Systemtheorie und Recht: Zur Normentheorie Talcott Parsons' [1 ed.] 9783428436217, 9783428036219


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German Pages 190 Year 1976

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Systemtheorie und Recht: Zur Normentheorie Talcott Parsons' [1 ed.]
 9783428436217, 9783428036219

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 37

Systemtheorie und Recht Zur Normentheorie Talcott Parsons‘ Von

Dr. Reinhard Damm

Duncker & Humblot · Berlin

REINHARD DAMM

Systemtheorie und Recht

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehhinder

Band 37

System theorie und Recht Zur Normentheorie Talcott Parsons'

Von

Dr. Reinhard Damm

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Damm, Reinhard Systemtheorie und Recht: zur Normentheorie Talcott Parsons'. - 1. AufI. - Berlin: Duncker und Humblot, 1976. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 37) ISBN 3-428-03621-2

Alle Rechte vorbehalten

© 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1976 bei BUchdruckerei A. Saytfaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed In Germany ISBN 8428 0S6212

Vorwort des Herausgebers "Parsons' neslges Werk ist in einem jahrzehntelangen Prozeß der Grundlegung, tastenden Modüizierung, Erweiterung entstanden, als dessen bisheriges Produkt ein komplexes, facettenreiches und nicht in jeder Hinsicht widerspruchsfreies Theoriegebäude dasteht. Seine Interpreten betonen je verschieden Variation oder Kontinuität der Theorieentwicklung." Hierauf will der Verfasser nicht eingehen, sondern "die für die Parsonssche Theorieentwicklung unzweifelhaft zentralen Kategorien auf ihrem normsoziologischen und normtheoretischen Hintergrund" vorstellen (S.50). Der Autor betont wiederholt (S.61 und passim), "daß Parsons eine Ausarbeitung seiner Theorie im Hinblick auf Recht nicht geleistet habe, das Problem von ,Law', ,Legal System' und ,Legal Profession' immer wieder gestreUt wird, mitunter in eigens dem Recht gewidmeten Gelegenheitsarbeiten (so z. B. in dem Aufsatz ,Recht und soziale Kontrolle' in: Hirsch / Rehbinder [Hrsg.], Studien und Materialien zur Rechtssoziologie KZfSS, Sonderheft 11, 1967, S. 121 - 134)". "Daher ist hier - wie es auf S. 151 formuliert wird - Interpretation gleichzeitig eigener Entwurf, wobei das interpretatorische Risiko - wie immer - zu Lasten des Interpreten geht", aber auch, so muß man hinzufügen, der Erfolg zu seinen Gunsten zu veranschlagen ist. Diese Risiken und Erfolgsaussichten sind allerdings kaum abschätzbar, weil der "Interpret" seinen eigenen wissenschaftstheoretischen Standpunkt, von dem aus er sich mit dem Parsonsschen Theoriengebäude unter rechtssoziologischem Aspekt beschäftigt, nicht ausdrücklich und klar zu erkennen gibt. Er begnügt sich mit dem Hinweis, sein Unterfangen sei geeignet, zahlreiche gegenläufige Einschätzungen, ja Vor-Urteile aus den verschiedensten Lagern hervorzurufen, und werde hinsichtlich seiner Auffassung von Rechtssoziologie, ihrer derzeitigen Funktion und ihres Beschäftigungsradius' "ganz bestimmte Weisen von Unzufriedenheit hinterlassen" (S. 11). Dies allein wäre schon ein zureichender Grund, einer derartigen Untersuchung den Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen. Hinzu kommt, daß gar vielerlei, was der Interpret dem "Meister" zuschreibt, in Wahrheit als durchaus eigenes Geistesgut qualifiziert werden muß. Deshalb kann die wissenschaftliche Leistung des Verfassers - eine Überarbeitung und Ergänzung seiner unter der Betreuung von Thomas

6

Vorwort des Herausgebers

Raiser entstandenen Gießener Dissertation - nicht hoch genug veranschlagt werden, nämlich als "Beitrag zur Aufarbeitung eines Denkansatzes, bezüglich dessen Auseinandersetzung nicht trotz, sondern gerade auch wegen vieler möglicher kritischer Einwände unverzichtbar erscheint angesichts des unbestreitbar entscheidenden Anteils, den dieser Ansatz für die Entwicklung sozialwissenschaftlicher Theorie bereits gehabt hat" (S. 19) und für die theoretische Rechtssoziologie haben wird oder. vorsichtiger ausgedrückt, jedenfalls haben sollte. Königsfeld im Schwarzwald, April 1976

Ernst E. Hirsch

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung: Notizen zum Thema .•....•.......•••..•.•.•...•..••.••. 1. Th~oret~sche Rechtssoziologie und derzeitige Situation der Rechts-

11

sOZlologle ......................................................

11

2. Theoretische Rechtssoziologie und die Parsonssche Theorie ......

16

II. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung ....

20

1. Das "Hobbessche Problem" .............•..••..•••....•........

20

2. Die Hauptstoßrichtung der Parsonsschen Kritik: Wider den

Utilitarismus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

21

3. Freud ..........................................................

26

4. Europäische "Klassiker" und angelsächsische Kulturanthropologie 28

IH. Der wissenschaftstheoretische und methodologische Hintergrund: Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkelllntnisproblem ..•.

32

1. Theorie und Empirie .......................•..................

32

2. Die Philosophie der Parsonsschen Theorie ......................

36

3. Parsons' Grundlagen im Vergleich zu den Grundlagen anderer

rechtssoziologischer und rechtstheoretischer Entwürfe ..........

41

a) Legal Realism - Judicial Behaviorism - Interesseiljurisprudenz ........................................................ 41 b) Theodor Geiger ............................................

44

c) Max Weber.................................................

46

.... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . • • . . • . . • • . . . . . . . .

50

1. Die "normative Ausrichtung" des Handelns ....................

51

IV. Soziales Handeln

a) Normativität: Norm und Wert. . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . • . . . . . . 51

8

Inhaltsverzeichnis b) Der Grundbezugsrahmen .................................... aa) Aktor

54

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

bb) Situation ................................................

55

ce) Orientierung ............................................ ·56 2. Recht und Handlungsorientierung ..............................

61

a) Die Genesis der Norm: Interaktion und die Entstehung von Verhaltenserwartungen ...................................... 62 b) Komplementarität -

Reziprozität: Der reduzierte Vertrag....

65

c) Situationsdefinition durch Recht: Interpretation - Legitimation - Sanktion ............................................ 72

V. Das Systemmodell

81

1. Die Perspektive

81

2. Systemtypen -

Systemebenen ..................................

a) Interdependenz -

Independenz -

Interpenetration ..........

84 84

b) Die systemfunktionalen Imperative: Funktionale Differenzierung und Normativität der Subsysteme...................... 88 c) Pattern Variables: Handlungsorientierung und System......

93

d) Die vier Subsysteme des "Allgemeinen Handlungssystems" ....

95

aa) Der Verhaltensorganismus ..............................

95

bb) Das Persönlichkeitssystem ..............................

98

ce) Das soziale System ...................................... 102 dd) Das kulturelle System .................................. 108 3. Das Rechtssystem .............................................. 111 a) Die Systemfunktionen des Rechts ............................ 111 aa) Systemreferenzen und Multifunktionalität des Rechts .... 111 bb) Recht und "integration": Norm und Substrat ............ 114 ce) "Integration" und "goal-attainment": Recht und politisches System .................................................. 120 dd) Recht und "pattern maintance": Verfassung und Wertsystem .................................................. 126 ee) Recht, "goal-attainment" und "adaption": Politisches und ökonomisches Subsystem - kein Primat der Wirtschaft .. 136

Inhaltsverzeichnis

9

b) Das Normkontinuum: "Außerrechtliche" Normen und "Sozialisation durch Recht" ........................................ 144 c) Funktionale Ausdifferenzierung ohne Verselbständigung des Rechts ....................................................... 151 d) Exkurs: Parsons' Theorie und die Staatslehre Hermann Hellers 157 e) Rechtssystem und individuelle Autonomie: "Institutionalisierter Individualismus" ............................................ 164

Literatur .............................................................. 180

I. Einleitung: Notizen zum Thema 1. Theoretische Rechtssoziologie und derzeitige Situation der Rechtssoziologie Das Unterfangen, sich unter rechtssoziologischem Aspekt mit dem Theoriengebäude von Talcott Parsons zu beschäftigen, ist geeignet, zahlreiche - gegenläufige - Einschätzungen, ja Vor-Urteile aus den verschiedensten Lagern hervorzurufen. Dieser Umstand ist nicht verwunderlich, da bereits die Themenwahl ebenso zahlreiche Implikationen enthält. Auf einige davon muß jedenfalls andeutungsweise eingegangen werden, da sich als Resultante dieser Implikationen eine bestimmte Auffassung von Rechtssoziologie, ihrer derzeitigen Funktion und ihres Beschäftigungsradius ergibt. Diese Auffassung wird ganz bestimmte Weisen von Unzufriedenheit hinterlassen. Solche Unzufriedenheit wird zunächst bei denjenigen verbleiben, die nach dem vorgängigen Entwurf eines Minimalprogramms dessen, was "juristisch" bedeute, die "juristische Relevanz der Sozialwissenschaften "1 etwa daran messen, wie "man die juristische Fragestellung, welche ,Rechtsnatur' Verkehrszeichen haben, rechtssoziologisch aufhellen" kann!. Diese Einstellung "des auf eine bestimmte Entscheidung programmierten Juristen":! kann dann theoretische Rechtssoziologie - allenfalls - für "einen möglichen Weg" halten, neben dem "zusätzlich" ein "weiterer Weg praktisch versucht" werden4 müsse. Hier entsteht das Bild einer Theorie, die außerhalb der Welt praktischer Erfahrung, geschweige denn für diese Welt ersonnen wird und einer Praxis, die imstande ist, an "Detailproblemen" zu werkeln, ohne auf Theorie angewiesen zu sein. Es schiebt sich ein Kant-Titel in den Blick: "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis." Eine solche Position hat als Voraussetzung das Bild von gleichermaßen amputierten Wissenschaften vom 1 So schon im Titel: Naucke, über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, FrankfurtIM. 1972. 2 Naucke, Wissenschaftsbegriff Rechtssoziologie - Rechtspraxis, in: Naucke / Trappe (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtspraxis, Neuwied-Berlin 1970, S.96. 3 Rasehorn, JZ 1972, S.327. 4 Naucke, Über die Zusammenarbeit zwischen Juristen und Rechtssoziologen, JRR 1, S. 497 (Hervorhebung im Original).

12

I. Einleitung: Notizen zum Thema

Sozialen wie speziell vom Recht als auch von sozialer Praxis und Praxis des Rechts. Dies wiederum beruht auf einem eigenartigen Verhältnis zu "Theorie" - und zwar nicht nur zu sozialwissenschaftlicher Theorie5. Für die Sozhllwissenschaften und damit für die Rechtssoziologie wird - gewollt oder ungewollt - suggeriert, daß es so etwas wie eine voraussetzungslose, theorieunabhängige Empirie "neben" der Theorie geben könne; für die Jurisprudenz wird die Relevanzlosigkeit von Theorie für die Praxis suggeriert. Solchen Suggestionen, die Empirie und Praxis als etwas gleichsam . "Unmittelbares" vorstellen, muß nachdrücklich begegnet werden. Dies ist in diesem Zusammenhang um so nötiger, weil gerade Juristen im Umkreis "Rechtssoziologie" vielfach vorschnell und - nahezu - ausschließlich "Rechtstatsachenforschung" assoziieren, "deren tradiertes Selbstverständnis daran krankt, das rechtssoziologische Erkenntnisinteresse durch den normativen Vorgriff auf die rechtsdogmatische Relevanz und praktische Brauchbarkeit der präsumtiven ,Ergebnisse' zu steuern"6 und dieser - zu amputierter Sozialwissenschaft und amputierter Jurisprudenz sich gesellenden - Rechtssoziologie die Funktion einer Datenbank für den "praktisch arbeitenden Juristen" zuteilen. Das Erkenntnisziel der Sozialwissenschaften7 ist aber gerade nicht die Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten, ist nicht die Beschreibung, die "Verdoppelung" der sozialen Wirklichkeit, sondern deren ErklärungS. Eine solche Erklärung kann aber nur über die theoretische Organisation empirischen Wissens erfolgen. Die in diesem Umkreis bestehende Problematik reicht bis zu Francis Bacons Begründung empirischer Wissenschaft im Novum Organum zurück, wo Bacon den seines Erachtens "wahren Weg" empirischer Wissenschaft vorstellt: 5 Denn auch hinsichtlich ihrer "eigenen" Theorie wird der juristischen Praxis "Theoriefremdheit" attestiert und das "unzureichend konsolidierte Selbstverständnis der Jurisprudenz" auf das "unklare Verhältnis der Rechtspraxis zu ihrer Theorie" zurückgeführt, vgl. Klüver I Priester I Schmidt I Wolf, Rechtstheorie - Wissenschaftstheorie des Rechts, in: Jahr I Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, Frankfurt 1971, S. 1, und Priester, Rechtstheorie als analytische Wissenschaftstheorie, in: Jahr I Maihofer, S.16. 6 W. K. Rechtstheorie, 1972, S.127 (Buchanzeige Th. Raiser, Einführung in die Rechtssoziologie). 7 Das soll hier neben der Soziologie auch eine Reihe weiterer Nachbardisziplinen einschließen, wie z. B. Kriminologie, Politikwissenschaft, aber auch - wie sich noch zeigen wird - Sozialpsychologie und Psychoanalyse. 8 Vgl. z. B. R. König, Einleitung zum Handbuch der empirischen Sozialforschung, 1. Bd., 2. Auf!. Stuttgart 1967, S.5; John Rex, Grundprobleme der soziologischen Theorie, Freiburg 1970, S. 28 ff. und passim; vgl. zur Problematik soziologischer Erkenntnis aus literarischer Sicht die leidenschaftliche Karikatur bei Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt 1963, S. 391 f.

1. Theoretische Rechtssoziologie

13

"zwei Wege gibt es zur Untersuchung und Auffindung der Wahrheit - es kann nicht mehrere geben. Der eine ist ein Sprung von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen zu höchst allgemeinen Grundsätzen; aus diesen höchsten Wahrheiten werden sodann die Mittelsätze aufgefunden; dieser Weg ist der jetzt gewöhnliche. Der andere leitet von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen ebenfalls Grundsätze her; aber er steigt dann allmählich und stufenweise höher, bis er ganz zuletzt zu den allgemeinsten, höchsten gelangt - das ist der wahre Weg, aber noch unbetreten9 ." Die Hoffnungen, die Bacon in diesen "wahren Weg" gesetzt hatte, sind - jedenfalls in dieser Formzerstört. Bacons "allmählicher Aufstieg" "von der sinnlichen Wahrnehmung" und vom "Einzelnen" zu höchst allgemeinen Grundsätzen hat sich als Unmöglichkeit erwiesen: Auf empirischer Basis gibt es keinen übergang von einem Satz wie "in allen beobachteten Fällen X" zu einem Satz wie ,.in allen Fällen X"10, da uns bekanntlich "noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz (berechtigen), daß aUe Schwäne weiß sind"l1. Dieses unüberwindliche"12 Problem, das sogenannte "Problem der Induktion"1!, bezeichnet die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit eines Schlusses "von besonderen Sätzen, die z. B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien"14. Die ganze Radikalität dieser von der modernen Wissenschaftslogik und Erkenntnistheorie vorgenommenen Verunsicherung des Verhältnisses zwischen Empirie und Theorie wird erst deutlich, wenn man im Anschluß an das "Induktionsproblem" das sogenannte "Basisproblem"15 betrachtet. Dieses "Basisproblem" oder "Problem der Erfahrungsgrundlage" betrifft "die Fragen nach dem empirischen Charakter der besonderen Sätze"16 (also z. B. Beobachtungen). WissenschaftsZogisch wird hier das übliche Vor-Urteil attackiert, daß die Wahrheit von "Basissätzen", d. h. von Tatsachenfeststellungen (und damit darauf aufbauenden Theorien), durch unsere Wahrnehmungserlebnisse "unmittelbar einsichtig gemacht", auf Grund dieser Erlebnisse "evident" und damit "begründet" sei, während doch grundsätzlich "Sätze nur aus Sätzen logisch begründet werden können"17 und nicht aus Wahrnehmungserlebnissen, also , Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaft, 1620. Photomechanischer Nachdruck, Darrnstadt 1962, S.28. 10 Vgl. hierzu Rex, S.37. 11 Popper, Logik der Forschung, 3. Auß. Tübingen 1969, S. 3 (Hervorhebung im Original). 12 Popper, S.5. 13 Popper, S. 3 ff.; Rex, S.37. 14 Popper, S.3 (Hervorhebung im Original). 15 Popper, S.17, 60 ff. 16 Popper, S.17. 17 Popper, ebenda.

14

I. Einleitung: Notizen zum Thema

Beobachtungenl8 • Wissenschaftspraktisch gilt die Einsicht: daß es keine "reinen" Beobachtungen gibt, daß Beobachtungen vielmehr schon immer "von Theorien durchsetzt (sind) und ... von Problemen geleitet (werden)"19.20; daß es aber weiter auch keine "reinen" Beobachtungssätze gibt, da die unsere Beobachtungen "darstellende" Sprache ebenfalls bereits schon immer und von vornherein von Theorie durchsetzt ist. Bereits "bloße" Wahrnehmung hat als das Ergebnis einer Interpretation, also einer von theoretischem Wissen abhängigen Verarbeitung sensorischer Daten zu gelten!1. Bei allen Differenzen im übrigen!! klingt hier ein noch des näheren zu behandelndes Problem an, das auch den Nerv der Parsonsschen Theorie vor- und darstellt: die nachdrückliche Betonung je schon vorhandener "normativer" Prägung sozialer, psychischer Prozesse, ja gar der Funktionen des "Verhaltensorganismus" . Dieses "Basisproblem" wird - mitsamt der Popperschen Lösung eines Konventionalismus der Basissätze - über alle Schulenstreite hinweg gegen einen naiven Empirismus diskutiert, wenn auch nicht in Konsens darüber, welche Folgerungen daraus in wissensch.aftstheoretischer Hinsicht im einzelnen zu ziehen sind 2lt• Auch für die "kritische Theorie" gilt für das Verhältnis Theorie - Empirie, daß ohne "theoretische Ansätze", ohne "Theoreme" bei empirischen Untersuchungen "nichts herauskommt"24. Die Bedeutung dieser Unmöglichkeit "reiner" 18 Vgl. in diesem Zusammenhang die Äußerung Albert Einsteins: " ... die in neuerem Denken und in unseren sprachlichen Äußerungen auftretenden Begriffe sind alle - logisch betrachtet - freie Schöpfungen des Denkens und können nicht aus den Sinnes-Erlebnissen induktiv gewonnen werden. Dies ist nur deshalb nicht so leicht zu bemerken, weil wir gewisse Begriffe und Begriffsverknüpfungen (Aussagen) gewohnheitsmäßig so fest mit gewissen Sinnes-Erlebnissen verbinden, daß wir uns der Kluft nicht bewußt werden, die - logisch unüberbrückbar - die Welt der sinnlichen Erlebnisse von der Welt der Begriffe und Aussagen trennt ... ", A. Einstein, Bemerkungen zu Bertrand Russells Erkenntnis-Theorie, zit. nach Hans Albert, Konstruktion und Kritik, Hamburg 1972, S. 199 Fn. 6. 18 Popper, S. 76. 20 Dies korrespondiert mit der psychologischen Erkenntnis, daß Beobachtungen stets schon "s y s t e m a t i s ehe s Verhalten" sind, d. h.: auch schon vor aller wissenschaftlichen Präzisierung "Differenzierung des Erlebten, erste Abstraktionsleistungen und Einengung des Blickes auf das für wesentlich Gehaltene" beinhalten, R. König, Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, S. 107. 21 Popper, S.76; Bohnen, Zur Kritik des modernen Empirismus, in: Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, 2. Auf\.. Tübingen 1972, S. 171 ff. (190). 22 VgI. dazu Schwanenberg, Soziales Handeln Die Theorie und ihr Problem, Berlin-8tuttgart 1970, S. 18 ff. und passim. 23 VgI. z. B. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 6. Aufi. Köln-Berlin 1970, S. 291 ff. (303 ff.). 24 So Adorno, Gesellschaftstheorie und empirische Forschung, in: Hochkeppel (Hrsg.), Soziologie zwischen Theorie und Empirie, München 1970,

1. Theoretische Rechtssoziologie

15

Empirie ist auch bereits für die einem juristischen Positivismus entwachsene Rechtsdogmatik hervorgehoben worden 25 • Hier schien dieser - notwendigerweise holzschnittartige - Aufriß zum Theorie-EmpirieVerhältnis unter zweierlei Aspekt unumgänglich: einmal unter dem illustrierten Aspekt des unter Juristen verbreiteten Ressentiments gegenüber Theorie und speziell sozialwissenschaftlicher Theorie. Dieser Haltung ist die Unvermeidbarkeit von Theorie, der Umstand vor Augen zu führen, daß sozialwissenschaftliche Erkenntnis ebensowenig wie juristische Praxis ihrer Theorie entrinnen kann. Denn - so hat sich nach den gemachten Ausführungen herausgestellt - jede noch so rigide Empirie und "pragmatische" Praxis beruht unweigerlich jedenfalls bereits auf Embryonalformen von Theorie, und sei diese noch so unreflektiert und "vulgär". Die Konsequenzen für eine bessere Praxis scheinen so auf der Hand zu liegen: sie ist nur im Geleit einer besseren Theorie zu erreichen. An dieser Stelle nun muß betont werden, daß die verbreitete Haltung, nach der "juristischen Relevanz" der Sozialwissenschaften und speziell von sozialwissenschaftlicher Theorie zu fragen, unter dem zuletzt genannten Gesichtspunkt eine grundsätzliche - und selbstverständliche! - Berechtigung hat: Natürlich hat die hier vorgenommene Polemik gegen Fragen nach "juristischer Relevanz" von Sozialwissenschaften im allgemeinen und "praktischer" Relevanz von Theorie im besonderen nicht zum Ziel ein Plädoyer für die RelevanzZosigkeit von Theorie. Kritik sollte nur der verkürzte in bezug genommene Maßstab der geforderten Relevanz erfahren. Der Umsetzungsprozeß zwischen Theorie und Praxis ist - in beiden Richtungen! - komplizierter, als es das Festmachen an der "Fallentscheidung" wahrhaben will und daher: wahrnehmen kann. Dieser Umsetzungsprozeß ist insbesondere im Verhältnis von Sozialwissenschaften und Jurisprudenz durch eine Menge tektonischer Verwerfungen sowohl wissenschaftsorganisatorischer, rechtspraktischer als auch wissenschaftsgeschichtlicher Art gekennzeichnet, die die Erwartung vieler Juristen verbieten, die erste Berührung mit den Sozialwissenschaften müsse ad hoc die Lösung unzähliger Probleme von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis erbringen. Diese Einstellung muß dann als Defensivtaktik erscheinen, wenn es an der Bereitschaft zu langfristiger Kooperation fehlt 26 • S. 75 ff. (77/78); vgl. auch Adorno, Soziologie und empirische Forschung, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, S. 511 ff. ' 25 Starck, Empirie in der Rechtsdogmatik, JZ 1972, S. 609 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, Köln-Berlin-Bonn-München 1971, S. 3 ff., und R. v. Hippel, Gefahrenurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis, Berlin 1972. 26 Vgl. hierzu Damm, JZ 1972, S. 309 ff.

16

I. Einleitung: Notizen zum Thema

Diese Einstellung beruht aber wohl auch ihrerseits wiederum jedenfalls teilweise darauf, daß der geschilderte verfehlte Relevanzmaßstab zwangsläufig Frustrationen bewirken muß: die unerfüllbare Hoffnung oder jedenfalls die vorgebrachte Erwartung, daß die Jurisprudenz nur mit "Sozialwissenschaft" (so wie sie sich im Augenblick gerade darbietet!) gefüttert werden müsse, um gleichsam eine Problemlösungsautomatik in Gang zu setzen, beruht gleichzeitig auf beidem: einem etwas naiven Vertrauen auf Wissenschaft einerseits und einer skeptischen Verweigerung gegenüber Wissenschaft andererseits. Nach der hier vertretenen Ansicht geht es demgegenüber für die Rechtswissenschaft unabdingbar um eine permanente und eigenverantwortliche Teilnahme an der sozialwissenschaftlichen Diskussion, um in Langzeitwirkung und im Interesse einer besseren Wirklichkeit zu vermeiden, daß die Jurisprudenz nur auf einem vorgestrigen Erkenntnisstand hinsichtlich der Analyse von personalen und sozialen Bedingungen normorientierten Handelns steht.

2. Theoretische Rechtssoziologie und die Parsonssche Theorie Daß diese Realitätsanalyse nach dem Gesagten auch Befassung mit sozialwissenschaftlicher Theorie voraussetzt, leitet zu dem zweiten - für diese Arbeit wesentlichen - Aspekt über, unter dem die Skizze zum Theorie-Empirie-Verhältnis nötig erschien: Diese Arbeit beschäftigt sich mit sozialwissenschaftlicher Theorie, und zwar nicht in einer bei von Juristen betriebenen Rechtssoziologie häufig anzutreffenden beiläufigen Weise. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein sozialwissenschaftlicher Autor, von dem man - über alle Umstrittenheit und Problematik seiner wissenschaftlichen Position hinweg - jedenfalls soviel feststellen kann: nur bei wenigen Sozialwissenschaftlern dieses Jahrhunderts ist die geradezu emphatische Betonung der Unverzichtbarkeit von Theorie für den Fortschritt sozialwissenschaftlicher Erkenntnis so zentral und beherrschend wie bei Parsons. Wie sehr dies auch dem Selbstverständnis Parsons' entspricht, wird bezeichnend belegt durch seine Selbstcharakterisierung als "an incurable theorist"27. Die "Berechtigung" zu dieser Arbeit leitet sich unter diesen Umständen aus folgendem her: einmal aus der Ansicht, daß die Rechtssoziologie im Verein mit den allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorien um die Erfassung der Bedingungen sozialen HandeIns sowie 27 So in der seinem zweiten Hauptwerk "Tl)e Socia! System" vorangestellten Widmung. .

2. Theoretische Rechtssoziologie und die Parsonssche Theorie

17

darum bemüht sein muß, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang sozialen Normengefügen zukommt, ja daß dies recht eigentlich die "Kernfrage der Rechtssoziologie überhaupt" ist28 • Was dieses Verhältnis der Rechtssoziologie zur allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorie betrifft, so wird man die derzeitige Kontaktsituation auch dann nicht euphemistisch beurteilen können, wenn man die These: "Ein Zusammenhang dieses Fachs (d. L: der Rechtssoziologie, - R. D.) mit der neueren soziologischen Theorieentwicklung fehlt völlig"29, für etwas überzogen hält. Zum anderen: angesichts dieser Situation und speziell unter diesem Aspekt erscheint die Aufarbeitung eines sozialwissenschaftlichen Theorieansatzes von Seiten der Rechtssoziologie geboten, der die normative Orientierung sozialen Handelns in den Mittelpunkt des Interesses rückt und angesichts der zentralen These der Unerläßlichkeit normativer Strukturen für soziale Systeme als "generaHsierte Rechtssoziologie" bezeichnet worden ist30 • Daß hier eine Vorentscheidung für eine Jurisprudenz gefallen ist, die sich als Handlungswissenschaft versteht und die von ihr zu be- und verarbeitenden Normenkomplexe als "sozialwissenschaftlich strukturiertes normativregulatives System von juristischen Handlungsorientierungen" begreiftSI, liegt auf der Hand. Einen Beitrag zu solcher Aufarbeitung zu leisten, setzt sich diese Arbeit zum Ziel. Dabei ist zu betonen, daß in den Erörterungen zur theoretischen Rechtssoziologie Parsons bisher zwar nicht völlig unerwähnt geblieben ist, seine Berücksichtigung jedoch entweder nur aspekthaft3Z oder durch ihre Beiläufigkeit gekennzeichnet ist33 , dies, obwohl die Berücksichtigung der Parsonsschen Theorie für Trappe, Zur Situation der Rechtssoziologie, Tübingen 1968, S. 19 Luhmann, Rechtssoziologie, Reinbek 1972, S. 1. 30 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 18. 31 Wiethölter, KJ 1970, S. 121 ff. (125); vgl. demgegenüber Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, Berlin 1969, S.147, wonach die Jurisprudenz "grundsätzlich keine Handlungswissenschaft", sondern eine "Lehre vom richtigen Verstehen, nicht vom richtigen Handeln" sei. 32 Vgl. z. B. Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, JRR 1, S. 37 ff. (51 ff.); Jürgen Schmidt, Ein soziologischer Begriff des "subjektiven Rechts", JRR I, S. 300 ff. (303 ff.); Stone, Socia! Dimensions of Law and Justice, London 1966, S. 7 ff. (16 ff.). Dieses Urteil schließt auch ein die Arbeit von Ina Philipps, Interaktionsmodell und Normentstehung. Zum Beitrag Talcott Parsons' zur Rechtssoziologie. Diss. Saarbrücken 1971; diese Arbeit befaßt sich nur mit einer Partikel der Parsonsschen Normentheorie (der Normentstehung) und dringt an keiner Stelle zu den Grundlagen der Theorie vor. Sie kommt deshalb an vielen Stellen zu einer dem Grundzug dieser Arbeit und - wie ich meine - auch den Grundlagen der Parsonsschen Theorie genau widersprechenden, nämlich liberalistischen Parsons-Deutung. Darauf wird im Zusammenhang verwiesen werden. 38 Vgl. z. B. Bickel, Kritische Theorie und Rechtssoziologie, in: Naucke / Trappe, S.58; ausdrücklicher Verzicht auf eine Behandlung Parsons' demgegenüber bei Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, Tübingen 1974, S.64. 28

29

2 Damm

18

I. Einleitung: Notizen zum Thema

Rechtssoziologie und Rechtstheorie geradezu für unverzichtbar erklärt worden ist34 • Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang Niklas Luhmann ein, der seine Position ja gerade als Fortentwicklung des "strukturell-funktionalen" Ansatzes von Parsons versteht. Wegen der gewichtigen Stimme Luhmanns innerhalb der deutschen theoretischen Rechtssoziologie versteht es sich daher nahezu von selbst, daß eine Diskussion der Parsonsschen Normentheorie nicht ohne Seitenblicke auf Luhmann sich vollziehen kann. Solche Seitenblicke werden denn auch in dieser Arbeit mehrfach geworfen. Sie werden - das sei vorweggenommen - eine These dieser Arbeit zu untermauern haben: daß einige problematische Weichenstellungen der Luhmannschen Rechtssoziologie sich gerade nicht auf der Grundlage der Parsonsschen Theorie ergeben. Damit kommt jedenfalls eine Randfunktion dieser Arbeit in den Blick: die in der deutschen rechtssoziologischen Diskussion nahezu selbstverständliche Identifizierung der Luhmannschen Position mit systemtheoretisch-rechtssoziologischem Räsonnement überhaupt etwas zu relativieren und alternative Ansätze bereits innerhalb dieses Räsonnements aufzuzeigen. An dieser Stelle muß noch eine weitere Unzufriedenheit erwähnt werden, die diese Arbeit zu gewärtigen hat. Sie ist von einer Position her zu erwarten, für die sich die Beschäftigung mit Parsons schon mit dem schlichten Hinweis erübrigt, daß die konservativen Gehalte der Parsonsschen Systemtheorie schon oft genug dargetan worden seien. Solches - in bequemen Alternativen sich bewegende - Denken ist genau das Gegenteil von dem, was hier für notwendig erachtet wird: "Eine Denkerrungenschaft ... zugunsten einer anderen zu vernachlässigen, kann sich Wissenschaft nur zu ihrem Schaden erlauben35." Dementsprechend soll kein Theoriemonismus betrieben, kein "Bekenntnis" zu einem theoretischen Ansatz abgelegt werden, wiewohl freilich die bloße Beschäftigung mit dem erörterten Ansatz erkennen läßt, daß hier davon ausgegangen wird, daß in der derzeitigen sozialwissenschaftlichen Situation ebendieser Ansatz jedenfalls ein - auch von seinen Kritikern konzediertes - "relatives Recht beanspruchen" kanns6. Es geht vielmehr, wie betont, um nicht mehr und nicht weniger 34 Vgl. die Kritik von Stone, ARSP 1964, S.154/155, zu einem Entwurf Maihofers mit dem Hinweis, bei Beachtung der Arbeiten von Talcott Parsons hätte sich mancher Umweg und Irrtum vermeiden lassen. S5 SO Willms, Institutionen und Interesse. Elemente einer reinen Theorie der Politik, in: Schelsky (Hrsg.), Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S.44; vgl. in diesem Sinne auch Knebel, Ansätze einer soziologischen Metatheorie subjektiver und sozialer Systeme, Stuttgart 1970, Vorwort. S6 Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt 1970, S.73.

2. Theoretische Rechtssoziologie und die Parsonssche Theorie

19

als um einen Beitrag zur Aufarbeitung eines Denkansatzes, bezüglich dessen Auseinandersetzung nicht trotz, sondern gerade auch wegen vieler möglicher kritischer Einwände unverzichtbar erscheint angesichts des unbestreitbaren entscheidenden Anteils, den dieser Ansatz für die Entwicklung sozialwissenschaftlicher Theorie bereits gehabt hat37 • Gerade bei Parsons gilt es, sich klarzumachen, daß bei derart riesigen Theoriegebäuden nicht die Alternative Dogmatisierung oder Stigmatisierung, sondern die Frage nach Ausdeutbarkeit und Ausbaufähigkeit die angemessene Kontaktform ist. Insbesondere gewichtet sich der Wert eines Denkansatzes auch danach, wieviel bemühten Widerspruch er provoziert.

37



Vgl. in diesem Sinne auch Schrader, Soziale Welt 1966, S. 111 ff.

11. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung 1. Das "Hobbesscb.e Problem"

Die Quellen des Parsonsschen Denkens sind entsprechend seinem gewaltigen, sich nunmehr über fünf Jahrzehnte erstreckenden Werk zahlreich und können in ihren feinsten Verästelungen hier nicht verfolgt werden. Unerläßlich zum Verständnis von Parsons' Grundposition und deren Prägekraft für Normentheorie im allgemeinen und Rechtssoziologie im besonderen ist jedoch die Vergegenwärtigung einiger Denktraditionen, die - in unterschiedlicher, auch zeitlich sich wandelnden Gewichtung - maßgeblichen Einfluß auf Parsons' theoretische Arbeit hatten. Dabei wird in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht auch in den Blick kommen, in welchem Maße die Sozialwissenschaften die Diskussion "alter" Themen auf neuen Ebenen fortsetzen. Vor und über allen Großkomplexen und Partikeln Parsonsschen Denkens steht als "Schlüsselfrage"l und "Problemtitel"2 das "Hobbessche Problem", "the Hobbesian problem of order"3. Dieses Problem hat Parsons im Kontext seiner soziologischen Theorie neu formuliert als die Frage nach "den Bedingungen, von denen die empirisch beobachteten Ebenen gesellschaftlicher Ordnung abhängen"': Warum entsteht und entwickelt sich trotz divergenter Motiv-, Interessen- und Machtlagen der Einzelnen Gesellschaft als soziale Ordnung, als das Gesamt geregelten Verhaltens? Dabei erscheint das Problem sozialer Ordnung von vornherein als Problem sozialen Handelns5 • Diese Anknüpfung an Hobbes läßt Parsons gerade auch für die Grundlagenfächer der Rechtswissenschaft bedeutsam werden angesichts einer Hobbes-Renaissance, die den angeblichen Machttheoretiker und 1 Brandenburg, Systemzwang und Autonomie. Gesellschaft und Persönlichkeit bei Talcott Parsons, Düsseldorf 1971, S.17. 2 Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons. Eine kritische Analyse, Frankfurt 1967, S.28. 3 Vgl. z. B. Parsons, The Social System, New York-London 1966 (im folgenden: SS), S.36, 118; ders., The Structure of Social Action, 5. Aufi. New York-London 1967 (im folgenden: SSA), S.89. 4 Parsons, The General Interpretation of Action, in: Parsons / Shils / Naegele / Pitts (Hrsg.), Theories of Society, einbändige Ausgabe New YorkLondon 1965, S. 96. I> Vgl. hierzu auch Schwanenberg, S. 88 ff.

2. Wider den Utilitarismus

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Tyrannenanwalt, dieses "Monstrum des Unglaubens und des Materialismus"6 als den "ersten großen Theoretiker des Rechtsstaats"7 wiederentdeckt8 • Die Anknüpfung an Hobbes stellt die Parsonssche Theorie aber auch in einen historischen Zusammenhang, in dem im Mittelpunkt die Frage steht nach der Bedeutung des Vertragskonzepts für Emanzipation und Unterdrückung, für "natürliche Freiheit und gesetzt-gesetzliche Sicherheit, für individuelle Bereicherung und "gerechten" Tausch, für Ökonomie und Moral.

2. Die Hauptstoßrichtung der Parsonsschen Kritik: Wider den Utilitarismus Auf diesem Hintergrund ist bei Parsons' Lösungsversuch die erste Stoßrichtung ebenso kennzeichnend für die weitere Theorieentwicklung wie die zu ebendiesem Lösungsversuch verarbeiteten wissenschaftlichen Inhalte und "Schulen". Die Stoßrichtung geht zunächst - mit besonderer Deutlichkeit im Frühwerk "The Structure of Social Action" wider einige Hauptströmungen "klassischen" europäischen Denkens, die sich vor Parsons U.m Erklärungsversuche "menschlichen", will hier heißen: sozialen Verhaltens bemüht hatten. Ausgehend vom "Hobbesschen Problem", dessen zentrale Bedeutung betonend, verwirft Parsons zunächst die von Hobbes selbst angebotene Lösung. Hobbes kann dem beschworenen schrecklichen Naturzustand, in dem nach Hobbes' Worten das Leben "solitary, poor, nasty, brutish and short"9 ist, nur durch die Installation eines allmächtigen Souveräns beikommen. In Hobbes' Sicht kann angesichts der Knappheit der Ressourcen immer dann, wenn "any two men desire the same thing which nevertheless they cannot both enjoy"10 nur ein mit absoluter Macht ausgestatteter Herrscher die Einhaltung kontraktueller Verpflichtungen aus dem "Gesellschaftsvertrag" - und damit überlebengarantieren. Parsons erscheint diese Anrufung eines übermächtigen deus ex machina als allzu willfähriger Ausweg. Insbesondere aber ist Parsons davon überzeugt, daß zur Erklärung sozialen Handelns äußerLiche Kontrolle nicht ausreicht. Soweit ersichtlich geht Parsons nicht auf einen oft als Inkonsequenz kritisierten Aspekt des Hobbesschen 11 Vgl. Fetscher in der Einleitung der von ihm besorgten Leviathan-Ausgabe, NeuWied-Berlin 1966, S~ XVII. 7 So Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, Frankfurt 1968, S. 106. 8 Vgl. auch: von Krockow, Soziologie des Friedens. Drei Abhandlungen zur Problematik des Ost-West-Konflikts, Gütersloh 1962, S.15!f. D Hobbes, Leviathan, zitiert nach SSA, S. 90. 10 Hobbes, Leviathan, zitiert nach SSA, S. 90.

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Ir. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung

Denkens ein, der zeigt, daß auch Hobbes bereits - nur implizit, ohne es zur Kenntnis zu nehmen - neben der äußeren Kontrolle auch innere Bindung voraussetzen muß11: Zwar stellt Hobbes den Menschen als materielles, als Bedürfniswesen vor, das keiner Moral, sondern nur seiner Natur unterworfen ist. Trotzdem aber soll der entscheidende, zum Schutz des Menschen vor seiner eigenen Natur nötige Akt der Unterwerfung unter Staatsgewalt im Wege der Verpflichtung gegenüber dieser Gewalt erfolgen. In seiner Theorie der vertraglichen Obligation muß Hobbes also dem faktischen Zwang innere Verpflichtung vorangehen lassen, ohne die hier auftauchende, völlig neue gesellschaftstheoretische Dimension zu beachten: "Eine bloß äußerliche Regelung des Naturzustandes durch Institutionen genügt nicht. Sicherheit gibt es nur, wenn man die Menschen auch von innen beherrscht, das heißt, wenn äußere Kontrolle und das Gefühl der Verpflichtung einander ergänzen ... Die Natur des Menschen muß nicht nur von außen durch den Staat, sondern auch von innen durch ihn selbst kontrolliert werden1!." Für Parsons tritt - wieder ein bleibendes Leitmotiv - in der Kontinuität eben dieses Themas die Frage nach der Bedeutung eines allgemeinen und durch Internalisierung zum Bestandteil der individuellen Motivationsbasis gewordenen Wert- und Normensystems als Garant gesellschaftlicher Ordnung in den Mittelpunkt des Interesses. Dieses Leitmotiv wird auch - wie sich zeigen wird - zur eigentlichen Ursache dafür, daß nach seiner nachdrücklichen und jahrzehntelangen Verfolgung - gewissermaßen an dem einen Extrempol einer sozialwissenschaftlichen Außen-Innen-Dimension - die Verarbeitung eines beträchtlichen Teils der Theorien Sigmund Freuds erfolgt. Die von diesem Leitmotiv getragene Abgrenzung von Hobbes ist gleichzeitig Einfallstor für normtheoretische und spezieller: rechtssoziologische Überlegungen: "Hobbes is almost entirely devoid of normative thinking"13 (zu präzisieren wäre nach dem Gesagten: jedenfalls soweit Hobbes selbst die Konsequenzen seiner Konzeption bewußt zieht). Parsons verfolgt so dann kritisch den Verlauf derjenigen Erklärungsversuche für soziales Handeln, die im Anschluß an Hobbes vom politischen und ökonomischen Utilitarismus von Locke über Hume und A. Smith bis zu Bentham und Mill entworfen worden waren. Im Zentrum der Interessen stehen Hobbes und Locke. Parsons' Utilitarismusbegriff ist dabei folgender: "The theoretical action system characterized by these four features, atomism, rationality, empiricism and randomness of ends will be called in the present study the 11 Jonas, Geschichte der Soziologie, Band 1, Reinbek 1968, S.69. 12 Jonas I, S.70. 13 SSA, S. 89.

2. Wider den Utilitarismus

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utilitarian system of social theory14." Als Ausgangspunkt sieht Parsons in Hobbes System "almost a pure case of utilitarianism", da die von Hobbes menschlichem Handeln zugrundegelegten "passions" als "discrete, randomly variant ends of action"15 erscheinen. Dabei scheinen für Parsons die Positionen von Hobbes und Locke in einem Verhältnis der Komplementarität ihrer Leistungen und Versäumnisse zu stehen: Für Hobbes ist kennzeichnend eine derart starke, ja "übertriebene" Betonung des "Sicherheitsproblems" , daß er über der Frage nach der Möglichkeit schierer Sicherheit durch kontraktuell begründete und machtmäßig garantierte Ordnung die Möglichkeit darüber hinausgehender gesellschaftlicher Errungenschaften gänzlich aus dem Blick verliert18. Demgegenüber macht sich Locke in Parsons' Sicht eines "Herunterspielens" , einer "Minimisierung" des Sicherheits- und damit des Ordnungsproblems schuldig17 • Parsons sieht die Komplementarität - formelhaft ausgedrückt - folgendermaßen: Hobbes hatte "theoretisch recht", wenn er von der postulierten Disparatheit individueller Interessen auf die Möglichkeit eines "Kampfes aller gegen alle" schloß; er hatte jedoch "empirisch unrecht", weil soziale Ordnung auch ohne allmächtigen Souverän anzutreffen ist. Im Gegensatz hierzu gingen Locke und die ihm folgende klassische Nationalökonomie - "faktisch richtig" - von der Möglichkeit sozialer Ordnung ohne absoluten Souverän aus, gaben jedoch mit der Annahme einer natürlichen Identität der disparaten Individualinteressen eine "theoretisch falsche" Begründung. In Parsons eigenen Worten: "Locke ... was right but gave the wrong reasons"18; für Parsons Illustration des wissenschaftsgeschichtlich häufig anzutreffenden Phänomens, daß "it often happens, in astate of scientific immaturity, that the thinker who comes nearest being factually right in his empirical views ist the least theoretically penetrating"19. Das jedoch ist für Parsons - kennzeichnend für seine gesamte Position - unbefriedigend: "Factual correctness is not the sole aim of science; it must be combined with thouroughgoing theoretical understanding of the facts known and correctly stated20 ." Parsons ist der Ansicht, daß die Bagatellisierung des Ordnungsproblems bei Locke nur mit Hilfe der von ihm als metaphysische Stütze ("metaphysical prop")21 und Wunschdenken ("wishful postulation")2! SSA, SSA, le SSA, 17 SSA, 18 SSA, 1e SSA, 20 SSA, 21 SSA,

14 lS

S. 90. S. 60. S. 97. S.95, 96. S. 97 Fn. 1. S.97 Fn. 1 (Hervorhebung von mir, R. D.). S. 97 Fn. 1 (Hervorhebung im Original). S. 102.

24

II. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung

bezeichneten Annahme einer natürlichen Identität der individuellen Interessen gelingt. Der utilitaristische Erklärungsversuch geht von einem durchgängig am Zweck-Mittel-Schema orientierten Handelnden aus, d. h.: von einem Aktor, der sein Verhalten ausschließlich an denjenigen Mitteln ausrichtet, die ihm bei rationalem Erwägen der Handlungsfolgen zum Erreichen bestimmter selbstgesetzter Zwecke als die angemessensten erscheinen. Hier ist nun für Parsons' Stellungnahme eine wichtige Präzisierung vorzunehmen: Emphatisch wird zwar die Eindimensionalität des utilitaristischen Ansatzes abgelehnt, andererseits aber - in für Parsons typischer Weise - eine doppelte übernahme und Verwertung vorgenommen. Einmal wird - auf inhaltlichstruktureller Ebene - nach Zurückweisung der Zweck-Mittel-Rationalität als einziger Determinante des Handelns Rationalität gleichwohl als ein Element sozialen Handeins (genauer: des Motivationsreservoirs) in die Theorie eingebracht. Zum anderen wird - auf einer grundsätzlichen theoretischen Ebene - der prinzipielle Blickwinkel des utilitaristischen Modells insofern für unverzichtbar gehalten, als dort Handeln als subjektiv-intentional begriffen und aus subjektiver Perspektive beschrieben wird, d. h. aus der Perspektive des hypothetischen Handelnden23 • Versagen wird dem utilitaristischen Erklärungsversuch demgegenüber bei der Frage bescheinigt, wie sich denn die angeblich rationalen Einzelhandlungen (Parsons: "unit acts") in oder besser: zu sozialer Ordnung zusammenfügen. Hier nun setzt Parsons' nachdrückliche Betonung anderer Motivationselemente als des rationalen ein, wobei - und das kann gerade unter rechtssoziologischem Aspekt nicht genug betont werden - insbesondere die Kategorie der "Normativität" in den Vordergrund rückt24 • Im Kontext der neuzeitlichen Vertragstheorien formuliert: Zur Lösung des "Hobbesschen Problems" zentriert sich Parsons' Interesse weder auf die Einsetzung eines allgewaltigen Souveräns durch Vertrag noch auf die unverbundenen Zwecksetzungen selbstinteressierter Einzelner, sondern - in Anlehnung an Durkheim25 auf die nicht-kontraktuellen Momente innerhalb des Vertrags: auf die Bedeutung eines von den Individuen internalisierten Wert- und Normensystems, das nicht bloß wegen seiner Sanktionsdrohungen anerkannt wird. Diese "These einer normengeleiteten Interaktion geht über die liberalen Lösungen hinaus"2'6. Es wird sich herausstellen, daß sich aus dieser Verschachtelung bei Parsons ein nicht ganz klares Verhältnis zum Vertragskonzept ergibt. SSA, S.97. Vgl. z. B. SSA, S. 82 ff. 24 Vgl. z. B. schon SSA, S. 74 ff. 25 Vgl. SSA, S.319. 26 Rolshausen, Rationalität und Herrschaft. Zum Verhältnis von Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Frankfurt 1972, S. 80. 22 23

2. Wider den Utilitarismus

25

Parsons weist damit also ein angebliches "vernünftiges" "aufgeklärtes Selbstinteresse" (enlightened self-interest) als auch ein von außen ansetzendes Sanktionspotential als Erklärung sozialer Ordnung zurück. Die gleiche Ablehnung erfährt das im 19. Jahrhundert sich entwickelnde System des Positivismus, und zwar sowohl seine erste Stufe des "radikalen rationalistischen Positivismus"27 als auch und insbesondere seine zweite Stufe des von Parsons sogenannten "radikalen anti-intellektualistischen Positivismus"!8, worunter er insbesondere den Sozialdarwinismus, aber auch Behaviorismus und Instinkttheorie der Psychologie versteht29 • Diese Strömungen stellen insofern eine konsequente Fortentwicklung des utilitaristischen Handlungskonzepts dar, als sie Fluchtversuche aus dem "utilitaristischen Dilemma"30 betreffen: Dieses Dilemma bestand darin, daß im utilitaristischen Mittel-ZweckSchema die individualistisch verstandenen Handlungszwecke entweder als unverbunden, "zufällig" nebeneinanderstehend angesehen werden mußten (so der Utilitarismus mit der dann zwingenden Minimisierung des Ordnungsproblems) oder aber die Zufälligkeit der Zwecke verneint werden mußten. Dann aber war die Annahme erforderlich, daß "it must be possible for the actor to base his choice of ends on scientific knowledge"31, auf "absolut sicheres Wissen"3!. Den letzten Weg beschritt der "rationalistische Positivismus" mit der Folge, daß "die Handlungsorientierung ... gänzlich kognitiv (ist)" und "Handeln ... allein auf rationaler Wahrnehmung der und Anpassung an die Situation (beruht)"33. Aber auch dieser Weg führt nicht zu einer befriedigenden, und das heißt für Parsons lückenlosen Theorie sozialen Handelns. Denn: "It becomes somewhat mysterious ..., how it is possible for the actor ever to err, if there is no other determinant of his action than knowledge 34 ." Da so die Kategorie subjektiver Rationalität angesichts der Möglichkeit von Nichtrationalität im positivistischen Schema ebenso eine logisch geschlossene Handlungstheorie verhinderte, wurde sie von Sozialdarwinismus, Behaviorismus und Instinkttheorie kurzerhand eliminiert: Außersubjektive Faktoren ("Anlage" und "Umwelt") wurden zu den bestimmenden Handlungsdeterminanten. "Statt Handeln herrscht biologische Reaktion ... Handeln ist nicht nur, wie beim rationalistischen Positivismus, deterministisch, sondern mechanistisch, seine Sub27 SSA, S. 64. 28 SSA, S. 112/113. 29 SSA, S. 115 ff.; vgl. auch Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie. Herausgegeben und eingeleitet von Dietrich Rüschemeyer, 2. Aufl. NeuwiedBerlin 1968, S.45. 30 SSA, S. 64, 344 ff. 31 SSA, S. 63. 32 Schwanenberg, S. 94. 33 Schwanenberg, S. 94. 34 SSA, S. 64.

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II. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung

jektivität fällt heraus35 ." Das Problem normativer Ordnung wird nicht mehr nur minimisiert, sondern verschwindet zugunsten einer bloß "faktischen Ordnung", die - "ironisch genug" - den Hobbesschen Urzustand des Kampfes zum Normalzustand erhebt38 . Die beschriebene, in ihrer Bedeutsamkeit für Parsons nicht zu überschätzende Wendung gegen den Utilitarismus wirft ein Streiflicht auf Parsons' Theorie, das trotz des verbreiteten - und sicher nicht durchgängig unberechtigten - Bildes von Parsons als konservativem Verfechter der "Legitimität des ,amerikanischen Weges' "37 nicht beiseite geschoben werden kann: Ist der Utilitarismus jene sozialphilosophische und "politpsychologische Theorie, welche die englischen Frühkapitalisten sich selbst gaben"38, so impliziert Parsons' Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, dessen Begriff bei Marx, Sombart und Max Weber er bereits in seiner Heidelberger Dissertation von 1927 verfolgt hatte. Ja, auch wenn diese Auseinandersetzung angesichts ihrer theoretischen Subtilität und begrifflichen Abstraktheit recht "kryptisch" geführt wird, so ist jedenfalls hinsichtlich der theoretischen Konsequenz und jedenfall aspekthaft die von Schwanenberg gezogene Folgerung unabweislich: "Parsons' Kritik am Utilitarismus ist also, wenn man so will, eine Kritik an den Prämissen der kapitalistischen Theorie und der nach ihr konzipierten Gesellschaft39 ."

3.Freud An dieser Stelle der Parsonsschen Attacke gegen die Statuierung eines im wahrsten Sinne anfänglichen, d. h. vor aller Gesellschaft im Menschen angelegten und daher angeblich "natürlichen" Eigeninteresses tritt nun ein weiteres wissenschaftliches Modell auf den Plan: die Theorien Sigmund Freuds. Zur Verarbeitung des psychoanalytischen Ansatzes bestand für Parsons - gerade auf dem Hintergrund der bisherigen Skizze - doppelter Anlaß. War Hauptangriffspunkt das utilitaristische Postulat der eigensüchtigen Verfolgung von Individualinteressen, so stellt sich dieses Problem nach seiner Transponierung aus dem "sozialen" in den "individuellen", insbesondere tiefenpsychologischen Kontext als das Problem der Aggression. Der erwähnte 36 Schwanenberg, S. 95. 38 SSA, S. 113. 37 Parsons, Das Problem des Strukturwandels: eine theoretische Skizze, in: Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 2. Aufi. Köln-Berlin 1970, S.42. 38 Schwanenberg, Psychoanalyse versus Sozioanalyse oder Die Aggression als kritisches Problem im Vergleich von Freud und Parsons, in: Psychoanalyse als Sozialwissenschaft, Frankfurt 1971, S.204. 39 Schwanenberg, Psychoanalyse, S. 204.

3. Freud

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Vorwurf Parsons', daß das von Hobbes so eindringlich betonte Ordnungsproblem von Locke durch Einführung der "metaphysischen Stütze" einer natürlichen Identität der Interessen heruntergespielt worden sei, läßt sich auf die individuelle Ebene verfolgen: Die Entproblematisierung des Ordnungsproblems kann nur durch eine Entproblematisierung des Aggressionsproblems gestützt werden40 • Diese Entproblematisierung wird dadurch erreicht, daß bei Locke und seinen Nachfahren an Stelle individueller Begierden der Vernunft die dominierende Rolle im Handlungsablauf zugewiesen wird. Der zweite Anlaß zu einer Auseinandersetzung mit Freud korreliert mit dem ersten. Gilt Parsons' gesamtes Lebenswerk dem Nachweis, welch dominierende Rolle kulturellen Wert- und Normensystemen als Bestimmungsfaktoren sozialen HandeIns zukommt, so ist zu klären, "wie die gesellschaftlichen Strukturen, namentlich die kollektiven Werte, in die Individuen hineinkommen"u. Daher bestand der Beitrag der Psychoanalyse zum sozialwissenschaftlichen Wissen für Parsons vorwiegend in "einer gewaltigen Vertiefung und Bereicherung unseres Verständnisses menschlicher Motivation"U, insbesondere auf dem Gebiet der motivationsbedingenden und daher handlungsrelevanten Persönlichkeitsentwick:lung'3. Hier liegt der Grund für den breiten Raum, den Parsons' Erörterungen zum Sozialisationsprozeß einnehmen", ist dies doch der soziale Ort, über den die normative Prägung von Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen konstituiert wird. Die Einarbeitung der Freudschen Theorie darf jedoch nicht im Sinne einer bruch- und restlosen Übernahme verstanden werden. Vielmehr geht eine bewußt selektive Rezeption einher mit einer partiellen Revision Freuds45 • Dies gilt insbesondere für das erörterte Aggressionskonzept. So wie Parsons mit seiner Kritik am utilitaristischen Handlungsmodell- innerhalb des im engeren Sinne sozialwissenschaftlichen Argumentationszusammenhangs - zu dem Schluß kommt, daß das als letzter Bestimmungsgrund sozialen HandeIns attackierte "Eigeninteresse" nicht in der menschlichen Natur, also biologisch angelegt ist, sondern vielmehr erst soziokulturell begründet wird, so ist - damit Schwanenberg, Psychoanalyse, S. 206. So die Formulierung Schwanenbergs, Psychoanalyse, S. 212. 4% Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt 1968, S. 25. 48 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 99. 44 Vgl. dazu Wellek, Die Rolle der Sozialisation im Kategoriensystem Talcott Parsons', in: Graumann (Hrsg.), Sozialpsychologie, 2. Halbband, Göttingen 1972, S. 682 ff. 45 Vgl. hierzu kritisch Nolte, Psychoanalyse und Soziologie. Die Systemtheorien Sigmund Freuds und Talcott Parsons', Berlin-5tuttgart-Wien 1970, besonders S. 114 ff. 40 41

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I!. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung

korrelierend - "im Parsonsschen Strukturmodell ... die Aggression kein Inhalt des biologischen Energiereservoirs"46. "Es ist die LibidoTheorie, nicht die Aggressionstheorie, die Parsons von Freud übernimmt 47 ." Die Abweichungen von Freud werden von Parsons grundsätzlich offengelegt und im einzelnen benannt48 • 4. Europäische "Klassiker" und angelsächsische Kulturanthropologie Schließlich müssen in diesem Zusammenhang jedenfalls noch zwei theoriegeschichtliche Quellen benannt werden, denen für die Parsonssche Theorie neben den genannten - und vielen ungenannten besondere Bedeutung zukommt und deren Rezeption - im Gegensatz zu Freud - bereits in die Frühzeit der Theorie fällt. Die eine sind die "Klassiker" der europäischen Soziologie, bei denen für Parsons insbesondere die Theorien von Pareto, Durkheim und Max Weber als thematische Kette erscheinen, innerhalb derer an der überwindung des "utilitaristischen Dilemmas"" durch Berücksichtigung der "normativen" Komponente gearbeitet wird. Für die Thematik der Theorie ist dabei neben Durkheim insbesondere Max Weber mit seiner Konzeption von Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln50 von Einfluß gewesen. Pareto legt nach Parsons' Ansicht Grundsteine zu einer Erfassung sozialen Handeins. Dies gilt vor allem für Paretos Differenzierung von "logischem" und "nichtlogischem Handeln". Parsons' besonderes Interesse gilt dem von Pareto nur als Residualkategorie behandelten "nichtlogischen Handeln", weil dies für Parsons die Kategorie mit dem engsten Bezug zum Normativen, nämlich zu "letzten Werten" ist51 • Paretos analytisches Schema ist allerdings "ohne expliziten Bezug zum Problem der Struktur"5!, in ihm werden "nur isolierte Einzelakte (unit acts)"53 betrachtet. Insbesondere diese Behandlung von "logischem Schwanenberg, Psychoanalyse, S. 216. Schwanenberg, S. 221. 48 Vgl. z. B. Parsons, An Approach to Psychological Theory in Terms of the Theory of Action, in: Sigmund Koch (Hrsg.), Psychology. A Study of a Science, Vol. II!, New York-London 1959, S. 622;ders., Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 32 ff.,99 ff.; ders., Über wesentliche Ursachen und Formen der Aggressivität in der Sozialstruktur westlicher Industriegesellschaften, in: Soziologische Theorie, S. 223 ff. 40 Vgl. SSA, S. 344 ff. 50 Vgl .. hierzu Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 27 ff. 51 SSA, S. 704 ff. (706). 52 SSA,. S. 705; vgl. auch SystelIlatische Theorie, S. 50. 53 SSA, S.707. 46 47

4; Europäische "Klassiker" und angelsäcl1sIscl1e Kulturanthropologie

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Handeln" als Grundkategorie und "nichtlogischem Handeln" als bloßer Residualkategorie sowie die Vernachlässigung des strukturellen Aspekts begründet Parsons' Urteil über Pareto: Dessen theoretischer "Versuch hat zweifellos das systematische theoretische Denken in bezug auf soziale Systeme auf eine neue Ebene gebracht ... Und dennoch muß der Versuch als relativer Fehlschlag betrachtet werden64 ." Durkheims Werk hat für Parsons größeres Gewicht als das von Pareto. Zum einen stellt Durkheims Auffassung von Gesellschaft als einer "Realität sui generis" ein Bollwerk gegen reduktionistische Erklärungsversuche des gesellschaftlichen Prozesses dar. Durkheims Ansatz enthält in Parsons' Sicht "eine echt strukturell-funktionale Behandlung des sozialen Systems", besonders deutlich in der Systemanalyse funktional differenzierter Rollen in der "Arbeitsteilung"55. Besondere Bedeutung kommt jedoch der Behandlung des Normativen im Kontext der sozialen Kontrolle bei Durkheim zu. Diese vollzog sich für Parsons in einer langen Entwicklung von im wesentlichen drei Stufen56 : In seiner kritischen Auseinandersetzung mit den utilitaristischen Theorien trifft Durkheim bei der Erörterung "sozialer Fakten" im Unterschied zu "natürlichen Fakten" die wichtige Unterscheidung zwischen sozialem Zwang und naturalistischer Kausalität. Im Zentrum sozialer Kontrolle sieht Durkheim auf dieser Stufe "ein System sanktionsbewehrter normativer Regeln"57. Ein nächster Schritt führt ihn jedoch zu der Erkenntnis, daß Furcht vor Sanktionen nur ein "sekundäres" Motiv für die Befolgung sozialer Normen ist, das primäre Motiv jedoch im Gefühl "moralischer Verpflichtung" zu suchen ist. Nicht mehr Außenhaftigkeit und Zwang charakterisieren das System normativer Regeln, sondern "Attitüden" zu Werten. Damit aber ist der dritte - und für Parsons wesentliche - Schritt bei Durkheim fast schon vollzogen: Betrifft normative, "moralische Verpflichtung" Wertattitüden, so ist die Existenz und Aufrechterhaltung eines Systems sozialer Normen von der "Existenz eines gemeinsamen Systems von Letztwertattitüden", von einem "Set gemeinsamer Werte" abhängig58 • Was das Werk Max Webers betrifft, so stellt Parsons allgemein fest: "Zum Teil kann Weber als ein typisches Beispiel für die stärker generalisierende Richtung der historischen Forschung im Bereich sozialer Institutionen dienen. Doch in seiner Reaktion gegen die individualistischen Faktortheorien seiner Zeit hat er mehr als jeder andere dazu beigetragen, der vergleichenden empirischen UnterSystematische Theorie, S. 48. Systematische Theorie, S. 31. 56 Vgl. zum folgenden SSA, S. 376 ff., 709 ff. 57 SSA, S. 709. 58 SSA, S. 709, 710. 54

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II. Der thematische Ort der Theorie: Das Problem sozialer Ordnung

suchung von Institutionen ein allgemeines theoretisches Begriffsschema zugrundezulegen. Wenn es auch unvollständig war, so lief es doch mit dem Durkheimschen Schema zusammen und ergänzte es in den Richtungen, wo eine strukturvergleichende Perspektive VOn größter Wichtigkeit ist"59. Während Durkheim nur die funktionale Seite VOn Institutionen betrachtet, konzentrierte sich Webers Interesse auf den strukturellen Aspekt80 • Dennoch sieht Parsons Korrespondenzen zwischen Weber und Durkheim (wie auch Pareto), insbesondere was die normativen Elemente des Handeins betrifft, so etwa die Korrespondenz zwischen Durkheims "moralischer Verpflichtung" und Webers "Legitimität" 81 sowie Durkheims "Sakralem" und Webers Konzept von "Charisma"82. Weiter verfolgt Parsons bei Weber das Problem des "Letztwertelements" , das er bei diesem vorwiegend in einem System von Wertattitüden im Zusammenhang mit religiösen Ideen sieht63 • Webers typologische Untersuchung zwischen "zweckrationalem" und "wertrationalem" Handeln stellt eine grundlegende Kategorisierung für die Theorie sozialen Handeins dar, obwohl die strikte Trennung beider und damit die weitgehende Sezession des normativen Elements von der Zweckrationalität von Parsons kritisch beurteilt wird". Die andere Quelle ist die angelsächsische Kulturanthropologie, die besonders mit den Namen Kroeber, Malinowski und Radcliffe-Brown verbunden ist. Hierher die Entlehnung der - allerdings bereits im 19. Jahrhundert verwandten - Begriffe "Struktur" und "Funktion", die Eingang in die nicht nur hinsichtlich ihrer Bezeichnung besonders VOn Parsons geprägten "strukturell-funktionalen Analyse" gefunden haben. Die Kulturanthropologie versteht Gesellschaft als strukturiertes Ganzes, dessen Teile spezifische Funktionen für die Erhaltung des Ganzen erfüllen. Sie versucht im Wege der empirischen Untersuchung primitiver Gesellschaften die Genesis sozialer Institutionen zu klären. Institutionen werden als "cultural responses" auf "basic needs" erklärt65 • Wegen der vergleichsweise geringen Größe der von den Anthropologen untersuchten Gesellschaften lag es - so Parsons "dem Anthropologen näher als allen anderen Sozialwissenschaftlern, eine von ihm untersuchte Gesellschaft als ein einziges, funktionierendes System anzusehen"68. Damit liefern die Kulturanthropologen Parsons 58 Systematische Theorie, S. 51. SSA, S. 653. 81 SSA, S. 652. 62 SSA, S.717. 63 SSA, S.717. " Vgl. hierzu auch Kiss, Einführung in die soziologischen Theorien, Band 2, Opladen 1973, S. 144. 65 Vgl. Malinowski, A Scientific Theory of Culture, Chapel Hill 1944, S.91. 88 Parsons, Systematische Theorie, S. 51. 80

4. Europäische "Klassiker" und angelsächsische Kulturanthropologie

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nicht nur analytische Einzelbegriffe, sie nehmen vielmehr eine grundsätzliche Position ein, die Parsons mit ihnen teilt: die Ablehnung " reduktionistischer " Erklärungsversuche, also von Versuchen, das Funktionieren sozialer Systeme allein aus den Eigenschaften ihrer Elemente zu erklären.

