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German Pages 416 [418] Year 2021
Michaela Maria Hintermayr Suizid und Geschlecht in der Moderne
Michaela Maria Hintermayr
Suizid und Geschlecht in der Moderne Wissenschaft, Medien und Individuum (Österreich 1870–1970)
ISBN 978-3-11-066021-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066425-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066032-6 Library of Congress Control Number: 2021943074 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: olgaecat / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Untersuchungsgegenstand
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Kapitel 1 Das Sprechen über suizidales Verhalten Genealogie, Geschlecht und grundlegende kulturelle Skripte
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Kapitel 2 Vom Crescendo zur großen Bühne Oder die Angst vor einer Gesellschafts- und Geschlechterkrise (1870 – 1914) 55 Kapitel 3 Kur mit Katastrophenantlitz Suizidalität und Geschlecht im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918)
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Kapitel 4 Fiebrige Zwischenkriegszeit Ökonomie, Arbeiter*innen, Jugendliche – Krise überall? 188 (1918 – 1938) Kapitel 5 Untergänge Suizidales Handeln im Nationalsozialismus (1938 – 1945) Kapitel 6 Pathologisches Paradigma: durchgesetzt Die Nachkriegszeit (1945 – 1970) 292 Fazit
349
Anhang
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Register
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Untersuchungsgegenstand Suizidale Handlungen¹ von Frauen* wurden und werden anders interpretiert und theoretisiert als jene von Männern*.² Während letzteren ein stark ausgeprägter Todeswunsch und eine durchaus rationale Intention attestiert wurden, galten Suizide von Frauen* als emotional und weniger ernstlich motiviert. Ein ähnlich dichotomes Muster ließ sich auch bei Suizidversuchen feststellen. Selbsttötungsversuche von Frauen* wurden häufig mit erpresserischen oder hilfesuchenden Absichten erklärt. Bei Männern* begnügte man sich hingegen oft mit der These eines missglückten Suizids. Geschlechter, Sexualitäten, Begehren und vergeschlechtlichte Körper jenseits der heteronormativen Matrix standen im Ruf, besonders vulnerabel zu sein.³ Ihr suizidales Verhalten wurde häufig entlang des zuvor ausgeführten weiblichen Schemas expliziert. Diese Beobachtungen warfen Fragen nach dem Warum, dem Wie und den daraus hervorgehenden Konsequenzen auf, die mittels einer Diskurs- und Metaphernanalyse sowie einer Untersuchung der Kollektivsymbole und der Normalitätsproduktion ergründet wurden. Durch die Kombination von Ansätzen aus der soziolinguistischen Diskursanalyse, der kognitiven Linguistik und der dekonstruktivistischen Geschlechterforschung besitzt die vorliegende Arbeit einen ausgesprochen interdisziplinären Charakter. Ihre Ziele liegen in der Aufdeckung der Herrschaftsverhältnisse und der Dekonstruktion der nach Geschlecht geschiedenen suizidalen Subjekte. Darüber hinaus soll gezeigt werden, welche gewichtige Rolle die Wissenschaft bei der Produktion von sozialer Bedeutung und Ordnung spielte. Die deutschsprachige Suizidforschung, hauptsächlich betrieben von Psychiatrie und Psychologie, widmete sich solchen Themen bisher kaum und konzen Diese Arbeit präferiert zur Beschreibung des selbstgegebenen Todes die Nominalkonstruktionen des suizidalen Verhaltens und der suizidalen Handlung sowie der Selbsttötung bzw. der versuchten Selbsttötung, wobei in der Regel dem ersten Begriffspaar der Vorzug gegeben wird, da es einerseits keine klare Trennbarkeit der suizidalen Szenarien suggeriert und es andererseits mehr Nuancierungen und sprachliche Flexibilität zulässt. Obwohl diese beiden Begriffsgruppen zurückhaltender auftreten als jene rund um den „Selbstmord“ und den „Freitod“, sind sie keineswegs wertneutral oder objektiv, wie insbesondere gerne von medizinischer oder juristischer Seite behauptet wird.Während der Begriff des Suizids nicht ohne eine pathologische und deviante Komponente auskommt, steht jener der Selbsttötung noch immer in nächster Nähe zu der im Strafgesetz verankerten Tötung. Um die Vorstellung zu dekonstruieren, dass Frauen* und Männer* per se cis-heterosexuell seien, verwendet diese Arbeit das Asterisk. Magnus Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (2., um ein Vorwort von Bernd-Ulrich Hergemöller ergänzte Neuauflage der Ausgabe von 1984, Berlin/New York 2001) 902. https://doi.org/10.1515/9783110664256-001
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trierte sich hinsichtlich des Genderaspekts vor allem auf die Erhebung und Interpretation von epidemiologischem Material.⁴ Eine Ausnahme davon stellt die Dissertation der Soziologin Eva Eichinger dar, die sich mit den in die Suizidprävention eingeschriebenen Machtverhältnissen und geschlechtsspezifischen Adressierungen beschäftigt hat.⁵ Die epidemiologisch-quantitative, spezifische Vulnerabilitäten herausarbeitende Forschungsperspektive dominiert auch im internationalen Kontext.⁶ Davon heben sich die Arbeiten von Benigna Gerisch⁷, Christina Rachor⁸, Katrina Jaworski⁹, Silvia Sara Canetto¹⁰ und Howard Kushner¹¹ ab, welche die gängige, an Geschlechterstereotypen orientierte Interpretationspraxis kritisieren. Die dominante Stellung von Psychiatrie und Psychologie produzierte auch eine Hierarchie der präferierten, das heißt in den High-Impact-
Beispielsweise: Gernot Sonneck, Claudius Stein, Martin Voracek, Suizide von Männern in Österreich. Statistisch-epidemiologische Untersuchung zur Suizidproblematik von Männern in Österreich (Wien 2003). Eva Eichinger, Suizidär. suizidal. suizidant. Suizid als pathologisches Phänomen? Diskurs, Genealogie, Analyse (Wien 2010). Ronald W. Maris, Alan L. Berman, Morton M. Silverman, Suicide, Gender and Sexuality. In: Ronald W. Maris, Alan L. Berman, Morton M. Silverman, Comprehensive textbook of suicidology (New York 2000) 145 – 169. Enrique Baca-Garcia, Mercedes Perez-Rodriguez, John Mann, Maria A. Oquendo, Suicidal Behavior in Young Women. In: Psychiatric Clinics of North America 31/2 (2008) 317– 331. Jose Catalan, Sexuality, Reproductive Cycle and Suicidial Behavior. In: Keith Hawton, Kees van Heeringen (Eds.), International handbook of suicide and attempted suicide (Chichester/ GB 2000) 293 – 308. Benigna Gerisch, Die suizidale Frau. Psychoanalytische Hypothesen zur Genese (Göttingen 2003); Benigna Gerisch, „Sterbe ich vor meiner Zeit, nenn’ ich es noch Gewinn“. Weiblichkeit und Suizidalität – Eine quellenkritische Sichtung traditioneller Erklärungsmodelle. In: Regula Freytag, Thomas Giernalczyk (Hg.), Geschlecht und Suizidalität (Göttingen 2001) 68 – 83; Benigna Gerisch, Reinhard Lindner, Die suizidale Frau. In: Anita Riecher-Rössler, Johannes Bitzer Hg., Frauengesundheit. Ein Leitfaden für die ärztliche und psychotherapeutische Praxis (München 2005) 193 – 201; Ines Kappert, Benigna Gerisch, Georg Fiedler (Hg.), Ein Denken, das zum Sterben führt. Selbsttötung, das Tabu und seine Brüche (Göttingen 2004). Christina Rachor, Selbstmordversuche von Frauen. Ursachen und soziale Bedeutung (Frankfurt/M. u. a. 1995); Christina Rachor, Der „weibliche Suizidversuch“. Geschlechterstereotypen und suizidales Verhalten von Mann und Frau. In: Regula Freytag, Thomas Giernalczyk (Hg.), Geschlecht und Suizidalität (Göttingen 2001) 45 – 68. Katrina Jaworski, The Gender of Suicide. Knowledge Production, Theory and Suicidology (Farnham 2014). Katrina Jaworski, The author, agency and suicide. In: Social Identities 16/5 (2010) 675 – 687; Katrina Jaworski, ‘Elegantly wasted’: The celebrity deaths of Michael Hutchence and Paula Yates. In: Continuum 22/6 (2008) 777– 791. Silvia Sara Canetto, She Died for Love and He for Glory: Gender Myths of Suicidal Behaviour. In: Omega 26 (1992– 1993) 1– 17; Silvia Sara Canetto, David Lester (Eds.), Women and Suicidal Behavior (New York 1995). Howard I. Kushner, Women and Suicide in Historical Perspective. In: Signs 10 (1985) 537– 552.
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Journals publizierten, Forschungsdesigns, Methoden und Foci. Dahingehend werden voll-experimentelle Designs gegenüber quasi- und nicht-experimentellen Forschungssettings bevorzugt, genauso wie sich Mehrfach- eher gegenüber Einzelstudien durchsetzen können und wie Längsschnitt-Studien mit besseren Publikationschancen rechnen dürfen als solche mit Querschnittscharakter. Ähnliches gilt für den Vorrang von quantitativen Studien gegenüber solchen qualitativer Natur.¹² Vor diesem Hintergrund blieb die Anzahl der qualitativen Forschungsansätze in den Top-Journals der Suizidforschung in den Jahren 2005 bis 2007 unter drei Prozent.¹³ Verschärfend kommt hinzu, dass Heidi Hjelmeland 2015 nach einer neuerlichen Auswertung der zentralen Journals und deren Output den ernüchternden Schluss zog, dass die hauptsächlich bekannte Risikofaktoren¹⁴ thematisierenden Studien „were unable to provide much new or useful knowledge“¹⁵. Die vorliegende Arbeit setzt bei diesen offensichtlichen blinden Flecken und dem Mangel an innovativen Ansätzen zur Erforschung suizidalen Verhaltens an. Sie leistet grundlegende und weitreichende Impulse, indem sie ein qualitatives, interdisziplinäres und sowohl längs- als auch querschnittorientiertes Forschungsdesign wählt. Gleichzeitig trägt sie durch den Fokus auf Geschlecht dazu bei, einen Bereich zu erhellen, der besonders von Mythen- und Legendenbildungen sowie von Stereotypen durchzogen ist – ein Zuschnitt, der den Blick auf
Thomas Joiner, Scientific Rigor as the Guiding Heuristic for SLTB’s Editorial Stance. In: Sucide and Life-Threatening Behavior 41/5 (20111) 471– 473. Heidi Hjelmenland, Bertha Knizek, Why We Need Qualitative Research in Suicidoloy. In: Suicide and Life Threatening Behavior 40/1 (2010) 74– 80. Depressionen gelten als zentraler Risikofaktor für eine Selbsttötung. Diese Aussage wird allerdings von der Suizidstatistik konterkariert. Obwohl bei Frauen* depressive Störungen viel häufiger als bei Männern* diagnostiziert werden, überwiegen die in den Todesursachenstatistiken ausgewiesenen männlichen Suizide deutlich. Als Erklärung für dieses Paradoxon wird in der Regel auf eine mangelhafte, von Geschlechterstereotypen beeinflusste Diagnosepraxis hingewiesen. Sebastian Scherr, Depression – Medien – Suizid. Zur empirischen Relevanz von Depressionen und Medien für die Suizidalität (Wiesbaden 2016) 64. Gleichzeitig schlagen Kristen L. Syme und Edward H. Hagen eine veränderte Lesart von Depression, Angststörung und Posttraumatischer Belastungsstörung vor: und zwar als adaptive Reaktionen auf soziale Widrigkeiten. Damit verliert sich ihr pathologischer Charakter und sie erscheinen als aversive, aber gleichzeitig lernende Handlungsweisen. Das würde auf soziale Probleme hinweisen, welche keiner medizinischen Lösung bedürfen. Stattdessen wären soziale Antworten notwendig. Kristen L. Syme, Edward H. Hagen, Mental health is biological health: Why tackling „diseases of the mind“ is an imperative for biological anthropology in the 21st century. In: Yearbook of Physical Anthropology 171/Suppl. 70 (2020) 87– 117. Heidi Hjelmeland, A Critical Look at the Current Suicide Research. In: Jennifer White, Ian Marsh, Michael Kral, Jonathan Morris (Eds.), Critical Suicidology. Transforming Suicide Research and Prevention for the 21st Century (Vancouver 2016) 31– 55.
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das Individuum verstellt und eine Begegnung auf Augenhöhe verhindert. Vor diesem Hintergrund analysiert diese Arbeit nicht ‚nur‘, wie über den selbstgegebenen Tod gesprochen wurde und wie die suizidalen Subjekte konstruiert und konstituiert wurden, sondern auch, wie sich diese selbst geäußert und positioniert haben. Mit dem gewählten Forschungsdesign gelingt es, den gesellschaftlichen Umgang mit suizidalem Verhalten in seiner Breite und Tiefe darzustellen – ohne eine etwaige Priorisierung von wissenschaftlichen oder statistischen Aussagen. Solcherart schließt die vorliegende Arbeit nicht nur eine Forschungslücke, sondern sucht auch den Brückenschlag zu allen Disziplinen, die an der Erforschung suizidalen Verhaltens interessiert sind, und darüber hinausgehend zu sämtlichen Stimmen im Diskurs. Um den Diskurs und seine (Dis)Kontinuitäten und Entwicklungen analysieren zu können, empfahl sich als Forschungsgegenstand Österreich im Zeitraum 1870 bis 1970.¹⁶ Österreich stellte ein Land hoher und höchster Suizidraten dar, wobei der zentrale Anstieg in den 1870ern einsetzte und erst in den letzten Jahrzehnten ein stabiler Rückgang stattfand.¹⁷ Auch wenn mittels der Suizidstatistiken das Forschungsgebiet eingezirkelt wurde, priorisierte diese Arbeit sie nicht.¹⁸ Sie profitierten zwar von einer Repräsentation als besonders aufschlussreich und wirklichkeitsnah, tatsächlich wurden sie aber – wie alle anderen Aussagen im Diskurs – von diesem selbst hervorgebracht. Mit dem Ansteigen der Suizidzahlen
Unter dieser Territorialbezeichnung wurde für den gesamten Forschungszeitraum das Gebiet des heutigen Österreichs verstanden. Der in den 1970er-Jahren einsetzende Psychoboom erkannte das Individuum als vulnerabel an. Und so begann sich der Bedarf an Therapie als ein zentrales gesellschaftliches Reformprojekt herauszuschälen. Damit verknüpft setzte sich auch ein neues Subjektivierungsregime durch. Dieses zirkulierte um die Verwissenschaftlichung des Sozialen und die Psychotherapie als emanzipative Selbsttechnik. Fortan wurde das neue Ideal von einem sozial und emotional kompetenten sowie flexibel und anpassungsfähigen Individuum verkörpert. Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren (Göttingen 2016) 9 – 18. In diesem Kontext fand auch eine nachholende Medizinisierung und Therapeutisierung von Männern* statt. Martin Dinges, Männergesundheit im Wandel: Ein Prozess nachholender Medikalisierung? In: Bundesgesundheitsblatt 59/8 (2016) 925 – 931. Eva Eichinger untersuchte den Suizid(präventions)diskurs und seine geschlechtsspezifischen Adressierungen von den 1970ern bis heute. Christoph Schwamm analysierte den Zeitraum 1948 bis 1993; allerdings mit einem Fokus auf Deutschland und männliche Subjekte. Christoph Schwamm, Krankheitserfahrungen männlicher Psychiatriepatienten in der alten Bundesrepublik 1948 – 1993 (Inauguraldissertation Universität Mannheim, Mannheim 2018). Die Erkenntnis, dass die Suizidstatistiken als soziale und kulturelle Konstruktionen zu begreifen sind, geht auf folgende Autoren zurück: Jack Douglas, The Social Meanings of Suicide (Princeton 1967). Michael MacDonald, Terrence R. Murphy, Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England (Oxford Studies in Social History, Oxford 1990).
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begann sich der Diskurs zu intensivieren, was nicht nur für Österreich zutraf, sondern für die meisten mitteleuropäischen Länder, da dort ebenso eine deutliche Zunahme konstatiert wurde. Ab dem Fin de siècle wuchsen die Suizidraten der Frauen* stärker an als jene der Männer* und in den 1940er-Jahren wurde dann eine beinahe paritätische Aufteilung erreicht.¹⁹ Suizidalität außerhalb der heteronormativen Matrix wurde in den offiziellen Statistiken vernachlässigt, daher lässt sich ihre Entwicklung nicht quantitativ skizzieren.²⁰ Sehr beschränkte Schlaglichter bieten die Schätzungen von einzelnen Forschenden und die Unterlagen einer kurzlebigen Wiener Präventionseinrichtung. Zur Intensivierung des Diskurses trugen nicht nur die Suizidstatistiken und deren breite Thematisierung bei. Eine mindestens so bedeutsame Rolle spielten die immer sichtbarer werdenden sozialen ‚Kollateralschäden‘ der industriellen Moderne. Galten doch die zunehmenden suizidalen Handlungen als eine Folge davon. Im Fin de siècle und in der Zwischenkriegszeit wurden die ‚Höhepunkte‘ des Diskurses erreicht, danach wurde der Suizid immer mehr zu einem psychiatrischen und psychologischen Spezialthema. Damit setzten sich auch deren Axiome und Paradigmen durch, die suizidales Verhalten auf ein aus dem Individuum erwachsendes Gesundheitsproblem reduzierten.²¹ Dieser Psychozentrismus drängte die soziale, kulturelle, politische und auch historische Komponente des selbstgegebenen Todes in den Hintergrund und verengte den Diskurs maßgeblich.²²
Norbert Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988. In: Zeitgeschichte 17/5 (1990) 209 – 225, hier 221– 222. Der Anstieg der Suizide muss allerdings auch in Korrelation mit der enormen Bevölkerungszunahme gesetzt werden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand. Nichtsdestotrotz war der Anstieg auch in relativer Hinsicht ein solcher. Um die Problematik der absoluten Zahlen zu umgehen und Populationen vergleichen zu können, wird in der Suizidforschung mit dem Begriff der Suizidrate gearbeitet. Dieser beschreibt, wie viele Personen einer Bezugsgröße von 100.000 sich selbst töten. Solange sich die Standesämter weiteren Geschlechtseinträgen nicht öffnen bzw. die Hürden senken, wird das auch so bleiben. „Specifically, suicidology generally draws on a settled ontology of what suicide is (i.e. a regrettable, self-inflicted, intentional, and tragic death that is linked to individual psychopathology.“ Jennifer White, Shaking Up Suicidology. In: Social Epistemology Review and Reply Collective 4/6 (2015) 1– 4, here 1. Heidi Rimke, Consuming Fears: Neoliberal In/Securities, Cannibalization, and Psychopolitics. In: Jeff Shantz (Ed.), Racism and Borders. Representation, Repression, Resistance (New York 2010) 95 – 113. Heidi Rimke, Deborah Brock, The Culture of Therapy: Psychocentrism in Everyday Life. In: Deborah Brock, Rebecca Raby, Mark P. Thomas (Eds.), Power and Everyday Practices (Toronto 2012) 182– 202.
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Forschungsstand und theoretische Grundlagen Historisch-suizidologische Arbeiten profitierten in den letzten Jahren von der Hinwendung der Geistes- und Kulturwissenschaften zu den kleinen Räumen, der Mikro- und Alltagsgeschichte. Als ein Beispiel sei Roger Paulins Arbeit über die Selbsttötung von Wilhelm Jerusalem erwähnt.²³ Suizid als kulturelle Praxis und als historisch-kulturelle Semantik zu untersuchen, hat sich dabei als eine lohnenswerte Perspektive erwiesen.²⁴ Besonders hervorzuheben ist in diesem Kontext die richtungsweisende Arbeit Der Richter im Ich. Die Semantik der Selbsttötung in der Aufklärung von Andreas Bähr.²⁵ Die frühen historischen Epochen der Antike und des Mittelalters wurden von Anton J. L. van Hoof ²⁶ und Alexander Murray²⁷ überzeugend beforscht.²⁸ Für die Neuzeit liegt eine Fülle von Untersuchungen vor, wobei hier stellvertretend auf die hervorragenden Arbeiten von Vera Lind²⁹, Alexander Kästner³⁰ und Jeffrey Rodgers Watt³¹ hingewiesen sei.³² Einen öster-
Roger Paulin, Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit (Kleine Schriften zur Aufklärung 6, Göttingen 1999). Andreas Bähr, Zur Einführung: Selbsttötung und (Geschichts‐)Wissenschaft. In: Andreas Bähr., Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis (Köln u. a. 2005) 1– 20, hier 3. Andreas Bähr, Der Richter im Ich. Die Semantik der Selbsttötung in der Aufklärung (Göttingen 2002). Anton J. L. van Hoof, From Autothanasia to Suicide. Self-killing in Classical Antiquity (London et al. 1990). Alexander Murray, Suicide in the Middle Ages (2 Bände, Oxford 1998 – 2000). Für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit gilt es auch noch die Forschung von Gabriela Signori hinzuweisen, die im Nachgang noch näher vorgestellt wird. George Minois bemühte sich um eine Zusammenschau der Geschichte des Suizids von der Antike bis in die Zeitgeschichte. George Minois, Geschichte des Selbstmordes (Düsseldorf u. a. 1996). Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 146, Göttingen 1999). Alexander Kästner, Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547– 1815) (Konstanz 2012). Jeffrey Rodgers Watt (Hg.), From sin to insanity. Suicide in early modern Europe (Ithaca/NY, 2004). Die Bandbreite des Suizidthemas in der Neuzeit lässt sich anhand folgender Werke erahnen: Florian Kühnel, Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne (München 2013). Paul Seaver et al. (Eds.), The History of Suicide in England 1650 – 1850 (London 2012– 2013). John Weaver et al. (Eds.), Histories of Suicide. International Perspectives on Self-Destruction in the Modern World (Toronto et al. 2009) und eine dem Suizidthema gewidmete Ausgabe des Journal of
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reichischen Bezug und Vergleich mit Schweden bietet die exzellente Studie von Evelyne Luef, die sich insbesondere Gerichtsdokumenten aus dem Zeitraum 1650 und 1750 und auch dem Geschlechteraspekt widmet. Für die Zeit des späten 18. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermag Ursula Baumanns Monografie einen ersten Überblick zu bieten.³³ Von dieser Analyse ist auch die Habilitation Hannes Leidingers inspiriert, die eine Zusammenschau der vielfältigen und reichhaltigen Quellenbestände für Österreich von 1850 bis kurz nach dem 2.Weltkrieg leistet und damit suizidales Handeln in seiner historischen Breite aufspannt.³⁴ Einem ähnlichen zeitlichen Zuschnitt, aber mit dezidiert kulturwissenschaftlichem Ansatz, folgt die Arbeit von Thomas Macho. Dieser hat zuvor bereits sehr überzeugend und innovativ zu Todesmetaphern und der Neuen Sichtbarbkeit des Todes publiziert.³⁵ Ebenso zu nennen sind eine Publikation des Historikers Norbert Ortmayr, die das Suizidgeschehen in Österreich von 1819 – 1988³⁶ aufbereitet hat, und eine dem Suizidthema gewidmete Nummer der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie. ³⁷ Ansonsten war die Aufmerksamkeit für dieses Thema und seine historische Verhandlung bisher gering. Am ehesten ließen sich noch Werke im Bereich der wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten³⁸ und zum Suizid von Kronprinz Rudolf ³⁹ finden. Ähnliches ist bezüglich einer
Social History 46/3 (2013), die von Maria Teresa Brancaccio, Eric J. Engstrom und David Lederer betreut wurde. Ursula Baumann,Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids von 18. bis zum 20. Jahrhundert (Weimar 2001). Hannes Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung. Aspekte der Suizidproblematik in Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zweiten Republik (Innsbruck u. a. 2012). Thomas Macho, Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne (Berlin 2017). Thomas Macho, Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes (München 2007). Thomas Macho, Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung (Frankfurt/M. 21990). Ortmayr, Selbstmord in Österreich, 209 – 225. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 4/23 (1998). Andrea A. Moschitz, Der Selbstmord als Rechts- und Gesellschaftsproblem. Die Entwicklung in Österreich in Vergangenheit und Gegenwart (Ungedr. geisteswiss. Diss. Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1991). Ralph Klever, Zur Entwicklung des wissenschaftlichen Diskurses über den Suizid. Unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Beiträge (Ungedr. geisteswiss. Dipl.arbeit Universität Wien, Wien 1993). Notburga Preining, Selbstmord in Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Ungedr. geisteswiss. Dipl.arbeit Universität Salzburg, Salzburg 1990). Gappmair Brigitte, Suizidberichterstattung in der Presse. Eine quantitativqualitative Analyse sämtlicher Beiträge zum Thema Suizid am Beispiel der Salzburger Tagespresse aus dem Jahre 1977 (Ungedr. geisteswiss. Diss. Universität Salzburg, Salzburg 1980). Nicole Floiger, Zur Berichterstattung des Falles Redl in der Presse (Ungedr. geisteswiss. Dipl.arbeit Universität Wien, Wien 2009). Helga Holmann, Die Autobiographien der Marie Louise Freiin von Wallersee (Ungedr. geisteswiss. Dipl.arbeit Universität Wien, Wien 1991). Elisabeth Pellegrini, Der
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soziologischen Forschungstradition in Österreich festzuhalten, die kaum als institutionalisiert zu beschreiben ist. Unter den wenigen soziologischen Werken ist die 2008 vom Soziologen Carlos Watzka vorgelegte Epidemiologie der österreichischen bzw. steiermärkischen Sozial- und Suizidstrukturen hervorzuheben.⁴⁰ Auf die 2010 erschienene Arbeit der Soziologin Eva Eichinger wurde bereits verwiesen. Als ein lohnenswertes Forschungsfeld, aber auch als ein schwieriges, erweist sich seit den 1980er-Jahren die nationalsozialistische Ära. Für diese hat Christian Goeschel interessante methodische Überlegungen⁴¹ und eine multiperspektivistische Monografie⁴² vorgelegt. In diesem Zusammenhang sei auch noch auf die früheren, richtungsweisenden Arbeiten von Konrad Kwiet und Helmut Eschwege, Monika Richarz und Marion Kaplan verwiesen.⁴³ Reinhard Bobach hat mit Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung eine erste Zusammenfassung der Forschungsgeschichte und mögliche Perspektiven vorgelegt. Darin notiert er für die 1960er-Jahre eine Vitalisierung und enorme Expansion der Suizidforschung. Diese nahm ihren befruchtenden Ausgang vom anglo-amerikanischen Wissenschaftsraum und orientierte sich gegenüber früheren Forschungsaktivitäten mehr an theoretischen Fragen.⁴⁴ Udo Grashoffs Beitrag über die DDR⁴⁵ ist stellvertretend für aktuelle Untersuchungen suizidalen Verhaltens in
Suizid in der Presse. Berichterstattung und mögliche Konsequenzen: Das Phänomen der Folgesuizide; eine Inhaltsanalyse von „Krone“ und „täglich Alles“ (Ungedr. geisteswiss. Dipl.Arbeit Universität Wien, Wien 1994). Clemens M. Gruber, Die Schicksalstage von Mayerling. Neue Erkenntnisse zum Tod Kronprinz Rudolfs u. Mary Vetseras (Judenburg 1989). Alfred Frisch, Der Mayerlingkomplex. Verdrängung und Vertuschung (Log-Buch 13,Wien 1992). Gerd Holler, Mayerling. Neue Dokumente zur Tragödie 100 Jahre danach (Wien 1988). Clemens Loehr, Mayerling. Eine wahre Legende (Wien 1968). Georg Markus, Kriminalfall Mayerling. Leben und Sterben der Mary Vetsera Mit den neuen Gutachten nach dem Grabraub (Wien 1993). Hermann Swistun, Mary Vetsera. Gefährtin für den Tod (Wien 1999). Carlos Watzka, Sozialstruktur und Suizid in Österreich. Ergebnisse einer epidemiologischen Studie für das Land Steiermark (Wiesbaden 2008). Christian Goeschel, Methodische Überlegung zur Geschichte der Selbsttötung im Nationalsozialismus. In: Bähr, Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand, 169 – 189. Christian Goeschel, Suicide in Nazi Germany (Oxford 2009). Konrad Kwiet, Helmut Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933 – 1945 (Hamburg 1984) 194– 215. Monika Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918 – 1945 (Stuttgart 1982). Marion Kaplan, Between Dignity and Despair. Jewish Life in Nazi Germany (New York 1998). Reinhard Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung (Suizidologie 16, Regensburg 2004) 21– 22. Udo Grashoff, Tabuisierung oder Prophylaxe? Die Selbsttötungsraten der DDR und die Politik der SED. In: Bähr, Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand, 191– 219.
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einer bestimmten Gesellschaft bzw. Kultur zu nennen. Laut Bobach nahm diese Entwicklung ihren Ausgang in den 1970er-Jahren und ließ ahistorische und kulturindifferente Theorien hinter sich und bereitete einer Neuinterpretation den Weg: „Es ist nicht mehr das Bemühen um eine Theorie, ob es sich um eine soziologische, psychologische oder philosophische handelt, sondern das Herausarbeiten einer Kulturgeschichte des Selbstmords, welches die literarische Entwicklung und die Forschungsfragestellungen seit dieser Zeit bestimmt hat.“⁴⁶ Diese Perspektive befruchtete und vitalisierte die kulturwissenschaftliche Beforschung des Suizidthemas, ohne aber wirklich Österreich zu erreichen. Eine mögliche Erklärung für die langwährende sozial- und kulturwissenschaftliche Ignoranz dürfte darin liegen, dass das Phänomen bald nach dem Zweiten Weltkrieg von der Psychiatrie und Psychologie prominent besetzt worden war. Insbesondere Erwin Ringel leistete gemeinsam mit dem 1938 vor den Nazis nach Großbritannien geflohenen Erwin Stengel wichtige – weit über Österreich hinausgehende – Impulse für die Etablierung der Suizidologie. Ringel tat sich neben der reinen Forschungstätigkeit besonders mit seinem praktischen Engagement hervor. So gelang es ihm, eine Stelle für Suizidverhütung in Wien zu initiieren, und 1960 war er auch in die Gründung der International Association for Suicide Prevention (IASP) involviert. Im Rahmen des 13. Internationalen Kongresses der IASP entstand 1985 die Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention (ÖGS), zu deren Mitgliedern auch die Wiener Werkstätte für Suizidforschung zählt. Diese ist als offene und interdisziplinäre Arbeitsgruppe konzipiert, wird aber von psychiatrisch-psychologischen Expert*innen dominiert, denen einige wenige Kolleg*innen aus der Linguistik und den Medienwissenschaften zur Seite stehen. Die psychozentrische Tradition wird heute von Gernot Sonneck, Martin Voracek, Thomas Niederkrotenthaler u. a. fortgesetzt, die in ihren Arbeiten vor allem Fragen der Prävention und Krisenintervention behandeln.⁴⁷ Aufgrund der skizzierten
Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung, 22– 23. Überblick Forschung Österreich: Sonneck, Stein,Voracek, Suizide von Männern in Österreich. Elmar Etzersdorfer, Martin Voracek, Nestor Kapusta, Gernot Sonneck, Epidemiology of suicide in Austria 1990 – 2000. General decrease, but increased suicide risk for old men. In: Wiener Klinische Wochenschrift 117/1– 2 (2005) 31– 35. Elmar Etzersdorfer, Peter Fischer, Gernot Sonneck, Zur Epidemiologie der Suizide in Osterreich 1980 bis 1990. In: Wiener Klinische Wochenschrift 104/19 (1992) 594– 599. Gernot Sonneck, Suizid und Suizidprävention in Osterreich. In: Wiener Klinische Wochenschrift 112/22 (2000) 943 – 946. Gernot Sonneck, Krisenintervention und Suizidverhütung (Wien 1995). Dirk Dunkel, Elfi Antretter, Regina Seibl, Christian Haring, Suicidal Behaviour in Austria. In: Armin Schmidtke, Unni Bille-Brahe, Diego de Leo, Ad Kerkhof (Eds.), Suicidal behaviour in Europe: Results from the WHO/ Euro multicentre study on suicidal behavior (Bern 2004) 113 – 121. Gernot Sonneck, Elmar Etzersdorfer, Sibylle Nagel-Kuess, Imitative suicide on the Viennese subway. In: Social Science and Medicine 38 (1994) 453 – 457. Gernot Sonneck, Thomas
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Untersuchungsgegenstand
engen Verflechtung von forschendem, normensetzendem und interventionistischem Handeln überzeugt der Schluss von Scott Fitzpatrick und seinen Kolleg*innen, dass die Suizidologie nicht ‚bloß‘ als Wissenschaft, sondern vielmehr als soziale Praktik verstanden werden sollte.⁴⁸ Darüber hinaus darf ihre paternalistische Vergangenheit, die teilweise auch heute noch nachwirkt, nicht aus den Augen verloren werden.⁴⁹ Bezüglich der geschlechtsspezifischen Suizidforschung und ihrer Tradition ist festzuhalten, dass Forschungsarbeiten, die sich dezidiert Frauen* widmeten, die Ausnahme darstellten. Das hing damit zusammen, dass der ‚Normalfall‘ eines suizidal handelnden Menschen auf der Vorstellung eines weißen, männlichen, heterosexuellen Suizidenten beruhte. Vor diesem Hintergrund wurde die Erwähnung respektive Konzentration auf weibliche Suizident*innen meist als ein ‚Sonderfall‘, als eine Abweichung von der männlichen Normalität verhandelt. Ähnliches gilt für Geschlechter, Sexualitäten, Begehren und vergeschlechtlichte Körper jenseits der heteronormativen Matrix. Diese wurden entweder überhaupt nicht berücksichtigt oder als spektakuläre Abnormitäten und Einzelfälle verhandelt.⁵⁰ Angesichts eines androzentrisch organsierten Diskurses, der weiße und heterosexuelle Männlichkeiten nicht markierte, blieben auch Arbeiten, die explizit Männer* fokussierten, rar. Die einzig größere für Österreich fällt überhaupt erst in die Zeit nach dem Aufbrechen der heteronormativen Geschlechtermatrix.
Niederkrotenthaler, Zum österreichischen Suizidpräventionsplan. In: Spektrum Psychiatrie 2 (2008) 32– 35. Online unter 27. 8. 2010. Scott Fitzpatrick, Claire Hooker, Ian Kerridge, Suicidology as a Social Practice. In: Social Epistemology März (2014) 1– 20. DOI: 10.1080/02691728.2014.895448. So heißt es etwa in einem rezenten Gesprächsleitfaden für pädagogische Kräfte: „Suizid ist keine gewöhnliche Reaktion auf die Herausforderungen und Hindernisse im Leben. Die große Mehrheit der Menschen, die gemobbt werden, eine_n Freund_in verloren oder ein anderes Unglück erlebt haben, redet mit jemandem darüber, sucht sich Hilfe oder findet andere Wege, mit dem Erlebten umzugehen. Sie führen danach ein normales, gesundes Leben.“ Raphaela Banzer et al., Empfehlung zum Umgang mit der Netflix-Serie „13 Reasons Why – Tote Mädchen lügen nicht“ in der Schule (Innsbruck und Wien 22017) 4. Über diese pathologisierende Adressierung erschafft die Suizidprävention ihren Gegenstand und ihr Ziel, die gefährdeten Subjekte. Auch die von ihr geforderte Mastererzählung mit dem detailvermeidenden und hilfsorientierten Fokus ist unter diesem Blickwinkel zu betrachten.Vor diesem Hintergrund wurden in Österreich im Jahr 2005 nur 54 der insgesamt 1.392 statistisch dokumentierten Suizide medial behandelt. Thomas Niederkrotenthaler et al., The gap between suicide characteristics in the print media and in the population. In: European Journal of Public Health 19/4 (2009) 361– 364. Die größte Sichtbarkeit innerhalb dieser vernachlässigten Sexualitäten genossen homosexuelle Männer*.
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Die Studie von Gernot Sonneck, Claudius Stein und Martin Voracek spricht das zwar verdeckt, aber doch an: „So wird offensichtlich, dass bei der Forschung und Praxis der Suizidprävention die oft implizierte ‚Eingeschlechtlichkeit‘ den Weg zum weiteren Verständnis der Suizidalität und ihrer Erforschung verstellt. Wenn wir nun hinreichend zur Kenntnis nehmen, dass Männer und Frauen grundlegend verschieden sind, dann kann es gar keine geschlechtsneutrale Betrachtung ‚von oben‘ geben, sondern es muss ‚irdisch‘ zugehen, wenn unsere Forschung und Praxis weiterkommen sollen.“⁵¹
Innerhalb einer geschlechterkritischen Suizidforschung gilt es, besonders auf die soziologisch orientierten Arbeiten von Katrina Jaworski⁵² und Christina Rachor⁵³ und die psychoanalytisch orientierten Arbeiten von Benigna Gerisch⁵⁴ hinzuweisen. Einen interdisziplinär gehaltenen Überblick zum Thema Geschlecht und Suizidalität bietet der Sammelband von Regula Freytag und Thomas Giernalczyk.⁵⁵ Die Historikerin Vera Lind widmet dem Genderaspekt in ihrem frühneuzeitlichen Werk immerhin ein eigenes Kapitel.⁵⁶ Im Bereich der geschichtswissenschaftlichen Forschung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ist besonders auf die Arbeiten von Ursula Baumann⁵⁷ und Julia Schreiner⁵⁸ hinzuweisen. Beide beschäftigen sich zwar nicht ausdrücklich mit dem Thema einer geschlechtsspezifischen Suizidalität, geben aber zahlreiche Hinweise. Eine intensivere Auseinandersetzung sucht der Sammelband Trauer, Verzweiflung, Anfechtung von Gabriela Signori, der psychohistorische Ansätze verfolgt und den Zeitraum von
Sonneck, Stein, Voracek, Suizide von Männern in Österreich. Ohne expliziten Österreich-Bezug: Reinhard Lindner, Suizidale Männer in der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie. Eine systematische qualitative Untersuchung (Gießen 2006). Martin Teising, Suizid im Alter ist Männersache. Psychodynamische Überlegungen zur Erklärung. In: Georg Fiedler, Reinhard Lindner (Hg.), So hab ich doch was in mir, das Gefahr bringt. Perspektiven suizidalen Erlebens (Hamburger Beiträge zur Psychotherapie der Suizidalität I, Göttingen 1999) 99 – 120. Jaworski, The author, agency and suicide, 675 – 687. Jaworski, ‘Elegantly wasted’: The celebrity deaths of Michael Hutchence and Paula Yates, 777– 791. Rachor, Selbstmordversuche von Frauen. Rachor, Der „weibliche Suizidversuch“, 45 – 68. Gerisch, Die suizidale Frau. Gerisch, „Sterbe ich vor meiner Zeit, nenn’ ich es noch Gewinn, 68 – 83. Gerisch, Lindner, Die suizidale Frau, 193 – 201. Kappert, Gerisch, Fiedler (Hg.), Ein Denken, das zum Sterben führt. Freytag, Giernalczyk (Hg.), Geschlecht und Suizidalität. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Julia Schreiner, Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts. Ancien Régime, Aufklärung und Revolution (München 2003).
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Untersuchungsgegenstand
1500 bis 1800 abdeckt.⁵⁹ Einen interessanten Ansatz und vielversprechenden Forschungsturn bietet die sich gerade formierende Critical oder Post Suicidology. Diese gegen pathologisierende, stereotypisierende und essentialisierende Paradigmen gerichtete Neuorientierung wird besonders von Ian Marsh⁶⁰, Jennifer White⁶¹, Chloë Taylor⁶², Katrina Jaworski⁶³, Heidi Hjelmeland⁶⁴, Marja-Liisa Honkasalo und Miira Tuominen⁶⁵ vertreten und lässt sich folgendermaßen umreißen: „This work is characterized by a critical engagement with the dominant norms and conventions of suicidology, it draws on many different styles of thought and theoretical perspectives (feminist, indigenous, queer, critical and so on) in order to speak differently about the topic and to collectively imagine other ways of approaching suicide and suicide prevention. It also, importantly, attempts to grasp the relationship between power and knowledge and the ways in which the field is as much shaped by these relations as by any disinterested ‘search for truth’.“⁶⁶
Im Rahmen des eurozentrischen Forschungsparadigmas wird darauf beharrt, dass Männer* mehr Suizide als Frauen* begehen, während beim Suizidversuch das Verhältnis genau andersrum ist.⁶⁷ Geschlechter, Sexualitäten, Begehren und Gabriela Signori (Hg.), Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften (Forum Psychohistorie 3, Tübingen 1994.) Ian Marsh, Suicide. Foucault, History and Truth (Cambridge 2010). Ian Marsh, The Uses of History in the Unmaking of Modern Suicide. In: Journal of Social History 46/3 (2013) 744– 756. Jennifer White, Youth Suicide as a ‘Wild’ Problem: Implications for Prevention Practice. In: Suicidology Online 3 (2012) 42– 50. White, Shaking Up Suicidology, 1– 4. White, Marsh, Kral, Morris (Eds.), Critical Suicidology: Transforming Suicide Research and Prevention in the 21st Century. Chloë Taylor, Birth of the Suicidal Subject: Nelly Arcan, Michel Foucault, and Voluntary Death. In: Death, Culture and Critique 56/2 (2015) 187– 207. Jaworski, The Gender of Suicide. Hjelmenland, Knizek,Why We Need Qualitative Research in Suicidoloy, 74– 80. Hjelmeland, A Critical Look at the Current Suicide Research, 31– 55. Marja-Liisa Honkasalo, Miira Tuominen (Eds.), Culture, Suicide, and the Human Condition (New York et al. 2014). Ian Marsh, Critical Suicidology: Toward an Inclusive, Inventive and Collaborative (Post) Suicidology. In: Social Epistemology Review and Reply Collective 4/6 (2015) 5 – 9, here 5. Watzka, Sozialstruktur und Suizid in Österreich, 33 – 34. Tatsächlich schwankt die weltweite heteronormative Geschlechterratio zwischen 0,8 in Bangladesch/China und 12,2 in St. Vincent und die Grenadinen (jeweils Suizide männlich zu weiblich). 78 Prozent aller Suizide werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau begangen. Silke Bachmann, Epidemiology of Suicide and the Psychiatric Perspective. In: International Journal of Environmental Research and Public Health 15/1425 (2018) 1– 23, here 2; 4, doi:10.3390/ijerph15071425
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vergeschlechtlichte Körper jenseits der heteronormativen Matrix gelten als besonders vulnerabel. Für Österreich zeigt sich, dass homo- und bisexuelle Individuen nicht nur häufiger an Suizid denken,⁶⁸ sondern auch an einer um das 7Fache erhöhten Suizidversuchsrate⁶⁹ leiden. Ähnliches dürfte für die Trans*Community gelten, da zwischen 32 bis 50 Prozent aller weltweit Betroffenen mindestens eine suizidale Handlung setzen.⁷⁰ Zweifellos werden Trans*-Personen häufig von geschlechtsbezogenen Schikanen, Bullying und sexueller Gewalt getroffen und vielfach von Familienangehörigen, Polizei und Intimpartner*innen belästigt. Damit einhergehend drohen sowohl sozialer Ausschluss als auch gesundheitliche Unterversorgung.⁷¹ Vor diesem Hintergrund ist es zentral, die Trans*-Community zu stärken, da in ihr ein entscheidender Resilienz-Faktor liegt. Gleichzeitig ist es unerlässlich, die gesellschaftliche Inklusion und Wertschätzung sämtlicher Geschlechter, Sexualitäten, Begehren und Leiber voranzutreiben.⁷² Darüber hinaus müssen sie alle sensibel und reflektiert in die moderne Suizidforschung integriert werden, da sonst die Gefahr einer (neuerlichen) Pathologisierung besteht.⁷³ Trotz der skizzierten Vulnerabilitäten gilt der Suizidversuch bis heute als ein typisch weibliches Verhalten, der klar abgrenzbar und
Martin Plöderl, Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit. Eine österreichische Erstuntersuchung (Dissertation Universität Salzburg, Salzburg 2004) 298. Für eine internationale Perspektive siehe: Silke Bachmann, Epidemiology of Suicide and the Psychiatric Perspective. In: International Journal of Environmental Research and Public Health 15/1425 (2018) 1– 23, here 5 – 6, doi:10.3390/ijerph15071425 Ann P. Haas et al., Suicide and Suicide Risk in Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Populations: Review and Recommendations. In: Journal of Homosexuality 58/1 (2011) 10 – 51. Sarah Swannell et al., Suicidal ideation, suicide attempts and non-suicidal self-injury among lesbian, gay, bisexual and heterosexual adults: Findings from an Australian national study. In: The Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 50/2 (2016) 145 – 53. Elizabeth McDermott, Katrina Roen, Queer youth, Suicide and Self-harm. Troubled subjects, Troubling Norms (Basingstoke 2016). Plöderl, Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit, 298. Sowohl bei homo-/bisexuellen Männern* als auch homo-/bisexuellen Frauen* dominierte als Methode die Vergiftung. Plöderl, Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit, 150 – 151. Als Ursachen und Zusammenhänge erkannte Plöderl folgende Faktoren: Hoffnungslosigkeit, internalisierte Homophobie und existentielle Motivation. Plöderl, Sexuelle Orientierung, Suizidalität und psychische Gesundheit, 160 – 161. H. G.Virupaksha et al., Suicide and Suicidal Behavior among Transgender Persons. In: Indian Journal of Psychological Medicine 38 (2016) 505 – 509, doi.org/10.4103/0253 – 7176.194908 Virupaksha et al., Suicide and Suicidal Behavior among Transgender Persons, 505 – 509. Virupaksha et al., Suicide and Suicidal Behavior among Transgender Persons, 505 – 509. Ann P. Haas et al., Suicide and Suicide Risk in Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Populations: Review and Recommendations. In: Journal of Homosexuality 58/1 (2011) 10 – 51.
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Untersuchungsgegenstand
beziehungsorientiert sei⁷⁴ und mit weichen Suizidmethoden einhergehe. Howard Kushner hat dies anhand von nordamerikanischem Quellenmaterial aus dem 19. Jahrhundert dekonstruiert und so erkannt, dass der Selbsttötung je nach Geschlecht eine andere Bedeutung zugewiesen wurde.⁷⁵ Dieses Vorwissen hat auch die Urteile der medizinischen Fachkräfte beeinflusst, wenn sie der Totenbeschau nachgingen.⁷⁶ Charles Neuringer stellte in Suicidal Behavior in Women fest, dass sich traditionell fünf Erklärungsmuster für weibliche Suizidalität finden lassen: „These explanations can be roughly divided into physiological explanations (‘The Weaker Sex’, ‘Pregnancy Protection’, ‘The Menstrual Cycle’) and psychosocial explications (‘Femine Psychological Traits’, ‘Social Role Behavior’)“.⁷⁷ Im Kern rekurrieren diese Hypothesen auf eine biologische Andersartigkeit und formulieren, dass es Frauen* eher gestattet ist, sich emotional auszuleben und aus ihrer nachgeordneten Position Kapital zu schlagen. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass der Emanzipation eine suizidfördernde Wirkung unterstellt wurde; würde diese doch zu einer ‚Vermännlichung‘ führen und somit die typisch weiblichen Ausweichstrategien gefährden. De facto haben sich die weiblichen Suizidraten aber bis heute nicht an die männlichen angeglichen. Ganz konkret hat sich sogar gezeigt, dass erwerbstätige Frauen* eine niedrigere Suizidversuchsrate haben als jene, die arbeitslos sind oder ausschließlich unbezahlte Haus- und Familienarbeit leisten.⁷⁸ Hinsichtlich suizidaler Männer* benennt die Forschung folgende Risikofaktoren: soziale Isolation, Vereinsamung durch Beziehungsverlust, beruflicher Stress, Arbeitslosigkeit, Suchtverhalten.⁷⁹ Als ungünstig gelten ihr leichter Zugang zu Schusswaffen und ihre hormonelle Ausstattung, da
Hier sind besonders die Assoziationen der Vortäuschung und Erpressung zu nennen. Suizide von Frauen* waren besonders gefährdet, unterregistriert, umgedeutet (z. B.: in einen Unfall) oder vertuscht zu werden. Gleichzeitig konstatierte er bezüglich der Suizidversuche eine tendenzielle Überregistrierung. Kushner, Women and Suicide in Historical Perspective, 537– 538; 543 – 546. Ebenso problematisch war auch deren Versuch, retrospektiv eine Intention herauszufiltern. So illustrierte eine männliche Präferenz für harte Suizidmittel keineswegs eine festere Todesabsicht. Vielmehr wurde so nur ihr leichterer Schusswaffenzugang und anderer Gewaltgebrauch evident. Kushner, Women and Suicide in Historical Perspective, 544; 547– 551. Charles Neuringer, Suicidal Behavior in Women. In: Crisis. The Journal of Crisis Intervention and Suicide Prevention 3 (1982) 41– 49, here 42. Thomas Lochthowe, Suizide und Suizidversuche bei verschiedenen Berufsgruppen (Ungedruckte medizinische Inaugural-Dissertation Julius-Maximilians-Universität Würzburg 2008) 81. David Lester, John F. Gunn, Paul Quinnett (Eds.), Suicide in Men. How Men Differ from Women in Expressing Their Distress (Springfield 2014).
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Testosteron verdächtigt wird, suizidale Neigungen und Impulse zu beeinflussen.⁸⁰ Gleichzeitig scheinen männliche Sozialisationserfahrungen der Annahme von Hilfe entgegenzustehen, insbesondere dann, wenn es darum geht, „a helplessdependent position in a help-giving relationship“⁸¹ anzunehmen. Erfahrungen von physischem und sexuellem Missbrauch, Inhaftierung, Bullying/Mobbing, schmerzhafte körperliche Erkrankungen und psychische Störungen (insbesondere Despression) runden das geschlechtsspezifische Risikoprofil von Männern* ab. Relativ neu ist, dass depressives und suizidales Verhalten nun zunehmend mit internalisierender toxischer Maskulinität verknüpft wird.⁸² Zudem scheint diese auch Femizide und Amokläufe mit nachfolgendem suizidalen Verhalten zu motivieren.⁸³ Letztere Überlegungen lassen auf eine geschlechterkritische Wendung in der Suizidologie hoffen. Derzeit dominieren aber noch Biologismen und die unkritische Annahme einer heteronormativen Sozialisationserfahrung, wodurch diese naturalisiert und in den Rang einer ‚Wahrheit‘ über die Geschlechter und Sexualitäten erhoben werden. Leider lassen sich diese stereotypen Theoreme auch noch in rezenten psychiatrisch-psychotherapeutischen Handbüchern finden und werden so an die nächste Generation weitergereicht, etwa, wenn dort behauptet wird: „Suizidales Verhalten bei Männern mit einem hohen Todeswunsch und gewalttätiger harter Methodik; demgegenüber suizidales Verhalten bei Frauen* als Verhalten mit hoher kommunikativer Bedeutung, häufig geringem Todeswunsch, jedoch hoher Veränderungsintention.“⁸⁴
Ronald W. Maris, Alan L. Berman, Morton M. Silverman, Suicide, Gender and Sexuality. In: Ronald W. Maris, Alan L. Berman, Morton M. Silverman, Comprehensive textbook of suicidology (New York 2000) 145 – 169, here 167. Maris et al., Suicide, Gender and Sexuality, 167. Stephen M. Whitehead beschreibt folgende Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen als charakteristisch für eine toxische internalisierende Männlichkeit: Geltungs- und Dominanzbedürfnis, unempathisches, schnell wütendes und verbittertes Verhalten sowie geringe emotionale Intelligenz und Ausdrucksfähigkeit. Darüber hinaus Besitzgier, Eifersucht und eine berufliche Überidentifikation. Das Bild wird abgerundet von einer Angst, sich schwach zu zeigen, fragilem männlichen Stolz und nicht zuletzt Frauen- und LGBTIQ+-Feindlichkeit. Stephen M. Whitehead, Toxic Masculinity. Curing the Virus. Making men Smarter, Healthier, Safer (Luton 2019) 56 – 57. Stephen M. Whitehead, Toxic Masculinity. Curing the Virus. Making men Smarter, Healthier, Safer (Luton 2019) 52– 58. Manfred Wolfersdorf und Hella Schulte-Wefers, Suizidalität. In: Anke Rohde, Andreas Marneros (Hg.), Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Handbuch (Stuttgart 2007) 485 – 502, hier 499..
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Untersuchungsgegenstand
Erkenntnisinteresse Grundsätzlich gilt es vorauszuschicken und zu betonen, dass durch die Analyse des Diskurses nicht versucht werden soll, den individuellen Gründen für eine suizidale Handlung nachzuspüren oder gar eine Theorie über dieses Verhalten zu entwickeln. Vielmehr soll das diskursive Verhältnis von suizidaler Handlung, Geschlecht und Gesellschaft in den Fokus der Untersuchung gerückt werden. Solcherart ist diese Arbeit auch nicht an der Explikation und Intelligibilisierung des selbstgegebenen Todes interessiert.Vielmehr geht es darum, zu ermitteln, wie die suizidalen Subjekte hervorgebracht und repräsentiert wurden und welche Rolle insbesondere Geschlecht in Verbindung mit den anderen Kategorien der Differenz spielte. Im Zentrum der Analyse standen folgende Leitfragen: Welches Wissen wurde im geschlechtsspezifischen Suiziddiskurs produziert und repräsentiert? Welche soziale Wirklichkeit wurde damit erzeugt? Diesen beiden Aspekten wurden vier spezifischere Fragenbündel hinzugefügt.⁸⁵ Jenes auf das Geschlecht bezogene umfasste folgende Themen: Warum führte eine, vom Prinzip her gleiche Handlung, zu je nach Geschlecht und Sexualität unterschiedlichen Erklärungsmustern? Welchen Wissensbeständen, Logiken und ,Wahrheiten‘ folgten diese? Welche Rolle spielte die heteronormative Geschlechtermatrix respektive ihr Aufbrechen? Welche Rollen wurden den Frauen*bewegungen und deren emanzipativen Bestrebungen attribuiert? Wie wurde die neue Sichtbarbarkeit queerer und nicht-binärer Sexualitäten und Lebensformen verhandelt? Hinsichtlich des gesellschaftlichen Faktors wurden folgende Fragen berücksichtigt: Wie ging die Gesellschaft mit einem Verhalten um, das sie als deviant klassifizierte? Welches Gesellschaftssystem sollte der je spezifische Umgang mit Suizident*innen absichern oder in Frage stellen? Bezüglich der zeitlichen Dimension wurde vor allem danach gefragt, welche Transformationen die diskursiven und die sozialen Praktiken durch das Fortschreiten der Geschichte erlebten. Das letzte Fragenbündel fokussierte die Wissenschaft und deckte folgende Bereiche ab: Welche Theorien brachten die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen hervor? Welche Motive wurden für das Handeln der Suizident*innen benannt? Welchen Personengruppen wurde eine niedrige bzw. eine hohe Suizidgefährdung attestiert? Welche Gründe wurden für das Ansteigen der Suizidraten benannt? Welche Präventionsmaßnahmen wollte man suizidalen Individuen angedeihen lassen und unterschieden sich diese nach Geschlecht und Sexualität?
Aufgrund des favorisierten offenen Forschungsdesigns wurde darauf verzichtet Hypothesen zu bilden.
Theorien und Methode/n
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Theorien und Methode/n Wie bereits angesprochen, sieht sich diese Arbeit der dekonstruktivistischen Geschlechterforschung verpflichtet. Dies bedeutet insbesondere eine Berücksichtigung der von Judith Butler notierten sozialen Konstruiertheit von Geschlecht und der von Katharina Walgenbach beschriebenen Interdependenz.⁸⁶ Das letztgenannte Theorem unterscheidet sich von Kimberlé Crenshaws Intersektionalitätsansatz⁸⁷ folgendermaßen: „Neben dem politischen Anspruch besteht das Besondere dieser Intervention auf theoretischer Ebene nicht einfach darin, einen anderen Begriff, nämlich Interdependenz, einzusetzen, einen, der ebenfalls das Zwischen (inter) der unterschiedlichen Kategorien analysieren will, diese Kategorien aber auch voraussetzt oder vorab bestimmen muss. Die Dependenz, die Abhängigkeit, soll dagegen vielmehr als eine verstanden werden, die gleichsam den Kategorisierungen inhärent ist. Es geht darum, Kategorien selbst als immer schon verbunden mit, abhängig von und bedingt durch andere/n Kategorisierungen zu verstehen, also von interdependenten Kategorien selbst auszugehen, nicht von Überschneidungen oder Abhängigkeiten zwischen Kategorien. Gender als interdependente Kategorie meint, ‚sie also als immer schon zugleich rassisiert, sexualisiert, lokalisiert zu betrachten‘.“⁸⁸
Vor diesem theoretischen Hintergrund besitzt Geschlecht keinen inneren, unverrückbaren und vordiskursiven Kern, obwohl der heteronormative Diskurs genau dies behauptet und zu naturalisieren sucht. Tatsächlich ist Geschlecht nichts anderes als eine nachträgliche Einschreibung und die so produzierten sexuierten Leiber und Identitäten sind Diskurseffekte, die durch performative Akte materialisiert werden. Diese Arbeit fasst Geschlecht – analog zu den anderen Dimensionen der Differenz – als interdependente und heterogene Struktur, die in wechselseitigen Bezügen mit den anderen identitätsstiftenden Differenzkategorien steht.⁸⁹ Forschungspraktisch bedeutet das, die identifizierten wirkmächtigen
Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (Gender Studies. Vom Unterschied der Geschlechter, Neue Folge 722, Frankfurt/Main 1991). Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (Berlin 1995). Katharina Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie. In: Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt, Kerstin Palm (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität (Opladen 2007) 23 – 65. Kimberlé Crenshaw, Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics and Violence Against Women of Color. In: Stanford Law Review 43/6 (1991) 1241– 1299. Isabell Lorey, Kritik und Kategorie. Zur Begrenzung politischer Praxis durch neuere Theoreme der Intersektionalität, Interdependenz und Kritischen Weißseinsforschung. In: transversal 08 (2006), online unter , 16.11. 2017. Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, 61.
