Sympathy for the Devil 1597801895, 9781597801898

The Devil is known by many names: Serpent, Tempter, Beast, Adversary, Wanderer, Dragon, Rebel. His traps and machination

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English Pages 500 [256] Year 2010

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Title Page
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INHALT
A Long, Long Year
Please Allow Me To Introduce Myself
A Man Of Wealth And Taste Jaggers Lucifer trifft Goethes Mephisto
A Man Of Wealth And Taste
Stolen Many A Man's Soul And Faith Kraft durch Frevel – Eine Strategie der Rationalisierung
Pleased To Meet You . . .
Hope You Guess My Name
What's Puzzling You
Nature Of My Game Diabolisch leben
When The Blitzkrieg Raged
Hope You Guess My Name Der diabolische Name
When After All It Was You And Me
So I Lay Traps For Troubadours Before They Reach Bombay One plus one: Sympathies for Godard plus Stones
Every Cop Is A Criminal
Just Call Me Lucifer Diabolus in musica und die Geschichte der Faust-Opern
Use All Your Well-Learned Politesse Or I'll Lay Your Soul To Waste
Tell You One Time, You're To Blame
Tell Me, Sweetie, What's My Name? A gnostic fantasy
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Sympathy for the Devil
 1597801895, 9781597801898

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Albert Kiimmel-Schnur (Hrsg.) Sympathy for the devil

Albert Kiimmel-Schnur (Hrsg.)

Sympathy for the devil

Wilhelm Fink

Umschlagabbildung: Mick Jagger. Photo: Christopher Sykes, aus: Dora Loewenstein/Philipp Dodd, Acccording to the Rolling Stones, London: Orion, 2003, S. 187. Leider lieB sich die Adresse des Photographen auch mit Hilfe des englischen Verlags nicht ermitteln.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet tiber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Aile Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervieifliltigung und Ubertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch aile Verfahren wie Speicherung und Ubertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bander, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdriicklich gestatten.

© 2009 Wilhelm Fink Verlag, Miinchen Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jiihenplatz I, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, Miinchen Herstellung: Ferdinand Schoningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4798-2

Fiir Raimar

INHALT

ALBERT KDMMEL-SCHNUR

A Long, Long Year.....................................................................

11

RAINER MARTEN

Please Allow Me To Introduce Myself......................................

21

JOCHEN H6RISCH

A Man Of Wealth And Taste Jaggers Lucifer triffi Goethes Mephisto ....................................

29

BERNHARD SIEGERT

A Man Of Wealth And Taste......................................................

33

BAZON BROCK

Stolen Many A Man's Soul And Faith Kraft durch Frevel- Eine Strategie der Rationalisierung..........

49

HANS ULRICH REcK

Pleased To Meet You... .............................................................

61

THOMAS MACHO

Hope You Guess My Name........................................................

81

NoRBERT BoLz

What's Puzzling You..................................................................

93

MANFRED FABLER

Nature Of My Game Diabolisch Ieben.. .. .. ........ ... ....................................... ............ .. ... I 07

FRIEDRICH KITTLER

When The Blitzkrieg Raged ....................................................... 137

BERND STIEGLER

Hope You Guess My Name Der diabolische Name ................................................................ 145

JuLIA ZoNs When After All It Was You And Me ....................... .. .. ............... 165

KLAUS THEWELEIT

So I Lay Traps For Troubadours Before They Reach Bombay One plus one: Sympathies for Godard plus Stones..................... 175

WILLEM VAN REIJEN

Every Cop Is A Criminal............................................................ 185

SIGRID WEIGEL

Just Call Me Lucifer Diabolus in musica und die Geschichte der Faust-Opem .......... 197

GERT THEILE

Use All Your Well-Learned Politesse Or I'll Lay Your Soul To Waste .................................................. 213

ALBERT KDMMEL-SCHNUR

Tell You One Time, You're To Blame ........................................ 223

HANS ULRICH GUMBRECHT

Tell Me, Sweetie, What's My Name? A gnostic fantasy ....................................................................... 247

ALBERT KOMMEL-SCHNUR

A LONG,

LONG YEAR

,Es herrscht totale Harmonie. Das mag auch daran liegen, dass wir auf unsere alten Tage vielleicht doch noch milde und, ich mag es kaum sagen, erwachsen werden." (Keith Richards) Man ist sich uneinig beim Brethren Court, dem Treffen der neun Piratengranden, die die Weltmeere beherrschen. Soli man sich zusammenschlieBen zum Krieg gegen die Royal Navy, die ihnen dicht auf den Fersen ist, oder soli man sich ergeben, sich allein durchschlagen, versuchen, einen Deal auszuhandeln? Captain Barbossa weist daraufhin, dass nur der Konig der Piraten den Krieg ausrufen dtirfe. Einen solchen Konig aber konne es nicht geben, da er gewahlt werden mtisse, aufgrund der radikal egoistischen Uneinigkeit der Piratenlords, die es ihnen verbiete, ftir jemand anderen als sich selbst zu stimmen, jedoch niemals gewahlt werden wtirde. Wortiber man sich wieder uneinig ist. So ruft Barbossa den Htiter des Piratengesetzes, Captain Teague, an. Was wiederum Widerspruch hervorruft. Doch dem Gesetz widerspricht man nicht: ein Schuss streckt denjenigen nieder, der es wagt, die Gtiltigkeit des Codes anzuzweifeln. Diskussion beendet. Auf einem Balkon, hoch tiber dem Verhandlungstisch, erscheint im Pulverdampf der Schtitze, Captain Teague alias Keith Richards. ,The code", murmelt er wie zu sich selbst, ,is the law." Und pustet den Rauch von der Pistolenmtindung. Souveran ist, wer tiber den Ausnahmezustand entscheidet. Das alte Buch, das da mit viel Brimborium und einem schltisseltragenden StraBenkoter herbeigeschleppt wird, zwingt die Piraten nicht zur Einigkeit. Mehr als einmal haben die Piraten in diesem dreiteiligen joy ride aus dem Hause Disney bewiesen, dass der Code kaum mehr als eine fan;on de parler darstellt. Piratenleben ist eben ein dauerhafter Ausnahmezustand, und freibeuterische Souveranitat bedeutet, alies zu ignorieren, was

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ALBERT KOMMEL-SCHNUR

gerade noch Gel tung hatte. Ehrensache. Wer aber den Ausnahmezustand selbst, das Gesetz, das kein Gesetz sein soli, verkorpert, diirfte der nicht eine Sonderrolle fur sich beanspruchen als King of Kings, Souveran der Souverane? Und miisste der nicht Fremder und Einheimischer zugleich sein in der Welt, deren Gesetz er hiitet, indem er es verkorpert? All das trifft aufKeith Richards im dritten Teil von Pirates ofthe Caribbean zu. Er spielt den Vater von Jack Sparrow, der von Johnny Depp verkorperten Hauptfigur dieses Swashbuckler-Spektakels. Obwohl er kein Schauspieler ist, ist er zweifelsohne ein ausgezeichneter Performer, SPIEGEL: Sind Sie eigentlich immer noch bewaffnet wie friiher? Richards: (greift sich in den Schritt und zieht ein enormes Messer heraus) Sehr handlich, sehr kiihl und aus Stahl. Aber heute benutze ich es nur noch, damit meine Hose nicht runterrutscht.'

der jedoch auch im Piratenkostiim niemand anderen als die Kunstfigur ,Keith Richards von den Rolling Stones" spielt: das Piratenkostiim konnte einer Show der Stones entnommen sein. 2 Auch als Captain Teague bringt Keith Richards seine Gitarre mit: allerdings handelt es sich urn eine akustische Gitarre, auf der er geradezu riihrend Ieise den SeemannsShanty ,Spanish Ladies" zupft. Gleichzeitig verhalt sich Richards, wenn er im Piratenfilm als Richards auftritt, wie Johnny Depp, der Richards als role model seines Captain Sparrow nimmt - wodurch Richards tatsachlich zum Vater von Sparrow wird. Depp macht seinen Sparrow durch diese gestohlene Vaterschaft zu jener glamourosen Figur, die den Film tragt und heraushebt aus der Masse der Hollywood-Fertigprodukte. Und Richards signiert diese erschlichene Genealogie, indem er Teague spielt, die ihm angedichtete Rolle zu seiner eigenen macht und extradiegetische Vorbildfunktion und intradiegetische Vaterschaftsrolle zur Deckung bring. Obendrein, wie urn die Verbindung noch enger zu kniipfen, drangte er angeblich noch den Regisseur, eine Szene aus seinem eigenen Leben einzubauen: den beriihmt-beriichtigten Sturz von der Palme. Wozu es dann aber nicht kam. Si non e vera, e ben trovato. 1 Dallach: , ,Ich habe viel kaputtgemacht' ". 2 ,Der Herr der Regeln triigt Kopftuch, Zopfhalter und Mascara wie gehabt, er hat ein Hiindchen dabei, so in der Art von Daisy, und eine Holzgitarre, die er beklimpert, wie er es von den Rolling Stones gewohnt ist. Es wird zwar kein Song daraus, man sieht aber seinen privaten Totenkopfring schi:in, urn den herum die Szene praktisch inszeniert wurde." (anonym: ,Die Mutter aller Piraten".) ,The joke is he doesn't look that much different onstage as the lead guitarist for the Rolling Stones." (Wild: ,Johnny Depp & Keith Richards")

A LONG, LONG TIME

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Als alter Pirat wiederum kann Keith Richards sich genau so cool, dreckig und verrucht geben, wie er im wirklichen Leben erscheinen oder gar sein mochte. Pirat - so konnte man vermuten, ware vielleicht ein Richards'sches role model. So spielt Johnny Depp einen Piraten als Rockstar, der einen Piraten zum Selbstbild hat oder haben konnte. The actor reveals that he patterned his portrayal of Jack Sparrow after a rather infamous celebrity. ,1 was reading about the 18th century pirates and thought they were kind of like rock stars," explains Depp. ,So, when I thought, , Who is the greatest rock 'n' roll star of all time?"' Rolling Stones guitarist Keith Richards was Depp's answerP

Der Piraten-Rockstar-Pirat Teague-Richards gibt intradiegetisch das Gesetz vor, weil sein Auftritt selbstreflexiv die extradiegetischen Bedingungen dieses filmischen Piratenlebens markiert: Massenkonsumkultur und ihr paradoxes Versprechen, eben das nicht zu sein. Und der Markt bestlitigt erwartungsgemaB: Johnny Depps Captain-Sparrow-Look dominiert 3 Stax: ,Depp & Bruckheimer Talk Pirates".

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ALBERT KUMMEL-SCHNUR

nun schon ein paar Jahre die Piratenreprasentation: weitjenseits des unmittelbaren Film-Merchandise- in Museen oder Kinderbiichern- sehen Piraten nur noch wie Captain Sparrow aus.' Und der wiederum sieht aus wie Keith Richards auf der Biihne. Der abwesende Vater, so lehrt es die Psychoanalyse, ist das Gesetz. (Hollywood gehorte immer schon zu den fleiBigsten Auslegern psychoanalytischer Thesen.) Der Sohn aber unterlauft das vaterliche Gesetz, indem er es seinem Buchstaben nach erfiillt: die Abstimmung iiber einen Piratenkonig, die ja aufpiratischen Egoismus setzt und so die anarchistische Ordnung der Piraten sichert und stabilisert, bringt wider Erwarten ein Ergebnis hervor. Der Trickster Jack Sparrow stimmt nicht fiir sich, sondern fiir Elisabeth Swan, die nunmehr ausdriicklich als ,king" (nicht etwa als ,queen") des Briidergerichts (dem mindestens noch eine Frau und ein Eunuch angehoren) eingesetzt wird. Die Piraten reagieren ganz buchstabengetreu nach dem freudschen Mythos von der vatermordenden Briiderhorde: sie waren einig, solange der Vater abwesend war und niemand seine Rolle einnahm - der tote Vater ist als der von Keith Richards gespielte extradiegetisch konzipierte Charakter Captain Teague, der als einziger den Code hiiten und seine Einhaltung durchsetzen kann, im Raum prasent. Und dieser Code sicherte die Einigkeit der Briiderhorde, indem er die Ersetzung des Gesetzgebers unter Bedingungen festschreibt, deren Eintreten kat'exochen ausgeschlossen ist. Jetzt aber, da das Unmogliche Ereignis und Wirklichkeit wurde, bricht unmittelbar Streit aus. Gewalt liegt in der Luft, bis Sparrow an den Code erinnert: ,Am I to understand that you will not be keeping to the code, then?" Gezielt setzt Sparrow die gesetzgebende Macht des toten Vaters ein, urn unter seinen misstrauischen Blicken einen neuen Gesetzgeber zu inaugurieren, die bildhiibsche junge Adlige Elisabeth Swan, den unwahrscheinlichsten Piratenkonig, der sich denken lasst. Der abwesend-anwesende Vater signiert die Entscheidung und setzt sie damit durch: eine Gitarrenseite reiBt, in radikaler GroBaufnahme durchsticht das zerfurchte Gesicht Keith Richards' das Tohubawohu. 4 , When Pirates of the Caribbean: Dead Man's Chest grossed over $1 billion worldwide, Ian Nathan attributed this to Sparrow's popularity: ,Pirates, the franchise, only had to tum up. There was a powerful holdover from the cheeky delights of its debut, something we hadn't felt since the Clone Wars called it a day.' Empire declared Johnny Depp's performance to be the seventy-fourth ,thing that rocked our world' in 2006 when celebrating 200 issues. A survey of more than 3,000 people showed Jack Sparrow was the most popular Halloween costume of2006 and, a 2007 poll held by the Internet Movie Database showed Sparrow to be the second most popular live action hero, after Indiana Jones. In a 2007 Pearl & Dean poll, Jack Sparrow is Depp's most popular performance." (Wikipedia-Kollektiv (engl.): ,Jack Sparrow")

A LONG, LONG TIME

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Und doch, freilich, freilich, erscheint der Vater unzufrieden mit dem Sohn, der sich gleich wehrt und nach dem Geheimnis des Vaters fragt: What? You seen that all done it wrong. You survived. It's the trick, isn't it? To survive ... -It's not just about living forever, Jacky. The trick is livin' with yourselfforever. ,I hope I die before I get old", sang Pete Townsend 1965. Der glamourose Leader der Rolling Stones in ihrenAnfangsjahren, Brian Jones, hat sich daran gehalten. Der Rest der Band wird inzwischen als ,role model" der Baby Boomer Generation gehandelt: aktiv bleiben, friih genug seinen Lebensstil andem und, wie Paul Mulhausen vom Carver College of Medicine, University oflowa, hinzufiigt, aufjeden Fall reich werden: ,,If you're going to engage in those activities, make sure you're rich,' Mulhausen says. ,Because if you're poor, you can't afford the treatments, and the consequences are going to be much more profound. "'s ,Livin' with yourself forever" ist wohl weniger ein vaterlicher Rat, als ein Fluch: die Partnerin- ,How's Mum?" fragt Jack- tragt Captain Teague als grotesken Schrumpfkopfbei sic h. Hiiter des Gesetzes, ewiger Vater zu bleiben, scheint ein einsames Vergniigen zu sein. Der Sohnjagt dennoch we iter dem ewigen Leben und unendlichem, irgendwo auf den Inseln der Weltmeere verborgenen Reichtum hinterher: zu unserem groBen Vergniigen wird sich Jack Sparrow schon im nachsten Jahr auf den Kinoleinwanden der Welt auf die Suche nach dem Jungbrunnen mach en, von dem manche Mediziner wohl iiberzeugt sind, Keith Richards harte ihn langst gefunden (anders scheint sein Uberleben im Versuch, sich bis in die Gegenwart hinein, als Rocker treu zu bleiben, kaum erklarbar).

