliebe. Dies ergibt sich aus einer Entscheidung zum Gewerkschaftsbegriff aus dem Jahre 1964,102 in der das Gericht ausführt, die Tarifautonomie verfolge "den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in dem von der staatlichen Rechtsetzung frei gelassenen Raum das Arbeitsleben im einzelnen durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen". 103 Eine Interpretation dahingehend, daß der Gesetzgeber danach qua Normsetzung die Koalitionen im eigenen Ermessen aus ihrer Normsetzungsbefugnis verdrängen könne,I04 läßt diese Entscheidung jedoch nicht zu, da sich das Gericht zu den Grenzen der staatlichen Gesetzgebungskompetenz nicht äußert, also nichts dazu sagt, weIcher Bereich von vornhereinjreizulassen ist. Daß es einen grundgesetzlich geschützten, allein der tarifautonomen Gestaltungsbefugnis überlassen Normsetzungsbereich geben soll, läßt schon BVerfGE 28, 295 erkennen, wenn es dort heißt: "Den Koalitionen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 57 ff., 153 ff. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 45 ff. 97 Vgl. zuletzt Henssler, ZfA 1998, I (l f.). 98 Vgl. dazu Wiedemann, FS-Stahlhacke. S. 675 (675) sowie dessen Rechtsprechungsübersicht (S. 676 f.). 99 Vgl. BVerfGE 28, 295 (304). 95 96
100 BVerfGE 93, 352: "Diese Formulierungen können in der Tat den Eindruck erwecken ... " (S. 358), "wird damit jedoch nur unvollständig wiedergegeben" (S. 359). 101 BVerfGE 93, 352 (360). 102 BVerfGE 18, 18. 103 BVerfGE 18, 18 (28). 104 So aber Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten S. 42; vgl. dazu Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 152 ff.
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die Aufgabe zugewiesen und in einem Kembereich gewährleistet, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme zu gestalten.,,105 Hieran anschließend entwickelte das Bundesverfassungsgericht in den folgenden Jahren die Kembereichslehre sowie die Lehre der Nonnsetzungsprärogative der Koalitionen, um die Schranken der staatlichen Gewalt gegenüber den Koalitionspartnern zu bestimmen. So hat das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen betont, Art. 9 Abs. 3 GG schütze nur einen Kernbereich der Koalitionsbetätigung. 106 Dabei sei es allerdings Sache des Gesetzgebers, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, daß er die Befugnisse der Koalitionen im einzelnen gestalte und näher regele. 107 Daneben dürften dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten seien. 108 Diese Entscheidungen 109 lassen jedoch nur vordergründig Rückschlüsse auf das Verhältnis der in Rede stehenden Nonnsetzungskompetenzen zu. Denn inhaltlich geht es einmal um die staatliche Tarifvertragsgesetzgebung, also die Ausgestaltung der Tarifautonomie, wenn von der Bestimmung der "Tragweite der Koalitionsfreiheit"lIo gesprochen wird, und zum anderen um koalitionsmäßige Betätigungen außerhalb der tarifautonomen Nonnsetzungsbefugnis,1I1 wie beispielsweise die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung. Entsprechend würde eine inhaltliche Beschreibung als "Garantie eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete Koalitionen sein müssen"II2 zwar für Gesetze zu Kollektivvereinbarungen passen, aber keine Rückschlüsse auf den erlaubten und geschützten Umfang der kollektiven Nonnsetzungskompetenz zulassen. II3 Es geht an dieser Stelle mithin mehr um das "Wie" als das "Ob". Erst durch die Verbindung der Kembereichslehre mit der Lehre von der Nonnsetzungsprärogative der Koalitionen stellt das Bundesverfassungsgericht eine Kasuistik auf, die für die hier aufgeworfene Frage von Bedeutung ist. Danach sei die tarifautonome Rechtsetzungsbefugnis in einem Kembereich durch Art. 9 Abs. 3 GG garantiert, wobei sich diese Garantie darauf beziehe, "in einem von staatlicher Rechtsetzung freigelassenen Raum in eigener Verantwortung und im wesentlichen BVerfGE 28, 295 (304). BVerfGE 38, 281 (305); 50, 290 (368) sog. Mitbestimmungsurteil; 58, 233 (247); sowie bereits BVerfGE 4,96 (108); 28, 295 (304); sowie ferner BAGE 19,217 (222); 30, 122 (128); 31,166 (171); 31, 318 (325); 41,1 (3); 53, 89 (94); 64, 284 (293). 107 BVerfGE 50, 290 (368). 108 BVerfGE 58, 233 (247 f.). 109 BVerfGE 38,281 (305); 50, 290 (368); 58, 233 (247). 110 BVerfGE 50, 290 (368); 58, 233 (247). 111 BVerfGE 28, 295 (304). 112 BVerfGE 4, 96 (108); 50, 290 (369). 113 Vgl. Wiedemann, FS-Stahlhacke, S. 675 (677). lOS
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ohne staatliche Einflußnahme" insbesondere Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen. 114 Diese Normsetzungsprärogative l15 der Koalitionen gelte aber nicht schrankenlos. Es sei Sache des subsidiär für die Ordnung des Arbeitslebens zuständigen staatlichen Gesetzgebers, die Betätigungsgarantie der Koalitionen in den Grenzen des Kernbereichs näher zu regeln. 116 Was die Rechtsprechung unter Kernbereich versteht und verstand, ist indes nicht immer eindeutig. Die hierzu gemachten Ausführungen beziehen sich der Sache nach auf die Ausgestaltung der Tarifautonomie und nicht unmittelbar auf das Verhältnis der Normsetzungsbefugnisse zueinander: Der Kernbereich ist dann angetastet, wenn dem Betätigungsrecht Schranken gezogen werden, die der Sache nach nicht geboten sind. 1I7 Generell ungeklärt bleibt daneben die Frage, ob Einschränkungen der Koalitionsfreiheit durch Rechte anderer nur gerechtfertigt sein können, wenn es sich bei diesen Rechten um Rechte mit Verfassungsrang handelt, oder ob auch weitergehende Befugnisse des Gesetzgebers zum Schutz sonstiger Rechtsgüter bestehen. 1I8 Im Hinblick auf die schrankenlose Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG ist diese Frage von besonderem Interesse. Gewonnen ist mit dieser Kasuistik für die Abgrenzung der staatlichen von der tarifautonomen Normsetzungsbefugnis jedenfalls, daß es nach der Überzeugung des Gerichts eine absolute Subsidiarität staatlicher Rechtsetzungskompetenz nicht gibt. Das gleiche gilt aber auch umgekehrt für die tarifautonomen Gestaltungsbefugnisse. Willkürlich darf der Staat den Koalitionen Normierungsbereiche nicht durch zwingende gesetzliche Regelungen entziehen. Vielmehr bedürfen solche Einschränkungen einer Rechtfertigung. Unzweifelhaft steht den Koalitionen allerdings zumindest der Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zur Regelung offen, der vom staatlichen Normgeber nicht, nicht abschließend oder nicht zwingend ausgefüllt wurde. In der jüngeren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Kernbereichsformel nur noch zurückhaltend verwendet, gleichwohl auch weiter konkretisiert,119 wobei sich jedoch diese Konkretisierungen nur auf Betätigungsrechte der Koalitionen außerhalb der Normsetzungsbefugnis beziehen, nachdem es in einigen Entscheidungen gar gänzlich auf sie verzichtet hatte. 120 Aufgegeben wurde der Begriff der Normsetzungsprärogative der Koalitionen; an seine Stelle setzt das Gericht statt des Normsetzungsvorrechtes ein einfaches Normsetzungsrecht. 121 Das BVerfGE 44, 322 (340 f.). BVerfGE 44,322 (341); der Ausdruck geht zurück auf SäckeT, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50. 116 BVerfGE 44,322 (341 f.). 117 BVerfGE 50, 290 (369). 118 Vgl. BVerfGE 84, 212 (228). 119 BVerfGE 93, 352 (358 f.). 120 BVerfGE 92,365 =JZ 1995, 1169 m. Anm. Lieb (1174 f.); zurückhaltend BVerfGE 84, 212 (228); 88, 103 (115); vgl. dazu Kühling, RdA 1994, 182 (182); ders. AuR 1994, 126 (131 f.). 114 115
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
Bundesverfassungsgericht selbst will diese Entscheidungen jedoch nicht als Änderung seiner Rechtsprechung, sondern vielmehr als KlarsteIlung verstanden wissen. 122 In seiner Entscheidung zu dem Gesetz über befristete Arbeitsverträge an Hochschulen vom 24. April 1996 123 führt das Gericht in Anlehnung an seine vorherige Rechtsprechung aus, daß es dem Gesetzgeber trotz des fehlenden Gesetzesvorbehaltes in Art. 9 Abs. 3 GG nicht verwehrt sei, in dessen Schutzbereich Regelungen zu treffen. Soweit das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander berührt sei, bedürfe die Koalitionsfreiheit der gesetzlichen Ausgestaltung. Jedoch auch die Regelung von Fragen, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können, sei - dies ergebe sich bereits aus der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG - nicht von vornherein dem Gesetzgeber entzogen. Entsprechend verleihe Art. 9 Abs. 3 GG den Tarifvertragsparteien ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. 124 Durch den Verzicht auf den Begriff der Prärogative macht die Entscheidung deutlich, daß das Gericht ein Vorrecht der Koalitionen zur Normsetzung im Bereich der "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" des Art. 9 Abs. 3 GG nicht (mehr) anerkennen will, wie ältere Entscheidungen 125 zumindest noch vermuten ließen. Weiter heißt es: ,,Eine gesetzliche Regelung in dem Bereich, der auch Tarifverträgen offensteht, kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann (vgl. BVerfGE 84, 212 [228]) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Ob der Gesetzgeber weitergehende Regelungsbefugnisse zum Schutz sonstiger Rechtsgüter hat, braucht hier nicht entschieden zu werden. ( ... ) Der Grundrechtsschutz ist nicht für alle koalitionsmäßigen Betätigungen gleich intensiv. Die Wirkkraft des Grundrechts nimmt vielmehr in dem Maße zu, in dem die Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann, weil sie nach der dem Art. 9 Abs. 3 GG zugrundeliegenden Vorstellungen des Verfassungsgebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausgleich bringen könne als der Staat." (E 94, 268 [284 f.])
Durch diese Ausführungen wird deutlich, daß es für die staatliche Normsetzungskompetenz nicht ausreichen soll, wenn eine Regelung der Sache nach geboten ist. Dies gilt nur für die Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit, also insbesondere für Bestimmungen, die das Verhältnis der Koalitionsparteien zueinander sowie die Betätigungsformen regeln. Es geht dabei also um das "Wie" der Koalitionsbetätigung. Anders liegt es, wenn der Gesetzgeber durch - insbesondere abschließende - Normierungen die Koalitionspartner aus Regelungsbereichen verdrängt, die an sich Gegenstand der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sind. Ein entsprechender Eingriff in die tarifliche Regelungsbefugnis bedarf der RechtfertiVgl. BVerfGE 94, 268 (284). BVerfGE 93, 352 (360); anders Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 6 III 2 b) (2) (b) S. 229, sowie Vorwort. 123 BVerfGE 94, 268. 124 BVerfGE 94,268 (284). 125 Vgl. insbesondere BVerfGE 44,322 (341). 121
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gung. Dieser Prämisse ist zumindest dann genüge getan, wenn der staatliche Normgeber sich auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Wenn das Bundesverfassungsgericht dabei nicht darauf eingeht, inwieweit auch der Schutz sonstiger Rechtsgüter gesetzliche Regelungen legitimieren kann, so klammert es damit die dahinter stehende Frage aus, ob die vorbehaltlose Gewährleistung der Koalitionsfreiheit desgleichen auf die Tarifierungsbefugnis als Betätigungsfeld der Koalitionen durchschlägt oder ob an dieser Stelle nur ein einfachgesetzlicher Vorbehalt gilt. 126 Für das Verhältnis der Normsetzungsbefugnisse zueinander entscheidend ist daneben das Kriterium der Geeignetheit, und zwar in der Weise, daß man danach fragen muß, welcher der bei den Normgeber eine bestimmte Materie aus Sachgründen besser regeln kann, also welcher Normgeber der Geeignetere ist. Dies ist jedenfalls insoweit von Bedeutung, als die Wirkkraft des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG zugunsten der Koalitionen zunimmt, wenn sie der geeignetere Normgeber sind. Handelt es sich also um eine Materie, die üblicherweise und auch besser durch Tarifvertrag geregelt wird, so ist die Hürde der Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber eine Regelung in diesem Bereich vornehmen will, höher, mithin ebenso die Anforderungen an das zu schützende Recht und an die Verhältnismäßigkeit.
11. Literatur Biedenkopf gelangt in seinen grundlegenden Erörterungen 127 zu einer "zweiseitigen" Subsidiarität der Normsetzungsbefugnisse. Bei der Normierung absoluter Mindestbedingungen ("gesetzliche Existenzsicherung") bestehe ein klarer Vorrang des Gesetzes. 128 Die Koalitionen seien dementsprechend nur insoweit zur Normsetzung befugt, als es um eine Erweiterung der Mindestbedingungen "nach oben", also zugunsten der Arbeitnehmer gehe. Der entgegengesetzte Bereich sei hingegen den Koalitionen entzogen. Im Kernbereich tarifvertraglicher Zuständigkeit, den er mit Ausnahme des Bereichs der verteilenden Sozialgesetzgebung l29 mit der Regelung der materiellen Arbeitsbedingungen gleichsetzt,130 gehe dagegen die tarifliche Bestimmung vor. l31 Indes gebühre der staatlichen Ordnung der materiellen Ar126 Kempen (FS-Schaub, S. 357 [361]) entnimmt dem Beschluß die Stellungnahme des Gerichts, daß die Gesetzgebungskompetenz im Arbeitsrecht auf grundrechtlich oder verfassungsrechtlich geschützte Bereiche beschränkt sei. Angesichts des eindeutigen gerichtlichen Hinweises, daß diese Frage durch den Beschluß nicht entschieden sei, ist diese Festlegung unhaltbar. 127 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 121 ff.; 152 ff. 128 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 154 ff. 129 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 157 f. u. 210. 130 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 187. m Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 189.
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beitsbedingungen dann der Vorrang, wo sie "durch überwiegende Interessen des Allgemeinwohls zwingend gefordert wird". 132 Nach Säcker ist der staatliche Gesetzgeber durch die Kernbereichsgarantie lediglich gehalten, die Kollektivautonomie in den den Koalitionen durch Art. 9 Abs. 3 GG zur Gestaltung zugewiesenen Bereichen grundsätzlich zu respektieren, sie nicht "in toto" aufzuheben und sie nicht derart einzuschränken, daß sie "innerlich ausgehöhlt wird, die Gelegenheit zu kraftvoller Betätigung verliert und nur noch ein Scheindasein führt".133 Solange also den Berufsverbänden wichtige Entscheidungen vorbehalten blieben, wozu auf der Ebene des Tarifvertragswesens vor allem die Lohngestaltung gehöre, werde die Koalitionszweckgarantie nicht verletzt. 134 Auch gebe es keine starre Kompetenzabgrenzung zwischen der gesetzgebenden Gewalt des Staates und der der Koalitionen; diese sei vielmehr variabel und wandelbar. 135 Diesem Verständnis nach sind zumindest alle punktuellen Eingriffe in die Normsetzungskompetenz durch zwingende Gesetze erlaubt. Entscheidend ist, daß durch das Hinausdrängen der Koalitionen aus verschiedenen Normsetzungskompetenzen die Koalitionen ihrer eigentlichen Aufgabe nicht beraubt werden dürfen. Im übrigen Schrifttum unterscheiden sich die Darstellungen im wesentlichen danach, ob den Tarifpartnern aus verfassungsrechtlicher Sicht ein grundsätzliches Normsetzungsvorrecht zugesprochen werden muß I36 oder ob gar dem Gesetzgeber ein Kompetenzvorbehalt zusteht. 137 Daneben wird uneinheitlich beantwortet, ob der bei Art. 9 Abs. 3 GG fehlende Gesetzesvorbehalt auch dazu führt, daß die tarifautonome Normsetzungskompetenz nur zugunsten anderer, mit Verfassungsrang ausgestatteter, Rechte eingeschränkt werden kann. 138 So verneint Schotz eine Prärogative der Koalitionen mit der Begründung, die grundgesetzliche Gesellschaftsverfassung kenne kein Subsidiaritätsprinzip im Sinne eines staats- und gesellschaftspolitischen Kompetenzmaßstabes. Mit dem klaren Bekenntnis der Verfassung zur staatlichen Demokratie und ihrer vorrangigen Zuständigkeit wäre ein sol-
Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 187. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 92. 134 Säcker, wie vor. 135 Säcker, wie vor. 136 Vgl. etwa Kempen/Zachert, TVG Grundl. RdNr. 121 ff.; Wiedemann-Wiedemann, TVG Einl. RdNr. 103 ff.; AK-Kittner, GG Art. 9 Abs. 3 GG RdNr. 70 ff.; Däubler/Kittnerl Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 7 ff.; sowie Ney, Das Verhältnis der Tarifautonomie zur arbeitsrechtlichen Bundesgesetzgebung, S. 64 ff., 97 und Kempen, RdA 1994, 140 (147). 137 Scholz in Isenseel Kirchhof, Bd. VI, § 151 RdNr. 39 u. 69. 138 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 88; Kempen, RdA 1994,140 (147); Däubler, Tarifvertragsrecht; RdNr. 351; Dtto, FS-Zeuner, S. 121 (145); Söllner, NZA 1996,897 (898 u. 899); dagegen: Reuter, RdA 1991, 190 (201); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 6 III 2 b) (2) (b), S. 229 f.; Wiedemann, FS-Stahlhacke, S. 675 (691); Kemper; Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 115 f.; Henssler, ZiA 1998, 1 (13 ff.). 132 133
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ches Prinzip mit allgemeingültiger Vorrangentscheidung zugunsten einzelner Einheiten nicht vereinbar. 139 Damit wird die Ausgestaltung der Koalitionsfunktion und des Koalitionsmittels völlig gleichgesetzt,140 also dem Gesetzgeber nicht nur die Kompetenz zugewiesen, die Freiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG auszugestalten, sondern auch die Bestimmung des "Ob" überlassen. Als Kritiker der Kernbereichslehre 141 verstehen sich diejenigen, die auch die Tarifautonomie nur unter dem Vorbehalt verfassungsimmanenter Schranken sehen. Dies ergebe sich aus der Schrankenlosigkeit des Art. 9 Abs. 3 GG, die sich auf die tarifautonome Normsetzungsbefugnis erstrecke, da letztere notwendiges Mittel zur effektiven Gewährleistung des Grundrechts sei. 142
IH. Bewertung und Schlußfolgerung Zunächst ist zu konstatieren, daß der Bundesgesetzgeber nach Art. 74 Abs. Nr. 12 GG die Kompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung für das Arbeitsrecht hat. Ausgangspunkt einer Bewertung des Verhältnisses zwischen staatlicher und tarifautonomer Gesetzgebungskompetenz ist somit das grundsätzliche Recht des Staates, für das Arbeitsverhältnis maßgebendes Recht, und zwar individuelles, kollektives, privates und öffentliches Arbeitsrecht 143 zu gestalten. Diese Feststellung betrifft aber zunächst nur die formelle, kompetenzielle Seite. Für die materielle Seite können hieraus noch keine unmittelbaren Schlußfolgerungen gezogen werden,144 denn sämtliche Gesetzgebungszuständigkeiten unterliegen den nach Art. I Abs. 3 GG vorrangigen Grundrechtsgrenzen, mithin auch der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG. Um damit das Verhältnis der Normsetzungskompetenzen zueinander bestimmen zu können, kommt es maßgeblich darauf an, inwieweit die Freiheitsgarantie des unbeschränkt gewährleisteten Art. 9 Abs. 3 GG auch die tarifautonome Normsetzungsbefugnis umfaßt. Das Argument des schrankenlos gewährleisteten Grundrechts kann für die Normsetzungsbefugnis nur dann uneingeschränkt gelten, wenn auch diese als Garantieposition unmittelbar der Freiheitsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG zu entnehmen ist. Gelangt man zu einem gegenteiligen Ergebnis - etwa des Inhalts, daß nur die Freiheit der Koalitionsbildung als schrankenlose Garantieposition aus Art. 9 Abs. 3 GG hervorgehe 145 -, so wären die
Scholz in Isenseel Kirchhof, Bd. VI, § 151 RdNr. 39. Vgl. Otto, FS-Zeuner, S. 121 (137). 141 Vgl. dazu die Darstellungen bei Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 6 III 2 b) (2) (b), S. 229; sowie Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 68 f. jeweils mwN. 142 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 76 f. 143 BVerfGE 7,342 (351). 144 Butzer, RdA 1994,375 (376). 145 So Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 6 III 2 b) (2) (b) S. 230. 139
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Schranken, welche die Tarifautonomie dem staatlichen Gesetzgeber setzt, minderer Qualität. Nach dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG ist nur das Grundrecht des einzelnen individuelle Koalitionsfreiheit - schrankenlos gewährleistet. Aber es ist anerkannt, daß von dem Schutz dieser Grundrechtsnorm desgleichen die Koalitionen selbst kollektive Koalitionsfreiheit - erfaßt werden. 146 Die Tarifautonomie wiederum gehört als Schwerpunkt der funktionstypischen Koalitionsbetätigung zur Freiheit der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gestalten. 147 Wenn also die Tarifautonomie nur mittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG folgt, so könnte dies zu der Versuchung führen, ihre Qualität als Schranke für den staatlichen Normgeber geringer einzuschätzen, mit anderen Worten, eine Beschränkungslegitimation wie bei nicht vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten anzunehmen. Zu diesem Ergebnis gelangt man, wenn man die Tarifautonomie nur als Annex, oder mit Wank bildlich gesprochen, nur als mittlere Schale der "Zwiebel" Art. 9 Abs. 3 GG begreift. 148 Ein solches Verständnis setzt jedoch voraus, daß die tarifautonome Normsetzungsbefugnis nicht unabdingbarer Bestandteil dieses Grundrechts ist. Dies jedoch ist gerade der Fall. Art. 9 Abs. 3 GG bedarf als Freiheitsgarantie auch einer Verfahrensgarantie. Dies gilt für die Koalitionsfreiheit um so mehr, als dieses Grundrecht gerade auf die Erzeugung von Ergebnissen - sprich: Tarifverträgen - ausgelegt ist. Dies entspricht dem Grundsatz, daß Verfahrensgarantien zur Freiheitsgarantie gehören und jede Freiheitsgarantie die Möglichkeit einer Verfahrensgarantie enthält. 149 Einer instrumentellen Garantie bedarf es gerade dann, wenn sie die Autonomie im Rahmen ihrer Zweckbestimmung erst ermöglicht. 150 Soweit aber ein bestimmtes Verfahren zur effektiven Ausübung einer Freiheit erforderlich ist, ist auch dieses unmittelbarer, weil notwendiger, Bestandteil des Freiheitsrechts selbst. Gerade für die Normsetzungsbefugnis der Koalitionen gilt, daß ohne diese Betätigungsform die Freiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG weitgehend leerliefe. Ohne diese Ermächtigung wäre die Stellung der Koalitionen im Bereich der Arbeitsordnung nur von untergeordneter Bedeutung, was aber gerade nicht der Intention des Verfassungsgebers entsprechen kann, denn sonst hätte er auf die besondere Sicherung der Koalitionsfreiheit durch Abs. 3 des Art. 9 GG verzichten können. Die Tarifierungsbefugnis ist mithin gerade der Schwerpunkt der funktionstypischen Koalitionsbetätigungsfreiheit. Auch ist die Normwirkung tariflicher Vereinbarungen erforderlich, um einen effektiven Arbeitnehmerschutz und damit auch ein funktionierendes Tarifvertragssystem l51 zu gewährleisten; 152 andernfalls wären die ArbeitsvertragsparStatt aller Söllner, NZA 1996, S. 897 (898). BVerfGE 4,96 (grundlegend). 148 Wank nennt dies ,,zwiebeltheorie", Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995 (E 93,352) in JZ 1996,629 (631). 149 V gl. nur BVerfGE 35, 79 (116). ISO Vgl. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 70. 1S1 Vgl. bereits BVerfGE 4,96 (106). 146 147
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teien nicht unmittelbar gebunden und der Arbeitgeber könnte unter Ausnutzung seines Übergewichtes tarifwidrige Arbeitsbedingungen zu Lasten der Arbeitnehmer vereinbaren. Könnten damit die Tarifverträge einen effektiven Arbeitnehmerschutz nicht gewährleisten, so gäbe es für den einzelnen Arbeitnehmer auch keine Notwendigkeit, der Koalition beizutreten. Daß die tarifliche Normsetzung zur Gewährleistung eines effektiven Arbeitnehmerschutzes erforderlich ist, wird zudem dadurch bestätigt, daß die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer vielfach gerade mit der Begründung verneint wird, es bestehe ein System tariflicher Normsetzung. 153 Die tarifliche Normsetzungsbefugnis ist damit zur effektiven Ausübung der Koalitionsfreiheit erforderlich. 154 Ein Ermessen des Gesetzgebers besteht insoweit nicht. Folglich ist sie wesentlicher Bestandteil der Koalitionsfreiheit im engeren Sinne und nicht nur ein Annex. Dies bedeutet für die Schrankenbestimmung der Tarifautonomie, daß diese unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG fließt und lediglich grundrechtsimmanente Rechtspositionen die tarifautonome Normsetzungsbefugnis begrenzen können. Das Verhältnis staatlicher gegenüber tarifautonomer Rechtsetzungsmacht ist folglich nicht von einer Prärogative des einen oder anderen Teils bestimmt. Vielmehr stehen sich diese Rechte gleichberechtigt gegenüber. Erst aus der Schranke des Art. 9 Abs. 3 GG ergibt sich dann erforderlichenfalls die Grenzbestimmung. Damit kommen aber tariffeste gesetzliche Regelungen im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nur dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich dabei auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann und er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt es dann auf den Gegenstand der gesetzlichen Regelung an. Dabei ist dem BVerfG zuzustimmen, wenn es hinsichtlich der Regelungsmaterie auf die Geeignetheit des Normgebers abstellt. 155 Dies deckt sich spiegelbildlich mit dem oben dargestellten Effektivitätskriterium. Je effektiver die Koalitionen Sachbereiche regeln können, desto stärker ist auch die Freiheitsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG betroffen, da es gerade diese Bereiche sind (insbesondere Löhne und andere Arbeitsbedingungen), die zur Ausübung der Koalitionsfreiheit erforderlich sind. Die gesetzliche Regelung der Betriebsverfassung kann also insoweit tarifvertragliehe Regelungen ausschließen, als den hier genannten Legitimationsvoraussetzungen durch den Gesetzgeber entsprochen wird.
152 153
154 155
Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 79. Vgl. Reuter, ZfA 1975,85 (86). Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, S. 88. BVd'GE 94, 268 (285).
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C. Die Kodifizierung im Bereich der Organisationsvorschriften des BetrVG Um den tarifoffenen Bereich des betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrechts bestimmen zu können, bleibt es, den Charakter des betriebsverfassungsrechtlichen Normenkomplexes hinsichtlich der Organisationsvorschriften zu identifizieren, um so festzustellen, inwieweit das Gesetz eine abschließende Regelung überhaupt intendiert. Unabhängig von der Frage, ob staatliche Normen dies dürfen (dazu 11.) ist zu beantworten, ob sie dies überhaupt wollen (dazu 1.). Denn ein Gesetz schließt nicht notwendigerweise tarifliche Regelungen aus. Das Verhältnis zwischen Gesetz und Tarifvertrag kann in dreifacher Weise gestaltet sein: 156 Das zweiseitig zwingende Gesetz (Erste Kategorie) läßt keinerlei Abweichung durch Tarifvertrag zu, beansprucht also, nach oben und unten tariffest zu sein. Das einseitig zwingende Gesetz (Zweite Kategorie) läßt Abweichungen vom Gesetz nur zugunsten der Arbeitnehmerschaft (nach oben) zu. Schließlich kann das Gesetz tarifliche Regelungen sowohl zugunsten als auch zu Lasten der Arbeitnehmer zulassen (tarifdispositives Gesetz - Dritte Kategorie); letzteres gilt in jedem Fall qua gesetzlicher Selbstbeschränkung nur subsidiär gegenüber der tariflichen Regelung. Bevor also die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer vorhandenen gesetzlichen Regelung gestellt werden kann, muß erst festgestellt werden, wie im Gesetz selbst das Verhältnis zu tarifautonomer Rechtsetzung bestimmt iSt. 157 WeIche Wirkung der staatliche Normgeber einem Gesetz tatsächlich beigelegt hat, ist durch Auslegung zu ermitteln. 158 Zu den Organisationsnormen des BetrVG gehören vornehmlich die Vorschriften des Ersten, Zweiten, Dritten und Fünften Teils dieses Gesetzes. 159 Dies sind damit insbesondere die allgemeinen Bestimmungen (Erster Teil), die Bestimmungen über die Errichtung, Zusammensetzung, Wahl, Amtszeit und Geschäftsführung des Betriebsrates, des Gesamt- und des Konzernbetriebsrates (Zweiter Teil), der Jugendund Auszubildendenvertretung (Dritter Teil), sowie die Sonderbestimmungen für die Seeschiffahrt, Luftfahrt und Tendenzbetriebe (Fünfter Teil). Ferner sind die §§ 76, 76a (Einigungsstelle), die §§ 85, 86 (Verfahren der Behandlung von Beschwerden durch den Betriebsrat) und im Vierten Teil, der im übrigen die Regelung der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Betriebsrats zum Gegenstand hat, die §§ 106 Abs. 1 und 107 BetrVG (Wirtschaftsausschuß) zu den Organisationsnormen zu rechnen. Unzweifelhaft stehen jedenfalls die Bereiche des betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrechts, in denen das BetrVG selbst durch Öffnungsklauseln entspre156 Vg!. dazu Kempen/Zachert, TVG Grund!. RdNr. 204; Wiedemann-Wiedemann, TVG Ein!. RdNr. 143 ff. 157 Andritzky, NZA 1986, 385 (388). 158 BAGE 56, 155 (161). 159 lahnke, Tarifautonomie und Mitbestimmung, S. 192.
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chende Nonnierungen zuläßt, den Tarifpartnern zur Regelung offen. l60 Die von diesen Öffnungsklauseln umfaßte Materie ist damit tarifoffenes dispositives Recht 161 und gehört der dritten Kategorie an. Eine Sonderrolle nimmt hier jedoch § 3 BetrVG ein, da er in Abs. 2 die Wirksamkeit der Tarifverträge nach Ab. 1 BetrVG von der behördlichen Zustimmung abhängig macht. Die von § 3 Abs. 1 BetrVG beschriebenen Regelungsgebiete 162 sind damit lediglich eingeschränkt tarifdispositiv, da sich der Staat in gewissem Umfang eine Kontrolle vorbehält. Die Frage kann daher nur lauten, ob betriebsverfassungsrechtliches Organisationsrecht selbst jenseits dieser Vorschriften zulässiger Gegenstand von Tarifverträgen sein kann. Die Antwort hängt davon ab, ob dem gesetzlichen Betriebsverfassungsrecht zwingender Charakter zukommt. 163
I. Charakter des Normenkomplexes
Für die organisatorischen Vorschriften des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts können schon der Entstehungsgeschichte des BetrVG unzweideutige Hinweise entnommen werden. In der Begründung des Regierungsentwurfes zu § 3 BetrVG 1972 heißt es: "Die in § 3 behandelten Tarifverträge räumen den Tarifpartnern die Möglichkeit ein, unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Umfang von der im Gesetz vorgegebenen Organisation der Betriebsverfassung abzuweichen. Die organisatorischen Vorschriften sind ihrer Natur nach zwingend. Der Gesetzgeber hat es jedoch in der Hand, im Hinblick auf notwendige Anpassungen an besondere Verhältnisse Abweichungsmöglichkeiten zuzulassen, wie dies z. B. in § 20 Abs. 3 des geltenden Rechts [BetrVG 1952, Anm. d. Verf.] bereits geschehen ist. Im Hinblick auf die grundsätzlich zwingende Natur von Organisationsvorschriften müssen jedoch solche Abweichungsmöglichkeiten ausdrücklich festgelegt und klar umschrieben werden."I64
Damit hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, daß er nicht nur die Organisationsvorschriften des BetrVG für zwingend erachtet, sondern dies allgemein für derartige Nonnen annimmt, wenn er auf die "Natur" dieser Nonnen verweist. Offengelas160 §§ 38 Abs. I, 47 Abs. 4, 55 Abs. 4, 72 Abs. 4, 76 Abs. 8, 76a Abs. 5, 86 und 117 Abs. 2 S. I sowie § 3 Abs. 1 BetrVG. 161 Vgl. LAG Hamburg LAGE Nr. I zu § 3 BetrVG 1972. 162 Gleiches gilt für § 117 Abs. 2 S. 2 BetrVG. 163 Vgl. Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 26. 164 Regierungsentwurfzum BetrVG 1972 vom 29. 01. 1971, BT-Drucks. VII 1786, S. 35 f. (auch abgedruckt in RdA 1971,33). Der ursprüngliche Entwurf des BMA für ein neues Betriebsverfassungsgesetz von 1970 enthielt in § 3 Abs. I Nr. 3 noch eine Regelung, derzufolge durch Tarifvertrag eine Erweiterung der Aufgaben und Befugnisse der Vertretungen der Arbeitnehmer in Angelegenheiten, die den Inhalt, den Abschluß oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen betreffen, erfolgen konnte. Dieser Entwurf ist abgedruckt in RdA 1970, 357.
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sen ist im Regierungsentwurf nur, ob desgleichen die übrigen Vorschriften, also die Vorschriften des 4. Teils des BetrVG 1972 über die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Betriebsrats, zwingender Natur sind: "Inwieweit von den anderen als organisatorischen Vorschriften durch Tarifvertrag abgewichen werden kann, regelt der Entwurf - ebenso wie das geltende Recht - grundsätzlich nicht.,,165
Der Gesetzgeber wollte also diese schon während der Ge1tungszeit des BetrVG 1952,166 aber auch nach Inkrafttreten des BetrVG 1972 167 heftig diskutierte Frage nicht selbst beantworten, sondern Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen. 168 Mittlerweile dürfte dies im bejahenden Sinne, also für eine mögliche Erweiterung der Mitbestimmungsrechte durch Tarifvertrag, beantwortet sein. 169 Zulässig ist indes nur eine Erweiterung der Beteiligungsrechte. 17o Die Normen des vierten Teils des BetrVG sind einseitig zwingend, gehören mithin der zweiten Kategorie an. Der zentrale Unterschied zwischen den Organisationsnormen und den Normen über die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte wird durch die Begründung deutlich, die für die einseitige Dispositivität der letzerern angeführt wird: Bei den Regelungen über die Mitwirkung des Betriebsrats handele es sich um Arbeitnehmerschutzbestimmungen. 171 Diese seien (eben) in aller Regel (nur) einseitig zwingender Natur. 172 Dies gilt jedoch gerade nicht für das betriebsverfassungsrechtliche Organisationsstatut. Es legt nur die Grundstrukturen der Betriebsorganisation fest. 165 Regierungsentwurf zum BetrVG 1972 vom 29. 01. 1971, BT-Drucks. VII 1786, S. 36. 166 Vg\. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 253; Schwendy, Abänderbarkeit betriebsverfassungsrechtlicher Rechtssätze, S. 99 ff.; Siebert, BB 1958,421 (421 f.); ders., RdA 1959, 167 (172); Nikisch, RdA 1964,305 (307); Walter, BB 1953,89 (89 ff.); Hueck, BB 1952, 925 (925 f.). 167 Vg\. FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § I RdNr. 215; MünchArbR-vHoyningen-Huene, § 289 RdNr. 97 ff. mwN; GK-BetrVG-Wiese, Ein\. RdNr. 70 ff.; Däubler I Kittner/Klebe-Däubler, BetrVG Ein!. RdNr. 77 ff.; ErfurterKomm-HanauIKania, BetrVG Ein!. vor § 74 RdNr. 4 ff.; Wiedemann-Wiedemann, TVG § I RdNr. 598 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 VII 6 mwN; Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 362 ff.; Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 41 ff.; ders., DB 1988, 2149 (2149 ff.); Ritter, Vom Betriebsverfassungsgesetz 1972 abweichende Regelungen, S. 36 ff.; SäckerlOetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 195 ff.; Sophos, Möglichkeiten der Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats durch Tarifvertrag, S. 7 ff.; Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 25 ff. mwN. 168 Vg!. nur Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 27 f. mwN; MeierKrenz, DB 1988,2149 (2150). 169 BAGE 56, 18 (34 ff.) AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; E 57,317 (323 ff.) AP Nr. 53 zu § 99 BetrVG 1972; dennoch wird diese Frage nicht für alle Beteiligungsrechte gleich beantwortet, vg!. GK-BetrVG-KraJt, § I RdNr.57. 170 Dies ergibt sich aus dem Arbeitnehmerschutzcharakter der Gesetzesregelung über die Mitbestimmung; vg!. BAGE 57,317 (325). 171 Vg\. FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § I RdNr. I; aber auch Richardi, ZfA 1990,211 (227); ders., NZA 1988,673 (675 f.). 172 So BAGE 57,317 (325).
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So wird man kaum die Abänderbarkeit dieser Vorschriften mit dem Argument befürworten können, daß hierdurch der Arbeitnehmerschutz verstärkt würde. Denn im Einzelfall ist es kaum bestimmbar, ob beispielsweise eine Änderung der Wählbarkeitsvorschriften oder der Betriebszuordnung eine Regelung zugunsten oder zu Lasten der Arbeitnehmerschaft darstellt; es fehlt der innere Zusammenhang zum Arbeitnehmerschutz. Eine Erweiterung der Beteiligungsrechte wird man dagegen stets auch als Erweiterung des Arbeitnehmerschutzes begreifen können. Die Charakteristik der Organisationsvorschriften ist aus arbeitnehmerschutzrechtlicher Sicht vorwiegend neutral. Es verbietet sich die Anwendung eines "Günstigkeitsprinzips". 173 Die Auslegung des Gesetzes selbst deckt sich mit der gesetzgeberischen Intention, die Organisationsstruktur grundsätzlich tariffest zu gestalten. Denn wenn für bestimmte Fragen der Organisation im Betriebsverfassungsgesetz ausdrücklich abweichende Regelungen zugelassen werden,174 kann daraus nur der Schluß gezogen werden, daß die übrigen organisatorischen Vorschriften auch für die Tarifvertragsparteien zwingend sind 175 - argumentum e contra rio. Einen Sinn haben die Öffnungsklauseln nur dann, wenn eine Änderung der Organisation der Betriebsverfassung im übrigen ausgeschlossen ist,176 es sich deshalb um eine erschöpfende Aufzählung handelt - enumeratio ergo limitatio. 177 Daß der staatliche Normgeber, mit Ausnahme der Öffnungsklauseln, die betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsnormen im BetrVG zwingend ausgestaltet hat, wird dementsprechend - soweit ersichtlich - auch nicht bezweifelt. 178 In diesem Sinne auch HesslSchlochauerlGlaubitz, BetrVG vor § I RdNr.42. Vg!. §§ 3, 38 Abs. 1,47 Abs. 4, 55 Abs. 5, 72 Abs. 4, 76 Abs. 8, 76a Abs. 5, 86 und 117 Abs. 2 S. I BetrVG. Teilweise wird verkannt, daß es sich bei diesen Öffnungsklause1n um Bestimmungen handelt, welche sich ausschließlich auf das Organisationsstatut beziehen und nicht auf die Beteiligungsrechte des Betriebsrats. So zieht bspw. Heinze (Personalplanung, RdNr. 166) den unzulässigen Schluß, daß eine Erweiterung der Beteiligungsrechte wegen der insoweit abschließenden Öffnungsklauseln unzulässig sei. Dieser Umkehrschluß ist aber gerade für die materiellen Bestimmungen im BetrVG nicht zu ziehen, da diese Frage durch die Öffnungsklauseln nicht tangiert wird. 175 Vg!. vHoyningen-HueneIMeier-Krenz, ZfA 1988,293 (307); dieser Schluß kann freilich für die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte gerade nicht gezogen werden, da in deren Bereich keine Öffnungsklauseln vorhanden sind; dazu Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 27. 176 Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 121. 177 Vg!. dazu Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 11, S. 539. 178 BAGE 25,60 (69) AP Nr. 1 zu § 19 BetrVG 1972; E 57,317 (324) AP Nr. 53 zu § 99 BetrVG 1972; LAG Hamm OB 1974, 291 (292); LAG Hamburg LAGE Nr. 1 zu § 3 BetrVG 1972; LAG Berlin SAE 1965,12 (13); FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 1 RdNr. 213 und § 3 RdNr. 1; Richardi, BetrVG Ein!. RdNr. 130 ff.; HesslSchlochauerlGlaubitz, BetrVG vor § 1 RdNr. 42; GK-BetrVG- Wiese, Ein!. RdNr. 70; Däubler I Kittner I KlebeDäubler, BetrVG Ein!. RdNr. 72; ErfurterKomm-Eisemann, BetrVG § 3 RdNr. 1; Wiedemann- Wiedemann, TVG § 1 RdNr. 596; Galperinl Löwisch, BetrVG vor § 1 RdNr. 6 und § 3 RdNr. 1; MünchArbR-vHoyningen-Huene, § 289 RdNr. 93; Feichtinger, Die betriebsverfassungsrechtliche Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, S. 81, 136; Tesarczyk, Betrieb173
174
=
4 Wißmann
=
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
Die gesetzliche Normierung des Personalvertretungsrechts des Bundes geht noch einen Schritt weiter. Nach § 3 BPersVG hat das gesamte Personalvertretungsrecht zwingende Wirkung und kann nicht durch Tarifvertrag abgeändert werden. Dies gilt im Gegensatz zum BetrVG ausdrücklich gleichfalls für die Beteiligungsrechte der Personalvertretungsorgane. 179 Zum einen ist es Zweck dieser Vorschrift, eine einheitliche Geltung des Personalvertretungsrechts für alle Dienststellen zu gewährleisten. IRO Zum anderen geht es, im Hinblick auf die zwingende Wirkung der Regeln über die Beteiligungsrechte, darum, eine Benachteiligung der Beamtenschaft zu vermeiden. Das Personalvertretungsrecht gilt einheitlich für Beamte und Arbeitnehmer. Ein Tarifrecht für Beamte gibt es jedoch nicht. So würden tarifvertragliche Vc!reinbarungen über die Erweiterung der Mitwirkungsrechte den einheitlichen Rechtszustand in den Bundesverwaltungen gefährden. 181 Dies macht aber auch deutlich, warum bezüglich der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte aus § 3 BPersVG kein Rückschluß auf die Betriebsverfassung gezogen werden kann. Die dargestellte Problematik stellt sich dort gerade nicht. Was das betriebsverfassungsrechtliche Organisationsstatut angeht, so decken sich aber die Erwägungen mit der Begründung zu § 3 BPersVG: Die grundsätzlich zwingende Wirkung der Organisationsnormen soll die Einheitlichkeit der Strukturen der Betriebsverfassung gewährleisten. Das Recht der Unternehmensmitbestimmung, so wie es insbesondere im Montan-MitbestG, dem BetrVG 1952 (§§ 76-77a, 81 und 85) und dem MitbestG 1976 geregelt ist, ist nach allgemeiner Meinung grundsätzlich zwingend. IR2 Anders als liche Sondervertretungen der Arbeitnehmer, S. 36 ff.; Meier-Krenz. Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 120 ff.; ders., DB 1988, 2149 (2150); vHoyningen-Huene/Meier-Krenz. ZfA 1988,293 (307); Spilger; Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 33 ff.; Jahnke. Tarifautonomie und Mitbestimmung, S. 192; Säcker/Oetker; Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 197; Nebendahl. DB 1991, 384 (385); einschränkend jedoch Däublerl Kittner/Klebe-Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 20i: Soweit Rechtspositionen des Betriebsrats Gegenstand organisatorischer Bestimmungen seien, die nicht zu den Beteiligungsrechten gehörten, seien diese kollektivvertragsdispositiv. Diese Sichtweise habe ihre Anerkennung mit § 325 Abs. 2 UmwG bekommen. Es fragt sich hier allerdings, welche Rechtspositionen Trümner meint, wenn er von "operativen Rechten" spricht. Zweifelhaft ist jedenfalls die Einordnung von Rechten unter die organisatorischen Bestimmungen des BetrVG, gerade wenn man, wie Trümner; eine Mindestniveaugarantie konstatiert. Eine Mindestniveau ist organisatorischen Bestimmungen aber gerade fremd. Daneben läßt sich durc\! einen Rückgriff auf § 325 Abs. 2 UmwG keine "prinzipielle Anerkennung" der "Änderbarkeit von organisatorischen Vorschriften des BetrVG" (so noch Trümner in der Vorauflage) entnehmen, da § 325 Abs. 2 UmwG noch an den Zusatztatbestand der Unternehmensumwandlung anknüpft und so eine spezielle Regelung darstellt aus der sich keine allgemeinen Rückschlüsse ziehen lassen (vgl. unten S. 79 f. und Lutter-Joost. UmwG § 325 Rdn 27). 179 Grabendorj/Windscheid/llberz/Widmaier; BPersVG § 3 RdNr. 2; Altvater/Bacher u. a., BPersVG § 3 RdNr. 1 ff. 180 Grabendorj/Windscheid/llberz/Widmaier; BPersVG § 3 RdNr. 3. 181 Grabendorj/Windscheid/llberz/Widmaier; BPersVG § 3 RdNr. 4; BT-Drucks. 7/176, Begr. zu § 3 BPersVG, S. 27. 182 MünchArbR-W!ßmann, § 365 RdNr. 14; Fitting/Wlotzke/W!ßmann, MitbestG § 1 RdNr. 3 ff.; Raiser; MitbestG § 1 RdNr. 49 ff.; Hanau/Ulmer-Ulmer; MitbestG Einl.
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das BetrVG enthalten diese Gesetze keine Öffnungsklauseln, die abweichende tarifliche Regelungen zuließen. Als zwingend sind dabei insbesondere die Vorschriften über die Abgrenzung zwischen den Anwendungsbereichen der verschiedenen Gesetze, über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat, über die Wahl und Abberufung der Arbeitnehmervertreter zu qualifizieren. 183 Dieser Bereich des Mitbestimmungsrechts deckt sich damit der Art nach qualitativ mit den Organisationsvorschriften des BetrVG. Daneben wird es jedoch überwiegend für zulässig erachtet, durch nichttarifvertragliche Mitbestimmungsvereinbarungen eine Arbeitnehmervertretung auf Unternehmensebene in nicht vom Gesetz erfaßten Unternehmen einzuführen. 184 Jedenfalls für die GmbH soll daneben eine Gestaltung des Gesellschaftervertrages zulässig sein, die eine Aufstockung der Zahl der Arbeitnehmervertreter über das in § 77 BetrVG 1952 vorgesehene Drittel des Aufsichtsrats vorsieht; 185 § 77 BetrVG 1952 enthalte nur eine gesetzliche Untergrenze, 186 sei also einseitig dispositiv. Dies stellt zunächst keinen Widerspruch zu der eingangs dargestellten These der zwingenden Wirkung des Mitbestimmungsrechts gegenüber den Tarifpartnern dar. Denn im Gegensatz hierzu basieren die nichttarifvertraglichen Vereinbarungen auf der Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter. Für die vorliegende Untersuchung bleibt also insoweit nur die Feststellung, daß der grundsätzlich zwingende Charakter organisatorischer Vorschriften, jedenfalls gegenüber den Tarifpartnern, auch im Mitbestimmungsrecht zu konstatieren ist. Die Frage, ob dem bereits ein allgemeiner Grundsatz für organisatorische Vorschriften gleich welcher Art zu entnehmen ist, muß jedoch verneint werden, da eine solche allgemeingültige Feststellung nicht nur auf der Auslegung einzelner Gesetze - und nur darum geht es hier - beruhen kann.
RdNr. 36 ff.; KästlerlKittnerlZachert, Aufsichtsratspraxis, RdNr. 232 ff., 241; sämtlich mwN. 183 MünchArbR-Wißmann, § 365 RdNr. 16. Ob darüber hinaus bereits in § 1 Abs. 1 TVG eine Sperre für nonnative tarifvertragliche Regelungen im Bereich der Unternehmensmitbestimmung zu sehen ist, ist zumindest zweifelhaft. Wie oben dargelegt (siehe S. 31 ff.), ergibt sich die tarifautonome Nonnierungsbefugnis nicht erst aus § 1 Abs. I TVG; dieser muß sich vielmehr an Art. 9 Abs. 3 GG messen lassen. Gehört die Materie der Unternehmensmitbestimmung zu den "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" des Art. 9 Abs. 3 GG, so kann § 1 Abs. 1 TVG nur dann eine Sperrwirkung haben, wenn es für eine solche Beschränkung der Betätigungsfreiheit der Koalitionen eine verfassungsrechtliche Legitimation gibt. Diese kann sich jedoch nur aus anderen, mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechten ergeben. Mit Artt. 12 und 14 GG mag diese Legitimation zwar gefunden sein, es muß jedoch bezweifelt werden, daß die Schöpfer des vorkonstitutionellen TVG hieran überhaupt gedacht haben. Dazu Jahn/ce, Tarifautonomie und Mitbestimmung, S. 87 f., 197 ff. 184 OLG Bremen NJW 1977, 1153 (1154); MünchArbR-Wißmann, § 365 RdNr. 19; LutterlHommelhoff, GmbHG § 52 RdNr. 9 (für die GmbH); Hanau/Ulmer-Ulmer, MitbestG Ein!. RdNr. 22; DietzlRichardi, BetrVG vor § 76 BetrVG 1952 RdNr. 14 f.; Fabricius, FSHilgerlStumpf, S. 155 (172 ff.); ablehnend Rowedder-RittnerISchmidt-Leithoff, GmbHG Ein!. RdNr. 164 ff. 185 LutterlHommelhoff, GmbHG § 52 RdNr. 25. 186 OLG Bremen, NJW 1977, 1153 (1154); MünchArbR-Wißmann, § 365 RdNr. 20 mwN. 4"
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
Aus der Betrachtung der bundesgesetzlichen Normierungen des Personalvertretungsrechts und der Unternehmensmitbestimmung lassen sich über den einfachen Vergleich hinaus keine weiteren oder anders lautenden Konsequenzen für den Charakter der Organisationsnormen des BetrVG ziehen. Der Vergleich von § 3 BetrVG mit § 3 BPersVG und den Vorschriften der Unternehmensmitbestimmung macht vielmehr deutlich, daß der Ausgestaltung der organisatorischen Bestimmungen in den einzelnen Gesetzen gerade unterschiedliche Motive zugrunde lagen, die eine für jede Materie eigenständige Prägung mit sich bringen. Ansonsten wäre es nicht erklärlich, daß der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien innerhalb der Betriebsverfassung einen weitaus größeren Gestaltungsspielraum überlassen hat. Der Gesetzgeber hat - dies bleibt als Zwischenergebnis festzuhalten - die Organisation der Betriebsverfassung, mit Ausnahme der Öffnungsklauseln, als zweiseitig zwingend charakterisiert. Ob die Betriebsverfassung durch das BetrVG auch abschließend kodifiziert wurde, 187 kann an dieser Stelle dahinstehen.
11. Zwingende Normierung als Verstoß gegen die tarifautonome Normsetzung? Aus dem festgestellten Zwischenergebnis der zwingenden Ausgestaltung der betriebsverfassungsrechtIichen Organisationsnormen im BetrVG ergibt sich, daß den Koalitionen dieser Bereich zur eigenen Normsetzungsbefugnis entzogen ist. Die betriebsverfassungsrechtliche Materie gehört jedoch zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG und ist danach den Tarifpartnern im Rahmen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie zur Normsetzung überlassen. 188 Eine Beschränkung oder Änderung dieser Garantie durch das BetrVG ist nur möglich, soweit Grundrechte Dritter bzw. sonstige verfassungsrechtIiche Rechtsgüter dies rechtfertigen. 189 Für eine Verdrängung der Koalitionen aus diesem Bereich tariflicher Normsetzung muß dem Gesetzgeber ein verfassungsrechtliches Gebot zur Seite stehen, das nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz l90 mit der Betätigungsgarantie der Koalitionen in Einklang gebracht werden muß 191 • Anhand der oben aufgestellten Prämissen l92 ist also nach einer Legitima-
187 Vgl. dazu Tesarczyk, Betriebliche Sondervertretungen der Arbeitnehmer, S. 36 f.; Spilger, Tarifvertragliches Betriebsverfassungsrecht, S. 26; bei Feichtinger, Die betriebsverfassungsrechtliche Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, S. 70 und MünchArbR-vHoyningen-Huene, § 289 RdNr. 92 wird abschließend offensichtlich gleichbedeutend mit zwingend verstanden. 188 Siehe oben A. S. 23 ff. 189 Siehe oben B. III. S. 43 ff. 190 Siehe dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 317 ff. 191 Vgl. Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 103 f. 192 Siehe oben A. III. S. 33 ff. und B. III S. 43 ff.
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tionsbasis für zwingende staatliche Normsetzung auf dem Gebiet der (organisatorischen) Betriebsverfassung zu suchen. Für das Personalvertretungsrecht hat das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 15. Juli 1986 konstatiert, daß (sogar) ein genereller Ausschluß tariflicher Regelungen Art. 9 Abs. 3 GG nicht verletzt. 193 Diese Entscheidung basiert jedoch auf der mißverstandenen alten Kernbereichslehre des BundesverfassungsgerichtS. 194 So verneint das Gericht einen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie bereits mit dem Hinweis, zum geschützten Bereich der Koalitionsfreiheit gehöre nur "ein Mindestmaß an spezifisch koalitionsmäßiger Betätigung". 195 Sodann stellt es fest: "Die Bestimmung 196 berührt nicht die Betätigung der Koalition in der Dienststelle ( ... ). Sie verbietet nur die tarifvertragliehe Rechtsetzung im Bereich der Personal vertretung." 197 Ohne weitere Begründung unterstellt das Gericht damit die Tarifautonomie einem geringeren verfassungsrechtlichen Schutz als die übrigen Betätigungsformen der Koalitionen. Diese Unterscheidung innerhalb der koalitiven Betätigungsfreiheit, deren wesentlicher Bestandteil die tarifautonome Normsetzungsbefugnis ist, ist nicht begründbar. Selbst wenn man dies außer Acht läßt, ist es mit den oben aufgestellten Prämissen des Verhältnisses staatlicher zu tarifautonomer Rechtsetzungsbefugnis 198 nicht vereinbar, daß von vornherein nur irgendein Mindestmaß koalitiver Betätigung geschützt sein soll, da es dem Gesetzgeber damit frei überlassen wäre zu entscheiden, welcher Bereich den Koalitionen zur Normsetzung verbleibt. 199 Vielmehr bedarf ein solcher Eingriff stets einer Rechtfertigung. Es kann dahinstehen, ob diese Entscheidung zum Personalvertretungsrecht auf die Betriebsverfassung überhaupt übertragbar ist. Sie geht von einem anderen Ansatz aus und wird dem hiesigen Befund zum Verhältnis staatlicher zu tarifautonomer Rechtsetzung nicht gerecht und kann mithin nicht Grundlage der weiteren Erörterung sein. Soweit ersichtlich, ist bislang noch nicht untersucht worden, auf welche verfassungsrechtliche Legitimationsbasis der Gesetzgeber sich berufen kann, wenn er, 193 BAGE 52, 279 (286) = AP Nr. 1 zu Art. 3 BayPersVG = OB 1987,283; aA jedoch Däubler; AuR 1973,233 (235). 194 Das BAG bezieht sich in dieser Entscheidung insbesondere auf das Mitbestimmungsurteil des BVerfG (E 50, 290 [253 ff.)). 195 BAGE 52, 279 (286). 196 Die Entscheidung bezieht sich auf Art. 3 BayPersVG, welcher § 3 BPersVG entspricht. Beide Bestimmungen schließen für das Personalvertretungsrecht abweichende tarifliche Regelungen gänzlich aus, also auch solche, die die Erweiterung von Beteiligungsrechten zum Gegenstand haben. 197 BAGE 52,279 (286). 198 Siehe oben B.m. S. 43 ff. 199 Eine solche Argumentation steht daneben nicht im Einklang mit BVerfGE 94, 268 (284 f.). Dies gilt auch, wenn man die Frage nach der Rechtsgutbeschaffenheit (Verfassungsrang oder sonstiges Rechtsgut) ausklammert, da das BAG eine Legitimation überhaupt nicht fordert.
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L Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
wie geschehen, das Organisationsrecht der Betriebsverfassung zweiseitig zwingend ausgestalten will. 200 Als verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition kommt zunächst die negative Koalitionsfreiheit in Betracht. 201 Wie dargelegt haben betriebsverfassungsrechtliche Nonnen nach § 3 Abs. 2 TVG auf Arbeitnehmerseite auch Wirkung gegenüber tarifungebundenen Beschäftigten. Daraus ergibt sich ein Legitimationsdefizit der tariflichen Nonn nach § 3 Abs. 2 TVG, was eine besondere Beachtung der Außenseiterinteressen notwendig macht. 202 Die negative Koalitionsfreiheit kann gleichwohl nur dann eine geeignete Legitimationsgrundlage für zweiseitig zwingende Nonnenkomplexe sein, wenn gerade der Außenseiterschutz eine entsprechende Regelungsart erfordert und das Zurückdrängen der tarifautonomen Nonnsetzungsbefugnis verhältnismäßig ist. Eine Zuhilfenahme der negativen Koalitionsfreiheit muß jedoch bereits im Ansatz scheitern. Die nonnative Regelung der Betriebsverfassung, sei es nun durch die Koalitionen mittels Tarifverträgen nach § 3 Abs. 2 TVG oder durch den Gesetzgeber, erfolgt in beiden Fällen einheitlich. Eine Differenzierung nach der Koalitionszugehörigkeit findet nicht statt. Daraus folgt zwar, daß betriebsverfassungsrechtliche Regelungen durch Tarifvertrag stets gewerkschaftsneutral fonnuliert sein müssen, demgemäß sich aus der Verbandszugehörigkeit keine Bevorzugungen ergeben und Außenseiter nicht benachteiligt werden dürfen. Soweit diese Prämisse eingehalten ist, spielt es jedoch keine Rolle, von welchem Nonngeber die Regelung herrührt, da es sich um gewerkschaftsneutrales Organisationsrecht handelt, was eine Verletzung der Außenseiterinteressen stets ausschließt. Es sind damit, was die Notwendigkeit einer Kodifizierung der Betriebsverfassung angeht, die Interessen der Außenseiter nicht in stärkerem Maße betroffen, als die der Tarifgebundenen. Erst recht erfordert der Außenseiterschutz keine zwingende Kodifizierung der Betriebsverfassung durch den Gesetzgeber?03 Als weiterer Anhaltspunkt findet sich das Sozialstaatsprinzip (Artt. 28 Abs. 2, 20 Abs. 1 GG)?04 Adressat des Sozialstaatspostulats ist, da es nicht bereits selbst Rechtsverhältnisse konstituiert oder selbst Ansprüche verleiht, in erster Linie der Gesetzgeber. 205 Als legislatorischer Handlungsauftrag beinhaltet es das Ziel des 200 So auch Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 12. Soweit sich das Schrifttum mit dieser Frage überhaupt auseinandersetzt, wird auf den Schutz anderer Rechtsgüter - ohne Verfassungsrang - abgestellt; so Meier-Krenz, Erweiterung von Beteiligungsrechten, S. 122 oder es wird die Legitimation nur für die Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte, also einseitig zwingende Vorschriften, überprüft; so Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 103 ff. 201 Dazu oben A. III. S. 33 ff. 202 Dazu oben A. III. S. 32 ff. 203 AA Kempen, FS-Schaub, S. 357 (366). 204 Vgl. dazu Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 104 und Söllner, NZA 19%,897 (899, Fn. 17); das Sozialstaatsprinzip legitimiert jedoch keine unmittelbare Grundrechtseinschränkung von vornherein: BVerfGE 59, 251 (263). ws Hofmann in Isensee I Kirchhof, Bd. I, § 7 RdNr. 58.
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Abbaus sozialer Ungleichheit, der Herstellung der Chancengleichheit, des Schutzes der sozial und wirtschaftlich Schwächeren sowie der Schaffung der existentiellen Voraussetzungen für den Gebrauch der rechtsstaat lichen Freiheiten. 206 Klassische Form der sozialen Ungleichheit ist die Machtdifferenz zwischen Unternehmer und Arbeiter?07 Die Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene ist ein Mittel, um dieses Ungleichgewicht zugunsten der Arbeitnehmer abzubauen, da sie zu einem nicht unwesentlichen Teil die Bedingungen beeinflußt, "unter denen die Arbeitnehmer namentlich ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit wahrnehmen, das für alle sozialen Schichten von Bedeutung ist,,?08 Für das Arbeitsrecht ist dem Sozialstaatsprinzip das Gebot an den Gesetzgeber zu entnehmen, zum Ausgleich von Machtungleichgewichten einen Mindestschutz bereitzustellen, der das Machtdefizit auf Arbeitnehmerseite verringert?09 Dementsprechend ist das Sozialstaatsprinzip als Legitimationsbasis für die Normierung der Betriebsverfassung grundsätzlich anerkannt. 210 Neben dieser Verantwortung des (Sozial)Staats steht jedoch der Primat der Selbstverantwortung. Diese Verantwortung des Einzelnen erfordert eine funktionierende Autonomie, weIche die Wahrnehmung der eigenen Interessen möglich macht. 2I1 Kollektive Instrumente der autonomen Interessenwahrnehmung bietet die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Daraus ergibt sich ein Gegenüber staatlicher Verantwortung und der (Eigen-) Verantwortung der Koalition. Komplettiert wird dieses Gegenüber, wenn man auch die Koalitionsfreiheit selbst als Ausfluß des Sozialstaatsprinzip begreift. 212 Wenn aber nun sowohl die Koalitionen als auch der Staat dem Sozialstaatsprinzip unterworfen sind,213 scheint es auf ersten Blick kaum möglich, aus diesem Prinzip eine die Koalitionen verdrängende Normsetzungsmacht des Staates für die Betriebsverfassung herzuleiten. Wegen der beiderseitigen Verantwortlichkeit, im Arbeitsrecht ein Gleichgewicht herzustellen, läßt sich eine regelmäßige vorrangige Kompetenz des Gesetzgebers also nicht begründen. 214 Auflösen läßt sich das Verhältnis dennoch folgendermaßen: Der Gesetzgeber ist aufgrund des Sozialstaatspostulats im Bereich der PrivatHofmann in Isensee I Kirchhof, Bd. I, § 7 RdNr. 59. Zacher in Isensee I Kirchhof, Bd. I, § 25 RdNr. 32. 208 BVerfGE 50, 290 (349). 209 Vgl. Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 104; allgemein Post, ZfA 1978,421 (434 ff.). 210 Vgl. dazu nur Richardi, BetrVG Einl. RdNr. 37 ff.; MünchArbR-Richardi, § 9 RdNr. 9 und BVerfGE 51, 43, 58; Waltennann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie, S. 59 f.; Lohse, Grenzen gesetzlicher Mitbestimmung, S.49f. 2ll Zacher in Isenseel Kirchhof, Bd. I, § 25 RdNr. 3l. 212 BVerfGE 4, 96 (102); dazu ferner Gießen, Die Gewerkschaften im Prozeß der Volksund Staatswillenbildung, S. 194 ff. m BAGE 20, 175 (225). 214 Anders Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrages, S. 84 f. 206 207
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
autonomie dann zu gesetzgeberischen Eingriffen befugt, wenn die Privatautonomie selbst ein Gleichgewicht der Vertragspartner nicht gewährleisten kann oder gerade verhindert. 215 Übertragen auf das Verhältnis der tarifautonomen zur gesetzgeberischen Normsetzungsbefugnis bedeutet dies, daß ein Eingreifen des Staates dann legitimiert ist, wenn die Tarifvertragsparteien einen erforderlichen Arbeitnehmerschutz nicht herstellen oder nicht herstellen können. Dies deckt sich mit dem oben gefundenen Ergebnis zum Verhältnis staatlicher zu tarifautonomer Normsetzung,z16 Denn können oder wollen die Koalitionen einen flächendeckenden Schutz der Arbeitnehmerinteressen nicht installieren, so ist der Staat der geeignetere weil effektivere Normgeber. Die Freiheitsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG verliert dann gegenüber der staatlichen Rechtsetzungsbefugnis an Wirkkraft, deren Grundlage bei Arbeitnehmerschutzvorschriften immer auch das Sozialstaatspostulat iSt. 217 Im Bereich der Betriebsverfassung hat es bereits seit Anfang der fünfziger Jahre mit dem BetrVG 1952 eine umfassende gesetzliche Regelung gegeben. Wie im folgenden das BetrVG 1972 erkannte das Gesetz von 1952 nur in geringem Umfang eine Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien an. 218 Eine großräumige Regelungschance hatten die Tarifpartner damit spätestens seit 1952 nicht mehr. Zur Zeit der Geltung des Betriebsrätegesetzes von 1920 besaßen die Koalitionen eine umfangreiche Regelungskompetenz auch im Bereich der Betriebsverfassung,219 wovon sie auch Gebrauch machten. 22o Nicht viel anders war es während der Geltung des Kontrollratsgesetzes Nr. 22 von 1946, jedoch machten hier die Koalitionen von ihrem Recht, tarifvertraglich auf die Betriebsverfassung einzuwirken, nur in geringem Umfang Gebrauch,221 was allerdings in Ansehung der damaligen Umstände nicht verwundert. Angesichts dieses Befundes kann von einem "Nicht-Wollen" der Tarifvertragsparteien kaum die Rede sein, da die Betriebsverfassung gerade zu den Rechtsmate215 Zum Verhältnis von Tarif- und Privatautonomie vgl. Ehmannl Lambrich. NZA 1996, 346 (348 f.). 216 Siehe oben B. III. S. 43 ff. 21? Vgl. BVerfGE 94,268 (285). 218 Vgl. etwa § 20 BetrVG 1952; dazu FittinglKraegelohlAuffarth. BetrVG 1952 § 20 RdNr. 51 ff. 219 Die kollektiven Vereinbarungen mit betriebsverfassungsrechtlichem Inhalt hatten seinerzeit nur schuldrechtliche Wirkung; vgl. dazu oben A. H. S. 29. 220 Vgl. die in den folgenden Entscheidungen des RAG genannten Tarifverträge: RAG vom 7. 09.1928, Bensh. Slg. 4, 200; RAG vom 19.01. 1929, Bensh. Sig. 5, 249; RAG vom 15. 06. 1929, Bensh. Sig. 6, 182; RAG vom 29. 05. 1929, Bensh. Sig. 6, 335; RAG vom 19. 10. 1929, Bensh. Sig. 7,181. 221 FittinglKaiserlHeitherlEngels. BetrVG Einl. S. 56; vgl. dazu BAGE 2, 165 (196). Auch durch Inkrafttreten des TVG 1949 (insb. § 1 Abs. 1) sollte den Tariffähigen ein möglichst großer Gestaltungsspielraum für betriebsverfassungsrechtliche Fragen eingeräumt werden. Nachdem aber die Betriebsverfassung bereits 1952 durch Gesetz geregelt wurde. hatten die Koalitionen nicht viel Zeit, sich auf diesem Gebiet zu bewähren. Vgl. dazu oben A. 11. S. 29 ff. und zur Entstehung des TVG Herschel. ZfA 1973, 183.
§ I Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner
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rien des Arbeitsrechts zählt, die bereits frühzeitig einer umfassenden gesetzgeberischen Regelung unterlagen. Hierauf kann es aber auch nicht (allein) ankommen, denn es geht nicht darum, demjenigen Normgeber den Vorrang einzuräumen, der zuerst ein Rechtsgebiet besetzt. 222 Entscheidend ist vielmehr, daß die Tarifautonomie wegen ihres funktionellen Defizits eine umfassende, also insbesondere auch flächendeckende, Installation der Arbeitnehmerinteressenvertretung auf Betriebsebene nicht bewirken kann. Sie kann dies nicht so effizient wie der Gesetzgeber, der in einem Rechtsetzungsakt die Betriebsverfassung umfassend zu regeln imstande ist. Eine Betriebsverfassung, die ausschließlich oder zu einem großen Teil durch tarifvertragliche Normen geregelt wäre, würde wegen der Tarifbindungsabhängigkeit auf Arbeitgeberseite unter einem Regelungsdefizit zu Lasten der Arbeitnehmer leiden, deren Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist. Zwar bildet die gesetzliche Regelung der Betriebsverfassung auch nur einen Rahmen für die Installation einer Betriebsvertretung; eine Eigeninitiative der Belegschaft bleibt erforderlich. Im Bereich von Verbandstarifverträgen käme gleichwohl erschwerend hinzu, daß selbst die Initiative der Belegschaft tarifungebundener Arbeitgeber ohne Resultat bliebe. Anders als bei sonstigen tariflichen Regelungen nützte auch der Eintritt in die Gewerkschaft nichts. Die betriebliche Mitbestimmung ist für den Arbeitnehmerschutz von ganz zentraler Bedeutung. Sie bildet die Grundlage dafür, daß in Bereichen sonst einseitiger Bestimmung der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitnehmerschaft als Kollektiv und auf diese Weise mittelbar als Individuum erhalten bleibt. 223 Ob eine qualitativ gleichwertige Mitbestimmung für alle Arbeitnehmer in gleicher Weise durch die Arbeitnehmerkoalitionen hätte erreicht werden können, ist aus oben genannten Gründen mehr als zweifelhaft. Die Möglichkeit eines Regelungsdefizits in einem wichtigen Bereich des Arbeitnehmerschutzes rechtfertigt das gesetzgeberische Eingreifen. Ein Zuwarten, bis in allen Tarifbereichen entsprechende Regelungen bestehen, ist im Interesse eines möglichst umfassenden Arbeitnehmerschutzes nicht zumutbar. 224 Verhältnismäßig ist im Rahmen einer gesetzlichen Regelung, deren Legitimationsbasis das Sozialstaatsprinzip ist, aber nur, was aus Gründen des Mindestschutzes erforderlich ist, also zunächst nur einseitig zwingende Regelungen. Die tarifautonome Rechtsetzungsbefugnis darf lediglich insoweit durch die gesetzliche Regelung zurückgedrängt werden, als dies zur Verwirklichung des Rechtes, auf das sich der staatliche Normgeber beruft, erforderlich ist. Von mehreren gleich geeigneten Mitteln muß er das mildeste wählen. Im Hinblick auf den Arbeitnehmerschutz ist eine nach unten tariffeste Regelung jedoch stets gleich geeignet wie eine Regelungsweise, die im Ganzen der Disposition der Tarifvertragsparteien entzogen 222 Das Motto "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" kann kein Kriterium sein, die Nonnsetzungsbefugnisse voneinander abzugrenzen. 223 Vgl. Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 105. 224 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienste der Tarifvertragsparteien, S. 105.
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
ist (zweiseitig zwingende Regelung). Sie schränkt die Tarifautonomie in geringerem Maße ein, da der Regelungsbereich nach oben den Koalitionen offen bleibt. Für das Betriebsverfassungsgesetz bedeutet dies, daß das Sozialstaatsprinzip zunächst nur Legitimationsbasis für die Regelungen über die Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte sein kann und dies auch nur dann, wenn man sie zugunsten der Arbeitnehmerschaft für abänderbar hält. 225 Die Natur der betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsnormen ist aber, wie oben 226 dargestellt, zweiseitig zwingend. Es fragt sich damit, ob sich dennoch aus dem Sozialstaatsprinzip für die Organisationsnormen des BetrVG eine Rechtfertigung herleiten läßt. Zweck der zwingenden Gestaltung dieses Normenkomplexes ist es, einen einheitlichen Aufbau, eine einheitliche Organisationsstruktur der Betriebsverfassung zu gewährleisten,227 denn die Organisationsnormen stellen den Unterbau des materiellen Betriebsverfassungsrechts dar. Sie können aber ihrer Natur nach nur zweiseitig zwingend oder im Ganzen tarifoffen ausgestaltet werden. Als milderes Mittel des Gesetzgebers kämen damit nur tarifdispositive Organisationsnormen in Betracht. Nachdem jedoch festgestellt ist, daß die einseitig zwingende Wirkung des betriebsverfassungsrechtlichen Normenkomplexes ihre Legitimationsbasis im Sozialstaatsprinzip findet, ist gleichzeitig eine tariffeste Gestaltung der Organisationsnormen erforderlich und angemessen. Denn würde der Gesetzgeber die Organisationsnormen im Ganzen zur Disposition der Tarifvertragsparteien stellen, würde der übrige Normenbereich - die Bestimmungen über die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte - gewissermaßen "durch die Hintertür aufgeweicht". Letztere wären dann in der Konsequenz mittelbar vollständig zur Disposition der Koalitionen gestellt. Es wären beispielsweise tarifliche Bestimmungen denkbar, welche die Anwendbarkeit der gesetzlichen Betriebsverfassung auf größere Betriebe beschränkten oder bestimmte Branchen aus dem Schutz der Betriebsverfassung herausnähmen. Um die aus Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten zu gewährleistende Mindestsicherung in der Betriebsverfassung aufrechtzuerhalten, ist ein zwingender Unterbau als Ordnungsgefüge erforderlich und damit auch verhältnismäßig gegenüber der Tarifautonomie. Bestärkt wird diese Sichtweise, wenn man sich die Arbeitnehmerschutzfunktion des Betriebsverfassungsgesetzes 228 als Gesamtheit vor Augen führt. Der staatliche Normgeber kann sich für die Regelungsbefugnis der Materie der Betriebsverfassung auf das Sozialstaatsprinzip berufen. Es stellt die verfassungsrechtliche Legitimationsbasis für eine Verdrängung der koalitiven Normsetzungsfreiheit dar. Der Gesetzgeber darf dabei, wie mit dem BetrVG geschehen, die Or225 Soweit Teile der Literatur eine zweiseitig zwingende Wirkung der Bestimmungen über die Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte des Betriebsrats annehmen, kann dies der verfassungsrechtlichen Überprüfung nur standhalten, wenn man andere verfassungsfeste Rechte findet, die eine derartige gesetzgeberische Ausgestaltung rechtfertigen. 226 Siehe oben C. I. S. 47 ff. 227 BAGE 57,317 (324). 228 Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § I RdNr. I.