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Untersuchungsgegenstand
Kategorien genau hinsichtlich ihrer inneren Architektur und ihren konstitutierend und stabilisierend wirkenden gegenseitigen Bezügen zu untersuchen.⁹⁰ Die Methode einer historischen Diskursanalyse wurde gewählt, weil sie sich besonders gut eignet, um zu untersuchen, wie das Denken, Sprechen und Schreiben über suizidale Handlungen und die damit verbundenen sozialen Praktiken und Repräsentationen ineinandergriffen bzw. aufeinander wirkten, und so die vergeschlechtlichen suizidalen Subjekte hervorbrachten. Mit Hilfe der historischen Diskursanalyse wird also das Ensemble des Wissens und die damit verknüpfte diskursive und soziale Praxis exploriert. Die grundlegende diskurstheoretische Prämisse, den Diskurs in seiner Positivität anzuerkennen, erweist sich für das gestellte Thema als besonders wertvoll, da sie davor bewahrt, suizidalen Personen etwas abringen zu wollen, was sie nicht kommuniziert haben. Außerdem verhindert ein konsequent diskurstheoretischer Standpunkt, die heteronormativen Suizidstatistiken als etwas anderes als vom Diskurs hervorgebrachte Aussagen sehen zu wollen. In der Arbeit geht es daher um die Bedeutung, die die jeweilige Gesellschaft der suizidalen Handlung gab, und um die Frage, welche soziale Ordnung damit gestützt wurde. Angesichts des gewählten Themas bedeutete das vor allem auch die Re-/Produktion der heteronormativen Geschlechtermatrix. Um die Beziehung zwischen diskursiver Praxis, sozialem Wandel und die darin eingeschriebenen Herrschafts- und Machtbeziehungen aufzudecken, wurde der Ansatz der Critical Discourse Analysis (CDA) nach Norman Fairclough⁹¹ gewählt. Die besondere Stärke der CDA liegt in ihrer Vermittlung von linguistischen und soziologischen Positionen unter Betonung ihrer Reziprozität. Darüber hinaus kommt der interdisziplinäre Ansatz der CDA der Querschnittmaterie Suizid sehr entgegen. Das Attribut critical steht in Anlehnung an Jürgen Habermas für die Forderung nach einer selbstkritischen Wissenschaft, die sich bewusst ist, dass in Diskursen soziale Bedeutung produziert wird.⁹² Aus dieser Haltung heraus wird den gegenwärtigen Forschungsarbeiten zur Suizidalität kritisch begegnet, da sie teilweise noch immer heteronormativ orientiert sind. Norman Fairclough und seine Kolleg*innen aus der CDA⁹³ lehnen es ab, das Soziale auf die Sprecher*innenposition zu beschränken und die Bedeutung der Strukturen zu privilegieren,
Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, 63. Norman Fairclough, Discourse and Social Change (Cambridge 1992). Michael Meyer, Stefan Titscher, Eva Vetter, Ruth Wodak, Methoden der Textanalyse. Leitfaden und Überblick (Opladen 1998) 179. Rainer Diaz-Bone nennt als Kern neben Norman Fairclough: Ruth Wodak, Theo von Leeuwen und Teun A. van Dijk. Rainer Diaz-Bone, Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der Bourdieuschen Distinktionstheorie (Wiesbaden 22010) 109 Fußnote 93.
Theorien und Methode/n
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wie es die linguistische Stoßrichtung der Diskursanalyse bzw. der Strukturalismus und die frühere Sozialgeschichte taten. Die CDA geht stattdessen von einem dialektischen Diskursmodell aus, in welchem die diskursive und soziale Praxis füreinander konstitutiv wirken und sich wechselseitig voranbringen. Fairclough führt dazu näher aus: „A dialectical perspective is also a necessary corrective to an overemphasis on the determination of discourse by structures, discursive structures (codes, convention and norms) as well as non-discursive structures. From this point of view, the capacity of the word ‘discourse’ to refer to the structures of convention which underlie actual discursive events as well as the events themselves is a felicitous ambiguity, even if from other points of view it can be confusing. Structuralism …come to treat discursive practice and the discursive event as a mere instantiations of discursive structures, which are themselves represented as unitary and fixed. It sees discursive practice in terms of a model of mechanistic (and therefore pessimistic) causality. The dialectical perspective sees practice and the event as contradictory and in struggle, with a complex and variable relationship to structures which themselves manifest only a temporary, partial and contradictory fixity.“⁹⁴
Am Beispiel der Registrierung von suizidalen Handlungen lässt sich der dialektische Wirkmechanismus gut erklären, denn ohne eine vorher diskursiv hergestellte Übereinkunft darüber, was denn eigentlich unter einer solchen Handlung zu verstehen sei, wäre die Erfassung der Fälle gar nicht möglich. Von den tatsächlich erfassten Szenarien und deren Interpretation und Präsentation hängt wiederum ab, wie über suizidales Verhalten gesprochen und welche soziale Welt damit konstituiert werden kann. Um vom Text ausgehend auf das Soziale zu inferenzieren, bedient sich Fairclough eines dreistufigen Diskursmodelles, in dessen Zentrum das diskursive Ereignis steht.⁹⁵ Dieses wird hinsichtlich (1) des Textes, (2) der diskursiven Praxis (Produktion, Distribution, Rezeption) und (3) der sozialen Praxis (Reproduktion der sozialen Ordnung) analysiert. Entscheidend bei Faircloughs Ansatz ist, dass die diskursive Praxis als soziale Praxis verstanden wird, die beständig Wissen hervorbringt und welche durch seine Koppelung an machtvolle Institutionen das Gemeinwesen zu ordnen und zu gestalten vermag. Als integrativer Teil bzw. als Hilfsmittel zur Diskursanalyse wird eine Metaphernanalyse nach George Lakoff und Mark Johnson⁹⁶ vorgenommen. Zeichnete sich doch der Diskurs durch eine besonders häufige Verwendung von Metaphern aus (z. B.: das Leben von sich werfen, Lebensmüdigkeit, ein Stiefkind des Lebens
Fairclough, Discourse and Social Change, 66. Fairclough, Discourse and Social Change, 62– 101. George Lakoff, Mark Johnson, Metaphors we live by (Chicago 2003).
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Untersuchungsgegenstand
sein etc.). Dadurch sollen jene Kontexte erkannt werden, die an der Oberfläche liegen und sich daher häufig einer bewussten Wahrnehmung entziehen – aber gerade deswegen umso wirksamer sind. Lakoff und Johnson gehen davon aus, dass unser Denken bildlich organisiert ist und dass diese Bilder ihren stärksten Ausdruck in den Metaphern finden, die sich wiederum in unseren Handlungen niederschlagen: „Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch. Konzepte, die unser Denken strukturieren, sind nicht auf den intellektuellen Bereich begrenzt. Sie lenken auch unser nichtreflektiertes Alltagshandeln bis in die prosaischten Einzelheiten. Unsere Konzepte strukturieren das, was wir wahrnehmen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie wir uns auf andere Menschen beziehen. Folglich spielt unser Konzeptsystem bei der Definition unserer Alltagsrealitäten eine zentrale Rolle. Wenn, wie wir annehmen, unser Konzeptsystem zum größten Teil metaphorisch angelegt ist, dann ist unsere Art zu denken, unser Erleben und unser Alltagshandeln weitgehend eine Sache der Metapher.“⁹⁷
Obwohl den Vorschlägen Michel Foucaults zur Durchführung einer Diskursanalyse nicht gefolgt wird, sind einige seiner grundsätzlichen Überlegungen so zentral, dass sie sehr wohl Berücksichtigung finden.⁹⁸ Dazu gehört etwa die Feststellung der Positivität und der Historizität des Diskurses sowie seine Beschränkungsfunktion hinsichtlich der Aussagemöglichkeiten. Darüber hinaus werden seine empirischen Untersuchungen zu Biopolitik und Gouvernementalität, Klinik, Krankheit und zum Wahnsinn berücksichtigt.⁹⁹ Wie relevant diese Felder sind, zeigt sich in einem rezenten epidemiologischen Paper, da dort moniert wird: „High suicide rates also represent a financial burden to a society – mostly so, when young and middle-aged men, who are about to start or have just started their professional and family lives, complete suicide.“¹⁰⁰ Ebenso zentral und damit verknüpft sind die Pathologisierung und Essentialisierung suizidalen
Lakoff, Johnson, Metaphors we live by, 11. Es ist Usus die identifizierten Konzepte durch Großschreibung kenntlich zu machen. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses (München 1974). Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (Frankfurt/Main 2001). Michel Foucault, Archäologie des Wissens (Frankfurt/Main 2002). Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main 1983). Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (Frankfurt/M. 1996). Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (Frankfurt/Main 1988). Bachmann, Epidemiology of Suicide and the Psychiatric Perspective. In: International Journal of Environmental Research and Public Health 15/1425 (2018) 1– 23, here 5, doi:10.3390/ ijerph15071425
Theorien und Methode/n
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Verhaltens. Foucault argumentierte, dass der Tod und der Sex die Positionen auf der Landkarte der Macht tauschten und dass ersterer an den Rand gedrängt wurde.¹⁰¹ Tatsächlich haben sich aber viel eher – offenbar analog zu den Sexualitäten – suizidale Subjektivitäten herausgebildet, die um die Behauptung einer suizidalen Essenz und Identität zirkulieren, also einem inhärenten und vordiskursiven Todeswunsch.¹⁰² Die skizzierten Entwicklungen waren folgenreich. Sie drängten die aktive suizidale Handlung als solche und externe Gründe dafür in den Hintergrund. Gleichzeitig priorisierten sie mutmaßliche psychopathologische Verfasstheiten und forderten für diese ein professionelles Management ein.¹⁰³ Diese von Suizidexpert*innen beharrlich vorgetragenen psychozentrischen ‚Wahrheiten‘ und biopolitischen Paradigmen erschufen erst den Gegenstand des Suiziddiskurses: die suizidalen Subjekte.¹⁰⁴ Konsequent zu Ende gedacht, ist die Behauptung einer diesen Subjekten innewohnenden suizidalen Identität folgenreich; läuft sie doch darauf hinaus, dass diese nicht jenseits eines solchen Horizonts existieren können und dass sich ihr Dasein erst durch ein suizidales Szenario erfüllt.¹⁰⁵ Neben dem Foucaultschen Universum stützt sich diese Arbeit auch auf die Erkenntnisse Jürgen Links zur Normalitätsproduktion.¹⁰⁶ Das ‚Normale‘ wird im Suiziddiskurs durch ein stabiles, undynamisches Niveau repräsentiert, während eine steigende Rate, in Anlehnung an Durkheims Anomiekonzept, als Ausdruck sozialer Regellosigkeit gilt.¹⁰⁷ Aus der Linkschen Diskurstheorie wird auch das Konzept der Kollektivsymbolik fruchtbar gemacht, da dieses beschreibt, wie und woran sich eine Gesellschaft orientiert. Kollektivsymbole sind weit verbreitete Allegorien, Metaphern, Stereotype,¹⁰⁸ die von vielen Mitgliedern einer Gesell Taylor, Birth of the Suicidal Subject: Nelly Arcan, Michel Foucault, and Voluntary Death, 194. Taylor, Birth of the Suicidal Subject, 198 – 199. Einzig für Personen, die sich um Sterbehilfe bemühen, wird ein Agens reserviert, welches aber ausschließt, diese Sterbewilligen als suizidal zu beschreiben. Taylor, Birth of the Suicidal Subject, 200. Den Suizidexpert*innen gelang es, die Aussagemöglichkeiten im Diskurs zu verknappen, indem sie zensurierten, wie und was über den selbstgegebenen Tod gesagt werden konnte. Taylor, Birth of the Suicidal Subject, 202– 203. Taylor, Birth of the Suicidal Subject, 204. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (Göttingen 4 2009). Link, Versuch über den Normalismus, 263 – 264. „Kollektivsymbole sind kollektiv in einer Kultur verankerte Sinn-Bilder, d. h. sämtliche in der klassischen Rhetorik bekannten ›rhetorischen Figuren‹, bei denen einem „Bild“ ein symbolischer „Sinn“ oder in der Regel mehrere solcher „Sinne“ zuzuordnen sind. Dabei liegt das „Bild „ entweder tatsächlich in ikonischer (visueller) Gestalt vor wie bei barocken Emblemen oder auf vielen Bildern der Werbung, oder es wird rein sprachlich evoziert. Der „Sinn“ des Bildes wird entweder in
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Untersuchungsgegenstand
schaft gekannt und geteilt werden, und die als wichtige Bindeglieder zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Diskursen fungieren.¹⁰⁹ Durch die Analyse der Kollektivsymbole lassen sich daher Rückschlüsse auf den common sense einer Gesellschaft ziehen, d. h. die selbstverständlichen und unhinterfragten Wissensbestände. Kollektivsymbole, die das Normale modellieren, drehen sich u. a. um Vorstellungen hereinbrechender Naturgewalten, hochgradig ansteckender und sich rasch ausbreitender Krankheiten sowie gefährlicher Fahrten. Diese durchsieben und -filtern die Bevölkerung und gefährden die gegebene Ordnung.¹¹⁰ Zentral hierbei ist die Annahme, dass soziale Systeme homöodynamisch funktionieren und dass das Normale bzw. das Anomale den organisierenden Horizont darstellt.¹¹¹ Zur eindringlichen Symbolisierung dieser Zustände wird auf sogenannte Bildbrüche zurückgegriffen, die, wenn sie miteinander verkettet werden, als Katachresenmäander bezeichnet werden.¹¹² Solcherart wird in Texten beispielsweise zuerst auf das Bild einer Welle zurückgegriffen, das dann von jenem des Fiebers und schlussendlich des weit entfernten sicheren Hafens abgelöst bzw. variiert wird. Die Wirkung der Kollektivsymbole lässt sich folgendermaßen zusammenfassen, sie „bedienen sowohl einzeln wie in toto die Funktion partiell-symbolischer Reintegration der Wissens- und Diskursteilung für die Subjekte und damit die Subjektivierung des Wissens“.¹¹³
Quellenkorpus Die Quellen wurden so ausgewählt, dass sie die Diskursdimensionen und mögliche (Dis)Kontinuitäten, Konflikte und Krisen möglichst gut abbildeten,¹¹⁴ wobei insbesondere die letzte Kategorie – angesichts der ständig behaupteten Gesellschafts- und Geschlechterkrise – von höchster Bedeutung war. Ihre Ausrufung
Sprache deutlich formuliert (denotiert) oder eher indirekt suggeriert (konnotiert) … „Kollektivsymbolik“ meint im folgenden also nicht bloß Metaphorik, sondern die Gesamtheit aller am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Vergleiche und metaphorae continuatae (als komplexes Bild ausgeführte Metaphern), partes pro toto (synekdochai continuatae), Exempelfälle, anschauliche Modelle und Analogien einer Kultur.“ Link, Versuch über den Normalismus, 42. Link, Versuch über den Normalismus, 25. Link, Versuch über den Normalismus, 42. Link, Versuch über den Normalismus, 42. Link, Versuch über den Normalismus, 42. Link, Versuch über den Normalismus, 43. Achim Landwehr, Abschließende: Betrachtungen: Kreuzungen, Wiederholungen, Irritationen, Konflikte. In: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel (Wiesbaden 2010) 377– 384.
Quellenkorpus
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operierte stets auf der Basis, dass es ein stabiles, unproblematisches Zuvor gab, welches nun bedroht war. Vor diesem Hintergrund wird evident, dass sich Krisen um „kulturelle Verteilungskämpfe“ drehten und dass sie höchst produktiv und nachhaltig wirken konnten.¹¹⁵ Die galt insbesondere dann, wenn sich das Krisenempfinden in das Selbstverständnis einer sozialen Gruppe einschrieb und so zu einem Identitätskern wurde.¹¹⁶ Daher wurde darauf geachtet, wissenschaftliche Quellen neben solche zu stellen, welche die alltägliche diskursive und soziale Praxis abbildeten. Damit die horizontale Dimension gut erfasst werden konnte, wurden sowohl Texte berücksichtigt, welche die Suizidalen sehr idealtypisch und abstrakt behandelten, als auch solche, die versuchten, die Menschen ‚besser abzuholen‘ und eine identitätsstiftende Wirkung zu entfalten. Um eine Privilegierung des Sprechens über die suizidalen Subjekte zu verhindern, wurden Quellen hinzugefügt, in welchen Betroffenen ihre Ideen, Gedanken und Impulse schilderten. Neben einer Makroanalyse, um die wichtigsten Aussagefelder zu explorieren, wurde auch eine Reihe von Feinanalysen vorgenommen. Mit diesen wurden für den jeweiligen Quellentypus sowohl serielle als auch seltene Argumentationsmuster herausgearbeitet. Wie bereits angedeutet, wurde bei der Korpuserstellung darauf geachtet, spezialdiskursive Texte gleichberechtigt neben Quellen aus dem Interdiskurs (z. B.: Printmedien)¹¹⁷ und solche aus dem Elementardiskurs (z. B.: Tagebuchaufzeichnungen, lebensgeschichtliche Erinnerungen) zu stellen. Weitere wichtige Prinzipien, die die Korpusbildung anleiteten, stellten jene der Intertextualität und der Interdiskursivität dar. Während der erste der beiden Begriffe auf die Herein Felix Krämer, Nina Mackert, Wenn Subjekte die Krise bekommen. Hegemonie, Performanz und Wandel am Beispiel einer Geschichte moderner Männlichkeit. In: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel (Wiesbaden 2010) 265 – 279, hier 268. Krämer, Mackert, Wenn Subjekte die Krise bekommen, 268. Mediale Quellen gelten aufgrund der Frage, ob bzw. welche Berichterstattung zu imitativem Handeln animiert, als bedeutsam. Thomas Niederkrotenthaler et al., The role of media reports in completed and prevented suicide – Werther versus Papageno effects. In: British Journal of Psychiatry 197 (2010) 234– 243. Thomas Niederkrotenthaler et al., Werther vs. Papageno Effect Online. Randomized Controlled Trial of the Impact of Educative Suicide Prevention Websites on Suicide Risk Factors. In: European Journal of Public Health 26/1 (2016) 241. Sebastian Scherr kommentiert den Forschungsstand und die rezenten -designs zum Werther- und Papageno-Effekt kritisch. Er weist darauf hin, dass Studien, die diese Effekte nicht eindeutig nachweisen können, nur geringe Chance auf Verbreitung haben (Publication bias). Zudem könne in vielen Arbeiten nicht belegt werden, dass die Verstorbenen überhaupt Medien mit suizidrelevanten Inhalten konsumierten. Sebastian Scherr, Depression – Medien – Suizid. Zur empirischen Relevanz von Depressionen und Medien für die Suizidalität (Wiesbaden 2016) 16 – 41. Da eine historische Arbeit die tatsächlichen Rezeptionsgewohnheiten noch viel weniger rekonstruieren kann, verfolgt sie den Werther- und Papageno-Effekt nicht weiter.
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Untersuchungsgegenstand
nahme von zitatförmigen Elementen abzielt, beschreibt der zweite die Integration von anderen Diskursordnungen. In der Praxis bedeutete dies, dass beispielsweise eine wissenschaftliche Statistik in den Zeitungen abgedruckt oder dass wissenschaftliche Texte mit Versatzstücken aus der eigenen Erfahrungswelt durchsetzt wurden. Analog dazu wurden Selbstzeugnisse mit literarischen Formen oder mit wissenschaftlichen Thesen angereichert usw. Die Berücksichtigung dieser Texte war deswegen lohnenswert, da sie besonders gut illustrierten, wie Aussagen zirkulierten und diffundierten. Gleichzeitig wurde so aber auch ihr Potenzial sichtbar, Aussagen zu negieren, modifizieren und reformulieren. Eine zentrale Rolle spielten hier die Kollektivsymbole, die sowohl im wissenschaftlichen und medialöffentlichen Diskurs als auch in jenem des elementaren Selbstausdruckes auftauchten und daher von sehr vielen Menschen gekannt und geteilt wurden. Die vielfach aus Metaphern und anschaulichen Schemata bestehenden Kollektivsymbole halfen dem Individuum, sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen und die Welt auszudeuten. Diese orientierenden Aspekte konnten durch vertikale Analysen, die häufig wiederkehrende Kollektivsymbole und Metaphern in den Mittelpunkt rückten, besonders gut erfasst werden. Das konkrete Korpus bestand aus den Suizidstatistiken für Österreich von 1870 bis 1970 und den Klassikern der Suizidforschung. Bei diesem Quellentyp wurden auch nicht-österreichische Quellen berücksichtigt, wenn sie den Diskurs besonders stark geprägt haben. Des Weiteren wurden Quellen einbezogen, die die Forschung zur geschlechtsspezifischen Suizidalität darzustellen vermochten. In diesen Bereich fielen insbesondere statistisch-sozialmedizinische Abhandlungen sowie solche gerichtsmedizinischer, anatomischer, psychiatrischer und psychologischer Natur. Individuelle Suizidfälle wurden aber nicht nur im Rahmen der medizinischen Praxis besprochen, sondern auch in den Medien. Besonders ‚spektakuläre‘ Fälle erregten große Aufmerksamkeit und wurden immer wieder mit längeren Artikeln in den Printmedien bedacht. Hier ließen sich besonders zahlreich intertextuelle bzw. -diskursive Bezüge zu Selbstzeugnissen von Suizident*innen finden, da die Zeitungen regelmäßig aus Abschiedsbriefen zu zitieren wussten. Aus diesem Grund wurde dem Quellenkorpus die sogenannte Alte bzw. Neue Kronenzeitung hinzugefügt, die durch ihren opportunistischen und populistischen Tenor die vielfältigsten Diskurspositionen abzubilden vermochte. Das printmediale Korpus umfasste zudem sechs Frauen*zeitschriften, die ein möglichst breites Spektrum abdeckten, da die Suizidraten immer wieder politisch instrumentalisiert wurden.¹¹⁸ Ein weiteres Kriterium war eine möglichst konti-
Folgende Zeitschriften wurden berücksichtigt: Die Hausfrau (1877– 1884), Wiener Haus-
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nuierliche Erscheinungsweise, um diskursive Veränderungen gut ausmachen zu können. Um die Positionen der Glaubensgemeinschaften nachvollziehen zu können, wurden eine katholische und eine evangelische Kirchenzeitung sowie eine jüdische Publikation dem Korpus hinzugefügt. Da es die Ressourcen gesprengt hätte, alle Ausgaben zu untersuchen, wurde jeweils das 1. Halbjahr nach jenem mit der höchsten Suizidrate des Dezenniums analysiert. In der Forschungspraxis bedeutete dies für die 1930er-Jahre die Analyse des ersten Halbjahres 1939, da die höchste Suizidrate 1938 erreicht worden war. Der Fokus auf die jeweils ersten sechs Monate ergab sich auch daraus, dass die Suizidzahlen immer erst am Beginn des nachfolgenden Jahres bekanntgegeben wurden und regelmäßig zu einer intensiven Berichterstattung führten. Dieser Effekt wurde durch den traditionellen Frühjahrsgipfel bei suizidalen Handlungen zusätzlich verstärkt. Diese Stichprobenstrategie wurde um die Anfangs- und Endjahre der beiden Weltkriege sowie um jenes der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich erweitert. Einen letzten Quellentypus bildeten Selbstzeugnisse wie Abschiedsbriefe ¹¹⁹, lebensgeschichtliche Aufzeichnungen und Privat-Korrespondenzen. Anhand dieser wurde rekonstruiert, wie sich die Subjekte positionierten und auf das Angebote einer vergeschlechtlichten suizidalen Subjektivität reagierten. Das diesbezügliche Korpus bestand aus letzten Zeilen von Suizident*innen im Fin de siècle sowie aus Tagebüchern von Kriegsteilnehmer*innen und von Jugendlichen im zwischenkriegszeitlichen Österreich. Ebenso berücksichtigt wurden lebensgeschichtliche Erinnerungen von Nazis und Abschiedsbriefe von Personen, die für sich keine Perspektive sahen – trotz des in den 1950er-Jahren einsetzenden Wirtschaftswunders und guter persönlicher Aussichten.
frauen-Zeitung (1881– 1914), Arbeiterinnen-Zeitung (1892– 1924), Elisabeth-Blatt (1906 – 1938), Völkische Frauenzeitung (1939 bis Ende 1944), Die Frau (1924– 1934), Neue Frau (1945 – 1987). Abschiedsbriefe spielen auch in der rezente Suizidologie eine Rolle. Sie werden vor allem hinsichtlich ihrer Themen, ihrer Sprache, ihrer Repräsentativität und ihrer Echtheit untersucht. Brigitte Eisenwort et al., Abschiedsbriefe und ihre Bedeutung innerhalb der Suizidologie. In: Der Nervenarzt 77/11 (2006) 1355 – 1362. Brigitte Eisenwort et al, Suizidologie: Abschiedsbriefe und ihre Themen. In: Der Nervenarzt 78/6 (2007) 672– 678.
Kapitel 1 Das Sprechen über suizidales Verhalten Genealogie, Geschlecht und grundlegende kulturelle Skripte Der Suiziddiskurs weist eine lange Geschichte auf, die sich als bewegt, vielschichtig und mitunter überraschend charakterisieren lässt. Daher soll nachgezeichnet werden, welche Positionen prosperierten, wer die entscheidenden Stakeholder waren und wie Geschlecht fruchtbar gemacht wurde. Gleichzeitig wirkten der Diskurs und die sozialen Praktiken auch auf Geschlecht zurück und formten es. Die Verhandlung des Suizids lässt sich grob in drei Phasen und damit verknüpfte Paradigmata unterteilen.¹²⁰ In der Antike stand die moralphilosophische Dimension im Vordergrund und suizidales Verhalten bezeugte die menschliche Freiheit. Die mittelalterliche Kirche erhob die Selbsttötung zu einer Peccatum mortale und warf den Suizident*innen vor, den Bruch mit Gott absichtlich und böswillig gesucht zu haben. Aufgrund der engen Verquickung von geistlicher und weltlicher Macht infiltrierte diese Auffassung auch die frühen Strafrechtscodices und der Suizid wurde zu einem kriminellen Vergehen. Solcherart stellte suizidales Verhalten sowohl ein theologisches als auch rechtliches Problem dar. In einer Gesellschaft, in der nur der Souverän ungestraft töten durfte, musste ein Verstoß dagegen als ungeheure Provokation erachtet werden. Daher war die Pönalisierung suizidalen Verhaltens nur konsequent, um so die alles durchdringende Gewalt des Souveräns zu bestätigen. Mit der Aufklärung gewannen liberalere Stimme wieder mehr Gewicht, die insbesondere den Noncompos-mentis-Standpunkt betonten. Damit begann der Siegeszug des pathologischen Paradigmas, welches es ermöglichte, suizidales Verhalten zu entpönalisieren. Das bedeutete aber auch, dass der selbstgegebene Tod pathologisiert und alternative Bedeutungen marginalisiert wurden. Diese Lehrmeinung wurde in den folgenden Jahrhunderten zugespitzt und umfassend durchgesetzt und daher ist es nur folgerichtig, wenn Ian Marsh die gegenwärtige Situation mit den Worten beschreibt, „that it is possible to speak here of a contemporary ‘regime of truth’, one centring on a compulsory ontology of pathology in relation to suicide“.¹²¹ Geschlecht machte alle diese Wandlungen mit und regelte, wie suizidales Verhalten interpretiert und repräsentiert wurde – von der antiken Figur der Lu-
Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Göttingen 1999) 135. Ian Marsh, Suicide. Foucault, History and Truth (Cambridge 2010) 4. https://doi.org/10.1515/9783110664256-002
Kapitel 1: Das Sprechen über suizidales Verhalten
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cretia, die als Tugendheldin gefeiert wurde, bis zur verstärkten weiblichen Reklamierung suizidalen Verhaltens im 19. und 20. Jahrhundert. Parallel dazu entwickelten die Angehörigen spezifische Strategien, die Geschlecht geschickt nützten, um die drohenden rechtlichen und sozialen Konsequenzen möglichst hintanzuhalten. Offensichtlich drehte sich der Suiziddiskurs um die Grenzen des Selbst, der Autonomität und der Souveränität.¹²² Und damit auch um das Subjekt selbst: Was formte dieses, wie erfolgte dessen Modellierung und wer konnte überhaupt eines sein? Solcherart wird auch der zentrale Stellenwert von Geschlecht deutlich, denn die Subjekte konnten nicht jenseits davon konstituiert werden. Das hing mit dem unterstellten A-priori-Charakter und dem hier wirksamen Diskurs zusammen, der erst die Dinge hervorbrachte, die er als unverrückbar postulierte.¹²³ Geschlecht bildete daher keineswegs „just a structural addon“¹²⁴, sondern vielmehr eine strukturierende Struktur,¹²⁵ was sich auch daran zeigte, dass zahlreiche bereits in der Antike etablierte Suizidmotive¹²⁶ die Zeiten überdauerten. Vor diesem Hintergrund blieb für Frauen* die Bewahrung der sexuellen Integrität ein eher toleriertes oder zumindest weniger verdammtes Motiv. Suizidales Verhalten von Männern* wurde dann am ehesten verziehen, wenn diese aus Gründen des politischen Protests, des gesellschaftlichen Opfers oder um ihr Gesicht zu bewahren handelten.¹²⁷
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Band 3, Frankfurt/M. 1975) 217– 272. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (Wien 1930). Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (Frankfurt/M. 1991). Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (Berlin 1995). Katrina Jaworski, The Gender of Suicide. Knowledge Production, Theory and Suicidology (Farnham 2014) 35. Jaworski, The Gender of Suicide, 35. Zu den in der Antike verhandelten Motiven: Georges Minois, Geschichte des Selbstmordes (Düsseldorf u. a. 1996). Gerd Mischler,Von der Freiheit, das Leben zu lassen. Kulturgeschichte des Suizids (Hamburg u. a. 2000). Anton J. L. van Hooff, From Autothanasia to Suicide. Self-Killing in Classical Antiquity (London et al. 1990). Hartwin Brandt, Am Ende des Lebens. Alter, Tod und Suizid in der Antike (München 2010). Dagmar Hofmann, Suizid in der Spätantike. Seine Bewertung in der lateinischen Literatur (Stuttgart 2007). Marja-Liisa Honkasalo, Miira Tuominen (Eds.), Culture, Suicide, and the Human Condition (New York et al. 2014). Florian Kühnel, Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne (München 2013) 87– 101; 143 – 156. David Lee Lederer, Honfibú: Nation, Männlichkeit und die Kultur der Selbstopferung in Ungarn. In: Andreas Bähr, Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis (Köln u. a. 2005) 137– 168. Zum Konzept der (männlichen) Ehre und seinen Transformationen: Dagmar Burkhart, Eine Geschichte der Ehre (Darmstadt 2006). Daniel von Kászony, Felo-de-se. Das Verbrechen des Selbstmordes. Anthropologisch-psychologische Studien illustrirt (sic!) durch Beispiele der interessantesten Selbstmordfälle der Gegenwart (Leipzig 1870) 2.
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Griechisch-römische Antike und Spätantike Die Philosophie stellt die älteste Wissenschaft dar, die sich mit dem selbstgewählten Sterben beschäftigt. Platon (427– 347 v.Chr.) stufte den Suizid als noch verwerflicher als den Mord an Familienmitgliedern ein.¹²⁸ Nachsicht ließ er gelten, wenn eine bereits zum Tode verurteilte Person suizidal handelte. Auch ein zwingendes und schmerzhaftes Ereignis, Erniedrigung oder Gesichtsverlust galten ihm als entschuldbar. Dagegen bewertete er die Selbsttötung aus Willensschwäche als besonders negativ und empfahl für diese Toten ein Grab ohne Inschrift abseits der anderen. Diese von Platon getroffene Unterteilung in weniger und besonders verwerfliche Suizidgründe hält sich im Grunde genommen, wenn auch abgeschwächt, bis heute.¹²⁹ Beim griechischen Denker fand sich aber auch ein religiöses Argument, demzufolge der Mensch seinem Gott unterworfen war, genauso wie die Sklav*innen ihren Besitzer*innen gehörten. Solcherart durfte sich der Mensch nur dann töten, wenn es Gott angeordnet hatte – ansonsten griff er dem Schicksal unerlaubt vor.¹³⁰ Aristoteles (384 – 322 v.Chr.) bewertete suizidales Handeln als Verbrechen gegen die Gemeinschaft und als einen unerlaubten Dialogabbruch.¹³¹ Seine Argumentation fußte aber weniger auf einem utilitaristischen Ansatz und dem Vorwurf, dass suizidales Verhalten den Angehörigen Kummer bereitete, sondern auf der Verletzung des staatlichen und gesellschaftlichen Primats. In diesem Kontext trat auch die von Platon formulierte Missachtung gegenüber den Göttern und gegenüber sich selbst in den Hintergrund. Für Aristoteles war klar, dass die Suizidtabus gesellschaftliche Vorkehrungen darstellten, um so selbstbeschädigendes Verhalten einzudämmen und Unheil von der Gemeinschaft abzuwenden.¹³² Der Philosoph teilte auch die ältere Meinung, dass suizidales Handeln einer feigen Tat gleichkam und nur gesetzt wurde, um einem anderen Übel zu entgehen. Solcherart konnte es keine edle Motivierung für den selbstgegebenen Tod geben.¹³³ Darüber hinaus war Aristoteles überzeugt, dass ein wichtiges Ziel für den Menschen darin bestünde, ein gutes Leben zu führen, was den Suizid vor allem eines machte – nämlich sinnlos. Nachdem das religiöse Argument Platons und das säkulare Aristoteles’ vorgestellt wurden, folgt das li-
Peter Mösgen, Selbstmord oder Freitod? Das Phänomen des Suizides aus christlich-philosophischer Sicht (Eichstätt 1999) 41. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 41. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 41. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 41. Anton J. L. van Hooff, From Autothanasia to Suicide. Self-Killing in Classical Antiquity (London et al. 1990) 187. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide.
Griechisch-römische Antike und Spätantike
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beralere der Stoa. Diese offenere Haltung darf nicht über ihre prinzipiellen Vorbehalte hinwegtäuschen, denn auch diese philosophische Schule stand dem Suizid ablehnend gegenüber und betrachtete ihn als Verletzung der sozialen Pflicht.¹³⁴ Ihr prominentester Gelehrter, Seneca (354– 262 v.Chr.), billigte suizidales Verhalten nur angesichts größter Schmerzen, einer terminalen Krankheit oder, wenn die tugendhafte Lebensführung gefährdet war.¹³⁵ Selbst in diesen Fällen waren vorher reifliche und tiefgehende Überlegungen anzustellen. Die geschlechtsspezifische Verhandlung suizidalen Verhaltens in der Antike lässt sich am ehesten anhand historiografischer, literarischer und mythologischer Texte rekonstruieren, denn die philosophischen Texte referenzierten nur den männlichen Kontinuum und ließen so Frauen* unter den Tisch fallen. Es fällt auf, dass es in der Antike ein viel breiteres Suizidvokabular gab, als wir es heute kennen. Offensichtlich war der Diskurs im klassischen Zeitalter noch nicht so verengt und ließ vielfältige Bedeutungen zu.¹³⁶ Aus Anton van Hooffs Untersuchung der klassischen griechischen und römischen Periode geht hervor, dass die unterschiedlichen Lebenswelten der binären Geschlechter auch spezifische Suizidmotive zeitigten. Frauen* waren prinzipiell aus der Politik, dem militärischen Geschehen und der beruflich-geschäftlichen Sphäre ausgeschlossen. Bei den Männern* konnten auch nur die griechischen Vollbürger und die Inhaber des römischen Bürgerrechts politisch partizipieren. Der Kanon möglicher Gründe von Frauen* wurde besonders von literarischen und mythologischen Quellen geprägt, da diese ideale Weiblichkeit verhandelten und daher auch beschrieben, unter welchen Umständen eine suizidale Handlung eine adäquate Reaktion darstellte. Suizidales Verhalten von Frauen* galt dann als zulässig, wenn sie so ihre Treue und Loyalität, die sogenannte fides, gegenüber dem Ehemann und der (neuen) Familie unter Beweis stellten.¹³⁷ Verloren Männer* ihr Gesicht, erlebten sie eine schwere Niederlage oder drohte ihnen entwürdigende Schmach, so schien es nicht für sie selbst geboten, suizidal zu handeln, sondern auch für ihre Partnerinnen. Das hing damit zusammen, dass der Status der Frau* stets an jenen des Ehemannes gebunden war. Gleichzeitig war es unerhört, dass Frauen* ihren weiblichen Bezugspersonen in den Tod folgten. Eine Ausnahme davon bildeten Charmion und Eiras, die Dienerinnen der ägyptischen Königin Cleopatra, die sich ihrem Suizid anschlossen. Die Selbsttötung von Männern* konnte auch als ge-
Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 42. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 42. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 3. Van Hooff zählte für die griechische und die lateinische Sprache 340 Lexeme, die suizidales Handeln beschrieben. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 243 – 250 Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 115.
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Kapitel 1: Das Sprechen über suizidales Verhalten
sellschaftliches Opfer, die sogenannte devotio, eingestuft werden.¹³⁸ Als ein Beispiel für diese Motivation galt der Suizid des Catos minor, der sich in den Augen der Historiografen für die römische Republik geopfert hat. Frauen* wurde eine analoge Motivation deutlich seltener attribuiert. Ihr Handeln wurde vor allem dann mit der devotio in Verbindung gebracht, wenn es darum ging, Ehemänner*, Väter oder Brüder zu beschämen, die in einer das gesellschaftliche Opfer erfordernden Situation keine tugendhafte Entscheidung getroffen hatten.¹³⁹ Offenbar galten junge Frauen* bereits im antiken Griechenland als suizidgefährdete Gruppe, denn anders lässt sich nicht erklären, wieso Ärzte wie Hippokrates dieses Phänomen thematisierten. Er gelangte zu einer bemerkenswerten Erklärung, die nicht nur darauf abzielte, Frauen ein einfaches Gemüt und eine Anfälligkeit für Wahnzustände zu attestieren, sondern die auch physiologische Umstände miteinbezog. Er war nämlich überzeugt, dass nicht abfließendes Menstruationsblut schwermütige Zustände provozierte. Daher war es für ihn wichtig, junge Frauen* rasch zu verheiraten, um so ihren Sexualapparat und ihre psychische Gesundheit zu erhalten.¹⁴⁰ Wurden Frauen* bereits in den griechischen Quellen kaum berücksichtigt, verschärfte sich diese Ignoranz noch einmal in der späten römischen Republik und der frühen Kaiserzeit. Die Historiografen dokumentierten vor allem Suizide von wohlsituierten Bürgern und Soldaten, die ihr Gesicht oder das Vertrauen des Kaisers verloren hatten.¹⁴¹ Da Tugenden im alten Rom eine männliche Konnotation trugen, kam der Anekdotensammler Valerius Maximus zum Schluss, dass die Seele der Lucretia transgeschlechtlich gewesen sein müsse, denn sonst hätte sie sich nicht zu ihrem ehrenhaften Suizid aufraffen können.¹⁴² Analog zu Frauen* wurde auch das suizidale Verhalten von Fremden, Unfreien und von Personen außerhalb des griechisch-römischen Kulturkreise kaum aufgezeichnet. Nichtsdestotrotz trug suizidales Verhalten von Sklav*innen offenbar eine derart bedrohliche Komponente in sich, dass es zum Gegenstand juristischer Regelungen wurde.¹⁴³
Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 28. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 127. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 23. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 15. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 21. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 20. In diesen Regelungen ging es weniger darum, Sklavenkäufer*innen vor einem ‚Schadensfall‘ durch Suizid zu bewahren. Vielmehr thematisierten sie, dass selbstgerichtete Gewalt in fremdgerichtete umschlagen könnte. Daher hatten die Sklavenhalter*innen vor dem Kauf über mögliche Suizidversuche informiert zu werden, ansonsten wurde das Geschäft hinfällig. Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 173 – 174.
Griechisch-römische Antike und Spätantike
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Die Geschichte des Christentums ist eng mit der Frage verknüpft, welchen Stellenwert Leid und Tod für die Gläubigen haben sollen.¹⁴⁴ Bereits die frühen Kirchenväter unternahmen große Anstrengungen, suizidales Handeln als heidnisch zu brandmarken und vom Märtyrertod abzugrenzen. Als besondere Herausforderung wurde die rivalisierende christliche Gesinnungsgruppe der Donatist*innen erlebt.¹⁴⁵ Den Kirchenlehrern gingen sie in ihrer Todesbereitschaft viel zu weit. Sie zerstörten nämlich die Grenze zum Martyrium und warfen damit eine heikle Frage auf. Bedurften die Gläubigen überhaupt kirchlicher Hirten oder konnten sie sich nicht auch allein Gott anvertrauen?¹⁴⁶ Genau diese Autonomie sollte verhindert werden, indem der Suizid als unzulässig klassifiziert wurde. Als zentrale Figur in dieser identitätsstiftenden Auseinandersetzung kristallisierte sich Augustinus von Hippo (354– 430) heraus.¹⁴⁷ Bemerkenswerterweise hatte er in seiner Jugend selbst mit suizidalen Impulsen zu kämpfen gehabt. Er verkraftete den Tod eines engen Freundes – den er als die Hälfte seiner Seele bezeichnete – nur schwer und erwog daher, sich selbst zu töten.¹⁴⁸ Nichtsdestotrotz – oder vielleicht gerade deswegen – argumentierte er 426 n.Chr. in De civitate Dei, suizidales Verhalten sei wie Mord zu interpretieren. Es verstoße gegen das fünfte Gebot des Dekalogs, aber auch gegen das erste, weil wider Gottes Willen gehandelt würde.¹⁴⁹ Das letzte der beiden Argumente verweist auf die jüdischen Wur-
Dagmar Hofmann, Suizid in der Spätantike. Seine Bewertung in der lateinischen Literatur (Stuttgart 2007) 55. Arne Hogrefe, Umstrittene Vergangenheit. Historische Argumente in der Auseinandersetzung Augustinus mit den Donatisten (Berlin 2009). Leidensnarrative trugen zentral zur Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses im 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert bei. Dieses basierte auf der körperlichen Leidensfähigkeit des Menschen und weichte den Gegensatz zwischen geistigem Ich und somatischem Behältnis auf. Judith Perkins, The Suffering Self. Pain and Narrative Representation in the Early Christian Era (New York 2002). Dieser Fokus und die Selbststilisierung der Christ*innen als Verfolgte beförderte die Durchsetzung der neuen Religion. Andreas Merkt, Verfolgung und Martyrium im frühen Christentum. Mythos, Historie, Theologie. In: Jan-Heiner Tück (Hg.), Sterben für Gott – Töten für Gott? Religion, Martyrium und Gewalt (Freiburg u. a. 2015) 192– 206. Günter Eder, Das Problem der Selbsttötung bei Augustinus und Kant (Dissertation Universität Wien, Wien 2005). Van Hooff, From Autothanasia to Suicide, 28. „Nam utique si non licet priuata potestate hominem occidere uel nocentem, cuius occidendi licentiam lex nulla concedit, profecto etiam qui se ipsum occidit homicida est, et tanto fit nocentior cum se occiderit, quanto innocentior in ea causa fuit, qua se occidendum putauit. nam si Iudae factum merito detestamur eumque ueritas iudicat, cum se laqueo suspendit, sceleratae illius traditionis auxisse potius quam expiasse commissum, quoniam dei misericordiam desperando exitiabiliter paenitens nullum sibi salubris paenitentiae locum reliquit: quanto magis a sua nece se abstinere debet, qui tali supplicio quod in se puniat non habet.“ Aurelius Augustinus, De
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Kapitel 1: Das Sprechen über suizidales Verhalten
zeln des Christentums. Jüd*innen lehnten vorsätzliches suizidales Handeln mit dem Hinweis ab, dass Noach einen Bund eingegangen sei, der das Leben vollkommen in Gottes Hand legte.¹⁵⁰ Mit dieser Auslegung ging auch ein Ausschluss von den meisten üblichen Trauerriten einher. Die jüdischen Gelehrten verurteilten den Suizid allerdings nicht lückenlos, da sie jene biblischen Fälle ausnahmen, die sich als märtyrerhaft klassifizieren ließen. Darunter fielen jene Priesterjünglinge, die sich bei der ersten Tempelzerstörung in Jerusalem vom Dach stürzten, um der drohenden Ermordung zuvorzukommen. Vor diesem Hintergrund wurde im Talmud die Auffassung vertreten, dass eine suizidale Handlung zulässig sei, wenn ein sicherer, qualvoller Tod vorweggenommen, eine dem jüdischen Sittenkodex widersprechende Unterwerfung oder die geforderte Aufgabe des mosaischen Glaubens verhindert werden konnte.¹⁵¹ Der Kirchenlehrer Augustinus entwickelte die Frage über die Zulässigkeit des Suizids anhand von drei konkreten Figuren: jene des Judas Iskariot, des Senators Marcus Porcius Cato der Jüngere und insbesondere über die der Römerin Lucretia. Das Schicksal der Letzteren zählte zum römischen Gründungsmythos und wurde von Titus Livius popularisiert. Lucretia soll im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt gelebt und durch Heirat dem Tarquinischen Adel angehört haben. Der Schilderung des Livius folgend wurde sie vom Sohn des despotischen Tyrannen vergewaltigt. Als Konsequenz soll sich Lucretia selbst getötet haben, damit sich keine sexuell untreue Ehefrau auf ihr Beispiel berufen könne.¹⁵² Laut Livius empörten sich die Römer*innen über das Ereignis dermaßen, dass daraus ein Aufstand erwuchs und die tyrannische Königsfamilie gestürzt wurde. Die Geschichte der Lucretia gehörte zur Gattung der exempla, jenen Narrativen, die dem Lesenden einen moralischen Leitfaden in die Hand geben und allgemein verbindliche Normen und Werte etablieren sollten. Im exemplum der Lucretia ließen sich drei solche Wertkomplexe identifizieren: die pudicitia, welche sich um die eheliche Treue der Lucretia drehte, die libertas, welche die Überwindung des despotischen
civitate Dei, Liber I, Caput XVII, De morte voluntaria ob metum poenae sive dedecoris, Bibliotheca Augustana, online unter , 7.11. 2016. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 71. Peter Kühn, Gottes Trauer und Klage in der rabbinischen Überlieferung (Talmud und Midrasch), (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums XIII, Leiden 1978) 148. „’Vos’ inquit ’videritis, quid illi debeatur; ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero; nec ulla deinde inpudica Lucretiae exemplo vivet.’“ Titus Livius (Livy), The History of Rome, Book 1, Chapter 58, Eds. W. Weissenborn, H. J. Müller, online unter , 6.11. 2016.
Griechisch-römische Antike und Spätantike
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Regimes fokussierte und die gloria, welche um die weibliche Tugendhaftigkeit zirkulierte.¹⁵³ Anhand der Figur der Lucretia lässt sich auch demonstrieren, dass suizidale Akte – wie alle anderen menschlichen Handlungen – stets der Interpretation bedürfen. Todeswünsche von Frauen* stellten eine besondere diskursive Herausforderung dar. Aufgrund der umstrittenen weiblichen Handlungsfähigkeit erschienen ihre Intentionen und Motive besonders geheimnisvoll.¹⁵⁴ Margaret Higonnet schlägt daher eine alternative Deutung der Ereignisse rund um Lucretia vor.¹⁵⁵ Diese tötete sich, weil sie Autonomität erlangen und nicht länger sexueller
Jan Follak, Lucretia zwischen positiver und negativer Anthropologie. Coluccio Salutatis Declamatio Lucretie und die Menschenbilder im exemplum der Lucretia von der Antike bis in die Neuzeit (Dissertation Universität Konstanz, Konstanz 2002) 22. Das Konzept der Handlungsfähigkeit erfährt in jüngster Vergangenheit erhöhte wissenschaftliche Aufmerksamkeit in der Suizidologie. Es wird dabei mit Fragen des kulturellen Kontexts, der Selbstsetzung und der Macht zusammengedacht. Damit soll das beschränkte Potential der Medizinisierung suizidalen Verhaltens überwunden und neues, diverses Wissen für die Prävention gewonnen werden. Trotz dieser partiellen Neuorientierung bleibt der biopolitische Fokus der Suizideinhegung erhalten.Vor diesem Hintergrund geht es weiter darum, suizidales Verhalten einer intelligiblen Form zuzuführen; es also zu zähmen und zu kontrollieren. Ludek Broz, Daniel Münster (Eds.), Suicide and Agency. Anthropological Perspectives on Self-Destruction, Personhood, and Power (Studies in Death, Materiality and the Origin of Time, Farnham 2015). Erminia Colucci, David Lester (Eds.), Suicide and Culture. Understanding the Context (Cambridge 2013). Jennifer White, Ian Marsh, Michael J. Kral, Jonathan Morris (Eds.), Critical Suicidology. Transforming Suicide Research and Prevention for the 21st Century (Vancouver et al. 2016). Honkasalo, Tuominen (Eds.), Culture, Suicide, and the Human Condition. Judith Butler kritisiert das auf ein souveränes Subjekt verweisende Konzept von Handlungsfähigkeit. Agency erscheint in diesem Zuschnitt als körperlicher Besitz und wird mit Autonomität, Unverfälschtheit und Transparenz assoziiert. Butler bestreitet dies und reformuliert Handlungsfähigkeit als Effekt einer regulierten und regulierenden sozialen Welt – und damit nicht originär vom Subjekt ausgehend. Damit negiert sie keineswegs die Handlungsfähigkeit, sondern weist das selbst-reflexive, souveräne Subjekt als dessen Ursprung zurück. Daraus ergibt sich, dass die Handlungsfähigkeit auf das Engste mit der Handlung selbst verwoben ist. Zudem muss ihr performativer Charakter berücksichtigt werden. Jaworski, The Gender of Suicide, 37– 38. Für Butler verweist das Handeln eines Subjekts stets auf den sozialen Raum, welcher diesem vorausgeht und es überschreitet: „We come into the world on the condition that the social world is already there, laying the groundwork for us. This implies that I cannot persist without norms of recognition that support my persistence: the sense of possibility pertaining to me must first be imagined from somewhere else before I can begin to imagine myself. My reflexivity is not only socially mediated, but socially constituted. I cannot be who I am without drawing upon the sociality of norms that precede and exceed me.“ Judith Butler, Undoing Gender (London 2004) 32. Margaret Higonnet, Speaking Silences: Women’s Suicide. In: Susan Rubin Suleiman (Ed.), The Female Body in Western Culture. Contemporary Perspectives (Cambridge/MA et al. 1986) 68 – 83, here 74.
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Besitz sein wollte – weder von ihrem Ehemann, der mit ihr prahlte und den späteren Vergewaltiger in das Haus einlud, noch vom Übergreifer selbst. Augustinus griff die Lucretia-Geschichte aus einem konkreten Anlass auf; und zwar aus der im Jahr 410 erfolgten Plünderung Roms durch die Westgoten. Im Zuge des Einfalls unter König Alarich waren zahlreiche Römer*innen vergewaltigt worden. Dem exemplum der Lucretia folgend, wäre den missbrauchten Frauen* der Suizid anzuraten gewesen. Sonst hätte ihnen leicht der Vorwurf des Ehebruchs gemacht werden können. Genau hier intervenierte Augustinus, denn suizidales Verhalten sollte eben nicht zur Norm erhoben werden. Er suchte die Verbindlichkeit des exemplums durch folgende drei Behauptungen zu entkräften, wobei die letzte als Täter-Opfer-Umkehr aufzufassen ist. Seine erste These lautete, Strafen müssen verhältnismäßig sein und daher sei es illegitim, dass die unschuldige Person strenger bestraft werde als der Täter. Zweitens: Mord ist verboten und daher auch die gewaltvolle Hinwegnahme des eigenen Lebens. Drittens behauptete er, dass Lucretia suizidal handelte, weil sie während der Vergewaltigung Lust empfand und so Schuld auf sich lud. Für Augustinus hatte Lucretia auf jeden Fall anstößig gehandelt: Sie machte sich entweder des ungerechten Suizids oder des Ehebruchs schuldig. Damit zusammenhängend formulierte er den Vorwurf, dass Lucretia auch die gloria verfehlte. Sie wartete nämlich das Urteil der Zeitgenoss*innen nicht ab und wollte unbedingt als ehrenhaft wahrgenommen werden. Sie hätte stattdessen ihr reines Gewissen betonen müssen, denn in letzter Instanz sei sie ohnehin nur Gott Rechenschaft schuldig. Dies führte ihn zum Schluss, dass die im Jahr 410 vergewaltigen Römer*innen richtig gehandelt hatten, indem sie den Suizid ausschlugen. Augustinus wollte auch den Suizid des römischen Senators und Feldherren Cato minor nicht als heldenhaften Protest verstanden wissen. Er argumentierte daher, dass dessen Tat mutlos war und nur Schwäche demonstrierte. Für ihn war Cato voll der Ungeduld, der eine mögliche Begnadigung durch den siegreichen Caesar ausschließen wollte, die Hoffnung auf diese Wendung aber sehr wohl seinem Sohn empfahl. Den Suizid des Judas Iskariot verurteilte Augustinus, weil sich ein Unrecht – der Verrat an Jesus Christus – nicht durch eine weitere Übertretung, den Erhängungstod – egalisieren lasse.¹⁵⁶ Zudem hatte auch dieser dem Urteil Gottes vorgegriffen.
Der Tod von Judas Iskariot ist nicht eindeutig überliefert. Das Matthäus-Evangelium berichtet von Suizid durch Erhängen. In der Apostelgeschichte des Lukas stirbt er durch einen Sturz. Margareta Gruber, Judas Iskariot/Iskariotes/Iskarioth. In: Josef Hainz, Martin Schmidl, Josef Sunckel (Hg.), Personenlexikon zum Neuen Testament (Düsseldorf 2004) 164– 168, hier 166.
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Mittelalter und Frühe Neuzeit Nachdem Augustinus den Weg vorgezeichnet hatte, folgten bald kirchliche Maßnahmen, die den Umgang mit Suizident*innen für Jahrhunderte prägten. Auf dem Konzil von Orléans (533 n.Chr.) wurden erste Sanktionsmaßnahmen für das Begräbnis durchgesetzt.¹⁵⁷ Man kam überein, dass den Suizident*innen weder Lieder noch Fürbitten gespendet werden durften – genauso wie den Mörder*innen. Das Verbot der Totenmesse wurde rasch darauf anlässlich des Konzils von Braga (563 n.Chr.) etabliert. Die letzte Stufe der Verschärfung wurde am Konzil von Nîmes (1184) erreicht, die auf die lückenlose und konsequente kirchenrechtliche Verdammung abzielte. Diese Pönalisierung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kirche differenzierte und suizidales Handeln in böswillig-absichtlich (felo de se) und fahrlässig-unzurechnungsfähig (non compos mentis) unterteilte.¹⁵⁸ Nur für die erste Kategorie sollten die kirchenrechtlichen Sanktionen vollumfänglich zutreffen. Da sich im Laufe des Mittelalters die Kirche besonders auf die Durchsetzung des Suizidverbots verwendete und ihre Moral- und Rechtsvorstellungen immer stärker in das weltliche Recht expandierten, war die Position der Nachsicht stets bedroht.¹⁵⁹ Im Anschluss an Augustinus setzte sich Thomas von Aquin (1224/25 – 1274) für eine klare und unnachgiebige Linie ein und beharrte darauf, dass der Suizid eine schwere Sünde darstellte. Er argumentierte in seinen Summa Theologica (1265/66 bis 1273), dass eine Selbsttötung gegen das Naturgesetz der Selbstliebe und den intrinsischen Wunsch zu leben verstieß. Außerdem verletzte sie den Anspruch des Gemeinwesens und die göttliche Souveränität. Das Leben jedes Individuums gehörte nämlich dem Schöpfer und war daher auch dessen Willen unterworfen.
Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 26. Alan H. Marks, Historical Suicide. In: Clifton D. Bryant (Ed.), Handbook of Death and Dying (Vol. 1, The Presence of Death, Thousand Oaks et al. 2003) 309 – 318, here 314. Evelyne Luef, A Matter of Life and Death: Suicide in Early Modern Austria and Sweden (ca. 1650 – 1750) (Dissertation Universität Wien, Wien 2016) 35. Diese Unterteilung in souveränes und unzurechnungsfähiges suizidales Handeln geht auf Timotheus von Alexandrien (gestorben 385) zurück. Gabriela Signori, Rechtskonstruktionen und religiöse Fiktionen. Bemerkungen zur Selbstmordfrage im Mittelalter. In: Gabriela Signori (Hg.), Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften (Forum Psychohistorie 3, Tübingen 1994) 7– 54, hier 21– 22. Zur genauen Explikation der Grundsätze felo de se und non compos mentis: Alexander Kästner, Tödliche Geschichte(n). Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547– 1815) (Konstanz 2012) 162– 223. Karsten Pfannkuchen, Selbstmord und Sanktionen. Eine rechtshistorische Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung ostpreußischer Bestimmungen (Berlin 2008).
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Daraus ergab sich, dass der Suizid eine dreifache Todsünde darstellte und der ‚einfachen‘ Vergewaltigung unterlegen war.¹⁶⁰ Solcherart durften sich missbrauchte oder davon bedrohte Frauen* keinesfalls selbst töten.¹⁶¹ Die Ausführungen von Thomas von Aquin waren keineswegs lückenlos oder unanfechtbar, was auch daher rührte, dass in der Bibel nicht klar Stellung gegen den Suizid bezogen worden war. So konnte sein erstes Argument nur gelten, wenn man den Tod als etwas Widernatürliches betrachtete und ihn außerhalb der Natur positionierte.¹⁶² Diese Inkonsistenz fing der Kirchengelehrte ein, indem er die Natur selbst und ihre Gesetze als Ausdruck des göttlichen Willens fasste.¹⁶³ Damit fiel aber das erste Argument mit dem dritten zusammen, welches selbst widersprüchlich war. Auch wenn der Mensch das Leben als ein Geschenk erhielt, so ging dieses – dem Wesen der Gabe folgend – in den Besitz der beschenkten Person über oder konnte von dieser zurückgewiesen werden.¹⁶⁴ Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass er das Recht des Menschen, sein Leben zu gestalten, betonte. Solcherart musste auch der Suizid als gedeckt erscheinen.¹⁶⁵ Zu guter Letzt litt das thomistische Gedankengebäude darunter, dass es zwar den Suizid verbot, aber nicht das kriegerische, staatliche und durch Notwehr bedingte Töten.¹⁶⁶ Vera Lind argumentiert, dass die Kirche trotz aller Bemühungen suizidales Verhalten nicht konsequent verhindern konnte.¹⁶⁷ Trotz ihrer klaren Haltung gestaltete sich nämlich die Meinung in der Bevölkerung differenzierter. Dies zeigte sich auch daran, dass die Figur der Lucretia weiterhin ein überaus populäres Motiv in den Künsten darstellte.¹⁶⁸ Vor diesem Hintergrund setzte die Kirche auf flankierende Maßnahmen und instrumentalisierte die weitverbreiteten magischen Ängste und die Abscheu vor dem Teufel. Die Hereinnahme eines satanischen Agenten leistete zweierlei. Erstens konnte suizidales Handeln hinsichtlich seiner politischen und sozialen Sprengkraft entschärft werden. Wer nämlich vom
Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 29. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 46. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 46. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 46. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 46. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 47. Mösgen, Selbstmord oder Freitod? 47. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 38. Beginnend mit der Renaissance wurde Lucretia allerdings weniger als Tugendheldin gefeiert, sondern als erotische Figur, die den männlich-voyeuristischen Blick befriedigen sollte. Peter Burschel, Männliche Tode – weibliche Tode. Zur Anthropologie des Martyriums in der frühen Neuzeit. In: Saeculum 50/I (1999) 75 – 97, hier 86 – 88.