111. Der wissenschaftstheoretische und methodologische Hintergrund: Korrespondenz von Ordnungsprohlem und Erkenntnisprohlem 1. Theorie und Empirie Sehr viel problematischer als der inhaltlich-thematische Ort der Parsonsschen Theorie erscheint ihre Position im wissenschaftstheoretischen und methodologischen Kontext. Hierauf überhaupt ein Streiflicht zu werfen, gebietet bei weitem nicht nur die Tatsache, daß Parsons zur Debatte steht. Vielmehr kommen hier unausweichlich einige weitere - überwiegend unbequeme - Aspekte in den Blick: Das ist nur vordergründig der Umstand, daß im engeren Bereich rechtswissenschaftlicher Diskussion über Methoden- und Theorieprobleme die Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Theorie hier und da bereits stattfindetl. Das ist darüber hinaus die viel grundsätzlichere überlegung, daß - wie auf jedem interdisziplinären Terrain die Rezeption sozialwissenschaftlichen Wissens (und sei es über weite Strecken auch "nur" Problem-, nicht aber bereits Lösungswissen) durch die Rechtswissenschaft "eigentlich" die Mit-Rezeption aller Vor- und Folgeüberlegungen dieses Wissens voraussetzt!. Wo dies nicht geschieht, erscheint die Gefahr groß, daß die Verbindung zur Nachbardisziplin - anknüpfend an Epi- und Oberfiächenphänomene - kurzgeschlossen wird. Das heißt in unserem Zusammenhang, daß soziologische Theorien und ihre Begriffe nicht diskutiert (oder gar "entlehnt") werden können, wenn nicht auch annähernd Klarheit darüber besteht, welchen Stellenwert die betreffenden Theorien und Begriffe im Zusammenhang ihrer Heimatdisziplin einnehmen. Dazu gehört insbesondere das Wissen um Problematik und Umstrittenheit theoretischer Konzepte. 1 Vgl. z. B. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt 1970; Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus, Rechtstheorie 1971, S. 67 ff.; Starck, Empirie in der Rechtsdogmatik, JZ 1972, S. 609 ff. 2 Wie auch umgekehrt von einer bei uns z. Z. leider nur sehr spärlich stattfindenden Diskussion des Gegenstands Recht durch Soziologen die Berücksichtigung der in der Jurisprudenz diskutierten juristischen Grundsatzprobleme zu fordern wäre.

1. Theorie und Empirie

Daß an dieser Stelle der - nicht unberechtigte - Hinweis auf elementare Leistungsgrenzen beim individuellen Verarbeiter, hier also: bei den Juristen, zu erwarten ist, sollte mit dem nicht ohne resignativen Beiklang eingefügten "eigentlich" angedeutet werden. Nur sollte klargestellt sein, daß solche Probleme der subjektiven Verarbeitungskapazität nicht über die Richtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu entscheiden vermögen: individual- und sozialwissenschaftliche Einsichten etwa zum unmittelbar rechts- und justizrelevanten Thema menschlicher Motivation (weiland: "Willensfreiheitsproblematik") sind unabhängig vom juristischen Rezeptionspotential. Im Ganzen handelt es sich dabei letztlich auch nicht um Probleme des individuellen Kampfes mit dem "Stoff", sondern um Probleme langfristiger interdisziplinärer Wissenschafts- und Praxisstrategien. Wenn hier die "Theorie" von Parsons vorgestellt werden soll, so sind nach dem soeben Ausgeführten einige Bemerkungen zum Theorieproblem in den Sozialwissenschaften und zum Platz der Parsonsschen Theorie darin unerläßlich. Dabei ist für den Nicht-Sozialwissenschaftler wohl besonders auffallend, daß - etwa in der Soziologie nicht erst die Frage kontrovers behandelt wird, welche Theorie gut, schlecht, sinnvoll, leistungsfähig sei, sondern bereits die Frage, was überhaupt als "Theorie" gelten könne und einer Menge soziologischer Denkansätze vorgeworfen wird, daß sie sich "meistens voreilig ,Theorie' nennen"'. Dabei wird immer wieder betont, daß auch das "Theorien"Gebäude Talcott Parsons' gemessen an den Ansprüchen "exakter" Methodologen noch keine Theorie ist, sondern bloße Taxonomie, die aber gleichwohl antritt, Theorienbildung vorzubereiten, "gleichsam das konzeptuelle Rohmaterial für die Theorienbildung" anzuliefern·. Daher erscheint es angemessen, "die empirische Aussagekraft dieses im wesentlichen kategorialen Systems pragmatischen Charakters nicht nach dem Kriterium ,wahr-falsch', sondern nach seiner analytisch-prognostischen Fruchtbarkeit und Zweckmäßigkeit zu beurteilen"lI. überdies wird die Zuerteilung des theoretischen Gütesiegels - je nach Standpunkt - von völlig verschiedenen Voraussetzungen abhängig gemacht und die Beurteilung eines theoretischen Ansatzes an Hand sehr unterschiedlicher Maßstäbe vorgenommen. Der in der deutschen Soziologie seit 1957 ausgetragene "Positivismusstreit" zwischen Anhängern einer "kritischen Gesellschaftstheorie" und einer je nach Standpunkt als "Positivismus", "logischer Empirismus", "analytische Wissenschaftstheorie", aber auch: "kritischer Rationalismus" a Ullrich, Open-System Theory in der Soziologie, unveröffentlichte soziologische Diplom-Arbeit, FU Berlin 1970, Vorbemerkung. 4 Ullrich, S. 1 ff. 11 Brandenburg, S. 22. S Damm

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UI. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

bezeichneten Position ist nur ein erster Grobraster. Dieser Raster hat auch in der deutschen Rechtssoziologie, -theorie und -philosophie die ersten bekenntnishaften Parteiungen stimuliert6 • Innerhalb dieses Rasters stehen zusätzlich eine Menge von Subkriterien für die Beurteilung der Parsonsschen Theorie bereit. Daß eine eindeutige Positionierung Parsons' - jedenfalls dann, wenn man versucht, zu den Grundlagen seiner Theorie vorzustoßen Schwierigkeiten bereitet, erhellt schon die Tatsache, daß seine Theorie in den letzten Jahrzehnten und andauernd nicht nur unterschiedliche, sondern geradezu widersprüchliche Beurteilungen provoziert hat. Während für viele als ausgemacht gilt, daß Parsons dem Verdikt "Positivist" verfällt7, offenbart sich für andere eine "verblüffende Nähe" zur kritischen Gesellschaftstheorie8 • Da - wie Schwanenberg zu Recht bemerkt - die letztere Beurteilungmöglichkeit in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wird, erscheint ihre Herleitbarkeit aus der Parsonsschen Theorie besonderer Erwähnung wert, wobei sich an dieser Stelle der Kreis zu den weiter oben gemachten Bemerkungen über die Unmöglichkeit theorieloser Empirie schließt. Schon im Frühwerk setzt Parsons sich mit dem Verhältnis zwischen "Theory and Empirical Fact" auseinander6. Sogleich erfolgt eine schroffe Absetzung von einer Wissenschafts auffassung, für die wissenschaftlicher Fortschritt die "rein quantitative Angelegenheit" einer Kumulation von Tatsachenentdeckungen ist10 • Dieser "Empirizismus" erliegt dem Trugschluß, daß Wirklichkeitserfassung grundsätzlich unabhängig von einem leitenden Theoriekomplex sei, und stellt die Doktrin auf, "that the only objective knowledge is that of the details of concrete things and events"l1. "Theorie" erfüllt hier nur die Funktion, im Nachgang zur Faktenfeststellung Generalisierung bekannter Fakten zu bewerkstelligen. Für Parsons jedoch wird empirisches Wissen wie auch das Forschungsinteresse bereits vorgängig durch die logische Struktur der Theorie organisiert und kanalisiert1 2, ,,(kann) Theorie nicht durch bloße ad-hoc-mäßige empirische Induktion ausgearbeitet werden, indem man die Tatsachen sich ihr eigenes Strukturmuster entwickeln läßt"llt. 6 Zur Gruppe der "Analytiker" vgl. in Jahr / Maihofer die Beiträge von Priester, Jahr, Philipps; in: Naucke / Trappe den Beitrag von Bickel; zur Gruppe der "Dialektiker" vgl. in Jahr / Maihofer die Beiträge von Böhler, Wolf, Callies; in Naucke / Trappe den Beitrag von Oetjens; außerdem auch Kaufmann / Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Frankfurt 1971. 7 Vgl. z. B. Bergmann, S.29. 8 Vgl. Schwanenberg, Psychoanalyse, S.207. D SSA, S. 6 ff. 10 SSA, S.6. 11 SSA, S. 729. 12 SSA, S.9.

1. Theorie und Empirie

35

Parsons äußert demgegenüber die "starke Überzeugung von der unabhängigen Bedeutung von Theorie; ich hatte nie Sympathien für eine Sicht der wissenschaftlichen Methodologie, die den größten Nachdruck auf Empirizismus und Induktion legte und legitime Theorie zu nichts weiter als einer Reihe von Feststellungen über validierte empirische Tatsachen machte, zu der man ohne den Nutzen von Theorie gelangen könnte"u. Diese methodologische Einstellung "heißt den Wagen vor das Pferd spannen", sie produziert "eine allgemeine Aussage der Art, die erst als Ergebnis einer Untersuchung aufgestellt werden könnte, deren unentbehrliches Werkzeug eine allgemeine Theorie im Sinne dieser Abhandlung sein müßte"11. Die Wendung gegen Empirizismus bekommt bei Parsons aber noch einen weit fundamentaleren Akzent, der bereits in seiner mitgeteilten Utilitarismusdefinition angelegt ist: "Empirizismus" ist nur eine Partikel dieser Definition. Die "Zufälligkeit von Handlungszielen" im sozialen Prozeß ist eine weitere, " Atomismus " eine dritte. Das bedeutet, daß das von Parsons kritisierte Konzept hinsichtlich des Erkenntnisproblems von der unmittelbaren erfahrungsmäßigen Zugrüfsmöglichkeit auf Realität ausgeht; daß es hinsichtlich des Ordnungsproblems von " atomisierten ", "isolierten" Individuen ausgeht, deren Handlungsziele zusammenhanglos und vom Blickpunkt einer sozialen Gesamtheit aus " zufällig " erscheinen16. Der Zusammenhang solcher isolierter Handlungsziele kann nicht thematisiert werden, vielmehr wird die Thematisierung durch die "metaphysische Krücke" eines angeblichen "aufgeklärten Selbstinteresses" abgeblockt. Dem individualisierenden, "atomisierenden" liberalistischen Gesellschaftskonzept entspricht ein empiristisches Rationalitätskonzept17 • In ihm lernt eine unabhängig von philosophischen Prinzipien und "spekulativen" Entwürfen, also unabhängig von "Theorie" allein durch alltägliche Umwelterfahrung geleitete Vernunft, wie durch rationale Zweck-Mittel-Abwägung die Erreichung von Nahzielen und immer effektvollere Naturbeherrschung ermöglicht wird18. Rationale Erkenntnis ist gleichbedeutend mit der Kumulation von Wissen über empirische Fakten. Dementsprechend: Soziales Handeln wird um so rationaler, je mehr Faktenwissen zur Verfügung steht. Damit korrespondiert aber das· "Herunterspielen" des Erkenntnisproblems mit einem Herunterspielen des Ordnungsproblems. 13 Parsons, The Prospects of Sociological Theory, in: ders., Essays in Sociological Theory, Revised Edition, New York 1954, S.364. U Parsons, Approach, S. 626. 15 Parsons, Systematische Theorie, S. 41, 42 (Hervorhebung im Original). 11 SSA, S. 52, 59, 233. 17 Schwanenberg, Psychoanalyse, S.209 Fn.9; Jonas I, S.77/78. 18 Vgl. Kiss, Einführung in die soziologischen Theorien, Band 1, Opladen 1973, S.89.



36

III. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

Demgegenüber geht es für Parsons um das Gegenteil: um die kOTTespondieTende, nie nachlassende Betonung von Erkenntnis- und Ordnungsproblem. Dem entspricht die korrespondierende Zurückweisung von "Empirizismus" und "individualistischen Gesellschaftstheorien" und die Betonung einer "Realität sui generis sozialer Systeme"1'. Diese Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem macht plastisch, wie wenig Zufälligkeit und wieviel Entsprechung zwischen Auffassungen zum Theorie-Empirie-Problem und je dazugehörigen Auffassungen zum Problem sozialer Ordnung bestehen.

2. Die Philosophie der Parsonsschen Theorie Hier liegt der Nerv der Theorie: Nicht nur, weil so gewissermaßen an ihrer Oberfläche - die Methodologie der Theorie vorgestellt wird, sondern weil diese erkenntnistheoretische Grundlegung in die Tiefe der "Philosophie der allgemeinen Theorie"20 führt. Diese Philosophie des Systemtheoretikers ist derjenigen von A. N. Whitehead, des "letzten großen Systemphilosophen"21.=, verpflichtet. Auf dessen Gruridprämissen beruft sich Parsons im Zusammenhang mit "the old battle of theory versus empiricismus"!3. Von diesem übernimmt Parsons auch die Warnung vor der "Täuschung der unangebrachten Konkretheit" (fallacy of misplaced concreteness24) oder in Parsons' Worten: der "empiristischen Täuschung"!6. Hier wird nicht nur methodologisch die prinzipielle Abhängigkeit "objektiver" Erkenntnis vom subjektiven Zugriff des Erkennenden postuliert; hier liegen vielmehr auch die - wiewohl von Parsons allenfalls kryptisch vorgestellten - Ansatzpunkte zu einer Distanzierung von einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die dem postulierten Gemeinwohlbegriff, ja: der in systemtheoretischem Gewand vorgestellten "Utopie einer versöhnten Gesellschaft"l!6 widerstreitet. Bei aller Gegensätzlichkeit - insbesondere auch in der Beurteilung konkreter gesellschaftlicher Phänomene - erscheint es unvermeidbar, im Zusammenhang mit Parsons' Warnung vor der Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 25 f. Schwanenberg, S. 33 ff. 21 Bubser, A. N. Whitehead, Organismus - Philosophie und Spekulation, in: Philosophie der Gegenwart I, Göttingen 1972, S. 264. 22 Eines von Whiteheads Hauptwerken: Science and the Modern World, zitiert Parsons bereits am Anfang von SSA (S. 29 Fn. 2). 28 Parsons, An Outline of the Socia! System, in: Parsons I Shils I Naegele I Pitts (Hrsg.), Theories of Society New York-London 1965, S. 32. 24 Vgl. z. B. SSA, S.29; für Whitehead vgl. Bubser, S.274. 25 SSA, S. 294. 26 Messelken, Politikbegriffe der modernen Soziologie. Eine Kritik der Systemtheorie und Konfiikttheorie, Köln-Opladen 1968, S. 162. 19

20

2. Die Philosophie der Parsonsschen Theorie

87

"Täuschung der unangebrachten Konkretheit", vor "empirizistischer Täuschung" das von der kritischen Gesellschaftstheorie auch im rechtssoziologischen Kontext artikulierte Interesse an der "Auflösung von objektivistischem Schein"!7 zu assozüeren. Dies ist einer der erwähnten Schnittpunkte gegenläufiger Kritiken: Wird der Parsonsschen Systemtheorie von Seiten des logischen Positivismus der Vorwurf gemacht, sein teleologisierender Funktionalismus enthalte überflüssige metaphysische RestpositionenZ8 , so wird vom Selbstverständnis einer kritisch-dialektischen Position der Verzicht auf "metaphysische Verklammerung" seiner Theorie moniert%8. Es erscheint auch hier nicht sinnvoll, zwischen beiden Beurteilungen in alternativer Weise entscheiden, die eine zugunsten der anderen zurückweisen zu wollen. Denn beide Stellungnahmen entspringen völlig unterschiedlichen Bewertungszusammenhängen, innerhalb deren die je eigene Beurteilung des Parsonsschen Ansatzes folgerichtig erscheint, obgleich bisher adäquate Einschätzungen der "allgemeinen" "systematischen" Theorie Parsons' überwiegend daran gescheitert sind, daß diese Theorie nicht beim Wort genommen worden ist, d. h. nicht bis in die Grundlagen hinein zunächst an den eigenen Konstitutionsprinzipien gemessen worden ist. Jedenfalls ist davon auszugehen, daß Parsons' Standpunkt sich in charakteristischer Weise sowohl vom logisch-empirischen Positivismus als auch von der kritischen Gesellschaftstheorie unterscheidet. Hinsichtlich des logischen Positivismus besteht diese Differenz trotz der Tatsache, daß Parsons auch nach seinem eigenen Selbstverständnis die Grundpositionen eines empirischen Wissenschaftsverständnisses teilt. Neben dem bereits referierten "Metaphysik"-Vorwurf steht im Mittelpunkt der Kontroverse der Vorwurf fehlender "Operationalisierbarkeit" und geringen "empirischen Bezugs". Dieser Vorwurf beruht ebenso wie die die Kontroverse kennzeichnenden Mißverständnisse und Verständigungsschwierigkeiten auf einer Verkennung der völlig unterschiedlichen theoretischen Ansprüche und Zielsetzungen. In diesem Zusammenhang ist zur Aufdeckung der eigentlichen Differenz auf zwei Aspekte hingewiesen worden, unter denen jede Theorie gesehen werden könne30 : einmal der - gewissermaßen horizontale Aspekt des logischen Zusammenhangs, der Geschlossenheit der einVgl. Bickel, S.31, 41. VgI. in diesem Zusammenhang z. B. Nagel, Logic without Metaphysics, Glencoe (Ill.) 1957, S. 247 ff.; ders., Probleme der Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften, in: Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, S. 67 ff. !8 Vgl. Messelken, S. 29. 30 Schwanenberg, The Two Problems of Order in Parsons' Theory: An Analysis from Within, Social Forces 1971, S. 569 ff. (570). !7

!8

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II!. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

zeInen Bestandteile eines theoretischen Konzepts; sodann der - gewissermaßen vertikale - Aspekt der Verbindung der "obersten" abstrakten Hypothesen einer Theorie "hinunter" zu konkreten empirischen Phänomenen. Der logisch-empirische Positivismus sieht in dem zweiten Aspekt den Kernpunkt jeder Theoriebildung und betrachtet als Kriterium die Aufstellung von Wenn-dann- oder je-desto-Sätzen, die in hypothetisch-deduktiver Form Operationalisierbarkeit gewährleistens1 . Demgegenüber betont Parsons immer wieder den ersten, "systematischen" und "allgemeinen" Aspekt seiner Theoriebildung. Dem ersten Ziel systematischer Kohärenz, "relationaler Totalität der Theorie"32, folgt erst als zweiter Schritt die Bildung operationalisierbarer Hypothesen. Darauf, daß auch hier die Methodologie der allgemeinen Theorie in ihre Philosophie führt, sei noch einmal hingewiesen: Auch der soeben geschilderte Aspekt Parsonsscher Theoriebildung stellt - zunächst - eine gewisse Freistellung der Theorie vom factum brutum der je vorgefundenen Oberflächenwirklichkeit, der "misplaced concreteness" dar. Nach der "basic distinction between the concrete (phenomenal, empirical, common-sensical) and the analytical (or theoretical), the latter being reality as analyzed by the scientific observer"33 wird der "analytischen" Wirklichkeit ein höherer Grad an Wirklichkeitsgehalt zugemessen, da sie näher an die inneren Strukturen lebender Systeme heranreicht als platte Oberflächenempirie. Dieser Einstellung entspringt die Selbstkennzeichnung des eigenen Standpunkts als "analytischem Realismus" im Gegensatz zu einem "empirizistischen Realismus":". Aus eben der genannten Philosophie bezieht Parsons den trotz unablässiger Kritik über Jahrzehnte ungebrochenen Optimismus zur Entwicklung einer "Allgemeinen Theorie", und das heißt als Fernziel: einer Theorie, die es ermöglichen soll, allen empirischen gesellschaftlichen Phänomenen und den Beziehungen zwischen ihnen einen angemessenen Platz zuzuweisen und "die Gesamtheit der Prozesse innerhalb eines gesellschaftlichen Ganzen erfassen und voraussagend beschreiben zu können"85. Dieser Grundlegung entnimmt Parsons auch seinen Begriff von Wirklichkeit. Realität wird konstituiert von einem Katalog von Merkmalen, die sich kumulierend zu einem Ganzen fügen: Realität als "Beziehungs31 Vgl. z. B. Opp, Stichwort "Soziologische Theorie", in: Wörterbuch der Soziologie; ders., Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek 1970, S. 29 ff., 148 f. . 32 Schwanenberg, The Two Problems of Order, S.570. 33 Schwanenberg, The Two Problems of Order, S. 573. 34 SSA, S. 730. 35 Parsons / Shils (ed.), Toward a General Theory of Action, Cambridge (Mass.), 1959 (1951), S.350; vgl. auch Parsons, Soziologische Theorie, S. 34 f.

2. Die Philosophie der Parsonsschen Theorie

39

verknüpfung in S y s t e m e n"lII; Realität als durchgängiges Kontinuum von übereinander sich erhebenden Systemen von der organischbiologischen über die psychische und soziale bis zur kulturellen Ebene. "Realität kommt damit iricht nur physikalischen und biologischen Erscheinungen zu, sondern auch sogenannten nichtempirischen Elementen, wie kulturellen Werten und Ideen37,38." Dieses Kontinuum beinhaltet die von Parsons selbst als zentrale Dichotomie seiner Theorie bezeichnete "distinction of the normative and the conditional aspects of systems of action"". Es ist aber hier und wiederholt zu betonen, daß die Hereinnahme dieser Dichotomie vom Ansatz her nicht die Präferenz für einen der beiden Pole bedeutet, der Ansatz vielmehr die Grundlegung von Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit beider beinhaltet: "Es ist offensichtlich, daß die Logik dieser Dichotomie im Wesentlichen die gleiche ist, wie die der Gegenüberstellung von Vererbung und Milieu in der Geschichte des biologischen Denkens. Mir scheint, darüber zu streiten, ob die ,idealen' oder die ,realen' Faktoren menschliches Handeln letztlich bestimmen, ist heute genauso nutzlos, wie es das Streiten darüber war, ob erbliche ode r Milieufaktoren letztlich die Natur organischen Lebens bestimmen. In beiden Fällen handelt es sich sicherlich um komplexe Interdependenzen zwischen gleich wichtigen, aber verschiedenen Wirkfaktoren 4o •" Das Kontinuum enthält - von "oben" nach "unten" - eine Hierarchie der "Kontrolle", der "Regelung" der höher organisierten Systemebenen über die "unteren", organisationsärmeren und - von "unten" nach "oben" - eine Skala von der "Kontrolle" in einer Gegenbewegung zuwiderlaufenden einschränkenden "Bedingungen"41. An der Spitze der Kontrollhierarchie stehen kulturelle Muster, Wert- und Normensysteme, die unterste Bedingungsebene stellt der Organismus mit Elementarbedürfnissen wie Sauerstoff, Nahrung etc. sowie die physische Umwelt dar. Für soziales Handeln bedeutet dies: "Handeln muß Parsons, Approach, S. 624 ff. Schwanenberg, S. 41. 38 In diesem Realitätsbegrtlf liegt die eigentliche Berechtigung der von Habermas getroffenen Feststellung, daß "die funktionalistische Annahme ... einen systematischen Zusammenhang in der Wirklichkeit selbst (unterstellt) und nicht etwa nur zu analytischen Zwecken", Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.167. 89 SSA, S. 705. • 0 Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften, in: Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 55 Fn. 5. 41 Parsons, Approach, S. 616 ff.; ders., Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 114 ff.; ders., The Point of View of the Author, in: Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs 1961, S. 311 ff. (334); Brandenburg, S.70; Schwanenberg, S. 139 ff. 3S 37

40

III. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

immer gedacht werden als einen Spannungszustand zwischen zwei verschiedenen Ordnungen von Elementen einschließend, der normativen und der konditionalen4!." Die Lösung des Spannungszustandes sieht für Parsons so aus: "Als ein Prozeß ist Handeln in der Tat ein Prozeß der Annäherung der konditionalen Elemente in Richtung auf die Konformität mit Normen"4s. Je spezifisches Handeln spielt sich für Parsons nicht nur auf den verschiedenen - biologisch-organischen, personalen, sozialen, kulturellen - Ebenen des Kontinuums ab, sondern: jedes Handeln ist seinerseits durch die verschiedenen Systemebenen und den ihnen je spezifisch eigenen Formen von Normativität und Konditionalität geprägt. Besonders deutlich wird dies etwa bei einer - hier nur andeutenden - Betrachtung der Parsonsschen Sozialisationstheorie, die ausgeht von einem Prozeß der Integration von vier Subsystemen: organischem System des kindlichen Organismus, psychischem System des Kindes, sozialem System seiner Familie und sonstigen Bezugsgruppen und kulturellem System der Gesellschaft, in die es hineinwächst". Produkt dieses Prozesses ist das Persönlichkeitssystem, in dem die vier Subsysteme integriert sind. Der Integrationsprozeß verläuft derart, daß sich die vier Subsysteme in ihrem Aufbau - und in der genannten Reihenfolge - gegenseitig bedingen und mit fortschreitender Sozialisation - in umgekehrter Reihenfolge - die zuletzt genannten Systeme in zunehmendem Maße die "Kontrolle" über die zuerst genannten übernehmen". Analog zu dieser Systemhierarchie im "Mikrobereich" könnte eine solche im makrosoziologischen Bereich betrachtet werden, die ihrerseits Gesamtgesellschaft in die vier Systemebenen Organismus ("behavior organism"), Persönlich.keitssystem, soziales System, kulturelles System untergliedert und die normativen und konditionalen Verknüpfungen unter ihnen analysiert. "The basic subsystems of the general system of action constitute a hierarchical series of such agencies of control of the behavior of individuals or organisms. The behavioral organism is the point of articulation of the systems of action with the anatomical-physiological features of the physical organism and is its point of contact with the physical environment. The personality system is, in term, a system of control over the behavioral organism; the social system, over the personalities of its participating members: and the cultural system of control relative to social systems 46." Das bedeutet aber, daß die Kontroll- und Bedingungshierarchie ihren Niederschlag findet in einer Systemhierarchie. Diese SSA, S. 732. Ebenda. 44 Reichwein, Sozialisation und Individuation in der Theorie von Talcott Parsons, Soziale Welt 1970/71, S.163/164. 45 Vgl. Parsons, Approach, S. 612 H. 46 Parsons, Outline, S. 38. 41

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3. Vergleich mit den Grundlagen anderer rechtssoziologischer Entwürfe 41 Konkretisierung der "hierarchy of contro! and limiting conditions" soUte hier nur angedeutet werden, um zu verdeutlichen, daß Normativität bei Parsons nicht in Eindimensionalität erscheint, sondern in permanenter Perspektivenverschiebung und Ebenendurchdringung für die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche sich je besonders - wenn auch "homolog" - darstellt. Auf das analytische Instrument der Kontroll- und Bedingungshierarchie, auf die mit seiner Hilfe zu analysierenden Prozesse zwischen "Normativität" und "Konditionalität" wird noch des öfteren zurückzukommen sein; hier sollte das in Parsons' Wirklichkeitsbegriff angelegte und erst von dort in die Methodologie gelangende Modell in seiner Bedeutung für die Grundlagen der Theorie vorgestellt werden: Die Hereinnahme von Normativität und Konditionalität in die soziologische Theorie bedeutet jedenfalls insoweit eine Absage an den Idealismus, als dieser eine Dichotomie zwischen Ideellem und Materiellem einführt und die Möglichkeit allgemeiner Theorie im Bereich normorientierten Handelns verneint47 (auch hier eine Entsprechung zu Whiteheads Versuch einer Vereinigung von Idealismus und Materialismus)48. Parsons' Auffassung von Realität als eines hierarchischen Kontinuums übereinandergelegter Seinsebenen impliziert - vor allem seine Ablehnung "reduktionistischer" Entwürfe: Das Psychische kann nicht auf Biologisches, das Soziale kann nicht auf das Psychische usw. reduziert werden - alle Ebenen haben gleiche Realität, keine hat "ontologische Priorität"".

3. Parsons' Grundlagen im Vergleich zu den Grundlagen anderer rechtssoziologiscb.er und rechtstheoretiscber Entwürfe Gerade unter rechtssoziologischem und rechtstheoretischem Aspekt geben bereits diese Grundlagen der Theorie - vor ihren später zu erörternden inhaltlichen Ausprägungen und Einzelkonzepten - Anlaß, den Blick in vergleichender Absicht auf einige andere Entwürfe von Norm, Wert und Recht zu richten. Dies erscheint unabdingbar, um zu vermeiden, daß Einzelkonzepte mit Verve diskutiert werden, ohne zu beachten, daß häufig bereits vorgängige grundsätzlichere Weichenstellungen über Einzelkonzepte entschieden haben. a) Legal Realism -

Judicial Behaviorism - Interessenjurisprudenz

Parsons' Ablehnung sowohl des liberalistischen Ordnungs- als auch Erkenntniskonzepts, des hier in beiderlei Hinsicht konstatierten Vgl. z. B. SSA, S. 581 ff., 715. 48 Schwanenberg, S. 44. 49 Parsons, Approach, S. 616, 625 f. 47

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IU. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

"utilitarian atomism"l10 bietet im rechtssoziologischen Kontext weitergehende Möglichkeiten zur Positionsbestimmung. Dabei ergibt sich im unmittelbaren geographischen Umkreis Parsons' zunächst eine Kluft zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen des amerikanischen "Legal Realism". Dieser steht völlig unter dem Einfluß des seinerseits in unmittelbarer Nachfolge zum britischen Utilitarismus stehenden PragmatismugSl. Insbesondere auf den Einfluß von Jeremy Bentham ist hingewiesen wordenu . Ja: "Den Realisten war ... der britische Empirismus nicht empirisch genugA." Dabei wird die Differenz zu Parsons noch dadurch vergrößert, daß der legal realism stark von der amerikanischen Diskussion des Sozialdarwinismus beeinflußt wurde", einer Position, die - wie betont - von Parsons schroffe Ablehnung erfährt. Gerade für die Pragmatisten gilt der Satz: "Darwin hat Amerika nicht schockiertlll." Sie sahen nicht nur soziales Handeln unter dem Aspekt der "Bewährung im Lebenskampf"M, es taucht auch das Konzept der "Wahrheit als Bewährung"67 auf: "Truth is what works li8 ." Hier erfährt das liberalistische Prinzip eine Übersteigerung, die selbst das Recht als etwas erscheinen läßt, "das durch Experiment zu beweisen ist "59 und wonach selbst individuelle Rechte - entsprechend dem ökonomischen Prinzip - nach einem berühmten Minderheitsvotum des "Vaters des Realismus"60 Oliver WendeIl Holmes dem "Wettbewerb des Marktes"61 auszusetzen sind. Hier hat die Auffassung von Recht als Voraussage von Entscheidungen, die "prediction theory" von Holmes ihre Grundlagen:. Für Parsons kann Recht jedoch ebensowenig wie jedes andere Normengefüge bloß Summe konkreter Entscheidungen sein, es kommt für ihn vielmehr als "System", und zwar als Motivations- und letztlich Parsons, The Point of View of the Author, S. 360. Hierzu Löffelholz, Die Rechtsphilosophie des Pragmatismus, Meisenheim a. G. 1961. 62 Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, Berlin 1967, S. 46 f.; zu Bentham vgl. auch Weiss, Die Theorie der richterlichen Entscheidungstätigkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankfurt 1971, S. 28 ff. 63 Casper, S. 87. 54 Coing, Neue Strömungen der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, ARSP 1949/50, S. 536 ff. (540). 55 Vgl. Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung, Frankfurt 1968, S.25. 56 Casper, S. 49. 57 Casper, S. 47 f. 58 Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung, S. 25. 69 Casper, S. 56. 60 Vgl. Coing, ARSP 1949/50, S.54!. 61 Casper, S.49. 62 Casper, S. 56. 60

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3. Vergleich mit den Grundlagen anderer rechtssoziologischer Entwürfe 43 "Ordnungs"-System in den Blick. Sowohl unter dem Ordnungs- als auch dem Motivationsgesichtspunkt steht "die radikale Beschränkung der Rechtsbetrachtung auf die Phase der Rechtskonkretisierung"63 durch den legal realism den Grundpositionen Parsons' konträr entgegen. Daß er sich von den legal realists nachdrücklich absetztS4, ist nach der Erörterung seiner und der Andeutung ihrer theoretischen Grundlagen daher nur folgerichtig. Dabei ist für den Zusammenhang zwischen den Grundlagen der Parsonsschen Theorie und Parsons' Auffassung vom Recht besonders erhellend, daß Parsons gerade hier eine Analogie zwischen dem Prozeß der Theoriebildung in den sich entwickelnden Sozialwissenschaften und dem Entwicklungsprozeß eines Rechtssystems sieht65 • Das, was allgemeine Theorie für ein Wissenschaftsgebiet bedeutet, bedeuten allgemeine Rechtsprinzipien für ein Rechtssystem. Parsons vergleicht die Funktion des sozialwissenschaftlichen Theoretikers mit der des Richters an Obergerichten, dessen Aufgabe er in der "interpretation of rules at the higher levels of generality, their codification in relation to general principles, testing for consistency and the like" sieht86• Und: "Such a process could not be fruitful if it were purely eclectic, as some of the 'legal realists' have contended was the case87." In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß der legal realism in Amerika gerade vom Ausgangspunkt des "Hobbesschen Problems" Angriffen ausgesetzt ist, die unter Berücksichtigung von Freud eine "value-oriented jurisprudence" und ein "psychoanalytisches Naturrecht" zu entwerfen versuchen88• Die gleiche Distanz ergibt sich - obwohl Parsons hierzu nur im allgemein handlungstheoretischen, nicht aber speziell rechtssoziologischen Kontext Stellung genommen hat" zum Behaviorismus und damit zu dem vom legal realism beeinflußten70 "behavioral approach" zum richterlichen Entscheidungsverhalten71 • Aus dem Vorangehenden ergibt sich auch, daß für Parsons Recht in anderer Perspektive erscheint als für die deutsche Interessenjurisprudenz, die über Jhering, dessen "Zweck im Recht" geradezu als "Deutscher Benthamismus" bezeichnet worden ist, vom britischen Utilitaris63 Kramer, Integrative und repressive Wirksamkeit des Rechts, JRR 3, S. 247 ff. (250). 64 Parsons, The Point of View of the Author, S. 322. 65 Parsons, The Point of View of the Author, S.321. 841 Parsons, The Point of View of the Author, S. 321. 67 Parsons, The Point of View of the Author, S. 322. 68 Casper, S. 87 ff., 133 ff.; vgI. auch Coing, ARSP 1949/50, S. 565 ff. 89 Z. B. SSA,S. 115 ff.; SS, S. 544/545. 70 Koch, Zur Analyse richterlicher Entscheidungen, Diss. Frankfurt 1971, S.44; Coing, ARSP 1949/50, S.548, 555. 71 VgI. zum behavioral approach in der amerikanischen Justizforschung auch Th. Raiser, Einführung in die Rechtssoziologie, 2. Aufl. Berlin 1973, S. 38 f., dort auch Hinweise auf die Theorielosigkeit dieses Ansatzes.

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II!. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

mus beeinflußt wurden. Auf die Differenz zwischen Parsons' Position und einer sich bewußt in die Nachfolge Jherings stellenden Rechtssoziologie wird später noch eingegangen. b) Theodor Geiger

Die Differenz zwischen Parsons' Normentheorie und der Rechtssoziologie des "Rechtsrealisten " Theodor Geiger ist von den Grundlagen beider Ansätze her anders gelagert als die zwischen Parsons und dem legal realism. Geiger versteht als Methodologie einer nachdrücklich als empirisch verstandenen Soziologie eine "begriffsanalytisch gelenkte, quantifizierende Untersuchung der sozialen Erscheinungswelt"?!, deren Ziel in der Errichtung eines "in sich widerspruchsfreien hypothetischen Systems je für sich eindeutiger, d. h. einander nicht überschneidender soziologischer Begriffe"74 besteht. Auch wenn hieraus der Schluß gezogen wird, daß Geigers Standpunkt keinesfalls der eines "naiven Empirismus" sei7ll, so wäre dies nur eine sehr vorläufige Gemeinsamkeit mit Parsons. Im Gegensatz zu diesem beschneidet Geiger von vornherein und gerade auch unter rechtssoziologischem Aspekt in verhängnisvoller Weise das, was als "Erkenntnis-Wirklichkeit"78 zu gelten hat. Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, daß Geiger keine weitere Problematisierung des Verhältnisses zwischen analytischem System und "Wirklichkeit" vornimmt (zu erinnern ist an Parsons' Verdächtigung der "misplaced concreteness"). Steht im Mittelpunkt des Parsonsschen Interesses die Funktion, die Normen- und Wertsysteme für den gesellschaftlichen Prozeß haben, so richtet Geiger seinen Blick auf den "Wirklichkeitszusammenhang" des "äußeren Rechtsgeschehens"77, auf das "Recht als einer Erscheinung in der wahrnehmbaren Welt des sozialen Geschehens "78. Hier liegt der eigentliche Grund für Geigers 72 Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufi. Berlin 1969, S.49/50; zum utilitaristischen Rechtsdenken liefert eine ausgezeichnete Studie Löwenhaupt, Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken, Berlin 1972, vgI. dort auch die Feststellung, daß dieses Rechtsdenken "in der Politischen Philosophie die mögliche, in der Politischen Ökonomie aber die unbeschränkte Freiheit des Individuums" fordert und auf dem "Grundwiderspruch der Axiome wirtschaftlicher Selbst- und politischer Fremdbestimmung" beruhe, S.293, 294. 73 Geiger, Arbeiten zur Soziologie, Neuwied-Berlin 1962, S.79. 74 Geiger, Arbeiten zur Soziologie, S. 79. 75 Oetjens, Kritischer Rationalismus und Rechtssoziologie, in: Naucke I Trappe, S. 12. 76 Geiger; Arbeiten zur Soziologie, S. 413. 77 Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Neuwied-Berlin 1964, S. 398.. 78 Geiger, Vorstudien, S.397.

3. Vergleich mit den Grundlagen anderer rechtssoziologischer Entwürfe 45 Normbegriff, der sich auf die bloße Alternative von Konformität oder Sanktion reduziert und daher Normen nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung für normorientiertes Verhalten erfaßt. "Geigers Rechtssoziologie ... greift damit an dem, was als Recht e r leb t wird, mit Absicht vorbei, weil das Erleben für sie keine wissenschaftlich erkennbare Realität hat71l .'" Damit fällt auch Parsons' Rückverfolgung normorientierten Verhaltens bis in tiefenpsychologische Bereiche für Geiger aus dem legitimen Themenkreis rechtssoziologischer Analyse. Kann es für Parsons angesichts des als "Kontinuum" vorgestellten Realitätsbegriffs im Grunde keine vom Motivationsaspekt isolierte Erfassung von Normen geben, so bekennt Geiger hinsichtlich dieser "möglicherweise" gegebenen Aspekte offenherzig: "Ich leugne sie nicht, sehe aber von ihnen ab 80 ." Haben bei Parsons Prozesse der sozialen Institutionalisierung und individuellen Sozialisierung und Norminternalisierung und damit im Grunde Probleme der Normentstehung großes Gewicht, so erteilt Geiger insoweit seinen berühmten "Ignoramus"-Bescheid81 • Attackiert Parsons das utilitaristische Handlungs- und Ordnungskonzept, so ist von Geigers Rechtssoziologie gesagt worden, daß sie, insbesondere im Konzept des "Verbindlichkeitskalküls", unausgesprochen eine "pragmatic, even utilitarian action orientation" unterstelle82 • Dies aber ist - ohne daß Geiger dies reflektiert - eine normative Vorgabe, die als "ideologisch" zu brandmarken er bei anderen nicht müde wird. Hier erfährt Geigers Programm des "Wertnihilismus" - von ihm selbst unbemerkt einen entscheidenden Stoß8a. Das gleiche muß für Geigers Konzept von "sozialer Interdependenz" gelten, das in schärfstem Kontrast zu Parsons' Schlüsselproblem "sozialer Ordnung" steht: Für die Parsonssche Theorie ist dies durchgängig Ziel - also normative Größe. Geiger stellt als sein formales Prinzip "soziale Interdependenz" als Befund vor: "Der Begriff der menschlichen Gesellschaft bedeutet, auf seinen einfachsten Ausdruck gebracht, daß Menschen in ihrem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind. Die Frage nach dem Warum entzieht sich vermutlich der kausalen Ergründung ... Daß es so ist, sehen wir mit unseren Augen, war u m es so ist, mag den philosophischen Welterklärer beunruhigen, kann aber im gegenwärtigen besonderen Zusammenhang ohne Schaden dahingestellt bleiben8'." Dann aber, wenn "Wertmoral", "Vorstellungsmoral" dem "Wertnihilismus" "zum Opfer (fällt)" und die Frage nach dem Grund der Luhmann, Rechtssoziologie, S. 43 Fn. 32 (Hervorhebung im Original). Geiger, Vorstudien, S.397. 81 Geiger, Vorstudien, S.120. 82 Mayntz, Introduction zu: Theodor Geiger on Social Order and Mass Society, Chicago-London 1969, S. 26. 83 Ähnlich Mayntz, Introduction, S. 21, 26. 8' Geiger, Vorstudien, S.46 (Hervorhebung im Original). 78

80

46

IH. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

Verpflichtung auf "Standards und Codices" sich stellt, taucht das Formalprinzip "soziale Interdependenz" als Erklärung so unvermittelt auf wie Ziethen aus dem Busch: "Die Verpflichtung auf die kr a f t (!) der sozialen Interdependenz aufrechterhaltenen Standards und Codices bleibt unangefochten85." c) Max Weber

Was einen Vergleich von Parsonsscher und Max Webers Rechtssoziologie betrifft, so muß zunächst festgestellt werden, daß jedenfalls hinsichtlich der erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen die als Webers "Rechtssoziologie"88 herausgegebenen Teile von "Wirtschaft und Gesellschaft" nicht Webers Rechtssoziologie sind87 • Im übrigen: Der Einfluß, den Max Weber auf Parsons gehabt hat, wird von diesem immer wieder emphatisch betont. Insbesondere Webers Konzeption der Soziologie als Wissenschaft vom verstehbaren sozialen Handeln88 war für den thematischen Ort der Parsonsschen Theorie von entscheidender Bedeutung. Dennoch soll im hier behandelten Zusammenhang auf einige Differenzen in den erkenntnistheoretischen Grundlegungen beider Autoren hingewiesen werden, die auch für ihre Rechts-, Norm- und Gesellschaftstheorien von Bedeutung sind. Grundsätzlich beruhen diese Unterschiede darauf, daß Weber von einer methodologischen Differenz zwischen Natur- und Kulturwissenschaften ausging, eine Einstellung, die Parsons strikt zurückweistst • In erster grober Annäherung kann man sagen, daß Parsons, der seine Position als "im erkenntnistheoretischen Sinn realistisch"80 bezeichnet, der neukantianische Nominalismus Webers "zu radikal" ist91 • Parsons lehnt eine Sicht ab, die eine endgültige Aussage über eine der Theorie gleichsam unverbunden gegenüberstehende Realität verweigert. Für ihn "ist die logische Ordnung der Theorie in einem gewissen Sinn einer tatsächlichen Ordnung in der Realität kongruent"92. Daher kritisiert Parsons die Auffassung Max Webers, daß es sich bei theoretischen Konzepten, insbesondere dem des Geiger, Vorstudien, S.328 (Hervorhebung von mir, R. D.). Max Weber, Rechtssoziologie, Neuwied-Berlin 1960. 87 So ausdrücklich Luhmann, Rechtssoziologie, S.19; im gleichen Sinne Th. Raiser, Einführung, S. 65/66, und Winckelmann, Einleitung zu Weber, Rechtssoziologie, S.17. 88 Vgl. dazu Loos, S. 27 fi. 89 SSA, S. 730; Loos, S. 17; vgl. hierzu von einer anderen als Parsons' Position- Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 71 ff. 90 SSA, S.730, zit. nach Schwanenberg, S.34. 91 Schwanenberg, S.36; zu Webers "Nominalismus" vgl. auch Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, Neuwied 1960, S.39, und Jonas IV, S.31. 92 Schwanenberg, S. 35. 85

86

3. Vergleich mit den Grundlagen anderer rechtssoziologischer Entwürfe 47 "Idealtypus", nicht um "Reflexe der Wirklichkeit", sondern um bloße "nützliche Fiktionen" handele13• Hierher auch Max Webers - angesichts von Parsons' "analytischem Realismus" interessante - Selbstkennzeichnung seiner Position als eines" ,naiven Realismus' "14. Auf diesem Hintergrund bleibt die im Interesse am Begriff des sozialen Handeins beruhende Gemeinsamkeit von Weber und Parsons nur eine partielle. Soziales Handeln ist für Weber letztlich nur als "Handeln der beteiligten Einzelmenschen"95, nur als "Sichverhalten von Ein z ein e n "96 legitimes Erkenntnisobjekt der Soziologie. Trotz Parsons' Bekundung, daß "the famous Weberian ,subjective' point of view ... hasalways been essential to the scheme"97, tut sich hier eine charakteristische Kluft zwischen beiden Autoren auf: Für Weber ist das einzelne handelnde Subjekt sowohl die "unterste Einheit" als auch "nach oben zu die Grenze"98. Die Grenze nach unten soll Soziologie von Psychologie separieren", die Grenze nach oben soll vor dem "falschen Begriffsrealismus"l00 schützen, der Gesamtheiten, Institutionen, Kollektiven, schließlich: Gesellschaft eine eigene Realität beimißt. In der Kontrastierung zu Parsons ist es bedeutsam, daß Weber die Gefahr solchen "falschen Begriffsrealismus" gerade in der "f unk t ion ale n Betrachtungsweise der ,Teile' eines ,Ganzen' "101 begründet sieht. Eine funktionale Betrachtungsweise kann allenfalls "provisorischen Orientierungszwecken" auf dem Weg zu dem "dem soziologischen Erkennen Spezifischen" dienen: dem "Verstehen"l0.2. Insbesondere die Grenzziehung nach oben, die Ausschaltung der Gesellschaft als realer Einheit ist scharf kritisiert103 , Webers Konzeption als "Gesellschaftslehre ohne Gesellschaft"104 bezeichnet worden; Der Kontrast zu Parsons' Auffassung von der "Gesellschaft als Realität sui generis" springt ins Auge. Die schärfste Kritik ist in diesem Zusammenhang gerade unter SSA, S. 730, 602 f., 715 ff. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. AufI.. Tübingen 1951, S.437; vgl. in diesem Zusammenhang auch Loos, S.67: ",naiver Empirist' 95 Max Weber, Wissenschaftslehre, S.439. 86 Max Weber, Wissenschaftslehre, S.442 (Hervorhebung im Original). 87 Parsons, The Point of View of the Author, S. 324. 98 Max Weber, Wissenschaftslehre, S.439. 99 Max Weber, Wissenschaftslehre, S. 432 ff. 100 Max Weber, Wissenschaftslehre, S.540. 101 Max Weber, Wissenschaftslehre, S.540 (Hervorhebung im Original). 102 Alle Zitate Max Weber, Wissenschaftslehre, S.540/541. lOS z. B. Tenbruck, Die Genesis der Methodologie Max Webers, KZfSS 1959, S.625; Luhmann, Zweck-Herrschaft-System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 1964, S. 129 ff., 147 ff. 104 Francis, Kultur und Gesellschaft in der Soziologie Max Webers, in: Max Weber, Gedächtnisschrift der Ludwigs-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstags 1964, Berlin 1966, 8.112. 93

9f

CI.

48

Irr. Korrespondenz von Ordnungsproblem und Erkenntnisproblem

rechtssoziologischem Aspekt erhoben worden: Gurvitch wirft Weber vor, die Mängel der Weberschen Rechtssoziologie beruhten darin, daß Weber wegen seiner "zu engen Konzeption der sozialen Tatsache ... die soziale Wirklichkeit bis zu ihrer Vernichtung verarmt" habe105 . Daran ist jedenfalls soviel richtig, daß hinsichtlich des Gegenstands Recht sein "quantitativ-subjektiv-sinnhafter empirischer Geltungsbegriff ... Weber die Möglichkeit zur Entsubstantialisierung der Kollektivbegriffe (bietet). Nicht ein reales fait social, sondern übereinstimmung der Ordnungsvorstellungen der einzelnen, sei es, daß die Beteiligten die Ordnung als für sich normativ gültig ansehen, sei es, daß sie sie als empirische Wahrscheinlichkeit zweckrational einkalkulieren, begründet die Regelmäßigkeit der Abläufe, als die eine verstehende Soziologie die Kollektiva auffassen kann"106. Eine weitere Differenz zwischen Weber und Parsons ergibt sich am Handlungskonzept selbst: Weber räumt dem Typus des zweckrationalen HandeIns - gewissermaßen als Normaltypus - methodisch in der Weise eine Vorzugsstellung ein, daß "zweckirrationales Handeln nur als ,Abweichung' eines zum Vergleich konstruierten zweckrationalen Ablaufmodells untersucht werden könne" 107. Die Ablehnung dieser Beschränkung hatte Parsons schon innerhalb seiner Utilitarismuskritik vorgenommen. Bei Weber ging dieser Weichenstellung eine geschichtsphilosophische Vorgabe voraus: die Idee einer zunehmenden Rationalisierung aller gesellschaftlicher Bereiche. Diese Vorgabe hatte unmittelbare Folgen für seine rechtssoziologischen Typisierungen von Herrschaftsformen, Rechts- und Wirtschaftsordnungen108 , womit Parsons' Betonung der zentralen Stellung der Rechtssoziologie innerhalb von Webers Werk ihre Berechtigung findetl° 9 • Nach den Ausführungen zu den Grundlagen der Parsonsschen Theorie kann nicht zweifelhaft sein, daß auch Webers Konzeption für Parsons eine Sezession möglicher Wirklichkeitsaspekte enthält, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung von Normensystemen. Nach der philosophischen Vorgabe einer als hierarchisch geordnetes Kontinuum vorgestellten Realität (bemerkenswert die Kennzeichnung des Weberschen Realitätsbegriffs als - bloßl1O - "heterogenes Kontinuum"l11), 105 Gurvitch, S. 39. 108 Loos, S. 10l. 107 Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 85. 108 Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.316; vgl. auch Luhmann, Rechtssoziologie, S.17, und M. Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie, Frankfurt 1971, S. 37 ff. 108 Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften, S. 54 ff. 110 Vgl. zu dem "bloß" Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.74ff.

3. Vergleich mit den Grundlagen anderer recbtssoziologischer Entwürfe 49 nach der systemtheoretischen Ausarbeitung dieser Vorgabe in ein Kontinuum einander sich wechselseitig sowohl "kontrollierender" als auch "bedingender" Systemebenen kann es für Parsons keine isolierte "subjektiv-sinnverstehende" Betrachtung normorientierten Verhaltens mehr geben. So hat Parsons Max Weber auch vorgeworfen, dieser habe es versäumt, die Analyse der Struktur eines sozialen Systems zu entwickeln112 • Eine Beschränkung auf die eine Ebene des subjektiven HandeIns (wenn man so will: des "Persönlichkeitssystems"), die Max Weber von seinem Ansatz her auch dann nicht verläßt, wenn er "Gemeinschaftshandeln" thematisiert oder eine Typologie von Rechtsordnungen, bleibt für Parsons ausgeschlossen. Letzten Endes kann wohl auch hier davon ausgegangen werden, daß die beschriebene Differenz ihre Ursache in den verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätzen und forschungsstrategischen Anliegen findet: Parsons zielt auf eine "allgemeine", "systematische" Theorie ab, die letztlich - in einer universalen Konvergenz aller Verhaltenswissenschaften - eine Theorie lebender Systeme schlechthin sein soll. Max Weber geht es jedoch nur um eine Typologie konkreter sozialer Erscheinungen, nicht um deren Systematik, sondern gerade um ihre Eigentümlichkeit1l3 •

111 Loos, S.5; vgl. zu diesem Begruf von Rickert auch Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 75. 112 Parsons, Introduction zuMax Weber, The Theory of Social and Economic Organization (edited with an Introduction by Talcott Parsons), Oxford University Press 1947, S.12. 113 Vgl. Jonas IV, S.49; Girndt, Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen 1967, S. 48 f.

4 Damm

IV. Soziales Handeln Zwei Thesen können als die Pfeiler der Parsonsschen Theoriebildung angesehen werden. Einmal: Soziologische Analyse hat immer Analyse von Handlungen zu sein. Zum anderen: Die die Soziologie interessierenden Handlungen treten nicht in Vereinzelung auf, sondern stets als die Verknüpfung einer Pluralität von Handlungen, als HandlungsSystem. Erstere die thematische Ouvertüre, die zweite der zu immer größerer Dominanz gelangende Tenor der späteren Theorie. Der Behandlung von Einzelpartikeln der Parsonsschen Theorie muß ein Hinweis vorangeschickt werden, der bei jedem speziellen Problem als allgegenwärtige Interpretationsflankierung zu berücksichtigen ist. Parsons' riesiges Werk ist in einem jahrzehntelangen Prozeß der Grundlegung, tastenden Modifizierung, Erweiterung entstanden, als dessen bisheriges Produkt ein komplexes, facettenreiches und nicht in jeder Hinsicht widerspruchsfreies Theoriegebäude dasteht. Seine Interpreten betonen je verschieden Variation oder Kontinuität der Theorieentwicklung. Die Unvereinbarkeit eines frühen "model I" mit einem späteren "model 11"1, die Ansicht, daß "Parsons' Theorie, die angetreten war gegen die Schwächen des utilitaristischen Gesellschaftsbildes, ... sich von der fruchtbaren Spannung zu diesem Gegenpol gelöst und über der Explikation der Lösung des Hobbesschen Problems die Ausgangsfrage selbst aus dem Blick verloren" habe z, werden ebenso betont wie die Beibehaltung eines durchgängigen Grundthemas 3• Hier kann und muß die Frage nach der Konsistenz einzelner, in verschiedenen Phasen entworfener Konzepte nicht entschieden werden. Es werden vielmehr die für die Parsonssche Theorieentwicklung unzweifelhaft zentralen Kategorien auf ihrem normsoziologischen und normtheoretischen Hintergrund vorgestellt, wobei davon ausgegangen wird, daß die Diskutierbarkeit dieser Kategorien unabhängig davon ist, welche augenblicklich im Mittelpunkt des Parsonsschen Interesses stehen. 1 Dubin, Parsons' Actor: Continuities in Social Theory, ASR 1960, S. 457 ff.; vgl. auch Martindale, Talcott Parsons' Theoretical Metamorphosis from Social Behaviorism to Macrofunctionalism, Alpha Kappa Deltan 1959, S. 38 ff., abgedruckt in ders., Community, Character and Civilization: Studies in Social Behaviorism, New York 1963, S. 68 ff.; Drewe, Die "strukturellfunktionale Theorie" und der soziale Wandel, KZfSS 1966, S.330. 2 Brandenburg, S. 171. 3 So die Grundtendenz bei. Schwanenberg.

1.

Die "normative Ausrichtung" des Handelns

51

Ungeachtet dessen spiegelt jedoch die äußere Darstellung bereits Schwerpunktverlagerungen des Parsonsschen Denkens, im Vordergrund die von der "Theorie des HandeIns" zum systemtheoretischen Ansatz. Daß solche Interessenverschiebungen bei Parsons immer noch andauern, zeigt die im letzten Jahrzehnt stärkere Betonung von sozialem Wandel und Evolution gegenüber Problemen der Stabilisierung sozialer Ordnung'. Dies entspricht völlig Parsons' Selbstverständnis, wonach sein Werk nicht exklusive "Schule" oder Theorie innerhalb der Soziologie, sondern "Stadium in der Entwicklung" einer umfassenden Theorie sein sollS. Für Parsons selbst ist solche Entwicklung nicht Bruch, sondern Einbau früherer Konzepte in neue, umfassendere und zugleich die angemessene Kontaktform mit eigener und fremder Theorie: "The god of science is, indeed, Evolution. But for those who pay their obeisance in a true scientific spirit, the fact that science evolves beyond the points they have themselves attined is not to be interpreted as a betrayal of them. It is the fulfillment of their own highest hopes6 ." Aus diesen Gründen wird aber auch deutlich, daß die - auch für die Theorie nur "analytisch" isolierbaren - Einzelkonzepte zum Zwecke der Darstellung zwar getrennt werden müssen, jederzeit jedoch ihre gegenseitige Verflechtung, Ergänzung und Abhängigkeit mitzudenken sind.

1. Die "normative Ausrichtung" des Bandelns Parsons' Interesse gilt vorrangig normorientiertem Handeln. Es wird daher zunächst auf seinen Begriff des Normativen, sodann auf den von ihm entworfenen "Grundbezugsrahmen" eingegangen, innerhalb des letzteren wiederum besonders auf den Orientierungsbegriff. In ihm kristallisiert sich Parsons' Auffassung von einer "normativen Ausrichtung" sozialen Handelns7 am deutlichsten. a) Normativität: Norm und Wert

Die Begriffe Norm und Wert wie auch der Begriff des "Normativen" spielen in Parsons' Theorie von Anfang an eine zentrale Rolle, ohne daß sie immer trennscharf voneinander oder von anderen Begriffen abgehoben würden. Die Verwendung speziell des Wertbegriffs durch Parsons ist daher nicht ohne Berechtigung so charakterisiert worden: "T. Parsons gebraucht unter allen Autoren den Wertbegriff am 4 Vgl. hierzu z. B. Krysmanski, Soziologie des Konflikts, Reinbek 1971, S.155. 5 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie, KZfSS 1964, S. 30. 6 SSA, S.41. 7 Parsons, Systematische Theorie, in: Soziologische Theorie, S.53 .