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Zitiert in Stine: ,How The Stones Keep Rolling".

Literatur anonym: ,Die Mutter aller Piraten", in: http://www.12x5 .de/Stonespeop1e/Keith_ Pirates3/Pirates3.htm, 17.05.2008 [24.05.2007] Dallach, Christoph: ,,lch habe vie! kaputtgemacht' ",in: http://wissen.spiegel. de/wissen/dokument/44/29/dokument.html?titel=%22Ich+habe+viel+kaputtg emacht%22&id=41429244&top=SPIEGEL&suchbegriff=&quellen=&vl=O, 18.05.2008 [15.08.2005] Stine, Richard: ,How The Stones Keep Rolling. How Do Aging Rock Stars Strut On Stage Year After Year", in: http://www.cbsnews.com/stories/2006/02/06/ health/webmd/main1283497_page2.shtml, 17.05.2008 [06.02.2006] Stax: ,Depp & Bruckheimer Talk Pirates", in: http://uk.movies.ign.com/ articles/425/425848p 1.html, 17.05.2008 [25.06.2003] Wikipedia-Kollektiv (engl.): ,Jack Sparrow", in: http://en.wikipedia.org/wiki/ Jack_Sparrow, 17.05.2008. Wild, David: ,Johnny Depp & Keith Richards: Pirates of the Caribbean's Blood Brothers", in: http://www.rollingstone.com/news/coverstory/johnny_ depp_ keith_richards_ipirates_of_the_ caribbeanis_blood_brothers, 17.05.2008 [31.05.2007]

RAINER MARTEN

PLEASE ALLow ME To INTRODUCE MYSELF

Ander SchieBstatte am Rande Stambergs harte ich das, noch Iangst keine zehn Jahre alt, gesehen: Eine SchieBscheibe mit ihren klein en Holzpfiokken, die TretTer und Fehler markieren, gab, mit reichlichem und deutlichem Bildanteil, den Spruch zu lesen: ,Alle SchiaBkunst is umasunst, wenn oa'm der Engel auf die Pfannen brunzt''. Vielleicht bin ich hier erstmals dem Teufel begegnet. Schaute im kindlichen Schrecktraum Bases zum Fenster herein, wares der Wolf, kein Teufel. Alle Teufel sind ja Engel, Engel freilich, die mit ihrer himmlischen Berufung nicht ganz zurechtgekommen sind. Klug geschlossen sind dann alle Engel auch mogliche Teufel. Doch das mag hier auf sich beruhen. Teufel kannte ich, wie gesagt, sonst nicht. Es trieben auch keine unter Eltem und Geschwistem ihr Spiel, keine im Haus und im Garten. Oder doch? Der Hausmeister fiuchte viel, besonders wenn er mit etwas zugange war, das SchweiB kostete oder hatte kosten konnen. So konnte er nicht nur ohne Taschentuch schneuzen, sondem auch ,Sakra!" sagen, ,Harbottzapprament!", ,Kruzifixn!". Das war ja alles, wie bei Fliichen iiblich, ziemlich hoch gegriffen. Anders wares, und etwas emstlicher noch, wenn es bis zum ,Kruzitiirken!" und ,Kreizkruzibimbaumhollerstau'n!" kam. Manchmal freilich hieB es auch ,Himmiarschundzwim!", ja, da war er wohl unvermittelt prasent, der Teufel: der Hintem, nicht irgendein Ungesicht, sondem das, das einen von oben ,derbleckt'. Ich habe ihn spater in Freiburg unter den Wasserspeiem am Munster wiedergefunden. Man sollte eben nie sagen ,Den Teufel gibt's nicht", und dies nicht einmal in der von Quine geforderten richtigen Form ,Es gibt nichts, das teufelt, nichts, das sich teuflisch benimmt". Ich bin mir im Gegenteil sicher, daB es den Teufel gibt. Fur mich wares allerdings nicht jenes Ungesicht im Fluch und als Wasserspeier. Wie ich ihn namlich kennengelemt habe, ja, ich muB schon sagen, wie ich glaubte, ihn selbst kennenzulemen, denn was ein rechter Teufel ist, so setzt er frommen Glauben und heilige Sunder voraus, da war das dort, wo ihn andere schon lange vor mir entdeckt batten: im Detail. Der Teufel und seine Teufel sind keine Weltplaner und Weltlenker. Sie scheuen das GroBe, Hohe, Ganze und Allgemeine. Der Teufel steckt im Detail. Das aber ist gerade das Perfide, denn das erdachte We-

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RAINER MARTEN

senhafte in all seinen Spielarten mag ja sein, was es ist, aber das Detail ist mit Sicherheit blankeste, wenn auch verwirrendste Realitat, wie sie noch keine kritische Theorie erreicht hat, weil das Detail als Wirkliches und das heiBt, die Wirklichkeit im Detail einfach so ist, wie es sich mit Wirklichkeit und Detail verhiilt. Nun also zum Detail, ja, dann doch zur Sympathie, wie sie vorgegebenes Thema ist, wenn doch eine der groBen Moglichkeiten von Sympathie-Haben-fiir und Geschmack-Haben-an die Liebe zum Detail ist. Aber das ist wohl erst noch die Frage, ob die Liebe zum Detail auch den Teufel einschlieBt, der in ihm steckt, einschlieBen muB, einschlieBen will. lch dachte eigentlich, daB er im Glauben, wie religiose Poesie ihn praktiziert, nur zu hassen ist, vom Fiirchten nicht zu reden. Jetzt aber tut sich, vom thematischen Versuch dazu verfiihrt, eine ganz neue Moglichkeit auf: Im Verhiiltnis zum Detail triifen sich Liebe und HaB. Die Sache konnte sichjedoch auch noch weit ersprieBlicher gestalten: Sollte nicht, weil es im gelebten Leben so gut wie immer ,nur' urn's Detail geht, die Liebe nicht einmal so richtig groBziigig sein, und Satan, ja selbst Beelzebub einschlieBen, mit einem Wort den Teufel, der es uns immer auf's neue vermasselt, mit dem Detail zurechtkommen? Das ist schon eine groBe Frage an unser sympathetisches Verm6gen: Wieviel ungliickstriichtigen Widerstand vertriigt es, wieviel braucht es? Ich komme noch einmal auf jene Pfanne am SchieBgewehr zuriick, die ein unartiger Engel auf seine Weise nutzt, dem Schiitzen sein Handwerk zu legen. Sie ist, rund und das belebende Pulver hiitend, wie sie ist, fiir mich ein Bild des bergenden SchoBes fiir den Menschen, wie Abrahams SchoB es gewesen sein soli. Das bedarf freilich der Erkliirung, wieso ausgerechnet ein Stuck an einem SchieBgeriit zu dieser Bildkraft taugen soli. lch muB zugeben, daB zuniichst die Form die Assoziation nahelegte. Das aber hiitte nicht ausgereicht, urn wirklich his zu Abraham vorzudringen. Da hat sich dann aber in der Sache die Niihe von beidem noch ungleich gr6Ber und eben sachlicher gezeigt. Jene Pfanne client am SchieBgeriit dazu, etwas zum Ziinden zu bringen, damit ein Treffer erzielt werden kann, der ein anderes Wesen ins Jenseits befordert. Nun ist aber Abraham bereits auf segensreichste Weise dort: Er nimmt den armen Lazarus in Empfang, der sterben muBte, weil der Reiche nichts von seinem Tisch fiir ihn abfallen lieB. Engel, die ersichtlicherweise keine teuflischen Moglichkeiten an sich wahrmachten, hatten ihn in seinen SchoB getragen. Auch wenn der Reiche kein SchieBgeriit genutzt hatte, so wird dochjene Pfanne ganz fiir sich zum Bild menschlicher Jenseitsbeforderungsfahigkeit und dabei zum Vorbild menschlicher Geborgen-

PLEASE ALLOW ME TO INTRODUCE MYSELF

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heit. Wenn nun aber Geist und Glaube der Theorie zeit- wie wesenskritisch ihr Pulver zu verschieBen suchen, urn den wahren und eigentlichen Menschen ins Jenseits zu befordem, weil ,bier' mit dem lebendigen Menschen schlechtweg nichts Rechtes los sei, man lese nur Platon: und ich zuletzt von allen jetzt bestehenden Staaten erkannte, daB sie insgesamt schlecht regiert werden man lese nur Adorno: Die Menschen, keiner ausgenommen, sind noch uberhaupt nicht sie selbstdann muB es doch so gewesen sein, daB jedesmal, wenn der nicht weniger irrationale als rationale Kritiker abzudriicken suchte, sein Pulver schon naB, teuftisch naB war. Kein SchuB ist nach hinten losgegangen, nein, es hat einfach nicht gezi.indet. Kein Strohfeuer hat gebrannt, nein, iiberhaupt kein Feuer. Kein Mensch ist getroffen und schon gar nicht befordert worden, weder ins Jenseits noch ins Abseits. Eine nasse oder auch nur feuchte Abreibung, Selbstabreibung!, zu mehr laBt sich das Bild nicht stressen, mehr kann der Kritik nicht entsprungen sein, weil sie schon im Keimversuch, wenn nicht KeimentschluB des Teufels war. Wer aber mochte jetzt noch einer Entteufelung des Teufels a la GieBener Gedankenschmiede das Wort reden? Es muB doch als Folge eines hochst sympathischen und schmackhaften Teufelswerks empfunden werden, daB der Mensch auf sich selbst sitzen geblieben ist: auf seinem Leben, auf seiner Welt, auf seiner Geschichte. Am Menschen namlich, so meinten und meinen es jene Zeit- und Wesenskritiker, sei nur eines verkehrt: der Mensch. Sakra! Sie aber meinen den Menschen en detail, den Menschen, den es nur in der Realitiit gibt, den geschichtlichen und lebendigen Menschen, der sich fortzeugt und partout nicht anders werden will, als er immer schon gewesen ist und in alle Zukunft sein wird. Dieser Mensch paBt einfach nicht in Abrahams SchoB, und das ist, denke ich an die verhinderten Jenseitsbef6rderer, eines Teufels Werk, der die Menschen nicht in den Himmel verscheucht wissen will, sondem ins Detail. Der Mensch, der wir selbst sind, erzeugt damit jedoch eine Frage von ungeheurer Tragweite: Wie halt er es denn nun selbst mit dem Teufel? Es ist die andere Gretchenfrage.

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RAINER MARTEN

Die Menschengeschichte in all ihren Aspekten ist, so denke ich es mir, der SchoB des Mensch en en detail. Auf jener Pfanne, da hat die emphatische Moglichkeit des wahren und ganzen Menschen gelegen: der JenseitsschoB. Will nun ein Mensch auf's Ganze gehen, auf sein eigenstes Ganzseinkonnen und schlieBlich auch Ganzsein, dann kann genau dazu die Pfanne nicht dienen. Schon naBt der Engel das Pulver. Der Teufel paBt auf, der dem Mensch en seinen DiesseitsschoB bewahrt. Der Teufel steckt tatsachlich im Detail, weil er das Detail garantiert. Er laBt nichts ganz werden, nichts ganz groB und ganz hoch, weil er es haBt. Under haBt ganz besonders das Allgemeine, die ganzlich vergeistigte Essenz, weil seine Sympathie fUr's Detail ihm sagt, daB ohne Detail kein Mensch er selbst ware. Der klare und aufgeklarte Tag ist ihm kein Tag reiner Vernunft, sondem jeder Tag der Geschichte, der je ein Tag en detail und ja nie ein Tag en tout ist. Das Ganze, das in seiner Ganze aus einer Erganzung lebt, die theoretische Jenseitsbefdrderwillige mit letzter Anstrengung erstreben, genau dieses Ganze flieht der Teufel wie das Weihwasser. Er besteht darauf, daB der Mensch hier und jetzt lebt; daB er, wie immer er lebt und handelt, ein Mensch ist, ein Mensch en detail, versteht sich, ein wirklicher Mensch. Teufel nochmal! Wie soli denn die Sache mit Sympathie und Geschmack fUr den Teufel enden: Sollen wir ihn als Sachwalter des Details und unserer Geschichte lie ben oder nicht doch besser hassen, zumindest lie ben und hassen? Mtissen wir wirklich damit rechnen, sympathischer und gewagter gefragt: dtirfen wir sicher sein, daB die Pfanne, wenn man auf uns abdriicken will, stets naB ist? Lasen wir das, was der Herr zum Satan sagt: ,Alles, was Hiob hat, sei in deiner Hand! Nur nach ihm selbst recke deine Hand nicht aus!", und lasen wires fUr jeden Menschen gesagt, so ware der Teufel nur machtig tiber das, was wir haben, tiber uns im Detail, nicht aber tiber uns ,selbst'. Das machte unsere Zweifelsfrage nur urn so tiberraschender, weil dann doch die Sympathie gut wortlich zum Mitleid wtirde, ob auch zum Mitleid fur uns selbst, stehe dahin, in jedem Faile aber zu einem Mitleid fUr den Teufel. Wir verloren den Geschmack an ihm. Sapristi!