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Teufel verführt worden war, hatte seine Autonomie verloren und war bloß willenloses Opfer. Zweitens ließ sich durch die regelrechte ‚Verlebendigung‘ des Teufels ein permanentes Bedrohungsszenario aufbauen. Selbst die Toten waren vor ihm nicht sicher, da ihnen stets das Fegefeuer drohte. In diesem angstbesetzten Klima gedieh der Gedanke, dass die Suizident*innen nicht nur ihr eigenes Seelenheil gefährdeten, sondern auch das der Lebenden. Dahingehend bangte die Bevölkerung, dass die ‚unzeitig‘ Verstorbenen das Diesseits durchstreiften und unschuldige Menschen verführten.¹⁶⁹ Um die befürchtete Loslösung der Seele vom suizidalen Leib zu unterbinden, erschienen dringende Maßnahmen geboten. Daraus resultierten schlussendlich Post-mortem-Strafen wie das Verbrennen und Rädern. Die verängstigte Bevölkerung setzte auch auf anderweitige Rituale und magische Praktiken, um die verlorene Seele immobil zu halten oder ihr zumindest die Orientierung zu erschweren.¹⁷⁰ Tatsächlich war die mittelalterliche und frühneuzeitliche Angst vor den Wiedergänger*innen nicht unbegründet.¹⁷¹ Da die Suizident*innen weder repräsentativ beerdigt noch richtig betrauert werden konnten, verließen sie das Diesseits nie wirklich.¹⁷² So sehr man sich auch bemühte, sie auszulöschen, sie überschatteten die Welt der Lebenden. Die zu Grunde liegende dichotome Einteilung in normales und anomales Sterben, bescherte den Suizident*innen eine zähe Qualität, die zwischen Tod und Leben lag. Sie waren im wahrsten Sinn des Wortes Untote. Bezüglich der angesprochenen Post-mortem-Strafen bezweifelt Gabriela Signori, dass diese tatsächlich konsequent oder überhaupt angewandt wurden.¹⁷³ Diese Art der Pönalisierung tauchte erstmals in Quellen aus dem 13. Jahrhundert auf und daraus, dass sie auch dort als große Außergewöhnlichkeit behandelt wurde, schließt Signori, dass sie vor allem der Abschreckung diente. Ungeachtet der Frage, ob bzw. inwieweit diese Strafen praktiziert wurden, war ihre geschlechtsspezifische Adressierung bemerkenswert. Während Frauen* verbrannt werden sollten, war für Männer* das Erhängen oder das Verscharren auf der Richtstätte vorgesehen. Signori argumentiert, dass die Post-mortem-Strafen die allerletzte Eskalationsstufe darstellten und dass sich In mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen wurde der Suizid häufig als Entleibung beschrieben. Derart wurde die christliche Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele betont. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 38. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 34– 58; 347– 367. David Lederer, The Dishonorable Dead: Perceptions of Suicide in Early Modern Germany. In: Sibylle Backmann et al. (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana 8, Berlin 1998) 349 – 365. Sylvina Zander, Von ‚Schinderkuhlen‘ und ‚Elendenecken‘. Das unehrliche Begräbnis vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. In: Norbert Fischer, Markwart Herzog (Hg.), Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden (Stuttgart 2005) 109 – 124. Signori, Rechtskonstruktionen und religiöse Fiktionen, 30 – 34.
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sozial schwache und randständige Männer*, die neben der suizidalen Handlung auch eine kriminelle gesetzt hatten, besonders davor fürchten mussten.¹⁷⁴ Die ablehnende und stigmatisierende Perspektive der Kirche prägte auch den Umgang mit den Angehörigen.¹⁷⁵ Hier gilt es, besonders auf die im 13. Jahrhundert in Frankreich und England etablierte Güterkonfiskation hinzuweisen, die allerdings nur bei zurechnungsfähigen Suizident*innen anzuwenden war.¹⁷⁶ Bemerkenswert ist, dass bei der obrigkeitlichen Besitzeinziehung auf das Geschlecht Rücksicht genommen wurde. Bei männlichen, zurechnungsfähigen Suizidenten musste die Familie auf fünfzig Prozent des Erbes verzichten, bei urteilsfähigen Frauen* hingegen nur auf ein Drittel. Vera Lind und Michael MacDonald/Terence R. Murphy vermuteten diesbezüglich einen Zusammenhang mit dem geringeren Besitzstand von Frauen* und spekulierten, dass weibliche Suizide häufiger vorkamen als dokumentiert. Der in zweifelhaften Fällen notwendige Gerichtsprozess dürfte nämlich nur dann gesucht worden sein, wenn es auch etwas zu konfiszieren gab.¹⁷⁷ Dahingehend hat sich die Obrigkeit wohl eher für Männer* und deren Fälle interessiert. Was die Güterkonfiskation im frühneuzeitlichen österreichischen Erzherzogtum angeht, so war nur ein eingeschränkter Personenkreis betroffen. Konkret waren dies Suizident*innen, über die das Verdikt felo de se gesprochen wurde und welche eine kriminelle Handlung gesetzt hatten.¹⁷⁸ Im Zuge der Urteilsfindung wurde die Lebensführung der toten Person genau erörtert und hinterfragt, ob diese den ‚moralischen Standards‘ entsprochen hatte. Allgemein wurde dem Prinzip in dubio pro reo gefolgt, womit eine gewisse Nachsicht möglich war. Bemerkenswert ist auch, dass die eingezogenen Güter in erster Linie der Abdeckung der Gerichtskosten dienen sollten. Jene, die aufgrund eines melancholischen Leidens oder einer geistigen Schwäche suizidal gehandelt hatten,
Signori, Rechtskonstruktionen und religiöse Fiktionen, 40. Eine Annäherung an die Praktiken ist am ehesten über Gerichtsdokumente möglich, da Selbstzeugnisse von Suizident*innen aus dem Mittelalter fehlen. Einen anderen Weg wählte Gabriela Signori, die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Wunder- bzw. Mirakelbücher auswertete. Solche Schriften wurden an Wallfahrtsorten von Kirchenschreibern geführt und dienten Dokumentationszwecken. Eingetragen wurden von Hilfesuchenden erlebte göttliche Gnadenbeweise. Bereits das römische Recht etablierte die Güterkonfiskation. Diese wurde allerdings nur dann schlagend, wenn die Suizident*in vor ihrem Tod eine kriminelle Tat gesetzt hatte. Die Selbsttötung wurde als Geständnis gewertet und als Versuch, sich der Strafe zu entziehen. Das bedeutet, dass mit der Konfiskation ein Verbrechen geahndet wurde, aber nicht der Suizid selbst. Pfannkuchen, Selbstmord und Sanktionen, 23 – 31. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 192– 194. Michael MacDonald, Terence R. Murphy, Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England (Oxford 1990). Luef, A Matter of Life and Death, 36 – 37.
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durften mit einem stillen Begräbnis auf geweihtem Grund rechnen; allerdings ohne Einsegnung und in einem gesonderten Bereich des Friedhofs.¹⁷⁹ Suizident*innen, die bewusst und ‚böswillig‘ gehandelt hatten, wurden aus dem Haus geschleift und innerhalb von drei Tagen vom Henker am Richtplatz verscharrt.¹⁸⁰ Auch Post-mortem-Körperstrafen konnten ausgesprochen werden; allerdings nur, wenn ein schwerwiegendes Verbrechen begangen worden war und die suizidale Handlung den justiziellen Zugriff verhindern sollte.¹⁸¹ Bemerkenswerten geschlechtsspezifischen Charakter trugen strafgesetzliche Bestimmungen aus dem 17. Jahrhundert, die vorsahen, dass bei Schwangeren der Leib eröffnet werden sollte. Derart sollte das Ungeborene entweder gerettet oder ihm zumindest eine Beerdigung abseits der Mutter ermöglicht werden. Ebenso war in den frühneuzeitlichen Codices geregelt, dass Bader*innen und Wundärzt*innen Hilfe leisten mussten und ihre Ehre beim Berühren eines suizidalen Leibes behielten. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in der Theresiana (1768) präzisiert, dass die Güterpfändung nur mehr dann anzuwenden war, wenn der bzw. die Suizident*in ein mit Konfiskation bedrohtes Verbrechen begangen hatte.¹⁸² Während in Frankreich und Preußen der Suizid bereits am Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Strafrecht gestrichen wurde, dauerte dies in Österreich noch bis 1803. Eine Übertretung blieb er aber weiterhin, da diese erst 1850 mit dem sogenannten Milderungspatent ersatzlos aufgehoben wurde.¹⁸³ Die schwerwiegenden Konsequenzen, die suizidales Verhalten umgaben, ließen die individuellen Motive und die Tat selbst in den Hintergrund rücken, hatten doch die Angehörigen ein veritables Interesse, dass sie die Sanktionen Luef, A Matter of Life and Death, 39. Luef, A Matter of Life and Death, 39. Luef, A Matter of Life and Death, 39. Luef, A Matter of Life and Death, 40. Dieses sogenannte Milderungspatent von 1850 formulierte: „Die Vorschriften der §§. 90 – 92 des II. Theiles (des StG von 1803, MH) haben zu entfallen, und es ist an der Stelle des strafgerichtlichen Einschreitens bei einem versuchten Selbstmorde durch die politische Behörde die Belehrung des Thäters mittelst des Seelsorgers, oder nach Umständen dessen Unterbringung in die öffentliche Heilanstalt oder sonstige Verwahrung; bei einem vollbrachten Selbstmord aber die Beerdigung des Leichnams in der Stille und in dem Friedhofe zu veranlassen.“ 24. Kaiserliches Patent vom 17.1.1850, Art. XVI, RGBl 14/1850, 286, ALEX. Historische Rechts- und Gesetztexte Online, Österreichische Nationalbibliothek, online unter , 15.11. 2016. Bezüglich der europaweiten Entpönalisierung darf nicht außer Acht geraten, dass in Preußen und Russland die Aufhebung der Verfolgung durch die Verabschiedung neuer Gesetze flankiert wurde. Und zwar solcher, die fortan das Umfeld der Suizident*innen verdächtigten und kriminalisierten, insbesondere durch die Tatbestände der Anstiftung und der Beihilfe zum Suizid. Healy, Suicide in Early Modern und Modern Europe, 916.
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hintanhalten konnten. Vor diesem Hintergrund setzten sie primär auf zwei Strategien.¹⁸⁴ Viele Familienangehörige behaupteten vor Gericht, dass der bzw. die Tote nicht bei Sinnen war. Zudem sei die suizidale Handlung eine Reaktion auf die Härten des Lebens gewesen. Sie setzten also auf eine Rhetorik des Mitleids, wobei sich auch hier geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten. Dahingehend wurde bei Frauen* auf ihre Seelennöte, insbesondere durch den Verlust des Ehemannes oder Kindes, sowie auf familiäre Konflikte hingewiesen.¹⁸⁵ Einen herausragenden Stellenwert nahm das Wochenbett ein, welches als eine stark risikobehaftete Phase betrachtet wurde. Hier dominierten Ängste, dass die Mutter auch dem Neugeborenen etwas antun könnte.¹⁸⁶ Hinsichtlich männlicher Suizidenten wurden familiäre und affektbedingte Krisen kaum als auslösende Momente reklamiert – mit Ausnahme der Tobsucht.¹⁸⁷ Ein Übel, das sie dafür besonders zu treffen schien, stellte der von Frauen* ausgehende Schadzauber dar.¹⁸⁸ Weibliches Suizidhandeln wurde vorwiegend mit dem häuslichen Bereich und einer möglichen Besessenheit assoziiert, wobei auch hier nach sozialer Zugehörigkeit differenziert wurde. Frauen* aus ärmlichen Verhältnissen galten als besonders gefährdet, besessen zu sein.¹⁸⁹ Männer* wurden mit diesem Phänomen kaum in Verbindung gebracht, womit aber auch ein potentiell entschuldigendes Moment wegfiel. Deviantes oder aggressives Auftreten ließ sich nämlich durchaus mit Männlichkeit in Einklang bringen. Daher schien bei Männern* auch viel weniger Anlass zur Pathologisierung dieser Verhaltensweisen gegeben zu sein. Demgegenüber wurde suizidales Handeln von Frauen* als krankhafter Ausfluss eines schwermütigen, verzagten oder besessenen Wesens gewertet.¹⁹⁰ Bemerkenswert ist auch, dass die zugänglichen Quellen starke geschlechterbezogene Imbalancen aufwiesen: Während sich Gerichtsakten primär vollendeten Suiziden von Männern* aus ärmlichen und marginalisierten Schichten widmeten, thematisierten Mirakelbücher vor allem Suizidversuche von Frauen*.¹⁹¹ Der Fokus letzterer lässt sich mit einem Hinweis auf das Genre erklären. Sogenannte Wunder- oder Mira-
Signori, Rechtskonstruktionen und religiöse Fiktionen, 18 – 19. Gabriela Signori, Aggression und Selbstzerstörung. „Geistesstörungen“ und Selbstmordversuche im Spannungsfeld spätmittelalterlicher Geschlechterstereotypen (15. und beginnendes 16. Jahrhundert). In: Gabriela Signori (Hg.), Trauer,Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften (Forum Psychohistorie 3, Tübingen 1994) 113 – 151, hier 138 – 139. Signori, Aggression und Selbstzerstörung, 146. Signori, Aggression und Selbstzerstörung, 141. Signori, Aggression und Selbstzerstörung, 139. Signori, Aggression und Selbstzerstörung, 151. Signori, Aggression und Selbstzerstörung, 151. Signori, Aggression und Selbstzerstörung, 150.
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kelbücher dokumentierten von christlichen Heiligen direkt oder indirekt gewirkte Wunder. Wenig überraschend ließ sich ein vollendeter Suizid nicht für die angestrebte Erhöhung verwerten – ein ‚heiliges‘ Intervenieren hingegen schon. Damit ist aber nicht das beinahe ausschließliche Augenmerk auf Frauen* erklärt. Hier könnte das Stereotyp einer besonderen Hilfs- und Rettungsbedürftigkeit eine Rolle gespielt haben. Wie von Signori argumentiert, dürfte auch eine gewisse Milde gegenüber lebensmüden Frauen* gegriffen haben. Vermutlich erlaubte es erst diese, suizidales Verhalten jenseits von Gerichtsdokumenten zu thematisieren. Hinsichtlich nicht-heteronormativer Geschlechts- und Sexualpraktiken zeigte sich das kanonische Recht besonders hart. Es sanktionierte Sodomie mit drakonischen Strafen, womit nicht nur homosexuelle Handlungen gemeint waren, sondern auch masturbatorische, anale, orale, inzestuöse und zoophile. Die sogenannte stumme Sünde wurde auch strafrechtlich verfolgt und war mit der Hinrichtung bedroht. Hier zeigten sich für das frühneuzeitliche Österreich einige interessante Verbindungen zu suizidalem Verhalten. So wurden von lebensmüden Personen u. a. sodomitische Praktiken erfunden, um so zum Tod verurteilt zu werden.¹⁹² Der christlichen Dogmatik folgend, gefährdete ein Suizid nämlich das Seelenheil, eine Hinrichtung hingegen nicht. In einem anderen Fall haderte ein Bauer offenbar weniger mit seinen zoophilen Praktiken sowie dem sexuellen Missbrauch seiner Stieftochter.¹⁹³ Vielmehr erläuterte er seinen Suizidversuch damit, dass er diese Taten nie gebeichtet hatte. Die reformierten Kirchen lehnten in der Praxis suizidale Handlungen analog zur katholischen Glaubensgemeinschaft ab.¹⁹⁴ Zwar war die Argumentation von Martin Luther anders und vor allem liberaler gelagert, letztendlich wollte aber auch er die sanktionierenden Praktiken beibehalten. Konkret interpretierte er den Suizid als eine Eingabe des Teufels, der die betroffene Person überwältigte. Über die solcherart Verführten konnte nur Gott ein Urteil fällen, das den Lebenden verborgen blieb. Da dies einer Freigabe suizidalen Handelns gleichgekommen wäre, eine solche aber unerwünscht war, setzten auch die reformierten Kirchen weiterhin auf die etablierten Praktiken der Abschreckung. Bemerkenswert ist, dass Luther selbst und insbesondere sein Lebensende zum Gegenstand des Suiziddiskurses wurde. Behaupteten doch katholische Eiferer gleich nach seinem Tod im Jahr 1546, dass er sich das Leben genommen hätte. Sie führten seinen
Susanne Hehenberger, Unkeusch wider die Natur. Sodomieprozesse im frühneuzeitlichen Österreich (Wien 2006) 21. Hehenberger, Unkeusch wider die Natur, 150 – 156. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 29 – 30.
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Suizid auf massive Schuldgefühle infolge eines von ihm begangenen Mordes zurück. Dieses Verbrechen sei auch der Grund gewesen, warum er überhaupt erst in den Augustinerorden eingetreten war.¹⁹⁵ Darüber hinaus wurde den Reformatoren unterstellt, dass sie mit ihren Lehren suizidale Tendenzen förderten und den Gläubigen durch die Hinwegnahme kirchlicher Riten die seelische Aufrichtung verweigerten.¹⁹⁶ Der Fokus der reformierten Kirchen auf die freie Gewissenserforschung und das souveräne Individuum wurde im Lauf der Jahrhunderte zu einem zentralen Argument für eine besondere Suizidneigung der Protestant*innen aufgebaut. Die Schriften von Martin Luther erhellen auch die etymologische Genese des „Selbstmord“-Begriffs. Er verwendete aber noch Verbalkonstruktionen und Umschreibungen, wie „sich entleiben“, „sich selbst morden“ oder „Leib und Seele morden“.¹⁹⁷ Der nominale Terminus des „Selbstmordes“ wurde erst im 17. Jahrhundert etabliert. Diese grammatikalische Reorientierung ist auch inhaltlich bemerkenswert, weisen doch Nomen eine konzeptionelle und zeitstabile Qualität auf – im Gegensatz zu den ereignis- und tätigkeitsbezogenen Verben. Die bereits hier sichtbare Verschiebung von der Tat zur Tatsache verstärkte sich in den folgenden Jahrhunderten noch. Was das Erzherzogtum Österreich angeht, so machte der Begriff des „Selbst=Mörders“ ab der Mitte des 16. Jahrhunderts Karriere.¹⁹⁸ Er wurde vor allem dann verwendet, wenn es sich um vorsätzliche Suizide handelte. Hinlänglich non compos mentis wurde stattdessen eher von Selbstentleibung oder der Verursachung des eigenen Todes gesprochen.¹⁹⁹ Der Terminus des „Selbstmordes“ als solcher ging erst in das Josephinische Strafgesetzbuch (1787) ein. Nichtsdestotrotz wurde in Gerichtsdokumenten weiterhin die Methode fokussiert und damit die todbringende Handlung als solche betont.²⁰⁰ Auch die Herausbildung des Suizidbegriffs fällt in das 17. Jahrhundert und zwar in seine Mitte. Der Terminus war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch so ‚unverständlich‘, dass ihn der katholische Geistliche Juan Caramuel y Lobkowitz (Theologia moralis fundamentalis) in einer Fußnote erklären musste. Ungeachtet dieser Erwähnung kann als gesichert betrachtet werden, dass sich der Begriff
Heinz Schilling, Martin Luther 1517/2017. In: Heinz Schilling et al. (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme (Berlin u. a. 2014) VII-XVII, hier X. Lind, 30. Jan Dietrich, Der Tod von eigener Hand. Studien zum Suizid im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient (Orientalische Religionen in der Antike 19, Tübingen 2017) 7. Luef, A Matter of Life and Death, 57. Der Begriff der Selbstentleibung ist besonders aufschlussreich. Ihm liegt die christliche Konzeption zu Grunde, dass nur der Leib sterblich ist, aber nicht die Seele. Luef, A Matter of Life and Death, 58.
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nicht vor dem 18. Jahrhundert durchsetzte. Beim Suizid- bzw. Suicidiumterminus handelte es sich um einen lateinischen Neologismus, der sich aus den Lexemen „sui caedere“ (sich fällen, töten, opfern) bzw. „sua manu caedere“ (durch eigene Hand fallen) speiste. Er bildet heute den medizinischen und psychologischen Standardbegriff und gilt als wertneutral.²⁰¹ Jan Dietrich zweifelt das an und weist auf das vom „homicidium“-Terminus (Mord) übernommene Muster hin. Insbesondere das Verb „caedere“ und das Nomen „caedes“ tragen eine gewaltbetonte Konnotation.²⁰² Das heutige Rechtswesen bevorzugt den Begriff der Selbsttötung, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Synonym für „Selbstmord“ in die Lexika aufgenommen wurde.²⁰³ Tomáš Garrigue Masaryk beschrieb ihn als einen Überbegriff für jedwede suizidale Handlung – auch für solche, die auf ignorantem und fahrlässigem Verhalten beruhten. Solcherart wurde der Suizidbegriff diversifiziert und der biopolitische Zugriff erweitert. Auch der Terminus der Selbsttötung gilt als objektiv, wobei unterschlagen wird, dass die Tötung nach wie vor exklusiv im Strafrecht verankert ist und eine erhebliche Übertretung darstellt.
Aufklärung Insbesondere die französischen und englischen Aufklärer Charles de Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau,Voltaire und David Hume setzten zentrale Impulse, die die Liberalisierung und Entpönalisierung suizidalen Handelns vorbereiteten und vorantrieben. Bei den deutschen Aufklärern des 18. Jahrhunderts dominierte weiterhin die ablehnende Position. Allerdings zeigte sich auch hier der gesellschaftliche Wandel. Immanuel Kant verteidigte zwar das Suizidverbot, allerdings unter veränderten Vorzeichen, und so definierte er den Menschen selbst als ‚die‘ moralische Instanz, noch vor Gott.²⁰⁴ Dieser war seinen Mitmenschen verpflichtet und durfte daher nicht suizidal handeln.²⁰⁵ Damit hatte sich auch im deutschsprachigen Raum der Übergang von einem religiös-kosmologischen Paradigma zu
Die pathologische Dimension wird hier ausgeblendet. Diese ermöglichte zwar die Entpönalisierung suizidalen Handelns, führte aber das Stigma der Krankheit ein. Andreas Bähr, Die tödliche Verletzung weiblicher Ehre. Emilia Galotti im Kontext der aufklärerischen Problematisierung von Selbsttötung. In: Andreas Bähr, Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis, 65 – 88, hier 69. Beide Begriffe wurden in der Antike verwendet. Sie beschrieben ein Blutbad oder einen Mord; also heftige Gewaltakte gegenüber Dritten. Dietrich, Der Tod von eigener Hand, 8. Luef, A Matter of Life and Death, 55 Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 112– 116. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 112– 116.
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einem moralisch-pathologischen vollzogen. Damit ging aber keineswegs die Stigmatisierung suizidalen Verhaltens verloren, vielmehr wurden fortan psychische Störungen und ihre Ausflüsse für dieses Phänomen verantwortlich gemacht. Als Promotoren dieser Entwicklung traten die beiden französischen Psychiater Jean-Étienne-Esquirol (1772– 1840) und Brière de Boismont (1797– 1881) auf. Sie konstatierten folgenreich, dass suizidales Verhalten eine „Geisteskrankheit“ ausdrücke.²⁰⁶ Solcherart medizinisierten sie suizidales Verhalten und forderten Expertenwissen und spezielle Fürsorge dafür ein.²⁰⁷ Dieser Paradigmenwechsel war durch die (frühen) Aufklärer vorbereitet worden. So behauptete etwa Baruch de Spinoza in seiner Ethik, dass versteckte äußere Ursachen, die Kontrolle über das Individuum übernahmen, den Geist unterwarfen und die Suizidalität bewirkten.²⁰⁸ Judith Butler arbeitete die enorme Tragweite des von Spinoza definierten, alles überstrahlenden intrinsischen Lebenswunsches heraus.²⁰⁹ Dieser Logik folgend, konnten Menschen gar nicht den eigenen Tod wollen und wer es dennoch tat, musste vollkommen von sich selbst entfremdet sein. Friedrich Nietzsche löste dieses Dilemma später über einen überlegenen Willen zur Macht und Sigmund Freud stellte dem Lebenstrieb einen ebensolchen Todeswunsch gegenüber.²¹⁰ Nietzsche zeichnete auch für einen weiteren zentralen Begriff verantwortlich und zwar jenen des „Freitodes“. In Also sprach Zarathustra argumentierte er, dass der selbstbestimmte Tod allemal einem langsamen Siechen vorzuziehen sei: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil
Jean-Étienne Esquirol, Des maladies mentales (Paris 1838). Alexandre Jacques F. Brière de Boismont, Du suicide et de la folie suicide, considérés dans leurs rapports avec la statistique, la médecine et la philosophie (Paris 1856). Ian Marsh, The Uses of History in the Unmaking of Modern Suicide. In: Journal of Social History 46/3 (2013) 744– 756, here 746. Zum Sprachgebrauch: der englische Begriff „medicalization“ bzw. „medicalisation“ ist in das Deutsche korrekt mit Medizinisierung zu übersetzen. Nichtsdestotrotz hat sich im Deutschen der Begriff der Medikalisierung durchgesetzt. Dieser ist aber problematisch, weil er suggeriert, dass die von der Medizin eingezogenen, nicht-medizinischen Phänomene (nur) mit Medikamenten behandelt würden. Gunhild Buse, „… als hätte ich ein Schatzkästlein verloren.“ Hysterektomie aus der Perspektive einer feministisch-theologischen Medizinethik (Studien der Moraltheologie 23, Münster 2003) 74, Fußnote 219. „Drittens schließlich folgt, dass diejenigen, die sich selbst ums Leben bringen, geistig ohnmächtig sind und dass sie von äußeren Ursachen, die ihrer Natur widerstreben, gänzlich bezwungen werden.“ Baruch de Spinoza, Die Ethik (Wiesbaden 2007) 219. Judith Butler, Senses of the Subject (New York 2015) 69. Birgit Sandkaulen, Die Macht des Lebens und die Freiheit zum Tod. Spinozas Theorie des Suizids im Problemfeld moderner Subjektivität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/2 (2007) 193 – 207.
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i c h will.“²¹¹ Auch diese liberale, später noch von Jean Améry um eine Facette erweiterte Position, gilt inzwischen als überholt. Das rezente Paradigma wurde in den 1950er-Jahren von der Psychiatrie formuliert und ist als das sogenannte präsuizidale Syndrom bekannt.²¹² Die Aufklärung bestätigte alte Suizidmotive, stellte sie aber auch auf den Kopf. Gotthold E. Lessing unterstrich in seiner Emilia Galotti die bedrohte weibliche sexuelle Integrität und auch Cato minor wurde noch lange als Tugendheld gefeiert.²¹³ Gleichzeitig ist die weitere Verhandlung seines Falles besonders spannend, da 1839 ein britischer Mediziner auf einmal behauptete, dass Cato verrückt und geisteskrank gewesen sein müsse.²¹⁴ Das hing damit zusammen, dass sich am Ende des 18. Jahrhunderts die kulturellen Skripte, die suizidales Verhalten umgaben, massiv zu verändern begonnen hatten.²¹⁵ Sara Silva Canetto erkannte als erste die orientierende Funktion dieser Skripte.²¹⁶ Ihr zufolge ist suizidales Verhalten stets kontext- und kulturgebunden und daher keineswegs invariabel oder historisch konstant. Solcherart verfügt jede Kultur über mannigfaltige Narrative und Risikofaktoren, die regulieren, wann und wie suizidales Verhalten eine adäquate Handlungsoption darstellt.²¹⁷ Die auf den Kategorien der
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (Band 1, Chemnitz 1883) 103. Dieses Symptomkonglomerat umfasst starke Einengung, umgekehrte Aggression und irrationale Imaginationen. Thomas Bronisch, Der Suizid. Ursachen. Warnsignale. Prävention (München 52007) 37– 56. Bähr, Die tödliche Verletzung weiblicher Ehre, 65 – 88. Marsh, The Uses of History in the Unmaking of Modern Suicide, 744– 745. Daniel Gordon, From Act to Fact. The Transformation of Suicide in Western Thought. In: Historical Reflections 42/2 (2016) 32– 51, here 34– 36; 47. Silvia Sara Canetto, She died for love and he for glory: Gender myths of suicidal behavior. In: Omega. Journal of Death and Dying 26 (1992– 1993) 1– 17. Silvia Sara Canetto, Meaning of Gender and Suicidal Behavior Among Adolescents. In: Suicide and Life-Threatening Behavior 17 (1997) 339 – 351. Silvia Sara Canetto, Isaac Sakinofsky, The Gender Paradox in Suicide. In: Suicide and Life-Threatening Behavior 28/1 (1998) 1– 23. Silvia Sara Canetto, Women and Suicidal Behavior: A Cultural Analysis. In: American Journal of Orthopsychiatry 78/2 (2008) 259 – 266. Erin Winterrowd, Silvia Sara Canetto, Kathrin Benoit, Permissive beliefs and attitudes about older adult suicide: a suicide enabling script? In: Aging & Mental Health (2015) 1– 9. Silvia Sara Canetto, Suicide: Why Are Older Men So Vulnerable? In: Men and Masculinities (2015) 1– 22. Joyce P. Chu, Peter Goldblum, Rebecca Floyd, Bruce Bongar, The Cultural Theory and Model of Suicide. In: Applied and Preventive Psychology 14 (2010) 25 – 40. Kathy McKay, Allison Milner, Myfanwy Maple, Women and Suicide: Beyond the Gender Paradox. In: International Journal of Culture and Mental Health 7/2 (2014) 168 – 178. Brigitte Eisenwort, Benedikt Till, Barbara Hinterbuchinger, Thomas Niederkrotenthaler, Sociable, Mentally Disturbed Women and Angry, Rejected Men: Cultural Scripts for the Suicidal Behavior of Women and Men in the Austrian Print Media. In: Sex Roles 71 (2014) 246 – 260.
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Differenz beruhenden kulturellen Skripte funktionieren wie eine Art Blaupause für Todeswünsche.²¹⁸ Diese Beobachtung trifft sich mit der Forderung von Andreas Bähr, suizidales Verhalten als kulturelle Praxis und als historisch-kulturelle Semantik zu untersuchen.²¹⁹ Er weist aber auch zu Recht darauf hin, dass es im eigentlichen Sinn gar nicht untersucht werden kann. Das Forschungsobjekt bilden vielmehr seine Repräsentationen, wobei es hier zu beachten gilt, „dass in der Repräsentation von Selbsttötung etwas anderes zum Ausdruck gebracht wird als das, was zunächst zum Ausdruck gebracht zu werden scheint. Dies bedeutet auch, dass es jeweils sehr unterschiedliche Dinge sind, die sich in der Repräsentation von Selbsttötung repräsentiert finden“.²²⁰
Die Künste spielten eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung und Popularisierung der neuen kulturellen Skripte rund um suizidales Handeln.²²¹ Prägende Wirkung entfalteten Johann Wolfgang von Goethe und Jean-Jacques Rousseau mit ihren Romanen Die Leiden des jungen Werther und Julie Oder die neue Héloïse. ²²² Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Arbeit von Simone Fullagar und Wendy O’Brien. Sie untersuchten, wie Frauen* ihre suizidalen Handlungen erklärten und dabei auf Geschlecht und kulturelle Skripte Bezug nahmen: Simone Fullagar, Wendy O’Brien, Speaking of Suicide as a Gendered Problematic: Suicide Attempts and Recovery within Women’s Narratives of Depression. In: Jennifer White, Ian Marsh, Michael J. Kral, Jonathan Morris (Eds.), Critical Suicidology. Transforming Suicide Research and Prevention for the 21st Century (Vancouver et al. 2016) 94– 114. Ähnliche Aspekte – nur spezifisch für Männer* in Finnland – verfolgt diese Arbeit: Marja-Liisa Honkasalo, „When We Stop Living, We Also Stop Dying“: Men, Suicide, and Moral Agency. In: Honkasalo, Tuominen (Eds.), Culture, Suicide, and the Human Condition, 171– 198. Andreas Bähr, Zur Einführung: Selbsttötung und (Geschichts‐)Wissenschaft. In: Ders., Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis (Köln, Weimar, Wien 2005) 1– 20, hier 3. Bähr, Zur Einführung: Selbsttötung und (Geschichts‐)Wissenschaft, 1. Der ungarische Autor Daniel von Kászony beschrieb die Anziehungskraft dieser Werke und den Wandel der kulturellen Skripte folgendermaßen: „Werden nicht Geschichten erfunden, welche den Selbstmord als eine große, erhabene Handlung darstellen? Wie viele Thränen haben Goethe’s Ottilie (in den Wahlverwandtschaften) und Werther, wie viele Edgar Ravenswood in Lucia di Lammermoor und viele andere Selbstmörder herausgepreßt? Ist es je einem Menschen eingefallen, diese Personen als Verbrecher an sich selbst zu verdammen? Gewiß nicht. Somit geräth die allgemeine Meinung, die Volksstimme, mit der Meinung der positiven Gesetze in einen Conflict, und darf man da nicht sagen, die Volksstimme sei Gottes Stimme?“ Daniel von Kászony, Felo-de-se. Das Verbrechen des Selbstmordes. Anthropologisch-psychologische Studien illustrirt (sic!) durch Beispiele der interessantesten Selbstmordfälle der Gegenwart (Leipzig 1870) 10. Goethe thematisierte das selbstgewählte Sterben noch einmal und zwar in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften (1809). Darin hungert sich die verstummte Protagonistin Ottilie zu Tode, um dauerhafte Entsagung zu erreichen und ihre vermeintliche Mitschuld an den tragischen
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Beide präsentierten ihre Protagonist*innen als authentisch, genuin leidend und empathisch. Ihre suizidalen Ideen und Impulse erschienen nachvollziehbar und verständlich. Goethe ästhetisierte das Leiden und sein Werther verkörperte – wie kein Romanheld zuvor – tiefstes Empfinden und größte Verzweiflung.²²³ Und damit verwandelte er suizidale Phantasien und Gesten in etwas Begehrenswertes.²²⁴ Goethe schlug durch die bereits im Titel erwähnten Leiden übrigens auch eine Brücke zum christlichen Märtyrermotiv.²²⁵ Rasch nach der Publikation im Jahr 1774 schien die Gesellschaft von einem regelrechten „Wertherfieber“ und einer Reihe von Imitationssuiziden ergriffen zu werden.²²⁶ Im 18. und 19. Jahrhundert wurde suizidales Verhalten zunehmend mit der Auflösung des Selbst und einer fragmentierten Identität assoziiert. Insbesondere suizidale Frauen* schienen unter sozialer Desintegration und einem passiven Selbst, dass sich verloren hat, zu leiden.²²⁷ Die frühe Soziologie identifizierte zwar die moderne Gesellschaft als risikotreibend, meinte zugleich aber, dass man es mehr mit Tatsachen und
Ereignissen zu sühnen. Elisabeth Herrmann, Die Todesproblematik in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ (Berlin 1998). Al Alvarez, The Savage God. A Study of Suicide (London 2002) 230. Zur zeitgenössischen Wirkung und Rezeption: Heinz Härtl (Hg.), „Die Wahlverwandtschaften“. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808 – 1832 (Berlin 1983). Das männlich konnotierte Werther-Phänomen erstreckte sich offenbar auf beide Geschlechter. Anders ist es nicht zu erklären, warum die Kritiker explizite Warnungen für Männer* und Frauen* aussprachen.Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Göttingen 1999) 128. Die Attraktivität des Romans erlosch auch nach Jahrzehnten nicht. Bettina von Arnim kommentierte den Suizid ihrer Freundin Karoline von Günderrode im Juli 1806 mit folgenden Worten: „Wir lasen zusammen den Werther und sprachen viel über den Selbstmord; sie sagte: ‚Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag’s nicht erleben, dass mich die Jugend verlässt‘“. Bettina Brentano, Bericht über den Selbstmord der Günderrode. In: Christa Wolf (Hg.), Karoline von Günderrode. Der Schatten eines Traumes. Gedichte, Prosa, Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen (Darmstadt u. a. 1981) 259. Der Suizid von Günderrode wurde in der Regel auf verschmähte Liebe zurückgeführt. Sie selbst hatte ihre Tat als heroisch-männlich inszeniert: Carola Hilmes, „Welch ein Trost, dass man nicht leben muss.“ Karoline von Günderrodes Inszenierung eines unweiblichen Heldentodes. In: Günter Blamberger et al. (Hg.), Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids (Morphomata 14, München 2013) 167– 190. Roísín Healy, Suicide in Early Modern und Modern Europe. In: The Historical Journal 49/3 (2006) 903 – 919, here 911. Der Roman traf zahlreiche Nerven der Zeit: „Lesesucht“, Empfindsamkeit und Affekt. Zudem verhandelte er die Konzepte von Liebe, Moral und Tod neu. Im Übrigen war es erst die intensive publizistische und mediale Bearbeitung, die der Figur des Werthers ihre Bedeutung verlieh. Julia Schreiner, Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts (München 2003) 265 – 278. Higonnet, Speaking Silences, 71– 73.
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weniger mit handelnden Menschen zu tun habe.²²⁸ Wie von Daniel Gordon argumentiert, verlor der Suiziddiskurs nach der Aufklärung seinen pluralistischen und elaborierten Charakter.²²⁹ Die Philosophie fokussierte andere Probleme und die Kirchengelehrten und Geistlichen vermochten keine neuen Impulse mehr zu setzen.²³⁰ Diese Lücke wurde erfolgreich von den soziologischen, psychiatrischen und psychologischen Disziplinen besetzt, die alle danach trachteten, suizidales Verhalten intelligibel zu machen. Die dafür notwendige thematische Verengung erreichten sie, indem sie suizidales Verhalten pathologisierten. Und so variierte fortan nur mehr, wer bzw. was hier kränkelte: das Individuum – in Form einer psychischen Störung, oder die gesamte Gesellschaft – in Form einer dysfunktionalen Ordnung?²³¹
19. Jahrhundert Während der Aufklärung galten Menschen als besonders gefährdet, an Hypochondrie und Melancholie zu erkranken.²³² Die Beziehung des Bürgertums zu diesen beiden Phänomenen war ambivalent. Einerseits lockten eine (geniale) bürgerliche Identität und der damit einhergehende Distinktionsgewinn. Anderseits galt es, sich von diesen Spintisierereien zu distanzieren, damit die aufklärerischen Werte von Vernunft, Geselligkeit und Maßhalten umso heller leuchten konnten.²³³ Die reziproke Verknüpfung von Melancholie und Suizidalität erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Fortan galten melancholische Menschen als vulnerabel und wer tatsächlich suizidal gehandelt hatte, dem wurde Schwermut unterstellt.²³⁴
Gordon, From Act to Fact, 32– 33. Gordon, From Act to Fact, 41– 42; 46. Im Wesentlich lassen sich drei Positionen herausarbeiten: die Affirmation der rigiden Ablehnung, eine gemäßigte Auffassung unter Hereinnahme von medizinischen Argumenten und eine liberale Einstellung, die suizidales Verhalten nicht mehr als Sünde begreifen wollte. Wenig überraschend erreichte letztere kaum Zuspruch. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 97– 111. Gordon, From Act to Fact, 41. Schreiner, Jenseits vom Glück, 183 – 196. Kühnel, Kranke Ehre? 101– 109. Åsa Jansson, From Statistics to Diagnostics: Medical Certificates, Melancholia, and „Suicidal Propensities“ in Victorian Psychiatry. In: Journal of Social History 46/3 (2013) 716 – 731. Zur Entwicklung des Melancholie-Konzepts und seiner heutigen Interpretation als klinische Depression siehe: Jennifer Radden, Introduction: From Melancholic States to Clinical Depression. In: Jennifer Radden (Ed.), The Nature of Melancholy. From Aristotle to Kristeva (New York 2000) 3 – 54.
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Mit der Aufklärung war suizidales Verhalten aus der Sphäre der politischen Eliten gelöst worden. Flankiert von der medial stetig zunehmenden Aufmerksamkeit, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und der Forderung nach größerer politischer Teilhabe für alle Bevölkerungsschichten, durchlief suizidales Verhalten einen Demokratisierungs- und Individualisierungsprozess.²³⁵ Es wurde im wahrsten Sinne des Wortes zu etwas Alltäglichem und verlor seinen elitären Charakter. Fortan stand es breiten Bevölkerungsschichten offen, auf ihr individuelles Leid suizidal zu reagieren. Und den Statistiken zufolge taten sie dies auch, denn mit Beginn der 1870er-Jahre legten die Suizidraten in Österreich erheblich zu. War 1869 noch eine Suizidrate von 7 verzeichnet worden, verdreifachte sich diese beinahe innerhalb eines Jahrzehnts auf den Wert von 19.²³⁶ Bis 1904 blieb dieses Niveau relativ konstant, um dann auf eine Zahl von 28 im Jahr 1913 hochzuklettern. Gleichzeitig explodierten ab den 1870erJahren die Publikationen über suizidales Verhalten.²³⁷ Die skizzierte Entwicklung wurde besonders von den Frauen* angetrieben. Bis 1913 erhöhte sich ihre Suizidbeteiligung auf 24 Prozent, um sich dann bis 1940 auf beinahe 46 Prozent zu verdoppeln.²³⁸ Oder anders formuliert, die neuen kulturellen Skripte schienen für sie besonders attraktiv zu sein. Suizidales Verhalten wurde als emotional, intrinsisch und Ausdruck des eigenen Leidens codiert und dadurch mit jenen Qualitäten versehen, die als explizit weiblich galten.²³⁹ Diese Entwicklung zeigte sich in zahlreichen Romanen des späten 19. Jahrhunderts, die mit einer weiblichen Protagonistin aufwarteten. Laut Margaret Higonnet wurde weibliches Suizidhandeln zu einer regelrechten kulturellen Obsession.²⁴⁰ Leo Tolstoi, Gustave Flaubert, Henrik Ibsen, August Strindberg – sie alle setzten auf suizidale Frauenfiguren und loteten die Diskrepanz zwischen Tabu und Fetisch aus.²⁴¹ Aller-
Gordon, From Act to Fact, 47. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm das mediale Interesse rasant zu. Die Suizidrate gibt an, wie viele Personen einer Bezugsgröße von 100.000 Suizid verüben, d. h. 1869 töteten sich pro 100.000 österreichischen Einwohner*innen sieben selbst. Die Maßzahl wurde entwickelt, um Populationen besser vergleichen zu können. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 485. Mit dem Beginn der 1870er-Jahre entfaltete sich eine rege Publikationstätigkeit zum Thema des suizidalen Verhaltens. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 496 – 497. Bis zum Jahr 1870 lagen die Suizide von Frauen* deutlich unter der 20-Prozent-Marke. Um 1890 wurde dieser Wert erreicht und bald überschritten. Norbert Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988. In: Zeitgeschichte 17/5 (1990) 209 – 225, hier 214. Marsh, The Uses of History in the Unmaking of Modern Suicide, 746. Higonnet, Speaking Silences, 68. Auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb war das Thema wie etwa in den Werken von Friedrich Hebbel: Maria Magdalena (1843), Theodor Fontane: Cécile (1886), Unwiederbringlich
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dings präsentierten sie ihre weiblichen Charaktere als wenig positiv. Trugen diese doch narzisstische, manipulative und egoistische Züge und scheiterten an ihrer sich auflösenden Identität. Letztendlich traten sie als passive Figuren einer überkommenen Gesellschaftsordnung auf. Tatsächlich ging es den Autoren weniger darum, individuelles Leid herauszuarbeiten, sondern Milieus zu kritisieren, die sich durch soziale Zwänge, Dünkelhaftig- und Rücksichtslosigkeit auszeichneten. Die Verknüpfung von egoistischem und suizidalem Verhalten ließ sich auch in kirchlichen Blättern finden und sollte durch Liebe und Hingabe überwunden werden: „Der wahre Inhalt des Lebens ist die Liebe; seine wahre Armut wurzelt im Egoismus. Wir leben nur in dem Maße, als wir lieben; der Egoismus ist ein Hinschwinden, ein Tod, ein Selbstmord. Wer sind die Glücklichen hienieden, wenn es nicht die Menschen sind, die ihr Sein hingeben? Und wer sind die Unzufriedenen, wenn es nicht die, die nur für sich leben?“²⁴²
Trotz der vorherigen Ausführungen kann von einer linearen Entwicklung im Suiziddiskurs nicht die Rede sein, da sich die Veränderungen komplex und mitunter gegenläufig zeigten. Wie bereits angesprochen, lösten die Impulse der Romantik suizidales Handeln von der exklusiv politischen Agenda. Autoren wie Rousseau und Goethe betonten die dem suizidalen Handeln zustrebende Entwicklung, also die individuelle, emotionale Dimension der erlebten Konflikte und Probleme. Gleichzeitig entwickelte die Arbeiter*innenschaft und insbesondere ihre Führungsfiguren ein immanentes Interesse, dass suizidales Verhalten als Symptom der dysfunktionalen Gesellschaft gelesen wurde. Dahingehend galten die Arbeiter*innen als Opfer der gnadenlosen, ausbeuterischen Eliten und der selbstgegebene Tod bildete ihren einzigen Ausweg. Da sich suizidales Verhalten quer durch alle Schichten zog, überschritt es das Partikuläre und stieg im 19. Jahrhundert zum Signum einer allgemeinen Krise auf.²⁴³ Die immer noch vorhandene politische Dimension suizidalen Handelns eröffnete auch neue Optionen für Frauen*. Mittels Beschädigung des eigenen Körpers konnten soziale Abhängigkeit und Unterwerfung aufgezeigt, aber auch Handlungsfähigkeit betont werden. Gleichzeitig wurde so die Subjektwerdung
(1891/1892), Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891), Arthur Schnitzler: Liebelei (1895), Der einsame Weg (1904), Fräulein Else (1924), Ferdinand von Saar: „Die Geigerin“ (1887), Sappho (1904) von Bedeutung. Liebe, Evangelische Kirchen-Zeitung für Österreich, 14. Jg., Nr. 10, 15. 5.1897. Ursula Baumann, Selbsttötung und die moralische Krise der Moderne. Durkheim und seine Zeitgenossen. In: Andreas Bähr, Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis (Köln u. a. 2005) 115 – 136, hier 115.
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angestoßen, welche selbst immer zwischen Ermächtigung und Unterwerfung aufgespannt ist.²⁴⁴ Besonders die britischen Suffragetten setzten auf strategische Leibesbeschädigung und nahmen dafür Hungerstreik, Zwangsernährung und Misshandlung auf sich.²⁴⁵ Der von Marion Wallace-Dunlop eingeführte Hungerstreik sollte den Status als politische Gefangene erzwingen.²⁴⁶ Eine der bekanntesten Suffragetten, Emily Davison, rannte 1913 öffentlichkeitswirksam in ein Pferd des Königs und wurde damit tatsächlich zur Märtyrerin für das Frauenwahlrecht.²⁴⁷ Vor diesem Ereignis hatte sie bereits versucht, sich zu Tode zu stürzen, um gegen die grausamen Haftbedingungen zu protestierten. Auch die deutsche Sozialistin Agnes Wabnitz nutzte 1892 den Hungerstreik, um gegen ihre Inhaftierung zu protestieren. 1894 setzte sie ein weiteres Zeichen und vergiftete sich auf einem Friedhof, der den Gefallenen vom Revolutionsjahr 1848 gewidmet war.²⁴⁸ Ab 1916 setzten auch die irischen Republikaner auf den Hungerstreik, um sich im Konflikt mit dem britischen Empire und dem unabhängigen irischen Staat durchzusetzen.²⁴⁹ Die spätere Irish Repbulican Army (IRA) arbeitete darauf hin, den Hungerstreik von seiner weiblichen Konnotation zu lösen und als ältere, männliche Protestvariante zu resignifizieren.²⁵⁰
Laut Michel Foucault stellt das aufgeklärte, männlich konnotierte Subjekt nur eine von mehreren Möglichkeiten dar, das Bewusstsein eines Selbst zu organisieren: „I will call subjectivization the procedure by which one obtains the constitution of a subject, or more precisely, of a subjectivity which is of course only one of the given possibilities of organization of a selfconsciousness.“ Michel Foucault, Politics, Philosophy, Culture. Interviews and Other Writings 1977– 1984 (New York 1988) 253. Donna Haraway schlug als alternative Subjektkonzeption jene des Cyborgs vor, Rosie Braidotti entwarf ein nomadierendes und Maria Lugones ein weltreisendes Subjekt. Dianna Taylor, Toward a Feminist „Politics of Ourselves“. In: Christopher Falzon, Timothy O’Leary, Jana Sawicki (Eds.), A Companion to Foucault (Chichester 2013) 403 – 418, here 403. Nicholas Michelsen, Politics and Suicide. The Philosophy of Political Self-destruction (Milton Park 2016) 101. Elizabeth Crawford, The Women’s Suffrage Movement. A Reference Guide 1866 – 1928 (London and New York 2009) 159 – 163. Neben Emily Davison setzten auch Mitstreiter*innen wie Zelie Emerson und Harold Hewitt auf die öffentlichkeitswirksame Beschädigung ihres Körpers. Andrew Ward, Horse-Racing’s Strangest Races. Extraordinary but true stories from over 150 years of racing (London 22000) Chapter ’Horse Stopped by Armed Man’ (s. p.). Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Weimar 2001) 288. Lorenz Graitl, Sterben als Spektakel. Zur kommunikativen Dimension des politisch motivierten Suizids (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2012) 65 – 66. Thomas Macho verortet den Aufstieg des Suizids zur politischen Strategie etwas später und zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er verweist dabei ebenfalls auf den Hungerstreik und fügt den „erweiterten Suizid“ und das „Selbstmordattentat“ hinzu. Thomas Macho, Auf der
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Das 19. Jahrhundert kann auch als erste Blütezeit der statistischen Dokumentation des Menschen gelten. Die Zahl als solche und die biometrische Erfassung ganzer sozialer Gruppen – vor allem wenn diese als deviant galten – entfaltete enorme Strahlkraft.²⁵¹ Insbesondere die unterstellte Regelmäßigkeit suizidalen Verhaltens sollte sich hierbei als attraktiv erweisen.²⁵² Im Zuge des Übergangs vom Feudalstaat zum modernen Staat entstand auch eine neue Regierungsform, die Gouvernementalität, die ihr Objekt in der Bevölkerung fand.²⁵³ Diesem Mensch-Ding-Komplex sollte mithilfe von statistischen Aufzeichnungen und wissenschaftlichen Analysen seine innere Regelmäßigkeit entlockt und damit intelligibel gemacht werden.²⁵⁴ Vor diesem Hintergrund formten Mortalitäts-, Geburts-, Heirats- und Krankheitsstatistiken ein wichtiges Reservoir, um neue Regierungsstrategien und -techniken zu entwickeln.²⁵⁵ Das Wohlergehen der Bevölkerung bildete sowohl den Anlass als auch den finalen Horizont für jegliche Intervention. Das wachsende Interesse am Suizid reflektierte diese Veränderung:
Suche nach dem verlorenen Zwilling, Allegorien des Selbstopfers in Jennifer Egans The Invisible Circus. In: Günter Blamberger et al. (Hg.), Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids (Morphomata 14, München 2013) 85 – 105, hier 101. Alain Desrosières. Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise (Berlin u. a. 2005) 1– 18. Ian Hacking, The Taming of Chance. Ideas in Context (Cambridge 1990) 1– 10. Daniel Meßner, Die Erfindung der Biometrie. Identifizierungstechniken und ihre Anwendungen 1870 – 1914 (Unveröff. Geisteswi. Dissertation Universität Wien, Wien 2015). Klaus Hamberger, Harald Katzmair, Herrschaft der Zahl – Krieg der Natur. Zur Mathematisierung der Sozialwissenschaften in England 1800 – 1900. In: ÖZG 7/2 (1996) 210 – 246. Hacking, The Taming of Chance, 64– 72. Desrosières. Die Politik der großen Zahlen, 108 – 114. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983) 129 – 153. Johanna Oksala, From Biopower to Governmentality. In: Christopher Falzon, Timothy O’Leary, Jana Sawicki (Eds.), A Companion to Foucault (Chichester 2013) 320 – 336, here 328. „Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung.“ Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983) 135. Bezüglich der Dokumentation der Bevölkerung und der Mortalität gelten für Österreich zwei Ereignisse als herausragend. Im 17. Jahrhundert erstellte Edmond Halley erstmals Sterbetafeln für die Stadt Breslau. Die erste Volkszählung in Österreich wurde unter Maria Theresia durchgeführt, die sogenannte Seelenconscription. Ab den 1860er Jahren leisteten Karl v. Czoernig und Karl Theodor v. Inama-Sternegg wichtige Impulse für die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Demografie. Beide leiteten auch die k. k. Statistische Central-Kommission, welche 1863 gegründet worden war und sich den Belangen der im Reichsrat vertretenen Ländern widmete. Alexander Pinwinkler, Wilhelm Winkler (1884– 1984) – eine Biographie. Zur Geschichte der Statistik und Demographie in Österreich und Deutschland (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 75, Berlin 2003) 94.
19. Jahrhundert
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„Dieses hartnäckige Sterbenwollen, das so fremd war und doch so regelmäßig und beständig auftrat und darum nicht durch individuelle Besonderheiten oder Zufälle zu erklären war, war eines der ersten Rätsel einer Gesellschaft, in der die politische Macht eben erst die Verwaltung des Lebens übernommen hatte.“²⁵⁶
Nichts weniger als das Versprechen, dieses Rätsel zu lösen, sollte der Soziologie zur ihrer Etablierung verhelfen. Die bis dahin dominierende Moralstatistik konnte weder zufriedenstellende Erklärungen für das vermutete Steigen der suizidalen Handlungen noch Präventionsstrategien anbieten.²⁵⁷ Zu den Zielen der Moralstatistik, die von Michel Guerry (1802– 1866) und Adolphe Quetelet (1796 – 1874) begründet worden war, gehörte es, dem Staat statistisches Material zu liefern, damit dieser die sozialen Verhältnisse gestalten konnte. Dies inkludierte die Erhebung von demografischen, ökonomischen sowie verhaltensbezogenen, sogenannten sittlichen Daten. Obwohl sie sich der Aufzeichnung von Tugenden und Lastern verschrieben hatte, fokussierte sie letztere. Als Grund hierfür wurde in Meyers Großes Konversations-Lexikon angeführt, dass die tugendhaften Handlungen weniger öffentlichen Charakter hätten und daher schwerer zu erfassen seien.²⁵⁸ Der Mangel an solchen Aufzeichnungen hatte vielmehr damit zu tun, dass der Souverän hier gar kein Interesse hatte, zu regulieren. Der Moralstatistik galten als unsittlich: kriminelle Handlung, Suizid, Ehescheidung, Sexarbeit und uneheliche Geburt. Die mit der Beforschung von Bevölkerungen und sozialen Gruppen beschäftigten Disziplinen versprachen, dass ihre Ergebnisse objektiv und neutral seien und bestehende Wissensarchive und Vorurteile keine Rolle spielten.²⁵⁹ Dahingehend wären auch die erkannten Gesetzmäßigkeiten pur und unverfälscht.²⁶⁰ Die Bedeutsamkeit der wissenschaftlich identifizierten Regelmäßigkeiten und Durchschnittswerte kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.²⁶¹ Bildeten sie doch die Grundlage für die Normierung des menschlichen Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983) 134. Michel Guerry (1802– 1866) und Adolphe Quetelet (1796 – 1874) gelten als ihre Begründer. Bibliographisches Institut (Hg.), Meyers Großes Konversations-Lexikon 14 (Leipzig u. a.1905) 131– 132, online unter , 01.10. 2013. Theodore M. Porter, Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life (Princeton 1995) 33 – 48; 193 – 216. Theodore M. Porter, Karl Pearson. The Scientific Life in a Statistical Age (Princeton and Oxford 2004) 215 – 248; 249 – 296. Katrin Schmersahl, Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (Opladen 1998) 1. Die ‚Erfindung‘ des Durchschnittsmenschen geht auf Adolphe Quetelet zurück. Der von ihm zur Mitte des 19. Jahrhundert geprägte Begriff des „homme moyen“ beschreibt „die durch die ‚arithmetischen Mittel‘ der Merkmale einer Population definierte Person“. Gemeint ist damit die Verknüpfung von zeitgebundenen Regelmäßigkeiten mit der von Carl Friedrich Gauß vorgestellten Normalverteilung. Obwohl der Durchschnittsmensch kein wirkliches Phänomen darstellt,
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Körpers und Verhaltens und damit auch das notwendige Antezedens für Interventionen zur (Wieder)Herstellung der Norm.²⁶² Vor diesem Hintergrund sind Statistiken jedweder Art – damit auch Todesursachen- und Suizidstatistiken – als soziale und kulturelle Konstruktionen zu begreifen, wovon letztere stets beim zeitgenössischen Wissen über das selbstgewählte Sterben und der unterstellten Motivation ansetzen.²⁶³
eine Personifikation ist, bildet er oft die Grundlage für politische Entschließungen. Alain Desrosières. Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise (Berlin u. a. 2005) 84. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (Göttingen 4 2013). Jack Douglas, The Social Meanings of Suicide (Princeton 1967) 163 – 231. Michael MacDonald, Terence R. Murphy, Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England (Oxford 1990) 360 – 366. Bezüglich der Genese von Suizidstatistiken und ihrer Reliabilität, Validität und Interpretation siehe auch: Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Göttingen 1999) 273 – 283. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 202– 226. Reinhard Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung (Suizidologie 16, Regensburg 2004) 27– 62. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 104– 129.