••

52

IV. Soziales Handeln

regesten. Er verzichtet dabei auf eine konsistente Definition und formuliert den Begriff von Werk zu Werk neu 8 ." Jedenfalls spiegelt auch die Parsonssche Verwendungsweise der beiden Begriffe die Schwierigkeit wieder; Norm und Wert überhaupt begrifflich zu trennen9 • So werden im Frühwerk "Wert" und "Norm" zunächst noch gar nicht in dieser Begrifflichkeit gegenübergestellt, sondern es wird - allgemeiner - vom "Konzept des ,Normativen'" gesprochen10. Der Terminus " normativ" soll dabei solche Aspekte eines Handlungssystems betreffen, die als solche einen Zweck in sich darstellen, "an end in itself, regardless of its status as a means to any other end"l1. "Normativität" bezeichnet somit die Bindung an Handlungsziele, die nicht von der Abwägung ihrer instrumentellen Eignung als Mittel zur Erreichung anderer Ziele abhängtl2. Innerhalb dieses Konzepts werden dann die Begriffe "norm" und "end" behandelt. Es deutet sich hier die im weiteren Verlauf erfolgte Abhebung von Wert und Norm an: "End" wird definiert als "a f u t ure s tat e of affairs to which action is oriented by virtue of the fact that it is deemed des i r abI e by the actor(s)"13. Demgegenüber wird unter "norm" verstanden "a verbal description of the c 0 n c r e t e c 0 urs e 0 f a c t ion thus regarded as desirable, combined with an injunction to make certain future actions conform to this course"u. Setzt man für "end" den Begriff "Wert" (value), so hat man hier die Grundlegung der später immer häufiger vorgenommenen Abgrenzung Wert-Norm: Werte sind "Konzeptionen des Wünschenswerten"lIS, Normen dagegen sind "Regeln, die für bestimmte Kategorien und Einheiten in einem System in bestimmten Typen von Situationen Gültigkeit besitzen" 16. Hier deuten sich die wesentlichen Aspekte des Wert- und des Normbegriffs an: Normen beziehen sich auf konkretes Handeln in bestimmten typisierten Situationen, Werte dagegen - situationsunspezifischer und dadurch von Handlungs-"zielen" abgesetzt17 - auf einen wünschenswerten zukünftigen Status oder Zustand. Damit ist eine wesentliche begriffliche Einschränkung vorgenommen: Parsons geht von "Norm als RichtLautmann, Wert und Norm, Köln-Opladen 1969, S.47. Vgl. dazu Lautmann, Wert und Norm, S.138 und passim. 10 SSA, S. 74 ff. 11 SS, S.74. 12 Vgl. Nolte, S.112. 13 SSA, S. 75 (Hervorhebung von mir, R. D.). 14 SSA, ebenda (Hervorhebung von mir, R. D.). 16 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 244 (in ausdrücklicher Anlehnung an Kluckhohn). 16 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 204. 17 Parsons, Outline, S. 43. 8 9

1.

Die "normative Ausrichtung" des Handelns

58

schnur", nicht von "Norm als Durchschnitt" aus und von "Wert als Maßstab", nicht von "Wert als Gut"18. Besonders diese Festlegung des Wertbegriffs ist von erheblicher Bedeutung: Werte sind nicht "Güter", "Dinge", Objekte, sondern sie stellen die "Konzeption", den Standard dar, woran Objekte gemessen werden. In den Elementen des Wertbegrüfs - Konzeption eines wünschenswerten zukünftigen Zustandssteckt eine dynamische Komponente: das Ausgerichtetsein von Handeln auf etwas noch nicht Erreichtes. So werden Werte in einer anderen Definition als Bindung des Handelnden an bestimmte "Richtungen" des HandeIns begrilfenu . Werte sind für Parsons - in für diesen typischer Unschärfe - "in erster Linie in der Kultur verankert"!o. Sie sind auf allen Ebenen menschlichen Handeins von Bedeutung und das sind für Parsons - in absteigender normativer Ordnung - die Ebenen der Kultur selbst, des sozialen Systems, der Persönlichkeit, des Verhaltensorganismus und der physischen Umwelt. Werte sind die Konzeptionen des Wünschenswerten "auf der höchstmöglichen Ebene der Allgemeinheit des betreffenden Handlungssystems"!l. Auf der kulturellen Ebene geht es um die "Bewertung der kulturellen Muster selbst"2%, also um einen "reflexiven Mechanismus" des "Bewertens von Werten"23. Weiter: "Soziale Werte sind somit Konzeptionen des wünschenswerten sozialen Systems, Persönlichkeitswerte Konzeptionen des wünschenswerten Persönlichkeitstyps und so weiter"24. Als "besonders wichtiger Aspekt des Werts" erscheint Parsons die "S e I b s t bewertung (self-valuation) eines sozialen Objekts, d. h. eines menschlichen Individuums oder eines Kollektivs. Im Falle einer Persönlichkeit handelt es sich dabei um ihr ,Ich-Ideal' als normatives Selbstbild, im Falle eines Kollektivs um die von den Mitgliedern geteilte Konzeption eines gut e n sozialen Systems ... Im Falle der Persönlichkeit sprechen wir von verinnerlichten Werten, in dem des sozialen Systems von institutionalisierten Werten2li •" Werden Werte als Konzeptionen des Wünschenswerten "auf der höchstmöglichen Ebene" des je betrachteten Handlungssystems ange18 Diese Formulierungen stammen von LautInann, Wert und Norm, S. 26, 54, 98; Parsons trifft die Unterscheidung für den Wertbegriff ausdrücklich in: Societies, S. 18. 18 Parsons, Structure and Process in Modern Societies, New York-London 1967, S.170, 172, 174. 20 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 245. 21 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 244. 22 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 245. 23 Luhmann, Positives Recht und Ideologie, in: Soziologische Aufklärung, S.182. 24 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 245. !5 Parsons, Sozialstruktur und· Persönlichkeit, S. 245/246 (Hervorhebungen im Original).

54

IV. Soziales Handeln

sehen, so ergibt sich für ihr Verhältnis zu Normen ein weiteres: Werte stellen die höchste situationsunspezifische normative Ebene dar, aus der situationsspezifische Normen hergeleitet werden26 • Normen stehen auf einer niedrigeren normativen Stufe als Werte27 . Und: Werte bedürfen zu ihrer Realisierung der Transponierung zu speziellen Normen, da "in Werten noch nicht die Form ihrer Verwirklichung enthalten ist"26, d. h. weil der Formulierung von Werten nicht unmittelbar zu entnehmen ist, durch welche konkreten Handlungen welche konkreten Akteure in welchen konkreten Situationen zur Verwirklichung von Werten beitragen sollen. Das Verhältnis zwischen Werten und Normen ist somit ein hierarchisches: Normen werden aus Werten hergeleitet, nicht umgekehrt, Normen werden durch Werte "legitimiert", nicht umgekehrt29 • In "entwickelteren" Gesellschaften haben Normen als situationsspezifische Handlungsanweisungen ihren "strukturellen Schwerpunkt" im Rechtssystem3D • Rechtsnormen ---'" soviel kann als Vorgriff bereits hier festgehalten werden - eines "stabilen", "integrierten" sozialen Systems sind daher aus den zielbestimmenden Werten dieses Systems abgeleitet. b) Der Grundbezugsrahmen

Der "Grundbezugsrahmen" (basic frame of reference) oder auch "Handlungsbezugsrahmen" (action frame of reference)31 stellt in der frühesten Form des Handlungsmodells32 als kleinste sinnvolle analytische Einheit die "einzelne Handlung" (unit action) vor. Damit wird insbesondere das konkrete Individuum als Elementareinheit ausgeschlossen. Die analytisch isolierte Einzelhandlung wird sodann nach hier nur in gröbster Vereinfachung vorstellbaren - drei Strukturfaktoren bestimmt: dem Aktor, der Situation, in der gehandelt wird, sowie der Orientierung des Aktors gegenüber der Situation. aa) Aktor Parsons' "Aktor"-Begriff hat die Theorie im Laufe ihrer Entwicklung nicht verlassen, jedoch die Verschiebungen ihres Interesses mit26 Parsons, Durkheim's Contribution to the Theory of Integration of Social Systems, in: Wolff (Hrsg.), Emil Durkheim, Columbus (Ohio) 1960, S.123. 27 Parsons, Durkheim's Contribution, S. 124. 28 Brandenburg, S. 85. 28 Parsons, Durkheim's Contribution, S. 124. 30 Parsons, Societies, S.18. 31 Zum "action frame of reference" als "einem der berühmtesten Einstiege" vgl. aus politikwissenschaftlicher und staatstheoretischer Sicht Mols, Integrationslehre und politische Theorie, AöR 1969, S.532, auch 534. 32 Vgl. SSA, S. 43 - 86, 731 -775.

1.

Die "normative Ausrichtung" des Handeins

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gemacht. Anfangs bezieht sich "Aktor" auf ein Individuum. "Die Grundeinheit aller sozialen Systeme ist das Individuum als H a n dei nd e r33." Später werden in den Begriff auch "Kollektive" (collectivities)34 einbezogen. Parsons betont, "that the primary reference of the concept ,actor' is to the individual personality, but that in secondary respects, collectivities, behavioral organisms, and cultural systems may be conceived as actors"$. Diese Einbeziehung signalisiert zweierlei: einmal die Abkehr vom " (relativ) subjektivistischen Ausgangspunkt" der Frühzeit38 , zum anderen die Kontinuität des "voluntaristischen"37 Elements in der früheren Handlungstheorie. Der unscharfe Begriff "Voluntarismus" soll die Einbeziehung subjektiver Zielsetzungen sicherstellen, die Parsons zeitweise zum eigentlichen Merkmal des Aktors erhebt: Der Aktor ist diejenige Einheit sozialer Systeme, "die grundsätzlich dadurch gekennzeichnet ist, daß sie die Erreichung von ,Zielen' anstrebt"38. Trotz dieser Einbeziehung subjektiver Zielsetzung in den Aktorbegriff setzt sich Parsons - und zwar bereits in seiner Frühphase gerade an diesem Punkt vom utilitaristischen Konzept ab: Individualität des Aktors bedeutet nicht atomisierende Vereinzelung, subjektive Zwecksetzung bedeutet gerade nicht BeHebigkeit der Zwecksetzung. "Das theoretische Handlungssystem, das durch die vier Merkmale Atomismus, Rationalität, Empirizismus und Beliebigkeit von Zwecken gekennzeichnet ist, wird in dieser Untersuchung das utilitaristische System der Gesellschaftstheorie genannt werden39 ." Demgegenüber sagt für Parsons die Tatsache, daß gewählt und Entscheidungen getroffen werden müssen, nichts über den Freiheitsgrad des Handeins aus40 • Einer im individualistischen Sinne zweckrationalen Mittelwahl des Aktors sind vielmehr schon immer institutionalisierte und internalisierte Normen eingrenzend vorgegeben. Ja: "Man könnte bildlich sagen, daß die Wertorientierungen, die ein Teil des kulturellen Wertsystems sind, durch ihre Institutionalisierung eher die Wahl treffen als der Aktor41." bb) Situation Die "Situation" besteht aus Daten, die "Objekte der Orientierung" sind. Situation wird definiert als "consisting of objects of orientation, 33 Parsons, Systematische Theorie, in: Soziologische Theorie, S.52 (Hervorhebung im Original). U z. B. Toward, S. 4, 56; SS, S. 4. 85 Parsons, Pattern Variables Revisited, ASR 1960, S.469. 36 Vgl. Brandenburg, S.76. 87 Vgl. z. B. Parsons, Systematische Theorie, S.52. 38 Parsons, ebenda. 89 SSA, S. 60. 40 Brandenburg, S. 50. 41 Parsons, Toward, S. 70 Fn. 19.

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IV. Soziales Handeln

so that the orientation of a given actor is düferentiated relative to the düferent objects and classes of them of which his situation is composed"42. Drei Klassen von Objekten43 sind für das Handeln bestimmend: soziale (andere Handelnde), kulturelle (Ideen, Gesetze, kulturelle Traditionen etc.) und physisch-nichtmensch.liche (diese als "Mittel" und "Bedingungen" der Handlung44) Objekte. Nicht Charaktereigenschaften oder subjektiv gemeinter Sinn gewähren somit analytischen Zugang zu sozialem Handeln, sondern allein die permanente Wechselbeziehung zwischen dem Aktor und den von ihm vorgefundenen "Objekten". Handeln erscheint als Funktion aus der Situation und das heißt: "aus dem Ensemble bestimmter Bedingungen"~. ce) Orientierung Der zentrale und im Verlauf des Parsonsschen Denkens immer mehr in den Mittelpunkt gerückte Begriff des Handlungskonzepts ist der der "Orientierung". "Der Bezugsrahmen betrifft die ,Orientierung' eines oder mehrerer Aktoren ... im Hinblick auf eine Situation, die andere Aktoren einschließt 46 ." Der Orientierungsbegriff thematisiert somit die Beziehung des Aktors zur Handlungssituation und macht somit die Schematisierung des Bezugsrahmens zu einem "r e I a t i 0 na I e n Schema"47. Immer wieder weist Parsons auf diesen Beziehungscharakter hin48 • Grobflächig kann unter Orientierung das abwägende und schließlich auswählende Verhalten des Handelnden im Hinblick auf die Ausnutzung der durch die Situation gebotenen Alternativen verstanden werden. Parsons' Konzentration auf den Orientierungsbegriff macht daher folgendes deutlich: Parsons versteht unter "Handlung" nicht tatsächliches Verhalten, sondern "den Vorgang der wägenden und entscheidenden Handlungs vor b e r e i tun g"49. Dies hat ihm den Vorwurf eingetragen, seine Handlungstheorie enthalte keine Handlungen: "In the world of Talcott Parsons, actors are constantly orienting themselves to situations and very rarely, if ever, acting. The show is constantly '2 SS, S.4.

43 Mitunter werden nur zwei Objektklassen angenommen: soziale und nichtsoziale, wobei dann die letzteren in physische und kulturelle unterteilt werden; so z. B. bei Ritsert, Substratbegriffe in der Theorie des sozialen Handeln, Soziale Welt 1968, S.122, und Schlottmann, Primäre und sekundäre Individualität, Stuttgart 1968, S.24. Im Ergebnis ändert sich dadurch nichts. 44 SS, S.4; "Mittel" und "Bedingungen" bilden also nicht bereits unmittelbar die Handlungssituation, wie Brandenburg, S. 45 anzunehmen scheint. 45 Kiss II. S. 147. 46 SS, S.4. 47 Ebenda (Hervorhebung im Original). 48 Vgl. z. B. Toward, S. 61; Approach, S.614. 49 Brandenburg, S. 45 (Hervorhebung im Original).

1. Die "normative Ausrichtung" des Handelns

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in rehearsal, but the curtain never goes Up50." Parsons weist dies als Mißverständnis zurück, da er sich nicht mit äußerem, physischem Verhalten ("behavior") befasse, sondern mit den "Mechanismen", die solches äußere Verhalten "kontrollieren"51. Der Situationsbezug des Aktors, also die Orientierung, wird in zwei Orientierungsmodi unterschieden: in Motivorientierung (motivational orientation) und Wertorientierung (value-orientation)5!. Dabei ist hier - wie so häufig - der Hinweis nötig: In jede konkrete Handlung gehen - in unterschiedlicher Gewichtung - beide Orientierungsweisen ein; es handelt sich um eine rein analytische Unterscheidung53 der verschiedenen Aspekte konkreter Handlungsorientierungen. Die Motivorientierung betrifft die Ausrichtung des Aktors auf die Dimension der Befriedigung oder Versagung seiner Bedürfnisse, Wünsche oder - in einem sehr weiten Sinne - seiner "Interessen". In letzter begrifflichen Reduktion wird das "letzte Interesse" jedes Handelnden in einer "Befriedigungsmaximierung" (optimization of gratification)54 entlang einer Gratifikations-Deprivations-Balance gesehen. Demgegenüber betrifft die Wertorientierung die Ausrichtung des Handelnden an Auswahlkriterien: Symbolen, Werten, Normen. Beide Orientierungsmodi treten in je dreifacher Variation auf: Die Motivorientierung fächert sich auf in kognitive, kathektische und evaluative Aspekte55 . Kognitive Orientierung bezeichnet die mittels Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Denkleistungen bewirkte Erfassung und Prüfung der Situationskomponenten ("Objekte") im Hinblick auf das Handlungsziel. Kathektische 56 Orientierung erfaßt die emotionale, "emotional besetzende"57 Beziehung des Aktors zu den Objekten, die für seine Bedürfnisbefriedigung von positiver oder negativer Bedeutung sind. Der letztlich entscheidende evaluative Orientierungsmodus schließlich meint das prüfend-wertende Auswählen unter verschiedenen konkurrierenden "Besetzungen", erfaßt also Alternativentscheidungen angesichts mehrerer Handlungsmöglichkeiten. Ihre Bedeutung würde vielfach schwinden, wenn es sozialem Handeln nur auf momentane Befriedigung ankäme, es "würde die kognitive Vorklärung der Möglich50 Whyte, Parsons' Theory Applied to Organizations, in: Black, S.255.

Parsons, The Point of View of the Author, S. 327, und bei Whyte, S.256. V gl. z. B. SS, S. 7 ff. 53 Vgl. hierzu auch Schrader, Soziale Welt 1966, S.112. 54 z. B. SS, S. 5. 56 Parsons, Prospects, S.357; Toward, S.5, 59, 67 ff.; SS, S.7. 66 Die Begriffe "kathektisch" und "Kathexis" sind auf Freud zurückzuführen und beziehen sich dort auf die "libidinöse" Besetzung von Objekten; vgl. Schwanenberg, S. 116 Fn. 115, und Seago, Stichwort "Cathexis", in: Gould / Kolb (Hrsg.), A Dictionary of the Socia! Sciences, Glencoe (Ill.) 1964, S.78. 57 Nolte, S.124. 61

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58

IV. Soziales Handeln

keiten dazu oft ausreichen"58. Da Handeln sich jedoch in der Zeitdimension abspielt, eine möglichst günstige Gratifikations-DeprivationsRelation über eine zeitliche Distanz hin zu sichern und zu planen ist, muß darüber befunden werden, welche Art von Befriedigung durch welche geeigneten Objekte angestrebt werden soll. Jeder Modus der Motivorientierung59 wird nun durch einen entsprechenden, ausdrücklich als "normativer Aspekt"60 bezeichneten, Modus der Wertorientierung beeinfiußt und reguliert. "Wertorientierung bezieht sich auf jene Aspekte der Orientierung des Aktors, die ihn zur Beobachtung bestimmter Normen, Standards, Selektionskriterien verpflichten (commit), wenn immer er in einer Lage ist, die ihm erlaubt (oder von ihm erfordert), eine Wahl zu treffen61 ." Hierdurch erhält die Kategorie des Handeins vor aller Einzelentfaltung eine - in Parsons' eigenen Worten - "grundlegende ,normative Ausrichtung' "6%, deren Bedeutsamkeit für eine theoretische Rechtssoziologie bereits hervorgehoben worden ist;8'. Die Wertorientierung ist also ihrerseits ebenfalls - analytisch! - dreifach unterteilt: in kognitive, appreziative und moralische Wertstandards. Der kognitive Aspekt der Motivation wird also seinerseits reguliert von letztlich "normativen" Standards der Kognition: von den "elementarsten Standards von Logik oder Korrektheit der Beobachtung"64, die - vielleicht oder jedenfalls bis zu einem gewissen Grad - "kulturelle Universalien" (cultural universals) sein mögen, bis hin zu kulturell unterschiedlichen Denk- und Wissenschaftstraditionen. Der kathektische Motivationsaspekt wird gesteuert von den sogenannten "appreziativen", "gefühlsbestimmten"65 Standards, durch die die Objekte und Gelegenheiten der Bedürfnisbefriedigung bestimmt werden, unter ihnen besonders wichtig die sogenannten "expressiven Symbole"66. Der evaluative Motivaspekt schließlich erhält seine normative Prägung durch "moralische" Standards, wobei "moralisch" in einem viel umfassenderen Sinn als üblich zu verstehen ist, insbesondere auch keine positive oder negative Einfärbung enthält. Diese vom Aktor verinnerlichten "moralischen"67 58 Brandenburg, S. 50. 59 Und nicht nur der evaluative Aspekt. 60

55, 5.13.

61 Toward, S. 59.

Parsons, Soziologische Theorie, S. 53. Jürgen Schmidt, JRR I, S. 306. 64 55, 5.13. 65 So die das Problem wohl treffende übertragung von Schlottmann, S. 23. 66 Vgl. z. B. 55, 5.46 ff., 76. 67 Bei diesem Begriff wird ein Charakteristikum des Parsonsschen Stils deutlich: das Nebeneinander- von unbequemen Kunstwörtern ("Kathexis", "Evaluation") und manchmal geradezu bieder anmutenden Common-senseBegriffen. Die Bemerkung Luhmanns, daß es so etwas wie "eine für 62

63

1.

Die "normative Ausrichtung" des Handelns

59

Handlungsregulative stellen den letztlich - in der analytischen Stufenleiter, nicht notwendig in konkretem Handeln entscheidenden Orientierungsmodus dar, nach Parsons "a paramount focus of evaluative standards"1I8. Je nach der relativen Gewichtung der jeweils zueinandergehörigen analytischen Elemente der Motiv- und Wertorientierung und der in ihnen zum Ausdruck kommenden Norm-Typen unterscheidet Parsons drei Grundtypen konkreter Handlungen: die intellektuelle, expressive, moralische Handlung69 . Beim intellektuellen Handlungstyp dominieren kognitive Motivorientierung und die korrespondierenden kognitiven Standards der Wertorientierung, beim expressiven Typ die kathektische Motivorientierung und die Wertorientierung an "appreziativen" Standards, beim moralischen Typ das moralische Interesse und die entsprechenden moralischen Standards. Hinzu tritt als vierter, sehr wichtiger Sonderfall der Typ des instrumentellen Handelns, dessen Merkmale in Gegenüberstellung zum expressiven Handlungstyp deutlich werden: Expressives Handeln wird gekennzeichnet durch das wesentlich kathektische Interesse an unmittelbarer Gratifikation70 • In Fällen aber, in denen die Erreichung des Handlungsziels erst in der Zukunft möglich ist, es also um planende Anvisierung erst späterer Befriedigung geht, ist von instrumentellem Handeln die Rede. Dieses setzt sich gewissermaßen aus einer Kombination von intellektuellkognitiven und expressiv-kathektischen Handlungselementen zusammen: In einer ersten Phase werden nach kognitiven Standards die geeigneten Mittel geprüft und beschafft, um in einer zweiten, expressiven Phase Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Im Hinblick auf die normative Handlungssteuerung durch die Wertorientierung ist folgendes festzuhalten: Die oben dargestellten Merkmale des Wert- und Normbegriffs stellen die gewissermaßen "objektive" Seite dar: "Wert" und "Norm" als Umriß eines Zielzustandes bzw. Handlungsregeln zur Verwirklichung dieses Zustandes. Orientierung betrifft demgegenüber den "subjektiven" Verarbeitungsprozeß: Wert und Norm als Grundlage eines Handlungsentwurfs. Wie schwer es Parsons fällt, diese beiden Aspekte des Normativen bezüglich des Orientierungsbegriffs voneinander abzuheben, wird an seinen eigenen Formulierungen deutlich: So ist einmal davon die Rede, Parsons' Stil beze~chnende, strategisch placierte Unschärfe" der Aussage gebe, wird durch die Lektüre bestätigt, ebenso der Eindruck, daß diese Unschärfe u. a. mit dem Stadium der Theoriebildung zusammenhängt. VgI. Luhmann, Rechtssoziologie, S.20 Fn.22; zu Parsons' "famous, or infamous, ,style'" auch Schwanenberg, S. 13 f. 68 SS, S.14. 69 SS, S.13. 70 SS, S. 384.

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IV. Soziales Handeln

daß Werte Orientierungsmuster "definieren"71, ein anderes Mal davon, daß Normen Orientierungsweisen "enthalten"72 oder daß eine Rolle (als Normenbündel) der Sektor der Handlungsorientierung "ist"73. Dennoch ist als grundlegend festzuhalten: Normativität, gleich ob auf der Wert- oder Normebene, bekommt für soziales Handeln nur Relevanz, wenn und soweit sie der Handelnde zur Grundlage seiner Handlungsorientierung macht. Und: Normen und Werte können "normative" Wirkung nur entfalten, wenn sie Orientierungshilfe für soziales Handeln gewähren. Das geschilderte Verhältnis der beiden Orientierungsweisen - Motivorientierung und Wertorientierung - führt an den Angelpunkt der Theorie: Dieses Verhältnis, das nur eine analytische Trennung zuläßt, wird bestimmt von der Gleichzeitigkeit beider Orientierungsmodi. Betrifft nun die Motivorientierung den "Interessen"- und Gratifikationsgesichtspunkt, also die ~onditionale, "materielle" Seite, so bedeutet die Gleichzeitigkeit von Motiv- und Wertorientierung die Gleichzeitigkeit von faktisch-bedingendem und normativ-steuerndem Element. Die Regelungs-Bedingungshierarchie findet auf diese Weise ihren Niederschlag im Orientierungsbegriff. Innerhalb beider Orientierungsmodi setzt sich das Spannungsverhältnis zwischen Konditionalität und Normativität bis in die Details der Subkategorien fort: Kognition kognitive Normen, Kathexis - appreziative Normen, Evaluation moralische Normen. Der Orientierungsbegriff verdeutlicht damit innerhalb des Handlungskonzepts - am ehesten Parsons' Feststellung: "Handeln muß immer gedacht werden als einen Spannungszustand zwischen zwei verschiedenen Ordnungen von Elementen einschließend, der normativen und der konditionalen74 ." Die der Grundannahme eines hierarchischen Kontinuums gegenläufiger "interessenbedingter" und normativer Elemente entsprechende Gleichzeitigkeit beider Orientierungsweisen hat wesentliche inhaltliche Implikationen zur Folge: Der analytische Grenzfall völlig unnormierter, lediglich durch Motivation, "Interesse" bedingten Verhaltens kommt im Bereich konkreten sozialen Handeins nicht vor; er dürfte bloß tierisches Verhalten umfassen. Umgekehrt gibt es im konkreten Bereich auch nicht den Fall rein normativ regulierten motivationsunabhängigen Handeins. Parsons' Weigerung, die eine der beiden Orientierungsweisen auf die andere zu reduzieren, soll sowohl "psychologischen Determinismus" als auch "kulturellen Determinismus" vermeiden75 . 71 Parsons, Outline, S. 44. Parsons, System, S. 15. 78 Parsons, Toward, S. 23; SS, S. 38 f. 74 SSA, S. 732. 76 SS, S. 14 f.; allerdings bezeichnet sich Parsons später einmal für einen speziellen Sachzusammenhang als einen "kulturellen Deterministen, eher 7!

2. Recht und Handlungsorientierung

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Es ist daher jedenfalls mißverständlich, in bezug auf Parsons' Konzept der Handlungsorientierung von "normativer Determinierung"16 zu sprechen. Nur so viel ist richtig, daß für Parsons normative Steuerung ein essentieller Bestandteil sozialen Handeins ist. Daneben beinhaltet das analytische Schema, wenn auch nicht Parsons' primäres Forschungsinteresse, die Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit des faktischbedingenden Elements. 2. Recht und Handlungsorientierung Es ist - wiederholt - zu betonen, daß Parsons eine Ausarbeitung seiner Theorie im Hinblick auf Recht im Grunde nicht geleistet hat, daß Probleme von "Law", "Legal system" und "Legal profession" immer wieder gestreift werden (mitunter in eigens dem Recht gewidmeten Gelegenheitsarbeiten71), jedoch "die Ausarbeitung gerade in dieser Beziehung viel zu wünschen übrig" läßt78. Dies rührt zweüellos auch daher, daß in Parsons' Theorie, dieser "generalisierten Rechtssoziologie"", jedenfalls aber: generalisierten Normentheorie, Recht bei der allgemeinen Erörterung von Normensystemen auch unausgesprochen immer "gegenwärtig" ist als eine Erscheinungsform solcher Systeme. Hier - im engeren Zusammenhang mit den noch nicht zum "System" ausgeweiteten Bestandteilen des Handlungskonzepts - ist aber noch ein weiteres anzufügen: Wenn Parsons Recht thematisiert, dann geschieht dies vorwiegend mit Recht als "institutionellem Phänomen" und "hauptsächlich auf der institutionellen Ebene "80. Darauf wird zurückzukommen sein. Dennoch offenbart bereits der Grundbezugsrahmen Parsons' "Grundansicht, daß Entäußerung menschlicher Subjektivität in Handlungen auf den auswählenden und kanalisierenden Beistand von n 0 r m a t i v e n Vor gab e n angewiesen ist"81. Deshalb wird innerhalb des rechtssoziologischen Räsonnements auch noch nach dem Übergang zur Systemperspektive "die Bedeutung der Norm für ... einen bestimmten '" Handelnden in einer bestimmten Situation" betontln. Das heißt als einen sozialen Deterministen", Parsons, Societies,S. 13, vgI. dazu unten V, 3. a) bb). 78 Nolte, S.124. 77 SO Z. B. in dem Aufsatz "Recht und soziale Kontrolle", in: Hirsch I Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, KZfSS, Sonderheft 11, 1967, S.121. 78 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 21. 79 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 18. 80 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 121, 134. 81 Brandenburg, S. 51 (Hervorhebung von mir, R. D.). 82 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123.

62

IV. Soziales Handeln

aber: Recht kommt - wie jede Normgattung - auf der Ebene des Handlungskonzepts als Faktor der Handlungsorientierung in den Blick. Immer aber interessiert sich Parsons für Recht als einer "normativen Ordnung"83 und - dies ist wesentlich - als Bestandteil der in einem sozialen System geltenden allgemeinen normativen Ordnung. Dabei taucht das als philosophische Prämisse vorgestellte "Kontinuum" einer gegenläufigen Kontroll- und Bedingungshierarchie wieder auf, wenn das Recht in eine "Hierarchie der normativen Steuerung"8C hineingestellt wird. Damit ist gleichzeitig das wohl auch im rechtssoziologischen Kontext als Grundtenor der Theorie anzusehende Spannungsverhältnis VOn Konditionalität und Normativität wieder betroffen.

a) Die Genesis der Norm: Interaktion und die Entstehung von Verhaltenserwartungen "It is a fundamental property of action ... that it does not consist only of ad hoc 'responses' to particular situational 'stimuli' but that the actor develops a system of 'expectations' relative to the various objects of the situation85." Für den Aktor erhält die Situation, in der er sich nach den formaldefinitorischen Festlegungen des Grundbezugsrahmens befindet, eine andere Dimension, wenn er sich einem "Objekt" gegenüber sieht, das gleichzeitig Subjekt und damit ebenfalls Handelnder ist. Die Aktion von Aktor 1 ("Ego") wird zur Interaktion mit Aktor 2 ("Alter"). Mit diesem Interaktionszusammenhang knüpft Parsons an den Grundbezugsrahmen an und verläßt ihn gleichzeitig. Denn die Interaktion von Ego und Alter ist bereits die Grundform eines sozialen Systems86• Anknüpfungspunkt bleibt die Orientierung. Diese bliebe von vornherein unmöglich, sollte sie in einer isolierten, aus der Zeit gehobenen Situation erfolgen. Handlung in Richtung auf ein bestimmtes zukünftiges Ziel ist undenkbar ohne Abstraktion VOn den Besonderheiten der je vorgefundenen Lage. "Soll Handeln nicht stets nur als Annex der besonderen Verhältnisse begriffen werden, soll also eine genuine Auswahl unter alternativen Handlungsmöglichkeiten, Antizipation oder sogar Beeinflussung zukünftiger Entwicklung möglich sein, dann müssen generalisierte (generalized), die Besonderheiten übersteigende Indikatoren die Handlungen leiten können81 ." Neben die drei Modi der 83 Parsons, System, S. 29. 84 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen in der strukturell-funktionalen Theorie, KZfSS 1964, S. 36. 85 SS, S.5. 86 Toward, S. 105. 81 Ritsert, Substratbegriffe, S. 124.

2. Recht und Handlungsorientierung

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Motivorientierung tritt deshalb ein zeitlicher Aspekt: "a time aspect in the orientation to future development of the actor - situation system and to the memory of past actions88 ." Ausdruck solcher Orientierung in der Zeit ist die Entwicklung von "Erwartungen" durch den Aktor89 • Diese Zeitdimension kann aus der Handlungsperspektive nur durch die Entstehung und Ausbildung von Zeichen-, Symbol- und letztlich Normsystemen verarbeitet werden. Nur dadurch sind Problemlösungen in der Zeit zu bewerkstelligen. Parsons verfolgt die Entstehung solcher Zeichensysteme bis in die Elementarbereiche von "Handlung" auf tierischer Ebene. Im Anschluß an die bekannten Tierversuche läßt sich sagen, daß bereits für tierisches Verhalten "Zeichensysteme" bedeutsam sind "which are at least the beginning of symbolization"90. Dennoch kann hier noch nicht von genuiner Symbolentstehung gesprochen werden, da Zeichen auf dieser Stimulus-ResponseEbene gewissermaßen Bestandteil der je besonderen Situation selbst sind, der Stimulus kommt "aus heiterem Himmel"91 und nicht als Transzendierung der aktuellen Besonderheiten. Erst auf der Ebene menschlich-sozialen Handelns wird der Schritt von bloßer Zeichenorientierung zu echter Symbolisierung vollzogen. Die Herausbildung hochkomplizierter menschlicher Aktionssysteme ist nicht möglich ohne relativ stabile Symbolsysteme, durch die "Bedeutung" nicht mehr nur in Abhängigkeit von partikularisierten Situationen möglich ist. Die Herausbildung von Symbolsystemen erfolgt auf die Weise, daß gewisse Elemente der Situation allmählich eine bestimmte "Bedeutung" erhalten, die beim Aktor ebenso bestimmte Erwartungen hinsichtlich des Handlungsverlaufs wecken. Symbole sind "kulturell kodifizierte Generalisierungen"· von einzelnen Handlungserfahrungen und - umgekehrt - Kultur ist ein von einer Aktorenmehrheit " geteiltes symbolisches Strukturmuster"93, "ein System generalisierter Symbole und ihrer Bedeutungen"". Das Entstehen von "Symbolsystemen" ist identisch mit der Entstehung von " Kultur"95. Ist Symbolik somit immer kulturelPI6, so ist sie - nach den Ausführungen zum Normativitätsbegriff - auch immer normativ 97 • Betreffen Symbole die "Bedeutung" von Handlungselementen für den SS, S.8. SS, S.5. 90 SS, S.10. 91 SS, S.10: "out of the bIue". 92 Parsons, in: Theories of Society, S.1166; SS, S.ll. 93 SS, S. 543. 94 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S.39. 95 SS, S.5. 96 VgI. auch Schwanenberg, 8. 106. 97 VgI. S8, S.5, 384 ff.

88

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IV. Soziales Handeln

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Aktor, so bekommen Symbole Relevanz für die "Organisation seines Erwartungssystems"98 und das heißt für die "Organisation von Orientierungen"99, dies wiederum macht Symbole - nach den Ausführungen zum Orientierungsbegriff - zu Instrumenten "normativer Regulation"loo. "Normative Regulierung zur Durchsetzung von ,Standards' ist für die Kultur insgesamt charakteristisch; es gibt deshalb eine richtige Weise, jede Orientierung des Handeins in jeder gegebenen Kultur zu symbolisierenlol ." Von größter Bedeutung für den normativen Gehalt von entstehenden Symbolsystemen ist die Tatsache, daß Symbolgehalt nicht nur materiellen Gegenständen, "physikalischen Objekten", zukommen kann, sondern auch bestimmten Handlungen, ja, daß der "Prototyp" von Symbolen die "symbolische Handlung" (symbolic act)lO! ist. Einzelne Handlungen bekommen - in der Zeit - Symbolwert, das heißt: mit ihnen werden nicht nur konkrete Einzelziele verfolgt, sondern sie signalisieren auch eine bestimmte dahinterstehende dauerhafte Reaktionsbereitschaft. Wird diese Gegenstand von Erwartungen, so haben sich aus der Symbolik Normen entwickelt. Können somit Symbolkomplexe Normcharakter haben, so ist das Verhältnis von Symbolund Normbegriff nicht derart, daß (alle) Symbole Normen sind; wohl aber ist es zutreffend, davon zu reden, daß Werte und Normen Symbole sind103. Auch Parsons bezeichnet einen Wert ausdrücklich als "Element eines allgemeinen Symbolsystems" 104. Und: "Die Gegenseitigkeit von Erwartungen ist an der geteilten 0 r d nun g der symbolischen Bedeutung orientiertlO5 ." " Deshalb " - d. h. wegen ihres Zusammenhangs mit der symbolförmigen Genesis der Norm - "sind Orientierungen an einer normativen Ordnung und wechselseitigem Ineinandergreifen von Erwartungen und Sanktionen ... in den tiefsten Grundlagen des Handlungsbezugsrahmens verwurzelt"l06. Die Bedeutsamkeit solcher "generalisierenden" Symbolsysteme bemißt sich für Parsens daran, daß sie nicht nur die notwendige Voraussetzung von Kulturentstehung sind, sondern auch speziell eines besonderen Aspekts von Kultur: dem der Kommunikationl07 . Solche SS, S.5. 98 SS, S. 386. 100 Ebenda. 101 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 30. 102 SS, S. 387. lOS Vgl. Luhmann, Positives Recht und Ideologie, S.190. 104 SS, S. 12. 105 SS, S. 11 (Hervorhebung im Original). 101 SS, S. 11/12. 107 SS, S.10, 11; vgl. auch Parsons / Bales / Shils, Working Papers in the Theory of Action, Glencoe (Ill.) 1953, S. 31 ff. 88

2. Recht und Handlungsorientierung

65

Symbolisierung und Normierung hat jedoch aus der Sicht des Handelnden insbesondere die Funktion, durch generalisierende Kennzeichnung der Situationsbestandteile auf Grund wiederkehrender Bedeutung zu eruieren, was ihm die Situation im Hinblick auf sein Handlungsziel "bietet". Die mittels vorgängiger, auf sozialer "Erfahrung"l08 aufbauender Symbolisierung, "Normativität" vorgenommene Situationserfassung erfolgt also entlang der bereits erwähnten GratifikationsDeprivations-Balance. Erst solche Bedeutungsidentität von Situationsbestandteilen ermöglicht eine Herabsetzung von Handlungsungewißheit angesichts "kontingenter Alternativen"l09. Handlungssituationen stellen somit auch bei Parsons "Welt als Problem"llo, und Normativität (und damit Recht) erscheint als Selektionsinstrument zur "Reduktion von Komplexität"111; jedoch hat das "Komplexitäts"-Theorem und das hieraus abgeleitete Reduktionserfordernis in keiner Phase der Theorieentwicklung eine solche geradezu dogmatische Schlüsselstellung wie in Luhmanns Theorie. Auf der Ebene der Interaktion zwischen Ego und Alter bekommt die von den situativen Partikularitäten abstrahierende Generalisierung zwischen den Polen verallgemeinerter Erfahrung vergangener Handlungssituationen und zukünftig 'erreichbarer Handlungsziele ihre Prägung zu Verhaltenserwartungen. Die Tatsache, daß für Ego die Erreichung von Handlungszielen, von "Gratifikation", in beträchtlichem Maße von den Aktionen und Reaktionen Alters abhängen, machen die Verläßlichkeit von Egos Erwartungen in Alters Verhalten zur zentral bedeutsamen Grundlage von Entwürfen der Handlungsstrategie. Im Bestreben, aus Handeln Gratifikationsmaximierung zu erlangen, liegt daher auch der Grund, weshalb auf "Erfahrung" beruhende Vermutungen über Alters zukünftiges Verhalten sich rasch in Zumutungen verwandeln: "At the very beginning the expectations may be purely predictive, but very soon they acquire a normative contentllt."

b) Komplementarität - Reziprozität: Der reduzierte Vertrag An dieser Stelle ist es nicht mehr möglich, isoliert über Egos Erwartungen hinsichtlich Alters Verhalten zu sprechen. Wenn Ego mit Aktionen und Reaktionen Alters zu rechnen hat, so muß er einkalku108 An dieser Stelle besteht auch für Parsons Anlaß, den Begriff der Erfahrung in Anführungsstriche zu setzen, geht es hier doch um den nur analytisch faßbaren Prozeß der originären Entstehung von normativen Mustern, die sonst bereits ihrerseits jede Erfahrung leiten. 108 SS, S. 11 (contingent alternatives). 110 Vgl. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., Soziologische Aufklärung, Köln-Opladen 1970, S.116. 111 So immer wieder Luhmann, z. B. Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 116; vgl. auch ders., Rechtssoziologie, S. 31 H., 94 H. ll! Toward, S. 154.

5 Damm

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IV. Soziales Handeln

lieren, daß Alter ebenso vor Wahlmöglichkeiten, vor "kontingenten Alternativen" steht. Mit anderen Worten: Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens eines Anderen zu hegen, impliziert, diesen Anderen ebenfalls als ein Ich zu begreifen. Eine angemessene Situationsbeurteilung durch Ego hängt davon ab, daß er die alternativen Reaktionsmöglichkeiten Alters miterfaßt - und umgekehrt: dies begründet die "Komplementarität der Erwartungen"113. Die Abhängigkeit auch von dieser zweiten Handlungsperspektive begründet das, was Parsons (und nach ihm auch LuhmannlU ) die "doppelte Kontingenz"115 im Interaktionsprozeß nennt. Dabei erfaßt Parsons' Theorie durchaus nicht nur Egos Erwartungen hinsichtlich Alters Verhalten, sondern auch seine, Egos, Erwartungen hinsichtlich Alters Erwartungen: "Die soziale Interaktion bringt eine weitere Verwicklung hinein, weil nicht mehr nur den Eigenschaften des unmittelbaren Objekts motivationale Bedeutung verliehen wird, sondern auch Alters Erwartungen in bezug auf Ego116." Es sind die "reziproken Perspektiven"117 des Interaktionsprozesses, die "Komplementarität von Rollen-Erwartungen"118 betroffen. Wird Ego durch Alters "abweichendes Verhalten" in seinen Erwartungen enttäuscht, erfährt er eine "Frustration von Erwartungen "119, so wird er unter Umständen mit einer "Verweigerung von Reziprozität"l20 reagieren. Um ein bestimmtes Verhalten Alters erwarten zu können, muß Ego vorgängig notgedrungen Alters Erwartungen in Rechnung stellen. In der Sache handelt es sich hier um nichts anderes als das, was bei Luhmann als "Erwartungen von Erwartungen "121 bezeichnet wird. Von Bedeutung ist aber auch hier die charakteristische Absetzung Luhmanns von Parsons' Position: Die "Reziprozität der Perspektiven" von Interakteuren wird bei Luhmann auf die Ebene der "Reflexivität" verlagert, und zwar bis auf die " dritte, vierte usw. Ebene der Reflexivität", bis zur Erwartung von "Erwartungserwartungserwartungen"l2t. 113 Bisweilen spricht Parsons weniger scharf - auch von bloßer "Mutualität" der Erwartungen, SS, S.ll. 114 z. B. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 32, dort auch Fn. 12. 116 z. B. SS, S.10, 94; Toward, S.16; zum Ursprung des Begriffes vgl. Schwanenberg, S. 225. 116 Toward, S. 15. 117 SS, S. 25. 118 SS, S. 205. 119 SS, S. 300. 120 SS, S. 300. 121 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 33. 122 Alle Zitate Luhmann, Rechtssoziologie, S.35; vgl. auch Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, JRR 1, S.l77; Reziprozität erfährt eine Behandlung nur als Prinzip archaischen Rechts, vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S.155 ff.

2. Recht und Handlungsorientierung

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Diese Verschiebung von "Reziprozität" zu "Reflexivität" ist für die Theoriebildung nicht von terminologischer Nebensächlichkeit. Die Kategorie der Reziprozität. in Parsons' Interaktionsschema enthalten123 , jedoch nicht weiter ausgebaut, bietet als analytische Kategorie Ansatzpunkte zu einer theoretischen Erfassung von Macht und Herrschaft. Denn Macht und Herrschaft sind - im Prinzip - gekennzeichnet durch die Abwesenheit sowohl von Reziprozität der Erwartungen als auch der "Mutualität der Gratifikationen"1!4. Reziprozität steht im Gegensatz zu gewaltsam erzwungener Leistung und einseitiger Gratifikation11!5. So stellt "dieses Austauschprinzip voller Reziprozität ... nur einen Pol eines Kontinuums dar, an dessen anderem Ende sich der Grenzfall einseitig unerwiderter Leistung findet. Solche Ausbeutungsverhältnisse können durch starke Machtunterschiede zwischen den Partnern, durch normative Kompensationsmechanismen ... oder durch eine ersatzweise Belohnung eines der beiden Partner von dritter Seite stabilisiert werden l21." Muß sich Parsons jedenfalls mit gewisser Berechtigung den Vorwurf machen lassen, daß er den Einfluß von Macht auf Interaktion, das "Interaktionsmuster Herr - Sklave"1!7 nicht weiter verfolgt, daß er "stets eine echte Reziprozität der Rollenerwartungen voraussetzt, d. h. jene Fälle ausklammert, in denen ein Machtgefälle Reziprozität ausschließt"l2t!, so beinhaltet Luhmanns Interessenverschiebung von der Reziprozität zur Reflexivität von Erwartungen eine Entmaterialisierung des Interaktionsschemas schon im Ansatz. Dies wiederum im Gefolge einer funktionalen Radikalisierung, für die Luhmanns "reflexive Mechanismen"l29 geradezu ein Schulbeispiel darstellen. Auch hierauf wird noch zurückzukommen sein. Bei Parsons enthält nun der Prozeß der Normentstehung im Interaktionsprozeß, jedenfalls in isolierter und unkomplizierter Interpretation, ein weiteres Element: das der übereinkunft. Symbolische Deutung, normative Definition der Situation gewährleistet nur dann und in dem Maße störungsfreie, d. h. hier: erwartungsgemäße, Interaktion, wenn und soweit die Symbole und Normen gekannt und anerkannt, "geteilt" (shared) werden. Interaktion hat also sowohl Errichtung als 128 Vgl. z. B. SS, S.25, 27; so auch die Feststellung von Gouldner, Reziprozität und Autonomie in der funktionalen Theorie, in: Hartmann (Hrsg.), Modeme amerikanische Soziologie, .Stuttgart 1967, S. 293 ff: (296). 124 Toward, S. 106. 125 Vgl. auch hierzu Gouldner, S. 295; Hartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, S. 1 ff. (27 ff.). 128 Mayntz, Soziologie in der Eremitage?, KZfSS 1961, S. 113. 127 Brandenburg, S. 55. 128 N olte, S. 157. 129 Vgl. Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung, S. 92 ff.

IV. Soziales Handeln

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auch Respektierung von "Zeichen", Normsystemen gewissermaßen gleichzeitig zur Folge und Voraussetzung. Hier liegt der berechtigte Kern zur Feststellung "einer Art Vertragstheorie der Normgenese"1311 bei Parsons. Normbegründung durch Interaktion verknüpft "Vertrag" aber auch mit einem speziellen, bereits beiläufig erwähnten Aspekt von Symbolund Normentstehung: mit Kommunikation. Parsons bezeichnet die Möglichkeit von Kommunikation als die wichtigste Einzelimplikation einer symbol- und normbildenden Generalisierung von PartikularsituationenUl • Damit ist Kommunikation nicht nur als Folge von Normsetzung angesprochen, sondern auch als deren Voraussetzung: Begründung von Vertrag setzt kommunikativen Kontakt voraus, oder mit anderen Worten: "komplementäre Verhaltenserwartungen" können nur dann in einen koordinierten Handlungserfolg einmünden, wenn sie - in der Terminologie juristischer Vertragsdoktrin - zuvor in komplementären, "zusammenstimmenden", "übereinstimmenden" "Willens"-Erklärungen mit~eteilt worden sind. Die Verknüpfung dieses kontraktuellen Elements mit dem schon vorgestellten obersten Handlungsziel einer möglichst positiven Gratifikations-Deprivations-Balance bringt das bis hierher geschilderte Interaktionskonzept und seine normative Grundlage in verdächtige Nähe zum vordem kritisierten utilitaristischen Modell. Denn die "verträgliche" Begründung von Normen erfolgt ja von Seiten Egos unter dem Gesichtspunkt, welche Gratifikationen, "Leistungen" aus dem Verhalten Alters für ihn entspringen - und umgekehrt. Verfolgung von "Selbstinteresse" scheint Motor l32 und "verständige Anpassung"133 Mittel in der normbegründenden Interaktion zu sein. Es kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden, welches Gewicht dem Interaktionsparadigma in den einzelnen Phasen der Theorieentwicklung zukommt und welche - z. T. dem theoretischen Selbstverständnis Parsons' im Grunde widersprechenden - Einflüsse (etwa des vordem abgelehnten amerikanischen Behaviorismus134) in das Paradigma eingegangen sind. Jedenfalls ist anzumerken, daß im Gesamt der Parsonsschen Theorie der utilitaristische touch des isoliert betrachteten Interaktionsparadigmas einige Relativierung erfährt. Die entscheidendste Relativierung hat die Preisgabe der Isolierung zur Folge: Zunächst wird die utilitaristisch-individualistische (oder auch: behavioristisch-psychologisch-hedonistische13$) Prägung, die das Para130 131 132 133 134

Ritsert, Substratbegrüfe, S. 126. SS, S.10. Schwanenberg, S. 225. Ritsert, Substratbegrüfe, S.124. Dazu Schwanenberg, ebenda und passim.

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digma besonders durch eine vordergründige Interpretation der Gratifikations-Deprivations-Balance erhält, dadurch abgeschwächt, daß "Gratifikation" und "Deprivation" ihrerseits im Lichte der Kontrollhierarchie zu sehen sind. Und das bedeutet im Grunde: daß eine isoliert individualistische Begründung von Gratifikations-, "Interesse"-Maßstäben den Möglichkeiten von Wirklichkeit und damit der analytischen Theorie nicht gerecht wird. Insbesondere würde sie Parsons' emphatischer Betonung allgegenwärtiger und unumgänglicher vorgängiger normativer Prägung dessen widersprechen, was im sozialen Bereich an Gratifikations-"Bedürfnis", an "Interesse" entsteht. ,,(Normen) regulieren nicht bloß die Wahl des Individuums von Mitteln für seine Zwecke; sondern gerade seine Bedürfnisse und Begierden selbst sind teilweise durch sie determiniertl3e." Eine isolierte Betrachtung des Interaktionsschemas brächte dieses also in Widerspruch zu der Theorie eigenen Voraussetzungen. "Im Licht der Kontrollhierarchie ist eine Normentstehung als ein am eigenen Nutzen orientierter und ausgehandelter Vertrag, d. h. eine Normentstehung auf Grund von triebhaften individuellen Interessen, eine Regression der Kontrolle wie eine Regression der Konditionalität in die Materialität - ein pathologischer (vicious circle), nicht ein Normalfall 1117 ." Parsons selbst hat in jüngerer Zeit138 in dieser Richtung wichtige Differenzierungen vorgenommen. Insbesondere weist er darauf hin, daß der Begriff der "dyadischen Interaktion", das "dyadische Paradigma" zwar geeignet sei, "gewisse Grundsätze von Interaktionsphänomenen zu klären", daß aber dyadische Interaktion nur einen "Grenzfall" betreffe, aus dem daher "nur mit Vorsicht Schlüsse allgemeiner Art gezogen werden" könnten. Denn: "Auf der einen Seite sind in einem Interaktionssystem die Möglichkeiten zur Instabilität, wie Hobbes es hervorragend analysiert hat, weit größer als in der Beziehung zwischen isolierten Aktoren und Umwelten, die nur Nichtaktoren, d. h. physikalische Objekte als signifikante Objekte enthalten. Auf der anderen Seite kann das Interaktionssystem, wenn die Autonomie jeder Handlungseinheit gegenüber ihrer Umwelt mit den Autonomien der anderen, mit ihr iriteragierenden Einheiten in t e g r i e r t 1S5 All diese Bezeichnungen tauchen in diesem Zusammenhang in der Parsons-Literatur auf, z. B. bei Brandenburg, S.51 Fn.27; Ritsert, Substratbegriffe, S. 122; Schwanenberg, S. 206 f., 220. 1SS SSA, S.377 (das "teilweise" wieder eine typische "strategisch plazierte Unschärfe"). 137 Schwanenberg, S. 227. 138 Andeutungsweise aber auch schon froher, vgl. z. B. Parsons, Systematische Theorie, S.54: "Doch aus dem Bezugsrahmen: Handelnder - Situation läßt sich die Struktur des sozialen Systems nicht direkt ableiten. Hierzu ist die zusätzliche funktionale Analyse jener Komplikationen erforderlich, die sich aus der Interaktion einer Vielzahl von Handelnden ergeben."

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ist, als Ganzes in hohem Grade an Autonomie oder Handlungsfreiheit gewinnen139." Hier liegt der im vorliegenden Zusammenhang wesentliche Punkt: Parsons weist im jüngsten Stadium der Theorieentwicklung dem Interaktionsparadigma und damit - das ist hier entscheidend - auch der "verträglichen" Begründung von Normen durch selbstinteressierte Einzelakteure lediglich den Status eines analytischen Grenzfalls zu. Er warnt nachdrücklich vor einer Aufwertung der dyadischen Interaktion von einem "Grenzfall" zu einem "typischen Fall": "Das dyadische Paradigma der Interaktion bildet auch einen speziellen Grenzfall hinsichtlich der Art und Weise, in welcher ein Interaktionssystem ein Kollektiv darstellt '" Die Behandlung der Dyade als eines typischen statt eines Grenzfalls perpetuiert tendenziell die utilitaristische Auffassung der Interaktion und spielt sowohl die Solidarität als auch die Rolle normativer Kultur zugunsten der ,Wünsche' von Individuen herab ... Dyadische Interaktionssysteme mögen Kollektive bilden und in signifikantem Maß solidarisch sein, aber sie sind immer Subsysteme von ausgedehnteren Sozialsystemen14o ." Angesichts dieser, in der gesamten späteren Theorieentwicklung sich ausprägenden Distanzierung von der Interaktionsdyade, insbesondere angesichts der antiutilitaristischen Stoßrichtung der Distanzierung muß auch jeder rechtssoziologische Versuch in die Irre gehen, der solche Distanzierung nicht zur Kenntnis nimmt und die "einfache Interaktionsbeziehung" zur Schlüsselkategorie der Parsonsschen Theorie erhebt141 • Konsequent muß die daran anknüpfende Normentheorie vorbeizielen: Sie kommt, was Parsons gerade vermeiden will, zu liberalistischen Konzepten, in denen "sich die Handelnden mit aller Freiheit spontaner Normsetzung gegenüber (stehen) " 142, in denen "Spontannormierung im gegenseitigen Kontakt"143 stattfindet. Dabei muß hier bereits darauf verwiesen werden, daß sich solche liberalistischen Konzeptionen insbesondere dem Parsonsschen "System"-Konzept widersetzen. Von liberalistischen Positionen muß demgegenüber der Vorwurf erhoben werden, daß Parsons das Konzept der einfachen Interaktionsbeziehung "in seinen theoretischen Darlegungen nicht in der Weise aus(arbeitete), die ihm seiner Bedeutung nach eigentlich zukäme" und: "vermutlich war er sich über diese Bedeutung selbst nicht im klaren144 ." Das Ignorieren der Parsonsschen Utilitarismuskritik wie 139 140

nal).

141 142 143 144

Parsons, Interaction, in: IESS, New York 1968, Bd.7, S. 436 ff. Alle Zitate aus Parsons, Interaction, S. 436 ff. (Hervorhebung im OrigiSo aber durchgängig Philipps, z. B. S. 55 ff. Philipps, S. 59. Philipps, S. 74. Beide Zitate bei Philipps, S. 60.

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auch des Stellenwertes des Parsonsschen Systemkonzepts haben ein im Wortsinn grundlegendes Mißverstehen der Theorie zur Folge. Es verlieren daher auch zahlreiche Darstellungen, die Parsons die eben von ihm abgelehnte Perpetuierung utilitaristischen Vertragsdenkens anlasten1", viel von ihrer überzeugungskraft. Denn sie beruhen allein auf der - von Parsons allerdings lange nicht entkräfteten - Isolierung des Interaktionsschemas148• Dessen ausdrückliche Einstufung als Grenzfall wie auch seine Interpretation im Lichte der übrigen Theorie werden jedenfalls im Ansatz exakt der Parsons entgegengehaltenen Feststellung gerecht, daß sowohl der "freiwillige Vertrag zwischen gleichberechtigten Partnern" wie auch das "Interaktionsmuster Herr - Sklave" "weit von der Mehrzahl ,realer' Interaktionen entfernt" sind und daß es "zwischen beiden ... eine gleitende Skala von übergängen" gibt147. Damit wird dem Vertragskonzept der Platz zugewiesen, der ihm zukommt: der eines für die Analyse bedeutsamen "Grenzfalls", durch den die Möglichkeit tatsächlich "verträglicher", d. h. nicht durch ein Machtgefälle zwischen Ego und Alter geprägter Interaktion offengelassen wird; nicht der eines "typischen Falles", der mit der Fiktion allgegenwärtiger "Verträglichkeit" die Allgegenwärtigkeit von Macht im Interesse von Macht leugnet. Aber nicht nur die Relativierung der Interaktionsdyade dokumentierte die Reduktion des Vertrages in Parsons' Theorie. Diese ist vielmehr schon im Frühwerk enthalten. Dies gilt insbesondere für Parsons' Auseinandersetzung mit Durkheims Vertragskonzept148. Mit diesem wendet sich Parsons gegen das individualistisch-utilitaristische Vertragskonzept und betont die "nicht-kontraktuellen Elemente im Vertrag"149. Das utilitaristische Vertragsmodell bietet keine Basis für soziale Ordnung. Angesichts der Tatsache, daß "a contractual agreement brings men together only for a limited purpose, for a limited time", erscheint für Parsons die utilitaristische Auffassung eine Illusion, nach der sich die Rolle der Gesellschaft gegenüber individualistischen Vertragsbeziehungen erschöpft in "only occasional intervention to straighten out a difficulty in a machinery which normally functioned quite automatically without 'social' interference"160. Mit Durkheim betont Parsons, daß sich die 146 Vgl. z. B. Rolshausen, S. 80 ff.; Ritsert, Substratbegriffe, S.119, 122, 123; ders., Systemstabilisation und Grundannahmen des Liberalismus - Aspekte funktionalistischer Grundbegriffe, in: ders., Erkenntnistheorie, Soziologie und Empirie, Frankfurt 1971, S. 154 ff.; abgeschwächt auch Brandenburg, S. 53 ff. 146 Typisch z. B. Ritsert, Systemstabilisation, S. 162 ff. 147 Brandenburg, S. 54, 55. 148 SSA, S. 301 ff. (311 ff.). 149 SSA, S. 319. 150 SSA, S. 313.

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vertragliche Verfolgung individueller Interessen immer abspielt innerhalb eines "framework of a body of rules, independent of the immediate individual motives of the contracting parties"151. In Parsons' Sicht "Durkheim's main stress is on the existence of a body of rules which have not been the object of any agreement among the contracting parties themselves but are socially ,given' "lU. Diese Charakteristik des Durkheimschen Interesses trifft auch ein wesentliches - im weiteren noch zu verdeutlichendes - Merkmal von Parsons' eigener Theorie: neben die wichtige Einsicht der normativen Regulierung vertraglicher Interessen - und dies ist die Reduktion des Vertrages - durch je schon "gegebene" Normenkomplexe tritt die Vernachlässigung der Interessenbindungen eben dieser Normkomplexe158. Schließlich ist darauf hinzuweisen: das nochmalige scharfe Absetzen vom utilitaristischen Modell durch Relativierung der Interaktionsdyade ist nicht zu trennen von der Sicht des Handlungskonzeptes aus der Systemperspektive. Parsons' Position unterscheidet sich damit wesentlich gerade von jüngeren Strömungen amerikanischer Soziologie, die von der Neigung geprägt sind, die "Elementarformen" sozialer Interaktion rationalistisch-individualistisch als Tauschprozeß zwischen Einzelpersonen zu interpretieren15C und damit wieder starke Rückwendungen zum utilitaristischen Modell vollzieheni55• Konsequenterweise gerät eine an Parsons anknüpfende Rechtssoziologie in die Kritik einer individualistischen, "personfunktionalen" Rechtssoziologie, die sich ausdrücklich auf die genannte soziologische Strömung beruftl58. c) Situationsdefinition durch Recht: Interpretation - Legitimation - Sanktion

Unter einem besonderen Blickwinkel ist das Verhältnis zwischen Parsons' Normkontinuum und Handlungsorientierung noch einmal aufzurollen. Parsons sieht - wie bereits betont - Recht als Bestandteil einer allgemeinen normativen Ordnung. Wenn Normen aus der Sicht des Handelnden allgemein "spezifische Weisen der Orientierung zum Handeln"157 bereitstellen, so kann für Rechtsnormen nichts anderes gelten: Parsons behandelt demzufolge "Recht als einen allgemeinen 151 SSA, S.314. 152 SSA, S. 312. 153 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bergmann, S. 13 ff. 154 Vgl. z. B. Homans, Soziales Verhalten als Austausch, in: Hartmann, S.173 ff.; auch Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, Köln-Opladen 1968; hierher gehören auch Autoren wie Peter M. Blau und William J. Goode. 155 Hierzu auch kritische Ausführungen von Hartmann, S. 30 f. 156 Vgl. Schelsky, JRR 1, S. 51 ff., 70 ff. 157 Parsons, System, S. 15.