I'm

JOCHEN HORISCH

A MAN OF WEALTH AND TASTE JAGGERS LuciFER TRIFFT GoETHES MEPHISTO

Den Rolling Stones war keine Anstrengung zu schwer, urn dariiber hinwegzutauschen, wie traditionell, solide und komplex ihr bildungsbiirgerlicher Hintergrund war und ist. Diesem satanischen Tauschungsversuch sind viele der weniger gebildeten und wachen Rolling-Stones-Fans auf den Leim gegangen. Dennoch ist er misslungen. Fraglos namlich zahlt das Oeuvre der Rolling Stones wie das der Beatles, die Aug in Aug mit der besten Schubert-Schumann-Mahler-Tradition des deutschen Kunstliedes komponierten, zum Kanon alexandrinisch gelehrter Literatur. Davon zeugt u.a. das Prunk-Wissen, das einer ihrer beriihmtesten Songs mit jener beilaufigen Eleganz und Leichtigkeit ausbreitet, die nur einer traditionell geformten Bildungselite gegeben ist. Das bOse Lied ,Sympathy for the devil" beeindruckt durch sehr gute Geschichtskenntnisse: Mick Jagger ist mit dem Neuen Testament und mit der Geschichte des Blitzkriegs, mit der Liedkunst der Troubadore und mit Shakespeares Konigsdramen, mit den revolutionaren Ereignissen in Sankt Petersburg und mit damals jiingster Zeitgeschichte, der Ermordung der Kennedy-Briider, bestens vertraut. Mit Anastasia sowieso, das versteht sich. In subtiler Anspielung auf das gefliigelte Goethe-Wort ,Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr konnt sagen, ihr seid dabei gewesen" kann Jaggers Lucifer sagen: ,Ich bin stets dabei gewesen." Selbstredend wird ihm der Hintersinn der schon von Goethe favorisierten Formel ,Et in Arcadia ego" gelaufig sein. ,,Auch ich bin inArkadien" sind, wie jeder, der Goethe und Panofsky gelesen bzw. die Rolling Stones gehort hat, satanisch-thanatologische Worte: Was ihr als arkadisches Gefilde miBversteht, ist mein thanatologisches Gelande, spricht der Herr, der des Teufels ist. Wahre Bildung zeigt sich nun aber nicht in der Ausstellung tradierter Wissensbestande, und sei sie auch noch so souveran. Sie manifestiert sich vielmehr darin, dass man im Geistergesprach mit den ganz GroBen nur bestehen kann, wenn es gelingt, ihre Denkmotive aufzunehmen und pointiert weiterzuentwickeln. Und eben dies ist in ,Sympathy for the devil" ersichtlich der Fall. Die Anspielung auf Goethes Faust-Drama und prazi-

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JOCHEN HORISCH

ser: auf die Szene des Dramas, in der Mephisto sich dem Gelehrten vorstellt, ist subtil, aber doch eindeutig. Auch Goethes Mephisto stellt sich wie der Lucifer des Songs nicht gleich mit seinem Namen vor. Beide sind von erlesener Hofl.ichkeit und geradezu hofischen Umgangsformen. Please allow me to introduce myself I'm a man of wealth and taste.

spricht Lucifer gleich zu Anfang des Songs. Das Motiv ist ihm wichtig, und so wird es am Ende des Lieds wiederholt: ,1 am a man of wealth and taste." Damit paraphrasiert Lucifer die bis dato in jedem Wortsinn unerhorten Worte Mephistos. FAUST. Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen Gewi:ihnlich aus dem Namen lesen, Wo es sich allzudeutlich weist, Wenn man euch Fliegengott, Verderber, Liigner heiBt. Nun gut, wer bist du denn? MEPHISTOPHELES. Ein Teil vonjener Kraft, Die stets das Bose will und stets das Gute schafft.

Anders als die traditionelle Germanistik hat Mick Jaggers Gelehrsamkeit den tie fen Sinn dieser Selbst-Vorstellung Mephistos erkannt. Mephisto ist ein Mann von erlesenem Geschmack und von groBem Reichtum (er kann z.B. so fort ein wahnsinnig wertvolles Schmuckkiistchen finanzieren). Auch er verzichtet darauf, sogleich seinen Eigennamen zu nennen; die Angabe seiner Fahigkeiten und Funktionen scheint ihm angemessener zu sem. Die Leistung, die er erbringt, ist es wert, benannt zu werden. Er will satanisch-luciferisch stets das Bose und schafft doch stets das Gute. Das ist denn doch eine Leistung, die man dem Teufel nicht sogleich zutraut. Was mit diesem Riitselwort gemeint sei, will Faust denn auch sogleich und zu Recht wissen. Mephisto legt seine Karten nur halb auf den Tisch. Aber aufmerksamen Lesem und wahrhaft initiierten Satanisten wie Mick Jagger ist der Sinn des Riitselworts gliinzend klar: Mephisto und Lucifer sind auf dem Niveau des bedeutendsten Buches der Modeme, das keinen anderen Titel triigt als die sen: The wealth ofnations. Es erschien 177 6 und entstammt der Feder eines Menschen, der tatsiichlich den Menschennamen und den Familiennamen schlechthin triigt: Adam Smith. Der Weimarer Finanzminister Goethe zahlte zu den ersten Lesem des schon ein

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Jahr spater durch Goethes Schwager ins Deutsche ubersetzten Buches, und er erkannte wie sein britischer Bruder im Geiste Mick Jagger sofort die Pointe der adamitischen Argumentation. Private vices become public benefits, wenn man den satanischen, bosen Geist des Kapitalismus nur gewahren laBt. Wer bOse Eigenschaften wie Egoismus, Bereicherungstrieb, Verschwendungssucht und Weltzugewandtheit (urn nur sie zu nennen) im Namen des Guten bekampft, wird Unheil anrichten. Wer hingegen das Bose will, wird das Gute schaffen- ,stets". Das ist ein Gesetz. ,Sympathy for the devil" ist das Erfolgsprinzip von Neuzeit und Modeme. Man muss den bosen Kapitalismus so lieben, wie die Rolling Stones es vorexerziert haben, urn ihn das Gute schaffen zu lassen: dynamisches Wachstum, Reichtum fur alle, Wechsel wertvoller Guter ohne Mord und Totschlag, Leistungspramien statt Pramien fur Geburtskontingenzen. Geschmack beweist (urn es halbwegs auf dem Bildungsniveau der Rolling Stones auszudrucken), wer das Malum zu bonifizieren versteht. Zu den unsterblichen Verdiensten der sehr jung sehr reich gewordenen Rolling Stones gehort auch dieses: eine ganze Generation ubermoralisierter 68-erJugendlicher mit dem bosen Kapitalismus versohnt zu haben. Pate gestanden haben bei dem Epochensong der Rolling Stones aber nicht nur Goethe und Adam Smith, sondem noch ein weiterer Adam der Dorfrichter Adam aus Kleists Zerbrochenem Krug, der auch uberall (ganz anfanglich im Paradies, in mythischen Zeiten bei Odipus und Jokaste oder auch bei der Erfindu~g der Transzendentalphilosophie) dabei war. Von diesemAdam stammen die goldenen Worte, die als Taufspruch fur den Lucifer des Songs der Rolling Stones taugen: Man hat vie! beiBend abgefaBte Schriften, Die, dass ein Gott sei, nicht gestehen wollen; Jedoch den Teufel hat, soviel ich weiB, Kein Atheist noch biindig wegbewiesen.

So spricht der Dorfrichter Adam, der damit einen Stein ins Rollen gebracht hat, der erst im London der 60-er Jahre des letzten Jahrhunderts des vergangenen Jahrtausends zum Stillstand kam. Haben die singenden Denker doch erkannt, dass Satanismus nicht das Problem, sondem die Losung ist. Es steckt viel Natan in Satan. Und es gibt einen klugen Autor, Horer, Leser, Lektor, Verleger, der es geschafft hat, diese tiefen Einsichten in die Spharen zu schmuggeln, die sich dagegen lange verbarrikadiert haben- die akademischen. Sein Name ist bekannt. Pleased to meet you, hope to meet you again and again. 0 yeah.

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Seinen N amen zu erraten, ist nicht schwer. Aber welches Spiel spielt er eigentlich? Freier Wille, Selbsterkenntnis, Verfiihrung zu Rebellion, Stolz, Hoffart? Fur die Systemtheorie, fiir die es prinzipiell keine unlOsbaren Fragen gibt, sondem nur ungeniigende Beobachtungen, ist der Fall klar: Der Teufel realisiert eine SchOpfung, in der das, was geschieht, deswegen geschehen kann, weil auch das Gegenteil geschehen konnte. Oder mit anderen Worten: eine SchOpfung, in der das Beobachten der Schopfung Teil der SchOpfung ist. Der Teufel ist also Vertreter einer Ordnung, die auf Unterscheidungen gebaut ist. 1 Und deswegen hat er auch Geschmack. Dass der Teufel auBerdem ein reicher Mann ist, ist eine metaphysische conditio sine qua non. Angeblich hat er dem Mann aus Nazareth alle Reichtiimer der Welt angeboten. Jeder weiB, dass er bereitwillig Kredite gibt, und das macht ibn in der Tat sympathisch, zumal die Frist, innerhalb der sie zuriickgezahlt werden miissen, oft genug mit dem verbleibenden Restleben zusammenfallt. Was den Teufel allerdings vom Kapitalisten unterscheidet, ist, dass sein Reichtum unproduktiv ist: er geht hauptsachlich in den Konsum von Luxusgiitem. Deren Sinn besteht darin, soziale Unterschiede zu erzeugen, und deswegen ist der Zwilling des diabolischen Reichtums der Geschmack. Das unterscheidet den Teufel vom gewohnlichen Gewinner im Lotto, dem nicht mehr einfallt, als sich drei rote Ferraris vor den Plattenbau zu stellen. Der Mann mit Geschmack weiB sich zu unterscheiden, indem er zu unterscheiden weiB. Geschmack haben heiBt, einen Unterschied herzustellen, indem man Unterschiede treffen kann, wo andere keine mehr treffen konnen. Geschmack distinguiert. Das fiihrt natiirlich zu den ,feinen Unterschieden" Bourdieus und a la longue zu American Psycho. Wo im Spat- oder Postkapitalismus Klassenunterschiede nicht mehr tiber die Rolle, die man im Produktionsprozess spielt, hergestellt werden, weil Arbeit aufgehOrt hat, als ontologische Kategorie der Gesellschaft zu existieren, werden Klassenunterschiede tiber den Geschmack hergestellt, das heiBt tiber das Vermogen, sich dadurch zu distinguieren, dass man immer noch mindestens eine feinere Unterscheidung treffen 1

Vgl. Luhmann: ,Sthenographie und Euryalistik", S. 64 f.

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kann als aile anderen. Bis schlieBlich die etwas distinguiertere Visitenkarte des Kollegen zum Mordmotiv wird. Aber als soziologische Kategorie geht dem Geschmack sein buchstablicher Sinn verloren. Wenn man Geschmack nicht als ein allgemeines Urteilsvermogen, sondem im engeren Sinne als das Vermogen des Schmeckens versteht, dann stoBt man erst auf die Dialektik einer Selbstbeschreibung vom Typ ,I'm a man of taste", die darin liegt, dass Geschmackhaben eine sowohl passivische als auch aktivische Bedeutung hat. Zwar IieBe sich einwenden, dass mit dem Urteil,jemand ,babe Geschmack" normalerweise nie gemeint sei, dieser Jemand schmecke gut, aber bekanntlich fiihrt die Ankettung des Sinns ans Intentionale bloB zur Verarmung des Denkens. Die Sprache spricht. Das sollte reichen. Die Sprache fordert heraus, zu erkennen, wie der Geschmack von Objekten mit dem Geschmack von Subjekten zusammenhangt- das heiBt, die kannibalistische Grundschaltung in der Semantik des Geschmacks. Allerdings birgt der Selbstbezug, wie er sich in der Liedzeile ,I'm a man of wealth and taste" ausdriickt, bose Fallen. Abgesehen davon, dass eigentlich bloB ein Autophage von sich selbst wissen kann, ob er Geschmack babe, kann das Urteil, dass jemand ,a man of taste" sei, nur von jemandem gefallt werden, der selbst ,a man of taste" ist. Wie man also von sich selbst sagen kann, man sei ein Mann, der Geschmack hat, bleibt vorerst ratselhaft. Wenn die Person, die dieses Urteil fallt, identisch ist mit der Person, tiber die dieses Urteil gefallt wird, dann kann die Person, die dieses Urteil fallt, exakt genau so viele Unterschiede treffen, wie diejenige, tiber die dieses Urteil gefallt wird. Damit fallt die entscheidende Bedingung der Moglichkeit des Geschmacksurteils mit Gtiltigkeitsanspruch weg, namlich, einen Unterschied herzustellen, indem man einen Unterschied mehr machen kann als die anderen, i.e. das distinguierende Moment des Geschmacks. Bekanntlich kann auch der geschmackloseste Mensch davon tiberzeugt sein, er babe Geschmack, wenn es ibm an der Gabe mangelt, beobachten zu konnen, dass andere mehr beobachten konnen als er selbst. Dass der Geschmack als Sinn des Schmeckens des Teufels ist, hangt in der abendlandischen Kultur mit dem wichtigsten Geschmacksorgan zusammen, der Zunge, Ia langue, dem Organ, das sowohl die Sprache als auch die Speise artikuliert. Die Zunge ist ein zwiespaltiges Ding, dia-bolisch im Wortsinn. Der Text, der den Zwiespalt und das Doppelspiel der Zunge zwischen Rede und Speise, zwischen Gut und Bose, zwischen Gift und Honig, zwischen Erotik und Religion entfaltet, ist der Jakobus-Brief:

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So ist auch die Zunge nur ein kleines Glied und vermisst sich doch groBer Dinge. Seht, ein wie kleines Feuer steckt einen groBen Wald in Brand. Auch die Zunge ist ein Feuer, eine Welt voll Unrecht. Die Zunge erweist sich unter unseren Gliedem als die Macht, die den ganzen Leib befleckt,ja von der Holle entflammt, das Lebensrad in Brand steckt. [... ] Mit ihr preisen wir den Herren und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. So kommt aus einem und demselben Munde Segen und Fluch. Meine Bruder. Meine Bruder, das sollte nicht so sein! Sprudelt denn eine Quelle aus derselben Mundung zugleich suBes und bitteres [= salziges] Wasser hervor? 2

Ausgehend von diesem Text stellt Kultur sich dar- wie Gerhard Neumann in seinen ausftihrlichen Kommentaren zu diesem Grundtext der christlich-abendlandischen Kultur gezeigt hat3 - als Entfaltung des ambivalenten Verhaltnisses zwischen Sprache und Korper. Der heikelste Punkt, an dem sich dieses Verhaltnis gewissermaBen als dramatischer Kampf entscheidet, ist die Zunge. Soll man sich wie die Gemeinde in Tania Blixens Novelle ,Babettes Gastmahl", die den Jakobus-Briefparaphrasiert, schworen, dass man nichts sagen werde, tiber das, was die Zunge vom Souper aus dem Cafe Anglais schmecken wird? SoH man das Geschmacksorgan Zunge bestrafen durch das Knebelung des Sprechorgans Zunge? Oder soH man wie der Offizier Lorens Lowenhjelm in der besagten Novelle Korpergenuss und sprachliches Gesetz in einem Akt der Anagnorisis vermahlen? Artikulation oder Nicht-zu-Wort-kommenLassen? Nicht erst ,Babettes Gastmahl", sondem schon die Feinschmeckerliteratur des 19. Jahrhunderts macht klar, dass es nicht geniigt, einen Unterschied zu schmecken, man muss ihn auch benennen konnen. Der Feinschmecker ist nicht derjenige, dem's besonders gut schmeckt, sondem derjenige, der seine Sprache so verfeinert hat, dass sie in der Lage ist, die feinsten Differenzen der Kiiche und zwischen den Kiichen zu artikulieren. Darauf laufen im Grunde die Physiologien des Geschmacks und die Gastrosophien von Antonin Careme, Jean Anthelme BrilllatSavarin oder Eugen von Vaerst hinaus, die seit Erfindung der franzosischen Kiiche im Umlauf sind. 4 Ihr Thema sind in ermiidender Breite und Ausfiihrlichkeit endlose Zergliederungen von Tieren, Aromen und Zubereitungsweisen. 2 Jakobus 3, 5-12 3 Vgl. Neumann: ,Tania Blixen: ,Babettes Gastmahl'". 4 Vgl. Careme: L 'Art de Ia cuisine franr;aise au dix-neuvieme siecle; Vaerst: Gastrosophie; Brilllat-Savarin: Physiologie des Geschmacks.