Kapitel 2 Vom Crescendo zur großen Bühne Oder die Angst vor einer Gesellschafts- und Geschlechterkrise (1870 – 1914) „Ich bin der Ansicht, dass bei dem gegenwärtigen Streben nach berechtigter und unberechtigter ‚Emancipation‘ das weibliche Geschlecht verhältnissmässig gefährdeter ist als die Männer; denn je mehr sich die Frauen auf allen Gebieten in Concurrenz mit den Männern einlassen, desto häufiger kommen sie in ungewohnte Verhältnisse und zu Schaden, während die Männer an den härteren Kampf um’s Leben schon gewohnt sind (Cap. IV, §. 5).“²⁶⁴
Mit diesen Worten warnte der Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk 1881 vor einem Zuviel an Gleichberechtigung. Frauen* seien nicht resilient genug, um sich in allen gesellschaftlichen Bereichen zu bewähren. Gleichwohl konnte von einer männlichen Robustheit nicht die Rede sein, da eine ausgeprägte Vulnerabilität viel zutreffender war. Ab 1870 indizierten die Statistiken für viele mitteleuropäische Länder, darunter auch die k. u. k. Monarchie, eine deutliche Suizidzunahme. Vor diesem Hintergrund begann sich der Diskurs zu intensivieren, der um das Normale und darum, wie es (re‐)produziert werden konnte, zirkulierte. Laut Jürgen Link bildete ein stabiles, undynamisches Suizidniveau das angestrebte Ziel. In Anlehnung an Emile Durkheims Anomiekonzept schien demgegenüber eine steigende Rate soziale Regellosigkeit auszudrücken.²⁶⁵ Die Frauen* trugen maßgeblich zum ansteigenden Trend bei. Ihr Suizidanteil hatte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts rund 15 Prozent betragen, um dann ab den 1870er-Jahren kontinuierlich zuzulegen.²⁶⁶ Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich ihre Beteiligung verdoppelt und machte ein Drittel des gesamten Suizidgeschehens aus. Die zentrale Gründungsfigur der Soziologie, Emile Durkheim, behauptete, die Suizidstatistiken würden für sich selbst sprechen. Tatsächlich waren sie vieldeutig und der Interpretationsspielraum breit.²⁶⁷ Zudem waren im späten 19. Jahrhundert
Tomáš Garrigue Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation (Wien 1881) 25. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (Göttingen 4 2009) 257– 271. Norbert Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988. In: Zeitgeschichte 17/5 (1990) 209 – 225, hier 214. „Aber hier, in der Statistik der Selbstmorde, kommt es in eigener Gestalt zum Vorschein, ohne persönliche Wertung.“ Emile Durkheim, Der Selbstmord (Frankfurt/M. 1983) 466. Howard I. Kushner, Women and Suicide in Historical Perspective. In: Signs 10 (1985) 537– 552, hier 545 – 546. https://doi.org/10.1515/9783110664256-003
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neue Subjekte sichtbar geworden: sogenannte Urninge, Urninden, Invertierte oder Konträrsexuelle. Damit waren homo- und bisexuell empfindende Menschen gemeint, teilweise aber auch Inter*- und Trans*personen. Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld identifizierte eine gleichgeschlechtliche Neigung als suizidbegünstigend. Er schätzte, dass sich von 100 Homosexuellen durchschnittlich drei selbst töten. Für 25 Prozent notierte er Suizidversuche und den Rest sah er unter suizidalen Gedanken leiden.²⁶⁸ Dieses Kapitel widmet sich der wachsenden Vulnerabilität, den sich verändernden kulturellen Skripten sowie den neuen Präventionsregimen. Zudem analysiert es die statistische, wissenschaftliche und biopolitische Verhandlung des Suizids. Dieser Fokus inkludiert das verfeinerte Geschlechterwissen, die neuen Sexualitäten und die Etablierung der Scientia sexualis. Welche Wissensvorräte und Paradigmen spielten hier eine Rolle? Ebenso soll es um die Fragen gehen, wie die suizidalen Subjekte heteronormal begrenzt und derart der selbstgewählte Tod intelligibel gemacht werden sollte. Eine zentrale Rolle nahm hier die Humanmedizin ein. Im Fin de siècle waren ihr in der Krankheits- und Seuchenbekämpfung sowie in der klinischen Praxis große Fortschritte gelungen.²⁶⁹ Derart
Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 902. Susanne Hahn, „A General Rule in the Post-Mortem Findings of Suicides?“ German Pathology and Forensic Medicine and the Suicide-Problem 1900 – 1945. In: Cay-Rüdiger Prüll (Ed.), Traditions of Pathology in Western Europe. Theories, Institutions and their Cultural Setting (Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Quellen und Studien 6, Herbolzheim 2003) 105 – 120, hier 107. Der zur Zweiten Wiener Medizinischen Schule gehörende Carl von Rokitanksy (1804– 1878) trug maßgeblich zur breiten Etablierung der (makroskopischen) Pathologie in den 1830er und 1840er-Jahren bei. Diese bildete ihrerseits fortan das Fundament für klinische Diagnostik und Nosiologie. Im Habsburgerreich war 1844 der erste Lehrstuhl für Pathologie an der Universität Wien geschaffen worden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang Rudolf Virchow (1821– 1902) die Begründung der Zellularpathologie, welche auf der Einsicht fußte, dass Erkrankungen auf dysfunktionalen Körperzellen basieren.Vor diesem Hintergrund war es fortan die Pathologie, die die Grenze zwischen gesund und krank bestimmte. Die Pathologie erlebte eine drei Felder umfassende, bis heute gültige Ausdifferenzierung. Die klinische Pathologie fokussiert die Todesursachenbestimmung und kontrolliert, ob die Behandlung der erkrankten Person lege artis erfolgte. Die pathologische Anatomie zergliedert Leichen zu Lehr- und Forschungszwecken. Forensische bzw. gerichtsmedizinische Pathologen werden vom Richter bzw. Staatsanwalt beauftragt, um Todesfälle zu untersuchen, die auf Fremdverschulden zurückgehen oder anderweitiger Klärung bedürfen. Dominik Groß, Christoph Schweikardt, Gereon Schäfer, Die Zergliederung toter Körper: Kontinuitäten, Brüche und Disparitäten in der Entwicklung der anatomischen, forensischen und klinischen Sektion. In: Brigitte Tag, Dominik Groß (Hg.), Der Umgang mit der Leiche. Sektion und toter Körper in internationaler und interdisziplinärer Perspektive (Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod 4, Frankfurt/M. 2010) 331– 354, hier 331; 338. Zur Entwicklung der pathologischen Anatomie mit einem Fokus auf Österreich siehe: Helmut Denk, Pathologische Anatomie. In: Karl Acham (Hg.), Geschichte der
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konnte sie expandieren und Macht akkumulieren. Gleichzeitig gliederte die Etablierung der Sozialversicherung den größeren Teil der arbeitenden Bevölkerung in ein Fürsorgesystem ein.²⁷⁰ Die Medizin selbst erlebte einen Paradigmenwechsel. Sie wandelte sich von einer exklusiven Disziplin zu einer für die breite Masse. Nicht mehr Gnade führte sozioökonomisch Deklassierte einer medizinischen Versorgung zu, sondern ein Rechtsanspruch. Gleichzeitig wurde im Fin de siècle das soziale Element in der Medizin (wieder‐)entdeckt und reinterpretiert; und zwar allgemein über die Soziale Frage und speziell über die Hygiene. Beide empfahlen angesichts der raschen Urbanisierung und der damit verknüpften Probleme dringende Maßnahmen.²⁷¹ Es drängten Städteassanierungen, leistungsfähige Trinkwasserversorgungen und Kanalisationen sowie der Spitälerausbau. Ebenso rückten Fragen von gesundem und zweckmäßigem Wohnen, der Lebensmittelversorgung und -kontrolle sowie der körperlichen Hygiene in den Fokus.²⁷² Auf alle diese Themen versuchten auch neue politische Akteur*innen, insbesondere die Sozialdemokratie und die ersten Frauen*bewegungen, Antworten zu finden. Die von ihnen produzierten Dokumente²⁷³ sowie jene der Hu-
österreichischen Humanwissenschaften (Lebensraum und Organismus des Menschen, Bd. 2, Wien 2001) 355 – 374. Martin Lengwiler, Stefan Beck, Historizität, Materialität und Hybridität von Wissenspraxen. Die Entwicklung europäischer Präventionsregime im 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 34/4 (2008) 489 – 523, hier 498 – 502. Mitte des 19. Jahrhunderts begann im Habsburgerreich die Aufspaltung der Staatsarzneikunde in Gerichtsmedizin und Hygiene. Insbesondere das Gesetz vom 30. April 1870, betreffend die Organisation des öffentlichen Sanitätsdienstes (Reich-Sanitätsgesetz), dynamisierte diesen Prozess. Es wurden nämlich Fragen des Sanitäts- und Medizinwesens gebündelt, zentral organisiert und der Staatsverwaltung unterstellt. Der öffentliche Sanitätsdienst sollte mit qualifiziertem Personal besetzt werden, und so erhöhte sich die Nachfrage nach verständigen Humanund Veterinärmedizinern. Vor diesem Hintergrund wurde 1875 erstmals eine Lehrkanzel für Hygiene an der medizinischen Fakultät für Medizin der Universität Wien errichtet und mit Josef Nowak besetzt. Heinz Flamm, Die Geschichte der Staatsarzneikunde, Hygiene, Medizinischen Mikrobiologie, Sozialmedizin und Tierseuchenlehre in Österreich und ihre Vertreter (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften 66, Wien 2012) 45 – 50. Wie die Ausführungen dieses Kapitels noch zeigen werden, wurden diese Themen auch in Frauen*- und Familienzeitschriften intensiv verhandelt. Jae-Baek Ko, Wissenschaftspopularisierung und Frauenberuf. Diskurs um Gesundheit, hygienische Familie und Frauenrolle im Spiegel der Familienzeitschrift Die Gartenlaube in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Frankfurt/M. u. a. 2008) 247– 334. Die Standpunkte zentraler Frauen*gruppen wurden anhand folgender drei Zeitschriften untersucht: die sozialdemokratische Arbeiterinnen-Zeitung und die beiden klein- und mittelbürgerliche Leser*innen ansprechenden Die Hausfrau und die Wiener Hausfrauen-Zeitung. Der allgemeinen Analysestrategie folgend (siehe Einleitung) wurde der Fokus auf die Jahre 1880, 1890, 1900 und 1914 gelegt. Zur Analyse des parteipolitischen Standpunktes und der Dienstbotenfrage
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manwissenschaften²⁷⁴, auflagenstarker Popularmedien²⁷⁵ und engagierter Autor*innen²⁷⁶ dienen als Analysekorpus. Komplementiert wird das Bild durch die Auswertung von Statistiken²⁷⁷, religiösen Periodika²⁷⁸ und Selbstzeugnissen²⁷⁹. Die Ausführungen dieses Kapitels ruhen auf folgenden Thesen. Erstens, die Glaubensgemeinschaften mäanderten zwischen alarmistischen und empathischen Botschaften.²⁸⁰ Sie hatten für die längste Zeit die Geschlechter- und Sexualordnung zentral mitgestaltet, was sich im 19. Jahrhundert in einer weiteren Polarisierung niederschlug. Damit verknüpft wurde der Katholizismus weiblich konnotiert und der Protestantismus männlich aufgeladen.²⁸¹ Gleichzeitig beun-
wurden auch noch Publikationen von bedeutenden sozialdemokratischen Persönlichkeiten (August Bebel, Karl Renner und Adelheid Popp) herangezogen. Der wissenschaftliche Korpus beinhaltete Publikationen aus den Disziplinen der Philosophie, der Soziologie, der Medizin mit der Anatomie, der Psychiatrie, der Sozialen Hygiene und der Kriminalpathologie sowie den Sexualwissenschaften. Hierbei wurden als Auswahlkriterien jene einer starken Verbreitung sowie auch einer besonderen Singularität herangezogen, um sowohl breit akzeptierte als auch marginalisierte Diskurspositionen zu erkennen. Zusätzlich wurden die Aspekte der Intertextualität und der Interdiskursivität berücksichtigt, da diese die Schnittstellen und Ränder des Suiziddiskurses illustrierten und auch darüber Auskunft gaben, wo die Hereinnahme von anderen Diskursordnungen und Aussagen besonders notwendig oder vielversprechend war. Bezüglich des Medienaspekts wurde die rasch sehr erfolgreiche Kronen-Zeitung mit den Jahrgängen 1900 und 1914 ausgewertet. Sie bot neben ihrem langen und kontinuierlichen Erscheinen den Vorteil, dass sie die vielfältigsten Diskurspositionen abdeckte. Daraus resultierte u. a. auch ihr hoher Leser*innenzuspruch. Hier wurden vor allem Schriften von gelehrten Personen wie Juristen und Priestern analysiert. Der diesbezügliche Korpus umfasste die k. k. Todesursachenstatistik und die Statistischen Jahrbücher der Stadt Wien in ihrer Gesamtheit sowie die zu erreichenden Auswertungen des k. u. k. Militärs und allgemeine statistische Abhandlungen. Für den religionsbezogenen Korpus wurden sämtliche in den Untersuchungszeitraum fallende Jahrgänge der katholischen Wiener Kirchenzeitung, der Evangelischen Kirchen-Zeitung für Oesterreich und eine Reihe häufig zitierter Publikationen von christlichen und jüdischen Gelehrten berücksichtigt. Der Fokus lag hierbei auf den Abschiedsbriefen von Mary Vetsera. Wenig überraschend tat man sich erheblich leichter, Defizite und Mängel bei den konkurrierenden Glaubensgemeinschaften zu identifizieren. Zum Verhältnis Religion und Geschlechterordnung siehe: Ingrid Lukatis, Regina Sommer, Christof Wolf (Hg.), Religion und Geschlechterverhältnis (Opladen 2000). Linda Woodhead, Gendering Secularization Theory. In: Social Compas 55/2 (2008) 187– 193. Katharina Liebsch, Religion und Geschlechterverhältnis. Zur Ordnungsfunktion religiöser Symbolisierungen des Geschlechterverhältnisses. In: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.), Politik und Religion (Wiesbaden 2003) 68 – 87. Monika Mommertz, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.), Das Geschlecht des Glaubens. Religiöse Kulturen zwischen Mittelalter und Moderne (Frankfurt a. M. u. a. 2008).
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ruhigte die Einstellung der staatlichen Begräbnissanktionen die Glaubensgemeinschaften. Denn damit drohte mehr als der ‚bloße‘ Kontrollverlust über die Suizident*innen.²⁸² Forderte doch das Zivilbegräbnis das religiöse Primat in Beerdigungs- und Trauerfragen heraus. Zweitens, die kulturellen Skripte, die suizidales Verhalten strukturierten, veränderten sich grundlegend.²⁸³ Suizidales Handeln wurde individualisiert, demokratisiert und popularisiert. Es wurde zudem mit Emotionalität und Impulsivität verknüpft. Solcherart schwand die öffentlich-politische und rationale, daher männliche, Konnotation. Drittens, die dynamische Suizidkurve produzierte verstärkte Präventionsbemühungen, galt es doch im biopolitischen Zeitalter, die Bevölkerung gesund zu erhalten. Allerdings schienen nicht alle Individuen gleich wertvoll für das staatliche Prosperieren zu sein. Insbesondere erwerbstätige, Ehe und Familie hochhaltende Männer* sollten von suizidalen Handlungen abgebracht werden. Implizit waren diese auch weiß, gehörten zur autochthonen Bevölkerung und zeigten sich moralisch integer. Viertens, die Statistiken, die suizidales Handeln dokumentierten, normierten die suizidalen Subjekte. Sie begrenzten diese heteronormativ und bildeten eine wichtige argumentative Basis für Interventionen.²⁸⁴ Fünftens, sowohl psychiatrische als auch soziologisch orientierte Theorien stimmten überein, dass das suizidale Subjekt ‚gestört‘ war.²⁸⁵ Differenziert wurde nur bezüglich der unterstellten Auslöser; hier die fehlgehende Gesellschaft, dort das kranke Individuum. Sechstens, nicht-heteronormative Leiber und Lebensentwürfe galten als suizidprädisponierend. Gekoppelt an eine zunehmende psychische Labilität konnte so die Vulnerabilität dieser Subjekte erklärt werden. Siebtens, weibliche Suizidalität und Aufbegehren gegen die heterosexistische Nachordnung wurden eng gekoppelt. Hier spielten auch der demographische Übergang und die neo-malthusianische Forderung nach Geburtenkontrolle eine zentrale Rolle. Sämtliche Frauen*bewegungen rezipierten und verhandelten diese Themen – wenn auch recht unterschiedlich. Damit zeigt sich auch die Reichweite des wissenschaftlichen Spezialdiskurses. Achtens, über ihre Erwerbstätigkeit und ihr politisches Engagement ‚gefährdeten‘ die Frauen* das gesellschaftliche Gefüge – ein Gebilde, das
Kornelia Sammet, Friederike Benthaus-Apel, Christel Gärtner (Hg.), Religion und Geschlechterordnungen (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2017). Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 133 – 157; 271– 286. Daniel Gordon, From Act to Fact. The Transformation of Suicide in Western Thought. In: Historical Reflections 42/2 (2016) 32– 51, here 34– 36; 47. Johanna Oksala, From Biopower to Governmentality. In: Christopher Falzon, Timothy O’Leary, Jana Sawicki (Eds.), A Companion to Foucault (Chichester 2013) 320 – 336 Gordon, From Act to Fact, 36.
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ohnehin schon durch die homosexuelle Avantgarde bürgerlicher Männlichkeiten herausgefordert wurde.²⁸⁶ Diese Erschütterungen schienen wiederum die gesamte Bevölkerung ‚anzustecken‘. Selbst privilegierte Männer*, die dem hegemonialen Ideal nahekamen, blieben offensichtlich nicht verschont. Ihr suizidales Verhalten drückte höchste berufliche und gesellschaftliche Beanspruchung aus. Demgegenüber galten marginalisierte Männlichkeiten als Opfer ihrer Arbeitslosigkeit, fehlenden (Sexual)moral und Alkoholsucht. Hinsichtlich gleichgeschlechtlich begehrender Individuen hatten sich zwei Positionen herauskristallisiert. Die erste erklärte die homosexuelle Neigung selbst als suizidbegünstigend. Die zweite führte die Vulnerabilität auf staatliche Verfolgung, soziale Ächtung und kriminelle Erpressung zurück. Dieses Muster zeigte sich auch bei Trans- und Intergeschlechtlichkeit. Die fluide gewordene heteronormale Geschlechter- und Sozialordnung schien dringender Stabilisierung zu bedürfen. Die Soziale Hygiene und Medizin, die Eugenik, und die Rasse(n)hygiene warben mit einer solchen Intervention. Die von ihnen vorgetragenen Argumente formten eine petitio principii. Diese wusste nicht zu klären, was zuerst da war: das Pathologische des Weiblichen und Nicht-Heteronormalen oder umgekehrt. Ganz offensichtlich zirkulierte der Suiziddiskurs im Fin de siècle um die heteronormative Matrix und suchte diese zu bestätigen.
Antworten der Glaubensgemeinschaften Die Glaubensgemeinschaften und Konfessionen plänkelten auch anhand des Suiziddiskurses. Solcherart flammte die bereits in der Frühen Neuzeit geführte Diskussion um den angeblichen Suizid Luthers noch einmal auf.²⁸⁷ Als Hintergrund gilt zu berücksichtigen, dass sich in der letzten Phase des Habsburgerreiches zahlreiche katholische Gläubige den evangelischen Kirchen zugewandt ha-
Tilmann Walter, Das frühe homosexuelle Selbst zwischen Autobiographie und medizinischem Kommentar. In: Forum Qualitative Research 6/1 (2005), online unter , Zugriff: 16.06. 2017. S.a., Anti Deckert. Offener Brief an Herrn Pfarrer Dr. Deckert, Verfasser der Flugschrift „Luthers Selbstmord, eine historisch erwiesene Thatsache“ (Wien 1899). Anton Joseph Ph. (Pseudonym von Joseph Deckert), Luthers Selbstmord eine historisch erwiesene Thatsache. Mit einem Anhange: Das neue jüdische Hochgericht und Ein protestantischer Anti-Deckert. (2. verm. Aufl., Wien 1899). Joseph Deckert, Die historische Wahrheit über Luther’s Ausgang (Wien 1901). Bei Joseph Deckert handelte es sich um einen katholischen Priester, der sich durch einen rabiaten Antisemitismus und eine radikal-polemische Haltung gegenüber Freimaurerei und Protestantismus auszeichnete. Seine Angriffe gingen so weit, dass er mehrfach vor Gericht gebracht und dort für schuldig befunden wurde.
Antworten der Glaubensgemeinschaften
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ben. Die Protestant*innen zeigten sich früher bereit, die Suizidthematik weniger rigide und dogmatisch zu verhandeln. Nichtsdestotrotz instrumentalisierten auch sie suizidales Verhalten,²⁸⁸ etwa wenn die vom Pastor in Bielitz, Arthur Schmitz, herausgegebene Evangelische Kirchen-Zeitung scharfe anti-katholische Attacken ritt. Hätte doch der Kardinal Rampolla seinen notleidenden Vetter in den Suizid getrieben.²⁸⁹ Oder wenn einem Salzburger Domherrn vorgeworfen wurde, einen Neuprotestanten dermaßen bedrängt zu haben, dass dieser beinahe suizidal reagierte.²⁹⁰ Gleichzeitig galt es zu widerlegen, dass man Katholik*innen mit Geld ködern würde.²⁹¹ Von katholischer Seite wurden wiederum die kriminellen Vergehen und der Suizid des Pastors Anders Lindbäck ausgeschlachtet.²⁹² Auch die Suizidstatistiken lieferten Munition. Sie indizierten nämlich, dass die Protestant*innen besonders vulnerabel waren. Als weniger gefährdet galten die Katholik*innen und die Angehörigen der sogenannten griechischen Kirchen (griechisch-katholisches und griechisch-orthodoxes Bekenntnis). Würden sie doch starre Dogmatiken und prachtvolle religiöse Zeremonien hochhalten. Auch die Jüd*innen betrachtete man lange Zeit als resilient, da sie von einer strengen Erziehung und maßvollen Lebensführung zu profitieren schienen. Im Fin de siècle erodierte dieser Schutz und bereitete antisemitischen Schmähungen den Weg,²⁹³ wie etwa, dass der „Geldhunger des Judenthums“ zu Börsestürzen und sozioökonomischen Krisen führen würde.²⁹⁴ Darüber hinaus wurde den jüdischen
Peter Mösgen, Selbstmord oder Freitod? Das Phänomen des Suizides aus christlich-philosophischer Sicht (Eichstätt 1999) 72. Italien. Rom. „Selig sind die Barmherzigen“, Evangelische Kirchen-Zeitung fuer Oesterreich, 16. Jg., Nr. 17, 1.9.1899, 278. Nachrichten aus dem Inland. Salzburg. Aus der Gemeinde, Evangelische Kirchen-Zeitung, 22. Jg., Nr. 15, 1. 8.1905, 238. W. W., Klerikale Tatarennachrichten, Selbstmord eines Abgefallenen, Evangelische KirchenZeitung, 22. Jg., Nr. 13, 1.7.1905, 203 – 204. Lindbäck selbst argumentierte seine Tat damit, dass die von ihm Ermordeten an körperlichen Leiden litten und der ohnehin finanziell bedrängten Kommune zur Last fielen. Die evangelische Kirche wurde bezichtigt, Druck ausgeübt zu haben, um die Untersuchung des Falls rasch zu einem Ende zu führen. Neue Freie Presse (Abendblatt), Kleine Chronik. Pastor Lindbäck, 30. Juni 1865, Nr. 299, s.p. (3). „Was uns aber bei diesen täglichen traurigen Erscheinungen am traurigsten stimmt, ist: daß der Selbstmord auch unter uns Juden, bei denen er in den frühern Tage zu den seltensten Erscheinungen gehörte, weil der Jude stets das Wort der heil. Schrift. ’Wähle das Leben’, auch im buchstäblichen Sinne befolgte, seine oftmalige Beute verlangt.“ Aron Roth, Eine Studie über den Selbstmord. Von jüdischem Standpunkte (Budapest 1879) 7. F. B., Der Adel und der Geldadel, Wiener Kirchen-Zeitung, 24. Jg., Nr. 5, 4. 2.1871, 65. Gerhard Hanloser, Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute (Münster 2003) 39 – 62.
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Geschäftsleuten unterstellt, ihre Angestellten zu drangsalieren und in den Suizid zu treiben.²⁹⁵ Die wachsenden antisemitischen Angriffe, welche Jüd*innen ertragen mussten, wurden hingegen ignoriert.²⁹⁶ Diese konterten mit Hinweisen auf fragwürdige christliche Praktiken: „Selbst in der neuesten Zeit sind durch die Schriften und Religionsübungen der protestantischen Mystiker und Separisten und durch die Predigten der Missionäre mehrere Selbstmorde veranlasst worden.“²⁹⁷ Die jüdische Gelehrsamkeit betrachtete das Christentum als wenig lebensbejahend und zu stark jenseitsfokussiert. Die christliche Vulnerabilität sei daher nur logisch.²⁹⁸ Der frühe Hygieniker Eduard Reich führte die hohe protestantische Vulnerabilität auf die eigenständige Gewissenserforschung und kapitalistische Orientierung zurück.²⁹⁹ Solcherart galten ihm die in den USA lebenden Protestant*innen als besonders suizidgefährdet. Demgegenüber lobte er die Resilienz der muslimischen Gläubigen. Als zentralen Schutz identifizierte er ihre fatalistische Schicksalsergebenheit. Von der präventiven Wirkung einer streng religiösen Lebensführung überzeugt, forderte er recht unorthodox den islamischen oder einen ähnlichen Glauben für Europa.³⁰⁰ Trotz dieser Gräben genoss die ars moriendi, die Kunst des guten Sterbens, bei allen großen Religionen einen hohen Stellenwert. Sie sollte ein Leben lang eingeübt werden und gehörte damit auch ins Reich der ars vivendi. Der Tod selbst war deswegen so zentral, weil erst hier das eigentliche Ziel des Lebens erreicht wurde.³⁰¹ Die katholischen, evangelischen und jüdischen Gelehrten kritisierten viele der liberalen Entwicklungen, erblickten sie doch in ihnen die Ursache für die vielen Suizide. Bezüglich der hier verhandelten Säkularisierung hält Susan Mor Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 275 – 276. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 276. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 104. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 59. Wobei sich die Meinung halten konnte, dass für gebildete, sozial abgesicherte und gelassene Protestant*innen das Suizidrisiko keineswegs erhöht war und sie sogar von der rational-nüchternen Seite ihres Glaubens profitierten. Eduard Reich, Ueber den Selbstmord. In: Athenaeum 1 (1875) 78 – 88, hier 82. Der im mährischen Sternberg geborene und 1860 in Bern für die gesamte Hygiene habilitierte Eduard Reich hatte in der Habsburgermonarchie keine Chance auf eine wissenschaftliche Karriere. Ein Hochverratsvergehen und eine 1866 in Olmütz erfolgte Inhaftierung wegen journalistischer Tätigkeit verhinderten das. Der daraufhin in Gotha und Belgien tätige Reich wurde dennoch zu einer zentralen Figur der Hygienebewegung. Er publizierte nicht weniger als 63 selbstständige Werke. Darunter auch das 1870/71 erschienene zweibändige Werk „System der Hygieine“ (sic!). Reich, Ueber den Selbstmord, 82. Friedo Ricken, Ars moriendi – zu Ursprung und Wirkungsgeschichte der Rede von der Sterbekunst. In: Franz Josef Bormann, Gian Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens (Berlin 2012) 309 – 324.
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rissey fest, dass diese nicht als radikaler, mit der Aufklärung beginnender Wandel verstanden werden sollte.³⁰² Insbesondere, wenn Religiosität und Spiritualität selbst fokussiert werden, ist vielmehr von einem schrittweisen, oft auch mehrdeutigen Prozess auszugehen. Daher verschwand die moralische Verurteilung suizidalen Verhaltens auch nicht einfach. Vielmehr wurde sie mit medizinischen Theorien kombiniert bzw. existierten fortan beide nebeneinander.³⁰³ Dieser Prozess ist am besten als Hybridisierung zu beschreiben. Zahlreiche katholische Stimmen warnten vor der „Gemeinschädlichkeit des Atheismus“ und dessen „menschen- und seelenmörderischer Natur“.³⁰⁴ Nicht gelten lassen wollten sie, dass intensive religiöse Praxis Wahnzustände und suizidales Verhalten begünstigte.³⁰⁵ Stattdessen attackierten sie liberale Positionen, da diese Sitte, Familie und Recht zerstörten.³⁰⁶ Auch die Würde der Frau* sahen sie in Auflösung begriffen.³⁰⁷ Und über sogenannte Sodomit*innen war ohnehin der Stab gebrochen. Damit waren Personen gemeint, die wider die fortpflanzungsorientierte Sexualität gehandelt hatten. Dies inkludierte homosexuelle, onanistische und zoophile Praktiken, aber auch Anal- und Oralverkehr.Wer Sodomie übte, der verstieß gegen den christlichen Sexualrahmen, der nur ehelichen Verkehr oder alternativ Ab-
Susan K. Morrissey, Suicide and the Body Politic in Imperial Russia (Cambridge Social and Cultural Histories, Cambridge et al. 2006) 5 – 7. Zum Paradigma der Säkularisierung und seiner Problematisierung siehe: Jonathan Sheehan, Enlightenment, Religion, and the Enigma of Secularization: A Review Essay. In: American Historical Review 108 (2003) 1061– 1080. Craig Calhoun, Mark Juergensmeyer, Jonathan VanAntwerpen (Eds.), Rethinking Secualarism (New York 2011). Auch Roísín Healy stellt fest, dass die Pathologisierung suizidalen Verhaltens bereits in einer Zeit einsetzte, in der die Kirche noch das Thema besetzte, und bevor die Medizinisierung schlagend wurde. Darüber hinaus gab es immer wieder Suizidfälle, in denen sich die Kirche bezüglich der Sanktionierung nachsichtig zeigte. Roísín Healy, Suicide in Early Modern und Modern Europe. In: The Historical Journal 49/3 (2006) 903 – 919, here 908 – 909. Vera Lind argumentiert ähnlich und hält fest, dass das im 17. und 18. Jahrhundert häufig attribuierte Suizidmotiv der Melancholie auf Tendenzen der Nachsicht und Milde schließen lässt. Das Motiv der Melancholie indizierte nämlich Unzurechnungsfähigkeit und ebnete den Weg zum Sanktionsverzicht. Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Göttingen 1999) 237. G. M. Schuler, Die Leugnung der Gottheit ist der Selbstmord der Menschheit. Der politische Atheismus und die sociale Barberei. Ein Beitrag zur religiösen Aufklärung (Brixen 1870) 9. Wiener Kirchenzeitung, 6.1.1872, 5 – 6, Nr. 1, Jg. 25 Schuler, Die Leugnung der Gottheit ist der Selbstmord der Menschheit, 6. Bemerkenswert ist, dass die liberale Wende und Programmatik häufig als weiblich interpretiert und insbesondere von den kritischen Stimmen über diese Konnotation abgewertet wurde. Schuler, Die Leugnung der Gottheit ist der Selbstmord der Menschheit, 6.
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stinenz zuließ. Aber auch das Judentum verurteilte Homosexualität, Transgeschlechtlichkeit und Sexarbeit. Die als liberale Promotor*innen identifizierten Jüd*innen erlebten sich selbst als Opfer, hätten sie sich doch bei der suizidaffinen christlichen Mehrheitsgesellschaft angesteckt.³⁰⁸ Die Rabbiner sparten aber auch nicht mit innerjüdischer Kritik. Viele Mosaische seien arbeitsscheu, genuss- und habsüchtig sowie pessimistisch geworden.³⁰⁹ Besonders künstlerisch und politisch Aktive sowie „interessante Frauen“ und „Coquetten“ wurden einer suizidbegünstigenden Eitelkeit verdächtigt.³¹⁰ Das hier offensichtliche narzisstische und egoistische Element gehörte in den neuen Kanon der Suizidskripte, welches besonders häufig für Frauen und nicht-heteronormale Sexualitäten reserviert wurde. Der jüdischen Doktrin zufolge war eine ethische Reform unabdingbar. Gleichzeitig müsse das Vertrauen auf Gott wiederhergestellt werden, da dieses „ein Balsam des Lebens“ sei, „wie sein gar sehr der Mensch bedarf, dessen Lebensstrom fast immer zwischen gefahrvollen Klippen über Untiefen und Abgründe dahinzieht“.³¹¹ Wie bereits thematisiert, betrachteten die katholischen und evangelischen Gelehrten suizidales Verhalten als Sünde. Für sie konnte sich jedes Individuum frei zwischen Recht und Unrecht entscheiden, da der Mensch nicht getrieben war, sondern souverän. Einzig die Unzurechnungsfähigen galt es, hiervon auszunehmen.³¹² Dieses rationale Subjekt wurde von weißen Männern* aus dem Bildungsbürgertum verkörpert. Ihre exzellente Urteilsfähigkeit sollte ihnen auch das sozialregulatorische Privileg sichern. Als ausgesprochen hinderlich erwies sich allerdings ihre ausgeprägte Vulnerabilität. Um dem entgegenzuwirken, notierte der katholische Geistliche Augustin Lehmkuhl einen zunehmenden, weiblich getriebenen „Irrsinn“.³¹³ Als dessen Quelle waren rasch emanzipierte Frauen* identifiziert: „Wir finden überall, wo das weibliche Geschlecht die Herrschaft
Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 5. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 9. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 20. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 9. Peter Schaffer-Wöhrer, Das Recht am eigenen Leben. Eine Rechtsgeschichte von Freitod und Sterbehilfe (Marburg 2010) 58. Augustin Lehmkuhl, Der Selbstmord und die Mißhandlung der Statistik. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter 22/4 (1882) 345 – 365, hier 350. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden soziale Probleme in medizinische umgedeutet, um so eine Lösung zu erreichen. In diesem Kontext verknüpfte die Medizin soziale Devianz, psychische Störungen und Armut miteinander. Arbeitsunlust schien aus „Irrsinn“ zu resultieren und vice versa. Die Medizin suchte deviante Subjekte zu erkennen und zu behandeln, sie also zu normalisieren. Katrin Schmersahl, Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (Opladen 1998) 55.
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ausübt, Zersetzung der sittlichen Zustände und die Gesammt-Verfassung des Weibes pathologisch.“³¹⁴ Die Kirchenmänner wussten, dass das Motiv des Irrsinns mitunter auch vorgeschoben war, da sich nur so die Familienehre erhalten und ein kirchliches Begräbnis erreichen ließ. Dies führte in Kirchenkreisen zu erheblichen Zweifeln gegenüber allen Schilderungen. Davon waren auch Selbstzeugnisse betroffen, da Personen, die an „den elementarsten Anforderungen des Sittengesetzes“ scheiterten, als dubios galten.³¹⁵ Das Elend des industriellen Zeitalters rüttelte gehörig am Dogma des freien Willens. Und die naturalistischen Schriftsteller*innen legten den Finger ebenfalls in diese Wunde. Der bereits erwähnte Geistliche Lehmkuhl wetterte besonders gegen die sozialdarwinistischen und soziobiologischen Wissenschaften, würden diese doch „‘gegen die Vorstellung von der Willkürlichkeit der menschlichen Handlungen‘“ ankämpfen und glauben machen wollen, „‘daß in der moralischen Welt diesselben Gesetze wie in der physischen gelten‘“.³¹⁶ Insgesamt sei es bei diesen nicht weit „bis zur Pfütze, wo Materialisten und Darwinisten mit Affen und Unken brüderlich im Schlamme wühlen“.³¹⁷ Für die christliche Dogmatik war die menschliche Freiheit zentral, da mit ihr nämlich das Konzept der Sünde und die sie umgebenden Macht- und Herrschaftspraktiken korrelierte.Wozu Beichte, Buße und ein frommes Leben – unter seelsorgerischer Anleitung – wenn der Mensch unfrei war? Solcherart musste für alles Exzessive Tür und Tor weit geöffnet erscheinen, inklusive suizidalen Verhaltens.³¹⁸ Für den Priester und Bezirksschulinspektor G. M. Schuler galt daher, ein atheistischer Mensch ist ein vulnerabler:
Eduard Reich, Über Ursachen und Verhütung der Nervosität und Geistes-Störung bei den Frauen* (Neuwied 1872) 8. Lehmkuhl, Der Selbstmord und die Mißhandlung der Statistik, 350. Lehmkuhl, Der Selbstmord und die Mißhandlung der Statistik, 347. Lehmkuhls Argumentation knüpfte an eine größere Debatte an, die sich auf der einen Seite mit der angenommenen Opposition zwischen Determinismus und Fatalismus sowie dem freien Willen und dem moralischen Handeln auf der anderen Seite beschäftigte. Diese Auseinandersetzung selbst war mit den mittelalterlichen Denkschemata des Nominalismus und des Realismus aufgeladen. Welchem davon gebührte der Vorrang: dem Ganzen oder den individuellen Teilen, welche dieses Ganze formten? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat das Universelle in neuer Form auf und zwar als Gesellschaft. 1912 versuchte der katholische Philosoph Joseph Lottin die Synthese zwischen den beiden Gedankengebäuden unter Zuhilfenahme des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags. Nichtsdestotrotz blieb die Auseinandersetzung um die Beziehung von gesellschaftlichem Fatalismus und persönlicher Autonomie virulent und begleitete die Soziologie von ihrer Geburtsstunde an. Alain Desrosières. Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise (Berlin u. a. 2005) 79 – 81; 92– 93 Lehmkuhl, Der Selbstmord und die Mißhandlung der Statistik, 347. Schuler, Die Leugnung der Gottheit ist der Selbstmord der Menschheit, 29 – 30.
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„Je gottentfremdeter und ungläubiger ein Geschlecht oder eine Nation wird, desto mehr häuft sich der Selbstmord. Nach dem System der Atheisten kann ja nur der Tod seine Leiden endigen. Der Gottlose wird schließlich so unglücklich, daß er in der That den bittern Tod für das größte Glück ansieht, das ihm noch widerfahren kann.“³¹⁹
Anhand seiner Argumentation zeigt sich, wie bedeutsam Gefühlsregulation und Affektkontrolle waren. Bereits Platon hatte das Maßhalten als eine der vier Kardinaltugenden beschrieben.³²⁰ Schließlich wurde in der Aufklärung der Affekt als dichotomes Stiefkind der Vernunft verankert. Damit musste dieser als bedrohlich erscheinen und insbesondere mit der Fähigkeit ausgestattet sein, das Individuum zu unterwerfen.³²¹ Frauen* und homosexuellen Männern* wurde unterstellt, dass sie besonders leicht von ihren Empfindungen überwältigt würden.³²² Qua heteronormativer Geschlechtermatrix hatten Gefühle privat aufgeführt zu werden.³²³ Insbesondere die katholische Kirche durchschnitt diese Ordnung, indem sie von ihren Gläubigen inbrünstige Hingabe forderte. Eine immer selbstbewusstere Medizin traute sich, nun auch hier zu intervenieren und vor einem Zuviel zu warnen, drohten doch bei einer Überschreitung wahnhafte Zustände, die durch deren sexuelle Konnotation umso bedrohlicher erschienen.³²⁴ Sie wusste auch Risikogruppen zu benennen, und zwar Frauen* und zu weiblich empfindende Männer*. Um ihren Einfluss zu sichern, weigerte sich die katholische Kirche lange, die Folgen der industriellen Verelendung zu akzeptieren. Denn schlussendlich hätte es ja auch früher arme und hungrige Menschen gegeben – ohne damit einher-
Schuler, Die Leugnung der Gottheit ist der Selbstmord der Menschheit, 29 – 30. Robert C. Roberts, Temperance. In: Kevin Timpe, Craig A. Boyd (Eds.),Virtues and Their Vices (Oxford 2015) 93 – 112. Die Aufforderung zur Selbstregulierung und -kontrolle ist als eine gouvernementale Regierungstechnik zu werten. Sie soll das wertvolle biopolitische Gut möglichst schonen, um den Profitstrom nicht zu gefährden. Solcherart mussten sie auch für politische Aufgaben ungeeignet erscheinen. Gerade in diesem Bereich galt ein strenges Emotionskorsett als unerlässlich. Erna Appelt, Vernunft versus Gefühle. Rationalität als Grundlage exklusiver Staatsbürgerschaftskonzepte. In: Agnes Neumayr (Hg.), Kritik der Gefühle. Feministische Positionen (Wien 2007) 128 – 145. Birgit Sauer, Geschlecht, Emotion und Politik (IHS, Reihe Politikwissenschaft 46, Wien 1997) 10. Eduard Reich berief sich diesbezüglich auf die Ausführungen des Medizinhistorikers Justus Hecker: „‘Die körperlichen Gefühle von überspannten religiösen Regungen sind im Allgemeinen sehr intensiv. Man unterscheidet unbehagliche, wie Beklommenheit und Angst, und behagliche, angenehme, die an ein süsses Gefühl von Wollust nahe gränzen (sic!), und in ein solches oft genug übergehen. In diesem Falle spielen sie leicht und unvermerkt in die Geschlechts-Sphäre über, verbinden sich mit hysterischen und hypochondrischen Zuständen.‘“ Reich, Über Ursachen und Verhütung der Nervosität und Geistes-Störung bei den Frauen, 113.
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gehende „Selbstmordmanie“.³²⁵ Die weitverbreitete Not sei vielmehr eine Folge des Zeitgeistes, der nachlassenden Gläubigkeit und von irrigen Gottesvorstellungen. Gleichzeitig sah sie individual- und materialistische Weltanschauungen florieren. Schließlich konkurrenzierten Rationalismus und Fortschrittsglauben auch noch das christliche Heilsversprechen. Und so würden zentrale Werte verloren gehen, wie etwa die christliche Armut und Arbeitsethik sowie die patriarchale Familie. Die katholische Kirche erlebte sich durch die Gesetze der liberalen Ära beschnitten und könne daher auch nicht mehr wie früher die soziale Not lindern.³²⁶ Vor dieser Folie positionierte sie sich auch recht zögerlich gegen einen ungezügelten Kapitalismus. Leichter tat sie sich mit einer ablehnenden Haltung gegenüber sozialistischen und kommunistischen Anschauungen.³²⁷ Dennoch bildete sich in den 1880er-Jahren die Christliche Sozialreform heraus, welche die Lage der Armen verbessern wollte. Ganz zentral propagierte sie einen friedlichen Umgang der Klassen miteinander. Zudem suchte sie, christliche Glaubenssätze wieder besser zu verankern. Die Richtung gab die 1891 von Papst Leo XIII. publizierte Sozialenzyklika Rerum novarum vor. Liberales und sozialistisches Gedankengut blieb negativ besetzt, ebenso wie egalitäre Vorstellungen. Gleichheit zwischen allen Menschen könne und dürfe es nicht geben. In Österreich taten sich insbesondere Franz Martin Schindler, Pater Albert Maria Weiss, Egbert Belcredi, Alyos Liechtenstein und Karl Vogelsang als katholische Sozialreformer hervor.³²⁸ Letzterer leistete auch entscheidende Impulse für die christlich-soziale Bewegung, aus welcher 1893 die gleichnamige Partei hervorging. Die Wiener Kirchenzeitung thematisierte suizidales Handeln regelmäßig, da sie darin den negativen Ausdruck der neuen Zeit vermutete. Der ansteigende Randglossen, Wiener Kirchenzeitung, 19. Jg., Nr. 19, 12. 5.1866, 296. Baldur H. A. Hermans, Das Problem der Sozialpolitik und Sozialreform auf den deutschen Katholikentagen von 1848 bis 1891. Ein Beitrag zur Geschichte der katholisch-sozialen Bewegung (Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, Bonn 1972) 135 – 196. Schuler, Die Leugnung der Gottheit ist der Selbstmord der Menschheit, 8. Ernst Bruckmüller, Katholisches an und in Österreich. In: Jürgen Nautz, Kristina Stöckl, Roman Siebenrock (Hg.), Öffentliche Religionen in Österreich. Politikverständnis und zivilgesellschaftliches Engagement (Innsbruck 2013) 17– 56, hier 34– 35. Felix Dirsch, Solidarismus und Sozialethik. Ansätze zur Neuinterpretation einer modernen Strömung der katholischen Sozialphilosophie (Berlin 2006) 116 – 168. Hermans, Das Problem der Sozialpolitik und Sozialreform auf den deutschen Katholikentagen von 1848 bis 1891, 477– 490. Vogelsang vertrat die antisemitische Auffassung, dass der Wirtschaftsliberalismus und Kapitalismus das Werk eines säkularen, globalen Judentums seien. Bernd Marin, Antisemitismus ohne Antisemiten. Autoritäre Vorurteile und Feindbilder (Wien 2000) 357– 358. Vogelsang publizierte auch über Der Selbstmord als sociales Symptom: C.(arl) von Vogelsang, Gesammelte Aufsätze über socialpolitische und verwandte Themata (Band I, 9. Heft, Augsburg 1886) 561– 578.
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Trend galt ihr als Signifikat der Moderne. Insbesondere zum Jahresende kommentierte das Blatt die rezenten Entwicklungen. Es störte sich besonders an Aussagen, welche suizidales Verhalten relativierten, sowie an Behauptungen, man würde sich schon noch daran gewöhnen und die impulsiven Suizide seien ohnehin nicht des Aufhebens wert.³²⁹ Das Medium beharrte darauf, dass man in Wien mit einer regelrechten „Selbstmordmanie“ zu kämpfen habe.³³⁰ Es scheute sich daher auch nicht, in der Zusammenschau von „Verbrechen“ und miserablen „sittlichen Zustände(n)“ einen breiten Bogen zu spannen.³³¹ In dieses Problemfeld wurden Konflikte, Morde und auch suizidale Handlungen eingereiht. An heteronormativen Motiven wurden schlechte Geld- und Familienverhältnisse oder die unglückliche Liebe dokumentiert, wovon das letzte exklusiv Frauen* attribuiert wurde.³³² Das ist umso bemerkenswerter, als an anderer Stelle eine paritätische Geschlechterverteilung³³³ registriert worden war. Parallel dazu wertete das Blatt das Motiv als wenig überlegt und ernst heterosexistisch ab. In dieser Diktion wurde auch der Suizidversuch einer jungen Katholikin verhandelt, die mit einem protestantischen Studenten der Rechtswissenschaft verlobt war.³³⁴ Die beiden besuchten alternierend jeweils eine katholische und eine evangelische Messfeier. Eines Tages empfing sie den Leib Christi auch aus den Händen des Pastors. Während der katholischen Beichte offenbarte sie dem Priester diese Übertretung. Er erklärte ihr daraufhin, dass er keine Absolution spenden könne, da sie gar keine Katholikin mehr sei. Sie müsse das Verlöbnis lösen und erst dann könne sie der Priester wieder zur katholischen Kirche zurückführen. Die solcherart in einen Gewissenskonflikt Geratene unternahm einen Suizidversuch – konnte aber gerettet werden. Der Fall bereitete der katholischen Kirche einiges an Unbehagen, konnte doch der Suizidversuch auf ihre harte Linie zurückgeführt werden. Daher klassifizierte die Wiener Kirchenzeitung das Geschehen als sonderbar. Das Blatt stieß sich an dem bald 10-jährigen Verlöbnis und der gleichzeitigen katholischen und evangelischen Glaubenspraxis. Zudem unterstellte es der Betroffenen eine psychische Störung: „Wenn die Geschichte so wahr sein sollte, so möchten wir anrathen, diese ‚junge Dame‘ nicht in die protestantische Kirche, sondern – in ein Irrenhaus zu führen.“³³⁵ Nota bene lag sowohl für den Beichtvater als auch für die
Randglossen, Wiener Kirchenzeitung, 20. Jg., Nr. 13, 30. 3.1867, 197. Randglossen, Wiener Kirchenzeitung, 19. Jg., Nr. 19, 12. 5.1866, 296. A.(lbert) W.(iesinger), Zur Statistik der Verbrechen und der sittlichen Zustände in Wien, Wiener Kirchenzeitung, Jg. 17, Nr. 52, 24.12.1864, 821– 828, hier 821. Randglossen, Wiener Kirchenzeitung, 19. Jg., Nr. 19, 12. 5.1866, 296. Dabei wurde eine heteronormative Geschlechter- und Sexualordnung vorausgesetzt. Randglossen, Wiener Kirchenzeitung, 23. Jg., Nr. 1, 1.1.1870, 5. Randglossen, Wiener Kirchenzeitung, 23. Jg., Nr. 1, 1.1.1870, 5.
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Kirchenzeitung die Crux beim Verlobten, schienen doch die protestantischen Sympathien seiner Braut nichts mit ihr selbst zu tun haben, sondern einzig mit seinem Einfluss. Obwohl sich das Paar für die Religion des Partners offen zeigte, schien es undenkbar, dass nicht sie ihre Konfession aufgab, sondern er. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, eine Auflösung des Verlöbnisses einzufordern. Auch in Richtung einer interkonfessionellen Ehe wollte das Blatt nicht denken. Solche Mischehen waren nicht gerne gesehen; und das, obwohl laut kanonischem Recht für etwaige Kinder nur die katholische Option offenstand. An diesem Fall wird deutlich, dass hier zwei Ordnungen kollidierten. Frauen* hatten sich ihren Ehemännern und die evangelische Kirche der katholischen Kirche unterzuordnen. Dieses Dilemma ließ sich für die Wiener Kirchenzeitung nur lösen, indem sie die Verlobte als psychisch krank diskreditierte. Solcherart konnte sie auch den Vorwurf entkräften, dass der Beichtvater zur suizidalen Eskalation beigetragen hatte. Allgemein verweilte die Wiener Kirchenzeitung nicht lange bei den unterstellten individuellen Motiven. Für sie war der gesellschaftliche Rahmen viel wichtiger. Vor dieser Folie wehrte sie sich auch vehement gegen das Argument, dass die steigende Suizidrate aus der reaktionären Ära herrührte. Sie hielt dagegen, dass 1848 und danach suizidale Handlungen nur selten vorkamen.³³⁶
Statistiken und statistische Konstruktionen Als besonders schwierig für die statistische Erfassung des Suizids stellte sich folgende Frage heraus: Was war denn eigentlich darunter zu verstehen und worin unterschieden sich suizidale Verhaltensweisen voneinander? Ein erster Ansatzpunkt bestand darin, auf die Unterscheidung zwischen natürlichem und unnatürlichem Tod zu pochen. Dies tat etwa der Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk, indem er 1881 behauptete, dass die Trennlinie durch äußere, massive Gewalteinwirkung gebildet würde: „Wenn dem menschlichen Körper zu seinem Lebensprocesse keine der erforderlichen Bedingungen (so weit eben unsere Controlle reicht) entzogen werden, so erfolgt die Auflösung desselben als nothwendiges Endergebniss und wir sprechen in diesem Falle von einem n a t ü r l i c h e n T o d e . Dem entsprechend ist das Sterben durch Krieg, Duell, Todschlag und Mord, Abortus in einem bestimmten Stadium des Embryo, Verunglückungen, Hinrichtung und schliesslich Selbstmord als gewaltsame, u n n a t ü r l i c h e Todesart zu bezeichnen, als eine Ausnahme von der Regel.“³³⁷
A.(lbert) W.(iesinger), Zur Statistik der Verbrechen und der sittlichen Zuständ (sic!) in Wien, 17. Jg., Nr. 52, 24.12.1864, 821– 828, hier 821. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 2.
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Bereits bei den von Masaryk genannten Beispielen wird evident, wie verschwommen sich die Grenze andeutete. Der Tod selbst war immer natürlich – egal, wodurch er verursacht wurde. Darüber hinaus war nicht zu klären, welche Anstrengungen zur Gefahrenabwehr genügten und welche nicht. Offenbar waren Intention und Zielgerichtetheit bei suizidalem Verhalten zentral, dennoch blieb unklar, ob nur „positive Handlungen“ oder auch „Unterlassungen“ als Suizid interpretiert werden sollten.³³⁸ Und wie sollte man mit den suizidalen Handlungen von Personen mit psychischen Störungen umgehen?³³⁹ War es überhaupt sinnvoll, diese zu registrieren? Vor diesem Hintergrund musste Masaryk eingestehen, dass „d e r B e g r i f f d e s S e l b s t m o r d e s … in verschiedener Weise aufgefasst werden“ kann.³⁴⁰ Er selbst bot eine weitere und engere Begriffsdefinition an.³⁴¹ Für ihn war im eigentlichen Sinn nur „derjenige ein Selbstmörder, der absichtlich und wissentlich seinem Leben ein Ende setzt, der das Todtsein als solches begehrt und die Gewissheit hat, dass sein Todtsein durch seine Handlung oder Unterlassung herbeigeführt wird“.³⁴² Da ihm die Absicht als bestimmend galt, schloss er das Duell und das Selbstopfer aus,³⁴³ denn der Duellant hoffte, dass er unbeschadet bleibt.³⁴⁴ Und auch Personen, die sich selbst opferten, fokussierten nicht den
„Sogar darüber die gehen die Ansichten auseinander, ob es für den Begriff des Selbstmords wesentlich sei, daß die den Tod unmittelbar herbeiführende Handlung von dem betreffenden Individuum selbst vollzogen werden. Es gibt Autoren, welche das heldenmütige Bekenntnis des Glaubens von seiten des Märtyrers, sofern er den Tod als sichere Folge voraussieht, die Pflichterfüllung des Soldaten im Kriege, wo ein sicherer Tod in Aussicht steht, und andere Fälle der Selbstaufopferung, als Selbstmord bezeichnen, was jedenfalls mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch unvereinbar ist.“ H.(ermann) A. Krose, Der Selbstmord im 19. Jahrhundert nach seiner Verteilung auf Staaten und Verwaltungsbezirke (Freiburg/B. 1906) 1– 2. Krose, Der Selbstmord im 19. Jahrhundert nach seiner Verteilung auf Staaten und Verwaltungsbezirke, 2. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 2. „Im w e i t e r e n S i n n e des Wortes versteht man darunter diejenige anomale Todesart, welche durch ein unbeabsichtigtes Eingreifen des Subjects in den Lebensprocess herbeigeführt wird, sei es durch positive, active Selbstbethätigung, oder durch negatives, passives Verhalten gegen die Gefährdung des Lebens“. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 2. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 2. Zur Ethik des Selbstopfers im Kontext einer post-religiösen Moralbegründung siehe: Ursula Baumann, Existentielle Zumutungen. Zur Ethik des Selbstopfers. In: Günter Blamberger et al. (Hg.), Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids (Morphomata 14, München 2013) 63 – 83. Zur Kulturgeschichte des Duells siehe: Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter, Gerd Schwerhoff (Hg.), Das Duell. Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 23, Konstanz 2012) und daraus zum Umgang damit in Leichenpredigten: Alexander Kästner, Unzweifelhaft ein seliger Tod! Überlegungen zur Darstellung des Sterbens von
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eigenen Tod, sondern nahmen ihn in Kauf. Auch der k. k. Landesgerichtsarzt und Wiener Psychiatrie-Dozent Ludwig Schlager unternahm einen umfangreichen Definitionsversuch.³⁴⁵ Er dozierte: „Unter dem Begriffe des Selbstmordes kommt nach meiner Auffassung jeder Act motorischer Entäusserung zu subsumiren, der unter dem Einflusse eines auf Selbstvernichtung des Eigenlebens abzielenden Vorstellungsactes zur Ausführung kommt.“³⁴⁶ Solcherart wähnte er, eine klare Grenze zu zufälligen Selbsttötungen und -verstümmlungen gezogen zu haben. Auch der Ausgang spielte für ihn keine Rolle, da es unwesentlich sei, „ob durch den Act der motorischen Entäusserung die Selbstvernichtung des Eigenlebens erfolgt oder nicht; ob daher ein wirklich gelungener Act oder aber blos ein misslungener Versuch vorliegt“.³⁴⁷ Zentral für ihn war vielmehr, dass eine Handlung mit dem Ziel gesetzt wurde, das eigene Leben zu beenden. Für ebenso unerheblich betrachtete er den Einfluss von physischen und psychischen Störungen. Auch Motiv und Methode wähnte er für die Definition des Suizids als irrelevant. Während Schlager die menschliche Agency stark machte, vertrat der italienischer Statistiker Enrico Morselli eine gegenteilige Meinung. Für ihn indizierten die statistischen Regelmäßigkeiten, dass Menschen eben nicht frei handelten.³⁴⁸ Weitere definitorische Probleme bereiteten auch verabredete Suizide und kombinierte Mord-Suizid-Handlungen.Waren das überhaupt Selbsttötungen? Wie und unter welchen Kategorien sollten diese erfasst werden?³⁴⁹ Angesichts der fortwährenden Debatten stellte der Statistiker Hans Kuttelwascher 1912 lapidar fest: „Eine einheitliche Begriffsbestimmung des Selbstmordes fehlt.“³⁵⁰ Die von der der k. k. Statistischen Central-Kommission herausgegebene Österreichische Statistik dokumentierte Todesfälle unter Bewegung der Bevölke-
Duellanten in protestantischen Leichenpredigten, 141– 158. Das Duellwesen diente der Demonstration männlicher Tugendhaftigkeit und Prinzipientreue sowie der Abgrenzung zu den nichtsatisfaktionsfähigen Schichten: Michael MacDonald, Terence R. Murphy, Sleepless Souls. Suicide in Early Modern England (Oxford 1990) 183 – 186. Um das Duellwesen einzudämmen, wurde 1902 in Wien die Anti-Duell-Liga errichtet. Schließlich verbot 1917 Kaiser Karl – unter Widerstand der k. u. k. Militärs – den Zweikampf. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 172. Ludwig Schlager, Psychiatrische Beobachtungen über den Selbstmord. In: Vierteljahrsschrift für die praktische Heilkunde 16/4 (1859) 1– 56, hier 2– 3. Schlager, Psychiatrische Beobachtungen über den Selbstmord, 2. Schlager, Psychiatrische Beobachtungen über den Selbstmord, 2– 3. Heinrich Morselli (germ.), Der Selbstmord. Ein Kapitel aus der Moralstatistik (Leipzig 1881) 2– 3. Georg v. Mayr, Selbstmordstatistik (Abdruck aus dem Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Supplementband, Jena 1895) 684– 706, hier 686. Hans Kuttelwascher. Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich. In: Statistische Monatsschrift. Neue Folge 17 (1912) 267– 350, hier 233.
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rung. Aufgrund einer Reform im Jahr 1851 mussten fortan Suizide in einer extra Kategorie ausgewiesen werden. Suizidversuche wurden nicht dargestellt, was zwar in anderen Ländern ebenso üblich, jedoch ein Umstand war, der von Alexander von Öttingen (Moralstatistiker) beklagt wurde: „Namentlich werden die nicht gelungenen Selbstmordversuche fast nirgends registriert, obwohl sie moralisch fast ebenso schwer ins Gewicht fallen.“³⁵¹ Wobei es durchaus Regionen, Institutionen und Organisationen gab, die Suizidversuche aufzeichneten und teilweise auch Statistiken dazu publizierten. Dazu zählten u. a. Spanien, England und Wales, Skandinavien, der deutsche Bundesstaat Baden sowie die Städte München, Budapest, Brüssel und Florenz.³⁵² Bezüglich Österreich sind die Datensammlungen des k. u. k. Militärs³⁵³, die dokumentierten Hilfeleistungen der Wiener Rettungsanstalten³⁵⁴ und der k. k. Sicherheitswache bzw. der k. k. Polizeidirektion in Wien³⁵⁵ hervorzuheben. Auch das k. k. allgemeine Krankenhaus in Wien publizierte regelmäßig statistische Angaben. In den jährlichen ärztlichen Berichten³⁵⁶ wurden unter der Rubrik Selbstmordversuche ihre Anzahl, das binäre Geschlecht, das Alter, der Beruf, die gewählte Methode und die vermuteten Motive dargestellt. Diese Daten bildeten eine wichtige ätiologische und epidemiologische Basis, um Prävention
Alexander von Oettingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Socialethik (Erlangen 31882) 743. In den genannten Ländern wurden Aufzeichnungen über Suizidversuche geführt, da dort suizidales Handeln noch nicht entpönalisiert war. Im Vereinigten Königreich wurde die Bestrafung erst mit dem Suicide Act von 1961 aufgehoben. W. Derblich, Ueber Selbstmord und Selbstbeschädigungen in der k. k. österreichisch-ungarischen Armee. In: Der Militärarzt. Zeitschrift für das gesammte (sic!) Sanitätswesen der Armeen 19/16;17;19 (1885) 129 – 131;137– 140; 155 – 159. Joseph Roth, Die Selbstmorde in der k. u. k. Armee in den Jahren 1873 – 1890. In: Statistische Monatsschrift 18 (1892) 196 – 200. Siegfried Rosenfeld, Der Selbstmord im k. und k. österreichischen Heere. Eine statistische Studie. In: Deutsche Worte 13 (1893) 449 – 515. Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich, 267– 350. Dargelegt in den Statistischen Jahrbüchern der Stadt Wien und in den dort publizierten Berichten über das Rettungswesen und die geleisteten Einsätze. Beispielsweise für die Jahre 1883 – 1887: Statisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1887 (Mitteilhungen des statischen Departements des Wiener Magistrates 5, Wien 1889) 249 – 250. Etwa die vom Präsidium der k. k. Polizeidirektion in Wien für die Jahre 1876 bis 1892 veröffentlichten Jahresberichte über Suizide und Suizidversuche. Von Mayr, Selbstmordstatistik. Direction des k. k. Ministerium des Innern (Hg.), Ärztlicher Bericht des k. k. allgemeinen Krankenhauses zu Wien vom Jahre 1873 (Wien 1874) 46 – 47. Bemerkenswerterweise wurden die Motive nicht getrennt nach Geschlecht angegeben.