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normativen Code, der die Handlungen der Mitgliedseinheiten einer Gesellschaft regelt und die jeweilige Situation für sie definiert" 168. Allerdings: Normen müssen nicht nur formuliert werden, "they do not operate automaticany"15t~ Situationsdefinition und damit Handlungsorientierung leisten Normen vielmehr nur dann, wenn ihr Inhalt feststeht, m. a. W.: Wenn der Handelnde weiß, welche Handlungsanweisung die Norm enthält. DieSe Orientierungssicherheit160 ist jedoch überaus prekär, da die Norm schon immer eine Abstraktion darstellt, eine "Generalisierung" gegenüber den Besonderheiten je konkreter Situationen161 . Dies führt sowohl zu Fällen, in denen eine Norm für eine konkrete Situation keine eindeutige Handlungsanweisung gibt, als auch zu solchen, in denen mehrere Normen in einer Situation widersprüchliche Handlungsanweisungen gebenlu. Angesichts solcher Gefährdung des "Orientierungssystems" sieht Parsons von verschiedenen Funktionen die "Interpretation als die zentrale Funktion eines Rechtssystems" anl «!. Neben dem Interpretationsproblem befaßt sich Parsons noch mit dem - aber wohl nur einen UnterfaIl des Interpretationsproblems darstellenden - "Anwendbarkeitsproblem" (problem of applicability of alternative norms): "This type of problem is most clearly seen in the case of a developed legal system, where quite clearly one of the most important functions of the courts is to determine which of a plurality of rules or precedents 'governs' in a particular case. This possibility of 'conflict of rules' is inherent in the nature of a system of generalized norms and becomes a more acute problem in proportion to their generality and complexity. This is because generality implies abstractness, and abstractness means that one rule does not alone 'cover' the concrete case, since the case will inevitably have a variety of aspects to which a corresponding variety of generalized norms is relevant164 ." Norminterpretation hat die Aufgabe, "normative Konsistenz"l6S herzustellen. Diese Konsistenz hat zwei Dimensionen: Einmal muß - gewissermaßen in einer horizontalen Ebene - sichergestellt sein, daß gleichrangige Normen keine 168 Parsons, System, S. 30.

Parsons, Structure, S. 190. VgI. in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von "Orientierungssicherheit" und "Realisierungssicherheit" bei Geiger, Vorstudien, S. 101 fi. 161 SS, S. 269. 18Z Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 122 f.; SS, S.269. 163 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S.126; ders., Structure, S. 190 f; SS, S. 269, 271; ders., A Sociologist looks at the legal profession, in: Essays in Sociological Theory, revised edition, New York 1964, S. 370 ff. (375); ders., Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 204. . 164 SS, S. 271/272. 165 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S.122;vgl. auch Structure, S.190: "mutual consistency of norms";. ders.;System,..S. 21: "normative Kohärenz". 158

180

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widersprüchlichen Handlungsanweisungen geben, "daß Normen im IdealfalP66 in den ihnen unterstellten Individuen nicht miteinander unvereinbare Erwartungen oder Verpflichtungen hervorrufen"167. Eine zweite - vertikale - Dimension der Interpretation betrifft den Umstand, daß Einzelnormen und auf ihnen beruhende Einzelentscheidungen sich jeweils durch allgemeinere Normen "legitimieren" müssen. In der juristischen Praxis taucht dieses Problem zwar fast ausschließlich nur als die Frage nach einer höherrangigen Norm auf, einer "höheren gesetzlichen Autorität, z. B. der Verfassung, und nicht der moralischen Legitimation der Verfassung selbst " 188. Dennoc.'I]. entsteht an dieser Stelle für eine allgemeine normative Theorie letzten Endes die Frage nach "echter Legitimation", "letzter Legitimation "1". Parsons entwickelt keine Legitimitätstypologie wie etwa Max Weber170 , sondern behandelt Legitimation von vornherein als Konsensproblem, genauer: als Problem eines Wertkonsenses. Die in einer Gesellschaft institutionalisierten Normen erhalten ihre Legitimation "durch den Konsens ihrer Mitglieder über Wertverpflichtungen", durch einen "Konsens der Mitglieder über die Wertorientierung bezüglich ihrer eigenen Gesellschaft"l71. Auch hier betont Parsons sofort, daß es sich dabei nicht um konstante Größen handelt, daß Konsens vielmehr "relativ" ist, und es demzufolge um den "G rad der Legitimation" gehe17~.

Es ist bedeutsam, daß Parsons' Ansatz es bei dieser Problematik von Legitimation, und das heißt nach dem Gesagten: Problematik von Konsens, beläßt und nicht etwa wie bei Luhmann angesichts dieser Problematik Legitimation überhaupt ersetzt wird durch Unterstellung von Legitimation, durch "Unterstellung von Konsens", durch "mehr oder weniger fiktiven Konsens"173. Dabei wird diese Unterstellung von . 168 Hier wie an jeder Stelle des Systems ist zu vergegenwärtigen, daß Parsons "Konsistenz" (ebenso wie "Integration") nicht konstatiert, sondern ein Instrumentarium zur Analyse der Bedingungen gesellschaftlicher Ordnung, Integration etc. entwickeln will. Daß solche analytischen Modelle nicht unabhängig von normativen Implikationen sind, sollte besonders an H".nd der Grundlagen von Parsons' Theorie gezeigt werden. 187 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 122. 188 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S.125. 169 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 125, 126. 170 Vgl. zu Legalität und Legitimität bei Max Weber die Ausführungen von Loos, S. 115 ff. 171 Parsons, System, S.18; ders., Structure, S.19l. 172 Parsons, System, S. 18 (Hervorhebung von mir, R. D.). 173 Luhmann, JRR 1, S.188/189; so auch immer wieder Luhmann, Rechts-. soziologie, z. B. S.94, 107; ders., Institutionalisierung - Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 27 ff. (32); auch Luhmann setzt Legitimität mit Konsens gleich (Rechtssoziologie, S. 262), weshalb auch die Unterstellung von Konsens der Unterstellung von Legitimität gleichgesetzt werden kann.

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Konsens - angesichts der Problematik faktischen Konsenses - durch "Institutionalisierung" erreicht174, wobei Luhmann zu Recht auf die Differenz zwischen seinem und Parsons' Institutionalisierungsbegriff hinweist17li• Auf Parsons' Institutionalisierungsbegriff wird noch zurückzukommen sein; im hier erörterten Zusammenhang ist der Hinweis notwendig, daß es Luhmann darum geht, durch Institutionalisierung von "Verfahren" die Legitimität des Rechts "von gesellschaftlich durchgehend institutionalisierten Wertvorstellungen unabhängiger" zu machen 176, während es für Parsons bei Institutionalisierung gerade umgekehrt um die "Realisierung der kulturellen Wertmuster" geht177 . Luhmanns funktionale Radikalisierung hat hier, analog zur noch zu erörternden Trennung von Recht und Moral, die Trennung von Legitimation und Wertkonsens zur Folge. Der zutreffende Problemtitel wäre daher "Unterstellung von Legitimation durch Verfahren". Zu Recht ist deshalb von rechtstheoretischer Seite unter dem Problemtitel "Systemtheorie und Konsensproblematik" gegen Luhmann eingewandt worden, daß er am "Selbst- und Normverständnis der Verfahrensbeteiligten"178 vorbeigehe und daher in seinem "System Verfahren" "dem Lernprozeß ohne Internalisierungsanforderung auf Seiten der Umwelt ... ein Anwendungsprozeß ohne überzeugungsanforderung auf Seiten der Juristen (entspricht) "179. Dabei ist auch hier der eigentlich kritische Punkt, daß Luhmann diese Unterstellung von Legitimation, die konkrete Verfahren und gerade auch Gerichtsverfahren in mehr oder weniger starker Ausprägung sicherlich häufig vornehmen, nicht konstatiert und problematisiert, sondern postuliert als " Notwendigkeit " und "unabdingbare Voraussetzung"l80. Die durch den entwickelten Gedankengang hergestellte Verbindung zwischen Handlungsorientierung, Norminterpretation und Legitimation in Parsons' Theorie findet im Rechtssystem einen Kristallisationspunkt in der Verfassung. "In der Durchdringungszone zwischen Normenerhaltungssystem und gesellschaftlicher Gemeinschaft bestimmt das Verfassungselement die Grundzüge des normativen Rahmens"181. Einfallstor von konsensgetragener Legitimation, von "moralischer Legiti174 Luhmann, JRR 1, S. 188. 175 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 65 Fn. 73, S. 304 Fn. 23. 171 Luhmann, JRR 1, S. 189; zum Ganzen Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied-Berlin 1969. 177 So die eigene Formulierung von Luhmann, Rechtssoziologie, S.304; zu Parsons' Begriff der Institutionalisierung vgI. auch Schrader, Soziale Welt 1966, S. 111 ff. 178 Esser, S.21O. 179 Esser, S.202. 180 Luhmann, JRR 1, S. 189. 181 Parsons, System, S. 30.

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mation" in das Rechtssystem ist also das "konstitutionelle Element", das zwar nicht" ,rein moralischer Natur' " ist, aber "staatsbürgerliche Moralität (erfaßt)". Das "moralische Element" in der Verfassung ist dabei sowohl Bindeglied zum gesellschaftlichen Grundkonsens wie auch "Grundlage für legitimierten Widerstand, vom geringsten Ungehorsam bis zur Revolution"181!. Der Grundkonsens gewährleistet jedoch noch keinen Schutz gegen illegitimen Machtmißbrauch durch Inhaber von Herrschaftsfunktionen in Einzelfällen. Solcher Machtmißbrauch wäre nicht zu verhindern, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft "den ,Herrschern' die uneingeschränkte Legitimation gewähren sollte, je nach ihren eigenen Auslegungen dessen, was öffentliches Interesse sei, zu handeln"I83. "Daher ergibt sich als zweiter Aspekt des konstitutionellen Elements die normative Definition der breiten Ermessensfunktionen der Regierung, einschließlich des Ausmaßes und der Grenzen der Amtsgewalt der verschiedenen Regierungsinstanzen184. " Hinzuzufügen ist hier jedoch - worauf Parsons nicht eingeht - , daß auch die zuletzt genannten "normativen Definitionen" wiederum interpretiert werden müssen, und diese Interpretation ihre Kontrollkapazität nur aus über diesen "Definitionen" gelegenen Bereichen der Kontrollhierarchie, letztlich also dem Grundkonsens entnehmen können. Hier ist anzufügen, daß Parsons sich durchaus der Allgemeinheit seiner Konzeption bewußt ist. Trotz Grundbezugsrahmen und Kontrollhierarchie geht er nicht aus vQn einem "ideal legal system as one for which most even quite detailed precepts could be logically deduced from first principles. One may doubt whether any visible system of law has ever concretely been developed in this way, certainly least of all Anglo-American Common Law, which has been buHt up bit by bit from cases, gradually widening its ranges of generalizationl85." Ungeachtet dessen aber führt kein Weg daran vorbei, daß "Interpretation" grundsätzlich Bezugnahme auf Normen von größerem Allgemeinheitsgrad voraussetzt. Interessant gerade im Rahmen dieser die Grundlagen der Theorie betonenden Arbeit ist der in diesem Zusammenhang gezogene Vergleich zwischen wissenschaftlichem Theoretiker und Richter, speziell dem Rechtsmittelrichter "whose primaryfunction for the system is not the disposal of cases, but rather the interpretation of rules at the higher levels of generality, their codification in relation to general principles, testing for consistency"l80. Das bedeutet aber 182 183 184 186 186

Alle Zitate bei Parsons, System, S. 30. Parsons, System, S.31. Parsons, System, S. 30. Parsons, The Point of View of the Author, S. 321. Parsons, ebenda.

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nichts anderes, als daß es für Theoretiker und Richter gleichermaßen keine theorielose Empirie gibt oder - juristisch - : "Einzelfallgerechtigkeit" ist nicht unabhängig von einem - mehr oder weniger konsistenten Normsystem zu erreichen, aus dem sich Kriterien für den Standard "Gerechtigkeit" ergeben. Die Orientierungsfunktion des Rechts hat schließlich auch die Konsequenz, daß realitätsferne übertrieben "formalistische" (und daher gerade nicht "orientierende") Norminterpretation im Lichte der Parsonsschen Theorie als "zwanghaftes" Verhalten erscheint. Hier wird ausdrücklich Verhalten des Rechtsstabs als "abweichendes Verhalten" begriffen187 • Das korrespondiert mit anthropologischen Analysen von Rechtserlebnis und Rechtsverhalten, wonach "zwanghafte Diener des Gesetzes ... im humanen Realitätsbezug durch abstrakt formalistische Gesetzestreue (versagen). Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, entsozialisieren sie das Rechtl88." Noch in einer Richtung muß die Kette Orientierung - Interpretation - Legitimation verlängert werden. Legitimation betraf u. a. die Rückführbarkeit von Herrschaftsausübung auf Mitgliederkonsens. An dieser Stelle taucht aber auch das Problem von Sanktion und speziell von physischem Zwang bei Normabweichung auf. Dabei ist besonders ein Charakteristikum der Parsonsschen Rechtstheorie bemerkenswert: Physische Gewalt, die so oft zum Kriterium von Recht überhaupt gemacht worden ist l89 , gehört - worauf auch Luhmann ausdrücklich hinweistl90 und worauf in modifizierender Weise unter dem Systemaspekt noch zurückgekommen wird - in Parsons' Analyse von vornherein und prinzipiell nicht zum Rechtssystem, sondern zum "politischen" System191 • Andererseits liegt die Beziehung zwischen Rechtssystem und politischer Organisation gerade und "hauptsächlich in der Tatsache begründet, daß an bestimmten Punkten die Frage nach dem Gebrauch physischer Gewalt und deren Androhung als Zwangsmittel, das heißt einem Mittel zur Durchsetzung der Verbindlichkeit der Norm, unweigerlich auftauchen muß " 192. Hier soll noch nicht auf die Problematik der Parsonsschen Bildung von Subsystemen und deren Beziehungen eingegangen werden; hier geht es zunächst darum, welche Konsequenzen die analytische Zuweisung von Zwang als Mittel der Normdurchsetzung an "politische", 187 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S.128/129; ders., A sociologist looks at the legal profession, S.377. 188 Gschwind, Anthropologische (bewußte und unbewußte) Voraussetzungen des Rechtserlebnisses und Rechtsverhaltens, JRR 3, S. 17. 189 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S.107. 1~O Luhmann, Rechtssoziologie, S.107 Fn.127. 191 Parsons, Structure, S. 191. 192 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 124.

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also an in einem unmittelbaren Sinne Regierungs-, Herrschaftsfunktionen ausübende Instanzen für das Verhältnis von Handlungsorientierung und Recht hat. Die wichtigste dieser Konsequenzen ist m. E., daß in Parsons' Ansatz Recht grundsätzlich unabhängig von Gewalt denkbar bleibt. Für Rechtsnormen bleibt damit wie prinzipiell für alle Normensysteme das Kriterium der Handlungsorientierung und damit der Motivationssteuerung wesentlich. Gegenüber dieser positiven Funktion bleibt - in einer überspitzenden Gegenüberstellung - die Funktion der aus dem Rechtssystem "ausgegliederten" physischen Gewalt grundsätzlich negativ: erscheinen (Rechts-)Normen als handlungsunterstützend, so wirkt physische Gewalt nur handlungsverhindernd. Durch Gewalt "action can be blocked". Die im Grunde zynische Wirkungsweise von Gewalt zeigt sich in ihrer letzten Konsequenz: "in the very last analysis, in the human social sense of action, a dead man does not act l93 ." Gegen das Argument, daß "in the last analysis human action is controlled by force, or motivated by fear of force", setzt sich Parsons deshalb zur Wehr: "to imply that because a factor can pr e v e n t something or s top it, the whole process is determined by that factor is to argue as if, by equipping a vehicle with sufficiently powerful brakes alone you could make it run and steer it anywhere you wanted it to golt4." Parsons problematisiert das Vorhandensein von Zwang und physischer Gewalt nicht weiter. Insbesondere verbleibt physischer Zwang - aus dem Rechtssystem verdrängt - quasi selbstverständlicher Bestandteil des "politischen" Systems, als "ultimate sanction"195, als "an ultimately effective means"l" an einem Extrempol einer "kontinuierlichen Sanktionsskala"l97. Hier gehen besonders deutlich normative und wenn man so will: ,.konservative" Vorgaben in die Analyse ein. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß für Parsons das Zwangsproblem vorwiegend ein Problem der - normativen - Kontrolle und Legitimation von Zwang istl9S . Die Verdrängung des Gewaltkonzepts aus dem Recht und die normative Steuerung von Gewalt bieten daher Ansätze zur Erfassung nicht nur von gewaltsamer Kontrolle, sondern auch von Kontrolle der Gewalt. Dies gibt der Parsonsschen Rechtstheorie eine eigentümliche Position gegenüber "Zwangstheorien" des Rechts, die entweder 193 Parsons, Structure, S. 260. 194 Parsons, Structure, S. 260 (Hervorhebungen von mir, R. D.). 195 Ebenda. 196 SS, S. 162. 197 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123. 198 Vgl. Parsons, Structure, S.261 u. 262, wo es beide Male um "control of the use of force" geht.

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- in positiv klassisch-bürgerlicher Perspektive - die selbstverständliche Verknüpfung von Recht und Zwang betonen oder - in kritisch marxistischer Perspektive - Abbau und Verschwinden von Herrschaft und gesellschaftlichem Zwang mit Abbau und Verschwinden des Rechts gleichsetzen199• Das genannte Merkmal der Parsonsschen Rechtstheorie wird demjenigen nicht als Vorteil erscheinen, dem die "Erfahrung" der Menschheitsgeschichte Anlaß genug ist, von der naturwüchsigen Unzertrennlichkeit von Zwang und Recht auszugehen. Anders aber, wenn diese Auffassung als unzulässige Festschreibung betrachtet wird, die im Grunde normative Verhaltensorientierung ohne Zwang als Un-Denkbares und damit als Un-Machbares vorstellt, damit aber ideologische Funktionen im Interesse von Zwang erfüllt. Ein analytisches System wie das Parsonssche stellt sein Fassungsvermögen nicht durch möglichst viele Unmöglichkeitspostulate unter Beweis, sondern durch den Nichtausschluß von - angesichts bisheriger Erfahrung angeblich unmöglicher - Möglichkeiten. Daß dies die Stelle ist, an denen Theorien ihren Gehalt an "Utopie" erweisen, wird nur den schrecken, für den die illegitimität von Utopie auch in heuristischer Absicht ausgemacht ist. Wenn Parsons' Theorie die Diskussion von Recht unabhängig von Zwang zuläßt, ist dies ein Punkt, an dem sich erweist, daß diese Theorie - trotz aller Konservativismen - mehr "Utopie" und dadurch weniger Ideologie enthält als manche Theorie, die aus dem Vorhandensein von Rechtszwang auf die Unmöglichkeit von "zwanglosem" Recht schließt2OO • Die Funktion von Normen als handlungsleitende Orientierungskriterien läßt für das Recht Konsequenzen ziehen, die von Parsons' Theorie in dieser Form nicht gezogen, wohl aber in ihr angelegt sind. In thesenartiger Form: Wo Recht nicht orientiert, dort motiviert es auch nicht, und wo es nicht motiviert, kann es Zegitim auch nicht sanktionieren. An dieser Stelle kann nicht auf alle provozierten Einwendungen eingegangen werden, so etwa nicht auf das Problem der Gesetzessprache oder dem, daß spezialisierte Rechtsnormen etwa prozeß-, patent- oder sachenrechtlicher Art schlechterdings ohne Eignung und ohne Absicht in Hinblick auf Orientierung und Motivierung sozialen Handelns seien. Hier hätte eine die formulierte These differenzierende und präzisierende Theorie der Rechtswirkung anzusetzen, die hier nicht weiter verfolgt werden kann201 • Hier wird davon ausgegan189 Selbstverständlich ist diese Gegenüberstellung wieder eine solche von kaum erlaubter Globalität, die interne Problematisierungen beider Pole vernachlässigt (etwa die neuere Diskussion zur marxistischen Rechtstheorie). 200 VgI. in diesem Zusammenhang Messelken, S. 152 ff. (158, 161, 163, 181). 201 Vgl. in diesem Zusammenhang M. Rehbinder, Rechtskenntnis, Rechtsbewußtsein und Rechtsethos als Probleme der Rechtspolitik, JRR 3, S. 25 ff.

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IV. Soziales Handeln

gen, daß das gezeichnete schematische Verhältnis zwischen Handlungsorientierung, Legitimation und Sanktion jedenfalls im Grundsatz seine Berechtigung hat.

v. Das Systemmodell 1. Die Perspektive Die Systemperspektive war im Vorangehenden ebensowenig völlig abwesend, wie innerhalb des "eigentlichen" Systemkonzepts das Interaktionsschema in der vorgestellten und weiter ausgearbeiteten Fassung verschwindet. Die Verbundstelle zwischen beiden Perspektiven - das ergibt sich schon aus früheren Ausführungen - ist in der Parsonsschen Theorie nicht endgültig ausgemacht, ja vielleicht die unklarste Stelle der Theorie überhaupt. In der Parsons-Literatur wird das Verhältnis des "einseitig individualistischen"1 Theorieansatzes der Frühzeit zum Systemkonzept, die Frage, ob es sich um "logisch voneinander unabhängige Begriffswerkzeuge"! oder um wissenschaftlich fruchtbare "inkongruente Perspektiven'" (oder um ein drittes) handelt, nicht einheitlich beurteilt. In der Parsons-Kritik ist das Handlungskonzept vorwiegend Ansatzpunkt für eine Kritik liberalistischer Grundannahmen, das Systemkonzept Nachweis für den subjekt-feindlichen, herrschaftsund status-quo-ideologisierenden bias der Theorie. Parsons selbst betont immer wieder den evolutionären, vorläufigen Charakter der gerade erreichten Theorieposition. Hinsichtlich der konkreten Frage nach dem Verhältnis von früherer "Handlungstheorie" und späterer "Systemtheorie" ist Parsons' Forschungsstrategie eigenwillig und problematisch. Auf der einen Seite stehen Hinweise auf eine Distanzierung vom frühen Handlungskonzept etwa durch seine Kennzeichnung als "krypto-utilitarian individualistic cast'" oder der Warnung, daß eine falsche Einordnung des Interaktionsschemas "tendenziell die utilitaristische Auffassung (perpetuiert)"15. Andererseits wendet sich Parsons der zweiten, der "System"-Perspektive zu, ohne die unter der früheren "Aktion"-Perspektive entwickelten Einzelkonzepte hinter sich zu lassen. Diese werden vielmehr in beträchtlichem Maße mitgenommen und in neue Konzepte "eingebaut". Da der Prozeß der Perspektivenverschiebung ein allmählicher ist, in dem die Brandenburg, S. 72. Brandenburg, S. 23. a Zum Begrüf vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, in: ders., Soziologische Aufklärung, S. 68. 4 Vgl. bei Schwanenberg, S.182 Fn.24. 11 Parsons, Interaction, S. 436 ff. 1

2

6 Damm

V. Das Systemmodell

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Systemtheorie immer mehr in das Zentrum des Parsonsschen Interesses tritt, wird das Schicksal der Handlungstheorie konkret dadurch gekennzeichnet, daß sie der Systemtheorie "immer mehr subsumiert und auf sie hin wngeschrieben wird"s. Hierin, genauer: in dem nicht immer geklärten Stellenwert älterer Theoriepartikel liegt das Problematische des Verfahrens. Der Grund für viele unklare, ja zwiespältige Interpretationsmöglichkeiten (etwa die beschriebenen zum Vertragskonzept) ist hier zu suchen. Jedenfalls scheint eine Feststellung unumgänglich: Die Übernahme in neue Diskussionszusammenhänge unter neuer Perspektive hat zur Folge, daß alte Konzepte nicht mehr die alten sind. Der Notwendigkeit, diesen Umstand zu berücksichtigen, wird die Parsons-Literatur nicht durchgängig gerecht. Entsprechend den angedeuteten Grundpositionen wird in der Parsons-Kritik die Wendung des Parsonsschen Interesses von "Handlung" zu "System" gegenläufig beurteilt. Einerseits wird der Perspektiventausch begrüßt als Einsicht in das "Ungenügen rein individualistischer Kategorien"7; andererseits wird - gerade unter rechtssoziologischem Aspekt - bedauernd festgestellt, "daß es insbesondere in der handlungs-theoretischen Phase seines (d. L: Parsons') theoretischen Denkens Ansätze gibt, die eine weit mehr auf das Individuum bezogene Rechtssoziologie erlauben. In dieser Richtung liegen die von Parsons ausgehenden rechtssoziologischen Konzeptionen N. LuhmannsB." Was schließlich die Systemperspektive außerhalb des engeren thematischen Umkreises von Parsons' Werk betrifft, so kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher darauf eingegangen werden. Dies trifft insbesondere zu für die begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Dimension des Systemkonzepts. In dieser Hinsicht sind verschieden weitreichende Rückverfolgungen vorgenommen worden: zu den Systemvorstellungen der funktionalen Kulturanthropologie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts9 , weiter zum Begriff des sozialen Systems in der älteren Soziologie des vorigen Jahrhunderts 10 , weiter zur philosophisch-theologischen Tradition des Systemgedankens im mittelalterBrandenburg, S. 23. Sch1ottmann, S. 29. B Schelsky, JRR 1, S.57. 9 Vgl. vor allem Tjaden, Soziales System und sozialer Wandel. Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung zweier Begrüfe, Stuttgart 1969, S. 85 ff.; auch Tjaden, Zur Kritik eines funktional-strukturellen Entwurfs sozialer Systeme, KZfSS 1969, S. 752 ff.; zu einem verwandten Begriff vgl. Steinbeck, Einige Aspekte des Funktionsbegriffs in der positiven Soziologie und in der kritischen Theorie der Gesellschaft, Soziale Welt 1964, S. 97 ff. 10 Tjaden, Soziales System und sozialer Wandel, S. 85 ff.; Narr, Theoriebegriffe und Systemtheorie, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz, 2. Aufl. 1971, S. 89 ff. 8

7

1.

Die Perspektive

88

lichen und frühneuzeitlichen Denkenll , weiter schließlich bis hin zur alteuropäischen Gesellschaftsphilosophiei!. Ähnliches gilt für Komparatives zur Systemperspektive in Biologie, Mechanik, Ethnologie, Wirtschafts- und Rechtstheorie13. Für den hier erörterten Zusammenhang verdient Erwähnung: daß als Wurzel verschiedenster Systemvorstellungen, und seien es solche von zeitlich epochaler Differenz, im Grunde immer Auffassungen von Systematik als Prinzip des Denkens und Systematik als Prinzip des realen Prozesses auszumachen sind. Die Erörterung der Parsonsschen Grundlagen hat das für diesen Autor in beiderlei Hinsicht überdeutlich gemacht. Denken ist immer ein von einem theoretischen System geleitetes Denken und Parsons' Wirklichkeitsbegrüf als eines Kontinuums von übereinander sich erhebenden Systemen läßt einen auf Leibniz zielenden Satz auch für Parsons passend erscheinen. Auch sein Denken "beruht auf dem Vertrauen, daß die Welt letztlich selber systematisch ist; es ist das Vertrauen, daß auf dem Grunde des Vielen sich die Einheit behauptet"14, Das Problemspektrum des Konzepts "System" reicht damit insoweit an die Wurzel menschlichen Denkens, als dieses nur als ordnender, "systematisierender" Prozeß sich vollziehen kann, der es im übrigen immer mit Embryonalkategorien systemtheoretischer Vorstellungen zu tun hat: denen wie "Ganzes" und "Teil", Die Auseinandersetzungen speziell in den Sozialwissenschaften spielen sich erst oberhalb dieser Ebene ab: dort, wo es um die Bestimmung dessen geht, was als "Ganzes" und was als "Teil" anzusehen ist und welchen Erklärungsstatus das eine für das andere hat. Es steht daher primär nicht das Konzept "System" als solches im Streit, sondern konkrete Entwürfe von Systemtheorie, etwa von "interaktionistischen", "allgemeinen", "kybernetischen", "struktur-funktionalen", "funktional-strukturellen" oder - grundsätzlicher - "historisch-materialistischen" Systemtheorien. Für all diese Entwürfe gilt aber, daß "die zunehmende Beschäftigung der Soziologie mit Systemen und Systemanalysen , , , sich kaum isoliert von dem Einfluß untersuchen (läßt), den das Werk von Talcott Parsons auf die theoretische Orientierung dieser Wissenschaft ausgeübt hat"IS, Narr, ebenda. Luhmann, Moderne Systemtheorie als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 7 ff.; Luhmann, Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung, S. 137 ff. 13 Vgl. hierzu andeutungsweise Narr, S. 92 fi. 14 Wildermuth, Der Mensch im System von Leibnitz, zitiert nach Narr, 11

12

S.90.

15 Clemenz, Soziologie zwischen Erfahrungswissenschaft und Spekulation, NPL 1969, S. 58.

V. Das Systemmodell

2. Systemtypen - Systemebenen a) Interdependenz - Independenz - Interpenetration

Auf der philosophischen Grundlegung einer als durchgängiges Kontinuum begriffenen Realität geht die theoretische Zielsetzung nach Parsonsschem Selbstverständnis auf eine "allgemeine" Handlungstheorie aus. Diese allgemeine Handlungstheorie soll letztlich alle Formen menschlichen Verhaltens, individuelles und kollektives, auf allen denkbaren Ebenen erfassen. "So zieht sie (d. L: die Theorie) nach ihrem eigenen Verständnis in sich hinein nicht nur alle und so entgegengesetzte soziologische Phänomene wie Integration und Konflikt, mikro- und makroskopische soziale Erscheinungen, sondern auch auf der Erstreckung des Kontinuums so entfernte Gegebenheiten wie kulturelle Normen und organismische Enzyme. Die Theorie des Handelns ist ihrer Zielsetzung nach die umfassende Theorie für alle Wissenschaften von den lebenden SystemenlI." Solche Theorie kann nur im kooperierenden und koordinierenden Zugriff all der Einzelwissenschaften entworfen werden, die mit menschlichem Verhalten im weitesten Sinne befaßt sind, so etwa neben der Soziologie auch Psychologie und Anthropologie17 • Besonders hier wird deutlich, wie sehr sich Parsons' Werk auf die nie aufgegebene Überzeugung gründet, daß Evolution menschlichen Wissens und die Wissensakkumulation der Wissenschaften primär in einer Konvergenzbewegung dieser Wissenschaften beruht, die sich "weniger auf die Anreicherung empirischen Tatsachenwissens als auf das Zusammenwachsen und den Einklang theoretischer Systeme als solcher" bezieht18• Die Überzeugung, daß der theoretische Fortschritt der betreffenden Wissenschaften sich zwar nicht identisch, wohl aber homolog vollzieht, bringt Parsons zu dem Postulat: "Die Wissenschaft lebender Systeme ist letztlich eine Wissenschaft und kein Aggregat unverbundener Einzelwissenschaften1'." An dieser Stelle ist nun von entscheidender Bedeutung, daß Parsons das Erkenntnisobjekt der anvisierten Handlungstheorie von vornherein mit dem Konzept "System" zu erschließen versucht: Die "Allgemeine Handlungstheorie" ist befaßt mit dem Entwurf eines "Allgemeinen Handlungssystems"20, das imstande ist, konkretes Handeln in allen seinen Dimensionen zu erfassen. Dies ist jedoch nur möglich durch Schwanenberg, S. 85/86. Den konkreten Versuch, zur weiteren Entwicklung solcher allgemeiner Handlungstheorie interdisziplinäre Theoriediskussion in Gang zu bringen, stellt Toward dar. 18 Schwanenberg, S. 81. 19 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 158 (Hervorhebung im Original). 20 Vgl. z. B. Parsons, System, S.12. 18

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2. Systemtypen - Systemebenen

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eine vorgängige analytische Zergliederung des "Allgemeinen Handlungssystems" in spezifische Subsysteme, die jeweils nur bestimmte Aspekte konkreten Handelns fassen. Diese Subsysteme sind für Parsons: der "Verhaltensorganismus" (behavioral organism), das "Persönlichkeitssystem" (personality system), das "soziale System" (social system) und das "kulturelle System" (cultural system)21. Je konkretes Handeln schließt für Parsons Prozesse auf allen vier Systemebenen ein, hinsichtlich derer Parsons immer wieder davor warnt, sie als "konkrete Seinseinheiten" statt als das zu begreifen, als was sie konzipiert sind: als "analytische Konstruktionen"u. Dabei ist der theoretische Status der Subsysteme des HandeIns mehrwertig: Zum einen sollen sie die Ebenen konkreten - individuellen oder kollektiven - Handelns mit je unterschiedlichen Gesetzen bezeichnen, zum anderen sollen sie analytische Schnitte durch die gleichen konkreten Objekte legenD. Diese Ambivalenz von Gleichheit und Verschiedenheit steht in Verbindung mit einer weiteren Grundpolarität der Systemtheorie, der von Ganzheit und Teil. Denn ob etwas als "Ganzes" oder "Teil" erscheint, ist lediglich eine Sache des Bezugspunktes. So bezeichnet Parsons die Unterscheidung zwischen "Einheit" und "System" ausdrücklich als relativ: "Was unter dem einen Gesichtspunkt eine Einheit ist, kann immer von einem anderen aus als System behandelt werden; diese Ansicht von makroskopischen - mikroskopischen Beziehungen ist grundlegend für unsere gesamte Behandlung des Handelnst4." "Greift der Lichtkegel der Theorie statt eines Gesamtsystems eine Systemeinheit heraus, so erscheint diese selbst als Subsystem mit einer ähnlichen Grundstruktur wie der des übergeordneten Systems und ihrerseits zusammengesetzt aus einer Verschachtelung weiterer Systeme, Subsysteme und letztlich Systemelemente5." Diese Relativität der Systemperspektive läuft nicht auf Isolierung von Gesamtsystem und Subsystem und von Subsystemen untereinander hinaus. Im Gegenteil gehört es zu den im folgenden immer mitzudenkenden Grundaxiomen der Systemtheorie, daß analytische Trennung, "funktionale Differenzierung" in Elemente, Subsysteme nicht primär zu dem Zweck erfolgt, das Eigenleben dieser Elemente zu erfassen. Vielmehr geht es darum, das "Ganze" auf der Grundlage der - wechselseitigen - Beziehungen zwischen den Elementen zu erfassenH • Die unterschiedliche Grundtendenz verschiedener systemtheoretischer Ent21 z. B. Parsons, System, S. 12 ff. 22 Parsons, ebenda. 23 Vgl. Brandenburg, S. 32. 24 Parsons I Bales I Shils, Working Papers, S.168. U Brandenburg, S. 34. 26 Mayntz, Stichwort "Soziales System", in: Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl.. Stuttgart 1969, S.1017.

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V. Das Systemmodell

würfe kann gerade auch an der unterschiedlichen Betonung von entweder "Ausdifferenzierung" von Subsystemen oder aber der Wechselbeziehung zwischen Subsystemen gemessen werden. M. E. kann die Theorie von Luhmann· der ersten, die Parsonssche Theorie tendenziell der zweiten Gruppe zugeteilt werden. Konkrete Auswirkungen dieser unterschiedlichen Gewichtung sind bereits im Zusammenhang der Legitimationsproblematik erörtert worden. Weitere Auswirkungen werden sich im Hinblick auf die Sozialisationsproblematik sowie auf das Verhältnis spezifischer Subsysteme, insbesondere des Rechtsund Wirtschaftssystems zueinander und jeweils zum Gesamtsystem ergeben. Hier muß festgehalten werden, daß die Betonung von "Austauschprozessen zwischen Systemen", von "Wechselbeziehungen zwischen den vier Handlungssubsystemen wie auch zwischen diesen Systemen und den Handlungsumwelten"!7 konstitutiv für die Parsonssche Theorie ist. Es ist daher durchaus berechtigt, davon auszugehen, daß wesentliches Merkmal der Parsonsschen Systemtheorie ihre "Konstitution aus Interdependenzen"28 ist. Damit ist die Theorie trotz aller Kritik an ihrem "statischen" Charakter19 von ihrer Grundlegung her eine die Prozeßnatur sozialen Geschehens betonende: "Das System operiert durch die Interaktion seiner Gliedeinheiten. Jeder Zustandswechsel einer Einheit ... wird alle anderen Einheiten im System berühren, und die Wirkungen dieser Wirkungen auf die anderen Einheiten werden wieder zur ursprünglichen Einheit ,rückgekoppelt' sein. Wir denken uns hier einen ungebrochenen ,zirkulären' I n t erd e p end e n z pro z e ß , der mit dem Equilibriumsbegriff analysiert wird30." Neben die solchermaßen zum Grundmotiv der Theorie gemachten Interdependenz der Subsysteme stellt Parsons dennoch das Postulat ihrer relativen Independenz, ohne dies als Widerspruch zu empfinden. Im Gegenteil: "It is one of the commonest but most serious of fallacies to think that in t e r dependence impliesabsence of in dependence. No two entities c a n be interdependent which are not at the same time independent in certain respects31 ." Diese Independenz beruht darauf, daß jedes Subsystem spezifische Eigenheiten und Systemprobleme hat, die nicht auf solche eines anderen Subsystems reduziert werden können32• z. B. Parsons, System, S. 14 f. Schwanenberg, S. 121. z. B. bei Dahrendorf, Struktur und Funktion, in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 49 ff. 30 Parsons I Bales I Shils, Working Papers, S. 167 (Hervorhebung von mir, R. D.). 31 So bereits in SSA, S. 25 Fn. 2 (Hervorhebung im Original); vgl. weiter z. B. Toward, S. 7; SS, S. 6; Approach, S.613. 32 Vgl. Z. B. SS, S.6. 27

18 !9

2. Systemtypen - Systemebenen

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Parsons geht weiter davon aus, daß die Austauschprozesse zwischen den vier Handlungs-Subsystemen nicht ohne das "Phänomen gegenseitiger Durchdringung"33 (Interpenetration) denkbar sind. Darunter wird der Umstand begriffen, "daß die Grenze zwischen jeweils zwei Handlungssystemen eine ,Zone' strukturierter Bestandteile oder Muster umfaßt, die theoretisch als z u bei den Systemen g e hör i g, also nicht bloß dem einen oder anderen System zugeordnet, behandelt werden muß"3'. Als "vielleicht bekanntesten Fall" solcher Interpenetration nennt Parsons die Internalisierung sozialer Objekte und kultureller Normen in die Persönlichkeit des Individuumsu . Interdependenz via Interpenetration trotz gleichzeitiger Independenz: Diese Synchronisation von nur vordergründig Widersprüchlichem wird so zu einem zentralen Bestandteil der Theorie. Zur analytischen Erfassung von Systembestandteilen, Subsystemen erscheint sie deshalb von grundlegender Bedeutung, weil sie eine differenzierende Sichtweite anstelle der ontologisierenden Dichotomie zwischen "Gleichem" und "Verschiedenem" begünstigt. Die Problematik dieser Dichotomie liegt im sozialwissenschaftlichen Bereich darin, daß mit ihr vorschnell und dogmatisch "qualitative" Unterschiede zwischen Elementen postuliert (weniger häufig: negiert) werden, die nur unter Ausschaltung weiterer möglicher Perspektiven als qualitative erscheinen können. Gerade in der Rechtswissenschaft besteht eine recht unreflektierte Verwendung von Kategorien des "Qualitativen", "Prinzipiellen" und des "Quantitativen", "Graduellen"36 - häufig im Interesse der Herbeiführung bzw. Vermeidung bestimmter Rechtsfolgen. Derartige Kategorisierungen tauchen nicht nur in kaufrechtlichen Spezialproblemen wie dem, ob eine Lieferung ein "aliud" oder ein "peius" sei, sondern auch in der alternativen Gegenüberstellung von "liberalem" und "sozialem", "individuellem" und "institutionellem" Gehalt der Grundrechte auf, wie auch in Fragen wie der, wann die Grenze von "Markt-" zu "Planwirtschaft" in "qualitativer" - und das heißt hier: in verfassungstranszendierender - Weise erreicht ist. Hier erscheint es bedeutsam, ein Instrumentarium zu berücksichtigen, das die Analyse der möglichen Gleichzeitigkeit von "Gleichheit" und "Verschiedenheit"S7 und Parsons, System, S.14. Parsons, ebenda (Hervorhebung im Original). 86 Parsons, System, S. 14. 86 Vgl. in diesem · Zusammenhang Lasswell, Das Qualitative und das Quantitative in politik-und rechtswissenschaftlichen Untersuchungen in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 6. Auf!.. Köln-Berlin 1970, S.464ff. 87 Dies hat nichts zu tun mit Schelskys "Leitidee" des Rechts einer "Gleichheit bei Verschiedenheit"(JRR 1, S. 76 ff.), die nur das herrschaftsstabilisierende Modell einer Gleichheit des Verbindlichkeitsgrades bei ungleichen VerbindlichkeitsinhaIten zum Gegenstand hat. 88

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V. Das Systemmodell

der möglichen Gleichzeitigkeit von "Unabhängigkeit" und "Abhängigkeit" mit zum Programm erhebt. b) Die systemfunktionalen Imperative: Funktionale

Differenzierung und N ormativität der Subsysteme

Parsons' Auffassung von den jeweiligen Stadien der Theorieentwicklung, insbesondere auch dem der sog. strukturell-funktionalen Theorie, als zeitweiliger Notbehelfes8 entspricht der Umstand, daß im Grunde schon lange ein Prozeß der Ersetzung der strukturell-funktionalen Theorie durch eine allgemein-funktionale Theorie im Gang ist39,4o. Ein bedeutender Schritt in diese Richtung war die Ausarbeitung von vier funktionalen Problemen (functional imperatives, functional prerequisites, basic exigencies), vor deren Bewältigung jedes Handlungssystem steht. Dabei handelt es sich um: "Zielverwirklichung" (goal-attainment), "Integration" (integration), "latente Spannungsregulierung und Mustererhaltung" (latent tension management and pattern maintenance) und "Anpassung" (adaption)u. Dieses - in Anknüpfung an die Initialen der englischen Termini sogenannte - AGILSchema macht "Funktion" zum Schlüsselbegriff und hat zur Voraussetzung, daß das System trotz seiner - identitätsbegründenden Grenze ein offenes System ist. "Der Austausch über die Grenze ermöglicht erst die Aufrechterhaltung der Grenze'!." Weiter wird hier der Parsonssche Bezugspunkt einer Systemtendenz nach einem (Fließ-) Gleichgewicht besonders deutlich. Hier können weder die Entwicklungen des AGIL-Schemas in der Parsonsschen Theorie noch Parsons' komplexe und in viele Details gehenden Anwendungsversuche auf die verschiedensten Sub- und Subsubsysteme verfolgt werden'3. Ganz grob können die vier Hauptfunktionen folgendermaßen begriffen werden: Vgl. z. B. Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, KZfSS 1964, S.30. Vgl. in diesem Sinne auch Schwanenberg, S.169. 40 Luhmanns Anspruch, die strukturell-funktionale Theorie durch eine funktional-strukturelle Theorie zu ersetzen (vgl. z. B. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 113 ff.), erscheint in diesem Licht einigermaßen problematisch; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung von Walter Schmidt, daß "die spezifischen Leistungen, die Luhmann seiner funktional-strukturellen Theorie zuschreibt, ... auch von einer fortentwickelten strukturell-funktionalen Theorie erbracht werden (können)", daß dies insbesondere für die Problematisierung der Struktur innerhalb eines vorgegebenen Systems gelte, W. Schmidt, Aufklärung durch Soziologie, NPL 1971, S.347. 41 Vgl. z. B. Parsons, Approach, S. 631 f. 42 Schwanenberg, S. 159. 48 Auf das Untersystem der Wirtschaft etwa in Parsons / Smelser, Economy and Society, London 1972 (1956); auf das Persönlichkeitssystem, speziell auf das psychische System des Kindes im Sozialisationsprozeß etwa in: 38

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2. Systemtypen - Systemebenen

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Die G-Funktion bezeichnet die Ausrichtung auf einen Zielzustand und betrüft somit die Beziehung des Systems zu seiner Umwelt, genauer: die Tendenz jedes Systems, sich in ein optimales Verhältnis zur Umwelt zu bringen. Die Bestimmung, welcher Zustand als "Zielbefriedigung" (goal gratification) zu gelten hat, obliegt damit definitionsgemäß nicht den Systemeinheiten, sondern dem Gesamtsystem. Dennoch macht der - immer zu beachtende - Zusammenhang mit den übrigen Systemfunktionen deutlich, daß Zielbestimmung und Zielerreichung in Abhängigkeit von Zustand und Leistung der Systemeinheiten zu sehen sind. Die A-Funktion betrifft wie die G-Funktion die System-UmweltBeziehung. Allerdings geht es hier nicht um direkten Gewinn von Befriedigungsobjekten, um unmittelbare Zielerreichung, sondern um die Mobilisierung und Bereitstellung der für die Zielerreichung erforderlichen, aber für sich genommenzielunspezifischen Mittel und Bedingungen. Angesichts der gegenseitigen Abhängigkeit aller Systemfunktionen ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß Parsons' Beschränkung darauf, die adaptive. Funktion lediglich in ihrer Bedeutung für die G-Funktion zu untersuchen, inkonsequent ist". Die I-Funktion, "die (zweifellos) interessanteste und zugleich bislang unkonturierteste Funktionszelle im Systemgebäude"4S, hat die Probleme der Beziehungen zwischen. den Systemeinheiten zu lösen46 . Integration betrifft "die wechselseitige Ausrichtung dieser ,Einheiten' oder Subsysteme vorn Gesichtspunkt ihrer ,Beiträge' zum Funktionieren des Systems als eines Ganzen aus"47. Hier geht es um die "innere Harmonie" des Systems, um "Kohäsion" oder "Solidarität" der Systemeinheiten48 • Integration betrifft somit den eigentlichen Schauplatz der Spannung zwischen Normativität und Konditionalität und damit das Problem der Ordnung. Die L-Funkion hat ebenso wie die I-Funktion und anders als G und A innere Systemprobleme zum Gegenstand. Im Gegensatz zur I-Funktion regelt sie jedoch nicht Beziehungen zwischen, sondern innerhalb von Systemeinheiten ("i n t e r unit relationships" im Gegensatz zu "i n t r a unit states and processes"49). Sie sorgt für die Aufrechterhaltung der grundlegenden Wert- und Normordnung des Systems Parsons / Bales, Farnily, Socialication and Interaction Process, Glencoe 1955. 44 Morse, The Functional Imperatives, in: Black, S.114. 45 Schwanenberg, S. 164. 41 Parsons I Smelser, Economy and Society, S. 50. 47 Outline, S. 40. 48 Parsons, Approach, S.636; ders., Outline, S.40. 49 Parsons / Smelser, S. 50.

(Ill.)

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V. Das Systemmodell

durch die Systemeinheiten (pattern maintenance) und dafür, daß in den Systemeinheiten die nötige motivationale "energetische" Bereitschaft zur Aufrechterhaltung jener allgemeinen und obersten Wertsysteme und Normen herrscht, und disruptive, zur Verhaltensabweichung drängende Spannungen zu kontrollieren (tension management)50. Die L-Funktion hat also, entsprechend einer zweifachen Bedrohung, eine iZweifache Wirkungsrichtung: nach "oben" hat es pattern-maintenance mit Widersprüchen, Inkonsistenzen, Unverträglichkeiten im kulturellen Wertmuster zu tun; nach "unten" hat es tension management mit dem motivationellen oder psychologischen Ordnungsproblem zu tun. "Latenz" (latency) soll den Umstand umschreiben, daß die in dieser Phase erfolgende Stabilisierung von Werthaltungen und Motivationen regelmäßig in einer Zeitspanne erfolgt, in der die für das jeweilige System typischen Interaktionsprozesse ruhen. Dies verdeutlicht Parsons am Beispiel eines sozialen Systems. Danach ist es typisch für Phasen, in denen die L-Funktion dominiert, daß der einzelne "nicht aktiv an den Handlungen dieser besonderen Gruppe teilnimmt, etwa wenn jemand von seiner Arbeitsstätte entfernt und zu Hause ist und nicht mit seinen Kollegen interagiert. Dennoch ist seine Mitgliedschaft in der Gruppe nach wie vor wichtig für seine Persönlichkeit oder einen Teil davon. Dies würden wir als Latenzphase seiner Arbeitsrolle bezeichnen51 •" Nach dieser knappen Vorstellung der vier Grundfunktionen ist es gerade für das Verhältnis von Normativität und Konditionalität von Bedeutung, sich ihre kreislaufförmige Verknüpfung an einem Handlungszyklus bzw. einem Stabilisierungs- und Equilibrierungsprozeß zu verdeutlichen. Dabei werden zwei Prozeßtypen unterschieden, die Schwanenberg prägnant gegenüberstellt. "In Verhaltens- oder Lei s tun g s vor g ä n gen (performance processes) bewegt sich der Equilibrierungsprozeß ,im Uhrzeigersinn'52 von der L-Dimension über die A-, G- und I-Dimension zurück zum Latenzzustand. Eine ansteigende Spannung, resultierend aus unzureichender Gratifikation, läßt das System aus dem stabilen Latenzzustand (L) heraustreten, die Umwelt sowohl aktiv nach geeigneten Mitteln zur Herabsetzung der Spannung durchsuchen als auch passiv sich ihren Bedingungen anpassen (A), endlich ein Zielobjekt erreichen, Vgl. zu dieser Aufteilung Brandenburg, S. 30. Parsons, Psychology and Sociology, in: John Gillin (Hrsg.), For a Science of Socia! Man. Convergencies in Anthropology, Psychology and Sociology, New York 1954, S.72; dieses Beispiel greift auch ohne Hinweis auf Parsons Morse, S.114, auf. 5% Dieser Metapher liegt die schaubildliche Darstellung des AGIL-Schemas zugrunde, in der die Phasen im Uhrzeigersinn und umgekehrt verfolgt werden können, vgl. Working Papers, S.180 ff. 50

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2. Systemtypen - Systemebenen

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dessen Verbrauch (consumption) die gesuchte Gratifikation liefert (G), diese Gratifikation nicht nur mit dem Restzustand des Systems in Einklang, sondern auch dem Gesamtsystem einen Potentialzuwachs bringen (I) und das System in die Ruhe und Stabilität zurücktreten. L ern pro z e s s e Oearning processes) bewegen sich ,im Gegenuhrzeigersinn'. Eine gegebene Wertstruktur (L), d. h. eine wertende Orientierung auf ein gegebenes Zielobjekt einer Systemeinheit (z. B. der Rolle eines Kindes) hin, erweist sich aus neuen integrativen Erfordernissen, die vom System (z. B. Familie) herangetragen werden, als unzureichend (I). Ein Gratifikationsverhältnis muß zu einer neuen, differenzierteren oder verallgemeinerten Objektkategorie (Rolle) hergestellt werden (G), wobei neue Unterscheidungen und Prioritäten nach Bedingungen und Mitteln in der Umwelt erforderlich werden (A). Das Ergebnis dieser Umorientierung und Umwertung schlägt sich dauerhaft im Strukturmuster des Systems nieder (L), womit das System in einen relativen Ruhestand zurückkehrtsS." Das Entscheidende für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die Tatsache, daß die Parsonssche Theorie hier zwei Systemprozeßtypen skizziert, von denen der erste als Auslöser eine Störung des konditionalen Elements hat, der zweite eine solche des normativen Elements. Im ersten Fall geht es um eine Korrektur im Sektor von Motivation, Interesse und Bedürfnissen, im zweiten Fall um die Korrektur von Wertmustern, also von normativen Standards; im ersten Fall werden Art und Ausmaß von Bedürfnisbefriedigungen - auf dem Hintergrund bestehender normativer Leitlinien - als unbefriedigend empfunden, im zweiten Fall müssen - vor dem Hintergrund der faktischen Lage als unangemessen empfundene - normative Standards umgearbeitet werden. Auf das Recht bezogen könnte der erste Fall als Prozeß der Rechtsverwirklich.ung, der zweite als Prozeß der Rechtsentstehung im weitesten Sinne begriffen werden. Der Unterschied beider Prozeßtypen klingt noch einmal an, wenn Parsons in jüngster Zeit davon spricht, daß es die Hauptfunktion des - der L-Dimension zugeordneten - kulturellen Systems mit beidem zu tun hat: mit "Normenerhaltung" wie auch mit "schöpferischem Normenwandel"54 (pattern maintenance bzw. creative pattern change). Diese Doppelspurigkeit von Handlungs-, System- und damit historischen Prozessen könnte Ansätze zu einer differenzierenden Analyse von UrsacheWirkungs-Verknüpfungen gesellschaftlicher Abläufe bieten. Dies insbesondere dann, wenn beide Prozeßtypen und damit die Rolle von normativ-"ideologischen" Elementen einerseits und von konditional63

1>4

Schwanenberg, S.167/168. Parsons, System, S. 12.

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V. Das Systemmodell

" materiellen " Elementen andererseits nicht von vornherein alternativ gesehen wird oder, um im Bild zu bleiben, wenn die Möglichkeit, die beiden Prozesse im "Uhrzeigersinn" und im "Gegenuhrzeigersinn" übereinanderzublenden, nicht ausgeschlossen wird. Der bei Parsons mittlerweile schon oft deutlich gewordene normative bias verhindert auch hier einen entsprechenden Ausbau, vielmehr werden beide Prozesse dadurch normativ harmonisiert, daß alleiniger Bezugspunkt - letztlich und unnötig - die normativen Prozesse im kulturellen System bleiben. Der normative Charakter des AGIL-Schemaglill wird noch dadurch verdeutlicht, daß Parsons die vier Grundfunktionen, die von der Konzeption her ja zunächst jedes System zu erfüllen hat, im allgemeinen Handlungssystem je· einem der vier Subsysteme zuweist. So liegt der Hauptbeitrag des Verhaltensorganismus in der A-Funktion: "er umfaßt eine Reihe von Bedingungen, denen sich das Handeln anpassen muß, und beinhaltet den primären Mechanismus der Wechselbeziehung zur physischen Umwelt hauptsächlich durch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen im zentralen Nervensystem sowie durch Bewegungen, die den Anforderungen der physischen Umwelt entsprechen5s." Die G-Funktion, Zielverwirklichung, fällt als Hauptaufgabe dem Persönlichkeitssystem zu: es "ist die Haupt tri e b k r a f t von Handlungsprozessen ... Auf der Ebene der Belohnung als Motivationsfaktor ist die Optimierung von Gratifikation und Befriedigung der Persönlichkeiten das Ziel aller Handlung"S7. Die Integrationsfunktion obliegt vorwiegend dem sozialen System, während die L-Funktion, Normenerhaltung und Normenwandel, Hauptaufgabe des kulturellen Systems ist: "Während die Organisation sozialer Systeme in erster Linie den Zweck des Zusammenfügens sozialer Beziehungen, ... Koordination seiner Teileinheiten ... verfolgt, sind kulturelle Systeme gemäß den Eigenschaften von Komplexen symbolischer Bedeutung organisiert, als da sind: die Codes, welche ihre Struktur bilden, die von ihnen benutzten besonderen Symbolgruppen sowie die Bedingungen ihrer Anwendung, Erhaltung und Veränderung als Teile von Handlungssystemenll8 •" Der rein funktionale Charakter solcher Zuordnungen wird noch deutlicher,· wenn man sich vor Augen führt, daß jedes der Subsysteme als Subsystem, das im Hinblick auf das Allgemeine Handlungssystem (und d. h. konkretes Handeln) eine der vier Hauptfunktionen erfüllt, 55 Zum Zusammenhang von AGIL-Schema und "normativen Theorien" vgl. Mols, S. 534. 56 Parsons, System, S. 13. 57 Ebenda (Hervorhebung im Original). 58 Parsons, System, S. 12.

2. Systemtypen - Systemebenen

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seinerseits als System alle vier funktionale Aspekte aufweist. Dies wird hinsichtlich des Rechtssystems noch am sozialen System deutlich werden. c) Pattern Variables: Handlungsorientierung und System

In dem Bestreben, die Perspektive des agierenden Subjekts mit der Systemperspektive zu verbinden, kommt in der Parsonsschen Theorie den "pattern variables" besonderes Gewicht zu. Sie sind als "eines der empirisch fruchtbarsten begrifflichen Instrumente" der Parsonsschen Theorie bezeichnet worden61l• Die pattern variables sind Orientierungsalternativen, zwischen denen sich ein Aktor entschieden haben muß, bevor die Bedeutung der Situation für ihn bestimmt ist80• Diese allgemeinen Orientierungsdimensionen sind als "Objekt-Kategorisierung" Handlungsvoraussetzungen, und sie sind - was hier und im Anschluß an das erörterte Verhältnis von Recht und Handlungsorientierung interessiert als Orientierungsalternativen generalisierte Normalternativen. In der mehrfach changierenden Ausarbeitung haben sich fünf (später nur noch vier) Orientierungsalternativen herausgebildet: a) Affektivität-Neutralität (Affectivity - Affective Neutrality). Bei einer Dominanz von Affektivität werden die sich in einer Situation bietenden Gratifikationschancen unmittelbar genutzt, bei einem Übergewicht affektiver Neutralität wird auf unmittelbare Befriedigung zugunsten längerfristiger Erwägungen verzichtet. Ursprünglich hatte Parsons bei dieser Variablen - weniger "generalisiert" - mehr auf die emotionalen Bindungen in einer sozialen Beziehung abgestelltei. b) Spezifität - Diffusheit (Specificity - Diffuseness): Hier geht es um Klärung der Frage, ob in einem Interaktionszusammenhang nur eine spezifische, für die Handlung relevante Rolle der Partner in Betracht gezogen wird (etwa als Käufer) oder die Gesamtheit der Rollen, also die Persönlichkeit als Ganzes, wie es in freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen der Fall ist. c) Universalismus - Partikularismus (Universalism-Particularism): Diese Variable betrifft die Unterscheidung, ob eine soziale Beziehung von allgemeinen, "universellen" Normen geprägt ist oder von "partikularen" Normen, die innerhalb einer bestimmten Gruppe, einem Clan gelten. "Universalistische" Handlungsmuster haben eine Affinität zu instrumentellem, auf zweckrationale Mittelwahl abstellendes Handeln. Die Frage, ob jemand ein guter Anwalt ist, kann nicht danach entschieden werden, ob er Freund, Nachbar oder Bruder ist. 59 Brandenburg, S.66; im gleichen Sinne Devereux, Parsons' Sociological Theory, in: Black:, S. 39. 60 Toward, S. 77. 81 Vgl. zu dieser Verschiebung Devereux, S.40.

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V. Das Systemmodell

d) Eigenschaft - Leistung (Quality - Performance): Ursprünglich hatte Parsons hierfür die von R. Linton übernommenen Begriffe "Zuschreibung - Leistung" (ascription - achievement) verwandt. Die Orientierungsalternative besteht hier darin, ob ein Partner nach dem beurteilt wird, was er ist oder nach dem, was er tut: "In preparing to scold a lady driver, do you adress your remarks primarily to the lady or to the driver'2?" e) Selbstorientierung - Kollektivorientierung (Self-orientation collectivity orientation): Selbstorientierung liegt Handlungsmustern zugrunde, bei denen private Interessen verfolgt und Ansprüche und Werte eines Kollektivs zurückgestellt werden. Kollektivorientierung bezieht dagegen soziale Verpflichtungen, normative Standards des Kollektivs, der "Allgemeinheit" ein und stellt ihnen gegenüber Eigeninteressen zurück. Diese letzte Variable fällt bei Parsons später weges. Die pattern variables wären im Kontext der späteren Theorie wenig bedeutungsvoll, hätten sie nur Relevanz für die Analyse individuellen Handeins. Parsons hat sie denn auch von vornherein als eine die ganze systemanalytische Tiefendimension durchdringende Normativität aufgefaßt, die in die Bedürfnisdispositionen des Persönlichkeitssystems eingeht, auf der Ebene des partikularen Aktors Rollenerwartungen und auf der Ebene des kulturellen Systems normative Grundmuster beschreibt64 • Die eigentliche Verbindung zwischen Aktor- und Systemperspektive versucht Parsons dadurch zu erreichen, daß er den vier Systemfunktionen bestimmte'Orientierungsalternativen zuordnet65• Die ausgefächerten Ausarbeitungen können hier nicht näher verfolgt werden. Skizzenhaft ergibt sich folgende Beziehung zwischen AGILSchema und pattern variables·: Die Anpassung des Systems an seine Umwelt hat es mit dem Problem einer nach universalen Merkmalen erfolgenden Beurteilung der relevanten Objekte in ihrer spezifischen Bedeutung für die Systemziele zu tun. Erfolgreiche Bewältigung dieses Problems setzt emotionale Beherrschung (Neutralität) und Leistungsfähigkeit voraus. In der Phase der Zielerreichung bleibt spezifisches Interesse an gratifizierenden Leistungen. Gratifikation beinhaltet "Verbrauch" und Devereux, S. 42. Die Vermutung, daß dies auch auf dem Vorhaben beruhe, die Orientierungsalternativen mit dem AGIL-Schema zu verknüpfen und dabei vier Systemfunktionen auch nur vier Variablen gegenüberstellen zu können, ist angesichts von Parsons' Vorliebe für Symmetrie und Kombinatorik nicht von der Hand zu weisen, vgl. Brandenburg, S. 65. 64 Vgl. hierzu Devereux, S.39; auch Nolte, S.127. 65 Vgl. Working Papers, S. 180 ff.; kritisch hierzu Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S.180 Fn. 136 a, dessen Argument der "Willkürlichkeit" jedoch nicht so recht überzeugt. 66 Diese Skizze wurde von Brandenburg, S. 67 f., übernommen. 62 63

2. Systemtypen - Systemebenen

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"Genuß" (Affektivität) der erworbenen Umweltaspekte in ihrer besonderen (paTtikulaTistischen) Bedeutung für Ziel- und Bedürfniszustand des Systems. IntegTation setzt affektive Bindung zwischen den Aktoren eines Systems voraus. Ihre Eigenschaft als Systemelemente hebt sie von Nichtmitgliedern ab (PaTtikulaTismus). Der Zusammenhalt hängt von der Dichte des Beziehungsnetzes zwischen ihnen ab (Diffusheit).