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Geschmack wird diabolisch erst aufgrund seiner sprachlichen Natur. Der Kurzschluss zwischen begriffiicher und geschmacklicher Artikulation ist vermutlich auch der Grund, warum manche Akademiker sich gegenseitig mit ausgekliigelten Soupers traktieren. Die Hospitalitat des diabolischen Gastgebers zielt im Grunde darauf ab, die Frage zu horen: ,Was ist denn da drin?" Die so eingestandene Kapitulation seiner Gaste vor der Raffinesse der aufgetragenen Speise lasstjeden intellektuellen Gastgeber tiber seine Tafelrunde triumphieren. Der Geschmack als Medium einer (Tisch-)Gesellschaft, die auf Unterscheidung aufgebaut ist - der Geschmack als Medium des Diabolischen - stellt das dialektische Supplement des kulturgeschichtlich dominanten Mode lis der Tischgemeinschaft als Opfergemeinschaft dar, die durch das symbolische Teilen und Zuteilen der Speise gekennzeichnet ist. Das Modell fur die Stiftung von Gemeinschaft durch den Essakt ist im christlichen Abendland das Abendmahl und sein onto-semiotischer Kern, die Eucharistie. Die Tischgemeinschaft wird durch Teilung in einem doppelten Sinne konstituiert: Zerteilung der Nahrung und Zuteilung der Nahrung, Einschluss und Ausschluss. Das Tier des jiidischen Pessachmahles wird ausgeschlossen, urn als Signifikant, als metaphorisches Zeichen wiederzukehren, dessen Aufgabe es ist, das ,wahre Opferlamm" zu bezeichnen. Die Achse der Ersetzung ist dem Opfermahl nach Claude Levi-Strauss wesentlich. Das scheint kulturiibergreifend zu gelten, fur das Christentum wie fur die alten Griechen oder fur die afrikanischen Nuer, die von der Gurke, die bei ihnen die Stelle des Opfers einnimmt, so sprechen als sei sie ein Ochse. 5 Das Opfer ist wesentlich Substitution. Elias Canetti geht so weit zu behaupten, der Mensch harte nie essen gelemt, ohne sich in Tiere zu verwandeln: ,Das Fleisch von dem man gemeinsam genieBt, ist nicht, was es vorstellt, es steht fur ein anderes Fleisch und wird zu diesem, wenn man es sich einverleibt. " 6 Substitution heiBt, dass das Mahl, insofem es Opfermahl (und das heiBt eine Fleischmahlzeit) ist, immer schon Zeichen ist. Das Mahl ist Ort der Stiftung kultureller Zeichen und zwar auf der metonymischen Achse der Teilung und Zuteilung, insofem hier die Gemeinschaft als Symbolon erzeugt wird, und auf der metaphorischen Achse der Ersetzung, insofem hier mit den Einsetzungsworten Tier fur Mensch und/oder Tier fur Gott gesetzt wird (je nach konfessioneller Auslegung des Eucharistiesakraments). Im Essakt als gemeinschaftsbildendes Ritual wird ein kulturelles Zeichensystem geboren. 5 Levi-Strauss: Das wilde Denken, S. 259. 6 Canetti: Masse und Macht, S. 126.

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Dabei wird zu zeigen sein, dass die Stiftung von Gemeinschaft als Symbolon nicht gelingen kann ohne die Mitwirkung des Teufels. Der Teufel ist der eingeschlossene Ausgeschlossene, wenn iiberhaupt die Tischgemeinschaft als Kultur gesetzt werden soU, sobald also der Geschmack zur Voraussetzung von Gemeinschaft wird. Die Aporien einer Begriindung von Kultur aus dem Essakt wird durch die Vielzahl der Perversionen, Widerspriiche und Sakularisationen des Abendmahls aufgezeigt. So ist es zum Beispiel immer die Frage, wieviel Transzendierung die niedere Materialitat vertragt, aus der Essen besteht. Eine Gurke kann vielleicht bei den Nuem als Ochse durchgehen und ein Lamm als Christus. Aber es gibt Grenzen. Caroline Schlegel schrieb iiber den Feinschmecker und Schongeist Carl Friedrich von Rumohr, der ein Buch mit dem Titel Vom Geist der Kochkunst verfasst hatte, an ihre Freundin Pauline Gotter: Es laBt sich gar nichts gegen seine Ansicht der Ktiche sagen, nur ist es abscheulich einen Menschen tiber einen Seekrebs ebenso innig reden zu horen wie tiber einen kleinen Jesus. 7 Der Einbettung des alimentaren Aktes in die Eucharistie steht die Denunziation des Essens als einer Form niedrigsten Bediirfnisses andererseits gegeniiber. Daraus ergibt sich die Frage nach der Kunst als eine Frage nach zwei Optionen: 1st Kunst Kulturtechnik in dem Sinne, dass sie die Materie/das Fleisch und das Blut transzendiert oder ist es gerade die Kunst, die sich der Transzendenz zu verweigem hat, die die Soziabilitiit der Zeichen in Frage zu stellen hat? 8 Die Kulturtheorie behauptet: ,Jede Nahrung ist ein Symbol" (Schopenhauer).o Aber ganz so einfach ist es nicht. Wie Werner Hamacher vor vielen Jahren gezeigt hat, verstrickte sich schon der friihe Hegel in die dialektischen Fallstricke des gemeinschaftlichen Essaktes als eines symbolon. Das Essen, sagt Hegel in seinen Jugendschriften iiber den Geist des Chistentums, ist kein konventionelles Zeichen. Der semantische Bezug, der im Mahl wirklich wird, ist einzig als konkrete Vereinigung konzipierbar. 10 Das Zeichen des Mahls ist, kein Zeichen, von dem das Bezeichnete unterschieden bleibt: es ist ein hypermimetisches Zeichen. 7 8 9 10

Zit. n. Neumann: ,Tania Blixen: ,Babettes Gastmahl'", S. 291. Vgl. dazu z. B. Didi-Hubennan: Die leibhaftige Malerei. Vgl. dazu Neumann: ,,Jede Nahrung ist ein Symbol'". Vgl. Hamacher: ,pleroma", S. 118.

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So wenig das Mahl ein Zeichen ist, von dem das Bezeichnete unterschieden bleibt, so wenig erschopft sich seine ontologische Qualitat im bloBen Gefiihl seiner Teilnehmer, durch die gemeinsame Tat schon vereinigt zu sein. Das Objekt ihres gemeinsamen Essens, das als Speise und Trank von ihrer Gemeinschaft noch unterschieden ist, wird namlich schon als diese Gemeinschaft selbst aufgefasst. Die Tasse Kaffee oder der Schluck Milch ist schon die materiell anschaubare Einheit der Kommensalen.''

Hegel verwandelt das Abendmahl also von einem vaterlichen Ritual, in dem das Gesetz errichtet wird, die morderische Opferlogik des Sozialvertrags, in ein miitterliches: in ein Liebesmahl, wie es die Romantik imaginiert: siehe das Klingsohr-Marchen im Ofterdingen, wo amEnde alle die aufgeloste Asche der Mutter trinken, die dann als materialisierte Liebe zwischen ihnen zirkuliert und sie vereinigt. '' In dem von Jesus ausgesprochenen Schluss ,Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut" erscheint das Prinzip subjektiver Vereinigung in der Liebe an die gegenstandliche Speise gebunden. Hegel legt allen Wert auf die Feststellung, dass es sich hierbei nicht urn eine Vorstellung in einem Bilde handelt, auch nicht urn eine Allegorie, sondem ,dass hier an Wirkliches angekniipft wird". Als allegorische Figur wiirde das Mahl wie das Zeichen nur noch bedeuten, nur in einem Gedachten seine Bedeutung erflillen. Hegel richtet seine Argumentation gegen die semiologischen Reduktionen des Mahls auf eine Bedeutungsstruktur, welche die Synthesis von Signifikat und Signifikant, ihr Verstehen in ein Jenseits des Sinns, in eine Transzendenz des Geistes, in ein Jenseits des leiblichen Erfahrungszusammenhangs verlegen. Kant denunzierte das Abendmahl noch als Fetischmahl, wenn es als an sich Gott wohlgefallig betrachtet werde. Hegel versteht das Mahl als Symbol im alten griechischen Sinne, aber zugleich in einer Weise, die das griechische symbolon absichtsvoll missversteht. Die Dauerhaftigkeit eines einmal geschlossenen Gastfreundschaftsverhaltnisses machte in der Antike Erkennungszeichen notig, mit denen der Gastfreundschaft beanspruchende Fremde sich ausweist: das symbolon oder die tessera hospitalis. Es bzw. sie dient als Speichermedium solcher Fembeziehungen. Dabei handelt es sich urn Vorzeigestiicke wie zum Beispiel einen Ring, den Gastgeber und Gast bei ihrer ersten Begegnung zerbrochen haben und dessen beide Halften sie von nun an aufbewahrt haben, damit Kinder, Enkel etc. der in Freundschaft verbundenen Geschlechter sich beim ersten Treffen als Gastfreunde ausweisen konnen. II Ebd. S. 120. 12 Vgl. Novalis: Heinrich von Ofterdingen, S. 361.

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Aber zum groBen Unterschied zur Antike liisst Hegel Symbol und Mahl zusammenfallen. In der Antike waren Mahl und symbo/on klar voneinander geschieden. Das Mahl diente nicht selbst als symbolon: Erst aB man gemeinsam, dann trank man und betrank sich. Und wenn man voneinander schied, dann gab man dem Gast ein Geschenk mit auf dem Weg, ein symbolon. Symbo/oi sind Speichermedien: Sie sind nicht fUr den Augenblick da wie das gemeinsame Mahl, sondern fUr die Zukunft. Anders Hegel: Das symbo/on fallt bei ihm mit dem Mahl zusammen. Es ist kein Speichermedium mehr, sondern Medium einer Prasenz der Vereinigung. Der Signifikant wird getilgt, damit er im Realen der korperlichen Vereinigung wiedererscheint. Als Symbole, zusammengehorige Stucke eines Kreises, figurieren in Hegels Text zum einen Speise und Trank, Leib und Blut Christi, zum anderen das Essen und die Essenden, zum dritten aber die Einheit der Essenden [untereinander.] 13

Das klingt harmloser als es ist. Dass in der Einheit der Essenden, nicht nur Speise und Trank (Leib und Blut Christi corporaliter), sondern auch die Essenden selbst zirkulieren, das ist das latent kannibalistische Problem, das das symbolon umschlagen lasst ins diabolon. Es ist das Problem, dass das Mahl als Vereingung der Liebe gar nicht zustande kommt - und damit auch keine Gemeinschaft der Christenheit -, weil eben dieses Symbol im Realen in AbstoBung umschlagen kann, in Ekel.

Die Frage, die eine auf den Essakt gegriindete Kultur zu lOsen hat, ist daher: Wie kann das Essen zum gemeinschaftlichen Band werden im Spannungsfeld von Kommunion und Ekel- d. h. im Spannungsfeld von Beriihrung und Distanzierung? Man muss daher die kategorische Unterscheidung zwischen dem Symbol und der Materie der Nahrung ersetzen durch das Problem dieser Unterscheidung. Kulturtechniken riicken eben da ins Blickfeld, wo es darum geht, zu beobachen, wie ein Symbol im Realen hergestellt wird. Das Essen wird am Tisch verteilt durch Medien des Kontakts, der Beriihrung. Das Brechen des Brotes, die Szene des Symbols, der Herstellung von Gemeinschaft, ist im Realen ein die Kanale der Gemeinschaft kontaminierender Vorgang. Das Brot beriihrt die Speise in der Schiissel, und es schwimmt im Wein, den man trinkt. Eine Standardvorschrift der Curtesien, Benimmbiicher und Tischzuchten zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert ist, den Wein, in den man sein Brot eingetunkt hat, 13 Hamacher: ,p1eroma", S. 121.

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auszutrinken oder wegzuschiitten. '4 Der Grund ist erstens, dass man im Mittelalter und auch noch in der Friihen Neuzeit, das Brot einfach tiberall hineintunkte, und zweitens, dass immer mehrere Personen a us einem Glas oder Pokal tranken. Durch das Eintunken schwammen Brotbrockchen im We in herum, die der Tischnachbar oder die -nachbarin dann mittrinken musste. Jesus hat den Berichten der Frohbotschaft zufolge zwar das Brot genommen und danach den Wein und gesagt: ,dies ist mein Leib" und ,dies ist mein Blut", ,esst und trinkt", aber er kein Wort davon gesagt, dass man den Leib in das Blut tunken und darin zerbrockeln soll; dass man die Distinktion zwischen Essen und Trinken verwischen soll. Das Brechen des Brotes, die eucharistische Oeste der phatischen Kommunikation bzw. der phatic communion,' 5 verseucht den Kanal der Gemeinschaft: Der Sinn der Oeste kann in sein Gegenteil umschlagen: Statt Gemeinschaft, statt einer Atmosphare der Soziabilitiit, stellt das Brotbrechen Ekel und AbstoBung her: Iauter distinguierte Einzelne (Judasse ). Das Zeichen ist kontaminiert mit dem Kanal, das Symbolische mit dem Realen. Wie kann man also das Zeichen und den Kanal sauber trennen? Tischgeriite sind diabolische Bedingungen der Moglichkeit (technische Aprioris) daflir, dass das Teilen und Zuteilen der Speisen ein von allen Anteilen des Realen (Schmutz, St6rung, Rauschen) gereinigtes symbolisches Geschehen sein kann. Das Transzendieren der Materie, von dem schon so oft die Rede war, will erst einmal technisch hergestellt werden. Das Grundproblem der Einhaltung der eucharistischen Zeremonie des Essens alsAkt der Gemeinschaftsstiftung ist also: wie kann man verhindern, dass man neben der Speise auch die Esser mitiBt? ,Quod in coena se non dedit corporaliter", wie es Zwingli beim Religionsgespriich 1529 in Marburg ausdriickte: dass man beim Essen sich nicht korperlich gibt.' 6 Wie kann man verhindern, dass die Essgemeinschaft sich selbst isst? Es ist etwas Zuviel im Essen: die Esser selbst in Form metonymischer Verschiebungen. Es handelt sich beim Symbol nicht einfach urn eine Metapher, eine Ersetzung, sondern urn Metonymie, urn Ubertragungen von Realem, von Spuren des Realem. Ein Haar ist in der Suppe. Eins oder 14 Vgl. Elias: Uber den ProzefJ der Zivilisation, S. 176. 15 , We have here a new type of linguistic use - phatic communion I am tempted to call it, [... ] -a type of speech in which ties of union are created by a mere exchange of words." (Malinowski: ,The Problem of Meaning in Primitive Languages", S. 463) Malinowskis Erliiuterung der ,phatic communion" stellt eine Parallele her zwischen dem symbolischen Akt des Mahles. ,The breaking of silence, the communion of words is the first act to establish links of fellowship, which is consummated only by the breaking of bread and the communion of food." (ebd. S. 462) 16 ,Der Bericht Hedios", S. 20.