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betreiben zu können.³⁵⁷ Als Ursache für die geringe statistische Erfassung von Suizidversuchen nannte der Statistiker Georg v. Mayr folgende Gründe.³⁵⁸ Erstens, bei Statistiken, die Todesursachen fokussierten, konnte nur der vollendete Suizid Eingang finden. Zweitens, die zuverlässige Aufzeichnung der Suizidversuche stellte eine besondere Herausforderung dar.³⁵⁹ Mayr ging davon aus, dass Überlebende häufig auf einem Unfall beharrten und so die Zahlen verfälschten. Gleichzeitig unterstellte er, dass Suizidversuche mitunter vorgetäuscht wurden: „Die relativ hohe Zahl weiblicher Selbstmordversuche, auf die wenigstens stichprobenweise hinzuweisen sein wird, legt die Vermutung nahe, ob nicht die fingierten Selbstmorde hier einige Rolle spielen.“³⁶⁰ Als ebenso schwierig stellten sich suizidale Handlungen heraus, die nicht unmittelbar zum Tod führten. Wie und in welcher Kategorie konnten und sollten diese erfasst werden? Hier bestand die Gefahr, dass sie entweder überhaupt nicht oder doppelt erfasst wurden. Trotz der geringen statistischen Erfassung von Suizidversuchen gab es ein spezifisches und etabliertes Wissen darüber. Dazu zählte, dass Frauen* suizidale Handlungen häufiger als Männer* überlebten. In der Argumentation von Georg v. Mayr finden sich jene zentralen Aussagen, die den Diskurs bis heute prägen: Die Zahl der Suizidversuche übersteigt jene der Suizide, bei Männern* dominieren vollendete Suizide, bei Frauen* hingegen Suizidversuche, für weibliche Individuen ist das Vergiften typisch, während Männer* das Erschießen und Erhängen bevorzugen.³⁶¹ Mit diesen Methodenpräferenzen würden auch unterschiedliche Rettungsaussichten korrelieren: hohe bei Intoxikationen, niedrige bei Schusswaffengebrauch und dem Erhängen. Und nicht zuletzt, Männer* fingierten keine Suizidversuche. Diese Aussagen sind insofern bemerkenswert, da die von Mayr zitierten statistischen Erhebungen differenzierter waren. In den insgesamt acht Statistiken lag die Anzahl der Suizide und Suizidversuche keineswegs weit auseinander. In vier Statistiken überwogen die Suizidversuche und in den anderen die Suizide. Erstere zeigten zwar eine höhere weibliche Beteiligung, nichtsdestotrotz lagen auch hier die Zahlen der Männer* höher. Die Aussage einer stark steigenden weiblichen Vulnerabilität deckte sich hingegen mit den statistischen
Ezra Susser, Alfredo Morabia, The Arc of Epidemiology. In: Ezra Susser et al. (Eds.), Psychiatric Epidemiology. Searching for the Causes of Mental Disorders (New York et al. 2006) 15 – 24. Von Mayr., Selbstmordstatistik, 686. Georg von Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre (Band III, Moralstatistik mit Einschluss der Kriminalstatistik, Tübingen 1917) 291– 296. Georg von Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre, 291. Die den Statistiken zufolge ausgeprägte Affinität der Frauen* zum Erhängen wurde regelmäßig übergangen bzw. als wenig typisch betrachtet.
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Erhebungen. Die schwierige Erfassbarkeit und die disputierte Brisanz von Suizidversuchen trugen dazu bei, dass die Durchsetzung als distinkte Kategorie noch vertagt wurde.³⁶² Als ebenso hinderlich erwies sich die männliche Prävalenz für vollendete Suizide. Die spätere Etablierung setzte beim weiblichen Überhang an und zog ihn als nicht weiter zu überprüfendes Faktum heran. Durch die 1851 erfolgte Reorganisation der Todesursachenstatistik wurden nun auch binäres Geschlecht, Lebensalter, Suizidmethode und -monat sowie die Religionszugehörigkeit dokumentiert.³⁶³ Offensichtlich suchte der Staat mehr über die Sterblichkeit seiner Staatsbürger*innen zu erfahren.³⁶⁴ Eine weitere Reform fand 1871 statt. Fortan galt es, die Todesursachen in die Landessanitätsberichte einzubeziehen und in der 1873 neubegründeten Statistik des Sanitätswesens auszuweisen. Diese Vorgangsweise wurde 1895 noch einmal adaptiert. Nun wurden die Matrikenämter verpflichtet, vierteljährlich Aufzeichnungen an die Statistische Central-Kommission zu senden. Die Suizidfälle mussten in Vordrucke eingetragen und über den Weg der Bezirks- und Landesbehörde nach Wien übermittelt werden. Die Grundlage für diesen Prozess bildeten die standesamtlichen Register, die sogenannten Matrikenbücher und die Totenbeschaubefunde. Für erstere waren die Gemeinde-Seelsorger und für zweitere die Totenbeschauer*innen zuständig.³⁶⁵ Um den tatsächlichen Tod und seine Ursache festzustellen, musste an jeder Leiche eine Totenbeschau vorgenommen werden. Qualifiziert dafür waren nur akademisch geprüfte Mediziner*innen. Diese trugen ihre Erkenntnisse in ein Formular ein, welches wiederum die Basis für die Matrikenbücher bildete. Die Totenbeschaubefunde lieferten also das mittelbare Material für die heteronormative k. k. Todesursachenstatistik. Für Städte wie Wien, die kommunale Statistiken führten, stellten sie die unmittelbare statistische Quelle dar; auch hier wiederum unter heteronormativen Vorzeichen. Derart wird der zentrale
Durkheim legte bereits eine Definition des Suizidversuchs vor und verwies dabei auf die Ähnlichkeit zur Selbsttötung. Als zentralen Unterschied benannte er die ausbleibende Todeskonsequenz. Diese kurze Festlegung reichte allerdings noch nicht, um den Suizidversuch als distinkte Kategorie zu etablieren. Durkheim, Der Selbstmord, 27. Die erweiterten Formulare wurden für Wien erst seit 1853, für Dalmatien erst seit 1856 angewendet. J.(ulius) Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872. In: Statistische Monatsschrift 2 (1876) 97– 107, hier 98. Christel Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. In: Heimold Helczmanovszki (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte. Nebst einem Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungs- und Sozialstatistik, Wien 1973) 225 – 266, hier 255. Protestantische Seelsorger durften erst seit 1829 standesamtliche Aufgaben übernehmen und mussten bis 1849 eine katholische Oberaufsicht erdulden. Durdik, Bevölkerungs- und Sozialstatistik in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, 253
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Charakter der Totenbeschaubefunde evident. Von einer einheitlichen Handhabung konnte allerdings keine Rede sein, gab es doch für einzelne Kronländer, ja sogar Städte, unterschiedliche Vorschriften und Formulare. So existierten Totenbeschauordnungen, die Zusatzfragen bei Suizid vorsahen und andere, die kaum differenzierten. Der Statistiker Hans Kuttelwascher kritisierte diese Praxis und forderte die Vereinheitlichung der Totenbeschau. Er verlangte auch, die Totenbeschauer*innen über gewaltsame Todesarten zu instruieren (Suizid, Mord, Totschlag, tödliche Verletzung, Hinrichtung, Kriegs-, Unfall- und Hungertod).³⁶⁶ Um einen Suizid zu ‚erkennen‘, war das Vorwissen der Totenbeschauer*innen zentral. Fälle, die nicht in das Schema passten, dürften besonders leicht ‚übersehen‘ worden sein – entweder, weil vielleicht die Umstände ungewöhnlich waren oder, weil die Methode aus dem Rahmen fiel. Denn auch beim Suizid gab es so etwas wie eine ‚Routine-Variante‘.³⁶⁷ Folgendes Setting konnte als ideal gelten: männliches Geschlecht, ein ‚offensichtliches‘ und akzeptiertes Motiv sowie klare körperliche Traumata. Das hing damit zusammen, dass eine Selbsttötung positiv bewiesen werden musste. Auffindungssituation und sozialer Hintergrund mussten suizidales Handeln ‚erzählen‘.³⁶⁸ Fehlten äußere Traumata und typische Indizien, dann wurde dieses Narrativ beeinträchtigt. In solchen Fällen dürften die Totenbeschauer*innen eher keinen Suizid notiert haben. Zurückhaltung war auch aus folgenden Gründen geboten. Fehlurteile gefährdeten die berufliche Reputation und es drohte der Zorn der Angehörigen. Zudem hatte das ‚Übersehen‘ eines Suizids keinerlei Konsequenzen.³⁶⁹ Insbesondere Tote aus sozialen Gruppen, die kaum mit suizidalem Verhalten assoziiert wurden, dürften so einer Registration entgangen sein. Selbstverständlich konnten die Totenbeschauer*innen die Leiche an die Gerichtsmedizin weiterreichen. Aber auch hier musste eine Gemengelage vorliegen, die ein solches Vorgehen rechtfertigte. Offensichtlich waren die Suizidstatistiken stets an medizinische Qualifikationskriterien gekoppelt und daran, wie diese von den Totenbeschauer*innen gehandhabt wurden.
Zur Vorgehensweise bei der Überprüfung eines Suizidverdachts und wie dabei Totenbeschau, Gerichtsmedizin und die Hinterbliebenen (inter)agieren: Stefan Timmermans, Postmortem. How Medical Examiners Explain Suspicious Deaths (Chicago 2007) 74– 112. Stefan Timmermans, Suicide Determination and the Professional Authority of Medical Examiners. In: American Sociological Review 70/2 (2005) 311– 333. Timmermans, Postmortem, 74– 112. Timmermans, Suicide Determination and the Professional Authority of Medical Examiners, 311– 333. Timmermans, Postmortem, 74– 112. Timmermans, Suicide Determination and the Professional Authority of Medical Examiners, 311– 333. Timmermans, Postmortem, 74– 112. Timmermans, Suicide Determination and the Professional Authority of Medical Examiners, 311– 333.
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Bezüglich der Güte der k. k. Statistik vermutete der Nationalökonom Julius Platter eine erhebliche Dunkelziffer und begründete seinen Verdacht damit, dass zahlreiche Suizide nicht als solche erkannt oder bewusst verheimlicht wurden.³⁷⁰ Er wähnte eine ‚schonende‘ Dokumentationspraxis eher am Land verbreitet. In den großen Städten schien ihm das Polizeiwesen besser, die Bewohner*innen der großen Mietskasernen kannten einander kaum und das Sanitätspersonal konnte unbefangener agieren. Als förderlich für die Güte der Statistik notierte er: erstens, Schulungen für die staatlichen Organe und zweitens, den Wechsel des Fallmanagements von den seelsorgerischen zu den ärztlichen Kräften. Platter beschäftigte auch, ob der Anstieg der Suizide echt war, oder nur die verbesserte Erhebung reflektierte.³⁷¹ Der Statistiker argumentierte zugunsten einer tatsächlichen Zunahme, erschien ihm doch die frühere Datenqualität nicht erheblich schlechter. Zudem zeigte sich seit 1848 ein kontinuierlicher Trend, der sich auch in den Provinzen und Regionen klar manifestierte.³⁷² Platter bedauerte, dass die k. k. Statistik keine Suizidmotive aufzeichnete, obwohl er sich deren grundsätzlicher Problematik bewusst war.³⁷³ Ihm missfiel auch, dass die Nationalität der Suizident*innen nicht erfasst wurde, könne doch so diese Einflussgröße nicht gemessen werden. Er negierte die üblichen Spekulationen, ob bzw. wie Methode und Motiv korrelierten. Diese drückten keine innere Wahrheit über die „verschiedenen Völker, Stände und Geschlechter“ aus, sondern nur deren Verfügbarkeit.³⁷⁴ Bemerkenswerterweise lehnte er es auch ab, den „sittlichen“ Zustand der Gesellschaft als kausal für das Suizidgeschehen zu betrachten.³⁷⁵
Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 98. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 99. Der Statistiker plädierte übrigens dafür, mit relativen Bezügen zu arbeiten. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 107. Das heute übliche Modell der Suizidrate (Bezug der Suizide auf eine Population von 100.000 Einwohner*innen) harrte noch seiner Durchsetzung. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 100. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 99. Bezüglich der Methoden nannte Schlager für Männer* am häufigsten das Erhängen, das Erschießen und das Ertränken. Bezüglich der Frauen* nahm das Erhängen ebenfalls den ersten Platz ein, gefolgt vom Ertränken und Vergiften. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 102. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 107.
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Suizidales Verhalten als Massenphänomen der modernen Gesellschaften? War man bis ins 19. Jahrhundert davon ausgegangen, dass suizidales Verhalten in der jeweiligen Persönlichkeit begründet liegt, wurde nun das Soziale fokussiert.³⁷⁶ Während der Suizid nie zu einer Schlüsselkategorie der Psychologie werden sollte, erlangte er für die Soziologie vorübergehend genau diesen Stellenwert.³⁷⁷ Es reifte also eine Interpretation, die suizidales Verhalten als soziales Phänomen der Moderne verstand.³⁷⁸ Insgesamt war der Blick auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft noch ein anderer. Aber die sozialen Missstände jener Zeit führten zu einem intensiven Nachdenken über das Soziale, was besonders von einer aufbegehrenden Arbeiter*innenschaft angetrieben wurde. Da suizidales Verhalten letztendlich alle Schichten traf, war es geeignet, „zur Projektionsfläche für nahezu alles“ zu werden, „was man als ‚Unbehagen in der Kultur’ bezeichnen kann“.³⁷⁹ Als wichtigster sozialphilosophischer Suizidforscher etablierte sich Tomáš Garrigue Masaryk, der sich 1878 an der Universität Wien mit Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation habilitiert hatte.³⁸⁰ Seine Arbeit wurde intensiv rezipiert und selbst 1947 noch als ein relevanter Forschungsbeitrag genannt.³⁸¹ Und obwohl Durkheim die Soziologie begründete, war es Masaryk, der als erster sozialwissenschaftliches Gedankengut in der k. u. k.
Reinhard Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung (Suizidologie 16, Regensburg 2004) 15 – 16. „Er (der Suizid, M. H.) war nicht mehr nur die ‚Signatur der Freiheit’ des Individuums, welche man erkämpfen wollte oder auch bestritt, vielmehr erschien der Selbstmord nun in wachsendem Maße als eine alltägliche, ja massenhafte Realität, in der der Charakter der aufkommenden Industriegesellschaft, mit ihren Entwurzelungen, Zwängen und Gebrechen, seinen – wie man es sah – deutlichsten Ausdruck fand.“ Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung, 15 – 16. Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung, 15 – 16. Ursula Baumann, Selbsttötung und die moralische Krise der Moderne. Durkheim und seine Zeitgenossen. In: Andreas Bähr, Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis (Köln u. a. 2005) 115 – 136, hier 115. Masaryk wollte seine Habilitation ursprünglich über Platons Psychologie schreiben, entschied sich aber nach positiven Reaktionen auf seinen Vortrag Ueber den Selbstmord. Ein Beitrag zur Soziologie und Ethik vor der Philosophischen Gesellschaft Wien am 4. Dezember 1876 um. Josef Maria Brožek, Jiří Hoskovec, Thomas Garrigue Masaryk on Psychology. Six Facets of the Psyche (Prague 1995) 15. Erwin Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem. Eine zeitgemäße Betrachtung (Wien 1947). Masaryk ging später in die Politik und gründete die Tschechoslowakische Republik mit. Er wurde auch deren erster Präsident.
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Monarchie verbreitete. Als kritischer Realist stand er dem Positivismus und dem Deutschen Idealismus nahe, ohne jedoch den Entwurf eines philosophischen Gesamtsystems zu verfolgen. Er war gut mit dem Werk des schottischen Aufklärers David Hume vertraut und publizierte von ihm inspiriert über Moral und Skepsis.³⁸² Für Hume besaß jedes Individuum das Recht, sich selbst zu töten.³⁸³ Trotz dieser intensiven Auseinandersetzung lehnte Masaryk suizidales Verhalten letztendlich ab. Dies zeigt sich deutlich in seiner gesellschaftskritischen Habilitationsschrift. Dort bemängelte er den säkularen Trend und das unzulängliche Schul-, Bildungsund Militärwesen. Letzteres würde die „intellectuelle Halbbildung“ fördern, die ihrerseits mit einer „moralischen Haltlosigkeit“ korrelierte.³⁸⁴ Der Diskurs über die sogenannte Halbbildung war im 19. Jahrhundert ein überaus prominenter. De facto prangerte er die falsche Bildung subbourgeoiser und zugezogener Männer* an, sei doch bei ihnen das Verhältnis zwischen Spezialwissen und Allgemeinbildung besonders ungünstig. Offensichtlich diente dieser Diskurs der bildungsbürgerlichen Abgrenzung und sollte die Elitewissenschaft absichern.³⁸⁵ Gleichzeitig schloss er auch Frauen* aus, da nur die allerwenigsten von ihnen eine gymnasiale Karriere und eine Berufsausbildung vorweisen konnten. Über die Halbbildung erklärte Masaryk auch die hohe Suizidgefährdung der Soldaten der
Tomáš Garrigue Masaryk, D. Humes Prinzipien der Moral (Wien 1883). Ders., D. Humes Skepsis und die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Wien 1884). Damit befand sich Masaryk im Trend der Zeit, denn im Habsburgerreich setzte mit 1869 eine starke Hume-Rezeption ein, was sich in den vielen Übersetzungen und Kommentaren spiegelt: David Hume, Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes (Die philosophische Bibliothek 13, Berlin 1869). Friedrich Jodl, Leben und Philosophie David Hume’s. Von der Universität zu München gekrönte Preisschrift (Halle 1872). Edmund Pfleiderer, Empirismus und Skepsis in Dav. Hume’s Philosophie als abschliessender Zersetzung der englischen Erkenntnislehre, Moral und Religionswissenschaft (Berlin 1874). David Hume, Dialoge über die natürliche Religion. Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele (Leipzig 1877). Georg von Gizycki, Die Ethik David Hume’s in ihrer geschichtlichen Stellung. Nebst einem Anhang über die universelle Glückseligkeit als oberstes Moralprincip (Breslau 1878). Luigi Natoli, David Hume (Triest 1879). David Hume, Eine Untersuchung über die Principien der Moral (Wien 1883). Joseph Uhl, Die Grundzüge der Psychologie David Humes (Prag 1888). Eduard Grimm, Zur Geschichte des Erkenntnisproblems. Von Bacon zu Hume (Leipzig 1890). Joseph Uhl, Hume’s Stellung in der englischen Philosophie (Prag 1891). Anton Keller, Das Causalitätsproblem bei Malebranche und Hume (Rastatt 1899). Das christliche Interventionsverbot entkräftete er über seine Widersprüchlichkeit. Denn konsequent verfolgt, würde es auch jede lebensverlängernde Maßnahme verbieten. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit, 52– 54. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 83. Constantin Goschler, ‚Wahrheit‘ zwischen Seziersaal und Parlament. Rudolf Virchow und der kulturelle Deutungsanspruch der Naturwissenschaften. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 30/ 2 (2004) 219 – 250, hier 232.
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k. u. k. Armee, sei doch dort dieses Manko besonders weit verbreitet. Er führte die militärische Vulnerabilität aber auch auf andere Umstände wie die Furcht vor den häufigen (Disziplinar)Strafen zurück.³⁸⁶ Seine Ausführungen darüber blieben aber knapp. Es war offensichtlich leichter, die Ausbildungsinhalte in Frage zu stellen als das Disziplinarrecht, galt dieses doch als essentielle Komponente, um den soldatischen Gehorsam aufrechtzuerhalten. Die von den Statistiken nahegelegten Häufigkeitsverteilungen verschärften die gesellschaftlichen Spannungen, schienen doch die Arbeiter*innen besonders betroffen zu sein. Um den Diskurs zu entlasten, wurden ihnen neben Bildungsmängeln auch charakterliche unterstellt: „Unter den gebildeteren Classen kommen mehr Selbstmorde, wie unter den ungebildeten, aber weniger wie unter den halbgebildeten, wie den Berufslosen und Dienstboten vor. Bei diesen beiden Classen spielen daneben wohl die besonderen Versuchungen mit, zu denen ihr Leben Anlass gibt, wie Müssiggang, Laster einer-, Grossthun, Eitelkeit, Verführung, auch das Gefühl der Beschränkung der persönlichen Freiheit andrerseits.“³⁸⁷
Gleichzeitig konnte die Abhängig- und Rechtelosigkeit der Arbeiter*innen nicht (mehr) ignoriert werden, was ganz zentral mit dem sozialdemokratischen Engagement zusammenhing.³⁸⁸ Die Auswirkungen der Industrial- und Urbanisierung beschäftigten auch Masaryk, waren doch die Städte als Brennpunkte der Moderne in den Verdacht geraten, suizidales Verhalten zu begünstigen. Tatsächlich hatten sie neue Arbeits- und Lebensformen hervorgebracht und damit auch die heteronormative Geschlechterordnung aufgeweicht. Und jetzt drohten sie das umliegende Land damit anzustecken: „Von der Stadt verbreitet sich gewöhnlich die krankhafte Selbstmordneigung wie ein ansteckendes Miasma auf das flache Land.“³⁸⁹ Masaryk erschien ein Zusammenhang zwischen den vielen Suiziden und „dem dichten Dunst und Rauch … der den Stadtbewohnern selten den Anblick des klaren Himmels verstatte“ durchaus plausibel.³⁹⁰ Die Kollektivsymbole des Dunstes und Rauches illustrierten, wie gefährlich das Vage, Vergängliche und das Feuer waren. Während die Ansteckung pathologisch aufgeladen war, bildeten Nebel und Rauch schicksalshafte Naturgewalten. Gemeinschaftlich verwiesen sie
Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 54. Adolph Wagner, Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik (Hamburg 1864) 217– 218. Theodor Wollschak Teifen (Pseudonym des Karl Renners), Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich (Wien 1894) 139 – 140. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation ,14– 15. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 12 Fußnote 2.
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auf die rauchenden Fabrikschlote der industriellen Revolution. Letztendlich suggerierten diese Metaphern, dass der Kapitalismus und seine sozialen Missstände schicksalshaft über den Menschen hereingebrochen waren. Wie bereits angesprochen, galten die Städte als brandgefährlich, da dort neue Modelle der sozialen Ordnung erprobt wurden. Besonders die Hinwendung der Frauen* zum industriellen Arbeitsmarkt und ihre Forderung nach politischer Teilhabe informierte einen konservativ-alarmistischen Diskurs.³⁹¹ Aber auch die Herausbildung neuer Sexualitäten verstörte immens. Als Träger dieses Diskurses fungierten kirchliche und bürgerliche Eliten. Laut diesen produzierten die neuen Lebensund Begehrensformen vor allem eins: Chaos. Dem Zeitgeist folgend, suchte Masaryk auch ethnische und „rassische“ Prädiktoren zu identifizieren. Vor dieser Folie behauptete er, dass slawische Frauen* vulnerabler seien als deutsche, ohne eine Erklärung dafür zu bieten. Für das hohe Suizidrisiko von französischen Frauen* führte er hingegen einen Grund an. Dieser würde in deren größeren gesellschaftlichen Teilhabe liegen.³⁹² An diesen Beispielen zeigt sich, dass Geschlecht nationalistisch ausgekleidet war und dass über ethnisch-rassistische Abwertungen Ausschlüsse erzeugt wurden. Ganz offensichtlich wurden diese je nach Bedarf ein- oder ausgeblendet. Dies galt auch bezüglich der politischen Teilhabe und der außerhäuslicher Erwerbsarbeit von Frauen*. Deren Transgression in männliches Territorium wurde sanktioniert, indem sie aus dem Kreis akzeptierter Weiblichkeit ausgeschlossen wurden. Zudem wurden alle diese Übertretungen mit einer erhöhten Vulnerabilität assoziiert und damit die Betroffenen abermals nachgeordnet. Der Diskurs über suizidales Verhalten war eng mit jenen über Vererbung und Degeneration verquickt. Erster beschäftigte sich allgemein mit der Weitergabe von genetischen Merkmalen. Zweiter fokussierte die Vererbung von Krankheiten und vermeintlich devianten Charaktereigenschaften, Konstitutionen und Mentalitäten.³⁹³ Beide fragten nach Gesetzmäßigkeiten des Auftretens. Masaryk verneinte eine direkte Vererbung der Suizidneigung, hingegen könne wohl eine Disposition zu psychischen Störungen indirekt weitergegeben werden. Damit zusammenhängend spekulierte er, dass Psychosen und suizidales Verhalten durch unsittliche Verhältnisse mitverursacht werden, worunter er Verstöße gegen die heteronormative Geschlechtermatrix und Alkoholmissbrauch verstand.³⁹⁴ Der
Howard I. Kushner, Suicide, Gender, and the Fear of Modernity in Nineteenth-century medical and social Thought. In: Journal of Social Science, Spring (1993) 461– 490, here 462. Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 23 – 25. Hans-Jörg Rheinberger, Staffan Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts (Frankfurt/M. 2009). Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 116.
Sexualwissenschaftliche Einordnungen und sexuelle Krise
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Philosoph setzte psychische Störungen auch in Relation mit der sozialen Klasse und behauptete: „Die höheren Stände liefern weniger Geisteskranke als die niederen.“³⁹⁵ Darüber konnte er die vielen suizidalen Handlungen in den unterbürgerlichen Schichten erklären. Masaryks Ausführungen demonstrieren, dass in Geschlecht auch ableistisches bzw. eugenisches Gedankengut eingeschrieben war. Dieses stand wiederum in einem interdependenten Verhältnis mit klassenbezogenen, heteronormalen und -sexistischen Aspekten. Über alle diese Kategorien wurde eine hierarchische Ordnung akzeptierter, nachgeordneter oder verworfener Subjektivitäten entworfen.
Sexualwissenschaftliche Einordnungen und sexuelle Krise Wie bereits angesprochen, informierten Sexualität und Reproduktion den Degenerationsdiskurs. Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend das Zusammenspiel mit suizidalem Verhalten näher untersucht. Im 19. Jahrhundert bildete die Menstruation ein wichtigstes Scharnier zwischen gynäkologischen und psychiatrischen Forschungsansätzen, welches mit nervösen Störungen oder gar „Irresein“ assoziiert wurde.³⁹⁶ Vor diesem Hintergrund formulierte Richard von Krafft-Ebing 1902 das Krankheitsbild der sogenannten Psychosis menstrualis. ³⁹⁷ Ähnlich wie bei gleichgeschlechtlichem, fetischistischem oder sadomasochistischem Begehren spielten auch hier Geständnispraktiken eine bedeutende Rolle.³⁹⁸ Neben den zahlreichen und vor allem aus dem Bürgertum und dem Adel stammenden Männern* wandten sich auch Frauen* an den Psychiater. Sie suchten seinen Rat seltener und weniger wegen sexueller ‚Perversionen‘, sondern wegen psychischer Störungen. Krafft-Ebing war überzeugt, dass auch die Menstruation wahnhafte
Masaryk, Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation, 107. Catani, Das fiktive Geschlecht, 39 – 40. Vor diesem Hintergrund entbrannte in den 1880erJahren ein Kompetenzstreit zwischen Gynäkologie und Psychiatrie um die Hysterie. Dieser drehte sich insbesondere um die Theoretisierung des Phänomens. Letztendlich ging es aber auch darum, welche Disziplin Weiblichkeit definieren und wer die Patient*innen für sich reklamieren konnte. Schmersahl, Medizin und Geschlecht, 206. Die Menstruationspsychose ist übrigens bis heute nicht aus der psychiatrischen Forschung verschwunden – auch wenn sie als umstritten gilt. Neuere Arbeiten schlagen vor, die Menstruation als möglichen Trigger für eine bipolare Episode zu werten. Ian Brockington, Menstrual psychosis. In: World Psychiatry 4/1 (2005) 9 – 17. Krafft-Ebing publizierte 1878 bereits 19 Fallgeschichte von Frauen*, die er vom „menstrualen Irresein“ betroffen wähnte. Richard von Krafft-Ebing, Untersuchungen ueber Irre-Sein zur Zeit der Menstruation. Ein klinischer Beitrag zur Lehre vom periodischen Irre-Sein. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 8/1 (1878) 65 – 107.
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Zustände und deviantes Verhalten hervorrufen könne.³⁹⁹ Die Frauen* berichteten ausführlich über ihr familiäres Umfeld, ihr Begehren und ihre körperlichen Empfindungen. Letztendlich wurden sie aber mit der Diagnose der Psychosis menstrualis stigmatisiert. Krafft-Ebing forderte für während der Menstruation straffällig gewordene Frauen* sogar eine Strafmilderung wegen eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit.⁴⁰⁰ Helen Blackman weist darauf hin, dass die empirische Datenlage über die Menstruation auch im 19. Jahrhundert noch dürftig war. Sie galt als schambesetztes Thema und man empfahl, das Gespräch eher mit dem Ehemann zu suchen.⁴⁰¹ Der Umweg über die Sektion war ähnlich schwierig. Auch hier konnte nicht eindeutig geklärt werden, was eine gesunde Menstruation von einer krankhaften unterschied. Der prominente Mediziner Max von Gruber widmete sich wiederholt sozialer Devianz, sexueller Degeneration und rasse(n)biologischen Momenten.⁴⁰² Er lässt sich als ein vehementer Gegner nicht-heteronormativer Lebensformen charakterisieren, meinte er doch, in der Ehe viele gesundheitsfördernde Auswirkungen zu erkennen und argumentierte, „dass das Leben der Verheirateten viel ruhiger, gleichmässiger, geordneter, mit viel weniger Exzessen verläuft, daß sie von Geschlechtskrankheiten mehr verschont sind u. s. w. Ganz ebenso erklärt sich die größere Häufigkeit des Irrsinns und der Selbstmorde der Ledigen“.⁴⁰³ Recht of-
„Unverträglichkeit mit dem Gatten und dem Gesinde, üble Behandlung des sonst geliebten Kindes bis zu Misshandlungen, Zornesexplosionen, Ehrenbeleidigungen, Hausfriedensbruch, Unbotmäßigkeit gegen Amtspersonen, Eifersuchtsscenen gegenüber dem Manne, Bedürfnis nach Alkoholicis auf Grund dysmenorrhoeischer Beschwerden, acut neurasthenischer und Angstzustände sind der Alltagserfahrung entlehnte Vorkommnisse bei unzähligen weiblichen Individuen, die als reiz- und streitbare Naturen, in ihrem ‚Sturm‘ unter Umständen wahre Furien und Xantippen, gemieden und gefürchtet sind, intervallär als brave Gattinnen, zärtliche Mütter, sowie als angenehme Elemente in der Gesellschaft erscheinen können.“ Richard von Krafft-Ebing, Psychosis menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie (Stuttgart 1902) 93 – 94. „Die geistige Integrität des menstruirenden Weibes ist forensisch fraglich.“ Krafft-Ebing, Psychosis menstrualis, 108. Helen Blackman, Reproduction since 1750. In: Sarah Toulalan, Kate Fisher (Eds.), The Routledge History of Sex and the Body. 1500 to the Present (Abingdon 2013) 372– 390, here 377. Erst um 1900 wurde die endrokrinologische Bedeutung der Ovarien für den Menstruationszyklus entdeckt. Hellmuth Pickel, Emil Knauer (1867– 1935). Ein früher Pionier der gynäkologischen Endokrinologie. In: Der Gynäkologe 49/4 (2016) 294– 296, hier 294. Max von Gruber, Mädchenerziehung und Rassenhygiene. Vortrag gehalten anlässlich der Generalsversammlung des Verbandes zur Hebung hauswirtschaftlicher Frauenbildung am 4. Juli 1910 im alten Rathaussaale in München (München 1910). Max von Gruber, Die Prostitution vom Standpunkte der Sozialhygiene aus betrachtet. Vortrag gehalten im sozialwissenschaftlichen Bildungsvereine an der Wiener Universität am 9. Mai 1900 (Wien 1900). Von Gruber, Die Prostitution vom Standpunkte der Sozialhygiene aus betrachtet, 34– 35.
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fensichtlich suchte er so eine heterosexuelle Paarbeziehung bzw. Ehe als präventive Maßnahme gegen suizidales Verhalten starkzumachen. Allgemein wurden Homosexualität, Androgynität, „Frigidität“, Impotenz und Sexarbeit zunehmend als Risikofaktoren benannt und pathologisiert.⁴⁰⁴ Dieser Interpretation leistete auch Richard von Krafft-Ebing mit seiner erstmals 1886 erschienen Psychopathia sexualis Vorschub. Dort postulierte er, dass Homosexualität das Resultat „einer abnormen psychosexualen Veranlagung“ sei und dass gleichgeschlechtlich begehrende Menschen „eine neuropathische Belastung“ aufweisen würden, welche sich mit „erblich degenerativen Bedingungen“ in Verbindung bringen lasse.⁴⁰⁵ Das ausgewählte Zitat zeigt, dass Sexualität, Degeneration und Suizid bereits thematisch verquickt worden waren. Es soll nicht unterschlagen werden, dass die Psychopathia sexualis von vielen Homosexuellen positiv aufgenommen wurde, konnten sie sich doch anhand ihrer ausdeuten, besser um sich sorgen und eine (sexuelle) Identität gewinnen.⁴⁰⁶ In einem der vielen Briefe an Krafft-Ebing berichtete etwa ein 38-jähriger Urning, dass er sich nach der Lektüre sehr erleichtert fühlte. Das Werk habe ihm geholfen, seine suizidalen Ideen zu überwinden.⁴⁰⁷ Ein anderer warb anhand des Werkes um Verständnis für seine Selbsttötung: „‘Vater, Mutter, ach, vergebt mir, ich kann ja nicht anders, Liebe Mizzi verzeihe auch Du! Leset die ‚Psychopathia sexualis‘ und ihr werdet mir nicht mehr fluchen, daß ich Euch so schmähnlich verlassen habe.‘“⁴⁰⁸ Eine Generation später war es Magnus Hirschfeld, der durch seine Zwischenstufentheorie viele nicht-heteronormativ lebende und liebende Individuen entlastete. Auch wenn
Johannes Marr, Die Frau als Selbstmörderin. In: Geschlecht und Gesellschaft 9/1 (1914) 1– 14. Max Marcuse, Selbstmord und Sexualität. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 7 (1922) 192– 200. Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie (Stuttgart 91894) 194– 195. Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität (München 22009) 151– 169. Einschränkend gilt es hinzufügen, dass es sich hier vor allem um die Herausbildung männlicher Homosexualität drehte. Weibliches Sexualverhalten blieb in der Psychopathia sexualis deutlich unterrepräsentiert. Harry Oosterhuis, Stepchildren of Nature. Krafft-Ebing, psychiatry, and the making of sexual identity. In: Anna Clark (Ed.), The History of Sexuality in Europe. A Sourcebook and Reader (London et al. 2011) 186 – 197, here 189. Homosexualität gilt bis heute als Risikofaktor für suizidales Verhalten. Beim Zusammendenken dieser beiden Faktoren besteht die Gefahr, dass die als pathologisch geltende Suizidalität auf das gleichgeschlechtliche Begehren zurückgeführt und damit Homosexualität (wieder) pathologisiert wird. Dasselbe gilt für Bi- und Intersexualität sowie Transgeschlechtlichkeit. Ann P. Haas et al., Suicide and Suicide Risk in Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Populations: Review and Recommendations. In: Journal of Homosexuality 58/1 (2011) 10 – 51. Otto de Joux, Die hellenische Liebe in der Gegenwart. Psychologische Studien (Leipzig 1897) 164.
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sich, wie aus diesem Abschiedsbrief hervorgeht, der lobende Schreiber letztendlich selbst tötete: „‚Mein sehr geehrter Herr Doktor! In den letzten Wochen meines Lebens lieh ich mir von der hiesigen Universitätsbibliothek Ihre Jahrbücher, und es drängt mich doch, am Vorabende meines Lebens Ihnen in Dank und Erschütterung die Hände zu drücken. Ich habe ein schweres, qualenreiches Leben geführt unter Feme und Fron, und des war mir eine Freude, noch kurz vorm Tode zu wissen, daß ein Mensch unter Entsagung und Anfeindung unsere Sache ans Licht trage hilft. Also seien Sie nochmals freundlichst gegrüßt und bedankt von einem Fremden, der sich morgen früh die erlösende Kugel ins Herz senden wird.‘“⁴⁰⁹
Der Sexualforscher Johannes Marr beschäftigte sich ebenfalls mit Suizident*innen. Er meinte, dass die Vulnerabilität von Frauen* beständig zunahm und sich die Geschlechterrelation zu ihren Ungunsten entwickelte. Interessanterweise negierte er die Behauptung einer geschlechtsspezifischen Suizidalität. Er meinte, dass alle suizidalen Individuen gleichermaßen unter „Erkrankungen der Massenpsyche, die durch Entwertung rassischer Eigenschaften und dauernde Verfeinerung der Lebenssitten hervorgerufen werden“, litten.⁴¹⁰ Zudem würden Nervosität und allgemeine Hysterie um sich greifen. Daran zeigt sich, dass zu diesem Zeitpunkt das Konzept der Hysterie bereits auf Männer* angewandt, ‚proletarisiert‘ und in die Degenerationslehre eingebettet worden war.⁴¹¹ Marr begriff suizidale Handlungen als ein Symptom des Fortschritts und einer verfeinerten Kultur. Für ihn trieben beide das erotische Element auf die Spitze. Die daraus resultierende Hyperästhesie schien darüber hinaus mit Homosexualität, Abstumpfung und Asexualität zu korrelieren. Und so stand für ihn fest, „daß g e s c h l e c h t l i c h e U n m ä ß i g k e i t sehr häufig schadet. Besonders häufig leidet beim Manne das Nervensystem darunter, was leicht begreiflich ist, wenn man die heftige Erregung bedenkt, unter welcher sich der Beischlaf vollzieht.“⁴¹² Der Sexologe beklagte auch die Aufwertung von autoerotischen Praktiken und Überlegungen zur Geburtenkontrolle. Solcherart könnten sich Frauen* nicht mehr darauf fokussieren, Mutter zu werden: „Es ist nicht zu leugnen, daß unter der verderblichen Neuordnung der Verhältnisse die fraulichen Sitten am meisten gelitten haben. Nicht der Mann ist derjenige, der an Leib und Seele zu meist geschädigt ist, sondern die Frauen*, die in ihrer gesunden Betätigung der
Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 904– 905. Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 1. Schmersahl, Medizin und Geschlecht, 216 – 236. Max von Gruber, Hygiene des Geschlechtslebens. Für Männer dargestellt (Stuttgart 41911) 54– 55.
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Sinne, und noch mehr als das, durch die dank des um sich greifenden Autoerotismus immer allgemeiner werdenden neomalthusianische Weltanschauung an ihrer Mütterlichkeit behindert werden.“⁴¹³
Marr argumentierte, dass der Neomalthusianismus ein „wesenfremdes“ Element verkörpere und nicht die „Erstarkung der ethnischen Qualitäten der Menschheit“ bewirken könne.⁴¹⁴ Für eine kritische Haltung gab es jenseits der vagen Argumentation von Marr auch konkretere Gründe.⁴¹⁵ Bei den Neo-Malthusianer*innen hatte sich nämlich die Überzeugung durchgesetzt, dass positive eugenische Maßnahmen nicht genügten und insbesondere die Zahl der Unterprivilegierten durch Geburtenkontrolle reduziert werden müsse.⁴¹⁶ Zu diesem Zweck erfolgte 1877 die Gründung der Malthusian League in London. Ihr Ziel bestand darin, die von Thomas Malthus postulierten Bevölkerungsprinzipien zu popularisieren und die Armut zu reduzieren. Während der Kleriker Malthus nur sexuelle Enthaltsamkeit und hinausgezögerte Eheschließungen akzeptierte, setzten sich seine späteren Anhänger*innen vehement für Empfängnisverhütung ein. Insbesondere im Wien der Zwischenkriegszeit wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, Kontrarezeptiva zu popularisieren und zu entstigmatisieren. Derart sollte der Spagat zwischen größerer individueller Freiheit und Kontrolle des generativen
Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 3 – 4. Bei Max von Gruber und Ernst Rüdin kamen auch noch ein rassenhygienisches Moment und eines der sozialen Klasse hinzu: „Die nächste und grösste Sorge der Rassenhygiene – eine weit grössere als die relative Zunahme der Minderwertigen – bildete gegenwärtig schon der N e o m a l t h u s i a n i s m u s, die absichtlich herbeigeführte Einschränkung der Geburtenzahl bis zur völligen Unfruchtbarkeit. So unbedingt notwendig eine bewusste Regelung der Kindererzeugung ist, so verhängnisvoll wird sie für die Völker, wenn der Egoismus allein regiert … Zuerst werden die besitzenden und höherstehenden Klassen vom Neomalthusisanismus ergriffen. Ihr Nachwuchs wird mehr und mehr völlig unzulänglich.“ Von Gruber, Rüdin (Hg.), Fortpflanzung. Vererbung. Rassenhygiene, 171. Ebenso ist anzumerken, dass sich Malthus gegenüber der Französischen Revolution, der zunehmenden Republikanisierung und der Etablierung über-individueller Wohlfahrtssysteme ablehnend positioniert hatte. Laura Kepplinger, Biopolitik, Bevölkerungspolitik, Eugenik: Die Kontrolle des menschlichen Körpers in der Moderne (Unveröff. Soziolog. Dissertation JohannesKepler-Universität Linz, Linz 2015) 48. Die auch heute noch aufrechte Koppelung von Armut und Bevölkerungsentwicklung gehört fest zum Inventar der liberalen Gouvernementalität und umfasst auch Fragen der nationalen Sicherheit, der ökologischen Konservation und sogenannter Grüner Politik. Dean, The Malthus Effect: population and the liberal government of life, 18 – 39. Mary Briody Mahowald notierte in diesem Zusammenhang auch einen Konnex von weiblicher Armut, „Rasse“ und passiver Eugenik. Mary Briody Mahowald, Genes, Women, Equality (New York et al. 2000) 97– 101.
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Verhaltens gemeistert werden.⁴¹⁷ Der Sexualwissenschaftler Marr verknüpfte die Kinderlosigkeit von Frauen* auch mit ihrer wachsenden Teilhabe am Arbeitsmarkt.⁴¹⁸ Gleichzeitig würde es immer mehr Männer* geben, die nicht mehr fähig wären, zu lieben – entweder, weil sie Misogyniker und Melancholiker seien oder, weil sie unter Impotenz und Lebensekel litten. Er bediente sich hierbei des Kollektivsymbols des (gesunkenen) Schiffes, um diese verworfenen Existenzen zu beschreiben. Neben der Aufrechterhaltung des status quo und des damit verknüpften Herrschaftsverhältnisses ging es Marr um die Rettung der romantischheterosexuellen Liebe.⁴¹⁹ Als Hintergrund für diese Aussagen gilt es zu bedenken, dass im Fin de siècle rege über einen stets binär zu denkenden Geschlechterkampf und sexuelle Transgressionen debattiert wurde.⁴²⁰ Als wesentliche Diskursteilnehmer*innen traten Tageszeitungen, Sexualzeitschriften und -organisationen sowie medizinische Fachkräfte auf. Aber auch die Frauen*bewegungen, konservative christliche Stimmen und die Künste partizipierten. Im Wesentlichen zir-
Maria Mesner, Geburtenkontrolle. Reproduktionspolitiken im 20. Jahrhundert (Wien u. a. 2010) 66 – 80. Max von Gruber und Ernst Rüdin führten als weitere Gründe ins Feld: „Eine, z.T. auch von der Hygiene grossgezogene, übertriebene Aengstlichkeit, Verzärtelung und Vorsicht; dann aber auch das in die Mode gekommene Bildungsfieber, die soziale Streberei, die Sucht nach Bequemlichkeit und Luxus, Verlangen nach sexueller Zügellosigkeit; blinder Egoismus und Individualismus überhaupt.“ Von Gruber, Rüdin (Hg.), Fortpflanzung. Vererbung. Rassenhygiene, 176. Als gesetzlich zu verankernde Gegenmaßnahmen empfahlen die beiden: „Dass die Individuen von der Gesamtheit für diesen Dienst der Erzeugung eines tüchtigen Nachwuchses, ebenso wie für andere Dienste entschädigt werden, dass diejenigen, welche um ihres persönlichen Behagens willen ihren Dienst in dieser Hinsicht versagen, ausgiebig herangezogen werden müssen, um die Kosten der ehelichen Fruchtbarkeit jener guten Rassenelemente zu tragen, deren kräftige Vermehrung für das Volkswohl unumgänglich notwendig ist. Nur auf diesem Wege wird auch dem z e r s t ö r e n d e n U e b e l d e r s o g . F r a u e n e m a n z i p a t i o n zu steuern sein (sic!).“ Von Gruber, Rüdin (Hg.), Fortpflanzung. Vererbung. Rassenhygiene, 177. Anne-Charlott Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters. In: Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Iinnenansichten des 19. Jahrhunderts (Göttingen 1998) 23 – 55. Den ambivalenten Charakter der romantisch-heterosexuellen Liebe charakterisiert Wolfgang Müller-Funk folgendermaßen: „Sie impliziert Gleichheit im Gefühl und steigert zugleich das klassische Gegenüber von werbendem Mann und umworbener Frau.“ Die Erfindung der Liebe aus dem Medium des Briefes. Sophie Mereau und Clemens von Brentano. In: L’Homme 10 (2005) 89 – 109, hier 94. Edward Ross Dickinson, ʻA Dark, Impenetrable Wall of Complete Incomprehension’. The Impossibility of Heterosexual Love in Imperial Germany. In: Central European History 40 (2007) 467– 497, here 467.
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kulierte die Rede um die heterosexistische Doppelmoral und die unverträglichen Geschlechtscharaktere.⁴²¹ Auch die sozialdemokratische Arbeiterinnen-Zeitung beschäftigte sich mit Fragen des (Neo)-Malthusianismus, der „Rasse(n)hygiene“ und weiblicher Berufstätigkeit. Eine der Redner*innen auf der Hygieneausstellung 1911 in Dresden, die Schriftstellerin Maria von Stach, erlangte offensichtlich die Zustimmung der Arbeiterinnen-Zeitung. Sonst wären ihre Ausführungen wohl kaum so ausführlich im Blatt wiedergegeben worden.⁴²² Von Stach meinte, dass die freiwillige Beschränkung der Kinderzahl „ein der Frauenbewegung zuzuschreibendes antiselektorisches (der natürlichen Auslese entgegenwirkendes) Moment“ darstellt.⁴²³ Allerdings hätte in letzter Zeit ein Wandel eingesetzt, der die Mutterschaft bei gesunden, tüchtigen und begabten Individuen positiv bewertet. Die Rednerin forderte auch, dass zuerst die Vereinbarkeit von Arbeits- und Familienleben ermöglicht werden müsse und danach „d i e A n e r k e n n u n g d e r M u t t e r s c h a f t a l s g e s e l l s c h a f t l i c h e L e i s t u n g und d i e Ve r g ü t u n g d i e s e r L e i s t u n g , einerseits nach Maßgabe der aufgewendeten Arbeitskraft, andererseits nach Maßgabe des gesellschaftlichen Wertes des Produktes, nämlich des Kindes“.⁴²⁴
Ann Taylor Allen plädiert dafür, das paarweise Auftreten von eugenischen und feministischen Agenden nicht als zufällig, sondern vielmehr als grundlegend und formierend für die Frauen*bewegungen zu betrachten.⁴²⁵ Sich für die als genuin
Eder, Kultur der Begierde, 188 – 193. Dickinson, ʻA Dark, Impenetrable Wall of Complete Incomprehension’, 468 – 477. Anlässlich der Hygieneausstellung hielten die Deutsche und die Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene ihre Jahreshauptversammlung ab. An der Spitze der Internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene stand Max von Gruber. Die Organisation zählte nach fünfjährigem Bestehen 1911 bereits 430 Mitglieder. Rassehygiene und Kinderbeschränkung, Arbeiterinnen-Zeitung, 20. Jg., Nr. 18, 29. August 1911, 3 – 4, hier 4. Rassehygiene und Kinderbeschränkung, Arbeiterinnen-Zeitung, 20. Jg., Nr. 18, 29. August 1911, 3 – 4, hier 4. Ann Taylor Allen, Feminism and Eugenics in Germany and Britain 1900 – 1940: A Comparative Perspective. In: German Studies Review 23/3 (2000) 477– 505. Auch Maria Mesner vertritt die Auffassung, dass hinsichtlich der Geburtenkontrolle keine scharfe Grenze zwischen emanzipativen und eugenischen Bestrebungen existierte. Mesner, Geburtenkontrolle, 99 – 102. Zur Amalgamierung von feministischen, neo-malthusianischen und eugenischen Ideen siehe auch: Klausen, Bashford, Fertility Control: Eugenics, Neo-Malthusianism and Feminism, 98 – 115. In diesem Kontext soll auch nicht unterschlagen werden, dass sich etwa die US-amerikanische, weiße Frauen*wahlrechtsbewegung ab den 1860er Jahren eines offenen Rassismus bediente. Julia
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weiblich codierten Themen der Mutterschaft, der Reproduktion und des generativen Verhaltens nicht zu interessieren, hätte nämlich bedeutet, dieses Feld aufzugeben und den Männern* zu überlassen. Marr war überzeugt, dass Nahrungsmangel und krisenhafte Lebenssituationen als Risikofaktoren für suizidales Verhalten zu vernachlässigen seien. Es war vielmehr ‚abnormes‘ sexuelles Begehren, welches ihm verdächtig erschien. Er wähnte sowohl zu stark ausgeprägte als auch verkümmerte sexuelle Bedürfnisse als ungünstig. Jede solche Imbalance würde Sexarbeit, Geschlechtskrankheiten, Kriminalität, Alkoholismus und Pessimismus mit sich bringen. Solcherart gelangte Marr zum Schluss, dass sich „der Selbstmord überhaupt nur in Zusammenhang mit der gesamten Psychopatia sexualis unsrer Zeit behandeln“ lässt.⁴²⁶ Wie bereits angesprochen, verband der Sexualforscher suizidales Verhalten mit rückläufiger Fertilität. Diese Entwicklung würde aber nicht nur Frauen* treffen, denn auch Männer* litten unter der „Abnahme der Mütterlichkeit“ und einem zerstörten Familienleben.⁴²⁷ Um die Suizidalität von Frauen* zu bekämpfen, dürften diese nicht in ihrem reproduktiven Streben verunglimpft werden. Besonders bessergestellte Schichten müssten ihre zynische und abwertende Haltung gegenüber Müttern aufgeben. Auch wenn Marr hier Kritik an der Bourgeoisie übte, so bestand doch ein weitgehender wissenschaftlicher Konsens, dass die Wurzel der skizzierten Übel bei der Arbeiter*innenschaft lag. Der gängigen Meinung nach dachten diese in materialistischen Dimensionen, lehnten die Religion ab und frönten der sexuellen Promiskuität.⁴²⁸ Das sich ausbreitende Zusammenleben von Unverheirateten, Schwangerschaftsunterbrechungen, Sexarbeit und sogenannte venerische Krankheiten, all das wurde auf die Moral- und Sittenlosigkeit der Arbeiter*innen zurückgeführt.⁴²⁹ Den besonderen Argwohn des Sexualforschers rief der Umstand hervor, dass die tradierten Geschlechter- und Sexualkonzepte zunehmend erodierten.⁴³⁰ Laut Marr erhöhte die weibliche Gefühlsbetontheit das Suizidrisiko, zugleich würden Frauen* von ihrer „extrem-erotische(n) Anlage“
Heidelberg, Ana Radic, „Womanhood: A Vital Element in the Regeneration and Progress of a Race“. Die biopolitische Argumentation schwarzer und weißer Suffragetten, 1890 – 1920. In: Feminismus Seminar (Hg.), Feminismus in historischer Perspektive. Eine Reaktualisierung (Bielefeld 2014) 73 – 114. Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 3 – 4 Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 4– 5. Die Behauptung einer sexuellen Frivolität und Promiskuität der Arbeiter*innenschaft wurde durch die Forschung inzwischen weitgehend zurückgewiesen oder zumindest relativiert. Eder, Kultur der Begierde, 175 – 181. Eder, Kultur der Begierde, 174. Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 5.
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profitieren.⁴³¹ Damit war gemeint, dass sie ihrer Geschlechtlichkeit unterworfen waren, aber kaum über sexuelle Bedürfnisse verfügten.⁴³² Die jüdische Schriftstellerin Grete Meisel-Hess beschrieb die unterschiedliche Konzeption von weiblicher und männlicher Heterosexualität als dichotomes Scharnier: „Ist doch seine Sexualität eine Funktion (zum Unterschied von der des Weibes, die ein Zustand ist) und abhängig von einem Vorgang, dessen Zustandekommen sich seinem Willen entzieht.“⁴³³ Wie viele andere Suizidforscher beschäftigte sich auch Marr mit der Methodenprävalenz der binären Geschlechter. Er kritisierte die Einteilung in typisch männliche, aktive und typisch weibliche, passive Methoden, da es sich „bei Selbstmord immer um eine aktive Methode handelt“.⁴³⁴ Allerdings würden die Frauen* sehr wohl zu Mitteln greifen, die ihrer sentimentalen Veranlagung entsprächen und die Körperoberfläche intakt ließen.⁴³⁵ Solcherart sei es zu erklären, dass sie sich häufig ertränkten, erhängten und vergifteten. Die Methodenprävalenz würde auch mit ethnokultureller Zugehörigkeit und klimatischen Bedingungen korrelieren. Als besonders vulnerabel wähnte Marr die Südeuropäer*innen, da diese besonders leidenschaftlich und einem heißen Klima ausgesetzt seien. Am Ende seiner Studie suchte Marr konzise zu erläutern, warum Frauen* trotz vermeintlich stärkerer Disposition seltener suizidal handelten. Er gelangte zum Schluss, dass es der Geschlechtscharakter war, der sie schützte: „Diese Gründe liegen in der besonderen Anlage der Frau, in ihrer größeren Willensstärke, dem geringen Bewußtseinsumfang, der nicht in dem gleichen Ausmaß vorhandenen Anteilnahme an beruflicher und Geistestätigkeit, schließlich in ihrer natürlich begründeten Feindschaft dem Alkohol und der Politik gegenüber“.⁴³⁶
Aber auch die maßvollen sexuellen Bedürfnisse und der intrinsische Wunsch, Mutter zu werden, böten effektiven Schutz. Anhand der Ausführungen von Marr zeigt sich deutlich, dass die Kategorie Geschlecht intensiv rassiert und nationalisiert war. Zudem bildeten eugenische und klassenbezogene Dimensionen sowie
Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 11. Catani, Das fiktive Geschlecht, 41– 52. Grete Meisel-Hess, Die sexuelle Krise. Eine sozialpsychologische Untersuchung (Neuausgabe Berlin 2015) 86 – 87. Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 13. Marr abstrahierte, dass die geschlossene Oberfläche, welche das Innen und Außen des Körpers herstellen sollte, in dieser Form gar nicht existierte. Hartmut Böhme, Hans Danuser, Die Oberflächen sind niemals stabil. In: Thomas Macho, Kirsten Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes (München 2007) 427– 476. Marr, Die Frau als Selbstmörderin, 14.
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die Idee einer westeuropäischen zivilisatorischen Überlegenheit wichtige Scharniere. Neben heteronormativen und eugenischen Faktoren spielten auch jene der Erziehung, der Kriminalität und der Klasse eine bedeutende Rolle. Diese komplexe Gemengelage lässt sich anhand einer Studie von Richard Krafft-Ebing gut illustrieren. Die psychiatrische Einzelfallschilderung wurde aus zwei Gründen ausgewählt. Einerseits erhellt sie einen spezialdiskursiven Knotenpunkt.⁴³⁷ Andererseits vermittelt sie einen Einblick in das Aufeinandertreffen von Wissenschaft, staatlichen Institutionen und sozialem Alltag. Darüber hinaus demonstriert diese Kasuistik eindrucksvoll, dass Geschlecht auch mit nationalistischen und ableistischen Kategorisierungen in einem interdependenten Verhältnis stand. Konkret behandelte die Arbeit den Mord- und Suizidversuch eines 18-jährigen Schülers. Dieser hatte sich im Oktober des Jahres 1890 ereignet und war von Krafft-Ebing gerichtsärztlich begutachtet worden.⁴³⁸ Er publizierte die Studie 1892 und damit auch in jenem Jahr, in welchem er zum Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik des Allgemeinen Krankenhauses Wien aufsteigen sollte. Den Tathergang beschrieb er folgendermaßen: Die zwei Schüler, Emil M., 16 Jahre, und Fritz F., 18 Jahre, waren sich freundschaftlich verbunden. Dieser Kontakt sollte aufgrund des Wunsches der Mutter von Emil M. eingestellt werden. Am Abend des
Zur Herausbildung des Genres der psychologisch-psychiatrischen Kasuistik leistete Karl Philipp Moritz mit seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (erschienen von 1783 bis 1793) einen zentralen Impuls. Wie auch die Nosiologie ruhte die Kasuistik auf Bemühungen nach eindeutiger Krankheitsklassifikation. Sie reflektierte die Abkehr von der Frage, ob der oder die Erkrankte dem Laster und der Unmoral anheimgefallen war. Stephanie Bölts, Krankheiten und Textgattungen. Gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800 (Berlin u. a. 2016) 131– 136. Richard von Krafft-Ebing, Psychische Entartung. Mord- und Selbstmordversuch. In: Friedreichs Blätter für gerichtliche Medizin und Sanitätspolizei 43 (1892) 321– 334. Ein gerichtsärztliches Gutachten für einen Strafprozess musste am Ende des 19. Jahrhunderts durch den Untersuchungsrichter in Auftrag gegeben werden. Zusätzlich konnte der Richter die Klärung von spezifischen, dem Gerichtsprozess dienlich erscheinenden Fragen anordnen. Für das Gericht war in der Regel von besonderem Interesse, ob der oder die Beschuldigte zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig war, ob er oder sie verhandlungsfähig war und ob Schuldfähigkeit gegeben war. Darüber hinaus galt es, Fragen der Entmündigung und/oder einer Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt zu klären. Die wichtigsten Vorgaben für ein gerichtsärztliches Gutachten waren in der Strafprozessordnung und im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch niedergelegt. Hinsichtlich des konkreten Vorgehens bei der Erstellung eines gerichtsärztlichen Gutachtens konnten die Forensiker auf gut eingeführte Standardwerke wie jenes von Eduard R. von Hofmann zurückgreifen. Eduard R. von Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin. Mit besonderer Berücksichtigung der Österreichischen und Deutschen und Gesetzgebung (Wien 1878). Bis zum Jahr 1927 erlebte das Buch 11 Auflagen.