Die Latenzphase dient der Erneuerung der motivationalen Organisation. "Energie" wird nicht verausgabt, sondern gesammelt (NeutTalität). Die Umwelt wird nicht nach systembezogenen Leistungen beurteilt, sondern so genommen, "wie sie ist" (Eigenschaft). Umweltgeschehen wird sachlich (univeTsaZistisch) aufgenommen. Die Umweltbezüge sind bedrohlich und zahlreich (Diffusheit). Parsons hat die Orientierungsalternativen ausdrücklich als Dichotomien und nicht als Kontinua konzipiert87 • Dennoch erscheint es sinnvoll, wenn die Ansicht vertreten wird, daß es "nicht schwierig und für empirische Zwecke ratsam sein (dürfte), wenigstens einige der Variablen aus ,Dichotomien' in ,Kontinua' umzuwandeln"68, da das übergewicht des einen oder anderen Variablenpols ein graduelles sei. Dies trifft um so mehr zu, als Parsons selbst zur Analyse konkreter sozialer Systeme Variablen-Bündel bildet, die ihrerseits bereits eine Form gegenseitiger Modifikation und gradueller Abstufung enthalten. d) Die vieT Subsysteme des "Allgemeinen Handlungssystems"

Die vier Handlungssysteme, die, wie bereits betont, nicht konkret, sondern nur analytisch trennbar sind69, sind von Parsons nicht aus einem Guß entwickelt worden. Insbesondere wurden Verhaltensorganismus und Kultur in einem früheren Stadium nicht als System vorgestellt 70 • Hier wird nicht auf diese Wandlungen eingegangen, sondern auf den späteren Stand der Theorie abgestellt. aa) Der Verhaltensorganismus Als Handlungssystem begreift Parsons nicht den gesamten menschlichen Organismus, sondern nur den "yerhaltensförmigen" Organismus, der vom "vegetativen Organismus" abgesetzt wird71 • Der Verhal87 Toward, S. 91; daher ist es unzutreffend, wenn Schrader, S. 116, davon ausgeht, daß bereits bei Parsons jedes Variablenpaar ein Kontinuum bezeichne. 88 Brandenburg, S. 65. 6D Vgl. z. B. Parsons, Approach, S. 613. 70 Vgl. hierzu auch Schrader, S. 114 ff., und Brandenburg, S.107. 71 Vgl. z. B. Parsons, Systems Analysis: Social Systems, in IESS, New York 1968, Bd.15, S.459.

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tensorganismus bildet so die "untere" Grenze des Handlungsspektrums. Jenseits dieser Grenze liegt die nicht mehr zum Handlungssystem gehörige "physische Umwelt"72. Diese bildet eines von "zwei Realitätssystemen, die im Sinne unserer Analyse nicht als Handlungsbestandteile, sondern als Umwelt des Handeins im allgemeinen zu verstehen sind"73. Das andere "Realitätssystem" ist die jenseits der durch das kulturelle System gebildeten "oberen" Grenze des Handlungsspektrums liegende von Parsons "in Anlehnung an philosophische Traditionen" sogenannte" ,letzte Realität' ", das" ,Sinnproblem menschlichen Handelns' "7'. Die Unterscheidung zwischen beiden Aspekten des Organismus wird nicht mit letzter Trennschärfe gezogen. Der hier interessierende Verhaltensorganismus ist nur derjenige "Aspekt des physiologisch funktionierenden Systems"76, der sich in Form von Außenbeziehungen, genauer: als Beziehung zu den anderen Handlungssystemen, insbesondere zum Persönlichkeitssystem ausdrücken läßt. Dies sind etwa sensomotorische Prozesse, durch die der Verhaltensorganismus auf der einen Seite den Kontakt zur physischen Umwelt aufrechterhält, "hauptsächlich durch die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen im zentralen Nervensystem" sowie deren Umsetzung zu "Bewegungen, die den Anforderungen der physischen Umwelt entsprechen"71. Die zentrale Bedeutung des Verhaltensorganismus liegt jedoch darin, daß er nach der anderen Seite, also für das Handlungssystem, insbesondere das benachbarte Persönlichkeitssystem, "Energie" als Voraussetzung jedes Handlungsprozesses abgibt77. Dies ist der wichtigste Output des Verhaltensorganismus in das Persönlichkeitssystem. "Unspezifische Energie"78 wird dem Persönlichkeitssystem sozusagen als Rohmaterial geliefert. Es ist dies die unterste Stufe konditionaler Elemente des Handlungssystems. Dabei ist jedoch von besonderer Bedeutung, daß bereits auf dieser Ebene normative Steuerung einsetzt: Diese wird dadurch bewirkt, daß schon hier kein einseitiger Lieferungsprozeß von Seiten des Verhaltensorganismus vorliegt, sondern ein beiderseitiger Austauschprozeß, in dem Regelungsimpulse, zu Motivationen umgewandelte Energie, in den Verhaltensorganismus zurückfließen und dessen Bewegungs-, Wahrnehmungs- ete. -abläufe "durch das Sieb der persönlichen Interessen (filtern) "79. "Obgleich er (d. i. der Organismus) 72 Parsons, System, S. 13/14. 73 Parsons, System, S. 13. 14 Parsons, System, S.14. 76 Parsons, Approach, S. 615. 76 Parsons, System, S. 13. 77 z. B. Parsons, Approach, S. 615. 78 Brandenburg, S. 119. 78 Brandenburg, S. 108.

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auf einer genetischen Konstitution basiert, ist seine eigene Organisation beträchtlich von den Prozessen des Bedingens und Lernens beeinflußt, die sich in der Lebensgeschichte des Individuums zutragenso ." Auf diese Weise nehmen kulturelle, normative Faktoren wesentlichen Einfluß auf die Prozesse im Verhaltensorganismus. Bereits der "behavioral organism" wird dadurch - nach "unten", d. h. bezüglich des vegetativen Organismus - zu einer Kontroll-, d. h. normativen Instanz: Er "operates through several intermediary mechanisms to e 0 n t r 0 I the metabolie processes of the organism and the behavioral use of its physieal faeilities"81. Das gleiche gilt im übrigen für den zweiten wichtigen Output des Verhaltensorganismus: der "Lust". Die Rezeption des Lustprinzips aus der Freudschen Theorie durch Parsons - "ebenso anregend wie interpretationsbedürftig"8! - ist eine in typischer Weise modifizierte. Das Freudsche Konzept, wonach die Triebe des Es auf den Gewinn organischer Lust abzielen, ist für Parsons nur ein "Spezialfall"s3. Diese Modifizierung sowie Zurückhaltung gegenüber der instinkttheoretischen Annahme einer "natürlichen" und immer schon vorhandenen Prägung von Bedürfnissen und Triebens" lassen Parsons davon ausgehen, daß auch "Lust bzw. ihr Ursprung nicht wie die klassischen Hedonisten annahmen, eine biologisch gegebene Konstante ist, sondern eine Funktion des ge sam t e n personalen Gleichgewichts des Individuums "85. Das bedeutet, daß Lust ihrerseits durch "kontrollierende", d. h. normative Steuerung von Seiten des gesamten Persönlichkeitssystems geprägt wird. Hier kann die verästelte und in Etappen entworfene Parsonssche Freud-Rezeption nicht verfolgt werden. Es kommt darauf an, den gewaltigen Bedeutungszuwachs des normativen Elements zu zeigen, der sich bei Parsons vollzieht. Wiewohl auf einer genetischen Konstitution basierend8s, trotz Abhängigkeit von Primärbedürfnissen ("viseerogenie needs") wie Nahrung, Atmung87 dringt normative, durch Lernprozesse vermittelte Regulierung bis in die Bereiche organischer Triebstrukturen vor. "Parsons' Schritte über Freud hinaus bestehen darin, daß er nicht nur das Über-Ich, sondern auch das Ich und das Es als so Parsons, Approach, S. 615. Parsons, Outline, S. 38 (Hervorhebung von mir, R. D.). 82 Brandenburg, S. 119. 83 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S.148. M Parsons, Some Comments on the State of the General Theory of Action, ASR 1953, S. 618 ff. (619); Toward, S.9. 85 Parsons, Essays in Sociological Theory, S. 59 (in etwas anderer übersetzung in: Soziologische Theorie, S.147) (Hervorhebung im Original). 86 Parsons, Approach, S. 615. 87 Parsons, Systems Analysis, S.460; Toward, S.9. Sl

7 Damm

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V. Das Systemmodell

sozio-kulturell geprägt ansieht88." Das Internalisierungskonzept findet bereits auf dieser Ebene Anwendung, wenn Parsons feststellt, daß "psychologische Strukturen im Organismus internalisiert werden"89 - vergleichbar dem Verhältnis zwischen Persönlichkeitssystemen und dessen Außenobjekten. bb) Das Persönlichkeitssystem Das Persönlichkeitssystem ist das dem Bezugsrahmen der früheren Handlungstheorie am nächsten stehende Subsystem. Es ist daher zunächst einmal das System der Handlungsorientierungen eines individuellen Handelnden. Im Verlauf der systemtheoretischen Generalisierungen rückt der Begriff der "Bedürfnisdisposition" (need-disposition)90 ins Zentrum des Persönlichkeitskonzepts. Der Begriff macht die durch den Systemansatz geprägte Eigenart dieses Konzepts deutlich: daß es in ihm immer um Beziehungen des handelnden Subjekts zu seiner Außenwelt geht, nie um eine - in Parsons' theoretischer Absicht sinnlose - von Außenbeziehungen absehende Introspektion81 • Mit anderen - systemtheoretischen - Worten: Das Persönlichkeitssystem ist - wie alle Systeme - ein "Beziehungssystem" (relational system)1I2. Parsons interessiert sich nicht für die Frage, wie die Persönlichkeit als selbständiges System funktioniert, sondern welche Mechanismen die Befähigung zu sozialem Rollenhandeln, d. h. für gesellschaftliches Handeln überhaupt, verleihen. Der Begriff der Bedürfnisdisposition "drückt besonders deutlich die ,Gerichtetheit' der ,Strebungen' auf Objekte der Handlungssituation aus"fI3. Vergröbernd kann man Bedürfnisdisposition als die soziokulturell - und das bedeutet für Parsons: normativ - organisierte Motivation des Handelnden auffassen. Der Begriff soll also die anfänglich-konstitutionellen und die normativ-erworbenen Persönlichkeitselemente integrieren. Dennoch liegt das Hauptinteresse Parsons' in für ihn kennzeichnender Weise auf dem Aspekt der normativen Regulierung von Bedürfnisstrukturen, ja er schließt die konstitutionelle Komponente - in voller Kenntnis ihrer Bedeutung - zunächst ausdrücklich aus der "gegenwärtigen Analyse" aus94 . Dieses Vorgehen ist ein Angelpunkt der Parsons-Kritik: Die Vernachlässigung des konstitutionellen Elements zugunsten des normativen Elements bringt ihm im Zusammen88 Brandenburg, S. 117. 89 Parsons, Approach, S. 650. 90 Vgl. hierzu auch Baldwin, The Parsonian Theory of Personality, in: Black, S. 153 ff. (158 ff.). 91 Brandenburg, S. 110. 92 Vgl. z. B. SS, S.32. 93 Brandenburg, S. 111. 94 Toward, S. 93.

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hang mit seiner Persönlichkeitstheorie den Vorwurf der "Entmaterialisierung"95 ein. In analoger Weise wird ihm im Zusammenhang seiner Theorie des sozialen Systems immer wieder die Vernachlässigung des faktischen "Substrats", der Interessen- und Machtlage zugunsten der normativen Regelung sozialer Systeme vorgeworfen". In der ParsonsKritik wird dabei nicht immer danach unterschieden, ob solche Vernachlässigung nur auf Parsons' Hauptinteresse an der normativen Steuerung sozialer Prozesse beruht oder bereits in den Grundlagen der Theorie unausweichlich angelegt ist. Es wird noch darauf zurückzukommen sein, daß der ersten Kritik-Variante ohne wesentliche Einschränkungen zuzustimmen ist, während die Beurteilung der zweiten Variante sehr viel düferenzierter ausfallen muß, da der Parsonssche Ansatz der entwickelten Theorie mit der Erfassung der Gleichzeitigkeit und Gleich'Wertigkeit der normativen und materialen Elemente sozialer Prozesse und der Analyse ihres Integrationsgrades steht und fällt. Die Leistungen einer Organisation der Motivation zu Bedürfnisdispositionen verfolgt Parsons in derart verzweigter und komplexer Form, daß hier nur Andeutungen gemacht werden können. Bedürfnisdispositionen richten sich auf alle möglichen situativen handlungsrelevanten Objekte, etwa auch physische Objekte (z. B. Nahrung). Als handlungstheoretisch besonders bedeutsam hebt Parsons jedoch drei Objektklassen ausdrücklich hervor: soziale Objekte, allgemeine Gruppenelemente und Rollenerwartungen 97• Hieran wird der für die hier interessierende Normentheorie Parsons' zentrale Gesichtspunkt deutlich, daß die im Persönlichkeitssystem organisierten Bedürfnisdispositionen nicht entlang einer Skala etwa des physischen Lustgewinns betrachtet werden, sondern als "Bedürfnisse nach Beziehungen" (relational needs). Als Kategorien fundamentaler Bedürfnisdispositionen nennt Parsons so diejenigen nach Bewältigung von Aufgaben, Genuß, Sicherheit und Konformität mit Normen98 , denen jeweils ein "aktiver" und ein "passiver" .L\spekt zugewiesen wird": Leistung, Befriedigung, Genugtuung, Rechtschaffenheit einerseits und Anerkennung, Erwiderung, Akzeptierung, Ansehen andererseitstOll. 96 Nolte, S.137, 202. 96 Besonders bekannt geworden ist die Kritik von Lockwood, Some Remarks on the ,Social System', in: British Journal of Sociology 1956, S.134 ff. 11 Toward, S. 115 ff. 18 Parsons / Bales, Family, Socialication and Interactions Process, S. 172 f., 83 ff.; Parsons / Bales / Shils, Working Papers, S. 219 ff. 91 Vgl. hierzu auch Baldwin, S. 158. tOO Toward, S.150; zum Ganzen auch Brandenburg, S.123 ff., von dem auch ein Teil der übersetzung übernommen wurde.

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V. Das 5ystemmodell

Bedürfnisdispositionen werden so unmittelbar mit der Sozialstruktur des sozialen Systems verknüpft: Sie werden in der Dimension "Konformität - Entfremdung"lOl analysiert, ja es ist von eines Aktors "Satz von Bedürfnisdispositionen nach Erfüllung von Rollenerwartungen" einerseits und von solchen nach rollenabweichendem Verhalten, ja: "im Extremfall" "Bedürfnisdisposition nach Rebellion oder Rückzug"102 andererseits die Rede103. Die sozialpsychologische und psychoanalytische Problematik dieses Konzepts kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden. In normtheoretischer Hinsicht ist Parsons' Versuch bemerkenswert, ein durchgängig geschlossenes, d. h. von allgemeinen Wertsystemen bis in die Persönlichkeitsstruktur reichendes (wie bereits erörtert noch weiter: in den Verhaltensorganismus) soziokulturelles Normsystem zu erfassen. Dabei wird - und das ist das hier eigentlich Entscheidende - der input normativer Standards in die Bedürfnisdispositionen als die Grundelemente des Persönlichkeitssystems bereits mit den Parsonsschen Grundkategorien von "Internalisierung" und "Sozialisierung" einerseits und "Integration" und "Institutionalisierung" andererseits gekoppelt: Normkonformes Verhalten kann nach Parsons104 auf zwei verschiedenen Modi der Orientierung an einem normativen Standard beruhen: einmal auf bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen (expediency), zum anderen darauf, daß die Norm in das Persönlichkeitssystem internalisiert worden ist. Im ersten Fall ist Konformität bzw. Nonkonformität eine Funktion des "instrumentellen" Interesses des Aktors, im zweiten ist Konformität mit der internalisierten Norm Bestandteil der Bedürfnisdispositionen in der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur selbst geworden. Diesen letzten Fall - aber auch nur ihn - nennt Parsons den Grundtypus einer Integration der Handlungsmotivation mit einem normativen Wertmuster105. Noch eine weitere Unterscheidung wird in diesem Zusammenhang getroffen106: In einem Interaktionssystem Ego-Alter wird Ego danach streben, von seinem Standpunkt aus günstige Reaktionen Alters zu erreichen und ungünstige zu vermeiden - und umgekehrt (die bekannte Gratifikations-Deprivations-Balance). In dem Fall nun, in dem Ego und Alter auf der Grundlage eines gemeinsamen (shared) Wertsystems handeln, ergibt sich folgendes hinsichtlich der Normkonformität Diese ist nicht nur wegen der Internalisierung der Norm Gegenstand 101 102 103 104 106 108

55, 5. 32. 55, 5. 260. 55, 5. 32.

z. B. 55, 5. 37.

Ebenda.

55, 5. 38.

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der Bedürfnisdisposition Egos geworden, sondern: Konformität mit der - von Alter ja ebenfalls akzeptierten - Norm ist gleichzeitig auch geeignet, bei Alter für Ego günstige Reaktionen zu bewirken. Das aber heißt: Die Konformitäts-Abweichungs-Balance fällt mit der Gratifikations-Deprivations-Balance zusammen. Bei Vorliegen dieses Falls aber auch nur dann - auf der Ebene des Persönlichkeitssystemsl07 spricht Parsons von Institutionalisierung l08 • Parsons betont ausdrücklich: In der Realität ist Institutionalisierung immer eine "Sache des Grades" (matter of degree)l09. Dieser Grad - das ergibt sich aus dem Vorangehenden - ist eine Funktion zweier Variablengruppen: einmal der jeweils allgemein anerkannten - normativen - Muster der Wertorientierung, zum anderen der - konditionalen - Elemente der Motivorientierung. Nur wenn beide zur Deckung gelangen, kann von dem -theoretischen - Fall "völliger Institutionalisierung" gesprochen werden. Die "polare Antithese" solcher vollständiger Institutionalisierung ist "Anomie": der Fall von "Abwesenheit strukturierter Komplementarität im Interaktionsprozeß oder, was dasselbe ist, der völlige Zusammenbruch normativer Ordnung"110. Auf die Begriffe Integration und Institutionalisierung bei Parsons wird im Zusammenhang mit dem sozialen und kulturellen System noch eingegangen. Es ist aber wichtig zu konstatieren, daß und in welcher Weise sozio-kulturelle Normen in Parsons' Analyse auf das Persönlichkeitssystem einwirken. Dabei hat sich bis hierher der Eindruck verstärkt, daß Parsons auf der leidenschaftlichen Suche nach den Bestimmungsfaktoren sozialer Ordnung und Stabilität beide Pole thematisiert: normative Handlungsregulierung einerseits und Bedürfnisse, Interesse des Handelnden andererseits; daß er aber auch beim Persönlichkeitssystem fast ausschließlich den ersten Pol bearbeitet und theoretisch ausbreitet. Er verspielt so - über weite Strecken unnötigerweise - Ansätze seiner Theorie zur Miterfassung materieller gesellschaftlicher Handlungsbedingungen und setzt sich dem - insoweit berechtigten - Vorwurf der Entmaterialisierung aus. Die "Transformationsformel" zwischen Individuum und Gesellschaft111 unterschlägt auf diese Weise wichtige Variablen, die nach den Axiomen der Theorie hätten berücksichtigt werden können: so insbesondere viele Aspekte normdurchbrechender Motivation. 107 Auf der Ebene des benachbarten sozialen Systems kommen weitere Bedingungen der Institutionalisierung hinzu. 108 SS, S. 38. 108 SS, S. 39. 110 Ebenda. 111 SS, S. 540.

102

V. Das Systemmodell ce) Das soziale System

Es bleibt als Resultat aller vorangehenden Erörterungen, daß isolierte Betrachtung sozialer Prozesse nach den Prämissen Parsonsscher Theorie grundsätzlich unmöglich ist, vielmehr Isolierung von Objekten zur wissenschaftlichen Betrachtung nur als willkürliche und - angesichts der Unmöglichkeit, alles gleichzeitig zu denken - notwendige zu begreüen ist. Das derartig nur forschungsstrategisch hervorgehobene Hauptobjekt der Soziologie ist das soziale System112 • An ihm wird die Relativität der Systemperspektive am deutlichsten: "Ein solches System kann zwei, aber auch zwei Millionen Handelnde umfassen113." Das bedeutet, daß ein bestimmtes soziales System sowohl auf der System- wie auf einer Subsystemebene zu einem übergreüenden sozialen System untersucht werden kann. Der Entwicklungsgrad und die damit zusammenhängende Komplexität einer Gesellschaft korrespondiert mit der Anzahl ihrer zu speziellen funktionalen Aufgaben "ausdüferenzierten" Subsysteme. Die Funktionalität des sozialen Systems auf dem Hintergrund der funktionalen Imperative stellt sich für Parsons folgendermaßen dar: "Das vor r a n gig e Integrationsproblem eines Handlungssystems ist die Koordination seiner Teileinheiten, in erster Linie also menschlicher Individuen ... Daher schreiben wir dem sozialen System hau p t säe h 1 ie h Integrationsfunktion zu114." Die Hervorhebungen stellen nicht nur typisch Parsonssche "strategisch placierte Unschärfen" dar; sie deuten auch einen Grundzug der Theorie an: den der Annahme einer durchgehenden Multüunktionalität von Systemen und Subsystemen trotz der - im Verlauf der Theorieentwicklung mit unterschiedlicher Gewichtung vorgenommenen - Zuordnung von "vorrangigen", "hauptsächlichen" "Primär"-Funktionen zu bestimmten Systemtypen. Denn prinzipiell hat ja jedes System und Subsystem seinerseits alle vier Grundfunktionen zu erfüllen. Die Struktureinheit sozialer Systeme - entsprechend den Bedürfnisdispositionen des Persönlichkeitssystems ist die Rolle; Parsons spricht gelegentlich auch von "Status-Rolle" oder "StatusRollen-Bündel", wobei "Status" den lokal "positionalen Aspekt", "Rolle" den "prozessualen Aspekt" bezeichnet115 , unter dem ein Aktor an einem Interaktionssystem teilnimmt. Von Seiten der Handelnden ist die Rolle "jener organisierte Sektor der Orientierung ..., der dessen Teilnahme in einem Interaktionsprozeß konstituiert und definiert"116. 112 Outline, S. 34. 113 Brandenburg, S. 79. 114 Parsons, System, S. 12 (Hervorhebungen von mir, R. D.). 115 SS, S. 25. 118 Toward, S. 23.

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Von Seiten des sozialen Systems, insbesondere unter dem Aspekt von dessen Stabilität, resultieren rollenförmige Normierungen aus der Tatsache, daß handlungsleitende Regeln und Symbole nur kurzfristig und allenfalls in Dyaden oder Kleingruppen auf spontaner Übereinkunft beruhen können. Je dauerhafter, komplexer und vor allem mitgliederstärker ein Interaktionssystem wird, desto mehr verselbständigt sicht das Normensystem gegenüber Einzelaktoren und EinzeIsituationen. Es durchläuft einen Prozeß der "Generalisierung" und gleichzeitig der Spezifizierung, d. h. Normen werden in ihrem Geltungsbereich nach Zeit, Ort und Adressat spezifiziert: "Stabilität ist nur dann möglich, wenn Menschen innerhalb bestimmter Grenzen zur rechten Zeit und am rechten Ort das Richtige tun. Darüber hinaus ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, daß jeder weiß, was er von den anderen erwarten darf. Daher finden sich in allen Gesellschaften institutionelle Definitionen von Roll e n, d. h. von Verhaltensweisen, die man von bestimmten Personen in bestimmten Zusammenhängen und Beziehungen erwartet117." Dabei ist hier von entscheidender Bedeutung, daß der Rollenbegriff stets eine "Partizipation" des Aktors an normativ verfaßten Interaktionsmustern bezeichnet. Das Verhältnis des Rollenbegrüfs zum Normbegriff ist somit ein unmittelbares. Die zentrale Stellung des Rollenbegriffs in der Parsonsschen Theorie wird nur deutlich, wenn die Vermittlerfunktion berücksichtigt wird, die die Rolle zwischen den mikroskopischen und makroskopischen Bereichen sozialen Handeins, zwischen Einzelpersönlichkeit, Sozialstruktur und kulturellem System einnimmt. Der in der Diskussion um den Rollenbegrüf immer wieder betonte Charakter der Rolle als "Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft"118, als "intermediary concept" des Zusammenfalls von "individual behavior" und "social conduct"l1t,l!O bekommt bei Parsons sein besonderes Gewicht durch den hier besonders deutlichen Zusammenfall normativer und konditionaler Elemente. Als solche bedingenden Faktoren gehen in den Rollenbegriff "Bedürfnisse" und "Kapazitäten" des in Rollen Handelnden einU1 ; andererseits, von der normativen Seite, stellt das Rollenmuster die ",Entfaltung' des gemeinsamen Wertsystems" in einem sozialen System darin. 117 Parsons, Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns, in: Soziologische Theorie, S.141 (Hervorhebung im Original). 118 Dahrendorf, Homo Sociologicus, 4. Aufl. Köln-Opladen 1964, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Dahrendorf, Pfade aus Utopia, München 1968, S. 128 ff. (133). 119 S. F. Nadel, The Theory of Social Structure, London 1957, S.20. 120 Für die Betonung dieser Stellung des Rollenbegriffs im "Grenzbereich" vgl. z. B. Parsons, Outline, S.42; ders., Soziologische Theorie, S.55. 121 Parsons / Bales / Shils, Working Papers, S.253. 122 Ebenda.

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V. Das Systemmodell

Theoretischer Bezugspunkt ist dabei der Fall, daß kulturelle Wertmuster voll in das Normengefüge des sozialen Systems institutionalisiert und solchermaßen geprägte soziale Normen voll in die Einzelpersönlichkeit internalisiert sind. Nur dann ist es berechtigt, von einer völligen Integration von handlungsleitender Motivation und normativen Handlungsvorgaben des sozialen Systems zu sprechen; nur dann ist es auch sinnvoll, von Rollen als "Entfaltung" eines Wertsystems sowie von der "Gemeinsamkeit" eines Wertsystems zu sprechen; nur dann schließlich werden die systemspezifischen Struktureinheiten: die "Bedürfnisdispositionen der Persönlichkeit" und die "Rollenerwartungen des sozialen Systems" deckungsgleichlU. Parsons betont daher öfter und zu Recht: "N u r wen n dies (d. h. volle Integration von Motivation und Sozialstruktur; R. D.) zu einem hohen Grad stattgefunden hat, kann man sagen, daß ein soziales System in hohem Maße integriert ist und daß die Interessen der Kollektivität und die privaten Interessen ihrer sich zusammenfassenden Mitglieder sich der Koinzidenz nähern1!4." Nun kann auch Parsons nicht daran vorbei, daß dieser Fall, den er für den "Schlüssel zur ,Transformationsformel' zwischen den zwei Systemen: der Persönlichkeit und des sozialen Systems"l2li hält, - wie er ausdrücklich betont - "empirisch unbekannt"128 ist. Er will ihn daher als "Grenzfall" betrachten und ist der Ansicht, daß - ungeachtet ihres Gehaltes an Unwirklichkeit - diese "Konzeption eines solchen integrierten sozialen Systems von hoher theoretischer Bedeutung ist ... ähnlich der berühmten reibungslosen Maschine"1!7. Angesichts des zwischen Entlastung und Entfremdung, zwischen Identität und Nichtidentität oszillierenden Rollenbegriffs steht Parsons' "Grenzfall"128 eines sozialen Systems jeweils für den ersten Pol. Normative, rollenförmige Anforderungen treten in ihm dem einzelnen nicht als Äußerliches entgegen, die Norm ist vielmehr identisch mit der Persönlichkeitsstruktur des "Normadressaten": "Wenn eine Person in einem Interaktionsschema voll sozialisiert ist, dann ist es nicht annähernd so richtig zu sagen, daß eine Rolle etwas ist, das ein Aktor ,hat' oder ,spielt', wie daß es etwas ist, das er i s tUB." 123 SS, S. 540. SS, S.42 (Hervorhebung von mir, R. D.); ähnlich SS, S.39. 125 SS, S. 540. 128 SS, S.42 Fn.11. 127 Ebenda. 128 Zur Vorliebe Parsons', von diesem Grenzfall aus Theorie zu entwickeln, vgl. Steinert, Die Strategien sozialen Handeins. Zur Soziologie der Persönlichkeit und der Sozialisation, München 1972, S.78. 129 Parsons I Bales, Family, Socialization and Interaction Process, S. 107. m

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Parsons' Bezugspunkt eines voll integrierten sozialen Systems verdient nicht Kritik wegen seines Gehaltes an " Unwirklichkeit". Nach früheren Ausführungen wird der Wert eines analytischen Instrumentariums hier gerade auch danach beurteilt, wieviel Wirklichkeit es grundsätzlich für möglich hält und nicht schon von vornherein ausschließt. Dabei ist von geringerer Bedeutung, ob es in Parsons' Intention liegt, eine Theorie zu entwerfen, der ein "moralischer Appell"lso, der "Begriff der guten Gesellschaft"1!l oder gar die "Utopie einer versöhnten Gesellschaft"l32 zugrundeliegt; bedeutsamer ist vielmehr, ob die Theorie als solche Ansätze zu derartigen Perspektiven enthält. Dies ist nach dem bis hierher, gerade auch zum "Grenzfall" eines voll integrierten sozialen Systems, Erörterten nicht von der Hand zu weisen. Kritisch zu beurteilen ist jedoch, daß in Parsons' Theorie die Möglichkeit normkonformen Verhaltens derart im Zentrum steht, daß Normabweichungen und ihre Ursachen nur spärlich und wenn, dann vorwiegend als pathologische Randerscheinungen, als "Residualkategorie" ausgearbeitet werden; daß dem Entwurf des vollintegrierten, Bedürfnisse der Einzelperson und normative Systemforderungen zur Deckung bringenden " Grenzfalls " soviel Aufmerksamkeit gewidmet wird, daß eine Vernachlässigung der Ursachen für die Divergenzen von normativen Handlungsvorgaben und Handlungsmotivation, von privatem und kollektivem Interesse fast unvermeidlich ist. Dies ist der Hauptgesichtspunkt, unter dem sich die Kritik an Parsons mehr an dem orientiert, was er vorschnell aus seiner Theorie ausgeblendet, als an dem, was er geleistet hat. Solches Ausblenden ist um so unbefriedigender, als es angesichts der im Ansatz vorhandenen und beschriebenen Zweidimensionalität des Parsonsschen Rollenkonzepts l33 (und im Grunde der gesamten Theorie) über weite Strecken unnötig erscheint. Das gilt insbesondere für die auf Parsons' Hauptinteresse am Entwurf des vollintegrierten " Grenzfalls " beruhende Verwischung der Differenz zwischen normiertem, also erwartetem, und faktischem Rollenverhalten. Dadurch geraten die - gerade auch rechtssoziologisch interessanten - Vermittlungsprozesse zwischen der vom sozialen System verlangten "sent role" und der das Verhalten letztlich bestimmenden vom Handelnden akzeptierten "received role"134 aus dem Blick. Gerade diese Vermittlerstelle 130 So Mitscherlich, Geleitwort zu Schwanenberg, S. 8. 131 Schwanenberg, S. 258. 132 Messelken, S. 162. 133 Zur Kritik an einem "unitarischen Rollenkonzept" vgl. Ullrich, S. 39 ff., S.40, 92 A, 160 mit Kritik der Vermengung von drei Rollenaspekten bei Parsons, wobei jedoch der Beleg für den dritten Aspekt (Rolle als tatsächliches Verhalten) auf einer Verstümmelung eines Parsons-Zitates beruht (vgl. SS, S. 26). 134 Ullrich, S. 45 ff.

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V. Das Systemmodell

hätte es nahegelegt, im Verhältnis zwischen "Normsender" und "Normadressat" nach der "Legitimation"136 der sent role zu fragen und insofern an die Theoriepartikel anzuknüpfen, die hier zum Verhältnis von Konsens-N orminterpretation-Legitimation erörtert worden sind. Das konzentrierte Interesse Parsons' an den normativen Faktoren zeigt sich in der Formulierung einer Normenhierarchie innerhalb des sozialen Systems, deren unterste Ebene die Rolle ist und darüber sich erhebend die normativen Kategorien von Gruppen (collectivities), Normen und Werten enthäW36 • Diese Kategorien sollen die Umsetzung des Wertsystems in funktional spezifizierte normative Muster erfassen. Werten und Normen ist gemeinsam, daß sie - "universalistisch" - die Steuerung des gesamten sozialen Systems betreffen. Der Unterschied besteht darin, daß Werte noch nicht selbst den Modus ihrer Verwirklichung enthalten, während Normen gerade diesen betreffen und durch die Statuierung von Regeln die Realisierung von Werten im sozialen Prozeß gewährleisten sollen. Kollektive und Rollen haben gemeinsam, daß sie - "partikularistisch" - nur bestimmte eingegrenzte Personengruppen betreffen. Rollen konkretisieren Normen mit weitem Geltungsbereich auf funktional-spezifizierte Handlungsfelder, für die einzelne Aktoren zuständig sind. Kollektive entstehen aus der "Assoziierung und Organisation" einer Mehrheit von Rollen, die in einem Interaktionsgeftecht als Mitglieder verbunden sind. Dabei wurde schon des öfteren hervorgehoben, daß die geschilderte Umsetzung von Werten bis in die untersten Einheiten des Handlungssystems durch Institutionalisierung erreicht wird. Institution erscheint als abstrakter Rollen- und Normenkomplex, im Gegensatz zum Kollektiv als einem konkreten System interagierender Rollen. "D i e Familie ist eine Institution, ein e konkrete Familie ein Kollektiv. Ein Kollektiv kann von mehreren Institutionen betroffen sein, eine Familie z. B. durch die Institution des Eigentums und der Schulei37." Die Ungleichgewichtung in der Parsonsschen Theorie zugunsten des normativen Elements wird gerade an diesen normativen Strukturkategorien des sozialen Systems sehr deutlich: Die Kette Werte-Normen-Kollektive-Rollen bezeichnet Parsons ausdrücklich und im Licht der Kontroll- und Bedingungshierarchie konsequent als nur einen Aspekt im sozialen Prozeß: Die in dieser Kette zum Ausdruck kommende Rangfolge bringt - von oben nach unten - die "Hierarchie der normativen Steuerung" zum Ausdruck, der - von unten nach 136 Vgl. zu diesem Verhältnis auch Lautmann, Abbau von Vorurteilen durch Gesetze, JRR 3, S.197. 138 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, KZfSS 1964, S. 36; ders., System,

S.20.

137 Brandenburg, S. 85 (Hervorhebung im Original).

2. Systemtypen - Systemebenen

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oben - die "Rangfolge der notwendigen Bedingungen", die "Rangfolge der Interessen, die als Bedingungen gelten", gegenüberstehtl38 . Parsons formuliert das so: "Die Interessen von Personen auf der Rollenebene geben die notwendigen Bedingungen für die Bildung von Gruppen auf der nächsthöheren Ebene an. Bestimmte Grade der Interessenbefriedigung von Gruppen sind ihrerseits die notwendige - jedoch nicht hinreichende - Bedingung für die Aufrechterhaltung von Normenkomplexen, die unabhängig von der Unterscheidung verschiedener Gruppentypen existieren ... Das Interesse an der Aufrechterhaltung der Normen wiederum bedingt die Möglichkeit, bestimmte Werte zu verfolgenl39." An dieser Konzeption fällt auf, daß die konditionalen, das gesellschaftliche "Substrat" betreffenden Elemente recht formal nur als Antithese zur Normativität erscheinen. Weiter ist es bezeichnend, daß - im Gegensatz zum mehrfach aufgefächerten und in seine Verästelungen verfolgten normativen Element - die bedingenden Faktoren grobfiächig als "Interesse" erscheinen. Auch hier werden Chancen zu einer "Materialisierung" der Theorie vertan. So ist es kein Wunder, daß die konditionalen Elemente, die "Interessen", vom Grundansatz der Theorie her zwar als ordnungsgefährdende und daher normativ zu "kontrollierende" Faktoren eingeführt140, im weiteren jedoch mehr und mehr als bereits Geordnetes thematisiert werden. Statt - wie es konsequent wäre - dem Normativen, der "Ordnung" die "Interessen" als " Gefährdung " gegenüberzustellen, ist vorschnell von der ,,0 r dnun g der Interessen"141 die Rede. So gerät auf der engagierten Suche nach der Lösung des Ordnungsproblems schnell aus dem Blick, in welchen Formen "Ordnung" durch "Interessen" verhindert, Normen von "Interessen" unterlaufen werden oder aber auch interessebedingte Normsysteme herrschen, die - entgegen Parsons' "Grenzfall" - eben nicht aUe Interessen bis an die Basis des sozialen Systems integrieren. Wenn daher Parsons formuliert, daß "ein Ordnungssystem, das einen höheren Grad kollektiver Leistung gewährleistet, ... nur entstehen (kann), wenn die Interessen der einzelnen Gruppen hinaufgehoben (relativiert) sind auf die Ebene eines normativen Systems, das allgemein genug ist, um die Interessen jedes Gruppenbereichsoder jeder Gruppenform zu integrieren" und daß "der Prototyp einer derartigen normativen Ordnung ... die Rechtsordnung (ist) "142, so muß an dieser Stelle wiederum realisiert werden: Auch hier handelt es sich um die 188 139 140 141 142

Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 36 (Hervorhebung im Original). Parsons, ebenda. Vgl. hierzu Schwanenberg, S.125. So Schrader, S. 125 (Hervorhebung von mir, R. D.). Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S.37.

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V. Das Systemmodell

Rechtsordnung von Parsons' vollintegriertem "Grenzfall", der als utopischer Vorgrüf legitim, auf dem Hintergrund nichtintegrierter Systeme mit an Partialinteressen orientiertem Recht jedoch ideologiegefährdet ist. dd) Das kulturelle System Die Problematik der Abgrenzung des Allgemeinen Handlungssystems von nichthandlungsförmiger "Umwelt" an der "unteren" Grenze hat sich am Konzept des Verhaltensorganismus gezeigt. Noch problematischer ist die Bestimmung der oberen Grenze. Sie verläuft durch den Bereich der "Kultur". Die Problematik der Grenzbestimmung wird nicht nur durch die für alle Bereiche der soziologischen und kulturanthropologischen Diskussion charakteristische Weite und schwere Bestimmbarkeit des Kulturbegriffs indiziert; auch in der Parsonsschen Theorieentwicklung hat sich diese Problematik augenfällig darin erwiesen, daß die beiden grenznächsten Subsysteme: der Verhaltensorganismus und das kulturelle ·S ystem erst zögernd von Handlungsumwelt in den Rang von Handlungssystemen erhoben worden sind. Das kulturelle System ist zunächst nicht als Handlungssystem, sondern als System von aufeinander abgestimmten Werten, Normen und Symbolen konzipiert, das als Regulativ bei der Auswahl unter verschiedenen Handlungsalternativen durch den Handelnden dientl". Hierzu gehören Glaubens- und Meinungssysteme: wissenschaftliche Lehrmeinungen, Ideologien, Religionen. Dem Stadium der Theorieentwicklung entsprechend werden die Elemente des kulturellen Systems an das Interaktionsparadigma, genauer: an die Orientierungsmodi des einzelnen Handelnden gekoppelt und in solche von kognitivem, expressiv-gefühlsmäßigem (kathektischem) und evaluativen Charakter klassifiziert144 • Kultur erscheint so nicht als Handlungssystem, sondern als "System von ,zeitlosen Objekten' "145, von dem Parsons hervorhebt, daß es "nicht ,funktioniert', es sei denn als Teil eines konkreten Handlungssystems, es ,ist' eben"l". Die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre vorgenommene Neufassung des Kulturbegrüfs bringt als Hauptergebnis die Einstufung des kulturellen Systems als Handlungssystem. Dabei ist auch hier selbstverständliche Theorieprämisse, daß ein konkretes Handlungs143 144

Toward, S. 55.

5S, S. 327 ff ..

145 Parsons I Shils I Naegele I Pitts (Hrsg.), Theories of Society. Foundations of Modern Sociological Theory, einbändige Ausgabe New York-London 1965, S. 964 ("System of 'eternal objects'''); bei diesem auf Whitehead zurückgehenden Begriff der "eternal objects" (vgl. dazu Bubser, S. 281) schließt sich einer der vielen Kreise zur Philosophie der Theorie. 148 SS, S.17: "A cultural system does not 'function' except as part of a concrete action system, it jlist 'is' ...

2. SysteJIltypen -

Systemebenen

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system zugleich kulturell und sozial ist. Analytisch wird es als kulturelles System behandelt, wenn es um seine Strukturen und Prozesse in ihrer Auswirkung auf die Schaffung, Erhaltung oder Wandlung von Bedeutungskomplexen geht; als soziales System wird es unter· der Fragestellung nach Ordnung und Stabilität des Interaktionsgefiechts analysiert147• Um einen Handlungszusammenhang unter dem Blickwinkel des kulturellen Systems handelt es sich danach etwa dann, "wenn die ,Durchsetzung' kultureller Elemente, etwa von Glaubenslehren in ,Interaktion' mit Wissensinhalten untersucht wird"l48. Dabei ist die Grenze zwischen kulturellem System und dem - neben physischer Umwelt - zweiten "Realitätssystems " , das i. S. der Analyse nicht als "Handlungsbestandteil", sondern als "Umwelt des Handeins" zu verstehen ist, so zu ziehen: "Kultur" liegt außerhalb des allgemeinen Handlungssystems und ist "letzte Realität"149, wenn es sich um den Bedeutungs-, nicht aber den Wirkungszusammenhang philosophischer und theologischer Ideen oder formaler Denkgebilde von Logik, Mathematik und Rechtslehre handeJt150. Die für soziale Systeme bedeutsamsten Gehalte des kulturellen Systems sind Wertel5l , die - wie ausgeführt - sehr weite und allgemeine Definitionen anzustrebender Zustände, Prozesse etc. enthalten. Parsons' kontinuierliche Betonung ihrer Wichtigkeit für das Zustandekommen sozialer Ordnung wurde bereits mehrfach hervorgehoben; ebenso der Maßstab des Grades an sozialer Ordnung, der durch das Ausmaß der Gemeinsamkeit bedingt ist, mit dem Werte von den Mitgliedern eines sozialen Systems "geteilt" werden; und ebenso das Mittel, mit dem solche Werte in das soziale System transponiert werden: ihrer Institutionalisierung in soziale Normen und Rollen. Das dominierende Wertsystem prägt sich in der Rangfolge der funktionalen Subsysteme eines sozialen Systems aus, ebenfalls in der Weise, wie die Rollen innerhalb eines solchen Subsystems geordnet und bewertet werdenl~. Die normative Hierarchie von Werten, Normen, Gruppen, Rollen, über die Wertmuster in das soziale System institutionalisiert und damit auf konkrete Situationen hin spezifiziert werden, wurde bereits erörtert. 147 Parsons, Pattern Variables Revisited: A Response to Robert Dubin, ASR 1960, S.467. 148 Brandenburg, S. 34. 148 Vgl. z. B. Parsons, System, S.14. 160 Vgl. z. B. Parsons, Approach, S. 702 ff.; ders., Outline, S. 36 ff.; zum Ganzen auch Brandenburg, S. 33 f., 81 ff. 151 Vgl. zu diesem Begriff Kluckhohn, Values and Value-Orientation in the Theory of Action: An Exploration in Definition and Classification, in: Toward, S. 388 ff. 152 Brandenburg, S. 84.

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V. Das Systemmodell

Parsons hat trotz vieler berechtigter Zweifel und Einwände t53 an der Betonung der Schlüsselstellung eines allgemeinen Wertsystems für die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung festgehalten1M• Max Webers Schrüt über "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" ist dabei für Parsons jedenfalls im Hinblick auf die Analyse der US-Gesellschaft wegweisend. Die Berechtigung derartiger Einwände kann nicht aus dem bloßen Hinweis der schieren "Überbau"-Funktion von Wert- und Normsystemen bezogen werden. Die Wirksamkeit, ja "Schlagkraft" von Ideologien, Glaubenssystemen etc. kann nicht ohne Rest auf Materialität zurückgeführt werden. Gerade im epochemachenden Lichtkegel, den die Theorie von Kar! Marx auf das Verhältnis von "Sein" und "Bewußtsein" geworfen hat, verbietet sich eine Reduktion von Bewußtsein auf Sein. Dabei kann die Frage nach determinierenden "gesellschaftlichen Zwängen" einerseits und "anthropologischen Konstanten"ll15 andererseits hier auf sich beruhen. Denn auch wenn solche vorauszusetzen wären, könnte menschliche Praxis auf "Werte", "Ideen" jedenfalls als experimentelles, heuristisches Prinzip nicht verzichten, weil die Alternative hierzu nur im Abschied von der Geschichte des Menschen schlechthin bestehen würde. Gerade auch dann, wenn man sowohl Status-quo-Ideologien wie auch die dogmatische "teleologische Absicherung" von Politutopien durch die geschichtliche Praxis desavouiert sieht, erscheinen Bewußtsein als "anthropologische Möglichkeit" und Ideen als Artikulation "emanzipatorischer Chancen"16S unverzichtbar. Alles andere liefe auf die Hoffnung hinaus, daß sich das "Sein" gleichsam selbst am Schopfe aus dem Zwang seiner puren Materialität ziehen möge. Die Berechtigung der Parsons-Kritik beruht vielmehr auch in diesem Zusammenhang auf der Tatsache, daß seine Suche nach der normativen Begründung von versöhnter Gesellschaft ihn weitgehend die - wenn nicht determinierenden, so doch - mitbedingenden Faktoren solcher Normativität aus dem Blick verlieren läßt - dies, obwohl sein Ansatz beide Pole in die Theorie einbringt.

Vgl. statt vieler Brandenburg, S. 86 fi. Vgl. z. B. Parsons, Structure, S. 295 ff.; ders., Christianity and Modern Industrial Society, in: Tiryakian (Hrsg.), Sociological Theory, Values and Socio-Cultural Change. Essays in Honor of P. A. Sorokin, London-New York 1965, S. 33 ff. 155 Vgl. hierzu und zum folgenden Lepenies I Nolte, Experimentelle Anthropologie und emanzipatorische Praxis. überlegungen zu Marx und Freud, in: dieselben, Kritik der Anthropologie, München 1971, S. 9 fi. 156 Lepenies / Nolte, S. 75 und passim. 163

154

3. Das Rechtssystem

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3. Das Rechtssystem

a) Die Systemjunktionen des Rechts aal Systemreferenzen und Multifunktionalität des Rechts Der Gedanke, dem Recht innerhalb des Parsonsschen Systems einen eindeutig und ausschließlich fixierten Platz anzuweisen, ist verführerisch. Er wäre es insbesondere in der Form, rechtliche Normsysteme exklusiv einer der vier Primärfunktionen des AGIL-Paradigmas zuzuordnen. Vor solcher Verführung ist zu warnen. Sie würde nicht nur Unklarheiten und Widersprüche der Theorie verharmlosen, sie würde auch Dimensionen und Chancen der Theorie begraben. So insbesondere Chancen einer Verknüpfung des Rechts mit dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß. In diesem Punkt - und das betrifft die angesprochenen Unklarheiten der Theorie - hat Parsons nicht immer gleichbleibende Betonungen vorgenommen. Er hat die Zuordnung konkreter gesellschaftlicher Institutionen zu bestimmten Systemfunktionen unterschiedlich stark akzentuiert. Die beiden Pole sind als "Tendenz der strikten Zurechnung der ,functional prerequisites' zu institutionell aufzufassenden Subsystemen" einerseits und des Entwurfs der Primärfunktionen als "eher tiefensoziologisch als auf allen Ebenen des sozialen Lebens sich manifestierender Totalphänomene" andererseits umschrieben wordenl67• Obwohl die Gefahr vermieden werden muß, die empirische Relevanz der Theorie dadurch zu verwässern, daß versucht wird, "alles durch alles" zu erklären, und trotz der Unmöglichkeit, "Totalphänomene" als solche, d. h. ohne analytische Zergliederung, zu erfassen, entspricht nur der zweite Pol den Konstitutionsprinzipien der Theorie. Denn die vier durch das AGIL-Schema erfaßten Primärfunktionen (und demnach alle von ihnen ableitbaren Folgefunktionen) sind ihrer Konzeption nach Funktionen, die jedes System erfüllen muß und damit auch jedes Subund Subsubsystem168• Das bedeutet aber, daß auf der Ebene jedes Subsystems, und d. h. auch auf der des - ebenfalls als Subsystem begriffenen159 - Rechtssystems, wiederum alle Primärfunktionen erscheinen. Auf diese Weise erhält das Konzept der funktionalen Differenzierung und Spezialisierung eine weitere komplizierende Modifizierung. Messelken, S.167. So im Zusammenhang mit Recht auch Kaupen, Über die Bedeutung des Rechts und der Juristen in der modernen Gesellschaft. Ein strukturellfunktionaler Ansatz, in: Soziologie, Festschrift für Rene König, Opladen 1973, S. 369 ff. (371). 151 Vgl. Parsons, System, S. 29 ff. (30). 1Ii7 158

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V. Das Systemmodell

Dies muß Berücksichtigung finden, wenn Parsons "Integration" dem sozialen, "Normenerhaltung" dem kulturellen, "Zielverwirklichung" dem Persönlichkeitssystem und "Anpassung" dem Verhaltensorganismus zuordnet l80 ; wenn er etwa auf einer anderen, innerhalb des Persönlichkeitssystems liegenden Ebene im psychoanalytischen Sinne der A-Funktion ein "realitätstestendes" Ich, der G-Funktion das Es, der I-Funktion ein "integrierendes" Ich und der L-Funktion das Überich zuordnet161 , wenn er schließlich auf einer innerhalb des sozialen Systems liegenden Ebene der A-Funktion das Subsystem "Wirtschaft" und der G-Funktion das Subsystem "Politik" zuordnetl &!. Beim zuletzt genannten sozialen System fällt jedoch bereits auf, daß den beiden "internen" Funktionen von Integration und Normenerhaltung sehr viel zurückhaltender je spezifische konkrete gesellschaftliche Strukturen zugeordnet werden als den nach "außen" gerichteten Funktionen A und G. Ja, daß der Funktion der "Normenerhaltung" schlicht ein System der "Normenerhaltung" zugeordnet wird und - besonders bezeichnend - der integrativen Funktion die gesamte "gesellschaftliche Gemeinschaft" (societal community)163. Daran wird - soll das Konzept nicht völlig sinnlos erscheinen - deutlich, daß "Integrations"-Funktionen nicht exklusiv einer bestimmten Institution oder gar einer als konkrete Gruppe verstandenen "Gemeinschaft" zugeordnet werden, sondern daß es darum geht, die Gesamtgesellschaft unter einem spezifischen Aspekt zu betrachten: dem einer aufeinander abstimmenden normativen Definition von Status und Rolle der Systemeinheiten, der Mitglieder164 • Für die funktionalen Imperative muß daher das gleiche gelten wie für die vier primären Subsysteme: "Ihr theoretischer Status ist ambivalent: Einerseits legen sie unterschiedliche analytische Schnitte durch die g lei c h e n konkreten Objekte, andererseits sollen sie einzelne Ebenen realen menschlichen HandeIns repräsentieren, Ebenen, auf denen je u n t e r s chi e d I ich e Gesetze gelten166. " Parsons hat diese Tiefenstaffelung seiner theoretischen Einzelkonzepte nicht deutlich ausgearbeitet. Er hat damit eine weitere Chance ausgelassen, die Theorie funktionaler Differenzierung mit der hier als Zentralfigur der Parsonsschen Theorie aufgefaßten Kontroll- und Bedingungshierarchie zu verbindenl66 • Diese Tiefenstaffelung klingt nur z. B. Parsons, System, S. 12 ff. Vgl. hierzu Nolte, S. 146 f. 182 Vgl. z. B. Parsons, System, S.20; auch Parsons I Smelser, Economy and Society, S. 46 ff. 183 Parsons, System, S. 20. 164 Dies klingt an bei Parsons, System, S. 22. 165 Brandenburg, S. 32 (Hervorhebungen von mir, R. D.). 166 Dieser Vorwurf klingt auch bei Nolte, S.187, an. 180 161

3. Das Rechtssystem

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an, wenn Parsons - vereinzelt - davon spricht, daß eine Funktion nicht einer bestimmten Institution zugeordnet wird, sondern "entsprechenden Aspekten (!) jeder Gesamtheit"167; sie klingt aber besonders dann an, wenn Parsons - durchgängig - von "Hauptfunktionen" spricht, davon, daß das soziale System "hauptsächlich" Integrationsaufgaben erfülle, daß Normenerhaltung die "Hauptaufgabe" des kulturellen Systems sei und: daß "die komplexen Beziehungen zwischen den einzelnen Handlungssubsystemen sowie zwischen den einzelnen Gesellschaftssubsystemen ... eine wirklich saubere Einteilung nicht zu(lassen)" und daß etwa Verwandtschaftssysteme jedenfalls drei solcher Subsystemen zuzuordnen seien1". Dem entspricht völlig, daß das Recht für Parsons "p r i m ä reine integrierende Funktion" hat1el, 170. Damit wird dem Recht von vornherein eine Multifunktionalität zugewiesen, und zwar nicht nur in der Weise, daß "Rechtsänderungen ... in mehr oder weniger unifunktionaler, zweckgerichteter Perspektive ... auf eine durchweg multifunktionale Wirklichkeit auftreffen "171, sondern, daß Recht bereits per se auf multifunktionale Effekte hin angelegt ist. Recht ist "nicht spezifisch in bezug auf den funktionalen Gehalt auf niederen Ebenen"l7%. "Law, or legal process, is a set of mechanisms which operate with respect to all categories of institutions in a society l73." Dies folgt bereits aus dem Grundansatz der Theorie. Wenn das Kontrollkontinuum die Allgegenwärtigkeit von Normativität postuliert: von allgemeinsten Wertsystemen bis zur normativen Prägung von Wahrnehmungs- und Erlebnisverarbeitung, vom kulturellen System bis zum Verhaltensorganismus und innerhalb des sozialen Systems von allgemeinen gesellschaftlichen Leit- und Zielvorstellungen bis in die Details des ökonomischen Prozesses, dann ist auch Recht auf allen diesen Ebenen beteiligt. Insbesondere dann, wenn die vier Primärfunktionen des AGIL-Schemas - wie es hier geschehen ist 167 Parsons, System, S.26, für "Politik" und "Regierung". 168 Parsons, System, S.12, 21; zum Verwandtschaftssystem vgl. auch Parsons, Das Verwandtschaftssystem in den Vereinigten Staaten, in: Soziologische Theorie, S. 84 ff.; hierzu auch Schelsky, JRR 1, S.55, bei der Erörterung des Parsons-Schülers Bredemeier. 169 z. B. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 122 (Hervorhebung von mir, R. D.).

170 Einen etwas anderen Weg schlägt Kaupen, S. 369 ff. ein, wenn er nicht die Funktion des Rechts untersucht, sondern die Gewichtigkeit des Rechts innerhalb von vier, am AGIL-Schema ausgerichteten, idealtypischen Gesellschaftstypen. Für Kaupen kommt dann dem Recht in demjenigen Sozialsystem die größte Bedeutung zu, in dem "Integration" die dominante (Parsons würde sagen: primäre) Funktion darstellt. 171 Luhmann, Rechtssoziologie, S.309. 172 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S.12l. 178 Parsons, Structure, S.190 (Hervorhebung im Original).

8

Damm

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V. Das Systemmodell

als die Normativität der Subsysteme begriffen wird, und die vier Grundfunktionen für jedes Sozialgebilde konstitutiv sind, dann muß Recht auf die Gewährleistung ebendieser Funktionen abzielen174 • Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß Normativität nicht auf allen Stufen in der spezifischen Form von Rechtsnormen erscheine. Dieses Argument übersieht, daß die normativen Ebenen kultureller, rechtlicher, moralischer, wissenschaftlicher Standards nicht unverbunden übereinander liegen; daß vielmehr "außerrechtliche" Normen in zweierlei Weise bereits durch die rechtliche Normebene gefiltert sind: von oben nach unten im Wege der Normspezifizierung für konkrete Handlungssituationen, von unten nach oben im Wege der "Wertverallgemeinerung" , wenn sich auf den unteren Ebenen, etwa durch Differenzierungsprozesse im familiären Bereich, neue Verhaltensweisen gebildet haben, die die oberen, allgemeineren Normensysteme beeinflussen. bb) Recht und "integration": Norm und Substrat Recht wird von Parsons wiederholt, wenn auch ohne Ausarbeitung, der integrativen Funktion zugeordnet171i• Dabei ist auf die doppelspurige Einschränkung hinzuweisen: Vom sozialen System her gesehen: Seine Integrationsfunktion wird (nur) "primär" vom Rechtssystem erfüllt178 , vom Rechtssystem her: es erfüllt (nur) "primär" integrative Funktionen l77 • "In a highly differentiated society, the pr i m a r y focus of the integrative function is found in its system of legal norms and the agencies associated with its management, notably the courts and the legal profession. Legal norms at this level, rather than that of a supreme c 0 n s t i tut ion, govern the allocation of rights and obligations, of facilities and rewards, between different units of the complex system; such norms facilitate internal adjustments compatible with the stability of the val u e s y s t e m or its orderly change, as well as with a d a p t ion to the shifting demands of the extern al situation178 ." Dieses Zitat verdeutlicht den wesentlichen Grundzug der Parsonsschen Auffassung von den Funktionen des Rechts: Zwar wird als rechtliche "Primär"-Funktion Integration vorgestellt, d. h. innerhalb des seinerseits "primär" integrativ wirkenden sozialen Systems1'111 stellt "primär" das Rechtssystem den Brennpunkt der I-Funktion dar; 174

Schneider, Grundlegung der Soziologie, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz

176

Vgl. z. B. Parsons, Outline, S. 38 ff.; ders., Recht und soziale Kontrolle,

176

Parsons, Outline, S. 40. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, 8. 122. Outline, 8.40 (Hervorhebungen von mir, R. D.). Vgl. oben V, 2 d) ce).

1968, 8.75. 8.122. 177 178 178

3. Das Rechtssystem

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jedoch wird gleichzeitig die Verbindung zwischen Recht und den übrigen Funktionen des AGIL-Schemas hergestellt, im obigen Zitat zu pattern maintenance (value system) und adaption, anderenorts - wie sich zeigen wird - auch zu goal attainment. Es zeigt sich für das Recht die für Parsons typische Annahme einer Multifunktionalität sozialer Phänomene. Sowohl die integrative Funktion des Rechts wie auch die diesbezügliche Einschränkung folgen unmittelbar aus Parsons' Ansatz. Parsons geht davon aus, daß das integrative Subsystem (in der Gesellschaft: die "gesellschaftliche Gemeinschaft") seine Funktion nur dann und in dem Maß erfüllen kann, wenn und soweit es ein "Normen s y s t e m mit einheitlicher und kohärenter kollektiver Organisation"180, eine "normative Ordnung"181 hervorbringt, oder, genaugenommen: eine in Übereinstimmung mit einem System allgemeiner Grundwerte entwickelte normative Ordnung (aber dies letztere betrifft bereits den Übergang von integrativem und kulturellem System). Und weiter: "Der Prototyp einer derartigen normativen Ordnung ist etwa die Rechtsordnung l 8!." Damit wird das Recht zu einem Hauptmoment der Integrationsfunktion, allerdings gleichzeitig - mit der Kennzeichnung als (bloßer) " Prototyp " - eine wichtige Einschränkung zugunsten anderer subrechtlicher und superrechtlicher, "außerrechtlicher" Normensysteme gemacht. Der Begriff von "Integration", zu der das Recht beizutragen hat, ist bei Parsons nicht deutlicher als bei vielen, die ihn verwenden. "Integration" "bezeichnet einen Beziehungsmodus zwischen den Einheiten eines Systems, vermöge dessen diese Einheiten so zusammenwirken. daß der Zerfall des Systems und der Verlust der Möglichkeit zur Erhaltung seiner Stabilität verhindert und sein Funktionieren als eine Einheit gefördert wird"l83. Damit ist bei aller Vagheit eine Absetzung gegenüber einem Integrationsbegriff vorgenommen, der, wie in der geisteswissenschaftlichen Methode der Verfassungslehre von Smend, als "Erlebnis"-Zusammenhang begriffen wird l84 . Für Parsons ist Inte180 So z. B. Parsons, System, S. 21 (Hervorhebung im Original). 181 So z. B. Parsons, System, S.29; ders., Die jüngsten Entwicklungen, S.37. 182 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S.37. 188 Parsons, zitiert nach Bernsdorf, Stichwort "Integration", in: de:,s. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufi. Stuttgart 1969, S.469/470. 184 Zum Smendschen Integrationsbegrüf vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. erweiterte Auf!. Berlin 1968, S. 136 ff.; vgl. auch Mols, Integrationslehre und politische Theorie, AöR 1969, S. 513 ff.; aus systemtheoretischer Sicht Luhmann, Grundrechte als Institution, S.46; auch in der Nachfolge Smends erfolgen hier charakteristische Absetzungen, vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967, S.5 Fn.21; Kritik an Smends

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v. Das Systemmodell

gration nicht Erlebniszusammenhang, sondern Verhaltenszusammenhang und damit Wirkungszusammenhang. Mit dieser Differenz zur Smendschen Integrationslehre rückt Parsons' Theorie gleichzeitig (aber - wie sich noch zeigen wird - nicht nur damit) mehr in die Nähe der Staatslehre Hermann Hellers. Gerade für das Recht von zentraler Bedeutung ist das eigentümlich schillernde Verhältnis des Parsonsschen Integrationsbegriffs zum Begriff des "Interesses". Wenn bei Parsons von der Funktion von Normensystemen, insbesondere des Rechts, und dem davon abhängigen Integrationsprozeß die Rede ist, klingt häufig, aber in charakteristischer Vagheit und Beiläufigkeit das Problem des Interesses an. So spricht Parsons davon, daß "bestimmte Grade der Interessenbefriedigung von Gruppen ... ihrerseits die notwendige - jedoch nicht hinreichende Bedingung für die Aufrechterhaltung von Normenkomplexen (sind)"l8S; von einem "normativen System, das allgemein genug ist, um die Interessen jedes Gruppenbereichs oder jeder Gruppenform zu integrieren"186; davon, daß das Recht "seine stärkste Stellung in einer Gesellschaft (besitzt), in der die verschiedenartigen Interessen respektiert und untereinander zum Ausgleich gebracht werden müssen"187; davon, daß der Grad von Integration damit korreliert, inwieweit die Interessen eines Kollektivs und die Interessen der das Kollektiv konstituierenden Mitglieder zur Koinzidenz gebracht sind l88 ; davon, daß Einheit und Gleichgewicht eines sozialen Systems dann gegeben seien, wenn "die einzelnen Handelnden sich im Einklang mit ihren individuellen Bedürfnissen und mit den Erwartungen ihrer Interaktionspartner verhalten"189. Unzweifelhaft ist dabei zunächst nur, daß "Interessen" in der Regelungs- und Bedingungshierarchie zu den "bedingenden" Elementen gehören, die den steuernden, normativen Elementen gegenübertretenl90• Damit hält Parsons den Schlüssel zu einer analytischen Miterfassung der nicht-normativen, " faktischen" Elemente des gesellschaftlichen "Substrats" in Händen. Gerade auf dem Hintergrund der soeben zitierten Parsons-Passagen erscheinen in Parsons' "Grenzfall" des vollintegrierten Systems Umrisse eines gesellschaftlichen Konzepts, in dem soziale Integration nicht nur durch die Konsistenz eines Norm- und "geisteswissenschaftlicher Integration" übt immer wieder Heller, Staatslehre, Leiden 1963, 5. 89, 229. 185 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 36. 186 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S.37. 187 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S.134. 188 5S, S.42; vgl. auch Parsons, Essays in Sociological Theory, 5.240. 188 Parsons, zitiert nach Bernsdorf, S.470 (Hervorhebung von mir, R. D.). 190 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 36.