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mehrere und noch anderes. Partikel der Haut zum Beispiel. Mit Haut und Haar essen wir unser Essen - essen wir also uns gegenseitig, wenn wir nicht aufpassen. Nattirlich ist diese Form der Menschenfresserei keine, in der das Menschenfleisch in Form einer regelrechten Speise auf den Tisch kame, aber es kommt auf den Tisch in Form von metonymischen Spuren des Kontakts mit dem ,eigentlichen" Essensobjekt, in Form von Fragmenten der sich standig auf- und ablosenden Korpergrenzen. Die Perversion des Abendmahls, oder sagen wir besser: die Yerunreinigung des Abendmahls durch Perversionsspuren ist allgegenwartig, ist alltaglich: dauemd droht das Geschehen, das sich auf den Gastgeber und dessen Substitution richtet, umzukippen in eine partielle Menschenfresserei, bei der alle alle fressen. Wie lasst sich die Liebe vom Kannibalismus reinigen? Im Grund lasst sich das ganze Problem des Abendmahlsstreits mit all seinen kulturellen Konsequenzen auf diese Frage reduzieren. Ein beriihmter literarischer Be leg ftir den Yersuch, intime Gemeinschaft auf kannibalistischen Genuss zu basieren, findet sich in Rousseaus Bekenntnissen. Es ist jene Szene, in der sich das komplexe Spiel entfaltet zwischen fetischistischem Begehren und verdrangtem Inzestwunsch in Bezug aufRousseaus Ersatzmutter, genannt ,Maman". So wie Maman Ersatz ist ftir die tote Mutter, so wird dieses Supplement, mit Derrida gesprochen, zum Objekt eines unerftillbaren Begehrens, das das verlorene Objekt durch zahllose metonymische Yerschiebungen ersetzt, an denen es sich oral befriedigt. Diese beriihmte Rousseausche Oralitat reicht von der Yerwerfung der Schrift tiber das Kiissen von Yorhangen und Mobeln bis zum Essakt. Bisweilen beging ich sogar in ihrer Gegenwart Obertriebenheiten, die nur die heftigste Liebe eingeben zu konnen scheint. Als wir eines Tages bei Tische saBen und sie eben einen Bissen in ihren Mund gesteckt hatte, rief ich, es sei ein Haar daran gewesen. Sie warf ihn auf ihren Teller zuriick, und ich ergriff ihn gierig und verschlang ihn." In wiefem sich das rousseausche Fest, in dem sich das Yolk in einer gemeinschaftlichen Selbstdarstellung selbst prasent wird,' 8 aus dieser Urszene ableiten lasst, ist fraglich. Obgleich zweifellos Derrida zu folgen ist, mit dem das Schauspiel, in dem das Yolk der Schweizer zugleich Schauspieler und Publikum ist, als Selbsteinverleibung, als Autophagie zu deuten ware. Dennoch: Was im dionysischen Liebesmahl als kannibalistische Einverleibung des anderen erscheint, kann schnell in Ekel urnRousseau: Bekenntnisse, S. 173. 18 Vgl. Rousseau: ,Brief and' Alembert iiber das Schauspiel", S. 462.

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schlagen. Welche Art von Medium wird also benotigt? Die meisten Essensregeln betreffen den Verkehr zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen. Man muss zwei Kontaktsteilen moglichst voneinander trennen. Die Kontaktsteile zwischen der Hand und der Speise (die sich im Topf oder der Schussel befindet, aus der aile essen) und die Kontaktsteile zwischen der Hand und dem Mund. Tischgerate dienen so zur Herstellung eines individueil essenden Korpers, der sich nicht zu dem, was aile essen, als parasitare Zutat mit hinzutut. Tischgerate sind Filter. Tischsitten sind Operationen der Filterung eines Symbols aus dem Rauschen. Das parasitare Mitessen wird aus dem Kanal herausgefiltert; Ziel der Operation ist es, klare Subjekte auf der einen Seite und klare Objekte auf der anderen Seite zu erzeugen. Die Filterung entmischt Subjekt und Objekt, die in der barbarischen Mahlzeit noch durcheinander gehen, sie steilt die Subjekt-Objektrelation als Ergebnis des Entmischungsvorgangs her. Diese Entmischung ist zunachst ein souveranes Privileg. Der einzige, der zu Beginn der Neuzeit entmischt und als Einzelner oder Princeps hergesteilt wird, ist der Souveran. Kaiser, Konige und konigliche Prinzen speisen, wenn sie mit Untergebenen zusammen sind, stets ganz alleine an einem Tisch. Soziologisch gesehen, urn zu unterstreichen, dass sie mit niemandem etwas gemeinsam haben.' 9 Kulturtechnisch gesehen, weil der Korper des Souverans dadurch zum Souveran gemacht wird, weil er sofort kontaminiert wurde, wenn er nicht isoliert wurde. Der Korper des Konigs wird isoliert, weil man ihn permanent Obertragungen ausgesetzt sieht. Der Furst ist daher der erste Esser mit Geschmack: sein Essen hat den Sinn, sich zu distinguieren und dadurch uberhaupt erst so etwas wie ein Selbst des Essens zu erzeugen. Auf dem Tisch des Fursten steht auBer dem Pokal, der Gewurzdose und der Senfkanne das Nef: Ein schiffsformiger Behalter, in den die Utensilien des personlichen Gebrauchs vor und nach der Mahlzeit eingeschlossen werden, damit kein Gift darangegeben werden kann. VorsichtsmaBnahmen gegen Gift sind Privilegien des Souverans: Der Hofmarschail ( der die Speisen vorkostet), Bezoarsteine, Nattemzungen, Narwalpokale oder Nashombecher sollten durch Verfarben oder Schaumen das Vorhandensein von Gift anzeigen. Der Furst steilt den Sonderfall einer Gemeinschaft dar, bei der einer aile anderen nicht mitisst und deswegen ein Individuum ist. Damit sicher ist, dass alles, was der Furst beriihrt, nur mit ihm selbst in Beriihrung gekommen ist, muss es rigoros der Zirkulation entzogen werden Der Furst ist Furst, wei! die Kontamination der 19 Vgl. Ottomeyer: ,Tischgeriit und Tafelbriiuche".

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Speisen durch die Beriihrung anderer ihn vergiften wtirde. Individualitat in den Tischsitten- das groBe Thema von Norbert Elias - wird also dadurch hergestellt, dass sich die republikanische Tischgemeinschaft den Souveran einverleibt und das Armierungssystem des Ftirsten in ein Filtersystem umgearbeitet wird. Aus der Entmischung von Einem, dem Princeps, von allen anderen Essem und seiner Speise von den Speisem der anderen, wird die Entmischung von Subjekt und Objekt des Essens. Jeder kann nun ein Selbst des Essens sein, ein Subjekt, das anderes einverleibt, ohne dadurch sich selbst zu verlieren. Damit ist die Voraussetzung gegeben fiir den Aufstieg des Geschmacks als Kulturtechnik der Differenzierung und Distinguierung. Das eucharistische Modell der Tischgemeinschaft leidet folglich unter einer Autoimmunreaktion20 : es bedroht sich selbst und zwar von zwei Seiten. Zum einen droht es am Modell des symbolons zu scheitem, wenn dieses als Mahl gedacht wird, das die Einheit der Kommensalen nicht nur vorstellt, sondem enthalt, weil diese Einheit in der Konsequenz zu wechselseitigem Kannibalismus fiihrt. Zum anderen droht es am Modell des diabolons zu scheitem: Die spekulative Bewegung, die das Denken Hegels zum ersten Mal am Modell der Eucharistie erproben wollte, erstarrt in einer kristallinen Vereinzelung, in einem Selbstbezug, der keine Aufhebung mehr kennt. Aufgrund dieser Autoimmunisierung der Gemeinschaft kann das symbolon nur als aufgeschobenes praktiziert werden, als selbst mit sich nicht Identisches. Italo Calvinos Erzahlung Unter der Jaguar-Sonne liegt genau diese Struktur zugrunde. 2 ' Die fatale Gefahr des Symbols, den Tod in der Prasenz bzw. der Einverleibung heraufzubeschworen, lasst sich nur abwenden, indem Subjekt und Objekt des Schmeckens- die kannibalistische Grundschaltung der Semantik des Geschmacks- sich als Getrenntes im Objekt selbst des Essens schmekken lassen. Was wahrer diabolischer Geschmack demnach schmeckt, ist nicht die Differenz der Aromen in der Nahrung, sondem die Differenz der Aromen im Geschmack dessen (genitivus objectivus wie subjectivus), den man isst. Das lauft im Grunde hinaus auf die Einfiihrung des spekulativen Satzes in die Materialitat des Geschmacks. Der wahrhaft diabolische Geschmack ware der Geschmack des Menschen (genitivus objectivus wie subjectivus), der (nach) Menschen schmeckt, welche Menschen schmecken.

20 Vgl. zu diesem Begriff: Derrida: Schurken. 21 Vgl. Calvino: UnterderJaguar-Sonne.

Literatur Brilllat-Savarin, JeanAnthelme: Physiologie des Geschmacks oder physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgeniisse, Braunschweig 1865. Calvino, Italo: Unter der Jaguar-Sonne. Drei Erzahlungen, Miinchen 1991. Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980. Can!me, Marie Anton in: L 'Art de Ia cuisine franr;aise au dix-neuvieme siecle. Traite elementaire et pratique, Paris ca. 1845. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays iiber die Vernunfi, iibers. v. Horst Briihmann, Frankfurt a.M. 2003. ,Der Bericht Hedios", in: Das Marburger Religionsgesprach 1529, hg. v. Gerhard May(= Texte zur Kirchern- und Theologiegeschichte, H. 13). Giitersloh 1970. Elias, Norbert: Uber den Prozej3 der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1997. Hamacher, Werner: ,pleroma - zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel", in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: ,Der Geist des Christentums ". Schrifien 1796-1800, hg. v. Werner Hamacher. Frankfurt a.M./Berlin!Wien 1978. Levi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, iibers. v. Hans Naumann. Frankfurt a.M. 1979 3 . Luhmann, Niklas: ,Sthenographie und Euryalistik", in: Hans Ulrich Gumbrecht/ Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbriiche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 58-82. Malinowski, Bronislaw: "The Problem of Meaning in Primitive Languages", in: Charles. K. Ogden!Ivor A. Richards: The Meaning of Meaning. A Study on the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, London 1994. Neumann, Gerhard: ,,Jede Nahrung ist ein Symbol'. Umrisse einer Kulturwissenschaft des Essens", in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans J. Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Bd. I. Berlin 1993. - ,Tania Blixen: Babettes Gastmahl", in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann! Hans J. Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder. Bd. I. Berlin 1993. Novalis: Heinrich von Ofierdingen. In: ders.: Werke, Tagebiicher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mahl/Richard Samuel. Miinchen!Wien 1978.

Ottomeyer, Hans: ,Tischgerat und Tafe1brauche. Die Kunstgeschichte a1s Beitrag zur Ku1turforschung des Essens", in: A1ois Wier1acher/Gerhard Neumann/Hans J. Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Bd. l. Berlin 1993. Rousseau, Jean-Jacques: Bekenntnisse, tibers. v. Ernst Hardt, Frankfurt a.M./ Leipzig 1985. - ,Brief an d'A1embert tiber das Schauspie1", in: ders.: Schri.ften, hg. v. Henning Ritter, Frankfurt a.M. 1988. Vaerst, Eugen von: Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel, 2 Bde, Mtinchen 1975.

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STOLEN MANY A MAN's SouL AND FAITH KRAFT DURCH FREVEL- EINE STRATEGIE DER

RA TIONALISIERUNG

Auf eine iiberraschende Weise lasst sich das Freudsche Theorem der ,Rationalisierung", das die allgemein menschliche Tendenz kennzeichnet, nachtragliche Rechtfertigungsgriinde fiir affektgeleitete Entscheidungen zu finden, mit dem heute gebrauchlichen Theorem der ,Rationalisierung" als Begriindung fiir kapitalegoistische Untemehmensdesigns in Ubereinstimmung bringen. Denn wenn heute alltaglich in der durch die Presse reprasentierten und gebildeten Offentlichkeit Rationalisierungen als okonomisch unumgangliche MaBnahmen zur Steigerung des Markterfolges eines Untemehmens dargestellt werden, dann ist, wie jede Empirie zeigt, der Verweis aufRationalisierungszwang schon selber die probateste, weil unhinterfragt anerkannte, nachtragliche Begriindung von Entscheidungen, die im Vorhinein entweder tautologisch oder undurchdacht sind. Dennjedes Untemehmen trifft logischerweise alle Entscheidungen im Hinblick auf seinen angestrebten Markterfolg- so jedenfalls die Beschworung der schicksalhaften Unausweichlichkeit der Marktmacht durch die Industriegotter (erinnert sei an die Tatsache, dass die griechischen Gotter eben nicht Herren der Naturgesetze und damit auch nicht der menschlichen Psychodynamik gewesen sind). Also waren Entscheidungen mit der Konsequenz von Rationalisierungen fiir jeden Untemehmer entweder selbstverstandlich und bediirften gerade nicht der nachtraglichen Begriindung; oder solche Entscheidungen, urn das gelindeste zu sagen, waren undurchdacht, wenn, wie iiblich, mit keinem Wort darauf hingewiesen wird, dass der Markt auch nur im abstraktesten Sinne seine Vermittlerrolle spielen kann, soweit auf heiden Seiten, der Seite der Produzenten wie der Konsumenten, der Anbieter und der Kaufer, Gleichgewicht bestehet. Sobald aber alle Untemehmen rationalisieren, heiBt das in erster Linie, sie entlassen Mitarbeiter, also die Kaufer ihrer eigenen Produkte. Woher soll die Markt regulierende Kautkraft kommen, wenn permanente Rationalisierung permanente Reduktion des Kautkraftvolumens