§ I Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner
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ganisationsvorschriften im Grundsatz zwingend ausgestalten. Einen unzulässigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG stellt dies nicht dar. Dagegen ist das Sozialstaatsprinzip hinsichtlich der Vorschriften über die Mitwirkungsund Beteiligungsrechte wegen ihres andersartigen Charakters nur Grundlage für eine einseitig zwingende Ausgestaltung. Dieser Bereich muß folglich dergestalt den Tarifpartnern zur Normsetzung überlassen werden, daß ihnen abweichende Vereinbarungen in Tarifverträgen zugunsten der Arbeitnehmerschaft offen bleiben. Eine vollständig zwingende gesetzliche Normierung würde die grundgesetzlich garantierte Normsetzungsbefugnis der Koalitionen im Bereich der Betriebsverfassung unverhältnismäßig zurückdrängen und stellte einen unzulässigen Eingriff, in Art. 9 Abs. 3 GG dar, vorbehaltlich anderer verfassungsfester Rechtsgüter, auf die sich der staatliche Normgeber berufen kann.
D. Zusammenfassung Eingangs dieses Abschnittes wurde nach dem Verhältnis der Organisationsnormen des BetrVG zur Tarifierungskompetenz der Koalitionen gefragt. Da nun der Gesetzgeber, wie gezeigt, die Organisationsnormen des BetrVG zwingend formuliert hat und dies auch durfte, ergibt sich als Erkenntnis für den weiteren Gang der Untersuchung: Der Kompetenzbereich der Tarifpartner muß sich am Gesetz (BetrVG) selbst orientieren. Es sind die Öffnungsklauseln und vom Gesetz nicht erfaßte Bereiche der Betriebsverfassung,229 welche den tarifoffenen Bereich bestimmen. Eine die gesetzliche Normierung verdrängende parallele Kompetenz aus Art. 9 Abs. 3 GG existiert nicht, so daß unter diesem Gesichtspunkt eine verfassungskonforme Auslegung der Organisationsnormen nicht geboten ist. 23o
229 Vom BetrVG ungeregelte Bereiche der Betriebsverfassung können eine tarifliche Regelungskompetenz eröffnen, wenn das Gesetz als Gesamtheit die Betriebsverfassung nicht abschließend regelt. Ist letzteres der Fall, bliebe die gesetzgeberische Intention, die Koalitionen aus der Nonnsetzungsbefugnis im betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrecht zu verdrängen, auf die Materie reduziert, die vom Anwendungsbereich des Gesetzes umfaßt ist. Eine nicht nur zwingende, sondern sogar abschließende Kodifikation erfordert jedoch eine weiteres Legitimationsgrundlage für den Gesetzgeber. Denn es ist mit dem Sozialstaatsprinzip bspw. nicht begründbar, den Koalitionen die Schaffung von Arbeitnehmervertretungen unterhalb der Schwelle des § I BetrVG (idR 5 Arbeitnehmer) zu verwehren. 230 Vgl. bereits hier die anderslautenden Darstellungen bei Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 10; Kempen/Zachert, TVG Grund\. RdNr. 118; Däubler, Tarifvertragsrecht, RdNr. 1040, 1055.
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
§ 2 Ausnahmetatbestände als Zugang der Tarifpartner
zur Organisation der Betriebsverfassung Ist festgestellt, daß es zur Bestimmung der tarifoffenen Materie hier allein auf das einfache Gesetz ankommt, gilt es, sich einen ersten Überblick über die gesetzlichen Zugangsregelungen zu verschaffen. Spricht man in diesem Zusammenhang von "Öffnungsklauseln" oder "Ausnahmetatbeständen", so wohnt dieser Wortwahl das zuvor gefundene Ergebnis inne. Es geht um die Bestimmung dessen, was (den Tarifpartnern) zwar im Grundsatz verschlossen ist, gleichwohl ausnahmsweise offenstehen soll. Der Regelungsbereich, der sich den Tarifpartnern durch diese Tatbestände erschließt, ist damit gleichsam das Tor zur betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsstruktur des BetrVG. Im folgenden soll dieser Überblick durch eine Kurzdarstellung der vorhandenen Öffnungsklauseln gegeben werden. Dabei geht es nicht darum, die Regelungsbereiche schon jetzt im einzelnen gen au festzulegen, sondern die gesetzlichen Grundlagen aufzuzeigen. Diese sind sodann im wesentlichen Arbeitsgrundlage der Erörterungen im 3. Kapitel dieser Abhandlung. Als Kodifikation der Betriebsverfassung ist das BetrVG die Hauptquelle. Dies auch, soweit es um Bestimmungen geht, die den Tarifpartnern Regelungsmöglichkeiten zuweisen. Doch findet sich auch im Umwandlungsgesetz mit § 325 Abs. 2 eine Öffnungsklausel, weiche sich in gleicher Weise sowohl an die Koalitionen als auch an die Betriebspartner richtet. Die Ausnahmetatbestände im BetrVG lassen sich zunächst in zwei Gruppen unterteilen. Zum einen sind dies jene Zulassungsnormen, die den Tarifpartnern Regelungsbereiche zuweisen, ohne daß sich der Staat eine Kontrolle der kollektivvertraglichen Bestimmungen vorbehalten würde. Zu dieser ersten Gruppe gehört die überwiegende Zahl der Zulassungsnormen im BetrVG, wobei sich daraus jedoch nicht der Schluß ziehen läßt, daß auch der überwiegende kollektivvertragsdispositive Regelungsbereich zustimmungsfrei wäre. Die zweite Gruppe bildet dann im wesentlichen - dies kann vorweggenommen werden - die bedeutendste Vorschrift dieser Art im Betriebsverfassungsgesetz, § 3 BetrVG. Eine Sonderrolle nimmt § 325 Abs. 2 UmwG ein. Dies bereits wegen seiner Stellung außerhalb des BetrVG und der damit einhergehenden Anknüpfung an umwandlungsrechtliche Tatbestände.
A. Gesetzliche Öffnungsklauseln ohne Zustimmungsvorbehalt Zur ersten Gruppe der Ermächtigungsnormen im Betriebsverfassungsgesetz gehören die §§ 38 Abs. 1 S. 3,47 Abs. 4, 55 Abs. 4, 72 Abs. 4, 76 Abs. 8, 76a Abs. 5, 86, 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG. Im Gegensatz zu § 3 BetrVG beinhalten sie kein behördliches Zustimmungserfordernis.
§ 2 Ausnahmetatbestände
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I. Anderweitige Regelung über die Freistellung
der Mitglieder des Betriebsrats § 38 Abs. 1 BetrVG sieht eine nach der Betriebsgröße gestaffelte Zahl von mindestens freizustellenden Betriebsratsmitgliedern vor. Dieser gesetzliche Mindestfreistellungsanspruch versteht sich als generalisierende Konkretisierung der allgemeinen Vorschrift des § 37 Abs. 2 BetrVG?31 Satz 3 eröffnet die Möglichkeit, durch Tarifverträge von § 38 Abs. 1 S. 1 und 2 BetrVG abweichende Regelungen über die Freistellung zu vereinbaren. Den Betriebspartnern ist die entsprechende Befugnis mittels Betriebsvereinbarungen eingeräumt. 232 Die anderweitige Regelungsbefugnis bezieht sich, wie sich aus ihrer Stellung in Abs. 1 ergibt, nur auf die Anzahl der ganz oder teilweise freigestellten Betriebsratsmitglieder und nicht auf das Freistellungsverfahren, welches in Abs. 2 geregelt ist. 233
Obwohl die Bestimmung des § 38 Abs. I BetrVG einen Mindestfreistellungsanspruch der Betriebsratsmitglieder und damit auch unmittelbare Rechte dieser Personen beinhaltet, behält sie den Charakter einer Organisationsnorm. Eine Erhöhung der Zahl der Freistellungen würde oberflächlich zwar die Position der einzelnen Betriebsratsmitglieder verbessern, jedoch nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Position des Betriebsrats führen, da eine Steigerung der Freistellungsquantität auch immer die Gefahr der "Entfernung" von der Belegschaft mit sich führt. Eine generelle Aussage, daß eine hohe Zahl der Freistellungen für den Betriebsrat günstiger ist, läßt sich mithin nicht treffen. Es geht um eine sachgerechte Abwägung unter Berücksichtigung der Strukturen des einzelnen Betriebs. Die Anwendung eines Günstigkeitsprinzips verbietet sich, wie im Grundsatz bei allen Organisationsnormen, auch hier. Folgerichtig bestimmt § 38 Abs. 1 S. 3 BetrVG durch Verwendung des Begriffs "anderweitige" (und nicht etwa "weitergehende"), daß auch eine geringere Zahl von Freistellungen als die Staffel des Gesetzes festgelegt werden kann?34
Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 38 RdNr. 1. Im Verhältnis Tarifvertrag zu Betriebsvereinbarung findet § 77 Abs. 3 BetrVG keine Anwendung, da es sich nicht um die Regelung von Arbeitsbedingungen, sondern um betriebsverfassungsrechtliche Regelungen handelt. 233 Fitting/Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 38 RdNr. 24; Däubler 1 Kittner 1 KlebeBlanke. BetrVG § 38 RdNr. 23; GK-BetrVG-Wiese. § 38 RdNr. 24; Engels/Natter, BB 1989 Beil. 8/89, 1 (23). 234 Vgl. Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 38 RdNr. 25; Däubler/Kittner/Klebe-Blanke. BetrVG § 38 RdNr. 20; GK-BetrVG-Wiese. § 38 RdNr. 25; Richardi. BetrVG § 38 RdNr. 20; Galperin/Löwisch. BetrVG § 38 RdNr. 31. 231
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
11. Abweichende Regelungen über die Zahl der Mitglieder der übrigen betriebsverfassungsrechtlichen Organe
Die §§ 47 und 72 BetrVG regeln in ihren zweiten Absätzen die Mitgliederzahl der zu bildenden Gesamtbetriebsräte beziehungsweise Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretungen. Die jeweiligen vierten Absätze gestatten es, kollektivvertraglich, also durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, die Mitgliederzahl anderweitig festzusetzen. Für den Konzernbetriebsrat, dessen Zusammensetzung sich aus § 55 BetrVG ergibt, findet sich mit § 55 Abs. 4 BetrVG eine entsprechende Regelung. Gegenstand der kollektivvertraglichen Regelungen ist zunächst nur eine von der gesetzlichen Bestimmung abweichende Bestimmung der Mitgliederzahl. Inwieweit das Gruppenprinzip, welches grundsätzlich bei der Zusammensetzung von Gesamt- und Konzernbetriebsrat zu beachten ist,235 tangiert und abgeändert werden darf, wird nicht einheitlich beantwortet. 236 Zweck dieser Öffnungsklauseln ist es, dem Tarifvertrag oder der Betriebsvereinbarung die Möglichkeit zu schaffen, unangemessen hohe oder unangemessen niedrige Mitgliederzahlen der Vertretungsorgane auszugleichen. 237 Ein solches Mißverhältnis kann insbesondere dann entstehen, wenn ein großes Unternehmen aus nur wenigen Betrieben besteht oder ein kleines Unternehmen aus sehr vielen Betrieben, da die Mitgliederzahl der übergeordneten Organe sich nicht nach der Belegschaftszahl, sondern nach der Anzahl der untergeordneten Organe richtet. Das entsprechende Problem ergibt sich dann im Konzern für den Konzernbetriebsrat, da es hier auf die Zahl der Unternehmen (Gesamtbetriebsräte) ankommt.
111. Tarifliche Schlichtungsstelle und abweichende Vergütungsregelung § 76 Abs. 8 BetrVG sieht die Möglichkeit vor, die grundsätzlich vom Gesetz (§ 76 BetrVG) vorgesehene Einigungsstelle durch eine tarifliche Schlichtungsstelle
zu ersetzen. 238 Die Zuständigkeit der tariflichen Schlichtungsstelle entspricht der23S Bei der Errichtung einer Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung ist ein Gruppenprinzip nicht zu beachten; vgl. §§ 72 ff. BetrVG. 236 Vgl. dazu Däublerl Kittnerl Klebe-Trittin. BetrVG § 47 RdNr. 45 mwN. Für eine uneingeschränkte Aufrechterhaltung des Gruppenprinzips plädiert allerdings die herrschende Meinung: BAG AP Nr. 3 zu § 47 BetrVG 1972; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 47 RdNr. 46; GK-BetrVG-Kreutz. § 47 RdNr. 65; Richardi. § 47 RdNr. 48. 237 Vgl. dazu Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 47 RdNr. 45 und § 55 RdNr. 23. 238 Eine Ersetzung der Einigungsstelle durch eine anderweitige Schlichtungsstelle mittels eines Betriebsvereinbarung ist nicht möglich. Vgl. aber die Öffnungsklausel für die Betriebspartner in § 76 Abs. 4 BetrVG (letzere soll im Fall der tarifvertraglich eingerichteten Schlichtungsstelle wegen der vorrangigen Zuständigkeit der Tarifpartner nicht gelten; vgl. GKBetrVG-Kreutz. § 76 RdNr. 147 mwN.).
§ 2 Ausnahmetatbestände
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jenigen der Einigungsstelle, da sie "an die Stelle" der Einigungsstelle tritt. 239 Grundsätzlich soll auch eine Zuständigkeitsaufteilung zwischen Einigungs- und Schlichtungsstelle möglich sein. 240 Da die Tarifdisposivität sich nur auf die Einigungsstelle selbst bezieht,241 gelten für eine sie ersetzende Schlichtungsstelle die Verfahrensregeln des Abs. 3 zwingend. 242 Letztere können mithin auch nicht durch Tarifvertrag abgeändert werden. Nach § 76a Abs. 5 BetrVG kann von der gesetzlichen Vergütungsregelung des Abs. 3 und einer auf Grundlage der Ermächtigung des Abs. 4 durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung erlassenen Verordnung243 abgewichen werden. Von der Öffnungsklausel unberührt bleiben daher die generelle Kostentragungspflicht des Arbeitgebers (Abs. 1) sowie die EntgeItregelung für die betriebsangehörigen Beisitzer der Einigungsstelle (Abs. 2).244 Soweit nicht der Vorsitzende der Einigungsstelle Angehöriger des Betriebes ist,245 betrifft diese tarifliche Zugangsregelung 246 jedoch nur betriebsfremde Personen.
IV. Ergänzende Regelung des Beschwerdeverfahrens Eine ausdrückliche Ermächtigung an die Tarifpartner, ein im BetrVG bereits enthaltenes Verfahren nach dem BetrVG auszugestalten, enthält § 86 BetrVG. Es geht dabei jedoch (nur) um die Einzelheiten des betrieblichen Beschwerdeverfahrens nach den §§ 84 (individuelles Beschwerderecht) und 85 (kollektives Beschwerderecht) BetrVG. Als demnach mögliche Regelungen werden insbesondere Bestimmungen über Formen und Fristen, die zuständige Stelle oder den betrieblichen Instanzenzug genannt. 247
239 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 76 RdNr. 85; GK-BetrVG-Kreutz, § 76 RdNr. 146; Richardi, BetrVG § 76 RdNr. 143. Auch die Beschlüsse der tariflichen Schlichtungsstelle sind in demselben Umfang gerichtlich überprüfbar, wie die der Einigungsstelle; ebenso BAG AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972 sowie BAG AP Nr. 10 zu § 76 BetrVG 1972. 240 Galperin/Löwisch, BetrVG § 76 RdNr. 48; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 76 RdNr. 85. 241 Dies ergibt sich bereits aus der Formulierung des Abs. 8, die nur auf Abs. I bezug nimmt. 242 Vgl. dazu GK-BetrVG-Kreutz, § 76 Rdn 147 mwN. 243 Bislang hat der BMA von dieser Ermächtigung noch nicht Gebrauch gemacht. 244 Dies ergibt sich erneut aus der alleinigen Bezugnahme auf die Abss. 3 und 4. 245 Ob dies überhaupt zulässig ist, wird nicht einheitlich beantwortet, vgl. dazu Fitting / Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 76 RdNr. 13 mwN. 246 Subsidiär gilt die Disposivität der Abss. 3 und 4 auch für die Betriebspartner. Diese können, soweit eine tarifvertragliehe Regelung nicht besteht, entsprechende Betriebsvereinbarungen abschließen. 247 Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 86 RdNr. 2; Däubler I Kittner I KlebeBuschmann, BetrVG § 86 RdNr. 1.
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
V. Errichtung einer Vertretung in Flugbetrieben Das Betriebsverfassungsgesetz gilt nach § 117 Abs. 1 BetrVG für Landbetriebe von privaten Luftfahrtunternehmen. 248 Im Umkehrschluß ist das Gesetz damit auf die anderen Betriebe der privaten Luftfahrt, also das fliegende Personal, nicht anzuwenden?49 Sachlich begründet wird die Herausnahme der im Flugbetrieb Beschäftigten mit den Schwierigkeiten, eine Betriebsvertretung in diesem Bereich wegen der besonderen, nicht ortsgebundenen Art der Tätigkeie50 zu organisieren?51 Die Erwägungen, die zu einer Herausnahme der Flugbetriebe aus dem Geltungsbereich des BetrVG geführt haben, greifen damit den Gedanken des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG auf. § 117 Abs. 2 S. 1 läßt allerdings die Bildung einer besonderen Vertretung für diesen Beschäftigtenkreis durch Tarifvertrag ausdrücklich zu. Dabei kann bezweifelt werden, daß es sich insoweit um eine konstitutive Öffnungsklausel, also um eine Öffnungsklausel im eigentlichen Sinne handelt. Unterstellt man, daß das BetrVG die Betriebsverfassung nicht im Ganzen abschließend regelt, stellen die Flugbetriebe lediglich einen vom Gesetzgeber freigelassenen Raum dar. Dies deckt sich hinsichtlich des § 117 BetrVG mit dem gesetzgeberischen Willen. Denn es ging bei der Herausnahme der Flugbetriebe nicht darum, den dort beschäftigten Arbeitnehmern eine betriebliche Vertretung zu versagen. Man hielt nur die starren Regeln im BetrVG wegen der Besonderheiten des fliegerischen Dienstes nicht für geeignet. 252 Damit wäre die Betriebsverfassung in privaten Flugbetrieben eine nicht durch den Gesetzgeber geregelte Materie der "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen". Diese stünde so ohne weiteres gemäß Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen zur Regelung offen. § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG hätte mithin nur klarstellende - deklaratorische - Bedeutung. Konsequenterweise sind die Tarifpartner bei der Gestaltung der Tarifverträge über die Betriebsverfassung in Flugbetrieben nach allgemeiner Meinung auch nicht an die Vorgaben des BetrVG gebunden?53.254 Dies gilt sowohl für die OrganisaFitting I KaiserlHeitherl Engels, BetrVG § 117 RdNr. 1. FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 117 RdNr. 2; GK-BetrVG-Wiese, § 117 RdNr. 6; Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 117 RdNr. 3. Die Herausnahme der Flugbetriebe aus der gesetzlichen Betriebsverfassung begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken; dazu Däubler/Kittner/Klebe-Däubler, BetrVG § 117 RdNr. 4 mwN; Grabherr, NZA 1988, 532 (532 ff.). 250 BR-Drucks. 715170 S. 58 zu § 118. 251 FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 117 RdNr. 2; krit. dazu Däubler/Kittnerl Klebe-Däubler, BetrVG § 117 RdNr. 2. 252 BR-Drucks. wie vor. 253 FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 117 RdNr. 2; Däubler/Kittner/K1ebeDäubler, BetrVG § 117 RdNr. 11 ff.; Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 117 RdNr.8. 254 Nichts anderes kann bei Tarifverträgen zwischen Religionsgemeinschaften iSd § 118 Abs. 2 BetrVG und Arbeitnehmerverbänden gelten. Denn diesen Religionsgemeinschaften ist es nicht verwehrt, Tarifverträge abzuschließen. Dem steht das kirchliche Selbstbestimmungs248
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tionsnormen als auch für die materiellen Bestimmungen des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts. Dennoch wird in der Praxis häufig auf die gesetzlichen Vorgaben Bezug genommen. 255 Dies ist, soweit eben nicht die Besonderheiten des Flugbetriebes etwas anderes verlangen, auch sachgerecht. Soweit diese Tarifverträge Regelungen enthalten, die das gesetzliche Betriebsverfassungsrecht tangieren, sind diese Bestimmungen von der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung beziehungsweise der Landesministerien abhängig; §§ 117 Abs. 2 S. 2, 3 Abs. 2 BetrVG. Eine Disposivität der Normen des BetrVG ist im Rahmen der Tarifverträge nach § 117 Abs. 2 BetrVG insoweit gegeben, als die Tarifpartner die Zusammenarbeit der geschaffenen Sondervertretung mit den Betriebsräten der Landbetriebe festlegen können.
B. Die Tarifierungsermächtigung des § 3 BetrVG Bereits die Stellung des § 3 BetrVG bei den Allgemeinen Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes verrät, daß dieser Bestimmung eine grundlegendere Bedeutung zukommt, als den unter A. vorgestellten Öffnungsklauseln. Eine dem deutschen Tarifvertragssystem ansonsten unbekannte Besonderheit, nämlich die Zustimmungsbedürftigkeit der Tarifverträge nach dieser Vorschrift (Abs. 2), impliziert, daß es hier um mehr als Nebensächlichkeiten geht. Sie lautet: § 3 Zustimmungsbedürftige Tarifverträge (I) Durch Tarifvertrag können bestimmt werden:
I. zusätzliche betriebsverfassungsrechtliche Vertretungen der Arbeitnehmer bestimmter Beschäftigungsarten oder Arbeitsbereiche (Arbeitsgruppen), wenn dies nach den Verhältnissen der vom Tarifvertrag erfaßten Betriebe der zweckmäßigeren Gestaltung der Zusammenarbeit des Betriebsrats mit den Arbeitnehmern dient; 2. die Errichtung einer anderen Vertretung der Arbeitnehmer für Betriebe, in denen wegen ihrer Eigenart der Errichtung von Betriebsräten besondere Schwierigkeiten entgegenstehen; 3. von § 4 abweichende Regelungen über die Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben, soweit dadurch die Bildung von Vertretungen der Arbeitnehmer erleichtert wird. recht (Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV) nicht entgegen. Vgl. dazu Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, S. 84 u. 92 ff.; GK-BetrVG-Fabricius, § 118 RdNr. 788; Fitting/Kaiser/Heither / Engels, BetrVG § 118 RdNr. 51. Allerdings spielen Tarifverträge privatrechtlich organisierter Religionsgemeinschaften nur eine sehr untergeordnete -Rolle (vgl. Fitting/Kaiser/ Heither / Engels, BetrVG § 118 RdNr. 51). Für die öffentlich-rechtlich verfaßten Kirchen gilt das BetrVG ohnehin nicht (§ 130 BetrVG). Dort wurde vielmehr von der Möglichkeit, eigene Kirchengesetze zur Regelung der Mitarbeitervertretung zu erlassen (§ 112 BPersVG), umfassend Gebrauch gemacht (vgl. GK-BetrVG-Fabricius, § 118 RdNr. 790 f.). 255 Vgl. dazu GK-BetrVG-Wiese, § 117 RdNr. 10 sowie die dort angeführten Tarifverträge. 5 Wißmann
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(2) Tarifverträge nach Abs. I bedürfen insoweit der Zustimmung der obersten Arbeitsbehörde des Landes, bei Tarifverträgen deren Geltungsbereich mehrere Länder berührt, der Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Vor der Entscheidung über die Zustimmung ist Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von dem Tarifvertrag betroffen werden, den an der Entscheidung über die Zustimmung interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber sowie den obersten Arbeitsbehörden der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben. (3) Mit dem Inkrafttreten eines Tarifvertrags nach Abs. I Nr. 2 endet die Amtszeit der Betriebsräte, die in den vorn Tarifvertrag erfaßten Betrieben bestehen; eine solche durch Tarifvertrag errichtete Vertretung der Arbeitnehmer hat die Befugnisse und Pflichten eines Betriebsrats.
Der Gesetzgeber, welcher von der grundsätzlich zwingenden Natur der Organisationsvorschriften ausging,256 wollte mit § 3 BetrVG den Tarifpartnern Gestaltungsvarianten an die Hand geben, damit diese die ansonsten recht starren Organisationsstrukturen des Gesetzes an betriebliche Besonderheiten anpassen können. Geht man zunächst vom Wortlaut aus, so läßt die Vorschrift folgende tarifvertragliehe Regelungen zu, mit denen von organisatorischen Vorschriften des Gesetzes abgewichen werden kann: • Bildung zusätzlicher Vertretungen der Arbeitnehmer bestimmter Beschäftigungsarten und Arbeitsbereiche, wenn dies der zweckmäßigeren Gestaltung der Zusammenarbeit des Betriebsrats mit den Arbeitnehmern des Betriebs dient. • Bildung einer anderen betrieblichen Vertretung der Arbeitnehmer anstelle des im Gesetz vorgesehenen Betriebsrats, wenn der Errichtung der gesetzlichen Vertretungsforrn besondere Schwierigkeiten entgegenstehen. • Vom Gesetz (§ 4 BetrVG) abweichende Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben, soweit dadurch die Bildung einer Arbeitnehmervertretung erleichtert wird.
I. Zusätzliche Vertretungen der Arbeitnehmer Die Möglichkeit der Einrichtung einer zusätzlichen Arbeitnehmervertretung als Bindeglied zwischen Belegschaft und Betriebsrat war dem Gesetz von 1952 noch nicht bekannt und wurde erst im Rahmen der Neukodifikation der Betriebsverfassung durch das BetrVG 1972 geschaffen. 257 Offensichtlich knüpft Nr. 1 in der Intention an § 15 BetrVG an. In personeller und funktioneller Hinsicht soll eine Ver2S6 Vgl. Regierungsentwurf zum BetrVG 1972 vom 29. 01. 1971, BT-Drucks. VII 1786, S. 36 (auch abgedruckt in RdA 1971,33). 2S7 Vgl. Regierungsentwurf zum BetrVG 1972 vorn 29.01. 1971, BT-Drucks. VII 1786,
S.34.
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bindung des Betriebsrats zu sämtlichen Beschäftigungsarten und Arbeitsbereichen bestehen, damit eine sachnahe und interessengerechte Vertretung sämtlicher Arbeitnehmer gewährleistet ist. Ist dies wegen der besonderen Verhältnisse des Betriebs - etwa wegen seiner Größe oder der räumlichen Gegebenheiten - nicht der Fall, kann durch eine zusätzliche Vertretung als "Unterbau,,258 des Betriebsrats Abhilfe geschaffen werden. Der Wortlaut verlangt eine funktionale (bestimmte Beschäftigungsarten) oder organisatorische (bestimmte Arbeitsbereiche) Verknüpfung zwischen den von einer Vertretung nach § 3 Abs. I Nr. I BetrVG vertretenen Arbeitnehmern. Erfüllt ist die Voraussetzung einer Arbeitsgruppe wohl zumindest dann, wenn es etwa um die Vertretung von Außendienstmitarbeitern, Akkordarbeitern oder - organisatorisch um bestimmte Abteilungen eines Betriebes geht. 259 Inwieweit die Bildung von zusätzlichen Vertretungen mit andersartigen Gemeinsamkeiten, etwa für Frauen oder ausländische Arbeitnehmer, zulässig ist, wird dagegen nicht einheitlich beantwortet. 260 Daneben stellt sich unter anderem die Frage, ob die in der Praxis vennehrt auftretende Gruppenarbeit zu organisatorisch abgrenzbaren Arbeitsgruppen im Sinne dieser Vorschrift führt und ob auch eine Einrichtung unternehmens- oder konzern weiter Arbeitskreise von ihr gedeckt ist. Anders als bei der Schaffung einer Vertretung nach § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG geht es hier gerade nicht darum, ein anderes betriebsverfassungsrechtliches Organ an die Stelle des im Gesetz vorgesehenen Betriebsrats zu setzen. Die zusätzliche Vertretung nach Nr. I ist lediglich Bindeglied zwischen Belegschaft und Betriebsrat. Dies wirft sogleich die Frage nach ihrer Rechtsstellung und der Rechtsstellung ihrer Mitglieder gegenüber dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber auf, denn bis auf § 78 BetrVG finden sich hierüber im Gesetz keine Bestimmungen. Es geht letztlich darum, ob es sich hier um eine "Vertretung" im eigentlichen Sinne des Wortes handelt, und wie weitgehend im Kollektivvertrag die Rechte und Pflichten der zusätzlichen Vertretung ausgestaltet werden können.
11. Andere Vertretungen der Arbeitnehmer Unter der Voraussetzung, daß wegen einer betrieblichen Eigenart der Errichtung einer Arbeitnehmervertretung nach dem Gesetz besondere Schwierigkeiten entgegenstehen, können die Tarifpartner eine Grundlage für die Errichtung einer tariflichen Betriebsvertretung schaffen, die gerade diesen Eigenarten angepaßt ist. Im Gegensatz zur zusätzlichen Vertretung tritt die andere Vertretung an die Stelle des gesetzlichen Betriebsrats. Damit ist die Konstellation hier ähnlich wie bei der ErDäubler, Tarifvertragsrecht, RdNr. 1036. So die al1gemeine Meinung. Statt al1er: Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 16; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 12 und die amtliche Begründung CFn. 256). 260 Vgl. dazu Däubler I Kittner I Klebe-TrÜlnner, BetrVG § 3 RdNr. 22. 258
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
richtung einer tariflichen Schlichtungsstelle nach § 76 Abs. 8 BetrVG261 und knüpft inhaltlich an § 20 Abs. 3 BetrVG 1952 an. Die Möglichkeit der Errichtung einer tariflichen Betriebsvertretung besteht mithin unabhängig davon, ob ein Betriebsrat existiert oder nicht. Hinsichtlich der betrieblichen "Eigenart" ist streitig, ob diese allgemein in allen Betrieben gleicher Art (bspw. im Baugewerbe, in Betrieben der Binnenschiffahrt oder der Forstwirtschaft) bestehen muß,262 oder ob es ausreicht, wenn diese Besonderheiten in einzelnen Betrieben auftreten. 263 Daran knüpft die Frage an, ob die Vorschrift nicht nur betriebsbezogen, sondern darüber hinaus auch in FäHen von Betriebs- und Unternehmensspaltungen anzuwenden ist. Eine Verbindung des § 3 BetrVG mit dem Betriebsbegriff würde dann insofern aufgegeben, als bei derartigen Sachverhalten betriebs- und unternehmensübergreifende Arbeitnehmervertretungen geschaffen würden. Da die nach Abs. 1 Nr. 2 gebildete tarifliche Betriebsvertretung im Gegensatz zur zusätzlichen Vertretung an die Stelle eines nach dem BetrVG zu errichtenden Betriebsrates tritt, ergibt sich eine grundsätzlich andere Grundlage für die Frage der rechtlichen Qualifikation dieses koHektivvertraglich geschaffenen betriebsverfassungsrechtlichen Organs und seiner Mitglieder. Nach § 3 Abs. 3 BetrVG hat die tarifliche Vertretung die Befugnisse und Pflichten eines Betriebsrats. Der in § 78 BetrVG normierte Schutz der betriebsverfassungsrechtlichen Funktionsträger und Institutionen gilt auch hier kraft ausdrücklicher Verweisung. Es gilt also zu bestimmen, wie weit hier die tarifvertragliche Gestaltungsfreiheit geht, und inwiefern auf gesetzliche Regelungen zurückgegriffen werden kann oder sogar muß.
IH. Abweichende Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben Die Regelung des § 4 BetrVG über die Betriebsratsfähigkeit von Nebenbetrieben und Betriebsteilen kann etwa bei Unternehmen mit zahlreichen weit verstreuten Filialen die Bildung von Betriebsräten erschweren. Abs. 1 Nr. 3 sollte daher in der gesetzgeberischen Intention ein Mittel der den jeweiligen Bedürfnissen264 entsprechenden Anpassung dieser Strukturen sein. Wie auch bei Abs. 1 Nr. 2 knüpft das Gesetz, jedenfalls dem Wortlaut nach, hinsichtlich der Schwierigkeiten der Errichtung (andere Vertretung) und der Erleichterung der Bildung (abweichende Zuordnung) durch die Verwendung der Begriffe Errichtung I Bildung an die Installation der Betriebsvertretung, also die Betriebsratswahl, an. Wenn der Gesetzgeber Siehe dazu oben A. III. S. 62 f. Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 23; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 29; GK-BetrVG-Kraft, § 3 RdNr. 21; Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 4; Weiss/Weyand, BetrVG § 3 RdNr. 8; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, § 216 III 2. 263 Galperin/Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 16; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 30; Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 170 f. 264 Regierungsentwurf zum BetrVG 1972 vom 29.01. 1971, BT-Drucks. VII 1786, S. 36. 261
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aber nun von den "jeweiligen Bedürfnissen" spricht, so fragt sich, ob es dabei nicht hauptsächlich und eigentlich um die Verbesserung oder Ermöglichung der Betriebsratsarbeit geht. Denn eine Belegschaft wird nicht primär deswegen von der Errichtung eines Betriebsrates absehen, weil sie die Wahl selbst für schwer durchführbar hält, sondern weil eine Anwendung der gesetzlichen Zuordnungskriterien nach § 4 BetrVG einer effektiven und sinnvollen Interessenvertretung sämtlicher Arbeitnehmer entgegensteht. Die vom Gesetz abweichende Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben geht damit in zwei Richtungen. Einmal kann in Unternehmen mit weit verstreuten Einheiten (bspw. Filialen) eine Zentralisierung in der Art stattfinden, daß diese Einheiten zu einem "Betrieb" zusammengefaßt werden. Zum anderen steht den Tarifpartnern aber auch eine Dezentralisierung der Strukturen offen. So können Betriebsteile, die weder vom Hauptbetrieb weit entfernt sind noch vom Gesetz (§ 4 S. I Nr. 2 BetrVG) für eigenständig gehalten werden, insofern für selbständig erklärt werden, als ihnen durch tarifvertragliche Norm der Status eines selbständigen Betriebes zuerkannt wird.
IV. Vorläufige Bilanz
So eindeutig sich diese Regelungsvarianten aus dem Gesetz ergeben, so vielschichtig und ungeklärt ist das übrige Spektrum der tatsächlichen oder vermeintlichen Möglichkeiten, weIche § 3 Abs. 1 BetrVG eröffnet. Zu denken ist dabei an die wegen ihrer Mannigfaltigkeit kaum abschließend aufzählbaren Betriebs- und Unternehmensstrukturen, die insbesondere im Zusammenhang mit Ausgliederungen, Auf- und Abspaltungen sowie unternehmens- und betriebsübergreifenden Verbindungen entstehen können. Daß nicht zuletzt deshalb die Zuordnung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsstrukturen zu diesen unterschiedlich verfaßten Einheiten erhebliche Probleme bereitet, wird schon an der nicht enden wollenden Rechtsprechung zum Betriebsbegriff deutlich. 265 Im Kern geht es bei der Diskussion um den Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 BetrVG dementsprechend um die Frage, inwieweit auf tarifvertraglicher Basis Anpassungen des gesetzlichen Organisationsrechts an die Gestaltungen des Einzelfalls möglich sind. Hierzu gehört es insbesondere, ob der Betrieb selbst als Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Betriebsverfassung einer Angleichung zugänglich ist und ob vom Gesetz abweichende Strukturen auf überbetrieblicher Ebene geschaffen werden können. 265 Selbst das BAG geht davon aus, daß eine eindeutige Abgrenzung der Begriffe Betrieb und Betriebsteil nicht möglich ist. Dies insbesondere deshalb, da sich eindeutige Kriterien dafür, wann die ,,relative Selbständigkeit" des eigenständigen Betriebsteils in die Selbständigkeit des Betriebs nach § 1 BetrVG umschlage, nicht finden ließen BAGE 50,251 (257) AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. Ausführlich dazu im folgenden sowie Unmuß, Organisation der Betriebsverfassung und Unternehmerautonomie, S. 111 ff., 135 ff.
=
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C. Exkurs: Die Tarifierungsbefugnis bei Unternehmensumwandlungen (§ 325 Abs. 2 UmwG) Die einzige außerbetriebsverfassungsgesetzliche Vorschrift, die ausdrücklich kollektivrechtliche Vereinbarungen zur Betriebsverfassung zuläßt, ist § 325 Abs. 2 UmwG. Die Bestimmung bezieht sich dem Wortlaut nach nur auf FortgeItungsvereinbarungen hinsichtlich der Rechte und Beteiligungsrechte des Betriebsrats und ist zudem im Umwandlungsrecht angesiedelt. Gleichwohl entnimmt Trümner der Bestimmung, daß die "These von der Unabänderlichkeit organisatorischer Bestimmungen des BetrVG nur noch eingeschränkt aufrechterhalten werden" könne. 266 Zuvor hatte er § 325 Abs. 2 UmwG sogar "die prinzipielle Anerkennung der kollektivvertragsrechtlichen Änderbarkeit von organisatorischen Vorschriften des BetrVG,,267 entnehmen wollen. Diese Thesen bedürfen der Überprüfung.
I. Vorbemerkung Ziel des am l. Januar 1995 in Kraft getretenen Umwandlungsgesetzes (UmwG) als Stammgesetz des Umwandlungsbereinigungsgesetzes (Art. 1 UmwBerG),268 ist es, mit einer vollständigen Neufassung des Umwandlungsrechts eine einheitliche gesetzliche Grundlage für Unternehmensumwandlungen zu bieten. 269 Die aus primär betriebswirtschaftlichen Gründen resultierende Zunahme von Untemehmensumstrukturierungen soll durch das UmwG rechtlich einheitlich flankiert werden. Darüber hinaus führt das Gesetz zu einer Steigerung der umwandlungsrechtlichen Organisationsfreiheit, in dem es - im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand die Zahl der möglichen Umwandlungsformen von 44 auf 119 erhöht. 27o Das Umwandlungsrecht betrifft die rechtliche Zuordnung von Unternehmensvermögen. Bei allen Formen der Umwandlung nach dem UmwG vollziehen sich die notwendigen Vermögensverschiebungen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge und nicht im Wege der Singular-Sukzession?7! Allerdings schließt das Gesetz eine ÜbertraDäubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20i. Däublerl Kittnerl Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20i (5. Aufl.). In der nunmehr aktuellen 6. Aufl. findet sich dieser Satz nicht. 268 BGBI. 1994 1,3210. 269 Das UmwG dient insofern der Rechtsbereinigung, als es die bislang in unterschiedlichen Gesetzen (UmwG 1969, AktG, KapErhG, GenG und VAG) geregelten Möglichkeiten der Umstrukturierung von Rechtsträgern in einem Gesetz zusammenfaßt und systematisiert. Zur Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des UmwG allgemein Boecken, Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. I ff., 5 ff. 270 Siehe nur Bartodziej, ZIP 1994,580 (580); Wlotz/ce, DB 1995,40 (40); Lüttge, NJW 1995,417 (418). 271 Vgl. Kreßel, BB 1995, 925 (925); Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § I RdNr.115. 266
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gung einzelner Vermögens gegenstände nicht aus. Die Vermögensverschiebung "en bl oe" bei der Gesamtrechtsnachfolge stellt jedoch bei dem komplexen Vorgang der Umwandlung eines Rechtsträgers in aller Regel die einfachere Alternative dar. Des weiteren verfolgt das UmwG den Schutz der durch Umwandlungsmaßnahmen betroffenen Personengruppen, insbesondere von Anteilsinhabern mit Minderheitsbeteiligung, Gläubigem des übertragenden wie auch des übernehmenden Rechtsträgers sowie - und dies interessiert hier - von Arbeitnehmern (vgl. §§ 133, 134, 321- 325 UmwG).272 Das UmwG regelt die möglichen Formen der Unternehmensumwandlung. Damit hat es zunächst nur die Veränderung der Struktur auf Unternehmensebene im Blick. Eine Veränderung der Unternehmensstruktur kann jedoch auch zu einer Veränderung der Organisationsstruktur auf Betriebsebene führen. Es können neue Betriebe, neue selbständige Betriebsteile oder Nebenbetriebe entstehen. In diesem Moment wird die Unternehmensumwandlung betriebsverfassungsrechtIich relevant, da sich die Betriebseinheit als Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Betriebsverfassung verändert oder gar gänzlich neu verfaßt wird. 273 Dies versuchen insbesondere die §§ 321, 322 Abs. 1 und 325 Abs. 2 UmwG aufzugreifen. So sieht § 321 UmwG ein Übergangsmandat des Betriebsrats des übertragenden Rechtsträgers vor. Es ist zeitlich befristet und dient insbesondere dazu, die Zeit zwischen Betriebsspaltung und Installation des neuen Betriebsrates zu überbrücken und so eine betriebsratslose Zeit in der Spaltungsphase zu verhindern. 274 § 322 UmwG ergänzt § 321 UmwG, stellt dabei jedoch die vorrangige Bestimmung dar,275 indem es bei einer Unternehmensumstrukturierung das Bestehen eines gemeinsamen Betriebs 276 vermutet. Damit knüpft diese Vorschrift daran an, daß eine Veränderung auf Unternehmensebene, also die rechtliche Umstrukturierung, nicht zwangsläufig die betriebliche Ebene, also die tatsächliche Struktur, derart stark berührt, daß mehrere ,,Arbeitgeber" auch in tatsächlicher Hinsicht entstehen. Soweit die Vermutung nicht widerlegt ist, bleibt also betriebsverfassungsrechtlich "alles beim alten". Zweck beider Regelungen des § 325 UmwG ist es, auf Unternehmens- und Betriebsebene bestehende Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats und der Arbeitneh-
272 Vgl. Boecken. Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 6. Vgl. al1gemein zu den §§ 321-325 UmwG Heinze. ZfA 1997, 1 (8 ff.) und Mengel. Umwandlungen im Arbeitsrecht (1997). 273 Soweit eine Unternehmensumwandlung nicht zu einer Betriebsspaltung führt, bleibt auch die Rechtsstellung des Betriebsrats unberührt, da keiner der Tatbestände des § 13 Abs. 2 BetrVG vorliegt und damit die Identität des Betriebes unangetastet ist (vgl. Berscheid. FSStahlhacke, S. 15 [40 f.]; MünchKomm-Schaub. BGB § 613a RdNr. 141; Fitting/Kaiser/ Heither/ Engels, BetrVG § 21 RdNr. 35 jew. mwN). Das gleiche gilt für die in diesem Betrieb bestehenden Betriebsvereinbarungen (Berscheid. wie vor.; MünchKomrn-Schaub, BGB § 613a RdNr. 225). 274 Näheres dazu bei Lutter-Joost. UmwG § 321 RdNr. 3. 275 Lutter-Joost, UmwG § 322 RdNr. 2. 276 Dazu Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § I RdNr. 75.
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mervertreter im Aufsichtsrat, die von bestimmten Belegschaftsstärken abhängig sind, davor zu schützen, durch Spaltungsvorgänge eingeschränkt oder ganz beseitigt zu werden. 277 Augenfälligster Unterschied zwischen den bei den Regelungen der Abs. 1 und 2 ist die verschiedenartige Bestimmung des Weges, auf dem eine Mitbestimmungsbeibehaltung erreicht werden soll bzw. kann. Während Abs. 1 für die Sicherung der Unternehmensmitbestimmung eine zeitlich nur befristete, jedoch zwingende gesetzliche Beibehaltungsregelung enthält, läßt Abs. 2 für die Betriebsverfassung kollektive Vereinbarungen zu, ohne einen zeitlichen Rahmen vorzugeben. Die Mitbestimmungsbeibehaltung auf betrieblicher Ebene setzt also ausschließlich auf die Initiative der Betriebs- bzw. Tarifpartner. Im Hinblick auf die strukturell gleichen Probleme erscheint diese Differenzierung willkürlich, was auf den Kompromißcharakter der Vorschrift zurückgeführt wird?78 Der für die Betriebsverfassung allein interessierende Abs. 2 des § 325 UmwG enthält für den Fall der Betriebsspaltung durch Spaltung oder Teilübertragung eines Rechtsträgers eine Öffnungsklausel, die - wie sich zeigen wird - in weiten Teilen, soweit es um die Errnöglichung tarifvertraglicher Regelungen geht, jedoch nur deklaratorischer Natur ist. Sie sieht die Möglichkeit vor, durch kollektivvertragliche Absprachen die Beibehaltung solcher Rechte oder Beteiligungsrechte des Betriebsrats vorzusehen, die infolge der Umwandlung entfallen sind. Die Bestimmung lautet: § 325 Mitbestimmungsbeibehaltung ( ... )
(2) Hat die Spaltung oder Teilübertragung eines Rechtsträgers die Spaltung eines Betriebes
zur Folge und entfallen für die aus der Spaltung hervorgegangenen Betriebe Rechte oder Beteiligungsrechte des Betriebsrats, so kann durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag die Fortgeltung dieser Rechte und Beteiligungsrechte vereinbart werden. Die §§ 9 und 27 des Betriebsverfassungsgesetzes bleiben unberührt.
ß. Normierte Voraussetzungen des § 325 Abs. 2 UmwG 1. Voraussetzungen auf Unternehmensebene
Die Bestimmung setzt zunächst voraus, daß eine Rechtsträgerspaltung oder Rechtsträgerteilübertragung stattgefunden hat. Aus der Sicht der Betriebsverfassung korrespondiert der Begriff des "Rechtsträgers" mit dem Begriff des "Unter277 Widmann 1Mayer-Wißmann, UmwG § 325 RdNr. 2. Der Regierungsentwurf wollte mitbestimmungsmindernde Ergebnisse von Unternehmensumwandlungen hinnehmen (BTDrucks. 1216699, S. 76). Die Bundesratsmehrheit war hingegen der Auffassung, daß sich der bestehende Mitbestimungsstatus durch Unternehmensumwandlungen nicht verschlechtern dürfe (BT-Drucks. 12/7265, S. 5) und verweigerte die Zustimmung. Im Vermiulungsausschuß wurde sodann als Komprorniß § 325 UmwG eingefügt (BR-Drucks. 843/94, Anlage Nr.3). 278 Vgl. Wlotz/ce, DB 1995,40 (47); Widmann/Mayer-Wißmann, UmwG § 325 RdNr. 3.
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nehmens" im BetrVG. Als Spaltungs formen kennt das UmwG die Aufspaltung (§ 123 Abs. 1), die Abspaltung (§ 123 Abs. 2) und die Ausgliederung (§ 123 Abs.3). Eine Aufspaltung liegt dann vor, wenn ein Rechtsträger unter Auflösung sein Vermögen auf mindestens zwei Rechtsträger überträgt. Die Gegenleistung besteht in der Übertragung von Anteilen oder Mitgliedschaftsrechten an den neuen Unternehmen an die Anteilseigner oder Mitglieder des übertragenden Rechtsträgers. Bei der Abspaltung überträgt ein Rechtsträger, ohne sich selbst aufzulösen, einen oder mehrere Teile seines Vermögens auf einen oder mehrere andere Rechtsträger. Dabei handelt es sich um eine Abspaltung zur Aufnahme (Abs. 2 Nr. 1), wenn der aufnehmende Rechtsträger bereits besteht, und um eine Abspaltung zur Neugründung (Abs. 2 Nr. 2), wenn er im Zuge der Umwandlung erst gegründet wird. Die Gegenleistung erfolgt wie bei der Aufspaltung. Die Ausgliederung als dritte Form der Spaltung unterscheidet sich von der Abspaltung lediglich hinsichtlich der Gegenleistung. Die Anteile oder Mitgliedschaftsrechte werden nicht den Anteilseignern bzw. Mitgliedern des übertragenden Rechtsträgers gewährt, sondern diesem selbst. Die Teilübertragung nach § 177 UmwG unterscheidet sich von der Abspaltung und Ausgliederung darin, daß die Gegenleistung nicht in Anteilen oder Mitgliedschaften (also bspw. Geld) besteht (§ 174 Abs. 1 UmwG). Nach § 175 UmwG ist die Teilübertragung jedoch nur von Kapitalgesellschaften auf juristische Personen des öffentlichen Rechts (Nr. 1) sowie zwischen Versicherungsunternehmen (Nr. 2 lit. abis c) möglich.
2. Spaltung eines Betriebes
Eine der vorgenannten Spaltungsformen oder die Teilübertragung eines Unternehmens muß die Spaltung eines Betriebes zur Folge haben. Die Betriebsspaltung wird dabei als Vorgang verstanden, bei dem die organisatorische Einheit Betrieb279 in zwei oder mehr Teile zerlegt wird. Anders als bei § 322 Abs. 1 UmwG 280 ist hier 279 Nach al1gemeinem Verständnis ist ein Betrieb im Sinne des BetrVG eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Unternehmer al1ein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe von sächlichen oder immateriel1en Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt (vgl. nur BAGE 68, 67 [72] =AP Nr. 53 zu § 99 BetrVG 1972). Dazu ausführlich später (2. Kapitel § 2 A. I. S. 94 ff.). 280 Der Begriff der Betriebsspaltung in § 322 Abs. I UmwG ist mißverständlich und daher nicht wie bei § 325 Abs. 2 UmwG zu verstehen. Denn eine Betriebsspaltung setzt eigentlich die "Spaltung der Organisation" des Betriebes voraus. § 322 Abs. I UmwG fordert aber eine Betriebsspaltung ohne Organisationsspaltung und knüpft hinsichtlich der Spaltung an die Tatsache an, daß die Zuordnung der Belegschaft deswegen gespalten ist, da sie nach der Rechtsträgerspaltung mehr als einem Arbeitgeber zugeordnet ist (dazu Lutter-Joost, UmwG § 322 RdNr.ll).
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eine "echte" Spaltung der betrieblichen Organisation erforderlich. Liegen die Voraussetzungen des gemeinsamen Betriebes nach § 322 Abs. 1 UmwG vor, ist diese Bestimmung nicht anwendbar, da eine Spaltung der betrieblichen Organisationsstruktur gerade nicht vorliegt. §§ 322 Abs. 1 und 325 Abs. 2 UmwG schließen sich mithin gegenseitig aus.z 81 Wegen der Bezugnahme auf die Rechte des Betriebsrates wird allgemein angenommen, daß eine Anwendung des § 325 Abs. 2 UmwG nur auf die aus der Spaltung hervorgehenden Einheiten möglich ist, die nach § 1 BetrVG betriebsratsfähig sind. 282 Weiterhin erfordert die Bestimmung eine Kausalität zwischen Rechtsträger- und Betriebsspaltung. Eine Veränderung der betrieblichen Organisationsstruktur, weIche nicht auf die Umwandlung des Unternehmens zurückzuführen ist, fällt nicht unter den Wortlaut der Norm und liegt außerhalb der Intention der Bestimmung, die betriebsverfassungsrechtlichen Folgen eines umwandlungsrechtlichen Tatbestands kollektivvertraglich aufzufangen. Da von den "aus der Spaltung hervorgegangenen Betriebe(n)" die Rede ist, ohne daß auf deren Rechtsträgerzugehörigkeit abgestellt würde, können sich Vereinbarungen zumindest auf die Betriebseinheiten beziehen, die vor der Spaltung oder Teilübertragung zu dem übertragenden Unternehmen gehört haben.
3. Verlust von Rechten oder Beteiligungsrechten des Betriebsrats
Die aus der Spaltung hervorgegangenen nunmehr betriebsratsfähigen Betriebseinheiten müssen durch die Spaltung einen Verlust betriebsverfassungsrechtlicher Rechte erlitten haben. Die Bestimmung verwendet dabei die Begriffe "Rechte" und "Beteiligungsrechte" nebeneinander. Diese NebeneinandersteIlung erscheint auf den ersten Blick überflüssig, da auch Beteiligungsrechte stets Rechte des Betriebsrats sind und so die einfache Verwendung des Begriffs "Rechte" den identischen Tatbestandsrahmen abgesteckt hätte. Deutlich wird dadurch jedoch, daß durch § 325 Abs. 2 UmwG nicht nur die Beteiligungsrechte abgedeckt werden sollen, sondern zudem alle übrigen Rechte des Betriebsrats. So verstanden hat die NebeneinandersteIlung der Begriffe zumindest klarstellende Funktion. Nach allgemeinem Verständnis umfaßt der Begriff der Beteiligungsrechte sämtliche Unterrichtungs-, Mitwirkungs-, Beratungs- und echte Mitbestimmungsrechte, also die im Vierten Teil des BetrVG dargestellten Rechte des Betriebsrats. 283 Die Betriebsspaltung wird in bezug auf die Beteiligungsrechte dann zu einem Rechtsverlust führen, wenn deren Grundlage und quantitativer Anknüpfungspunkt die BeWidrnann/Mayer-Wißmann. UrnwG § 325 RdNr. 56. Lutter-Joost. UrnwG § 325 RdNr. 28,37; Widrnann/Mayer-Wißmann. UrnwG § 325 RdNr. 57; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § I RdNr. 131; Däubler, RdA 1995, 136 (145); Wlotzke. DB 1995,40 (46); Kreßel. BB 1995,925 (928). 283 Vgl. Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 1 RdNr. 213. 281
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legschaftsstärke ist. Dies gilt für die Mitbestimmung bei personellen Einzelrnaßnahmen nach § 99 BetrVG (20 Arbeitnehmer), die Beteiligungsrechte bei Betriebsänderung nach den §§ 111 ff. BetrVG (20 Arbeitnehmer) und das Recht des Betriebsrats, die Aufstellung von Richtlinien für die Personalauswahl zu verlangen, § 95 Abs. 2 BetrVG (1000 Arbeitnehmer). Beteiligungsrechte können spaltungsbedingt aber auch dann entfallen, wenn ihre Grundlage nicht das Gesetz, sondern eine Betriebsvereinbarung oder ein Tarifvertrag ist. 284 Betriebsvereinbarungen über Beteiligungsrechte des Betriebsrats sind auf eine abgespaltene Betriebseinheit nicht mehr anzuwenden, da der abgespaltene Teil - abgesehen vom Übergangsmandat des alten Betriebsrats, § 321 UmwG nicht mehr zum Betrieb gehört und damit den Anwendungsbereich verlassen hat. Bei Tarifverträgen ist dies der Fall, wenn eine Tarifbindung des aufnehmenden Unternehmens in Bezug auf die im übertragenden Rechtsträger vorhandenen Vereinbarungen nicht besteht. 285 Relevant wird diese Form des spaltungsbedingten Wegfalls von Rechten für § 325 Abs. 2 BetrVG aber nur insoweit, als deren Fortgeltung gleichermaßen durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag vereinbart werden kann, also unabhängig davon, weIche Kollektivvertragsform im bisherigen Betrieb Grundlage des Beteiligungsrechts war. 286 Denn soweit zulässige kollektivvertragliche Vereinbarungen im ursprünglichen Betrieb bestanden haben, können diese, auch ohne § 325 Abs. 2 UmwG, für den neuen Betrieb wieder vereinbart werden. 284 Da der Bestimmung eine Beschränkung auf gesetzliche Rechte oder Beteiligungsrechte nicht zu entnehmen ist und auch ihr Zweck eine derartige Reduktion des Anwendungsbereichs nicht erfordert, sondern eher das Gegenteil gebietet, werden allgemein auch solche Rechte oder Beteiligungsrechte unter § 325 Abs. 2 UmwG gefaßt, deren Grundlage ein Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung ist (vgl. nur Widmann/Mayer-Wißmann, UmwG § 325 RdNr. 59; Kallmeyer-Willemsen, UmwG § 325 RdNr. 13; Lutter-Joost, UmwG § 325 RdNr. 36; Däubler, RdA 1995, 136 [145]; Wlotzke, DB 1995,40 [45]; anderer Ansicht ErfurterKomm-Oetker, UmwG § 325 RdNr. 16). 285 Die Tarifbindung entfallt im aufnehmenden Rechtsträger nur dann nicht, wenn es sich bei der Umwandlungsform um eine Aufspaltung, Abspaltung oder Ausgliederung zur Neugründung handelt und in dem übertragenden Rechtsträger die betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen Bestandteil eines Firmentarifvertrages waren bzw. sind. In den übrigen Spaltungsfallen hilft auch § 613a BGB nicht weiter, da betriebsverfassungsrechtliche Normen nicht in die Arbeitsverhältnisse übertragen werden können. Sie müssen begriffsnotwendig betriebseinheitlich gelten. Auch bezieht sich § 613a BGB nur auf die ,,Rechte und Pflichten aus den ( ... ) Arbeitsverhältnissen", hat folglich Kollektivnormen mit kollektivem - hier: betriebsverfassungsrechtlichen - Inhalt nicht zum Gegenstand. Unabhängig von der Gesamtrechtsnachfolge, die nicht zu einer Übernahme der Verbandsmitgliedschaft führen kann, besteht eine Tarifbindung des neuen Rechtsträgers bei Verbandstarifverträgen regelmäßig nicht automatisch mit dem Eintritt in die Rechte und Pflichten des übertragenden Rechtsträgers. Ein Entfall der Tarifbindung liegt jedoch faktisch dann nicht vor, wenn der übernehmende Rechtsträger kraft eigener Mitgliedschaft tarifgebunden ist (vgl. hierzu Gaul, NZA 1995,717 [719, 721, 722 f.]; MünchKomm-Schaub, BGB § 613a RdNr. 155; Däubler, Tarifvertragsrecht, RdNr. 1571 ff.; sowie neuerdings BAG AP Nr. I zu § 20 UmwG; differenzierend Gussenf Dauck, Die Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen bei Betriebsübergang und Umwandlung, S. 238 ff.). 286 Vgl. Widmann/Mayer-Wißmann, UmwG § 325 RdNr. 69.
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Fraglich ist, welche Rechte von der Bestimmung erfaßt werden. Da nur ein solcher Rechtsverlust unter § 325 Abs. 2 UmwG fallen kann, der durch die Betriebsspaltung bedingt ist, kommen gleichermaßen hier nur solche Rechte in Betracht, die entweder von einer bestimmten Belegschaftszahl abhängig sind oder deswegen entfallen, weil die Kollektivvereinbarungen, auf der sie beruhen, spaltungsbedingt ihre Wirksamkeit für die abgespaltenen Betriebseinheiten verloren haben. Daß diese Rechte auch einen Bezug zu den organisatorischen Bestimmungen des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts haben können, wird bereits durch die ausdrückliche Herausnahme der §§ 9 und 27 BetrVG aus der Vorschrift deutlich (§ 325 Abs. 2 S. 2 UmwG). § 9 BetrVG bestimmt die Anzahl der Betriebsratsmitglieder, während § 27 BetrVG die Bildung des Betriebsausschusses regelt. Beide Bestimmungen knüpfen - § 27 BetrVG durch die Bezugnahme auf die Zahl der Betriebsratsmitglieder mittelbar - an die Belegschaftsstärke an. Eine Verkleinerung des Betriebsrats oder ein Wegfall bzw. eine Verkleinerung des Betriebsausschusses auf Grund der Betriebsspaltung kann damit durch eine Kollektivvereinbarung nach § 325 Abs. 2 UmwG nicht verhindert werden. Da es sich bei den §§ 9 und 27 BetrVG jedoch um organisatorische Vorschriften handelt, ist durch § 325 Abs. 2 S. 2 UmwG gleichzeitig klargestellt, daß im übrigen Rechte des Betriebsrates mit organisatorischem Bezug von der Bestimmung mit umfaßt sind.287 Ein Recht des Betriebsrats, welches kein Beteiligungsrecht darstellt, aber gleichwohl an die Belegschaftsstärke anknüpft, kennt das Gesetz neben den §§ 9 und 27 BetrVG jedoch nur mit § 38 BetrVG.288 Von der in § 38 BetrVG festgesetzten Zahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder kann jedoch schon nach § 38 Abs. I S. 2 BetrVG durch beide Formen des Kollektivvertrages abgewichen werden. § 38 Abs. 1 BetrVG ist damit unabhängig von § 325 Abs. 2 UmwG kollektivvertragsdispositiv, so daß den Tarifpartnern im Hinblick auf § 38 Abs. 1 BetrVG durch die Möglichkeit der Mitbestimmungsbeibehaltung kein erweiterter Regelungsbereich zugewiesen ist. Damit wird bereits an dieser Stelle deutlich, daß die durch § 325 Abs. 2 UmwG eröffnete Regelungskompetenz der Tarifpartner - im Hinblick auf den organisatorischen Bereich der gesetzlichen Betriebsverfassung - nur scheinbar eine wirklich erweiterte Kompetenz darstellt, da die Öffnungsfunktion nur deklaratorischer Natur ist. Ungeklärt ist lediglich,289 inwieweit auch eine Veränderung der Belegschaftszahlen auf der Unternehmensebene durch kollektivvertragliche FortgeltungsverVgl. Widmann I Mayer-Wij1mann, UmwG § 325 RdNr. 59. Zwar knüpft auch § 10 Abs. 2 BetrVG an die Belegschaftsstärke an, jedoch dient diese Vorschrift dem Schutz der Minderheitsgruppe und hat damit nicht ein Recht des Betriebsrats zum Gegenstand. Letzeres ist aber für eine Anwendung des § 325 Abs. 2 UmwG erforderlich (v gl. Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20h). 289 Dementsprechend wird diese Frage auch nicht einheitlich beantwortet. Für die Möglichkeit von Fortgeitungsvereinbarungen hinsichtlich des Wirtschaftsausschusses: LutterJoost, UmwG § 325 RdNr. 8; Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20b; 287 288
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einbarungen abgefangen werden kann. So kann eine Unternehmens spaltung bereits betriebsverfassungsrechtlich relevant werden, ohne daß hierfür eine Spaltung des Betriebs ursächlich ist. Dieses Problem stellt sich namentlich beim Wirtschaftsausschuß (§ 106 BetrVG), also dort, wo Anknüpfungspunkt für die Bildung des betriebsverfassungsrechtlichen Gremiums nicht die Belegschaftsstärke des Betriebs, sondern die Belegschaftsstärke des Unternehmens ist. Für die hier zu beantwortende Fragestellung ist dies allerdings ohne Bedeutung.
111. Rechtsfolgen § 325 Abs. 2 S. 1, 2. HS UmwG bestimmt, daß die Fortgeltung dieser Rechte und Beteiligungsrechte durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung vereinbart werden kann. Im Gegensatz zur Beibehaltung der Unternehmensmitbestimmung nach Abs. 1 tritt also die Fortgeltung nicht kraft Gesetzes ein, sondern bedarf des Abschlusses eines Kollektivvertrages. Gleichzeitig kann Abs. 2 allerdings - wiederum im Gegensatz zu Abs. 1 - nicht entnommen werden, daß die Fortgeltungsvereinbarungen von vornherein nur befristete Wirkung haben können. 290 Durch die Bezugnahme auf den Wegfalltatbestand - "dieser Rechte" - ist klargestellt, daß sich diese Vereinbarungen nur auf Rechte beziehen können, die im gespaltenen Betrieb tatsächlich bestanden haben. 291
Soweit die Fortgeltungswirkung mittels einer Betriebsvereinbarung erreicht werden soll, geht man davon aus, daß diese freiwillig ist, also nicht im Falle der Nichteinigung über § 76 BetrVG mit Hilfe der Einigungsstelle durchgesetzt werden kann. 292 Nicht einheitlich beantwortet wird hingegen, ob eine entsprechende tarifvertragliche Regelung erzwingbar, sprich erstreikbar ist. 293 Letztere Frage kann dann von Bedeutung sein, wenn der neue Arbeitgeber, also der aufnehmende Rechtsträger, zu einer Einigung mit dem Betriebsrat nicht bereit ist. In diesem Fall könnte die Aussicht auf einen Arbeitskampf mit dem Ziel einer tariflichen Regelung, die ja letztlich das Gleiche bewirkt, den Arbeitgeber zum Abschluß einer Betriebsvereinbarung veranlassen. Ob indes ein Arbeitskampf nur wegen dieser beBerscheid. FS-Stahlhacke, S. 15 (48); Döubler, RdA 1995, 136 (145); Gaul. DB 1995, 2265 (2265). Dagegen: Widmann/Mayer-Wißmann. UmwG § 325 RdNr. 65. 290 Lutter-loost. UmwG § 325 RdNr. 36; Widmann/Mayer-Wißmann. UmwG § 325 RdNr.68. 291 Lutter-loost. UmwG § 325 RdNr. 36; Widmann/Mayer-Wißmann. UmwG § 325 RdNr.67. 292 Lutter-loost. UmwG § 325 RdNr. 34; Widmann / Mayer- Wißmann. UmwG § 325 RdNr. 70; Kallmeyer-Willemsen. UmwG § 325 RdNr. 13; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20e. 293 Dafür: Boecken. Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 272; Widmann/ Mayer-Wißmann, UmwG § 325 RdNr. 71; vgl. insoweit auch BAG AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskar.tpf. Dagegen: Lutter-loost, UmwG § 325 RdNr. 33.
78
I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
triebsverfassungsrechtlichen Regelungen in der Praxis durchführbar wäre, muß eher bezweifelt werden. Partner einer Betriebsvereinbarung können zunächst der neue Arbeitgeber und der Betriebsrat des Betriebs, der aus der Spaltung hervorgeht, sein. Daneben hat aber der Betriebsrat des Ursprungsbetriebs, soweit die Voraussetzungen des § 321 Abs. 1 BetrVG vorliegen, ein Übergangsmandat für den abgespaltenen Betrieb. Dieses Übergangsmandat stellt ein Vollmandat dar294 , deckt also auch Vereinbarungen nach § 325 Abs. 2 UmwG?95 Zweifelhaft ist jedoch, ob ebenso bereits vor vollzogener Spaltung solche Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden können, etwa in Form aufschiebend bedingter Normenverträge. 296 Diese müßten, wenn es sich um eine Spaltung zur Neugründung handelt, notwendigerweise mit dem alten Arbeitgeber abgeschlossen werden, da der neue vor der Spaltung noch nicht existiert. Dies ist erst mit der Eintragung der Spaltung in das Handelsregister der Fall. Soll die Fortgeltung durch Tarifvertrag geregelt werden, ist zwischen Firmenund Verbandstarifvertrag zu unterscheiden. 297 Da eine Verbandsmitgliedschaft nicht zu den im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergehenden Rechten und Pflichten gehört,298 scheidet eine Vereinbarung in der Form eines firmenbezogenen Verbandstarifvertrags mit dem übertragenden Rechtsträger aus. Ist der neue Arbeitgeber Mitglied eines Verbandes, so kann dieser jedoch die Fortgeltungsvereinbarung treffen. Auf die Tarifgebundenheit der Arbeitnehmer kommt es dabei nicht an (§ 3 Abs. 2 TVG). Ist ein Firmentarifvertrag gewollt, so hängt die Möglichkeit, diesen bereits mit dem alten Arbeitgeber abzuschließen, davon ab, ob es sich bei der gewählten Umwandlungsform um eine handelt, bei der die Gesamtrechtsnachfolge auch die Tarifbindung des Arbeitgebers übergehen läßt. 299
IV. Befund für § 325 Abs. 2 UmwG Mit der Regelung des § 325 Abs. 2 UmwG wird, bezogen auf bestimmte Umwandlungsvorgänge, die Möglichkeit geschaffen, die Fortgeltung von vor der Umwandlung bestehenden Rechten und Beteiligungsrechten des für den gespaltenen Lutter-Joost, UmwG § 321 RdNr. 22. Boecken, Untemehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 272; Kallmeyer- Willemsen, UmwG § 325 RdNr. 15. 296 So ausdrücklich Däubler / Kittner / Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 2Od; vgl. dazu Engels, FS-Wlotzke, S. 279 (292 f.). 297 Angesichts dessen, daß es um auf betrieblicher Ebene angesiedelte Fragen geht, erscheint ein Firmentarifvertrag als das für die Praxis geeignetere Instrument (so schon Wlotzke, DB 1995,40 [46]). 298 Vgl. Fn. 285. 299 Vgl. Fn. 285. 294 295
§ 2 Ausnahmetatbestände
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Betrieb bestehenden Betriebsrates auch für die im Zuge des Umwandlungsvorganges neu entstehenden Betriebe und deren Betriebsräte zeitlich unbefristet zu gewährleisten. Damit bezieht sich die Vorschrift im Wesentlichen nur auf die Rechte des Betriebsrats. Geht man allerdings auch sonst grundsätzlich von deren Erweiterbarkeit aus,300 erschließt sich für die Tarifpartner nur ein begrenzter neuer Regelungsbereich. 301 Zwar hat § 325 Abs. 2 UmwG mit der Betriebsspaltung einen Anknüpfungspunkt des betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrechts. Wenn aber die Fortgeltung von Rechten vereinbart werden kann, so erstreckt sich die Bestimmung nur auf die materiellen Folgen einer Veränderung der Organisation, bleibt also folgenorientiert. Die Änderung der betrieblichen Organisationsstruktur durch die umwandlungsbedingte Betriebsänderung und deren rechtliche Qualifikation wird nicht aufgegriffen. Letzteres gilt insbesondere für den Betriebsbegriff. Er wird von § 325 Abs. 2 UmwG nicht angetastet, so daß die Grenzen des § 3 BetrVG unverändert sind. Der von Trümner zu § 325 Abs. 2 UmwG ursprünglich aufgestellten These der "prinzipielle(n) Anerkennung der kollektivvertragsrechtlichen Abänderbarkeit von organisatorischen Vorschriften des BetrVG,,302 fehlt damit der Ansatzpunkt. Da § 325 Abs. 2 UmwG auf die Unternehmensumwandlung Bezug nimmt, sie also voraussetzt, fällt es ohnehin schwer, dem Umwandlungsrecht einen allgemeinen Grundsatz für das BetrVG zu entnehmen. Betrachtet man die Vorschrift selbst, so ergibt sich bereits ein Bild, das von einem allgemeinen Grundsatz weit entfernt ist: Die §§ 9 und 27 BetrVG als Rechte mit organisatorischem Bezug werden von der Vorschrift ausdrücklich ausgenommen. Als gesetzliches Recht des Betriebsrats, weIches spaltungsbedingt wegfallen kann, bleibt nur § 38 Abs. 1 BetrVG, der allerdings selbst bereits tarifdispositiv ist (Abs. 1 S. 2). Die operativen Rechte 303 des Betriebsrates, also Rechte, die zwar keine Beteiligungsrechte sind, aber subjektive Rechtspositionen manifestieren, gehören damit grundsätzlich mit in den Anwendungsbereich der Vorschrift. Da diese Rechte aber in der Regel organisationsrechtlichen Bezug haben und nach diesseitigem Verständnis zu den Organisationsnormen zu rechnen sind, wird durch § 325 Abs. 2 UmwG zwar von dem allgemeinen Grundsatz - nämlich, daß die Organisationsvorschriften zwingender Natur sind abgewichen, jedoch kein eigener Grundsatz statuiert. Es verbleibt für § 325 Abs. 2 UmwG nur der Charakter einer - in weiten Teilen - deklaratorischen Öffnungsklausel und nicht der eines nonnierten allgemeinen Grundsatzes. Zeigt § 325 Abs. 2 UmwG den Tarifvertragsparteien nämlich nur Möglichkeiten auf, die im Vgl. Fn. 167 ff. Anders sieht es auf der Ebene des Betriebes aus. Hier eröffnet § 325 Abs. 2 UmwG, durch mögliche Beibehaltungsregelungen den Betriebspartnern Bereiche, die sonst - abgesehen von den Öffnungsklauseln - nur den Tarifpartnern vorbehalten sind. 302 Däubler/Kittner/ Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20i (5. Aufl. 1996). In der aktuellen Aufl. ist diese Auffassung nur noch in abgeschwächter Form beibehalten worden (ebenso § 3 RdNr. 20i). 303 Vg!. dazu Däubler / Kittner / Klebe- Trüntner, BetrVG § 3 RdNr. 20i. 300
301
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I. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
wesentlichen ohnehin bestehen, kann dem ein neuer Grundsatz kaum entnommen werden, erst recht keiner, der auf den Charakter des gesetzlichen Organisationsrechts im BetrVG durchschlagen würde. Will man die betriebsverfassungsrechtliche Bestimmung betrieblicher Organisationsstrukturen - abgesehen von § 3 BetrVG - den Tarifpartnern überlassen, kann § 325 Abs. 2 UmwG hierzu nichts beisteuern. Er eröffnet insbesondere nicht die Möglichkeit, Folgen von Betriebsumstrukturierungen bereits derart betriebsverfassungsrechtlich "abzufangen", daß direkt in die Wertungen der §§ I und 4 BetrVG eingegriffen werden könnte. Die grundsätzlich zwingende Normierung des gesetzlichen Organisationsrechts sowie die Stellung der Öffnungsklauseln im BetrVG werden von § 325 Abs. 2 UmwG nicht beeinfIußt. Daraus folgt auch, daß die Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien nicht etwa von einer "prinzipielle(n) Anerkennung der kollektivvertraglichen Änderbarkeit organisatorischer Vorschriften des BetrVG"304 profitieren können.