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Rollensystems bedingt ist, sondern gleichermaßen durch den Grad der Bedürfnisbefriedigung der Akteure. Nur in einem solchen Konzept könnte Integration am Zusammenfallen von Partikular- und Allgemeininteresse gemessen werden. Gerade ein solches Konzept klingt bei Parsons aber an, wenn er Integration - und, wie sich bereits früher gezeigt hat, auch den Begrüf der Institutionalisierung - mit der Koinzidenz von Wertsystem und Interesse, von Norm und Motivation, von Rolle und Bedürfnis koppelt. Der Grund dafür, daß Parsons den Schlüssel zu dem genannten Konzept - fast - ungenutzt läßt, ist nicht so ausgemacht, wie es ein Teil der Parsons-Kritik annehmen möchte. Er liegt weder im "strukturellfunktionalen Ansatz" noch in einer durchgängig idealistischen, "entmaterialisierenden" Philosophie. Parsons' Betonung der Normativität und seine Vernachlässigung des "Substrats"ll1 ist vielmehr eher verwunderlich angesichts der in der Kontroll- und Bedingungshierarchie angelegten Gleichrangigkeit von Normativität und Konditionalität. Die entscheidende Wendung erfährt Parsons' Theorie durch die Vernachlässigung ebendieser Gleichrangigkeit. Gleichrangigkeit wird zwar vordergründig durch das formale Nebeneinanderstellen von Norm und Substrat postuliertl9Z , in der Ausarbeitung der Theorie jedoch weitgehend unterschlagen. Die Begründung versucht Parsons mit einer Rechnung zu geben, die nicht aufgeht: "Ich bin kultureller Determinist mehr als sozialer Determinist in dem einen Sinn und nur dem Sinn, daß ich die Wichtigkeit der kybernetisch193 höchsten Elemente für die Strukturierung von Handlungssystemen betone. In ähnlicher Weise nehme ich an, daß innerhalb des sozialen Systems die normativen Elemente für den sozialen Wandel bedeutsamer sind als die ,materiellen Interessen' konstitutiver Einheiten ... Bedingende Faktoren können keine neue konkrete Ordnung schaffen ohne eine davon u n a b h ä n gig e Innovation auf 191 Das Begriffspaar "Norm" und "Substrat" von Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre Funktion, Neudruck Stuttgart 1965, führt Lockwood, Some Remarks, in die Parsons-Kritik ein. 182 Vgl. z. B. Parsons, The Point of View of the Author, S.334; ders., Die jüngsten Entwicklungen, S. 36 f.; ganz deutlich auch ders., Structure, S. 173: "I do not think it is useful to postulate a deep dichotomy between theories which give importance to beliefs and values on the one hand, to allegedly 'realistic' interests, e. g. economic, on the other. Beliefs and values are actualized, partially and imperfectly, in realistic situations of social interaction and the outcomes are always codetermined by the values and the realistic exigencies; conversely what on concrete levels are called 'interests' are by no means independent of the values which have been institutionalized in the relevant groups." 183 Im Zuge einer Einarbeitung kybernetischer Begriffe in die Theorie nennt Parsons die Regelungshierarchie auch "hierarchy of cybernetic control", vgl. Parsons, Societies, S. 113.

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einer höheren normativen EbeneI94.195." Der Riß in der Argumentation springt geradezu ins Auge: Von der richtigen Überlegung, daß anvisierte neue Wirklichkeit immer zunächst "Entwurf", also normativer Vorgriff ist, läßt sich Parsons in der Ausarbeitung der Theorie dazu verführen, die Dominanz von Wert und Norm gegenüber Interesse und Bedürfnis auch für die jetzt vorgefundene Wirklichkeit anzunehmen. Damit korrespondiert ein permanenter und von Parsons nicht konstatierter Bühnenwechsel: Der vollintegrierte " Grenzfall", hinsichtlich dessen sich Parsons - wie bereits gezeigt - völlig bewußt ist, daß er in der Realität nicht existiert, und von dem her zu argumentieren grundsätzlich sinnvoll erscheint, wird häufig so behandelt, als repräsentiere er die vorgefundene und zu analysierende Realität. "Immer wieder verliert er den von ihm selbst gezogenen engen Geltungsrahmen seiner Begriffe aus den Augen und stellt sich dann Integration ganz deutlich als den Normalfall empirisch vorfindbarer Strukturen sozialen Handelns vor l96 ." Dieser Aspekt ist der Ansatzpunkt für den gerechtfertigten Vorwurf, hier werde Ideologisierung des status quo betrieben. So auch ganz deutlich für das Recht: Es "i stein eigenes integriertes System"I97. Damit wird die Bezugsgröße zum Faktum, "Verfassungswirklichkeit" zur Verfassung l98 . Mit dieser Perspektivenverschiebung verbaut sich Parsons den möglichen Zugang zu entscheidenden Punkten einer gebotenen Analyse. Dies gilt insbesondere für Fragen nach den Ursachen des Auseinanderfallens von interesse- und normgeleitetem Handeln; danach, wieweit und wieso Interessen sich trotz normativer Sollzustände ("Sozialstaat"- "Chancengleichheit") durchsetzen; schließlich - und das dürfte die wichtigste Frage sein - danach, in welcher Weise Entstehung und Bestand von Normen durch Interessen "bedingt" sind und: welche und wessen Interessen dies sind. Erst die Einbeziehung derartiger Bedingtheit von Normen würde das große Verdienst der Parsonsschen Theorie komplettieren. Neben die Erfassung subtilster Formen normativer Steuerung von menschlichem Verhalten könnte die Berücksichtigung subtilster Formen "materieller" Bedingtheit von normativen Mustern treten. Erst dann wäre der Anspruch der Kontroll- und Bedingungshierarchie erfüllt, die gegen194 Parsons, Societies, S. 113 f. (Hervorhebungen im Original). 195 Angesichts dieser Selbstkennzeichnung als "kultureller Determinist" verfehlt der Vorwurf eines "economic determinism" sowohl subjektive Intention als auch objektive Grundlegung von Parsons, vgl. Tiryakian, Besprechung von Parsons: Politics and Social Structure, in: Social Forces, 1970, S. 328. 196 Messelken, S. 65. 197 Parsons, System, S.30 (Hervorhebung von mir, R. D.). 198 Vgl. eine entsprechende Warnung bei Stendenbach, Zur Theorie sozialen Handeins, KZfSS 1964, S. 50 ff. (52).

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läufigen, aber - in der gegenwärtigen Situation des Denkens - nur als gleichzeitig und gleichrangig konzipierbaren Prozesse von Normativität und Konditionalität zu erfassen. Erst dann auch wäre ein Schritt in Richtung einer "Neuformulierung der alten Dichotomie von ,ideal' und ,real' "199 getan, weil Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit beider Pole die Dichotomie nur noch als analytische eines einheitlichen Prozesses zuließe. Dabei hat Parsons "Neuformulierung" gerade auch bezüglich des Rechts angedeutet: "Das Recht kann nicht widerspruchslos entweder der einen oder der anderen Faktorengruppe (d. i.: ,Idealfaktoren und Realfaktoren') zugewiesen werden. Es ist die prinzipiell vermittelnde Struktur zwischen beiden200 ." Parsons läßt damit eine "Entdeckung" des 20. Jahrhunderts ungenutzt, an der er maßgeblich mitbeteiligt ist: Der Positivismus des 19. Jahrhunderts hatte soziale Wertsysteme und die sie vermittelnden Institutionen und Bedürfnisse noch als unproblematische Einheit begriffen, dem von Parsons heftig angegriffenen "rationalistischen Positivismus" konnte daher mögliches Auseinanderklaffen von Norm und Interesse kein Problem sein: "Die klare Erkenntnis der ,eigentlichen' bzw. Eigeninteressen ist für die Positivisten kein Problem: Für sie steht fest. daß positivistisch aufgeklärte Menschen nach ihrem wohlverstandenen Interesse handeln201 ." Demgegenüber betrüft die besagte, von Parsons entscheidend geförderte " Entdeckung " den Umstand, "daß auch Werte unabhängig von ,realen Bedürfnissen' existieren und einen ausschlaggebenden Einfluß auf die Bedürfnisse selbst ausüben können". Gerade im Anschluß an solche, im Mittelpunkt der Parsonsschen Theorie stehenden bedürfnisprägenden Norminternalisierung taucht aber das Problem des "Handelns wider die eigenen Interessen"llO! auf. Daß Parsons dieses Problem ausspart, versperrt ihm den Zugang zu der zentralen Kritik an den parlamentarisch verfaßten Wählerdemokratien: daß der Wählerwille ebensolches Handeln wider eigenes Interesse, mithin Ausdruck "falschen Bewußtseins" sei. Erst im Anschluß an ein Eingehen auf solche Kritik hätte gerade auf der Grundlage einer Gleichrangigkeit von Norm und Substrat als Replik Problematisierung ebendieser Kritik erfolgen können: daß der Begriff des "falschen Bewußtseins" (und das ist das Postulat einer Divergenz von Norm und Substrat!) seinerseits ein gefährliches Maß an Entmündigung, nämlich Aberkennung subjektiver Entscheidungsreife enthält; daß weiter dem "subjektiv falschen Bewußtsein ein objektiv rich188 %00 %01 20%

Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S.37. Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität, S. 54. Kiss I, S. 275. Beide Zitate Kiss, ebenda.

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tiges Bewußtsein entgegengestellt und davon bewiesen werden (muß), daß es tatsächlich etwas anderes als nicht auch eine ebenfalls subjektiv-willkürliche Konstruktion darstellt"203. Erst dies wäre dem Grundtheorem der Parsonsschen Theorie, dem der Gleichrangigkeit von Norm und Substrat, gerecht geworden. Nicht wäre damit das Problem von "falschem Bewußtsein", von interessewidrigen Normen verschwunden; wohl aber bekäme einerseits die Theorie erst dadurch einen Teil selbstverschriebenen Problembewußtseins und würde dadurch andererseits vorschnelle teleologisch-dogmatische Absicherung angeblich "objektiv richtigen Bewußtseins" erschüttert. ce) "Integration" und "goal-attainment": Recht und politisches System Das Rechtssystem hat es nach Parsons in weiterer Aufschlüsselung mit spezifischen Subfunktionen zu tun oder genauer: im "Grenzfall" oder - wie Parsons hier einmal ausdrücklich anmerkt - im "Idealfall" eines Rechtssystems ,,(müssen) zuerst vier Hauptprobleme gelöst werden ... , be vor ein solches Normensystem die Interaktion wirksam regulieren kann"2il4. Diese vier Hauptfunktionen faßt Parsons mit den Begriffen Legitimation, Interpretation, Sanktion und Jurisdiktion20S • Davon sind die ersten drei bereits aus der Perspektive des einzelnen Aktors unter dem Aspekt seiner Handlungsorientierung erörtert worden.2OG In der im engeren Sinn systemtheoretischen Perspektive bringen die Funktionen des Rechts dieses in ein charakteristisches Verhältnis zu den Handlungssubsystemen. Dieses Verhältnis setzt Parsons' Ausgangsbemerkung, "daß ein Rechtssystem im analytischen Sinne nicht als ein politisches Phänomen angesehen werden darf, obgleich es in enger Beziehung zu politischen Funktionen und Vorgängen stehen muß"Z07, in ein schillerndes Licht. Denn bei Einordnung in den theoretischen Zusammenhang ergibt sich, daß die Funktionen "Sanktion" und "Jurisdiktion" nur als Bestandteile des politischen Systems angemessen zu begreifen sind, daß "Legitimation" Recht mit dem kulturellen System verbindet, während "Interpretation" die eigentlich "integrative" Funktion des Rechts darstellt. Es ist daher eine Erläuterung des Parsonsschen Begriffs des "Politischen" notwendig. Wichtige Weichenstellung ist dabei Parsons' Feststellung, daß "Politik" (polity) in der von ihm praktizierten Verwen203 204

Messelken, S. 75. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 122 (Hervorhebung von mir,

R. D.). 205 206 207

Vgl. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 122 U. Vgl. oben unter IV, 2 c). Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123.

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dung des Begriffs nicht identisch ist mit den Funktionen des staatlichen Regierungssystems (government)%08. "Government" ist für Parsons ein "Komplex von 0 r g a n isa t ion e n"208, also ein Ensemble konkreter Personen, Sachmittel ete. Demgegenüber wird der Begriff "polity" rein funktional, ohne ausschließliche Zuordnung zu einem bestimmten gesellschaftlichen Phänomen verwandt: "Nach unseren analytischen Kriterien umfaßt der Begriff ,politisch' nicht nur die primären Funktionen der Regierung ..., sondern auch entsprechende Aspekte jeder Gesamtheit. Wir behandeln eine Erscheinung insoweit als politisch, als sie die Organisation und Mobilisierung von Hilfsmitteln zur Verwirklichung der Ziele einer besonderen Gesamtheit betrifft. Demnach haben Unternehmen, Universitäten und Kirchen" - und man kann bereits hinzufügen: auch Recht "politische Aspekte"!IO. "Polity" ist demnach innerhalb jedes sozialen Systems und Subsystems der Wirkungszusammenhang, der mit der Statuierung und Durchsetzung von Zielen, mit "goal-attainment" befaßt ist. Die "politische" Dimension von Sanktion und Jurisdiktion deutet Parsons in zögernden Formulierungen an, wenn er davon spricht, daß Rechtssystem und politisches System "hinsichtlich der Probleme der Sanktion und der Jurisdiktion aufs engste miteinander verknüpft (sind), wobei die Verknüpfung in bezug auf die Sanktion gewissermaßen die grundlegendere ist"211 (während die Funktionen von Legitimation und Interpretation des Rechts "noch weniger unmittelbar (l) politischer Natur als die der Sanktion und der Rechtsprechung (sind}"tlZ. Sehr viel eindeutiger drückt Parsons die Beziehungen des Rechts zu den anderen, nicht primär integrativen Subsystemen an anderer Stelle aus, wenn er vom Recht feststellt, daß "it does, however, have a special relation to the politieal function in the society sinee two essential functions of a legal system, the definition of the seope of jurisdietion, and the authorization and implementation of sanetions, in e v i tab 1 y involve politieal referenees"t13. Daher muß Recht geradezu als Bindeglied zwischen den Handlungssubsystemen definiert werden: "Law is that aspeet of the machinery for the definition and implementation of institutional norms which links legitimation through authoritative interpretation with applieation and enforeement by political ageney. Enforeing agencies are not in astriet sense part of the legal system ... itself at all, but are part of the politieal organiParsons, Strueture, S. 42. Ebenda (Hervorhebung im Original). 210 Parsons, System, S.27. 211 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123. 21! Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 125. 213 Parsons, Strueture, S. 190 (Hervorhebung von 'mir, B.. D.). 208

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zation. Law-enforcement, that is, is a political function. The focus of the legal system is to be found in the courts which are interstitial between political and nonpolitieal systems in a sense parallel to that in wl'lich politieal parties are interstitial between government and the 'publie'214." Die in der Affinität zu den verschiedenen Handlungssubsystemen noch einmal zum Ausdruck kommende Multifunktionalität des Rechts wird deutlicher, wenn man noch eine andere begriffliche Unterscheidung von Parsons heranzieht. Die Probleme, die bei der Regelung sozialer Prozesse entstehen, müssen durch zwei Funktionsbereiche gelöst werden: "der Durchsetzungsfunktion" und der "Auslegungsfunktion"2u,. Dabei ist die Zugehörigkeit von Sanktionen - wobei ein Extrempol einer "kontinuierlichen Sanktionsskala ... vom bloßen Anreiz bis zum reinen und direkten Zwang"216 physische Gewalt ist - zur Durchsetzungsfunktion am offensichtlichsten. Denn dahinter steht letztlich das im Laufe eines langen historischen Prozesses entstandene Monopol des modernen Staates auf Anwendung physischer Gewalt. "Durchsetzung" einer normativen Ordnung erfordert jedoch auch Verfahrensweisen "zur Bestimmung von Tatbestand, Täter und Begleitumständen der Normverletzung". Und: "Zu den Spezialinstanzen, die in diesem Zusammenhang tätig sind, gehören Gerichte und Rechtsanwälte217." Das aber bedeutet nichts anderes, als daß "Jurisdiktion" bei Parsons ebenfalls Funktionsbereich des politischen Systems ist. Es ist daher berechtigt, wenn Schelsky davon spricht, daß Sanktion aber auch Jurisdiktion "für Parsons die eigentlich politischen Funktionen des Rechts" sindt18. Dabei ist jedoch - und damit kommen wir zu den beiden anderen Rechtsfunktionen von Legitimation und Interpretation - folgendes zu präzisieren: "Jurisdiktion" kann nicht mit "Rechtsprechung" oder der gesamten Tätigkeit von Gerichten, Anwaltschaft ete. gleichgesetzt werden. Jurisdiktion erfaßt vielmehr nur den politisch-"exekutivischen" Aspekt der Tätigkeit des Rechtsstabs. Ein davon abgehobener Aspekt ist nicht mit der Durchsetzungs-, sondern mit der Auslegungsfunktion verknüpft. Denn: "Eine komplexe normative Ordnung bedarf jedoch nicht nur der Durchsetzung, sondern auch der maßgeblichen Auslegung. Gerichtssysteme haben sich im allgemeinen dahin entwickelt, daß sie die Festsetzung von Pflichten, Strafen und ähnlichem für besondere Fälle (d. i.: Durchsetzung = Sanktion, Jurisdiktion, R. D.) mit der 214 Parsons, Structure, S. 190/191. 215 Parsons, System, S. 27. 218 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123. 217 Parsons, System, S.27. 218 Schelsky, JRR 1, S. 53.

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Normauslegung, oft ein Problem von sehr hoher Allgemeinheit (d. L: Auslegung = Interpretation, Legitimation, R. D.), verbinden "%19. Der zweite Aspekt betrifft also die Funktion der Normauslegung, im "Idealfall" zu einem System "normativer Konsistenz" auf der Grundlage eines konsensgetragenen Wertsystems. Dies aber sind Interpretation und Legitimation. Damit ist - ohne daß Parsons dies jemals mit aller Klarheit ausgesprochen hätte - eine doppelspurige Zuordnung vorgenommen: die von Sanktion und Jurisdiktion zur Durchsetzungsfunktion, die von Interpretation und Legitimation zur Auslegungsfunktion. Damit ist für das Rechtssystem noch einmal mit besonderer Deutlichkeit klargeworden: Die Schnitte, die Parsons durch konkrete Phänomene legt, können nur als analytische begriffen werden. Das, was in "unangebrachter Konkretheit" als die eine, einheitliche Tätigkeit des Rechtsstabes erscheint, verliert unter analytischer Betrachtung seine Identität. Gleichzeitig erhalten mehrere Einzelaussagen Parsons' zum Recht im Lichte der eigenen Theorie entscheidende Einschränkungen: Dies gilt zunächst für Bemerkungen Parsons', wonach das Recht "im analytischen Sinne nicht als ein politisches Phänomen angesehen werden darf"221I, oder in denen er von einem "autonomen"221 oder "in gewisser Weise unabhängigen"!22 Rechtssystem spricht. Als "nicht politisch" erscheint Recht im Sinne des analytischen Vokabulars nur aspekthaft, auch diese Aspekte jedoch können nicht gleichgesetzt werden mit "unpolitischem" Recht im Sinne alt juristischer Ideologie. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß Recht durchgängig als soziales Phänomen begriffen wird und daß "Polity" in der Systematik der Theorie nur einen Ausschnitt aus dieser totalen Sozialität umreißt. Die beiden Begriffe des Politischen sind also inkomensurable Größen. Anstöße zu einer "Politischen Rechtstheorie"22lI zielen auf Bewußtmachung der gesamtgesellschaftlichen Dimension des Rechts. Dieser Dimension entspricht in der Parsonsschen Theorie jedoch gerade nicht das "politische" Subsystem, sondern die Totalität des Gesamtprozesses des sozialen Systems. "Politisch" i. S. des gesamtgesellschaftlichen Prozesses sind jedoch alle Subsysteme des Systemprozesses, mithin aUe Dimensionen des Rechts. "Autonomie" kann daher auf dem Hintergrund der Theorie nur bedeuten, daß die Zielsetzungen und Handlungsvollzüge in dem in diesem speziellen Sinn "politischen" Bereich des Rechts (also bei Sanktion und Jurisdiktion) ihrerseits den interpretatorischen und legitimierenden Parsons, System, S.27. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123. 221 Parsons, General Introduction Teil II, in: Theories of Society, S.248. 222 Parsons, Structure, S. 264. m Wiethölter, Rechtswissenschaft, Frankfurt 1968, S. 11 und passim. 218

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Funktionen des Rechts ausgesetzt sind. In der Sprache der theoretischen Grundlagen bedeutet dies die Möglichkeit von Interdependenz trotz Independenz, von Abhängigkeit bei gleichzeitiger Unabhängigkeit zwischen Recht und Politik. Nur so viel ist also ausgemacht, daß Parsons' Analytik sich nicht auf eine einseitige Determination von Recht durch "politische" Zielsetzung einläßt, sondern die Chance einer gegenläufigen Kontrolle von Politik durch Recht, spezieller: durch die "Auslegungsfunktion" des Rechts, offenläßtZu• Keinerlei Instrumentarium hat Parsons zu der Frage entwickelt, auf welche Weise und in welchen Fällen das Interesse des politischen Systems an "Sanktion" im Einzelfall oder aber interpretatorisch-legitimierende Ausrichtung an und Auslegung von allgemeinen Wert- und Normsystemen dominieren. Der Fall einer Divergenz von Durchsetzung und Auslegung, von Sanktion und Legitimation wird in Parsons' sporadischen Ausführungen zum Recht nicht weiter erörtert. Dieser Fall wäre am Maß des erörterten "Idealfalls" gemessen ein Fall der nlegitimität und mangelhafter Integration. Eine Einschränkung erfährt auch Parsons' strikte Trennung von Recht und Zwang. Denn die Zuweisung physischer Gewalt zum politischen System ändert nichts an der Tatsache, daß physische Gewalt als Sanktion von Normverletzungen als Subfunktion des Rechtssystems erscheint. Parsons läßt sich hierdurch zu einem auffallenden Szenenwechsel in der Begriffsbestimmung verleiten: "Law isthat aspect of the machinery for the definition and implementation of institutional norms which links legitimation through authoritative interpretation with application and enforcement by political agency. Enforcing ageneies are not in a strict sense (!) part of the legal system ... itself at all, but are part of the political organization. Law - e n f 0 r c e m e n t , that is, isa political funktion 225 ." Vorher hatte es - in umgekehrter Betonung - geheißen: "Two essential functions of ale ga I system (d. h. Jurisdiktion und Sanktion, R. D.), inevitably involve political re f e ren c e S226." Hierdurch wird aber - und das ist die dritte und wesentliche Einschränkung - noch einmal deutlich, wie sehr Parsons das Recht an der einen für ihn wesentlichen, "primären" Funktion des Rechts mißt: der von Interpretation und Legitimation getragenen Integration. Parsons' emphatische Suche nach den Bedingungen sozialer Ordnung führen auch beim Recht ungeachtet des Sanktionspotentials im politischen System zur Betonung der "ordnungsstiftenden" integrativen Funktion I ! ' Vgl. in diesem Sinne auch Th. Raiser, Sozialer Wandel durch Recht, dargestellt am Beispiel der Aktiengesellschaft, JRR 3, S. 409 ff. (410). 2%1 Parsons, Structure, S. 190/191 (alle Hervorhebungen von "m ir, R. D.). 226 Parsons; Stnicttire, S.190.

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des Rechts als normativer Ordnung. Und gerade diese Funktion hat es für Parsons nicht mit Zwang, sondern - aus der Handlungsperspektive - mit dem funktionalen Akkord der Systemeinheiten zu tun. Dabei ist die Anwaltstätigkeit -als "klientenbezogene" (elient-foeused) mehr mit der "Beziehung der Normen zu den Individuen, Gruppen und Gemeinschaften, auf die sie einwirken", also mit der Handlungsorientierung befaßt, die richterliche Tätigkeit als "normenbezogene" Tätigkeit (rule-focused) mehr mit der "Integrität des Normensystems selbst"!!7, also mit dem Systemaspekt. Noch in einer anderen Hinsicht weist das Verhältnis der vier rechtlichen Subfunktionen ein für Parsons charakteristisches Element auf: Die Dominanz der Interpretationsfunktion wurde unter dem Aspekt der Handlungsorientierung damit begründet, daß die Norm als Norm immer eine Generalisierung von den Besonderheiten je konkreter Situationen darstellt und daher, soll sie ihrer Funktion als orientierende Handlungsanweisung gerecht werden, im Einzelfall auch immer einer spezifizierenden Bearbeitung unterworfen werden muß. Das gleiche gilt in systemtheoretischer Perspektive hinsichtlich der primär integrativen Funktion des Rechts. Diese Integration stellt sich nicht bereits auf Grund der bloßen Existenz von Rechtsnormen gleichsam von selbst ein: "As normative patterns they do not operate automatieally - to suggest that they did would impute a kind of animistie magie to them228 ." Die Funktion des Rechts wird also nur im Zusammenwirken ihrer Subfunktionen erreicht. Diese Problemlage: Normen qua Definition immer Generalisierung von Situationen, Veränderung qua Definition immer normativ und konditional zugleich - diese Problemlage hat zur Folge, daß Handlungssysteme mit der Veränderung ihres "faktischen" Zustandes zwangsläufig auch ihre normative Verfaßtheit ändern. Handlung hat zur Folge, daß "the normative system is eontinually changing"l!29. Konsequent zu Ende geführt bedeutet dieser Gedanke jedoch, daß die "gleiche" Norm(-formulierung) in veränderter Situation nicht mehr die gleiche ist. Jede Rechtsanwendung schließt daher zwangsläufig so viele Auswahlprozesse und Bewertungen ein, daß die "Vorstellung eines mechanischen Normenvollzugs"230, die Perspektive eines durchgängig "konditional programmierten" Rechtsanwendungsprozesses gar nicht auftauchen kann. Schließlich ist im Verhältnis zwischen Recht und politischem Subsystem noch folgendes bemerkenswert: Das politische System ("polity") Alle Zitate bei Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 126. Parsons, Structure, S. 190. 229 Parsons, ebenda. 230 Hiergegen auch Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, StuttgartBerlin-Köln-Mainz 1968, S. 12. 227 228

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ist, wie bereits mehrfach betont, keine eindeutig lokalisierbare Größe, sondern - wie Parsons es ausdrückt - derjenige "Aspekt" jeder denkbaren sozialen Einheit, der mit der Formulierung und Herbeiführung der Systemziele befaßt ist. An dieser Formulierung von Systemzielen ist in den von Parsons durchgängig zugrunde gelegten parlamentarischen Demokratien aber maßgeblich der Gesetzgeber beteiligt. Die Gesetzgebung weist Parsons daher ausdrücklich und konsequenterweise dem politischen System ZU231 • Schelsky bemerkt in dieser Hinsicht: "Es ist auffällig, daß Parsons in diesem Zusammenhang die Frage nach der Funktion des Gesetzgebers völlig umgeht; er wäre seiner Einteilung nach kaum noch zum ,legal system', sondern eindeutig zum ,politischen System' zu rechnen. Hier wird die systemfunktionalistische Kasuistik bereits etwas fadenscheinig 232." Schelskys Kritik trifft nur insofern, als der eine von ihm hier ausschließlich herangezogene Parsons-Aufsatz sich in der Tat zur Stellung des Gesetzgebers ausschweigt. Im übrigen kann man die Konstitutionsprinzipien der Parsonsschen Theorie kaum mehr mißverstehen, als es Schelsky an dieser Stelle tut: So wie er sich an der gleichen Stelle wundert, daß Rechtsprechung nach Parsons in ihren unterschiedlichen Funktionen von Jurisdiktion und Interpretation vom politischen System abhängig und unabhängig, "interdependent" und "independent" zugleich sein kann, so kommt es ihm nicht in den Sinn, daß Gesetzgebung - in unterschiedlicher Perspektive - als Bestandteil des "Legal system" und des politischen Systems gesehen werden kann. Diese Schwierigkeit taucht aber nur auf, wenn man - in "unangebrachter Konkretheit" - die Theorie nicht beim Wort nimmt, und die analytischen Schnitte entgegen Parsons' Warnung23t als konkrete Seinseinheiten auffaßt. Schelskys Argumentation - entweder Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Rechts vom politischen System, Gesetzgebung als Bestandteil entweder des politischen oder des Rechtssystems - läuft auf monokausale Verknüpfungen und Perspektivenschwund hinaus, die die Parsonssche Theorie vermeiden will. Die Zuordnung eines zu einem unterläuft die Theorieprämissen und hat die Eliminierung möglicher Wirklichkeit zur Folge, die Parsons gerade in den "Durchdringungszonen" mehrerer Realitätsbereiche zu erfassen sucht. dd) Recht und "pattern maintenance": Verfassung und Wertsystem Neben der Verknüpfung der integrativen "Primärfunktion" des Rechts mit dem zielorientierten politischen System steht eine Verbindung des Rechts mit dem "normerhaltenden" kulturellen System und 231 232

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Parsons, System, S. 27/28, 31. Schelsky, JRR 1, S.53. Parsons, System, S. 12.

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dessen wichtigstem Bereich: den Werten. Grundlage dieser Verbindung ist der Umstand, daß das kulturelle System und die normative Ordnung des sozialen Systems in spezifischer Weise aufeinander angewiesen sind. Kulturelle Werte bedürfen eines sozialen Normensystems zu ihrer "Aktualisierung", das soziale Normengefüge bezieht vom kulturellen Wertsystem "Legitimation". In Parsons' eigenen Worten einerseits: "The value system does not ,actualize' itself automatically"234 und andererseits: "No normative order is ever sei f legitimating in the sense that the approved or prohibited way of life simply i s right or wrong 2S6." Soziale Normen können - dies wurde schon im Zusammenhang mit Legitimation und Handlungsorientierung festgestellt - ihre Legitimationsgrundlage nur von kulturellen Werten beziehen. "The central functional exigency of the interrelations between a society and a cultural system is the leg i tim a t ion of the society's normative order ... Cultural value patterns provide the most direct link between the social and cultural systems in legitimizing the normative order of the society!36." Legitimation betrifft immer eine "Wertbeziehung"287. Somit stellt Legitimation die Verknüpfung sozialer Normen mit der höchsten Ebene des Kontrollkontinuums dar. Ausdrücklich stellt Parsons fest: Ein soziales Normensystem ist niemals "adequately legitimized by necessities imposed at lower levels of the hierarchy of control - e.g., that things mus t be done in asp e c i f i c way because the stability or even survival of the system is at stake"238. Das Beispiel des Nachsatzes besagt in anderer Wendung, daß nicht einmal das überleben betreffende "Sachzwänge" als solche Legitimation verleihen können. Es ist dies wohl mit das zentralste und im Verlauf der Theorieentwicklung auch beständigste Charakteristikum der Parsonsschen Theorie: daß von einem Modell her argumentiert wird, in dem Handeln njcht nur durch soziale Normen im engeren Sinne bestimmt wird, vielmehr die höchste Stufe der Normativität von kulturellen Werten eingenommen wird. Werte, oder wie Parsons im hier betroffenen Zusammenhang formuliert: "Legitimationswerte"239 spielen daher für die Analyse nicht nur irgendeine Rolle, sie nehmen vielmehr "die erste Stelle in der Hierarchie"240 eines normativen Kontrollkontinuums ein. Structure, S. 173. Societies, S. 11 (Hervorhebungen im Original). 238 Societies, S. 11 (Hervorhebungen im Original). 237 Structure, S. 175 ("value-reference"). 238 Societies, S. 11 (Hervorhebungen im Original). 239 Parsons, System, S. 26. 240 Parsons, System, S. 23. 234

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Auch das Recht, dies kann bei Parsons' Kennzeichnung des Rechts als "Prototyp" einer normativen Ordnung241 nicht zweifelhaft sein, kann seine Legitimation nur von kulturellen Werten beziehen. Lassen sich die Rechtsnormen einer Gesellschaft nicht auf solche Werte zurückführen, so sind sie, dies ergibt sich aus dem Vorherigen, nicht legitimiert. Eine derartige Gesellschaft steht in Kontrast zu Parsons' Grenzfall, der gerade durch die auch rechtliche Institutionalisierung von Werten in das soziale System gekennzeichnet ist. Eine derartige Gesellschaft besitzt zwar Normen, aber keine "normative Ordnung", kein "Normens y s t e m"24%, kein "System legitimer Ordnung", sie besitzt Rechtsnormen, aber keine Rechts-"Ordnung", kein Rechts-"System". Für die Legitimation von Rechtsnormen, d. h. für die Verknüpfung von Norm und Wert, stellt die Verfassung, oder wie es bei Parsons in bezeichnender Weise auch heißt: das "Verfassungselement" oder "konstitutionelle Element"2U das Bindeglied dar. "Im allgemeinen enthalten moderne Rechtssysteme Verfassungselemente, die wie in den Vereinigten Staaten schriftlich fixiert oder wie in Großbritannien ungeschrieben sind. In der Durchdringungszone zwischen Normenerhaltungssystem und gesellschaftlicher Gemeinschaft bestimmt das Verfassungselement die Grundzüge des normativen Rahmen~4." Daß die Verfassung nicht eindeutig zum Bereich von entweder Norm oder Wert, sozialem oder kulturellem System, normerhaltender oder integrativer Funktion zugeordnet wird, sondern - als Bindeglied - einer "Durchdringungszone" beider Bereiche, entspricht einer Typik der Theorie. Entsprechend diesem Standort, der ja ein Standort auf dem Kontinuum der Kontrollhierarchie ist, kommt der Normativität der Verfassung eine doppeltgerichtete Funktion zu. Nach "unten" kommt die Verfassung bezüglich der übrigen Rechtsnormen als "höhere gesetzliche Autorität"2t.5 in den Blick. Diesem Problem der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnormen gilt das berufliche Hauptinteresse des Juristen. Es gilt im allgemeinen nicht - und dies zielt in der normativen Blickrichtung nach "oben" - "der moralischen Legitimation der Verfassung selbst. Dennoch muß ein Rechtssystem immer auf e c h t e r Legitimation beruhen246 ." Solche "echte" Legitimation kann zwar durch "Formen" abgesichert werden, wie etwa durch "geeignete Verfahrensweisen " zum Gesetzeserlaß. Nicht aber kann Legitimation durch solche Verfahren begründet werden. Denn "hinter der geeigneten VerParsons, Die jüngsten Entwicklungen, S.37. Vgl. zu diesem und dem folgenden Begriff samt der charakteristischen Hervorhebung Parsons', System, S.21. 243 Parsons, System, S. 30. 244 Parsons, System, S. 30. 245 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 125. 246 Parsons, ebenda (Hervorhebung von mir, R. D.). 241

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fahrensweise ... steht der tieferreichende Fragenkomplex nach der letzten Legitimation. Dies führt im Endeffekt immer in der einen oder anderen Form zu religiösen oder in ihrer Funktion mit diesen gleichzusetzenden Fragen!47." Dieses auch angesichts der Unverzichtbarkeit von Verfahren strikte Festhalten an Legitimation durch Werte mitsamt dem zitierten Postulat "No normative order is ever selflegitimating" kontrastiert in besonderem Maße mit Luhmanns Legitimation durch Verfahren, durch die "das politische System sich und das von ihm geschaffene Recht selbst (legitimiert)"!48. Die Rückführung von Legitimation auf Religiöses oder ein das Religiöse ersetzende funktionales Äquivalent bezeichnet für Parsons einen Aspekt des allgemeinen evolution ären Prozesses wie auch speziell von Verfassungsgeschichte. Der verfassungsgeschichtliche Prozeß ist u. a. gekennzeichnet durch Wandlungen des Verhältnisses zwischen kulturellem und sozialem System und durch Wandlungen innerhalb des kulturellen Systems. Am Anfang stehen "primitive Gesellschaften", deren grundlegende soziale Strukturen noch kaum Differenzierungen vom religiösen Bereich aufweisen. In einem vielstufigen Prozeß vollzieht sich die "Düferenzierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und des Normenerhaltungssystems", insbesondere die "Entwicklung einer normativen Ordnung und der Definition einer gesellschaftlichen Gemeinschaft, die nicht direkt auf der Religion aufbaut"!49. Für Parsons "begann die Moderne mit der Säkularisierung der mittelalterlichen Integration von Gesellschaft und Religion, die sowohl Renaissance wie Reformation zur Folge hatte. Das gesellschaftliche System hat seitdem eine Reihe von ,Unabhängigkeitserklärungen' erlebt mit dem Ziel, sich der strengen kulturellen, besonders der religiösen ,Beaufsichtigung' zu entziehen. Diese Unabhängigkeit hat nacheinander drei Hauptpunkte umfaßt: die Rechtsordnung, die zuerst im England des 17. Jahrhunderts institutionalisiert worden ist; die na t ion a 1- pol it i s c h e 0 r d nun g, besonders im vorrevolutionären Frankreich; und die m a r k t wir t s c h a f t I ich e 0 r d nun g, besonders nach der industriellen Revolution!50." Ohne daß Parsons dies hier besonders hervorhebt, stellt diese Entwicklung die Ausdüferenzierung von Subsystemen aus einer bisher mit dem kulturellen, spezieller: religiösen Bereich diffus vermengten Sozialstruktur dar. Die ausdüferenzierten Subsysteme betreffen bezeichnenderweise die von der normerhaltenden Funktion des kulturellen Systems unterschiedenen Primärfunktionen des AGIL-Schemas: 247 %48 248

250

Alle Zitate bei Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 125/126. Luhmann, Positivität des Rechts, JRR 1, S.189. Parsons, System, S.129; vgl. auch Societies, S.11. Parsons, System, S. 126 (Hervorhebungen von mir, R. D.).

9 Damm

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integration (Rechtsordnung), goal-attainment (politische Ordnung) und adaption (Wirtschaft). Erst diese Ausdifferenzierung hat die Entstehung einer Verfassungsfunktion im modernen Sinn zur Folge. Stellt die Verfassung den Ort einer Transformation von kulturellen Werten in das soziale System dar (man erinnere den bildhaften Begrüf der "Durchdringungszone"), so war eine solche Transformation erst nötig, nachdem eine - historisch natürlich graduelle - funktionale Differenzierung zwischen kulturellem und sozialem System überhaupt stattgefunden hatte. Entsprechendes gilt für die Subsysteme des sozialen Systems: Eine Sicherung der Legitimation des Rechts wird erst erforderlich, wenn Rechtsnormen nicht mehr mit - ihre eigene Legitimation ja schon enthaltenden kulturellen (religiösen) Wertsystemen identisch sind; eine Sicherung der Legitimation von Politik wird erst erforderlich, wenn - um auf das historische und analytische Extrem Bezug zu nehmen - Regierungsamt und Priesteramt nicht mehr identisch sind. Der verfassungsgeschichtliche Prozeß wird maßgeblich geprägt durch weitere Differenzierungen innerhalb der so entstandenen Subsysteme, insbesondere des Rechtssystems und des politischen Systems. Dies betrüft etwa die neuzeitliche Entwicklung einer "Gewaltenteilung". Diese ist aus Parsons' Sicht gekennzeichnet als Differenzierung der ",Exekutiv'-Autorität" von denjenigen "Regierungsfunktionen, die unmittelbar verfassungsrelevant sind", worunter Parsons primär eine "ausdrückliche Gesetzgebung" versteht!51. Eine solche Gesetzgebung ist in prämodernen Gesellschaften "als differenzierte Funktion minimal, weil die normative Ordnung hauptsächlich in Form von Überlieferung oder Gründungsoffenbarung g e g e ben ist"llU. In diesem Stadium von in Max Webers Sinn etwa traditionaler oder charismatischer Herrschaftsformen spielt also Gesetzgebung keine Rolle, da "die Gesetze" bereits gegeben sind. Erst in der Moderne spielt die Auffassung von der prinzipiellen Variablität des Rechts eine dominierende Rolle. Diese "Wandelbarkeit des Rechts" und die durch sie erforderlich gewordene "Legitimation einer ständigen gesetzgebenden Funktion ist daher eindeutig eine moderne Entwicklung"2'53. Da auch wandelbares Recht für Parsons nicht lediglich im Luhmannschen Sinne "positives", d. h. sich selbst legitimierendes Recht sein kann, gewinnt nun die Verfassungsfunktion zentrale Bedeutung, mit ihr aber auch solche Instanzen, die die Legitimation von Recht kontrollieren: "Die Wandelbarkeit des Rechts ... hat eine differenzierte Einrichtung, die sich um die ,Verfassungsgemäßheit' des Rechts kümmert, besonders wichtig wer251 Parsons, System, S. 31. 252 Parsons, System, S. 31 (Hervorhebung im Original). 253 Parsons, System, S. 31.

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den lassen!54." Parsons' Verknüpfung der Verfassungsfunktion samt Verfassungsrechtsprechung mit der Entwicklung von "gegebenem" Recht zu erst zu gebendem "wandelbarem" Recht entspricht der verfassungstheoretischen Feststellung: "Die Idee einer Verfassung kennzeichnet im politischen Denken die Ablösung des Mittelalters, für das die Ordnung des Gemeinwesens vorgegebenen Regeln unterworfen war, durch die Neuzeit, für die die Organisation der Gesellschaft durch vernunftgeleitete Entscheidungen zu leisten ist!55." Es sei noch einmal an die neuzeitliche Ausdifferenzierung der für die Verfassungsstruktur so wesentlichen drei Subsysteme politische, Rechtsund Marktordnung erinnert. Der Kampf um die Prägung dieser gesellschaftlichen Subsysteme findet für Parsons in zwei - analytisch trennbaren Wandlungsprozessen statt: der "demokratischen Revolution" und der "industriellen Revolution"llH. "Zwei Revolutionen formten die frühe Moderne: die industrielle, welche die Wirtschaft und das politische Gemeinwesen voneinander differenzierte und neue Verbindungen zwischen ihnen entwickelte, und die demokratische, welche vergleichbare Veränderungen zwischen dem politischen Gemeinwesen und der gesellschaftlichen Gemeinschaft beinhaltete!57." Diese beiden Revolutionen hatten - nach der Ablösung von prämodernen kulturellen Wertsystemen - ihre funktionalen Schwerpunkte in adaption (Wirtschaft), integration (Recht) und goal attainment (politik). In der jüngsten historischen Entwicklung nun schließt sich für Parsons der funktionale Kreislauf durch erneute starke Betonung der vierten Funktion, von pattern maintenance und das heißt: des kulturellen (Wert-)Systems. "Die neueste Phase kehrt zum ersten Punkt, den kulturellen Elementen zurück ... Die gegenwärtige Sozialstruktur ist durch eine besondere Art der Integration mit dem kulturellen System gekennzeichnet2'S8." Diese Entwicklung wird von einer dritten "Revolution" getragen, der "Bildungsrevolution"!5I. Diese erbringt in einem sehr komplizierten Prozeß einen "weiteren Schritt" der Säkularisierung des legitimierenden Wertsystems, insbesondere einer (teilweisen) Ersetzung von Religion durch Wissenschaft!60. Dieser Schritt ist ein weiterer angesichts der Tatsache, daß auch die früheren Revolutionen bereits solche Schritte der Säkularisierung legitimierender Werte hervorgebracht hatten. Für die VerfassungsentParsons, System, S. 31. Badura, Stichwort "Verfassung", in: Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart-Berlin 1966, S. 2343. 256 Parsons, System, S. 96 ff., 102 ff. 267 Parsons, System, S. 129. 258 Parsons, System, S. 126. 25S Parsons, System, S. 120 ff. 260 Parsons, System, S.127, 129. 264 255

9'

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wicklung waren dabei die in dem Wahlspruch der französischen Revolution Liberte, Egalite, Fraternite verkörperten Werte von besonderer Bedeutung. Im verfassungsgeschichtlichen Entstehungsprozeß "hatte das Symbol der Freiheit zwei verschiedene Bezüge. Einer trat vor allem in England hervor, wo Adam Smith die wirtschaftliche Freiheit besonders im Gegensatz zu der mit dem Merkantilismus verbundenen Regierungskontrolle betonte. Die andere Symbolseite trat besonders in Frankreich hervor, wo Rousseau der wichtigste Autor war. Dort meinte sie die Freiheit der gesellschaftlichen Gemeinschaft, des ,Volkes' gegenüber der Regierung261 ." "Noch heikler" ist das Problem der GleichheitlU. Geht es Freiheit um Beseitigung "nicht legitimierbaren Zwangs", so der Gleichheit um Abschaffung "nicht legitimierbarer Diskriminierung"!63. Parsons' Vorliebe für begriffliche Symmetrien kommt hierbei einmal mehr zum Vorschein. Ohne dies in völlig eindeutigen Zuordnungen auszuführen, bietet sich für Parsons folgendes Bild!e4: Die industrielle Revolution bezog ihr Thema aus dem Kampf um "Chancengleichheit" im Wettbewerb; der demokratischen Revolution ging es um "Mitgliedergleichheit", um "Gleichheit als Bürger". Mitgliedergleichheit ist seitdem eines der beherrschendsten Themen der Verfassungsentwicklung, und zwar in den Hauptkomponenten: der "bürgerlichen", "politischen" und "sozialen". Die "bürgerliche" Komponente betrifft die "Garantien der sogenannten ,Naturrechte' ... - in Lockes Worten: ,Leben, Freiheit und Privateigentum' "%65. Hier geht es um den Schutz vor Willkür durch ",Gleichheit vor dem Recht'''. Die "politische" Komponente nimmt ihren Ausgang von einem an der Staatsbürgerschaft anknüpfenden "demokratischen Wahlrecht". Hierfür bedarf es eines "Verfassungsrahmens" , der - in der Sprache der "pattern variables" - an die Stelle partikularistischer Privilegien "universalistische Staatsbürgerschaftskriterien" und ein "universalistisches Rechtssystem" setzte. Das Wahlrecht differenziert sich wiederum in zwei Komponenten: in die seiner Allgemeinheit und Gleichheit. Die erste Komponente betrifft auf dem Weg zu einem "allgemeinen Erwachsenenwahlrecht" die "Einbeziehung" vordem Diskriminierter, wie Frauen oder in den Vereinigten Staaten "in besonders dramatischer Weise die der Neger". Die zweite Komponente betrifft die "Gewichtung von Stimmen". "Es hat in der Geschichte verschiedene Systeme gegeben, die Stimmen ungleiches Gewicht gaben; entweder explizit wie im preußischen Klassen261 262 263

264 265

Parsons, System, S.103/104. Parsons, System, S. 104. Parsons, System, S.104. Vgl. zum folgenden Parsons, System, S.102 ff., 120 ff. Parsons, System, S. 105.

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wahlsystem oder implizit bei der diskriminierenden Verteilung in den Vereinigten Staaten286." Der Trend ist jedoch eindeutig in Richtung des Prinzips "Ein Bürger - eine Stimme". Die Ausbreitung des Wahlrechts, auf Verfassungsebene auf das Engste mit dem Gleichheitspostulat verknüpft, .zielt - systemtheoretisch in Grenzüberschreitung zum politischen System - auf das "Muster der gleichen Mitgliedschaft und gleichen Macht"le7. Die Entstehung von Wahlrecht und Repräsentativdemokratie schließt ein "als wichtigste Entwicklung ... die Konzentrierung der politischen Funktion in dem spezifischen Rollentyp, den wir ,Amt' nennen", "Wahlamt, mit der Macht, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu fällen und zu realisieren "268, Differenzierung zwischen gesellschaftlicher Gemeinschaft und politischem System ("Regierung"). Die (bloße) Funktionalität dieser Ausdüferenzierung wird am Problem der "Verantwortlichkeit" der "Bürokratie letztlich gegenüber der Wählerschaft" und in der verfassungsrechtlichen Stellung der Wählerschaft als "letzter Quelle" von Regierungsmacht deutlich26t• Die historisch jüngste, aber in der Sache "fundamentalste" der drei Komponenten von Mitglied- und Staatsbürgerschaft ist die "soziale": "Irgendeine Form von Gleichheit der sozialen Lage als Aspekt der ,sozialen Gerechtigkeit' ist in der westlichen Geschichte seit der Französischen Revolution ein vorrangiges Thema gewesen, ist jedoch erst sehr viel später institutionell hervorgetreten." Die soziale Komponente hat ihren Ursprung in "Spannungen zwischen den Imperativen der Chancengleichheit und der Mitgliedergleichheit", ihr "zentrales Prinzip" liegt darin, "daß die Mitglieder der Gesellschaft realistische, nicht bloß formelle Konkurrenzchancen mit vernünftigen Erfolgsaussichten haben müssen"270. In diesem Satz klingt hinsichtlich des Konkurrenzprinzips eine Ambivalenz an, die kennzeichnend für Parsons' Position und entsprechend bereits beim "reduzierten" Vertrag hervorgetreten ist. Das Konkurrenzprinzip wird - in der Fassung von Chancengleichheit als Gleichheit der Konkurrenzchancen - als mögliches Handlungsmodell in bezug genommen, aber ebenfalls reduziert: Ein:mal durch eine Materialisierung zu "realistischen" Chancen, zum anderen aber auch durch partiellen Verzicht auf das Konkurrenzprinzip: "Weiterhin sollte es im Konkurrenzsystem eine unterste Grenze geben, die ein ,Wohlfahrts'-Niveau bestimmt, auf das alle Mitglieder von ,Rechts' wegen, und nicht aus ,karitativen' Gründen einen An!tI1 Parsons, System, S. 106. 267 Parsons, System, S. 133. 2G8 Parsons, System, S. 130. 269 Parsons, System, S. 130, 133. 270 Alle Zitate bei Parsons, System, S.107.

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s p r u c h haben271 ." Diese Ambivalenz setzt sich fort bis zu Parsons' Stellungnahmen zum "ideologischen Dilemma der Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus"272. Einerseits "behaupten wir, daß eine freie Unternehmerwirtschaft, und nicht Sozialismus im Sinne der staatlichen Verwaltung der gesamten Wirtschaft, Hauptbrennpunkt der Evolution bleibt"27lI. Andererseits spricht Parsons von der "Labilität jedes Systems, das auch nur Ähnlichkeit mit dem ,reinen' Kapitalismus hat"274. Im übrigen ist er der Ansicht, "daß die starre Gegenüberstellung von ,freiem Unternehmer'-System mit einem Minimum an sozialer und staatlicher Kontrolle und ,Sozialismus', in dem die Regierung all e Hauptproduktionsmittel besitzt und lenkt, unrealistisch ist"275. Denn: "Privatwirtschaftliche Unternehmung und staatliche Organisation wirtschaftlicher Angelegenheiten stehen nicht in einem Verhältnis der Summenkonstanz zueinander: die Zunahme des einen erfordert nicht die entsprechende Verringerung des anderenl!76." Beiden Alternativen, der "kapitalistischen Alternative" mit ihrer Betonung von Freiheit wie auch der "sozialistischen Alternative" mit ihrer Betonung von Gleichheit, attestiert Parsons ein Versäumnis bezüglich des so sehr im Mittelpunkt seiner Theorie stehenden funktionalen Imperativs: Integration. "Beide versäumten es, auf angemessenen Konzeptionen der gesellschaftlichen Gemeinschaft und der Bedingungen, die zu ihrer Erhaltung notwendig sind, aufzubauen"277 - und "gesellschaftliche Gemeinschaft" bezeichnet das gesellschaftliche Subsystem, dessen Hauptfunktion Integration ist278 . Das Verfehlen von "Integration" bedeutet aber im tieferen Sinne der Parsonsschen Theorie das Verfehlen von "guter Ordnung". Es schließt sich nun der Kreis der genannten Revolutionstrias - und der von ihnen postulierten Wertsysteme. "Die ersten zwei Revolutionen hatten jeweils eine Ideologie hervorgebracht ... Der Kern der neuen Phase ist die Bildungsrevolution, die in gewissem Sinne die Themen der industriellen und der demokratischen Revolution, Chancengleichheit (und d. h. Freiheit im Wettbewerb, R. D.) und Gleichheit als Bürger miteinander verbindet27t." Diese Verbindung heißt für Parsons 271 272 273 274 275 278 277 278 279

Parsons, Parsons, Parsons, Parsons, Parsons, Parsons, Parsons, Parsons, Parsons,

System, System, System, System, System, System, System, System, System,

S.108 (Hervorhebung im Original). S. 123. S. 101. S. 136. S. 136 (Hervorhebung im Original). S. 101. S. 123. S. 20. S. 122, 123.

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die Aufhebung zweier Postulate: einmal des Postulats, "der Einzelne könne auf Grund seiner ,angeborenen Fähigkeiten' direkt durch die Marktkonkurrenz zu einem ihm ger e c h t e n Stand gelangen", zum anderen des Postulats "völliger politischer Gleichheit". "Marktkonku.rrenz" wie auch "Gleichheit durch politische Autorität" können für Parsons nicht Grundlage zukünftiger Veränderungen sein. Vielmehr ist insofern "Bildung" ein "besonders wichtiger Faktor"280. Die Bildungsrevolution, ",Tochter' der Aufklärung", hat über die Al,lSbreitung der Elementarbildung, einer Expansion der höheren Bildung bis zu dem Punkt, wo der "High-School-,dropout'" als Problem erscheint, der "Anwendung des Wissens auf die soziale Ordnung (Recht), Gesundheit (Medizin), Leistungsfähigkeit von Regierungs- und privater Gesamtheit (Verwaltung) und des wirkungsvollen Gebrauchs der nicht-sozialen Umwelt (Technologie) USW."!81 "begonnen, die gesamte Struktur der modernen Gesellschaft umzugestalten". Zentrale Auswirkung von "Bildung" ist, daß "sie die relative Bedeutung der wichtigsten ideologischen Bereiche, des Marktes und der bürokratischen Organisation (reduziert). Der Schwerpunkt, der jetzt auftaucht, liegt auf der Organisation als Vereinigung, besonders in ihrer kollegialen Form28!." Werden der industriellen Revolution als Hauptthema "Freiheit" und der demokratischen Revolution "Gleichheit" zugeordnet, so fragt sich, wie das Thema der Bildungsrevolution lautet. Parsons hat - wie berichtet - hinsichtlich der Bildungsrevolution von einer "Verbindung" der bisherigen Themen Freiheit und Gleichheit gesprochen, wenn man so will also von einer Integration von Freiheit und Gleichheit. Es drängt sich - nicht nur durch Parsons' Vorliebe für konstruktive Symmetrien, sondern auch von dem Grundtenor der Theorie nahegelegt eine weiterführende Ausdeutung auf: Von der Werttrias der französischen Revolution283 verbleibt nach Freiheit als Leitmotiv der industriellen Revolution und Gleichheit als Leitmotiv der demokratischen Revolution die Brüderlichkeit. Es erscheint kaum vermeidbar, Fraternite als Leitmotiv der nach Parsons die zukünftige Entwicklung prägenden Bildungsrevolution zuzuordnen. Denn so wie von der Bildungsrevolution gesagt wird, daß sie die Themen der industriellen und demokratischen Revolution "miteinander verbindet"!84, so wird, genau entsprechend, an anderer Stelle "das dritte Schlagwort der Revolution, Fraternite" als "Synthese der anderen beiden auf einer allgemeineren Parsons, System, S. 123, 124 (Hervorhebung im Original). Parsons, System, S. 123 ff. (125). 282 Parsons, System, S. 125. 283 In dieser konkreten Revolution sind also die Elemente der analytisch gefaßten Teilrevolutionen bereits angelegt. 284 Parsons, System, S. 123. 280 281

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normativen Stufe" darstellt. "In gewissem Sinne stellte es die höchste Verkörperung jener Auswirkungen dar, die die Reformation für die weltliche Gesellschaft enthielt. Die von ihr verkündete solidarische gesellschaftliche Gemeinschaft konnte in keiner ihrer mittelalterlichen Bedeutungen - Kirche und Staat, Klerus und Laien, oder Adlige und Gemeine - ein Zwei-Klassen-System sein, sondern mußte eine einh e i t I ich e Gemeinschaft sein. Ihre Mitglieder sollten ... nicht nur frei und gleich sein, sondern auch in einer nationalen, autonomen Solidarität miteinander verbunden sein!85." " Solidarische, einheitliche gesellschaftliche Gemeinschaft", "Vereinigung in kollegialer Form" als säkularisierte Erscheinungsformen von Fraternite stellen - wieder einmal - in aller Deutlichkeit sehr viel weniger analytisches Instrumentarium als vielmehr die Parsonssche Utopie dar: die "gute Ordnung". ee) Recht, "goal attainment" und "adaption": Politisches und ökonomisches Subsystem - kein Primat der Wirtschaft Die intensive Beschäftigung der Parsonsschen Theorie mit ökonomischen Prozessen aus der früheren handlungstheoretischen!86 wie aus der späteren systemtheoretischen Perspektive287 kann hier nicht in detaillierter Breite erörtert werden. Dies gilt insbesondere für die systemtheoretische Diskussion ökonomischer Theorien, für die Darstellung des Marktmechanismus in der Terminologie der pattern variables (Angebot - Nachfrage als Fall des "performance-sanction" Paradigmas, die "Güter-Dienstleistungs-Klassifikation" als Fall der Unterscheidung zwischen physischen und sozialen Objekten und zwischen "qualities" und "performance"21!8), die Übertragung des AGILSchemas auf das ökonomische Subsystem!89 und vieles andere. Auf diese Details muß hier verzichtet werden, obwohl sich hieran etwa Diskussionen juristischer Klassifikationen wie etwa solche von Schuldund Sachenrecht oder Arbeits- und Güterrecht und ihrer unterschiedlichen Handlungsanweisungen anknüpfen ließen. Nur soviel sei angemerkt, daß in den Detailkonzepten kontrakttheoretische Vorstellungen größeres Gewicht haben als im weiten Grundrahmen der Theorie. So großes Gewicht übrigens, daß die typisch Parsonssche "Reduktion" des Vertrages in der Parsons-Kritik auch an dieser Stelle kaum konstatiert wird 290 . 285 286 287 288 289 290

Parsons, System, S. 108 (Hervorhebung im Original). z. B. Parsons, Die Motivierung des wirtschaftlichen HandeIns, S. 136 H. Insbesondere Parsons I Smelser, Economy and Society. Parsons I Smelser, S. 39. Parsons I Smelser, S. 19, 44. Vgl. z. B. Rolshausen, S. 79 H.

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Wesentlicher erscheint die Frage, welche Auswirkungen auf das Recht - insbesondere im Umkreis des Problemsymbols "Wirtschaftsverfassung" - sich aus dem grundsätzlichen Verhältnis von politischem und ökonomischem Subsystem in der Parsonsschen Theorie ergeben. Dabei ist noch einmal zu vergegenwärtigen, daß das politische System zentral mit der G-Funktion, dem Entwurf und dem Anstreben von Systemzielen, und das ökonomische System mit der A-Funktion, der Erarbeitung und Bereitstellung von zielunspezifischen Mitteln, befaßt ist. Auch in der Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden Funktionen sieht sich die Parsons-Exegese vor Schwierigkeiten, weil Parsons bei ihrer theoretischen Ausarbeitung viele nuancenreiche Betonungsvarianten geliefert hat. Hier sollen zwei Perspektiven, unter denen das Verhältnis von G- und A-Funktion, von politischem und wirtschaftlichem Subsystem betrachtet werden kann, streng unterschieden werden: Die eine ist Parsons' Erörterung konkreter, gegebener sozialer Systeme und das darin vorgefundene Verhältnis von "polity" und "economY"j die andere betrüft die Frage, inwieweit das analytische Instrumentarium als solches, d. h. bereits vor seiner Anwendung, einen bestimmten Begrüf von Politik und Wirtschaft impliziert. Für die erste Perspektive kommt Parsons' Behandlung der "westlichen" Industriegesellschaften, besonders der US-Gesellschaft in Betracht. Dabei geht die Theorie, entsprechend ihrem analytischen Selbstverständnis, davon aus, daß die Konzeption der Handlungssubsysterne und der ihnen zugeordneten Primärfunktionen die Frage nach deren konkreter Ausgestaltung und relativer Gewichtung in einem sozialen System offenläßt. Eben diese Rangfolge der funktionalen Subsysteme untereinander und die Ordnung und Bewertung der Status-Rollen innerhalb der Subsysteme liefern ja gerade Typen kultureller Wert- und Normsysteme. Für die US-Gesellschaft diagnostiziert Parsons eine Dominanz der A-Funktion, d. h. des ökonomischen Subsystems. Im Konzept der pattern variables bedeutet dies Dominanz des Wertmusters Universalismus-Leistung. Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Prozesses steht die Effizienz der "Produktion" und damit Steigerung in der Bereitstellung technischer, zielunspezifischer Mittel!'ll1. In einer Gesellschaft, in der die adaptive Funktion derart die Spitze der Werthierarchie bestimmt, müssen sich die übrigen Systemfunktionen konsequenterweise an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausrichten, so etwa das zur L-Funktion gehörende System von Bildung und Wissenschaft durch Bereitstellung von technologischem knowZU1 Vgl. z. B. Parsons, Essays in Sociological Theory, S. 415 ff.; ders., 'Voting' and the Equilibrium of the American Political System, in: Burdick I Brodbeck (Hrsg.), American Voting Behavior, Glencoe (Ill.) 1959, S.82.