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16. Oktobers 1890 gingen die Freunde miteinander spazieren, als der ältere plötzlich den jüngeren mit einem Revolver anschoss. Im Anschluss daran unternahm der Schütze einen Suizidversuch und brachte sich eine Kopfwunde bei. Krafft-Ebing beschied dem 18-jährigen Fritz F. eine abnorme geistige Verfassung, welche durch die fehlende Befolgung der sozialen Normen bewiesen werden könne. Außerdem hätte die von ihm praktizierte Onanie seine seelische und körperliche Gesundheit zusätzlich erschüttert.⁴³⁹ Im Weiteren führte Krafft-Ebing aus, dass die Beziehung der beiden Schüler über eine freundschaftliche hinausgegangen und F. in M. verliebt gewesen sei. Er bestand darauf, dass dieses gleichgeschlechtliche Begehren als ein weiterer Indikator für die abweichende psychische Verfassung des Schützen gewertet werden könne.⁴⁴⁰ Der Psychiater durchleuchtete die Familienverhältnisse, die Erziehung und das Verhalten von Fritz F. penibel. Er entlastete die Eltern von jeglicher Verantwortung und sprach von bester Erziehung, dennoch hätte Fritz F. ein jähzorniges, stark impulsives und mitunter erratisches Verhalten entwickelt. Der Psychiater notierte zahlreiche psychische und neurologische Erkrankungen sowie Alkoholmissbrauch in der erweiterten Familie von Fritz F.⁴⁴¹ Vor diesem Hintergrund behauptete er, dass dieser erblich schwer belastet war und sich auch bei ihm „Zeichen der B e l a s t u n g und E n t a r t u n g “ nachweisen ließen.⁴⁴² Zudem hätte er als regelmäßiger Onanist die Auswirkungen dieses „Lasters“ bereits zu spüren bekommen.⁴⁴³ Sein Zentralnervensystem war geschädigt und er litt unter Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten sowie weiteren intellektuellen und körperlichen Defiziten. Die Erfüllung von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen spielte im untersuchten Fall eine zentrale Rolle; besonders vor dem Hintergrund eines nicht gelingenden Einfindens in einen bürgerlichen Männlichkeits- und Ehrenkodex. Im folgenden Zitat wird deutlich, dass Fritz F. nicht nur an der Einhaltung der Norm scheiterte, sondern auch an der Ergreifung der als adäquat erachteten Konsequenzen: „Während ein vollsinniger, bloss verkommener, verbummelter Mensch in dieser Zwangslage sich dem Gebot der Nothwendigkeit gefügt oder durch Ergreifen eines Handwerks, Eintritt zum Militär, Auswanderung u. dgl. sich die unerträgliche Situation geändert und nach Wunsch gestaltet hätte, war diese energische und gesunde Reaktion des normalen Menschen
Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 321– 324 und 330 – 331. Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 332. Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 327. Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 327– 328. Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 329 – 330.
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dem ethisch und intellectuell originär defekten, durch Masturbation geistig und körperlich geschwächten, halt-, ziel- und energielosen Inculpaten nicht möglich.“⁴⁴⁴
Dies galt Krafft-Ebing als Beweis für die Unzurechnungsfähigkeit und psychopathische Persönlichkeit des Untersuchten. Der Psychiater meinte, ein weiteres Indiz darin erkannt zu haben, dass der Schüler homosexuelles Begehren entwickelt hatte.⁴⁴⁵ Fritz F. verstieß mit seinen stark affektiven und widersprüchlichen Handlungen wiederholt gegen die Normen seines heteronormativen Milieus. Da der Psychiater überzeugt war, dass sich der „geistige Entartungszustand“ von Fritz F. in Zukunft noch steigern würde, empfahl er die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt.⁴⁴⁶ Dort war es gängige Praxis, „moralisch Irre“⁴⁴⁷ so rasch wie möglich wieder loszuwerden.⁴⁴⁸ Sie galten nämlich nicht im engeren Sinn als geisteskrank. Zudem war man überzeugt, dass sie einen ruhigen und ordentlichen Ablauf in den Anstalten erheblich störten. Im Kontext der im Fin de siècle diskutierten Strafrechtsreform versuchten Psychiater durchzusetzen, dass für diese ‚psychopathischen‘ Persönlichkeiten eigene Zentralanstalten und die juristische Kategorie der verminderten Zurechnungsfähigkeit eingeführt wurden.⁴⁴⁹ Beide Ansinnen scheiterten, da die gewünschte Klassifikation nicht präzise und trennscharf formuliert werden konnte und für die skizzierten Anstalten das Geld fehlte.⁴⁵⁰ Nichtsdestotrotz entschied man sich für sogenannte sichernde Maßnahmen. Diese wurden über die Unterbringung in extra Pavillons in den großen
Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 330 – 331. Hinsichtlich des Aspekts der Vererbung äußerte sich Krafft-Ebing an späterer Stelle noch ausführlicher: „Die Häufung so schwerer Krankheiten des Centralnervensystems in der mütterlichen Familie des Inculpaten schliesst die Annahme des Zufalls aus, und nöhtigt zur Anschauung, dass jene krankhaften Erscheinungen der Ausdruck einer familiären Veranlagung, Belastung, neurotisch-psychischen Degeneration sind. Auch an dem I n c u l p a t e n , als dem Sprössling einer solchen Familie lassen sich Zeichen der B e l a s t u n g und E n t a r t u n g nachweisen.“ Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 327– 328. Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 331– 332. Von Krafft-Ebing, Psychische Entartung, 331– 332. Das „moralische Irresein“ wurde 1835 erstmals als eine moralisch-ethische Störung ohne obligatorisches Intelligenzdefizit beschrieben. J. C. Prichard, A Treatise on Insanity, and Other Disorders Affecting the Mind (London 1835). Ledebur, Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne, 124. Ledebur, Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne, 130 – 135. Die Psychiater Julius Koch und Emil Kraepelin formulierten am Ende des 19. Jahrhunderts die Modelle der „psychopathischen Minderwertigkeit“ und des „psychopathischen Zustands“. Beide zielten auf eine erbliche Komponente, gestörte Affekte und Selbstkontrolle sowie die Pathologisierung sozialer Devianz. Ledebur, Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne, 127.
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psychiatrischen Anstalten und die 1916 beschlossene Möglichkeit zur Entmündigung erreicht. Gegenüber Krafft-Ebing verfolgte der Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld eine tatsächliche Emanzipation homo- und bisexueller sowie transgeschlechtlicher Lebensformen.⁴⁵¹ Er versuchte, die von ihm als sexuelle Zwischenstufen benannten Subjekte zu normalisieren und die binäre Geschlechterordnung aufzubrechen. Tatsächlich war sein Blick ein radikal individueller. Für ihn bildete jedes Lebewesen eine einzigartige Sexualität aus, die irgendwo zwischen den Extrempolen heterosexueller Mann bzw. Frau changierte. Vor diesem Hintergrund wandte er sich auch gegen die in vielen europäischen Ländern bestehende Strafverfolgung. In Österreich sanktionierte das Strafgesetzbuch von 1852 gleichgeschlechtliche Sexualkontakte. Dort regelte der Paragraph 129 für beide Geschlechter: „Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Thieren; b) mit Personen desselben Geschlechts.“⁴⁵² Dies inkludierte auch wechselseitige Onanie. Wer sich im Sinne des Gesetzes schuldig machte, musste mit bis zu fünf Jahren schweren Kerkers rechnen. Die Mindeststrafe lag bei einem Jahr, verschärfend wirkten Bedrohung, Gewalt und Betäubung. Hirschfeld schilderte Homosexuelle als besonders vulnerabel und gab an, dass sich unter 100 drei suizidierten. Ein Viertel beschrieb er als von Suizidversuchen betroffen und den Rest sah er unter suizidalen Gedanken leiden.⁴⁵³ Bezüglich der Motivation nannte er für ein Korpus von 100 Suizidfällen folgende Verteilung: 51 handelten offenbar aus Angst vor Strafverfolgung bzw. eingeleiteter Verfahren. 14 sahen sich durch Erpressung genötigt, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Für insgesamt 18 Personen, darunter 8 Frauen*, wähnte er als Motiv ihres Doppelsuizids die Unmöglichkeit eines Beisammenseins. Für acht Fälle führte er als Motiv Konflikte an (Familie, Umfeld, internalisierte Homophobie) und für weitere sieben Personen notierte er das Motiv der unglücklichen Liebe bzw. den Tod des geliebten Gegenübers. Zwei töteten sich offenbar im Kontext ihrer eigenen Hochzeit. Diese Verteilung führte Hirschfeld zum Schluss, dass sich das suizidale Verhalten von Homosexuellen in drei Gruppen einteilen lasse: „In die erste fallen diejenigen, deren direkte, in die zweite, deren indirekte Ursache die Homosexualität ist, während in die dritte Selbstmorde zu zählen sind, die von Homosexuellen aus unglücklicher Liebe begangen werden.“⁴⁵⁴ Als ebenso vulnerabel wähnte er Trans*personen, „welchen eine Lebensweise aufgezwungen wird, die mit ihrem Wesen in Widerspruch Einschränkend gilt hier hinzuzufügen, dass er sich vor allem männlichen Homosexualitäten widmete. Erst die Strafrechtsreform von 1971 beendete das Totalverbot homosexuellen Verkehrs. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 902. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 903.
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steht“.⁴⁵⁵ Besonders interessant sind die von Hirschfeld als demonstrativ beschriebenen Suizide.⁴⁵⁶ Diese Attribution ergab sich für ihn, weil sich die Schreiber*innen in ihren Abschiedsbriefen klar zu ihrem nicht-heteronormativen Begehren bekannten, oder sie die Auffindungssituation so planten, dass aus dem Arrangement selbst hervorgehen musste, dass sie ‚perverse‘ Neigungen gehabt hatten. Hierunter fielen Fälle von Cross-Dressern⁴⁵⁷, Trans*personen und gleichgeschlechtlichen Suizident*innen⁴⁵⁸. Interessanterweise wähnte Hirschfeld Transmänner* resilienter,⁴⁵⁹ würden doch von diesen kaum Suizidleichen gefunden werden, aber zahlreiche von Transfrauen*. Hinsichtlich dieser Toten drängen sich Fragen von Selbstbewusstsein und -behauptung auf. Offensichtlich hatten sie sich als homo- oder bisexuelles Subjekt bzw. als Transfrau* oder Transmann* erlebt und so auch im Tod positioniert. Diesen Fällen stehen solche gegenüber, in denen eine internalisierte Homo- oder Transphobie auch im Suizidkontext nicht aufgelöst werden konnte.⁴⁶⁰ Auch wenn sich Hirschfeld bemühte, die Zwischenstufen – insbesondere homosexuelle Männer* – in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, blieb dennoch eine pathologisierende Note. Etwa wenn er dozierte: „Bei vielen homosexuellen Männern ist das A f f e k t l e b e n sehr stark in den Vordergrund des individuellen Seelenlebens gerückt; dementsprechend sind auch seine Störungen häufiger als bei heterosexuellen Personen. Diese Erscheinung dürfte mit dem femininen Einschlag im Seelenleben der Urninge in Zusammenleben stehen.Wir finden bei ihnen – wie bei den Frauen – auch eine größere Disposition zu Affektschwankungen, die sowohl in Form der
Magnus Hirschfeld, Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangreichem casuistischen und historischen Material (Berlin 1910) 198. Hirschfeld umschrieb das Trans*spektrum folgendermaßen: „Dabei sei von vornherein betont … dass die Art des Kostüms nicht die beliebige Aeusserlichkeit einer willkürlichen Laune ist, sondern als u s d r u c k s f o r m d e r i n n e r e n P e r s ö n l i c h k e i t , als Z e i c h e n ihrer Sinnesart zu gelten hat.“ Hirschfeld, Die Transvestiten, 159. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 911. Hirschfeld, Die Transvestiten, 419. „‚Die beiden Mädchen lagen im Bett bis aufs Hemd entblößt, gleich zwei Verliebten, die ineinander das Glück gefunden haben.‘“ Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 914. Hirschfeld, Die Transvestiten, 414. „Vielfach empfinden sie ihre homosexuelle Neigung als etwas sie so Herabwürdigendes, daß sie sich selbst in hinterlassenen Briefen die wahre Ursache ihres Todes mitzuteilen schämen. Sehr viele ‚Selbstmorde aus unbekannten Gründen‘, bei denen die Verwandten ‚wie vor einem Rätsel stehen‘, gehören in diese Kategorie.“ Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 903.
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‚endogenen Verstimmung‘ als in einer stärkeren Neigung zu Affektpsychosen ihren Ausdruck findet.“⁴⁶¹
Das Thema der Erpressung von „Konträrsexuellen“ war auch den Kriminalbeamten bekannt, die sich über eine Zunahme sorgten,⁴⁶² wobei sich nur wenige Opfer trauten, eine Anzeige zu erstatten – drohten doch Zwangsouting und eine Haftstrafe aufgrund von Sodomie oder der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Weibliche Homosexuelle dürften seltener erpresst worden sein. In einem dieser Fälle war der Ehemann zur treibenden Kraft geworden. Dieser hatte seiner Ehefrau ein Ultimatum gestellt – entweder er oder die Geliebte und ein Riesenskandal. Die beiden Frauen* zogen eine verabredete suizidale Handlung vor.⁴⁶³ Der berühmteste ‚Erpressungsfall‘ der k. u. k. Monarchie dürfte übrigens gar keiner gewesen sein. Generalstabsoffizier Alfred Redl spionierte, um seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren, und nicht, weil er dazu gezwungen wurde. Seine Homosexualität war den russischen Informationsempfängern vermutlich unbekannt. Nichtsdestotrotz war die Affäre und insbesondere ihre Interpretation folgenreich. Prominente Stimmen wie Viktor Rosenfeld und Magnus Hirschfeld nützten den Fall, um die Entpönalisierung von gleichgeschlechtlichem Begehren zu fordern.⁴⁶⁴ Darüber hinaus prägte der Fall Redl das Bild vom tratschenden und illoyalen Homosexuellen. Insbesondere die k. u. k. Armee galt von gleichgeschlechtlichen Seilschaften und Netzwerken durchsetzt, die zudem für Verrat anfällig seien.⁴⁶⁵
Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 915. Susanne zur Nieden, Einleitung. In: Susanne zur Nieden (Hg.), Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900 – 1945 (Frankfurt/New York 2005) 7– 17, hier 8. In Wien hatte sich um die Jahrhundertwende eine homosexuelle Community etabliert. Ihre Existenz war der Polizei bekannt, die während des Ersten Weltkriegs bereits eine „Päderastenevidenz“ führte. Julius Zinner, Entspricht die Bestrafung der Homosexuellen unserem Rechtsempfinden? Österreichs erste Streitschrift eines Betroffenen. Mit einem Beitrag zur Homosexualität um 1900 von Hans-Peter Weingand (Edition Regenbogen – Studienreihe Homosexualität 2, Graz 2008) 14. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 914. Julius Zinner, Entspricht die Bestrafung der Homosexuellen unserem Rechtsempfinden? Österreichs erste Streitschrift eines Betroffenen. Mit einem Beitrag zur Homosexualität um 1900 von Hans-Peter Weingand (Edition Regenbogen – Studienreihe Homosexualität 2, Graz 2008) 15. Michael Schwartz, Homosexuelle, Seilschaften, Verrat. Ein transnationales Stereotyp im 20. Jahrhundert (Berlin u. a. 2019) 112– 148.
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Biopolitik und Medizinisierung Wie von Alexander Kästner argumentiert, entstanden im Zuge der biopolitischen Transformation auch die ersten Suizid-Präventionsregime. Vom Ende des 18. Jahrhunderts an galt jedes Menschenleben als potentiell nützlich für den Staat.⁴⁶⁶ Damit zusammenhängend begann sich die Auffassung durchzusetzen, dass suizidales Verhalten als vermeidbarer Unfall zu werten sei. Fortan war es jede suizidale Person wert, gerettet zu werden. Nichtsdestotrotz waren es in der sozialen Hierarchie besonders die autochthonen Männer*, ‚Zivilisierten‘, Leistungsfähigen und Heterosexuellen, die bewahrt werden sollten. Sie leisteten vermeintlich die wichtigsten Beiträge zum Fortkommen der Gesellschaft. Dies zeigte sich auch 1873 in den Hinweisen des ungarischen Gerichtsbeamten Ludwig Pexa auf die Unterhaltspflichten von kleinen Angestellten und Handwerkern.⁴⁶⁷ Durch den Suizid des Familienoberhaupts und -ernährers versänken viele Familien in der Armut und die Hinterbliebenen fielen dann dem Staat und den Mitmenschen zur Last.⁴⁶⁸ Pexa sah auch die Steuereinnahmen der k. u. k. Monarchie durch die vielen Suizide von erwerbstätigen Männern* bedroht: „Der Staatsschatz aber verliert alljährlich eine Anzahl von Steuerpflichtigen durch 30 – 40 Jahre, da diese Opfer meist in den besten kräftigsten Jahren eintreten, und derlei Individuen meist der besseren Stände angehören, ihre Dienst, ihr Wissen und Fleiss dem Staate und der Gesellschaft entrissen werden, denn bekanntlich werden Missethäter, Diebe und Räuber keine Selbstmörder.“⁴⁶⁹
Um den vielen Suiziden Einhalt zu gebieten, empfahl Pexa, moralisch soliden Männern* günstige Staatsdarlehen zu gewähren. Die Leichtsinnigen und ‚Abnormen‘ sollten hingegen in Arbeitshäusern untergebracht werden und dort – unter polizeilicher Überwachung – zur Erwerbstätigkeit angehalten werden, bis dass sie „sich von dem lasterhaften Leben geheilt zeigen würden“.⁴⁷⁰ Auch ihnen galt es, finanzielle Anreize zu gewähren. Die Witwen und Waisen sollten ebenfalls in Arbeitshäusern untergebracht werden. Dort könnten sie mit Handarbeiten ihren Lebensunterhalt finanzieren. Als Abnehmer für die Erzeugnisse fasste er die Gemeinsame Armee ins Auge, welche beständig Monturgegenstände und Wäsche
Alexander Kästner, Saving Self-Murderers: Lifesaving Programs and the Treatment of Suicides in Late Eighteenth-Century Europe. In: Journal of Social History 46/3 (2013) 633 – 650. Ludwig von Pexa, Erfindung zur Verhinderung des Selbstmordes (Budapest 1873) 8. Von Pexa, Erfindung zur Verhinderung des Selbstmordes, 13 – 14. Von Pexa, Erfindung zur Verhinderung des Selbstmordes, 5 – 6. Von Pexa, Erfindung zur Verhinderung des Selbstmordes, 9 – 10.
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benötigte.⁴⁷¹ Pexas Ausführungen demonstrieren den hohen Stellenwert von eugenisch-ableistischem Gedankengut im Suiziddiskurs. Zudem offenbaren sie das kapitalistische Primat, welches produktives und moralisches Verhalten verquickt hatte. Pexas Präventionsplan war klar darauf ausgelegt, den Wirtschaftskreislauf störungsfrei zu halten und die heteronormative Ordnung zu reproduzieren. Gleichzeitig illustriert er die sozialen Ein- und Ausschlüsse. Arbeitsame, bildungsnahe Familienväter in den mittleren Jahren sollten gefördert, Amoralische und verwitwete Frauen erzogen und Kriminelle ausgespien werden. Bezüglich der Heeresangehörigen selbst gab es umfangreiche Überlegungen, wie das Suizidrisiko zu senken sei, stellte doch das Militär einen zentralen biopolitischen Schauplatz dar. Eine schlagkräftige Armee benötigte gesunde und leistungsbereite Männer*. Gleichzeitig war der Staat für ihr Wohlergehen verantwortlich. Daher musste bei der allgemeinen k. k. Wehrpflicht eine hohe Suizidrate ein vernichtendes Urteil sein.Vor dieser Folie empfahl der pensionierte Militärarzt W. Derblich mehr Rücksicht bei der Assentierung. Insbesondere mentale Retardierungen sowie neurologische und psychische Störungen sollten berücksichtigt werden.⁴⁷² In klar stigmatisierender Absicht erklärte er Fabriks- und Lohnarbeiter besonders davon betroffen, während er bürgerlichen und adeligen Männern* ‚nur‘ Anpassungsstörungen attribuierte. Derblich empfahl den Vorgesetzten, mit mehr Nachsicht vorzugehen, „ohne gerade die charakterstählende Disziplin aus dem Auge zu lassen“.⁴⁷³ Der Arzt mahnte auch Standards wie eine gute Unterkunft, ausreichend Verpflegung sowie eine zweckmäßige Ausrüstung ein. Zudem fasste er eine großzügigere Entlohnung ins Auge, um so der unter Soldaten grassierenden Verschuldung Herr zu werden.⁴⁷⁴ Ein besonderes Anliegen war ihm auch die Beschränkung des Alkoholkonsums, dessen suizidbegünstigende Wirkung bereits bekannt war.⁴⁷⁵ Als letzten Punkt erwog Derblich Heiratserleichterungen für länger dienende Unteroffiziere. Neben einer möglichen Reduzierung der Vulnerabilität versprach er sich davon auch einen Rückgang der Bordellbesuche und der Geschlechtskrankheiten. An so einem streng hierarchischen Ort
Von Pexa, Erfindung zur Verhinderung des Selbstmordes, 10 – 11. W. Derblich, Ueber Selbstmord und Selbstbeschädigungen in der k. k. österreichisch-ungarischen Armee. In: Der Militärarzt. Zeitschrift für das gesamte Sanitätswesen der Armeen 19/19 (1885) 153 – 159, hier 158. Derblich, Ueber Selbstmord und Selbstbeschädigungen in der k. k. österreichisch-ungarischen Armee, 158. Derblich, Ueber Selbstmord und Selbstbeschädigungen in der k. k. österreichisch-ungarischen Armee, 159. Friedrich Prinzing, Trunksucht und Selbstmord und deren gegenseitige Beziehungen. Nebst einem statistischen Anhang (Leipzig 1895).
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wie dem k. k. Militär zeigten sich die interdependenten Verschränkungen von Geschlecht besonders gut. Auch hier sollten sowohl die soziale als auch die heteronormative Ordnung reproduziert werden. Nota bene waren die Offiziersränge in der Regel dem Adel und dem Bürgertum vorbehalten, nur sie sollten das ‚Eheprivileg‘ erhalten, sich also verheiraten dürfen. Analog zum zivilen Leben wurde auch hier gleichgeschlechtliches Begehren verfolgt. Das Militärstrafrecht hatte dazu die Bestimmungen aus dem Paragrafen 129b übernommen. De facto beschäftigten sich die Militärgerichte aber selten damit. Der jüdische Gelehrte und Bezirks-Rabbiner in Siklós, Aron Roth, schlug in eine ähnliche Bresche wie Ludwig Pexa. Er forderte eine auf Arbeitseifer und Entbehrung ausgerichtete Erziehung.⁴⁷⁶ Die Kinder sollten echte Frömmigkeit lernen und die jüdischen Speisegebote einhalten, nur so würden sie „zu wackeren Männern“ heranwachsen.⁴⁷⁷ Zudem bedürfe es ausreichend Fortbildungsschulen. Das Individuum sollte danach trachten, in Balance zu leben, also weder zu asketisch noch zu hedonistisch. Der Rabbiner räumte die Schwierigkeit dieser Aufgabe ein, indem er auf den sinnlichen Charakter des 19. Jahrhunderts hinwies. Solche verklausulierten Aussagen waren typisch, wenn es darum ging, eine heteronormative Sexual- und Geschlechterordnung einzumahnen. Homosexuelle ‚Transgression‘ anzusprechen, das war in vielen religiösen Texten noch ein Tabu. Zu wirksam war das Gebot, dass über die sogenannte stumme Sünde geschwiegen werden müsse. Der Rabbiner empfahl auch die Errichtung gemeinnütziger Institutionen, die sowohl Erwerbschancen als auch adäquate Freizeitgestaltung anbieten sollten.⁴⁷⁸ Gleichzeitig müsse die Wirtschaft saniert und mit ethischem Gedankengut ausgestattet werden.⁴⁷⁹ Die Mittelschicht sollte Zugang zu billigen Krediten erhalten, die Steuern nachsichtiger eingetrieben und das Wohnen und Essen leistbarer werden. Ebenso forderte er die Errichtung von Kranken- und Leichenvereinen sowie von Mäßigkeitsvereinen.⁴⁸⁰ Roths Überlegungen waren klar aus einer jüdischen Perspektive formuliert. Nichtsdestotrotz privilegierte auch er männliche Lebensrealitäten. Diese sollten in ihren Bildungs- und Erwerbschancen gefördert und zu einer bürgerlichen und religiösen Lebensführung angehalten werden. Zudem forderte er, das soziale Netz zu stärken, welches wiederum das Individuum disziplinieren sollte. Analog zu anderen Präventionskonzepten zeigt sich auch hier, dass ein moralisch integeres Gemeindemitglied arbeitsam zu sein hatte. Oder andersrum formuliert, der Müßiggang war von
Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 104. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 104. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 106 – 107. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 108. Roth, Eine Studie über den Selbstmord, 108 – 109.
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seinem produktiven Aspekt entkoppelt und in das Reich des Amoralischen gebannt worden. Komplementär zeigte sich das Bild beim Hygieniker Eduard Reich. Dieser war überzeugt, dass junge Frauen* zu sehr in romantischen Gefühlen, Phantasien und Schwärmereien aufgingen. Der letztgenannte Begriff umfasste auch gleichgeschlechtliches Fühlen und Sehnen, dennoch blieb diese Konnotation stets vage und implizit. An präventiven Maßnahmen schlug Reich eine besonders gute Erziehung vor. Alle weiblichen Lebensbereiche galt es, rigide zu kontrollieren und Leidenschaften und exaltiertes Verhalten zu dämpfen. Einzig sein Hinweis auf das Motiv der materiellen Not fiel aus dem üblichen Kanon für weibliches Suizidhandeln heraus. Aber auch hier dachte er in passiven Dimensionen. Väter und Ehemänner* hatten dafür Sorge zu tragen, dass finanzielle Engpässe ausblieben. Obwohl er den „Mann dem Anpralle der Wogen am meisten ausgesetzt“ wähnte, hielt er sich hier mit Ratschlägen zurück.⁴⁸¹ Aber immerhin die Ehe wollte er empfehlen. Ohne sie bestünde nämlich die Gefahr, fixe Ideen und falsche Urteile zu entwickeln. Daher sei es besonders wichtig, mögliche Ehehindernisse wie restriktive Gesetze, hohe Steuern und Vorurteile zu eliminieren. Gleichzeitig müsse jedes Individuum nach einer möglichst gesunden Lebensweise trachten, um unheilbare physische und psychische Krankheiten hintanzuhalten. Sämtliche analysierte Präventionskonzepte zielten darauf ab, das gefährdete Individuum stärker zu beobachten und zu kontrollieren. Darüber hinaus waren sie alle der Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormalität verpflichtet. Die Textquellen demonstrieren auch, wie vielfältig und reich die Differenzkategorien Geschlecht mitkonstituierten. Wenig überraschend setzten die Präventionsempfehlungen für Burschen* und Männer* insbesondere bei der Verbesserung ihrer Ausbildungs- und Erwerbschancen an. Bei Mädchen* und Frauen* galt es, ihren Gefühlshaushalt unter Kontrolle zu bringen und sie von schlechten Einflüssen fernzuhalten. An geschlechterübergreifenden Maßnahmen sind die Empfehlungen, sich zu verheiraten und der Religion zuzuwenden, zu nennen. Ebenso sollten Körper und Geist durch Hygiene, Mäßigung und Diätetik gesund erhalten werden. Die angestrebte Norm war stets eine bürgerliche, die es über die Technologien des Selbst zu erringen galt. Nur wer sich in diesem Sinn selbst disziplinierte, der galt als resilient und für die Stürme des Lebens gewappnet. Der Hygieniker Eduard Reich beschäftigte sich mehrfach mit suizidalem Verhalten und seinen Konsequenzen. Er publizierte 1875 eine Abhandlung, in welcher er Suizidalität als Produkt der Vererbung und der sozialen Umgebung interpretierte. Für ihn war klar, dass mangelhafte Erziehung und gesellschaftliche
Reich, Ueber den Selbstmord, 86.
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Zustände ungünstige Anlagen verstärkten. Vor dieser Folie wähnte er „kritische Augenblicke“ dazu geeignet, „Nervosität, Wahnsinn, Selbstmord als Folgen zu veranlassen“.⁴⁸² Als wichtige Suizidmotive eines ganz klar männlichen Subjekts nannte Reich „die des Besitzes und der Ehre“.⁴⁸³ Darüber hinaus war er überzeugt, dass die Nationalökonomie und die „Erfindungen des Ehrgeizes“ maßgeblich zu suizidalem Verhalten beitrugen.⁴⁸⁴ Auch er folgte dem biopolitischen Paradigma, dass der Wert des menschlichen Lebens außerordentlich sei und es daher erhalten werden müsse: „Nicht alle Menschen haben zu allen Zeiten einen hohen Begriff vom Werthe des Daseins; es gibt Augenblicke, wo das Leben als gänzlich werthlos betrachtet und einer Flamme gleich ausgeblasen wird, mit und ohne Studium, mit und ohne Erhitzung, ganz nach den Anlagen, Kräften und Fähigkeiten des Selbstmörders, ganz nach den Constellationen des Augenblicks und den Verhältnissen der Umgebung.“⁴⁸⁵
In seinen Ausführungen bediente sich Reich des Kollektivsymbols der (Lebens) Flamme, welches in den Bereich der Naturgewalten weist. Die zu Grunde liegende konzeptuelle Metapher LEBEN IST FRAGIL offenbart, dass menschliches Leben begrenzt ist und von externen Faktoren abhängt. Obwohl Reich auch die intrinsische Motivation von suizidalen Personen ansprach, bediente er sich einer Passivkonstruktion, um den suizidalen Akt zu beschreiben. Konkret formulierte er, dass „das Leben ausgeblassen wird“, wodurch die aktive Handlung aus dem Fokus geriet.⁴⁸⁶ Übrig blieben mannigfaltige, unwiderstehlich scheinende äußere Einflüsse, die Tatsachen schufen.⁴⁸⁷ Das einzig Sichere in einer im Wandel begriffenen Welt schien der Körper darzustellen. Daher wandten sich ihm die Suizidforscher umso eindringlicher zu. Irgendwo im toten Leib musste doch die Ursache für suizidales Handeln zu finden sein – und damit endlich auch eine klare und eindeutige Erklärung für das so unheimliche Verhalten. Auch Katrina Jaworski unterstreicht diesen Schauplatz, wenn sie für den performativen Charakter suizidalen Handelns plädiert. Sie beschreibt diesen als „a set of repeated bodily acts. These produce the effect of an internalized intent: the ‘choice’ to suicide … suicide can be read as made of the very expressions that are set out to be its results“.⁴⁸⁸ Daraus ergibt sich der zen-
Reich, Ueber den Selbstmord, 79. Reich, Ueber den Selbstmord, 79. Reich, Ueber den Selbstmord, 79. Reich, Ueber den Selbstmord, 78. Reich, Ueber den Selbstmord, 78. Gordon, From Act to Fact, 32– 33. Jaworski, The Gender of Suicide, 40 – 41.
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trale Charakter von körperlichen Zeichen, die mit der Bedeutung Suizid besetzt sind. Ohne sie wäre die Materialisierung der Selbsttötung nicht möglich.⁴⁸⁹ Die dichotomen Kategorien gesund und krank waren von essentieller Bedeutung für die Subjektivierung. Nur wer physiologische und psychologische Intaktheit demonstrierte, qualifizierte sich für den Subjektstatus. Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit beschäftigte zahlreiche Pathologen und Gerichtsmediziner; darunter auch Hermann Pfeiffer, der 1912 eine Studie über die Obduktionsergebnisse von 595 Suizident*innen publizierte.⁴⁹⁰ Pfeiffer gelangte zum Schluss, dass die meisten Suizident*innen körperlich krank waren und suizidales Verhalten keine Wahl- oder Entschlussfreiheit darstellte. Vielmehr sei von einer „inäquate(n) Affekthandlung“ auszugehen.⁴⁹¹ Solcherart waren Suizident*innen von sich selbst entfremdet und konnten daher auch nicht als verantwortlich betrachtet werden. Auch als ‚plausibel‘ geltende Suizidgründe wie die Furcht vor Strafe oder Arbeitslosigkeit drückten „nicht gar selten körperliche und geistige Minderwertigkeit, ja Krankheit“ aus, weil gesunde Personen nicht in diese Notlagen gekommen wären und diese „nur durch die Wechselbeziehungen einer kranken Persönlichkeit zur Außenwelt entstehen konnten“.⁴⁹² Ebenso sollte gesunden Menschen eine Gewöhnung an Familienzwistigkeiten und unglückliche Liebe möglich sein. Den Umstand der hohen männlichen Vulnerabilität erklärte Pfeiffer damit, dass diese zu einer ungünstigen Lebensweise neigten. Neben den hohen Anforderungen im Erwerbsleben – insbesondere als Freiberufler – kämen der häufige Missbrauch von Alkohol und Nikotin hinzu. Auch eine „rassische“ Prädisposition zog er in Betracht. Die größte Resilienz sei von jenen zu erwarten, welche Werte wie Fleiß und Arbeitseifer sowie Selbstmäßigung verinnerlichten. Vor diesem Hintergrund könne eine Erziehung entlang dieser Prinzipien gar nicht hoch genug geschätzt werden. Diese würde selbst die ungünstigsten Lebensbedingungen mildern. Pfeiffer empfahl heranwachsenden Burschen, sich einem älteren Freund anzu-
Jaworski, The Gender of Suicide, 41. Die Frage der Un/Zurechnungsfähigkeit hielt Pfeiffer anhand von Sektionen allein nicht klärbar. Nur unter Einbeziehung der Psychiatrie sah er eindeutige Ergebnisse erwartbar. Davon nahm er die ‚zulässigen‘ Suizidgründe des Patriotismus, der religiösen Begeisterung und der unheilbaren, terminalen Krankheiten aus. „Hierher gehören jene sehr zahlreichen Fälle, wo ein zuerst erfolgreicher Kaufmann, z. B. durch einen Abusus von Alkohol, durch eine progressive Paralyse in Geschäfte sich einläßt, die er zu Zeiten geistiger Gesundheit und Vollwertigkeit niemals unternommen hätte und dabei Schiffbruch leidet; dahin gehören jene Selbstmörder, die, sei es infolge krankhafter geistiger Affektivität oder sonst wie auf Basis geistiger Erkrankung zu einem Verbrechen getrieben werden und dieser Tatsache gegenüber lieber aus dem Leben scheiden, als die drohende Strafe abzubüßen.“ Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 187.
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vertrauen, um so suizidale Impulse zu bewältigen.⁴⁹³ Bezüglich Frauen* forderte er, dass die Familie während der Menstruation, der Schwangerschaft, im Wochenbett und der Menopause ein besonderes Auge auf diese haben sollte; vor allem dann, wenn sie ohnehin kränklich waren. Um suizidalen Impulsen entgegenzuwirken, empfahl er liebevolle Pflege und sowie Schonung. Hinsichtlich der besonders vulnerablen, schwangeren Dienstmädchen trat er für mehr Nachsicht und Verständnis ein. Bei ihnen würden sie nämlich die ungünstigen Umstände regelrecht summieren: Krankheit, Einsamkeit, Angst und die moralische Verurteilung als ledige Mutter, „so daß es nur der zähen Natur des Weibes zu verdanken sein dürfte, wenn eine Anpassung an all das trotzdem so oft erfolgt“.⁴⁹⁴ Für Pfeifer waren Frauen* ihrer Biologie ausgeliefert. Daher sollten familiäre Kontrollinstanzen sie überwachen und reglementieren. Aber auch der Staat sollte normierend und normalisierend eingreifen, und zwar, indem er die Gesundheit aller Individuen stärkte und den Alkoholkonsum gesetzlich reglementierte. Insgesamt galt es, „die Zahl der schwachen und kranken Geschöpfe nach Möglichkeit“ einzuschränken.⁴⁹⁵ Wie genau das passieren sollte, ließ er offen. Dennoch zeigt sich deutlich, dass eugenisch-ableistisches Gedankengut zu einem wissenschaftlichen Eckpfeiler geworden war. Das starke Engagement der pathologischen Anatomen in der Suizidforschung bewirkte einen Biologisierungsschub.⁴⁹⁶ Durch die vermehrten Sektionen konnten sie das Wissen über den Leib (noch) steigern und Lebensstile disziplinieren.⁴⁹⁷ Gynäkologen hatten die Somatisierung von psychischen Störungen bereits seit den 1860er-Jahren vorangetrieben. Das Interesse von pathologischen Anatomen am Suizid ist auch als Reaktion einzustufen, nicht den Anschluss an die erfolgreichen Disziplinen zu verlieren. Damit waren vor allem die Psychiatrie und die Statistik gemeint. Die Theologie glaubte man bereits ausgestochen zu haben, was sich im nachstehenden Argument spiegelt: „Es ist sicherlich die prinzipielle Frage erlaubt, ob heute noch überhaupt von einer Bearbeitung des Selbstmordproblems
Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 192. Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 192– 193. Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 193. Neben Hermann Pfeiffer publizierten insbesondere Julius Bartel, Anton Brosch und Eduard Miloslavich zur pathologischen Anatomie von Suizident*innen. Zu diesen drei Autoren und ihren Forschungen siehe: Michaela Maria Hintermayr, „… während die Männer an den härteren Kampf um’s Leben schon gewohnt sind.“ Der pathologisch-gerichtsmedizinische Aspekt des geschlechtsspezifischen Suiziddiskurses im frühen 20. Jahrhundert in Österreich. In: Alexia Bumbaris, Veronika Helfert, Jessica Richter, Brigitte Semanek und Karolina Sigmund (Hg.), Frauen – und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert? Aktuelle Beiträge aus der jungen Forschung (Studien zur Frauen – und Geschlechtergeschichte 11, Innsbruck u. a. 2016) 165 – 187. Schmersahl, Medizin und Geschlecht, 190.
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durch einen Theologen ein Fortschritt erwartet werde dürfe?“ Die naturwissenschaftliche Überlegenheit untermauerte Pfeiffer damit, dass die Ärzte ein „vorurteilsloses Eindringen in die Naturgeschehen“ beherzigten.⁴⁹⁸ Zudem würden sie für den Staat wertvolles und zukunftsweisendes Wissen produzieren. Angesichts der zugesicherten wissenschaftlichen Objektivität ärgerte ihn, dass Suizident*innen nicht obligatorisch obduziert wurden und sich die bessersituierten Gesellschaftsschichten vehement weigerten, ihre Suizidleichen abzuliefern.⁴⁹⁹ Letztendlich konnte Pfeiffer die Sektionsergebnisse von 152 Suizidentinnen und 443 Suizidenten auswerten. Die meisten von ihnen dürften arm und ohne Familienanschluss gestorben sein.⁵⁰⁰ Die Leichenöffnungen erfolgten im Zeitraum 1893 bis Juli 1912 und waren in Graz von Julius Kratter, Karl Ipsen und dem Autor selbst vorgenommen worden.⁵⁰¹ Laut Pfeiffer zeichnete sich seine Studie dadurch aus, dass sie als erste die Obduktionsprotokolle konsequent entlang von Geschlecht analysierte. Für ihn war dieser Ansatz alternativlos, „als ganz besonders nach der Zahl und Art der pathologisch-anatomischen Veränderungen zwischen dem männlichen und weiblichen Selbstmord so tiefgreifende Verschiedenheiten
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 4. „Auch hier in Graz muß sehr häufig wohl der Arme, auf niedrigerer sozialer Stufe stehende, darf aber nicht der, den sogenannten ‚besseren‘ Gesellschaftsklassen angehörige Selbstmörder der Zergliederung unterzogen werden, ein Brauch, besser gesagt ein Mißbrauch, der weder im Interesse des Toten, noch seiner Angehörigen, noch, auch in jenem der Behörde liegt.“ Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 10. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten sich die berühmten Wiener Medizinischen Schulen nicht über mangelnde Leichenanlieferungen beklagen. Der Anatomie wurden insbesondere die Leichen der sozial Deklassierten zugeführt: Arme, Suizident*innen und Inhaftierte. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert änderte sich das aber. Der habsburgische Staat wurde schwächer, die Sepuralkultur veränderte sich und auch die Marginalisierten wollten ihre Familienangehörigen beerdigen. Zugleich spielte durch den Influx von jüdischen Immigrant*innen deren Opposition gegenüber Sektionen eine zunehmend größere Rolle. Vor diesem Hintergrund lancierte die Sozialdemokratie im Jahr 1903 eine antisemitische Attacke gegenüber den einflussreichen jüdischen Medizinern. Insbesondere der Karl-LuegerFreund Rudolf Steiner warf ihnen Leichenschändung an Christ*innen vor. Zu den Kämpfen der pathologischen Anatomie um genügend Leichenanlieferungen kam schlussendlich noch der Konflikt mit der prosperierenden klinischen Pathologie hinzu. Diese war physisch näher an den Leichen dran und pochte auf ihre Aufgabe der Todesursachenbestimmung. Tatjana Buklijas, Cultures of Death and Politics of Corpse Supply: Anatomy in Vienna, 1848 – 1914. In: Bulletin of the History of Medicine 82/3 (2008) 570 – 607. Baumann,Vom Recht auf den eigenen Tod, 162– 174. Pfeiffer hielt die Frage der Un-/Zurechnungsfähigkeit anhand von Sektionen allein für unklärbar. Nur unter Einbeziehung der Psychiatrie schienen ihm eindeutige Ergebnisse möglich. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 8 – 9.
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aufgedeckt wurden, daß nur von einer völligen Scheidung klare und scharfumrissene Ergebnisse zu erwarten waren“.⁵⁰²
Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich Pfeiffer intensiv mit den weiblichen Geschlechts- und Reproduktionsorganen. Er behauptete, dass menstruierende und schwangere Frauen* unter einem „sexuellen Ausnahmezustand“⁵⁰³ litten, welcher sie für suizidale Impulse empfänglich machte. Darüber hinaus meinte er, bei vielen Gebärfähigen suizidbegünstigende Läsionen an den reproduktiven Organen erkannt zu haben. Solcherart konnte er sich auch die hohe Vulnerabilität dieser Gruppe erklären. Bei Frauen* in den mittleren Jahren wollte er weniger Läsionen beobachtet haben. Zudem zeigte sich der Anatom überzeugt, dass Erkrankungen in diesem Lebensalter geringere Auswirkungen hätten. Anhand seiner Auswertungen gelangte er zum Schluss, dass Frauen* unter ihrer „geschlechtlichen Determination“ litten und den Typus des sexuell betonten Suizids formten.⁵⁰⁴ Vor diesem Hintergrund stufte der die weiblichen Emanzipationsbestrebungen als logische Konsequenz ein, um der reproduktiven Bestimmung und damit dem Suizidrisiko zu entfliehen.⁵⁰⁵ Männer* schienen ihm kaum gefährdet suizidbegünstigende Erkrankungen an den Reproduktions- und Sexualorganen zu entwickeln. Und selbst wenn der Urogenitalapparat geschädigt war, dann zeitigten diese Läsionen offenbar nur eine indirekte Vulnerabilität. Nämlich dann, wenn sie den Genuss der Sexualität behinderten. Bemerkenswerterweise koppelte Pfeiffer die männliche Pubertät, eine Vaterschaft oder das Senium kaum an suizidales Verhalten. Letztendlich führte er das erhöhte männliche Suizidrisiko vor allem auf Alkoholismus, Schädigungen des Zentralnervensystems, Sklerosen und Gefäßerkrankungen zurück.⁵⁰⁶ Im letzten Teil seiner Studie stellte Pfeiffer sieben Todesfälle vor, die seiner Meinung nach forensisch bemerkenswert waren. Die Kasus zeichneten sich durch eine komplexe und ungewöhnliche Methode aus und ließen daher jedwede ‚Eindeutigkeit‘ eines selbstgewählten Todes vermissen. Insbesondere die Frage, ob es sich dabei um Morde gehandelt hatte, erforderte das Expertenwissen des Gerichtsmediziners. Die Leichen wurden anhand von schwarz-weiß Fotos präsentiert.⁵⁰⁷ Katrina Jaworski arbeitete heraus, dass Bilder entscheidend dazu
Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 9. Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 26. Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 157– 158. Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 157. Pfeiffer, Ueber den Selbstmord, 111– 112. Jaworski, The Gender of Suicide, 79 – 89. Da diese Körper als sogenannte dienstbare Leichen, das heißt der wissenschaftlichen oder militärischen Erkenntnis förderlich, klassifiziert waren,
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beitrugen, den Suizid medico-visuell intelligibel zu machen.⁵⁰⁸ Medizinische Fotos boten den Vorteil, dass sie leicht weitergegeben und vervielfältigt werden konnten. Sie erleichtern damit das Vergleichen, Klassifizieren und Diagnostizieren – und das alles unter der Prämisse wissenschaftlicher Objektivität. Zudem konnten so körperliche Prozesse und nur temporär vorhandene Symptome ‚fixiert‘ werden.⁵⁰⁹ Letztendlich erweiterte die Medizinfotografie das Sicht- und Sagbare und revolutionierte die wissenschaftliche Evidenzproduktion.⁵¹⁰ Dazu galt es, die Körper in Leichen, und zwar in solche unter Verdacht, zu verwandeln. Sie mussten nach der Untersuchung und Öffnung bezeugen, dass die Traumata selbst beigebracht waren.⁵¹¹ Damit dieses Ausdeuten möglich war, mussten die Gerichtsmediziner ‚sehen‘.⁵¹² Das Begutachten, Vergleichen und Schlüsseziehen musste gelernt werden. Genau das war im Studium und praktischen Semestern erfolgt. Besonders wichtig waren in diesem Kontext Lehrbücher, denn sie be-
erschien die Erstellung von Fotos nicht anstößig. Auch eine Indienstnahme der Leiche als körperliches Symbol, als ein Teil des Gesterns, das in die Gegenwart hineinreichte, überschritt diese Grenze nicht. Negativ abgegrenzt wurde hingegen die ‚Verwertung‘ der Leiche zur Erlangung eines persönlichen Vorteils. Amin Heinen, Vom Nutzen und Nachteil der ‚dienstbaren Leiche‘ für die Toten und die Lebenden: ein Ideenskelett. In: Dominik Groß, Jasmin Grande (Hg.), Objekt Leiche. Technisierung, Ökonomisierung und Inszenierung toter Körper (Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod 1, Frankfurt/M. u. a. 2010) 429 – 451, hier 432. Obwohl heute Leichen auf den ersten Blick kein handelbares Gut darstellen, verfügen sie dennoch über ökonomischen Wert: Susan Maurer, Brigitte Tag, Leichen als ‚res extra commercium‘ mit Marktwert? In: Dominik Groß, Julia Glahn, Brigitte Tag (Hg.), Die Leiche als Memento mori. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Tod und totem Körper (Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod 2, Frankfurt/M. u. a. 2010) 125 – 149. In der Frühen Neuzeit wurde mit menschlichem Fett, Herz- und Hautgewebe und einzelnen Fingern von Hingerichteten kommerziell gehandelt. Die Einkünfte daraus standen dem Scharfrichter zu. Valentin Groebner, Die Körper des Toten als Rohstoff – Schreckensgeschichten und ihre historischen Vorbilder. In: Brigitte Tag, Dominik Groß (Hg.), Der Umgang mit der Leiche. Sektion und toter Körper in internationaler und interdisziplinärer Perspektive (Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod 4, Frankfurt/M. u. a. 2010) 355 – 369, hier 361– 362. Jaworski, The Gender of Suicide, 82. Annika Baacke, Fotografie zwischen Kunst und Dokumentation. Objektivität und Ästhetik, Kontinuität und Veränderung im Werk von Bernd und Hilla Becher, Albert Renger-Patzsch, August Sander und Karl Blossfelt (Dissertation Freie Universität Berlin, Berlin 2014) 34– 41. Martin Schulz, Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie. In: Macho, Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, 401– 426. Jaworski, The Gender of Suicide, 79. Damit die Medizin Krankheiten entdecken konnte, musste sie zuerst konsequent um die Klinik herum gruppiert werden. Solcherart wurde laut Michel Foucault „aus einer Form des Lehrens und Sagens … eine Methode des Lernens und Sehens“. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (Frankfurt/M. 82008) 79.
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schrieben genau, wie eine Sektion ablief, worauf zu achten war und wie Läsionen, insbesondere die selbstbeigebrachten, aussahen. Dieser von Michel Foucault in Die Geburt der Klinik beschriebene medizinische Blick versprach ein „vorurteilsfreies Eindringen in die Materie“.⁵¹³ Pfeiffer und seine Kollegen waren überzeugt, dass die ihnen vorgelegten Körper neutral und frei von allen Einschreibungen seien. Solcherart meinten sie, ein den Tatsachen entsprechendes forensisches Urteil fällen zu können. Der medizinische Blick leistete aber noch mehr. Er bewirkte, dass die toten Körper mit einer Qualität ausgestattet wurden, die sonst den Lebenden vorbehalten war.⁵¹⁴ Diesen wiederum wurde ein Stück weit das Leben ausgeleitet. Konkret spielte Geschlecht im Obduktionssaal auf drei Ebenen eine Rolle. Bei den Pathologen und Gerichtsmedizinern handelte es sich in der Regel (noch) um Männer*. ⁵¹⁵ In der Ausbildung und den dazu verwendeten Lehrbüchern lernten sie suizidales Handeln anhand von Geschlechterstereotypen kennen. Und zu guter Letzt waren in die als neutral deklarierten Leichen längst die Differenzkategorien eingeschrieben. Das zentrale Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin indizierte folgende Gründe für die hohe Vulnerabilität von Männern*.⁵¹⁶ Diese verfügten über größere körperliche und geistige Kräfte, seien aber auch wütender und ungeduldiger. Auch würden ihnen Schmerzen und Gewalt weniger ausmachen. Zudem seien sie es, die primär den Daseinskampf bewältigen müssten. Das Dilemma aus moralischer Verurteilung des Suizids und männlicher Prävalenz wurde nach erprobtem Schema gelöst. Und zwar über die Abwertung des scheinbar resilienteren weiblichen Geschlechtscharakters. Auch die unterschiedliche Methodenpräferenz wurde über den Geschlechtscharakter erklärt. Statistisch betrachtet neigten Frauen* besonders dazu, sich zu ertränken, vergiften oder zu erhängen. Die Bevorzugung dieser Methoden – insbesondere gegenüber dem männlich codierten Erschießen – würde daraus resultieren, dass diese wenig Planung erforderten, leicht umsetzbar waren und sicher zu einem
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 4. Anna Bergmann, Die Verlebendigung des Todes und die Tötung des Lebendigen durch den medizinischen Blick. In: Elisabeth Mixa u. a. (Hg.), Körper – Geschlecht – Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin (Innsbruck u. a. 1996) 77– 95. Frauen* waren an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien erstmals 1900 zum Studium zugelassen worden. Zuvor hatte die in der Schweiz ausgebildete Ärztin Gabriele Possanner 1897 ihre Promotion an der Universität Wien erreichen können. Doris Ingrisch, GenderDimensionen. In: Katharina Kniefacz, Elisabeth Nemeth, Herbert Posch, Friedrich Stadler (Hg.) Universität – Forschung – Lehre. Themen und Perspektiven im langen 20. Jahrhundert (Göttingen 2015) 337– 361, hier 338 – 339. E.(duard) von Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin. Mit besonderer Berücksichtigung der Deutschen und Österreichischen Gesetzgebung (Berlin u. a. 91902) 386.
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schnellen und vergleichbar schmerzlosen Tod führten.⁵¹⁷ Ganz offensichtlich wurde hier weibliches Suizidhandeln mit Furcht vor Schmerzen, geringer Planungsaffinität und ‚Geisteskrankheit‘ assoziiert.⁵¹⁸ Das Lehrbuch deklarierte Menschen mit melancholischen, neurasthenischen, genetisch-degenerativen und epileptischen Störungen, Alkoholkranke sowie „originär Verrückte“ und „moralisch Irre“ als besonders gefährdet.⁵¹⁹ Auch Unglücksfälle, belastende Lebenssituationen und Not könnten diese Störungen hervorrufen. An weiteren heteronormativen Motiven nannte es Furcht vor Strafe und Ehrverlust, starke Affekte, Familienkonflikte, schmerzhafte und terminale Krankheiten sowie unglückliche Liebe. Dieses letzte Motiv galt als charakteristisch für junge Menschen und insbesondere für Frauen*.⁵²⁰ Die von Feministinnen wie Grete Meisel-Hess vorgetragene Kritik an diesem Motiv wurde nicht berücksichtigt. Meisel-Hess hatte Von Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin, 390 – 391. Unter ähnlichen, diskreditierenden Vorzeichen verhandelte er die vermeintliche Neigung der Französ*innen zum öffentlichen Herabstürzen: „Auch die Häufigkeit des Selbstmordes durch Sichherabstürzen von Monumenten und anderen Höhen bei den Franzosen mag in dem Charakter des Volkes liegen, welcher bewirkt, dass auch der Selbstmord mit mehr Ostentation ausgeübt wird …“ Von Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin, 391. Das Zusammenspiel von Wissenschaft, Medizin und Staat im späten Habsburgerreich zirkulierte um Nation-building und Zivilisierungsmissionen – auch hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses – in den Peripherien: Tatjana Buklijas, Emese Lafferton, Science, medicine and nationalism in the Habsburg Empire from the 1840 to 1918. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/4 (2007) 679 – 686. Marcel Chahrour, ʻA civilizing mission’? Austrian medicine and the reform of medical structures in the Ottoman Empire, 1838 – 1850. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/4 (2007) 687– 705. Brigitte Fuchs, Orientalizing Disease. Austro-Hungarian Policies of ‘Race’, Gender, and Hygiene in Bosnia and Herzegovina, 1874– 1914. In: Christian Promitzer, Sevasti Trubeta, Marius Turda (Hg.), Health, Hygiene and Eugenics in Southeastern Europe to 1945 (CEU Press Studies in the History of Medicine II, Budapest et al. 2011) 57– 85. Emese Lafferton, The Magyar Moustache: the Faces of Hungarian State Formation, 1867– 1918. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/4 (2007) 706 – 732. Leslie Topp, Psychiatric institutions, their architecture and the politics of regional autonomy in the Austro-Hungarian monarchy. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/4 (2007) 733 – 755. Tatjana Buklijas, Surgery and national identity in late nineteenth-century Vienna. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/4 (2007) 756 – 774. Der rasante Aufstieg der Naturwissenschaften und die intensiven imperialistischen Begehrlichkeiten im Fin de siècle bereiteten den Boden für die Amalgamierung von Anthropologie, Kolonialismus und Eugenik. Zu den zentralen Postulaten dieser Felder siehe: Levine, Anthropology, Colonialism, and Eugenics, 43 – 61. Von Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin, 392. Das ältere Konzept des „moralischen Irreseins“ wurde zu jenem des „moralischen Schwachsinns“ gebündelt und bildete ein wichtiges Scharnier zwischen Verbrechen und sogenannter Geisteskrankheit. Ledebur, Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne, 125. Von Hofmann, Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin, 393.
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nämlich herausgearbeitet, dass es nicht die Liebe als solche bzw. das Scheitern einer Partnerschaft war, welche vulnerabel machte. Vielmehr sei es die Ausgestaltung und gesellschaftliche Grundlage von Paarbeziehungen sowie die herrschende Sexualordnung.⁵²¹ Das Lehrbuch fokussierte im eigenständigen Suizidkapitel sogenannte traumatische Verletzungen. Damit waren Schnitt-, Stich und Hiebwunden sowie Traumata durch Schüsse, Stürze und Strangulation gemeint. Die laut Statistik so typischen weiblichen Suizidmethoden des Vergiftens und Ertrinkens behandelte es an anderer Stelle; und zwar bei den allgemeinen Todesursachen. Eine ähnliche Präferenz für schwere Traumata ließ sich auch in den von Hermann Pfeiffer näher vorgestellten Fällen beobachten. Es handelte sich dabei um fünf Männer*, die an Hieb- und Stichwunden, Strangulation und Stromschlägen verstorben waren. Die zwei Frauen*leichen wiesen Messereinstiche und eine der beiden auch Erhängungsmale auf. Alle Leichen waren zur gerichtsärztlichen Begutachtung überstellt worden, da nicht klar war, ob Suizid oder Mord vorlag. Egal für welche Variante ein Gerichtsarzt plädierte, sie musste durch ein stringent-logisches Narrativ und eine dementsprechende Körpertextur plausibilisiert werden. Dazu war es notwendig, die Kontexte des Todesfalls zu kennen und Vergleiche mit bereits als suizidal klassifizierten Leichen anzustellen. Es musste also auf Erfahrungswissen zurückzugegriffen werden, um so eine schlüssige Erzählung zu entwickeln.⁵²² Genau diese Strategie verfolgte auch Hermann Pfeiffer in seinen Kasuistiken.⁵²³ Gleichzeitig ging es ihm auch darum, neues Wissen zu generieren. Deshalb berücksichtigte er auch zwei Suizide, die auf Starkstromeinwirkung zurückgingen. Seines Erachtens war diese Suizidmethode bisher in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht berücksichtigt worden. Bei dem ersten von Pfeiffer präsentierten Fall handelte es sich um den Zuhälter S. Dieser war am 22. März 1907 tot mit cranialen Beilhiebwunden und abdominalen Stichverletzungen aufgefunden worden. Zuvor hatte er laut den Aussagen seiner Lebensgefährtin M. M. versucht, sie zu ermorden, und zwar mit jenem Beil, welches zu seinen tödlichen Kopftraumata passte. M. M. war geschieden und vorbestraft, ihr Ehemann hatte sie misshandelt und war unter Ku-
Meisel-Hess, Die sexuelle Krise, 90. Die hier zentralen, klinischen Mechanismen von Intelligibilität und Selbst-Evidenz beschrieb Michel Foucault folgendermaßen: „In diesem Bereich lehrt sich die Wahrheit von selbst – und zwar in gleicher Weise dem Blick des erfahrenen Beobachters wie dem des noch naiven Lehrlings; für den einen wie für den anderen gibt es nur eine Sprache: die Sprache des Spitals, in dem die geordnete Vielfalt der untersuchten Kranken selber die Schule ist.“ Foucault, Die Geburt der Klinik, 83 – 84. Er stufte übrigens alle sieben dieser Fälle als Tod durch Suizid ein.