§ 3 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen Es wurde festgestellt, daß die Betriebsverfassung Teil der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG ist. Die tarifautonome Normsetzungsmacht der Tarifpartner um faßt daher als wesentlicher Teil der koalitiven Betätigungsfreiheit zugleich das Recht, die Betriebsverfassung auszugestalten. Für dieses Recht gilt das gleiche, wie für die Koalitionsbildungsfreiheit selbst: Es wird von der Verfassung im Grundsatz schrankenlos gewährleistet. Entzieht der staatliche dem tariflichen Normgeber eine Regelungsmaterie dadurch, daß er sie seIbst normiert, so kann dies der verfassungsrechtlichen Überprüfung nur insoweit standhalten, als sich der Gesetzgeber auf schützenswerte Rechte mit Verfassungsrang berufen kann. Für das Arbeitnehmerschutzrecht kann eine solche Legitimation grundsätzlich das Sozialstaatsprinzip sein. Da ein Tätigwerden des staatlichen Normgebers jedoch gegenüber dem koalitiven Normsetzungsrecht verhältnismäßig sein muß, ist im Rahmen der Erforderlichkeit des staatlichen Handeins die Frage zu stellen, ob nicht die Koalitionen selbst den vom Gesetzgeber verfolgten Gesetzeszweck erreichen können. Denn dort wo tarifrechtliche Regelungen einen ausreichenden Arbeitnehmerschutz bereits realisieren, ist ein staatliches Eingreifen nicht erforderlich und so gegenüber dem koalitiven Normsetzungsrecht unverhältnismäßig. Die Organisationsnormen des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts sind im Grundsatz durch den staatlichen Normgeber zwingend, also auch durch Tarifvertrag nicht abdingbar, qualifiziert worden. Aus dem Sozialstaatsprinzip läßt sich jedoch nur das Gebot herleiten, einen Mindestschutz zu realisieren. Mindestschutz 304
Vgl. Trümner; Fn. 267.
§ 3 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
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bedeutet dabei immer nur die Unabdingbarkeit "nach unten", also zu Lasten der Arbeitnehmer. Organisationsnormen sind dagegen dadurch gekennzeichnet, daß sie einem Günstigkeitsvergleich nicht zugänglich, folglich auch nicht zugunsten der Arbeitnehmer veränderbar sind. Für die Organisationsnonnen folgt gleichwohl die Notwendigkeit der zwingenden Kodifikation aus deren Funktion als Unterbau des materiellen Betriebsverfassungsrechts. Dies korrespondiert mit dem Grundsatz, daß dort, wo eine Materie einem Günstigkeitsvergleich zugänglich ist, die Bestimmung, welche diese Materie erfaßt, nur einseitig zwingender Natur sein darf, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die zwingende Ausgestaltung auf dem Sozialstaatsprinzip basiert. Dort, wo ein Günstigkeitsvergleich nicht möglich ist, darf hingegen die Materie durch den staatlichen Nonngeber tariffest charakterisiert werden, wenn dies erforderlich ist, um die Mindestschutzfunktion materieller Bestimmungen zu gewährleisten. Diese Voraussetzung erfüllen die Organisationsbestimmungen der gesetzlichen Betriebsverfassung. Wenn der Gesetzgeber also, ohne daß dies einen unzulässigen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG darstellt, die organisatorischen Bestimmungen des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts zwingend kodifizieren durfte, so ist für die Bestimmung des Regelungsbereichs der Tarifpartner auf diesem Gebiet eine entscheidende Erkenntnis gewonnen: Die soeben vorgestellten Öffnungsklauseln selbst bilden die Grenze dessen, was den Tarifpartnern zur Regelung verbleibt. Eine darüber hinausgehende Kompetenz zur Änderung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsstrukturen besteht bei der gegenwärtigen gesetzlichen Situation nicht. Bereits die Kurzdarstellung der Zulassungsnonnen hat verdeutlicht, daß diese Ausnahmetatbestände nicht mehr als den Sonderfall definieren. Dem eigentlichen Wortsinn als Ausnahmetatbestände werden diese Nonnen damit gerecht. Im Ganzen sind den Tarifpartnern - so jedenfalls der erste Eindruck - enge Grenzen gesetzt. Läßt man § 3 BetrVG unberücksichtigt, so geht es bei aUen übrigen Öffnungsklauseln im BetrVG 305 um sehr begrenzte Materien, die fernab der eigentlichen Grundstrukturen der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation nur einige Nischen (auch) dem Tarifvertrag überlassen. Der Bereich der Geschäftsführung und Wahl des Betriebsrats sowie der Bildung der übrigen Organe wird durch diese Bestimmungen nur am Rande tangiert. Viel wesentlicher ist jedoch, daß der eigentliche Anknüpfungspunkt des materiellen Betriebsverfassungsrechts vom Gesetzgeber vorgegeben bleibt. Gemeint ist damit die Frage, von welchem Organ welche Rechte ausgeübt werden (können), und wo dieses Organ angesiedelt ist. Aus der Sicht des Gesetzes steht und faUt die örtliche und - dies ist von besonderem Interesse - funktional-instanzielle Zuordnung des Organs in den Betrieb (Betriebsrat), 30S AndelWeitige Regelung über die Freistellung (§ 38 Abs. 3 BetrVG) und die Zahl der Mitglieder der übergeordneten betriebsverfassungsrechtlichen Organe (§§ 47 Abs. 4, 72 Abs. 4, 55 Abs. 4 BetrVG). die Errichtung einer tariflichen Schlichtungsstelle und abweichende Vergütungsregelungen §§ 76 Abs. 8, 76a Abs. 5 BetrVG), ergänzende Regelung der Beschwerdeverfahrens (§ 86 BetrVG) sowie die Errichtung einer Vertretung in Flugbetrieben (§ 177 Abs. 2 S. I BetrVG). 6 Wißmann
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1. Kap.: Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grundlagen
das Unternehmen (Gesamtbetriebsrat), den Konzern (Konzernbetriebsrat) mit der Definition dieser Begriffe. Mit den zustimmungsfreien Öffnungsklauseln kann der Tarifvertrag in diesen Bereich nicht vordringen. 306 Einzig § 3 BetrVG berührt diese Grundstrukturen. Dies geschieht zum einen dadurch, daß er die Möglichkeit eröffnet, andere oder zusätzliche Organe anstelle oder neben den vom Gesetz vorgesehenen Interessenvertretungen zu errichten. Die zusätzliche Vertretung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG soll aber nur "der zweckmäßigeren Gestaltung der Zusammenarbeit des Betriebsrats mit den Arbeitnehmern" dienen. Die Bestimmung greift damit die vorhandenen Strukturen auf und siedelt die zusätzliche Vertretung funktional unterhalb aller vorhandene Organe als betriebsverfassungsrechtliche Substruktur an. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG geht hier weiter, wenn er die Errichtung einer tariflichen Vertretung an Stelle der betriebsverfassungsgesetzlichen gestattet, will dem aber sogleich enge Grenzen setzten, da er das Vorliegen besonderer Schwierigkeiten verlangt. Soweit die Nr. 3 des § 3 Abs. 1 BetrVG den Tarifvertragsparteien erlaubt, "von § 4 abweichend ( ... ) Betriebsteile und Nebenbetriebe" zuzuordnen, ist hierdurch ein Kern des gesetzlichen Organisationsrechts, nämlich der Betriebsbegriff des § 1 BetrVG, zumindest insoweit tangiert, als die Zuordnungskriterien für Betriebsteile und Nebenbetriebe des § 4 BetrVG durch Tarifvertrag verschoben werden können. Daß der staatliche Normgeber es aber offenbar vermeiden wollte, den Tarifvertragsparteien zuviel Kompetenz an die Hand zu geben, zeigt bei § 3 BetrVG dessen Absatz 2, der die Geltung entsprechender Vereinbarungen von der staatlichen Zustimmung abhängig macht. Das Mehr an Kompetenz, das § 3 BetrVG den Tarifvertragsparteien im Vergleich zu den sehr zurückhaltenden übrigen Öffnungsklauseln im BetrVG zuweist, wird durch den Zustimmungsvorbehalt wieder relativiert. Damit offenbart schon dieser erste Blick auf die Öffnungsklauseln im BetrVG eine große Zurückhaltung des Gesetzgebers, wenn es darum geht, den Tarifvertragsparteien Kompetenzen in diesem Bereich zuzuweisen. Es überwiegt das Mißtrauen, die Strukturen der gesetzlichen Betriebsverfassung den Tarifvertragsparteien zu überantworten. Daß dieses Mißtrauen auch dem Tarifvertrag zuteil wird, verwundert zunächst, wenn man sich die Bandbreite tarifvertraglicher Regelungen im Arbeitsrecht vor Augen führt. Wahrend die Materie der Lohn- und Arbeitsbedingung unter Zurückhaltung des Staates im wesentlichen wenigstens auch den Koalitionen überlassen ist, kehrt sich das Vertrauen, welches die staatlichen Ordnung hier in den Tarifvertrag setzt, ins Gegenteil. Es geht also in der Hauptsache um zwei Fragen. Zum einen muß durch die Auslegung der Öffnungsklauseln gezeigt werden, was diese Bestimmungen nun der ta306 Eine Ausnahme bildet hier die Errichtung einer Vertretung in Flugbetrieben (§ 177 Abs. 2 S. 1 BetrVG). Da jedoch das BetrVG in Flugbetrieben nicht gilt, handelt es sich bei einem solchen Tarifvertrag nicht um eine Kollektivvereinbarung welche die gesetzlichen Vorgaben verändert oder anpaßt. Es wird vielmehr eine Vertretung geschaffen, deren alleinige Grundlage der Tarifvertrag ist. Auch die mögliche Bezugnahme auf das Gesetz ändert hieran nichts.
§ 3 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
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rifautonomen Normierung überlassen und weIche Bereiche das gesetzliche Betriebsverfassungsrecht versperrt. Zuvor bedarf es jedoch der Klärung, weIche Zielsetzungen das gesetzliche Organisationsmodell verfolgt und inwieweit für die Betriebsverfassung tarifvertragliche Gestaltungen desselben, eine angemessene und sinnvolle Ergänzung zu den gesetzlichen Vorgaben darstellen können.
6'
2. Kapitel
Gesetzlicher Anspruch der Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit Bei dem wesentlichen Teil der Öffnungsklauseln in der gesetzlichen Betriebsverfassung handelt es sich nur um punktuelle Gestaltungsmöglichkeiten, welche die Errichtung von betriebsverfassungsrechtlichen Interessenvertretungen als solche nicht beeinflußt. I Die Ausnahme bildet hier § 3 BetrVG, dessen Sonderrolle diesen in den Vordergrund drängt. Nicht nur wegen seiner Stellung am Anfang des Gesetzes, sondern ebenfalls wegen des Zustimmungsvorbehaltes in Abs. 2 ist diese Qualifizierung bereits indiziert, ohne daß die Gestaltungsmöglichkeiten im einzelnen schon genau abgesteckt sind. Die Untersuchung wird sich mithin damit zu beschäftigen haben, welche Gestaltungsmöglichkeiten § 3 BetrVG zuläßt und wo dieser als Öffnungsklausel gleichzeitig der tariflichen Regelungsbefugnis die gesetzliche Grenze zieht. Die Ziffer 3 des ersten Absatzes dieser Zulassungsnorm gestattet eine von § 4 BetrVG abweichende Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben durch tarifvertragliche Regelung. Bereits der Wortlaut dieser Vorschrift knüpft damit an eine Bestimmung - § 4 BetrVG - an, die den Begriff des Betriebes in Bezug auf Betriebsteile und Nebenbetriebe modifiziert 2 und damit mittelbar selbst näher bestimmt. Beschäftigt man sich also über § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG mit § 4 BetrVG, führt kein Weg am Betriebsbegriff vorbei. Aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der zusätzlichen und anderen Vertretung in § 3 Abs. I Nr. I und 2 BetrVG verwenden den Begriff des Betriebes, so daß es auch insoweit unerläßlich bleibt, sich mit diesem Begriff auseinanderzusetzen. Darüber hinaus ist er wegen seiner zentralen Rolle im Organisationsrecht von Interesse. Bekanntermaßen kennt das BetrVG keine Legaldefinition des Betriebsbegriffes. § I BetrVG sagt zunächst nur, daß "in Betrieben ( ... ) Betriebsräte gewählt" werden. So war und ist dessen Bestimmung Aufgabe der Rechtsprechung und Wissenschaft. Ein breiter Konsens, der verläßliche Kriterien aufstellt, wurde allerdings nicht gefunden. Dies zeigt sich in einer nicht endenden Debatte zu diesem Thema und einer damit einhergehenden Unzufriedenheit, die sogar in partielle Resignation gemündet ist? In dieser Arbeit geht es nun nicht darum, einen neuerlichen Versuch I 2
3
Zu diesem Schluß gelangt auch Heither, FS-Schaub, S. 295 (297). Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG, § 4 RdNr. 2. Vgl. nur BAGE 50, 251 (257).
§ 1 Wertungskriterien der Betriebsverfassung
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zu unternehmen, Kriterien für die organisatorische Einheit, an der die gesetzliche Betriebsverfassung anknüpft, nämlich den Betrieb, zu finden. Es ist gleichwohl eine der Fragen dieses Kapitels, darzustellen, welche Kriterien im Grundsatz angewandt werden, um die betriebsverfassungsrechtlichen Interessenvertretungen ihren organisatorischen Einheiten zuzuordnen. Hierzu gehören neben dem Betriebsbegriff für den Betriebsrat (§§ I und 4 BetrVG) der Unternehmensbegriff insbesondere für den Gesamtbetriebsrat (§§ 47 ff. BetrVG) sowie der Begriff des Konzerns für den Konzernbetriebsrat (§§ 54 ff. BetrVG). Erst dann läßt sich sagen, ob bei deren Anwendung Defiziten bleiben, die ein Eingreifen der Tarifvertragsparteien nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert machen. Ein solches Defizit läßt sich nicht pauschal nur damit begründen, bei bestimmten Konstellationen sei die Anwendung der Begriffsdefinitionen schwierig. Es kommt vielmehr auf ein Defizit aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht an. Dieses ist anzunehmen, wenn die Betriebsverfassung ihrer Zielsetzung nicht in der Weise gerecht wird, daß sie im Einzelfall bestmöglich verwirklicht ist. Welche gesetzesleitenden Prinzipien nun dem organisatorischen Teil der gesetzlichen Betriebsverfassung innewohnen, bedarf mithin gleichfalls der näheren Bestimmung. Durch Darstellung der teloi der Organisation der Betriebsverfassung kann daneben für die Auslegung der gesetzlichen Zulassungs normen etwas gewonnen werden.
§ 1 Wertungskriterien der Betriebsverfassung als Zielsetzung der Organisation Der Zweck der Betriebsverfassung ist das Ermöglichen einer umfassenden Interessenvertretung der Belegschaft gegenüber ihrem Arbeitgeber. Das Betriebsverfassungsgesetz will hierzu das Mittel bereitstellen. Es versteht sich daher als Arbeitnehmerschutzrecht. Dies gilt für das gesamte Betriebsverfassungsrecht. Eine Einteilung der Zweckrichtung in den Zweck der Organisationsnormen und den Zweck der materiellen Bestimmungen, also der Beteiligungsrechte, ist nicht möglich. Das betriebsverfassungsrechtliche Organisationsstatut legt die instanzielle Zuordnung der bereitgestellten Institutionen fest und bestimmt dadurch generalisierend auch deren Aufgaben (vgl. §§ 50 und 58 BetrVG). Instrumentarien werden diesen Vertretungen in Form von Beteiligungsrechten an die Hand gegeben. Letztlich machen damit erst die Rechte die Qualifikation der Betriebsverfassung als Arbeitnehmerschutzrecht aus. Da diese Rechte jedoch nur über Institutionen der Arbeitnehmer zur Geltung kommen können, setzt dies das Vorhandensein einer Institution voraus. Institution und Instrumentarium hängen folglich voneinander ab. Sie bilden aus diesem Grunde in der Zweckbestimmung eine Einheit. Dabei "dient" die Organisation den materiellen Bestimmungen insofern, als sie den erforderlichen Unterbau liefert und die Reichweite definiert. Demzufolge hat sich die Zweckbestimmung der Organisation nach den Beteiligungsrechten zu richten und nicht umgekehrt.
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
Der Betriebsrat ist zunächst das Gegenüber des Arbeitgebers, denn letzterer ist einzig Adressat der Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte. Zum Gedanken der Betriebsverfassung gehört aber desgleichen das Recht des Einzelnen, durch Gestaltung der betrieblichen Ordnung der Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. 4 Dieses Recht erschöpft sich nicht in der Wahl der betrieblichen Interessenvertretung selbst, sondern besteht in anderen Rechten, wie dem Beschwerderecht des § 85 BetrVG, fort. Auch hier nimmt der Betriebsrat stets die Funktion als Sachwalter der Arbeitnehmerinteressen wahr. Er existiert mithin nicht um seiner selbst willen 5 , sondern als Organ der Arbeitnehmer. Der Betriebsrat ist kein von der Belegschaft losgelöstes Organ, sondern an diese in Errichtung und Tatigkeit wenigstens mittelbar gebunden. Von ihr leitet er seine Legitimation ab. Dies führt dazu, daß, neben der Möglichkeit, Rechte gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen, als zweites Moment in der Zielsetzung der Betriebsverfassung die Bindung an die vertretene Belegschaft zum Ausdruck kommen muß.
A. Kriterium der Entscheidungsnähe Das erste Prinzip findet seinen Ausdruck darin, daß der Gesetzgeber keine singuläre, unternehmenseinheitliche und ausschließlich zuständige Interessenvertretung der Arbeitnehmer vorgibt, sondern entlang der herkömmlichen unternehmerischen Entscheidungs- und Leitungsstruktur (Betrieb, Unternehmen und Konzern) nebeneinander mehrere nur bereichsgebundene Institutionen der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung vorgesehen hat. 6 Das Gesetz will auf vorhandene Strukturen beim Arbeitgeber zurückgreifen, ohne diese selbst anzutasten. Es reagiert nur, ohne selbst organisatorisch Veränderungen vorzunehmen. Insoweit respektiert das Gesetz die grundsätzlich uneingeschränkte unternehmerische Organisationsfreiheit. 7 Will das Recht der Betriebsverfassung ein Höchstmaß an Mitbestimmung im Rahmen der gewährleisteten Rechte ermöglichen, muß es die betriebsverfassungsrechtlichen Organe sachlich-instanziell dort ansiedeln, wo sich auf der Seite des Arbeitgebers die entsprechende Entscheidungsbefugnis findet. Die den einzelnen Organen zugewiesenen Rechte können nur dann wirksam ausgeübt werden, wenn das Organ einen Verhandlungspartner zum Gegenüber hat, dessen Kompetenz der betriebsverfassungsrechtlichen Kompetenz spiegelbildlich entspricht. Will eine betriebsverfassungsrechtliche Institution in wirtschaftlichen Angelegenheiten unterrichtet werden, so kann dieses Recht leerlaufen oder zumindest nicht effektiv ausgeübt werden, wenn die Kenntnis hierüber nur bei Entscheidungsträgern des Ar4
S 6
7
GK-BetrVG-Wiese, Ein!. RdNr. 43 ff. GK-BetrVG-Wiese, Ein!. RdNr. 49. Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 253. Vgl. MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 14.
§ I Wertungskriterien der Betriebsverfassung
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beitgebers vorhanden ist, die in der Hierarchie an anderer Stelle angesiedelt sind als das Organ, welches dieses Recht geltend macht. Konsequent ordnet das BetrVG den Wirtschaftsausschuß auch dem Unternehmen zu und nicht dem Betrieb, da die in § 106 Abs. 3 aufgezählten Angelegenheiten üblicherweise auf der Unternehmensebene entschieden werden. Gleichzeitig geht das Gesetz aber damit auch davon aus, daß dort, wo das Unternehmen ist, auf Arbeitgeberseite die Entscheidungsbefugnisse über wirtschaftliche Angelegenheiten angesiedelt sind. Das gleiche gilt für die übrigen Beteiligungsrechte. Personelle Angelegenheiten können sinnvoll nur dort mit dem Arbeitgeber erörtert werden, wo die Entscheidungen über Einstellung, Versetzung und Kündigung getroffen werden. Dies verdeutlicht, daß die Bestimmung der Begriffe Betrieb, Unternehmen und Konzern im Sinne des BetrVG erst dann möglich ist, wenn die materiellen Folgen dieser Zuordnung beachtet sind. Die Definition hat also wenigstens auch aus dem Blickwinkel der Beteiligungsrechte der einzelnen betriebsverfassungsrechtlichen Organe zu erfolgen. 8 Dabei ist jedoch zu beachten, daß der rechtliche Bestand eines Mitbestimmungsrechts nicht in jeder Weise an den Bestand eines Organs gebunden ist. Es ist ausreichend, daß nur ein Betriebsrat besteht. Denn fällt bspw. auf Konzernebene eine Leitungsentscheidung, die auf der Ebene abhängiger Unternehmen einen Mitbestimmungstatbestand betrifft, so ist auch diese Entscheidung nicht ohne Einhaltung des Mitbestimmungsverfahrens auf der betroffenen Ebene durchsetzbar, auch wenn ein Konzernbetriebsrat nicht gebildet wurde. Das Prinzip der möglichst effektiven Mitwirkung und Mitbestimmung 9 und das daraus folgende Prinzip der Entscheidungsnähe finden sich folgerichtig bereits bei den ersten Versuchen einer Begriffsbestimmung durch das Bundesarbeitsgericht: "Um seine Aufgaben erfüllen zu können, muß der Betriebsrat häufig mit dem Arbeitgeber verhandeln. Die Auslegung des Gesetzes muß daher auch unter dem Gesichtspunkt zu erfolgen, wie diese Verhandlungen möglichst nutzbringend gestaltet werden können ... (Es) ist entscheidend mit zu berücksichtigen wo die Entschließungen des Arbeitgebers insbesondere im Mitbestimmungsraum getroffen werden."lO
B. Kriterium der Belegschaftsnähe Auch nach der Wahl der Organe bleibt es maßgebende Richtschnur der Betriebsverfassung, die aus der Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zu einem Arbeitsverband Es geht damit um den teleologischen Aspekt der Begriffsbestimmung. Dazu ArbG Berlin : "Es ist ein grundlegendes Anliegen des BetrVG, durch die Einrichtung von Vertretungen der Belegschaft zu gewährleisten, daß vor allem die personellen und sozialen Angelegenheiten der Arbeitnehmer möglichst effektiv wahrgenommen werden können." in AP Nr. 1 zu § 4 BetrVG 1972; vg!. auch Däubler / Kittner I Klebe-Schneider, BetrVG Ein!. RdNr. 101. 10 BAG AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG 1952. 8
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
sich ergebende tatsächliche und rechtliche Abhängigkeit zu kompensieren. Die Beteiligungsrechte des kollektiven Organs sind somit (nur) Mittel zur Erreichung dieses Zweckes. II Dem entspricht es, daß überwiegend der Schutz des Arbeitnehmers als wesentlicher Zweck der Betriebsverfassung angesehen wird. 12 Daraus ergibt sich, daß die weitreichenden Befugnisse der betrieblichen Vertretungen nicht Selbstzweck sind und schon gar nicht der Selbstverwirklichung ihrer Repräsentanten dienen. 13 In gleicher Weise darf die Unabhängigkeit der kollektiven Interessenvertretung nicht zum Selbstzweck werden, der dem Primärzweck der Betriebsverfassung - nämlich dem Schutz der Arbeitnehmerrechte zu dienen - verdrängt. Damit dieser, scheinbar selbstverständliche Ansatz in der Praxis seine Realisierung finden kann, ist es unter anderem unumgänglich, daß die zu wählenden Belegschaftsvertreter die Betriebs- und Arbeitsbedingungen aus eigener Sachkunde beurteilen können. Dafür ist ein enger Kontakt zwischen der Vertretung und den repräsentierten Arbeitnehmern erforderlich. Diese zweite gesetzgeberische Wertung findet sich im BetrVG als Prinzip der Arbeitnehmer- bzw. Belegschaftsnähe der betrieblichen Vertretungsorgane. 14 Diese sachliche Wertung, welche vornehmlich für den Betrieb gilt, findet auch ihren Niederschlag in der gesetzlichen Konzeption. Ein Betriebsrat ist nach § 1 BetrVG bereits dann zu wählen, wenn in einem Betrieb lediglich fünf Arbeitnehmer ständig beschäftigt sind. Entsprechendes gilt für Nebenbetriebe, wenn sie nur diese Voraussetzung des § 1 BetrVG erfüllen, wie sich aus § 4 Satz 2 BetrVG ergibt. Zudem ist die Wahl eines Betriebsrats in Betriebsteilen dann möglich, wenn diese räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt oder bei räumlicher Nähe durch Aufgabenbereich oder Organisation eigenständig sind (§ 4 Satz 1 BetrVG), also gerade der notwendige enge Kontakt zur Vertretung des Hauptbetriebes nicht mehr vorhanden ist. Maßgebend ist insoweit der Gesichtspunkt einer arbeitnehmernahen Gestaltung der Mitbestimmungsordnung. 15 An dieser Wertung ändert sich auch nichts dadurch, daß das Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen die Errichtung eines Gesamtbetriebsrats zwingend vorsieht (§ 47 BetrVG) und bei Vorliegen des Konzerntatbestandes die Einrichtung einer Vertretung auf dieser Ebene ermöglicht (§ 54 BetrVG). Das BetrVG hat hiermit zunächst nur anerkannt, daß mitbestimmungsrelevante Maßnahmen in Großunternehmen nicht nur auf Betriebsebene entschieden werden, sondern zunehmend zentral auf Unternehmens- und Konzernebene eingeleitet und auch vollzogen werden. Das Gesetz hat jedoch das Bestehen bestimmter Mitbestimmungsrechte nicht an die Existenz dieser Organe gekoppelt und vor alSöllner, Arbeitsrecht § 21 13 (S. 154); ders., RdA 1968,437 (437 ff.). GK-BetrVG-Wiese, Ein\. RdNr. 49 mwN. 13 GK-BetrVG-Wiese, Ein\. RdNr. 49. 14 BAG Nr. 5, 7 und 9 zu § 3 BetrVG 1952; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 16; Richardi, ArbRdGegw Bd. 13 (1975) S. 19 (46); Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 239; Gamillscheg, ZfA 1975, 357 (398 f.); Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 1 RdNr. 2; Däubler I Kittner I Klebe-Schneider, BetrVG Ein\. RdNr. 101. IS Richardi, ArbRdGegw Bd. 13 (1975), S. 19 (46). 11
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lern Gesamt- oder Konzernbetriebsrat nicht hierarchisch über dem EinzeIbetriebsrat angeordnet, selbst wenn die instanzielle Verortung dieser Organe dies zunächst vermuten läßt (§§ 50 Abs. I S. 2, 58 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Zusätzlich sind die Kompetenzen von Gesamt- und Konzernbetriebsrat gegenüber dem EinzeIbetriebsrat subsidiär, ihm gebührt die Primärzuständigkeit. 16 Eine "Kompetenz-Kompetenz" steht nur dem jeweils betriebsnäheren Gremium zu. 17 Auch mit der möglichen Dreistufigkeit der Interessensvertretungsstruktur bleibt damit die arbeitnehmernahe Mitbestimmung im Vordergrund. Ob sich die Praxis an diese vom Gesetz vorgegebene Wertung bei der Aufgabenverteilung Einzel-, Gesamt- und Konzernbetriebsrat hält, ist eine andere Frage. 18 Die gesetzes leitenden Motive sind in ihrer Aussage hierdurch jedenfalls nicht angetastet. Auch dieses Prinzip hat bereits frühzeitig seinen Niederschlag in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gefunden. Der folgende Auszug entstammt der oben bereits zitierten Entscheidung von 1963 zum Betriebsbegriff des BetrVG von
1952: "Da der Betriebsrat der berufene Vertreter der Belegschaft ist, ist ein möglichst enger Kontakt zwischen beiden zu fordern. ( ... ) denn das Betriebsverfassungsgesetz stellt in erster Linie auf die Arbeitnehmer ab, soweit es sich um die Bildung des Betriebsrats handelt. ( ... ) Was über die Notwendigkeit eines engen Kontaktes zwischen Belegschaft und Betriebsrat gesagt worden ist, führt zu der weiteren Überlegung, daß dem Betriebsrat stets eine ordnungsgemäße Betreuung aller Arbeitnehmer möglich sein muß. Es ist deshalb wichtig, daß ( ... ) die Betriebsratsmitglieder mit den Sorgen und Anliegen der von ihnen zu betreuenden Arbeitskollegen so genau wie möglich vertraut sind. Dabei kommt es vor allem auf die fachliche Seite an, nämlich auf die Betriebs- und Arbeitsbedingungen der einzelnen Arbeitnehmer.,,19
c. Das Verhältnis der Wertungskriterien zueinander Beide Wertungskriterien sowie ihr Verhältnis zueinander sind im Gesetz nicht explizit genannt. Sie ergeben sich vielmehr aus den Zielsetzungen des Gesetzes. Soll aber sowohl dem Schutz- als auch dem Teilhabegedanken des Betriebsverfassungsrechts 20 Rechnung getragen werden, so bedarf es einer möglichst weitgehenden Verwirklichung der gesetzgeberischen Wertungskriterien. Nur die Nähe der betrieblichen Interessenvertretung zum Arbeitgeber ermöglicht es ihr, die Interessen Fitting / Kaiser/ Heither/ Engels. BetrVG § 50 RdNr. 9. 17 Vg!. §§ 50 Abs. 2,58 Abs. 2 BetrVG. 18 Daß der vom Gesetzgeber vorgesehenen Primärzuständigkeit des Einzelbetriebsrat in der Unternehmenswirklichkeit nicht immer viel Beachtung geschenkt wird, hat bereits Rancke eindrucksvoll nachgewiesen (Betriebsverfassung und Untemehmenswirklichkeit, S. 336 ff.). 19 BAG AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG 1952. 20 GK-BetrVG-Wiese. Ein!. RdNr. 49 und 50 ff. 16
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der Arbeitnehmer umfassend zu vertreten, um so dem Schutz- und zumindest mittelbar dem Teilhabegedanken gerecht zu werden. Und nur die Nähe des Betriebsrats zur Belegschaft kann sicherstellen, daß er sich in seinen Entscheidungen in der Hauptsache von Erwägungen leiten läßt, die in der betrieblichen Wirklichkeit auch ihre Grundlage haben. Der enge Kontakt zwischen Vertretung und Arbeitnehmern gewährleistet einen erheblicheren Rechtfertigungszwang der Amtsinhaber zwischen den Wahlen gegenüber der Belegschaft. Er verhindert, daß die Betriebsratsmitglieder sich der Einflußnahme ihrer Wählerschaft während der vierjährigen Amtszeit entziehen. Denn Institutionen, die diese Kontrolle durch mittelbare Einflußmöglichkeiten ermöglichen würden, kennt die gesetzliche Betriebsverfassung nicht. So sind andere Organe, die betriebsverfassungsrechtliche Aufgaben unterhalb des Betriebsrats wahrnehmen könnten, gesetzlich nicht vorgesehen. Damit hat aber der Gesetzgeber erkennbar die Entscheidung für eine einheitliche Interessenvertretung getroffen?l Dies gilt auf Betriebsebene sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Hinsicht. Nur in Aufgabenbereich und Organisation eigenständige Betriebsteile (§ 4 S. I Nr. 2 BetrVG) bilden einen eigenen Betriebsrat. Eine Arbeitnehmerrepräsentation nach Betriebsabteilungen, Arbeitsbereichen oder Beschäftigungsarten scheidet aus. 22 Innerhalb einer betriebsratsfähigen Einheit ist auch nur ein Betriebsrat zu wählen. Abteilungsbetriebsräte, Arbeiter-Angestellten Betriebsratseinheiten sowie allgemeine operative Betriebsräte und solche für sogenannte Betriebssplitter kennt eine auf den gesetzlichen Regelungen basierende betriebliche Interessenvertretungsstruktur nicht. Die Berücksichtigung der Besonderheiten der Arbeitsstätte erfolgt über § 15 Abs. I Satz 1 BetrVG innerhalb des Betriebsrats selbst. Danach soll sich der Betriebsrat möglichst aus den Arbeitnehmern der verschiedenen Abteilungen zusammensetzen, wobei der so gewählte Amtsträger jedoch nicht Vertreter gerade "seiner" Abteilung ist. 23 Die Berücksichtigung dieser organisatorischen Entscheidung des Gesetzgebers hat zwei Folgen für die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretung: Die Einheit der Betriebsvertretung kann die Effektivität der Betriebsratsarbeit verbessern, denn es werden, wie das Bundesarbeitsgericht es ausdrückt, "ein unfruchtbares Nebeneinanderherarbeiten mehrerer in ihrem Aufgabenbereich sich überschneidender Betriebsräte und eine unerquickliche Rivalität vermieden".24 Auch könne der Betriebsrat "das ihm anvertraute Gesamtinteresse der Arbeitnehmer um so nachhaltiger vertreten, je größer und einheitlicher er dem Arbeitgeber gegenübertrete".25 Der Preis dafür ist jedoch die Entfremdung der Amtsträger in Großbetrieben. Je größer die organisatori21 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 257 erkennt hierin "sozusagen das dritte grundlegende Wertungsprinzip im Bereich der Organisationsnormen". 22 Gamillscheg, ZfA 1975,357 (361 f.); MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 16. 23 V gl. Gamillscheg, ZfA 1975 • 357 (361 f.). 24 BAG AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG 1952; vgl. auch AP Nr. 7 zu § 3 BetrVG 1952 und AP Nr. 2 zu § 4 BetrVG 1972. In AP Nr. 4 zu § 4 BetrVG 1972 hat das BAG dies jedoch relativiert, wenn es "gewisse Überschneidungen der Zuständigkeiten" hinnimmt. 25 BAG AP Nr. 2 zu § 4 BetrVG 1972.
§ 1 Wertungskriterien der Betriebsverfassung
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sche Grundeinheit, sprich der Betrieb, ist, desto mehr wird eine unmittelbare Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Amtsträger in tatsächlicher Hinsicht erschwert oder gar unmöglich gemacht. 26 Die Qualität des Kriteriums der Belegschaftsnähe nimmt also mit steigender Quantität der Belegschaftszahl ab. 27 Hinzu kommt die stetige Erhöhung der Mitgliederzahl der Institutionen nach § 9 BetrVG. Das Anwachsen der Betriebsratsgröße kann zu Reibungsverlusten und so zu einer Behinderung der Effektivität führen, da Entscheidungsprozesse in größeren Organen weitere Wege zu durchlaufen haben. Die genannten Prinzipien, die organisationsbezogene Betonung der Entscheidungsnähe und die belegschaftsbezogene Hervorhebung der Arbeitnehmernähe des betrieblichen Interessenvertretungsorgans, stehen in einem kontradiktorischen Spannungsverhältnis?8 Ist man versucht, beide Prinzipien bei der instanziellen Zuordnung des Vertretungsorgans zu verwirklichen, so wird man feststellen, daß die Beachtung des einen Prinzips oftmals zu einem Ergebnis führt, welches der Verwirklichung des anderen Prinzips zuwiderläuft. Dies gilt, je mehr man sich von der Idealvorstellung des Betriebs entfernt: Dieser ist überschaubar in Größe und Organisation, eine einheitliche und lebendige Betriebsgemeinschaft verfolgt gleich oder doch ähnlich gelagerte Interessen und steht dem einheitlichen Leitungsapparat des Arbeitgebers gegenüber. Stellt man mit dem Kriterium der Entscheidungsnähe auf die beim Arbeitgeber vorhandenen Entscheidungsstrukturen ab, so kann dies dazu führen, daß die Interessenvertretung nicht dort angesiedelt ist, wo sich die einheitliche, überschaubare und soziologisch definierte Belegschaftsgemeinschaft befindet29 , sondern dort, wo arbeitgeberseits die zentralen Entscheidungen im betriebsverfassungsrechtlichen Raum getroffen werden, also die überwiegend betriebswirtschaftlich definierte Leitung des Betriebes lokalisiert ist. Auf der anderen Seite kann das Prinzip der Arbeitnehmernähe zu einer Entfernung vom Arbeitgeber und damit einhergehend zu einem Verlust an Einfluß und Einflußmöglichkeiten der Interessenvertretung führen. Der Nähe zur Belegschaft und zum einzelnen Arbeitnehmer ist stets eine gewisse Entfernung vom Arbeitgeber immanent. Letztlich bezahlt man damit die konsequente Verwirklichung des einen Prinzips in der Regel mit dem Verlust oder zumindest einer qualitativen Reduktion des andern Prinzips. Diese Anknüpfungspunkte sind damit bereits dann nicht deckungsgleich, würden also bei ihrer konsequenten Anwendung zu einer unterschiedlichen Lokalisierung des Vertretungsorgans führen, wenn der einheitliche Leitungsapparat für eiGamillscheg, ZfA 1975,357 (362). Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 271 stellt hierzu fest, daß eine ordnungsgemäße Betreuung der Arbeitnehmern in größeren Punktbetrieben demzufolge unmöglich ist. 28 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 256. 29 Rancke, wie vor. 26
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nen sehr großen Belegschaftskreis zuständig ist, wie dies in großen Betrieben der Fall ist. Diese Konsequenz ergibt sich im übrigen überall dort, wo die Leitungsfunktion stark zentralisiert wahrgenommen wird ohne Rücksicht darauf, ob im übrigen die Struktur des Betriebes auch zentral ausgestaltet ist, also abgrenzbare Arbeitsbereiche vorhanden sind oder nicht. Es ist mithin von nicht unerheblicher Bedeutung, welches Gewicht dem jeweiligen Gesichtspunkt zukommt und wie in der Folge die gegensätzlichen Wertungsprinzipien im Verhältnis zueinander gewichtet sind. Die Rechtsprechung hat sich hierzu nicht eindeutig geäußert, jedoch insbesondere bei der Zuordnung von Nebenbetrieben und Betriebsteilen betont, daß die Gewichtung sowohl nach organisationsbezogenen als auch nach belegschaftsbezogenen Momenten zu erfolgen habe. 3o Die Tendenz geht jedoch wohl dahin, mehr auf die Organisation der Entscheidungsstruktur durch den Unternehmer abzustellen. Wahrend es das BAG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1976 noch für wesentlich hielt, ob eine ordnungsgemäße Betreuung der Belegschaft möglich ist und ob es sich um eine "echte Betriebsgemeinschaft" handelt,31 stellte es in den folgenden Entscheidungen primär darauf ab, wo auf der Seite des Arbeitgebers die betriebsverfassungsrechtlichen Kernentscheidungen - die Entscheidungen im personellen und sozialen Bereich 32 - getroffen werden, wo sich also die unternehmerische Leitungsmacht im betrieblichen Bereich entfaltet. 33 Aus dem Blickwinkel des Gesetzes muß dem Kriterium mehr Gewicht beigemessen werden, durch dessen Verwirklichung den Zielsetzungen der Betriebsverfassung am ehesten entsprochen wird, von dessen Beachtung also die Wirkkraft der betriebsverfassungsrechtlichen Rechte maßgeblich abhängt. Dies hat sich wiederum danach zu richten, wie sich eine Interessenvertretung errichten läßt, die dem Teilhabe- und Schutzgedanken sinnvoll und vor allem effektiv Rechnung trägt. Einfluß- und Durchsetzungsvermögen kann am besten diejenige Interessenvertretung entfalten, die auf horizontaler Ebene einen arbeitgeberseitigen Verhandlungspartner zum Gegenüber hat, der aufgrund eigener Sachkompetenz und der ihm gewährten Handlungsspielräume in der Lage ist, in betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten Absprachen zu treffen, ohne nur Sprecher des Arbeitgebers zu sein. 34 Um ihren Aufgaben gerecht werden zu können, bleibt es damit unabdingbar, daß sie dem arbeitgeberseitigen Entscheidungszentrum nahesteht. Nur so kann gleichfalls ein Informationsdefizit auf Seiten der Interessenvertretung verhindert werden. Den vertretenen Arbeitnehmern nützt ein zwar belegschaftsnaher BeBAG AP Nr. 7 zu § 3 BetrVG 1952. BAG AP Nr. 2 zu § 4 BetrVG 1972. 32 BAG AP Nr. 5 zu § 4 BetrVG 1972. 33 BAG AP Nr. 3, 4, 5 zu § 4 BetrVG 1972; BAG AP Nr. 8 zu § 4 BetrVG 1972; BAG Beschluß vom 14.05.1997-7 ABR 52/96 nv.; BAG Beschluß vom 26. 06.1996-7 ABR 51195 nv. 34 Vgl. Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 257. 30
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triebsrat, dem jedoch der kompetente Gegenspieler fehlt, wenig. Er wäre zwar in der Lage, die Wünsche und Vorstellungen der Belegschaft zu konzentrieren, könnte diese jedoch nicht gegenüber dem Arbeitgeber durchsetzen. Seine Macht, welche er nach dem BetrVG ausüben soll, bliebe auf ein Minimum reduziert. Für die Gewichtung der Kriterien bedeutet dies: Soviel Entscheidungsnähe wie nötig, soviel Belegschaftsnähe wie möglich. Die Entscheidungsnähe ist Grundvoraussetzung für eine effektive und dem Aufgabenbereich entsprechende Arbeit des Organs. Es ist also zunächst das gewichtigere Kriterium. Wenn diese Gewichtung zu nicht unerheblichen Defiziten für das Kriterium der Belegschaftsnähe führt, so muß dies aus gesetzlicher Sicht hingenommen werden. Ob dem mit tarifvertraglichen Mitteln abgeholfen werden kann, muß an dieser Stelle noch dahinstehen.
§ 2 Grundbegriffe der Organisation Die Grundeinheiten des betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsstatuts sind der Anknüpfungspunkt der instanziellen und sachlichen Zuordnung der gesetzlichen Interessenvertretungen nach dem BetrVG. Dieses geht vom Vorhandensein entsprechender Strukturen beim Arbeitgeber aus, will diese also nicht selbst festlegen. Die Grundbegriffe bestimmen nicht nur, wo die Institutionen anzusiedeln sind, sondern gleichzeitig, von welchem Ort die betriebsverfassungsrechtlichen Rechte gegenüber der Leitung des Betriebs, des Unternehmens und des Konzerns ausgehen. Sie bilden in organisatorischer Hinsicht das Fundament der Betriebsverfassung; so ist es treffend, daß ihrer Bestimmung - insbesondere was den Begriff des Betriebes angeht - auch "fundamentale,,35 Bedeutung beigemessen wird. Das Gesetz ordnet dem Betrieb den Betriebsrat (§ 1 BetrVG), dem Unternehmen den Gesamtbetriebsrat (§ 47 Abs. 1 BetrVG) und dem Konzern den Konzernbetriebsrat (§ 54 Abs. 1 BetrVG) zu. Hinter der Dreistufigkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Repräsentation auf Betriebs-, Unternehmens- und Konzernebene steckt der Gedanke, die Mitbestimmung auf der Ebene des Leitungsorgans stattfinden zu lassen und damit ihre Effektivität36 zu gewährleisten. Unternehmensrechtliche Verschiebungen der Entscheidungsfindung und -prozesse in betriebsverfassungsrechtlichen Fragen auf höhere, vom Betrieb entfernte Stufen sollen durch die Einrichtung von Gesamt- und Konzernbetriebsrat nachgezeichnet werden. Eine Begriffsbestimmung gibt das Gesetz nur für den Konzern, und zwar mittelbar, indem es auf § 18 Abs. 1 AktG verweist. Für die in der Praxis bedeutsameren Begriffe des Unternehmens und insbesondere des Betriebes gibt das Gesetz keine Definition vor, sondern enthält allenfalls Hinweise, wie beispielsweise § 4 BetrVG.
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GK-BetrVG-KraJt. § 4 RdNr. 3. Vgl. dazu oben § I S. 85 ff.
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Wegen der besonderen Zwecksetzung der Betriebsverfassung werden zur Definition der Begriffe Betrieb und Unternehmen auch keine Anleihen aus anderen Rechtsgebieten, wie dem Tarifvertrags- oder dem Kündigungsrecht, genommen. 37 Es wird vielmehr nach eigenständigen, den Besonderheiten des BetrVG Rechnung tragenden Begriffsbestimmungen gesucht, die den Sinn der Betriebsverfassung in den Mittelpunkt rücken. 38 Die erforderliche Bestimmung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundbegriffe soll sich nach den in Rechtsprechung und Wissenschaft bekannten Maßstäben richten und nicht eigene neue Maßstäbe oder Ansätze formulieren. Dabei wird im Grundsatz die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und das ihm folgende Schrifttum den Darstellungen zugrundegelegt. Dadurch solI gewährleistet sein, daß sich die im weiteren Gang der Untersuchung gefundenen Erkenntnisse auf der Grundlage der gerichtlichen Praxis einordnen lassen.
A. Betrieb, Nebenbetrieb und Betriebsteil im BetrVG § 1 BetrVG bestimmt, daß in "Betrieben" Betriebsräte zu wählen sind. § 4 BetrVG ergänzt diese Vorgabe, indem er festlegt, unter weIchen Voraussetzungen in "Betriebsteilen" ein eigener Betriebsrat zu wählen ist, und wann "Nebenbetriebe" dem "Hauptbetrieb" zuzuordnen sind, also einen eigenen Betriebsrat nicht bilden können.
I. Betriebsbegriff
In Anlehnung an die allgemeine arbeitsrechtliche Begriffsbestimmung durch JacobP9 in den 20er Jahren, wird auch heute noch der Betrieb von Rechtsprechung
und Lehre überwiegend definiert als "organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber alIein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe von sächlichen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung des Eigenbedarfs erschöpfen".4o GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 3; Fitting / Kaiser/ Heither/ Engels, BetrVG § I RdNr. 54. Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 232. 39 Jacobi, FS-Ehrenberg, S. 1 (9 ff., 36 ff.); ders., Grundlehren des Arbeitsrechts, S. 286. 40 BAG AP Nr. 1 zu § 88 BetrVG 1952; AP Nr. 9 zu § 3 BetrVG 1952; AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972; AP Nr. 5, 6, 9 zu § I BetrVG 1972; AP Nr. 69 zu § 613a BGB; Richardi, BetrVG § 1 RdNr. 17; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 1 RdNr. 55; Hess/Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 1 RdNr. 2; GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 5; MünchArbRRichardi, § 30 RdNr. 5; Hueck/ Nipperdey, Bd. 11, S. 1111; Nikisch Bd. I, S. 150 f. Vergleichbar mit dieser Definition ist der Betriebsbegriff in Österreich legal definiert worden: "Als Betrieb gilt jede Arbeitsstätte, die eine organisatorische Einheit bildet, innerhalb der eine physi37
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Wesentlich für das Tatbestandsmerkmal der "organisatorischen Einheit" ist die Einheit der technischen Leitung, daß heißt das Vorliegen eines einheitlichen Leitungsapparates,41 der sich auf die Gesamtheit der für die Erreichung des arbeitstechnischen Zweckes eingesetzten Arbeitnehmer und sachlichen Mittel bezieht. 42 Es ist anerkannt, daß sich die Einheitlichkeit nicht notwendigerweise auf die Inhaberschaft im gesellschaftsrechtlichen Sinne und den arbeitstechnischen Zweck bezieht. Beide Merkmale indizieren lediglich auch die Einheit in der Organisation. 43 Für die Inhaberschaft gilt dies, soweit mehrere rechtlich selbständige Unternehmen über einen Betrieb gemeinsame, einheitliche Leitungsmacht ausüben; sog. einheitlicher oder gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen. 44 Hinsichtlich des arbeitstechnischen Zweckes ist es anerkannt, daß von einem einheitlichen Betrieb mehrere arbeitstechnische Zwecke verfolgt werden können. 45 Dies soll verhindern, daß die als Konsequenz industrieller Arbeitsteilung auftretende unterschiedliche Zielsetzung einzelner Arbeitsprozesse "unter einem Dach" zur Atomisierung von Betrieben führt. Es genügt nach allgemeiner Ansicht, wenn mehrere Zwecke innerhalb einer einheitlichen, auf einen arbeitstechnischen Gesamtzweck gerichteten Organisation verfolgt werden. 46 Für die Beantwortung der Frage, ob ein einheitlicher Betrieb oder mehrere getrennte Betriebe anzunehmen sind, wird in erster Linie auf die Leitungsstruktur des Unternehmens abgestellt. 47 Erkennbar wird die Anlehnung an das oben dargestellte gesetzesleitende Motiv der Nähe zur arbeitgeberseitigen Entscheidungsstruktur durch die Bezugnahme auf die Einheit der Entscheidungen in betriebs verfassungsrechtlichen Angelegenheiten. Es spricht für das Vorliegen einer Betriebseinheit, wenn in ihr die für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten maßgeblichen Entscheidungen einheitlich getroffen werden. Das Bundesarbeitsgericht betont dabei, daß es für die Einheitlichkeit ausreiche, wenn die Arbeitgeberfunktion im Bereich der sozialen und personellen Angelegenheiten im Kern von einer sehe oder juristische Person oder eine Personengemeinschaft mit technischen oder immateriellen Mitteln die Erzielung bestimmter Arbeitsergebnisse fortgesetzt verfolgt, ohne Rücksicht darauf, ob Erwerbsabsicht besteht oder nicht." (§ 34 Abs. I des österreichischen Arbeitsverfassungsgesetzes vom 14. 12. 1973). 41 BAG AP Nr. 5, 6, 7,9 zu § 1 BetrVG 1972; AP Nr. 3 und 4 zu § 4 BetrVG 1972. 42 Richardi, BetrVG § 1 RdNr. 26; Dietz, FS-Nikisch, S. 23, (27 f.); Galperin/ Löwisch, BetrVG § 1 RdNr. 7; Stege/Weinspach, BetrVG § 1 RdNr. 6 f. 43 MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 7; GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 14 f. 44 Dazu sogleich unten 11. S. 98 ff. 45 BAG AP Nr. 4 zu § 23 KSchG 1969; AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972; AP Nr. 7, 9 zu § 1 BetrVG 1972; Dietz, FS-Nikisch, S. 23 (28); Richardi, BetrVG § 1 RdNr. 23; Stege/Weinspach, BetrVG § 1 RdNr. 5; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § I RdNr. 61 f.; GKBetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 15; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 7. 46 Statt aller: GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 15. Die vom RAG noch vertretene Auffassung, die verschiedenen Zwecke müßten sich "einander berühren" (ARS 27, 87, [91]), wurde vom BAG nicht übernommen (vgl. AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972). 47 MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 9.
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Leitung wahrgenommen werde. Auf die Entscheidungen im wirtschaftlichen Bereich komme es dabei weniger an. Dies zeige das BetrVG selbst, wenn es in den §§ 111 ff. BetrVG als Ansprechpartner des Betriebsrats den Unternehmer und nicht die betriebliche Leitung benenne. 48 Die Definition des Betriebsbegriffes erfolgt damit erkennbar zweckorientiert in Richtung der Beteiligungsrechte: Der Betrieb wird als Einheit definiert, innerhalb derer der Arbeitgeber seine Entscheidungen in betriebsverfassungsrechtlichen - mit Schwerpunkt auf die personellen und sozialen Angelegenheiten - Fragen trifft. Dies gewährleistet, daß dem Betriebsrat ein entsprechendes Organ mit spiegelbildlichen Befugnissen gegenübersteht. Der Betrieb wird damit zum "betriebsverfassungsrechtlichen Raum" eines Unternehmens. Hinter diesem organisatorischen Merkmal tritt dasjenige der räumlichen Einheit und Nähe in der gesetzlichen Wertung zurück. 49 Hierfür sprechen die gesetzlichen Zuordnungskriterien des § 4 Abs. I BetrVG. 5o Danach ist die räumliche Einheit keine zwingende Voraussetzung für einen Betrieb. § 4 Abs. I BetrVG geht vielmehr davon aus, daß auch ein Betriebsteil in gewisser - wenn auch nicht weiter Entfernung liegen kann, ohne daß dies zur Betriebsratsfähigkeit dieser Arbeitsstätte führen würde. Selbst der räumlich weit entfernte Betriebsteil bildet zwar einen eigenen Betriebsrat, bleibt gleichwohl (nur) Teil des Betriebes; er gilt lediglich als selbständiger Betrieb. 51 Die räumliche Nähe mehrerer Arbeitsstätten ist deshalb nur Anhaltspunkt und nicht Kriterium für die Annahme eines einheitlichen Betriebes. 52 Soweit dies zu einem Defizit im Hinblick auf das belegschaftsbezogene MoBAG AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972. BAG AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 8; GK-BetrVGKraft, § 4 RdNr. 17. Deutlich wird dies insbesondere in den Entscheidungen zu § 4 S. 1 Nr. 1 BetrVG. Auch bei der Frage, ob eine "weite Entfernung" im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, also in einem Betriebsteil ein eigener Betriebsrat zu wählen ist, wird offenbar darauf abgestellt, wo vorwiegend die Entscheidungen im mitbestimmungsrechtlichen Raum getroffen werden. So wird eine größere Entfernung in Kauf genommen, wenn im Betriebsteil entsprechende Gesprächspartner mit Entscheidungskompetenz nicht oder nur wenig vorhanden sind. Nach BAG (AuR 1978, 254 [256]) kann eine Entfernung von 45 km dann unschädlich sein, wenn sich Verwaltung, technische sowie soziale Betreuung und die Personalabteilung beim Hauptbetrieb befinden. Damit wird deutlich, daß auch hier die Entscheidungsnähe die Belegschaftsnähe dominiert. Vgl. ferner BAG AP Nr. 2 und 4 zu § 4 BetrVG 1972 und die Aufstellungen bei GK-BetrVG-Kraji, § 4 RdNr. 61 f. und Däublerl Kittnerl Klebe-Trümner BetrVG § 4 RdNr. 36 f. 50 Trümner will als Leitbild in § 4 BetrVG eine "dezentrale Betriebsratsstruktur" erkennen, verkennt dabei jedoch, daß die Nr. 1 und 2 der Vorschrift gerade - auch in der Realität die Ausnahmen bilden, wenn für die Betriebsratsfähigkeit eine weite Entfernung oder eine Eigenständigkeit in Aufgabenbereich und Organisation gefordert wird. Dies gilt auch unabhängig davon, daß die Formulierung "gelten nur dann als selbständige Betriebe [Hervorhebung durch Verf.]" aus der Vorläuferbestimmung § 3 BetrVG 1952 nicht übernommen wurde, denn die Voraussetzungen selbst haben sich nicht geändert (vgl. Däubler I Kittner I KlebeTrümner, BetrVG § 4 RdNr. 4.). 51 Satz 1 des § 4 BetrVG enthält nur eine Fiktion, die den vorausgesetzten allgemeinen arbeitsrechtlichen Begriff des Betriebes im Hinblick auf Nebenbetriebe und Betriebsteile modifiziert (vgl. Fitting/Kaiser/ Heither/ Engels, BetrVG § 4 RdNr. 2). 48
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ment führt, muß dies aus Sicht des Gesetzes hingenommen werden. Den offenkundigen Vorteilen einer wirksamen Beeinflußbarkeit von Mitbestimmungsmaterien am Ort des zuständigen Leitungsgremiums stehen zwar die Nachteile des Kontaktverlustes und der Entfremdung zu den vertretenen Arbeitnehmern gegenüber. Die Eingliedrigkeit der betriebsverfassungsgesetzlichen Interessenvertretungsstruktur auf der Ebene des Betriebes (Ein Betrieb - ein Betriebsrat) nimmt dies jedoch in Kauf. Das Gesetz hat auf dieser Ebene darauf verzichtet, in vertikaler oder horizontaler Hinsicht die Zuständigkeiten auf weitere Gremien zu verteilen. Dies hat offenbar den Grund, daß weitere Probleme bei der Zuständigkeitsabgrenzung der Organe vermieden werden sollen, die bereits mit der im Gesetz vorgenommen Unterteilung im Hinblick auf die Kompetenzen von Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat (§ 50 BetrVG) und Konzernbetriebsrat (§ 58 BetrVG) relevant werden können. Dennoch ist versucht worden, bei der Begriffsbestimmung in weit stärkerem Maße auf das belegschaftsbezogene Moment der räumlichen Nähe abzustellen, als dies die Rechtsprechung und das überwiegende Schrifttum tun. So ist für GamilLschei 3 die räumliche Nähe oder Entfernung das wichtigste Kriterium: Arbeitsstätten in räumlicher Verbindung miteinander bildeten grundsätzlich einen Betrieb. Auf die Leitungsmacht komme es nicht an. 54 Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, daß gerade in räumlich verbundenen Arbeitsstätten eine gleiche oder wenigstens gleichartige verbundene Interessenlage bestehe, welche die Einheitlichkeit ausmache. Jedoch kann von der örtlichen Verbundenheit keineswegs zwingend auf eine Verbundenheit der Interessen geschlossen werden. Selbst innerhalb einer Arbeitsstätte können wegen der möglicherweise verschiedenartigen arbeitstechnischen Zwecksetzungen sehr unterschiedliche Interessenlagen bestehen. Auch wenn man bei der räumlichen Verbundenheit der Arbeitnehmer eher gleichartige Ziele vermuten kann, als wenn die räumliche Nähe fehlt, so verkennt dieser Ansatz, daß es bei der Betriebsverfassung vor allem darauf ankommt, Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen und es nicht damit getan ist, sie zusammenzufassen. Letztlich bleibt es, ganz gleich bei welchem Kriterium - Entscheidungsnähe oder Belegschaftsnähe - man nun für die Begriffsbestimmung den Schwerpunkt setzt, dabei, daß man den Gewinn beim einen Prinzip oftmals mit einem Verlust beim anderen Prinzip bezahlt. Einen allen Kriterien in gleicher Weise gerecht werdenden einheitlichen Betriebsbegriff kann es mithin nicht geben. Dies ergibt sich bereits daraus, sieht man einmal vom Idealbetrieb ab, daß die Kriterien in einem So auch MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 8. Gamillscheg, ZfA 1973,357 (357 ff.), ihm im wesentlichen folgend Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 232 ff., 241 ff., 265; differenzierend Kothe, Betrieb und Unternehmen unter dem Leitbild des Organisationsvertrages, S. 393 ff.; ders., RdA 1992,302 (310) der in erster Linie auf die ..soziale Einheit der Beschäftigung" abstellt. Vgl. auch Däubler I Kittner I Klebe-Trümner. BetrVG § 1 RdNr. 46 f., der ,,in Zweifelsfällen ( ... ) den belegschaftsbezogenen Momenten (den) Vorrang" geben will (RdNr. 48). In diese Richtung geht auch der Entwurf zu § 1 BetrVG des DGB-Bundesvorstandes vom 3. Februar 1998. 54 Gamillscheg, ZfA 1973,357 (399). S2
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kontradiktorischen Spannungsverhältnis stehen. Zudem ist jeder einheitlichen Begriffsbestimmung immanent, daß sie auf die in der Unternehmenswirklichkeit auftretenden verschiedenartigen Entscheidungs- und Produktionsprozesse sowie deren betriebswirtschaftlich unterschiedlich motivierte Ausformung der Organisationsstrukturen nur eingeschränkt reagieren kann. 55 Jede Definition leidet unter dem versuchten Spagat zwischen Einheitlichkeit und Einzelfallgerechtigkeit.
11. Einheitlicher Betrieb mehrerer Unternehmen
Es entspricht gefestigter Rechtsprechung,56 daß mehrere rechtlich selbständige Unternehmen einen gemeinsamen Betrieb im betriebsverfassungsrechtlichen Sinn haben können. Vom Schrifttum wird dies im Grundsatz nicht in Frage gestellt. 57 Überdies hat der von mehreren Unternehmen gemeinsam geführte Betrieb durch § 322 UmwG seine gesetzliche Anerkennung gefunden. Danach besteht im Falle einer Unternehmensspaltung oder -teilübertragung im Sinne des UmwG die widerlegliche rechtliche Vermutung, daß die Betriebsorganisation von der Veränderung auf der Unternehmensebene nicht berührt ist und der betroffene Betrieb einheitlich fortbesteht, er also von den aus der Spaltung hervorgegangenen Rechtsträgem gemeinsam geführt wird. Teilweise wird die Vermutungsregel des § 322 UmwG auch auf diejenigen Fälle angewandt, in denen nicht eine Spaltung oder Teilübertragung nach dem UmwG - also im Wege der Universalsukzession - vorliegt, sondern etwa nur ein rechtsgeschäftlicher Betriebsinhaberwechsel im Sinne des § 613a BGB. 58 Zur Feststellung der gemeinsamen Führung des Betriebes stellt das Bundesarbeitsgericht auf das bekannte Kriterium des einheitlichen Leitungsapparates ab. 59 Wird durch zwei oder mehrere Unternehmen ein Betrieb derart geführt, daß sich die Leitung gegenüber dem Betriebsrat in den betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten - vorwiegend im personellen und sozialen Bereich - im wesentlichen als einheitliche Leitung darstellt, so steht die mehrfache Inhaberschaft der Einheitlichkeit des Betriebes nicht entgegen. Die mehrfache Inhaberschaft im zivilrechtlichen Sinne ist also im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne "einfach".
SS Siehe dazu neuerdings Heither; JbArbR Bd. 36 (1998), S. 37 (37 ff.); Kreßel, JbArbR Bd. 36 (1998), S. 49 (49 ff.). 56 BAG AP Nr. 10 zu § 3 BetrVG 1952; AP Nr. 1 zu § 47 BetrVG 1972; AP Nr. 3 zu § 5 BetrVG 1972 Rotes Kreuz; AP Nr. 65 zu § 99 BetrVG 1972; AP Nr. 4 und 9 zu § 23 KSchG 1969; AP Nr. 9 zu § 1 BetrVG 1972; AP Nr. 8 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb. S7 GK-BetrVG-Kraft, § 4 RdNr. 23 ff.; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 1 RdNr. 75 ff.; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner; BetrVG § 1 RdNr. 73; Stege/Weinspach, BetrVG § 1 RdNr. 5a; Richardi, BetrVG § 1 RdNr. 60; Kothe, RdA 1992, 302 (302 ff.); Konzen, SAE 1988, 94 (94 f.); Wendeling-Schröder; NZA 1984,247 (247 f.). S8 SO ausdrücklich Däublerl Kittnerl Klebe-Trümner; BetrVG § 1 RdNr. 89q. S9 Vgl. Fn. 41.
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Die einheitliche Leitung und Organisation des Betriebes setzt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts allerdings eine Vereinbarung als rechtliche Verbindung voraus. Diese rechtliche Verbindung muß sich wiederum auf die Arbeitgeberfunktion im personellen und sozialen Bereich beziehen. Damit grenzt die Rechtsprechung des BAG jene Konstellationen aus, in denen die Verbindung der Rechtsträger nur auf unternehmerischer Zusammenarbeit60 oder wirtschaftlicher Verknüpfung durch (Teil-)Identität der Gesellschafter basiert. 61 Entscheidend ist danach nicht eine wirtschaftliche Verbindung auf unternehmerischer Ebene, sondern die Verbindung im betriebsverfassungsrechtlichen Raum. Auch eine enge gesellschaftsrechtliche Verknüpfung ist für einen einheitlichen Betrieb nur ein Indiz. Die vertragliche Vereinbarung braucht nicht ausdrücklich abgeschlossen zu werden. Sie kann sich vielmehr auch aus den tatsächlichen Umständen ergeben. 62 Werden die Arbeitgeberfunktionen im mitbestimmungsrechtlichen Raum im wesentlichen einheitlich ausgeübt, so führt dies regelmäßig zu dem Schluß, daß eine konkludente Führungsvereinbarung vorliegt. 63 Teile des Schrifttums kritisieren das von der Rechtsprechung aufgestellte Erfordernis einer Vereinbarung im Hinblick auf die Ausübung der mitbestimmungsrelevanten Maßnahmen. 64 Die Suche nach einer solchen stillschweigend getroffenen Vereinbarung sei eine Suche nach Fiktionen. 65 So wird vorgeschlagen, auf dieses Kriterium gänzlich zu verzichten und nur auf die tatsächlichen Umstände abzustellen. 66 In der Rechtsprechungspraxis sind keine Gestaltungen nachweisbar, in denen eine ausdrücklich geschlossene Führungsvereinbarung vorlag. Damit aber gehen die Auffassungen in der Sache nur unerheblich auseinander, denn die Rechtsprechung leitet das Vorliegen einer solchen Vereinbarung aus den gleichen Umständen ab, vollzieht nur lediglich einen weiteren Schritt, indem sie die Umstände rechtlich qualifiziert. Entscheidend ist, daß sich die Leitung in tatsächlicher Hinsicht in den personellen und sozialen AnBAG AP Nr. 9 zu § 23 KSchG 1969. Abweichend hatte das LAG Harnm entschieden: Eine Führungsvereinbarung sei nicht erforderlich, wenn die Unternehmensträger einem Anteilseigner gehören und dieser der alleinige Vertreter ist (NZA 1985, 673 [673 f.]). So auch Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § I RdNr. 80. 62 BAG AP Nr. 9 zu § 23 KSchG 1969. 63 BAG AP Nr. 9 zu § I BetrVG 1972; AP Nr. 3 zu § 5 BetrVG 1972 Rotes Kreuz; AP Nr. 8 zu § I BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb. 64 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § I RdNr. 80; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § I RdNr. 73 ff., 74b; Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 143 ff.; Gamillscheg, ZfA 1975,357 (360 f.); Kothe, RdA 1992,302 (302 ff.); Konzen, SAE 1988,94 (96); Wendeling-Schröder, NZA 1984,247 (249); Wiedemann, FS-Fleck, S. 447 (460 f.). Vgl. auch LAG Berlin, BB 1986,593 (593 f.); LAG Hamm, DB 1990,2531 (2531 f.). Der Rechtsprechung des BAG folgen hingegen GKBetrVG-Kraft, § 4 RdNr. 24 und MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 38. 65 Kothe, RdA 1992,302 (308). 66 Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 260 ff. 60 61
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gelegenheiten im wesentlichen einheitlich vollzieht, dem Betriebsrat also ein funktionsfähiger Gesprächspartner gegenübersteht.
III. Nebenbetrieb und Betriebsteil In Nebenbetrieben muß grundsätzlich eine eigene Interessenvertretung gewählt werden. Dies gilt immer dann, wenn die nach § I BetrVG erforderliche Zahl von fünf Arbeitnehmern aufweist (§ 4 S. 2 BetrVG). Die in § 4 BetrVG enthaltene Regelung zum Nebenbetrieb geht folglich von einem im Grundsatz betriebsratsfähigen Nebenbetrieb aus, der sich insoweit nicht vom selbständigen Betrieb unterscheidet. 67 Anders ist es hingegen beim Betriebsteil. Hier wird bereits mit dem Aufbau des § 4 BetrVG deutlich, daß der Betriebsteil im Grundsatz betriebsratsunfähig ist und die Möglichkeit, in einem Betriebsteil einen eigenen Betriebsrat zu wählen, die Ausnahme bleiben soll:68 Während Satz I für den Betriebsteil die Voraussetzungen nennt, unter denen er betriebsratsfähig ist, formuliert Satz 2 für den Nebenbetrieb die Voraussetzungen, unter denen dieser betriebsratsunfähig ist. § 4 BetrVG geht damit offensichtlich von einem Regel-Ausnahme Verhältnis aus, wobei Regel und Ausnahme jeweils unterschiedlich zugeordnet sind. 69 Für den Betriebsteil findet dies seine Bestätigung mit der gesetzgeberischen Formulierung "gelten als": Der Betriebsteil wird auch mit Vorliegen der Voraussetzungen des Satz 1 nur wie ein Betrieb behandelt, ohne tatsächlich einer zu sein. Es handelt sich um eine gesetzliche Fiktion. 7o Diese aber ist, jedenfalls aus der gesetzgeberischen Wertung heraus, ein Sonderfall. Ob freilich dieses Regel-Ausnahme Prinzip - besonders im Hinblick auf den Betriebsteil - in der Praxis aufrechterhalten wird, ist eine andere Frage. 71 Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung ist § 4 BetrVG im Hinblick auf die Öffnungsklausel des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG. Er ermöglicht eine Durchbrechung der Zuordnungskriterien des § 4 BetrVG durch Tarifvertrag und folglich auch eine abweichende Gewichtung der gesetzesleitenden Motive. Geht man dabei zunächst vom Wortlaut des § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG aus, so bezieht sich diese Möglichkeit aber eben nur auf die von § 4 BetrVG behandelten 67 Vgl. BAG AP Nr. 4 und 7 zu § 3 BetrVG 1952; AP Nr. 2 und 4 zu § 4 BetrVG 1972; AP Nr. 1 zu § 7 BetrVG 1972 = E 69, 286 (298); GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 50; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 23; Fitting/Kaiser/Heirher/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 16; Däubler / Kittner / Klebe- Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 54; Hess / Schlochauer / Glaubitz-Hess, BetrVG § 4 RdNr. 12 jew. mwN. 68 Vgl. Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 19. 69 Für den Nebenbetrieb heißt es in der Begründung des § 4 BetrVG dann auch: "Da ein Nebenbetrieb grundsätzlich ein selbständiger Betrieb ist... " BT-Drucks.VI/1786 S. 36. 70 Fitting/Kaiser/Heirher/Enqels, BetrVG § 4 RdNr. 2. 71 Vgl. dazu bereits jetzt Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 263 ff., 272 ff. Dazu unten ausführlich § 3 A. S.121 ff.