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how. Im weiteren funktionalen Aufbau der US-Gesellschaft rangieren nach A und L die I-Funktion an dritter und die G-Funktion an letzter Stelle29t. Das veranlaßt Parsons zu der Feststellung: "Es mangelt an der Betonung eines spezifischen Systemzielg%93." Die US-Gesellschaft ist seiner Ansicht nach im Laufe ihrer Geschichte "an almost specifically nonpolitical society"294 gewesen. "Historically society has not rested in the political field"!95, vielmehr herrschte "a cultural tradition which has emphasized economic values"!H. Parsons sieht jedoch in der jüngeren amerikanischen Entwicklung eine Gegenströmung, die er zur Behebung der aus dem soeben geschilderten amerikanischen Selbstverständnis resultierenden sozialen Mängel für notwendig hält. Es ist dies der Prozeß eines "controlling the processes of the economy itself" als Gegenbewegung zu "any doctrinaire ,laissez-faire' policy"l!87 gekoppelt mit "a steady increase in the amount of public control imposed on the economy"!98. Als Ausdruck dieses Trends nennt er die Gesetzgebung des New Deal298 • Daß diese Analyse mit zustimmender Grundhaltung erfolgt, ergibt sich aus Parsons' Selbstkennzeichnung als "New Dealer" und Angehöriger des linken Flügels der Demokratischen Partei3OO. Ungleich bedeutsamer als die Analyse konkreter Systeme ist für eine Erörterung der Theorie die Frage, inwieweit deren Konstitutionsprinzipien bereits selbst und vor aller analytischen Anwendung ein bestimmtes Verständnis des Verhältnisses von politischem und wirtschaftlichem Subsystem zugrundelegen oder jedenfalls favorisieren. Entscheidender Ausgangspunkt für diese Frage ist Parsons' Konzeption der Wirtschaft, in der diese als "subsystem of a total society"301 begriffen wird. Seine Kritik an den klassischen liberalistischen Wirtschaftstheorien bemängelt daher zunächst, daß diese im Grunde nie zur Kenntnis genommen hätten, daß wirtschaftliches Handeln immer nur Ausschnitt umfassenderen sozialen Handeins sei. Demzufolge habe die "Umgebung" des wirtschaftlichen Subsystems nur als der Theorie entgleitende Zufälligkeit behandelt werden könnenllM• Vgl. hierzu auch Brandenburg, S.84. Parsons, Essays in Sociological Theory, S. 415. 294 Parsons, Structure, S. 206; auch hierbei ist an den eingeschränkt spezifischen Gehalt des Parsonsschen "Politik"-Begriffs zu erinnern und an die damit zwangsläufig verbundene Relativierung des Begriffs "unpolitisch". 295 Parsons, Structure, S. 230. 296 Parsons, Structure, S. 206. 297 Parsons, Structure, S. 230. 298 Parsons, Struct1,lre, S. 231. 299 Parsons, Structure, S. 231. 300 Parsons, The Point of View of the Author, S. 350. 301 Parsons, The Point of View of the Author, S. 351. 302 Parsons. ebenda. 292

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Dem entspricht die Kritik, die Parsons - in konsequenter Übertragung seiner theoretischen Grundlagen - schon sehr früh an der zentralen Stellung übt, die die Wirtschaftswissenschaften der" ,rationalen Verfolgung des Eigeninteresses' "303 einräumen. Das aber bedeutet die Zurückweisung einer Auffassung, für die wirtschaftliches Handeln mit der Verfolgung individueller Ziele schlechthin identisch ist. Parsons muß bei Zugrundelegung seiner Prämissen noch weiter gehen: Wenn die totale normative Durchdringung sozialen Geschehens Gesellschaft zu einer "Realität sui generis" macht, dann kann das wirtschaftliche Subsystem auch nicht als bloßes Aggregat einer Pluralität individueller Zielsetzungen begrüfen werden: "The goal of economy is not simply the production of income for the utility of an aggregate of individuals. It is the maximization of production relative to the whole complex of institutionalized value-systems and functions of the society and its subsystems. As a matter of fact, if we view the goal of the economy as defined strictly by socially structured goals, it becomes inappropriate even to refer to utility at this level in terms of individual preference lists ... The categories of wealth, utility, and income are states of properties of social systems and their units and do not apply to the personality of the individual except t h r 0 u g h the social system304 ." Dieser Fall kann aber nur Parsons' "Grenzfall" darstellen. In der handlungstheoretischen Phase hatte Parsons klargestellt: Die "Aussage, daß die uneigennützigen und die eigennützigen Motivierungselemente das menschliche Handeln in eine im wesentlichen identische Richtung dränge, gilt nur für diesen Fall ... des integrierten sozialen Systems"305. Systemtheoretisch bezeichnet Parsons' Bezugspunkt des voll integrierten Systems ein Modell, in dem die adaptive Funktion des wirtschaftlichen Subsystems nur Vorbedingung für die Erreichung der durch das politische System gesetzten Systemziele ist. Denn die adaptive Funktion soll nur Mittel bereitstellen "to attain an y goals"801, während es Aufgabe des politischen Systems ist "to maximize the capacity of the society to attain its s y s t e m goals, Le., co 11 e c ti v e goals"301. Das kann aber nur heißen, daß es die A-Funktion nur mit dem zu tun hat, was bei Parsons gelegentlich als Synonym für sie erscheint: mit der "P rod u k t ion" von Gütern, über deren tat303 So bereits Parsons, Die Motivierung des wirtschaftlichen Handeins, S.156; für die frühere Theoriephase vgl. auch ders., Systematische Theorie in der Soziologie, S. 60. 304 Parsons / Smelser, Economy and Society, S. 22 (Hervorhebung im Original). 365 Parsons, Die Motivierung des wirtschaftlichen Handeins, S. 156/157. 308 Parsons / Smelser, S. 21 (Hervorhebung im Original). 307 Parsons / Smelser, S.48 (Hervorhebungen von mir, R. D.. ).

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sächliche Verteilung im Interesse des Systemziels die "polity" entscheidet308 . Dem entspricht völlig der Platz, den das Vertragskonzept im ökonomischen Prozeß zugewiesen bekommt. Dieser Platz ist nahezu prototypisch der des " reduzierten" Vertrags. Die durch den Vertrag ermöglichte "freedom of individuals and collectivities ... to exchange goods and money" ist nur die Freiheit zu "ad hoc agreements"308. Diese Freiheit kommt aber - auf der Suche nach den Bedingungen "stabiler" Systeme - sofort als "institutionalisierte", d. h. als eingebettet in eine generelle und legitime Normenordnung in den Blick. Vertragsfreiheit ist somit nichts Originäres, Vorhandenes. Ein allgemeines (Wert- und) Normsystem muß Vertragsfreiheit erst installieren und muß definieren, was überhaupt als "p e r mit ted contractual relations" Geltung beanspruchen kann und wo die "limits of such permission" liegen310 • Im Einzelnen sieht Parsons "four essential fields in a contractual system which must be adequately defined and regulated if the system is to be stable"31l: Das erste Feld betrifft die Definition erlaubter und verbotener Vertragsinhalte; das zweite die Definition legitimer und illegitimer Mittel, mit denen die andere Partei zum Vertragsschluß bewegt wird; das dritte die Definition der aus der Situation sich ergebenden Risiken und Unsicherheiten sowie der normativen Konsequenzen einer nicht vorhergesehenen Änderung der vorausgesetzten Umstände; das vierte schließlich die Definition des sozialen InteTesses hinsichtlich vertraglicher Beziehungen, speziell des Interesses hinsichtlich der Konsequenzen des Vertrags für Drittem. Solche normative Beschränkung des Vertragssystems ist - wie betont - die Voraussetzung für die "Stabilität" des sozialen Systems. Dies entspricht Parsons' Verdikt über die "Labilität jedes Systems, das auch nur Ähnlichkeit mit dem ,reinen' Kapitalismus hat"313. Mit der normativen Kontrolle speziell des Vertrages korrespondiert die von Wirtschaft allgemein: "Economic processes ... must be institutionally controlled"314 und das bedeutet, daß Wirtschaft "besonders rechtlicher Regelung" unterliegt315 • Diese Aspekte der Parsonsschen Theorie lassen - trotz aller Lanzenbrüche für den "amerikanischen Weg" - zwei Feststellungen der Parsons-Kritik als gerechtfertigt erscheinen: Einmal - im Hinblick 308 309 310 311 312 313 314 315

In diesem Sinne auch Morse, S. 125. Structure, S.144. Ebenda (Hervorhebung von mir, R. D.). Ebenda. Vgl. Structure, S.145. Parsons, System, S. 136. Societies, S. 17. Parsons, System, S. 135.

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auf die erörterte Analyse konkreter Gesellschaftssysteme - , daß die Theorie "als bloße Widerspiegelung der amerikanischen Sozialverhältnisse nicht angemessen zu verstehen ist. Eher muß sie über weite Strecken hinweg als Reflexion der Mängel in diesen Verhältnissen gelten" angesichts der Tatsache, daß Parsons abzielt auf "die lange fällige Vergrößerung des Einflusses zentraler politischer Instanzen, die die durch den wirtschaftlichen Liberalismus entstandenen Disproportionen des amerikanischen Soziallebens beseitigt"318. Zum anderen das betrifft die zweite Feststellung: hinsichtlich der Konstitutionsprinzipien der Theorie als solcher - stellt das von der Theorie hergestellte Verhältnis von G- und A-Funktion, von "polity" und "economy" den "übergang des Primats der Wirtschaft auf die Politik"317 dar. In Parsons' eigenen Worten: "Within a given system, goal-attainment is a more important control than adaption318." Ob aufgrund dessen "Parsons' Systemtheorie als Vorbote, Ausdruck und Preisgesang einer politisch-rationalen Reformierung des gesellschaftlichen Lebens gelten kann"319, sollte wegen der in Parsons' eigener Ausarbeitung gegenüber kritischem Tiefgang dominierenden systematischen Breite dennoch skeptisch beurteilt werden. Was hier wichtiger erscheint, ist die auch an dieser Stelle zu Tage tretende Diskrepanz zur Luhmannschen Rechtssoziologie: Bei Parsons "Primat der Politik", bei Luhmann wiederholte Betonung eines "Primats der Wirtschaft"> und zwar ausdrücklich gegenüber dem politischen Subsystem: als "übergang von politischer Gesellschaft (societas civilis) zu wirtschaftlicher Gesellschaft "320. Luhmann faßt es als "Vorbedingung voller Positivierung des Rechts" auf, "daß das politische Teilsystem der Gesellschaft seine führende Stellung an die Wirtschaft abgibt, das heißt, sich primär wirtschaftlichen Problemstellungen unterordnet"321. Den Grund sieht Luhmann in der "im Vergleich zur Politik höher und besser strukturierten Komplexität der Wirtschaft"3u. Luhmanns Aussagen sind in diesem Zusammenhang überaus unklar (er nennt sie allerdings selbst offen "sehr skizzenhafte, tentative Hinweise"323) : Spricht er einerseits davon, daß das politische System seine führende Stellung ablegen müsse, so sieht er andererseits eine Messelken, S. 166. 317 Messelken, S.168. 318 Parsons, Outline, S. 40. 819 Messelken, S.168. 320 Luhmann, JRR I, S. 199 ff.; ders., Wirtschaft als soziales System, in: Soziologische Aufklärung, S. 204 ff. (225 ff.). 321 Luhmann, JRR I, S. 199. 322 Luhmann, Wirtschaft als soziales System, S. 226. 323 Luhmann, Wirtschaft als soziales System, S.227. 316

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v. Das Systemmodell

"allem verbindlichen Entscheiden vorgeschaltete Politik"3t4; proklamiert er den übergang zu "wirtschaftlicher Gesellschaft", so doch auch gleichzeitig bereits das "Umdenken von ,wirtschaftlicher Gesellschaft' auf ,Wirtschaftssystem als Teilsystem des Gesellschaftssystems' "826. Luhmann problematisiert dieses Konzept in mehrerer Hinsicht. Insbesondere möchte er in ausdrücklicher Abgrenzung zu Parsons und dessen "Hierarchiemodell" funktionalen Primat nicht als "Primat des Teils, der oben den Zweck des Ganzen erfüllt", nicht "Primat als Herrschaft" verstanden haben. Primat soll vielmehr ausdrücken: "Vorrang des Bezugsproblems, dem das Teilsystem dient328 ." Gerade diese letzte Wendung erscheint charakteristisch. Luhmann subtilisiert den Begriff der Herrschaft zu bloßem "Vorrang des Bezugproblems", ohne deutlich zu machen, wie im konkreten sozialen Prozeß denn "Unterordnung unter wirtschaftliche Problemstellungen" anders als durch "Herrschaft" und Einfluß sich darstellen sollte. Im Zusammenhang der Parsonsschen Theorie wäre zu fragen: Wenn Zielsetzung, also "Politik" eine von vier unerläßlichen Vorbedingungen (integrierter) sozialer Systeme ist, muß dann Primat der Wirtschaft nichts anderes bedeuten, als daß die Wirtschaft die "Zielsetzungen" für den sozialen Prozeß selbst vornimmt? Oder umgekehrt: Wenn es Wirtschaft primär mit der Bereitstellung von Mitteln, mit "Anpassung" zu tun hat, muß dann Primat der Wirtschaft nicht die Frage aufwerfen: Anpassung an was? Als Antwort liegt zumindest nah: Wenn Politik "sich primär wirtschaftlichen Problemstellungen unterordnet", dann bleibt als "Zielsetzung" durch die "polity" nur noch Absicherung des naturwüchsigen - und d. h. hier: ohne normative Ziel vorgabe ablaufenden - Produktionsprozesses selber. Die "Wirtschaft" selber "ist damit für Zielbestimmung und Entwicklungsrichtung der Gesellschaft ausschlaggebend geworden "327. "Adaption" wird vom Mittel zum Zweck. Für das Recht stellt dieser Grundzug der Luhmannschen Theorie eine konsequente Anknüpfung an deren Grundbegriffe "Legitimation durch Verfahren" und "Positivität des Rechts" wie auch einen erneuten, vielleicht den entscheidenden Kontrast zur Parsonsschen Normentheorie dar: Wurde Parsons' Position in dieser Arbeit durchgängig als schroffe Ablehnung des liberalistischen Modells normativer Beliebigkeit interpretiert, so kennzeichnet Luhmann seine eigene Rechtstheorie selbst mit der Beliebigkeit rechtlicher Regelungen: Positivität des Rechts liegt dann vor, "wenn die Legitimität reiner Legalität Aner324 325 326

327

Luhmann, JRR I, S.199. Luhmann, Wirtschaft als soziales System, S.227. Alle Zitate bei Luhmann, Wirtschaft als soziales System, S. 226. Luhmann, JRR 1, S. 200.

3. Das Rechtssystem

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kennung findet, wenn also Recht deswegen beachtet wird, weil es nach bestimmten Regeln durch zuständige Entscheidung gesetzt ist. Damit wird ... Beliebigkeit Institution328 ." Luhmann verwandelt mit dem Postulat eines Primats der Wirtschaft "Wirtschaft" vom Mittel zum Zweck; entsprechend verwandelt er mit dem Postulat eines Primats der "Stabilisierung" des politischen Systems vor dessen "rechtlicher Zulässigkeit"329 die Positivierung von Recht vom Mittel zum Zweck330. Die Beliebigkeit von Politik korrespondiert mit der Beliebigkeit von Recht. Für das Luhmannsche Modell ist es daher gerechtfertigt, gerade im Postulat eines Primats der Wirtschaft den Nachweis des "liberalistischen Charakters dieses Modells"331 zu erblicken. Auf etwas muß auch in diesem Zusammenhang hingewiesen werden:

Die Bedenklichkeit der Luhmannschen Theorie beruht auch hier nicht

darauf, daß er in der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung einen Primatwechsel vom politischen auf das wirtschaftliche System konstatiert; dies tut, wenn auch weniger explizit, auch die Parsonssche Theorie. Als Beschreibung wird dies der gesellschaftlichen Entwicklung im Zeichen kapitalistischer Produktionsweise auch gerecht. Das Bedenkliche ist, daß Luhmann diesen Primatwechsel postuliert und damit die Wirklichkeit zu ihrer eigenen normativen Vorgabe macht, im wahrsten Sinne des Wortes "Status quo als Argument"832 benutzt: "Die Gefahr besteht jetzt in jenen unzivilisierten Versuchen, gegen die Entwicklungslage (l) die ttberordnung der Politik über die Wirtschaft wiederherzustellen mit Hilfe von rein politischen Zielen." Solche Versuche sind nicht deshalb "unzivilisiert", "weil sie in sich notwendig unmoralisch wären, sondern weil sie den gesellschaftlichen Primat der Wirtschaft in Frage stellen" und deshalb "mit der Positivität des Rechts unvereinbar" sind333 . Deutlicher können wirtschaftlicher Primat und Positivität des Rechts kaum noch aus vorgefundener Wirklichkeit und Prinzip der Rechtserzeugung in die Normativität selbst verwandelt werden. Die Perspektiven, die sich aus Parsons' Betonung der normativen Zielvorgaben für Aktion und System eröffnet haben, bleiben so ausgeblendet. 828 Luhmann, Soziologie des politischen Systems, in: Soziologische Aufklärung, S. 154 ff. (167). 329 Luhmann, Soziologie des politischen Systems, S. 159. 330 Eine gleichgerichtete Kritik ist in dem Vorwurf enthalten, daß Luhmann eine "Verwechlung von Positivität als Erscheinungsform des Rechts mit der Rechtlichkeit des Rechts selbst" unterläuft, so Ostermeyer, Besprechung von Luhmann: Rechtssoziologie, in: ZRP 1973, S.102. 331 Rotter, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten der Institutionalisierung sozialen Wandels, JRR 3, S.92. 332 So im Titel Luhmann, Status quo als Argument, in: Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition, Bielefeld 1968, S. 73 ff. 333 Alle Zitate bei Luhmann, Positivität des Rechts, JRR 1, S.201.

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V. Das Systemmodell b) Das Normkontinuum: "Außerrechtliche" Normen

und "Sozialisation durch Recht"

Sozialisation steht für den "Erwerb von Handlungsorientierungen", für den "Erwerb sozialer Orientierungsmuster"334. Orientierung bringt für soziales Handeln eine "normative Ausrichtung" durch die Bezugnahme auf vorgegebene Normen. Recht wird ohne Sezession von anderen Normgattungen in eine "Hierarchie der normativen Steuerung"m hineingestellt. Recht erhält wie jede Norm seine handlungsbestimmende Bedeutung durch die orientierende "Bedeutung der Norm für ... einen bestimmten ... Handelnden in einer bestimmten Situation"s38. - Die Schlußfolgerung aus dieser in provokatorischer Kürze vorgestellten Kette lautet: Recht kommt als Faktor der Steuerung von Handlungsmotivation in Betracht. Parsons belegt nicht in empirischer Weise die Motivationskraft von Recht. Dies ist nicht sein Geschäft. Deshalb kann es hier auch nur um die theoretischen Konsequenzen der vorgestellten Argumentationskette gehen. Die - analytische - Einreihung des Rechts in ein Normkontinuum gleicher Wirkungsweise postuliert die - empirisch potentielle - Steuerung von Handlungsmotivation durch Recht. Die Theorie erteilt dem Recht daher den Status einer - potentiellen - Sozialisationsinstanz und deckt sich insoweit mit der vorläufig unsicheren - Empirie: "Zuweilen führt neues Recht auf dem Wege über eine Verhaltensänderung auch zu einer Einstellungsänderung; jedoch läßt sich diese Beobachtung nicht verallgemeinern, denn die Belege sind zwiespältigSS7 ." Die Theorie bietet somit Ansätze für eine Erfassung von Sozialisation durch Recht (oder auch: einer Manipulierbarkeit durch Recht)338. Daß hier nur Ansätze liegen, beruht auf dem Umstand, daß es Parsons eben nicht nur um "Recht-Sozialisations-Theorien" "mittlerer Reichweite"S38 oder gar schon um "Operationalisierbarkeit" geht, sondern um eine dem Anspruch nach allgemeine Normentheorie. Daher kann diese zunächst nur danach beurteilt werden, welche Wirklichkeitsbereiche und d. h. auch: welche Aspekte normorientierten Verhaltens sie erfaßt und welche sie ausblendet. Was die von Lautmann auf diesem Terrain avisierten "Theorien mittlerer Reichweite" betrifft, so ist festzustellen, daß diese fast durchgängig nicht ohne den maßgeblichen Einfluß der Parsonsschen Theorie zu denken sind34o, und daß dies gerade auch für den Bereich einer "Sozialisation durch Recht" gilt3u . 334

3S5 SS8 S37 3S8 338

Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 123. Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 36. Vgl. Görlitz, Politikwissenschaftliche Propädeutik, Reinbek 1972, S.216. Lautmann, JRR 3, S. 187 ff. (191). Vgl. hierzu Gschwind, JRR 3, S. 20 f. Vgl. zu einem solchen Typus Lautmann, JRR 3, S.187 ff. (188).

3. Das Rechtssystem

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Die Einordnung des Rechts in ein Kontrollkontinuum verbietet eine definitive Trennung der Wirkungsweise von Recht und "außerrechtlichen" Normensystemen. Etwas völlig anderes ist die von Parsons vorgenommene analytische Trennung des Rechts von anderen "Kontrollmechanismen"34.\!. Wenn er etwa die Motivation eher der Steuerungskapazität von Massenkommunikationsmitteln und Psychotherapie und die Wertorientierung eher der Kontrolle durch politische (aber auch religiöse) Grundentscheidungen ausgesetzt sieht843 , so bedeutet dies eben nicht die Irrelevanz von Recht für Motivation und Wertorientierung. Damit wird nur der der normativen Steuerung ausgesetzte unmittelbare Hebel bezeichnet. Denn im "hierarchischen Kontinuum" werden sehr wohl - von "oben" - der normative out-put politischer Grundentscheidungen als in-put des Rechtssystems und nach "unten" - der normative out-put des Rechtssystems als in-put für die Bedingungen massenkommunikatorischer Motivationssteuerung erfaßt. Substantielle Unterschiede zwischen Recht und "außerrechtlichen" Regeln, zwischen Recht und "Moral" gibt es aus der Sicht des Parsonsschen Handlungskonzepts und seines Zentralbegriffs der Orientierung nicht. Für Parsons ist Recht Bestandteil einer allgemeinen normativen Ordnung, in der kein Platz ist für eine Trennung von "Recht und Moral", auf deren Abgrenzung so "unsägliche Mühen"344 verwandt worden sind. Solche Trennungsversuche beruhen auf der "juristischen Fixierung auf äußeres Verhalten"345. Eine solche Fixierung ist nicht Parsons' Sache, sondern, wie sich gezeigt hat, deren krasses Gegenteil: äußeres, physisches Verhalten (behavior) ist nicht Gegenstand seines Interesses; dieses richtet sich, wie bereits erörtert, auf die "innere", normorientierte motivationale Handlungsvorbereitung. Parsons erwähnt daher zwar die "Durchsetzbarkeit" von Recht348, stellt jedoch als dessen Hauptmerkmal die orientierende Situationsdefinition heraus347. In der "Innen-Außen"-Dimension hat es Recht - wie "außerrechtliche" Normen - daher dominant mit dem ersten Pol zu tun. 340 Dies gilt nicht nur von den Arbeiten Mertons, des Propagandisten von "Theorien mittlerer Reichweite" (vgl. hierzu Hartmann, S. 37 ff.), und von Parsons-Schülern, wie z. B. Bredemeier, Law and Sociology, New York 1962, S. 73 ff., oder Mayhew, Artikel "Law - The Legal System", in: IESS Bd.9, S. 59 - 65. 841 Dies gilt z. B. für die auch von Lautmann herangezogene Arbeit von Mayhew, Law and Equal Opportunity, Cambridge/Mass. 1968. 842 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 135 f. 843 Ebenda. S44 Lautmann, JRR 3, S. 190. 345 Lautmann, JRR 3, S. 190. 346 z. B. Parsons, System, S. 29. 347 Parsons, System, S. 30. 10 D&lDm

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V. Das Systemmodell

Seine Trennung von Motivation und Orientierung muß daher für Parsons' Theorie ebenso Wirklichkeitsbereiche verschütten wie seine Trennung von anderen - "außerrechtlichen" - Sozialisationsinstanzen. Recht "erfaßt ... Moralität", wenn auch "nicht unbedingt die gesamte Moral", "denn moralische überlegungen gehen auch über den Bereich der gesellschaftlichen Werte hinaus"348. Es werden von der soziologischen Theorie und ihrem Norm-Kontinuum rechtssoziologische Entwürfe in Frage gestellt, die rechtliche und "außerrechtliche" Normensysteme in indifferentem Nebeneinander belassen; es werden aber insbesondere rechtstheoretische Entwürfe in Frage gestellt, die auf eine strikte Trennung von Rechtsnorm und nichtrechtlicher Norm hinauslaufen, etwa mit der Begründung: "Das Recht befaßt sich mit ä u ß e rem, die Moral mit i n n e rem Verhalten3"." Die Begründung dieser Ansicht wird darauf gestützt, daß "inneres Verhalten" (also: Motivation) zwar von größter Bedeutung für die Rechtsanwendung sei (etwa in Gestalt von Wissen, Willen, Vorsatz, guter Glaube, Irrtum), daß aber inneres Verhalten im Gegensatz zu äußerem nicht e1'zwungen werden könnes6o • Daher ziele Recht nur auf äußeres, nicht auf inneres Verhalten als solches ab, d. h. unabhängig von äußeren, verhaltensförmigen Manifestationen. "Was das Recht wirklich vorschreibt, ist daher lediglich äußeres Verhalten, z. B. gewisse Bewegungen des menschlichen Körpers, seiner Glieder, Muskeln, Sprachorgane usw. auszuführen oder zu unterlassen361 ." Das Kriterium der Abgrenzung ist ebenso fragwürdig wie deren Konsequenzen: Zwang als Bestimmungsmerkmal des Rechts352 lenkt von wesentlichen Dimensionen von Normensystemen allgemein und speziell von Recht ab, insbesondere aber lenkt es von Möglichkeiten des Rechts ab. Dies wird durch die Betonung Kantorowicz', daß "begriffliche Unterscheidungen ... keine Trennung in der Wirklichkeit (bedeuten)", da ja "zumindest ein e moralische Vorschrift ... grundlegende Bedeutung für das Recht (hat): ,Du sollst die Gesetze befolgen' "353, nicht abgemildert, sondern verstärkt. Natürlich sind begriffliche Unterscheidungen nicht identisch mit Trennung in der Realität; es geht aber gerade darum, daß begriffliche Festlegungen mögliche 348 Parsons, ebenda. 349 Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen 1957, S.57; vgl. auch Lautmann, JRR 3, S. 190. 350 Kantorowicz, S. 57 ff. 351 Kantorowicz, S. 59. 352 Und dabei bleibt es m. E. bei Kantorowicz letzten Endes entgegen dem Hinweis von Luhmann, Rechtssoziologie, S. 219 Fn. 24, wenn Kantorowicz, S. 90, auch nach einer Problematisierung des Zwangskriteriums den Kern seiner Begriffsbestimmung auf das "Vorschreiben äußeren Verhaltens" abstellt. 353 Kantorowicz, S. 63 (Hervorhebung im Original).

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Wirklichkeitsaspekte nicht von vornherein ausschließen, wie es etwa Kantorowicz' Rechtsbegriff mit der von ihm selbst postulierten moralischen Grundverpflichtung auf Gesetzesbefolgung tut. Wer die Kontinuität von Recht und "außerrechtlichen" gesellschaftlichen und personalen Normensystemen aus dem Blick läßt, begibt sich der Chance, Wirkungsmöglichkeiten des Rechts wie aber auch Aspekte seiner inhumanen Isolierung von anderen Normen zu erfassen. Sowohl das - nur formelhaft so formulierbare - Problem einer "Sozialisation durch Recht" als auch Probleme der "Legitimation" werden so ausgeklammert. Hinsichtlich des Sozialisationsproblems trüft es zwar zu, daß "Einstellungsänderung" , also Motivationsbeeinflussung, nicht manilester Gesetzesinhalt ist, da die neuzeitliche Gesetzgebungspraxis in der sprachlichen Form sich in der Tat zumeist damit begnügt, Rechtsfolgen an äußeres Verhalten zu knüpfen, während die Zwecke eines Gesetzes "unpositiviert" bleiben354 • Die daraus gezogene Folgerung, daß "Sozialisation durch Recht ... primär gar nicht gewollt (ist)"365, erscheint jedoch unzutreffend und irreführend zugleich36e. Unzutreffend, weil politische Systeme Rechtsnormen - bewußt oder unbewußt - allemal zur Verhaltenssteuerung "auf Zeit" einsetzen und daher die Normeinhaltung durch Stützung lediglich auf Zwang schon unter dem Gesichtspunkt der "Kosten" im weitesten Sinne nicht gewollt sein kann. Noch immer aber hat es im Interesse politischer Systeme gelegen, ihre Stabilität nicht nur durch äußere Konformität, sondern darüber hinaus durch inneren Konsens zu sichern357 . Dies kann nicht mit dem Hinweis auf die neuzeitliche RechtssatzjoTm und seiner - äußerlichen - Aussparung von Zwecken entkräftet werden. Denn diese beruht - in ihrer historisch gesellschaftlichen Perspektive - doch nur vordergründig auf der liberalistischen Annahme einer Beliebigkeit individueller Zwecksetzungen; sie beruht vielmehr in beträchtlichem Maße darauf, daß die Bewußtmachung der Zwecke, auf die hin Recht (aber nicht nur Recht) sozialisieren sollte, weniger opportun erschien als die Benennung der "äußerlichen" handlungsförmigen Emanationen der Zwecksetzung. Im Mehrparteienstaat ist ein weiteres Problem hinzugekommen: daß nämlich die Benennung der Zwecke bei Gesetzen sich 354 Lautmann, JRR 3, S. 192; aber auch dies gilt nur mit Einschränkungen, wenn man an "Präambeln" und funktionsgleiche Normierungen denkt; vgl. in diesem Zusammenhang Ryffel, Bedingende Faktoren der Effektivität des Rechts, JRR 3, S. 239. 355 Lautmann, JRR 3, S. 192. 3se Vgl. auch Ryffel, Rechtssoziologie, Neuwied-Berlin 1974, S. 298 ff., 302. 357 Zum Zusammenhang von Konsens und "Verinnerlichung" von Rechtsnormen vgl. ansatzweise Drath, über eine kohärente sozio-kulturel1e Theorie des Staats und des Rechts, in: Festschrift für Gerhard Leibholz, Tübingen 1966, S. 35 ff. (61 ff.).

10*

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V. Das Systemmodell

vielfach schon deshalb verbietet, weil diese Gesetze Formelkompromisse von Interessengruppen darstellen, in die z. T. verschiedene oder jedenfalls nicht deckungsgleiche Zwecke eingegangen sind. Die Hoffnungen müssen darauf gehen, daß der "Sozialisierungseffekt" möglichst in der Nähe der jeweilig eigenen Zwecksetzung liegt. Hier liegt aber auch der irreführende Aspekt der erwähnten Schlußfolgerung, und damit ist der Gesichtspunkt der Legitimation angesprochen. Die soeben gemachten Ausführungen machen deutlich, daß die Nichtpositivierung von Gesetzeszwecken nicht nur darauf beruhen kann, daß "Sozialisation durch Recht" nicht gewollt, sondern auch darauf, daß sie - bei allem Bemühen - nicht "gekonnt" wird. Zwang als Garantie der Normeinhaltung erhält dann die Funktion, mangelnden Konses jedenfalls soweit wie möglich durch bloße Konformität zu ersetzen. Dies betrüft die Legitimationsbasis von Normsystemen. Die selbstverständliche Verknüpfung von Recht und Zwang, von Recht und bloß äußerem Verhalten verdeckt zu schnell den Zugang zu den Fragen, inwieweit Angewiesenheit auf Zwang und Beschränkung auf äußeres Verhalten Ausdruck von Dissens, etwa aufgrund von Interessengegensätzen, und damit von problematischer Legitimation ist358 • Das, was dann allenfalls noch denkbar bleibt, ist "Legitimation durch Verfahren"35'. Von besonderem Interesse ist, daß die Rechtssoziologie Niklas Luhmanns mit ihren immer wiederkehrenden Berufungen auf Parsons' Normentheorie die kritisierte Sezession des Rechts von anderen Bereichen personaler Motivation und gesellschaftlicher Sozialisation mit theoretischem Aufwand vertieft und besiegelt. Dies mutet umso überraschender an, als Luhmann zum Ausgangspunkt seiner soziologischen Theorie der Rechtsbildung zunächst auch das "Erleben" von Recht nimmt380 und sich dagegen verwahrt, daß Fragen in diesem Umkreis als "psychologisch" abgetan werden361 • Dann aber werden unter dem Gesichtspunkt einer "Ausdifferenzierung und funktionalen Spezifizierung des Rechts" sowohl die "Trennung von Recht und Moral "362 als auch die "Trennung des Rechts von sozialisierenden, erziehenden, erbaulichen Funktionen "363 eingeführt. Dabei ist Luhmanns Methode und Argumentationsweise in zweierlei Hinsicht auffallend und folgenschwer: 358 Dem kann nicht entgegengehalten werden, die Legitimationsfrage stelle sich erst nach und außerhalb der Bestimmung des Rechtsbegriffs. Denn begrifflich Ausgeschlossenes kann - wie betont - eben nicht beliebig durch Hinzufügung wieder eingeholt werden. 359 So bereits im Titel Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 360 z. B. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 28 f., 43. 361 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 28. 362 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 222 ff. 363 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 224 ff.

3. Das Rechtssystem

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Einmal stellt er die erwähnte "Ausdifferenzierung" und "funktionale Spezifizierung" des Rechts - gleichsam in der Rolle des unbeteiligten Beobachters - als einen geschichtlichen Prozeß dar, der von "archaischen Zeiten" über "die Hochkulturen" (etwa das "klassische China") bis zu den "neuzeitlichen Verengungen des Rechtsgedankens"3114 verfolgt werden kann. Dann aber verwandelt sich diese geschichtliche Entwicklung unvermittelt in das analytische Instrumentarium selbst: "Ausdifferenzierung" und "Spezifizierung" werden nicht mehr konstatiert und analysiert, sondern postuliert: Die Trennung von Recht und Moral "entlastet" das RechtSS5 , "jene Verschmelzung von Rechtlichkeit und menschlichem Anspruchsniveau " . muß aufgegeben werden"381; die Trennung des Rechts von sozialisierenden, erziehenden Funktionen "verschafft dem Recht Beweglichkeit", "Variabilität", der "funktionale Bezug" "erzwingt" die "Nichtidentität" von Recht und Gerechtigkeit, ",Gerechtigkeit' steht als ethisches Prinzip jetzt außerhalb des Rechts "SI7. Luhmann übersieht - man möchte sagen: selbstverständlich - nicht, daß "Ausdifferenzierung und funktionale Verselbständigung des positiven Rechts" nicht heißen kann, "daß das Recht ohne Anregung von außen aus sich entstehe", "daß das Recht mit anderen sozialen Strukturen, Regulationen und Kommunikationsmedien nichts mehr zu tun habe und wie abgeschnitten in der Luft hänge"SI8, daß "damit ... Interdependenzen und Rücksichtnahmen im Verhältnis der einzelnen Funktionskreise zueinander nicht ausgeschlossen (sind) "369. Nur: Diese Relativierungen finden keinen Eingang in die Theorie, diese erfaßt im wesentlichen nur die Funktion von "Ausdifferenzierung" und "Spezifizierung", nicht aber deren Grenzen und Gefahren. Das wird besonders deutlich, wenn Luhmann im Zusammenhang mit der These einer Trennung von Recht und Moral meint, Einwendungen gegen ebendiese These mit dem einsätzigen, theoretisch folgenlosen Fußnotenzugeständnis aufzufangen können glaubt, das Postulat der Trennung heiße "natürlich nicht, daß es für die verfahrensmäßig geordnete Arbeit an sachlichen Entscheidungen keine Zweckvorstellungen und keine Anspruchsniveaus mehr gebe"370. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 219 H., 222. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 222. 31S Luhmann, Rechtssoziologie, S. 223. 367 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 226. 318 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 218. 388 Luhmann, RechtsSOziologie, S. 226. 370 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 223 Fn. 31. Dabei ist es nicht uninteressant, daß der Autor, gegen den Luhmann sich hier abgrenzt, Lon Fuller, von Parsons zustimmend zitiert wird, vgl. Parsons, System, 8.183 Anm.17, 24. . 364

361

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V. Das Systemmodell

Auch hier geht es darum, an einem speziellen Punkt der Parsonsschen Theorie zu verdeutlichen, in welcher Weise auch in ihrer offen proklamierten Nachfolge völlig andere Weichenstellungen vorgenommen werden. Gerade in der Gegenüberstellung von Parsons' "Kontinuum" und Luhmanns "Ausdifferenzierung" scheinen typische Schwerpunktverschiebungen der Luhmannschen gegenüber der Parsonsschen Theorie offenbar zu werden: Obwohl Parsons' Systemansatz - wie jede Systemtheorie - auf der funktionalen Differenzierung von Ganzheiten in Teileinheiten aufbaut, ist für Parsons die Frage nach den "Wechselbeziehungen", "Austauschprozessen" zwischen und der "gegenseitigen Durchdringung" von Handlungssubsystemen von zentraler Bedeutung371 • Als "vielleicht bekanntester Fall gegenseitiger Durchdringung" wird die für das hier anstehende Problem einer Sozialisation durch Recht elementare Konzept der internalisierenden Übernahme von Normen in die Einzelpersönlichkeit angeführt312 • Demgegenüber dominiert bei Luhmann die "Aus differenzierung" von Subsystemen in einer funktionalen Radikalisierung, die die Nichtisoliertheit dieser Subsysteme zwar immer wieder in der beschriebenen Weise erwähnt, aber nicht weiter thematisiert. Eine Problemverlagerung, die nicht nur, wie erörtert, folgenschwer für eine soziologische Theorie des Rechts ist, sondern auch für eine gesamtgesellschaftliche Analyse. Die für Parsons' Theorie konstitutiven "Austauschprozesse" vollziehen sich im normativen Bereich in der erörtertenS73 Zweispurigkeit: von "oben" nach "unten" in "Leistungsprozessen", durch die im Wege von Normspezifizierung "Normenerhaltung" - oder auch: Rechtsverwirklichung - erzielt wird; von unten nach oben in "Lernprozessen", durch die auf dem Hintergrund neuer faktischer Lagen im Wege von "Wertverallgemeinerung" "schöpferischer Normenwandel" oder auch: Rechtsentstehung - erreicht wird. Auf diesem Hintergrund wird die Fragwürdigkeit einer Sezession von Recht und "außerrechtlichen" Normen noch einmal deutlich. Die Theorie kann die Interdependenz beider Normbereiche analytisch extrem weit verfolgen: So bis zu der Frage, inwieweit auch solche nicht in Rechtsform geronnene Normen des kindlichen Sozialisationsprozesses durch Recht bedingt sind, für die es keine explizite rechtliche Regelung gibt. Denn im Lichte der Theorie erscheint gerade auch ein Absehen von rechtlicher Normierung als Regelung, nämlich als Ermöglichung breiterer subrechtlicher Normenfelder: Die rechtliche Erfassung des Inzesttabus (§ 173 StGB) und des Verbots von Kinderarbeit (Jugendarbeitsschutzgesetz) ist aus dieser Perspektive grundsätzlich nicht "mehr" Regelung als die "Nichtrege371 872

373

Vgl. z. B. Parsons, System, S.14. Parsons, ebenda. Vgl. z. B. oben V, 2. c) und V, 3. a) aa).

3. Das Rechtssystem

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lung" einer Elternpflicht zu optimaler Schulbildung der Kinder oder das Absehen von einem Verbot zu christlicher Kindererziehung. Dieser Aspekt der Normhierarchie gibt dem Parsonsschen Diktum, daß "Recht '" so gut wie alle Gesellschaftsbereiche dur c h d r i n g t"374, etwas schärfere Konturen und nimmt ihm etwas von nur vordergründiger Banalität. An dieser Stelle ist eine doppelte Anmerkung zu machen: Einmal, daß die beschriebene Einflußkette zwischen Recht und "außerrechtlicher" Norm auch in umgekehrter Richtung verfolgt werden könnte. Zum anderen und wichtiger: Der beschriebene Aspekt des Normkontinuums - und besonders die aus ihm deduzierte Affinität von Regelung und "Nichtregelung" - illustriert noch einmal mit aller Deutlichkeit, wie sehr sich Parsons' Position von einem liberalistischen Modell normativer Beliebigkeit unterscheidet, von einer Auffassung, nach der "die gerechte Ordnung ... aus normativer Abstinenz automatisch entstehen (sollte)"3711. c) Funktionale Ausdifferenzierung ohne Verselbständigung des Rechts

Innerhalb des Parsonsschen Systemansatzes eine Ortsbestimmung für das Recht vorzunehmen, stößt, wie sich gezeigt hat, hier - wie unter der behandelten handlungstheoretischen Aktor-Perspektive auf die erwähnte Schwierigkeit, daß Parsons selbst keine eigene spezifische Soziologie des Rechts entworfen, sondern diese Ortsbestimmung wenn auch wiederholt, so doch nur en passant angedeutet hat. Daher ist hier Interpretation - wie so oft - gleichzeitig eigener Entwurf, wobei das interpretatorische Risiko - wie immer - zu Lasten des Interpreten geht. Auch das System rechtlicher Normen kann auf dem Hintergrund des skizzierten Systembegriffs nur als (Sub-)System mit Funktionen für das Allgemeine Handlungssystem erscheinen. Dabei ist zweierlei von entscheidender Bedeutung: Einmal, daß "Funktion" die Notwendigkeit umschreibt, daß "die Konsequenz (= Funktion) alternativer Typen sinnhaften Handeins seitens der Systemeinheiten (personen oder Gruppen) für das System selbst ... ausdrücklich in Betracht gezogen werden (muß)"37S; zum anderen, daß im systemtheoretischen Räsonnement das "Allgemeine Handlungssystem" - ohne daß dies von Parsons und vielen anderen Systemtheoretikern mit der nötigen Deut374 Parsons, Recht und soziale Kontrolle, S. 122 (Hervorhebung von mir,

R. D.).

371 Grimm, Verfassungsfunktion und

S. 489 ff. (500).

Grundgesetzreform,. AöR

378 Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 34.

1972,

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V. Das Systemmodell

lichkeit und Häufigkeit betont würde - nichts anderes bezeichnet als konkretes Handeln, also Handeln in seiner durch das Ensemble aller Subsystemaspekte konstituierten Totalität. Jenseits einer Zuordnung von Einzelfunktionen ist daher zu beachten, welche Weichenstellungen damit grundsätzlich für das Verhältnis von Recht und anderen Handlungssubsystemen erfolgt sind. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Parsons mit dem gleichen Nachdruck auf den analytischen Charakter der Behandlung konkreten HandeIns in Form von systemhaft begriffenen Handlungsaspekten wie auf den funktionalen ("rein funktionalen"377) Charakter der Differenz solcher Handlungssubsysteme verweist. Damit ist aber bereits im Ansatz klargestellt, daß analytische Schnitte des Betrachters wie auch funktionale Differenzierung des Objekts immer auf die "Totalität" des HandeIns verwiesen bleiben. Denn menschliches Handeln schließt Prozesse auf allen vier Subsystemebenen ein378. Ein einzelnes Handlungssystem kann man "nur als einen Te i I des wirklichen (l) Handlungssystems ... , der von ihm nur a n a I y t i s c h getrennt werden kann"379, angemessen begreifen. Damit kommt ein in der ParsonsKritik vernachlässigter Grundzug der Theorie zum Vorschein: Wenn Parsons' "Allgemeines Handlungssystem" nichts anderes ist als die Totalität konkreten HandeIns, so stellen sich die Funktionen von Handlungssubsystemen weder als verselbständigte Sub-Welten noch als erzwungene Leistungen an einen Moloch "System" dar. Sie konstituieren vielmehr erst die Möglichkeiten konkreten HandeIns. Die gleiche Perspektive ergibt sich innerhalb der vier primären "Sub"-Systeme: Das soziale System etwa umschreibt die Totalität sozialen, gesellschaftlichen HandeIns. Die Funktionen gesellschaftlicher Subsysteme erscheinen somit ebenfalls weder als partikularisch-isolierte Wirkungszusammenhänge noch als bloßer Dienst für ein ontologisiertes soziales System, sondern als die Konstitutionsbedingungen konkreten gesellschaftlichen HandeIns. Der Einfluß dieser Grundlinie wird an vielen Stellen der Theorie deutlich: so etwa an den beschriebenen Sequenzen der einzelnen, voneinander abhängigen Handlungsphasen des AGIL-Schemas. Sie machen offenbar, daß die Differenzierung nach den vier systemischen Grundfunktionen soziales Handeln nicht auseinanderdividieren soll, sondern im Gegenteil erst die Handlungstotalität erschließen soll. Noch deutlicher wird dieses Grundthema der Theorie an dem - das AGIL-Schema ja mitumfassenden - Kontinuum der Kontroll- und Bedingungshierarchie. Diese besagt in ihrem - von Parsons allerdings 377 Parsons, System, S. 12. 378 Vgl. hierzu auch Brandenburg, S.33. 379 So für das kulturelle System Toward, S. 240 (Hervorhebungen - außer Rufzeichen - im Original).

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nicht voll genutzten - Ansatz nichts anderes, als daß jedes konkrete Handeln geprägt wird durch ein je spezüisches Ensemble normativer Elemente (von allgemeinen Wertvorstellungen über soziale Normen und Sozialisationspraktiken bis zu normativer Beeinflussung von Denkund Wahrnehmungsvorgängen) und konditionaler Elemente (von organischen Grundbedürfnissen über Mittel und Ressourcen der physischen Umwelt bis zu den Einflüssen wirtschaftlicher Macht). Diese Durchdringung der verschiedenen Tiefenschichten menschlichen HandeIns ist für eine soziologische Theorie des Rechts von fundamentaler Bedeutung. Sie widersetzt sich letztlich jedem Versuch, Rechtssystem und rechtsförmige Handlungsanweisungen von den übrigen Handlungsebenen zu isolieren. Analytische Schnitte, die durch "das Recht" gelegt werden, können daher Primärfunktionen gerade dieser normativen Ordnung freilegen; sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß "RechtshandeIn" die beschriebenen übrigen Handlungsebenen bereits mitenthält - und umgekehrt in ihnen enthalten ist. Eine Trennung von "Recht" und "Moral" verbietet sich ebenso wie ein Absehen von Sozialisationsprozessen durch das Recht wie auch von einem - potentiellen - Sozialisationseffekt von Recht. Wenn Schelsky daher meint: "Seltsamerweise hat Parsons wie alle Funktionalisten bisher kaum gesehen, daß gerade unter dem Aspekt der ,Funktion' des Rechts in der Gesellschaft solche Versuche einer genauen definitorischen Unterscheidung der verschiedenen Arten der ,sozialen Kontrolle' obsolet werden"380, so macht die Analyse der theoretischen Zusammenhänge Schelskys Staunen absolet. Nach den Grundlagen der Parsonsschen Theorie kann man in der Tat rechtliche und "außerrechtliche" Normensysteme nach ihrer Funktion nicht "definitorisch streng unterscheiden", und ihre Unterscheidung nach den "Modi ihrer Durchführung", ihrer" ,Gerichtsfähigkeit' "381 ist auch für Parsons nirgends von großer Bedeutung. Damit schließt sich der Kreis zu der unter den Stichworten "Außerrechtliche Normen" und "Sozialisation durch Recht" geäußerten Kritik an Luhmanns Akzentuierung von funktionaler Düferenzierung: Wie jeder Versuch begrifflicher Fassung von Problemen unterliegt auch das Konzept einer funktionalen Differenzierung der Gefahr einer Ausblendung von nicht unmittelbar dem Begriff unterfallendenAspekten. Luhmann erliegt dieser Gefahr in hohem Maße und - das ist die These dieser Arbeit- in weit höherem Maße, als dies für eine (auch) an Parsons anknüpfende Theorie nötig gewesen wäre. In Luhmanns Theorie erscheinen Subsysteme als weitgehend autonom und steuern 380 Schelsky, JRR 1, S. 54. 881 Alle Zitate bei Schelsky, JRR 1, S.54.

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V. Das Systemmodell

sich selbst382 ,383. Dies führt zu einer Perspektivenverengung, "zur Verengung der funktionalen Analyse auf das isolierte Teilsystem"384. Dies aber gerade führt zu charakteristischen Akzentsetzungen in der Luhmannschen Rechtssoziologie. Während es für Parsons schwerpunktmäßig um die "Durchdringungs"-Zonen von Teilsystemen geht, separiert Luhmann die Teilsysteme; während Recht für Parsons der vielleicht wichtigste jener "integrativen Mechanismen" ist, "die die funktional differenzierten Subsysteme miteinander ver bin d e n"886, radikalisiert Luhmann das Konzept einer Ausdüferenzierung und funktionalen Spezifizierung des Rechts mit weitreichenden Folgen. Das betrüft einmal die Isolierung des Rechts gegenüber anderen Erscheinungsformen von Normativität (insbesondere gegenüber "wissenschaftlicher Wahrheit", "Moral" und "sozialisierenden, erziehenden, erbaulichen Funktionen"386). Bezeichnenderweise geht Luhmann kaum darauf ein, daß er - im Licht des Parsonsschen Kontroll- und Bedingungskontinuums - das Recht mit dieser Sezession von anderen Formen der Normativität auch von korrespondierenden Formen der Konditionalität, "Materialität" trennt: von Interessenbedingtheit der "Wahrheit", von Motivationskraft der "Moral", von Bedürfnisprägung durch Sozialisation. Allerdings bekennt er sich dazu, daß er von einem Recht ausgeht, das sich durch "hohe Indifferenz gegen jede Art individueller Motivationsstruktur" auszeichne387 • Dem entspricht in vollem Maße Luhmanns Konzeption einer "Legitimation durch Verfahren", in der ausdifferenzierte "fallweise veranstaltete Sondersysteme" nicht die normativen und materiellen Ursachen von Rechtshandeln klären; in der vielmehr auf der Grundlage von "unterstelltem, mehr oder weniger fiktivem Konsens" (und d. h.: von motivationsunabhängigem Konsens) die "Absorption von Protesten" und "soziale Isolierung derjenigen, die sich offen als abweichend bekennen" geleistet wird388 . Im Zusammenhang mit derartiger "Isolierung" bekommt "Ausdifferenzierung" einen fast zynischen Klang. Dem Absehen von "Selbst- und Normverständnis der Verfahrensbeteiligten"389 entspricht ein "Lernprozeß ohne Internalisierungsanforderung auf Seiten der Umwelt" und ein "Anwendungsprozeß ohne Überzeugungsanforderung auf Seiten der Juristen"39o. 382 Vgl. z. B. Luhmann, Soziologie des politischen Systems, S. 154 ff.; ders., Selbststeuerung der Wissenschaft, S. 232 ff. 383 Die gleiche Feststellung trifft auch Walter Schmidt, NPL 1971, S.348. 384 Walter Schmidt, ebenda. 386 Parsons, Societies, S.24 (Hervorhebung von mir, R. D.). 386 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 222 ff. 387 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 220. 388 Alle Zitate bei Luhmann, JRR 1, S. 189. 389 Esser, S. 210. 390 Esser, S. 202.

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Parsons' Auffassung von "Institutionen der Verfahrensregelung"S81, für die er als Hauptbeispiel gerichtliche Entscheidungsprozesse anführt 392 , nimmt sich hier - ungeachtet ihrer auch insoweit nur andeutenden und unausgearbeiteten Weite - wie ein Kontrastprogramm zu Luhmann aus: Geht es in Luhmanns Verfahren um die Unterstellung von Konsens, so geht es in Parsons' Verfahren gerade umgekehrt um die "Herbeiführung von Konsens"s8s; geht es bei Luhmann um die Isolierung von Dissidenten, so ist für Parsons das Akzeptieren des Verfahrensresultats durch die "Unterlegenen" Gradmesser für die "Institutionalisierung ,demokratischer' Solidarität"S84. Mit dem genannten Grundzug der Luhmannschen Theorie hängt auch seine Unterscheidung von gesetzgeberischem "Zweckprogramm" und rechts anwendendem "Konditionalprogramm"395 zusammen. Auch diese Unterscheidung ist Ausdruck einer Theorie der Ausdifferenzierung juristischer Subsysteme, in der Funktionalität nicht mehr als Beitrag zu konkretem Handeln erscheint, in der vielmehr konkretes Handeln zerschlagen wird in nicht mehr aufeinander bezogene Partikel. Dies wird für das Rechtssystem durch eine Entproblematisierung des "Wenn-Dann-Zusammenhangs" zwischen " Tatbestand " und "Rechtsfolge" erreicht, die für die Vergangenheit wie für die Zukunft eine "Entlastung" von Handlungsrealität erbringt: Hinsichtlich der Handlungsgesch.ichte sollen Konditionalprogramme gewährleisten, daß Rechtsanwendung "nur einen engen Ausch.nitt aus der relevanten (!) Vergangenheit zu prüfen" hat; hinsichtlich der Handlungszukunft sollen Konditionalprogramme eine "Entlastung von Folgenverantwortung" bewirken396 • Im Licht der Parsonsschen Theorie ist gerade solche "Folgenentlastung" gerichtlicher Entscheidungen fragwürdig. Wenn funktionale Differenzierung zur Bedingung konkreten Handeins wird, dann kann unter dem funktionalen Gesichtspunkt gerade kein Absehen von konkreten Folgen proklamiert werden. Der Hinweis, daß Luhmann die hier zugrundeliegende Unterscheidung zwischen "programmierender" und "programmierter" Entscheidung (H. A. Simon) aus einem Kontinuum in eine Alternative verwandelt hatS97 , offenbart erneut den Charakter seines Ausdifferenzierungskonzepts als Sezession von Realität an Stelle bloßer Problemlösungsstrategie398 • 391 Parsons, System, S. 38. 392 Parsons, System, S. 39. 393 Parsons, ebenda. 894 Parsons, ebenda. 395 Luhmann, Positives Recht und Ideologie, S. 178 ff. (191 ff.); ders., Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 1969, S. 1 ff. 396 Vgl. für alle Zitate Luhmann, JRR 1, S. 194/195. 397 W. Schmidt, S.352. 398 Daß es sich dabei schon auf dem bloßen Hintergrund juristischer Erfahrungen um "Subsumtionsideologie" handelt, ist bereits betont worden; vgl. W. Schmidt, S.353.

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Die unterschiedliche Tenorierung in den Theorien Parsons' und Luhmanns ließe sich noch an einer Menge von Einzelpartikeln aufzeigen. So insbesondere an den Kategorien, mit denen die Theorien evolutionäre Prozesse erfassen wollen. Zentraler Begriff ist in beiden Konzepten der der funktionalen Differenzierung zur Bewältigung komplexer Systemprobleme. Bei Luhmann konzentriert sich das Interesse in charakteristischer Weise auf Folgeprobleme des - ja gerade als Problemlösungsmechanismus begriffenen - Differenzierungskonzepts, darauf, daß "soziale Differenzierung keinen reinen Gewinn bringt, sondern ihre typischen Folgeprobleme hat, welche die weitere Entwicklung bestimmen"388. Luhmann zieht daraus die Konsequenz, daß die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung durch weitere funktionale Differenzierung aufgefangen und abgearbeitet werden müßten'oo. In Abwandlung eines anderen Luhmannschen Schlüsselbegriffs könnte man dies als "reflexiven Mechanismus" einer Differenzierung von Differenzierung bezeichnen. Gerade in seiner Rechtssoziologie verknüpft Luhmann das Konzept der Reflexivität eng mit dem der funktionalen Differenzierung401 . Folgerichtig geht es dann zentral nicht mehr um die Normierung konkreten Handeins, sondern primär um die "Normierung der Normsetzung"401. Demgegenüber bezeichnet Parsons Differenzierung mit starker Betonung als "nur einen von v i e r primären Prozessen strukturellen Wandels",03, von denen für das Recht insbesondere die durch Differenzierung entstehenden Probleme der "Integration neuentstandener Strukturen und Systemeinheiten" sowie der "Wertverallgemeinerung" von Bedeutung sind,04. Gerade der letztgenannte Prozeß bringt zum Ausdruck, daß sich Bildung und Funktion von Subsystemen an Zustand und Fortbildung der normativen Anforderungen des Gesamtsystems legitimieren müssen. Damit werden Problemlösungsversuche wieder auf die Ebene gesamtgesellschaftlicher Zielsetzungen gehoben. Man könnte den Vergleich zwischen Luhmann und Parsons an einer Verschiebung der Betonung von "funktionaler Differenzierung" festmachen: Bei Parsons liegt die Betonung auf "funktional" und damit mehr auf Austausch- und Beitragsprozessen zwischen Subsystemen und System; bei Luhmann liegt die Betonung auf "Differenzierung" mit der Folge, daß Subsysteme wie Recht, Wirtschaft etc. ein Eigenleben füh399 Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, S. 198 f. 400 Z. B. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 17 f. 401 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 217 ff.. 402 Luhmann, Rechtssoziologie, S.217. 403 Parsons, Systeß}, SAO (Hervorhebung im Original). 404 Vgl. Parsons, S. 40 ff.; ders., Societies, S. 21 ff.

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ren und ihre Leistungen nicht mehr in das Hauptsystem zurückzukehren scheinen. d) Exkurs: Parsons' Theorie und die Staatslehre Hermann HeUers

Der Versuch, jedenfalls mit kurzem Seitenblick eine Verbindung zwischen Parsons' Theorie und der Staatslehre Hermann Hellers herzustellen, mag auf den ersten Blick verblüffen und nach Zweck und Rechtfertigung fragen lassen. Der Zweck des Versuchs beruht darin, die Parsonssche Theorie mit einer dem rechtswissenschaftlichen Diskussionszusammenhang näherstehenden Theorie sozialer Strukturen und Prozesse zu verknüpfen; einer Theorie überdies, von der sich im rechtswissenschaftlichen Kontext der Eindruck verstärkt, daß sie sowohl hinsichtlich ihrer politischen Intention als auch (und nicht unabhängig davon) ihres theoretischen Gehalts lange fehlende Beachtung verdient. Es ist die Ansicht vertreten worden, daß aus der staatstheoretischen Diskussion der Weimarer Republik "von bleibender Aktualität nur Heller"405 sei. Die Rechtfertigung des Versuchs schließlich hat sich zweigleisig an Hellers Grundlegung und Einzelkonzepten zu erweisen. Dabei ist es überaus selbstverständlich, daß Vergleiche nicht Identität von Autoren suggerieren, sondern nur grenzüberschreitendes Denken bewirken sollen. Erster Einstieg ist dabei Hellers Kennzeichnung der Staatslehre als einer in jeder Hinsicht "soziologischen Wirklichkeitswissenschaft"406. Die hiermit angesprochene gesellschaftliche Wirklichkeit zeigt für Heller "kein Chaos, sondern einen geordneten Wirkungszusammenhang mit irgendeinem Grad von Dauerhaftigkeit, in dem die einzelnen Formen, ihrerseits wieder von einer größeren oder geringeren Beständigkeit, sich gegenseitig bedingende Funktionen ausüben"407. Diese Vorstellung von Wirklichkeit enthält durchaus Anklänge an Parsons' Begriff von Realität als hierarchisch geordnetem Kontinuum. Noch viel größere Affinität zu Parsons hat jedoch Hellers Theorie bei der Frage nach dem erkennenden Zugriff auf diese Wirklichkeit. Er bemerkt warnend, daß "für die unvermittelte und deshalb naive Anschauung ... alle gesellschaftliche Wirklichkeit ... den Charakter einer starren objektiven Dinghaftigkeit" hat, während doch gerade alle Erfahrung und jede Erlebnisform bereits normativ vermittelt ist, so durch die "durch Sprache, Sitte, Recht, Familie, Staat usw. vorgezeichneten Bahnen"408. 405 Grimm, AöR 1972, S.494 Fn.12; zu Heller im übrigen insbesondere Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Köln-BerUn 1968. 406 Heller, Staatslehre, 3. Auf!. Leiden 1963, S.48. 407 Heller, S. 50. 408 Heller, S. 48.