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ratel gestellt worden. Auch ihr neuer Lebensgefährte S. war mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er hatte eine gefährliche Drohung gegenüber dem früheren Ehemann von M. M. ausgesprochen und musste daher eine Haftstrafe verbüßen. Darüber hinaus schlug auch er seine neue Lebensgefährtin. Diese konfliktbelastete Lebenssituation und die aufgezeichneten Vorfälle von Gewalt dürften erheblich dazu beigetragen haben, dass ein Mord ähnlich plausibel erschien wie ein Suizid. Die Rekonstruktion des Tathergangs war schwierig. Einerseits ließen sich an der Stelle des von M. M. behaupteten Übergriffes und späteren Todesortes von S. keine Kampfspuren finden. Andererseits hatte die unter Mordverdacht stehende Lebensgefährtin Hiebverletzungen erlitten, welche sich auf Fremdverschulden zurückführen ließen und so ihre Aussage stützten. Aufgrund des Charakters der Verletzungen von S. plädierte Pfeiffer im gerichtsärztlichen Gutachten für Suizid: „Es müsse mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, S. habe sich die Verletzungen selbst zugefügt.“⁵²⁴ Der gewalttätige Lebensgefährte verstarb letztendlich an einem eröffneten Sichelblutleiter. Die Unschuld von M. M. wurde auch dadurch erhärtet, dass bei S. ein Abschiedsbrief gefunden wurde, sie nach ihrer Flucht von mehreren Personen gesehen wurde und S. gegenüber Passant*innen seinen baldigen Tod angekündigt hatte. Interessant an diesem Fall ist, dass sich die stärksten Indizien für einen Suizid aus dem Kontext ergaben und nicht aus den Verletzungen und seiner Ausführung. Dennoch wurde er von Pfeiffer umfangreich dokumentiert und diskutiert. Vielleicht auch gerade deswegen, weil starke kontextuelle Indizien pro Suizid vorlagen. Somit konnte er den Schluss ziehen, dass zahlreiche, kleinere Hiebverletzungen am Kopf und ein kurzer Bauchschnitt genauso auf eine suizidale Handlung hinweisen konnten, wie ein großes, singuläres Trauma. Ein solches galt als typisch für männliches Suizidhandeln. Viele kleine, wiederholt ausgeführte Hiebe und Stiche gegen den eigenen Körper widersprachen diesem Muster. Nichtdestotrotz konfligierten auch die großen, die Körperoberfläche dramatisch zerstörenden Verletzungen mit idealer Männlichkeit. Demonstrierten sie doch sehr plastisch die Verletzbarkeit des männlichen Körpers. Das Eindringen von Objekten in den Körper war ganz klar weiblich konnotiert, aber genauso auch das Ausdringen von
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 167. Pfeiffer erläuterte auch das Typische an Axtverletzungen im Zuge eines Angriffs: „Es ist das Charakteristische für fremdhändige Beibringung von Beilhiebwunden, daß sie an verschiedenen Stellen oft weit von einander entfernt liegen, eine wechselnde Verlaufsrichtung zeigen und sich durch große Intensität und Schwere der Einzelwunde auszeichnen. Wenn im vorliegenden Falle nichts als das Schädelgehäuse zur Begutachtung vorliegen würde und von den Umständen gar nichts bekannt wäre, so müßte man aus den an ihm vorgefundenen Merkmalen allein mit voller Sicherheit den Schluß ziehen, daß es sich um Selbstmord durch Beilhiebwunden handelt.“ Pfeiffer, Über den Selbstmord, 169.
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leiblichen Stoffen. Ein Leib, der sein Blut, seine Eingeweide, seine Fäkalien nicht mehr zurückhalten konnte, illustrierte, dass die Kontrolle verloren gegangen war. Derart war auch die scheinbar so sichere Grenze zwischen Innen und Außen aufgehoben.⁵²⁵ Solche Leiber konnten im Diskurs weder als Subjekte noch als Objekte figurieren. Sie fielen vielmehr in die Kategorie der Abjekte.⁵²⁶ Der als unnatürlich codierte Suizid deckte in sich selbst ein Spektrum ab, das um die beiden Pole normal und anomal angeordnet war. ⁵²⁷ Nur der ‚natürliche‘ Tod und mit Abstrichen der ‚normale‘ Suizid stabilisierten die Behauptung eines zentrierten, fest gefügten Subjekts. Daher endete hier die Forderung nach Subjekthaftigkeit auch post-mortem nicht.⁵²⁸ ‚Unnatürliche‘ Tote und insbesondere an-
Zu den gesellschaftlichen und heteronormativen Anforderungen an körperliche und symbolische Reinheit siehe die nach wie vor lesenswerten Arbeiten von Mary Douglas, die auch Judith Butler als Argumentationsbasis dienten. Douglas betont, dass soziale und körperliche Kontrollen korrelieren. Rigide gesellschaftliche Normen und Vorschriften fordern eine ebensolche Körperreglementierung. Dies lässt sich gut anhand der strengen Anforderungen an eine bürgerliche Lebensform illustrieren. Es erklärt auch, warum suizidales Verhalten innerhalb des Bürgertums so stark provozierte. Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur (Frankfurt/M. 1974) 106 – 110. Douglas, Purity and Danger. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (Berlin 1995) 19 – 48. Auf das Problem der konkreten Benennung der verworfenen Wesen – Butler nennt als betroffene Individuen Fags und Dykes – verweisen Antke Engel und Uta Schirmer zu Recht. Sie kritisieren, dass so das Soziale mit dem Symbolischen zusammengeworfen wird und die Bemühungen der konkreten Personen um Subjekthaftigkeit nicht erfasst werden können. Engel regt an, den imaginären Charakter der Abjekte beizubehalten und stattdessen zu erläutern, wie diese die soziale Realität beeinflussen. Dieser Vorschlag könnte insbesondere durch die Hereinnahme von Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt verfolgt werden. Uta Schirmer, Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten (Bielefeld 2010) 44– 45. Antke Engel, Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation (Frankfurt/M. u. a. 2002) 29 – 30. Als zweiter Ansatz lässt sich formulieren, die Opposition zwischen intelligibel/nicht-intelligibel als dauerhaft-total aufzugeben und die Prozesse am Werk zu fokussieren, um damit der spezifischen Situiertheit und Handlungsfähigkeit von Individuen gerecht zu werden. Franz-Josef Bormann, Ist die Vorstellung eines ‚natürlichen Todes‘ noch zeitgemäß? Moraltheologische Überlegungen zu einem umstrittenen Begriff. In: Bormann, Borasio (Hg.), Sterben, 325 – 350. Auch der Tod ist als soziale und kulturelle Konstruktion zu fassen, die je nach sozialer Gruppe und zeitlichem Zuschnitt variiert. Dies zeigt sich allein an der Tatsache, dass der Eintritt des Todes je nach Kultur an unterschiedlichen Parametern festgemacht wird. So wird etwa in der westlichen Welt debattiert, ob der Tod als Ereignis oder als Prozess zu fassen ist: Leen Van Brussel, Nico Carpentier, Introduction. In: Leen Van Brussel, Nico Carpentier (Eds.), The Social Construction of Death: Interdisciplinary Perspectives (Basingstoke 2014) 1– 10, here 1– 5. Ute Planert, Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000) 539 – 576, hier 540, Fußnote 5.
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omale Suizident*innen qualifizierten sich nicht für diesen Status. Sie mussten außen vor bleiben, weil ihre radikale Körperermächtigung die Kontrollabgabe und noch schlimmer die Auflösung der Leib-Umwelt-Grenze verfolgte. Der skizzierte Ausschluss wirkte produktiv, indem die verworfenen Wesen die Grundlage für die bewohnbare, normierte Welt der stets vergeschlechtlichten Subjekte schufen.⁵²⁹ Bezeichnend an der fotografischen Darstellung des Falles von S. ist, dass nur einer der beiden Traumataorte, der Schädel, Berücksichtigung fand.⁵³⁰ Ebenso fällt auf, dass nur das mazerierte, von sämtlichen Häuten befreite, knöcherne Schädeldach präsentiert wurde.⁵³¹ Für die Aufnahme wurde ein Objektsetting gewählt, welches an ein räumlich nicht getrenntes Triptychon erinnert. Die Trias aus Messer links, mittig platziertem Schädeldach und Beil rechts überrascht auch insofern, als zwar das Beil mit den Schädeltraumata korrelierte, aber nicht das Messer. Die diesbezüglich relevante Stichverletzung am Bauch wurde überhaupt nicht gezeigt. Der fragmentierte Körperrest, das präparierte Schädeldach, wurde als klinisch sauber und ohne Zeichen der Geschlechtlichkeit präsentiert. Die gewählte Darstellung plausibilisierte das Eindringen des Beils, ein ebenso wahrscheinliches Ausdringen von Blut und Hirnmasse wurde hingegen ausgeblendet. Bei den zum zweiten Fall zusammengefassten Suiziden handelte es sich um den 25-jährigen arbeitslosen Knecht R. F. (Obduktion 1910) und den 41-jährigen Maurer P. K. (Obduktion 1912). Beide waren an Starkstromschlägen verstorben und
„Diese Matrix mit Ausschlußcharakter, durch die Subjekte gebildet werden, verlangt somit gleichzeitig einen Bereich verworfener Wesen hervorzubringen, die noch nicht ‚Subjekteʻ sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben. Das Verworfene (the abject) bezeichnet hier genau jene ‚nicht lebbarenʻ und ‚unbewohnbarenʻ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‚Nicht-Lebbarenʻ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen.“ Butler, Körper von Gewicht, 23. Die forschungsperspektivischen und -methodischen Möglichkeiten des Zugriffs auf bildliche Darstellungen werden von semiotischen und hermeneutischen Ansätzen dominiert. Erstere versprechen größere Kompatibilität mit der Foucaultschen Diskurswelt und mit daran anschließenden Theorien und Methoden. Aber auch sie können die Spannung bzw. die Unübersetzbarkeit zwischen Text und Bild nicht auflösen. Demgegenüber bieten hermeneutische Ansätze ein tieferes analytisches Eindringen, das aber auf Kosten der spezifischen Situierung geht. Franz X. Eder, Oliver Kühschelm, Bilder – Geschichtswissenschaft – Diskurse. In: Franz X. Eder, Oliver Kühschelm, Christina Linsboth (Hg.), Bilder in historischen Diskursen (Wiesbaden 2014) 3 – 44. Zur Analyse der hier präsentierten Fotografien wurde auf den Ansatz der Social Semiotics zurückgegriffen. Gunther Kress, Theo van Leeuwen, Reading Images. The Grammar of Visual Design (London 22006). Dabei wurden die Aussagemöglichkeiten, die Interpretationsangebote und die Modi der Bildgestaltung und -konstruktion untersucht. Bei der Mazeration handelt es sich um verschiedenste Verfahren zur Präparation von Knochen durch chemische, biologische usw. Zersetzung der Weichteile.
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Abb. 1: Fall 1, S., mazerierter Schädel, Messer, Beil. Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel I (s. p.).
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von Pfeiffer ausgewählt worden, weil es sich dabei um eine neue Suizidmethode handelte. Beide hatten mittels einer Drahtschlinge um die linke Hand Kontakt zur Starkstromleitung hergestellt und dabei sichergestellt, dass der Stromfluss möglichst lange aufrecht blieb. Der Knecht trug eine an den Vater adressierte Karte bei sich, in welcher er als Motiv seiner Handlung Arbeitslosigkeit benannte.⁵³² An anatomischen Auffälligkeiten registrierte Pfeiffer veränderte Hirnhäute, eine frühere Tuberkulose, eine Herzmuskeldegeneration, einen Milztumor und einen stark ausgeprägten lymphatischen Apparat.⁵³³ Bei P. K. fand sich kein Abschiedsbrief. Der Forensiker gelangte zum Schluss, dass der Maurer an einem Schlaganfallschaden, Arteriosklerose, einer Herzmuskeldegeneration sowie unter Alkoholismus litt. Pfeiffer war überzeugt, dass beide Starkstromtoten sich selbst getötet hatten und dass auch „bei so einfachen Leuten“ eine dermaßen komplexe und kreative Handlungsweise möglich sei, wenn auch „nur aus einer längeren, relativ ruhigen Überlegung und Auswahl“.⁵³⁴ Darüber hinaus sei es denkbar, dass diese neue Suizidmethode mit anderen Menschen besprochen worden war – ohne den Hintergrund der geplanten Selbsttötung zu erwähnen.⁵³⁵ Der Fall des Knechts wurde auch fotografisch dokumentiert, jener des Mauerers hingegen nicht. Das dürfte damit zusammengehangen haben, dass seine Leiche bereits im Verwesen begriffen war. Ähnlich wie beim Fall des Zuhälters wurde nur ein Körperfragment präsentiert und zwar der Unterarm und die Hand, welche die als zentral erachteten Verbrennungsmale und die Drahtschlinge trugen. Eine weitere Parallele zum Fall des Zuhälters lag darin, dass beide Fotos nicht am Tatort aufgenommen wurden. Unterarm und Hand ruhten auf einem weißen Hintergrund und sollten die Auffindungsposition imitieren. Auch hier wurde darauf verzichtet, den Körper als geschlechtlich markiert zu präsentieren. Die zum dritten Fall zusammengefassten Suizide der 63-jährigen Tagelöhnerin P. M. und der 40-jährigen, offensichtlich wohlhabenden Privatière R. wurden von Pfeifer ausgewählt, um zu illustrieren, „wie weit der Selbstmörder, hier wieder ganz besonders die den Tod suchende Frau, in Selbstverstümmelungen gehen kann“.⁵³⁶ Beide Frauen* hatten sich mit einem Messer zahlreiche Schnitt-
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 170 – 171. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 171. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 172. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 173. Der Tod bei Stromschlägen tritt durch Ersticken ein. Dieser Umstand selbst sagt aber nichts über Suizid oder Unfall aus.Vor diesem Hintergrund setzte Pfeiffer auf Erfahrungswissen und argumentierte: „Ein Fall von absichtlicher, also nicht fahrlässiger Tötung mit elektrischem Strom durch einen anderen ist meines Wissens übrigens noch nicht beschrieben.“ Pfeiffer, Über den Selbstmord, 173. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 174.
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Kapitel 2: Vom Crescendo zur großen Bühne
Abb. 2: Fall 2, R. F., Hand in Drahtschlinge. Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel II (s. p.).
wunden zugefügt und sich erhängt bzw. dies versucht. Pfeiffer diagnostizierte bei P. M. eine Entzündung der äußersten Hirnhaut und des äußeren Liquorraumes, Sklerosen, eine Magen-Darm-Erkrankung und eine Fettleber. Der Forensiker gelangte zum Schluss, dass sich die Tagelöhnerin zweifellos selbst tötete und „nach vielfachen, ungeeigneten Tötungsversuchen mit einem Messer endlich die Suspension“ erreichte.⁵³⁷ Ihre Leiche wurde auch fotografisch präsentiert; und zwar als Porträtaufnahme, welche neben dem Gesicht⁵³⁸ ihren Hals und die über den Kopf hochgezogenen Arme, insbesondere die verwundeten Handgelenke, zeigte. Auch hier handelte es sich nicht um den Tatort, da sich dort die Tote im Strangulationszustand befunden haben musste. Zudem erscheint es, als wäre ihr Nacken für das Foto stabilisiert worden, um die Verletzung am Hals gut darstellen zu können. Innerhalb der Fotoserie wurde zum ersten Mal eine Leiche mit Gesicht gezeigt, womit deutlich die Würde und Privatheit der Toten verletzt wurde. Der Fokus des Fotos lag zwar nicht auf dem Antlitz, dennoch waren die Gesichtszüge
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 175. Um die Würde der toten Personen zu wahren, wurden ihre Gesichter für diese Arbeit weichgezeichnet.
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Abb. 3: Fall 3, P. M., Strangulation und Schnittwunden. Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel III (s. p.).
gut erkennbar. Bei den anderen Fotos der Pfeiffer-Studie waren konsequent nur jene Körperteile zu sehen, welche die Male der tödlichen Verletzungen illustrierten. Noch dramatischer lag für Pfeiffer der zweite, ähnlich ausgeführte Fall der Privatière R., weil die Leiche „in hochgradig anämischem Zustande, völlig entkleidet, nur mit einem Tuch um den Hals geschlungen zur sanitätspolizeilichen Sektion kam“.⁵³⁹ Pfeiffer zählte am Körper 86 Schnittwunden, wovon sich die tödliche an der rechten Wade befand. Der Obduzent vermutete, dass sich R. mittels der Messerschnitte zu töten suchte, nach ausbleibendem Erfolg auf Erdrosselung auswich und schlussendlich wieder zum Messer zurückkehrte. Der Forensiker gelangte zum Schluss, dass die Verletzungen typisch für suizidales Verhalten waren. Allerdings beschrieb er die Vorgangsweise als selten und
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 175. Auch in der rezenten Forschung gelten unbekleidete Suizident*innen als eher impulsiv, psychotisch, drogen- oder alkoholabhängig und halluzinatorisch-paranoid. Ebenso wird vermutet, dass nackte Suizident*innen die Auffindungssituation besonders dramatisch gestalten wollten. David Lester, The Body as a Suicide Note. In: Lester, Stack (Eds.), Suicide as a Dramatic Performance, 41– 50.
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wunderte sich über die „recht energische(r) Handanlegung“. ⁵⁴⁰ Pfeiffer sprach den Verdacht aus, dass die von ihm als adipös klassifizierte Tote an einer psychischen Störung litt und zwar verursacht durch einen Hydrocephalus, eine Arteriosklerose und die Menstruation. Die unbekleidete Leiche der Frau wurde auf zwei Fotos äußerst entwürdigend präsentiert. Das erste zeigte sie in einer Ganzkörperaufnahme, offenbar auf dem Seziertisch liegend. Ihr Körper war dabei zur Seite gedreht und ihr rechtes Bein durch ein säulenartiges Objekt hochgelagert worden. Den größten Teil des Hintergrundes bildete ein hängendes, helles Tuch. Für das zweite Foto wurde eine nahe Einstellung gewählt, welche die Tote vom Kopf bis zu ihren Brüsten plus einen Oberarm zeigte. Das allgemeine Setting wurde beibehalten. Auch hier überraschte die Darstellungsform und dass von einer Leiche zwei Fotos angefertigt wurden. Die beiden Bilder boten nicht jenes stringente Ursache-Wirkungs-Narrativ der Männer*leichen. Die zentrale, letztendlich tödliche Verletzung von R. ging in der Ganzkörperaufnahme unter. Gleichzeitig wurde das Foto im Bereich des Oberkörpers so schlecht ausgeleuchtet, dass kaum Details erkannt werden können. Das zweite Foto, die Nahaufnahme des Oberkörpers, stand wiederum nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem tödlichen Trauma. Vor diesem Hintergrund entsteht der Eindruck, dass neben den Verletzungen hier auch noch etwas ganz anderes präsentiert werden sollte und zwar die Monstrosität des Vorgefallenen: das exzessiv zerstückelte Fleisch, der ausgeblutete Körper und die Gesamtansicht dieser Ungeheuerlichkeit. Auch die vorhandenen letzten Reste von Gestik und Mimik sollten wohl emotionalisieren. Der vierte Fall betraf den am 19. Juni 1912 in der Mur ertrunkenen Arbeiter F. L., der erst 20 Jahre alt war. Seine beiden Beine waren mit einem Seil aneinandergefesselt und der linke Arm an das linke Bein angetaut. Nur der rechte Arm war unfixiert.⁵⁴¹ Aufgrund dieser Fesselung drängte sich ein Mordverdacht auf und es wurde eine genauere Untersuchung eingeleitet. Der Forensiker schloss Fremdverschulden aus, da ihm derartige Suizide schon untergekommen waren. Darüber hinaus war er überzeugt, dass die Fesselungsart auch ohne Beihilfe möglich sei. Diese Annahme ließ sich dadurch erhärten, dass die meist dominante rechte Hand unvertaut geblieben war. Pfeiffer argumentierte, dass „diese Fesselungsart eine durchaus logische und zweckentsprechende“ war und zugleich von einer suizidalen Person eigenhändig ausgeführt werden konnte.⁵⁴² Ein weiteres Indiz, das ihm eine suizidale Handlung anzeigte, war das Fehlen von Verletzungen am
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 176. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 176. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 178.
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Abb. 4: Fall 3, R., versuchte Erdrosselung und Schnittwunden (Totale). Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel IV (s. p.).
Abb. 5: Fall 3, R., versuchte Erdrosselung und Schnittwunden (Details). Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel V (s. p.).
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Körper. Insbesondere von einem jungen und kräftigen Mann, wie es F. L. war, erwartete Pfeiffer heftige Gegenwehr gegenüber einer angreifenden Person.⁵⁴³ Auch an dieser Leiche hatte der Forensiker eine Reihe von anatomischen Veränderungen entdeckt. Dazu zählten auffällige Hirnhäute sowie ein vergrößerter Herzmuskel.⁵⁴⁴ An der fotografischen Präsentation der Leiche fällt auf, dass der Oberkörper außen vor blieb. Das Setting war jenseits des Sektionssaals angesiedelt. Das schräg seitlich aufgenommene Bild zeigt den Toten in einer Art länglicher Holzkiste bzw. Sarg. Das Foto könnte in der Nähe des Fundorts entstanden sein und fokussiert die gefesselten Beine und die angetaute linke Hand. Ein möglicher Grund, warum der obere Teil des Körpers, insbesondere das Gesicht, nicht gezeigt wurde, könnte darin gelegen haben, dass hier nicht emotionalisiert werden sollte. Eine andere Option ist, dass das Gesicht durch den Ertrinkungstod stark aufgequollen war. Ein solches Disfigurieren hätte mit der Anforderung an männliche Körperbeherrschung und Autonomität konfligiert.
Abb. 6: Fall 4, F. L., Ertrinkungstod. Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel VI (s. p.).
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 178. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 177– 178.
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Der fünfte und letzte Fall war dem 47-jährigen Eisenbahnkondukteur J. F. gewidmet, der 1907 an einer Stichverletzung von einem Zimmermannsnagel gestorben war.⁵⁴⁵ Aus dem Kontext ergab sich, dass der Vater zweier Kinder offenbar aufgrund einer unheilbaren Erkrankung seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Der manipulierte Nagel trat unterhalb der linken Brustwarze in den Körper ein und beschädigte dort die linke Herzkammer und Ventrikel. Die daraus resultierende Tamponade bewirkte den Tod. Pfeiffer zeigte sich überrascht, dass er bei der Leiche keine pathologisch-anatomischen Veränderungen aufspüren konnte. Auch einen Hinweis auf eine unheilbare Erkrankung konnte er nicht finden. Dies veranlasste ihn zur Feststellung, dass mit den Motiven für suizidales Handeln besonders sorgfältig umgegangen werden müsse: „Zugleich haben wir hier ein schönes Beispiel dafür, wie vorsichtig wir bei der objektiven Beurteilung der Stichhaltigkeit von den Selbstmörder leitenden Motiven sein müssen.“⁵⁴⁶ Das zu dem Fall gehörige Foto zeigte nur einen kleinen Ausschnitt des Körpers und war zusätzlich durch ein schwarzes Passepartout begrenzt. Die Aufnahme fokussierte die Wunde, welche nur sehr geringe Ausmaße aufwies und die Körperoberfläche, abgesehen vom Stichkanal, unversehrt gelassen hatte. Auch etwaige Blutflecke um die Wunde herum fehlten auf dem Bild. Der gewählte Fokus suggeriert, dass der Suizident sehr kontrolliert und zielgerichtet vorging, um das eigene Herz zu schädigen. Auch der durch Selbstfesselung herbeigeführte Ertrinkungstod des Arbeiters F. L. wurde als logisch-stringent verhandelt. Davon unterschieden sich insbesondere die zu Fall drei zusammengefassten Suizide der Taglöhnerin P. M. und der Privatière R., welche sich zahlreiche Schnittverletzungen zugefügt hatten. Insbesondere die über den ganzen Körper verteilten Wunden von R. wirkten durch die gewählte Präsentation chaotisch, ungeplant und zufällig. Demgegenüber wurden die ebenfalls massiven Traumata des Zuhälters S. durch die fotografische Präsentation zurückgenommen. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass bei der Vorstellung der männlichen Suizidenten die Elemente des durchdachten, zielgerichteten und sauberen Handelns betont wurden. Bei den weiblichen Suizidentinnen wurden hingegen die Aspekte des Chaotischen, Affekthaften und Monströsen herausgestrichen. Diese Dichotomie wurde durch die fotografische Präsentation gestützt und verstärkt. Die emotionalen Qualitäten des suizidalen Handelns wurden bei den Frauen* privilegiert, indem das Gesicht und in einem Fall der unbekleidete Körper in entwürdigender Weise gezeigt wurden. Demgegenüber lag bei den männlichen Leichen der Fokus viel klarer auf den Wunden, um die Logik von Ursache und
Pfeiffer, Über den Selbstmord, 179. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 180.
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Abb. 7: Fall 5, J. F., Stichverletzung. Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel VII (s. p.).
Wirkung herauszustreichen. Auch bei den Suizidentinnen spielte dieses Prinzip eine Rolle, wurde hier aber durch die globale Präsentation gebrochen. Zudem wurden ihre Leichen als ‚unrein‘ dargestellt und mit emotional-affektiven Qualitäten aufgeladen. Während an den männlichen Leibern die Gültigkeit des medizinischen Läsionsprinzips durchexerziert und damit bestätigt wurde, stellten die toten Körper der Suizidentinnen etwas anderes dar. Exzess und Chaos ging von ihnen aus und vor allem waren sie noch immer Geschlechtswesen.
Soziale und suizidale Frage Soziale Frage und suizidales Verhalten wurden besonders von der Sozialdemokratie eng geführt, um so eine Verknüpfung herzustellen, die intensiv fruchtbar gemacht werden konnte. Die Stadt Wien zeichnete die Motive von Suizident*innen seit 1869 auf.⁵⁴⁷ Eine regelmäßige Publikation und zwar im Statistischen Jahrbuch
Stefan Sedlaczek, Die Selbstmorde in Wien in den Jahren 1854– 1878. In: Wiener Statistische Monatsschrift 5 (1879) 393 – 401 u. 441– 460, hier 449. Die Grundlage für die Wiener Suizidstatistik
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der Stadt Wien wurde erst von 1892 an verfolgt. Dieser Jahrgang brachte auch noch eine andere, bemerkenswerte Veränderung mit sich. Parallel zum Terminus „Selbstmord“ wurde erstmals der Begriff „Selbsttödtung“ verwendet.⁵⁴⁸ Damit drückt sich jener Begriffs- und Konzeptwandel aus, wie er von Michael MacDonald und Terence R. Murphy beschrieben wurde.⁵⁴⁹ Nicht mehr der Sündencharakter stand im Vordergrund, sondern die Interpretation als anomale und unglückliche Wendung. Die Hinwendung zu Begriffen wie Selbsttötung und schließlich Suizid bedeutete allerdings keine Abwendung von der sozialen Stigmatisierung. Vielmehr wurde die religiös-kosmologische Verurteilung durch eine moralische ersetzt.⁵⁵⁰ Suizident*innen nahmen weiterhin eine Tötungshandlung vor; nur mit dem Unterschied, dass nun Irrsinn und Melancholie als ursächlich identifiziert wurden. Einen seltenen und relativierenden Standpunkt vertrat der Statistiker Julius Platter, indem er meinte, dass suizidales Verhalten nuancierter Überlegungen bedürfe und nicht automatisch mit moralischem Scheitern gleichzusetzen sei: „In einzelnen Fällen muss man sogar zugeben, dass von zwei Menschen, welche dasselbe Schicksal erlitten und von denen der Eine sich tödtete, der Andere nicht, der Selbstmörder oft der sittlich bessere war.“⁵⁵¹ Das Statistische Jahrbuch der Stadt Wien erschien erstmals 1885 und wurde von Moritz Preyer, Stephan Sedlaczek und Wilhelm Löwy verantwortet. Angesiedelt war es beim statistischen Departement des Wiener Magistrats und wies die Suizident*innen nach Alter(sklassen), binärem Geschlecht, Bezirk und Sterbemonat aus. 1892 kamen Suizidmethode und -motiv sowie der Familienstand und das Glaubensbekenntnis hinzu.⁵⁵² Die Statistik führte für vollendete Suizide insbildeten die Totenbeschaubefunde. Diese mussten dem statistischen Bureau von den städtischen Beschauärzten übermittelt werden. Sedlaczek, Die Selbstmorde in Wien in den Jahren 1854– 1878, 394. Das dabei verwendete heteronormative Motivgruppenschema entsprach weitgehend jenem, welches im späteren Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien dokumentiert ist. Als zusätzliche Motive wurden Melancholie, Furcht vor der Entbindung, Gekränktes Ehrgefühl und Reue geführt, jene der Erwerbslosigkeit und des Amerikanischen Duells fehlten hingegen noch. Sedlaczek, Die Selbstmorde in Wien in den Jahren 1854– 1878, 450. Selbstmorde im Jahre 1892 nach Art und Ursache der Selbsttödtung in Verbindung mit dem letzten Domicil und dem Sterbemonate der Selbstmörder. In: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1892. Mitteilungen des statistischen Departements des Wiener Magistrats, VI. Bewegung der Bevölkerung – D. Todesfälle (1892), 116 – 117, online unter MacDonald, Murphy, Sleepless Souls, 144– 175. Andreas Bähr, Between „Self-Murder“ and „Suicide“: The Modern Etymology of Self-Killing. In: Journal of Social History 46/3 (2013) 620 – 632, here 621– 622. Platter, Über den Selbstmord in Österreich in den Jahren 1819 – 1872, 106. An Methoden wurden folgende geführt: Erschießen, Beibringung von Schnitt- oder Stichwunden, Herabstürzen von Höhen, Erhenken (1913 Erhängen), Ertränken, Vergiften, Sonstige.
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gesamt vierzehn Motivgruppen plus Unterkategorien. Diese setzten die heteronormative Geschlechtermatrix nicht nur voraus, sondern reproduzierten sie auch, wobei manche das sehr offensichtlich taten, andere wiederum subtiler. In die explizite Kategorie fielen insbesondere der „Fehltritt“, womit eine außereheliche Schwangerschaft gemeint war, die „Unlust zum Militärdienst“, die „Furcht vor der Assentierung“ und das „Amerikanische Duell“.⁵⁵³ Aber auch die ‚leiseren‘ Motive basierten auf dem zeitgenössischen Geschlechterwissen, welches wiederum die Zuordnungswahrscheinlichkeit regulierte. Daher wurden Motive mit emotionalsozialem Bezugsrahmen eher Frauen* attribuiert, solche mit rational-öffentlichem Kontext eher Männern*. Zentral hierfür ist auch, dass im 19. Jahrhundert die heterosexuellen Geschlechter intensiv beforscht wurden und spätestens um 1900 auch das homosexuelle Selbst geskriptet und als ein Identitätsangebot fass- und vermessbar war.⁵⁵⁴ Insbesondere die Naturwissenschaften trieben diese Wissensexpansion voran und belieferten die Sozial- und Geisteswissenschaften, aber auch den Interdiskurs mit ihren naturalisierenden, determinierenden und biologistischen Deutungsmustern.⁵⁵⁵ Eine hervorragende Position besetzte hier die Medizin. Nichtsdestotrotz blieben weibliche sowie homo- und bisexuelle sowie inter- und transgeschlechtliche Lebensformen schlecht(er) dokumentiert.⁵⁵⁶ Der Grund dafür lag darin, dass die Wissenschaft weiterhin einen männlichen, heterosexuellen, erwerbstätigen Staatsbürger als menschliche Norm annahm. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen galt die Beforschung der heterosexuellen Frau* als dringend notwendig, „weil von der Art und Lebensäusserung des Weibes das Schicksal der ganzen Menschheit abhängt“.⁵⁵⁷ Wie bereits „Das sogen. amerikanische Duell, welches in neuerer Zeit aufgekommen ist, besteht darin, daß die beiden Gegner durch das Los bestimmen, wem von ihnen die Ehrenverpflichtung zufällt, sich binnen einer bestimmten Frist selbst zu töten. Das amerikanische Duell ist also kein Z.(weikampf, MH) und daher auch nicht nach den über den Z.(weikampf, MH) bestehenden Rechtsvorschriften zu behandeln.“ Meyers Konversationslexikon (Verlag des Bibliographischen Instituts, Band 16, Leipzig u. a. 41885 – 1892) 1012. Tilmann Walter, Das frühe homosexuelle Selbst zwischen Autobiographie und medizinischem Kommentar. In: Forum Qualitative Research 6/1 (2005), online unter , Zugriff: 16.06. 2017. Schmersahl, Medizin und Geschlecht, 2. Margo Anderson, The History of Women and the History of Statistics. In: Journal of Women’s History 4/1 (1992) 14– 36. Libby Schweber, Disciplining Statistics. Demography and Vital Statistics in France and England, 1830 – 1885 (Durham et al. 2006). Stephen M. Stigler, Statistics on the Table. The History of Statistical Concepts and Methods (Cambridge et al. 32002). Martha Lampland, Susan Leigh Star (Eds.), Standards and Their Stories. How Quantifying, Classifying and Formalizing Practices Shape Everyday Life (Ithaca et al. 2009). Reich, Studien über die Frauen, Vorwort. Der Hygieniker pochte auch auf den Geschlechterdimorphismus und dessen statistische Belegbarkeit: „Weil des Weibes ganze Entwicklung und
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skizziert, erreichte das explodierende Wissen über die heteronormalen Geschlechter auch das Wiener Suizid-Motivgruppenschema. Außerdem floss das sexistische Verständnis von Gesellschaft und ihren Problemstellen in das Schema ein, das bis zum Ende der Monarchie beinahe unverändert benutzt wurde. 1892 bildete das meist zugeordnete Motiv jenes des unbekannten Grundes, wobei hier stets das heteronormative Paradigma vorauszusetzen und mitzudenken ist. Dieses Verhältnis sollte sich bis 1913 ändern, da nun häufiger konkrete Motive zugeordnet wurden. Der Wiener Statistik zufolge präferierten 1892 beide Geschlechter die Methode des Erhängens, gefolgt vom Erschießen bei den Männern* und dem Vergiften bei den Frauen*. Als spezifische Motive wurden bei Männern* am häufigsten jene der Arbeitslosigkeit, der terminalen oder chronischen Krankheit und der schlechten finanziellen Verhältnisse genannt. Bezüglich der Erkrankungen waren psychische Störungen explizit ausgenommen, da diese eine extra Kategorie darstellten, in welche Frauen* besonders häufig hineinzufallen schienen. Von 1892 bis 1913 stieg die Zahl der in Wien gezählten Suizide erheblich. Während sie sich bei den Männern* um das 2,8-Fache erhöhte, legte sie bei den Frauen* um das 3,5-Fache zu. Es handelte sich dabei um eine relative, also tatsächliche Zunahme.⁵⁵⁸ Bei den Männern* dominierten 1913 weiterhin die Motive der terminal-chronischen Krankheit und der Arbeitslosigkeit, aber das Motiv des Liebesgrams erreichte bereits den vierten Platz. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte dieses für Männer* beinahe nicht existiert. Auch bei den Frauen* gab es Veränderungen. Das Motiv der Geisteskrankheit wurde ihnen nun viel seltener zugeordnet. Es dominierte der Liebesgram, gefolgt von terminalen und chronischen Krankheiten und dem neuen Motiv der Arbeitslosigkeit. Aus dem zuvor Dargelegten lässt sich schließen, dass sich die kulturellen Skripte rund um suizidales Verhalten veränderten, zudem dürften sie an Plausibilität gewonnen haben. Anders lässt sich nämlich die häufigere Zuordnung eines spezifischen Motivs nicht erklären. Diese Bewegung korrelierte offensichtlich mit dem Bedürfnis, suizidales Verhalten intelligibel zu machen. Es sollte also fixiert, verstehbar und damit Leibesbeschaffenheit von der des Mannes abweicht, so muss auch die Statistik der beiden Geschlechter verschieden sein. Diese Voraussetzung ist durch die umfangreichsten Forschungen bestätigt worden; es wurde immer und überall klar, dass die Zahlen, welche der bestimmte Ausdruck der Lebensverhältnisse sind, das Weib in anderem Lichte erscheinen lassen, als den Mann. Eine vergleichende Anatomie und Physiologie der beiden Geschlechter lässt das, was die Statistik uns enthüllt, mit mehr oder weniger Sicherheit ahnen, und andererseits sind die Ergebnisse statistischer Forschung ausgezeichnete Hülfsmittel für Verwerthung der Resultate vergleichender Anatomie und Physiologie zu wirklicher Erkenntnis von Natur und Verhältnissen des weiblichen Geschlechts.“ Reich, Studien über die Frauen, 9. Die Kapitale erlebte im Fin de siècle ein erhebliches Bevölkerungswachstum. Zudem fanden 1890 – 1892 und 1904– 1906 zwei große Eingemeindungswellen statt.
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Kapitel 2: Vom Crescendo zur großen Bühne
Heteronormatives Motivgruppenschema der Stadt Wien (Stand 1892) Hauptkategorien
Unterkategorien
Langwierige oder unheilbare Krankheit
Nervenleiden und Morphinismus Sonstige „Anfall von Geistesstörung“ Sonstige
Geistesstörung Trunksucht Liebesgram Kränkung Furcht vor Schande oder Strafe
Unlust zum Militärdienst, Furcht vor Assentierung Stellenverlust
Über den Tod eines nahen Angehörigen Ohne nähere Angabe Strafe Fehltritt (Schwangerschaft) Schlechte Fortgangsclassen
Dienstesentlassung oder Furcht vor derselben
Erwerbslosigkeit Schlechter Geschäftsgang und missliche Vermögens-Verhältnisse Missliche Familienverhältnisse „Lebensüberdruß“ Amerikanisches Duell Unbekannt Quelle: Selbstmorde im Jahre 1892 nach Art und Ursache der Selbsttödtung in Verbindung mit dem letzten Domicil und dem Sterbemonate der Selbstmörder. In: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1892. Mitteilungen des statistischen Departements des Wiener Magistrats, VI. Bewegung der Bevölkerung – D. Todesfälle (1892), 116 – 117, online unter
normalisiert werden. Ebenso ist zu vermuten, dass die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung ein vitales Interesse daran hatte, die Zuordnungsraten zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für die Motive der Arbeitslosigkeit, der Furcht vor derselben und der Not, um so dringlicheren Druck für Reformen aufzubauen. Bezüglich der erfassten Geschlechter lässt sich festhalten, dass weibliches Suizidhandeln fortan weniger in der Sphäre der psychischen Störung residierte. Es wurde vielmehr als Effekt einer gescheiterten Liebesbeziehung interpretiert. Dennoch büßten sowohl dieses Motiv als auch jenes der Arbeitslosigkeit ihre exklusive geschlechtliche Codierung ein und zwar insofern, als nun auch Männer* unter Liebesschmerz litten und Frauen* unter Arbeitslosigkeit. Es gab aber auch Kontinuitäten. Das Motiv der psychischen Störung blieb weiterhin fest in
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Frauen*hand. Das zeigt sich auch darin, dass dieser Grund von der Militärstatistik gar nicht geführt wurde. Ebenso wollte man den Männern* weiterhin keine misslichen Familienverhältnisse attribuieren. Auch wenn arbeitslose und notleidende Frauen* fortan stärker berücksichtig wurden, blieb Erwerbslosigkeit das männliche Leiden schlechthin. Die skizzierten Verschiebungen spiegeln einen reziproken Prozess. Mit Geschlecht waren auch die Skripte rund um suizidales Verhalten fluide geworden und vice versa. Das betraf nicht nur das heterosexistische Paradigma, sondern auch das heteronormale. Während sich die Frauen* emanzipierten, ‚entdeckten‘ die Männer* ihre spürenden Qualitäten und beide neu greifbar gewordene Lebens- und Sexualformen. Wie bereits mehrfach betont, bildeten heterosexuelle Männlichkeiten die Norm im Suiziddiskurs. Mit den sozioökonomischen Verwerfungen rückten auch die männlichen Arbeiter, allen voran der von Ausbeutung bedrohte Industriearbeiter mit Familie, in den Fokus. Auch hier wurde die heteronormative Geschlechtermatrix nicht aufgegeben und rahmte ganz klar die sozialdemokratische Rede. Dies lässt sich anhand einer Arbeit über Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich gut nachvollziehen. Sie war 1894 von der sozialdemokratische Gallionsfigur Karl Renner (Pseudonym T. W. Teifen) vorgelegt worden. Darin skizzierte er das typische Schicksal eines mittellosen Familienvaters, der sich verzweifelt bemühte, wieder erwerbstätig zu werden.⁵⁵⁹ Laut Renner akzeptierte der Arbeitslose „die tiefsten Demüthigungen“, um an Geld zu kommen.⁵⁶⁰ Derart schien es nur konsequent, dass sich das Herz des Arbeitslosen „mit bitterem Grimm und tödtlichem Haß“ füllte und „seine Willenskraft“ schwand.⁵⁶¹ In dieser trostlosen Lage kippte dann das ganze Individuum und eine „physische Veränderung im Gehirn“ würde schließlich das suizidale Begehren hervorrufen.⁵⁶² Offensichtlich kannte und verwertete der Politiker neueste neurologische Erkenntnisse. Allerdings drehte er die Kausalität um: Nicht die gehirnliche Mutation war ursächlich, sondern das soziale Leid. Erst dieses erzeugte die Vulnerabilität. Vor diesem Hintergrund wies er auch alternative Argumente zurück, wie etwa jenes, dass suizidales Handeln den Verlust von religiösem Halt widerspiegeln solle.⁵⁶³ Soziales und suizidales Leid eng zu koppeln, half, politischen Druck aufzubauen, war doch dem Suiziddiskurs stets die Schuldfrage inhärent. Die Suizidalität von weiblichen Arbeiter*innen behandelte Renner nachrangig. Zwei Aspekte thematisierter er aber doch etwas eingehender: die in seinen
T. W. Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich (Wien 1894) 140. Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich, 139. Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich, 140. Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich, 140. Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich, 140.
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Augen fehlgeleitete Mädchenerziehung und die vulnerablen Hausangestellten. Konkret kritisierte er: „‘Den Männern gefallen‘ ist der oberste Grundsatz der modernen Mädchenerziehung, was übrigens konsequent ist; denn es handelt sich um die Existenz. Und was soll schließlich die Ethik gegen die Noth?“⁵⁶⁴ Damit spielte er auf die Konvention an, dass junge Frauen* vor allem betören und einem exklusiv männlichen Subjekt gefallen sollten. Eine eigenständige Identität konnte so nur schwer entwickelt werden. In einer ähnlichen Situation befanden sich auch die zahlreichen weiblichen Hausangestellten. Sie stellten eine besonders vulnerable Subjektgruppe dar, da der Beruf kaum reguliert war. Sie unterlagen sowohl der hausherrlichen Gewalt als auch der Polizeigerichtsbarkeit.⁵⁶⁵ Nichtsdestotrotz wurde ihr suizidales Verhalten meist auf eine gescheiterte Liebesbeziehung und die damit verlorengegangen Heiratschancen zurückgeführt.⁵⁶⁶ Renner kritisierte dieses Ausgeliefertsein und verglich es mit jenem der ebenfalls vulnerablen Soldaten: „Viele Dienstmädchen ziehen letzteren Weg vor. Der Selbstmord kommt relativ am häufigsten unter ihnen vor … Erwägt man, daß die nächsthöchste Selbstmordziffer die Soldaten aufweisen, so liegt die Annahme nahe, daß auch die Beschränkung der individuellen Freiheit ein wichtiges Motiv des Selbstmordes ist.“⁵⁶⁷
Die sozialdemokratische Presse beschäftigte sich wiederholt mit den suizidalen Hausangestellten.⁵⁶⁸ Die detailreichen Schilderungen dienten dazu, scharfe Klage gegen die vermuteten Missstände zu führen,⁵⁶⁹ würden doch die bürgerlichen
Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich, 149. Michaela Maria Hintermayr, Diskurs über Suizide und Suizidversuche von Hausgehilfinnen in Wien (Unveröffentl. geisteswi. Diplomarbeit Universität Wien, Wien 2010). Michaela Maria Hintermayr, „… die ‚Liebeʻ bedeutet der Hausgehilfin also tatsächlich mehr …“ Das Motiv der „Unglücklichen Liebe“ im Suiziddiskurs über die Wiener Hausgehilfinnen 1925 – 1933/1934. In: ÖGL 57/2 (2013) 159 – 169. Von Frauen* wurde allgemein gefordert, in ihren Liebesbeziehungen aufzugehen. Es galt, sich auf das männliche Gegenüber einzustellen und sich ihm zu unterwerfen. Solcherart wurden Abhängigkeiten erzeugt, die das Scheitern einer Partnerschaft extrem schmerzhaft und auch bedrohlich machten. Teifen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Oesterreich, 149. Im Jahr 1890 waren in Wien 86.486 Dienstmädchen gezählt worden. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 304– 305. Es arbeitete also jede achte Frau der Hauptstadt in diesem Sektor. Beinahe alle Dienstbot*innen waren weiblich und kamen vorwiegend aus den Provinzen oder dem Ausland. Der Großteil von ihnen war unter 30 Jahre alt. E. K., Zur Dienstbotenfrage, Arbeiterinnen-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für Frauen und Mädchen, 25. Jänner 1900, Jahrgang 9, Heft 3, 4– 5, hier 4. E. K., Zur Dienstbotenfrage, Arbeiterinnen-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für Frauen und Mädchen, 25. Jänner 1900, Jahrgang 9, Heft 3, 4– 5, hier 4. Nichtsdestotrotz wurden die Nöte
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Haushalte ihre Angestellten nach Kräften ausbeuten und manipulieren, indem sie ihnen die Gesundheit raubten und ihre Unerfahrenheit ausnutzten. Die sozialdemokratischen Medien argumentierten auch offen biopolitisch. Und so behaupteten sie, dass die Bourgeoisie „dem Volke einen großen Perzentsatz seiner besten und gesündesten Frauen“ nimmt, um sie dann im Alter unversorgt auf die Straße zu stellen und der Verzweiflung anheimfallen zu lassen.⁵⁷⁰ Im Bürgertum stieß man sich dagegen an früheren Angestellten, die nun Geschlechtsverkehr gegen Geld anboten, vagabundierten oder mehrere ledige Kinder hatten. Auch die ständig drohende Gefahr der sexuellen Belästigung wurde den potentiellen Opfern angelastet. Die Suizidthematik war ähnlich missliebig, daher wurde sie meist nur verklausuliert adressiert und auf einem Fehlverhalten des Gegenübers beharrt. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass die Problematik „eine Anklage gegen die Hausfrauen in sich birgt“.⁵⁷¹ Daher sollten sich diese empathisch, mild und nachsichtig geben.⁵⁷² Dies würde den sozial Schwächeren gebühren und auch nicht schwerfallen, da darin „ja die schönste Aufgabe der Frau“ liegt.⁵⁷³
der Dienstmädchen, wie jene der Frauen* allgemein, als Nebenwidersprüche verhandelt. Ähnlich wurde die Gesundheits- bzw. Hygienefrage betrachtet. Das Problem würde sich lösen, wenn erst der Sozialismus voll umfänglich durchgesetzt sei. Gabriella Hauch, Frauen bewegen Politik. Österreich 1848 – 1938 (Innsbruck u. a. 2009) 83 – 104. E. K., Zur Dienstbotenfrage, Arbeiterinnen-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für Frauen und Mädchen, 25. Jänner 1900, Jahrgang 9, Heft 3, 4– 5, hier 4. Frauen und Dienstmädchen, Wiener Hausfrauen-Zeitung. Organ des Wiener HausfrauenVereines, 16. Jg., Nr. 34, 24. 8.1890, 290 – 291, hier 290. Das Blatt fungierte als Organ des Wiener Hausfrauen-Vereines, der 1875 von Johanna Meynert, Ottilie Bond und Adolf Taussig als Reaktion auf die Wirtschaftskrise von 1873 und die Verarmung des Mittelstandes gegründet worden war. Adolf Taussig stand dem von 1875 bis 1914 existierenden Blatt als Chefredakteur vor und trat auch als sein Eigentümer auf. Der zwei- bis dreitausend Mitglieder zählende Wiener Hausfrauen-Verein versuchte, die Inflation durch eigene Konsumvereine zu bremsen und eine Ausspeisung für verarmte Frauen* zu etablieren. Darüber hinaus bot der Verein eine kostenlose Stellenvermittlung und eine Prämienkasse für Dienstmädchen sowie eine Plattform zum Verkauf von Handarbeiten. Die den konservativ-bürgerlichen, aber auch sozialreformerischen Idealen verpflichtete Organisation stand für früheste Vereinstätigkeit von Frauen* und zählte zu den Gründungsmitgliedern des Bundes österreichischer Frauenvereine (1902). Die erste Vereinspräsidentin, Johanna Meynert, engagierte sich stark im sozialen Bereich und unterstützte nicht nur die Forderung nach sogenannten höheren Töchterschulen, sondern auch jene nach einer Dienstbotenbildungsstätte. Diese wurde 1883 Realität und später in die Anstalt für Frauenhausindustrie (1909) überführt. Frauen und Dienstmädchen, Wiener Hausfrauen-Zeitung. Organ des Wiener HausfrauenVereines, 16. Jg., Nr. 34, 24. 8.1890, 290 – 291, hier 291.
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Bedrängtes Bürgertum und adelige Vertuschungen Die Oesterreichische Kronen-Zeitung berichtete häufig – und genüsslich – wenn das Bürgertum an den selbst auferlegten Werten und Normen scheiterte, beharrte es doch in der Regel darauf, dass suizidales Verhalten ein moralisches Versagen darstellt.⁵⁷⁴ Daher ließ sich bürgerliche Suizidalität gut skandalisieren, was besonders ein Boulevardmedium interessieren musste. Gustav Davis, ein früherer k. u. k. Offizier, hatte die Oesterreichische Kronen-Zeitung 1900 gegründet.⁵⁷⁵ Er reagierte damit auf neue Chancen durch den Wegfall des sogenannten Zeitungsstempels, der eine nicht unerhebliche Pressesteuer dargestellt hatte. Ihre Gründung reflektierte aber auch eine internationale Entwicklung hin zum kleinformatigen, stärker den Leser*inneninteressen nachspürenden Massenblatt. Gleichzeitig wurde in der Endphase der Monarchie das Zeitungslesen demokratisiert und die breite Bevölkerung in die politische Öffentlichkeit eingegliedert.⁵⁷⁶ Die Kronen-Zeitung traf offenbar einen Nerv und dominierte nach nur wenigen Jahren den österreichischen Pressemarkt.⁵⁷⁷ Die Zeitung berichtete von Anbeginn intensiv über suizidales Handeln. Alleine im Jänner 1900 behandelte sie mehr als zwanzig Fälle in eigenständigen
Michaela Maria Hintermayr, Diskurs über Suizide und Suizidversuche von Hausgehilfinnen in Wien (Unveröffentl. geisteswi. Diplomarbeit Universität Wien, Wien 2010). Der Name Kronen-Zeitung bezog sich auf den Preis für das Monatsabonnement. Gustav Davis hatte als ständiger Mitarbeiter der Presse sowie als zentrale Figur der kaisertreuen Soldatenzeitschrift Reichswehr (1889 bis 1904) journalistische Erfahrung sammeln können. Die Reichswehr bildete einen bedeutenden Personal-Pool für die Österreichische Kronen-Zeitung. Der Chefredakteur, Richard Eisenmenger, war ein früherer Kollege von Davis bei der Presse. Gabriele Melischek, Josef Seethaler, Entwicklung und literarische Vermittlungsfunktion der Tagespresse in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. In: Norbert Bachleitern, Andrea Seidler (Hg.), Zur Medialisierung gesellschaftlicher Kommunikation in Österreich und Ungarn. Studien zur Presse im 18. und 19. Jahrhundert (Schriftenreihen für die Forschungsbereiche der Abteilung Finno-Ugristik an der Universität Wien 4, Wien 2007) 235 – 264, hier 242. Der günstige Preis von vier Heller pro Ausgabe unterstützte den avisierten volksnahen Charakter.Von dieser günstigen Preispolitik profitierte das Blatt auch unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. 1905 verlieh sich das Blatt den Namenszusatz „illustriert“. Das Adjektiv sollte dem Publikum anzeigen, dass sich in der Zeitung besonders viele Illustrationen und Bilder fanden. Damit konnte sich das Medium von der Konkurrenz abheben. Populäre Elemente wie Fortsetzungsromane, Rätsel und Gewinnspiele sowie eine ausgeprägte Lokalberichterstattung festigten die Kund*innenbindung. Hinsichtlich der Blattlinie gab sich das Medium apolitisch, was letztendlich auf Populismus und Opportunismus hinauslief.
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Artikeln.⁵⁷⁸ Besonders interessierte sie sich für den Fall einer Erpresserbande, welche u. a. eine wohlsituierte Dame und einen Angestellten drangsaliert hatte. Sie war durch einen außerehelichen Flirt erpressbar geworden⁵⁷⁹ und er hatte Firmengelder veruntreut.⁵⁸⁰ Beide töteten sich selbst, als sie den Schweigegeldforderungen nicht mehr nachkommen konnten. Während das Blatt die Frau als leichtsinnig charakterisierte, beschrieb es den Angestellten als fleißig und tatkräftig.⁵⁸¹ Letztendlich hatten beide Grenzen überschritten, aber sein Lapsus wurde als eher verzeihlich porträtiert. Auch dem 19-jährigen Fabrikantensohn Alois Stusserger misslang die bürgerliche Selbstbezähmung. Offenbar hatte ihn eine unglückliche Liebesbeziehung dermaßen „zerstreut und nachlässig gemacht“, dass ihm eine Gehaltserhöhung verwehrt wurde.⁵⁸² Er reagierte auf diese Enttäuschung, indem er kündigte, und sich noch am gleichen Abend erschoss. Finanzielle Probleme und insbesondere der zu erwartende gesellschaftliche Abstieg interessierten das Boulevardmedium besonders,⁵⁸³ erschien doch ein solches Suizidmotiv als ‚plausibel‘ und ob der Prominenz so mancher Bankrotteure als besonders spektakulär. Vor diesem Hintergrund wurden finanzielle Probleme als das männliche Suizidmotiv schlechthin etabliert. Das mediale Verdikt über privilegierte Suizident*innen changierte zwischen unterstellter Grundlosigkeit und hämischer Genugtuung, konnte doch der bevorzugte soziale Status schnell verlorengehen. Zudem feite selbst ein begütertes Leben nicht vor Liebeskummer, Krankheit und Konflikt.⁵⁸⁴ Dies zeigte sich auch in der Berichterstattung über Alois Stusserger: „Denn ohne diese (unglückliche Liebe Anm. MH) hätte der junge
Diese Frequenz wurde mit Schwankungen bis zum Ende der Monarchie und darüber hinaus beibehalten. Im Vergleich dazu wurden im gesamten Jahr 2005 nur 54 Suizidfälle von den österreichischen Medien aufgegriffen. In Erpresserhänden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg, Nr. 359, 3. Jänner 1910, 5 – 6, hier 6. In Erpresserhänden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg, Nr. 359, 3. Jänner 1910, 5 – 6, hier 5. In Erpresserhänden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg, Nr. 359, 3. Jänner 1910, 5 – 6, hier 5. Selbstmord eines Fabrikantensohnes, Oesterreichische Kronen-Zeitung, 1. Jg., Nr. 2, 3. Jänner 1900, 7. Selbstmord eines Rennstallbesitzers. Infolge finanziellen Ruins, Illustrierte Kronen-Zeitung, 15. Jg., Nr. 5029, 3. Jänner 1914, 10. Das Ende des Defraudanten. Der Selbstmörder von der Karolinenbrücke, Illustrierte Kronen-Zeitung, 15. Jg., Nr. 5098, 9. März 1914, 8. Der Selbstmord des Oberleutnants Schmidt, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg., Nr. 3624, 1. Februar 1910, 6. Selbstmord eines Bankiers, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg., Nr. 3634, 11. Februar 1910, 6. Obwohl das Motiv des finanziellen Ruins als typisch männlich galt, wurde es in Ausnahmefällen auch Frauen* attribuiert; wie etwa im Fall der Putzereibesitzerin Anna Appel, die offenbar im Kontext von geschäftlichen Schwierigkeiten suizidal handelte: Wegen geschäftlicher Verluste, Illustrierte Kronen-Zeitung, 15. Jg., Nr. 5139, 25. April 1914, 8. Ein Liebesdrama im Hotel. Advokaturskandidat und Schneiderin, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg., Nr. 3628, 5. Februar 1910, 7.
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Mann in dem Geschäfte, in welchem er angestellt war, keinen Grund zur Unzufriedenheit gegeben und würde noch heute ein gern gesehenes, achtbares Mitglied der Gesellschaft sein.“⁵⁸⁵ Suizidales Verhalten von bürgerlichen Frauen* wurde entweder mit sozialer und sexueller Transgression oder Beziehungsverlust assoziiert.⁵⁸⁶ Hinzu kam das Motiv der psychischen Störung, wie etwa in dem Fall einer jungen zweifachen Geschäftsbesitzerin: „Ein stichhaltiger Grund liegt nicht vor, Frau Mellik war in der letzten Zeit sehr erregt und hochgradig nervös. Es dürfte ein Anfall von momentaner Sinnesverwirrung die Frau in den Tod getrieben haben.“⁵⁸⁷ Damit ließ sich das Unerklärliche erklären, war doch die Tote begütert und hatte vor ihrem Strangulationstod noch einen lustigen Nachmittag im Kaffeehaus verbracht. Die Kronen-Zeitung thematisierte Lebens- und Begehrensformen jenseits der heteronormativen Matrix nur ausgewählt. In Gerichtsreportagen und Suizidberichten war dann die Rede von perverser Veranlagung, anormaler Neigung oder dem Knabenfreund bzw. Päderasten. Hinsichtlich ‚lesbischer‘ Frauen* griff sie auf die Chiffren einer Schwärmerei oder innigen Freundschaft zurück. Über den verabredeten Suizid der Schriftstellerin Ilse Frapan mit ihrer Lebensgefährtin Emma Mandelbaum berichtete das Blatt recht sachlich: „Innige Freundschaft verband die beiden Frauen. Ihre Krankheit machte Ilse Frapan lebensüberdrüssig und in schweren Anfällen teilte sie diesen Entschluß ihrer Freundin mit. Es scheint, daß zwischen ihnen eine furchtbare Verabredung getroffen wurde.“⁵⁸⁸ Dagegen effeminierte sie einen (zwangs)geouteten Herren, der von seinem Liebhaber ermordet worden war, in schillernd-negativen Worten: „Maly, der Polizei und den Gerichten als p e r v e r s bekannt … hielt sich aber zumeist in der Küche auf, weil er k e i n w e i b l i c h e s We s e n in seiner Wohnung d u l d e t e . Seine Wirtschaft besorgte er selbst, nur ab und zu ließ er sich von j u n g e n B u r s c h e n helfen. Ein Freund glitzernden Schmuckes, hatte er in der offenen Küchenkredenz Brillantringe und andere Juwelen liegen.“⁵⁸⁹
Selbstmord eines Fabrikantensohnes, Oesterreichische Kronen-Zeitung, 1. Jg., Nr. 2, 3. Jänner 1900, 7. Selbstmordversuch einer Neuvermählten, Oesterreichische Kronen-Zeitung, 1. Jg., Nr. 59, 2. März 1900, 5 – 6. Lebensmüde, Oesterreichische Kronen-Zeitung, 1. Jg, Nr. 32, 3. Februar 1900, 6. Selbstmord im Brautkleide, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg., Nr. 3613, 21. Jänner 1910, 8. Selbstmordversuch im Brautkleide, Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. Jg., Nr. 3614, 22. Jänner 1910, 4. Selbstmord einer jungen Frau, Oesterreichische Kronen-Zeitung, 1. Jg, Nr. 14, 16. Jänner 1900, 6. Doppelselbstmord zweier Frauen, Illustrierte Kronen Zeitung, Fr, 4. Dezember 1908, Jg. 9, Nr. 3209, 4– 5, hier 4. Der 17jährige Raubmörder, Illustrierte Kronen-Zeitung, 19. Jg., Nr. 6650, 10. Juni 1918, 4– 5.