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Betriebsteile und Nebenbetriebe und nicht auf Betriebe selbst. Damit geht die Frage der Regelungskompetenz der Tarifpartner im Hinblick auf eine vom Gesetz divergierende Bestimmung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheiten mit der Bestimmung dieser Begriffe einher. Dabei ist es vorliegend weniger relevant, unter welchen Umständen das Gesetz selbst, also § 4 S. I BetrVG, Betriebsteilen die Fähigkeit zuspricht, Betriebsräte zu bilden. Denn von den im Gesetz verwendeten Kriterien - weite Entfernung und Eigenständigkeit - können die Tarifpartner ja gerade abweichen. So hätte ein Tarifvertrag, der die "Zuordnung" eines nah gelegenen und nicht eigenständigen Betriebsteils zum Hauptbetrieb zum Inhalt hat, zwar deklaratorisch-klarstellende Funktion; die Frage einer unzulässigen Ausdehnung des Regelungsbereiches würde sich aber kaum stellen lassen, da es sich nicht einmal um eine vom Gesetz abweichende Zuordnung handeln würde. Aus der Sicht des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ist es infolgedessen von größerer Bedeutung, wann der Bereich eines Betriebes als Betriebsteil zu qualifizieren ist und wann ein Unternehmensbereich bereits so viel Autonomie besitzt, daß er nicht mehr nur Teil eines Betriebes, sondern - unabhängig von der gesetzlichen Fiktion des § 4 S. 1 BetrVG - bereits selbständiger Betrieb ist. Es geht insofern nicht nur darum festzustellen, wo die Grenze zwischen eigenständigem Betriebsteil und selbständigem Betrieb verläuft. In gleichem Maße ist von Interesse, ab welchem Grad der Autonomie überhaupt begrifflich vom "Teil eines Betriebes" gesprochen werden kann, also der betreffende Bereich eines Betriebes so abgrenzbar ist, daß er nicht in dem Betrieb "aufgeht", dessen Teil er ist. 72 Ebenso ist darzulegen, wo die Grenze zwischen Nebenbetrieb und selbständigem Betrieb verlaufen soll. Angesichts der gesetzlichen Zuordnungskriterien für den Betriebsteil des § 4 S. 1 BetrVG kann es nicht verwundern, daß der Schwerpunkt der wissenschaftlichen und judikativen Auseinandersetzung auf der Bestimmung dieser Kriterien - weite Entfernung und Eigenständigkeit in Aufgabenbereich und Organisation - und nicht derjenigen des Betriebsteils liegt. 73 Denn für Betriebsbereiche, die nicht bereits 72 Erfüllt der Bereich eines Betriebes nicht die Voraussetzungen eines unselbständigen Betriebsteils, so wird diese Organisationsstufe hier als "unselbständiger Betriebsbereich" bezeichnet. 73 Dabei ergibt sich durch die Bezugnahme auf die Kriterien der Nr. I und 2 des § 4 S. I BetrVG bereits eine unterschiedliche Bestimmung des Betriebsteilbegriffs selbst, je nachdem, ob es sich um einen "eigenständigen" oder "weit entfernten" Betriebsteil handelt. Dies erweckt den Eindruck, es gebe keinen Betriebsteil an sich, sondern nur einen Betriebsteil nach Nr. I und / oder 2. Deutlich wird dies anhand der Rechtsprechung des BAG hinsichtlich der Beschaffenheit des Leitungsapparates. Danach hat ein Betriebsteil iSd Nr. I keinen ausgeprägten Leitungsapparat, es genügt die "schlichte" Vorgesetztenfunktion (vgl. BAGE 68, 67 [72 f.]; BAG Beschluß vom 9.12.1992-7 ABR 15/92 [Deutscher Herold] nv.). Hingegen werden beim Betriebsteil iSd Nr. 2 auf Seiten des Arbeitgebers die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse im mitbestimmungsrechtlichen Raum innerhalb des Betriebsteils getroffen (vgl. BAGE 69, 286 [300 f.]). Es wird offenbar zwischen solchen Betriebsteilen, bei denen eine Zuordnung nach räumlichen Gesichtspunkten erfolgt (Nr. 1) und solchen, bei denen eine Zuordnung in organisatorischer Hinsicht erfolgt (Nr. 2) von vornherein begrifflich
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aufgrund - wenn auch geringer - räumlicher Entfernung oder Eigenständigkeit eine gewisse Autonomie aufweisen, stellt sich gar nicht die Frage, ob sie die Quali.tät eines Betriebsteils erreichen. Solche Betriebsbereiche sind aus gesetzlicher Sicht irrelevant, da sie in keinem Falle die Betriebsratsfähigkeit im Sinne des § 4 S. 1 Nr. 1 oder 2 BetrVG erlangen können. Bei denjenigen, welche eines der beiden Zuordnungskriterien erfüllen, macht die Qualifikation als Betriebsteil aber kaum Probleme, da die dafür erforderliche Autonomie bereits durch die Entfernung oder Eigenständigkeit gesetzlich indiziert ist. So ist es auszuschließen, daß ein 300 km entfernter ausgelagerter Betriebsbereich nicht nach § 4 S. I Nr. 1 BetrVG betriebsratsfähig sein könne, weil er nicht einmal die Qualität eines Betriebsteils erfülle. Für die Tarifierungsermächtigung des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG ist es dagegen von Bedeutung, worin gerade unabhängig von den gesetzlichen Zuordnungskriterien die Qualifizierung eines Betriebsteils liegt. Wann ist also ein Betriebsbereich gleichzeitig Betriebsteil, ohne weit vom Hauptbetrieb entfernt zu liegen oder eine besondere Eigenständigkeit aufweisen zu können? Wo verläuft die Grenze zwischen unselbständigem Betriebsbereich und (unselbständigem) Betriebsteil ? Das Gesetz freilich geht davon aus, daß es solche Betriebsteile gibt, da § 4 BetrVG ihnen bei Nichterfüllung der Voraussetzungen des § 4 S. I BetrVG nur die gesetzliche Fiktion als selbständiger Betrieb verwehrt, nicht aber die Bezeichnung als Betriebsteil; 14 auch machte ansonsten die Bezugnahme in § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG auf §4 S. I BetrVG keinen Sinn.
1. Begriff des Betriebsteils Wie bereits angesprochen, erfolgt die Bestimmung des Betriebsteilbegriffes im gängigen Schrifttum und in der Rechtsprechung überwiegend im Zusammenhang mit den gesetzlichen Zuordnungskriterien des § 4 S. I BetrVG. 15 Wenn indes unterschieden (vgl. Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 29 f.; FiUinglKaiserlHeitherl Engels. BetrVG § 4 RdNr. 5 ff.). 74 Sog. "unselbständiger Teil eines Betriebes", vgl. nur BAGE 69. 286 (300). 75 Eine Bestimmung des Betriebsteilbegriffs anhand der Definitionen in anderen Rechtsgebieten des Arbeitsrechts ist wie beim Begriff des Betriebes nicht möglich. Die Zwecksetzungen der Bestimmungen sind zu unterschiedlich als das sich die Begriffe ohne weiteres übertragen ließen. Vielmehr hat sich Bestimmung am Zweck der Betriebsverfassung zu orientieren (vgl. FittinglKaiserlHeitherlEngels. BetrVG § I RdNr. 54; GK-BetrVG-Kra/t. § 4 RdNr. 3; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 1 RdNr. 31 ff.; Richardi. BetrVG § 4 RdNr. 14 f.; zu § 613a BGB: BGB-RGRK-Ascheid. § 613a RdNr. 36). Zwar trat § 613a BGB mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 am 19.01.1972 in Kraft. ihm ist jedoch ein zu verschiedener Regelungszweck immanent, als daß die dort verwendeten Begriffe des Betriebes oder Betriebsteils gleich interpretiert werden könnten. Insbesondere verfolgt § 613a BGB einen primär individualrechtlichen Zweck und unterscheidet in der Rechtsfolge nicht zwischen Betrieb und Betriebsteil. Zudem hat § 613a BGB durch die EGRichtlinie 771 187/EWG - ABI. EG Nr. L61 vom 5.03.1977, S. 26 (abgedruckt in RdA
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durch Tarifverträge Änderungen des gesetzlichen Ordnungsgefüges im Hinblick auf § 4 S. 1 BetrVG zugelassen sind, spielen gesetzliche Zuordnungskriterien keine Rolle, soweit von diesen abgewichen werden kann. Die Festsetzung der tariflichen Zuordnungskriterien steht den Tarifpartnern zu; das Gesetz stellt seine eigenen Kriterien zur Disposition. Eine aus diesem Blickwinkel zu treffende Definition kann sich folglich - wenn überhaupt - nur eingeschränkt an den gesetzlichen Kriterien des § 4 S. 1 Nr. 1 und 2 BetrVG orientieren. Nähert man sich einer Definition des Betriebsteilbegriffes auch aus der Sicht des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, so ergibt sich für diese betriebsverfassungsgesetzliche Grundeinheit zunächst nichts anderes als bei einem direkten Blick auf § 4 S. 1 BetrVG: § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG verweist lediglich auf § 4 BetrVG, so daß wörtlich wie systematisch keine Gründe ersichtlich sind, die es erlauben würden, den Betriebsteilbegriff in § 3 BetrVG abweichend von § 4 BetrVG zu definieren. Gilt es für die Anwendung der §§ 1 und 4 BetrVG, die Grenze zwischen den betriebsratsfähigen Einheiten, selbständiger Betrieb und nach § 4 S. 1 BetrVG selbständiger Betriebsteil, sowie der betriebsratsunfähigen Einheit, dem unselbständigen Betrieb, abzustecken, kommt mit § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine weitere hinzu: Die Grenze zwischen unselbständigem Betriebsbereich und unselbständigem Betriebsteil. a) Untergrenze des Betriebsteils Nach herrschendem - und insbesondere von der Rechtsprechung geprägtem Verständnis sind Betriebsteile räumlich oder organisatorisch unterscheidbare Betriebsbereiche, die regelmäßig innerhalb des Betriebes eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben, aber in die Gesamtorganisation eingebunden sind und wegen dieser Eingliederung allein nicht bestehen können. 76 In einem Beschluß aus dem Jahre 1995 führt das BAG aus, daß zudem eine "relative Selbständigkeit" bestehen müsse, damit überhaupt von einem Betriebsteil im Sinne des § 4 S. 1 BetrVG gesprochen werden könne. Diese relative Selbständigkeit mache es erforderlich, daß "überhaupt eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung institutionalisiert ist und von dieser das Weisungsrecht des Arbeitgebers ausgeübt wird. ,,77 Die Grenze zwischen (unselbständigem) Betriebsteil und unselbständiger Arbeitsstätte bzw. unselbständigem Betriebsbereich läge damit dort, wo die "relative Selbständigkeit" in eine "relative Unselbständigkeit" umschlägt. Eine Abgrenzung allein 1977, 162) wesentliche Änderungen erfahren, was zu einer an dieser Richtlinie orientierten Auslegung durch den EuGH geführt hat (vgl. MünchKomm-Schaub, BGB § 613a RdNr. 27 ff.). 76 BAG AP Nr. 2 und 3 zu § 4 BetrVG 1972; AP Nr. 1 zu § 7 BetrVG 1972 E 69, 268 (299); BAGE 68, 67 (72); AP Nr. 7 zu § 1 BetrVG 1972 = E 53, 119 (127 f.); FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 4 RdNr. 5; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 28; GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 50. 77 BAG AP Nr. 8 zu § 4 BetrVG 1972 = BB 1996, 113 (113); vgl. auch BAGE 68, 67 (73) AP Nr. 5 zu § 4 BetrVG 1972.
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anhand dieser unbestimmten Kriterien ist jedoch kaum möglich. Dazu sind diese Begriffe zu ungenau; die Grenze ist hier fließend. Hinzu kommt eine recht unbestimmte und verallgemeinernde Verwendung des Begriffs der "relativen Selbständigkeit". Die fehlende Bestimmtheit zeigt sich daran, daß das Merkmal der "relativen Selbständigkeit"78 ansonsten zur Bestimmung der nach § 4 S. I Nr. 2 BetrVG erforderlichen Eigenständigkeit des selbständigen Betriebsteils verwandt wird. 79 Eine einheitliche Bedeutung kann dann der "relativen Selbständigkeit" nicht zukommen. Vielmehr macht die mehrfache Verwendung des Begriffes - sowohl beim unselbständigen als auch beim selbständigen Betriebsteil - nur dann Sinn, wenn ihm ein - freilich auch fließendes - Stufenverhältnis immanent ist. 80 Legt die "relative Selbständigkeit" jedoch eine bestimmte Qualität der Betriebsteilautonomie nicht verläßlich fest, bleibt dieses Kriterium zur Abgrenzung nur beschränkt tauglich. Deutlich wird allerdings, daß hier das alle betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen entscheidend bestimmende Merkmal der unternehmerischen Leitungsstruktur zum Tragen kommen muß. Ein Betriebsteil kann nur dort sein, wo auch Arbeitgeberfunktionen wahrgenommen werden. Verlangt man mit dem Weisungsrecht nur eine schlichte Vorgesetztenfunktion, 81 so handelt es sich nur um eine Arbeitgeberfunktion minderer Tragweite und Qualität. Insbesondere ist einem Weisungsrecht des Vorgesetzten nicht notwendigerweise die Bandbreite der mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten immanent. In organisatorischer Hinsicht reicht es damit für die Annahme eines Betriebsteils aus, wenn in diesem wenigstens eine "mindere Leitungsqualität,,82 vorliegt; dies ohne Rücksicht darauf, ob ansonsten eine weite Entfernung zum Hauptbetrieb gegeben ist. Fordert das BAG vom nach § 4 S. I Nr. I BetrVG räumlich selbständigen Betriebsteil eine - wenn auch schwache - "relative Selbständigkeit" im Sinne einer Oder auch ,,relative Eigenständigkeit". BAGE 14, 82 (89) = AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG 1952; BAG 69, 286 (300) = AP Nr. I zu § 7 BetrVG 1972; FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 4 RdNr. 14; GK-BetrVGKraft, § 4 RdNr. 63; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 43. 80 Daß die ,,relative Selbständigkeit" in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung in der Rechtsprechung vorkommt, also nicht stets eine bestimmte Qualität der Selbständigkeit beschreibt, zeigt sich an folgenden Entscheidungen: Mit BAG BB 1996 aaO. reicht es für die Annahme eines Betriebsteils (gleich ob selbständig oder unselbständig) aus, wenn sich die ,,relative Selbständigkeit" in der Weise verwirklicht, daß eine bestimmte Leitung institutionalisiert ist, weIche das Weisungsrecht des Arbeitgebers ausübt. Erfordernis ist also lediglich eine Arbeitgeberinstitution von minderem Kompetenzumfang. Anders, soweit die ,,relative Selbständigkeit" einen nach § 4 S. I Nr. 2 BetrVG selbständigen Betriebsteil bestimmen sol1. Dann ist mit BAGE 69,286 (301) erforderlich, daß der Betriebsteil hinsichtlich der Organisation in der Weise selbständig ist, "daß in ihm der wesentliche Kern der der betrieblichen Mitbestimmung unterliegenden Arbeitgeberfunktionen" ausgeübt wird. Hier gelangt die Bestimmung der ,,relativen Selbständigkeit" bereits sehr in die Nähe des selbständigen Betriebs. 8\ Vgl. FittinglKaiserlHeitherlEngeLs, BetrVG § 4 RdNr. 5. 82 V gl. Däubler / Kittner / Klebe- Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 32. 78 79
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institutionalisierten Leitung, so müßte in der Konsequenz auch dem nach § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG organisatorisch eigenständigen Betriebsteil eine gewisse räumliche Abgrenzbarkeit abverlangt werden. Dies wird an Aufbau und Sinn des § 4 S. 1 BetrVG deutlich: Die Selbständigkeit eines Betriebsteils mißt sich an den Kriterien der räumlichen (Nr. I) oder organisatorischen (Nr. 2) Autonomie der zu beurteilenden Arbeitsstätte. Liegt eine der beiden Voraussetzungen vor, ist die Arbeitsstätte nicht nur selbständig, sondern es handelt sich um den Teil eines Betriebes und nicht nur um einen unselbständigen Betriebsbereich. Denn liegt eine Arbeitsstätte in räumlich weiter Entfernung, so ist davon auszugehen, daß dort zumindest Arbeitgeberfunktionen minderer Qualität wahrgenommen werden, mithin in organisatorischer Hinsicht eine gewisse Selbständigkeit festzustellen ist. Umgekehrt wird der organisatorisch eigenständige Betriebsteil jedenfalls in der Weise räumlich abgrenzbar sein, daß eine Fluktuation der Arbeitnehmerschaft mit den übrigen betriebsratsfähigen Einheiten nicht über das normale Maß hinausgeht, also feststellbar ist, wer zur Belegschaft dieser Arbeitsstätte gehört und wer nicht. Das Gesetz geht folglich davon aus, daß der Betriebsteil durch organisatorische und räumliche Unterscheidbarkeit geprägt ist. Dies jedenfalls insoweit, als jede organisatorische Abgrenzung auch gewisse räumliche Elemente hat. Durch die jeweilige Alternative (Nr. I und Nr. 2) wird die untere Stufe der anderen Alternative mitverwirklicht. Auf diese Weise ist dem Betriebsteil an sich, selbst ohne daß er die weitergehenden Voraussetzungen der weiten räumlichen Entfernung oder organisatorischen Eigenständigkeit erfüllt und so zum selbständigen Betriebsteil wird, eine gewisse organisatorische und räumliche Unterscheidbarkeit immanent. Die jeweils untere Stufe der räumlichen und organisatorischen Autonomie ist damit das Kriterium, welches den unselbständigen Betriebsteil vom unselbständigen Betriebsbereich abgrenzt. Im Unterschied zu § 4 S. 1 BetrVG müssen diese Voraussetzungen jedoch kumulativ vorliegen. 83 Der unselbständige Betriebsteil weist damit die Merkmale kumulativ auf, die von den Voraussetzungen des § 4 S. 1 BetrVG hinsichtlich des jeweils anderen Kriteriums quasi automatisch mitverwirklicht werden: Die organisatorische Abgrenzbarkeit hat sich an einem Mindestmaß an arbeitgeberseitigen Leitungsfunktionen zu messen, und die räumliche Abgrenzbarkeit muß jedenfalls soweit gehen, daß eine einheitliche Belegschaft vorhanden ist, auf die sich diese Arbeitgeberfunktion bezieht. b) Obergrenze des Betriebsteils Die obere Grenze des Betriebsteils - also der Bereich, ab dem ein Betriebsteil unabhängig von den Zuordnungskriterien des § 4 S. 1 BetrVG zum selbständigen Betrieb wird -, ist nicht einfacher zu bestimmen. Auch insoweit orientiert sich die 83 So wohl auch Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 5; anders scheinbar Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 28.
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Diskussion in Rechtsprechung und Wissenschaft hauptsächlich an den Zuordnungskriterien und nicht an dem Begriff selbst. 84 Dies ist verständlich: Die Ermittlung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit richtet sich, bei der gesetzlichen Bestimmungsform, soweit es um Betriebsteile geht, nur nach den Zuordnungskriterien des § 4 S. I Nr. I und 2 BetrVG. Es kommt (nur) darauf an, ob der Betriebsteil entweder eine räumlich weite Entfernung vom Hauptbetrieb oder Eigenständigkeit in Aufgabenbereich und Organisation aufweist. Liegt für eine Arbeitsstätte eine dieser bei den Voraussetzungen vor, handelt es sich um eine betriebsratsfähige Einheit. Aus Sicht der gesetzlichen Zuordnung ist es demnach von vorrangigem Interesse, ab welcher Autonomiestufe ein Betriebsteil die gesetzliche Fiktion erreicht, ein Betrieb zu sein, nicht jedoch, ab welcher Autonomiestufe der eigenständige Betriebsteil zum selbständigen Betrieb wird. Gilt für ihn die Fiktion des § 4 S. I BetrVG, weil er beispielsweise in "Aufgabenbereich und Organisation eigenständig" ist, kann es nur noch von akademischer Bedeutung sein, ob diese Eigenständigkeit so weit geht, daß die Arbeitsstätte ohne die Fiktion bereits betriebsratsfähig ist, es sich also bereits um einen selbständigen Betrieb handelt. 85 Denn ob eine Arbeitsstätte nach § 4 S. I Nr. I bzw. Nr. 2 BetrVG oder nach § I BetrVG betriebsratsfähig ist, kann letztlich dahinstehen. 86 Ganz anders aus dem Blickwinkel der tariflichen Gestaltungsmöglichkeiten des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG: Geht man vom Wortlaut aus, hören diese dort auf, wo der selbständige Betrieb anfängt. Unzweifelhaft ist, daß mit § 4 S. I BetrVG Arbeitsstätten denkbar sind, die trotz räumlicher Entfernung und Eigenständigkeit noch den Charakter eines Betriebs84 Vgl. aus der gängigen Kommentarliteratur nur Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 5 ff.; Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 13 ff.; GK-BetrVG-Kraft, § 4 RdNr. 50, 57 ff. jeweils mit zahlreichen Hinweisen zur Rechtsprechung hinsichtlich der Zuordnungskriterien des § 4 S. I BetrVG. 85 Die Abgrenzung des selbständigen Betriebsteils vom selbständigen Betrieb ist, abgesehen von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, nur dann relevant, wenn Arbeitsstätten die von § 1 BetrVG geforderte Beschäftigtenzahl nicht aufweisen. Denn der "selbständige" Kleinbetrieb bleibt ohne Betriebsrat (§ I BetrVG), während der "selbständige" Kleinbetriebsteil einer betriebsratsfähigen Einheit, dem Hauptbetrieb, zugeordnet wird (§ 4 S. I BetrVG). Das BAG hat die Möglichkeit einer solchen Abgrenzung aber ausdrücklich verneint (E 50, 251 [257]) und die nicht betriebsratsfähigen Kleinbetriebe einem Betrieb, der die erforderliche Beschäftigtenzahl aufwies, zugeordnet. 86 Daher gibt es Stimmen im Schrifttum, welche die Alternative in Satz 1 Nr. 2 als überflüssig ansehen, da bei Eigenständigkeit in Aufgabenbereich und Organisation es sich nicht mehr um einen Betriebsteil, sondern um einen selbständigen Betrieb handele. Vgl. dazu Brecht, BetrVG § 4 RdNr. 11; Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 4 RdNr. 17; Birk, AuR 1978, 226 (232); kritisch auch Gamillscheg, ZfA 1975, 357 (399) und Däubler I Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 46. Andere erkennen in dieser Alternative nur eine gesetzliche Hinweisfunktion dahingehend, daß nicht nur bei räumlich weiter Entfernung, sondern auch bei räumlicher Nähe von Arbeitsstätten eines Unternehmens durch die Beschäftigung in einer abgegrenzten Organisationseinheit ein eigener Betriebsrat zu bilden sein kann (MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 32; ders., BetrVG § 4 RdNr. 29). Siehe dazu auch BAGE 75, 153 (162): Das Gericht ließ es ausdrücklich dahinstehen, ob ein Betrieb im Sinne von § 1 BetrVG oder Betriebsteil nach § 4 S. 1 BetrVG vorlag.
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teils behalten. Dies ergibt sich aus dem Eingangssatz des § 4 S. 1 BetrVG mit der Formulierung "gelten als". Betriebsteile können also räumlich vollkommen autonom sein, einen arbeitstechnischen Zweck verfolgen, der sich von dem des Gesamtbetriebes unterscheidet und zudem betriebsorganisatorische Eigenständigkeit aufweisen. Selbst die Kumulation dieser Merkmale hat mit dem Eingangssatz des § 4 S. 1 BetrVG nur die gesetzliche Fiktion zur Folge. Damit aber tritt das Dilemma offen zutage: Betriebsteile können die Merkmale aufweisen, die ansonsten gerade den bereits nach § 1 BetrVG selbständigen Betrieb charakterisieren. Das räumliche Abgrenzungsmerkmal kennt für den Betriebsteil keine Obergrenze. § 4 S. I Nr. 1 BetrVG läßt sich kein Hinweis entnehmen, daß der weit entfernte Betriebsteil ab einer bestimmten Entfernung so weit entfernt ist, daß er seine Eigenschaft als Betriebsteil verliert und zum nach § 1 BetrVG selbständigen Betrieb wird. Ihm verbleibt auch bei allergrößter Entfernung nur die gesetzliche Fiktion des selbständigen Betriebes. Um dem Begriff der Eigenständigkeit in § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG eine eigene qualitative Bedeutung zukommen zu lassen, die diese von der Selbständigkeit des Betriebes im Sinne von § 1 BetrVG unterscheidet, wird in Rechtsprechung und Wissenschaft überwiegend von (nur) relativer Eigen- bzw. Selbständigkeit gesprochen. 87 Daß diese - im wahrsten Sinne des Wortes - Relativierung wenig hilfreich ist, zeigt sich jedoch bereits an der vielfältigen Verwendung des Begriffes. Denn selbst vom unselbständigen Betriebsteil wird gefordert, daß dieser "relativ selbständig" ist. 88 Hinzu kommt, daß desgleichen selbständige Betriebe innerhalb eines Unternehmens oftmals nicht gänzlich autonom sind, sondern mehr oder weniger von einer zentralen Leitung abhängig sein können, ohne daß ihnen deshalb die Betriebsqualität abgesprochen würde. Kennen also sowohl unselbständiger und selbständiger Betriebsteil als auch der selbständige Betrieb eine relativierte Autonomie, kann aus diesem Kriterium eine verläßliche Grenzziehung zwischen Betriebsteil und Betrieb nicht gewonnen werden. Das gleiche ergibt sich für die arbeitstechnische Zwecksetzung. Der Betriebsteil kann einen vollkommen eigenständigen arbeitstechnischen Zweck verfolgen. Dadurch erfüllt er gerade das Merkmal des eigenständigen Aufgabenbereichs im Sinne des § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG. 89 Man wird mithin den Betriebsteil nicht etwa dadurch vom Betrieb unterscheiden können, daß nur letzterer einen eigenen arbeitstechnischen Zweck verfolge. Für den Nebenbetrieb geht man davon aus, daß auch ein an sich selbständiger Betrieb Hilfsfunktionen für einen anderen Betrieb 87 BAG AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG 1952; AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972 =E 50, 251 (257); Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 14; GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 63; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 43; Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 31. 88 Siehe Fn. 76. 89 Vgl. zum Begriff des arbeitstechnischen Zwecks BAG AP Nr. 6 zu § 3 BetrVG 1952; AP Nr. 1 zu § 23 KSchG 1969; AP Nr. 2 zu § 4 BetrVG 1972; AP Nr. 28 zu § 99 BetrVG 1972.
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erfüllen kann. 90 Daneben darf nicht übersehen werden, daß die Annahme eines selbständigen Betriebes im Sinne von § 1 BetrVG nicht daran scheitern muß, daß dieser und andere Betriebsstätten parallele Zwecke verfolgen. 91 Die Koppelung oder Vermengung des arbeits technischen Aufgabenbereiches allein ist somit kein Merkmal, welches zum Verlust der betrieblichen Autonomie führen muß. Vielmehr ist selbst die unternehmensübergreifende Verbindung von arbeitstechnischen Prozessen in der Praxis bereits so vielfliltig - beispielsweise durch "Just-in-time"-Verträge -, daß die Autonomie längst von nicht unerheblicher Relativität geprägt ist. Vor den Schwierigkeiten, den selbständigen Betriebsteil vom selbständigen Betrieb abzugrenzen, hat nicht nur die Rechtsprechung kapituliert. Dieser Mißstand wird ebenso in der Literatur flächendeckend beklagt. Augenfällig ist daneben, daß das Bundesarbeitsgericht die in der Regel fehlende Relevanz dieser Abgrenzung sich so weit zunutze macht, daß es für den Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG und den nach § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG selbständigen Betriebsteil die identische Formel verwendet. So führt der 7. Senat in einem Beschluß aus dem Jahre 1992 zum Merkmal der eigenständigen Organisation im Sinne der Nr. 2 aus, daß dieses dann erfüllt sei, wenn der wesentliche Kern der der betrieblichen Mitbestimmung unterliegenden Arbeitgeberfunktionen in der Arbeitsstätte - also dem Betriebsteil - auszuüben ist. 92 Damit ist ein zentrales Kriterium der Definition, die das Gericht für den nach § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG selbständigen Betriebsteil verwendet, mit der des Betriebes im Sinne von § 1 BetrVG hinsichtlich der Organisation absolut kongruent. 93 Konsequenterweise findet sich das Eingeständnis der Unmöglichkeit einer Abgrenzung des Betriebsteils vom Betrieb bereits in einer früheren Entscheidung aus dem Jahre 1985: ,,Eine solche Abgrenzung ist allein schon deswegen nicht möglich, weil § 4 S. I Nr. 2 BetrVG davon ausgeht, daß auch Betriebsteile durch Aufgabenbereich und Organisation ,eigenständig', d. h. selbständig sein können. Mag auch damit nur eine relative Selbständigkeit gemeint sein, so läßt sich auch zwischen dieser und einer größeren Selbständigkeit der ,selbständigen' Betriebe keine sichere Unterscheidung treffen. Auch selbständige Betriebe sind von einer zentralen Leitung mehr oder weniger abhängig und damit nur relativ selbständig. Verläßliche Kriterien daftir, wann diese relative Selbständigkeit in eine Selbständigkeit umschlägt, die es rechtfertigt, die organisatorische Einheit nunmehr als selbständigen Betrieb im Sinne von § 1 BetrVG anzusehen, lassen sich nicht finden ...94 90 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 16; Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 7. Dabei wird die Erfüllung einer arbeitstechnische Hilfsfunktion auch ftir den "eigenständigen Aufgabenbereich" im Sinne von § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG als ausreichend erachtet (vgl. Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 31). 91 Vgl. MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 13: So kann in einem Unternehmen derselbe Autotyp in verschiedenen Betrieben produziert werden (dazu auch Däubler I Kittner I KlebeTrümner; BetrVG § 4 RdNr. 42). 92 BAGE 69, 286 (301 und Leitsatz) =AP Nr. 1 zu § 7 BetrVG 1972. 93 Siehe dazu oben I. S. 94 ff. Wie hier Däubler/Kittner/Klebe-Trümner; BetrVG § 4 RdNr.6. 94 BAGE 50, 250 (257) AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972.
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Im arbeitsrechtlichen Schrifttum wird dieses Eingeständnis - soweit ersichtlich - nicht kritisiert, sondern das Dilemma in gleicher Weise konstatiert. Dies gilt insbesondere, soweit es um den Versuch geht, Eigenständigkeit und Selbständigkeit voneinander abzugrenzen. ]oost95 spricht von einem "offensichtlich aussichtslose[m] Unterfangen, das einer rationalen Begründbarkeit nicht zugänglich [sei] und die Einordnung zu einem Spiel des Zufalls werden" lasse. Für Trümner96 ist "die Abgrenzung zum regulären Betrieb i. S. d. § I [ ... ] verschwommen", Löwisch 97 erkennt an, daß hinsichtlich des Grades der Eigenständigkeit "eine normative Aussage" fehle und sich diese "angesichts der Vielgestaltigkeit der sozialen Wirklichkeit nicht geben" lasse. 98 Dieses resignative Eingeständnis wiegt jedoch für die Anwendung der §§ I und 4 S. I BetrVG nicht allzu schwer. Wie bereits angesprochen, wird für die gesetzliche Zuordnung die Abgrenzung des "relativ eigenständigen" Betriebsteils vom "selbständigen" Betrieb im Sinne von § I BetrVG nur in dem seltenen Fall relevant, daß die zu beurteilende Arbeitsstätte nicht die nach § 1 erforderliche Beschäftigtenzahl erreicht. Nur dann hängt die Einbeziehung der Arbeitsstätte in die gesetzliche Betriebsverfassung - wenigstens dem Gesetzeswortlaut nach 99 - von der Einordnung als (noch nur) eigenständiger Betriebsteil oder (bereits) selbständiger Betrieb ab: Der eigenständige Betriebsteil wird dem Hauptbetrieb zugeordnet (§ 4 S. 1 BetrVG), der selbständige Betrieb bleibt ohne betriebsverfassungsgesetzliche Vertretung (§ 1 BetrVG). Daß die Frage aber für § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG relevant sein kann, spielt bisher - soweit ersichtlich - keine Rolle. Als Erkenntnis drängt sich jedoch bereits an dieser Stelle für Betrieb und Betriebsteil auf, daß jedem Versuch, diese betriebsverfassungsgesetzlichen Organisationsbegriffe voneinander abzugrenzen, der Makel der Rechtsunsicherheit loo anhaftet. 2. Begriff des Nebenbetriebes
Nach allgemeinem Verständnis ist der Nebenbetrieb kein Betriebsteil, sondern ein Betrieb, also eine Arbeitsstätte, die sämtliche Begriffsmerkmale eines Betriebes im Sinne des § 1 BetrVG erfüllt. 101 Der Nebenbetrieb verfügt über eine selbJoost. Betrieb und Unternehmen, S. 287. Däubler / Kittner / Klebe- Trümner. BetrVG § 4 RdNr. 40. 97 Löwisch. FS-Kissel. S. 679 (681). 98 V gl. weiter hierzu Gamillscheg. ZfA 1975, 357 (368 ff. und 373 ff.); MünchArbR-Richardi. § 30 RdNr. 28; dus., BetrVG § 4 RdNr. 14. 99 Ein ausdrückliche Abweichung hiervon will das BAG aber im Wege eines "erst-rechtSchlusses" zum Nebenbetrieb dann machen. wenn in den eigentlich selbständigen Betrieben ein identischer arbeitstechnischer Zweck verfolgt wird (E 50, 251 [256] = AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1927). 100 Vgl. dazu BAG aaO. S. 257 (Fn. 99). 101 SI. Rspr. des BAG; vgl. E 69,286 (298); 68. 67 (72); 53, 119 (127 f.) = AP Nr. 7 zu § 1 BetrVG 1972. Aus der Literatur vgl. Fiuing/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 4 RdNr. 16; 9S
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ständige Organisation und einen einheitlichen Leitungsapparat, der die zur Wahrnehmung von Aufgaben in den sozialen und personellen Mitbestimmungsangelegenheiten erforderlichen Entscheidungen im Kern selbständig treffen kann. 102 Er verfolgt daneben eigene Betriebszwecke. 103 Die vollständige Betriebsqualität des Nebenbetriebes folgt letztlich bereits aus der gesetzlichen Vorgabe, daß diese Arbeitsstätten nur dann nicht einen eigenen Betriebsrat wählen können, wenn sie die in § I BetrVG geforderte Zahl von fünf Beschäftigten nicht erreichen. Die Betriebsqualität und damit die Betriebsratsfähigkeit ist die gesetzliche Regel. Anders als die Zuordnungsbestimmungen hinsichtlich des Betriebsteils kennt § 4 S. 2 BetrVG als Bestimmung zum Nebenbetrieb keine Formulierung, die dem Eingangssatz des § 4 S. I BetrVG ("gelten als") entsprechen würde. Die Betriebsratsfähigkeit wird beim Nebenbetrieb mithin nicht erst über die Anordnung einer gesetzlichen Fiktion erreicht. Zufolge vorherrschender, aber auch kritisierter Ansicht lO4 unterscheiden sich Nebenbetriebe vom selbständigen Betrieb nur dadurch, daß sie "in ihrer AufgabensteIlung in der Regel auf Hilfeleistungen für einen Hauptbetrieb ausgerichtet sind und den dort verfolgten (Haupt-) Betriebszweck unterstützen". 105 Die Autonomie des Betriebszweckes und folglich die betriebliche Autonomie selbst ist mit dieser Auffassung dahingehend relativiert, daß der Nebenbetrieb zwar einen eigenen Betriebszweck verfolgt, dabei allerdings eine Verbundenheit mit einer anderen Arbeitsstätte (dem Hauptbetrieb) besteht. Das recht vage Kriterium der arbeitstechnischen Zweckrichtung lO6 wird damit zum entscheidenden Abgrenzungsmerkmal, denn unterscheidbare Betriebsstätten stehen, so das Bundesarbeitsgericht, bei Gleichartigkeit der Zwecke nicht im Verhältnis von Haupt- und Nebenbetrieb. 107 GK-BetrVG-KraJt. § 4 RdNr. 46; Richardi. BetrVG § 4 RdNr. 8; MünchArbR-Richardi. § 30 RdNr. 23; Däub\er I Kittner I Klebe- Trümner. BetrVG § 4 RdNr. 54; Galperin/ Löwisch. BetrVG § 4 RdNr. 5; Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess. BetrVG § 4 RdNr. 12. 102 GK-BetrVG-Kraft. § 4 RdNr. 46; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 4 RdNr. 54, 63. 103 MünchArbR-Richardi. § 30 RdNr. 24; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 4 RdNr.54. 104 Insbesondere Gamillscheg. Anm. zu EzA § 4 BetrVG 1972 Nr. 4 und 5; Joost. Betrieb und Unternehmen, S. 280 ff.; Däubler I Kittner I Klebe-Trümner. BetrVG § 4 RdNr. 57 ff. 105 BAGE 69,286 (298) AP Nr. I zu § 7 BetrVG 1972. In einem nur acht Monate zuvor ergangenem Beschluß hatte es derselbe Senat noch strenger formuliert und gefordert, es müsse sich um eine AufgabensteIlung handeln, die "auf eine reine Hilfeleistung" ausgerichtet ist (E 68, 67 [72] =AP Nr. 5 zu § 4 BetrVG 1972). Die später erfolgte Relativierung ("in der Regel") durch den vorderst genannten Beschluß erfolgte aber ohne einen entsprechenden Hinweis oder eine Begründung. Siehe dazu auch BAG AP Nr. 8 zu § 4 TVG Geltungsbereich =E 6. 140 (142); AP Nr. 2, 4 zu § 4 BetrVG 1972. Aus dem zustimmenden Schrifttum vgl. Fitting/ Kaiser/Heitherl Engels. BetrVG § 4 RdNr. 16 ("in ihrer Hilfestellung meist auf Hilfestellung ... [Hervorh. durch Verf.]"); GK-BetrVG-Kraft. § 4 RdNr. 46; Galperin/Löwisch. BetrVG § 4 RdNr. 5; Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess. BetrVG § 4 RdNr. 5; differenzierend MünchArbR-Richardi. § 30 RdNr. 23, 27; Richardi. BetrVG § 4 RdNr. 7 ff. und 40 ff. 106 Siehe dazu bereits S. 107.
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Daß die Hilfsfunktion des Nebenbetriebes zu einem gewissen Autonomieverlust führen kann, ist - jedenfalls soweit es um die arbeitstechnische Leitung geht selbstverständlich. Die untergeordnete (Neben-)Funktion des Nebenbetriebes bringt eine Abhängigkeit von der dem Hauptbetriebszweck dienenden Arbeitsstätte mit sich. Damit verschwimmen die Konturen zum nach Aufgabenbereich und Organisation selbständigen Betriebsteil. Auch dieser muß mit einer eigenen Leitungsfunktion in den wesentlichen betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten aufwarten können und kann einen eigenen, fachfremden 108 arbeitstechnischen Zweck verfolgen. Eine arbeitstechnische Verbindung zum Hauptbetrieb besteht nach allgemeiner Ansicht aber auch beim Betriebsteil im Sinne von § 4 S. I Nr. 2 BetrVG in der Regel in Form einer "Hilfsfunktion".109 Dieser Wertungs widerspruch wird verstärkt, wenn man anerkennt, daß sogar der Nebenbetrieb "in den meisten Fällen [ ... ] einer technischen Oberleitung durch den Hauptbetrieb" unterliegt,110 denn hierbei handelt es sich gerade auch um ein Merkmal des Betriebsteils. 111 Für die Praxis spielt es freilich keine Rolle, ob ein nach § 4 S. I Nr. 2 BetrVG selbständiger Betriebsteil vorliegt oder ein Nebenbetrieb. 112 Somit ist ein Überschneiden der Abgrenzungsmerkmale nicht erheblich. Sowohl der selbständige Betriebsteil als auch der Nebenbetrieb bilden einen eigenen Betriebsrat und werden nur als Kleinbetrieb oder Kleinbetriebsteil einer anderen Einheit zugeordnet. Man könnte es folglich bei einer Alternativfeststellung bewenden lassen. Ein nicht unerheblicher dogmatischer Widerspruch entsteht aber dennoch: Der Nebenbetrieb ist ein Betrieb im Sinne des § I BetrVG, der selbständige Betriebsteil nur die gesetzliche Fiktion desselben, bleibt demzufolge begrifflich Betriebsteil. Damit verschwimmen erneut die qualitativen Attribute von Betrieb und Betriebsteil. Eine unmittelbare Abgrenzung zwischen Nebenbetrieb und Betrieb macht bereits § 4 S. 2 BetrVG selbst erforderlich. Nur Nebenbetriebe werden auch bei Unterschreiten der nach § I BetrVG erforderlichen Arbeitnehmerzahl durch Zuordnung zum Hauptbetrieb in die gesetzliche Betriebsverfassung einbezogen, während "selbständige" Kleinbetriebe dem Gesetz nach vertretungslos bleiben. ll3 Hinzu kommt - hier von eigentlichem Interesse - § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG. Dieser erlaubt mit dem Wortlaut nur eine anderweitige Zuordnung von Nebenbetrieben, nicht aber von Betrieben. Wie problematisch jedoch die Abgrenzung ist, wird bereits 107 BAGE 50, 251 (251 ff.) = AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972 sowie BAG Beschluß vom 9.12.1992-7 ABR 15/92 [Deutscher Herold] nv. 108 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 15; Richardi, BetrVG § 4 RdNr.31. 109 Fiuing/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 5 und 16; Richardi, BetrVG § 4 RdNr.31. 110 Fitting/ Kaiser/ Heither/ Engels, BetrVG § 4 RdNr. 16. III SO auch Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 281 Fn. 79. 112 KassArbR-Etzel, Bd. H, 7.1 RdNr. 15. ll3 Beachte jedoch die Ausnahme bei BAGE 50, 251 (251 ff.) AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972.
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durch die - soweit ersichtlich - unbestrittene Erkenntnis offenkundig, daß auch der Nebenbetrieb ein "normaler Betrieb,,114 ist oder zumindest - doch letztlich ist dies das gleiche - sich dessen Begriffsmerkmale zu eigen macht. Wenn also der einzige Unterschied in der Hilfsfunktion des Nebenbetriebes liegt, so kommt diesem Merkmal die entscheidende Bedeutung zu. Das Bundesarbeitsgericht geht mit diesem Merkmal zurückhaltend um, soweit es den maximal erlaubten Grad an arbeits technischer Verbindung beschreibt, bei der es sich noch um eine Hilfsfunktion handelt und nicht bereits um eine Zweckverbindung, die qualitativ so weit geht, daß es sich allenfalls um (selbständige) Betriebsteile handelt. In einem Beschluß zur Wahlberechtigung von Zeitungszustellern stellt es ausdrücklich klar, daß es sich nicht (mehr nur) um eine bloße Hilfsfunktion handele, wenn ein arbeitstechnischer Zweck den letzten Teil der betrieblichen Zweckrichtung erfülle, wie dies bei Zeitungs zustellern im Hinblick auf den Gesamtzweck - Herausgabe einer Tageszeitung - der Fall iSt. 115 In einem solchen Fall liege vielmehr, wenn überhaupt, ein Betriebsteil vor, der nur unter den Voraussetzungen des § 4 S. 1 BetrVG betriebsratsfähig sei. 116 Damit ist indes nur gesagt, wann die Zweckverbindung für die erforderliche Autonomie zu eng ist, nicht aber wie lose sie sein darf, wo also das Mindesterfordernis an arbeitstechnischer Zweckverbindung anzusiedeln ist, um von einer Hilfsfunktion sprechen zu können. Gesteht man dem Nebenbetrieb zu, daß dieser in der technischen Oberleitung einer anderen Arbeitsstätte - dem Hauptbetrieb - unterliegen kann, 117 ohne daß dies zum Verlust seiner arbeitstechnischen Autonomie führen muß, so hält man ein Über- / Unterordnungsverhältnis 118 für ein mögliches, nicht jedoch für ein konstitutives Element des Nebenbetriebes. Kann demzufolge die Hilfsfunktion gegenüber dem Hauptbetrieb in durchaus unabhängiger und gleichgeordneter Form erfolgen 119 und unterstützt der Nebenbetrieb nur "in der Regel" 120 den im So Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 54. BAGE 69, 286 (298 f.) =AP Nr. I zu § 7 BetrVG 1972. Vgl. dazu bereits Oetker, AuR 1991,359 (359 ff.); Zeuner, RdA 1975,84 (88). 116 Letztlich hätte das BAG dahinstehen lassen können, ob es sich überhaupt um eine Hilfsfunktion handelt, die noch dem Nebenbetrieb entspricht und nicht über das "Ziel hinaus schießt". Denn im Ergebnis verneint es bei der Prüfung des § 4 S. I Nr. 2 BetrVG die erforderliche Eigenständigkeit in organisatorischer Hinsicht. Ohne diese Eigenständigkeit kann indes schon kein Nebenbetrieb vorliegen. Auch werden Nebenbetrieb und nach § 4 S. I Nr. 2 BetrVG selbständiger Betriebsteil gleich behandelt. Eine Bestimmung der "Obergrenze" der Hilfsfunktion kann deswegen dahinstehen, da alternativ ein selbständiger Betriebsteil (bei qualitativ weitgehender Zweckverbindung, die mehr als bloße Hilfsfunktion ist) oder ein Nebenbetrieb (bei bloßer Hilfsfunktion) vorläge. 117 Fitting/ Kaiser/Heither/ Engels, BetrVG § 4 RdNr. 16. 118 In diese Sinne interpretiert Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 280 f. das Verständnis der hM von der Hilfsfunktion. 119 Etwas anderes würde sich auch kaum mit dem Verständnis des Nebenbetriebes als selbständigen Betrieb im betriebsverfassungsrechtIichen Sinne vertragen. 120 BAGE 69, 286 (298) =AP Nr. I zu § 7 BetrVG 1972. 114 115
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Hauptbetrieb verfolgten Betriebszweck, so bleibt von der arbeitstechnischen Zweckverbindung nicht viel übrig. Anerkennt man zudem, daß auch selbständige Betriebe "mehr oder weniger" von einer zentralen Leitung abhängig sein können,l2l verschwindet die Grenze zwischen der trotz der Hilfsfunktion bestehenden relativen Selbständigkeit des Nebenbetriebes und der auch beim Betrieb im Sinne von § 1 BetrVG durchaus denkbaren eingeschränkten Organisationsfreiheit völlig. Erst recht ist nicht erkennbar, wo der betriebsverfassungsrechtliche Sinn einer solchen Unterscheidung liegt, soweit es sich um Betriebe eines Unternehmens handelt, wie von der weit überwiegenden Meinung für Haupt- und Nebenbetrieb gefordert wird. 122 In diese Richtung weist auch der bereits mehrfach erwähnte Beschluß des Bundesarbeitsgerichts zum selbständigen Kleinbetrieb vom 3. Dezember 1985,123 mit dem es den selbständigen Betrieb, der innerhalb eines Unternehmens dessen arbeitstechnischen Zweck verfolgt, durch einen "erst-recht"- Schluß quasi dem Nebenbetrieb gleichgestellt hat. Quintessenz ist, daß Arbeitsstätten mit identischem arbeitstechnischen Zweck einander näher stehen als solche, bei denen die eine gegenüber der anderen lediglich eine Hilfsfunktion ausübt. Eine Zuordnung ist betriebsverfassungsrechtlich "näherliegend". Damit gelten letztlich für sämtliche selbständigen Betriebe eines Unternehmens, soweit deren arbeitstechnische Zwekke verbunden sind, auch die rechtlichen Folgen, die ansonsten an den Status eines Nebenbetriebes geknüpft sind. Sie sind einander zuzuordnen, soweit sie die quantitative Voraussetzung des § I BetrVG nicht erfüllen. Zwar bezieht sich diese Entscheidung nur auf den Kleinbetrieb, eine definitorische Unterscheidung zum "Großnebenbetrieb" wird man jedoch nicht begründen können, auch wenn letzterer aus Sicht der gesetzlichen Zuordnungsbestimmung (§ 4 S. 2 BetrVG) nicht von Bedeutung ist. Damit erfüllen solche Betriebs- und Arbeitsstätten die Voraussetzungen des Nebenbetriebes, deren arbeitstechnische Verbindung darin besteht, daß sie gegenüber einem anderen Betrieb des Unternehmens eine Hilfs- bzw. Unterstützungsfunktion wahrnehmen. Verfolgen mehrere selbständige Arbeitsstätten eines Unternehmens denselben arbeitstechnischen (Gesamt-)zweck, handelt es sich zwar nicht begriffBAGE 50, 251 (257) =AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. BAG AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: Land und Forstwirtschaft; AP Nr. 1 zu § 47 BetrVG 1972; Fitting/Kaiser/Heilher/Engels, BetrVG § 4 RdNr. 16; GK-BetrVG-Kraft, § 4 RdNr. 49; aA Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 57. Soweit die Voraussetzungen eines Gemeinschaftsbetriebes mehrere Unternehmen vorliegen kann begrifflich kein Haupt- und Nebenbetrieb vorliegen, da nur ein Leitungsapparat vorliegt, Haupt- und Nebenbetrieb als "selbständige Betriebe" jeweils aber einen eigenen Leitungsapparat aufweisen müssen. Insoweit irreführend bei Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 57 aE: In den genannten Beispielen handelt es sich bei bei den Arbeitsstätten betriebsverfassungsrechtlich um einen selbständigen Betrieb eines bzw. mehrerer Unternehmen und nicht um Haupt- und Nebenbetrieb. 123 BAGE 50, 251 (251 ff.) = AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. Kritisch zu dieser Rechtsprechung JOOSl, Betrieb und Unternehmen, S. 296 f. sowie GK-BetrVG-Kraft, § 4 RdNr. 52 f. 121
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lich um Nebenbetriebe, für sie gelten jedoch die gleichen Rechtsfolgen. Entsprechendes muß daneben für selbständige Betriebe gelten, die zwar nicht im Verhältnis zueinander, jedoch im Verhältnis zum Unternehmen eine arbeitstechnische Hilfsfunktion ausüben,124 da in gleicher Weise ein Mindestmaß an arbeitstechnischer Verbindung besteht. Ob darüber hinaus die organisatorische Verknüpfung durch die Zusammenfassung unter einem Unternehmen dem gleichzusetzen ist, soll an dieser Stelle noch offengelassen werden.
B. Unternehmensbegriff im BetrVG Zwar ist der Betriebsbegriff entscheidender Ausgangspunkt der Betriebsverfassung, da er den Rahmen für den Wirkungsbereich des Betriebsrates als zentrales betriebsverfassungsrechtliches Organ sowohl in örtlicher als auch qualitativer Hinsicht (bspw. §§ 99 Abs. 1 S. 1, 111 S. 1 BetrVG) absteckt. Auch dem Unternehmensbegriff kommt jedoch eigenständige betriebsverfassungsrechtliche Bedeutung zu: Soweit in einem Unternehmen mehrere Betriebsräte bestehen, ist auf Rechtsträgerebene ein Gesamtbetriebsrat zu errichten (§ 47 Abs. 1 BetrVG). Zudem beziehen sich Beteiligungsrechte der betriebsverfassungsrechtlichen Organe in wirtschaftlichen Angelegenheiten auf das Unternehmen (§§ 106 ff. sowie 111 ff. BetrVG). Bei der Unternehmensebene handelt es sich somit um die zweite betriebsverfassungsrechtliche Repräsentationsstufe. 125 Nach der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung des § 50 BetrVG ist das dieser Stufe zugeordnete Vertretungsorgan - der Gesamtbetriebsrat - jedoch nicht den Betriebsräten der Einzelbetriebe übergeordnet (§ 50 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Wie auch beim Betrieb kennt das Gesetz keine eigene Legaldefinition des Unternehmensbegriffes, es setzt ihn vielmehr voraus. 126 Im Unterschied zum Betriebsbegriff wurde und wird für die Betriebsverfassung jedoch keine nur oder sehr stark an der Betriebsverfassung selbst orientierte Definition entwickelt. Es gelten vielmehr - neben den sich aus dem Regelungszusammenhang des Gesetzes ergebenden - (auch) die allgemeinen, insbesondere im Gesellschaftsrecht entwickelten Gesichtspunkte. 127 Zumindest im Ergebnis deckt sich der Unternehmensbegriff in der Betriebsverfassung mit den gesellschaftsrechtlichen Strukturen. 128 124 So werden von Teilen des Schrifttums solche selbständige Betriebe wie Nebenbetriebe behandelt. Auch hier beziehen sich die Ausführungen jedoch zunächst nur auf Kleinbetriebe. Im Ergebnis sollen nur solche Kleinbetriebe vertretungslos bleiben, die auch einem entsprechen "Kleinunternehmen" ("Tante-Emma-Laden") angehören. Siehe Dietzl Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 36; Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 42 f. Gamillscheg, ZfA 1975, 357 (367); Birk, AuR 1978, 226 (227); Hetzel, Das Arbeitsverhältnis im Kleinbetrieb, S. 84 f. Kritisch Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 293 f. 125 MünchArbR-Joost, § 305 RdNr. 6. 126 FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 1 RdNr. 143; Däubler/Kittner/KlebeSchneider; BetrVG Ein!. RdNr. lO3; Richardi, BetrVG § 1 RdNr. 51.
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Nach allgemeiner Meinung ist ein Unternehmen die organisatorische Einheit, mit der ein Unternehmer seine wirtschaftlichen oder ideellen Zwecke verfolgt. 129 Der Unterschied zum Betrieb liegt hauptsächlich darin, daß dieser einem arbeitstechnischen Zweck, das Unternehmen dagegen dem dahinter liegenden wirtschaftlich-ideellen Ziel des Arbeitgebers dient. Dabei wird der Schwerpunkt hinsichtlich der Einheitlichkeit - anders als beim Betrieb - nicht organisations-, sondern rechtsträgerbezogen verstanden. 130 Der Unternehmensbereich ist folglich mit dem Geschäfts- und Tätigkeitsbereich des jeweiligen Unternehmensträgers gleichzusetzen, in dem dieser Arbeitnehmer beschäftigt. 131 Wie auch im BetrVG selbst (vgl. §§ 111 ff. BetrVG) sind damit die Begriffe "Arbeitgeber" und "Unternehmer" dekkungsgleich. 132 Demgemäß läßt sich die Frage, ob mehrere Betriebsräte in einem Unternehmen bestehen, danach beantworten, ob die Betriebsratsmitglieder selbst und insbesondere die von ihnen repräsentierten Arbeitnehmer alle den identischen Arbeitgeber haben. 133 Die Einheit des Rechtsträgers ist wesentliches Erfordernis. 134 Dies bedeutet, daß die Betriebe von derselben rechtlich selbständigen Person betrieben werden müssen. 135 Eine Gesellschaft kann - anders als natürliche Personen 136 - mithin nur ein Unternehmen haben. 137 Bei Personengesellschaften (ORG, KG) und bei Kapital127 Die Meinungen gehen hier nur vordergründig auseinander. In der Sache unterscheiden sich die Ansätze kaum. Zwar wird oftmals vertreten, das "Gesetz kenne keinen eigenständigen Unternehmensbegrift" (BAG AP Nr. I zu § 47 BetrVG 1972; so auch Fitting/Kaiser/ . Heither/ Engels, BetrVG § 1 RdNr. 143), jedoch hat man damit eher die Begriffsdefinition als den Begriffsinhalt im Auge. Dazu auch MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 18; GKBetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 9; Däubler I Kittner I Klebe- Trittin, BetrVG § 47 RdNr. 12. 128 GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 14. 129 BAG AP Nr. 5 zu § I BetrVG 1972; AP Nr. 30 zu § 15 KSchG 1969; Fitting/Kaiser/ Heither/Engels, BetrVG § I RdNr. 143; GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 10; MünchArbRRichardi, § 30 RdNr. 20. 130 GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 13. 131 GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 13. 132 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 1 RdNr. 142; vgl. auch § 27 Abs. I Schwerbehindertengesetz: "Ist für mehrere Betriebe eines Arbeitgebers ein Gesamtbetriebsrat ... errichtet ...... 133 GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 13. Insoweit übereinstimmend BAG AP Nr. 7 zu § 47 BetrVG 1972; AP Nr. 3 zu § 10 ArbGG 1979. 134 BAG AP Nr. 1 zu § 47 BetrVG 1972; AP Nr. 7 zu § 106 BetrVG 1972; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 1 RdNr. 144 und § 47 RdNr. 8; GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 11, 16; Richardi, BetrVG § 47 RdNr. 6; Däubler/Kittner/Klebe-Trittin, BetrVG § 47 RdNr. 15. 135 Däubler I Kittner I K1ebe-Trittin, BetrVG § 47 RdNr. 15. 136 Wegen der damit einhergehenden Ungleichbehandlung von natürlichen und juristischen Personen abweichend Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 231; GK-BetrVG-Kreutz, § 47 RdNr. 15. 137 BAG AP Nr. 7 zu § 47 BetrVG 1972; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 47 RdNr. 8; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 21; Däubler I Kittner I Klebe-Trittin, BetrVG § 47 RdNr.17.
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gesellschaften (AG, KGaA, GmbH) sind Gesellschaft und Unternehmen (bzw. Arbeitgeber) folglich identisch. Der rechtlichen Identität des betreibenden Unternehmers ist nicht durch die aus einer wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligung resultierenden Verknüpfungen der Rechtsträger genüge getan, wie dies etwa im Verhältnis einer juristischen Person und ihren Mitgliedern, zwischen einer AG und ihren Aktionären, zwischen einer GmbH und ihren Gesellschaftern der Fall sein kann. 138 Deshalb kann auch bei fremdbestimmter Leitung ein Unternehmen vorliegen, wie umgekehrt die Zusammenfassung unter einheitlicher Leitung allein nicht genügt, um ein Unternehmen anzunehmen. 139 Bei derartigen Verbindungen kann allenfalls die Errichtung eines Konzernbetriebsrats (§ 54 BetrVG) in Betracht kommen. Ein dem Gemeinschaftsbetrieb in gewisser Weise entsprechender Sachverhalt auf Unternehmensebene (sog. Betriebsführungsgesellschaft als einheitlicher Unternehmensträger) wird nur dann angenommen, wenn die derart verbundenen Rechtsträger einheitlich als Arbeitgeber auftreten, also die Betriebsführungsgesellschaft in eigenem Namen die Betriebe führt. 14o Die erforderliche Änderung auf rechtlicher Ebene kann durch einen Übergang sämtlicher Arbeitsverhältnisse auf die Betriebsführungsgesellschaft vollzogen werden; beispielsweise kraft Vereinbarung oder § 613a BGB. 141
c. KonzernbegritT im BetrVG Anders als bei den zuvor behandelten Organisationsbegriffen gibt das BetrVG für den Konzern zwar keine eigene Legaldefinition, es verweist jedoch mit § 54 Abs. 1 S. 1 BetrVG auf den aktienrechtlichen Konzernbegriff des § 18 Abs. 1 AktG. 142 Die dritte betriebsverfassungsrechtliche Repräsentationsstufe - der Konzernbetriebsrat - wird also bereits mit dem Gesetz selbst an die allgemeinen unternehmensrechtlichen Gegebenheiten angebunden. 143 Das Konzernrecht und mit ihm auch § 18 AktG unterscheidet den Unterordnungskonzern (Abs. 1) vom Gleichordnungskonzern (Abs. 2). Letzerer ist betriebsverfassungsrechtlich irrelevant; insbesondere findet bei dieser Konzernforrn nicht die Errichtung eines Konzernbetriebsrats statt. 144
Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 47 RdNr. 9. BAG AP Nr. 1 zu § 47 BetrVG 1972; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 21. 140 Fitting/Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 47 RdNr. 12; Däubler I Kittner I Klebe- Trittin, BetrVG § 47 RdNr. 18. 141 GK-BetrVG-Kreutz. § 47 RdNr. 17. 142 So auch in § 8 Abs. 1 S. 2 BetrVG, § 5 MitbestG. 143 MünchArbR-Joost, § 307 RdNr. 5. 144 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 54 kdNr. 8; GK-BetrVG-Kreutz. § 54 RdNr. 7; Richardi, BetrVG § 54 RdNr. 2; Martens, ZfA 1973,297 (301). 138
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§ 2 Grundbegriffe der Organisation
117
Als Unterordnungskonzern ist gesetzlich die Gestaltung bezeichnet, bei der ein herrschendes und ein oder mehrere zu diesem in einem Abhängigkeitsverhältnis stehenden, rechtlich aber selbständige Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefaßt sind. 145 Der Gleichordnungskonzern besteht zwar auch aus rechtlich selbständigen Unternehmen, die unter einer einheitlichen Leitung zusammengefaßt sind, die Unternehmen sind jedoch nicht voneinander abhängig (§ 18 Abs. 2 AktG). Der entscheidende Gesichtspunkt für die Anerkennung einer Konzernbelegschaft, die betriebsverfassungsrechtlich auf dieser Ebene durch den Konzernbetriebsrat vertreten werden soll, ist daher nicht nur das Bestehen einer einheitlichen Leitung, sondern zusätzlich die Abhängigkeit der beherrschten Unternehmen. 146 Insofern geht die rechtliche und tatsächliche Verknüpfung tatbestandlich weiter als bei der aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht gedanklich vergleichbaren Figur des Gemeinschaftsbetriebes mehrerer Unternehmen; letzere erfordert im wesentlichen nur die einheitliche Leitung. Das im Vordergrund stehende Merkmal der Abhängigkeit kann durch verschiedene Konstellationen erfüllt sein. Um ein abhängiges Unternehmen handelt es sich nach der Legaldefinition des § 17 Abs. I AktG dann, wenn ein rechtlich selbständiges Unternehmen von einem anderen Unternehmen unmittelbar oder mittelbar beherrschbar ist. Die Möglichkeit der Einwirkung muß jedoch gesellschaftsrechtlich vermittelt sein. Eine nur wirtschaftliche Verknüpfung durch vertragliche Austauschbeziehungen genügt dafür nicht. 147 Insoweit helfen die Vermutungsregeln der §§ 17 und 18 Abs. I AktG. Die Abhängigkeit wird widerleglich vermutet, wenn ein Unternehmen an einem anderen Unternehmen mit Mehrheit beteiligt ist (§ 17 Abs. 2 AktG). Liegt eine Abhängigkeit vor, wird weiter widerleglich vermutet, daß das abhängige Unternehmen mit dem beherrschenden Unternehmen einen Konzern bildet (§ 18 Abs. I S. 3 AktG). Unternehmen, zwischen denen ein Beherrschungsvertrag besteht (§ 291 AktG) oder von denen das eine in das andere eingegliedert ist (§ 319 AktG), sind als unter einer einheitlichen Leitung zu sammengefaßt anzusehen (§ 18 Abs. I S. 2 AktG); sie gelten unwiderleglich als Unterordnungskonzern. Besteht aus einem sonstigen Grund die Fähigkeit eines Unternehmens, auf ein anderes Unternehmen mittelbar oder unmittelbar einen beherrschenden Einfluß auszuüben (§ 17 Abs. I AktG), so wird von dem abhängigen Unternehmen vermutet, daß es mit dem herrschenden Unternehmen einen Konzern bildet. Damit ist es für die - wenn auch eventuell widerlegliche - Feststellung eines Konzerns nicht erheblich, ob es sich um einen Vertrags-, Eingliederungskonzern oder faktischen Konzern handelt. 148 145 Siehe Gesetzestext § 18 Abs. 1 AktG sowie dazu GeBier I HefennehllEckardt I KropffGeßler, AktG § 18 RdNr. 52; Hü!fer, AktG § 18 RdNr. 6; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 31 11 3 c) aa), S. 948 ff.; MünchArbR-Joost, § 307 RdNr. 18; GK-BetrVG-Kreutz, § 54 RdNr. 13; Richardi, BetrVG § 54 RdNr. 2; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 54 RdNr.9. 146 Richardi, BetrVG § 54 RdNr. 3. 147 BGHZ 90,381 (395 ff.).
118
2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
D. Schlußfolgerungen Zwei zentrale Probleme treten bei dem Versuch einer an den Zielsetzungen des Gesetzes orientierten Bestimmung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundbegriffe zu Tage. Zum einen ist offensichtlich, daß die Verortung der Organe in Entsprechung der Grundvorstellungen einer arbeitnehmer- und entscheidungsnahen Interessensvertretungsstruktur, um so mehr scheitern muß, je mehr sich die zu beurteilenden Unternehmen und Betriebe vom betriebsverfassungsrechtlichen Idealzustand entfernen. Das kontradiktorische Spannungsverhältnis dieser beiden Zielvorstellungen macht ihre gleichzeitige absolute Verwirklichung kaum möglich: Damit ein Betriebsrat seine Vorstellungen gegenüber dem Arbeitgeber durchsetzen kann, braucht er ein Gegenüber mit Kompetenzen, die spiegelbildlich den Rechten der Interessenvertretung entsprechen. Dies ist im klassischen Fall der Arbeitgeber selbst oder eine mit entsprechenden Befugnissen ausgestattete Abteilung. Keinesfalls werden diese Arbeitgeberfunktionen jedoch unbedingt an den Orten wahrgenommen, an denen sie ihre Resultate finden, sprich dort, wo die betroffene Belegschaft arbeitet. Zu einer interessenorientierten und sachnahen Gestaltung der Betriebsratsarbeit gehört aber auch der unmittelbare Kontakt zu den Belegschaftsmitgliedern, um deren Beteiligung am Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß zu gewährleisten. Besonders in Großunternehmen und Unternehmen mit dezentralisierten Entscheidungs- und Produktionswegen muß eine - aus guten Gründen 149 - an der Leitungsstruktur des Arbeitgebers orientierte Verortung der betriebsverfassungsrechtlichen Organe fast zwangsläufig zu einer gewissen Entfremdung der Organmitglieder von ihren Arbeitnehmern führen. Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat werden so mehr zu Organen des Unternehmens selbst. Das Selbstverständnis als Arbeitnehmerorgan hat hierunter zu leiden. Will man jedoch der maximal gesetzlich möglichen Dreistufigkeit der Organstruktur keine weitere Stufe hinzufügen - auch dies aus guten Gründen 150 -, wird man diesem Dilemma nur eingeschränkt abhelfen können. Erst recht nicht können neue Begriffsbestimmungen, wie beispielsweise von Joost 151 versucht, das Problem abstrakt lösen. Es handelt sich um ein praktisches und nicht begriffsjuristisches Problem. Jede Neudefinition kann daher nur eine andere Gewichtung vornehmen. Sie ist aber nicht in der Lage, das Spannungsverhältnis selbst aufzulösen. Als Zweites kommt hinzu - und dies ist viel wesentlicher -, daß jede abstrakte Feststellung der Begriffsinhalte den unterschiedlichen Ausfonnungen der Organisationsstrukturen in den Unternehmen kaum gerecht werden kann. Durch die abstrakte Definition ist nur vordergründig Rechtssicherheit gewonnen, denn diese 148 149
ISO
151
Richardi, BetrVG § 54 RdNr. 7. Siehe dazu die Ausführungen oben § 1 C. S. 89 ff. Siehe dazu die Ausführungen oben § 1 C. S. 89 ff. Siehe Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 171.
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
\19
schwindet, sobald es darum geht, den zu beurteilenden Sachverhalt unter die dargestellten Begriffsdefinitionen zu subsumieren. Der begriffsjuristisch notwendigerweise einheitlich gefaßte Betriebsbegriff trifft in der Praxis auf kaum einheitliche und vorwiegend betriebswirtschaftlich geprägte Organisationsformen. Er leidet unter dem Zwang, die Leitungs- und Entscheidungsstrukturen des Kleinunternehmens ("Tante-Emma"-Laden) gleichermaßen normativ erfassen zu müssen, wie die eines spartenorganisierten Großunternehmens. Auf flexible Gestaltungen aber können einheitliche Definitionen nur eingeschränkt reagieren. Hier paßt es in das Bild, wenn das Bundesarbeitsgericht "um Rechtssicherheit zu schaffen" eine Abgrenzung des selbständigen Betriebsteils vom selbständigen Betrieb umgeht. 152 Wenn selbst die Rechtsprechung die Unmöglichkeit eingesteht, innerhalb der fließenden Begriffsinhalte Grenzen zu ziehen, so wird die Anwendung dersc\ben kaum immer Rechtssicherheit bringen können. Rechtssicherheit besteht dann nur in der Rechtssicherheit eines letztinstanzlichen Urteils. Als Resümee bleibt, daß es faktisch unmöglich ist, durch Begriffsbestimmungen ein einheitliches Bild zu erzeugen, welches gleichermaßen ein in der Anwendung gefestigtes Mittel darstellt, die zahlreichen Grenzfälle aufzulösen. Die erforderliche Einzelfallgerechtigkeit verleitet zwangsläufig dazu, die erforderliche Trennschärfe aufzugeben. Die Rechtseinheitlichkeit geht zu Lasten der intendierten Rechtssicherheit. Die soeben dargestellten Erkenntnisse sollen im Hinblick auf den Umgang mit den gesetzlichen Organisationsvorgaben in der Unternehmenswirklichkeit näher beleuchtet werden. Dabei geht es nicht darum, den Beleg für ein generelles Unvermögen der Organisationsbegriffe zu finden, sondern aufzuzueigen, inwieweit Defizite bei deren praktischen Umsetzung zu konstatieren sind, die einer individuellen Konzeption, etwa durch betriebsverfassungsrechtliche Normen eines Tarifvertrages - und darum geht es hier - aus sachlichen Gründen heraus den Boden bereiten.
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis Es finden sich nur wenige belegfähige Hinweise darüber, wie die betriebsverfassungsrechtliche Praxis mit den für sie ja verbindlichen Organisationsbegriffen umgeht; wo Betriebsräte, Gesamt- und Konzernbetriebsräte angesiedelt werden oder ob es gar weitere, dem gesetzlichen Betriebsverfassungsrecht fremde Interessenvertretungsstrukturen und -einheiten gibt. Dabei muß es, wie Gamillscheg bereits früh moniert hat, von außerordentlichem Interesse sein, ob die Wirklichkeit in den Unternehmen im wesentlichen den gesetzlichen Vorgaben folgt oder eigene Wege geht. 153 Zwar gibt es hierzu durchaus eine große Anzahl von gerichtlichen Ent152
153
=
BAGE 50, 251 (257) AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. Gamillscheg, 'ZiA 1975,357 (399 f.); sowie nochmals ders., RdA 1998,2 (14).
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
scheidungen, bei denen die Wirklichkeit in den Sachverhalten "durchschimmert".154 Aber auch die Masse der Urteile ist insoweit wenig repräsentativ und aussagekräftig. Vor allem können keine Erkenntnisse im Hinblick auf die Motive der Beteiligten gewonnen werden. Sie bleiben in der Regel verborgen. Nun soll mit dieser Untersuchung nicht empirische Forschung betrieben werden. Dies würde den Umfang der Arbeit bei weitem sprengen. Es kann unter Berücksichtigung des bislang Gesagten aber immerhin dargestellt werden, welche allgemeinen Erkenntnisse sich aus den vorhandenen Materialien ergeben. Es ergibt sich schon fast zwangsläufig aus dem Ineinandergreifen und den verschwimmenden Grenzen der Begriffsdefinitionen, daß die in der Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelten abstrakten Rechtssätze bei ihrer Anwendung in der Praxis erhebliche Probleme bereiten müssen. Ein erster Beleg hierfür ist bereits der Umstand, daß in den nicht wenigen Fällen, in denen bei der Betriebsratswahl der Betriebsbegriff verkannt wird, die Wahl in der Regel nicht nichtig, sondern nur nach § 19 Abs. 1 BetrVG anfechtbar ist. Daneben ist das Vorhandensein von Zweifelsfällen bei der Betriebsabgrenzung nach den §§ 1 und 4 BetrVG durch die Möglichkeit des gerichtlichen Beschlußverfahrens nach § 18 Abs. 2 BetrVG sogar gesetzlich anerkannt. 155 Werden betriebsverfassungsrechtIiche Institutionen geschaffen - bspw. unternehmensübergreifend angelegte Gesamtbetriebsräte -, die offensichtlich den gesetzlichen Vorgaben zuwiderlaufen, ist die Grenze zur Nichtigkeit jedoch überschritten. So wird eine Verkennung des Unternehmensbegriffs nicht so behandelt wie die Verkennung des Betriebsbegriffs l56 , wo nach Ablauf der sehr kurzen Anfechtungsfrist des § 19 Abs. 2 BetrVG der Bestandsschutz den Betriebsrat selbst und seine Arbeit schützt. Werden durch solche Organe beispielsweise Sozialpläne abgeschlossen, können die Resultate für die betroffenen Arbeitnehmer verheerend sein, wenn der Arbeitgeber die Auszahlung verweigert. 157 Aber bei schwerwiegender und offensichtlicher Verkennung des Betriebsbegriffs liegt nicht nur Anfechtbarkeit, sondern Nichtigkeit vor. 158 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Betriebsvertretungen auf der Grundlage von Zuordnungstarifverträgen arbeiten, die entweder nicht nach § 3 Abs. 2 BetrVG genehmigt wurden oder gar nicht genehmigt werden konnten. 159 Das Ausmaß dieser Anwendungsschwierigkeiten läßt sich aus den geschilderten Gründen nicht allumfassend und konkret bestimmen. Neben den Problemen, die im Umgang mit dem Gesetz zu verzeichnen sind, kommt erschwerend hinzu, daß 154 Gamillscheg. RdA 1998,2 (14). m GK-BetrVG-Kreutz. § 19 RdNr. 138. 156 Richardi. BetrVG § 47 RdNr. 85. 157 Vgl. dazu LAG Brandenburg, Beschluß vom 9.08.1996-2 TaBV 9/96 nv. Siehe Fn.170. 158 BAGE 1, 235 (240); AP Nr. 1 zu § 1 BetrVG 1972; EzA § 19 BetrVG 1972 Nr. 20 sowie LAG Brandenburg wie vor. 159 LAG Hamburg, NZA-RR 1997, 136 (136, 139 f.).