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Das diesen Umstand nicht vergegenwärtigende von Heller sogenannte "unmittelbare Bewußtsein"408 zwingt den Vergleich mit Parsons' Warnung vor der "unangebrachten Konkretheit" geradezu auf. Wie bei Parsons wird bei Heller damit von der schon immer vorgegebenen normativen Prägung kognitiver Akte ausgegangen. Auch hier deutet sich die am Anfang dieser Arbeit erörterte Korrespondenz von Erkenntnis- und Ordnungsproblem an. Ebenso wie Parsons kritisiert Heller Max Webers Konzept des " Idealtypus ". Dieser ist bloße "gedankliche Fiktion", der "keinerlei wirkliche Einheit (entspricht) .... Wir kennen die erkenntnistheoretischen Hintergründe dieser Begriffsbildung: die undialektische, wirklichkeitsfremde Gegenüberstellung eines Erkenntnissubjekts, das von außerhalb kommend an das ihm fremde Erkenntnisobjekt ,herangegangen' ist"410. In ähnlicher Weise hat auch Parsons, wie bereits erwähnt411 , an Webers Idealtypus bemängelt, daß es sich dabei um bloße "nützliche Fiktionen", nicht aber um "Reflexe der Wirklichkeit" handele412 • Für Parsons gilt die Feststellung, daß "die logische Ordnung der Theorie in einem gewissen Sinn einer tatsächlichen Ordnung in der Realität kongruent" ist413. Auch die Kernbegriffe des erkennenden Zugriffs erinnern an Parsonssche Schlüsselkategorien. Wie dieser sieht Heller den Zugang zur gesellschaftlichen Totalität nur über "eine Zerlegung des gesamtgesellschaftlichen Wirkungszusammenhangs"414, über ein Aufbrechen dieser Totalität unter strukturellen und funktionalen Gesichtspunkten: "Nur indem wir innerhalb der Totalität der geschichtlichen Wirklichkeit verschiedene Funktionen und Strukturen unterscheiden, ordnet sich uns das Bild des Stromes, und die unendliche Mannigfaltigkeit der Tatsachen gestattet nunmehr eine sinnvolle Auslese415 ." Erst die Analytik kann "Staat" "aus der gesellschaftlichen Totalität isolieren" und ihn "nach Funktion, Struktur und Entwicklungstendenz" verständlich machen416 • Dabei werden die Begriffe Struktur und Funktion nicht mit der Präzision des erst nach Heller voll einsetzenden soziologischen Funktionalismus eingeführt. Dennoch werden diese Begriffe in ebendem Kontext von Statik und Prozeß eingeführt, der für die Parsonssche Soziologie·so kennzeichnend ist. 408 410 411 412 413 414 415 418

Heller, S.48. Heller, S. 62. Vgl. oben unter III, 3 C. SSA, S. 730. Schwanenberg, S. 35. Heller, S. 103. Heller, S. 50. Heller, S.103.

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Insbesondere bezeichnen die beiden Begriffe bei Heller wie bei Parsons das ambivalente Verhältnis zu Geschichte. Einerseits betont Heller das "Prozeßartige aller gesellschaftlichen Phänomene", dessen Darstellung die Aufgabe der Geschichtswissenschaft mit ihrer Grundkategorie "des Nacheinander, der Folge in der Zeit" ist417 • Dennoch nimmt Heller eine deutliche Abgrenzung von Staatslehre und Geschichte gerade deshalb vor, weil sich historisch entstandene soziale Wirkungszusammenhänge "mit den logischen Mitteln der Geschichtswissenschaft, d. h. mit der Kategorie der zeitlichen Folge nie und nimmer verstehen und erst recht nicht erklären lassen"UB. Der Grund dafür liegt darin: "Alle Geschichte ist Geschichte von Etwas; es gibt keine ,Geschichte überhaupt'419." Folglich liegt für Heller der eigentliche Erklärungswert - bei aller Bewußtheit über den historischen Prozeß! - nicht bei der Kategorie des "Nacheinander", sondern bei der des "Nebeneinander": "Nur aus dem gleichzeitigen Miteinander der gesellschaftlichen Wirkungsstruktur, sozusagen aus dem Querschnitt des Geschichtsbaues sind sie (d. h.: soziale Phänomene) zu begreifen4!0." Alles andere liefe auf den geschichtsmetaphysischen Irrglauben hinaus, Geschichte sei "als eine undifferenziert strömende Totalität erfaßbar"421. Dabei soll die Ähnlichkeit unverfolgt bleiben, die zwischen Hellers Kategorie sozialen Wandels, nämlich "Integrierung" und "Differenzierung"422 und den Parsonsschen Kategorien strukturellen Wandels besteht, innerhalb deren ja Differenzierungs- und Integrationsprozesse eine zentrale Rolle spielen. So geht es bei Heller wie in Parsons' Handlungs- und Systemtheorie um die Totalität des sozialen Prozesses. Hier wie dort aber wird strikt und kompromißlos der bewußte oder unbewußte Versuch zurückgewiesen, diese Totalität als Totalität zu erfassen. Denn dies ist - angesichts der Tatsache, daß "im gesellschaftlichen Leben alles mit allem zusammenhängt"42S - nur in einem Akt der begrifflichen Selbsterklärung möglich, in dem sich gesellschaftliche "Totalität" selbst entdeckt. Die Betrachtung von Einzelkonzepten kann dann keinen analytischen, sondern nur noch einen Charakter von Bestätigung haben, bei der sich die Totalität immer wieder wie Münchhausen am Schopf als ihr eigenes Erklärungsprinzip aus dem Sumpf des Nichterkannten zieht. Am Totalitätsbegriff erweist sich für Heller daher auch die 417 Heller, S.49. Heller, Heller, 420 Heller, 421 Heller, 422 Heller, 423 Heller, 418

411/

S.50. S. 50. S.50. S.50. S.169. S. 169.

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"ganze Größe" und auch "ganze Einseitigkeit" des Marxismus424 : Erstere an dem Festhalten am Konzept gesellschaftlicher Totalität; letztere "in der kümmerlichen Auffassung der wahren menschlichen Wirklichkeit als ökonomischer Gattungsexistenz"426. In dieser skizzierten ambivalenten Stellung zu Geschichte konstituiert Heller seine soziologische Staatslehre. Erst das Aufbrechen der Totalität in Struktur und Funktion gibt die "Möglichkeit, innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit den Ansatzpunkt der Staatslehre als Strukturwissenschaft aufzuweisen", für die es darum geht, "den Staat als geschichtliche Struktur, und zwar als Funktion innerhalb der Totalität des konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Gefüges zu erkennen"42G. Dies ist gerade das "Problem der Staatslehre": "den Staat im Werden als Struktur zu begreüen427 ."

Daß die bis hierher aufgezeigte Parallelität zwischen Heller und Parsons nicht auf folgenloser Zufälligkeit des Vokabulars beruht, wird - zuweilen in verblüffender Ähnlichkeit - an der Einzelausarbeitung deutlich. Ausgangspunkt ist dabei Hellers Auffassung vom Staat "als Funktion"428. Dabei wird der Staat - in "Unterscheidung von anderen gesellschaftlichen Funktionen"4!t - auf die "politische Funktion" bezogen (nicht mit ihr identüiziert)430. Neben den Funktionsbereich des Staates stellt Heller die von KircheC31 , Wirtschaft432 und - schon äußerlich herausgehoben - von Recht433. Schon rein äußerlich legt diese Unterteilung den Vergleich mit den vier primären Subsystemen und den vier Primärfunktionen der Parsonsschen Theorie nahe. Aber auch in der inhaltlichen Bestimmung der vier gesellschaftlichen Funktionen weist Hellers vorsystemtheoretisches Modell viele Parallelen zu Parsons auf. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft (in Parsons' Terminologie: von politischem und wirtschaftlichem Subsystem bzw. von G-Funktion und A-Funktion) und für die Funktion des Rechts. In bezug auf das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft grenzt sich Heller entschieden gegen liberalistische wie marxistische Positionen ab. Dabei geht es dieser Abgrenzung Heller, Heller, Heller, Heller, Heller, Heller, Heller, 431 Heller, 432 Heller, 433 Heller,

424

426 426 427 428 429 430

S. 103. S. 103. S. 50. S.51. S. 50, 199 ff. S. 203. S. 204 f. S. 209 ff. S. 211 ff. S. 216 ff.

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hauptsächlich um eine Attacke gegen die zum "theoretischen Dogma" und zum "praktischen Zukunftsideal" erhobenen "Auflösung der Politik in Wirtschaft"'". Die Kritik am liberalistischen Konzept setzt am gleichen Punkt wie bei Parsons ein, nämlich an einem metaphysizierten individuellen Selbstinteresse und einer damit einhergehenden Entproblematisierung des Ordnungsproblems: "Die Gesellschaft ist sozusagen das Abfallprodukt, das sich beim Zustandekommen aller Einzelverträge ,von selbst' ergibt. Die einzige Norm, die anerkannt wird, ist das individuelle Selbstinteresse, die einzige Ordnung die Marktordnung, welche aus dem freien Zusammenspiel der Einzelinteressen hervorgeht435 ." Dieses Ordnungskonzept des Liberalismus führt nicht, wie vorgesehen, zu "freiem Tauschmarkt", "freier Konkurrenz", "freier Selbstverantwortung und Selbstbestimmung", "freiem und gleichem Spiel der Kräfte"m, sondern über "Privatisierung der Wirtschaft" letztlich zu "Privatisierung der staatlichen Macht"437. Die daraus resultierende "Relativierung des Staates auf die Wirtschaft"438 sieht Heller aber auch im Marxismus angelegt, "weil er in dem Dogma verfangen ist, die staatliche sei nur ein Mittel der wirtschaftlichen Funktion"m. "Es ist der theoretisch und praktisch folgenreichste Irrtum sehr vieler Sozialisten, daß sie eine Gemeinwirtschaft von der Beseitigung der politischen durch die wirtschaftliche Funktion erwarten; anstatt umgekehrt eine Einschränkung oder Aufhebung der reinen Wirtschaftsgesetzlichkeit durch die politische Macht zu erstreben440 ." In diesem Zusammenhang ist nicht das Wesentliche, ob Heller hier hinsichtlich der marxistischen Theorie einem Mißverständnis aufsitzt (durch Vermengung der kritischen Analyse vorgefundener und dem Entwurf anvisierter Gesellschaftsformen). Wesentlich ist hier, daß Hellers Theorie wie die Parsonssche einen "Primat der Wirtschaft" schroff zurückweist. Zunächst dadurch, daß er der staatlichen Funktion eine "relative Autonomie" (ebendieser Begriff wird auch von Parsons immer wieder für das Verhältnis von Subsystemen benutzt) durch die Annahme sicherzustellen sucht: "Daß in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ökonomische Ursachen politische Folgen haben, ist ebenso richtig, wie daß die umgekehrte Kausalreihe zu finden ist"1." Diese "relative Heller, Heller, 438 Heller, '37 Heller, 438 Heller, 439 Heller, 440 Heller, 441 Heller,

434 435

11 Damm

S. 213. S. 112. S. 112. S. 115. S.167. S. 211. S. 215. S. 213.

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Autonomie" wird jedoch sogleich weiter ausgebaut zu einem Primat der Politik: "Die staatliche Funktion besteht aber gerade darin, die ökonomischen Zwecke der politischen Gesamtsituation einzuordnen, was selbstverständlich nur von einem der Ökonomie übergeordneten Standpunkt aus geschehen kann442 ." Auf der Grundlage dieser Funktionsverteilung bestimmt Heller auch die Funktionen des Rechts in einer Weise, die den Vergleich mit Parsons geradezu aufdrängen. Da ist zunächst Hellers Feststellung, daß es "überhaupt keinen unentbehrlicheren Integrationsfaktor des Staates als das Recht (gibt) "443, die an Parsons' Betonung der Integrationsfunktion des Rechts erinnert. Bedeutsamer für einen Vergleich mit der Parsonsschen Theorie sind jedoch die Möglichkeiten von Recht, die Hellers Staatslehre offenläßt, und zwar sowohl unter makroskopischer wie mikroskopischer Perspektive. Makroskopisch sieht Heller einen Grundfehler in dem Auseinanderdividieren und Gegeneinanderausspielen von zwei Polen: des "machtbildenden Charakters des Rechts" und des "rechtbildenden Charakters der Macht"44'. Dem entspricht das in Staats- und Rechtstheorie geläufige Gegeneinanderausspielen von "Normativität" und "Positivität" bzw. von "Normativität" und "Existentialität", Begriffspaare, die aber "gerade für den Staat keine Gegensätze, sondern gegenseitige Bedingungen"446, formulieren. Diese Betonung der Gleichzeitigkeit und theoretischen Gleichrangigkeit von Normativität und Existentialität läßt Parsons' Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit von Normativität und Konditionalität assoziieren. Für das Recht hat diese Polarität in beiden Theorien zur Folge, daß die Möglichkeit sowohl von interessebedingten Normen wie auch der Normierung von Interessen offenbleibt. Daß beide Theorien die schroffe Entgegensetzung von "Sein" und "Sollen" problematisieren''', ist danach ebensowenig verwunderlich wie die Tatsache, daß beide sowohl eine Reduktion von Bewußtsein auf Sein wie auch eine Ausrichtung des realen Prozesses an einem "Reich des reinen Sollens" ablehnen447 . Damit hängt - in mikroskopischer Perspektive - für beide Theorien ein ganz bestimmtes Verständnis des Verhältnisses von Recht und "außerrechtlichen" Normen zusammen. Hinsichtlich der Parsonsschen Theorie wurde dies bereits mehrfach mit dem Ergebnis erörtert, daß im Licht der Theorie jeder Versuch einer substantiierenden Trennung von Recht und "außerrechtlichen" Normen an der Sache vorbeigeht, wobei die Sache in der - durch gesellschaftliche Totalität bedingten Heller, S. 215. Heller, S. 194. 444 Heller, S. 194. 446 Alle Zitate bei Heller, S.194. 446 z. B. Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 37; Heller, S.222, 250, 252. 447 Vgl. z. B. Heller, S.86. 442

443

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Totalität einer alle Handlungsebenen durchdringenden Normativität beruht. Für Heller gilt das Nämliche, wobei das Verhältnis von rechtlichen und "außerrechtlichen" Normen besonders deutlich mit dem problematischen, aber gerade nicht alternativen Verhältnis von Sein und Sollen, Existentialität und Normativität, Normalität und Normativität und - auf einer etwas verschobenen Ebene - von Legalität und Legitimität verbunden wird. "Der übergang von der nur tatsächlichen zu der als legitim geltenden gesellschaftlichen Ordnung ist in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ein durchaus fließender. Immer wird der Mensch hineingeboren in eine vorgeformte Welt von Vorstellungen, die, mehr oder weniger fest gefügt, differenziert und für größere oder kleinere Kreise verbindlich, seinen Habitus auch ohne sein Bewußtsein448 formen und dadurch sein Handeln leiten. Nicht wenige von diesen Handlungsformen durchdringen (bei dieser Vokabel sei an Parsons erinnert, R. D.) so sehr das ganze Wesen des Menschen, daß sie für ihn auch ohne sein Bewußtsein ,gelten', das heißt in seinem Handeln wirksam sind. Auch dieses ,automatisch' Sich-Orientieren an eingelebten Legitimitätsvorstellungen wird sehr oft mißdeutet, von den einen naturalistisch, von den anderen idealistisch. Daß Väter und Mütter ihre Kinder regelmäßig ernähren, ist weder aus einem Naturinstinkt allein zu erklären, noch aber allein daraus, daß sie das Familienrecht des BGB, die ihm entsprechende Moral kennen und anerkennen44D ." Dieser konstatierte Zusammenhang von Sozialisation, Recht und "außerrechtlichen" Normen steht für Heller in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Problem von Parsons: dem Problem der Ordnung: "Die Geltung, d. h. die Wirksamkeit einer gesellschaftlichen Ordnung ist in der Regel sowohl objektiv wie subjektiv gesichert. Sie wird äußerlich garantiert durch die Interessenlage, nämlich dadurch, daß mit ihrer Nichtbefolgung gewisse Nachteile, z. B. ökonomischer, gesellschaftlich-konventioneller und rechtlich-zwangsmäßiger Art erwartet werden450 ." Heller bezeichnet es als "rationalistisches Vorurteil des Aufklärungsrechts ... , in der bewußten Interessenlage die wesentlichste oder gar die ausschließliche Garantie einer gesellschaftlichen Ordnung zu sehen"451. Dieser Satz enthält nicht mehr und nicht weniger als die mit Parsons übereinstimmende Ablehnung der Hobbesschen Lösung des Ordnungsproblems mittels äußeren Zwangs und schafft Verbindung zum erörterten Problem des "falschen Bewußtseins" hinsichtlich der "wahren Interessen" sozial Handelnder. 448 Dieser Begriff muß hier besonders wörtlich als "Bewußtheit" verstanden werden. 449 Heller, S. 86/87. 450 Heller, S. 87. 451 Heller, S.87.

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Vielmehr: "Viel stärkere Garantien der Geltung als das mehr oder weniger wohlverstandene Interesse stellt die religiöse Sanktionierung der Ordnung, der Glaube an die absolute Geltung höchster, die Ordnung fundierender Werte sowie ferner ihre rein gefühlsmäßige Bejahung dar. Doch erzeugen diese inneren Garantien eine ständige Bereitschaft zur Anerkennung der Legitimität, wogegen die Sicherung ihrer Befolgung durch die Interessenlage stets abhängig bleibt von einem Kalkül, das die Vor- und Nachteile der Befolgung von Fall zu Fall erst berechnet, bevor es sich positiv oder negativ entscheidet452." Heller nimmt damit hinsichtlich des Ordnungsproblems die Parsonssche Weichenstellung vor: von "äußeren Garantien" zu "inneren Garantien". Als solche thematisiert Heller immer wieder "außerrechtliche Normativitäten"453 und deren "Eingewöhnung zur zweiten Natur""4, zur "habituellen Geformtheit"455 und: "Motive458." Für die Parsonssche Theorie beschreiben die Punkte, an denen sie in dieser Arbeit kritisiert wurde, die Punkte, an denen zu verhindern ist, daß dieser übergang von "äußeren Garantien" zu "inneren Garantien" nur den Übergang von äußerem zu manipulierendem inneren Zwang bedeutet. Diese Punkte waren der normative bias der Theorie und dessen Folgen für das Verhältnis von Bewußtsein und Motivation, von Norm und Substrat, von Recht und faktischer Interessenlage. e) Rechtssystem und individuelle Autonomie:

"Institutionalisierter Individualismus"

Das am Schluß des Vergleichs Parsons - Heller angesprochene Ordnungsproblem rückt die Frage nach dem Verhältnis zwischen individuellem Aktor als Individuum und sozialem System noch einmal in das Blickfeld. Diese Frage war hier wie immer, wenn es um Gesellschaft geht, durchgängig anwesend. Dennoch soll sie gerade aus der Perspektive des Rechts noch einmal besonders erörtert werden. Dabei wird sich an dieser Frage erneut die Parallelität im Unterschied soziologischer Theorien und ihnen je entsprechender gesellschaftspolitischer Entwürfe herausstellen. Gerade die Auseinandersetzung mit der Parsonsschen Theorie und ein großer Teil der Kritik an dieser Theorie drehen sich um die gesellschaftstheoretische und praktisch-politische Frage ewiger Wiederkehr nach dem Spannungsverhältnis zwischen "Individuum" und "Gesell45%

Heller, S.87.

455

Heller, S. 250.

453 Heller, S.255. 454 Heller, S. 250. 456 Heller, S. 87.

3. Das Rechtssystem

165

schaft", zwischen "individueller Autonomie" und "Systemzwang" und um die "individualistischen" und "kollektivistischen" Antworten auf diese Frage. In der allgemein-soziologischen Diskussion mit und über Parsons' Theorie wurde die Frage als die nach der Freiheit des Einzelnen gegenüber seinen sozialen Rollen behandelt457; in der rechtssoziologischen Diskussion hat diese Frage sich in der Gegenüberstellung des Parsonsschen "systemfunktionalen" und eines "personfunktionalen" Ansatzes der Rechtssoziologie artikuliert468 • Bezüglich des Rollenbegriffs soll der Systemtheoretiker Parsons einem seiner vehementesten Kritikern, dem Konflikttheoretiker Dahrendorf, konfrontiert werden. Die Verknüpfung der mit den Begriffen von Individualität, Autonomie und personaler Identität angesteuerten Probleme mit der Diskussion des Rollenkonzepts ist keine zufällige. Seit Ralph Linton mit seiner Arbeit "The Study of Man" (1936) den Begriff der "Rolle" in die sozialwissenschaftliche Theorie eingebracht hat, soll dieser Begriff doch gerade dazu dienen, den "Berührungspunkt zwischen Gesellschaft und Individuum"'" den "Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft"480 zu präzisieren461 . Auf die Unterschiede und nuancenreichen Schattierungen der großen Zahl der seit Linton entwickelten Rollendefinitionen braucht hier im einzelnen nicht eingegangen zu werden. Wesentlich ist, daß nunmehr - bei aller verbleibenden Unschärfe - jedenfalls soviel Übereinstimmung besteht, daß der Begriff der Rolle ableitbar ist aus zwei umfassenderen Begriffen: soziale Differenzierung und soziale Normierung46!. Der Zusammen457 Vgl. z. B. Dahrendorf, Homo Sociologicus. 458 Vgl. Schelsky, JRR 1, S. 37 ff. 469 Vgl. bei Kiss II, S. 241. 480 Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 133. 481 Daß die genannte Verknüpfung auch im Hinblick auf den ökonomiegeschichtlichen Prozeß keine zufällige ist, kann hier nicht dargestellt werden; vgl. dazu etwa Claessens, Rolle und Macht, 2. Auflage München 1970, S. 11 ff., 143 ff. und passim; Willms, Gesellschaftsvertrag und Rollentheorie, JRR 1, S. 275 ff. Es muß im Grunde immer die Affinität von Rollenkonzept und Entstehung der industriellen Produktionsweise, von Rollenkonzept und Arbeitsteilung mitgedacht werden. Gerade deshalb erscheinen aber zwei Formen des Kontakts mit dem Rollenkonzept als unangemessen: die eine ist die entproblematisierende Übernahme des Rollenbegriffs als eines geradezu in beglückender Weise zur Darstellung der vorgefundenen (und gerade auch Rechts-)Wirklichkeit geeigneten Instruments (dieser Gefahr erliegt m. E. in hohem Maße die Arbeit von Wüstmann, Rolle und Rollenkonflikt im Recht, Berlin 1972); die andere ist die, die den Rollenbegriff als "nicht minder"verhärtete Antithesis" zur "festen Selbstheit des Ichs" begreift und - da im Widerspruch zum "befreiten Ich" - schon dadurch als theoretisches Konzept desavouiert sieht (so im Ergebnis Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, S.272). Verfällt die erste Position der Illusion, theoretische Konzepte könnten wertfrei und praktisch folgenlos übernommen oder abgelegt werden, so suggeriert die zweite Position, kritische Reflexion könne sich außerhalb des realen Prozesses vollziehen, sie bleibt daher "seitlich vom Prozeß" (so zutreffend Claessens, S. 169, 170).

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V. Das Systemmodell

hang zwischen Rolle und sozialer Differenzierung besteht darin, daß jede Gesellschaft als Gefüge aus Teilen mit unterschiedlichen Funktionen betrachtet werden kann, wobei die Unterschiede der Funktionen die Unterschiede von Rollen konstituieren. Der Zusammenhang von Rollenbegriff und Normbegriff ist noch unmittelbarer. Faßt man den Normbegriff mit dem der Verhaltenserwartung, so werden Rollen geradezu als (bestimmte Kombinationen von) Normen definiert. "Die Rolle bezeichnet somit nicht ein tatsächliches Verhalten, sondern die zusammengefaßten Verhaltenserwartungen, die mit verpflichtendem Charakter an eine bestimmte soziale Funktion geknüpft sind, und umgekehrt die Verhaltenserwartungen, die jemand, der diese Funktion wahrnimmt, an seine soziale Umgebung stellen kann483 ." Differenzierung und Normierung legen auch Parsons und Dahrendorf dem Rollenbegriff gleichermachen zugrunde: "A role then is a sector of the total orientation system of an individual actor which is organized about expectations in relation to a particular interaction context, that is integrated with a particular set of value-standards which govern interaction with one or more alters in the appropriate complementary roles 4S4 ." Oder in anderer Wendung: Eines Aktors Rolle "is that organized sector of an actor's orientation which constitutes and defines his participation in an interactive process. It involves a set of complementary expectations concerning his own actions and these of others with whom he interacts465 ." Dahrendorf formuliert: "Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen 468 ." Die partiellen Gemeinsamkeiten in den Definitionen können nicht die Unterschiede in den Konzeptionen insgesamt verdecken. Diese Unterschiede zwischen Parsons und dem Parsons-Kritiker Dahrendorf lassen sich auf folgenden Nenner bringen: Für Dahrendorf kann sich Freiheit und individuelle Autonomie nur gegen die Ansprüche von sozialen Rollenkomplexen konstituieren. Im krassen Gegensatz hierzu kann sich für Parsons individuelle Autonomie nur innerhalb von normativen Rollenmustern verwirklichen. Für Dahrendorf zerschlagen die normativen Rollenerwartungen den "autonomen ganzen Menschen", den "ungeteilten Einzelnen"487; für Parsons' normativen Rigorismus ist die Untrennbarkeit von sozialer 482 Vgl. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, 2. Auflage, Tübingen 1967, S.8. 463 Rüegg, Soziologie (Funk-Kolleg), Frankfurt 1969, S.92. 464 S5, S. 38 ff. 465 Toward, S. 23. 466 Dahrendorf, Homo 5ociologicus, S.144. 467 Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 184.

3. Das Rechtssystem

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Aktion und normativer Vorgabe schon definitionsgemäß gegeben. Für Dahrendorf ist der in Rollen einführende Sozialisationsprozeß "stets ein Prozeß der Entpersönlichung, in dem die Individualität und Freiheit des Einzelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben wird "468; in Parsons' Theorie ist der Sozialisationsprozeß der durchaus positiv gefaßte Prozeß sozialer Menschwerdung und die in ihm erlernten Rollen sind im sozialen Kontext nicht Hindernisse, sondern Bedingungen individuellen Verhaltens; die Rolle ist Orientierung"8 und: der Aktor - in Parsons' Grenzfall! - hat oder spielt nicht eine Rolle, sondern er ist sie470 • Daß solchen unterschiedlichen Bewertungen des Rollenkonzepts (und d. h.: von sozialen Normen) unterschiedliche Konzeptionen von Gesellschaft zugrunde liegen, überrascht nicht: Ein Grundaxiom der Parsonsschen Theorie ist mit dem Satz umrissen worden "Jede Gesellschaft erhält sich durch den Konsensus aller ihrer Mitglieder über bestimmte gemeinsame Werte"; das entsprechende - gegensätzliche - Axiom bei Dahrendorf mit dem Satz "Jede Gesellschaft erhält sich durch den Zwang, den einige ihrer Mitglieder über andere ausüben"471. Dementsprechend wird Dahrendorfs Rollenkonzept durch den "Zwangscharakter der Rollenhaftigkeit des Handelns"472 gekennzeichnet. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Prozesses ist Parsons ein gewisser sozialer "Optimismus", Dahrendorf hingegen "Pessimismus" zugeschrieben worden. "Aufgrund einer ,optimistischen' Grundannahme von der sozialen Zwangsläufigkeit der Demokratisierungsprozesse in modernen Systemen neigt Parsons dazu, den ,spielerischen Charakter' des Rollenhandelns gerade wegen seiner Annahme des sukzessiven Abbaus von Klassenantagonismen in der modernen Gesellschaft - zu ungunsten seines ,ernsthaften Charakters' (Dahrendorf) hervorzukehren473 ." Speziell zum Rollenkonzept wird - entsprechend dem Grundtenor der hier vorgenommenen Parsons-Interpretation festgestellt, "daß eben der Dahrendorfsche Rollenbegriff in dem Sinne einseitig ist, daß er sogar die Möglichkeit einer internalisierten Rollenidentifikation ausschließt und die Unvereinbarkeit des Sozialen mit dem Individuellen postuliert"474. Für Dahrendorf sind soziale Rollen "Zumutungen der Gesellschaft"475 und als solche Manifestationen des "Ärgernisses der Gesell468 Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 164. 488 SS, S. 38 f. 470 Parsons I Bales, Family, Socialization and Interaction Process, S. 107. 471 Kiss II, S. 216. 472 Kiss II, S.177. 473 Kiss II, S. 240. 474 Kiss II, ebenda. 475 Dahrendorf, Soziologie und menschliche Natur, in: ders., Pfade aus Utopia, München 1968, S.207.

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V. Das Systemmodell

schaft"476. Die einzig angemessene Reaktion des "ungeteilten Einzelnen" auf diese Situation ist die "eines permanenten Protestes gegen die Zumutungen der Gesellschaft"477. Es bleibt lIder Einzelne in seiner moralischen Qualität als lebendiger Protest gegen das Ärgernis der Gesellschaft", lIder politische Widerspruch gegen den Totalitätsanspruch der Gesellschaft"478. Von diesen - von Dahrendorf selbst so bezeichneten - Illiberalen Konzeptionen"471 hebt sich Parsons' Position klar ab. Rollenanforderungen sind in Parsons' Theorie immer schon Spezifizierungen gesellschaftlicher Grundwerte. Auch das problematische Verhältnis zwischen sozialen Rollenerwartungen und Individuum kann daher von vornherein nicht isoliert unter individualistischer Perspektive gesehen werden. Individualität und Autonomie haben immer schon und unausweichlich einen gesamtgesellschaftlichen Aufriß, der aus der grundsätzlichen Unausweichlichkeit normativer Prägung jedes menschlichen HandeIns und Erlebens resultiert. Da aber Norm und Normativität schon qua Definition Generalisierung sind, d. h. Abheben von den Besonderheiten je einzelner Akteure, Situationen, Merkmale, muß jeder Versuch zum Scheitern verurteilt sein, individuelle Autonomie durch normattackierenden Dauerprotest außerhalb von Normen zu konstituieren. "Individualismus" kann daher niemals als Beliebigkeit von Verhalten begründet werden, sondern nur in Form eines - so der seine Position treffend bezeichnende Begriff Parsons' - "institutionalisierten Individualismus"4Ho, den er akzentuiert "von der ,utilitaristischen' Version des Individualismus unterschieden" wissen Will481 . Auf den Grundlagen Parsonsscher Theorie kann solcher "institutionalisierter Individualismus" individuelle Autonomie nicht als normunabhängige begreifen. Individualität kann vielmehr nur durch Normen begründet werden. Individuelle Freiheit kann daher dauerhaft nicht gegen soziale Normforderungen gerichtet werden und Rollendistanz "nicht als Freiheit von der Rolle, sondern als Forderung seitens der Rolle"482 erscheinen. Hier nun schlägt Parsons' Vorstellung von Gesellschaft durch: Institutionalisierter Individualismus schlägt die Brücke zu dem, was für Parsons im Begriff der Institutionalisierung (wie auch in dem der Integration) eingeschlossen ist: die Koinzidenz von individuellen und 476 Dahrendorf, Soziologie und menschliche Natur, S.210; ders., Homo Sociologicus, S. 165. 477 Dahrendorf, Soziologie und menschliche Natur, S.207. 478 Dahrendorf, Soziologie und menschliche Natur, S.210. 479 Dahrendorf, ebenda. 480 Vgl. z. B. Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 230 ff. (248); ders., Outline, S. 59. 481 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 249. 482 Brandenburg, S. 177.

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sozialen Erwartungen und die Koinzidenz von Norm und Interesse. In diesem Fall eines zur "Institution" gewordenen Individualismus kann Individualismus daher nicht Isolierung eigener, individueller Interessen heißen; die von einem institutionalisierten Individualismus gewährleistete Freiheit ist "verantwortliche Freiheit"483; er beinhaltet - da als Bestandteil eines gesellschaftlichen Wertmusters institutionalisiert die Verpflichtung, "zur guten Verfassung der Gesellschaft"484, zur "Konzeption einer guten Gesellschaft"485 beizutragen. Die unlösbare Verknüpfung von Individualismus und Institutionalisierung (d. h. aber: völlige Einbringung des allgemeinen Wertsystems in die sozialen Normen) und von Autonomie und Integration (d. h. aber: Koinzidenz individueller und kollektiver Interessen) wird deutlich: "Das Interaktionssystem (kann), wenn die Autonomie jeder Handlungseinheit gegenüber ihrer Umwelt mit den Autonomien der anderen, mit ihr interagierenden Einheiten in t e g r i e r t ist, als Ganzes in hohem Grad an Autonomie oder Handlungsfreiheit gewinnen486 ." Hier scheint durch Parsons' "Grenzfall" besonders deutlich die Utopie einer guten Ordnung durch, die als " Grenzfall " so viel Berechtigung und als angebliche JetztWirklichkeit so viel gefährliche Ideologie enthält. Vor diesem Hintergrund wird für das Recht eindeutig klargestellt: Da die erwähnte Unausweichlichkeit von Normativität im Grunde synonym für die Unausweichlichkeit von Sozialität menschlichen Verhaltens steht, kann Freiheit im sozialen Bereich, d. h.: Freiheit als System nicht durch FreisteUung von Normen, durch normative Beliebigkeit installiert werden. Vielmehr im Gegenteil: Freiheit muß normiert werden. Und - noch wichtiger - : Freiheit muß als System normiert werden. Die Parsonssche Theorie muß daher allen Auffassungen eine Absage erteilen, die Freiheit durch bloße Ausgrenzung von Sphären normativer Beliebigkeit. durch die Bildung eines "status negativus" und durch die Gewährung "subjektiver" Rechte gewährleistet sieht. Im Licht der Theorie stellen diese Auffassungen den Verzicht auf systemische Freiheitsnormierung zugunsten von Partialnormierung dar und damit - auf der "konditionalen" Seite - den Verzicht auf die Artikulation von Allgemeininteressen zugunsten mächtiger Partialinteressen. Diese These kann hier nicht im Wege breiter Auseinandersetzung mit Entstehung, Entwicklung und Funktion des Begriffs des subjektiven Re.chts belegt werden. Sie bezieht sich in dieser uneingeschränkten Form auch nur auf den Entstehungszusammenhang des subjektiven Rechts und auf 483 484 485 486

Parsons, Parsons, Parsons, Parsons,

Outline, S. 59. Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 249. Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 246. Interaction, S. 436 ff.

170

v. Das Systemmodell

seine Ausprägung durch die "klassische deutsche Staatsrechtslehre"487. Es soll nur darauf verwiesen werden, daß die Ausformung des subjektiven Rechts im Liberalismus untrennbar mit einem rechtsformalen individualistischen Herrschaftsdenken verbunden ist. Im Zentrum steht als der eigentliche Typus des subjektiven Rechts das Privateigentum. Nach Kelsen ist das subjektive Recht "die spezifische Technik der kapitalistischen Rechtsordnung, sofern diese die Institution des Privateigentums garantiert"488. So stand nach dem liberalen Modell hinter dem subjektiven Recht "als politische Wirkung die Erhaltung und Sicherung bestehender Verhältnisse"489, "ein Rechtsstaat für bestenfalls 20 oder 30 Ufo der Bevölkerung"480. Und: "Die für alle gleiche Eigentumsfreiheit gestaltet sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit für den Eigentümer an Produktionsmitteln aus einer bloßen Herrschaft über Sachen zu einer Herrschaft über Menschen491 ." Im zeitlichen Ablauf sind - parallel zur politischen Entwicklung - Versuche zu einer Umformung des subjektiven Rechts erfolgt, die jedenfalls im Grobziel mit einer im Parsonsschen Sinn systemischen Freiheitsnormierung zusammenlaufen. Dabei wird man die Parsonssche Theorie weniger in der Nähe des rechtssoziologischen Theoretikers sehen dürfen, der - "als radikalster Gegner des subjektiven Rechts"4" - das subjektive Recht grundsätzlich zu eliminieren versucht. Größere Ähnlichkeit weist Parsons' "institutionalisierter Individualismus" und die darin enthaltene Verpflichtung des Individuums, "zur guten Verfassung der Gesellschaft beizutragen" vielmehr bemerkenswerterweise mit rechtsphilosophischen Positionen auf, die eine "Durchdringung der privaten Berechtigung mit sozialem Pflichtgehalt"493 postulieren. Diese Auffassung gipfelt bei Radbruch in dem Satz: "Das subjektive Recht ist letzten Endes nichts anderes als das Recht, seine Pflicht zu 487 Der Gebrauch dieser Bezeichnung erfolgt in der Literatur gerade auch zur Abgrenzung neuerer Auffassungen zur Rechtsnatur der Freiheitsrechte, vgl. z. B. Maunz / Dürig / Herzog, Grundgesetz, Art. 5 Randnr. 3. 488 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage Wien 1960. 489 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 194. 490 Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 71. 491 Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Auflage Stuttgart 1963, S.162; vgl. in diesem Zusammenhang auch M. Rehbinder, Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, in: Hirsch / Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln-Opladen 1967, S. 197 ff. (205 ff.); ders., Einführung zu ders. (Hrsg.), Recht im sozialen Rechtsstaat, Opladen 1973, S.13 (16 ff.); ders., Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, in: Soziologie, Festschrift für Rene König, Opladen 1973, S. 354 (363). 492 So über Duguit Grimm, Solidarität als Rechtsprinzip, Frankfurt 1973, S.35; vgl. auch Wiethölter, Rechtswissenschaft, S.195, zum Ergebnis der Auseinandersetzungen um das subjektive Recht: "für ein subjektives Recht ist kein Platz mehr, aber wir haben uns so daran gewöhnt." 493 Radbruch, Rechtsphilosophie, S.228; vgl. hierzu auch M. Rehbinder, Wandlungen der Rechtsstruktur im Sozialstaat, S.211.

3. Das Rechtssystem

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tun 494." Zu diesem Zweck werden subjektive Rechte vom Gesetzgeber "verliehen".495 Entsprechend heißt es bei Parsons hinsichtlich der Verpflichtung des Individuums, zur guten Verfassung des Gesellschaft beizutragen: "Die Ver wir k I ich u n g dieser Verpflichtung ist sehr weitgehend seinem eigenen Gutdünken überlassen, nicht aber die normativen Kriterien, die sie definieren: sie sind institutionalisiert4N." Was hier ins Auge springt, ist zunächst die Analogie zu dem, was zum Verhältnis von Verfassung und Wertsystem festgestellt wurde: Daß bei aller Warnung vor der Fiktion von Integration in vorfindbaren Gesellschaften die Parsonssche Theorie von einem Gesellschaftsmodell ("Grenzfall") her argumentiert, in dem Werte als Zielbestimmungen sozialer Systeme grundsätzlich als System institutionalisiert sein müssen; daß daher auch "Freiheit" und Freiheits-Rechte nie als bloß subjektive gewährleistet sein können. Hier springt - vermittelt - als zweites ins Auge, welche spezifische, emphatische und "hintergründige" Bedeutung der Begriff des "Rechts s y s t e m sec im Licht der Parsonsschen Theorie enthält. An dieser Stelle müssen weitere für die Grundlegung einer Soziologie des Rechts wesentliche Abgrenzungen vorgenommen werden. Sie knüpfen an die zur Gegenüberstellung Parsons - Dahrendorf angestellten Erörterungen an. Als zentrales Unterscheidungskriterium wurde dort das Postulat nur innerhalb normativer Rollenmuster verwirklichbarer Individualität (parsons) dem Postulat nur gegen soziale Rollenzwänge verwirklichbarer Individualität (Dahrendorf) entgegengesetzt. Dieses Unterscheidungskriterium läßt sich von der allgemeinsoziologischen auf die rechtssoziologische Ebene hinübernehmen: Die Parsonssche Theorie widersetzt sich rechtssoziologischen Grundkonzeptionen, die auf" ,Integrität und Autonomie der Person' ge gen übe r der ,organisierten' Gesellschaft und ihren universalistischen Systemansprüchen "497 aufbauen. Diese von Parsons abgesetzte rechtssoziologische Theorie beklagt: "In der systemfunktionalen Analyse tritt das Recht dem Individuum entgegen, ist nicht ,sein' Recht, sondern das des Systems498 ." Dabei stellen die beiden angeführten Zitate die eigentümliche und entscheidende Symptomatik liberalistischer Rechtssoziologie dar: Die "Person" steht dem "System" "gegenüber", dieses 494 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 11. Auflage Stuttgart 1964, S.96; ebenso ders., Rechtsphilosophie, S. 140; vgl. auch L. Raiser, Zum Stand der Lehre vom subjektiven Recht im Deutschen Zivilrecht, JZ 1961, S. 465 ff. (471 ff.). 495 Radbruch, Einführung, S. 95. 496 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 249 (Hervorhebung im Original). 497 Schelsky, JRR 1, S. 83 (Hervorhebung von mir, R. D.). 498 Schelsky, JRR 1, S.56.

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V. Das Systemmodell

System ist vom Individuum aus gesehen also nicht " sein " System. Demgegenüber ist das Recht vom Individuum her gesehen "sein" Recht. Mit anderen Worten: Dem Individuum "gehört" zwar " sein " Recht, ihm "gehört" aber nicht das System. Recht erscheint damit von vornherein als notwendige Waffe gegenüber dem (gesellschaftlichen) System; System (Gesellschaft) erscheint damit notwendigerweise und per definitionem als Zustand, der nur in Bewaffnung mit Recht erträglich ist. An dieser Stelle können gar nicht so viele mögliche Mißverständnisse angedeutet werden, wie zu vermeiden sind. Um dem gefährlichsten vorzubeugen: Hier soll weder individuelles Mißtrauen gegenüber bestehenden Systemen abgebaut noch das Ausgeliefertsein des Individuums an bestehende Systeme verharmlost werden. Worauf hier Wert gelegt wird, ist der Hinweis darauf, daß die Grundlagen der Parsonsschen Theorie sich von denen liberalistischer (Rechts-)Theorie durch das Offenlassen von Möglichkeiten sowohl der Gesellschaft als auch (und gerade deshalb) des Rechts unterscheiden; daß sich Konservatismus in Parsons' Ordnungsmodell weit weniger manifestiert als in liberalistischen Modellen. Deren Konservatismus beruht in der Tat darin, daß sie Möglichkeiten ausschließen, wenn sie das Bestehen yon Konflikten mit der Aura des Unabwendbaren umhüllen. Dahrendorfs Konzept des "Dauerprotests" ist nicht deshalb bedenklich, weil die Verhältnisse keinen Anlaß zu "Protest" gäben, sondern deshalb, weil dieses Konzept Protest in einer Weise auf Dauer stellt, die sowohl die letztendliche Effektlosigkeit von Protest wie auch die protestresistente Unerschütterlichkeit des Systems, des "Ärgernisses der Gesellschaft" voraussetzt. Das gleiche gilt für das von Schelsky ins Gedächtnis gerufene Jhering-Konzept vom "Kampf ums Recht"'". Auch dieses ist nicht bedenklich, weil um Recht in unserem Erfahrungsbereich nicht gekämpft werden müßte; es ist bedenklich, weil es eine Phase, in der Recht bereits erkämpft ist, vorschnell ausblendet. Nicht das Recht, sondern der Kampf wird perpetuiert. Kampflosigkeit kommt - auch als "utopische" Zielorientierung - gar nicht erst in den Blick. Das gleiche Muster des Ausschlusses von gesellschaftlicher und rechtlicher Möglichkeit liegt einer sozialwissenschaftlichen Grundlegung der Rechtswissenschaft zugrunde, für· die - überdies noch als "nach den übereinstimmenden Aussagen der klassischen Rechtsphilosophie wie der modernen Rechtssoziologie" - "die prinzipielle Ambivalenz des Verhaltens und der Verhältnisse zwischen Menschen ... die Grundtatsache menschlichen m Vgl. Schelsky, JRR 1, S.86 H.; ders., Das Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht - Ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag, JRR 3, S. 47 ff.

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Daseins (ist), der auch das Recht sein ,Dasein' verdankt"soo. Die Prinzipialität, mit der hier die Konfiiktlosigkeit von Verhalten und Verhältnissen schon als Möglichkeit vom theoretischen Instrumentarium ausgeschlossen wird, ist die Grundlage, von der aus der "konservative Charakter" soziologischer Konfiikttheorien gerade im Vergleich zu Parsons' Ordnungstheorie betont worden ist601 . Dabei ist für die Diskussion um eine theoretische Grundlegung der Rechtssoziologie bedeutsam, daß auch hier wieder die in dieser Arbeit mehrfach erörterte Korrespondenz von Erkenntnis- und Ordnungsproblem zum Vorschein kommt. Dem Jheringschen Modell liegt eine das Erkenntnisproblem entproblematisierende Anthropologie zugrunde. Jhering: "Ich habe für meine Ansicht kein weiteres Postulat notwendig als den menschlichen Verstand und die menschliche Erfahrung, die Gabe des Menschen, daß er durch Erfahrung gewitzigt wird502." Auch in diesem Postulat schwingt das Postulat der Unmittelbarkeit von Erfahrung wie auch das einer problemlosen "verstandesmäßigen" subjektiven Wahrnehmung eigener Interessen mit. Die an das Jhering-Modell anknüpfende Rechtssoziologie macht konsequent "Protest oder Opposition gegen die Ausbeutung durch die Systemfunktionalität" an "Selbstbestimmung oder Freiheit der Person und schließlich ihrer Durchsetzung durch Recht" fest und attackiert "Antiindividualismus" als "Rechtsleugnung der Person"60:t. Das Bedenkliche solcher Postulate - in der Diskussion um Theorieansätze - liegt auch hier darin: Schelskys "ursprüngliches Aufbegehren der Subjektivität der Individuen"504 wie auch Dahrendorfs "moralischer Protest" stellen Verweisungen der Individualität auf sich selbst dar, die moralische Ansprüche an das Individuum, nicht aber an die Zustände des Systems stellen. Dieser Theorieansatz artikuliert immer nur Rechte gegenüber dem System, nicht im System. Es stellt dies die soziologische Fortschreibung eines liberalistischen Verständnisses vom Recht dar, für das sich die Notwendigkeit "subjektiver" (gegen das "System" gerichteter) Rechte im Grunde aus dem miserablen Zustand des "objektiven" Rechts ergab. So sind - um einem weiteren Mißverständnis vorzubeugen - diese Ausführungen auch nicht gegen heutige Zuteilung und Inanspruchnahme "subjektiver" Rechte gerichtet, sondern gegen die theoretische Festschreibung objektiver Verhältnisse, die solche subjektiven Rechte nötig erscheinen lassen. 500 Maihofer, Zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie, in: Jahr I Maihofer, S.241. 501 Messelken, S. 168. 502 Jhering, zit. nach Schelsky, JRR 3, S.58. 50S Alle Zitate bei Schelsky, JRR 1, S.87. 504 Schelsky, ebenda.

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V. Das Systemmodell

"Subjektive Rechte" können nach den Konstitutionsprinzipien der Parsonsschen Theorie nur schwerlich als "Nichtzugehörigkeit des Berechtigten zu einer Gruppe", als "out-group-Stellung"5% des Berechtigten begriffen werden. Jürgen Schmidt sieht diese out-group-Stellung des subjektiv Berechtigten darin begründet, daß das subjektive Recht einen "von Verhaltenserwartungen freien Bereich des Berechtigten"608 begründe. Der Berechtigte (B) "hat insofern im sozialen System keinen Status inne, an dem er sich orientieren könnte; es gibt für B kein rollengemäßes oder rollenabweichendes Verhalten: B handelt in jedem Falle unsanktioniert"607. "Im subjektiven Recht wird praktisch eine out-group-Stellung umschrieben und von der Bezugsgruppe her definiert. Der Berechtigte handelt relativ zu dieser Gruppe und ihren Gruppenmitgliedern a-sozial (wenn auch nicht antisozial). Die Stellung des Berechtigten ist in dem sozialen System selbst inhaltlich nicht mehr zu begreüen508." Dies ist in der Tat das soziologisch umschriebene liberale Verständnis des subjektiven als "negativem" "Ausgrenzungs"-Recht. Anhaltspunkte für dieses Verständnis in Parsons' Theorie zu suchen5ot, ist für das in dieser Arbeit artikulierte Theorie- und Parsons-Verständnis ein zweifelhaftes Unterfangen. Das läßt sich bereits anhand des in diesem Zusammenhang von Schmidt herangezogenen Aufsatzes aus der frühen, handlungstheoretischen Theoriephase belegen. Auch dort ergibt sich kein Anhalt für die These: "Parsons geht von der Freiheit des Individuums von Beeinflussung aug51o." Daß Parsons' Theorie auf der Annahme des radikalen Gegenteils dieser These aufbaut, hat diese Arbeit hinlänglich gezeigt. Das ergeben aber bereits die von Schmidt zugrundegelegten Zitate aus dem Parsons-Aufsatz über "die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns"511. Dort wird - angesichts der Tatsache, daß soziale Rollensysteme Einflußnahme von Individuen auf Individuen beinhalten - als ein Erfordernis sozialer Integration angeführt, "daß eine Differenzierung erfolgt zwischen solchen Formen der Beeinflussung, die als erlaubt oder wünschenswert gelten, und anderen, die nicht unterstützt oder gar verboten werden sollen .,. Sind derartige Formen der Beeinflussung institutionell legitimiert, so kann man sie als ,Autorität' bezeichnen. Andererseits ist es auch oft 505 J. Sclunidt, S.312. 606 J. Schmidt, S.314. 607 J. Schmidt, S. 311. 508 J. Sclunidt, S.313. 509 J. Schmidt, S. 303 ff.; allerdings betont Schmidt distanzierend den "einseitigen" Charakter der Parsonsschen Position, so wie er, Schmidt, S.305, diese versteht. 610 J. Schmidt, S.305. 511 In: Soziologische Theorie, S. 136 ff.

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sozial erforderlich oder wünschenswert, einige oder alle Individuen vor bestimmten Formen der Beeinflussung zu schützen, die jemand sonst auszuüben in der Lage wäre. Ein solcher institutionalisierter Schutz vor unerwünschter oder unnötiger Beeinflussung kann als ,Recht' bezeichnet werden"lil!. Für Parsons partizipieren Individuen an differenzierten sozialen Systemen immer als Rollenträger. Denn "Rolle" ist die "normatively regulated participation of a person in a concrete process of social interaction"513. Rollenerwartungen aber "definieren Rechte und Verpflichtungen"514. Und "Performing a role within a collectivity defines the category of m e m b e r s hip, Le., the assumption of obligations of performance in that concrete interaction system. Obligations correlatively imply rightsli15." "Rechte" werden somit nicht durch " out-group-Stellung" , sondern durch deren genaues Gegenteil konstituiert: durch Mitgliedschaft. Rechte erscheinen hier genausowenig als "subjektive" wie das Individuum als Brennpunkt einer "Freiheit von Beeinflussung". Das genaue Gegenteil ist der Fall: Da "Einflußnahme" auf Individuen von vornherein Einflußnahme im sozialen Kontext ist, lautet das Thema nicht rechtliche "Freiheit des Individuums von Beeinflussung", sondern rechtlicher "Schutz vor Beeinflussung". Und dieser Schutz ist nicht individualistische Absicherung, sondern "institutionalisierter", also sozialer Schutz. Weiter: Die Frage, welche Formen der Beeinflussung "erlaubt oder wünschenswert", "unerwünscht oder unnötig" erscheinen, wird nicht in subjektiver Beliebigkeit entschieden, sondern durch die im sozialen System "institutionell legitimierten" Zielvorstellungen. Wenn man weiter berücksichtigt, welchen Stellenwert die Begriffe "Integration", "Institutionalisierung" und "Legitimation" in Parsons' Theorie haben, so wird auch hier der unmittelbare Zusammenhang mit der Betonung des Ordnungsproblems, der Vision einer "guten Ordnung" deutlich: Im Parsonsschen Konzept der "Institutionalisierung" von Individualismus ist - wie erörtert - die Verpflichtung enthalten, "zur guten Verfassung der Gesellschaft", zur "Konzeption einer guten Gesellschaft"516 beizutragen; im Parsonsschen Integrationsbegriff ist das Postulat einer Koinzidenz von individuellen und Systeminteressen angelegt. Daraus ergibt sich für den Politikbegriff und den Rechtsbegriff der Parsonsschen Theorie durchaus Affinität zu einem von "der übereinstimmung der persönlichen und gesellschaftlichen Interessen"517 512 Parsons, Soziologische Theorie, S. 142. 518 Parsons, Outline, S. 42. 514 Parsons, ebenda (Hervorhebung von mir, R. D.). 515 Parsons, ebenda (Hervorhebung im Original). 518 Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, S. 246, 249. 517 Bratus, Die Subjekte des Zivilrechts, zitiert nach J. Schmidt, S. 313.

v. Das Systemmodell

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ausgehenden Rechtsbegriff. Die Problematik sowohl Parsonsscher als auch solcher in der Praxis sozialistischer Staaten stehenden sozialistischer Theorie liegt in der Gefahr, Interessenidentitäten nicht als anzustrebende, sondern als bereits vorgefundene vorzustellen. Aber nicht nur trotz, sondern gerade wegen vorgefundener Interessenkonflikte muß sowohl theoretische Diskussion als auch politische Praxis und rechtliche Entscheidung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem, ob die Möglichkeit von Interessenidentität offengelassen oder angestrebt oder aber Interessenkonflikt als Unabänderbares begriffen wird. Die zweite Position verzichtet im Kern theoretisch und praktisch auf die Alternative. "Der Utopismus der Systemtheorie hat für das Verständnis des Politischen ... eine verklärende Funktion. Indem er es an einem abstrakten Gemeinwohl mißt, setzt er dessen Möglichkeit voraus. Demgegenüber hat der Realismus der Konflikttheorie für das Verständnis des Politischen eine desillusionierende Funktion. Indem er in allen politischen Bekundungen von vornherein partikulare Selbstbehauptung vermutet, setzt er die Unmöglichkeit von Gemeinwohl voraus. Es könnte scheinen, als sei damit von einem theoretischen Interesse an der Politik her der Konflikttheorie der Vorzug gegeben. Solcher Schein kann nur auf der Ebene des Nominalismus eben jener Konflikttheorie entstehen, auf der die Erkenntnis verschlossen bleibt, daß soziale Werte, mögen sie auch ursprünglich in ideologischer Absicht aufgestellt worden sein, Eigengewicht erlangen und gegen Widerstreben auch den in seinem Verhalten verpflichten können, der sich ihrer nur zu seinem Vorteil zu bedienen gedachte518 ." Die in diesem letzten Satz enthaltene These über den möglichen, von den anfänglichen Interessenten nicht mitinitiierten Eigeneffekt sozialer Werte ist auch als Befund des Rechts und der Rechtsentwicklung konstatiert worden. So enthielten die in der bürgerlichen Revolution erkämpften "bürgerlichen" Freiheiten eine Sprengkraft, die unausweichlich auf die Inanspruchnahme dieser Freiheiten auch außerhalb des Bürgertums drängte - und gegen das Bürgertum: "Das Verlangen nach bürgerlicher Freiheit und seine Erfüllung entsprangen dem Interesse und der Macht der aufsteigenden Bourgeoisie. Aber die Freiheit, welche sie meinte, war nicht nur Freiheit für sich selber, sondern Freiheit für alle - und zwar eben deshalb, weil sie diese Freiheit als ihr Recht verlangte. Recht erhebt seinem Wesen nach den Anspruch auf Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetze. Eine Forderung in der Form Rechtens stellen, heißt also, dem anderen zugestehen, was man für sich beansprucht. Weil die Bourgeoisie i n der F 0 r m R e c h t e n s Freiheit forderte, deshalb wurde diese Freiheit Freiheit für alle, deshalb konnte sie sich auch als Koalitionsfreiheit für das kämpfende Proletariat aus618

Messelken, S. 161.

3. Das Rechtssystem

177

wirken und so zum Kampfmittel gegen dieselbe Bourgeoisie werden, deren Interessen sie ursprünglich entsprungen war518." Die durch solche - partielle - "Eigengesetzlichkeit des Rechts" begründete Wechselwirkung zwischen rechtlichem "Überbau" und "Ökonomie"5zo bezeichnet in der Parsonsschen Theorie das Grundtheorem einer Gleichrangigkeit von Norm und Interesse, von Normativität und Konditionalität. Für eine am herkömmlichen Begrüf des subjektiven Rechts orientierte Theorie von Recht und Gesellschaft führt der Gemeinwohlpolitikbegriff zu widersprüchlichen Konsequenzen. Dies hängt mit der erörterten "Durchdringung der privaten Berechtigung mit sozialem Pflichtgehalt" zusammen. Für denjenigen, der das subjektive Recht als einen "von Verhaltenserwartungen freien Bereich des Berechtigten (out-group)"&!1 faßt, "wäre dies eine merkwürdige Gesellschaft, in der bestimmte Verhaltenserwartungen einzelnen gegenüber bestehen würden und gleichzeitig nicht bestehen würden; es wäre ein merkwürdiges Recht, in dem, was geboten ist, gleichzeitig verboten wäre und umgekehrt. Daß sie sich nicht selbst widerspricht, ist das mindeste, was man von einer Regel erwarten kann, die den Anspruch erhebt, dem Handelnden eine 0 r i e n t i e run g für sein Handeln zu gebenllzz." Dieses Bild stellt keine angemessene Beschreibung eines soziale Pflichten mitenthaltenden subjektiven Rechts dar. Die in dem Bild kritisierte Widersprüchlichkeit angeblich gleichzeitigen Ge- und Verbotenseins taucht nur auf, wenn man vom vorgängigen Bestand eines unbeschränkten, "beeinflussungsfreien" subjektiven Rechts ausgeht, dem erst nachträglich soziale Verpflichtungen entgegengesetzt werden. Ein solcher Widerspruch taucht jedoch nicht auf, wenn das subjektive Recht als von vornherein sozial verfaßt angesehen wird. Nur eine solche Sicht trifft aber sowohl die Lehre vom sozialen Pflichtgehalt subjektiver Rechte als auch Parsons' Theorie einer "Institutionalisierung" subjektiver Berechtigungen. Dann besteht keine, in der Tat widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Gebot und Verbot, sondern nur eine Gleichzeitigkeit von Recht und Pflicht - was ein Unterschied ist. Ein so gefaßtes subjektives Recht gibt nicht mehrere gegenläufige Handlungsanweisungen, sondern nur eine einzige. Das befürchtete Orientierungsdilemma besteht somit für den Handelnden nicht. Dem 'von der referierten Ansicht diagnostizierten "Widerspruch" sind mindestens zwei andere, eigene Widersprüche entgegenzuhalten: Der eine betrifft den Widerspruch liberaler Verfassungsordnungen Radbruch, Recbtsphilosophie, S. 112 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch hierzu Radbrucb, ebenda. m J. Scbmidt, S.314. m J. Schmidt, ebenda (Hervorhebung im Original).

518

620

12 Damm

178

V. Das Systemmodell

überhaupt, nämlich den zwischen normativer "Gewährleistung" subjektiver Rechte, Freiheiten einerseits und der über weite Strecken offenkundigen faktischen Unmöglichkeit, diese Rechte subjektiv zu nutzen, ja auch nur ihre Relevanz und Relevanzlosigkeit zu begreifen, andererseits. Dies aber ist - und hier fällt die Kritik der referierten Argumentation auf diese zurück - gerade, wenn auch in anderem Sinne, das Bild des "merkwürdigen Rechts" einer "merkwürdigen Gesellschaft", "in dem, was geboten ist, gleichzeitig verboten" ist oder genauer: ein Zustand, in dem das Recht gewährt, was die Faktizität der Gesellschaft nicht oder nur höchst unvollkommen zuläßt. Zum anderen übersieht die referierte Argumentation, daß Verfassungstheorie und insbesondere Grundrechtsdogmatik der letzten Jahrzehnte ihre Probleme vornehmlich von dem soeben angeschnittenen Widerspruch bezogen haben - und von Versuchen, Korrekturen an diesem Widerspruch vorzunehmen. Dazu gehört etwa - beispielhaft und auf viele andere rechtliche Problembereiche übertragbar - die Erfahrung, daß Pressefreiheit sich vom "subjektiven" Recht zum Recht weniger Subjekte wandeln kann und damit die Gefahr der Selbstliquidierung in sich trägt; daß Eigentum, verstanden als Garant uneingeschränkter subjektiver Selbstverwirklichung, auch die Verwirklichung sozialer und das heißt millionenfacher Eigentumsunterworfenheit mit sich bringt. Die Bollwerke, die Verfassungstheorie und z. T. der Verfassungstext gegen solche Erfahrungen zu errichten versuchen: "institutionelles" Verständnis von Pressefreiheit und "Sozialbindung" von Eigentum, dies - und darauf kommt es hier an - sind bereits Antworten auf den liberalen Widerspruch und sind ihrerseits aus der Perspektive des liberalen Verfassungsprinzips Widersprüche zu diesem Prinzip. Es können hier nicht verfassungsrechtliche Probleme etwa von "institutionellem" Grundrechtsverständnis, von "Institutionalisierung der Freiheit"52:t vor dem Hintergrund von Parsons' "institutionalisiertem Individualismus" bis ins Detail verfolgt werden. In apodiktischer Andeutung soll hier das Positive solchen "institutionellen" Grundrechtsverständnissess24 darin gesehen werden, daß die Grundrechte "damit in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gestellt"1125 werden; 523 So im Titel (mit Fragezeichen) Steiger, Institutionalisierung der Freiheit? Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Grundrechte, in: Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, S. 91 fi. 524 Das, wie hier nicht näher nachgewiesen werden kann, nichts aber auch gar nichts mit der liberalistischen (und zugleich schon präfaschistischen) Konzeption "institutioneller Garantien" zu tun hat, vgl. earl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 140 fi. 525 Steiger, S. 93.

3. Das Rechtssystem

179

das Problematische insbesondere der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht in diesem Zusammenhang darauf, daß es - "entgegen dem historischen und sachlichen Befund"ue, der das Grundgesetz gerade als Kompromiß der unterschiedlichsten historischen Wertpräferenzen und nicht als kohärentes und konsistentes System von Werten ausweist - ein grundrechtliches Wertsystem nicht als "Grenzfall", sondern als im Grundgesetz bereits vorhanden betrachtet627• Hier sollte als zentrale, den Grundlagen der Parsonsschen Theorie entsprechende These herausgestellt werden, daß Rettung bzw. Wiederentdeckung des Subjekts nicht in liberalistischer Manier gegenüber (und das heißt: außerhalb von!) dem gesellschaftlichen System, sondern nur in diesem erfolgen können. Auch und gerade für eine die realen, will heißen gesellschaftlichen Möglichkeiten des Subjekts reflektierende Diskussion von Recht gilt: "Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnetU8 ." "Im Kern des Subjekts wohnen die objektiven Bedingungen, die es um der Unbedingtheit seiner Herrschaft willen verleugnen muß und die deren eigene sind. Ihrer müßte das Subjekt sich entäußern. Voraussetzung seiner Identität ist das Ende des IdentitätszwangegU9."

628 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967, S.120. 627 Vgl. z. B. BVerfGE 7, 198 (205). 5%8 Adorno, Negative Dialektik, S.272. 629 Adorno, Negative Dialektik, S.275.

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