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heiBt? Das nach-nachtragliche Argument der ,Flexibilisierung" durch Globalisierung hat auch nur den Anflug von Begrtindetheit fUr sich, solange die Globalisierung noch nicht hergestellt ist, und man Rationalisierung vermeintlich durch Ausweichen in BilliglohnHinder glaubt bewerkstelligen zu konnen. Logisch ist das naturlich alles unhaltbar, wie es eben fUr Rationalisierungen kennzeichnend ist, sonst ginge ihnenja keine anders begrtindbare Entscheidung voraus, als class man im Affekt entschieden habe, also gar nicht entschieden, sondem bloB reagiert habe. Erstaunlicherweise sind auch heute noch Begrtindungen als Hinweis auf affektgeleitete Reaktionen wie Wut, Hass, Opportunismus erzeugende Angst, Neid, Eifersucht, Bequemlichkeit, also kurz, die herkommlich als Todsunden gekennzeichneten Reaktionen, nicht zugelassen. 1st das nur eine Form der kollektiven Verdrangung gruppenspezifischer Moral? Wird nicht Rationalisierung geradezu als Ausweis der Bereitschaft erzwungen, sich dieser Verpflichtung auf Moral auch dann zu unterwerfen, wenn man gegen sie verst6Bt? 1st dem Konigsberger Unterscheidungssinn jede Moral ohnehin nur eine regulative Idee, die gerade ihren Sinn darin erftillt, fUr die einzelnen Entscheidungen nicht konstitutiv sein zu mussen? Anders gefragt, ist das Rationalisierungsargument Verweis auf Lugen als einer sozialen Tugend? Als fromme Notluge war das immer schon anerkannt, aber im Falle unserer Beispiele heutiger Gebrauchslogiken fUr das Rationalisierungsargument durfte es sich nicht urn fromme Lugen handeln. Statt einer Notlage des Begrtindungspflichtigen entspringen die unfrommen Lugen der Rationalisierung gerade einer Autonomiebehauptung des Argumentierenden; er verweist ostentativ z.B. auf seine Souveranitat garantierende lntelligenz, wenn er Rationalisierungsargumente selbstverstandlich als Lugen zu benutzen in der Lage ist, weil er damit durchkommt. Die Versuchung durch den Erfolg des Lugens auf einer gesellschaftlichen und nicht nur individuellen Beziehungsebene scheint einen Gutteil des lustvollen Kraftgewinns durch Frevel auszumachen, jedenfalls gegenwartig. Zu den uns noch nahe liegenden historischen Entwicklungspositionen gehort die Klau-mich-Bewegung der 60er Jahre. Damals wurde der Frevel des Bucherklauens zum Kraftbeweis fUr intellektuelle Befahigung; wer Bucher klaute, ftihlte sich in jedem Faile noch verpflichtet, sie auch zu lesen, urn also Kraft aus dem Frevelakt zu beziehen. Man klaute ja nur Bucher, die man unbedingt durch intellektuelle Neugier und Erwartung fUr unabdingbar hielt, unabdingbar zur Definition des Gebrauchszusammenhangs von Buchem wie des Lebenszusammenhangs, in dem alle gleichgesinnten Generationsgenossen standen.

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Auf der Ebene der kleinstdimensionierten Liigen entsprang Klauen der ethischen Verpftichtung auf den Systemwandel, gerade wenn man nicht daran glaubte, das Schweinesystem zu schadigen, wenn man ein paar Locher in die Stallwande bohrte. In besagtem Lebenszusammenhang stand etwa der Frevel der sexuellen Promiskuitat, die manja gerade dem System vorhielt, urn Willflihrige, also Huren und Luden des Kapitals zu ziichten. Im Lebenszusammenhang der 60er Jahre-Reformer und erst recht der StraBentheaterrevolutionare hatte man aber der Devise Tribut zu zollen: ,Wer zweimal mit derselben pennt, gehOrt schon zum Establishment." Der sozial-ethische Don Juanismus erzeugte bei seinen individuellen Tragem entsprechenden Ekel vor der Hingabe an Partner, weil Hingabe dem Autonomieanspruch zu widersprechen schien. Aber mancher nahm selbst den groBten Widerwillen gegen die fromme Promiskuitat mit individuell zerstOrerischen Folgen auf sich, urn heroisch die Unterwanderung des Systems durch Subversion erzwungener Treueverhaltnisse wie die der biirgerlichen Ehebindungen zu befdrdem: Pftichtpensum war, mindestens eine Hausfrau pro Woche aus den Fesseln ihrer Ehesklaverei zu befreien. Das Rationalisierungsmotiv ,Kraft durch Frevel'' scheint seine groBte Uberzeugungskraft nach dem Zweiten Weltkrieg aber durch Demonstration seines schier iiberwaltigenden Effekts im Bereich der Kiinste gewonnen zu haben. Spatestens mit der ersten Documenta von 1955 gewohnte man sich an Zustimmung,ja Begeisterung fiir den Geltungsanspruch der ,modemen, abstrakten, ungegenstandlichen Kunst". Und zwar auch dann, wenn man eben diese modemen Kiinste eigentlich so beurteilen wollte, wie sie lange vor stalinistischer und hitleristischer Stigmatisierung als ,entartet" schon gesehen worden waren. Zum einen stammt der Begriff der Entartung von Max Siidfeld, der sich germanophil und deutsch-national ,aufnordete", und 1892 expressis verbis den Kampfbegriff ,entartete Kunst" mit groBtem Erfolg in der Offentlichkeit lancierte. Zum anderen waren gerade die Trager der gesellschaftlich fortschrittlichen Krafte selbst in Fragen der Kunst-Avantgarden verstockteste Reaktionare, Lenin allen voran; das bildungsbiirgerliche Lager fand es iiberwiegend auch degoutant, sich die Clownerien von Dadaisten, Futuristen, Surrealisten und das wilde Geschmiere von Fauvisten, Expressionisten und Kubisten als bloBes Satyrspiel nach der langst schon abgespielten TragOdie ,Untergang des Abendlandes" gefallen zu lassen. NaturgemaB waren derartig ungnadige Einstellungen gegeniiber der modemen Kunst nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erledigt, weder auf der Seite der Besiegten, noch auf der Seite der Sieger. Das galt nicht nur fiir ver-

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knocherte Altvordere, sondem auch fiir junge Burschen wie Thilo Koch und Henry Nannen, die in schoner Ubereinstimmung mit vielen ihrer neuen Freunde aus dem Westen und den hangengebliebenen Re-Education-Officers mit geradezu freiheitsrettendem Pathos gegen die AnmaBungen der Modemisten Sturm liefen- his in die 60er Jahre hinein. Das galt aber viel schlimmer sogar fur Pathetiker der Kiinstlerkonnerschaft wie Carl Hofer, der 1946 als entarteter Kiinstler von den Befreiem mit der Aufgabe betraut wurde, die Berliner Kunstakademie zu re-demokratisieren und dazu als erstes seine modemistischen, also ungegenstandlich mal enden Kollegen aus der Zeit der Nazi-Verfolgung aus der Mitwirkung an der neuen Akademie ausschloss. A her gegen all diese sich sauisch in ihrem gediegenen Kunstverstandnis suhlenden Bewahrer der hohen Kunst und ihrer Reinheit, ihrer Meisterseligkeit und Realitatsenthobenheit bildete sich ein unwiderstehliches Argument, dem sich schlieBlich spatestens am Ende der 70er Jahre so gut wie aile Bundesbiirger angeschlossen haben. Und dieses Argument lautete: Wenn sogar der Fuhrer und Stalin, sein bedeutendster Konkurrent, ganz abgesehen von Mussolini, Franco, Salazar, Horthy, Quisling und dergleichen Randfiguren nebst ihren Pendants aus den westlichen Demokratien der Auffassung waren, ein paar Farbenschmieranten, Fotografen, Bildverhauer, Kasba-verliebte Architekten oder verjudete Wissenschaftler, Literaten und Filmkiinstler batten die Macht, ideologisch gefestigte Reiche zu Fall zu bringen, wobei einem Werk die Gegenmacht zu einem Bataillon von Soldaten zugerechnet wurde, dann sei ja definitiv bewiesen, welche Bedeutung die modem en Kunstwerke besaBen. Wares da nicht verstandlich, class man wegen dieser unglaublichen Macht der Kiinstler versuchen musste, sie unter Kontrolle zu bringen, indem man die Kiinstlervereinigungen gleichschaltete und sie dem strikten Primat des Politischen unterstellte? SchlieBlich bediente man sich dieses Arguments ja auch im Nachkriegstriumphalismus der konvertierten Demokraten mit besonderem Stolz: Die Bundeswehr babe sich strikt dem Fiihrungsanspruch der Politik zu unterwerfen. Der nationalsozialistische Fiihrungsoffizier, der unter Hitler in der Armee fiir den Primat der Politik sorgen so lite, wurde nun zum Offizier fur politische Bildung der Soldaten - da konnte es doch vielen nur logisch erscheinen, dass auch die Kiinste sich dem Primat der Politik (erst recht unter den Bedingungen des Oberlebenskampfs gegen den Totalitarismus des Ostens) zu unterwerfen batten. Wie anders sollte man garantieren, dass die in ihrem Machtpotential durch Hitler und Stalin beglaubigten Kiinstler ihre bekannten subversiven Fahigkeiten nicht auch gegen das neue Regime wen-

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den wiirden und somit die miihsam von Alliierten erkampfte Demokratisierung kiinstlerischer Allmachtswillkiir aussetzen wiirden? Dagegen gab es nur eine erfolgreiche Strategie, namlich zu zeigen, dass Kiinstler nicht schon deswegen als wirkungsmiichtige, keiner Kontrolle unterworfene Geltungsegoisten respektiert werden miissten, weil man sie wegen dieses Geltungsanspruches verfolgte, in Gefangnisse sperrte, ihre Werke zerstorte, ins Exil trieb oder kurzerhand umbrachte. Auf diesem Beweismechanismus beruhte ja die vorbehaltlose Akzeptanz von Geltungsanspriichen modemer avantgardistischer Kiinstler: Verfolgten des Nazi-Regimes wurden in der Schuld- und Schamgemeinschaft der demokratischen Wiedergutmachungsidealisten Autoritiit vollig unabhiingig von den Inhalten ihrer Positionen aufgebiirdet, wobei einige ganz frob dariiber waren, ihren Kiinstlerstatus nicht mehr durch das Werk oder ihre Werkzeuge begriinden zu miissen, sondem schon mit dem Status als Verfolgte Geltung zuerkannt zu bekommen. Der Kunstfrevel der Nazis hatte aber auch den Verfolgten des Dritten Reiches Kraft gegeben. Sie konnten ihre Wiirde in dem Bewusstsein wahren, Widerstand gegen den Frevel geleistet zu haben. Fiir die Art und Weise, wie gliicklich Davongekommene in der BRD die Interessantheit ihrer Biografie mit Verweis auf ihre Lebenszusammenhiinge wahrten, mag das denkwiirdige, weil mehrfach 1 iiberlieferte Bekenntnis Rudolf Augsteins gelten: Bitte, nur kein Gewinsel iiber die Last der deutschen Geschichte! Darin wetteifem doch schon die vielen Esel ringsum! Stellen Sie sich einmal vor, wir batten diese verdammte Geschichte nicht! Nicht Luther und nicht Friedrich, Bismarck nicht und nicht die ganze Bagage his zu Hitler! Was fingen wir an? So wie es war, hat jeder von uns Stoff fiir drei Leben und sogar noch ein paar mehr. Nicht auszudenken, daB wir Franzosen waren, mit diesem einen Napoleon! Und davor und danach nur eine handvoll glanzender, aber meist erbarmlicher Chargen wie den Herzog von Orleans, den dritten Napoleon oder diesen Vorstadtchauvinisten Poincare! Auch die ltaliener sind nicht besser dran, die sich immer gleich urn 500 Jahre zuriick besinnen miissen, urn auf einen attraktiven Bosewicht zu stoBen! Oder sogar, am schlimmsten vielleicht, Nein! Bestimmt am schlimmsten: Hollander zu sein! ( ... ) Wir waren zu jung, urn uns von den Nazis korrumpieren zu lassen, aber alt genug, urn die interessante Sache dauemd mit sich herumzuschleppen. Die Generation nach uns wird sich mit der Inhaltsleere abmiihen miissen, urn am Ende an der Langeweile zugrunde zu gehen. Alles was ich von ihr weiB und beobachte, notigt mich zum Bedauem. Anders als Sie und ich hat sie kein Lebensthema! Sie wird sich eines erfinden miissen! Und wer weiB, was dabei herauskommt. Zuletzt zitiert von Joachim Fest (Begegnungen, S. 358/359)

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Augstein zogerte nicht, solche Bekenntnisse als positiven Zynismus zu kennzeichnen. Damit wollte er einerseits unbeschonigt realistisch eine Haltung zur Schau stellen, die Ernst Junger in Der Arbeiter vortriigt: ,Je zynischer, spartanischer, preuBischer oder bolschwistischer das Leben gefiihrt wird, desto besser wird es sein." Andererseits wollte Augstein dem Vorwurf entgehen, dass auch er mit der (oben zitierten) Position eigentlich nur eine Variante des deutschen Siindenstolzes auslebe. Psychologisch ist immerhin verstiindlich, warum Deutsche den Vorwurf, ein Jahrtausendverbrechen begangen zu haben, ja eigentlich das geschichtliche Verbrechen schlechthin, zu einer immer wieder bekundeten Einmaligkeit wendeten und zur Einzigartigkeit einer historischen Tat umbauten: Alle behauptenja ununterbrochen, den Holocaust mache den Deutschen keiner nach. Also nehmen wir das Urteil einfach an. Hatte nicht schon der zuriickgekehrte verlorene Sohn seine Frevel aufverdiichtige Weise besonders anschaulich geschildert? Wurde nicht biblisch kodifiziert, dass man als Bekehrter umso mehr Anrecht auf Achtung und Anerkennung verlangen kann, je verwerflicher die gebiiBten Taten zu sein schienen? Oberhaupt wurde die Autoritiit der Bibel allzu auffallig dafiir bemiiht, konstruierbare Parallelen zwischen biblischen und zeitgenossischen Ereignissen als Ausweis heilsgeschichtlicher Bedeutung von Zeitgeschehen zu behaupten und damit wohl auch zu rechtfertigen. Dass die im Augstein-Zitat angesprochene Haltung durchaus nicht feuilletonistisch-provokant ist, hat Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften mit Nachdruck dargestellt. Das Interesse an einem Miidchenmorder aus der Tatsache zu begriinden, dass der Mann den Beruf eines Zimmermanns [!] ausiibe und musikalisch sei, iibersteigt bei wei tern die romanhaften Attitiiden von Dichterheldinnen, die seit den Riiuberpistolen von Goethes Schwager sich vorstellungshalber Sympathien mit dem Bosen erlauben, urn ihre Erregtheit als Zeichen von Lebensintensitiit zu steigem. Solche KdF-Lesegeniisse batten zwar nicht unerhebliche indirekte Folgen, als viele sich mit den KdF-Damen identifizierende Frauen bereit waren, die Heldengebiirerinnen und Heiden beweinende Mutter abzugeben oder als in den Produktionsprozess eingestellte Dienerin des Volkswohls mit Symphonie erprobten Giinsehiiuten zu reagieren, wenn sie in die Niihe einer ordensgepanzerten Heldenbrust mit auf Zeuger gestiihltem, sportiven Unterbau vordringen durften. Jedoch alle diese national und volkisch so stimulierenden Hoffnungen aufKdF-Beweise blieben weit hinter einem inhiirenten Prinzip der Modeme zuriick, unabhiingig von ihrer biirgerlichen, demokratischen, totalitiiren und fundamentalistischen Auspriigung. Es ist das Prinzip der