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
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die Unternehmenswirklichkeit bei der Ausformung ihrer organisatorischen Strukturen auf die gesetzlichen Vorgaben der Betriebsverfassung im BetrVG nicht reagieren muß, sondern unter Zugrundelegung der betriebswirtschaftlichen Interessen und Zielsetzungen autonom - jenseits der Betriebsverfassung - frei agieren kann. Dem Gesetz bleibt nur die Rolle des Reagierenden; es muß versuchen, seine Intrumente mit den unterschiedlich definierten Gegebenheiten im Unternehmen in Einklang zu bringen. Die abstrakt-generelle und zwingende Natur der gesetzlichen Ordnungsvorschriften trifft nur die Anwender - also die Arbeitnehmer - und nicht den Unternehmer. Er diktiert durch seine Organisationsmaßnahmen auch das Ordnungsgefüge der Betriebsverfassung. Die mit dem Tarifvertrag mögliche individuelle Gestaltung unter Beteiligung bei der Tarifpartner ist dem abstrakten Normcharakter des Gesetzes fremd. Mit der vom Gesetz eingenommenen passiven und gleichzeitig zwingenden Haltung ist eine an den konkreten Bedürfnissen in den Unternehmen orientierte Organisation der Betriebsverfassung damit von vornherein Problemen ausgesetzt.
A. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit Mitte 1998 legte eine aus 35 Vertretern aus der Rechtsprechung und Wissenschaft, aus Verbänden und Gewerkschaften sowie aus der Unternehmenspraxis und Politik bestehende Kommission einen umfassenden Bericht zur Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene vor. Ziel des Projekts ,,Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen" war es, die Erfahrungen der Mitbestimmungspraxis und das Forschungswissen über die Mitbestimmung zusammenzufassen und auszuwerten, um so auf der Basis gesicherter Fakten und des Standes der Forschung Analyse und Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme und Entwicklungstendenzen der Mitbestimmung zu erarbeiten. 160 Die Arbeit der Kommission mündet in thesenhaft formulierte Empfehlungen zur zukünftigen Gestaltung der Mitbestimmung. Die daneben einzig bekannte, breit angelegte Untersuchung, welche die Realstrukturen der Betriebsverfassung in der Unternehmenswirklichkeit zu erfassen und darzustellen versucht, ist die 1982 vom nordrhein-westfälischem Wissenschaftsministerium herausgegebene Arbeit von Rancke. 161 Zwar beschränkt sich die Untersuchung auf Unternehmen, die in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigen, jedoch bedeutet dies nicht, daß die Erkenntnisse von vornherein nicht auf kleinere und mittlere Unternehmen übertragbar wären. Dies gilt insbeson160 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stijtung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 21. Siehe zur Erläuterung Streek, JbArbR (1998), S. 21 (21 ff.) als wissenschaftlicher Leiter der Kommission. 161 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit.
122
2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
dere dann, wenn die Ursachen bestimmter Vorgehensweisen in der Praxis nicht an die Größe des Unternehmens gekoppelt sind. Auch das Alter der Untersuchung kann ihren Aussagewert nicht in Frage stellen, da sich das begutachtete Gesetz im Hinblick auf seine Organisationsstrukturen und deren wissenschaftliche Beurteilung nicht maßgeblich geändert hat. Soweit die Unternehmenspraxis seit dieser Erhebung immer mehr versucht ist, durch Umstrukturierungsmaßnahmen auf allen Ebenen der betriebs wirtschaftlich definierten Produktions- und Arbeitsorganisation Verbesserungen zu erreichen,162 kann dies nicht dazu führen, daß die von Rancke ermittelten Fakten keine Bedeutung mehr hätten. Denn es ist keinesfalls zu konstatieren und auch in Zukunft nicht zu erwarten, daß die Unternehmer nach Entscheidungswegen und Betriebsorganisationen suchen, die in der Sache gleich sind oder sich ähneln. Vielmehr ist offenkundig, daß stets neue Wege gegangen werden, den Arbeitsablauf betriebswirtschaftlieh so effizient wie möglich zu gestalten. So tendiert die Unternehmenswirklichkeit eher dahin, sich in zunehmenden Maße von den dem BetrVG bekannten Organisationsmodellen zu entfernen und aus betriebswirtschaftlicher Sichtweise unterschiedliche Organisationskonzepte zu entwerfen. 163 Dabei werden nicht selten absolut gegensätzliche Wege gegangen, obwohl man das gleiche Ziel vor Augen hat. 164 Genannt seien an dieser Stelle nur die verschiedenen Formen der Divisionalisierung,165 der Filialstruktur sowie der Franchise- und "lust-in-time"-Systeme. Hinzu kommen neuartige Unternehmensstrukturen im Zusammenhang mit der Privatisierung ehemaliger Staatsunternehmen. 166 Die Probleme, die beim Umgang mit der gesetzlichen Betriebsverfassung auftauchen, sind mithin in ihrer Intensität nicht geringer geworden, sondern sie haben sich, davon muß man ausgehen, noch verstärkt. 167
162 Zum divisionalisierten Unternehmen und Konzern bereits Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 1 ff. 163 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 36 ff., 81 ff. 164 Vgl. nur die Praxisbeispiele bei Bachner, NZA 1996,400 (400 f.). Hier wurde in einem Fall durch Outsoun:ingmaßnahmen die Umstrukturierung eines Konzerns in rechtlich selbständige Spartengesellschaften vorgenommen, in einem anderen Fall durch Insoun:ing die Unternehmenssparten rechtlich unselbständig gemacht. Dies zeigt, daß die betriebswirtschaftlichen Unternehmenskonzepte, obwohl sie zweifelsfrei eine Effektivitätssteigerung der Produktionsprozesse vor Augen haben, dies nicht selten auf gegenläufigem Wege zu erreichen versuchen, also sich von unterschiedlichen Wegen den identischen Erfolg versprechen (S. 401 f.).
165 Zu den einzelnen Ausgestaltungen in der Praxis Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 19 ff. 166 Zu den betriebsverfassungsrechtlichen Folgen beim Wechsel von einer öffentlichrechtlichen in eine privatrechtliche Organisationsforrn Engels/Mauß-Trebinger, RdA 1997, 217 (220 ff.). 167 So auch Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 78 ff.; Schlachter, RdA 1993,313 (319).
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
123
I. Die Untersuchung von Rancke Bereits die Analyse der Erfahrungen mit der organisatorischen Praxis von betrieblicher Mitbestimmung zeigt nach Rancke, daß die Betriebspartner ihren Mitbestimmungsprozeß in Formen und Organisationen austragen, die vom Betriebsverfassungsgesetz entweder so nicht angelegt oder überhaupt nicht vorgesehen sind. 168 Der Grund hierfür wird zunächst in einer in der Praxis herrschenden tiefgreifenden Unsicherheit bei der Umsetzung der organisatorischen Vorschriften gesehen. Demzufolge kommt es zu einer starken Orientierung an im Gesetz nicht erwähnte beziehungsweise anders gewichtete Kriterien. 169 Es tritt hinzu, daß die fehlende Flexibilität der gesetzlichen Organisationsnormen mit den tatsächlichen Bedürfnissen nicht in Einklang steht und dies die Betriebspartner gleichwohl nicht daran hindert, die Institutionalisierung von Vertretungsorganen offen contra legern vorzunehmen. 170 Dies gilt insbesondere für den Betriebsbegriff und die Zuordnungskriterien des § 4 BetrVG, sowie bei Spartenorganisationen l71 für unternehmensübergreifende Regelungen. So spielt in der Praxis bei der Beurteilung, was einen ,,Betrieb" ausmacht, die räumlich-gegenständliche Komponente eine große Rolle. Auch organisatorisch unterscheidbare Arbeitsstätten arbeiten stets zusammen, soweit sie sich nur auf einem Werksgelände befinden. 172 Damit wird die Bestimmung in § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG, wonach Betriebsteile mit organisatorischer Eigenständigkeit stets einen eigenen Betriebsrat bilden, auch wenn sie sich in räumlicher Nähe befinden, sehr in den Hintergrund gedrängt. 173 Gleichzeitig spielt die arbeitstechnische Zwecksetzung eines Betriebes keine Rolle. Dies führt dazu, daß auch bei der Abgrenzung Nebenbetrieb - Betriebsteil, wenn sie überhaupt vorgenommen wird, dieses Charakteristikum keine Rolle spielt. 174 Überragender Aspekt bei Großunternehmen ist die möglichst umfassende und weitgreifende Zusammenfassung mehrerer räumlich beieinanderliegender Teileinheiten zu einem Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG . Dabei ist es oftmals ohne Belang, ob es sich bei den Einheiten um selbständige Betriebsteile oder Nebenbetriebe handelt. 175 Beide nach der gesetzlichen Wertung wegen ihrer relativen Selbständigkeit (selbständiger Betriebsteil) oder bloßen arbeitstechnischen Zweckverbindung (Hilfsfunktion beim Nebenbetrieb ) gegenüber Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit. s. 336. Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 258. 170 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 267. 171 Vgl. dazu die bei Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 272 ff. aufgeführten unterschiedlichen Organisationsformen. 172 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 260. 173 So traten bei der Untersuchung keine Unternehmen auf, bei denen ein Betriebsteil trotz räumlicher Nähe zu den oder der übrigen Unternehmensstätte, einen eigenen Betriebsrat bildet. Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 266. 174 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit. S. 260 f. 175 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 262 f. 168
169
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
dem Hauptbetrieb als betriebsratsfähig angesehenen Arbeitsstätten werden contra legern mit den übrigen Arbeitsstätten zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Einheit zusammengefaßt. So bilden auch weit entfernte Filialen gemeinsam mit der Hauptverwaltung einen Betrieb. 176 Das gesetzliche Zuordnungsmodell des § 4 S. 1 Nr. 1 BetrVG wird nur selten beachtet. Nicht nur in Großunternehmen dominiert das Kriterium der Entscheidungsnähe. 177 Die betriebsverfassungsrechtliche Struktur orientiert sich vornehmlich an den im Unternehmen vorgefundenen organisatorischen Bedingungen. Das heißt, der Betriebsrat, seine Ausschüsse und seine Arbeitskreise ressortieren vorwiegend dort, wo die Entscheidungen in personellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten vorbereitet und getroffen werden. 178 Insoweit deckungsgleich mit der Rechtsprechung, die zunehmend hierauf abgestellt hatte und dieses Kriterium heute in den Vordergrund stellt. 179 Der mit der Größe des Betriebes oder Unternehmens zunehmende Kontaktverlust der betriebsverfassungsrechtlichen Institutionen zu der Belegschaft wird sodann häufig durch die Installation oder Nutzbarmachung von betriebsverfassungsrechtlichen Substrukturen unterhalb der Betriebsratsebene zu kompensieren versucht, dies insbesondere auch, weil der von § 15 Abs. 1 BetrVG vorgesehenen abteilungsspezifischen Zusammensetzung des Einzelbetriebsrats keine Beachtung geschenkt wird. 180 Diese Substrukturen äußern sich zum einen in der Errichtung von Hallen- und Bereichsbetriebsräten, 181 wobei letztere insbesondere in Unternehmen mit Filialstruktur anzutreffen sind. 182 Dabei ist beiden Formen der Teilhabe von Untergliederungen am betriebsverfassungsrechtlichen Geschehen gemeinsam, daß sie, zwar nicht nur, aber doch in nicht unerheblichem Umfang, ebenfalls betriebsverfassungsrechtliche Aufgaben anstelle des Betriebsrats wahrnehmen. Dies gilt insbesondere für die Mitbestimmung bei personellen Maßnahmen. 183 Den anderen Schwerpunkt der vorgefundenen Substrukturen bilden betriebliche und gewerkschaftliche Vertrauensleute. Zwar sind letzere hauptsächlich im Bereich der berufsverbandlichen Aufgaben (Mitgliederwerbung und -betreuung) tätig, in nicht geringem Ausmaß werden daneben aber auch betriebsverfassungsrechtliche Hilfsfunktionen ausgeübt. 184 Als Rechtsgrundlage fungiert in etwa der Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 266. Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 188 und 267 f .• 272. 178 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 188. Die Personalmanager aller Ebenen sind die bevorzugten Gesprächs- und Regelungspartner der Betriebsratsmitglieder, soweit sie mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet sind (S. 268 und Tabelle 47). 179 Siehe oben § 1 C. S. 89 ff. und § 2 A. S. 94 ff. 180 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 271. 181 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit. S. 279 ff. 182 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 186 ff. 183 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 280. 284. 184 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 289, 301. 176
177
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
125
Hälfte aller Fälle ein Tarifvertrag, nur selten eine Betriebsvereinbarung. 185 Während bei der Arbeit der gewerkschaftlichen Vertrauensleute die Sicherung der Verbandsinteressen in den Betrieben noch im Vordergrund steht, ist die Intention bei der Institutionalisierung von betrieblichen Vertrauensleuten eine andere. Hier geht man von der Überlegung aus, die allgemein - besonders in großen Betrieben - bekannten prinzipiellen Verständigungs-, Kontakt- und Koordinationshindernisse zwischen Betriebsrat und vertretenen Arbeitnehmern zu reduzieren. 186 Demzufolge fungieren die betrieblichen Vertrauensgremien vorwiegend als Kommunikationsorgan (lnfonnation, Konfliktbereinigung und Entscheidungshilfe für den Betriebsrat), treffen in kleinem Umfang jedoch auch Entscheidungen im betriebsverfassungsrechtlichen Raum. In jedem Fall ist ihre Funktion betriebsverfassungsrechtlicher Natur; gewerkschaftliche Aufgaben spielen nur am Rande eine Rolle. 187 Als Rechtsgrundlage dient in der Regel eine Betriebsvereinbarung. 188 Sehr weitreichende Abweichungen von den gesetzlichen Vorstellungen sind daneben jenseits der Betriebsstrukturen zu konstatieren. Durch die Verlagerung von Entscheidungsebenen von den herkömmlichen Organisationseinheiten (Unternehmens- und Konzernleitung) auf neuartige Institutionen wird mit der engen gesetzlichen Verzahnung der betriebsverfassungsrechtlichen Vertretungen mit dem Konzern als Sitz des Konzernbetriebsrats und dem Unternehmen als Sitz des Gesamtbetriebsrats eine betriebsverfassungsrechtliche Vertretungskultur geschaffen, die will sie nicht ins Hintertreffen geraten - eigenständig und ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Vorgaben diesen Verlagerungen institutionell nachfolgt. 189 Um der betrieblichen Mitbestimmung zu wirklicher Effektivität zu verhelfen, findet statt der gesetzlichen eine eigene Ankopplung an die unternehmerische Entscheidungsstruktur statt, welche sich nicht notwendigerweise an den gesetzlichen Fixpunkten Betrieb, Unternehmen und Konzern orientiert. Ziel ist dabei die Errichtung von führungsadäquaten, gegengewichtigen Mitbestimmungszentren an den Stellen, wo die dezentrale Unternehmensführung ausgeübt wird und folglich effektiv beeinflußt werden kann. l90 Gerade in großen Unternehmen und Konzernunternehmen wird mit einer divisionalen Organisationsstruktur das Unternehmen in der Weise gegliedert, daß nach bestimmten Kriterien sogenannte operating divisions (oder auch Sparten, Geschäftsbereiche) gebildet werden. 191 Diese produkt- oder produktbereichsorientierten Divisionen sind im Rahmen der Ziele und Strategien der Gesamtleitung mit weitreichenden unternehmerischen Entscheidungskompetenzen
18S 186
187 188 189
190 191
Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, Tabelle 59, S. 292. Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 288. Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit. Tabelle 57 S. 290. Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, Tabelle 59 S. 292. Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 338. Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 265. Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 9.
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
ausgestattet, ohne daß diese Autonomie notwendigerweise gesellschaftsrechtlich verankert wäre. So kann eine Division auch über mehrere selbständige Konzerngesellschaften hinweggreifen und Teile dieser einzelnen Konzernunternehmen erfassen. l92 Da die Abgrenzung der Divisionen mit dem gesellschaftsrechtlichen Bild nicht unbedingt übereinstimmt, kann sich für den Betrieb die Folge ergeben, daß er verschiedenen Organisations- und Entscheidungsbereichen des Unternehmens angehört. 193 Die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen von der Betriebs- bzw. Unternehmensleitung zur Geschäftsbereichsleitung führt dazu, daß den vom BetrVG dem Einzelbetriebs- und Gesamtbetriebsrat zugeordneten Gesprächspartnern - Betriebs- und Unternehmensleitung - die erforderliche Kompetenz fehlt. Will man nun der Geschäftsbereichsleitung eine betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit zuordnen, geht dies nur unter Mißachtung der gesetzlichen Vorgaben, soweit einzelne Divisionen räumlich weit verstreut sind und unternehmensübergreifend arbeiten. So werden beispielsweise in spartenorganisierten Unternehmen Spartenausschüsse gebildet, die für den teilweise ebenfalls unternehmensübergreifend organisierten Einzelbetriebsrat Aufgaben wahrnehmen. Auch werden unternehmensübergreifende Spartengesamtbetriebsräte eingerichtet. 194 Es finden sich Arbeitskreise von Betriebsräten, die unterhalb des Gesamtbetriebsrats oder über Unternehmensgrenzen hinweg eine überbetriebliche Koordination der Interessenvertretung versuchen. 195 Daneben geht eine deutliche Tendenz in der Praxis der Aufgabenverteilung zwischen Einzel- und Gesamtbetriebsrat dahin, die vom Gesetzgeber mit § 50 BetrVG geforderte Primärzuständigkeit des Einzelbetriebsrats ins Gegenteil zu verkehren. So werden Mitbestimmungsrechte hinsichtlich Entlohnungsgrundsätzen, Betriebsänderungen, der Personal planung und Altersversorgung vorwiegend vom Gesamtbetriebsrat geltend gemacht. Sogar im Bereich der täglichen Arbeitszeit und der sonstigen Arbeitsordnung spielt er eine gewichtige Rolle. 196 Durch die Übernahme von "Verwaltungsfunktionen" in bezug auf komplexe Mitbestimmungsmaterien als Resultat stärker gegliederter Betriebsratsorganisationen wächst dem Gesamtbetriebsrat innerhalb der gegliederten Betriebseinheiten fast zwangsläufig - entgegen § 50 Abs. 1 S. 2 BetrVG - eine Führungsfunktion ZU. 197 Ohne immer darüber einen Nachweis erbringen zu können, wird auch an anderen Stellen moniert, daß die betriebsverfassungsrechtliche Wirklichkeit in vielen Wendeling-Schröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 9. Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, Vorwort S. 11 (Säcker). 194 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 274 ff.; vgl. die von Bachner; NZA 1996, 400 (400 ff.) dargestellten Beispiele. 195 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 251 und 265. 196 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, Schaubild 5 S. 350. 197 Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit. S. 356; vgl. dazu auch Säcker; Wahlordnungen zum Mitbestimmungsgesetz. S. 80. 192 193
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
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Bereichen vom Gesetz stark abweichende Wege beschreitet. 198 Bereits Säcker hatte 1978 darauf hingewiesen, daß in der Unternehmenswirklichkeit Regionalstatt Einzelbetriebsräte. existierten, in Großbetrieben Hallen-, Produkt- und Spartenbetriebsräte arbeiteten und selbst über mehrere Konzernunternehmen hinweg sog. "gemeinsame Gesamtbetriebsräte" gebildet werden. 199 Daß es neben stillschweigenden Abmachungsfonnen auch nicht selten vorkommt, daß solche Vereinbarungen, obwohl im offenen Konflikt zum Gesetz stehend, auf der Grundlage von Tarifverträgen getroffen werden, zeigen die von Bachner dargestellten Praxisbeispiele: 2OO In weiten Teilen bewegen sich die dort gezeigten Vereinbarungen nach den Vorstellungen der Vertragsparteien außerhalb des Gestaltungsspielraumes der Tarifvertragsparteien und wurden aus diesem Grunde gar nicht erst nach § 3 Abs. 2 BetrVG zur Genehmigung vorgelegt. Das Bedürfnis solcher Gestaltungsformen geht offensichtlich sogar weiter als die Angst vor Konflikten mit dem Gesetz, die auf eine - wenn auch nicht gerichtlich festgestellte - Nichtigkeit hinauslaufen?OI
11. Bericht der Kommission Mitbestimmung
Zu den wesentlichen Erkenntnissen der Kommission in bezug auf die Betriebsverfassung gehört, daß die modemen Prägungen der Mitbestimmung in zunehmendem Maße aus starren Formen herauswachsen und auf der Suche nach situationsangepaßten Modellen informelle Modifizierungen der gesetzlichen Regelungen vorgenommen werden. 202 Diese Aussage wird gleichennaßen für die Ausübung 198 100st, Betrieb und Unternehmen, S. 304; Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 146; Schlachter, RdA 1993,313 (319); Bachner, NZA 1996, 400 (400); Kreßel, AuA 1998, 145 (147). 199 Säcker, Die Wahlordnungen zum Mitbestimmungsgesetz, S. 80. 200 Bachner, NZA 1996,400 (400 ff.). 201 Hierauf hat Rancke (S. 266 f.) bereits hingewiesen. Ein Grund liegt sicherlich darin, daß die gesetzesabweichende Praxis auf Abkommen beruht, die von beiden Seiten ausgehandelt werden und von deren Nutzen beide Seiten überzeugt sind. Gleichwohl besteht unzweifelhaft die Gefahr, daß solche Abkommen dann überprüft werden, wenn es um die Rechtsverbindlichkeit von Vereinbarungen (bspw. Sozialpläne) geht, die diese Organe mit dem Arbeitgeber. abgeschlossen haben. Die Folgen können katastrophal sein: In einern vorn LAG Brandenburg entschiedenen Fall (Beschluß vorn 9.08.1996; 2 TaBV 9/96 nv.) hatten Konzernobergesellschaft und Tochterunternehmen mit der Gewerkschaft HBV und NGG einen Tarifvertrag abgeschlossen auf dessen Grundlage unternehmensübergreifend Betriebsräte gebildet wurden. Trotz der darauf gerichteten Kritik des BMA wurden die entsprechenden Bestimmungen beibehalten und der Tarifvertrag nicht zur Genehmigung nach § 3 Abs. 2 BetrVG dem BMA vorgelegt. Ein mit einem auf dieser Grundlage gewählten Betriebsrat abgeschlossener Sozialplan war daher nichtig, da bereits der Betriebsrat als Verhandlungspartner wegen Verstoßes gegen wesentliche Wahlvorschriften rechtlich nicht existent war. Vgl. dazu auch LAG Harnburg, NZA-RR 1997, 136 (136 ff.). 202 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 76.
128
2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
der gesetzlich zugewiesenen Rechte als auch für die eigentliche Organisation der Betriebsverfassung innerhalb der Unternehmenskultur getroffen. Die Dezentralisierung von Unternehmensentscheidungen gehört unter anderem zu den Schwierigkeiten, mit denen die Mitbestimmung infolge des wirtschaftlichen Strukturwandels konfrontiert ist. Diese entzieht dem Betriebsrat tendenziell die Möglichkeit, mit einer zuständigen zentralen Geschäftsleitung Regelungen zu sämtlichen Gegenständen auszuhandeln, die ihm nach dem Gesetz zugewiesen sind. Im Gegensatz zur dezentral organisierten Betriebs- und Unternehmensleitung gerät der Betriebsrat in die Gefahr, zum allein übriggebliebene Verfechter eines dirigistischen Zentralismus zu werden?03 Die Dezentralisierung der Unternehmenswirklichkeit steht damit in Widerspruch zu dem gesetzlichen Modell der Betriebsverfassung. Dieses setzt als repräsentatives System der Beteiligung von Arbeitnehmern gerade eine Zentralisierung des Entscheidungsprozesses auf der Ebene der gewählten Repräsentativorgane voraus. Auf diese Weise untergraben Veränderungen in der Unternehmens- und Betriebsstruktur wichtige faktische Voraussetzungen einer wirksamen Mitbestimmung in der bestehenden Form und drohen ihre rechtlichen Ressourcen zu entwerten. Neue Logistikkonzepte, durch die Betriebe verschiedener Unternehmen arbeitsteilig vernetzt werden, erschweren die Zusammenfassung betriebsübergreifender Arbeitnehmerinteressen, wie sie traditionell durch Gesamt- oder Konzernbetriebsräte geleistet werden. 204 Wo enge operative Zusammenhänge über Grenzen verschiedener Unternehmen oder Unternehmenseinheiten hinweg bestehen, kommt es zur Bildung von Konzernbetriebsräten in Holding-Konzernen, Standortbetriebsräten oder gemeinsamen Betriebsratsgremien in zerstreuten Unternehmensstrukturen. 20S In zahlreichen Unternehmen, in denen die Mitbestimmung als Folge des Strukturwandels an die Grenzen ihrer rechtlichen Grundlagen stößt, suchen Belegschaftsvertreter und Unternehmensleitungen nach Wegen, sie an veränderte organisatorische Rahmenbedingungen anzupassen. Die Kommission bescheinigt den dabei gefundenen Lösungen ein "hohes Maß an gemeinsamer Improvisations- und Innovationsfähigkeit".206 Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß, wie die Kommission selbst nur zurückhaltend andeutet, derartigen Experimenten zugrundeIiegende Absprachen oftmals nur geringe oder gar keine rechtliche Verbindlichkeit haben. 207 Ihre Dauerhaftigkeit und Durchsetzbarkeit hängt damit oft allein von der freiwilligen Bereitschaft der Unternehmensleitung ab. 203 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 78 f. 204 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 40. 20S Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 81. 206 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 81.
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
129
III. Schlußfolgerungen
Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß die Unternehmenspraxis bereits seit langem durch eine Ausdifferenzierung der grob gerasterten betriebsverfassungs- und gesellschaftsrechtlichen Begriffe Betrieb, Unternehmen und Konzern gekennzeichnet ist und betriebswirtschaftlich orientierte Wege der Organisation geht, die nicht ohne weiteres in das betriebsverfassungsgesetzliche Begriffsschema passen?08 Den starren gesetzlichen Vorgaben steht ein tiefgreifendes praktisches Bedürfnis nach einer maßgeschneiderten Betriebsverfassung209 gegenüber. Die veränderten und sich ständig weiter entwickelnden Unternehmenskonzepte setzen die Strukturen der Mitbestimmung unter anhaltenden Anpassungsdruck. Die fehlende Flexibilität des Gesetzes hat die betriebsverfassungsrechtliche Praxis in eine rechtliche Grauzone geführt. In welcher Quantität betriebsverfassungsrechtliche Organe deswegen im rechtsfreien Raum agieren, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch selbst wenn Rancke mit seinem Resümee, EinzeIbetriebsräte seien in Großunternehmen in weiten Teilen contra legern errichtet worden,2JO übertriebe, trifft die Feststellung, die gesetzliche Betriebsverfassung leide in diesem Punkt unter einem Realitätsverlust, 211 sicherlich zu. Bei dem Wunsch, eine den jeweiligen Interessen und Gegebenheiten entsprechende Betriebsverfassung in den Unternehmen zu installieren, geht es primär darum, die Betriebsverfassung effektiv zu gestalten. Dies kann jedoch nur dann funktionieren, wenn eine rechtliche Basis vorhanden ist, die dem Bedürfnis nach Flexibilität Rechnung tragen kann, gleichzeitig aber Rechtssicherheit gewährleistet. Differenzierende Regelungen zwischen den Beteiligten am Gesetz vorbei ersetzen die Unsicherheit beim Umgang mit den gesetzlichen Organisationsbegriffen nur durch neue Rechtsunsicherheit, die erhebliche Risiken mit sich bringt. Letztlich ist eine strukturell angepaßte Betriebsverfassung auch im Interesse der Unternehmen selbst. Betriebliche Interessenvertretungen, die unter einer fehlenden Anbindung an die untemehmerischen und betrieblichen Entscheidungsträger zu leiden haben, werden in weitaus stärkerem Maße dazu neigen, an der formalistischen Einforderung ihrer gesetzlichen Rechtstitel festzuhalten. Notwendige Entscheidungsprozesse können dadurch einer bürokratischen Behinderung zum Opfer fallen. Die Vorstellung einer kooperativen und damit für beide Seiten nützlichen Mitbestimmung kann kaum verwirklicht werden.
207 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 82. 208 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 355. 209 Bachner, NZA 1996,400 (400). 210 Rancke. Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, S. 336. 211 Vgl. dazu bereits allgemein Raiser, Das Unternehmen als Organisation, S. 125 ff. 9 Wißmann
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
B. Tarifvertragliehe Vereinbarungen als individuelle Gestaltungsform Die Zulassung von Vereinbarungsmodellen würde es der Betriebsverfassung ermöglichen, die sich aus der jeweiligen Unternehmenstätigkeit ergebenden Strukturmerkmale aufzugreifen, ohne an das gesetzliche Strukturmodell des Betriebs-, Unternehmens- und Konzernbegriffs gebunden zu sein. So, wie die Unternehmensseite ihre Organisationshoheit dazu ausnutzt, sich unter Effektivitätsgesichtspunkten einzurichten, wäre die Betriebsverfassung in gleicher Weise in der Lage, dies zu tun. Im Gegensatz zur rein gesetzlichen Lösung würde die passive Ausformung der Betriebsverfassung zugunsten einer organisatorisch selbständig - und somit aktiv - agierenden Interessenvertretung abgebaut. Das auf der EG-Richtlinie 94/95 vom 22. September 1994 beruhende Gesetz über Europäische Betriebsräte vom 28. Oktober 1996 hat einem derartigen Vereinbarungsmodell den Vorrang gegenüber den gesetzlichen Vorgaben eingeräumt. Hierin besteht ein entscheidender Unterschied zum BetrVG, der gleichzeitig den Weg für neue Lösungen weist. 212 Nach § 17 EBRG besteht die Möglichkeit, kraft Vereinbarung die grenzüberschreitende Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (§ 1 EBRG) auszugestalten. Hinsichtlich der Befugnisse des Europäischen Betriebsrates wird gesetzlich lediglich mit § 18 Abs. I S. 2 Nr. 1 bis 6 EBRG zur Orientierung eine unverbindliche Soll-Vorschrift gegeben. Die Errichtung eines Europäischen Betriebsrates kraft Gesetzes erfolgt nur subsidiär (§ 21 ff. EBRG). Nun könnte eine individuelle Gestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation dadurch erreicht werden, daß man sie im erforderlichen Rahmen in die Hände der Betriebspartner gibt. Die erste Möglichkeit bestünde darin, es allein den Wahlvorständen und den vorhandenen gesetzlichen Organen der Betriebsverfassung zu überlassen, über Zuordnungen von Arbeitsstätten oder darüber zu entscheiden, welche Gremien mit welchen Zuständigkeiten gebildet werden. Das Gesetz hat mit der Ermöglichung eines gerichtlichen Beschlußverfahrens zur Feststellung betriebsratsfahiger Einheiten (§ 18 Abs. 2 BetrVG) nicht nur anerkannt, daß die Anwendung der Zuordnungskriterien des § 4 BetrVG und des Betriebsbegriffs213 in der Praxis erhebliche Probleme bereiten kann, sondern zudem die Entscheidung hierüber ausdrücklich dem Gericht zugewiesen und nicht den Betriebspartnern. Danach geht die abstrakte Rechtskenntnis des Gerichts der Sachnähe vor. Wie Joost in diesem Zusammenhang richtig erkannt hat, erfordert die genaue Gruppenabgrenzung und die Zuweisung bestimmter Organe aber letztlich eine am Einzelfall orientierte Zweckmäßigkeitsprüfung am Maßstab einer effektiven Be212
In diesem Sinne auch Bachner, NZA 1996, 400 (405) und Kreßel, AuA 1998, 145
(147). 213 Auch hierauf können sich entgegen dem Wortlaut Beschlußverfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG beziehen: BAG AP Nr. 5 und 7 zu § 3 BetrVG 1952; AP Nr. 1 zu § 1 BetrVG 1972; AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972.
§ 3 Wege und Ziele der Unternehmenspraxis
131
triebsverfassung. Die größte Sachnähe für eine solche Zweckmäßigkeitsprüfung liegt jedoch nicht beim Arbeitsgericht, sondern bei den Betroffenen selbst. 214 Die große Sachnähe des Wahlvorstandes, welchem nach § 18 Abs. 1 BetrVG die Einleitung und Durchführung der Wahl obliegt, kann allerdings alleine nicht dazu ausreichen, ihm im Ergebnis einen endgültigen Entscheidungsspielraum zu überlassen, denn er allein vermag die Konsequenzen seiner Entscheidungen nicht immer zu überschauen. Auch wäre ein einheitliches Bild der Betriebsverfassung innerhalb eines Unternehmens nicht mehr gewährleistet. Dieses ist jedoch wegen der übergeordnet arbeitenden Organe wie dem Gesamtbetriebsrat und dem Konzernbetriebsrat unerläßlich. Eine rechtlich-organisatorische Flankierung ist daher erforderlich, um eine sinnvolle und übergreifende Gesamtkonzeption der Betriebsverfassung im Unternehmen zu erhalten. Als zweites betriebliches Modell käme das Mittel der Betriebsvereinbarung in Betracht. Unternehmens- und gegebenenfalls Konzernleitung könnten mit dem jeweils übergreifend angesiedelten gesetzlichen Gremium über die erforderlichen Anpassungen und Umstrukturierungen Abmachungen treffen?15 Dieses Modell erfordert jedoch, daß die Betriebspartner überhaupt auf eine bestehende, sowie im wesentlichen funktionierende betriebsverfassungsrechtliche Struktur zurückgreifen können. Nur in diesen Fällen wird man auf ausreichende Sachkompetenz und Erfahrungswerte aufbauen können. Sind zudem gesetzliche Strukturen nicht oder nicht ausreichend vorhanden, scheitert dieser Lösungsansatz völlig, da ein Verhandlungs partner auf Arbeitnehmerseite fehlt. Vereinbarungen zwischen den Betriebspartnern können daher ein tarifliches Konzept nur ergänzen, nicht dagegen ersetzen. Ein optimales Resultat erfordert eine Verbindung folgender Komponenten: Sachnähe, Kompetenz sowie Flexibilität. Den starren gesetzlichen Regelungen und ihren möglichen Widersprüchen zu den unterschiedlichen Strukturen in der Betriebs- und Unternehmenswirklichkeit setzt die tarifvertragliche Gestaltungsform ihre Anpassungsfähigkeit entgegen. Der Tarifvertrag kann grundsätzlich als firmenbezogener Verbandstarifvertrag oder Firmentarifvertrag individuell-konkrete und individuell-abstrakte Regelungen treffen. Der feststehende Adressatenkreis ermöglicht eine Gestaltung der Betriebsverfassung, die den organisatorischen Eigenarten des Unternehmens Rechnung trägt. Dies gilt jedenfalls für die instrumentellen Eigenschaften des Tarifvertrages. Das Dilemma, in dem sich das Gesetz mit loost, Betrieb und Unternehmen, S. 303. Diesen Weg befürwortet Kreßel, AuA 1998, 145 (148) gegenüber der tariflichen Lösung. Nach inoffizieller und mündlicher Auskunft der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) an den Verfasser deckt sich diese Auffassung im wesentlichen auch mit der Auffassung des Verbandes. Demgegenüber bevorzugt die Kommission Mitbestimmung eine Ausweitung der tariflichen Kompetenzen im Rahmen des § 3 BetrVG (Bertelsnumn Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 92, 115). Siehe dazu auch Streek, JbArbR (1998), S. 21 (30). 214
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2. Kap.: Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit
seinen nur geringfügig flexiblen Organisationsbegriffen befindet, nämlich sämtlichen unterschiedlichen Unternehmensstrukturen in gleicher Weise gerecht werden zu müssen, löst der Tarifvertrag auf. Die Tarifvertragsparteien haben die Möglichkeit, mit firmenbezogenen Vereinbarungen auf die Kompetenz und Sachnähe der Betroffenen zurückzugreifen. Die Einbeziehung der Betriebspartner kann im Rahmen des Verfahrens zwingend vorgeschrieben werden, wie dies in § 3 Abs. 2 S. 2 BetrVG im Zuge des behördlichen Zustimmungsverfahrens bereits vorgesehen iSt. 216 Das Unternehmen ist als Vertragspartner oder Verbandsmitglied selber unmittelbar beteiligt. Sowohl die vertragschließende Gewerkschaft als auch der Arbeitgeber verfügen über Kompetenz im Umgang mit der Betriebsverfassung und können gewährleisten, daß eine am Zweck der Betriebsverfassung orientierte Gesamtkonzeption entsteht. Nicht zuletzt die Verbände können dabei dafür Sorge tragen, daß zusätzlich Rechtskenntnis in das Verfahren einbezogen ist. Die Tatsache, daß "beide Seiten" am Prozeß der Vereinbarung beteiligt sind, bringt ein hohes Maß an Rechtssicherheit mit sich, denn es ist nicht zu erwarten, daß die Arbeitgeberseite einen Tarifvertrag unterzeichnet, der ihren Interessen zuwiderläuft, und daß die Gewerkschaften etwas vereinbaren, das die Interessenvertretung der Arbeitnehmer schwächen würde. 217 Es wird also kaum vorkommen, daß eine der Beteiligten den Inhalt des Tarifvertrages vor Gericht in Frage stellt. Diese Rechtssicherheit besteht zudem bereits von Beginn an und nicht erst nach Ablauf oftmals sehr langwieriger Gerichtsverfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG oder im Rahmen einer Anfechtung. Einzig der Tarifvertrag ist in der Lage, gleichzeitig ein hohes Maß an Flexibilität, Sachnähe und Rechtssicherheit in die betriebsverfassungsrechtliche Organisationsstruktur zu bringen. Er ist das Instrumentarium, dessen Konzeption eine maßgeschneiderte Betriebsverfassung grundsätzlich ermöglicht, ohne daß dies auf Kosten der betriebsverfassungsrechtlichen Vorstellungen ginge. Wie oben ausführlich dargestellt,218 setzt das BetrVG diesem Instrument jedoch Grenzen und verengt damit auch seine Möglichkeiten der individuellen Gestaltung. Es ist zu prüfen, weIcher Spielraum den Tarifvertragsparteien mit den Öffnungsklauseln verbleibt und ob damit dem praktischen Bedürfnis nach tarifvertraglichen Regelungsmöglichkeiten hinreichend Rechnung getragen wird.
Kritisch hierzu Kreßel, AuA 1998, 145 (148). Gamillscheg, AuR 1989,33 (35); ders., FS-Molitor, S. 133 (143); Heither, FS-Schaub, S. 295 (305). 218 1. Kapitel § 1 C. S. 46 ff. 216
217
3. Kapitel
Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen Es ist eingangs dargestellt worden, daß es sich bei den Tatbeständen, welche auf eine Gestaltungsmöglichkeit der Organisations bestimmungen des BetrVG durch Tarifvertrag verweisen,l um Öffnungsklauseln handelt. Die Regelungsmöglichkeiten innerhalb der gesetzlichen Betriebsverfassung sind auf den Rahmen dieser Normen beschränkt. Im übrigen handelt es sich bei den Organisationsnormen des BetrVG um ebenso für die Tarifvertragsparteien zwingende Vorschriften. Damit stößt das praktische Bedürfnis einer individuellen Gestaltung durch Tarifvertrag sogleich an die Grenzen, welche die Tatbestände der Öffnungsklauseln ziehen. Soweit die Tarifpartner in deren Rahmen betriebsverfassungsrechtliche Normen setzen, machen sie von ihrer verfassungsrechtlich garantierten Befugnis Gebrauch, die Betriebsverfassung als Teil der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gestalten. 2 Es ist unrichtig, in diesem Zusammenhang von der Wahrnehmung einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung zu sprechen. 3 Die Ermächtigung zur tarifautonomen Normsetzung im Bereich der Betriebsverfassung ergibt sich bereits aus Art. 9 Abs. 3 GG, so daß eine Delegation staatlicher Rechtsetzungsbefugnis auf einfachgesetzlicher Grundlage gar nicht möglich wäre. 4 Selbst wenn man im Grundsatz der sog. Delegationstheorie 5 folgte, so ergäbe sich die Normsetzungsbefugnis bereits aus § I Abs. I TVG. Eine erneute Delegation durch die Zulassungsnormen des BetrVG wäre gar nicht erforderlich und kann daher nicht deren Regelungsgehalt sein. Die Öffnungsklauseln des BetrVG sind also keine "ErmächtigungsklauseIn" für die Tarifpartner. Sie lassen es vielmehr zu, daß diese von ihrer Rechtsetzungsbefugnis Gebrauch machen. Um den tariflichen Regelungsbereich im einzelnen abzustecken, sind die im BetrVG selbst enthaltenen Regelungen der eigentliche Maßstab. Wenn das Gesetz
1 §§ 38 Abs. I, 47 Abs. 4, 55 Abs. 4, 72 Abs. 4, 76 Abs. 8, 76a Abs. 5, 86 und 117 Abs. 2 S. I sowie insbesondere § 3 Abs. I BetrVG. 2 1. Kapitel § I A. I. S. 24 ff. 3 So aber Richardi, BetrVG Einl. RdNr. 139; Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 8. 4 1. Kapitel § I A. 11. S. 29 ff. s 1. Kapitel § I A. 11. S. 31.
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3. Kap.: GestaItungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
dem tatsächlichen Bedürfnis nicht Rechnung tragen kann, so ist dies auf dieser Ebene nicht von Belang.
§ 1 Kleinbetriebe Das Gesetz verlangt für die Errichtung eines Betriebsrats, daß in der Regel mindestens fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer ständig beschäftigt sind, von denen mindestens drei auch passiv wahlberechtigt sein müssen. Arbeitsstätten, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, können zwar begrifflich ein Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG sein. Es handelt sich jedoch um Klein- bzw. Kleinstbetriebe, die nicht betriebsratsfähig sind. Hintergrund dieser schon dem BetrVG 1952 (§ 8 Abs. 1) bekannten Regelung ist die Annahme, daß in Kleinbetrieben der Kontakt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern noch so stark und unmittelbar ist, daß etwaige Konflikte auch ohne ein Interessenvertretungsorgan der Arbeitnehmerseite bereinigt werden können. 6 Damit wird den Besonderheiten des kleinen Handwerks, des Kleinhandels und des Gaststättengewerbes Rechnung getragen. 7 In der praktischen Anwendung stellt sich die Frage, ob für solche Betriebseinheiten Interessenvertretungen auf tarifvertraglicher Basis geschaffen werden können, weniger für den Kleinbetrieb, der selbst das Unternehmen ausmacht, als für Kleinbetriebe, die einem größeren Verband von Betriebsstätten durch die Zusammenfassung in einem Unternehmen angehören. In einem solchen Fall kann man also aus Sicht des Unternehmens nicht mehr vom Kleinhandel sprechen. Gleichwohl ist beispielsweise in großen Einkaufszentren nach amerikanisehern Muster festzustellen, daß die - zwar rechtlich selbständigen - Einzelhandelsunternehmen in starkem Maße auch in betriebsverfassungsrechtlich relevanten Materien von den Zentrumsbetreibern auf Grund der Mietverträge abhängig sind. Diese Abhängigkeit äußert sich etwa darin, daß die Öffnungszeiten verbindlich vorgegeben werden. Daneben können gemeinsame Interessen der Beschäftigten in den Kleinunternehmen gegenüber der Leitung des Einkaufszentrums im Hinblick auf Sozialräume, sanitäre Einrichtungen sowie sonstige Arbeitsplatzbedingungen bestehen. 8 Aussagekräftige Erhebungen darüber, ob und in welchem Ausmaß die Unternehmenswirklichkeit betriebsverfassungsrechtliche Formen von Interessenvertretungen dieser Art kennt, liegen allerdings soweit ersichtlich - nicht vor. Dem strengen Gesetzeswortlaut nach blieben solche Kleinbetriebe vertretungslos, da § 1 BetrVG erkennbar nicht an die Zahl der Beschäftigten im Unternehmen, Gamillscheg, ZfA 1975,357 (366 f.); Birk, AuR 1978,226 (226). Gamillscheg, ZfA 1975,357 (367). Vgl. auch BAGE 50, 251 (256) = AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. 8 Beispiel: Das Oberhausener Einkaufszentrum "CentrO" umfaßt neben einem umfangreichen Freizeitpark und Gastronomiewirtschaft eine Gesamtverkaufsfläche von 70.000 qm. Von 210 Einzelhandelsbetrieben sind nur etwa 30 betriebsratsfähig. 6
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§ I Kleinbetriebe
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sondern im Betrieb anknüpft. Nicht wenige halten dieses Ergebnis für mit dem Sinn und Zweck der Kleinbetriebsklausel unvereinbar. § 1 BetrVG solle in erster Linie Kleinunternehmen mit nur einem Betrieb von der Betriebsverfassung ausnehmen. 9 Der Zweck der Betriebsverfassung, möglichst allen Arbeitnehmern den Schutz einer betrieblichen Interessenvertretung zukommen zu lassen, 10 gebiete es, Kleinbetriebe eines Unternehmens zu einem betriebsratsfähigen Betrieb zusammenzufassen. 1I Nach Auffassung des BAG gilt dies jedenfalls dann, wenn die nicht betriebsratsfähigen Betriebsstätten den gleichen arbeitstechnischen Zweck verfolgen. 12 Erfolgt eine Zuordnung an sich nicht betriebsratsfähiger Einheiten mit dieser Ansicht bereits auf gesetzlicher Grundlage, hätten gleichlautende tarifliche Regelungen jedenfalls klarstellende Funktion und dienten damit der Rechtssicherheit. Für alle übrigen Bereiche der Kleinbetriebe (namentlich dem Kleinunternehmen mit einer Betriebsstätte) könnten betriebsverfassungsrechtliche Vertretungen nur dann errichtet werden, wenn tarifvertragliehe Nonnen die Basis dafür bieten können. Es würde sich insoweit um rein tarifvertragliehe Vertretungen handeln.
A. Rechtliche Grundlagen Eine Tarifierungsbefugnis kann nur hinsichtlich solcher Materien bestehen, die entweder in den Bereich der Öffnungsklauseln fallen oder vom Geltungsbereich des Gesetzes gar nicht betroffen sind. Letzeres gilt, dies sagt das Gesetz selbst, beispielsweise für Flugbetriebe; § 117 Abs. 1 und 2 BetrVG. 13
9 BAGE 50, 251 (256) = AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972; Gamillscheg, ZfA 1975, 357 (367); Birk, AuR 1978, 226 (227); Richardi, BetrVG § I RdNr. 88; MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 33 ff.; Däubler I Kittner I Klebe- TrÜlnner, BetrVG § 4 RdNr. 66; aA Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 298 ff., 401; GK-BetrVG-Kra/t, § 4 RdNr. 52. 10 BAG AP Nr. 4 zu § 3 BetrVG 1952. 11 Nach Richardi (MünchArbR, § 30 RdNr. 34) knüpft § I BetrVG als konstituierende
Grundlagennonn zwar für die Interessenvertretung an den Betrieb und nicht das Unternehmen an. Daraus folge aber keine dem § 4 BetrVG entgegengesetzte Entscheidung des Gesetzgebers, kleinere Einheiten eines Unternehmens vertretungslos zu lassen. Dem ist zuzustimmen. Denn letztlich wird die innere Verbundenheit mehrerer Betriebsstätten eines Unternehmens durch die wirtschaftliche Verknüpfung gegenüber dem Unternehmen hergestellt. § 4 S. 2 BetrVG berücksichtigt aber nicht, daß Betriebe auch Hilfsfunktionen gegenüber dem Unternehmen ausüben können. Insoweit ist ein sachlicher Grund dafür, daß sie im Gegensatz zum Nebenbetrieb, der nach allgemeinem Verständnis eine Hilfsfunktion gegenüber einer anderen Arbeitsstätte erfüllt, betriebsratslos bleiben sollen, nicht ersichtlich. 12 BAGE 50, 251 (251 ff.) = AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. 13 Vgl. oben l. Kapitel § 2 A. V. S. 64.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
I. § 3 Abs. 1 BetrVG Als Öffnungsklausel des BetrVG kommt nur § 3 Abs. I BetrVG in Betracht. Hier scheitern alle drei Varianten des ersten Absatzes jedoch bereits im Ansatz. Nr. I ermöglicht die Errichtung zusätzlicher Vertretungen bestimmter Beschäftigungsarten und Arbeitsbereiche. Bei einer Interessenvertretung für einen oder mehrere Kleinbetriebe handelt es sich jedoch erkennbar nicht um eine zusätzliche Vertretung, da eine andere - gesetzliche oder tarifvertragliche - Vertretung gar nicht existiert, die zusätzliche Vertretung ihre Aufgaben aber nur in Zusammenarbeit mit einem Betriebsrat erfüllen könnte. Die Bestimmung setzt das Bestehen eines Betriebsrates mithin voraus. 14 Dies folgt aus dem gesetzlich bestimmten Aufgabenbereich der zusätzlichen Vertretung als ein die Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmern und Betriebsrat "zweckmäßiger" gestaltendes Organ. Stehen der Errichtung eines gesetzlichen Betriebsrates besondere Schwierigkeiten entgegen, kann mit Nr. 2 tarifvertraglich die Grundlage für eine andere Vertretung geschaffen werden. Die Bestimmung erfordert, daß die gesetzlichen Regelungen auf den Betrieb nicht passen oder wenigstens ungeeignet sind. 15 Der Gesetzgeber hat mit der Bestimmung für Luftbetriebe (§ 117 Abs. I BetrVG) selbst ein Beispiel gesetzt. Erforderlich sind organisatorische Besonderheiten, die im Betrieb selbst liegen, mit denen die organisatorischen Vorgaben des BetrVG nur schwer in Einklang zu bringen sind. Es geht aber nicht darum, daß das Gesetz deswegen von vornherein nicht anwendbar ist, weil der Betrieb nicht die Beschäftigtenzahl des § I BetrVG aufweist. Davon geht § 3 Abs. I BetrVG vielmehr zunächst aus, denn die zusätzliche Vertretung tritt an die Stelle des gesetzlichen Betriebsrats; vgl. § 3 Abs. 3 BetrVG. 16 Insoweit ist der Gesetzgeber einen anderen Weg gegangen als für Luftbetriebe, die er vertretungslos beläßt, soweit keine tarifvertragliche Bestimmung anderes ennöglicht. Bei Kleinbetrieben stehen der Errichtung von betriebsverfassungsrechtlichen Vertretungen nicht besondere Schwierigkeiten entgegen. Es entspricht vielmehr einer gesetzgeberischen Wertung, sie nicht in den Geltungsbereich der gesetzlichen Betriebsverfassung einzubeziehen. 17 Aus ähnlichem Grunde scheitert die dritte Variante des § 3 Abs. 1 BetrVG. Die Bestimmung geht davon aus, daß die zuordnungsfähige Betriebseinheit die Voraussetzungen des § 1 BetrVG erfüllt, also die erforderliche Beschäftigtenzahl auf14 Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 10, Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 23; Däubler/Kittner/Klebe-Trüntner, BetrVG § 3 RdNr. 21; GK-BetrVG-Kraji, § 3 RdNr. 14; Heither, FS-Schaub, S. 296 (307). IS Letztere Formulierung wählt Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 27. Später dazu ausführlich unten § 2 A. I. S. 144 ff. 16 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 28; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 23; GK-BetrVG-Kraji, § 3 RdNr. 19. 17 Gamillscheg, (FS-Molitor, S. 133 [142]) will über Nr. 2 den Weg zu einer Tarifierungsbefugnis für Kleinbetriebe eröffnen. Es handelt sich dabei - so scheint es - aber mehr um eine rechtspolitische Forderung. Eine juristische Begründung bleibt Gamillscheg schuldig.
§ I Kleinbetriebe
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weist, indem sie auf § 4 BetrVG verweist. Unabhängig von den Zuordnungskriterien des § 4 BetrVG werden Betriebsteile und Nebenbetriebe dem Hauptbetrieb zugewiesen, wenn es sich um sogenannte Betriebssplitter handelt. Eine Arbeitsstätte, die unter § 4 BetrVG fällt, kann also nie außerhalb der gesetzlichen Betriebsverfassung stehen. Unabhängig von der Frage, ob sich der Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auch auf selbständige Betriebe erstrecken läßt, ist also wenigstens erforderlich, daß die zuzuordnende Arbeitsstätte aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen alleine oder durch Zuweisung zu einer anderen Arbeitsstätte unter das BetrVG fällt. Dies ist bei Kleinbetrieben aber gerade nicht der Fall. 18
11. Allgemeine Normsetzungsbefugnis Die Antwort auf die Frage nach einer tariflichen Regelungsbefugnis kann damit nur aus dem Verhältnis der tarifautonomen Normsetzungsbefugnis hinsichtlich der betriebsverfassungsrechtlichen Materie zu deren gesetzlichen Kodifikation durch das Betriebsverfassungsgesetz gewonnen werden. 19 Grundsätzlich haben die Tarifvertragsparteien das verfassungsrechtlich (Art. 9 Abs. 3 GG) geschützte Recht, die Betriebsverfassung durch tarifliche Normen zu gestalten?O Davon geht auch § 1 Abs. 1 TVG aus. Dieses Recht wurde aber vom Gesetzgeber durch das BetrVG eingeschränkt, soweit er betriebsverfassungsrechtliche Materie zwingend geregelt hat. 21 Den Tarifvertragsparteien verbleibt damit eine Gestaltungsfreiheit im Bereich der Öffnungsklauseln, derjenigen Materie, für die das Gesetz nur Mindestbedingungen formuliert, und im Bereich betriebsverfassungsrechtlicher Sachverhalte, die durch das BetrVG gar nicht erfaßt werden. Damit hängt die Beantwortung von zwei ineinandergreifenden Fragen ab: Hat der Gesetzgeber mit § 1 BetrVG gleichzeitig ausgeschlossen, daß in Kleinbetrieben betriebsverfassungsrechtliche Vertretungen - etwa auf tarifvertraglicher Grundlage - gebildet werden, und wenn ja, konnte er dies? Bei der Frage der Legitimation einer solchen gesetzlichen Beschränkung der tarifautonomen Normsetzungsbefugnis müßte also nach einer verfassungsfesten Ermächtigung hierfür gesucht werden. 22 Es ist oben ausdrücklich offengelassen worden, ob das BetrVG die betriebsverfassungsrechtliche Organisation nicht nur zwingend, sondern auch abschließend ausgestaltet hat. 23 Bejaht man 18 Aus diesen Gründen scheidet auch eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG aus. Anders aber Dtto, Anm. zu BAG AP Nr. 28 und 29 zu § 99 BetrVG 1972. 19 Einen ähnlichen Weg geht Heither, FS-Schaub, S. 295 (307) indem er das Verhältnis Tarifvertrags- zum Betriebsverfassungsgesetz betrachtet. Da hier jedoch davon ausgegangen wird, daß sich die Normsetzungsbefugnis der Koalitionen nicht erst aus § I TVG, sondern unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG ergibt, geht es folglich um dessen Verhältnis zu Art. 9 Abs.3GG. 20 Siehe dazu oben 1. Kapitel § I D. S. 59 ff. 21 Siehe dazu oben I. Kapitel § I C. S. 46 ff. 22 Siehe dazu oben I. Kapitel § I B. III. S. 43 ff.
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3. Kap.: GestaItungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
nämlich letzteres, ist mit Ausnahme der gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Bereiche (Öffnungsklauseln) der Tarifautonomie kein Raum zur eigenen Gestaltung verblieben. Insoweit ist es widersprüchlich, das BetrVG als abschließende Regelung der Betriebsverfassung anzusehen, gleichzeitig jedoch anzunehmen, Kleinbetriebe fielen aus dem Anwendungsbereich des BetrVG heraus?4 Dafür, daß der Gesetzgeber mit § 1 BetrVG auch den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit versperren wollte, in Kleinbetrieben eine normative Grundlage betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungen zu schaffen, spricht § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG. Der Gesetzgeber hat Flugbetriebe vom Anwendungsbereich des BetrVG ausgenommen, aber gleichzeitig ausdrücklich erwähnt, daß für diese auf tarifvertraglicher Basis Vertretungen errichtet werden können. Daraus, daß eine solche Erwähnung für Kleinbetriebe unterblieben ist, könnte man schließen, daß § 1 BetrVG insoweit abschließend und zwingend ist und nicht nur regelt, wann eine Vertretung errichtet werden kann, sondern auch, daß in Kleinbetrieben eine Vertretung gleich auf welcher Grundlage - nicht errichtet werden daif. Es muß jedoch bezweifelt werden, daß der Gesetzgeber das gewollt hat. Es spricht mehr dafür, daß § 117 Abs. 2 S. 1 BetrVG nur klarstellende Funktion haben soll und deklaratorischer Natur ist. Damit steht diese Vorschrift nicht der Annahme entgegen, daß für alle Arbeitsstätten, die nicht unter den Geltungsbereich des BetrVG fallen, im Grundsatz Vertretungen durch Tarifvertrag errichtet werden können. 25 Wortlaut, Systematik und Sinn des § 1 BetrVG sprechen dafür, daß Kleinbetriebe zwar vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen, nicht jedoch, daß in diesen Arbeitsstätten eine Bildung von Vertretungen von vornherein ausschlossen sein sol1.26 § 1 BetrVG ist positiv formuliert. Er legt eine betriebliche Mindestgröße fest, ab der Betriebsräte auf Grundlage des Gesetzes gebildet werden können. Die Bildung von Betriebsräten bleibt nach dem Gesetz fakultativ?7 Es würde § 1 BetrVG also eine sinn überhöhende Bedeutung verleihen, wenn die Unmöglichkeit, eine Vertretung zu bilden, dagegen zwingend wäre. Die Vorschrift steht am Anfang des Gesetzes bei den allgemeinen Vorschriften, die in aller Regel auch den Anwendungsbereich eines Gesetzes festlegen. Damit kann § 1 BetrVG für Kleinbetriebe aus der systematischen Stellung heraus nicht mehr als die Bedeutung entnommen werden, daß das BetrVG für diese nicht gilt. Siehe dazu oben 1. Kapitel § 1 C. I. S. 52. So Heither, FS-Schaub, S. 295 (308 und 309). Ursache hierfür ist wohl, daß zwischen den Begriffen zwingend und abschließend teilweise nicht getrennt und ihnen die identische Bedeutung im Sinne von "nicht abänderbar" beigemessen wird (vgl. MünchArbR-vHoyningen-Huene, § 289 RdNr. 92). 25 Soweit sich nicht aus anderen Gründen (öffentlicher Dienst) etwas anders ergibt. 26 In diesem Sinne auch die herrschende Meinung GK-BetrVG-KraJt, § 1 RdNr. 26; Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § I RdNr. 253 f.; Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 1 RdNr. 26; Hueck, RdA 1962, 376 (380); ablehnend Galperin/ Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 22. 27 Richardi, BetrVG § 1 RdNr. 90. 23 24
§ 1 Kleinbetriebe
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Entscheidend ist jedoch der Nonnzweck. § 1 BetrVG stellt zum einen darauf ab, daß in Kleinbetrieben der enge Kontakt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Interessenvertretung entbehrlich macht. Hinzu kommt sicherlich, daß der Kleinunternehmer vor zu weitreichenden Rechten des Betriebsrats und seiner Mitglieder geschützt werden soll. Dies gilt insbesondere für den Kündigungsschutz des Betriebsrats, was in Kleinbetrieben dazu führen könnte, daß mehr als ein Vierte! der Belegschaft faktisch unkündbar wäre. Soweit jedoch der Arbeitgeber der nonnativen Grundlage der Betriebsvertretung zugestimmt hat - wie dies beim Tarifvertrag entweder durch Verbandsbeitritt oder durch Abschluß eines Finnentarifvertrages geschieht -, kann er sich auf seine Schutzwürdigkeit nicht mehr berufen. Für sämtliche freiwilligen und zwischen Arbeitgeber und Belegschaft frei gestalteten Betriebsvertretungsfonnen kann § 1 BetrVG somit keine Sperrwirkung entfalten. Dies gilt gleichennaßen für Vertretungen, die auf individual rechtlicher oder auf tarifvertraglicher Grundlage arbeiten. 28 § 1 BetrVG nimmt Kleinbetriebe daher nur vom Anwendungsbereich der gesetzlichen Betriebsverfassung aus, ohne die Tarifvertragsparteien aus ihrer Nonnsetzungsbefugnis zu verdrängen. Es handelt sich um einen vom Gesetzgeber freigelassenen Raum, der den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit offen hält, für Kleinbetriebe eine normative Grundlage für betriebliche Interessenvertretungen zu schaffen. 29 Unabhängig von dieser Erkenntnis wäre auch zweifelhaft, ob der Gesetzgeber die Tarifvertragsparteien überhaupt ausschließen könnte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Gesetz selbst keinen Schutz der Arbeitnehmer durch eine betriebliche Interessenvertretung in Kleinbetrieben vorsieht, wie dies beim BetrVG der Fall ist. Wie dargestellt, bedarf eine Verdrängung der Tarifvertragsparteien aus ihrer grundgesetzlieh geschützten Normsetzungsbefugnis im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG einer Legitimation durch verfassungsfeste Rechtsgüter. 3o Für die zwingende Ausgestaltung der Organisationsnonnen im BetrVG ergibt sich die Rechtfertigung aus dem Sozialstaatsprinzip und der Tatsache, daß Organisationsnonnen als "Gerüst" der materiellen Bestimmungen nicht dem Günstigkeitsprinzip zugänglich sind?l Eine vollständige Herausnahme der Kleinbetriebe aus der Betriebsverfassung läßt sich jedoch sicher nicht mit dem Sozialstaatsargument begründen. Hier ist eher das Gegenteil der Fall. Denn der Gesetzgeber als Adressat des Sozialstaatspostulats wäre im Grundsatz gerade dazu angehalten, allen Arbeitnehmern, also auch den in Kleinbetrieben beschäftigten, ein Mittel 28 Insoweit gelten, darauf wird stets verwiesen, aber auch nicht die Regeln des gesetzlichen Betriebsverfassungsrechts (FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 1 RdNr. 253 f.). 29 So im Ergebnis auch Heither; FS-Schaub, S. 295 (309); Fitting I Kaiser I Heither I Engels, BetrVG § 1 RdNr. 253; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 5 (anders noch Dietzl Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 8); Däubler/Kiuner/Klebe-Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 15; GK-BetrVGKraft, § 1 RdNr. 26; Däubler; Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 382; aA Galperinl Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 22. 30 Siehe dazu oben 1. Kapitel § 1 B. III. S. 43 ff. 3l Siehe dazu oben 1. Kapitel § 1 C. 11. S. 52 ff.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
zur Verfügung zu stellen, welches das Machtgefälle zwischen Unternehmer und Belegschaft auf betrieblicher Ebene abmildert. Daß er diesen Schutz mit dem BetrVG nicht installiert hat, läßt sich mit der Erwägung begründen, in Kleinbetrieben sei das Machtgefälle nur minimal und die gesetzlichen Bestimmungen engten die unternehmerische Autonomie daher unverhältnismäßig ein. Für vom Arbeitgeber mitgetragene Vereinbarungen kann dies dagegen nicht gelten, denn die unternehmerische Autonomie hört da auf, wo der Arbeitgeber sich eigenverantwortlich der tarifautonomen Gestaltung unterwirft. Dies tut er durch Abschluß eines Tarifvertrages als Partei oder durch Mitgliedschaft im vertragschließenden Arbeitgeberverband. Es ist daher mit der Verfassung vereinbar, Kleinbetriebe aus dem Geltungsbereich der gesetzlichen Betriebsverfassung herauszunehmen. Ohne verfassungsrechtliche Legitimation wäre es hingegen, es Arbeitgebern und Gewerkschaften zu verwehren, eigenständig eine Betriebsverfassung in Kleinbetrieben zu installieren. Dies gilt, solange der Gesetzgeber selbst eine Betriebsverfassung für Kleinbetriebe nicht vorsieht. Es sprechen also auch verfassungsrechtliche Erwägungen für eine Auslegung in dem Sinne, daß es den Tarifvertragsparteien offensteht, für Kleinbetriebe tarifvertragliche Grundlagen für betriebliche Vertretungen zu schaffen. 32
B. Gestaltungsformen Die Tarifierungsbefugnis ist damit für sämtliche Arbeitsstätten eröffnet, die wegen ihrer zu geringen Belegschaftsstärke nicht unter den Geltungsbereich des Gesetzes fallen. Damit kann zunächst sämtlichen Kleinstunternehmen mit einem Betrieb durch Tarifvertrag eine betriebliche Verfassung gegeben werden, die den Aufbau einer Interessensvertretungsstruktur für die Belegschaft vorsieht. Es wird dabei stets betont, daß es sich bei solchen Interessenvertretungen nicht um Betriebsräte im Sinne des Gesetzes handele. 33 Dies ist zweifellos richtig und bedarf kaum der Erwähnung, denn die Tarifierungsbefugnis besteht gerade aufgrund dieser Tatsache. Etwas zu kurz gegriffen ist es jedoch, dem BetrVG in diesem Zusammenhang eine Bedeutung ganz abzusprechen. Da der Tarifvertrag alleinige normative Grundlage dieser Vertretung ist, richten sich auch die Rechte und Pflichten des Organs und seiner Mitglieder ausschließlich nach ihm. Es ist den Tarifvertragsparteien im Hinblick auf ihre Gestaltungsfreiheit dabei nicht verwehrt, auf Bestimmungen des BetrVG Bezug zu nehmen, um auf diese Weise - freilich nur faktisch dem Gesetz Geltung zu verschaffen. 34 Enthält zudem die Vereinbarung Lücken, 32 Einer Genehmigung gemäß § 3 Abs. 2 BetrVG bedarf ein Tarifvertrag, der sich auf Kleinbetriebe bezieht nach richtiger allgemeiner Ansicht nicht. Vgl. Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 5; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 1 RdNr. 253; Däubler/Kittner/KlebeTrümner, BetrVG § 3 RdNr. 15; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 19. 33 Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 5; Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 1 RdNr. 253; GK-BetrVG-KraJt, § 1 RdNr. 26.
§ I Kleinbetriebe
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kann zu deren Schließung auf das Gesetz zurückgegriffen werden, wenn die Tarifvertragsparteien eine dem BetrVG entsprechende Betriebsverfassung installieren wollten. Das praktische Bedürfnis einer Betriebsverfassung im weitgehend autonomen Kleinstunternehmen - "Tante-Emma-Laden" - ist sicherlich gering und daher die weitere Diskussion hierüber entbehrlich. Bedeutung gewinnt der Kleinbetrieb jedoch, wenn er in organisatorischer, örtlicher oder arbeitstechnischer Hinsicht zu anderen Arbeitsstätten in Verbindung steht. In diesen Fällen können die betriebsübergreifenden Berührungspunkte ein gemeinsames Interesse der Belegschaften erzeugen, was den Wunsch nach einer Interessenvertretung aufkommen läßt. Dies kann beispielsweise in Einkaufszentren oder Ladenzeilen der Fall sein, wo oftmals organisatorisch eine enge Verbindung zwischen den Unternehmen besteht und für die Belegschaften die große räumliche Nähe mit dem Gefühl, "unter einem Dach" zu arbeiten, einen Bezug herstellt. Betriebsverfassungsrechtlich relevant ist der Kleinbetrieb ferner, wenn er zusammen mit anderen zu einem Unternehmen gehört. In diesen Fällen besteht durch die unternehmerische Zusammenfassung eine Verbindung der arbeitgeberseitigen Organisationsstruktur, die sich auf die Arbeitnehmer auswirken kann. Hier gelangen nun tarifvertragliche Vereinbarungen in den Bereich der gesetzlichen Bestimmungen über den Anwendungsbereich des BetrVG. Handelt es sich bei den Arbeitsstätten um Betriebsteile oder Nebenbetriebe, werden sie von § 4 BetrVG erfaßt und nehmen damit bereits an der gesetzlichen Betriebsverfassung teil. Die originäre Befugnis der Tarifvertragsparteien ist verdrängt. Wie gezeigt,35 sind selbständiger Betriebsteil, Nebenbetrieb und selbständiger Betrieb aber kaum voneinander abgrenzbar. Darüber hinaus befürworten nicht wenige, Kleinbetriebe eines Unternehmens stets zusammenzufassen, sie also dem BetrVG zu unterwerfen. 36 Es wäre daher kaum feststellbar, ob man sich noch im Raum originärer Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien oder bereits im Anwendungsbereich des BetrVG befindet. Dies ist unproblematisch, soweit die gesetzlichen Rechtsfolgen nur wiederholt werden. In diesem Fall hätten die tarifvertraglichen Bestimmungen deklaratorischen Charakter. Ein Widerspruch zu den zwingenden Vorschriften des Gesetzes kann demgegenüber dann entstehen, wenn der Tarifvertrag in das Ordnungsgefüge des Gesetzes eingreift und in materieller Hinsicht beispielsweise die Beteiligungsrechte schwächer formuliert, als sie vom Gesetz vorgesehen sind. Da die materiellen Bestimmungen der gesetzlichen Betriebsverfassung einer tarifvertraglichen Abschwächung nicht zugänglich sind, muß der Tarifvertrag 34 So auch Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 382; Däubler I Kittner I KlebeTrÜlnner, BetrVG § 3 RdNr. 15, die jedoch mit Recht wegen des strafrechtlichen Analogieverbotes im Hinblick auf die §§ 119 ff. BetrVG eine Ausnahme machen. 35 Siehe dazu oben 2. Kapitel § 2 A. S. 94 ff. 36 Richardi. BetrVG § 1 RdNr. 88; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 66; BAGE 50,251 = AP Nr. 28 zu § 99 BetrVG 1972 [mit zustimmender Anm. Otto] (bei Identität des arbeitstechnischen Zweckes).
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
sich insoweit am Gesetz orientieren. Entsprechend muß in Kleinbetrieben, wenn sie durch Tarifvertrag einer gesetzlich betriebsratsfahigen Einheit zugeschlagen werden sollen, auf die gesetzlichen Bestimmungen Rücksicht genommen werden. Dies geschieht im Tarifvertrag über eine Generalverweisung auf das BetrVG. Es wird nämlich mit dem Gleichbehandlungsgebot nicht vereinbar sein, die Beschäftigten aus dem Kleinbetrieb in diesem Fall anders zu behandeln als die Teilhaber an der gesetzlichen Betriebsverfassung?7 Daneben spricht die vergleichbare rechtliche Situation dafür, Tarifverträge in entsprechender Anwendung des § 117 Abs. 2 S. 2 BetrVG dem Genehmigungsvorbehalt des § 3 Abs. 2 BetrVG zu unterwerfen, wenn sie Kleinbetriebe gesetzlich betriebsratsfähigen Einheiten zuweisen oder die Zusammenarbeit mit den gesetzlichen Vertretungen regeln. Soweit diese Prämisse eingehalten wird, ist es aber auch unproblematisch, durch Tarifvertrag mehrere Kleinbetriebe eines Unternehmens zusammenzufassen, selbst wenn dies bereits nach dem Gesetz nach Teilen des Schrifttums der Fall sein soll. Mit der Meinungsgruppe, die Kleinbetriebe eines Unternehmens bereits mit dem Gesetz zu einer betriebsratsfähigen Einheit machen wollen,38 handelte es sich um tarifvertragliche Bestimmungen deklaratorischen Charakters. Lehnt man eine Zusammenfassung mit dem Gesetz ab,39 befindet man sich außerhalb des BetrVG und damit im originären Bereich der Normsetzungsbefugnis. Die Errichtung einer betriebsverfassungsrechtlichen Vertretung aufgrund Tarifvertrages wäre durch das Gesetz nicht ausgeschlossen. Der Tarifvertrag ist in diesem Fall konstitutiv. Insbesondere muß die Praxis keine Rücksicht darauf nehmen, ob die zu verbindenden Kleinbetriebe einen gemeinsamen arbeitstechnischen Zweck aufweisen, oder ob die Gemeinsamkeiten nur darin bestehen, daß sie alle einem Unternehmen dienen, indem sie dessen unternehmerischen Zweck fördern. Da sie unabhängig von diesen Voraussetzungen arbeiten können, sind die Tarifvertragsparteien so in der Lage, mit der Anwendung der starren und uneinheitlichen Begriffsbildung bestehende Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen. Eine umfassende Tarifierungsbefugnis besteht für alle die Arbeitsstätten, die aufgrund einer zu niedrigen Belegschaftszahl nicht unter den Geltungsbereich des BetrVG fallen. Es handelt sich dabei um eine originäre Normsetzungsbefugnis auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG. Sie besteht ohne Rücksicht darauf, ob Kleinbetriebe einem oder mehreren Unternehmen angehören. Die Rechte und Pflichten der tariflichen Vertretung richten sich grundsätzlich nach dem Tarifvertrag. Bei Berührungspunkten mit der gesetzlichen Betriebsverfassung - beispielsweise bei der Zuordnung eines Kleinbetriebes zu einer betriebsratsfahigen Ar37 Problematisch sind insoweit nur die Strafbestimmungen der §§ 119 ff. BetrVG. Mit Rücksicht auf Art. 103 GG (Analogieverbot) muß man wohl davon ausgehen, daß sie in dem zugeordneten Kleinbetrieb keine Geltung beanspruchen können, auch wenn der Betrieb, dem sie zugeordnet werden, dem Gesetz unterfällt. 38 Siehe Fn. 36. 39 So insbesondere GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 52; Zöllner/ Loritz. Arbeitsrecht, § 45 I 3c Fn. 9.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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beitsstätte - hat sich der Tarifvertrag nach den gesetzlichen Bestimmungen zu richten.
§ 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen Wie bereits das BetrVG von 1952 (§ 20 Abs. 3)40 läßt § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu, daß für Betriebe, in denen wegen ihrer Eigenart der Errichtung von gesetzlichen Betriebsräten besondere Schwierigkeiten entgegenstehen, ein Tarifvertrag die Errichtung einer anderen Vertretung vorsehen kann. Das Gesetz nimmt Betriebe, deren Organisation nur schwer oder gar nicht mit den organisatorischen Vorgaben des Gesetzes in Einklang zu bringen ist, also nicht von seinem Anwendungsbereich aus. Damit ist der Gesetzgeber erkennbar einen anderen Weg gegangen als bei Flugbetrieben von Luftfahrtunternehmen (§ 117 BetrVG), die er - aus gleichen Erwägungen 41 - von vornherein aus dem Geltungsbereich des BetrVG ausgeklammert hat. 42 Dies macht § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu einer konstitutiven Öffnungsklausel des Gesetzes. Die Praxis hat von dieser Bestimmung bislang nur in sehr geringem Umfang Gebrauch gemacht. 43 Im Baugewerbe haben wegen des häufigen Wechsels der Betriebsstätten und der weiten Streuung von Baustellen Sondergestaltungen der Betriebsverfassung unter der alten Vorschrift des § 20 Abs. 3 BetrVG 1952 eine gewisse Rolle gespielt. 44 Die besonderen Verhältnisse des Steinkohlebergbaus mit seinem Unter-Tage-Betrieb greift der Tarifvertrag über die Betriebsverfassung im rheinisch-westfälischen Steinkohlebergbau vom 12. Oktober 1976 auf. 45 Einen weiteren Bereich stellen Betriebe mit einer kontinuierlichen Personalfluktuation dar. 46 Im den Tarifregistern der Länder sind nur sehr wenige Tarifverträge nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG registriert; im Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung keine. 47 Vgl. dazu die Begründung BT-Drucks. 1/3585. BR-Drucks. 715170 S. 58 zu § 117. 42 Insoweit stößt die Regelung in § 117 BetrVG auch auf Kritik Däubler / Kittner / KlebeDäubler; BetrVG § 117 RdNr. 2 und 4 mwN. 43 FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 3 RdNr. 27. 44 Bis April 1972 galt der Tarifvertrag über die Betriebsverfassung in den Betrieben des Baugewerbes vom 30. 3. 1953. Dazu Cziczor; RdA 1952,246 (246 ff.); BAG AP Nr. I zu § 24 BetrVG 1972; AP Nr. 9 zu § 3 BetrVG 1952. 45 Dazu MünchArbR-Winteifeld, § 178 RdNr. 32; Föhr; RdA 1977,285 (285 ff.). 46 So sieht der Tarifvertrag zwischen einer Beschäftigungs- und Ausbildungsgesellschaft (KIBA GmbH) und der Gewerkschaft ÖTV die Bildung einer anderen Vertretung vor, da 90% der Beschäftigten nur im Rahmen von befristeten Arbeitsverträgen angestellt sind. Der Tarifvertrag wurde vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes SchIeswig-Holstein genehmigt und ist dort registriert. 47 Auskunft über Tarifverträge nach § 3 Abs. 1 BetrVG erteilt das beim Bundesminister für Arbei, und SoziaIordnung geführte Tarifregister (Am Burgweiher 56,53123 Bonn). 40 41
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
A. Anwendungsbereich des § 3 Abs.l Nr. 2 BetrVG Der Anwendungsbereich der Vorschrift und der hiermit eröffnete Umfang der Tarifmacht läßt sich letztlich nur durch eine Auslegung der Norm bestimmen. Diese richtet sich bekanntermaßen nach Wortsinn, Bedeutungszusammenhang, Historie und Telos des Gesetzes. 48 Zurückzutreten hat selbstverständlich all jenes, was nur Gegenstand einer rechtspolitischen Forderung ist. 49 Bei § 3 Abs. 1 BetrVG handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift: Der Grundsatz einer auch für die Tarifpartner zwingenden Organisation der Betriebsverfassung wird durchbrochen. In der Sache wird diese Regel durch § 3 Abs. 1 BetrVG ebenso nicht zur Ausnahme, denn der Inhalt der Öffnungsklausel bleibt insgesamt hinter dem organisatorischen Regelungskomplex des Gesetzes weit zurück. Verschiedentlich wird nun gesagt, Ausnahmevorschriften seien von vornherein eng auszulegen und einer analogen Anwendung nicht fähig. 5o In diesem Sinne fordert Adomeit bei Hanaul Adomeit, die Grenzen des § 3 BetrVG "genau einzuhalten".51 In dieser Allgemeinheit kann diese Auslegungsregel jedoch keine Geltung beanspruchen. 52 Der Inhalt der Ausnahme kann nämlich auch erst mit einer Auslegung der entsprechenden Bestimmung ermittelt werden. Diese richtet sich nach den al1gemeinen Kriterien. 53 Hieraus ergibt sich aber nicht zwangsläufig ein von vornherein zurückgedrängter Anwendungsbereich.
I. Betriebsbezogene Regelungen Die zweite Variante des § 3 Abs. 1 BetrVG ermöglicht zunächst Regelungen durch Tarifvertrag, die sich auf einen "Betrieb" im Sinne des BetrVG beziehen. Dies erfaßt al1 jene Arbeitsstätten, die nach den §§ 1 und 4 BetrVG eine betriebsratsfähige Einheit bilden. 54
48 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 320 ff.; Gast, Juristische Rhetorik, S. 101 ff.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 47 ff. 49 Diesen Eindruck erwecken nicht wenige Stellungnahmen zu diesem Thema. Zwischen dem was rechtlich möglich und rechtspolitisch erwünscht ist, wird dabei nicht immer sorgfältig getrennt. V g!. dazu etwa Gamillscheg, FS-Molitor, S. 133 (133 ff.). Siehe als kürzlich erschienene Stellungnahme zu § 3 BetrVG: Trümner; JbArbR Bd. 36 (1998), S. 59 (68 ff.). 50 .. Exceptiones sunt strictissimae interpretandae". Hierzu MünchKomm-Säcker; BGB Ein!. RdNr. 102 f. mwN. 51 Hanau/ Adomeit, Arbeitsrecht, S. 114. Hanau (NZA 1993, 817 [818)) betrachtet § 3 BetrVG insoweit als "gesetzliche Zwangsjacke" und plädiert für einen Abbau des zwingenden Organisationsrechts. 52 So heute die hM. BAG AP Nr. I und 4 zu § 81 BetrVG 1972; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 355; MünchKomm-Säcker; BGB Ein!. RdNr. 102. 53 Larenz. wie vor, S. 356.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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J. Zum Begriff .. Eigenart" des Betriebes
Die Vorschrift verlangt, daß die besonderen Schwierigkeiten in der Eigenart der Betriebe begründet sind. Aus der verwendeten Mehrzahl hat die lange Zeit herr-
schende Meinung den Schluß gezogen, daß diese Schwierigkeiten allgemeiner Art sein müßten und nicht nur einen bestimmten Betrieb betreffen dürften. 55 Das Merkmal sei branchenspezifisch zu verstehen. 56 Diese Auffassung stützt sich lediglich auf den Wortlaut und die amtliche Begründung, in der beispielhaft auf Baustellendelegierte verwiesen wird. 57 Dies vermag jedoch nicht zu überzeugen. Auch die anderen Varianten des § 3 Abs. 1 BetrVG verwenden stets die Mehrzahl; ob es nun um "Vertretungen" oder die "erfaßten Betriebe" geht. Daraus wird dort aber keinesfalls gefolgert, daß die Regelungsbefugnisse nur allgemein bestehende Schwierigkeiten bei der Gestaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation aufgreifen. Der Plural ist nur Resultat der Abfassung des Gesetzes als abstraktgenerelle Regelung für eine Vielzahl von Sachverhalten. Ähnlich ist es mit der Eigenart. Der Wortsinn beschränkt sich keineswegs auf branchenübergreifende Besonderheiten, denn organisatorische Eigenarten können auch auf einzelne Betrieben bezogen sein. So ist es nicht einmal notwendig, daß in dem in den Materialien genannten Beispiel des Baustellengewerbes die Schwierigkeiten in allen Bereichen oder dem überwiegenden Teil dieser Branche auftreten. Einzelnen ,,Branchen" wohnt nämlich nicht notwendigerweise eine bestimmte Gestaltung der betrieblichen Organisationsprozesse und Arbeitsabläufe durch den Unternehmer inne, die mit den Vorstellungen des Gesetzes nicht in Einklang zu bringen wäre. Mit dem Wortlaut läßt sich mithin die Streitfrage nicht klären. Er spricht jedenfalls nicht dagegen, daß es ausreicht, wenn die besondere Eigenart in nur einem einzelnen Betrieb vorliegt. Ansonsten hätte das Gesetz von "allgemeinen" Eigenarten oder "allen Betrieben gleicher Art" sprechen müssen. 58 Die vorzugswürdige - und offensichtlich im Vordringen befindliche - Ansicht stellt auf die Eigenart des einzelnen Betriebes ab. 59 Hierfür spricht schon, daß sich 54 Dies ist unstreitig. Uneinheitlich wird es jedoch beantwortet, ob auch betriebs- und unternehmensübergreifende Regelungen von dieser Vorschrift gedeckt sind. Dazu sogleich unter 11. S. 149 ff. 55 Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 23; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 21; Hess/Schlochauerl Glaubitz-Hess. BetrVG § 3 RdNr. 4; Weiss/Weyand. BetrVG § 3 RdNr. 8; ungenau Fitting/ Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 29; Schaub. Arbeitsrechts-Handbuch, § 216 ßl2. 56 GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 21; ErfurterKomm-Eisemanll, BetrVG § 3 RdNr. 3; Schaub. Arbeitsrechts-Handbuch, § 216 III 2: Die Schwierigkeiten müssen in allen Betrieben des entsprechenden Wirtschaftszweiges auftreten. 57 BT-Drucks. VI 11786, S. 36. 58 Hierauf weisen Galperin/ Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 16 zutreffend hin. 59 Gamillscheg. FS-Molitor, S. 133 (142); ders .• Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 VII 4 b (I) S. 602 f.; Heither; FS-Schaub. S. 295 (302 f.); Kempell, FS-Schaub. S. 357 (367 f.); Kempen/Zachert, TVG § 1 RdNr. 277; Däubler; Tarifvertragsrecht, RdNr. 1038; Galperin/ Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 16; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 30;
10 Wi6mann
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3. Kap.: GestaItungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
mit dem oben Gesagten keine Argumente finden lassen, die eine enge Auslegung aufgrund des Wortlautes begründen würden. Überdies ist es Sinn und Zweck des § 3 BetrVG, eine möglichst umfassende Errichtung von betrieblichen Interessenvertretungsstrukturen zu ennöglichen. Der Gesetzgeber war sich bewußt, daß die Umsetzung der gesetzlichen Strukturen zum Teil erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. In diesen Fällen soll mit § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG durch die Tarifpartner Abhilfe geleistet und verhindert werden, daß diese Schwierigkeiten die Arbeitnehmer dazu veranlassen, einen Betriebsrat erst gar nicht zu errichten, weil sie Defizite bei der Arbeit des Vertretungsorgans befürchten. Dabei kann es keine Rolle spielen, in welcher Verbreitung die Schwierigkeiten zu verzeichnen sind, wenn es das Ziel ist, möglichst jedem Betrieb - und nur hierauf stellt das BetrVG schon mit § 1 ab - den Schutz der Betriebsverfassung zukommen zu lassen. Es gibt keine sachlichen Erwägungen, die dafür sprechen würden, dem einzelnen Betrieb, wenn er ansonsten die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, eine sachgerechte Anpassung an die besonderen Verhältnisse zu versagen. 60 Das Gesetz enthält keine Aussage, die in diese Richtung ginge. Ferner nimmt § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG Finnentarifverträge oder finnenbezogene Verbandstarifverträge nicht aus. 61 Hätte der Gesetzgeber nur branchenweite Besonderheiten aufgreifen wollen, hätte es nahegelegen, nur unternehmensübergreifende Regelungen durch Verbandstarifvertrag zuzulassen. Denn es würde keinen Sinn machen, tarifvertragliehe Gestaltungen auf bestimmte Betriebe einer Branche zu reduzieren, wenn das einheitliche Auftreten betrieblicher Eigenarten in einer gesamten Branche maßgeblich sein sollte. Dieses Auslegungsergebnis kann allerdings nicht auch auf verfassungsrechtliche Erwägungen gestützt und eine großzügige Beurteilung der Voraussetzungen im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gewährleistete Tarifautonomie begründet werden. 62 Das Nonnsetzungsrecht der Tarifpartner wurde durch das BetrVG in zulässiger Weise eingeschränkt. 63 Eine verfassungskonfonne Auslegung, die eine Erweiterung des Tarifierungsbereiches zur Folge hätte, kann daher nicht Platz greifen. Hierfür wäre vielmehr erforderlich, daß die Bestimmung mit einem verfassungsmäßigen Prinzip in Widerspruch steht. 64 Des weiteren berufen sich Vertreter des diesseitigen Auslegungsergebnisses unnötigerweise auf § 117 Abs. 2 BetrVG. Dieser spreche nicht von Arbeitnehmern "der" Luftfahrtunternehmen, sondern von Arbeitnehmern "von" solchen Unternehmen. 65 Zwar ist es richtig, daß die BestimBlank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 170 f. 60 Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 171. 61 V gl. Kempen, wie vor. 62 So aber Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 29. 63 Dazu oben I. Kapitel § I C. 11. S. 52 ff. 64 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 339. 65 Galperin/ Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 16; Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 171.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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mung demnach hinsichtlich der tarifvertraglichen Gestaltung auf den einzelnen Betrieb abhebt. Dies sagt jedoch nichts darüber aus, inwieweit auch die Besonderheiten nur beim einzelnen Betrieb vorliegen müssen. Flugbetriebe sind nämlich gerade ein Fall, in dem alle Arbeitsstätten (die Flugzeuge) die Besonderheiten einer nicht ortsgebundenen Art der Tatigkeit aufweisen. 66 Das von der vorderst genannten Meinung verlangte Merkmal der "Betriebe gleicher Art" ist hier gerade erfüllt. Als Ergebnis ist demnach festzuhalten, daß § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG auf die Eigenart des einzelnen Betriebes abstellt. Es ist nicht erforderlich, daß die organisationsspezifischen Eigenarten gleicherweise in anderen Betrieben oder in einer gesamten Branche zu verzeichnen sind.
2. Die entgegenstehenden besonderen Schwierigkeiten bei der Errichtung
Weiter verlangt das Gesetz, daß besondere Schwierigkeiten bestehen, die es den Tarifvertragsparteien erlauben, eine abweichende Vertretungsstruktur zu schaffen. Da die Schwierigkeiten bei "der Errichtung" von gesetzlichen Betriebsräten bestehen müssen, ist zunächst zu bestimmen, was mit dem Begriff "Errichtung" gemeint ist. Erst daraufhin kann beantwortet werden, welcher Art die "besonderen Schwierigkeiten" sein müssen. Der Begriff "Errichtung" deutet zunächst daraufhin, daß damit auf die Durchführung einer Betriebsratswahl verwiesen werden soll. Die Schwierigkeiten müßten mithin in der Anwendung der gesetzlichen Wahlbestimmungen des BetrVG und der Wahlordnung begründet sein. Nicht gemeint sein kann damit, daß wegen des sehr hohen Grades an Formalismus die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu kompliziert und aufwendig erscheint, denn dies würde im Ergebnis auf alle Betriebe zutreffen. Konstellationen, in denen bereits die Durchführung der Wahl selbst erhebliche (technische) Probleme bereitet, ohne daß dies nur auf den Formalismus zurückzuführen wäre, sind jedoch kaum denkbar. Auch bei den vom Gesetzgeber und den Kommentaren genannten Beispielen stehen andere Probleme im Vordergrund. Im Unter-Tage Bergbau sieht sich der Wahlvorstand nicht anderen Problemen gegenüber als in anderen Großunternehmen auch. Die Aufteilung in Unter- und Übertagebetrieb stellt nur den gewählten Betriebsrat vor erhebliche Kommunikationsprobleme. 67 Im Baustellengewerbe hat man die betriebsverfassungsrechtliche Struktur wegen der dezentralen Anordnung und örtlichen Fluktuation der Arbeitsstätten in ständige Vertretungen und Baustellendelegierte aufgeteilt. Dies spricht dafür, daß auch hier Probleme im Vordergrund stehen, mit denen der Betriebsrat bei der Amtsausübung und nicht der Wahlvorstand konfrontiert ist. 66 Hierauf hat der Gesetzgeber die Herausnahme der Flugbetriebe aus der gesetzlichen Betriebsverfassung auch gestützt; vgl. BR-Drucks. 715170 S. 58 zu § 117. 67 Föhr, RdA 1977,285 (287).
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Starke Arbeitnehmerfluktuation und Dezentralisierung von Betriebsstätten sind folglich weniger ein technisches Problem der Betriebsratswahl als vielmehr der späteren Funktionsfähigkeit des gewählten Gremiums. 68 Im übrigen würde auch eine mögliche Anpassung der Wahl vorschriften nichts daran ändern können, daß eine Wahl überhaupt durchgeführt werden muß, an der jeder Beschäftigte beteiligt ist und die demokratischen Grundsätzen Rechnung trägt. Dies erfordert regelmäßig ein nicht geringes Maß an organisatorischem Aufwand. Dies legt eine Interpretation des Begriffs nahe, welche im wesentlichen auf den der Betriebsratswahl nachfolgenden Zeitraum abstellt. Erkennbar soll § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG verhindern, daß betriebliche Besonderheiten die Errichtung einer betrieblichen Interessenvertretung vereiteln. Lieber nimmt das Gesetz die zwingende Kodifizierung in Teilbereichen zurück und ermöglicht ein Eingreifen der Tarifvertragsparteien, bevor eine Arbeitsstätte vertretungslos bleibt, (nur) weil die gesetzlichen Vorgaben auf die abweichenden Begebenheiten in dem Unternehmen nicht passen. Indem die Bestimmung "besondere Schwierigkeiten" verlangt, kommt jedoch zum Ausdruck, daß die "Schmerzgrenze" relativ hoch anzusiedeln ist und ein Abweichen nicht bereits bei jedem Problem gestattet sein soll. Die Verbindung mit dem Begriff der "Errichtung" ergibt sich folgendermaßen: Kennzeichnet einen Betrieb eine besondere strukturelle Eigenart, welche die Funktionsfähigkeit eines gesetzlichen Betriebsrates nicht gewährleisten kann, wird die Belegschaft von dessen Errichtung oftmals absehen oder der bereits installierte Betriebsrat seine Arbeit als wenig effektiv begreifen und möglicherweise einstellen. Der Begriff "Errichtung" meint somit nicht, daß die Belegschaft keinen Betriebsrat bilden kann, sondern, daß sie von der Errichtung einer betrieblichen Interessenvertretung absieht, weil eine effektive und sinnvolle Betriebsverfassung auf der gesetzlichen Grundlage nicht möglich erscheint. Die Tatsache, daß diese Erkenntnis auch erst nach der Errichtung eines gesetzlichen Betriebsrates aufkommen kann, greift § 3 Abs. 3 BetrVG auf, der davon ausgeht, daß ein Betriebsrat bereits besteht und die tarifvertragliche Vertretung ihn noch während der gesetzlichen Wahlperiode (§ 13 Abs. 1 BetrVG) ablöst. Insoweit geht die Bestimmung davon aus, daß sich die Schwierigkeiten nicht bereits dem Wahlvorstand stellen müssen, sondern möglicherweise erst den Betriebsrat konfrontieren. Der Begriff ,,Errichtung" umfaßt folglich gleichzeitig Wahl und Funktion der betrieblichen Interessenvertretung. 69 Diese Interpretation steht dem Zweck der Norm am nächsten.
68 Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 172. 69 Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 172; Wendeling-Schröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 153; Konzen, Unternehmensaufspaltungen und Organisationsänderungen im Betriebsverfassungsrecht, S. 124; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 VII 4 b) (1). Im übrigen Schrifttum wird diese Frage - soweit ersichtlich - nicht erörtert.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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Anhand dieses Begriffsverständnisses muß die Voraussetzung der "besonderen Schwierigkeiten" interpretiert werden. Die Funktionsfähigkeit eines Betriebsrates nach den gesetzlichen Vorstellungen steht dann in Frage, wenn die Zielsetzungen der Betriebsverfassung nicht erreicht werden können oder deren Verwirklichung die Umgehung gesetzlicher Bestimmungen erfordert. Zu den Zielsetzungen gehört insbesondere eine arbeitnehmernahe und effektive Wahrnehmung der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte. Dies wiederum erfordert, daß die gesetzlichen Bestimmungen auf die vorgefundene organisatorische Struktur des Betriebes nicht paßt. Das Merkmal ist demgemäß dann erfüllt, wenn bei Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben eine funktionsfähige Betriebsverfassung nicht entstehen kann oder die Funktionsfähigkeit in erheblichem Maße eingeschränkt ist. Daß nicht jede Reduktion ausreichend ist, macht das Erfordernis der .. besonderen Schwierigkeiten" deutlich. Bloße Zweckmäßigkeitsüberlegungen erfüllen diese Voraussetzung nicht. 7o Eine beachtliche Eigenart der Arbeitsstätte liegt also dann vor, wenn eine betriebliche Besonderheit das Funktionieren der gesetzlichen Betriebsverfassung in erheblichem Maße einschränkt. Die betriebliche Besonderheit muß in dem Betrieb selbst begründet sein. Unerheblich ist dabei jedoch, ob diese bereits aus dem arbeitstechnischen Zweck folgt oder andere Ursachen hat. Ausreichend ist, daß sich die gesetzliche Betriebsverfassung einer Betriebsstruktur gegenüber sieht, die es den Belegschaften nur unter Inkaufnahme erheblicher Defizite ermöglichen würde, eine Interessenvertretung zu installieren.
11. Betriebs- und unternehmensübergreifende Regelungen
Von großem praktischen Interesse ist die Frage, ob sich der Anwendungsbereich der Nr. 2 gleichfalls auf die Bereiche der Betriebsverfassung erstreckt, die instanziell der betrieblichen Interessenvertretung übergeordnet sind. Beschränkte man die Tarifierungsmöglichkeiten dieser Bestimmung auf den Betrieb, so stünde die Gestaltung zwar innerhalb dieser Organisationseinheit offen. 71 Der Betrieb bildete jedoch die Obergrenze, was die Errichtung von tariflichen Vertretungen auf Unternehmens- und Konzernebene verschließen würde. Verneint man eine solche Beschränkung, gelangt man zu der weiteren Frage, ob sich die überbetrieblich angebundenen tariflichen Gremien hinsichtlich ihrer organisatorischen Zuordnung an die gesetzlichen Vorgaben des Unternehmens- bzw. Konzernbegriffes zu halten haben oder sich von diesen lösen können; der Tarifvertrag die Gremien also nur dort 70 Wendeling-Schräder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 153. Weitergehend offenbar Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RelNr. 34, die den Sinn der Nr. 2 darin sehen, "die Interessenvertretung insgesamt [zu] erleichter{n]" (Hervorh. durch Verf.). 71 Dazu unten III. I. S. 156 ff.
ISO
3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
ansiedeln darf, wo auch das BetrVG den Gesamt- und Konzernbetriebsrat instanziell anordnet. Die Verneinung letzeres hätte die weitreichende Folge, daß, sofern die übrigen Voraussetzungen der Bestimmung vorliegen, die gesamte gesetzliche Vertretungs struktur durch eine tarifliche ersetzbar wäre.
1. Wortsinn
Für eine Beschränkung des Anwendungsbereiches auf die betriebliche Ebene spricht zunächst die Verwendung des Begriffes "Betriebe" und die Bezugnahme auf die Errichtung von "Betriebsräten".72 Der Wortsinn 73 als Bedeutung der Begriffe ist im Hinblick auf den Sprachgebrauch des BetrVG eindeutig: Der Betrieb ist als kleinste organisatorische Einheit des Gesetzes Anknüpfungspunkt des Betriebsrates als Grundstufe der Betriebsverfassung. Die Verknüpfung von Betrieb und Betriebsrat ist zwangsläufig und bestimmt so die instanzielle Zuordnung der ersten Stufe der Betriebsverfassung. Gleichzeitig kennt das Gesetz für die weiteren Vertretungsstufen den Begriff des Unternehmens und Konzerns, so daß deren Aussparung in § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG den Wortsinn der dort verwendeten Begriffe auf die Ebene des Betriebs beschränkt. In diesem Sinne neigte auch das Bundesarbeitsgericht dazu, den insoweit gleich formulierten Vorläufer - § 20 Abs. 3 BetrVG 1952 - zu interpretieren,74 indem es den Tarifvertragsparteien versagte, bei der Bildung anderer Vertretungen nicht auf den Betriebsbegriff abzustellen. 75 Auf diese Entscheidung wurde sodann oftmals für eine derartige Auslegung bezug genommen,76 ohne daß berücksichtigt worden wäre, daß das Gericht die Entscheidung hierüber letztlich dahinstehen lassen konnte und die Fragestellung nur darauf gerichtet war, ob Gestaltungen zulässig seien, wie sie mit dem BetrVG 1972 durch § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG nunmehr offenkundig anerkannt sind. 77 Dafür, daß bereits der Wortsinn nur "untechnisch" im Sinne von Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat verwendet worden sei,78 läßt sich in der Vorschrift selbst keine 72 Mit dieser Begründung wird von der (noch) überwiegenden Meinung eine enge Auslegung vertreten. Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RdNr. 34 (bis einseh!. 18. Aufl.); Hesst Schlochauer tGlaubitz-Hess. BetrVG § 3 RdNr. 4; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 19 ff.; ErfurterKomm-Eisemann. BetrVG § 3 RdNr. I und 3; Konzen. Unternehmensaufspaltungen und Organisationsänderungen im Betriebsverfassungsrecht, S. 124; differenzierend Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 31 f. 73 Dazu Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 320 ff. 74 BAG AP NT. 9 zu § 3 BetrVG 1952 (mit insoweit zust. Anm. von Küchenhoff) = RdA 1969,58. 75 Vg!. Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 31. 76 Vg!. Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 31; Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 34 (18. Aufl.; [anders 19. Aufl.]). TI Dies kritisieren auch Blank/Blanke u. a .• Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 173. 78 Wendeling-Schröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 153.
§ 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen
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Begründung finden. Vielmehr deutet gerade die Kenntnis des Gesetzes von den anderen Organen eher das Gegenteil an. Der Wortsinn spricht mithin für eine enge Auslegung der Norm und für eine Begrenzung ihres Regelungsgehaltes auf betriebsbezogene Vertretungen.
2. Bedeutungszusammenhang
Die dritte Variante des § 3 Abs. I BetrVG erlaubt es ausdrücklich, die Zuordnungskriterien im Hinblick auf § 4 BetrVG abweichend zu regeln. Dadurch können andere als die vom Gesetz vorgesehenen Zuständigkeiten für Arbeitsstätten geschaffen werden und letztlich auch eine Änderung der gesetzlichen Vertretungsstruktur dahingehend bewirkt werden, daß auf horizontaler Ebene eine Verschiebung der Organe stattfindet. Auf diese Weise macht § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß das Gesetz darüber entscheidet, weIches betriebsverfassungsrechtliche Organ für weIche Arbeitsstätte(n) zuständig ist. Bestimmt nun die dritte Variante des § 3 BetrVG die Voraussetzungen, unter denen derartige Organisationsverschiebungen stattfinden dürfen, legt dies den Schluß nahe, daß diese Regelung abschließend ist und ähnliche Veränderung im Hinblick auf Betriebs-, Unternehmens- und Konzernbegriff durch die vorstehenden Varianten des § 3 Abs. I BetrVG nicht ermöglicht werden sollen. Mit diesem Verständnis wäre § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG die einzige Öffnungsklausel, die eine Modifizierung der Betriebseinheit - wenigstens bezüglich § 4 BetrVG - als einer der drei Organisationseinheiten zuließe. Eine Modifikation dieser und der anderen Organisationseinheiten wäre außerhalb der Nr. 3 ausgeschlossen. Aus dem Bedeutungszusammenhang von Nr. 2 zu Nr. 3 ergäbe sich mithin die Erkenntnis, daß allein letztere für eine Änderung der Organisationsbegriffe durch die Tarifpartner einschlägig ist. Die Grenzen des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG dürften nicht durch die Schaffung einer anderen Vertretung auf der Grundlage des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ausgeweitet werden. Entscheidend gegen einen solchen Schluß aus der systematischen Stellung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG spricht jedoch, daß bei dieser Bestimmung durch die Voraussetzung der "besonderen Schwierigkeiten" die Eingangsschwelle bereits von vornherein bedeutend höher liegt als bei § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, wo "Erleichterungen" ausreichend sind. Der Anwendungsbereich beider Öffnungsklauseln ist damit wesensverschieden, was eine vergleichende Interpretation ausschließt. Aus dem Bedeutungszusammenhang mit den übrigen Varianten des § 3 Abs. 1 BetrVG kann daher für die erörterte Fragestellung keine Erkenntnis gewonnen werden.
3. Legislative Begründung
Auch wenn man amtlichen Gesetzesbegründungen bei der Auslegung keine übersteigerte Bedeutung beimessen kann,19 ist es in diesem Zusammenhang inter-
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
essant, daß in der Begründung des Regierungsentwurfes zum BetrVG ausdrücklich von den im "Gesetz vorgesehenen Vertretungen" die Rede ist, die durch "andere Vertretungen" ersetzt werden können. Ho Der neutrale Begriff der "Vertretungen" in der Mehrzahl - umfaßt sämtliche dem BetrVG bekannten Vertretungsorgane, Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat. Zwar ließe sich anführen, die Möglichkeit, andere Vertretungen zu errichten, meine nur die Gestaltungsvariante, daß innerhalb eines Betriebes eine mehrstufige Vertretungsstruktur geschaffen werden könne. Dies erklärt jedoch nicht, warum zudem die im Gesetz bereits vorgesehenen Vertretungen in der Mehrzahl angesprochen werden, denn das BetrVG kennt auf betrieblicher Ebene nur eine Vertretungsstufe, den Betriebsrat. Das Verständnis des historischen Gesetzgebers spricht für eine über die betriebliche Ebene hinausgehende Auslegung des § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG. Damit ist jedoch noch nicht beantwortet, inwieweit die tariflichen Regelungen neben der Art der Vertretung auch dessen instanzielle Zuordnung eigenständig bestimmen können.
4. TeLeoLogischer Norminhalt Hintergrund der durch § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG geschaffenen Möglichkeit, die gesetzliche durch eine andere - tarifliche - Vertretungsform zu ersetzen, ist die Erkenntnis, daß die Vorgaben des BetrVG mit seinem festgelegten OrganisationsmodeIl in der Praxis auf erhebliche Anpassungsschwierigkeiten stoßen können. Um dem allgemeinen Ziel der Betriebsverfassung, eine möglichst flächendeckende und effektive Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu installieren, auch in den Unternehmen gerecht werden zu können, die durch strukturelle Eigenarten gekennzeichnet sind, nimmt das Gesetz seine zwingende und abstrakte Ausgestaltung zugunsten von tariflichen Einzelfallregelungen zurück. Der Sinn der zwingenden Ausgestaltung des Gesetzes geht nicht so weit, daß die Errichtung von betrieblichen Interessenvertretungen deswegen ganz verhindert wird oder eine sinnvolle Betriebsratsarbeit nur eingeschränkt möglich ist. Es gilt einen gerechten Ausgleich zwischen dem Geltungsanspruch des Gesetzes und effektiver Interessenvertretung herzustellen. Auch wenn hier § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG durch das Merkmal der "besonderen Schwierigkeiten" und den Zustimmungsvorbehalt des Abs. 2 eine große Zurückhaltung des Gesetzes signalisiert, wenn es darum geht, seinen Geltungsanspruch zur Disposition zu stellen, ändert dies nichts an der grundsätzlichen Zielsetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG, in den Fällen, in denen es erforderlich ist, eine 79 lArenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 329 weist zu Recht darauf hin, daß es sich hierbei in der Regel nur um Normvorstellungen von Ministerialbeamten handelt. Anders Engisch. Einführung in das juristische Denken. S. 95. der davon ausgeht. daß eine Volksvertretung "denjenigen Sinn akzeptiert, den die eigentlichen Gesetzesverfasser dem von ihnen erarbeiteten gesetzlichen Text mit auf den Weg gegeben haben und den sie in der "Begründung" kund getan haben". 80 BT-Drucks. VII 1786. zu § 3 S. 36.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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vom Gesetz abweichende Vertretungsstruktur zu erlauben. Wie oben dargestellt, eröffnet sich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung zunächst dann, wenn eine betriebliche Besonderheit das Funktionieren der gesetzlichen Betriebsverfassung in erheblichem Maße einschränkt. Nun können sich Defizite bei der Anwendung des gesetzlichen Organisationsstatuts auch über die Einheit des Betriebes hinaus auf überbetrieblicher oder unternehmensübergreifender Ebene ergeben. Man denke hier nur an spartenorganisierte, divisionalisierte Unternehmensformen. 81 Eine Beschränkung auf den Betrieb als kleinste Einheit der Betriebsverfassung würde nur dann Sinn machen, wenn sich nur hier die Probleme ergäben. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wenn es Zweck des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ist, organisatorische Besonderheiten tarifvertraglich abzufangen, kann dies nicht von vornherein auf die betriebliche Ebene begrenzt bleiben. Denn nur so kann dem Ziel der Bestimmung umfassend Rechnung getragen werden. Dies gilt jedenfalls, soweit im Einzelfall Divergenzen zwischen Unternehmensstrukturen und Gesetz auch über den betrieblichen Bereich hinaus feststellbar sind. Eine enge Auslegung der Norm, welche die Regelungskompetenz der Tarifpartner auf den Betrieb begrenzen würde, hätte zur Folge, daß den Vorstellungen des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG nur in kleinem Umfang Rechnung getragen werden könnte. Für eine extensive Interpretation spricht also, daß nur so dem inneren Anspruch und den Zielvo!"stellungen der Norm vollständig Geltung verschafft werden kann. 82
5. Sonstige Gesichtspunkte Verschiedentlich ist versucht worden, eine Ausdehnung der Tarifierungskompetenzen auf betriebsübergreifende Organe im Hinblick auf § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG mit verfassungsrechtlichen Erwägungen zu begründen. So schränkt nach Däubler die zwingende Natur der organisatorischen Vorschriften zwar die Tarifautonomie in zulässiger Weise auf der Rechtsgrundlage des Art. 74 Nr. 12 GG ein. Diese Einschränkung sei jedoch dann unverhältnismäßig, wenn sie den Tarifvertragsparteien eine Regelung verböte, die gerade dem besseren Funktionieren der betrieblichen Interessenvertretung dient. 83 Dieser auf den ersten Blick einleuchtende Ansatz läßt jedoch außer Betracht, daß derartige verfassungsrechtliche Erwägungen nur dann bei der Auslegung eine Rolle spielen können, wenn anders ein Verfassungsverstoß mit dem Gesetz zu konstatieren wäre. 84 Ist dies wie hier nicht der Fall, kann nicht das abstrakte Gesetz aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles mit Rückgriff auf die Verfassung eine besondere Interpretation erfahren.
Siehe hierzu 2. Kapitel § 3 A. I. S. 125. In diese Richtung geht auch die Argumentation von Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Untemehmensteilung, S. 174. 83 Däubler, Tarifvertragsrecht, RdNr. 1039. 84 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 339 f. 81
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Es geht an den Grundsätzen des Verhältnisses von Tarifautonomie zu gesetzlicher Betriebsverfassung vorbei, entsprechende Regelungskompetenzen auf § 1 Abs. 1 TVG gründen zu wollen, wie neuerdings versucht wird. 85 Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, erstreckt sich die Regelungskompetenz der Tarifpartner innerhalb der gesetzlichen Organisation der Betriebsverfassung - und nur dort befinden wir uns - nur auf die Bereiche, die von den Öffnungsklauseln bestimmt werden. 86 So läßt sich eine Tarifierungsbefugnis nach § 1 Abs. 1 TVG für den Bereich des Gesamt- und Konzernbetriebsrates nicht damit begründen, die Öffnungsklausein bezögen sich nicht hierauf, denn die Frage, ob eine Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien gemäß Art. 9 Abs. 3 GG, § 1 Abs. 1 TVG besteht, ist alleine davon abhängig, ob man sich im Rahmen einer Öffnungsklausel oder außerhalb des gesetzlichen Regelungsbereiches befindet. Da das BetrVG ausdrücklich bestimmte betriebliche Vertretungen auf Unternehmens- und Konzernebene vorsieht, kann man auch nicht sagen, daß diese Ebenen vom gesetzlichen Anwendungsbereich gar nicht erfaßt seien, wie dies bei Kleinbetrieben beispielsweise der Fall ist. Daneben existiert keine weitere Kompetenz aus § 1 Abs. 1 TVG oder Art. 9 Abs. 3 GG. Auch handelt es sich bei abweichenden Gestaltungen der betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsstrukturen nicht um "Ergänzungen zur gesetzlichen Mindestregelung",87 sondern um eine andere Betriebsverfassung. Zudem haben gesetzliche Bestimmungen über Art und Plazierung von Organen nicht den Charakter von Mindestregelungen, da sie einem Günstigkeitsvergleich nicht zugänglich sind.
6. Bewertung und Schlußfolgerung
Will man die eingangs gestellte Frage, ob § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG grundsätzlich betriebs- und unternehmensübergreifende Regelungen zuläßt, abschließend beantworten, erfordert dies eine übergreifende Betrachtung. Mit den einzelnen Auslegungskriterien läßt sich kein einheitliches Bild erstellen. Während der Wortlaut für eine enge Interpretation der Vorschrift spricht, ergibt sich im Hinblick auf die historische und teleologische Betrachtung das Gegenteil. Sie sprechen dafür, den Anwendungsbereich auch auf die Betriebsverfassung oberhalb des Betriebes zu erstrecken. Letztlich hinge die Antwort mithin davon ab, ob man hier das Wortlautargument hinter die der Bestimmung immanenten Zweckbestimmungen zurücktreten lassen will. Neben dem Zweck des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG selbst kommt hier allerdings der Zweck des gesamten BetrVG als Kodifikation der Betriebsverfassung zusätzlich zum Tragen. Das Gesetz will das Mittel für eine sinnvolle und funktionsfähige Betriebsverfassung in allen Bereichen bereitstellen. In dem umfassenden Geltungsanspruch des Gesetzes steckt das Ziel, in möglichst vielen Unter85 86
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Bachner, NZA 1996,400 (404); Fitting/Kaiser/ Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 34. Dazu oben 1. Kapitel § 1 D. S. 59 ff. So Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RdNr. 34.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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nehmen Grundlage einer betrieblichen Interessenstruktur sein zu können. Dieses Ziel kann jedoch in den Unternehmen, die Besonderheiten aufweisen, welche mit den gesetzlichen Organisationsvorgaben des BetrVG nicht oder nur schwer in Einklang zu bringen sind, nicht oder nur eingeschränkt verwirklicht werden. Damit tritt auch der umfassende und zwingende Geltungsanspruch der Organisationsnormen zurück. Hinter dem teleologischen Argument steckt stets der Gedanke der Praktikabilität und Effizienz eines Gesetzes. 88 Die gesetzliche Betriebsverfassung leidet im Hinblick auf die Vielfältigkeit der Unternehmenswirklichkeit teilweise unter einem Verlust dieser Ziele. 89 Dies greift § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG auf. Auf diese Weise wird eine Auslegung, die geeignet ist, ein Höchstmaß an Praktikabilität und Effizienz der Betriebsverfassung insgesamt zu gewährleisten, gleichzeitig dem Sinn dieser Vorschrift und des Gesetzes insgesamt gerecht. Durch die Errichtung anderer Vertretungen können diese Ziele nur dann verwirklicht werden, wenn solche Regelungen nicht von vornherein auf den betrieblichen Bereich beschränkt bleiben müssen. Denn eine Diskrepanz zwischen den Unternehmensstrukturen in der Realität und dem Organisations modell des BetrVG findet sich nicht nur auf betrieblicher Ebene. Eine enge Auslegung der Bestimmung würde mithin zu einer wenig praktikablen und sachlich nicht begründeten Reduktion des Anwendungsbereiches führen und gleichzeitig die bestmögliche Verwirklichung der Gesamtziele der Betriebsverfassung in betroffenen Unternehmen vereiteln. So ergibt sich hinsichtlich der vorliegenden Frage ein Übergewicht des teleologischen Arguments bereits aus dem Gesamtziel der Betriebsverfassung, eine sinnvolle und effiziente Betriebsverfassung zu gewährleisten. Dies gilt unabhängig davon, ob Sinn und Zweck der Norm selbst bereits den Wortlaut verdrängen. 90 Der Begriff "Betrieb" im § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG ist nicht im engen Sinne gemeint. Die Tarifierungsbefugnis ist nicht auf die betriebliche Ebene begrenzt, sondern erstreckt sich daneben auf die übergeordneten Bereiche der Betriebsverfassung soweit die übrigen Voraussetzungen der Bestimmung vorliegen. 91
III. Hauptanwendungsrälle
Die Anwendung ist, wie dargelegt, grundsätzlich dann eröffnet, wenn eine Besonderheit der Arbeitsstätte dem Funktionieren der gesetzlichen BetriebsverfasWank. Die Auslegung von Gesetzen, S. 81. Dazu oben 2. Kapitel § 3 A. III. S. 129 ff. 90 So Wank. Die Auslegung von Gesetzen, S. 86; aA Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 343 f. Die Rechtsprechung differenziert; vgl. BGHZ 2, 176 (184); 46, 74 (76). 91 So auch im Ergebnis Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RdNr. 34; Däubler I Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 3 RdNr. 31; Däubler. Tarifvertragsrecht. RdNr. 1039 f .• 1048; Wendeling-Schröder. Divisionalisierung. Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 153; Bachner. NZA 1996,400 (404) über § 1 Abs. I TVG; Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Untemehmensteilung. S. 174. Zum ablehnenden Schrifttum siehe Fn. 72. 88
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
sung entgegensteht. Dabei ist eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung erforderlich. Es reicht nicht aus, wenn eine tarifliche Vertretungsstruktur nur zu einer sachgerechteren oder sinnvolleren Betriebsverfassung führt. Da sich die Regelungen auch auf den überbetrieblichen Bereich beziehen können, ist nicht nur die Funktionsfähigkeit der Interessenvertretung im einzelnen Betrieb beachtlich, sondern auch auf unternehmens- und unternehmensübergreifender Ebene. Sollen insoweit andere Vertretungsarten und -strukturen durch Tarifvertrag geschaffen werden, kommt es darauf an, daß die an dieser Stelle vom Gesetz vorgesehenen Organe - Gesamt- und Konzernbetriebsrat - den organisationsspezifischen Besonderheiten nicht ausreichend Rechnung tragen können, mithin eine abweichende Gestaltung erforderlich ist, um die Betriebsverfassung hinreichend funktionsfähig zu halten.
1. Betriebliche Besonderheiten
Während das BAG im Hinblick auf den gesetzlichen Vorgänger § 20 Abs. 3 BetrVG 1952 mit der bereits zitierten Entscheidung aus dem Jahre 196892 noch den Eindruck erweckt, es halte Regelungen für unzulässig, die hinsichtlich der betrieblichen Vertretung nicht auf den Betriebsbegriff abstellen und beispielsweise für unselbständige Betriebsteile eigene Interessenvertretungen vorsehen, wird nunmehr nicht bestritten, daß innerhalb eines Betriebes auch mehrstufige Betriebsvertretungen geschaffen werden können. 93 Durch Zuständigkeitsregelungen könnten den einzelnen Vertretungsstufen auch betriebsverfassungsrechtliche Rechte und Aufgaben zugewiesen werden, die ansonsten nur dem Betriebsrat zustünden. Auf diese Weise kann die rechtliche Stellung der innerbetrieblich tariflichen Organe weit über die eines bloßen Kommunikationsorgans hinaus ausgebaut werden. Es wären dann Regelungen denkbar, die einer unteren Stufe sämtliche wesentlichen Aufgaben und dem betrieblichen Organ nur Koordinationsfunktionen zuweisen, falls letzteres vom Tarifvertrag überhaupt vorgesehen wird. Insoweit erscheint es widersprüchlich und inkonsequent, die Möglichkeit einer mehrstufigen tariflichen Betriebsvertretung zu bejahen, gleichzeitig aber aus der vorgenannten BAG-Entscheidung zu schließen, daß hierdurch der Betriebsbegriff nicht angetastet werden dürfe. 94 Denn dies geschieht zwangsläufig durch die Errichtung weiterer Organe auf betrieblicher Ebene: Der Betriebsbegriff bestimmt gerade, wo die betriebliche Interessenvertretung zu errichten ist. Er schließt zudem aus, daß es Neben- oder Subeinheiten mit eigenen betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen gibt. Wer das Prinzip der Einheit der betrieblichen Interessenvertretung durch mehrstufige Betriebsvertretungen durchbricht, muß die gleiche Konsequenz auch für den Be-
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BAG AP Nr. 9 zu § 3 BetrVG 1952. Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 34; Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 31. So ausdrücklich Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 31.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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triebsbegriff akzeptieren. Dies widerspricht nicht dem Wortlaut der Bestimmung. Trägt § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG den besonderen Betriebsstrukturen Rechnung und will die Norm eine diesen Strukturen angepaßte Vertretungsform zulassen, reicht es nicht aus, dem Tarifvertrag nur die Möglichkeit zu eröffnen, eine andere Art der Vertretung zuzulassen, die dort zu verorten ist, wo auch ein gesetzlicher Betriebsrat sich befinden würde. Dezentrale Entscheidungsstrukturen in großen Betrieben können es vielmehr erforderlich machen, desgleichen die Betriebsvertretung dezentral zu organisieren. Gleiches gilt in Unternehmen mit weit verstreuten Betriebsteilen, wo eine mehrstufige Betriebsvertretung geeignet sein kann, eine sinnvolle Wahrnehmung der Beteiligungsrechte sicherzustellen. 95 Dem Wortsinne des Begriffes "andere Vertretung" kann also nur ein Verständnis gerecht werden, das eine vom Betriebsbegriff losgelöste Interessensvertretungsstrnktur auf betrieblicher Ebene zuläßt.
a) Großbetriebe Da für eine Tarifierungsbefugnis eine betriebliche Besonderheit erforderlich ist, reicht es nicht aus, wenn aufgrund der Größe eines Betriebes die Arbeit des Betriebsrates sich wegen der fehlenden Nähe zur Belegschaft problematisch gestaltet, etwa weil die erforderlichen Kommunikationswege zu lang sind. Es handelt sich hierbei nicht um eine betriebliche Besonderheit, denn das BetrVG hat bewußt auch in Großbetrieben an der Einheit der Betriebsvertretung festgehalten und sieht dafür eine entsprechend hohe Zahl an Betriebsratsmitgliedern vor, § 9 BetrVG. Der Großbetrieb ist damit aus gesetzlicher Sicht nicht allein wegen seiner Größe ein Sonderfall. Die kommunikativen Defizite, die in Großbetrieben zu verzeichnen sind, können aber über § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG abgemildert werden. 96
b) Besondere Belegschaftsstruktur Eine beachtliche Eigenart liegt dagegen dann vor, wenn sich wegen sehr unterschiedlich gestalteter Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten derart voneinander abweichende Interessenstrukturen ergeben, daß ihnen die Vertretung durch einen einheitlichen Betriebsrat nicht gerecht werden kann. Das Gesetz nimmt für die Wahlberechtigung keine Rücksicht darauf, in weichem Umfang der einzelne Arbeitnehmer beschäftigt ist und welche Art von Tatigkeit er verrichtet. 97 Dies greift § 15 BetrVG auf, der - als Sollvorschrift - eine Zusammensetzung nach Beschäftigungsarten und Geschlechtern fordert. 98 Auf diese Weise wird ohne weiteres in 95 96 97
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Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 31. Dazu unten § 4 S. 205 ff. GK-BetrVG-Kraft. § 5 RdNr. 8 ff.; 34 ff. GK-BetrVG-Kreutz. § 15 RdNr. 2 und 10.
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Kauf genommen, daß im Ergebnis manche Interessen mehr als andere im Betriebsrat vertreten sind. Da es sich bei den Mitgliedern des Betriebsrates aber nicht um Vertreter nur einer Gruppe, sondern der gesamten Belegschaft handelt,99 ist regelmäßig sichergestellt, daß es sich bei jedem Betriebsrat um eine gleichmäßige und repräsentative Vertretung handelt. Damit Besonderheiten in der Belegschaftsstruktur zu einer Funktionsbeeinträchtigung der Arbeit des gesetzlichen Betriebsrates führen können, muß mithin ein weiteres Merkmal hinzutreten. Dieses kann darin liegen, daß eine starke Fluktuation der Belegschaft zum einen dazu führt, daß große Teile der Belegschaft im Zeitpunkt der Betriebsratswahlen wegen der SechsMonats-Frist des § 8 Abs. 1 BetrVG nicht passiv legitimiert sind und es so dem Zufall überlassen wäre, wer sich zur Wahl aufstellen lassen kann und wer nicht. Zum anderen käme hinzu - und dies ist im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit entscheidend -, daß auch der Betriebsrat selbst wegen des häufigen Ausscheidens von Mitgliedern nicht in der Lage wäre, eine kontinuierliche Arbeit aufzubauen. Auch wenn ein gewisser Teil der Belegschaft als Stammpersonal längerfristig beschäftigt ist, könnte zwar dadurch, daß nur diese in den Betriebsrat gewählt würden, eine Kontinuität der Betriebsratsarbeit gewährleistet sein. Die Folge wäre jedoch, daß ein erheblicher Teil der Belegschaft von vornherein von der Arbeit in der Interessenvertretung ausgeschlossen wäre. 100 Auch hierdurch ist die Funktionsfähigkeit des Betriebsrates als Vertretung aller Beschäftigten in Frage gestellt. 101
c) Ortsungebundene Tätigkeit Wie dies auch bei Flugbetrieben der Fall ist, kann die besondere, nicht ortsgebundene Art der Tätigkeit in Betrieben mit ständig wechselnden Arbeitsstätten das gesetzliche Betriebsverfassungsrecht als ungeeignet erscheinen lassen. Insoweit greift § 117 BetrVG nur den Gedanken des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG auf. Solche Besonderheiten sind insbesondere in der Binnenschiffahrt, im Ferngüterverkehr und bei Wanderbühnen zu verzeichnen. 102
GK-BetrVG-Kreutz, § 15 RdNr. 9. Diese Problematik tritt insbesondere bei den sog. Ausbildungs- und Beschäftigungsgesellschaften auf, die naturgemäß einen sehr hohen Anteil an nur kurzfristig Beschäftigten aufweisen. Dem steht ein verhältnismäßig geringer Anteil an langfristig Beschäftigten gegenüber, weiche die Geschäfte der Gesellschaft selbst fUhren und nicht nur im Rahmen des Beschäftigungsprogramms angestellt sind. Sehr anschaulich ist hierzu der Tarifvertrag zwischen der Kieler Beschäftigungs- und Ausbildungsgesellschaft (KIBA GmbH) und der ÖTV - Bezirksverwaltung Nord vom 30. Juni 1994. 101 Vgl. hierzu ohne nähere Begründung Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 30; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 29. 102 Fitting/Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 30; Däubler I Kittner I KlebeTrümner, BetrVG § 3 RdNr. 29. 99
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d) Teilzeitbeschäftigung Andere Probleme bestehen in Betrieben oder Unternehmen mit einem hohen Anteil Teilzeitbeschäftigter. So ist die Anwendbarkeit des § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG besonders im Hinblick auf die Zeitungszusteller diskutiert worden. 103 Da den Teilzeitbeschäftigten volles Wahlrecht zusteht, kann ihnen insbesondere dann, wenn sie den überwiegenden Teil der Gesamtbelegschaft bilden, ein am Anteil an der Gesamtarbeitszeit des Betriebes gemessenes Übergewicht in der betrieblichen Interessenvertretung zukommen. Das Resultat ist eine relative Dominanz der Teilzeitbeschäftigten gegenüber der vollzeitbeschäftigten Stammbelegschaft. 104 Ein unterschiedliches Arbeitszeitvolumen hat jedoch nicht zwangsläufig eine grundverschiedene Interessenlage im Hinblick auf die betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten zur Folge. Auch ist das Bedürfnis an einer betrieblichen Vertretung eines Arbeitnehmers nicht deswegen höher einzuschätzen, weil die tägliche Arbeitszeit länger ist als bei anderen Mitarbeitern. Gerade die in Teilzeitarbeit und geringfügig Beschäftigten erweisen sich in der Praxis als besonders schutzbedürftig. Zu einer beachtlichen Eigenart kann die Teilzeitbeschäftigung erst dann werden, wenn, wie dies beispielsweise bei Zeitungszustellern im Verhältnis zu den Beschäftigten des Verlages der Fall ist, dem einen Beschäftigungsbereich im Verhältnis zum anderen von vornherein ein proportionales Übergewicht zukommt. Anknüpfungspunkt ist damit nicht die Teilzeitbeschäftigung alleine, sondern deren Verknüpfung mit der Art der Arbeitsleistung, dem Beschäftigungsbereich. 105 Da auch hier eine gewichtige Funktionsbeeinträchtigung erforderlich ist, muß die strukturelle Besonderheit zur Folge haben, daß der eine Beschäftigungsbereich gemessen an seiner Gesamtbedeutung für den Betrieb und seinen Beschäftigten in erheblichem Umfang unterrepräsentiert ist. Letztlich ist dies nur bei einem sehr hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigten der Fall.
e) Rechtsanwendungsschwierigkeiten In der Praxis herrscht große Unsicherheit darüber, für welche Arbeitsstätten ein Betriebsrat gewählt werden kann, welche Arbeitsstätte selbständig ist und welche Arbeitsstätte einer anderen zugeordnet werden muß. 106 Die Schwierigkeiten liegen für die Wahlvorstände, Gewerkschaften und alle anderen mit der Organisation der Wahl Betrauten in der Anwendung der gesetzlichen Organisationsbegriffe, also in der Subsumtion des Sachverhaltes unter die abstrakte Definition. Zwar mag dies in \03 Wank, RdA 1985, 1 (12 f.); Oetker, AuR 1991, 359 (368 f.); Zeuner, RdA 1975, 84 (88) sowie LAG Baden-Württemberg AuR 1991, 386 (386 ff.) und ArbG Hanau OB 1991, 51 (52). 104 Wank, RdA 1985, 1 (13). lOS Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 26; Oetker, AuR 1991, 359 (369). 106 Vgl. dazu die Darstellungen unter 2. Kapitel § 3 A. I. S. 123 ff.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
einigen Unternehmen größere Probleme bereiten als in anderen. Es handelt sich hierbei aber nicht um betriebliche Besonderheiten, sondern um generelle Unsicherheiten in der Rechtsanwendung. Daraus resultiert nicht ein Defizit für die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung, sondern (nur) ein Defizit der Definitionen. Rechtsanwendungsschwierigkeiten alleine können keine abweichenden Regelungen im Sinne dieser Vorschrift zulassen, da es letztlich idealtypisch immer einen Betrieb gibt. Auch wenn in einem Unternehmen erhebliche Schwierigkeiten mit der Anwendung der §§ 1 und 4 BetrVG bestehen, begründet diese Tatsache keine betriebliche Eigenart. Eine Abweichung von den Zuordnungskriterien des § 4 BetrVG ist in diesen Fällen nur innerhalb der Grenzen des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG zulässig. Etwas anderes kann erst dann angenommen werden, wenn das Resultat der Anwendung des Betriebsbegriffes zu einer Funktionsstörung führt. Abgesehen von den oben dargestellten Fällen bleibt der Anwendungsbereich damit aber sehr begrenzt, da eine erhebliche Funktionsstörung nur selten zu konstatieren sein wird. Die typischen Probleme der Praxis im Umgang mit dem betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrecht für die betriebliche Ebene können über § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG nicht aufgefangen werden.
2. Besonderheiten in der Unternehmensstruktur
Nachdem grundsätzlich beantwortet ist, daß § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG nicht auf den betrieblichen Bereich reduziert ist, stellt sich nunmehr die Frage, welche Eigenheiten eines Unternehmens oder Konzerns dazu führen, daß anstatt Gesamtund Konzernbetriebsrat andere Organe durch Tarifvertrag installiert werden können. Die soeben aufgezeigten betrieblichen Besonderheiten, wie hohe Personalfluktuation oder ortsungebundene Tätigkeit der Beschäftigten, führen nicht zwangsläufig dazu, daß auch auf betriebsübergreifender Ebene arbeitende Organe ähnliche Funktionsstörungen erleiden. In diesen Unternehmen bleibt es, auch wenn auf betrieblicher Ebene eine andere Vertretung nach § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG arbeitet, zunächst bei den gesetzlichen Organen. Für den Unternehmensbegriff ist die Einheit des Rechtsträgers wesentliches Erfordernis. Bei Personen- und Kapitalgesellschaften sind damit Gesellschaft, Unternehmen und Arbeitgeber identisch. Dies führt dazu, daß der Gesamtbetriebsrat als betriebsübergreifend arbeitendes Organ der arbeitnehmerseitigen Interessenvertretung gemäß § 47 BetrVG dort angesiedelt wird, wo sich der allein rechtlich definierte Unternehmensträger befindet. 107 Der Gesamtbetriebsrat ist folglich an den Rechtsträger gebunden, welcher mehrere Betriebe unter sich vereint. Das Gesetz geht davon aus, daß die betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten, welche sich auf überbetriebliche Sachverhalte beziehen, auf der Ebene des Unternehmens entschieden werden, so daß die Unternehmensleitung der geeignete Ansprechpart-
107
Siehe dazu oben 2. Kapitel § 2 B. S. 114 ff.
§ 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen
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ner ist. Dieser Gedanke findet seine Entsprechung auf Betriebs- und Konzernebene. Abgesehen vom gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen arbeitet der Betriebsrat nur innerhalb eines Rechtsträgers. Ein rechtsträgerübergreifendes Organ sieht das Gesetz nur für den Konzern vor. Dieses ist der Konzernbetriebsrat, § 54 BetrVG. 108
a) Das divisionalisierte Unternehmen Es wurde gezeigt, daß die betriebswirtschaftlich definierte Unternehmenspraxis sich hinsichtlich ihrer Entscheidungsstrukturen nicht notwendigerweise an dem Modell der gesetzlichen Betriebsverfassung orientiert, sondern eigene Wege geht, welche sich nicht an diese betriebsverfassungsrechtlichen Vorstellungen halten. 109 Eine unternehmerische Struktur mit Betriebsleitung, Unternehmens- und Konzernleitung, die mit der betriebsverfassungsrechtlichen korrespondieren würde, fehlt vielfach oder wird von anderen Entscheidungsstrukturen überlagert. Es drängt sich damit die Frage auf, ob § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG auch in Fällen anwendbar sein kann, in denen eine besondere Organisation der unternehmerischen Entscheidungslinien und -strukturen zu einem partiellen "Leerlaufen" der Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte führt; eine andere Vertretungsform also erforderlich ist, um eine funktionsfahige Betriebsverfassung zu gewährleisten. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG könnte für divisionalisierte oder spartenorganisierte Unternehmen und Konzerne Bedeutung erlangen, da diese Organisationsformen gerade im Hinblick auf die Unternehmens- und Konzernleitung entsprechende strukturelle Besonderheiten aufweisen. 110 Entscheidendes Erfordernis ist die erhebliche Funktionsbeeinträchtigung, welche Resultat einer organisatorischen Besonderheit ist. Liegt diese Voraussetzung vor, ist es unerheblich, ob die Gründe dieser Besonderheiten bereits durch den Unternehmenszweck mehr oder weniger zwangsläufig vorgegeben sind - zB im Baustellengewerbe -, oder ob sie Resultat der betriebswirtschaftlichen Gestaltung des Unternehmens durch den Arbeitgeber sind. Dies macht für die Betriebsverfassung keinen qualitativen Unterschied, da sowohl der unternehmerische Zweck als auch die Entscheidungslinien allein vom Unternehmer vorgegeben werden und dem Einfluß der Arbeitnehmerseite entzogen sind. Divisionalisierte Unternehmen bzw. Konzerne sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß sie sich hinsichtlich ihrer Entscheidungsstrukturen streng an der kaufmännisch-wirtschaftlich definierten "Sparte" oder "Division" (so zB die Sparte "Beton" neben der Sparte "Zement" oder "Kies") orientieren und dabei auf die gesellschaftsrechtlich definierten Begriffe des Unternehmens und Konzerns keine Rücksicht nehmen. So verlaufen die Sparten vielfach
108 109 110
Siehe dazu oben 2. Kapitel § 2 C. S. 116 ff. Siehe dazu oben 2. Kapitel § 3 A. I. S. 125. Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 9 ff.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
rechtsträgerübergreifend, was für die Betriebsebene die Folge hat, daß sie mehreren Unternehmen zugeordnet ist, wenn ein Betrieb mehrere Produkte herstellt. 111 Folgte man den gesetzlichen Bestimmungen, kann für die erste Stufe über die Figur des Gemeinschaftsbetriebes 112 zwar unter Umständen noch Abhilfe geleistet werden. Bereits der Gesamtbetriebsrat als fest an das Unternehmen als Rechtsträger gekoppeltes Organ wäre ohne kompetenten Gesprächspartner. Als einziges unternehmensübergreifend arbeitendes Organ käme für eine Sparte nur der Konzernbetriebsrat in Frage, was aber voraussetzt, daß ein Konzern auf dieser Ebene überhaupt vorliegt, da es sich um einen "Konzern im Konzern" handeln müßte. I 13 Daraus folgt für die gesetzlichen Vertretungsformen, insbesondere für Betriebsrat und Gesamtbetriebsrat, daß erhebliche Defizite hinsichtlich der Entscheidungsnähe und der Koordination der einzelnen Gremien bestehen können. 114 Dies gilt jedenfalls für diejenigen divisionalisierten Unternehmen und Konzerne, bei denen die Spartenorganisation quer durch die Unternehmen und / oder Betriebe geht. Betriebsräte und Gesamtbetriebsräte sehen sich Verhandlungspartnern gegenüber, denen die Kompetenz fehlt, in beteiligungspflichtigen Angelegenheiten Entscheidungen zu treffen. Die Entscheidungsnähe ist aber konstitutives und unverzichtbares Element einer wirksamen Betriebsverfassung. 115 Damit droht das Organ mit seinen Rechten wegen der Diskrepanz zwischen Divisionalstruktur und Rechtsstruktur "leerzulaufen"; es hängt gleichermaßen in der Luft. Die Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte der betrieblichen Arbeitnehmervertr~tung werden zur ineffektiven Hülse ohne Substanz. 1I6 Die gesetzliche Betriebsverfassung kann ihren eigenen Zielen nicht mehr gerecht werden. Erfüllt eine arbeitgeberseitige Organisationsstruktur diese Voraussetzungen, kann die Betriebsverfassung nur dadurch ihre Wirksamkeit wiedererlangen, indem die Struktur der Arbeitnehmervertretung dieser nachfolgt. Eine andere - vom Gesetz abweichende - Vertretungsstruktur wird damit erforderlich. Daher bestehen keine Bedenken, im Hinblick auf diese besonderen Konstellationen den Tarifvertragsparteien eine abweichende Gestaltung über § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu gestatten. ll7 Es handelt sich um organisationsbezogene Besonderheiten, die einer funk111 Wendeling-Sehröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 133 ff., 141 ff. 112 Siehe dazu oben 2. Kapitel § 2 A. 11. S. 98 ff. IIJ Dies ist indes nur bei wenigen Formen der Spartenorganisation der Fall. WendelingSehröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 141, 143. 114 Wendeling-Sehröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 142 ff. IIS Siehe dazu oben 2. Kapitel § I C. S. 89 ff. 116 Wendeling-Sehröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 3. ll7 In diesem Sinne auch Wendeling-Sehröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 153; sowie Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 34, welche jedoch inkonsequenterweise diese Möglichkeit auf bestimmte Branchen reduziert haben wollen. Damit wird jedoch verkannt, daß es sich vorliegend nicht um eine branchenspezifische, sondern um eine organisationsspezifische Besonderheit handelt.
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tionsfähigen gesetzlichen Betriebsverfassung entscheidend entgegenstehen. Die Defizite sind zudem schwerwiegend, da sie konstitutive Elemente der Betriebsverfassung betreffen. Wie auch für den betrieblichen Bereich, öffnet sich den Tarifvertragsparteien hier nicht nur die Möglichkeit, die Art der Vertretungen abweichend zu regeln, denn dies würde die angesprochenen Probleme kaum bewältigen können. Vielmehr geht es um eine andere Gestaltung der Strukturen, welche die Lokalisierung der Vertretungsorgane betrifft. Vom Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ist es damit gedeckt, die drei Stufen des gesetzlichen Modells - Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzernbetriebsrat - durch eine anderes Modell zu ersetzen, welches auf den gesetzlichen Betriebs-, Unternehmens- und Konzernbegriff keine Rücksicht nimmt. 118
b) Betriebs- und Unternehmensumstrukturierungen Teilweise wird erwogen, § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG in Fällen von Betriebs- und Unternehmensumstrukturierungen anzuwenden. 119 In dieser Allgemeinheit ist das jedoch nicht möglich. So wie bei weitem nicht jeder Rechtsträgerwechsel gleichzeitig eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen mit sich bringt, so führt eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen nicht zwangsläufig zu einem erheblichen Funktionsverlust der Betriebsverfassung. Es sind also das Resultat der Umstrukturierung und die Umstrukturierungsphase streng voneinander zu trennen. Für ersteres bleibt es bei dem oben genannten Erfordernis einer erheblichen Funktionsbeeinträchtigung der Betriebsverfassung durch organisationsbezogene Besonderheiten in der Unternehmensstruktur. Wandelt ein Arbeitgeber beispielsweise sein einheitliches Unternehmen in eine rechtsträgerübergreifende Spartenstruktur um, so wird viel dafür sprechen, daß der Status nach der Umstrukturierung nicht mehr mit den gesetzlichen Organisations vorgaben des BetrVG in Einklang zu bringen ist. Es ist jedoch irrelevant, ob diese Besonderheiten erst durch die Umstrukturierung entstehen oder von Beginn an bestanden haben. Die Umstrukturierung als solche ist unbeachtlich, soweit es um den Anwendungsbereich dieser Bestimmung geht. Es müssen die oben genannten Voraussetzungen voriiegen. 120 Da erhebliche Funktionsstörungen erforderlich sind, wird dies in der Hauptsache nur bei divisionalisierten Unternehmensforrnen zu konstatieren sein, da typischerweise in diesen rechtsträgerunabhängige Entscheidungsstrukturen zu verzeichnen sind. Da Zweckmäßigkeitserwägungen nicht ausreichen, ist es nicht möglich, daß durch Tarifvertrag die Belegschaften zweier Betriebe eine Interessenvertretung haben, 118 Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 153 geht auf diese Frage nicht ein. 119 Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 31; Kempen/Zachert, TVG § 1 RdNr. 277; Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, s. 174. 120 Siehe oben a) 2. Absatz S. 16I.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
nur weil sie vor der Umstrukturierung einen Betrieb bildeten. 121 Wird ein Betrieb durch die Umstrukturierung zwei Rechtsträgern zugeordnet und treten diese als einheitlicher Arbeitgeber auf, handelt es sich ohnehin um einen gemeinschaftlichen Betrieb mehrerer Unternehmen. Besteht eine einheitliche Leitungsmacht in bezug auf die Arbeitsstätten nicht, leidet auch die Betriebsverfassung unter keinem erheblichen Defizit. Letzteres ist jedoch Voraussetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Entfallen spaltungsbedingt Rechte des Betriebsrates, kann dies bei Umwandlungen gemäß § 325 Abs. 2 UmwG durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung aufgefangen werden. Liegt kein Tatbestand des UmwG vor, ist diese Möglichkeit dem Tarifvertrag nach den allgemeinen Grundsätzen eröffnet. Hierbei geht es jedoch nur um die materiellen Konsequenzen einer Umwandlung. Das betriebsverfassungsrechtliche Organisationsrecht ist hiervon nicht angetastet. 122 Für § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG bleibt mithin der Befund, daß der Umstrukturierungstatbestand allein eine Anwendung dieser Bestimmung nicht rechtfertigen kann, soweit es um die Betriebsverfassung in dem neu verfaßten Unternehmen geht. 123 Fraglich und von größerem Belang ist, ob Probleme, die sich in der Phase der Umstrukturierung ergeben, durch § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG aufgegriffen werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erstreckt sich die Zuständigkeit eines Betriebsrates nur auf den jeweiligen Betrieb, von dessen Belegschaft er gewählt worden ist. 124 Die Legitimation des Organs mit seinen ihm zugewiesenen betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben ist betriebsbezogen. 125 Eine Fluktuation der Belegschaft ist unschädlich. Mit der Wahl des Betriebsrates durch die Belegschaft wird das Mandat der Vertretung zu einem Mandat für den Betrieb im Sinne der §§ 1 und 4 BetrVG. Aus der strengen Koppelung der Legitimation des Organs an die Identität des Betriebes ist zu schließen, daß eine Ausdehnung der Kompetenzen auf andere Betriebe ausgeschlossen ist, auch wenn es sich dabei um Arbeitsstätten handelt, weIche vormals diesem Betrieb angehörten. Das Bundesarbeitsgericht erhebt diese Erkenntnis zu einem "zwingenden betriebsverfassungsrechtlichen Prinzip". 126 Im einzelnen sind die Ausprägungen und Folgen dieses Prinzips jedoch umstritten. Zwar wird teilweise bei unternehmensinternen Um121 Anders Däubler/Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 3 RdNr. 31; Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 174. 122 Sieht man einmal von den sog. operativen Rechten des Betriebsrates ab. Siehe dazu oben I. Kapitel § 2 C. IV. S. 79. 123 Auch kann eine derartige Tarifierungsbefugnis nicht mit einer "Normsetzungsprärogative" der Tarifpartner begründet werden. Solche verfassungsrechtlichen Erwägungen können nicht zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches des § 3 Abs. I BetrVG führen (diesen Eindruck erweckt jedoch Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 31). 124 BAG NZA 1989, 188 (188 ff.) und NZA 1989,433 (433 ff.). Dazu Boecken, Untemehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 235. 125 BAG NZA 1989,433 (435). 126 BAG, wie vor.
§ 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen
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strukturierungen der betrieblichen Organisationsbereiche durch den Arbeitgeber angenommen, daß diese auf die Legitimation der Vertretungen keinen Einfluß hätten, auch wenn durch Betriebsaufspaltungen, Betriebsabspaltungen oder die Zusammenlegung von Betrieben neue betriebsverfassungsrechtliche Einheiten entstehen. 127 Unzweifelhaft bleibt dennoch, daß verschiedenartige arbeitgeberseitige Veränderungen der Organisationsstrukturen im Hinblick auf die Vertretungsorgane bestandsberührende Wirkung haben können. So ist dies nach herrschender und auch vom Bundesarbeitsgericht geteilter Meinung bei allen Maßnahmen der Fall, weIche die Identität des Betriebes verändem. 128 Dies hat folgende Konsequenz: Immer wenn sich aufgrund der Änderung der Organisationsstruktur eine neue Arbeitsstätte mit eigener Leitungsorganisation bildet oder ein Betrieb in einem anderen, betriebsratslosen Betrieb aufgeht, führt dies jedenfalls bis zur Neuwahl zu Zeiten, in denen die betroffenen Arbeitnehmer grundsätzlich ohne eigene Interessenvertretung sind. Dies wiegt besonders dann schwer, wenn die Änderung der Betriebsorganisation mit einem Rechtsträgerwechsel zusammenfällt, denn dann sind die Arbeitnehmer nicht selten von arbeitgeberseitigen Maßnahmen wie Kündigungen oder Umsetzungen betroffen. Dies macht einen Wegfall der Betriebsvertretung besonders problematisch, da das Schutzbedürfnis der Belegschaft in der kritischen Übergangsphase besonders groß ist. 129 Dieses überwiegend als unbillig empfundene Ergebnis vermeidet ein Übergangsmandat des alten Betriebsrates. Neben den bekannten außerbetriebsverfassungsgesetzlichen Regelungen in § 321 UmwG, § 13 SpTrUG, § 6b Abs. 9 VermG und §§ 15 und 20 DBGrG wird heute überwiegend auch bei Maßnahmen, weIche nicht vom Geltungsbereich dieser Vorschriften umfaßt sind, ein befristetes Übergangsmandat angenommen. 130 Da somit bereits auf gesetzlicher Basis betriebsratslose Zeiträume weitgehend verhindert und die sich aus dem Übergangsmandat ergebenden Rechte und Befug127 GK-BetrVG-WieseIKreutz. § 21 RdNr. 43 ff.; Konzen. Unternehmensaufspaltungen und Organisationsänderungen im Betriebsverfassungsrecht, S. 88. 128 BAG NZA 1989,433 (435) EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 72; BAG NZA 1989, 188 (188 ff.); LAG Baden-Württemberg, OB 1996,2084 (2084); LAG Hamburg, DB 1992,587 (588); FiuinglKaiserlHeitherlEngels. BetrVG § 21 RdNr. 38 ff., 52; Hess/Schlochauerl Glaubitz-Schlochauer, BetrVG § 21 RdNr. 29 ff.; Galperinl Löwisch. BetrVG § 21 RdNr.23; OäublerIKittner/Klebe-Buschmann. BetrVG § 21 RdNr. 31 ff. 129 So die Begründung zu Art. I § 322 des Referentenentwurfs zum Umwandlungsbereinigungsgesetz vom UmwG vom 15.04.1992, Bundesministerium der Justiz III A 1-3501/ I. 130 LAG Berlin BB 1996, 1937 (1937); ArbG FrankfurtIM AuR 1996, 506 (506); FittinglKaiserlHeitherlEngels. BetrVG § 21 RdNr. 38 ff., 52; Oäublerl Kittnerl Klebe-Buschmann. BetrVG § 21 RdNr. 31 ff. und 68 f.; GK-BetrVG-WieseIKreutz. § 21 RdNr. 82; Lutter-Joost. UmwG § 321 RdNr. 4; Mengel. Umwandlungen im Arbeitsrecht, S. 442 ff.; Engels. OB 1991,966 (967 ff.); ders., FS-Wlotzke, S. 279 (285 f.); Bachner, OB 1995,2068 (2069); Däubler, RdA 95, 136 (138); Klar, NZA 1997,470 (472); Schlachter, RdA 1993, 313 (316); ablehnend Hessl Schlochauer I Glaubitz-Schlochauer, BetrVG § 21 RdNr. 34; Boecken. Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 237; Bauer I Lingemann. NZA 1994, 1057 (1058); Gaul. OB 1995,2265 (2268); Heinze. FS-Schaub, S. 275 (285 f.).