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schOpferischen Zerstorung, das von Wagner his Schumpeter, von Kiinstlem, Okonomen, Politikem aller Fraktionen zur Verwirklichung propagiert wurde. Wagners finales Lebensbekenntnis, dass uns Deutschen, verloren wir erst alle falsche Scham, die historische Aufgabe zukame, die zersetzende jiidische Intellektualitat, deren Erwahltheitsgewissheit und Sabotage der ,heil' gen deutschen Kunst" auszuloschen, ist durchaus keine Marotte, sondem begriindende Strategic der Werkgeltung. Solcher Strategic gelten alle sozialdarwinistischen Ubertragungen von Fressen und Gefressenwerden, von Tod als Bedingung angestrebter GroBe wie von Abraumen als Voraussetzung fiir Neubauen. Sagar die Studentenrevolutionare zwischen 1968 his zum Ende des Pol-Pot-Regimes gingen ganz selbstverstandlich von einer nicht nur schopferischen Tat durch Zerstorung aus. Sie hielten vielmehr den Zusammenhang von Revolution mit radikalstem A us gang und N eugriindungspathos flir ein kulturelles Prinzip. 1967 untersuchte Amo Plack die derartig herrschende Moral in seinem Buch Die Gesellschafl und das Bose, deren flinfter Teil mit eben einer Wiirdigung von ,ZerstOrung als kulturellem Prinzip" bereits auf eine Reihe von Einsichten verweist, mit der die franzosischen Intellektuellen zehn Jahre spater der fatalen Uberzeugungskraft von Meisterdenkem (des Bosen) entgegenzutreten versuchten. Der Kraft aus der angeblich historisch unabwendbaren Radikalitat, Totungs- und Opferbereitschaft mit der bedenkenswerten Entlastung, dass von den Gegnem auch individuell Unschuldige, Frauen, Alte und Kinder, nicht verschont werden konnten (als seien alle anderen mit mehr als eitler Selbstgewissheit tatsachlich schuldig gesprochen worden), verdankte man die Beruhigung des Gewissens und die Bestatigung, doch einer historischen Mission, und nicht dem eigenen Egoismus gefolgt zu sein. Die Leser konnen sichjetzt wahl selber daran machen, das Theorem ,Kraft durch Frevel" im 20. Jahrhundert, das weiB Gott nicht beendet ist, weiterhin beispielhaft zu entfalten. Der Autor verabschiedet sich mit dem einzig wirklich bedeutenden Beweis seiner BRD-biirgerlichen Tugend, namlich harm los sein zu wollen und sein zu miissen, weil man sonst unter die Knute des P.i.C.-Verdachts gerat, namlich politisch inkorrupt zu sein. Das ist der schlimmste Vorwurf, dem man ausgesetzt sein kann, so lange man noch auflntegration in gesellschaftliche Zusammenhange abzielen will. Deshalb eine versohnliche, heitere, gutwillige und positiv gestimmte Schlussfassung unseres KdF-Theorems: Die bekannteste Form des Frevels in unseren Zeiten republikanischer Selbstfesselung ist der VerstoB gegen das Schlankheitsgebot. Der Republikaner versteht lustvoll gutes Essen und Trinken als Frevel und gleichzeitig bietet ihm dieser Frevel

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die wenigen Momente tatsachlicher Empfindung von Freude. Damit batten wir die historische Einheit von Kraft durch Freude und Kraft durch Frevel wieder hergestellt und bekundet, dass sich Augstein geirrt haben muss. Denn ftir uns heute sind Fragen des Body-Shapings und des Fittings in Modeklamotten und Attitiidenpassepartouts der Feuilletonauffalligkeiten mindestens so Aufmerksamkeit fesselnd und problematisch, wie fUr die Augstein-Generation es die tadellose Haltung junger Lieutnants, die Manneszucht und die Bereitschaft gewesen ist, die GroBe des Widerstandes als Beweis ftir die GroBe der eigenen Mission zu nehmen. Das ist doch eine beachtliche Entfaltung des Fortschritts: vom Opfer der politischen Verfolgung zum Fashion-Victim.

Literatur Fest, Joachim: Begegnungen. Ober nahe undferne Freunde, Reinbek 2004.

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PLEASED

To MEET You ...

1. Zum gegebenen Zeitpunkt fugen sich bedeutende, zuweilen wahl auch im Dunkel des Gelebten, gar eines lebenskriiftig Unsichtbaren sich verlierende Zusammenhiinge: der zum Freund gewordene Verleger, den man ebensowenig , hat' wie jenen, mit dem man aber eben ein solcher geworden ist, hat werden durfen. Neben dem Gewahrwerden solcher Spur fiigen sich weitere Geschicke in den Zeichenhorizont der Freundschaft ein, die, mag noch jede Artikulation eines Wunschens ein offentlicher sein, doch immer intim bleibt injenem von Georges Bataille umrissenen Sinne, der das Gegenteil meint des Privaten und Abgesonderten, ein Allgemeines vielmehr, durch welches sich ein Personliches uberhaupt erst bedeutsam ausbildet, womit das allgemein Bewegende einer stofflichen Lebensenergie zum individuell Diversen wird und sich gerade darin als allgemeines erweist. Natiirlich ist ,solcher Art Freundschaft' immer etwas Gegebenes inmitten der Bucher, des Gedenkens, Erinnerns, Entwerfens, der Archive und Verweise, Dokumente und Referenzen, Transformationen und Aufarbeitungen, Weiterfiihrungen und Umwiilzungen, Au.flosungen und Aujhebungen, Ruckfuhrungen und Ruckgriffe. Aus, wie gesagt, sich fugendem An/ass erweist sich nun unumgiinglich und chancenreich, an ein Buch und seine Rezension, auch an eine fruhere Freundschaft zu erinnern, zudem und zugleich, wiewohl peripher, ja gar marginal, an ein kultur- und zeitgeschichtlich von seinem Gestus her bedeutsames und bezeichnendes Stuck Archiiologie, das in Gegenwiirtigkeit wieder eintreten zu lassen dem heutigen Versuch bestens zu entsprechen vermag. Nach uber einem Vierteljahrhundert- so wenigstens die Hoffnung- mag auch der Stoff, mit dem dieses Preis en transportierbar wird, sich als interessant genug erweisen, zumal, wenn sich die Zusammenhiinge vom biographischen Berichten oder gar einem nachsinnenden Eingedenken einer bloj3 vergangenen Zeit strikte fernhalten. Welch' letzterer Modus der Erfahrung der Zeit als einer sich

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erfiillenden wie entziehenden, verrinnenden wie reich sich erweisenden nicht unangemessen ist. Es ergibt sich demnach eine zunachst geheime, dann ins Evidente drangende Erinnerung an ein unvermeidlich ungliickliches Ende einer weiteren oder ,anderen 'Freundschaft. An einen Freund von ganz ahnlicher menschlicher, charakterlicher Beschaffenheit, verbindlich, zuverlassig, zupackend, lebensnah, bejahend in allem aufberiihrende, zuweilen indirekte, gar verstellte, immer zuriickhaltende Weise. Die Trivia/ita! und Schmach des Sterbens hat sie damals, nicht unerwartet, da medizinisch voraussehbar, aber doch fiirchterlich schnell, zum Schluss dann geradezu abrupt beendet. Dennoch iiberdauert manches die starkste Anti-Utopie, die der Tod darstellt. Und so sei heute ein Text erinnert, den RudolfM Luscher (1948-1983), der hier gemeinte, vie! zu friih verstorbene Freund als Rezension meinem ersten Buch gewidmet und mir geschenkt hat, das, wie er richtig gesehen hat, nicht ein iibliches, sondern der Form nach ein besonderer Versuch war (ein visueller Roman oder ein durch die Bildarchive der neueren Kunstgeschichte streunender foto-romanzo). Dazu ist nichts weiter beizubringen, auch nichts nachzutragen zu den exemplarisch kontingenten Umstanden, die ,Nacht im Feuer' in der zweiten Halfte der 1970er Jahre nach und nach hat entstehen lassen in durchaus zeittypischer Weise, ist doch mindestens ein typologischer Motivstrang gerade heute, wenn auch kontrafaktisch und ziemlich missmutigfestgestellt, offenkundig: Was namlichfiir utopischobsessive Energien aujbrechender Sozialitat die bleiernde Zeit des deutschen Herbstes bedeutet hat, die heute in so grotesker Weise als Farce im fatal ritualisierten Abstand dreier Dezennien, nein, nicht gefeiert, aber doch wieder beschworen wird, als ob man sich, wie schmerzend auch immer, dennoch gerne an eine Zeit erinnert, in der es noch urn etwas ging im Leben und man noch , an demselben war', wie der Sprachgebrauch iiblicherweise setzt... Was waren Stoff, was die soziokulturelle Situation? Der schwarzromantische Bezug, die Jugendrevolten, die Verzweiflung, das Obsessive, Lebensfeindliche dieser Jahre haben nach der zeitgeschichtlich empfundenen Skepsis in der Echtzeit der spaten 1960er Jahre mir bestimmte Aspekte der DOORS und besonders des so abgriindigen wie zwiespaltigen Jim Morrison erst spater erschlossen, in einer Weise zudem, die unvermeidlicherweise getrankt war von den Verwerfungen der Punk-A.ra, auch gepragt von einer Skepsis gegeniiber einer allzu drastisch artikulierten schwarzromantischen Emphase einer Patti Smith, so begeisternd ihr Auftreten damals auch manchem von uns erschien. Dass aufier der

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unbedingt verlockenden Militanz- die spates tens nach dem Stones-Konzert in Altamont und besonders dem morderischen Wuten der Charles Manson-Clique bezuglich jeder Art von Satanismus ihre Unschuld verloren hat, selbst in Gestalt des episodischen Kitschs eines immer wieder nach(auj)gelegten Alister Crowley-Kultes- der Surrealismus, die apokalyptischen Bildphantasien der Neuzeit seit Griinewald und Bosch, aber auch Artaud, Nietzsche und Rimbaud eine besondere und zudem keineswegs beliebige, sondern priizise und kundige Rolle gespielt haben, konnte sich erst aufdem Umweg einer Vergegenwiirtigung der HighBrow-Anteile im Massenkonsumismus einer auf Kontestations-Etikette spezialisierten Rock-Musik erschliej3en. Eben das warder Stoff des Buches mitsamt der Rezension, die Rudolf M Luscher fruh nach dessen Erscheinen (for ihn ikonographisch sofort lesbar als Zeuge der Asthetik der neuen urbanen Kiimpfe und sozialen Konflikte an der Schwelle der I980er Jahre) im ,Zeitdienst zur sozialistischen Information und Diskussion' vero.ffentlichte, einem Organ, das injenen Jahren durch ihn zu einem entschiedenen Aujbruch aus kommunistischer Orthodoxie gefiihrt wurde. Nur noch dem Erscheinungsbild nach sektiererisch, im Geiste aber entschieden welto.ffen und gegen die a/ten Autoritiiten des Parteikommunismus kiimpferisch und dissident ausgerichtet, bewirkte der neue ,Zeitdienst 'Debatten, die mit allen erdenklichen Konfiikten einhergingen, die bis in die Historiographic ebenso exemplarischer wie umstrittener , kommunismustauglicher' Lebensgeschichten hinein reichten, mitsamt einigen verfehmten Gedanken uber ein notwendiges Desertieren aus den Mythologien und Dogmen leninistischer Revolutionsphantasien. , Verrat als Befreiung'- das war reale Dissidenz damals, aber immer eine moralische, nicht delegierbare personliche Entscheidung, eine existenzielle Wahl. ,Immer auf der falschen Seite ', aber: in Bewegung... Zum Hintergrund: Der Zeitdienst zur sozialistischen Information und Diskussion wurde nach dem zweiten Weltkrieg in der Schweiz, angesichts der vehementen Verfolgung und A"chtung der Kommunisten als Inbegri.ff des Satanischen nicht nur aus der Sicht rechter kalter Krieger, gegrundet und war bis zuletzt im Kern klandestin konzipiert. Als Informationsorgan und mehr noch als Kommunikationsmedium diente der Zeitdienst auch seinem Grunder, Vertreiber und Agitator, dem Buchhiindler, Kommunisten, politischen Triiumer und libert(in)iiren Improvisator Thea Pinkus als Treibstoff, Totem und zugleich Erkennungszeichen in einem gegenliiufig zu den Fronten des kalten Krieges entwickelten europiiischen ,Netz-Werken '.Luscher priigte in seinen letzten Lebensjahren den 3I. bis 35. Jahrgang dieses wochentlich erscheinenden, von ihmjeweils am

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Montagabend geschriebenen und redigierten, am Dienstag in der Klendruckerei eines Genossen noch in Blei gesetzten undper Kolportage und Abonnementen Getreuer vertriebenen, wochentlich erscheinenden Organs, das in jenen Jahren der Jugendunruhen mit einigen Uberraschungen au.ftvartete, die allesamt auf insistentes Einklagen eines situativen Vitalismus (, Grammatik des Lebens ') gegen Parteipolitik (, autoritare Codierungen des Symbolischen ') hinausliefen. Der erste Erscheinungsort dieser Rezension- aufgenommen in den ersten postumen Essay-Bandmuss nachfolgend in Erinnerung gehalten werden. Er war damals beispiel/as, hielt doch - was aus heutiger Praxis obszoner Spektakel-Inszenierung auf allen Seiten des sozialen und politischen Spektrums her kaum mehr vorstellbar ist - keine politische Partei etwas davon, sich in die Abgriinde und dialektischen Verirrungen eines jugendkulturellen Massenkonsums namens ,Rock-Musik' hineinzubegeben. Unbesehen der Inhalte namlich war alles, was dort stattfand, dem Prinzip des Massenkonsums und der idea/iter unbegrenzten, instantanen media/en Multiplikation verp.fiichet- eine Diagnose, die }a fiir aile erst heute in ganzer akustischer wie audiovisueller Harte evident wirklichkeitsbestimmend geworden ist. Die Markierungen der Verbindungen sehen tentativ so aus: Das Buch der Rezension, diese der Freundschaft und dies alles als Aktualgenese der zu feiernden Verbindlichkeit und Zugeneigtheit im Zeichen der Bucher, Netze, Vertrautheit, Verlasslichkeit- dafiir gibt es geniigend substanzielle Griinde. Im Zeichen unverfiigbarer Kontingenz aber, die uns !angst zwingend zur ersten Natur (Haut) geworden ist, reichen Griinde nicht aus, um wirklich zu werden oder Reales entstehen zu lassen. Es bedar! eines Anstofies, eines A us lOsers, eines Dritten, einer Bezugnahme. Was war hier, fiir meinen Beitrag, das tertium comparationis, das Bindeglied, der Transmissionsmechanismus? Auslosend (oder schon Ausdruck dessen, was sich bereits seit langerem unbewusst konzentriert hat und sich nun einfach kristallisierte?) war ein Besuch beim Verleger und Freund in seinem Haus, in dem, was mitzuteilen sicher nicht Geheimnisverrat ist, markante Zeichen seiner bekannten Verehrung des , Mr Rock and Roll', von Keith Richards also, zu sehen waren, aber auch,fiir mich eher iiberraschend, wei! die Musik der DOORS so ganz anders gelagert ist als die der Stones, ein iiberlebensgrofies Poster (Brust-Portrat) von Jim Morrison. Dies - kontigenterweise - wenige Tage nach dem Eintreffen der Einladung sehend, an diesem Buch mitzuwirken, ergab sich von hier aus, und gerade wegen der Fokussierung auf,Sympathy for the Devil" eine ungeheuer intensive (instantan implodierende, was hier

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heiftt: signifikant werdende) Verschachtelung der Motive: ,Nacht im Feuer', Ende der 70er Jahre, Riickgriffauf das Jahrzehnt davor, spezifische Erfahrungen mit der Rock-Musik- in meinem Faile friih und in drastischer Weise skeptisch gefiltert durch ganz andere Neigungen, die sich der experimentellen elektronischen Musik, Beckett und Cage, dem Jazz und Free Jazz geradezu hemmungslos zuwandten und aus dieser Optik, mindestens bis zur letzten wahren Revolution in der Musik, Miles Davis' Bitches Brew, nur Jimi Hendrix und Frank Zappa gelten liefJ, aber schon nicht mehr Velvet Underground, die ich fiir damals schon fiir drastisch iiberschiitzt hielt (der Rest war ohnehin ,Pop' .. .).