=
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
nisse nicht gegenüber dem "normalen" Betriebsratsstatus eingeschränkt sind, ist ein betriebsverfassungsrechtlicher Schutz auch für die Arbeitnehmer des "fremden" Betriebes gewährleistet. Weil diese Übergangsmandate jedoch befristet sind, stellt sich die Frage einer Verlängerung durch Tarifvertrag. Daneben kann es ein Bedürfnis geben, auch für Gesamt- und Konzernbetriebsrat entsprechende Übergangsmandate durch Tarifvertrag vorzusehen, soweit diese nicht bereits nach dem Gesetz anzunehmen sind. 131 Gegen eine Anwendbarkeit des § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG spricht allerdings bereits, daß es hier nicht um andere Vertretungsstrukturen oder Vertretungsarten, sondern um Kompetenzerweiterungen eines bereits bestehenden Betriebsrates geht. Ein Übergangsmandat wäre keine andere (tarifliche) Vertretung, da der Bestand des das Übergangsmandat ausübenden Organs nicht angetastet würde. Aus § 3 Abs. 3 BetrVG ergibt sich jedoch, daß die tarifliche Vertretung die gesetzliche Vertretungsform ersetzt. Es steht zudem nicht die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung zur Disposition, denn in den neu entstehenden Einheiten bestehen jedenfalls wegen der Umstrukturierung selbst keine Besonderheiten, die der Neuerrichtung einer Betriebsvertretung nach dem Gesetz entgegenstehen würden. Entscheidendes Argument ist, daß die fehlende Legitimation für "fremde" Betriebe nicht durch Tarifvertrag durchbrochen werden kann. Betriebsverfassungsrechtliche Regelungen durch Tarifvertrag schaffen nur die normative Grundlage für die ansonsten durch die Belegschaft selbständig durchgeführte Bildung einer Vertretung. Sie können diese nicht selbst errichten, da damit das Erfordernis der demokratischen Legitimation durch Wahlen unterlaufen würde. Zuständigkeitserweiterungen bezogen auf weitere Belegschaftskreise sind mithin dem Tarifvertrag nicht zugänglich. 132 § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG eröffnet den Tarifpartnern nicht die Möglichkeit, im Zusammenhang von Umstrukturierungsmaßnahmen betriebsübergreifende Vertretungen zu bilden oder Übergangsmandate zu schaffen. 133 Diese Aussage gilt für sämtliche betriebsverfassungsrechtlichen Vertretungsstufen. Dazu Däublerl Kinner IKlebe-Trittin. BetrVG § 47 RdNr. 8 ff. mwN. In diesem Zusammenhang wird es teilweise für möglich erachtet, durch kollektivvertragliche Regelung nach § 325 Abs. 2 UmwG das ,,Recht", Mitglieder in den Gesamtbetriebsrat zu entsenden, auch dann zu erhalten, wenn nach der Spaltung oder Teilübertragung die Betriebe unterschiedlichen Rechtsträgern angehören (Däubler I Kinner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 20h; Bachner, NZA 1996, 400 [404]; Däubler, RdA 1995, 136 [145]; Bachnerl Köstlerl Trittinl Trümner, Arbeitsrecht bei der Unternehmensumwandlung, S. 72). Dabei wird jedoch verkannt, daß der Verlust dieses Rechtes nicht Folge der Betriebsspaltung, sondern der Tatsache ist, daß der Betrieb nunmehr einem neuen Unternehmen angehört. Soweit in dem neuen Unternehmen die Voraussetzung des § 47 BetrVG vorliegen, besteht hier das Recht der Entsendung. Unannehmbare Konsequenz einer derartigen Regelungsbefugnis nach § 325 Abs. 2 UmwG wäre es, daß möglicherweise eine Doppelvertretung dieses Betriebes durch zwei Gesamtbetriebsräte entstünde (wie hier Boecken. Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 269). I33 Eine Tarifierungsbefugnis läßt sich auch hier nicht mit § lAbs. 1 TVG rechtfertigen (so aber Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 17). Führt eine Betriebsspal1Jl
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§ 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen
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IV. Befund für den Anwendungsbereich Besonderheiten in der betrieblichen Organisation haben vielfach ihre Ursache in branchenspezifischen Eigenheiten. Die normabweichende Gestaltung des Arbeitsablaufes und der Betriebsorganisation ergibt sich hier bereits aus dem arbeitstechnischen Zweck des Unternehmens, wie dies beispielsweise im Baustellengewerbe der Fall ist. Gleichermaßen können aber auch ganz unterschiedliche betriebswirtschaftliehe Gründe zu einer besonderen Gestaltung der Betriebs- und Unternehmensorganisation führen. Hier sei nur das spartenorganisierte Unternehmen genannt. Beiden Eigenheiten ist gemeinsam, daß sie von den dem BetrVG bekannten Strukturen abweichen und so die Verwirklichung des gesetzlichen Modells der Betriebsverfassung nicht ohne Defizite möglich wäre. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG will gleichwohl nicht jede Abweichung von den betriebsverfassungsrechtlichen Normvorstellungen aufgreifen und es den Tarifpartnern mit Hilfe des Tarifvertrages bereits bei einfachen Schwierigkeiten gestatten, einen eigenen Weg zu gehen. Hier setzt das Erfordernis der besonderen Funktionsbeeinträchtigungen dem Anwendungsbereich eine erhebliche Schranke. Grundsätzlich ist die Bestimmung nicht auf den betrieblichen Bereich begrenzt. Sie eröffnet die Möglichkeit, sowohl Art als auch Verortung der Vertretungen abweichend vom Gesetz zu gestalten. Die Tarifpartner können durch eine Anpassung der Strukturen ein eigenes Modell der Betriebsverfassung entwerfen, um die Grundlage für eine effiziente Interessenvertretung zu bereiten. Insoweit sind die anderen, tariflichen Vertretungsformen von Betriebs-, Unternehmens- und Konzernbegriff loslösbar. Der dadurch erweckte Eindruck einer breit und umfassend eröffneten Gestaltungsmöglichkeit wird durch die hohe und nur schwer erfüllbare Eingangsvoraussetzung der erheblichen Funktionsbeeinträchtigung stark relativiert. Einfache Zweckmäßigkeitserwägungen oder allgemeine, nicht besonders stark ausgeprägte Defizite der gesetzlichen Betriebsverfassung reichen nicht aus. Letztlich hält diese Eingangsvoraussetzung den Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG sehr schmal. In Betracht kommen tarifvertragliehe Regelungen in Betrieben mit hoher Fluktuation innerhalb der Belegschaft, in Unternehmen mit weit verstreuten oder ständig wechselnden Arbeitsstätten oder mit einem nicht nur geringfügigen Anteil an Teilzeitbeschäftigung, wenn mit der Teilzeitbeschäftigung eine eigene Arbeitsweise oder ein eigener Beschäftigungsbereich verbunden ist. Im Hinblick auf Besonderheiten in der betriebswirtschaftlichen Entscheidungsstruktur erfüllen Unternehmen die Voraussetzungen der Bestimmung, in denen die arbeitgeberseitigen Entscheidungseinheiten Betriebs- und Unternehmensgrenzen überschreiten. Dieses Phänomen kann bei den sogenannten divisionalisierten Unternehmen zu verzeichnen sein. Sämtliche Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung fallen jedoch aus tung oder -ausgliederung zu einer Vertretungslücke, so bedeutet dies nicht, daß hier das BetrVG nicht gilt. TrÜlnner verwechselt offenbar die "Vertretungslücke" mit einer "Gesetzeslücke".
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
dem Rahmen des § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG heraus. Die in der Praxis sehr häufig auftretenden Probleme mit dem Betriebsbegriff können damit - vorbehaltlich des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG - nicht auf der Grundlage tarifvertraglicher Gestaltung aus dem Weg geräumt werden. Das gleiche gilt für Defizite, die im Zusammenhang mit Betriebs- und Unternehmensumstrukturierungen auftreten und zu Vertretungslücken führen können. Die bekannten außerbetriebsverfassungsgesetzlichen Bestimmungen zum Übergangsmandat und zum vennuteten gemeinsamen Betrieb bleiben hier einziger Anknüpfungspunkt für eine Sicherung der Kontinuität der Betriebsverfassung in den betroffenen Arbeitsstätten. § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG kann nicht die Möglichkeit bieten, allgemein in der Unternehmenswirklichkeit auftretende Divergenzen zum gesetzlichen Betriebsverfassungsrecht zu erfassen. Hierfür liegt der Maßstab der Eingangsvoraussetzung ("besondere Schwierigkeiten") zu hoch. Dennoch ist der Anwendungsbereich weiter als überwiegend angenommen. Die Bestimmung ist nicht auf branchenspezifische Besonderheiten reduzierbar. Auch geht es vorwiegend nicht um Besonderheiten, welche der "Errichtung" entgegenstehen, sondern um die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Betriebsverfassung im Hinblick auf alle Vertretungsstufen.
B. Ausgestaltung der Vertretung sowie deren rechtliche Qualifikation Liegen die Voraussetzungen des § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG vor, sind die Tarifvertragsparteien befugt, andere Vertretungsstrukturen und Vertretungsarten zu errichten. Da durch die tarifvertraglichen Bestimmungen nur eine vom Gesetz abweichende nonnative Basis geschaffen wird, handelt es sich nicht um eine im eigentlichen Sinne tarifliche Vertretung. Die Errichtung und Arbeit der Vertretung obliegt weiterhin allein der Belegschaft. Der Tarifvertrag kann insoweit keinen Einfluß nehmen und insbesondere nicht die Vertretungsmitglieder selbst benennen oder auf einen bestimmten Personenkreis beschränken. Spricht man in diesem Zusammenhang von einer tariflichen Vertretung, so beschränkt sich diese Bezeichnung darauf, den Unterschied zu solchen Vertretungen deutlich zu machen, die ihre nonnative Stütze allein in dem Gesetz finden.
I. Zwingende Grundprinzipien
Allgemein ist anerkannt, daß die Tarifvertragsparteien in der Gestaltung einer anderen Vertretung im Grundsatz vollkommen frei sind. l34 Die tarifliche Sonderre134 Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 29; Fitting / Kaiser/ Heither/ Engels. BetrVG § 3 RdNr. 32; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 35; Däubler I Kittner I Klebe- TrÜlnner. BetrVG § 3 RdNr. 33; Galperin/Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 18.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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gelung kann eine vom Gesetz völlig abweichende Regelung der betriebsverfassungsrechtlichen Organisation vorsehen. 135 Die Grenze der tarifautonomen Gestaltungsmacht liegt dort, wo die unverzichtbaren Grundlagen der Betriebsverfassung beeinträchtigt würden. 13 6. Hierzu gehört der Grundsatz der reinen Arbeitnehmervertretung, der demokratischen Form der Wahlhandlungen, der Freiheit der Entscheidung der Wähler und der Gewählten. 137 Daneben ist es unabdingbare Grundvoraussetzung der Organisation der Betriebsverfassung, daß diese einer wirksamen und effizienten Wahrnehmung der Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte nicht entgegensteht. Die Betriebsverfassung darf durch den Tarifvertrag nichts von ihrer Funktion als Arbeitnehmerschutzsystem verlieren. Des weiteren sind Bestimmungen unzulässig, weIche die gesetzlichen Mindeststandards vereiteln. Hieraus folgt, daß eine Wahl überhaupt stattfinden muß, weIche demokratischen Prinzipien (allgemein, frei, gleich und geheim) entspricht. 138 Arbeitgeber und Gewerkschaften dürfen durch den Tarifvertrag insoweit keine "Vorentscheidung" treffen, auch wenn sie dies im Einzelfall als sachgerecht empfinden. So kann die Wahlbarkeit beispielsweise nicht an die Grubentauglichkeit gekoppelt werden. 139 Es ist allein Sache des Wahlers zu entscheiden, weIche Voraussetzungen in der Person des Kandidaten er für dessen Geeignetheit in den Vordergrund stellt und weIche nicht. Zulässig ist es hingegen, einem im Verhältnis zum Gesetz erweiterten Personenkreis das passive Wahlrecht zuzusprechen. So kann vorgesehen werden, daß die Dauer der Betriebszugehörigkeit geringer als 6 Monate sein darf. 140 Damit der Grundsatz der reinen Arbeitnehmervertretung eingehalten bleibt, können jedoch leitende Angestellte als Personen mit Arbeitgeberfunktionen nicht in den Kreis der Wahlberechtigten aufgenommen werden.
11. Ausgestaltung des Organs Außerhalb der zwingenden Prinzipien und Mindeststandards können die Tarifpartner insbesondere in Hinblick auf Wahl, Größe, Zusammensetzung, Organisation, Amtsdauer, Geschäftsführung sowie Vertretungsstruktur eigene Bestimmungen Galperin/ Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 18. Galperin/Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 18; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 30; Däublerl Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 3 RdNr. 33. 137 Losacker. ArbRdGegw Bd. 15 (1964), S. 56 (59). 138 Fiuing/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 32; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 30; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 35; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 3 RdNr. 33; Galperin/Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 18. 139 BAG AP Nr. 1 zu § 19 BetrVG 1972, jedoch hatte der in Rede stehende Tarifvertrag nicht eine andere Vertretung nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zum Gegenstand; aA Gamillscheg, FS-Molitor, S. 133 (143). 140 In dem bei Fn. 100 genannten Tarifvertrag wurde wegen der hohen Personalfluktuation eine einmonatige Betriebszugehörigkeit vereinbart. 135
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
treffen. Die vom Gesetz abweichenden Gestaltungen bilden das Spiegelbild zu den Besonderheiten in dem betroffenen Betrieb. Reicht es um Funktionsstörungen zu verhindern aus, die Wahlvorschriften zu ändern, kann sich eine tarifliche Regelung hierauf beschränken und es im übrigen bei den gesetzlichen Vorgaben belassen. J4J Greifen die Divergenzen zwischen gesetzlichem Organisationsrecht und Realstrukturen tiefer, kann es erforderlich sein, eine vollkommen eigene Betriebsverfassungsstruktur zu errichten. Werden mehrstufige Betriebsvertretungen oder andere betriebs- und unternehmensübergreifende Organe errichtet, müssen die gesetzlichen Mitbestimmungsrechte auf diese verteilt und gegebenenfalls in ihrem Verhältnis zueinander hierarchisch aufgebaut werden, um Kompetenzstreitigkeiten zu vermeiden. 142 Da der Tarifvertrag andere Vertretungen als Gesamt- und Konzernbetriebsrat vorsehen kann, ist er an die Zuständigkeitsmaßstäbe der §§ 50 und 58 BetrVG nicht gebunden. Des weiteren stehen die operativen Rechte des Betriebsrates zur Disposition. Bei ihnen handelt es sich nicht um Bestimmungen des Arbeitnehmerschutzes im eigentlichen Sinne, da sie nar die Rechte des Organs selbst betreffen, was einen Günstigkeitsvergleich im Hinblick auf die Arbeitnehmerschaft ausschließt. Das Gesetz sieht die Möglichkeit der abweichenden Bestimmung nach "oben" und "unten" in § 38 Abs. 1 S. 3 BetrVG bereits für den Freistellungsanspruch vor. 143 Über § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG kann jedoch anders als bei § 325 Abs. 2 UmwG auch die Zahl der Betriebsratsmitglieder (§ 9 BetrVG) oder das Recht, einen Betriebsausschuß zu bilden (§ 27 BetrVG), abweichend geregelt werden. Die Formulierung in § 3 Abs. 3 2. HS BetrVG, nach der die andere Vertretung die Befugnisse und Pflichten eines Betriebsrats hat, steht dem nicht entgegen. Sie ist nur als KlarsteIlung zu verstehen, daß die Mindeststandards des Gesetzes der Disposition durch den Tarifvertrag entzogen sind. Eine Änderung der Rechte des Organs selbst ist hierdurch nicht ausgeschlossen. Gemeint sind nur die Rechte und Pflichten, welche der Betriebsrat als Sachwalter für die Arbeitnehmer wahrnimmt, also die Beteiligungsrechte. Verstoßen tarifvertragliche Bestimmungen gegen die unabdingbaren Grundlagen der Betriebsverfassung, bleibt es bei den gesetzlichen Regelungen. Sind einzelne Klauseln des Tarifvertrages aus diesem Grunde nichtig, berührt dies die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen nicht, soweit die Unwirksamkeit des Teils nicht die übrigen Regelungskomplexe sinnlos macht. Insoweit gelten die allgemeinen Grundsätze zu der Teilnichtigkeit von Tarifverträgen. 144 Überwiegend wird es richtigerweise für zulässig erachtet, die Voraussetzungen, unter denen eine Betriebsvertretung gebildet werden kann, gegenüber dem Gesetz zu verschärfen,145 also 141 Insoweit anders, jedoch ohne Begründung Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 33. 142 Fitting/Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 34. 143 Siehe dazu oben 1. Kapitel § 2 A. I. S. 61 ff.
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Däubler, Tarifvertragsrecht, RdNr. 163.
§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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beispielsweise vorzusehen, daß die andere Vertretung nur in Betrieben errichtet werden darf, in denen mindestens 20 Arbeitnehmer beschäftigt sind. Da der Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG nicht an den Betriebsbegriff gebunden ist, muß das gleiche auch für die Mindestbeschäftigtenzahl gelten, die an den Betrieb gekoppelt ist. Für Betriebe, weIche die im Tarifvertrag vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllen, bleiben die gesetzlichen Regelungen maßgebend, weil der Tarifvertrag nur die Errichtung einer anderen Vertretung der Arbeitnehmer vorsehen kann, nicht jedoch den Ausschluß eines Betriebes aus der Betriebsverfassung. 146 Zu beachten ist dabei jedoch, daß dies nicht innerhalb einer Vertretungsstruktur zu Konflikten zwischen gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelungen führen darf. Soweit innerhalb eines Unternehmens oder Konzerns andere Vertretungsstrukturen geschaffen werden, muß auch den nicht unter den Tarifvertrag fallenden Arbeitsstätten das Recht zur Teilhabe an den überbetrieblichen Interessenvertretungsorganen erhalten bleiben. Regelungen über die Aufgaben, Befugnisse und Pflichten der anderen Vertretung sind vom Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG nur insoweit erfaßt, als sie nicht Rechte der Arbeitnehmer zum Gegenstand haben, sondern sich nur auf die Stellung des Organs gegenüber dem Arbeitgeber beziehen. 147 Dies folgt aus der Zugehörigkeit des § 3 Abs. 1 BetrVG zum Organisationsrecht. Soweit Beteiligungsrechte des Betriebsrates einer Erweiterung durch Tarifvertrag zugänglich sind, gilt dies auch für die andere Vertretung. Es handelt sich aber dann nicht um Bestimmungen im Sinne dieser Norm, so daß sie nicht unter das Zustimmungserfordernis des § 3 Abs. 2 fallen.
111. Stellung der Mitglieder
Die Mitglieder der anderen Vertretung haben grundsätzlich die Stellung eines Betriebsratsmitgliedes. Da die andere Vertretung an die Stelle des gesetzlichen Organs tritt und § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG sich nur auf die organisatorischen Strukturen der Betriebsverfassung und ihrer Organe bezieht, ist die Rechtsstellung der Mitglieder von der tarifvertraglichen Regelung unberührt. Durch den Eintritt der anderen Vertretung in die Rechtsstellung eines Betriebsrates treten auch die Mitglieder der anderen Vertretung in die Rechtsstellung der Mitglieder eines Betriebsrates. Die Anwendbarkeit des § 78 BetrVG (Benachteiligungsverbot) und des § 79 BetrVG (Geheimhaltungspflicht) ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Das Ver145 Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 29; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 34; Fitting / Kaiser/ Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 31; Galperin/Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 18; aA Däublerl Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 33. 146 Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 29. 147 Ähnlich Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 33; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 36; Fitting/ Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 35; Galperin/Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 19; zu ungenau Gamillscheg. FS-Molitor, S. 133 (143).
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
bot der Entgeltminderung (§ 37 BetrVG) ist als gesetzliches Mindestniveau ein Recht des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber und damit im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG der Disposition entzogen. Überall dort, wo gesetzliche Bestimmungen den Schutz von Betriebsratsmitgliedern vorsehen, gilt dies - entsprechend - für die Mitglieder der anderen Vertretungen, da der Zweck und Hintergrund solcher Regelungen in vollem Umfang auch auf letztere zutrifft. Falls in mehrstufigen Vertretungsstrukturen die Mitgliedschaft in einer höheren Stufe nicht an die Mitgliedschaft in dem betrieblichen Organ gekoppelt ist, wie das beim Gesamt- und Konzernbetriebsrat zwingend der Fall ist, gelten die Schutzvorschriften auch für jene Organmitglieder. Der gesetzliche Sonderkündigungsschutz nach § 15 KSchG und § 103 BetrVG gilt folglich trotz der Nichterwähnung der anderen Vertretung für alle Mitglieder dieser Vertretungen entsprechend. 148 Der Tarifvertrag kann günstigere Gestaltungen vorsehen, da es um die Rechtsposition des einzelnen Arbeitnehmers geht. 149
C. Rechtsfolgen der tarifvertraglichen Regelung Die tarifvertragliche Neugestaltung der Vertretungsstruktur bringt für die betroffenen Unternehmen eine Änderung der normativen Grundlage der Betriebsvertretung mit sich. Eine vom Gesetz abweichende betriebsverfassungsrechtliche Ordnung stellt sich im Geltungsbereich des Tarifvertrages faktisch wie eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen dar. Damit stellt sich die Frage, wie der Übergang von einer normativen Regelung zur anderen vonstatten geht. Es gibt drei mögliche Varianten: Die tarifliche Regelung kann die gesetzliche Betriebsverfassung ablösen, die Betriebsverfassung kann von der tariflichen zur gesetzlichen Gestaltung zurückkehren, eine tarifliche kann an die Stelle einer anderen tariflichen Regelung treten.
I. Ablösen des Gesetzes durch Tarifvertrag § 3 Abs. 3 1. HS BetrVG ordnet für die Tarifverträge nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG an, daß mit Inkrafttreten einer solchen Neugestaltung der Betriebsverfassung die Amtszeit der Betriebsräte, die in den vom Tarifvertrag erfaßten Betrieben 148 Huecklv. Hoyningen-Huene, KSchG § 15 RdNr. 9a; KR-Etzel, § 15 KSchG RdNr. 11, § 103 BetrVG RdNr. 10; KittnerlTrittin, KSchG § 15 RdNr. ll; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 34; Fitting I Kaiser I Heither I Engels, BetrVG § 3 RdNr. 38; Däubler I Kittner I KlebeTrümner. BetrVG § 3 RdNr. 34; GK-BetrVG-Kraft, § 3 RdNr. 23; WeisslWeyand, BetrVG § 3 RdNr. 10; GalperinlLöwisch, BetrVG § 3 RdNr. 21; aA Stege I Weinspach, BetrVG § 3 RdNr. 8: maßgeblich ist allein die Regelung im Tarifvertrag. 149 WeisslWeyand, BetrVG § 3 RdNr. 10.
§ 2 Andere tarifvertragliehe Vertretungen
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bestehen, endet. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Tarifvertrages ist von dem Zeitpunkt der behördlichen Genehmigung nach § 3 Abs. 2 BetrVG abhängig. 15o Die Vorschrift will verhindern, daß es mit der Bildung einer anderen Vertretung zu einem Nebeneinander mit dem gesetzlichen Betriebsrat kommen kann. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß der Tarifvertrag dem Gesetzeswortlaut nach die "Errichtung" der anderen Vertretung vorsieht, damit aber erst die Grundlage der Errichtung geschaffen ist. Die Wahl der Vertretung durch die Belegschaft fehlt noch als wesentlicher Vollzugsschritt, damit tatsächlich von einer Errichtung gesprochen werden kann. Anders als die Formulierung in § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG auf den ersten Blick vermuten läßt, fallen Errichtung und Inkrafttreten des Tarifvertrages damit keineswegs zusammen. Nun ließe sich § 3 Abs. 3 1. HS BetrVG dahingehend interpretieren, daß die Amtszeit der vorherigen Vertretung statt mit Inkrafttreten des Tarifvertrages erst mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses der neu gewählten Vertretung endet. Dies würde der Regelung der §§ 21 S. 5 iVm § 13 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BetrVG entsprechen. Eine Veränderung der Belegschaftszahl (§ 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG) oder ein Absinken der Mitgliederzahl (§ 13 Abs. 2 NI. 2 BetrVG) bildet jedoch einen Sonderfall der Regelamtszeit von vier Jahren, so daß eine entsprechende Anwendung bereits aus diesem Grunde nur schwer begründbar ist. Entscheidender qualitativer Unterschied zu § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG ist jedoch die Tatsache, daß sich mit der Neuregelung der Betriebsverfassung die normative Grundlage verändert, die alte Vertretung strenggenommen also auch an der neuen zu messen wäre. So kann eine auf Grundlage des Gesetzes errichtete Vertretung nicht auf dieser Basis im Amt bleiben. Die reguläre Amtszeit endet mithin kraft Gesetzes. 151 Es entspricht jedoch nicht dem Zweck des § 3 Abs. 3 1. HS BetrVG, daß es im Zuge des Übergangs von einer Regelung in die andere zu betriebsrats losen Zeiten kommt. Nicht zuletzt die Anerkennung eines Übergangsmandats im UmwG, SpTrUG und VermG läßt einen allgemeinen, dem entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers erkennen. 152 Da der Wortlaut des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG eine Verlängerung der Amtszeit nicht zuläßt und die normative Grundlage der tariflichen Vertretung mit der Neuregelung entfallen ist, verbleibt nur die Möglichkeit, dem alten Organ eine begrenzte Geschäjtsjührungsbe[ugnis in entsprechender Anwendung des § 22 BetrVG zuzuerkennen. Der im Rahmen des § 22 BetrVG nur relevante Fall des kollektiven Rücktritts des Betriebsrats nach § 13 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG betrifft eine vergleichbar gelagerte Konstellation. Mit der Amtsaufgabe ist das Amt als Legitimation eigentlich entfallen, dennoch ist eine Weiterführung der Geschäfte bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses vorgesehen. Es ist zwar praktisch ohne Relevanz, ob der Betriebsrat im Amt ist oder lediglich seine Geschäftsftihrungsbefugnis behält, da auch letztere umfassend iSt. 153 Der Unterschied liegt Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 69. Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 38; Däubler/Kittner/KlebeTrümner, BetrVG § 3 RdNr. 59; GK-BetrVG-KraJt. § 3 RdNr. 22. 152 Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RdNr. 38. 150 151
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
jedoch in der rechtlichen Einordnung der Geschäftsführungsbefugnis als zeitlich begrenzter Übergangslösung mit (bloß) gesetzlicher Legitimation. 154 Tritt mit Inkrafttreten des Tarifvertrages eine tarifliche Regelung an die Stelle der gesetzlichen, so wird man, um eine Lücke in der betrieblichen Vertretung zu vermeiden, einen etwa bereits bestehenden gesetzlichen Betriebsrat in analoger Anwendung des § 22 BetrVG die Geschäfte weiterführen lassen müssen. Diese Auffassung wird auch vom überwiegenden Schrifttum geteilt. 155 Nicht möglich ist es jedoch, mit dem Tarifvertrag Übergangsregelungen für den gesetzlichen Betriebsrat zu schaffen. 156 Daneben macht es keinen Sinn, betriebsratslose Zeiten dadurch vermeiden zu wollen, daß das Inkrafttreten des Tarifvertrages zu einem späteren Termin, als die behördliche Zustimmung erfolgt, denn die Errichtung der anderen Vertretung ist erst mit dem Inkrafttreten möglich. Vorher fehlt die erforderliche normative Grundlage. Übergänge außerhalb der regulären Amtszeiten sind also unabwendbar und nur mit Hilfe des § 22 BetrVG mit einem sinnvollen Ergebnis zu lösen. Soweit das Genehmigungsverfahren beziehungsweise der Zeitpunkt des Inkrafttretens in den Zeitraum eines regulären Amtszeitendes nach § 21 BetrVG fällt, ist es dabei ratsam, noch einen gesetzlichen Betriebsrat zu wählen, um eine vertretungslose Zeit zu vermeiden. In diesen Fällen kann es erforderlich sein, das Inkrafttreten dem Genehmigungsverfahren zeitlich nachzustellen, wenn nicht sicher ist, wann die Genehmigung vorliegt.
11. Rückkehr zur gesetzlichen Regelung Bei Beendigung eines Tarifvertrages nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG richtet sich die Frage, ob die Amtszeit der Vertretung über diesen Zeitpunkt hinausgehen kann, danach, ob man dem Tarifvertrag gegenüber dem Gesetz verdrängende Nachwirkung zuspricht oder nicht. Das Bundesarbeitsgericht und insbesondere die tarifrechtliche Kommentarliteratur steht auf dem Standpunkt, daß auch betriebsverfasGK-BetrVG-Wiesel Kreutz. § 22 RdNr. 16 f. Dies verkennen Wiese I Kreutz (GK-BetrVG § 22 RdNr. 15). Daneben ist es nicht möglich, wie von diesen und Däubler I Kittner I Klebe- Trümner. BetrVG § 3 RdNr. 59 angenommen. durch Tarifvertrag Übergangsregelungen zu schaffen und eine Weiterführung der Geschäfte eines gesetzlichen Betriebsrates zu vereinbaren. Der Tarifvertrag ist nur normative Grundlage der neuen Errichtung und kann folglich nicht selbst die Amtszeit oder Geschäftsführungsbefugnis eines auf Grundlage des BetrVG gebildeten Betriebsrates verlängern. Eine solche Tarifierungsbefugnis läßt sich auch nicht mit § I Abs. I TVG begründen (so aber Trümner. aaO.). 155 Fitting I Kaiser I Heither I Engels. BetrVG § 3 RdNr. 38; Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 35; GK-BetrVG-KraJt. § 3 RdNr. 44; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner. BetrVG § 3 RdNr. 59; WeisslWeyand. BetrVG § 3 RdNr. 11; Hess/Schlochauer/Glaubitz-Schlochauer, BetrVG § 22 RdNr. 6; ablehnend Galperinl Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 20 und § 21 RdNr. 15 sowie GK-BetrVG-Wiese. § 21 RdNr. 35 und § 22 RdNr. 15. 156 Siehe Fn. 154. 153
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§ 2 Andere tarifvertragliche Vertretungen
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sungsrechtliche Normen nach § I Abs. I TVG der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG unterliegen. 157 Es wird nicht bestritten, daß die unmittelbare Geltung des Tarifvertrages zwar erhalten bleibt, dessen zwingende Wirkung aber entfallt. 158 Dies folgt unmittelbar daraus, daß die Rechtsnormen nur solange weiter gelten, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (§ 4 Abs. 5 2. HS TVG). Unter dieser anderen Abmachung ist ein anderer Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder eine einzelvertragliche Abmachung zu verstehen, nicht jedoch das Gesetz. Wenn die nachwirkende Tarifnorm selbst rangniedrigere Rechtsquellen (Individualabrede) nicht zu verdrängen vermag, kann diese Wirkung erst recht nicht für gesetzliche Regelungskomplexe entstehen. 159 Für gesetzesverdrängende betriebsverfassungsrechtliche Normen würde sich daneben die Besonderheit ergeben, daß diese zwar durch einen neuen Tarifvertrag ablösbar wären, der Geltungsanspruch des Gesetzes dagegen auf Dauer verdrängt wäre. Diese Konsequenz wird der Funktion des § 4 Abs. 5 TVG als Überbrückungsregelung l60 nicht gerecht, sondern geht weit darüber hinaus. Das Gesetz beansprucht im Bereich des tarifdispositiven Rechts grundsätzlich seine volle Geltung und nimmt diesen Anspruch nur im Fall einer voll wirksamen tarifvertraglichen Vereinbarung zurück. Durch den Wegfall der zwingenden Wirkung der Tarifnorm kann dieser gegenüber dem Gesetz also keine verdrängende Wirkung mehr zukommen. Zudem entsteht hierdurch keine "Regelungslücke", die einer Überbrückung bedürfte, da mit dem BetrVG eine gesetzliche Regelung besteht. Jedenfalls für das betriebsverfassungsrechtliche Organisationsrecht gilt, daß es vom Tarifvertrag nur für die Zeit von dessen voller zwingender normativer Wirkung verdrängt werden kann. 161 Mit § 4 Abs. 5 TVG läßt sich folglich der Fortbestand der tariflichen Arbeitnehmervertretung nicht begründen. 162 Mit dem Außerkrafttreten der tarifvertraglichen Regelung entfällt die normative Grundlage der Betriebsvertretung. Die Organisation der Belegschaft be157 BAG AP Nr. 4 zu § 4 BAT; BAG NZA 1989,601 (602); KempenlZachert, TVG § 4 RdNr. 300; Löwischl Rieble, TVG § 4 RdNr. 237; Wiedemann-Wank, TVG § 4 RdNr. 344. 158 BAG AP Nr. 2 zu § 74 BAT; AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung; AP Nr. 52, 55, 76 zu §§ 22, 23 BAT. 159 Däub1er I Kittner I Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 55. Kempen, FS-Schaub, S. 357 (369 f.) hält dies für "zirkelschlüssig", da es sich um tarifdispositives Recht handele, weIches ebensowenig ,,ranghöher" als ein Tarifvertrag wie ein gänzlich dispositives Gesetz etwa ranghöher als ein Individualarbeitsvertag sei. Dies verkennt jedoch, daß die "dispositive" Natur des Gesetzes erst dann eintritt, wenn ein voll wirksamer und zwingender Tarifvertrag vorliegt. Ist dies nicht der Fall, bleibt das Gesetz in allen Bereichen zwingend. Mithin ist letzterer Argumentation eher der Vorwurf zu machen, sie sei "zirkelschlüssig". 160 BAG DB 1990, 1919 (1921). 161 Im Ergebnis auch Fitting I Kaiser I Heither I Engels, BetrVG § 3 RdNr. 40; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 37; GK-BetrVG-Kraji, § 3 RdNr. 37; Däubler/Kittner/Klebe-TTÜmner, BetrVG § 3 RdNr. 54 ff., 61; Däubler, Tarifvertragsrecht, RdNr. 1461 nimmt jedoch ein Übergangsmandat der tariflichen Vertretung an. In diesem Sinne auch im Grundsatz BAG AP Nr. 6 zu § 13 BUriG. 162 Dagegen ausdrücklich Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 11; Galperinl Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 20; Kempen, FS-Schaub, S. 357 (396 f.).
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
stimmt sich (wieder) nach dem Gesetz. Wie oben hat die (bisherige) Betriebsvertretung aber ihre Geschäfte in analoger Anwendung des § 22 BetrVG weiterzuführen, bis eine neue gesetzliche Betriebsvertretung gewählt ist. Diese Geschäftsführungsbefugnis endet spätestens mit Ablauf der regulären gesetzlichen (§ 13 Abs. 1 BetrVG)163 oder im Tarifvertrag vorgesehenen Amtszeit.
III. Ablösung tariflicher Regelungen Im Zeitraum der zwingenden Geltung des Tarifvertrages richten sich etwaige Übergangsregelungen zunächst nach dem Tarifvertrag. Dieser kann insbesondere § 22 BetrVG entsprechende Regelungen treffen. Enthält er solche Bestimmungen nicht, so wird man jedoch im Rahmen der Auslegung des Tarifvertrages in aller Regel zu einem Übergangsmandat kommen. l64 Löst eine tarifliche Regelung die andere unmittelbar, also ohne zeitliche Lücke, ab, so gilt das gleiche, wobei zu beachten ist, daß nur der jeweils zwingend wirksame Tarifvertrag beachtlich ist. Sieht die ablösende tarifvertragliehe Vereinbarung vor, daß die vorherige Vertretung im Amt bleibt, so endet deren Amtszeit nicht. 165 § 3 Abs. 3 1. HS BetrVG regelt nur den Übergang von der gesetzlichen zur tariflichen Vertretung. Bleibt es bei der lükkenlosen tariflichen Vertretungsweise, können die Tarifpartner hiervon abweichen. Treten beim Übergang von einer tariflichen Regelung zur anderen Lücken auf, so gilt in diesem Zeitraum das Gesetz mit der Übergangsregelung des § 22 BetrVG.
D. Ergebnis Die nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG mögliche Sondergestaltung der Betriebsverfassung ist zu sehr begrenzt, als daß sie die allgemeinen Schwierigkeiten der Praxis mit den Strukturen des Organisationsrechts und den Begriffsabgrenzungen abfangen könnte. Hinzu kommt, daß das Vorliegen der Voraussetzungen der Öffnungsklausel selbst nicht immer eindeutig zu beantworten sein wird. Wann Funktionsstörungen erheblich sind und wann nicht, unterliegt einem fast ähnlich weiten Beurteilungsspielraum wie die Frage, wo der selbständige Betriebsteil zum selbständigen Betrieb wird. Dies auch, weil die organisationsspezifischen Besonderheiten, welche zu diesen Folgen für die Betriebsverfassung führen, sehr unterschiedlicher Natur und Ausprägung sein können. Gleichwohl muß der Vorschrift eine größere Bedeutung beigemessen werden, als ihr von Wissenschaft und Praxis zugesprochen wird. Dies gilt insbesondere für die divisionalisierten Unternehmensformen, welFitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 22 RdNr. 11. Däublerl Kittnerl Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 60. 165 Anders Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 39; wie hier wohl Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 38. 163
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§ 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit
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che in der Wirklichkeit immer mehr an Bedeutung erlangen. Daß bislang kein einziger Tarifvertrag zu diesem Komplex bekannt ist, der den Weg des § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG beschritten hat, verwundert nicht, wenn erst jetzt die Kommentarliteratur bereit ist, diese Wege aufzuzeigen. 166 Die Angst, im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nach § 3 Abs. 2 BetrVG zu scheitern, mag ein weiterer, nicht wenig gewichtiger Grund hierfür sein. Es ist jedoch keine Lösung, den "offiziellen" Weg über den Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 BetrVG zu umgehen und im Vertrauen auf die beiderseitige Vertragstreue Vereinbarungen abzuschließen,167 die ohne Rücksicht auf ihren Inhalt bereits wegen der fehlenden Zustimmung nichtig sind. 168 Solche Abreden dienen nur vordergründig der Problembehebung. Die Anpassung der betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen an die Strukturen des Unternehmens werden dann mit der ständigen Gefahr der Unwirksamkeit sämtlicher betrieblicher Vereinbarungen teuer bezahlt. Weder der Rechtssicherheit noch der Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung ist damit gedient.
§ 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit Das BetrVG geht vom Betrieb als Einheit aus, für den die gesetzliche Betriebsvertretung, der Betriebsrat, gewählt wird. Diese Vorgabe ist für die Betriebspartner zwingend. Welche Arbeitnehmer gemeinsam eine Interessenvertretung bilden, ist damit nicht ihnen selbst überlassen, sondern richtet sich nach dem Betriebsbegriff. Danach ist der Betrieb "die organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber allein oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen". 169 Entscheidendes Kriterium der Rechtsprechung ist dabei mittlerweile die Einheit der Entscheidungen in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten. 170 Das Gesetz selbst geht offensichtlich davon aus, daß die Praxis mit der Übertragung der abstrakten Definition auf die betriebliche Wirklichkeit erhebliche Probleme haben kann. Die Möglichkeit des Statusverfahrens nach § 18 Abs. 2 BetrVG 171 anerkennt, daß für eine eindeuti166 So sehen nunmehr Fitting/Kaiser/Heither/Engels seit der 19. Auf!. für § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG einen Anwendungsbereich in divisionalisierten (Sparten-) Unternehmen, auch wenn hier wiederum nicht auf die organisationsspezifische, sondern branchenspezifische Besonderheit abgestellt wird (BetrVG § 3 RdNr. 34). 167 Vgl. die Tarifverträge bei Bachner. NZA 1996,400 (400 ff.), die ohne Genehmigung als "Vereinbarungen" umgesetzt wurden. 168 BAG Beschluß vom 25.10.1989-7 ABR 89/88 nv.; LAG Hamburg NZA-RR 1997, 136 (140); LAG Brandenburg Beschluß vom 9.08.1996-2 TaBV 9/96 nv. 169 BAG st. Rspr., zuletzt AP Nr. 5, 6, 7, 9 zu § I BetrVG 1972. 170 BAG siehe 2. Kapitel Fn. 41. 12 Wißmann
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
ge Klärung nicht selten der juristische Sachverstand des Richters erforderlich ist und nur die Verbindlichkeit des Urteils wirklich Rechtssicherheit bringen kann. Wegen der nur sehr kurzfristigen Anfechtbarkeit der Wahl wegen der Verkennung des Betriebsbegriffs und der äußerst restriktiven Handhabung der Nichtigkeitsvoraussetzungen ist ein umfassender Bestandsschutz zu verzeichnen, der jedoch den rechtswidrigen Zustand nur gleichermaßen legalisiert. 172 Daß ohne diese Bestandsgarantie sehr viele Betriebsräte ohne ein rechtliches Fundament wären, hat der Blick auf die Wirklichkeit gezeigt. 173 Welche Arbeitsstätte eine wahlfähige betriebsverfassungsrechtliche Einheit bildet, ergibt sich aus dem Betriebsbegriff einschließlich der Zuordnungskriterien des § 4 BetrVG. Dieser trifft eine Regelung darüber, ob Betriebsteile oder Nebenbetriebe dem Hauptbetrieb zuzuordnen oder betriebsverfassungsrechtlich selbständig sind. Freilich nennt auch er nur die Kriterien hierfür, ohne zu sagen, was einen Betriebsteil, was einen Nebenbetrieb ausmacht. 174 Den Regelungsinhalt des § 4 BetrVG greift die dritte Variante des § 3 Abs. 1 BetrVG auf. Diese ermächtigt die Tarifvertragsparteien, davon "abweichende Regelungen über die Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben" zu treffen, "soweit dadurch die Bildung von Vertretungen der Arbeitnehmer erleichtert wird". Was damit den Tarifvertragsparteien an Gestaltungsfreiheit an die Hand gegeben ist, wird im folgenden darzustellen sein. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob die Möglichkeiten in den Betriebsbegriff selbst hineinreichen und auf diese Weise eine Modifikation desselben durch die Tarifvertragsparteien gestattet ist. Die Nr. 3 stellt bislang die am häufigsten in Anspruch genommene Öffnungsklausel des § 3 Abs. 1 BetrVG dar. So gibt es nach derzeitigem Stand etwa 300 genehmigte Tarifverträge im gesamten Bundesgebiet,175 nicht genehmigte Vereinbarungen mit entsprechendem Inhalt nicht gezählt. Die Tendenz ist steigend. Als prominente Beispiele seien hier die Tarifverträge über die Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben bei der Deutschen Bahn AG l76 und der Deutschen Telekom Immobilien und Service GmbH genannt. 177 171 Es ist inzwischen fast unbestritten, daß - entgegen dem Wortlaut - dieses Verfahren jederzeit und auch in bezug auf den Betriebsbegriff selbst angestrengt werden kann (BAG AP Nr. 7 zu § 1 BetrVG 1972; AP Nr. 3 zu § 18 BetrVG 1972; AP Nr. 8 zu § 19 BetrVG 1972). 172 Die Verkennung des Betriebsbegriffs führt nach Auffassung des BAG nur zur Anfechtbarkeit der Wahl, regelmäßig jedoch nicht zu deren Nichtigkeit (BAG AP Nr. 3 zu § 1 BetrVG 1972; AP Nr. 28 zu § 99 BetrVG 1972). 173 Dazu oben 2. Kapitel § 3 A. I. S. 123 ff. 174 Dazu ausführlich oben 2. Kapitel § 2 A.III. S. 100 ff. 175 Auskunft über Tarifverträge nach § 3 Abs. I BetrVG erteilt das beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geführte Tarifregister (Am Burgweiher 56,53123 Bonn). 176 Tarifvertrag zwischen der Deutschen Bahn AG und der GdED vom 10. 12. 1993, geändert durch Tarifvertrag vom 2. 2. 1995 (vgl. amtliche Bekanntmachungen vom 13. 1. 1994, Bundesanzeiger Nr. 16 vom 25. 1. 1994, S. 543 sowie vom 5. 5.1995, Bundesanzeiger Nr. 93 vom 17.5.1995, S. 5486). Dazu Engels/Mauß. RdA 1997,217 (221, 230).
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A. Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG Ähnlich dem § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG knüpft diese Vorschrift dem Wortlaut nach durch die Bezugnahme auf die "Bildung" der Arbeitnehmervertretungen vordergründig an die Installation des Betriebsrates, mithin seine Wahl, an. Es ist bereits angedeutet worden, daß einiges dafür spricht, nach dem Sinn der Norm den Anwendungsbereich nicht auf diese Interpretation zu begrenzen. 178 Denn über dem gesamten § 3 BetrVG, so auch über dessen dritter Variante, steht die Vorstellung einer Effektivierung der betrieblichen Mitbestimmung durch eine tarifvertragliche Anpassung an die vorhandenen Strukturen im Unternehmen oder Betrieb. Daneben bedarf es der Klärung, welche Organisationseinteilungen der tariflichen Regelung zugänglich sind. Dabei ist voranzustellen, daß die durch § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG möglichen abweichenden Regelungen sich nur auf die Schaffung betriebsratsfähiger Einheiten beziehen. Dagegen ist die Gestaltung des an dieser Stelle angesiedelten Organs - des Betriebsrates - nicht zugelassen. Dies unterscheidet diese Variante vom § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG, dessen Anwendungsbereich die Schaffung einer anderen Vertretungsart und -struktur beinhaltet.
I. Die Erleichterung der Bildung
Wie auch bei der Möglichkeit, eine andere Vertretungsform durch Tarifvertrag vorzusehen, formuliert § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG gleichermaßen eine Eingangsvoraussetzung. Hier sind es jedoch nicht die "besonderen Schwierigkeiten", die der "Errichtung" einer gesetzlichen Vertretungsstruktur entgegenstehen, welche eine tarifvertragliehe Regelung gestatten. Vielmehr läßt es die Norm bereits ausreichen, wenn der Tarifvertrag die ,,Bildung von Vertretungen der Arbeitnehmer erleichtert". Der Wegfall der Qualifikation ("besonders") verdeutlicht, daß die Hürde, in den Anwendungsbereich dieser Norm zu gelangen, weitaus niedriger ist. Denn eine Erleichterung tritt mit jeder Form der Vereinfachung ein, unabhängig davon, ob diese absolut notwendig oder nur sinnvoll ist. 179 Auffällig ist, daß einmal von ,,Errichtung" und das andere Mal von "Bildung" die Rede ist. Es sind jedoch keine Gründe erkennbar, warum vorliegend den Begriffen unterschiedliche Bedeutung beigemessen werden sollte. "Bildung" und "Errichtung" meint bezogen auf betriebsverfassungsrechtliche Gremien nichts Wesensverschiedenes.
177 Tarifvertrag zwischen der Deutschen Telekom Immobilien GmbH und der Deutschen Postgewerkschaft, dem Postverband der Christlichen Gewerkschaft Post vom 4. 4. 1996 (vgl. amtliche Bekanntmachung vom 23.1. 1997, Bundesanzeiger Nr. 24 vom 5.2.1997, S. 1127). 178 Dazu oben 1. Kapitel § 2 B. III. S. 68. 179 Es ist nicht ersichtlich, wo im Rahmen dieser Norm der qualitative Unterschied zwischen ,,Erleichterung" und ..Vereinfachung" liegen soll. Die Begriffe bedingen sich gegenseitig. Anders offenbar Hanau, NZA 1993, S. 817 (818).
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Daher spricht die Systematik des § 3 Abs. I BetrVG dafür, "Bildung" wie auch "Errichtung" gleichermaßen nicht nur auf die Wahl des Betriebsrates zu beziehen, sondern die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung in den betroffenen Betrieben in den Vordergrund zu stellen. 180 Zu einer Verbesserung der Funktionsfähigkeit kann jede - hier tarifvertragliche - Regelung führen, die es der Interessenvertretung ermöglicht, ihren gesetzlich zugewiesenen Aufgaben effektiver und sinavoller nachzukommen. Dies kann einerseits dadurch geschehen, daß die Betreuung der vertretenen Belegschaften erleichtert wird, indem der Betriebsrat näher bei diesen verortet wird. Andererseits ist durch eine möglichst arbeitgebernahe Installation des Organs das Durchsetzungsvermögen gegenüber dem Unternehmer erhöht. Damit deckt sich die Aussage der Kommentarliteratur, Hauptzweck der Vorschrift sei es, durch Tarifvertrag eine optimale Wahrnehmung der Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte des Betriebsrates und eine bestmögliche Betreuung der Arbeitnehmer zu ermöglichen. 181 Hierzu gehört ebenfalls jede Zweckmäßigkeitserwägung, wenn sie eine Optimierung zur Folge hat. 182 Gleichermaßen kann eine Erleichterung der Arbeit des Betriebsrates die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung erhöhen, und zwar dann, wenn dies sich auch zugunsten der Belegschaft auswirkt. So wird die Bildung eines Betriebsrates "vor Ort" in verstreuten Betriebsstätten, die nicht die Voraussetzungen des § 4 S. I Nr. 2 BetrVG erfüllen, zunächst den Betriebsratsmitgliedern zugute kommen, da sie keine weiten Wege zurückzulegen haben. Entscheidend ist jedoch, daß die Optimierung der Arbeit des Organs zugleich und im wesentlichen den Vertretenen zugute kommen kann. Daher ist es verfehlt, wenn überwiegend abgelehnt wird, die Erleichterung der Arbeit des Betriebsrates in die Erwägungen einzubeziehen. 183 Es kann keine Rolle spielen, ob ein Betriebsrat bereits vorhanden ist oder nicht. 184 Weder die eine noch die andere Tatsache wird alleine zu der Erkenntnis führen, ob eine Funktionsoptimierung notwendig oder entbehrlich ist. Es sind vielmehr die Erfahrungen aus der Vergangenheit, weIche diese Beurteilung ermögliZu § 3 Abs. I Nr. 2 BetrVG siehe die Darstellung oben 3. Kapitel § 2 I. 2. S. 147 ff. Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 49; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 43; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 43; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 26; Weiss/Weyand, BetrVG § 3 RdNr. 12; Galperin/Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 24; Wlotzke, BetrVG § 3, I c). 182 Fitting/Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 49; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 43; differenzierend GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 26; ablehnend Brecht, BetrVG § 3 RdNr.17. 183 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 49; GK-BetrVG-Kraji, § 3 RdNr. 26. Wie hier Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 VII 4 c) (5); ders., ZfA 1975,375 (384); ders., FS-Molitor, S. 133 (147). 184 Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 43a hält es für bedenklich, wenn ein Betriebsrat bereits lange Jahre existiert hat und "problemlos seinen gesetzlichen Aufgaben nachgegangen ist". In diesem Fall ist aber nicht die langjährige Existenz entscheidend, sondern die damit gemachten Erfahrungen. Sind diese so, daß eine Verbesserung nicht erreicht werden kann, liegt die Voraussetzung der ,,Erleichterung" auch nicht vor. 180 181
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chen. So spricht viel für eine Funktionsstörung, wenn in einem weit entfernten Betriebsteil ein Betriebsrat nicht besteht. 185 Der Grund wird darin liegen, daß geeignete Verhandlungspartner in dem Betriebsteil nicht existieren und die Belegschaft deshalb von der Bildung einer Vertretung von vornherein abgesehen hat. Letztlich kann eine Erleichterung darin liegen, daß die tarifvertragliche Vereinbarung den Wahlprozeß vereinfacht. Bestehen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen Zweifel an der Betriebsratsfähigkeit von Betriebsteilen oder Nebenbetrieben, ist, will man sich nicht auf den Bestandsschutz mit Ablauf der Anfechtungsfrist verlassen, ein Statusverfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG erforderlich. Die Realisierung der betrieblichen Mitbestimmung wird dann durch eine entsprechende tarifvertragliche Vereinbarung vereinfacht. Ob auch Zweifel hinsichtlich der Einordnung als "echter" Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG einen Tarifvertrag erlauben, wird unten zu erörtern sein. 186
11. Erfaßte Organisationseinheiten § 4 BetrVG regelt, unter weIchen Voraussetzungen Betriebsteile eigene Betriebsräte errichten können und wann Nebenbetriebe einer anderen Betriebsstätte zugeordnet werden. Hierdurch beurteilt die Bestimmung, weIche Betriebsstätten und weIche Belegschaften zusammen die betriebsverfassungsrechtliche Einheit "Betrieb" bilden, auch wenn es sich bei § 4 S. 1 BetrVG nur um eine gesetzliche Fiktion handelt. Hieran knüpft § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG unter ausdrücklicher Nennung des § 4 BetrVG an, indem er Abweichungen von dem gesetzlichen Zuordnungsmodell ermöglicht. Auch wenn hierdurch der Betriebsbegriff selbst noch nicht angetastet ist, so ist es jedoch offenkundig, daß der Tarifvertrag betriebsratsfähige Einheiten festlegen kann, die bei Anwendung der §§ 1 und 4 BetrVG so nicht existieren würden. Der Betrieb wird auf diese Weise zwar nicht in der Begriffsdefinition, jedoch als Anknüpfungspunkt der betrieblichen Organisationsverfassung abgeändert.
1. Regelungen in bezug aufBetriebsteile
Die Bestimmung erlaubt eine von § 4 BetrVG abweichende Regelung hinsichtlich der Zuordnung von Betriebsteilen. Gegenstand der tariflichen Regelung ist mithin der Betriebsteil als organisatorische Einheit der gesetzlichen Betriebsverfassung. Wahrend die relevanten Abgrenzungsfragen innerhalb des § 4 S. 1 BetrVG darauf gerichtet sind, den unselbständigen vom selbständigen Betriebsteil anhand der organisatorischen und örtlichen Kriterien des § 4 S. 1 BetrVG zu tren185
Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 43.
186
Dazu unten 11. 3. S. 188 ff.
182
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nen, ist die Fragestellung innerhalb des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine andere. IX? Der Tarifvertrag nimmt eine von den Zuordnungskriterien des § 4 S. 1 BetrVG unabhängige Beurteilung vor, so daß sich der Gestaltungsbereich nur danach richtet, ob ein Betriebsteil vorliegt oder nicht. Irrelevant ist es, ob der Betriebsteil nach § 4 S. 1 BetrVG noch unselbständig oder bereits selbständig ist, also einen eigenen Betriebsrat bilden kann. Es sind zwei Grenzziehungen von Bedeutung. Die Tarifierungsbefugnis beginnt dort, wo der Betriebsbereich zum Betriebsteil wird und hört - dem Wortlaut nachdort auf, wo der Betriebsteil zum selbständigen Betrieb wird. Es gibt folglich für den Anwendungsbereich neben der Grenze "nach oben" - also hin zum selbständigen Betrieb - auch eine Grenze "nach unten" - hin zum Bereich einer Arbeitsstätte, welcher weniger Autonomie aufweist, als dies beim unselbständigen Betriebsteil der Fall ist. Wie oben beschrieben 188 unterscheidet sich der Betriebsteil vom bloßen Bereich eines Betriebes durch ein Mindestmaß an organisatorischer und räumlicher Abgrenzbarkeit. Es müssen arbeitgeberseitige Leitungsfunktionen vorhanden sein, welche in einer schlichten Vorgesetztenfunktion liegen können. Zwar ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß der wesentliche Teil der mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten anderenorts entschieden wird. Es ist jedoch gewährleistet, daß eine etwaige betriebliche Vertretung überhaupt einen Ansprechpartner auf Arbeitgeberseite hat. Hinzutreten muß die räumliche Abgrenzbarkeit des Betriebsbereichs. Erforderlich ist das Vorliegen einer Belegschaft, die im Hinblick auf die arbeitgeberseitigen Maßnahmen im wesentlichen einheitlich betroffen ist. Damit können Betriebsbereiche, die organisatorisch oder räumlich in einem Betrieb aufgehen, keine Betriebsteile sein.
a) Dezentralisierung Die Unterscheidung zwischen Betriebsteil und Betriebsbereich ist im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG dann relevant, wenn durch Tarifvertrag einer Arbeitsstätte trotz fehlender Eigenständigkeit oder weiter Entfernung zum Hauptbetrieb der Status einer betriebsratsfähigen Einheit zuerkannt werden soll. Die von § 4 BetrVG abweichende Zuordnungsregelung liegt in diesem Fall darin, daß - im Gegensatz zu der gesetzlichen Anordnung - eine Zuordnung nicht stattfindet. 189 Denn unselbständige Betriebsteile bilden nach § 4 S. 1 BetrVG mit dem Hauptbetrieb einen einheitlichen Betrieb, sind mithin diesem zugeordnet. Die den Tarifvertragsparteien damit grundsätzlich eröffnete Möglichkeit, innerhalb des gesetzlich selbständigen Betriebes Betriebsratsstrukturen aufzubauen, findet ihre Grenze dort, wo Hierauf wurde bereits oben hingewiesen; 2. Kapitel § 2 III. 1. S. 102. Zu der Herleitung dieser Definition 2. Kapitel § 2 III. 1. a) S. 103 f. 189 Daß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG diese Gestaltungsvariante eröffnet, wird nicht bezweifelt. Statt aller Däubler/Kittner/Klebe-TTÜmner, BetrVG § 3 RdNr. 39; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr.25. 187 188
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die Mindestvoraussetzungen des Betriebsteils nicht (mehr) vorhanden sind. Hierdurch wird verhindert, daß Betriebsräte in Bereichen gebildet werden, in denen die betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben nicht wahrgenommen werden können, da ein Ansprechpartner auf der Seite des Arbeitgebers fehlt oder eine Belegschaft gar nicht vorhanden ist, aus deren innerer Verbundenheit sich eine Interessenrichtung ergeben könnte. Es ist folglich beispielsweise ausgeschlossen, auseinander liegende Filialen zu betriebsratsfähigen Einheiten zu erklären, soweit Arbeitgeberfunktionen an diesen Stellen nicht vorhanden sind, sondern anderswo zentral wahrgenommen werden. Umgekehrt sind innerhalb eines Betriebes Hallen- oder Bereichsbetriebsräte nur denkbar, wenn sich dort eigene Arbeitgeberfunktionen auf eine im wesentlichen fest umrissene Belegschaft beziehen. Zu beachten ist, daß eine Dezentralisierung der Strukturen in aller Regel einen Verlust an Entscheidungsnähe mit sich bringt. Dies kann nicht dadurch aufgefangen werden, daß auf der gesetzlichen Betriebsebene eine weitere Vertretung installiert wird, da diese durch den Tarifvertrag außer Kraft gesetzt ist. Es handelt sich insoweit nicht um Substrukturen, sondern um die Ebene des Betriebes. Nächsthöhere Ebene wäre erst der Gesamtbetriebsrat, soweit dessen Voraussetzungen überhaupt vorliegen.
b) Zentralisierung Sodann ergibt sich im Hinblick auf den Betriebsteil die Gestaltungsvariante, ihn entgegen den Feststellungen des § 4 S. 1 BetrVG einer anderen Arbeitsstätte zuzuordnen. l90 Die Folge ist, daß die gesetzliche Fiktion, als selbständiger Betrieb behandelt zu werden, tarifvertraglich aberkannt wird. Gesetzlich bestimmt sich das Schicksal des Betriebsteils nach dessen Grad an Selbständigkeit und der Entfernung vom Hauptbetrieb. Nur wenn er nicht "weit entfernt" und nicht "eigenständig" ist, wird er dem Hauptbetrieb zugeordnet. Für § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG könnte man daraus entnehmen, daß sich die Regelungsmöglichkeiten darauf beschränken, den Betriebsteil ohne Rücksicht auf die Zuordnungskriterien des § 4 S. 1 BetrVG dem Hauptbetrieb zuzuordnen; die abweichende Regelung sich also nur auf die Zuordnungskriterien bezöge, nicht jedoch auf das Zuordnungsobjekt. Die Bestimmung der aufnehmenden Arbeitsstätte stünde nicht zur Disposition der Tarifpartner, es wäre stets der Hauptbetrieb. Damit käme es bei einer tarifvertraglichen Zuordnung des Betriebsteils nicht in Betracht, den Betriebsteil statt dem Hauptbetrieb einer anderen Arbeitsstätte zuzuordnen. 191 § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG verweist ausdrücklich auf das gesetzliche Zuordnungsmodell des § 4 BetrVG. Dieses gibt indes nicht nur Zuordnungskriterien, sondern mit dem Hauptbetrieb gleichzeitig das Zu190 Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 42; Däubler/Kittner/KlebeTrümner, BetrVG § 3 RdNr. 39; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 25; Richardi. BetrVG § 3 RdNr.40. 191 So scheinbar Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 39.
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ordnungsobjekt vor. Wenn die Öffnungsklausel von § 4 abweichende Regelungen zuläßt, so bezieht sich dies eindeutig auf alle Vorgaben des § 4 BetrVG, weIche die Zuordnung betreffen. Eine Reduktion der Gestaltungsfreiheit auf die Kriterien kann dem nicht entnommen werden, zumal der Hauptbetrieb sich erst mittelbar aus diesen ergibt. 192 Steht auch das Zuordnungsobjekt zur Disposition des Tarifvertrages, können sich die Tarifierungsgrenzen nur aus dem Begriff des Betriebsteils selbst ergeben. Im übrigen können Betriebsteile einander oder einem selbständigen Betrieb zugeordnet werden. Die neu entstandene betriebsverfassungsrechtliche Größe bildet sodann als betriebsratsfähige Einheit den Anknüpfungspunkt der betrieblichen Vertretung in den erfaßten Arbeitsstätten. Unvermeidbare Folge der Zusammenfassung von Betriebsteilen ist eine Zentralisierung der Betriebsverfassung. Die Beteiligungsrechte werden nicht in den einzelnen Betriebsteilen, sondern konzentriert für alle erfaßten Arbeitsstätten "höheren Orts" gegenüber dem Arbeitgeber wahrgenommen. Diese Gestaltungsvariante folgt im wesentlichen der Vorstellung einer möglichst entscheidungsnahen betrieblichen Interessensvertretungsstruktur. Geht hiermit eine Entfernung des Vertretungsorgans von den Belegschaften einher, können kommunikative Defizite in den entfernteren Bereichen durch zusätzliche Vertretungen nach § 3 Abs. I Nr. I BetrVG aufgefangen werden. 193
c) Selbständiger Betriebsteil als Grenze? Folgt man dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, so können nur Betriebsteile, nicht aber selbständige Betriebe Gegenstand einer tarifvertraglichen Zuordnung sein. Den Tarifpartnern wäre es grundsätzlich erlaubt, selbständige Betriebsteile zusammenzufassen, da die Eigenständigkeit nach § 4 S. I Nr. 2 BetrVG nicht zum Verlust der Qualifizierung als Teil eines Betriebes führt. Der selbständige Betriebsteil wird nur wie ein Betrieb behandelt, ohne aber einer zu sein. 194 Als Gestaltungsobjekt fiele aber der "echte" selbständige Betrieb heraus. Ist im Einzelfall zweifelhaft, ob die in einem Betriebsbereich vorhandenen Leitungsfunktion qualitativ ausreichen, um die Eigenständigkeit des Betriebsteils im Sinne von § 4 S. I Nr. 2 BetrVG zu bejahen, spielt dies für § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG keine Rolle, denn hier ist eS unbeachtlich, ob der Betriebsteil selbständig oder unselbständig ist. Die Gesamtbreite dieser Grenzfälle kann Gegenstand tarifvertraglicher Vereinbarungen sein. Daß die tarifvertragliche Zuordnung eines unselbständigen Betriebsteils zum Hauptbetrieb dem entspricht, was auch das Gesetz anordnet, hat nur zur Folge, daß die Regelung deklaratorischen Charakter hat.
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Dazu Däubler I Kittner I Klebe- TrÜlnner, BetrVG § 4 RdNr. 7 ff. Dazu unten § 4 S. 205 ff. Dazu oben 2. Kapitel § 2 A. III. 1. b) S. 106 f.
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Problematisch wäre es hingegen, durch Tarifvertrag den oberen Anwendungsbereich der Norm im Hinblick auf Betriebsteile zu bestimmen. Dieser würde dort aufhören, wo die Eigenständigkeit des Betriebsteils in die Selbständigkeit des Betriebes im Sinne von § I BetrVG umschlägt. Wie bereits ausführlich dargelegt wurde, ist jedoch eine verläßliche Grenzziehung zwischen eigenständigem Betriebsteil und selbständigen Betrieb kaum möglich. 195 Während dieses Eingeständnis für das gesetzliche Zuordnungsmodell fast ohne Bedeutung ist, würde sich für § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG die Konsequenz ergeben, daß der Anwendungsbereich verschwommen bliebe oder gar unbestimmbar wäre, weil die Tarifierungsbefugnis davon abhinge, ob die Arbeitsstätte noch eigenständig oder bereits selbständig ist. Daher muß es verwundern, daß die Vertreter der (bisher) herrschenden Meinung, welche § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auf Betriebsteile beschränken wollen,196 nicht erkannt haben, daß die praktisch relevanten Abgrenzungen anders liegen als bei § 4 S. 1 BetrVG und es erforderlich wäre, eine Grenzziehung zwischen selbständigem Betriebsteil und selbständigem Betrieb vorzunehmen. Überdies wird ein Widerspruch deutlich, wenn man der Auffassung ist, der nach § 4 S. 1 Nr. 2 BetrVG selbständige Betriebsteil "sei in Wahrheit ein selbständiger Betrieb", der nur "irrtümlich als Betriebsabteilung bezeichnet wurde,,197 ihn aber gleichzeitig als Betriebsteil für tarifvertraglich zuordnungsfähig hält. 198 Ob sich mit den Abgrenzungsschwierigkeiten allein eine Erweiterung des Anwendungsbereichs über den Wortlaut hinaus begründen läßt, ist jedoch zweifelhaft. l99 Auch die Unterscheidung zwischen unselbständigem und selbständigem Betriebsteil ist nicht immer einfach zu treffen. Es gibt einen breiten Raum vertretbarer Entscheidungen. Gleich ob es darum geht, eine weite Entfernung festzustellen, oder darüber zu urteilen, wann die Autonomie des Betriebsteils eine Qualität erreicht hat, die ihn tatsächlich eigenständig sein läßt. Dies ändert nichts daran, daß eine Entscheidung - wie auch immer sie ausfällt - erforderlich ist. Kein Gericht würde sich dieser Aufgabe entziehen können, wenn es dies im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG für erheblich hält. Damit bliebe für die Tarifpartner das Mittel des Statusverfahrens nach § 18 Abs. 2 BetrVG, mit dem in Grenzfällen gerichtlich geklärt werden könnte, ob es sich bei der Arbeitsstätte noch um einen selbständigen Betriebsteil oder bereits um einen Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG handelt. Daß das Beschreiten dieses langen Weges als gerichtliches "Vorverfahren" 195 Siehe oben 2. Kapitel § 2 A. III. 1. b) S. 105 ff. GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 25; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 44 (18. Aufl., anders 19. Aufl.); Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess. BetrVG § 3 RdNr. 5; Galperin/Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 25; Bachner, NZA 1996,400 (405); Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 154. 197 Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess. BetrVG § 4 RdNr. 17; Brecht. BetrVG § 4 RdNr. 11. 198 Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess. BetrVG § 3 RdNr. 5. 199 In diese Richtung geht gleichwohl die Argumentation von Däubler I Kittner I KlebeTrümner, BetrVG § 3 RdNr. 40. 196
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zu Beginn des Tarifabschlusses wenig praktikabel wäre, ist zunächst nur ein rechtspolitisches Argument. Ob hierdurch jedoch mittelbar der Zweck des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, ebenfalls Zweifelsfälle zu klären, unterlaufen wird, bleibt noch zu erörtern. Und zwar im Rahmen der allgemeinen Frage, inwiefern § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auf die Zuordnung von Betriebsteilen beschränkt ist, oder ob auch selbständige Betriebe Gestaltungsobjekt tarifvertraglicher Vereinbarungen sein können. 2OO Festzuhalten bleibt, daß Betriebsteile ohne Rücksicht auf die Zuordnungskriterien des § 4 S. 1 BetrVG als selbständige Betriebe eingeordnet oder zusammengefaßt werden können. 201 Der Betriebsteil ist uneingeschränkt Regelungsobjekt tarifvertraglicher Gestaltung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG.
2. Regelungen in bezug aufNebenbetriebe § 4 S. 2 BetrVG trifft für den Nebenbetrieb zwei wesentliche Aussagen. Er ist grundsätzlich selbständig und bildet einen eigenen Betriebsrat, obwohl er eine arbeitstechnische Hilfsfunktion für eine andere Arbeitsstätte ausübt. 202 Nur wenn er die nach § 1 BetrVG erforderliche Mindestbeschäftigtenzahl nicht aufweist, wird er dem Hauptbetrieb zugeordnet. Im Rahmen des gesetzlichen Zuordnungsmodells des § 4 BetrVG ist er nur als Kleinbetrieb von Interesse, da er mit Überschreiten der Mindestbeschäftigtenzahl nichts anderes als ein selbständiger Betrieb ist, ohne daß hierfür eine gesetzliche Fiktion erforderlich wäre, wie dies beim Betriebsteil der Fall ist. Sind in einer Arbeitsstätte weniger als fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer ständig beschäftigt, hängt - folgt man dem Wortlaut der §§ I und 4 BetrVG deren Einbeziehung in die gesetzliche Betriebsverfassung von der Einordnung der Arbeitsstätte als Betriebsteil oder Nebenbetrieb ab. Damit reduziert sich der Sinn des § 4 S. 2 BetrVG darauf, die erforderliche Mindestqualität an arbeitstechnischer Verknüpfung eines Kleinbetriebes zu einem andern Betrieb des Unternehmens zu formulieren, die es ermöglicht, jenen der gesetzlichen Betriebsverfassung zu unterstellen und zu verhindern, daß seine Arbeitnehmer ohne Vertretung bleiben.
Mit § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG kehrt sich dieses Bild um. Durch die Ermöglichung einer tarifvertraglichen Abweichung von der Anordnung des § 4 S. 2 BetrVG können Nebenbetriebe auch dann anderweitig zugeordnet werden, wenn sie die Voraussetzungen des § 1 BetrVG erfüllen und selbst betriebsratsfähig sind. Anders als im Hinblick auf Betriebsteile kommen für Nebenbetriebe zwar nur Zusammenfassungen von Arbeitsstätten in Betracht. 203 Der Nebenbetrieb gewinnt jedoch im Dazu unten 3. S. 188 ff. Dies ist - soweit ersichtlich - auch unstreitig. Vgl. statt aller GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 25; Fitting / Kaiser/ Heither/ Engels. BetrVG § 3 RdNr. 44. 202 Zum Begriff des Nebenbetriebes ausführlichen oben 2. Kapitel § 2 A. III. 2. S. 109 ff. 203 In der Kommentarliteratur wird daneben gleichfalls eine zweite dezentralisierende Variante genannt. Danach sei es möglich. Nebenbetriebe. die an sich nach § 4 S. 2 BetrVG dem Hauptbetrieb zuzuordnen sind, als selbständige Betriebe zu behandeln (Däubler I Kittner I 200 201
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Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG erheblich an Bedeutung, da er immer dann Gegenstand tariflicher Gestaltung sein kann, wenn in ihm mehr als vier Arbeitnehmer ständig beschäftigt sind. Wie bei Betriebsteilen ist die Zuordnung unabhängig davon, ob die aufnehmende Arbeitsstätte selbständiger Betrieb, Hauptbetrieb oder Betriebsteil ist?04 Nebenbetriebe sind dadurch gekennzeichnet, daß sie gegenüber einer anderen Arbeitsstätte des Unternehmens eine arbeitstechnische Hilfs- bzw. Unterstützungsfunktion wahrnehmen?05 Dies ändert nichts daran, daß sie alle Merkmale des selbständigen Betriebes erfüllen. 206 Die entscheidende Frage, ob auch selbständige Betriebe einer tariflichen Zuordnung zugänglich sind, scheint damit bereits beantwortet. 207 Da die Zusammenfassungen im Rahmen des § 3 Abs. 1 BetrVG sich von dem Hauptbetrieb lösen, also auch hier eine abweichende Regelung getroffen werden kann,20g läuft die arbeitstechnische Unterstützungsfunktion in bezug auf den Hauptbetrieb ein wenig ins Leere: Übt ein Betrieb eine Hilfsfunktion für einen anderen Betrieb des Unternehmens aus, so ist er Nebenbetrieb im Sinne des § 4 S. 2 BetrVG und kann als eine von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG erfaBte Organisationseinheit auch einem anderen Betrieb des Unternehmens als dem Hauptbetrieb zugeordnet werden. Ohne Sinn ist es dann, daß der zugeordnete Betrieb eine Hilfsfunktion zu einem Betrieb des Unternehmens ausüben muß, mit dem er gar nicht zusammengefaßt wird. Es stellt sich folglich die Frage, welches betriebsverfassungsrechtliche Merkmal den Nebenbetrieb im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG neben der Hilfsfunktion ausmacht. Unzweifelhaft sind zunächst solche Betriebe zuordnungsfähig, die eine arbeitstechnische Unterstützungsfunktion in bezug auf einen anderen Betrieb ausüben, alKlebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 39; Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 40). Dabei wird jedoch verkannt, daß die gesetzliche Zuordnung bei Nebenbetrieben zum Hauptbetrieb - anders als bei Betriebsteilen - nur dann erfolgt, wenn nur vier oder weniger Arbeitnehmer in dem Betrieb ständig beschäftigt sind. Wie auch in bezug auf Betriebsteile. ist es jedoch stets Mindestvoraussetzung einer tariflichen Zuweisung der Selbständigkeit, daß es sich nicht um eine Arbeitsstätte handelt, die bereits nach § I BetrVG betriebsratsunfahig ist. weil die erforderliche Beschäftigtenzahl nicht erreicht wird. Dies folgt daraus, daß § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG zwar Zuordnungsregelungen erlaubt, nicht jedoch, daß die Mindestbetriebsgröße des § I BetrVG unterlaufen wird. 204 Siehe die insoweit vergleichbare Rechtslage beim Betriebsteil; oben 1. b) S. 183. 205 Siehe dazu oben 2. Kapitel § 2 A. 111.2. S. 109 ff. 206 St. Rspr. des BAG; vgl. E 69, 286 (298); 68, 67 (72); 53, 119 (127 f.) =AP Nr. 7 zu § 1 BetrVG 1972. Fitting/Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 4 RdNr. 16; Richardi, BetrVG § 4 RdNr. 7; GK-BetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 46; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr.54. 207 Vgl. Däubler / Kittner / Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 41. 208 Siehe Fn. 204. Anderer Ansicht offenbar die herrschende Meinung: Däubler / Kittner / Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 39; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 25; Galperin/Löwisch. BetrVG § 3 RdNr. 23; Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 5. Wie hier: Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 47 ("oder sonstwie zusammengefaßt werden"); Wlotzke, BetrVG § 3 1 c).
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
so dem klassischen Verständnis nach Nebenbetriebe sind. Ob im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG andere Beziehungen eines Betriebes zu den anderen Arbeitsstätten des Unternehmens oder dem Unternehmen selbst dem gleichzusetzen sind, ist im folgenden zu erörtern, da dies die allgemeine Frage berührt, ob selbständige Betriebe Gegenstand tariflicher Gestaltung nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG sein können.
3. Regelungen in bezug auf selbständige Betriebe
§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG spricht nicht lediglich von Betriebsteilen und Nebenbetrieben, sondern verweist zudem auf § 4 BetrVG, welcher gleichermaßen nur diese Organisationsbegriffe zum Gegenstand hat. Wortlaut und Systematik geben damit ein sehr eindeutiges Bild ab: Die Regelungsbefugnis soll auf die Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben beschränkt bleiben; der "echte" Betrieb im Sinne des § 1 BetrVG ist davon ausgenommen.
Demzufolge hat die lang~ Zeit herrschende und von der Kommentarliteratur geprägte Meinung dies zum unumstößlichem Postulat erhoben, ohne zunächst eine andere Auslegung in Betracht zu ziehen. 209 Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich dazu - soweit ersichtlich - noch nicht geäußert. Gamillscheg hat die Problematik bereits 1975 aufgegriffen und entgegen der herrschenden Meinung für eine weite Auslegung der Norm plädiert; begründet mit rechtspolitischen Erwägungen und der Unmöglichkeit, Betriebsteil und Betrieb verläßlich voneinander abzugrenzen. 210 Ähnliche Motive werden Hauptgrund dafür sein, daß dieser Punkt vom Schrifttum in den vergangen Jahren zur zentralen Frage innerhalb des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG gemacht wurde und so Bewegung in die Thematik gekommen iSt. 211 Hinzugetreten ist eine allgemeine und grundsätzliche Diskussion über die Eignung der organisatorischen Bestimmungen des BetrVG, wobei der Betriebsbegriff eine zentrale Rolle spielt. Die fast einhellige Forderung, das gesetzliche Organisa209 FittinglKaiserlHeitherlEngels, BetrVG § 3 RdNr. 44 (18. Aufl.); DietzlRichardi, BetrVG § 3 RdNr. 36 (5. Aufl.); Däubler/KittnerIKlebeISchneider, BetrVG § 3 RdNr. 17 (3. Aufl.); Galperinl Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 25; Stege /Weinspach, BetrVG § 3 RdNr. 9; Frauenkron, BetrVG § 3 RdNr. 6; SiebertlDegenlBecker, BetrVG § 3 RdNr. 8; Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 1; WeisslWeyand, BetrVG § 3 RdNr. 12; GK-BetrVG-Kraji, § 3 RdNr. 25; Hess/Schlochauer/Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 5; ErfurterKomm-Eisemann, BetrVG § 3 RdNr. 4; Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 154; Konzen, Unternehmensaufspaltungen und Organisationsänderungen im Betriebsver· fassungsrecht, S. 125. 210 Gamillscheg, ZfA 1975,357 (385); ähnlich ders., FS-Molitor, S. 133 (144). 211 Vgl. nur die zahlreichen Änderungen bei Fitting I KaiserlHeitherl Engels, BetrVG § 3 (19. Aufl.) im Vergleich zur Vorauflage (dazu auch Vorwort zur 19. Aufl. S. VI). In der Festschrift für Schaub (1998) sind gleich zwei Beiträge zu § 3 BetrVG (Kempen und Heither) erschienen.
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tionsmodell wenigstens gegenüber dem Tarifvertrag flexibel zu gestalten, hat eine großzügige Auslegung des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG rechtspolitisch flankiert. 212 Das betriebsverfassungsgesetzliche Organisationsrecht wird als unnötige "Zwangsjacke" empfunden, die nicht nur bezüglich der Zuordnung von Betriebsteilen und Nebenbetrieben, sondern ebenfalls bei der Abgrenzung selbständiger Betriebe einer Flexibilisierung bedürfe?13 Die Öffnung des Betriebsbegriffes sei im Hinblick auf die Divergenzen zwischen Unternehmenswirklichkeit und Gesetz "eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben" der Legislative. 214 Diese rechtspolitischen Forderungen überlagern teilweise die Äußerungen zur gesetzlichen Situation in der Weise, daß der Unterschied zwischen Forderung und gesetzlichem Befund verschwimmt. Dennoch lassen sich folgende wesentliche Begründungsmuster feststellen, mit denen die Befürworter eine Anwendung des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG auf selbständige Betriebe zu begründen versuchen: Da eine klare Aussage darüber, wann ein selbständiger Betriebsteil, Nebenbetrieb oder selbständiger Betrieb vorliegt, ohnehin nicht mehr möglich sei, müßte es, um Zweifel über die richtige Begriffsabgrenzung auszuräumen, dem Tarifvertrag gestattet sein, auch Betriebe zusammenzulegen oder aufzuteilen. 215 Nach Trümner entspricht dies einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift. 216 Für Richardi ist es bei Regelungen innerhalb von Unternehmen entscheidend, daß die organisatorische Zusammenfassung ansonsten selbständiger Betriebe durch die Zugehörigkeit zum gleichen Rechtsträger zu einer nicht unwesentlichen Verknüpfung der Betriebsstätten führt. Damit sollen rechtsträgerinterne Zusammenlegungen von selbständigen Betrieben zulässig sein. 217 Heither tritt für eine entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auf selbständige Betriebe ein, da der Zweck der Regelung - die Bildung von Arbeitnehmervertretungen zu erleichtern - dies rechtfertige. 218 Entscheidend sei, daß der 212 Bertelsmann Stiftung / Hans-Böckler-Stiftung, Bericht der Kommission Mitbestimmung, Mitbestimmung und neue Unternehmenskulturen - Bilanz und Perspektiven, S. 36 ff., 115; Däubler; Frankfurter Rundschau v. 13. 11. 1997, S. 12,6. Spalte; Hanau, NZA 1993, 817 (818); ders., FS-Kissel, S. 347 (358); Schlachter; RdA 1993,313 (319); Bachner; NZA 1996,400 (405); Joost, Betrieb und Unternehmen, S. 304; Unmuß, Organisation der Betriebsverfassung und Unternehmerautonomie, S. 262, 271 f.; Heither; FS-Schaub, S. 295 (309); Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 32. m Hanau, NZA 1993,817 (818). 214 Däubler; Frankfurter Rundschau v. 13. 11. 1997, S. 12,6. Spalte. 215 Däubler/Kittner/Klebe-Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 36,40; Schlachter; RdA 1993, 313 (319) in Anschluß an Gamillscheg, FS-Molitor, S. 133 (144 f.); ders., ZfA 1975, 357 (385); ders., AuR 1989, 33 (35); ders., Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I § 15 VII 4 c). Nicht eindeutig Halberstadt, BetrVG § 3 RdNr. 8. 216 Däublerl Kittnerl Klebe-Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 36. 217 Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 41. 218 Heither; FS-Schaub, S. 295 (304 f.); Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr.44.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Begriff des Betriebes unscharf und daher nicht sichergestellt sei, daß der Schutzzweck des BetrVG verwirklicht werden könne?19
a) Abgrenzungsschwierigkeiten Wie erwähnt, hat das Bundesarbeitsgericht konstatiert, daß eine Entscheidung darüber, wann ein selbständiger Betriebsteil zum selbständigen Betrieb wird, nicht nur schwierig, sondern nicht möglich ist. 22o Dieses viel zitierte dictum bezieht sich jedoch nicht auf § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, sondern den Kleinbetrieb, und es ist zu vermuten, daß das Gericht die Konsequenzen im Hinblick auf die Öffnungsklausel des § 3 BetrVG dabei nicht im Auge gehabt hat. Hinzu kommt, daß diese Frage für den Beschluß nur mittelbar entscheidungsrelevant war, da die zu beurteilenden Betriebsstätten dem Nebenbetrieb gleichgesetzt und auf diese Weise bereits zusammengefaßt wurden. Es ist also fraglich, ob dem eine derartig weitreichende Bedeutung in der hier zu beurteilenden Frage zukommen kann. Diese Auffassung unterstellt, der selbständige Betrieb werde deswegen von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG mit erfaßt, weil es gar nicht möglich sei, ihn vom (selbständigen) Betriebsteil zu unterscheiden. Damit wird indes das Ergebnis einer stets erforderlichen Auslegung vorweggenommen. Gelangt man bei dieser zu der Erkenntnis, daß eine Norm auf Betriebsteile und Nebenbetriebe beschränkt ist, so ist es unumgänglich, Abgrenzungskriterien zu suchen. Der Richter kann sich dieser Aufgabe nicht mit dem Hinweis auf Abgrenzungsschwierigkeiten entziehen, wenn die Abgrenzung entscheidungserheblich ist. Wie auch bei der Rechtsfortbildung im Bereich von Gesetzeslücken bleibt die Pflicht des Richters zur Entscheidung unabdingbar?21 Die Auslegung der Vorschrift kann nicht mit der Feststellung von Abgrenzungsschwierigkeiten umgangen werden, da sie ansonsten unzulässigerweise selbst zur Auslegungsmethode erhoben würde. Wie festgestellt, ist es jedoch auch Zweck des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG, durch tarifvertragliehe Regelungen Zweifel hinsichtlich der Selbständigkeit von Betriebsteilen und Nebenbetrieben auszuräumen?22 Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, daß das gerichtliche Status verfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG durch den Tarifvertrag entbehrlich gemacht und die Bildung des Betriebsrates insoweit erleichtert wird. 223 Das gerichtliche Statusverfahren ermöglicht nicht nur Feststellungen im Hinblick auf Betriebsteile und Nebenbetriebe, sondern auch im Hinblick 219 Heither; FS-Schaub, S. 295 (305); ähnlich Dtto, Anm. zu BAG AP Nr. 28 zu § 99 BetrVG 1972 in bezug auf Kleinbetriebe sowie Schlachter; RdA 1993,313 (319). 220 BAGE 50, 251 (257) =AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. 221 Sog. Entscheidungspflicht; vgl. Stein I Jonas-Leipold, ZPO vor § 300 RdNr. 3; PalandtHeinrichs, BGB Einl. RdNr. 46. 222 Dazu oben I. S. 181. 223 Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 43.
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auf selbständige Betriebe. 224 Hieraus könnte nun für § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG gefolgert werden, daß dem Zweck der Bestimmung nur dann Genüge getan wäre, wenn in demselben Maße der Tarifvertrag beispielsweise das Vorliegen eines gemeinsamen Betriebes feststellen könnte. Für die Bildung von Arbeitnehmervertretungen ist es aber nur erheblich, ob eine Betriebsstätte betriebsratsfähig ist oder nicht. Die Abgrenzung zwischen selbständigem Betriebsteil und Betrieb ist dafür aber in aller Regel irrelevant, da beide Organisationseinheiten einen eigenen Betriebsrat bilden. In diesem Bereich können tarifvertragliche Regelungen demgemäß nur selten tatsächlich den Zweck verfolgen, die Betriebsratsfähigkeit zu begründen. Es steht vielmehr im Vordergrund, durch Zuordnungen sinnvolle Betriebseinheiten zu bilden und nicht etwa bestehende Zweifel auszuräumen. Eine tarifvertragliche Regelung aus letzterem Motiv ist daher nur zulässig, wenn aus tatsächlichen Gründen Zweifel an der Betriebsratsfähigkeit einer Organisationseinheit bestehen?25 Eine allgemeine Befugnis in bezug auf selbständige Betriebe läßt sich daraus jedoch nicht herleiten. 226 Weiter ist es nicht aus Gründen der verfassungskonformen Interpretation erforderlich, die Norm wegen der unsicheren Begriffsabgrenzung auf selbständige Betriebe auszudehnen. Dies würde voraussetzen, daß eine Reduktion der Tarifpartner auf die abweichende Gestaltung des § 4 BetrVG deren Normsetzungsbefugnisse unzulässigerweise einschränkt. Hierfür sind jedoch keine Gründe ersichtlich und werden von Trümne?27 im übrigen nicht genannt. Ist es bereits verfassungsrechtlich legitimiert, die Tarifpartner vollkommen von der Gestaltung des betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsrechts auszuschließen,228 gilt dies erst recht für jede Beschränkung innerhalb der Öffnungsklauseln. Für die Notwendigkeit einer Anpassung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG an die verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben sich keine Anhaltspunkte. Mit den Abgrenzungsschwierigkeiten allein läßt sich mithin eine Ausdehnung der Bestimmung auf selbständige Betriebe nicht begründen?29 Erforderlich bleibt eine auf die Interpretation der Norm selbst gestützte Argumentation.
b) Unternehmenseinbindung als ausreichende organisatorische Verknüpfung Mehrere Betriebe, die im Verhältnis zueinander eine arbeitstechnische Hilfsoder Unterstützungsfunktion ausüben, können als Nebenbetriebe zu einer betriebs224 BAG AP Nr. I zu § I BetrVG 1972; AP Nr. 8 zu § 18 BetrVG 1972; Richardi. BetrVG § 18 RdNr. 22 mwN. 225 GK-BetrVG-KraJt. § 3 RdNr. 26. 226 Anders jedoch Däubler I Kittner I Klebe- Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 36, 40. 227 Däubler I Kittner I Klebe- Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 36. 228 Siehe dazu oben I. Kapitel § I C. 11. S. 52 ff. 229 Zur gegenteiligen Auffassung siehe Schrifttum bei Fn. 215.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
verfassungsrechtlichen Betriebseinheit zusammengefaßt werden. Da bei der tarifvertraglichen Gestaltung nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG dem Hauptbetrieb keine eigenständige Bedeutung zukommt, stellt sich die Frage, was einen selbständigen Betrieb zum Nebenbetrieb im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG macht, welche Mindestbeziehung also zu einer anderen Arbeitsstätte erforderlich ist, um eine tarifvertragliche Zusammenfassung zu gestatten. Im Kern geht es um die Bedeutung des Nebenbetriebsbegriffes im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, also um Interpretationswege, die sich innerhalb des Wortlautes und der Systematik dieser Norm bewegen. Im Rahmen der für die Begriffsabgrenzung relevanten Kriterien stellt die arbeitstechnische Hilfsfunktion das qualitativ schwächste Verbindungsmoment dar. Alle übrigen Merkmale, wie identischer arbeitstechnischer Zweck,23o räumliche Verbundenheit, Einbindung in die Betriebsorganisation sowie in die arbeitgeberseitige Entscheidungsfindung in betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten, beschreiben einen stärkeren Grad der Beziehung zu einer anderen Arbeitsstätte und führen zu einem qualitativ stärker ausgeprägten Verlust an betrieblicher Souveränität. 231 Je schwächer die betriebsverfassungsrechtliche Autonomie einer Arbeitsstätte ist, desto näher rückt sie zum selbständigen oder gar unselbständigen Betriebsteil, nicht jedoch zum selbständigen Betrieb. Will das Gesetz dem ,,Nebenbetrieb" im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine sinnvolle Bedeutung zukommen lassen, so kann diese darin liegen, daß Gegenstand tariflicher Regelung nur solche Arbeitsstätten sein können, deren betriebsverfassungsrechtliche Verbundenheit oder Eingliederung innerhalb des Unternehmens wenigstens im Merkmal des arbeitstechnischen Zweckes besteht. Sind weitergehende betriebsverfassungsrechtlich beachtliche Gemeinsamkeiten zu konstatieren, besteht eine Regelungskompetenz "erst recht" .232 Hintergrund einer solchen Interpretation ist der Gedanke, daß Betriebe in einer betriebsverfassungsrechtlichen Beziehung stehen müssen, damit eine Zusammenfassung noch sinnvoll sein kann. Hat jeder Betrieb seine eigene, in sich abgeschlossene Struktur, sind keine betriebsverfassungsrechtlich relevanten gemeinschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer vorhanden; eine einheitliche Interessenvertretung fande keine einheitliche Belegschaftsinteressen als Pendant. Die ratio des § 4 S. 2 BetrVG, nur solche selbständigen Betriebe zusammenzufassen, die ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten aufweisen, trifft auf Betriebe um so mehr zu, bei denen die Gemeinsamkeiten auf einer qualitativ höheren Stufe stehen. Im Wege BAGE 50,251 (256) =AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. Siehe dazu auch oben 2. Kapitel § 2 A. 111. 2. S. 113. 231 Mit einem ,,Erst-recht-Schluß" hat das BAG bei der Zuordnung von selbständigen Kleinbetrieben argumentiert: "Sollen damit kleine selbständige Betriebe, deren arbeitstechnischer Zweck in einer Hilfsfunktion für den Hauptbetrieb besteht, auf jeden Fall eine Betriebsvertretung haben, so muß dies erst recht für kleine selbständige Betriebe gelten, deren arbeitstechnischer Zweck der gleiche ist wie der des Hauptbetriebes" E 50, 251 (256) AP Nr. 28 zu § 77 BetrVG 1972. 230
231
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des argurnenturn a maiore ad minui 33 sind solche Gestaltungen damit von dem Tatbestand mit erfaßt. In Konflikt mit der Möglichkeit, Betriebsteile zusammenzufassen, kann dies nicht geraten, da bei zentralisierenden Regelungen eine Unterscheidung zwischen Nebenbetrieb und (selbständigem) Betriebsteil irrelevant ist. Je nach Grad der Verknüpfung handelt es sich entweder noch um einen Nebenbetrieb oder bereits um einen selbständigen oder unselbständigen Betriebsteil. 234 Eine dazwischen liegende "Lücke" ist im Rahmen des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG nicht denkbar. So hängt der Umfang der auf diese Weise eröffneten Regelungsmöglichkeiten maßgeblich davon ab, welchen Verbindungsformen eine - im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne - höherwertige Bedeutung zukommt als der arbeitstechnischen Hilfs- bzw. Unterstützungsfunktion. Der arbeitstechnische Zweck hat nur geringfügigen Aussagewert, wenn es darum geht, betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten voneinander abzugrenzen. Denn es ist weitestgehend anerkannt, daß von einem selbständigen Betrieb mehrere arbeitstechnische Zwecke verfolgt werden können und gleichermaßen ein gleicher arbeitstechnischer Zweck nicht gegen die Annahme mehrerer selbständiger Betriebe spricht. 235 Insbesondere geht mit der Verbindung des arbeitstechnischen Zweckes mehrere Betriebe nicht zwangsläufig ein Verlust der betrieblichen Autonomie einher. Für die Betriebsverfassung erheblicher ist das Vorliegen einer einheitlichen Organisationsstruktur. Sind überbetriebliche organisatorische Verbindungen vorhanden, führt dies regelmäßig zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Verlust an Autonomie der einzelnen Arbeitsstätte. Für die Betriebsverfassung sind gleichwohl nur solche Verbindungen relevant, die sich auf die betriebsverfassungsrechtIiche Materie beziehen können. Außer Betracht bleiben so vertragliche Beziehungen zwischen Betrieben, die auf die arbeits vertragliche Position der Beschäftigten oder die Arbeitsorganisation ohne Einfluß sind. Befinden sich mehrere selbständige Betriebe unter einem Unternehmensdach, liegt eine organisatorische Zusammenfassung bereits in der Tatsache, daß alle Arbeitnehmer denselben Arbeitgeber haben. Der daraus folgende Autonomieverlust der rechtlich verbundenen Betriebe ist in hohem Maße betriebsverfassungsrechtlicher Natur, da die Beschäftigten aller Betriebe ein und denselben arbeitsvertraglichen Partner haben, dem Entscheidungsbefugnisse im betriebsverfassungsrechtlichen Raum zustehen. Die innere Verflechtung der Belegschaften ist größer als bei einer bloßen arbeitstechnischen Unterstützungsfunktion. Beschränkt man § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG zunächst auf den Unternehmensbereich, 236 so können selbständige Betriebe zusarnmengefaßt werden;237 Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 389. Vgl. dazu BAGE 69, 286 (298 f.) AP Nr. 1 zu § 7 BetrVG 1972. 235 BAG AP Nr. 4 zu § 23 KSchG 1969; AP Nr. 3 zu § 4 BetrVG 1972, AP Nr. 7, 9 zu § 1 BetrVG 1972; Dietz, FS-Nikisch, S. 23 (28); MünchArbR-Richardi, § 30 RdNr. 7, 13; GKBetrVG-KraJt, § 4 RdNr. 15. 236 Ob § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auch untemehmensübergreifende Regelungen ermöglicht, wird unten (4. S. 197) erörtert. 233
234
13 Wißmann
=
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
dies gilt unabhängig davon, ob ansonsten arbeitstechnische Hilfsfunktionen bestehen oder nicht. Die notwendige Verbindung ist bereits durch die Tatsache hergestellt, daß die Arbeitsstätten einem Rechtsträger zugeordnet sind. Dem steht nicht entgegen, daß das Gesetz auf der Unternehmensebene einen Gesamtbetriebsrat vorsieht, da das Ein-Betrieb-Unternehmen ebenfalls nur eine Vertretungsstufe kennt, obwohl sowohl Betriebs- als auch Unternehmensebene vorhanden sind. Nebenbetriebe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG sind mithin selbständige Betriebe eines Unternehmens. 238 Verbindet man die Regelungsmöglichkeiten im Hinblick auf Betriebsteil und Nebenbetrieb, so ergibt sich folgende Konsequenz: Sämtliche Arbeitsstätten, weIche die von § 1 BetrVG geforderte Beschäftigtenzahl aufweisen, können durch Tarifvertrag gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG zusammengefaßt werden, wenn sie demselben Unternehmen angehören. Gehen die betriebsverfassungsrechtlich relevanten Gemeinsamkeiten darüber hinaus - etwa wegen Verbindungen in der Arbeitsorganisation - kann es sich um (selbständige) Betriebsteile handeln, die in der gleichen Weise zuordnungsfahig sind. Gleichwohl bleibt die Befugnis auf zentralisierende Maßnahmen beschränkt; eine Aufspaltung von selbständigen Betrieben läßt sich hiermit nicht begründen. c) Entsprechende Anwendung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG Der Weg zu der entsprechenden Anwendung einer Norm ist grundsätzlich nur dann eröffnet, wenn eine unmittelbare Anwendung nicht möglich ist. Verneint man es, den Nebenbetrieb wie hier zu interpretieren und auf diese Weise den selbständigen Betrieb eines Unternehmens unter § 4 S. 2 BetrVG zu subsumieren, kann die Suche nach einer Analogie geboten sein. Im Gegensatz zur vorherigen Interpretation handelt es sich um eine Auslegung außerhalb des Wortlautes. Die Verweisung in § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG auf § 4 BetrVG sowie die in beiden Bestimmungen deckungsgleiche Verwendung der Begriffe Betriebsteil und Nebenbetrieb lassen wenig Raum für eine Interpretation, die sich von diesen Begriffen löst. Zwar kann das teleologische Argument durchaus eine - über den Wortlaut und die Systematik hinausgehende - extensive Auslegung rechtfertigen. 239 Vorlie237 Ähnlich in der Argumentation und identisch im Ergebnis RicluJrdi, BetrVG § 3 RdNr. 41. Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 175 f. Zustimmend im Ergebnis, jedoch mit unterschiedlichen Begründungen: Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 44 (entspr. Anwendung); Däublerl Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 40; Kempen, FS-Schaub, S. 357 (368) (Abgrenzungsschwierigkeiten). 238 Im Begründungsmuster deckt sich dies mit der Aussage, selbständige Kleinbetriebe eines Unternehmens seien stets zusammenzufassen (so RicluJrdi, BetrVG § I RdNr. 88; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 4 RdNr. 66). 239 BVerfG AP Nr. 11 zu § 100 GG; BGHZ 2, 176 (184 f.); MünchKomm-Säcker, BGB Ein\. RdNr. 119 ff., 125 ff.; Palandt-Heinrichs, BGB Ein\. RdNr. 35. Nach Larenz. Methoden-
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gend zieht jedoch das sprachliche und systematische Verständnis eine so eindeutige Grenze, daß sich eine unmittelbare Subsumtion240 des selbständigen Betriebes unter § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG nicht begründen läßt. 241 Will man mit einer entsprechenden Anwendung über den Wortsinn der Vorschrift hinaus kommen, so genügt es freilich nicht, nur auf den Zweck der Regelung zu verweisen?42 Es müssen vielmehr weitere Gründe hinzutreten, die eine derartige Analogie notwendig machen. Zwar ist inzwischen anerkannt, daß die alte Formel für Ausnahmevorschriften "Exceptiones sunt strictissimae interpretandae ,,243 keine weitreichende Geltung mehr beanspruchen kann und diese Vorschriften auch auf solche SachverhaItstypen sinngemäß anzuwenden sind, die zwar keine völlige, wohl aber eine essentielle Strukturgleichheit mit dem Sachverhaltstyp aufweisen, auf den die Ausnahmevorschrift unmittelbar Anwendung findet. 244 Jedoch ist erforderlich, daß die gesetzgeberischen Gedanken die entsprechende Anwendung in ausreichendem Maße rechtfertigen. 245 Eine entsprechende Anwendung könnte vorliegend deshalb geboten sein, weil die Bestimmung im Hinblick auf den selbständigen Betrieb wegen Veränderungen im tatsächlichen und rechtlichen Normbereich als unvollständig, sprich lückenhaft, anzusehen ist. 246 Es ist anerkannt, daß eine gesetzliche Regelung durch einen Wandel der Normsituation dann nachträglich lückenhaft werden kann, wenn gerade der ursprüngliche Zweck der Bestimmung, soll er erreichbar bleiben, angesichts der veränderten Verhältnisse eine andere Auslegung erfordert. 247 Im Hinblick auf den vom Wortsinn nicht umfaßten Regelungsbereich ist der Rechtssatz dann unvollständig. Diese Lücke ist durch Analogie zu schließen. 248 Da nicht jede Änderung lehre der Rechtswissenschaft, S. 334, 343 bildet der Wortsinn die äußerste Grenze jeder Auslegung (hM). 240 Der noch mögliche Wortsinn bildet zwar nicht die Grenze der Norminterpretation, jedoch der unmittelbaren Auslegung. Bei den jenseits dieser Grenze in Frage kommenden Interpretationsvorgängen handelt es sich um Formen der entsprechenden Rechtsanwendung. Diese begriffsjuristische Unterscheidung wird teilweise nicht streng eingehalten, da die methodischen Vorgänge in weiten Teilen übereinstimmen und so eine Abgrenzung nicht immer möglich ist (dazu Bydlinski. Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 467 ff.). 241 So auch im Ergebnis GK-BetrVG-Kraji. § 3 RdNr. 25; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 44; Heither, FS-Schaub, S. 304. 242 So aber Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 44. 243 Vgl. RGZ48, 259 (265); 65, 361 (362); 153, I (23); BGH NJW 1951,762 (762); NJW 1953, 1545 (1546); 1954, 305 (306); anders jedoch bereits BAG AP Nr. 22, 23 zu § 616 BGB; BGHZ 17, 266 (282). 244 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 355; MünchKomm-Säcker, BGB Einl. RdNr. 102 mwN. 24S BAG AP Nr. I und 4 zu § 81 BetrVG 1972. 246 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 372 ff.; Bydlinski. Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 574 ff. 247 BGHZ 17,266 (269 f.); 29,163 (164 f.); BAG SAE 1971, 106 (106) mit Anm. Canaris; Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 350 ff., 379; Bydlinski. Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 574 ff.; Palandt-Heinrichs. BGB Einl. RdNr. 47. 13'
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der tatsächlichen Verhältnisse zugleich auch eine Änderung des Nonninhaltes nach sich ziehen kann, muß die Divergenz evident sein. 249 Der Unterschied zu einer nur rechtspolitischen Unzulänglichkeit der Bestimmung liegt darin, daß die Unvollständigkeit hinsichtlich der gesetzlichen Regelungsabsicht besteht,250 das Selbstverständnis der Nonn mithin den Analogieschluß erfordert. Der dieser Bestimmung zugrunde liegende Regelungsplan liegt darin, durch tarifvertragliche Zuordnungen von Arbeitsstätten zu sinnvollen Betriebseinheiten die Bildung von Vertretungen in dem Sinne zu erleichtern, daß die vom Gesetz abweichende Gestaltung zu einer effektiveren Betriebsverfassung führt, beziehungsweise die Betriebsverfassung überhaupt erst ennöglicht wird. Dies wird vom Gesamtzweck der Betriebsverfassung, möglichst vielen Belegschaften die Teilhabe an einer betrieblichen Interessenvertretung zu sichern, um faßt. Die zunehmende Ausdifferenzierung der betrieblichen Strukturen in der Unternehmens wirklichkeit hat zur Folge, daß auch eine differenzierte Organisation der Betriebsverfassung erforderlich ist, wenn nicht die Funktionalität in erheblichem Maße darunter leiden soll. Dies gilt für die gesamte Organisation zunächst nur als rechtspolitischer Ansatz. Hinsichtlich der durch den Betriebsbegriff und § 4 BetrVG festgelegten Betriebseinheit hat sich jedoch gezeigt, daß eine an "den jeweiligen Bedürfnissen,,251 orientierte tarifvertragliche Gestaltung sich nicht nur an § 4 BetrVG halten kann, da die Ausdifferenzierung und Komplexität der verschiedenen Betriebsfonnen dazu geführt hat, daß auch der Betriebsbegriff zunehmend an Schärfe verliert, was der Verwirklichung des Schutzzweckes des BetrVG entgegensteht. 252 Daneben geht § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG davon aus, daß eine mehr oder weniger eindeutige Trennung des Betriebs im Sinne des § I von Betriebsteil und Nebenbetrieb möglich ist. Auch diese Vorstellung ist von der nonnativen Wirklichkeit überholt. Es hilft nicht weiter und läuft der Funktionsfahigkeit des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG zuwider, wenn das Gesetz den Anwendungsbereich begrenzt, diese Begrenzung jedoch dadurch zur Makulatur wird, daß sie auf die Unternehmenswirklichkeit nicht übertragbar ist. 253 Auf nonnativer Seite ist entscheidend, daß der historische Gesetzgeber davon ausging, mit einem einheitlichen Betriebsbegriff die verschiedenen Betriebsfonnen erfassen zu können. Diese Vorstellung hat sich allerdings zuungunsten einer funktionellen Betriebsverfassung ausgewirkt. Gerade § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG hat den Zweck, die Grundlagen einer funktionsfahigen Betriebsorganisation zu schaffen 248 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 379; Palandt-Heinrichs. BGB Ein!. RdNr.47. 249 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 350. 250 Larenz. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 373 f. 251 BT-Drucks. VII 1786 S. 36 zu § 3. 252 Vg!. Ouo. Anm. zu BAG AP Nr. 28 zu § 99 BetrVG 1972. 253 Die oben (a) S. 190) aufgeführten Abgrenzungsschwierigkeiten kommen hier insoweit mittelbar zum Tragen.
§ 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit
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oder zu erhalten. Soll die Bestimmung diesem Zweck umfassend Rechnung tragen können, reicht es nicht aus, nur im Hinblick auf § 4 BetrVG tarifvertragliche Anpassungen vorzunehmen, denn die Auswirkungen der Betriebswirklichkeit gehen über § 4 BetrVG weit hinaus. Mit einer Reduktion auf § 4 BetrVG ist die Bestimmung im Hinblick auf ihre eigene Regelungsabsicht unvollständig. Das Ziel der gesamten Betriebsverfassung, in möglichst allen Betrieben eine effektive Arbeitnehmervertretung zu installieren, sowie der Zweck des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG, den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend die Zuordnung von Arbeitsstätten zu Betriebseinheiten vorzunehmen, kann bei einer Reduktion auf § 4 BetrVG nicht mehr erreicht werden. Um dem telos des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG gerecht zu werden, muß die Tarifierungsbefugnis sich auch auf selbständige Betriebe beziehen können. Es handelt sich dabei um eine analoge Anwendung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG?54 Diese Lösungsmöglichkeit bietet sich an, wenn man nicht dem oben aufgezeigten Weg folgen will, selbständige Betriebe eines Unternehmens als Nebenbetriebe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG anzusehen.
4. Unternehmensübergreifende Regelungen Für die bisher gefundenen Regelungsmöglichkeiten gilt einheitlich, daß zwar die Betriebseinheit als betriebsverfassungsrechtliche Grundgröße einer tarifvertraglichen Gestaltung zugänglich ist, dies jedoch auf den Bereich jeweils eines Unternehmens beschränkt ist. Das Betriebsverfassungsgesetz geht im Grundsatz davon aus, daß der Unternehmensbegriff die Grenzen der betriebsverfassungsrechtlichen Repräsentationsstufe festlegt. 255 Dies folgt zum einen aus der Tatsache, daß abgesehen vom Konzernbetriebsrat - nur der Arbeitgeber Adressat der Beteiligungsrechte ist, und zum anderen daraus, daß das Gesetz zwar die Zusammenfassung mehrerer Betriebe in einem Unternehmen kennt (§ 47 BetrVG), nicht jedoch ausdrücklich die Zugehörigkeit eines Betriebes zu mehreren Arbeitgebern. Damit ist der Betrieb entweder das Unternehmen (sog. Ein-Betrieb-Unternehmen) oder ein Unternehmensteil. 256 Eine Ausnahme hiervon gilt nur dann, wenn eine Arbeitsstätte zwar zwei Rechtsträgern zugeordnet ist, gleichwohl einem einheitlichen Leitungsapparat unterliegt, die unterschiedlichen Unternehmen sich also betriebs verfassungsrechtlich als ein Arbeitgeber darstellen - sogenannter gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen. 257 Teilweise wird die Auffassung vertreten, die Befugnisse aus § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eröffneten den Tarifpartnern ebenfalls die Möglichkeit, über Unterneh254 So auch im Ergebnis Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RdNr. 44, Heither, FS-Schaub, S. 295 (305). 255 Richardi. BetrVG § 1 RdNr.55. 256 Richardi. BetrVG, wie vor. 257 Dazu oben 2. Kapitel § 2 A. 11. S. 98 ff.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
mensgrenzen hinweg Betriebsstätten zu betriebsratsfähigen Einheiten zusammenzufassen. 258 Die herrschende Meinung lehnt dies im Grundsatz ab,259 gestattet allerdings ausnahmsweise unternehmensübergreifende Regelungen, wenn die jeweiligen Einheiten den Grundsätzen über den gemeinsamen Betrieb entsprechen 260 und insofern als gemeinsam geführte Organisationseinheiten aller beteiligten Un·· ternehmen anzusehen sind. 261 Im Hinblick auf die eindeutige Bezugnahme des Gesetzes auf § 4 BetrVG erscheint es allerdings nicht möglich, über die Unternehmensgrenzen hinauszugehen, da sowohl § 4 BetrVG als auch der Betriebsbegriff selbst nur im Rahmen der ersten Vertretungsstufe Regelungen treffen. 262 Diese ist, wie soeben dargestellt, jedoch grundsätzlich auf den unternehmensinternen Bereich beschränkt. § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG läßt es weder bei unmittelbarer, noch bei entsprechender Anwendung zu, daß sich der Tarifvertrag von dieser gesetzlichen Grundaussage trennt. Die Tatsache, daß die Bestimmung neutral von "anderen Vertretungen der Arbeitnehmer" und nicht von "Betriebsräten" spricht, greift nur die Möglichkeit auf, die zweite und dritte Variante des § 3 Abs. I BetrVG zu kombinieren. Die von Teilen des Schrifttums gemachte Ausnahme für den gemeinsamen Betrieb kann an dieser Aussage nichts ändern. Zwar ist es richtig, daß unter diesen Voraussetzungen unternehmensübergreifende Betriebseinheiten entstehen können. Gleichwohl ist für eine konstitutive tarifvertragliehe Zusammenfassung von Arbeitsstätten zu einem Betrieb in diesen Fällen kein Raum, da die Bildung der Betriebseinheit sich bereits kraft Gesetzes vollzieht, wenn - wie verlangt wird - eine einheitliche Leitungsmacht besteht. 263 Entsprechende tarifvertrag liehe Bestimmungen hätten insoweit lediglich deklaratorischen Charakter. Der Tarifvertrag kann jedoch unter einem Gesichtspunkt Bedeutung erlangen. Werden selbständige Betriebe zweier oder mehrerer Unternehmen durch einen Tarifvertrag, an dem sämtliche Unternehmen beteiligt sind, zu einer Betriebseinheit zusammengefaßt, wird viel dafür sprechen, daß die vormals selbständigen Betriebe von den Unternehmen nunmehr gemeinschaftlich geführt werden und daher ein gemeinsamer Betrieb vorliegt. Der Tarifvertrag kann insoweit eine konkludente Führungsvereinbarung sein?64 Dabei ist jedoch zu beachten, daß es sich hier um eine 258 Gamillscheg. FS-Molitor, S. 133 (145); ders. Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, § 15 VII 4 c) S. 605; Däubler/Kittner/Klebe-TrÜlnner. BetrVG § 3 RdNr. 40,42; Kempen/Zachert. TVG § 1 RdNr. 278. 259 Richardi. BetrVG § 3 RdNr. 41; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 46; GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 25; Blank/Blanke u. a .• Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 176; Konzen, Unternehmensaufspaltungen und Organisationsänderungen im Betriebsverfassungsrecht, S. 125. 260 Wendeling-Schröder. Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 154. 261 Fitting/ Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 46. 262 Wendeling-Schröder. Divisionalisierung. Mitbestimmung und Tarifvertrag. S. 154. 263 Dies verkennen Wendeling-Schröder. Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag. S. 154 und Fitting / Kaiser / Heither / Engels. BetrVG § 3 RdNr. 46.
§ 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit
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Zusammenfassung der Betriebe kraft Gesetzes handelt und dem Tarifvertrag nur Indizwirkung in bezug auf die einheitliche Leitungsmacht zukommt. Werden die Entscheidungen im betriebsverfassungsrechtlichen Raum weiterhin nicht gemeinschaftlich ausgeübt, verbleibt es auch rechtlich beim vorherigen Zustand. Der Tarifvertrag vermag hieran nichts zu ändern. Die Bestimmung gestattet keine unternehmensübergreifende Zusammenfassung von betriebsverfassungsrechtlichen Einheiten. Entsprechen die jeweiligen Einheiten den Grundsätzen über den gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen, sind zwar tarifliche Regelungen über Unternehmens grenzen hinweg möglich, sie haben gleichwohl nur deklaratorischen Charakter.
III. Befund für den Anwendungsbereich
Um eine effektive Betriebsverfassung zu gewährleisten, können die Tarifpartner, gestützt auf § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG, einzelne Arbeitsstätten zu sinnvollen betriebsratsfähigen Einheiten zusammenfassen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um Betriebsteile, Nebenbetriebe oder selbständige Betriebe handelt, solange sie einem Unternehmen angehören. Die Gestaltungsbefugnis in bezug auf selbständige Betriebe läßt sich entweder mit der qualitativen Gleichwertigkeit eines Nebenbetriebes mit der Unternehmenszugehörigkeit eines selbständigen Betriebes oder aber mit einer analogen Anwendung des § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG begründen. Insoweit gehen die möglichen Inhalte tarifvertraglicher Regelungen weiter als von der bislang herrschenden Meinung angenommen. 265 Als dezentralisierende Maßnahme kann einzelnen Betriebsteilen die Betriebsratsfähigkeit zugesprochen werden. Erforderlich ist jedoch, daß der Betriebsbereich in organisatorischer wie räumlicher Hinsicht ein Mindestmaß an Autonomie aufweist. Im Ergebnis kann ein selbständiger Betrieb, sofern er sich aus (unselbständigen) Betriebsteilen zusammensetzt, in mehrere Betriebseinheiten aufgespalten werden. 266
Dazu oben 2. Kapitel § 2 A. 11. S. 99. Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich selbständiger Betriebe werden bei momentaner Gesetzeslage verneint von: GK-BetrVG-Kraft. § 3 RdNr. 25; Fitting/Kaiser/Heither/Engels. BetrVG § 3 RdNr. 44 (bis 18. Aufl.); Galperin/ Löwisch, BetrVG § 3 RdNr. 25; Hessl Schlochauer/Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 5; Stege/Weinspach. BetrVG § 3 RdNr. 7; Wendeling-Schröder; Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 154; Konzen, Unternehmensaufspaltungen und Organisationsänderungen im Betriebsverfassungsrecht, S. 124f.;Bachner; NZA 1996,400(405); Hanau, NZA 1993,817 (818). 266 Ebenso Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 45, Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 42. Handelt es sich nicht um Betriebsteile, ist eine Zerlegung nicht möglich (Insoweit nicht eindeutig Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I § 15 VII 4 c) (4) S. 605; ders., FS-Molitor, S. 145; Däubler I Kittner I Klebe-Trümner; BetrVG § 3 RdNr. 40). 264
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3. Kap.: GestaItungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Regelungen auf der Basis von § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG führen bereits zu einer Neubestimmung des Betriebes. Zwar nicht im Hinblick auf die Begriffsdejinition. jedoch im Hinblick auf den Begriffsinhalt. Dieser wird durch den Tarifvertrag selbständig verfaßt. Ist der aufnehmende Betrieb selbständig, wird sein Organisationsgefüge und damit der Begriffsinhalt des Betriebs verändert. Für den zugeordneten sowie für den aufnehmenden Betrieb verlieren die Begriffsdefinitionen mit der tarifvertraglichen Gestaltung ihre Bedeutung. Die betriebsverfassungsrechtliche Grundeinheit ist in der Rechtsfolge tarifvertraglich definiert. Insofern ist es aus praktischer Sicht irreführend, zwischen tarifvertraglichen Zuordnungsregelungen und der tarifvertraglichen Bestimmung des Betriebsbegriffes zu trennen. Im Erg(!bnis geht es immer um die Festlegung der wahlfähigen ßetriebseinheit; einmal durch Gesetz, einmal durch Kollektivvertrag. 267 Es sind keine Gründe ersichtlich, die es rechtspolitisch wünschenswert erscheinen ließen, den Tarifpartnern neben der Festlegung von betriebsratsfähigen Einheiten auch die Begriffsdefinition selbst zu überlassen, da letzteres nicht zu anderen Abgrenzungsproblemen führen würde, als die herkömmliche Definition, die ja im übrigen gesetzlich nicht ausdrücklich vorgegeben ist.
B. Rechtsfolgen der tarifvertraglichen Regelungen Im Gegensatz zu Regelungen nach der ersten und zweiten Variante des § 3 Abs. 1 BetrVG ist die tarifliche Bestimmung von Betriebseinheiten ohne Wirkung auf die rechtliche Stellung des Organs oder seiner Mitglieder. Der Tarifvertrag legt für die Dauer seiner Laufzeit eine anders abgegrenzte organisatorische Einheit als Betrieb fest, für den dann die gesetzliche Mitbestimmungsordnung der betrieblichen Ebene gilt. 268 Bei dem nunmehr an dieser Stelle positionierten Organ handelt es sich unverändert um den gesetzlichen Betriebsrat. Die Verschiebung der Betriebseinheit führt insoweit zu keiner veränderten rechtlichen Qualifikation des gesetzlichen Organs. Entsteht durch die tarifliche Gestaltung eine größere oder kleinere Einheit, so ist die in dieser Einheit vorhandene Beschäftigtenzahl für alle Regelungen maßgebend, welche an eine bestimmte Betriebsgröße anknüpfen?69 Das gleiche gilt hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzungen für die Bildung eines Gesamtbetriebsrates vorliegen. Die tarifliche Bestimmung der Betriebseinheit führt jedoch zwangsläufig zu einer Modifikation der Identität des Betriebes. Das ansonsten bekannte Phänomen der Betriebsumstrukturierung durch den Arbeitgeber wird hier vom Tarifvertrag vollzogen. Wegen der strengen Koppelung der Vertretungslegitimation des Organs '1f>7 Vgl. Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 45; Weiss/Weyand. BetrVG § 3 RdNr. 13; Heither, FS-Schaub, S. 306 f. '1f>8 Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 45. '1f>9 Däubler I Kittner I Klebe- Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 45.
§ 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit
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an die Identität des Betriebes 270 ist die tarifliche Veränderung nicht ohne Auswirkung auf die Betriebsverfassung in den betroffenen Arbeitsstätten.
I. Bisheriges Lösungsmodell Das betriebsverfassungsrechtliche Schrifttum differenziert im wesentlichen danach, ob im Rahmen einer tariflichen Regelung nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eine Arbeitsstätte als Betriebsteil oder Nebenbetrieb einem anderen Betrieb zugeordnet wird oder Arbeitsstätten "sonstwie zusammengefaßt" werden. 271 Nur im letzteren Fall entstehe für alle Bereiche eine neue Betriebsidentität,272 während in der ersten Konstellation die zugeordnete stets in der aufnehmenden Arbeitsstätte aufgehe mit der Folge, daß die Identität der letzteren Arbeitsstätte als Betrieb fortbestehe. Die Amtszeit etwa bestehender Betriebsräte sowie deren Zuständigkeiten richten sich demgemäß danach, ob die Betriebsidentität untergeht oder durch Zuordnung einer Arbeitsstätte in die Identität einer anderen "hineinwächst". Es ist jedoch fraglich, ob dieses aus dem Bereich der Betriebs- und Untern ehmensumstrukturierungen stammende Abgrenzungsmuster für tarifliche Regelungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG übernommen werden kann. Arbeitgeberseitige Maßnahmen sind nur dann für die Betriebsidentität relevant, wenn sie eine Änderung des Ordnungsgefüges mit sich bringen. So kann eine neue betriebsratsfähige Einheit nur dann entstehen, wenn die Leitungsstruktur entsprechend neu ge faßt wird. Dies ist bei tariflichen Regelungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG gerade nicht der Fall. Hier werden betriebsratsfähige Einheiten gebildet, ohne daß Änderungen auf tatsächlicher Ebene damit einher gehen. Soweit eine Unternehmensumstrukturierung in der Weise betriebsverfassungsrechtlich relevant wird, daß sie eine Verlagerung der betriebsverfassungsrechtlichen Entscheidungslinien zur Folge hat, ist eine Trennung zwischen Betriebsaufttahme und einer gleichberechtigten Zusammenfassung von Betrieben anhand des Umstrukturierungsprozesses und -ergebnisses möglich. Bei der tariflichen Zuordnung fehlen derartige Anhaltspunkte, die darauf schließen ließen, daß die neu entstandene Einheit als Fortsetzung der einen oder anderen ehemaligen Einheit zu verstehen ist. Die tariflichen Maßnahmen würden es nicht erlauben, zwischen Betriebsaufnahme und -zusammenfassung zu unterscheiden, da dies letztlich von der Einordnung als selbständiger Betriebsteil oder selbständiger Betrieb abhinge. Außerdem ist nicht ersichtlich, aus welchem sachlichen oder rechtlichen Grund die Zuordnung BAG NZA 1989,188 (188 ff.) und NZA 1989,433 (433 ff.). Vgl. Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 52 ff.; Däubler/Kittner/Klebe-TrÜlnner, BetrVG § 3 RdNr. 62 ff.; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 46 ff.; GK-BetrVG-Kraft, § 3 RdNr. 45 f. 272 Die Möglichkeit dieser Konstellation wird von Kraft (in GK-BetrVG, § 3 RdNr. 47) bestritten, da eine derartige tarifliche Zusammenfassung ohnedies unzulässig sei. 270 271
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
eines selbständigen Betriebsteils oder eines Nebenbetriebes anders zu beurteilen sein soll, als beispielsweise die Zusammenfassung von Betriebsteilen "sonstwie",273 wenn an der tatsächlichen Betriebsstruktur keine Änderungen zu verzeichnen sind. Es kann in demselben Maße nicht darauf ankommen, ob der Tarifvertrag davon spricht, daß die eine Arbeitsstätte der anderen Arbeitsstätte zugeordnet wird, oder daß die beiden Arbeitsstätten zusammengefaßt werden. Im Ergebnis liefe dies darauf hinaus, daß das Schicksal der Betriebsidentität von der eventuell zufälligen Formulierung durch die Tarifvertragsparteien abhinge.
11. Tarifliche Betriebsidentität
Die Abweichung vom Gesetz führt stets zu einer Neubestimmung der betriebsratsfähigen Einheit. Es handelt sich um eine tarifliche Anordnung dessen, was als Betrieb im Sinne des Gesetzes anzusehen ist. Alle vom Regelungsumfang des Tarifvertrags betroffenen Arbeitsstätten erhalten eine neue, nämlich tarifliche Betriebsidentität. 274 Für die Dauer der Laufzeit ist die gesetzliche Identität damit außer Kraft gesetzt. Daraus folgt, daß alle bisherigen Betriebsteile, Nebenbetriebe oder selbständige Betriebe ihre Identität mit der Zuordnung verlieren und untergehen, gleichgültig, ob sie aufnehmen respektive aufgenommen oder zusammengefaßt werden. Der neue Betrieb ist ohne Betriebsrat im Sinne des § 13 Abs. 2 Nr. 6 BetrVG. Wird ein Betriebsteil durch Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG verselbständigt, so erhält er eine eigene Betriebsidentität. Der abgebende Betrieb ist für den Betriebsteil fremd und behält daher seine Betriebsidentität, da sich die tarifliche Regelung nicht auf ihn bezieht. Nur unter den allgemeinen Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG ist eine Neuwahl erforderlich. Bestehen in den betroffenen Arbeitsstätten bereits Betriebsräte, so endet deren Amtszeit, weil der Betrieb aufhört zu bestehen. 275 Auch können ausgegliederte Betriebsteile, die verselbständigt oder mit anderen Arbeitsstätten zusammengefaßt werden, nicht mehr unter die Zuständigkeit des alten, im abgebenden Betrieb weiterhin bestehenden Betriebsrates fallen, da das betriebsidentitätsgebundene Mandat verlorengeht. 276
Vgl. Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 53. Anderer Ansicht Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 52 ff.; Däublerl Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 62 ff.; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 46 ff.; GKBetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 45 f. 275 Richardi, BetrVG § 21 RdNr. 27. 276 Vgl. BAG NZA 1989,433 (434). 273 274
§ 3 Abgrenzung der betriebsverfassungsrechtlichen Grundeinheit
203
III. Übergangsmandat Infolgedessen stellt sich für den Übergang der gesetzlichen in die tarifliche Phase die Frage, inwieweit bislang vorhandene Vertretungen bis zur Neuwahl von Betriebsräten ein Mandat für die neu entstandenen Betriebseinheiten wahrnehmen können. Das auch bei Maßnahmen, weIche nicht unter die Geltungsbereiche des UmwG, SpTrUG, VermG oder DBGrG fallen, anerkannte, befristete Übergangsmandat 277 kann desgleichen für diesen Bereich fruchtbar gemacht werden. Durch die tarifliche Neufassung der Betriebseinheit soll gerade die Funktionsfähigkeit der betrieblichen Interessenvertretung verbessert werden. Dem würde es zuwiderlaufen, wenn Resultat dieser Regelung wäre, daß vorhandene Interessenvertretungen bis zu Neuwahl ersatzlos wegfielen und eine bereits vorhandene Betriebsverfassung auf diese Weise vorübergehend beseitigt würde. Die Vergleichbarkeit der Interessenlage der betriebsidentiätsverändernden Umstrukturierungen und der tariflichen Neugestaltung der Betriebseinheit spricht für eine Analogie. Insbesondere da die tarifliche Regelung im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber getroffen wird. In bezug auf § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG liegt insoweit eine planwidrige (nachträgliche) Gesetzeslücke vor, nachdem sich der Gesetzgeber in den außerbetriebsverfassungsgesetzlichen Regelungen eindeutig für die Sicherung der Kontinuität der Betriebsverfassung entschieden hat. 278 In dem mit der Befristung begrenztem Umfang ist insoweit der von der Rechtsprechung betonte Grundsatz der Identität von Betrieb und Betriebsratsbildung durchbrochen. 279 Dieser Lösung kann im Gegensatz zu der Analogie des umwandlungsrechtIichen Übergangsmandats nach § 321 UmwG bei Einzelrechtsnachfolge nicht entgegengehalten werden, es bestehe keine planwidrige Regelungslücke, da der Gesetzgeber die Übergangsmandate bewußt nur in Spezialgesetzen verankert habe. 280 Dies trifft - wenn überhaupt - nur auf arbeitgeberseitige Unternehmens- und Betriebsumstrukturierungen zu, weIche nicht in den Geltungsbereich der Spezialgesetze fallen. Im Hinblick auf § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ist hingegen davon auszugehen, daß der Gesetzgeber das Problem der Übergangsphase gar nicht bedacht hat und insoweit eine plan widrige Unvollständigkeit vorliegt. 277 LAG Berlin BB 1996, 1937 (1937); ArbG Frankfurt! M AuR 1996, 506 (506); FittinglKaiserlHeitherlEngels. BetrVG § 21 RdNr. 38 ff., 52; Däubler/Kittner/Klebe-Buschmann. BetrVG § 21 RdNr. 31 ff. und 68 f.; GK-BetrVG-WieseIKreutz. § 21 RdNr. 82; Lutter-loost. UmwG § 321 RdNr. 4; Mengel. Umwandlungen im Arbeitsrecht. S. 442 ff.; Engels. DB 1991.966 (967 ff.); ders .• FS-Wlotzke, S. 279 (285 f.); Bachner, DB 1995,2068 (2069); Däubler, RdA 95, 136 (138); Klar, NZA 1997,470 (472); Schlachter, RdA 1993,313 (316); ablehnend Hess/Schlochauer/Glaubitz-Schlochauer, BetrVG § 21 RdNr. 34; Boecken. Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 237; BauerlLingemann. NZA 1994, 1057 (1058); Gaul. DB 1995,2265 (2268); Heinze. FS-Schaub. S. 275 (285 f.). 278 Vgl. GK-BetrVG-WieseIKreutz. § 21 RdNr. 82. 279 So auch Däubler / Kittner / Klebe-Buschmann. BetrVG § 21 RdNr. 68. 280 Dies wird von Boecken. Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, S. 237; Bauer I Lingemann, NZA 1994, 1057 (1058) und Gaul. DB 1995, 2265 (2268) gegen ein allgemeines Übergangsmandat angeführt.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Da die Übergangsmandate - überwiegend bezüglich ihrer Dauer - in den einzelnen Gesetzen unterschiedlich geregelt sind, ist hier § 321 UmwG als die al1gemeinste Normierung heranzuziehen. 281 Danach ergibt sich für den Übergang von der gesetzlichen zur tariflichen Phase folgendes: 282 Bestand bei Inkrafttreten des Tarifvertrages in einer der zugeordneten oder zusammengefaßten Arbeitsstätten ein Betriebsrat, nimmt dieser übergangsweise sein betriebsverfassungsrechtliches Mandat für den neu entstandenen Betrieb wahr. Bestand in mehreren Arbeitsstätten ein Betriebsrat, so ist entsprechend § 321 Abs. 2 UmwG derjenige Träger des Übergangsmandates, dem nach der Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer die größte Einheit zugeordnet war. 283 Wird ein Betriebsteil verselbständigt, führt der Betriebsrat des abgebenden Betriebes die Geschäfte entsprechend § 321 Abs. 1 UmwG weiter. Der Betriebsrat hat insbesondere unverzüglich für den neuen Betrieb einen Wahlvorstand zu bestel1en. Das Übergangsmandat beginnt mit dem Inkrafttreten des Tarifvertrages und ist auf sechs Monate befristet, endet jedoch mit Bekanntgabe des Wahlergebnisses; § 321 Abs. I S. 3 UmwG. Endet der Tarifvertrag nach § 3 Abs. I Nr. 3 BetrVG, so lebt das zwingende Gesetzesrecht wieder auf. Eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG findet nicht statt. 284 Hier gilt sinngemäß das gleiche, wobei zu beachten ist, daß nicht immer neue betriebsratsfähige Einheiten entstehen, sondern wegen des Zuordnungsmodel1s des § 4 BetrVG Betriebsteile oder Nebenbetriebe Betrieben zugeordnet werden können, die bislang nicht von der tariflichen Regelung betroffen waren. Ist dies der Fal1, sind die Betriebsräte der Hauptbetriebe zuständig, bis eine reguläre Neuwahl stattgefunden hat. 285 In den übrigen Konstellationen nimmt der ursprüngliche Betriebsrat der tariflichen Betriebseinheit sein Übergangsmandat in entsprechender Anwendung des § 321 UmwG wahr.
C. Ergebnis Die von weiten Teilen der Wissenschaft und Praxis geforderte Ausdehnung der Tarifierungsermächtigung auf selbständige Betriebe286 ist bereits geltendes Recht. 281 Vgl. LAG Berlin BB 1996, 1937 (1937); Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 21 RdNr. 52; Bachner, DB 1995,2068 (2096). 282 Die herrschende Meinung geht den oben beschriebenen Weg und differenziert danach, ob es sich um eine Zuordnung oder Zusammenfassung handelt (vgl. Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 52 ff.; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 62 ff.; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 46 ff.; GK-BetrVG-KraJt, § 3 RdNr. 45 f.). 283 Anderer Ansicht Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 53, die eine Zuständigkeit der ursprünglichen Betriebsräte für "ihre Bereiche" befürworten. 284 Dazu oben § 2 C. 11. S. 174 f. 285 Fitting / Kaiser / Heither / Engels, BetrVG § 3 RdNr. 55.
§ 4 Kommunikationsorgane
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Einer Gesetzesänderung bedarf es also insoweit nicht. Allerdings empfiehlt sich aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eine Anpassung des gesetzlichen Wortlautes. Durch tarifvertragliehe Bestimmungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG entsteht regelmäßig eine neue - tarifliche - Betriebsidentität. Die analoge Anwendung des § 321 UmwG verhindert, daß in der Übergangsphase von der gesetzlichen zur tariflichen Betriebseinheit Vertretungslücken entstehen.
§ 4 Kommunikationsorgane Die gesetzgeberische Grundentscheidung, auf betrieblicher Ebene nur ein Organ vorzusehen, um "ein unfruchtbares Nebeneinanderherarbeiten mehrerer in ihrem Aufgabenbereich sich überschneidender Betriebsräte und eine unerquickliche Rivalität" zu vermeiden,287 hat auch negative Folgen. In Großbetrieben und Betrieben mit verstreuten Arbeitsstätten kann die Zuständigkeit nur eines betrieblichen Vertretungsorgans zu einer Entfernung der Interessenvertretung von den repräsentierten Arbeitnehmern führen. Einmal durch organisatorische, das andere Mal durch räumliche Entfernung. Hierunter hat das betriebsverfassungsrechtliche Ziel einer belegschafts nahen Betriebsratsarbeit zu leiden. 288 Mit der Vergrößerung der Betriebseinheit wächst die Anzahl der Arbeitnehmer deutlich, die auf ein Betriebsratsmitglied entfallen. Ist in einem Betrieb mit 100 Arbeitnehmern ein Betriebsratsmitglied noch für nur 20 Arbeitnehmer "zuständig", so ist es in Großbetrieben schnell über das Zehnfache. 289 Gleichermaßen kann die räumliche Entfernung dazu führen, daß einige der Betriebsstätten in dem Betriebsrat nicht repräsentiert sind und ein persönlicher Kontakt, der über Telekommunikationsmittel hinausgeht, wenn überhaupt, nur sporadisch "besuchs weise" stattfindet. Dieses Kontaktdefizit wird in der Praxis nicht selten durch die Installation und Nutzbarmachung von betriebsverfassungsrechtlichen Substrukturen unterhalb der Betriebsebene zu kompensieren versucht. 290 § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG beruht unter anderem auch auf Vorschlägen der CDU / CSU-Fraktion, sogenannte Arbeitsgruppensprecher in Betrieben mit über 2000 Beschäftigten bereits auf gesetzlicher Basis zuzulassen. 291 Diese sollten als "Trans286 Vgl. Fn. 212; gegen eine Ausdehnung de lege ferenda nur Konzen, Unternehmensaufspaltungen und Betriebsänderungen im Betriebsverfassungsrecht, S. 125. 287 BAG AP Nr. 5 zu § 3 BetrVG 1952. 288 Dazu oben 2. Kapitel § 1 B. S. 87 ff. 289 In einem Betrieb mit 6000 Arbeitnehmern entfallen ca. 207 wahlberechtigte Arbeitnehmer auf ein Betriebsratsmitglied; § 9 BetrVG. 290 Dazu oben 2. Kapitel § 3 A. I. S. 123 ff. 291 BT-Drucks. VII 1806, § 106, S. 21 und 47.
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
portband für die Probleme der Arbeitnehmer" fungieren. 292 Die Tarifpraxis hat nur sehr zurückhaltend von dem Mittel der tariflichen Ermöglichung einer zusätzlichen Vertretung über § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG Gebrauch gemacht. Die hierzu vorhandenen Tarifverträge stehen in aller Regel im Zusammenhang mit Zuordnungsregelungen nach der dritten Variante der Vorschrift. 293 Die daneben häufig in der Unternehmenswirklichkeit zu konstatierenden betriebsverfassungsrechtlichen Substrukturen bewegen sich jenseits dieser Norm und haben einfache Abreden, Betriebsvereinbarungen oder nicht genehmigte Tarifverträge zur Grundlage. 294
A. Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG Zusätzliche betriebsverfassungsrechtliche Vertretungen können unbeschadet der übrigen Voraussetzungen nur eingerichtet werden, wenn dies der zweckmäßigeren Gestaltung der Zusammenarbeit des Betriebsrats mit den Arbeitnehmern dient. Die Bestimmung knüpft mithin an eine bereits bestehende betriebsverfassungsrechtliche Struktur an und fügt dieser eine weitere Ebene unterhalb des gesetzlichen Betriebsrates hinzu. Es handelt sich um eine Subeinheit auf tarifvertraglicher Basis. Da die zusätzliche Vertretung Gestaltungsmittel der Zusammenarbeit des Betriebsrates mit den Arbeitnehmern sein soll, ist die Existenz eines Betriebsrates erforderlich. 295 Es handelt sich bei der zusätzlichen Vertretung um ein betriebsveifassungsrechtliches Organ. 296 Das führt zu der Überlegung, inwiefern sonstige innerbetriebliche Vertretungsformen, wie die sogenannten gewerkschaftlichen oder betrieblichen Vertrauenskörper, von der Vorschrift betroffen und inwiefern außerhalb des Anwendungsbereichs der Nr. 1 Vertretungsformen, welche die betriebsverfassungsrechtliche Materie zum Gegenstand haben, ausgeschlossen sind?97 292 Abgeordneter Franke (CDU I CSU) in Betriebsverfassungsgesetz, Zur Sache 1172, Themen Parlamentarischer Beratung, S. 106 (aus der Debatte des Deutschen Bundestages vom 10. November 1971, 150. Sitzung der 6. Legislaturperiode). 293 Sehr anschaulich ist hierzu der Zuordnungstarifvertrag bei der Deutschen Telekom Immobilien und Service GmbH vom 4. 4. 1996 (Fn. 177). § 6 der Vereinbarung sieht sog. Auskunftspersonen in Arbeitsstätten vor, die 50 km vom Sitz des Betriebsrats entfernt liegen, bei denen mindestens 21 Arbeitnehmer beschäftigt sind und die gleichzeitig nicht durch ein Betriebsratsmitglied repräsentiert sind. Vgl. auch Heither, FS-Schaub, S. 295 (300). 294 Siehe zu den sog. betrieblichen Vertrauensleuten Rancke, Betriebsverfassung und Unternehmenswirklichkeit, Tabelle 59 S. 292.
295 Fitting/Kaiser/Heither/Engels, BetrVG § 3 RdNr. 23; GK-BetrVG-Kraji, § 3 RdNr. 14; Richardi, BetrVG § 3 RdNr. 10; Däubler/Kittner/Klebe-Trümner, BetrVG § 3 RdNr. 21; ErfurterKomm-Eisemann, BetrVG § 3 RdNr. 2. 296 Das Wort "betriebsverfassungsrechtIiche" ist erst später in den Entwurf des Bundesarbeitsministers eingefügt worden, der nur von ,,zusätzlichen Vertretungen der Arbeitnehmer" gesprochen hatte. Dazu Hess I Schlochauer I Glaubitz-Hess, BetrVG § 3 RdNr. 2. 297 Dazu sogleich unten IV. S. 213.
§ 4 Kommunikationsorgane
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I. Zweckmäßigere Gestaltung der Zusammenarbeit Das auf kollektivvertraglicher Grundlage errichtete Organ muß die Zusammenarbeit zwischen dem Betriebsrat und den von ihm vertretenen Arbeitnehmern zweckmäßiger gestalten. Das belegschaftsbezogene Moment der betriebsverfassungsrechtlichen Interessenvertretungsarbeit soll damit durch die zusätzliche Vertretung wieder mehr in den Vordergrund gestellt und eine bessere Kommunikation ermöglicht werden. Durch die Beschränkung der zusätzlichen Vertretung auf eine der Zusammenarbeit dienende Funktion wird deutlich, daß der Betriebsrat selbst in seiner Stellung gegenüber dem Arbeitgeber oder der Belegschaft davon nicht in der Weise betroffen ist, daß seine Zuständigkeiten übernommen oder verändert würden. 298 Die zusätzliche Vertretung ist nur Hilfsorgan des Betriebsrates und Bindeglied zwischen Interessenvertretung und Belegschaft. Die Zusammenarbeit zwischen dem Betriebsrat und den einzelnen Arbeitnehmern während der Amtszeit besteht vor allem darin, daß einerseits die Arbeitnehmer die sie betreffenden Sachfragen und Probleme an das Organ herantragen, und andererseits der Betriebsrat sein Wirken und die erzielten Ergebnisse den Arbeitnehmern zur Kenntnis bringt. Die Wahrnehmung von Aufgaben auf diesem Gebiet macht die zusätzliche Vertretung zu einem Kommunikationsorgan ohne eigene Entscheidungsgewalt in betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten. 299 Eine zweckmäßigere Gestaltung liegt dann vor, wenn das zusätzliche Organ zu einer sachgerechteren und gleichmäßigeren Repräsentation aller vom Betriebsrat vertretenen Arbeitnehmer führt. Als Leitbild kann hier die Wertung in § 15 BetrVG dienen. Da die Einheitlichkeit der Betriebsvertretung gleichzeitig beinhaltet, daß aus bestimmten Interessenkreisen des Betriebes keine Mitglieder entsandt werden, soll darauf hingewirkt werden, daß sich der Betriebsrat möglichst aus Arbeitnehmern sämtlicher Beschäftigungsarten und Betriebsabteilungen zusammensetzt. Dies um zu gewährleisten, daß die Mitglieder des Repräsentationsorgans bei Behandlung der die Belegschaft berührenden Fragen ihre Auswirkungen auf die verschiedenen Belegschaftskreise aus eigener Kenntnis beurteilen können. 3OO Da es sich hierbei nur um eine im übrigen in der Praxis nur sehr eingeschränkt durchsetzbare Sollvorschrift handelt, können entsprechende kommunikative Defizite nur durch das Hinzuziehen weiterer Personen aufgefangen werden. Vgl. auch die Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. VII 1786, S. 36. Wendeling-Schröder, Divisionalisierung, Mitbestimmung und Tarifvertrag, S. 150 f. Unrichtig ist es hingegen, hieraus die Folge zu ziehen, sie übe "damit keine eigenständige betriebsverfassungsrechtIiche Funktion aus" (so aber Blank/Blanke u. a., Arbeitnehmerschutz bei Betriebsaufspaltung und Unternehmensteilung, S. 169). Das belegschaftsbezogene Moment der betrieblichen Interessenvertretung erfordert gerade eine möglichst enge Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Betriebsrat. Dies macht den Informationsfluß Arbeitnehmer Interessenvertretung - Arbeitgeber zu einem ganz wesentlichen Aspekt der Betriebsverfassung. 300 Richardi, BetrVG § 15 RdNr. I. 298
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3. Kap.: Gestaltungsmacht in den Grenzen der Zulassungsnormen
Kommunikationsschwierigkeiten können sich besonders dann ergeben, wenn wegen der Betriebsgröße oder der räumlichen Trennung von Betriebsabteilungen einzelne Beschäftigungsgruppen organisatorisch oder räumlich voneinander entfernt sind. Die zusätzliche Vertretung ist insoweit immer ein Mittel, Entfernungen zwischen Belegschaft und Betriebsrat zu überbrücken,30! um auf diese Weise die erforderliche Bindung an die Repräsentierten herzustellen. Was indes Ursache für etwaige Kommunikationsdefizite ist, bleibt aus der Sicht dieses Tatbestandsmerkmales ohne Bedeutung. Die zusätzliche Vertretung dient dann der zweckmäßigeren Gestaltung der Zusammenarbeit, wenn die Kommunikation zwischen Betriebsrat und den Arbeitnehmern in der Weise verdichtet wird, daß das Kriterium der Belegschaftsnähe in stärkerer Weise verwirklicht werden kann und sämtliche Interessenkreise gleichmäßig Zugang zum Betriebsrat erhalten.
11. Besch