Genug nun und vorab der erinnerten, informationsnotwendigen Umstiinde. Es sei in Dankbarkeit, Respekt und gliicklicher Empfindung dem

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spiiteren Freund die Hommage des friiheren Freundes an eine experimentierende Buchform nun dargebracht, deren Gehalt besser als alles heute explizierbare darlegt, was es aus meiner Siehl mit der Dialektik der schwarzen Romantik und den Verwerfungen des Teuflischen, als Organon wie als Heuristik, als Untersuchungsperspektive mehr denn als ein artikuliertes Lebensgefiihl auf sich hat. , Pleased to meet You ... "damals wie heute meint es dassel be, in verschiedenen Menschen als Eines wirkende.

2. Rudolf M. Luscher, Die Gitarre und der Griffe I. Zu H. U. Reeks Buch Nacht im Feuer (Biicherkarawane, Adliswil, 1981, 256 Seiten).

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Jim Morrison lebte von 1943 bis 1971. Er warder Sanger der Rockgruppe ,The Doors". Seine Texte schrieb er selber; neben Liedertexten auch Gedichte (eine Auswahl ist in Ubersetzung erschienen bei Karin Kramer, Berlin: Die Herren und die neuen GeschOpfe, 1977; Obs. R. Fischer,W. Reimann). Eines seiner Lieder heisst ,Light my fire", Ztind mein Feuer an. Hans Ulrich Reck ist ein paar Jahre jtinger, schreibt eine philosophische Dissertation und war in letzter Zeit einige Male im ,Zeitdienst" zu lesen. Eine alte Konvention sagt, Bucher von Freunden solle man nicht rezensieren, das trtibe die Objektivitat. Da die Objektivitat des Rezensenten sich normalerweise aus dem Klatsch zusammensetzt, der bei Parties und Redaktionssitzungen aufzuschnappen ist, interessiert mich diese Konvention nicht, im Gegenteil: Wenn ein Freund ein Buch schreibt, Hier urn einen letzten Abschnitt gekiirzter Text, erstmals erschienen in: Zeitdienst Nr. 29/30 vom 24. 7. 1981, Zurich; wieder abgedruckt in: RudolfM. Luscher: Einbruch in den gewohnlichen Ablauf der Ereignisse. Analysen, Kommentare, Berichte 1978-1983, hg. v. Pierre Bachofuer, Mathias Eidenbenz, Hans Ulrich Reck, Zurich: Limmat Verlag 1984, S. 266-274.

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dann gehOrt das Buch in die Freundschaftsgeschichte, und zu einer Geschichte gehoren zwei Stimmen. Buch und Rezension sind die offentliche Seite einer Freundschaftsgeschichte, Objektivitat iiberlassen wir den Statistikern. In den sechziger Jahren erregte Marshall McLuhan, ein kanadischer Literaturprofessor, mit der Behauptung einige Aufmerksamkeit, das Zeitalter der Schrift gehe zu Ende. Die Schrift folge einer graden Linie und zerstiickele die Welt in Buchstaben. Damit sei kein Leben mehr zu rnachen. Das Leben bewege sich in Strudeln, Vernetzungen, Querverbindungen. Es finde die ihm gemasse Darstellung in den elektronischen Medien, die den Zuschauer in sich hineinsaugen und in einem Strudel von Informationen sich drehen liessen, die nicht mehr sauberlich zersti.ickelt und in alphabetische Kastchen sortiert werden konnen. Wie so mancher BlOdsinn der sechziger Jahre zehrt auch diese Behauptung von einer unzulanglichen Unterscheidung zwischen digitaler und analogischer Informationscodierung. Da ein TV-Bild aus punktierten Linien zusammengesetzt ist, ist nichts linearer und digitaler als das TV-Bild; in der Schrift gibt es wenigstens Kleckse, das Papier saugt Tinte und Druckerschwarze auf und verteilt sie ungleichmassig auf seiner Flache. Der Bildschirm und die versprochene digitate Schallplatte widerlegen die Behauptung vom Ende der Schrift ganz material. Und doch ... der Erfolg der Behauptung vom Ende der Schrift lasst vermuten, dass etwas dran war. Nicht die materialistische Interpretation: die Welt werde anders, weil die Zeichentrager anders wiirden. Aber die vermittelt materialistische Behauptung: unsere Kopfe funktionierten nicht mehr wie Registraturen. Marshall McLuhan hat unter den Belegen fur seine Behauptung einen gebracht, der weiterhilft: ,Die Leute lesen eigentlich Zeitungen gar nicht; sie steigen in die Blatter wie in ein warmes Bad." Wir konnen uns das vielleicht so zurechtlegen: die Schrift beginnt mit der Registratur; damit der Staat seinen Uberblick tiber Ochsen, Sklaven, Getreide behalten kann, verfallt er auf die Buchhaltung. Wenn jemand die Regeln des Zeichengebrauchs kennt, scheint ihm die Registratur nichts Unheimliches, sondern eine Gedachtnissti.itze. Wer diese Regeln nicht kennt, dem wird die Registratur unheimlich: Es wird nicht klar, ob die wirklichen Ochsen jetzt in der Registratur weiden oder auf der Wiese. Wem die Schrift gehOrt, dem gehOren die Ochsen - und nicht dem, der sie auf die Weide treibt. Das macht die Schrift zugleich anziehend und abstossend; die Zeichen machen Angst und Lust (der Spur nach konnen wir das alle aus unserer Geschichte erinnern, namlich daran, wie wir den Unterschied von Miinzgeld, Papiergeld, Checks und Geld, das

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sich bloB noch als Marke auf einem Magnetband ,verkorpert", kennengelemt haben. Wir verstehen ihnja nicht; wir wissen nur, dass er gegen uns gezielt ist. Aber wir wiirden gem dahinterkommen - wie die Leute, die den Computer so gut kennenlemen, dass sie ihn bemogeln konnen). Der Umgang mit der Schrift ist eine Frage der Macht: des Zugangs zu ihren Schreibregeln. Dieser Zugang wird seit Jahrhunderten umkampft, und es mag geschienen haben, als wtirde die allgemeine Schulbildung die Schrift in die Han de aller Menschen geben. Wir wissen mittlerweile, dass diese Hoffnung getrogen hat und dass Alphabetisierung die Herrschaft der Zeichenspezialisten noch lange nicht zerschlagt. (In den USA spricht man mittlerweile gem von funktionalemAnalphabetismus: zwar konnen die meisten Menschen schreiben, aber es ntitzt ihnen nichts. Das Geheimnis der Schrift, in dem sich gesellschaftliche Herrschaft niederschlagt, bleibt erhalten.) Zugleich, und das ist hier entscheidend, verwandelt sich in der Neuzeit das Geheimnis. Wir konnen, vergrobemd, tiberspitzt, sagen: Das Geheimnis der Schrift sei das Geheimnis der Buchhaltung. Zu den Triumphen des Kapitalismus gehOrt, dass er die meisten Menschen in den Metropolen zu Buchhaltem gemacht hat: unter kapitalistischen Verhiiltnissen Iemen die meisten rechnen, vor all em mit sich seiher. Marx hat das den Lohnvertrag genannt, und Marx hat gezeigt, dass die Durchsetzung kapitalistischer Verwertungsverhaltnisse an die Durchsetzung der rechnerischen Verstandigkeit gebunden ist: der Kapitalismus kann nur funktionieren, wenn aile von ihm vergesellschafteten Menschen buchhalterische Fahigkeiten erwerben. Insofem ist das Geheimnis der Schrift in der Neuzeit tatsachlich aufgelost worden- auch wenn die meisten unter uns nichts davon haben. Zugleich, und das ist die aktuelle Phase des Kapitalismus, werden die uns aufgezwungenen buchhalterischen Fahigkeiten vergleichgtiltigt. Die Umstellung der kapitalistischen Produktionsweise auf die Herstellung von Massenkonsumgtitem ersetzt den Buchhalter durch den Adressaten der Werbung, Wir wollen, damit der Konsumgtiterabsatz klappt, nicht mehr so vie! rechnen (wir dtirfen uns daftir verschulden). Auf dieser Stufe setzt McLuhans Vermutung an, die Schrift gehe zu Ende. Insofem uns die Schrift zu Rappenspaltem erzieht, stellt sie sich dem kapitalistischen Massenkonsumprojekt entgegen. (Die alternative Kultur des Konsumverzichts halt da, oft gegen ihre Selbsteinschatzung, dem traditionellen buchhalterischen Kapitalismus die Treue, und ihr Ungltick ist vielleicht, dass sie weit eher den protestantischen Asketen des siebzehnten Jahrhunderts einleuchten konnte als uns Kindem des spaten Kapitalismus.) Zugleich miisste der Kapitalverwertungsprozess in die Binsen ge-

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hen, wenn wir nicht mehr nachrechnen wollten oder konnten. Man kann das einen Widerspruch nennen: die kapitalistische Durchsetzung der Verstiindigkeit miindet in eine okonomische Struktur, die sich von der Verstiindigkeit, die sie erzwingt, gerade nicht mehr jene Wachstumsraten versprechen kann, die sie zur Erhaltung ihres Zwangs notig hiitte. An diesem Widerspruch setzt die ,.fugendkultur" ein, die in der Iangen kapitalistischen Konjunkturperiode der funfziger Jahre losgeht. Es ist eine Kultur, die das Geheimnis der buchhalterischen Schrift nicht mehr zu erringen braucht: sie bekommt es in den Schulen schon aufgezwungen, und ausserhalb der Schulen schreit ihr von allen Plakatwiinden die Wahrheit tiber diese Schrift entgegen: sie macht lustlos. Wenn diese Kultur mit der Schrift bricht, dann nicht aus Verzweiflung vor ihrer Schwierigkeit, sondem aus Ekel und Uberdruss vor den diirren Verstandestiitigkeiten, die diese Schrift ermoglicht, und sonst nichts. (Und bier bildet sich eine kaum auflosbare Spannung zwischen der Jugendkultur und der Kultur der kiimpferischen Arbeiterklasse. Die Bildungsarbeit der Arbeiterklasse zielte aufdie Eroberung der Schrift. Die Arbeiterklasse glaubte an das Geheimnis der Schrift. Sie wollte es erobem, urn es besser auszulegen. Durruti, in den dreissiger Jahren, riiumte Banken aus, urn einen Verlag zu finanzieren, der die Klassiker in preiswerten Ausgaben publizieren sollte- die Klassiker Cervantes, Calderon, Lope de Vega. Einer spiiteren Kultur wird noch der Bankraub einleuchten, aber nicht mehr das Verlagsprojekt. Die Sprecher der Arbeiterbewegung haben denn auch der neuen Jugendkultur verstandnislos und feindselig geantwortet. Sie sahen in ihr nichts als das Produkt kapitalistischer Manipulation, einen Vorliiufer der totalen Eingliederung in die Welt der Werbung. Sie sprachen der jugendlichen Revolte aile Rechtstitel ab, weil sie in dieser Revolte nur die Zuckungen des be Iiebig verfugbaren Konsumenten sehen wollten. Das war in einem nicht falsch: niimlich in der Einsicht, dass die Jugendkultur der kapitalistischen Massenkonsumstrategie antwortete; aber in einem auch falsch, niimlich in der Uberschiitzung eben dieser Strategie: sie mag sich die Zeichentriiger- die Schallplatten etwa- verftigbar mac hen, aber nicht die Wirkungen dieser Zeichen. Die Rolling Stones kann man kaufen, aber die zertriimmerten Sale gehOren nicht ins Programm: an diesem kleinen Widerspruch, den Zurich 1968 kennenlemte, liiuft die sozialistische Kritik der Jugendkultur auf. Wie der ,Vorwiirts" unliingst vorgefuhrt hat, ist in den letzten zwolf Jahren bei den Vertretem der Arbeiterkulturbewegung nicht vie! abgelaufen; die Junge Sektion hat sich 1968 vergeblich Miihe gegeben, ,Rebellion ist berechtigt" zu sagen. Aber es geht bier nicht einfach urn die mangelnde

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Lemfahigkeit der Exponenten. Es geht urn einen lebensgeschichtlich wirksamen und schmerzlichen Bruch zwischen der Arbeiterkultur, die das Erbe der burgerlichen antreten und dieses Erbe menschlich verwalten wollte, und der Jugendkultur, der dieses bfirgerliche Erbe nicht mehr antretenswert scheint: nicht so jedenfalls, wie es der Erbgang nahelegt, auf den sich die Arbeiterbewegung verpflichten liess. Dieser Bruch wird sich ohne Preisgabe des Erbgedankens nicht schliessen lassen: vermutlich darum uberhaupt nicht, und daran haben wir schwer zu tragen. Vor allem die 68er, durch die der Bruch mitten hindurch geht.)

Radio, die Secle der Nation, durchrast den Raum. The Eve of Destruction und The U niversal Soldier. Im Radio, nach Texas hinein. G runz.en und Kreischen und Schreien. Ge~Chrei nach

Hirn N achdem unsere GewaJtt!itigkeit Ja hr um J ahr unvermindert anhAlt. bin ich in die Mitte

Amerik:as zulilck.gekehrt und prophezeihe gegen d iese meine eigene Nation, die sich benebeln

Hess von einem hypnotis.chen

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