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In einem anderen Fall zeigte sich das Blatt zurückhaltender. Dabei handelte sich um einen 46-Jährigen, der sich in seinem Kabinett suizidiert hatte. Offenbar war es der Kronen-Zeitung gelungen, sich den Abschiedsbrief zu verschaffen. Daher konnte sie folgendes Motiv für die Tat benennen: „Steininger war pervers veranlagt und hat ein Schreiben zurückgelassen, in dem er als Motiv der Tat R e u e darüber bezeichnet, daß er gegen seinen Freund fälschlich eine Anzeige wegen eines Sittlichkeitsdeliktes erstattet hat.“⁵⁹⁰ Das Kleinbürgertum war durch die ökonomischen Krisen, Bankenkrachs und Teuerungswellen besonders in seinem Status gefährdet. Fokussiert wird hierbei, wie vulnerable Männer* beschrieben und welche Erwartungen an die heteronormative Familie formuliert wurden. Die Wiener Hausfrauen-Zeitung berichtete wiederkehrend, vermied es aber, suizidales Verhalten direkt anzusprechen und wählte stattdessen einen metaphorischen Umweg. Ein diesbezüglicher Artikel erteilte folgenden Rat an Frauen*: „Willst du im Leben bestehen und ein zufriedenes Dasein führen, so richte dich auf Stürme und Kämpfe ein – durch Nacht zum Licht!“⁵⁹¹ Vor diesem Hintergrund sollten sie sich bilden und praktische Fähigkeiten erwerben, ohne aber die aktive Rolle zu verinnerlichen. Bemerkenswerterweise warnte es auch vor den Kosten von hegemonialer und komplizenhafter Männlichkeit recht deutlich: „Er verschweigt ihr, daß er mit Sorgen kämpft und würde doch so glücklich sein, wenn sie von diesen wissen, diese diese teilen würde. Wie würde es ihn beglücken, wenn er ihr Verständnis fände, mit ihr besprechen und überlegen könnte, wie das Lebensschiff unbeschadet und ungefährdet durch die verschiedenen, oft recht drohenden Klippen gesteuert werden könnte.“⁵⁹²
Tatsächlich war Vulnerabilität schwierig mit privilegierter Männlichkeit zu vereinbaren, sollten doch Ehemänner* ihre Familien beschützen und nicht umgekehrt. Diese Einseitigkeit, die zugleich auch Macht und Entscheidungshoheit bedeutete, hatte ihren Preis, der durch bedingungslose emotionale Zuwendung im Privaten gemildert werden sollte. Er wüsste dann nämlich, „daß sein Heim für ihn ständig der Ruhehafen ist, in welchen er sich zur Erholung und Kräftigung zurückziehen kann, wenn die Stürme des Lebens seine Kräfte aufgerieben und seine
Erhängt und erschossen, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 10, Nr. 3450, 7. August 1909, 7. R. H. Sch., Die Frau und der Kampf um das Dasein,Wiener Hausfrauen-Zeitung, 16. Jg., Nr. 15, 13.4.1890, 132– 133, hier 132. F. L., In Freud’ und Leid, bis daß der Tod euch scheide, Wiener-Hausfrauen-Zeitung, 40. Jg., Nr. 13, 29. 3.1914, 160.
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starken Arme ermattet haben“.⁵⁹³ Das hier verwendete Kollektivsymbol des Schiffes illustriert, dass das Leben fragil war und einer großen Herausforderung, der Reise auf offener See, gleichkam. Für ein gelingendes Leben mussten Klippen umschifft und Stürmen getrotzt werden, bis dann der temporäre Hafen – in diesem Fall das sakrosankte Familienleben – erreicht und dort neue Kraft getankt werden konnte.⁵⁹⁴ Heterosexistische Beziehungsdynamik und Geschlechterordnung spielten auch im wohl prominentesten Homizid-Suizid-Fall der k. u. k. Monarchie eine bedeutende Rolle; in jenem von Kronprinz Rudolf und Mary von Vetsera.⁵⁹⁵ Ihre Involvierung wurde bis zum Ende der Monarchie verheimlicht und jede Presseberichterstattung unterdrückt.⁵⁹⁶ Hinsichtlich Rudolfs bestand das Kaiserhaus auf geistiger Verwirrung, um ihm ein kirchliches Begräbnis zu ermöglichen. In der Wiener Zeitung wurde ein gerichtsärztliches Gutachten publiziert, welches diese These stützen sollte:
F. L., In Freud’ und Leid, bis daß der Tod euch scheide, Wiener-Hausfrauen-Zeitung, 40. Jg., Nr. 13, 29. 3.1914, 160. Beim Hafen handelte es sich um eines der zentralen Symbole des industriellen Zeitalters. Es verwies auf die wichtigen Pole von Geschwindigkeit und Produktivität versus Ruhe und Müßiggang. Ebenfalls interessant sind die Überlegungen Marc Augés zu Transiträumen, die für ihn sogenannte Nicht-Orte darstellen. Sie dienen dazu, das erlebte Übermaß umzuschlagen und zu begrenzen. Marc Augé, Non-places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity (London 1995). Bemerkenswert ist auch, dass in vielen Kulturen das Wasser, das Meer, aber auch die Schiffe und die Sirenen als weiblich gelten. Daran lässt sich die Ambivalenz des Weiblichen – göttlich und verführerisch, übermächtig, aber auch schutzspendend – bestens ablesen. In der Tiefenpsychologie wird eine psychische Krise als Nachtmeerfahrt beschrieben, die auf den Abstieg, die Neykia, des ägyptischen Sonnengottes in die Unterwelt anspielt. Rosmarie Daniel, „Nachtmeerfahrt“. Tiefenpsychologische Reflexionen über Höllenfahrten. In: Markwart Herzog (Hg)., HöllenFahrten. Geschichte und Aktualität eines Mythos (Stuttgart 2006) 247– 264. Das ähnliche Motiv des Ausgesetztwerdens verfügt ebenfalls über eine lange Tradition. Es reicht in ägyptische und mesopotamische Zeit zurück. Der Fall von Mary Vetsera gilt auch als der Prototyp des „Missing White Woman Syndrome“. Damit ist die obsessive mediale Beachtung gemeint, die weißen vermissten Mädchen und Frauen zuteilwird. Sind die Verschwundenen hingegen nicht-weiß, werden sie häufig übergangen oder weniger stark fokussiert. Dieser Bias ist aber nicht nur rassistisch, sondern auch sexistisch. Letzteres dadurch, als die Medien nicht-weiße vermisste Männer generell ignorieren. Regis A. DeSilva, End-of-Life Legislation in the United States and the Semiotics of the Female Body. In: Sarah Earle et al. (Eds.), Death and Dying: A Reader (London et al. 2009) 25 – 34, here 30. Zach Sommers, Missing White Woman Syndrome: An Empirical Analysis of Race and Gender Disparities in Online News Coverage of Missing Persons. In: Journal of Criminal Law and Criminology 106/2/4 (Spring 2016) 275 – 314. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 150.
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„Die vorzeitige Verwachsung der Pfeil- und Kranznaht, die auffällige Tiefe der Schädelgrube und der sogenannten ‚fingerförmigen Eindrücke‘ an der inneren Fläche der Schädelknochen, die deutliche Abflachung der Hirnwindungen und die Erweiterung der Hirnkammer sind pathologische Befunde, welche erfahrungsgemäß mit abnormen Geisteszuständen einherzugehen pflegen und daher zur Annahme berechtigen, daß die That in einem Zustande von Geistesverwirrung geschehen ist.“⁵⁹⁷
In den späteren Berichten wurde Vetsera vor allem als tragische Figur, als passives Anhängsel oder gar als von ihrem Onkel gerächtes, gefallenes Mädchen beschrieben.⁵⁹⁸ Sie galt dem weiblichen Stereotyp entsprechend von Rudolf überredet und ohne aktiven Anteil. Aus den 2015 gefundenen Abschiedsbriefen an ihre Mutter, ihre Schwester sowie ihren Bruder geht hervor, dass sie eine solche Lesart vorausgeahnt hatte. Sie verwehrte sich darin gegen eine solche Interpretation und betonte, „ich habe alles aus freiem Willen und (die Vorkehrungen, MH) ohne Hilfe gethan“.⁵⁹⁹ Planungen und Vorkehrungen hatte sie zahlreiche getroffen; wer ihren Schmuck bekommen sollte, dass sie nächsten Samstag nicht singen und ebensowenig eine Verabredung im Spatenbräu einhalten konnte. Des Weiteren bestellte sie an verschiedene Leute Grüße und bat um ein gemeinsames Grab am Friedhof von Alland. Vetsera wollte die Wendung als gewünscht verstanden wissen, daher betonte sie in ihren Briefen die gemeinschaftlich erzielte Todesübereinkunft: „Wir gehen beide selig in dass (sic!) ungewisse Jenseits.“⁶⁰⁰ An zwei weiteren Stellen unterstrich sie den Wir-Charakter und formulierte: „in Übereinstimmung mit Ihm“⁶⁰¹ und „so gehe ich mit Ihm“⁶⁰². Im selben Brief betonte sie
Eduard Hofmann, Hanns Kundrat, Gutachten, Wiener Zeitung, Nr. 28, 2. 2.1889, 1. „Gerüchteweise verlautete, der Kronprinz sei durch die Hand eines Onkels der Mary Vetsera gefallen, der die Schande seiner Nichte rächen wollte.“ Emil Szittya, Selbstmörder. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte aller Zeiten und Völker (Nachdruck der Ausgabe von 1925, Wien-München 1985) 259. Ebenso auf Geschlechterstereotypen beruht das Verdikt, dass sich Rudolf „des verliebten Mädchens bediente, um sein Ziel, den Tod, zu erreichen“ und dass dieser Umstand „bis heute das Ansehen des Kronprinzen in der Geschichte“ verdunkelt. Brigitte Hamann, Der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf nach der historischen Quellenlage. In: Walter Pöldinger, Wolfgang Wagner (Hg.), Aggression, Selbstaggression, Familie und Gesellschaft. Das Mayerling-Symposium (Heidelberg 1989) 2– 10, hier 10. Mary von Vetsera, Brief an ihre Schwester Johanna Bylandt-Rheydt, 29.1.1889, Sig. Österr. Nationalbibliothek Autogr. 1515/3 – 1 Han, online unter , 8.9. 2016. Mary von Vetsera, Brief an ihre Schwester Johanna Bylandt-Rheydt, 29.1.1889, Sig. Österr. Nationalbibliothek Autogr. 1515/3 – 1 Han, online unter , 8.9. 2016. Mary von Vetsera, Brief an ihre Mutter Helene von Vetsera, Sig. Österr. Nationalbibliothek Autogr. 1515/2– 1 Han, online unter , 8.9. 2016.
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auch, dass sie fidel hinübergeht und es daher keinen Grund für Tränen gibt. Im Brief an ihre Mutter beschrieb sie ihre Hoffnungen folgendermaßen: „Ich bin glücklicher im Tod als im Leben.“⁶⁰³ Ihr Sehnen nach dem eigenen Tod mag zwar die negativen Aspekte suizidalen Handelns ausgeblendet haben; dennoch geht aus diesen Zeilen hervor, dass sie ihren Entschluss weder als passiv-überredet, noch als zögerlich-ängstlich verstanden wissen wollte. Dies entspricht auch dem Charakter suizidalen Verhaltens, das letztendlich aktiv und zielgerichtet abläuft.⁶⁰⁴ Daher können Überlebende von Suizidversuchen ihr Handeln auch in erzählender Form erläutern.⁶⁰⁵ Zentral dabei ist, dass das bisherige Lebensnarrativ abgelehnt wird. Suizidales Handeln stellt daher einen Versuch dar, der Erzählung eine neue Wendung zu geben. Der eigene Tod verkörpert dabei nicht zwangsläufig das Ziel, sondern vielmehr den akzeptierten Preis, um ein neues Narrativ beginnen zu können.
Fazit Im untersuchten Zeitraum setzten auch die Glaubensgemeinschaften verstärkt auf Geschlechterstereotypen, um suizidales Verhalten besser verstehen zu können.⁶⁰⁶ Daran zeigt sich, dass die neuen kulturellen Skripte rund um suizidales Verhalten auch die Glaubensgemeinschaften erreichten und von ihnen aufgenommen
Mary von Vetsera, Brief an ihre Schwester Johanna Bylandt-Rheydt, 29.1.1889, Sig. Österr. Nationalbibliothek Autogr. 1515/3 – 1 Han, online unter , 8.9. 2016. Mary von Vetsera, Brief an ihre Schwester Johanna Bylandt-Rheydt, 29.1.1889, Sig. Österr. Nationalbibliothek Autogr. 1515/3 – 1 Han, online unter , 8.9. 2016. Laut Konrad Michel steht fest, „dass Handlungen Ausdruck zielorientierter Systeme sind, wobei Suizid als Ziel entstehen kann, wenn wichtige Identitätsziele bedroht sind und das Selbst als unerträglich erlebt wird.“ Konrad Michel, Depression ist eine Krankheit, Suizid eine Handlung. In: Existenzanalyse 21/2 (2004) 58 – 62, hier 58, online unter < http://www.gle.at/uploads/ media/EA_2004-2.pdf> 7.7. 2010. Konrad Michel, Der Arzt und der suizidale Patient. Teil 2: Praktische Aspekte. In: Schweizerisches Medizinisches Forum 31 (2002) 707– 734, hier 730, online unter < http://www.medicalfo rum.ch/pdf/pdf_d/2002/2002-31/2002-31-119.PDF> 24.5. 2010. Im bürgerlichen Zeitalter wandten sich die Glaubensgemeinschaften den Frauen* zu, da ihnen eine starke Religiosität attestiert wurde. In der Frühen Neuzeit galten sie in Glaubensdingen noch als unzuverlässig. Friederike Benthaus-Apel, Christel Gärtner, Kornelia Sammet, Einleitung. In: Kornelia Sammet et al. (Hg.), Religion und Geschlechterordnungen (Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2017) 7– 33, hier 15.
Fazit
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wurden. Zu einer eigenständigen, über das Reaktive hinausgehenden Theoriebildung waren die Kirchen kaum mehr fähig. Zu weit fortgeschritten waren die liberale Agenda und der Fokus auf das vulnerable Individuum und Gemeinwesen. Selbst eine religiöse Lebensführung schien immer weniger vor suizidalem Verhalten zu schützen, nahm doch auch die Suizidalität der als kirchennah bekannten Frauen* zu. Die von den Kirchenmännern* geforderte religiöse Rückbesinnung traf auf eine ungünstige Dynamik. Die neue Gesellschaftsordnung war von der nationalen Elite, den bürgerlichen Männern*, gewollt und nahm weiter an Fahrt auf. Sie als die zentralen Promotoren des neuen kapitalistischen und auf individuelle Autonomie abzielenden Systems bloßzustellen, wäre einem Erdbeben gleichgekommen. Vor diesem Hintergrund wurde die Kritik gebündelt und besonders an jüdische, homosexuelle und nervöse Männer* adressiert und mit anti-semitischen Ressentiments aufgeladen. Diese rassistischen, heteronormativen und psychopathologischen Ausschlüsse dienten letztendlich dazu, die Verantwortung zu verschleiern und den Diskurs zu entlasten. Die ausgeprägte männliche Vulnerabilität erzeugte Spannung zwischen der negativen Bewertung des Suizids und der heteronormativen Geschlechterordnung. Suizidales Handeln blieb auch im Fin de Siècle stigmatisiert. Gewandelt hatte sich nur die Begründung dafür. Das religiös-kosmologische Paradigma war durch das moralisch-pathologische ersetzt worden. Letzteres klassifizierte suizidales Verhalten entweder als „geisteskrank“ oder als sozial deviant. Der Zuschlag der Vulnerabilität an marginalisierte und untergeordnete Männlichkeiten entlastete nicht ausreichend, waren doch ‚beste‘ bürgerliche Familienväter genauso betroffen. Die heterosexistische Geschlechterordnung zeigte sich aber flexibel genug, um günstigere Deutungen zuzulassen. Unter dieser Prämisse wurden hegemoniale bzw. komplizenhafte Männlichkeit und ‚gewichtige‘ Suizidursachen gekoppelt. Die Betroffenen kämpften gegen finanzielle Miseren, litten unter größten Belastungen und opferten sich für ihre Familien. Vor diesem Hintergrund wurde ihr suizidales Verhalten als plausibel und global krisenindizierend gefasst. Demgegenüber galten Suizide von Frauen* als weniger ernst und als das Resultat einer Transgression. Mit letzterem waren ein Eindringen in männliche Territorien, der Verlust der heterosexuellen Integrität und emanzipative Bestrebungen gemeint. Zugleich wurde die vermeintliche weibliche Resilienz auf eine geschützte Umgebung, ein Korsett aus engen sozialen Normen sowie eine archaisch-biologische Immunität zurückgeführt. Diese Argumentation galt vor allem für bürgerliche Frauen*. Ihnen gegenüber wurde die weibliche Arbeiterinnenschaft nachgereiht, da diese an moralischen Mängeln, ihrer Berufstätigkeit und an unglücklichen Liebschaften zu leiden schien. Die Männer* aus dieser Schicht galten als die primär Notleidenden der sozialen Misere, aber auch als anfällig für Alkoholismus und Amoral. Auch wenn weibliche Leidensfähigkeit glorifiziert wur-
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de, referenzierte man damit keineswegs einem unabhängigen Subjekt, sondern rief eine idealisierte Quasi-Heilige an. Solcherart stellte die geringere Vulnerabilität auch keine persönlich errungene Leistung dar, sondern schien einfach eine Tatsache zu sein. Mit der skizzierten Interpretation konnte die Reibungsfläche mit den Statistiken und ihren potentiell subversiven Aussagen reduziert werden. Derart mussten sie auch nicht als aussagekräftige Zahlengebäude zurückgewiesen werden. Durch selektive Benutzung und Interpretation wurde vielmehr die vollendete, männliche Selbsttötung zum Normalfall erhoben und damit eine Tat, welche noch immer das souveräne Individuum fokussierte. Beschränkt wurde dieses Potenzial durch die pathologische Aufladung des selbstgegebenen Todes. Solcherart wurde der luzide Aspekt reduziert und der störungsbezogene privilegiert. Nichtsdestotrotz war die politisch-öffentliche Konnotation der Selbstbeschädigung am Ende des 19. Jahrhunderts noch ausgeprägt genug, um von den Suffragetten und Sozialist*innen genutzt zu werden. Insbesondere die Sozialdemokratie sollte das Thema des selbstgewählten Sterbens in den nächsten Jahrzehnten besetzen. Mittels der beständigen Hinweise auf die vielen suizidalen Handlungen in der Arbeiter*innenschaft machte sie diese produktiv und erhöhte den politischen Druck. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass diese Instrumentalisierung beim devianten Charakter suizidalen Verhaltens ansetzte und ihn bestätigte. Trotz respektierter soziologischer Erklärungsansätze lag das größere Potenzial bei den neurologischen, psychiatrischen und psychologischen Disziplinen, da sie besser auf das Individuum zugreifen konnten. Die Gehirne, Nerven und Geschlechtsorgane von suizidalen Menschen gerieten so unter den Verdacht einer prädisponierenden Anfälligkeit. Und damit schloss sich der Kreis und die zweite Form der Bio-Macht, die um den Leib als Apparatur zirkulierte, trat zu Tage.⁶⁰⁷ Die Medizinisierung suizidalen Verhaltens rückte deviante Lebensstile und Leiber in den Fokus und suchte es so intelligibel zu machen. Das dabei angelegte heteronormative Geschlechterwissen war durch die Kategorien der Differenz mitkonstituiert worden. Insbesondere rassistisch-eugenische, ethnische, religiös-konfessionelle sowie klassen- und altersbezogene Dimensionen spielten hier eine Rolle. Die Interventionen der leibfokussierten Bio-Macht zielten auf den einzelnen Menschen, um ihn für die liberal-kapitalistische Gesellschaft zu optimieren und seine Produktivität zu steigern. Daran zeigt sich auch, dass sich die Gewichtung der beiden philosophischen Grundfragen „Wie gelingt ein gutes Leben?“ und „Welchen Wert hat das menschliche Leben“ deutlich zu Ungunsten der ersten verschob. Als zentraler diskursiver Knotenpunkt kristallisierte sich suizidales
Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983) 135.
Fazit
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Verhalten heraus. Zudem betraten neue Akteur*innen die politische Bühne. Die vom unregulierten Kapitalismus bedrängten Arbeiter*innen hatten sich in der sozialdemokratischen Bewegung organisiert. Nicht nur ihre schiere Anzahl schreckte die bürgerliche Elite auf, sondern auch die vermutete Devianz, Amoral und latente Aggression. Gleichzeitig forderten homo- und bisexuelle sowie „transvestitische“ Lebens- und Sexualformen das heteronormative Paradigma heraus. Mit „transvestitisch“ waren Cross-Dressing, Passing und künstlerische Darbietungen, aber auch transgeschlechtliche Personen gemeint. Nicht zuletzt setzten die verschiedenen Frauen*bewegungen die Geschlechterordnung unter Druck. Als Phänomen einer krisenhaften Zeit verhandelt, schien es neuer wissenschaftlicher Disziplinen zu bedürfen, um das Problem verstehen und erklären zu können. Noch mehr drängte die Entwicklung praktischer und praktikabler Maßnahmen, Interventionen und Präventionsregime. Die sozialhygienischen/medizinischen, eugenischen und rasse(n)biologischen Bewegungen konnten dieses Begehren erfüllen und erlebten daher regen Zuspruch über alle politischen Lager hinweg. Nie schien die positive Beeinflussung der von Degeneration bedrohten Bevölkerung notwendiger gewesen zu sein. Michel Foucault argumentierte, dass die Sexualität das zentrale Scharnier darstellte, welches sowohl Bevölkerungen als auch das einzelne Individuum erfasste, organisierte und reglementierte.⁶⁰⁸ Dieser Fokus privilegierte offensichtlich den Übergang zur positiven Bewirtschaftung des Lebens. Aber was war mit dem Tod und dem Sterben? Wurden diese tatsächlich nicht (mehr) verwaltet und gesteuert? Die enorme Aufmerksamkeit für selbstgewähltes Sterben zeigt, dass dies keineswegs einen privaten Akt darstellte. Daher setzten die Präventionsregime auch an beiden Polen der Biopolitik an: beim Individuum, das aufgerufen wurde, sich gut um das Selbst zu sorgen, um so die als leidvoll besetzten suizidalen Ideen und Impulse zu minimieren. Die Technologien des Selbst schienen Möglichkeiten zu bieten, damit besser umgehen zu können oder sie idealerweise zu vermeiden. Gleichzeitig wurde suizidales Handeln als volkswirtschaftlicher Schaden verhandelt, der den kapitalistischen Kreislauf störte. Daher zielten Präventionsregime auch darauf, suizidale Menschen möglichst rasch wieder in das Erwerbsleben einzugliedern.⁶⁰⁹ Suizident*innen gefährdeten aber auch den letzten Rest des souveränen Subjekts, indem sie die Kontrolle aufgaben. Daher war es nur folgerichtig, dass diese Handlung pathologisiert und als teilweise dem Bewusstsein entzogen verankert wurde. In der Folge wurden suizidalen Personen
Foucault, Der Wille zum Wissen, 159 – 190. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Frankfurt/Main 2002).
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ein erkranktes Gehirn, schädliche reproduktive Prozesse, pathologische Konstitutionen usw. unterstellt. Derart ließ sich das Primat des – männlichen – regelhaften und kontrollierten Leibes bestätigten. Vor diesem Hintergrund wird auch evident, warum suizidales Verhalten von hegemonialen Männlichkeiten enorm verstörte und als Indikator der gesellschaftlichen Krise figurierte. Die These einer biologischen Fragilität von Frauen* – besonders wenn sie pubertierten, menstruierten, schwanger oder (post‐)klimakteriell waren – verbreitete sich rasch und hält sich hartnäckig bis heute. Demgegenüber erlebte das Theorem einer somatischen Vulnerabilität von Männern* eine divergierende, nicht an die reproduktiven Organe gebundene Karriere. Die bei ihnen identifizierten Bildungsfehler, Konstitutionsanomalien und Abnützungserscheinungen wurden nicht geschlechtlich markiert, was vermutlich auch damit zusammenhing, dass diese analog bei Frauen* zu finden waren. Obwohl häufig bekannt, wurde der soziale Hintergrund der sezierten Suizidleichen meist ausgeblendet. Und damit blieben auch die interdependenten Wechselwirkungen von Armut, miserablen hygienischen Verhältnissen sowie Ernährungsmängeln unterbelichtet. Die Somatisierung suizidalen Verhaltens gewann in den letzten Jahrzehnten wieder an Terrain; und zwar über die Thesen einer biologischen Fundierung von psychischen Störungen sowie einer ererbten Suiziddisposition. Im Zuge der rezenten Hinwendung zum Körper wird noch tiefer in ihn eingedrungen und der Fokus auf die Neurotransmitter und die Gene gelegt. Auch hier wird wieder die Prämisse einer größtmöglichen Objektivität betont und unter der Annahme eines vordiskursiven Leibes agiert. Im Fin de siècle wurde der Suiziddiskurs über heterosexistische und -normale Ausschlüsse geführt. Auch die Bewertung von Suizidversuchen als weniger ernste oder als fingierte, erpresserische Geste erzeugte diese Wirkung. Das selbstgewählte Sterben von privilegierten oder zumindest so empfundenen Gruppen verstörte zutiefst. Suizidales Verhalten von bürgerlichen Frauen* irritierte alleine schon deswegen, weil die ihnen attribuierte Sphäre mit familiärer Wärme, weltabgewandter Ruhe und natürlich-kreatürlicher Ordnung assoziierte wurde. Indem emanzipierte, ‚lesbische‘ und berufstätige Frauen*, dieses Gefüge in Frage stellten, schienen sie ein suizidales Einfallstor geschaffen zu haben. Auch liberale Jüd*innen sowie homosexuelle und nervöse Männer* wurden diesbezüglich verdächtigt. Diese Individuen würden nicht nur sich selbst gefährden, sondern die ganze Gesellschaft. Für den umgekehrten Gedanken, dass das heteronormative Korsett, rassistische Abwertungen und soziale Ausschlüsse vulnerabel machten, gab es kaum Platz. Suizidales Verhalten von marginalisierten Gruppen verstörte auch noch aus anderen Gründen, da diese unvollkommenen Subjekte über suizidale Handlungen ihre Agency reklamieren konnten; allerdings nur zu dem Zweck, diese Kontrolle aufzugeben. Dieses diskursive Dilemma bedurfte ei-
Fazit
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ner Lösung, welche über eine dichotome Aufspaltung in natürliches und unnatürliches Sterben sowie in normalen und anomalen Suizid erreicht wurde. Auch die Polarisierung von Suizid und Suizidversuch produzierte eine solche Hierarchie. Gleichzeitig wurde den marginalisierten Gruppen eine gesellschaftsrelevante Motivation für ihr Handeln abgesprochen. Vielmehr wurde es mit moralischem Versagen, unzulässigen Transgressionen und sexueller Devianz gekoppelt. Und obwohl sich die bürgerlichen Männer* selbst disziplinierten und mäßigten, waren auch sie vulnerabel. Emotionale Arbeit der Ehefrauen* sollte diese Gefährdung reduzieren, und zwar indem diese ihre Partner unterstützten und ihnen den Rücken freihielten, ohne dabei ihre Männlichkeit zu beschädigen.
Kapitel 3 Kur mit Katastrophenantlitz Suizidalität und Geschlecht im Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) Nervenstärke, Willensanstrengung und Selbstüberwindung galten als zentral, um den Krieg gewinnen zu können.⁶¹⁷ Daher verstörten Krankheitsbilder, die offenbar durch den Waffengang hervorgebracht wurden. Sogenannte Kriegszitterer und -hysteriker standen dem Ideal von martialischer, die eigenen Emotionen kontrollierender Männlichkeit unversöhnlich gegenüber.⁶¹⁸ Die heteronormative Ordnung wurde unterspült: Frauen*, die in der Rüstungsindustrie arbeiteten und ihre Familien alleine über Wasser hielten; Männer*, die in den Lazarettbetten desillusioniert auf pflegerische Zuwendung warten mussten; Partisaninnen, die die Trennlinie zwischen männlicher Verletzungsmacht und weiblicher Verlet-
Monika Szczepaniak, Militärische Männlichkeiten in Deutschland und Österreich im Umfeld des Grossen Krieges: Konstruktionen und Dekonstruktionen (Würzburg 2011) 7; 136. Monika Szczepaniak, Männer aus Stahl? Konstruktion und Krise der kriegerischen Männlichkeiten im Kontext des Ersten Weltkrieges. In: Glaudia Glunz, Artur Pełka, Thomas F. Schneider (Hg.), Information Warfare. Die Rolle der Medien (Literatur, Kunst, Photographie, Film, Fernsehen, Theater, Presse, Korrespondenz) bei der Kriegsdarstellung und -deutung (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 22, Göttingen 2007) 158 – 171, hier 162– 163. Thierry Terret, J. A. Mangan (Eds.), Sport, Militarism and the Great War. Martial Manliness and Armageddon (Abingdon and New York 2012). Jason Crouthamel, An Intimate History of the Front. Masculinity, Sexuality, and German Soldiers in the First World War (New York 2014) 15 – 40. Auch im engeren Bereich des Militärs ist Männlichkeit stets als Plural zu denken. Infolgedessen sind Männlichkeits-Konstruktionen zu untersuchen, „die durch regionale, ethnische, nationale und politische Diskurse sowie räumlichgeographische Faktoren stark geprägt sind, die einander begegnen und miteinander konkurrieren“. Monika Szczepaniak, Militärische Männlichkeiten und das „technoromantische Abenteuer“ in der österreichischen Literatur zum Ersten Weltkrieg. In: ÖGL 56/3 (2012) 283 – 296, hier 283. Wolfang Schmale schlägt vor, postmoderne Männlichkeit als polymorphes Konstrukt zu fassen. Michael Meuser und Sylka Scholz votieren dafür, hegemoniale Männlichkeit als ein generatives Prinzip zu verstehen. Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000) (Wien u. a. 2003) 267– 270. Michael Meuser, Sylka Scholz, Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive. In: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (Frankfurt/M. u. a. 2005) 211– 228, hier 218 – 220. Beide Interventionen zielen darauf ab, R. W. Connells Konzept einer hegemonialen Männlichkeit komplexer zu denken und um historische und räumliche Dimensionen zu erweitern. R. W. Connell, Masculinities (Berkeley and Los Angeles 22005). https://doi.org/10.1515/9783110664256-004
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zungsoffenheit aufweichten;⁶¹⁹ Soldaten, die sich in den Schützengräben nach emotionaler Zuwendung sehnten⁶²⁰ und am zähen Stellungskrieg, der vielfach als langsamer Suizid beschrieben wurde, verzweifelten.⁶²¹ Dazu verschob sich die Suizidkurve (weiter) zu Ungunsten der Frauen*. Heimat- und Kriegsfront korrespondierten miteinander und bildeten keineswegs getrennten Sphären. Was im Hinterland passierte, war von hoher Relevanz für die Front und was dort passierte, erreichte und beeinflusste die Heimat. Der Boulevard berichtete nur ausgewählt und zurückhaltend über Selbsttötungen. Es war nämlich Vorsicht geboten, da ein zu tiefes Bohren leicht als Kriegskritik ausgelegt werden konnte. Gleichzeitig wurde der selbstgewählte Tod ein Stück weit ‚normalisiert‘, da das Sterben nun zum Alltag gehörte.⁶²² Nichtsdestotrotz arbeiteten sich die Wissenschaften weiter am Suizid ab und suchten in den Prosekturen fieberhaft nach prädisponierenden Anomalien. Dieser Blick medizinisierte suizidales Verhalten und entlastete den Diskurs, da eine Prädisposition als schicksalshaft galt oder im Zweifelsfall dem Individuum anzulasten war. Über diese leibliche Introspektion wurde auch die heteronormative Geschlechtermatrix (re‐)produziert. Weibliche Suizidalität blieb weiterhin unter dem Dach einer Sonder(psycho)pathologie angesiedelt. Diese sollte auch erklären, warum sich ihre Vulnerabilität – im Gegensatz zur männlichen – nicht verringerte. Gleichzeitig gerieten weibliche Berufstätigkeit und Emanzipation in den Verdacht, suizidale Impulse zu begünstigen. In psychoanalytischer Hinsicht
Karen Hagemann, Mobilizing Women for War: The History, Historiography, and Memory of German Women’s War Service in the Two World Wars. In: The Journal of Military History 75 (2011) 1055 – 1093, here 1058. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 55 – 59. Den kakanischen Soldaten stand ein breiteres Gefühlsrepertoire zur Verfügung als den deutschen. Gefühle wie Melancholie, Schmerz und Labilität wurden weithin akzeptiert. Außerdem profitierten sie von einem engeren emotionalen Band zu außermilitärischen Bezugsgrößen. All dies ermöglichte Alternativen zum Stahlhelden. Auch die Sicht auf die Armee war eine andere. Das k. u. k. Militär diente als integrierende „Schule des Volkes“. Zudem war die Vorkriegs-Militarisierung eher folkloristisch angelegt. Damit steigerte sie vor allem den (unterhaltungs‐)kulturellen Wert der Uniform(träger). Szczepaniak, Militärische Männlichkeiten in Deutschland und Österreich im Umfeld des Grossen Krieges, 237; 138 – 139. Julia Barbara Köhne, Paper Psyches: On the Psychography of the Front Soldier According to Paul Plaut. In: Jason Crouthamel, Michael Geheran, Tim Grady, Julia Barbara Köhne (Eds.), Beyond Inclusion and Exclusion. Jewish Experiences of the First World War in Central Europe (New York/Oxford 2019) 317– 362, here 343. Ursula Baumann,Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids von 18. bis zum 20. Jahrhundert (Weimar 2001) 323.
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setzte Sigmund Freud mit Trauma und Melancholie einen neuen Meilenstein. Für ihn war klar, dass Suizidale an einem traumatischen Objektverlust litten, den sie aufgrund der fehlenden Trauerarbeit nicht verarbeiten konnten und der sie melancholisch werden ließ. Zudem integrierten sie das aggressionsbesetzte Objekt in das Ich, was starke Wutgefühle hervorrief, welche letztendlich über eine suizidale Handlung abgeführt wurden. Trotz dieses Durchbruchs war die Psychoanalyse in den Kriegsspitälern wenig gefragt, wurde ihr doch vorgeworfen, alle psychischen Störungen – daher auch Traumata – auf eine unterdrückte Sexualität zurückzuführen. Dies erschwerte die Rezeption der psychoanalytischen Theorie und schädlicherweise verdrängte die nun omnipräsente Hysterie auch früher akzeptierte Trauma-Auffassungen.⁶²³ Bezüglich dieser gilt es, auf die Arbeiten des Neurologen Hermann Oppenheim hinzuweisen, der unter einem Trauma kleinste, unfallbedingte Läsionen im Zentralnervensystem verstand. Wenig überraschend wurden alternative Kurmethoden favorisiert, wozu Elektroschocks, Essensentzug und Dauerbäder zählten. Die Militärführung betrachtete suizidales Verhalten als persönliches Versagen oder als Indiz für (anlagebedingtes) Psychopathentum.⁶²⁴ Der harte Drill wurde zwar da und dort kritisch diskutiert, galt aber letztendlich als alternativlos, um die Moral der Truppen aufrechtzuerhalten. Um die Soldaten zu motivieren, förderte die Heeresleitung religiöse Praxis und sinnstiftende Angebote,⁶²⁵ die aber auch von den Soldaten selbst herbeigesehnt wurden. Insgesamt pflegte die Bevölkerung ihre Spiritualität wieder stärker als früher.⁶²⁶ Annette Becker spricht in diesem Zusammenhang von einem „Synkretismus von religiösen und patriotischen Gefühlen“ und von „Unions sacrées“⁶²⁷, die auch noch in den späteren Kriegsjahren Gläubige aktivieren konnten. Sowohl katholische als auch evangelische Soldaten konnten auf ein Arsenal an zweckmäßigen Wegweisbüchlein zurückgreifen. Tatsächlich half der
Hans-Georg Hofer, Gewalterfahrung, „Trauma“ und psychiatrisches Wissen im Umfeld des Ersten Weltkriegs. In: Konrad Helmut et al. (Hg.), Terror und Geschichte (Veröffentlichungen des Clusters Geschichte der Ludwig Boltzmann Gesellschaft 2,Wien u. a. 2012) 205 – 221, hier 209 – 210. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 181– 210. Patrick J. Houlihan, Catholicism and the Great War. Religion and Everyday Life in Germany and Austria-Hungary, 1914– 1922 (2015). Alle kriegsführenden Nationen sowie auch Katholik*innen und Protestant*innen waren überzeugt, dass der Krieg gerecht und gesegnet sei. Annette Becker, Religion. In: Gerhard Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Paderborn 2014) 192– 197, hier 193. Dies konnte auch abergläubische und esoterische Praktiken einschließen. Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 192. Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 194. Siehe auch: Annette Becker, Faith, Ideologies, and the Cultures of War. In: John Horne (Ed.), A Companion to World War I (Chichester 2012) 234– 247.
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Glauben, den Tag zu strukturieren, stiftete Sinn und unterstützte bei der Bewältigung leidvoller Erfahrungen.⁶²⁸ Die kirchlichen Suiziddogmen selbst blieben unverändert. Dennoch zeigte sich so mancher Militärgeistlicher verständnisvoll und damit lag auch ein kirchliches Begräbnis in erreichbarer Nähe. Dieses Kapitel ruht auf folgenden vier Thesen. Erstens, der Krieg schuf Spielräume für nicht-heteronormales Begehren, was insbesondere in den Schützengräben ausgenutzt wurde. Gleichzeitig beförderte er aber auch hypermaskuline Projektionen und Selbstverortungen. Den Frauen* ermöglicht er es, in männliche Rollen und Bereiche einzutreten. Zweitens, der Blick auf und in den suizidalen Leib stabilisierte die heteronormative Geschlechtermatrix. Frauen* handelten aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale suizidal, Männer* litten dagegen unter veränderten Lymphdrüsen und Nebennieren. Drittens, eine suizidsenkende Kriegswirkung konnte nicht belegt werden.⁶²⁹ Diese Spekulation hatte die Wissenschaften schon vor dem Ersten Weltkrieg fasziniert. Nun konnten sie ihre Beobachtungen praktisch in vivo vornehmen. Tatsächlich sollte das allgemeine Suizidniveau zwar zurückgehen aber letztendlich nur, weil die männliche Beteiligung gesunken war. Für Frauen* zeigte sich ein anderes Bild. Viertens, suizidale und traumatisierte Soldaten wurden verdächtigt, keine ‚wahren‘ Männer* gewesen zu sein. Sie galten aus Sicht der Heeresleitung als zu sensibel und zu weich. Die Hochgebirgskrieger und die Kampfflieger besetzten bald ideale Männlichkeit und wurden rasch mythologisiert.⁶³⁰ Sie schienen der Natur zu trotzen und ihre
Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 194. Siehe auch: Alexander Watson, Enduring the Great War, Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914– 1918 (Cambridge 2008). Susanne Hahn, „A General Rule in the Post-Mortem Findings of Suicides?“ German Pathology and Forensic Medicine and the Suicide-Problem 1900 – 1945. In: Cay-Rüdiger Prüll (Ed.), Traditions of Pathology in Western Europe. Theories, Institutions and their Cultural Setting (Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Quellen und Studien 6, Herbolzheim 2003) 105 – 120, hier 112. Christa Hämmerle, Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn (Wien u. a. 2014) 174. Christa Hämmerle, „Es ist immer der Mann, der den Kampf entscheidet, und nicht die Waffe …“. Die Männlichkeit des k. u. k. Gebirgskriegers in der soldatischen Erinnerungskultur. In: J. W. Kuprian, Oswald Überegger (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 23, Innsbruck 2006) 35 – 60. Szczepaniak, Militärische Männlichkeiten und das „technoromantische Abenteuer“ in der österreichischen Literatur zum Ersten Weltkrieg, 285 – 290. Wie von Marco Monlini herausgearbeitet, wurden auch die italienischen Gebirgskämpfer mythologisiert. Die Alpini galten als gute, einfache Männer* aus dem Gebirge. Sie verkörperten traditionelle Werte wie Tapferkeit, Stärke, Geduld, Loyalität und Hingabe. Der hochalpine Kampf wurde zu einer Bewährungsprobe stilisiert, die das Beste in den Männern* hervorbrachte. Beide Erzählstränge einte ein romantischer Topos, der anti-modern positioniert war und die Naturerfahrung
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Unbillen zu meistern und symbolisierten eine fruchtbare Allianz aus Unerschrockenheit und Technikbeherrschung.⁶³¹ Die entinvidualisierenden und anonymsierenden Kriegstendenzen konnten über diese Heldenfiguren teilweise neutralisiert werden.⁶³²
Der ‚Nervendiskurs‘ und suizidales Verhalten Nachfolgend geht es um die sogenannten nervösen und hysterischen Leiden. Wie wurde damit umgegangen? Wie wurden sie zu suizidalem Verhalten in Beziehung gesetzt? Wie korrespondierten die ethnisch-rassistischen, klassenbezogenen und nationalistischen Inhalte des ‚Nervendiskurs‘ mit Geschlecht? Kurz nach Kriegsausbruch war bei dem Geistlichen Wolfang Stocker die Hoffnung groß, dass ein Sieg Österreich-Ungarns in greifbarer Nähe lag. Er mahnte diesbezüglich Solidarität und Gottvertrauen ein: „S t e h e n w i r a l l e f e s t z u s a m m e n , h e l f e n und stützen wir einander, b e t e n wir mit- und für einander, eilen wir oft zum T i s c h d e s H e r r n und Gott wird und muß uns schließlich den Sieg gewähren! Das ist unser festes Vertrauen!“⁶³³ Auch die ersten Verlustmeldungen schreckten noch nicht,⁶³⁴ denn mit einem Sieg schienen auch Neurasthenie und Nervosität überwunden werden zu können. Beide hatten als typisch für das Fin de siècle gegolten. Das erwartete Stahlbad sollte also die
als katharsisches Moment feierte. Marco Monlini, The Warlike Hero in World War I Literatur: The Italian Case. In: Claudia Glunz, Thomas Schneider (Eds.), „Then Horror Came Into Her Eyes…“ Gender and the Wars (War and Literature XX, Göttingen 2014) 97– 118, here 109. Wobei die kakanischen Kriegshelden alternativ auch als naturverbundene sowie schmerzoffene Individuen imaginiert wurden. Szczepaniak, Militärische Männlichkeiten in Deutschland und Österreich im Umfeld des Grossen Krieges, 238 – 239. Szczepaniak, Männer aus Stahl? In: Glunz, Pełka, Schneider (Hg.), Information Warfare, 158 – 171, hier 164– 165. Stefanie Schüler-Springorum, Flying and Killing. Military Masculinity in German Pilot Literature, 1914– 1939. In: Karen Hagemann, Stefanie Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front: The Military, War and Gender in Twentieth-Century Germany (New York and Oxford 2002) 205 – 232, here 211 and 223. Der Stellungskrieg redefinierte das Konzept des guten Soldaten. Fortan wurde er als Arbeiter und als Heros imaginiert, der dem industrialisierten Krieg die Stirn bot. Besonders die Aspekte des Sich-Aufopferns und der Individualität mussten eine Umdeutung erfahren. Gute Soldaten funktionierten fortan wie Maschinen und leisteten über exakte Fertigkeiten und Ausdauer ihren Beitrag. So gewannen sie auch ihre Individualität wieder. Thomas F. Schneider, Masculinity in German Literary Anti-War Texts. In: Glunz, Schneider (Eds.), „Then Horror Came Into Her Eyes…“, 135 – 147, here 136. Wolfgang Stocker, Welt-Rundschau für die Frauen. Oesterreich-Ungarn. In: Elisabeth-Blatt 9/ 9 (1914) 195 – 196, hier 196. Verlustliste, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 5265, 30. August 1914, 8 – 12.
Der ‚Nervendiskurs‘ und suizidales Verhalten
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Nerven der k. u. k. Gesellschaft gesunden. Der ‚Nervendiskurs‘ war anfänglich elitär und zirkulierte um hegemoniale weiße Männlichkeit,⁶³⁵ schien doch das Bürgertum besonders an der soziokulturellen Entwicklung zu leiden. Der Diskurs sollte entlasten, abgrenzen und auszeichnen, was bald durch die sich wandelnde Bedeutung der Neurasthenie konterkariert wurde.⁶³⁶ War sie anfänglich von privilegierten Männern* reklamiert worden, zogen sich diese mit der Jahrhundertwende zurück. Damit reagierten sie darauf, dass sich auch die bürgerlichen Frauen* als neurastheniegeplagt erkannt hatten. Wie von Joachim Radkau herausgearbeitet, spielten Beschreibungen des eigenen Leidens eine große Rolle.⁶³⁷ Wer an Neurasthenie litt, der konnte so sein verfeinertes Wesen beweisen, wodurch diese ‚Diagnose‘ klar als Technologie des Selbst zu identifizieren ist. Der Diskurs oszillierte zwischen der großen Leistung, die man sich abrang, städtischer Hektik und großer Empfindsamkeit. Daher schien das männliche Bürgertum besonders gefährdet, an Neurasthenie zu erkranken.⁶³⁸ Die Störung gehörte regelrecht zum Habitus des Bildungsbürgers. Gleichzeitig konnte so der individuelle Handlungsspielraum ausgedehnt und Rücksichtnahme eingefordert werden.⁶³⁹ Ein solches Muster ließ sich auch in der katholischen Frauen*zeitschrift ElisabethBlatt finden. Dem geistlichen Autor zufolge konnte es mit einem gutmütigen, aber nervösen Familienvater durchgehen, wenn die Ehefrau eine versalzene Suppe kredenzte.⁶⁴⁰ Litt der Nervöse doch auch unter solchen Kleinigkeiten.Verhielt sich
Arbeiter*innen galten als weniger gefährdet, da sie keine geistigen Arbeiten erledigen mussten und die ländliche Bevölkerung schien per se immun. Diese Unterteilung wurde von Teilen der wissenschaftlichen Sphäre zurückgewiesen. Heinz-Peter Schmiedebach, The Public’s View of Neurasthenia in Germany: Looking for a New Rhythm of Life. In: Marijke Gijswijt-Hofstra, Roy Porter (Eds.), Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War (Amsterdam and New York 2001) 219 – 238, here 225. Besonders in Deutschland wurde die Diagnose zunehmend demokratisiert und löste sich von der bürgerlichen Schicht. Derart propagierte der Arzt Paul Julius Möbius sogenannte Volksheilungsstätten auch für die unterbürgerlichen Schichten. Doris Kaufmann, Neurasthenia in Wilhelmine Germany: Culture, Sexuality, and the Demands of Nature. In: Gijswijt-Hofstra, Porter (Eds.), Cultures of Neurasthenia, 161– 176, here 164. Angelika Ebrecht, Die Seele und die Normen. Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik (Psyche und Gesellschaft, Gießen 2003) 356. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler (München u. a. 1998). Hans-Georg Hofer, Nerven, Kultur und Geschlecht – Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizin- und Körpergeschichte. In: Frank Stahnisch, Florian Steger (Hg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen (Geschichte und Philosophie der Medizin 1, Stuttgart 2005) 225 – 244, hier 241. Hofer, Nerven, Kultur und Geschlecht – Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizinund Körpergeschichte, 243. J. Mayer, Die Nervosität der Kinder. In: Elisabeth-Blatt 9/11 (1914) 227– 228, hier 227.
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Kapitel 3: Kur mit Katastrophenantlitz
die Familie ruhig oder schwieg, dann waren solche Episoden rasch vorbei. Wenn nun aber die restlichen Familienmitglieder auch nervös waren, dann konnte ein „Spektakel“ entstehen.⁶⁴¹ Die Angehörigen konnten also solche Ausfälle provozieren oder verstärken, daher sollten sie sich bewusst zurücknehmen und das Familienoberhaupt gewähren lassen. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass sich im Elisabeth-Blatt zahlreiche Anzeigen für nervenstärkende und nervositätsabbauende Arzneien fanden.⁶⁴² Jüdische Männer* wurden als besonders neurastheniegeplagt porträtiert⁶⁴³ und im gleichen Atemzug mit antisemitischen Charakterisierungen bedacht. Auch hier wurde die Diagnose von entsprechenden Selbstbeobachtungen flankiert. Die Neurasthenie verlor ab der Jahrhundertwunde ihre Attraktivität für privilegierte Männer*,⁶⁴⁴ wurde sie doch mittlerweile mit erworbener Homosexualität und weiblicher Psychopathologie verknüpft.⁶⁴⁵ Zudem hatten sich inzwischen nicht nur die Frauen* als nervös erkannt, sondern auch die unterbürgerlichen Schichten. Zwei Gründe waren dafür maßgeblich. Erstens, die verwandte Hysterie-Diagnose kam einem Stigma gleich, wurden doch die betroffenen Frauen* der Homosexualität und der „Vermännlichung“ verdächtigt.⁶⁴⁶ Zweitens, die Diagnose Neurasthenie eröffnete Handlungs- und Spielräume, weshalb sie überhaupt erst von den bürgerlichen Männern*‚entdeckt‘ worden war. Schien doch so eine Integration von weiblichen und sinnlich-empfindsamen Bedürfnissen möglich, was einer Nivellierung der heteronormativen Geschlechter- und Sexualordnung zuarbeiten musste. Dementsprechend trug der ‚Nervendiskurs‘ ein erhebliches Maß an Kulturkritik in sich, welche aber nicht an die Urheber der nun gescholtenen Lebensart adressiert wurde.Vielmehr begann sich der Fokus auf die Frauen* zu richten und darauf, wie diese in den Diskurs eingepasst werden konnten. Weibliche Subjekte galten als prädisponiert für psychische Störungen, wovon der misogyne Hysteriediskurs zeugt. Ihnen* wurde aber auch unterstellt, ihr schwaches Nervengerüst an die Kinder – inklusive der Söhne – zu vererben.⁶⁴⁷
J. Mayer, Die Nervosität der Kinder. In: Elisabeth-Blatt 9/11 (1914) 227– 228, hier 227. Anzeige für Matein, Moderne Folterqualen. In: Elisabeth-Blatt 9/8 (1914) 182. Anzeige für Kola-Dultz.Wer mir sofort schreibt, erhält eine kleine Schachtel echte Kola-Tabletten vollkommen gratis! In: Elisabeth-Blatt 9/9 (1914) 195 – 196, hier 196. Joachim Radkau, Die Männer als schwaches Geschlecht. Die wilhelminische Nervosität, die Politisierung der Therapie und der mißglückte Geschlechterrollentausch. In: Thomas Kornbichler, Wolfgang Maaz (Hg.), Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung (Forum Psychohistorie 4, Tübingen 1995) 249 – 293, hier 259. Sportlichkeit, Selbstüberwindung und Willensanstrengung standen fortan höher im Kurs. Schmersahl, Medizin und Geschlecht, 274– 275. Schmersahl, Medizin und Geschlecht, 288. Ebrecht, Die Seele und die Normen, 363.
Der ‚Nervendiskurs‘ und suizidales Verhalten
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Gleichzeitig wurden weiblichem Erziehungspersonal folgenreiche sexuelle Übergriffe unterstellt, die insbesondere Burschen in homosexuelles Verhalten getrieben hätten. Das gesamte Übel schien also von den Frauen* auszugehen. Damit verbunden wurden fortan jene Männer* abgewertet, die weibliche Eigenschaften zeigten, womit ebenfalls die heteronormative Geschlechtermatrix stabilisiert werden konnte.⁶⁴⁸ Der Neurologe Ernst Trömner meinte 1916, dass das Nervengerüst deutscher Männer* besonders kriegstauglich sei, womit man einen Vorteil gegenüber den französischen Soldaten hätte. Er war überzeugt, dass die französischen Heeresmediziner zahlreiche „Äußerungen schwerer Hysterie mit ihren theatralischen Anfällen, ihren bizarren Beschwerden, ihrem Vexierspiel mit allen möglichen organischen Leiden“⁶⁴⁹ beobachteten. Der Münchner Arzt Leopold Loewenfeld hatte sich 1914 gar zu der Behauptung einer „Psychopathia gallica“ verstiegen. Er meinte damit eine „krankhafte(n) Erregung im französischen Volk“ sowie eine Neigung zu „Eitelkeit und Rachsucht“.⁶⁵⁰ Ganz offensichtlich suchte Trömner die französischen Soldaten zu diskreditieren, waren doch die beschriebenen Verhaltensweisen als weibliche Verirrungen codiert. Selbst beim so nervenstark eingeschätzten britischen Kriegsgegner würden sich die „Irrenhäuser in beängstigender Weise füllen“.⁶⁵¹ Einzig temporäre Erschöpfungszustände gestand Trömner den Soldaten zu.⁶⁵² Alles andere sollte nur eine Frage des Willens und des Durchhaltevermögens sein. Der Krieg zeigte bald ein anderes Gesicht als erwartet und sogenannte Kriegszitterer und schwer Traumatisierte bildeten die neue Realität. Ein Umstand, der vom deutsch-nationalen Kriegsbefürworter und Psychiater Erwin Stransky heruntergespielt und verharmlost wurde. Der jüdische k. u. k. Stabs- und Konsiliararzt gehörte zur Gefolgschaft von Julius von WagnerJauregg,⁶⁵³ der die Elektroschockbehandlung von psychisch erkrankten Soldaten unterstützte. Selbst 1918 meinte Stransky noch, dass „Anpassung und seelische
Ebrecht, Die Seele und die Normen, 356. E. Trömner, Krieg und Nervensystem. In: Die Naturwissenschaften 5/4 (1916) 59 – 63, hier 62. “ … wodurch die mit der Psychopathie an sich schon verknüpfte intellektuelle Minderwertigkeit nicht nur in den breiten Massen des Volkes, sondern auch in den führenden Krisen gesteigert wird.“ Leopold Loewenfeld, Über den National-Charakter der Franzosen und dessen krankhafte Auswüchse (Die Psychopathica gallica) in ihren Beziehungen zum Weltkrieg (Wiesbaden 1914) 39. Trömner, Krieg und Nervensystem, hier 62. Trömner, Krieg und Nervensystem, hier 62. Stransky blieb der deutsch-nationalen Idee auch während des Nationalsozialismus gewogen. Nur Adolf Hitler müsse man austauschen. Er überlebte den Nationalsozialismus in einer sogenannten geschützten Ehe, d. h. seine Ehefrau war keine Jüdin gewesen.
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Elastizität“ die Kriegserfahrung bewältigbar machen sollten.⁶⁵⁴ Abgesehen davon sei ein gewisser Prozentsatz an ungünstig Veranlagten in Rechnung zu stellen. Und bei den durch die Kriegsstrapazen Erkrankten gäbe ihre geringe Anzahl kaum Anlass zur Sorge.⁶⁵⁵ Verletzlichkeit passte offensichtlich nicht in sein Bild von Männlichkeit. Hinsichtlich depressiver Störungen und suizidaler Tendenzen zeigte Stransky eine recht zynische Auffassung. Meinte er doch, dass depressive Frontsoldaten kaum brauchbar seien und auch bald fielen, denn letztendlich würden „seelische Hemmung“ und die „Tendenz zur Selbstverkleinerung“ die Überlebenschancen drastisch senken. Und die Suizidalen fänden immerhin eine günstige Gelegenheit, den Tod zu erreichen und das noch dazu im Dienst für das Vaterland.⁶⁵⁶ Solcherart konnten sie doch noch Ehre für sich gewinnen, besonders dann, wenn sie hochriskante, aber wichtige Aufgaben übernahmen. Ein solcher als heroisch deklarierter Suizid zerstörte weder die Identität noch die Integrität des Toten.⁶⁵⁷ Er bewahrte sie oder stellte sie überhaupt erst her. Da viele traumatisierte Soldaten kaum physische Schäden zeigten, machte sich unter den Ärzt*innen Skepsis breit. Handelte es sich schlichtweg um Simulanten, die sich weitere Fronterfahrungen ersparen wollten? Stransky argumentierte, dass tatsächlich Schwerverletzte ihr Los tapfer und ohne Murren ertragen würden. Zwar würde es nur wenige echte Simulanten geben; dafür aber umso mehr Unkooperative, die trotz intensiver ärztlicher Bemühungen nicht recht gesunden wollten.⁶⁵⁸ Symptome kamen und gingen und ähnelten der bereits bekannten Neurasthenie. Zudem konnten sie laut Stransky beliebig durch Hypnose beeinflusst werden. Bald wurden Traumatisierte als männliche Hysteriker beschrieben und in den misogynen, homophoben und antisemitischen Diskurs eingezogen.⁶⁵⁹ Zu sehr verstörten und erinnerten ihre Traumata an unbeherrschte
Erwin Stransky, Krieg und Geistesstörung. Feststellung und Erwägung zu diesem Thema vom Standpunkte angewandter Psychiatrie (Wiesbaden 1918) 63. Stransky, Krieg und Geistesstörung, 63. Stransky, Krieg und Geistesstörung, 47. Susan K. Morrissey, Suicide and Civilization in Late Imperial Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43/2 (1995) 201– 217, hier 217. Stransky, Krieg und Geistesstörung, 62. Ebrecht, Die Seele und die Normen, 356. Hofer, Gewalterfahrung, „Trauma“ und psychiatrisches Wissen im Umfeld des Ersten Weltkriegs. In: Helmut et al. (Hg.), Terror und Geschichte, 209. Es gab allerdings Strategien, um Kriegshysteriker wieder in Männer* zurückzuverwandeln. Etwa durch cinematographische Inszenierung als geheilter, nun wieder einsatzfähiger Soldat. Julia Barbara Köhne, Visualizing ‘War Hysterics’: Strategies of Feminization and Re-Masculinization in Scientific Cinematography, 1916 – 1918. In: Christa Hämmerle, Oswald Überegger, Brigitta Bader Zaar (Eds.), Gender and the First World War (Basingstoke and New York 2014) 72– 88, here 83.
Der ‚Nervendiskurs‘ und suizidales Verhalten
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Weiblichkeit⁶⁶⁰ und wie weggefegt erschienen Disziplin und Besonnenheit. Als Therapie empfahl Stransky „die Kombination von Isolierung, stärksten faradischen Strömen und Leerdiät“ oder stundenlange starke Stromstöße gepaart mit intensiver Wachsuggestion.⁶⁶¹ Letztendlich gestand er nur zu, dass die Kriegsneurosen auch unbewusste Vortäuschungen sein konnten. Angesichts dieser brutalen Behandlungsmethoden flüchteten wiederholt Soldaten aus den Kriegsspitälern. Manche reagierten auch suizidal. Auf den betroffenen Neurosen-Abteilungen wurden diese Probleme nur bedingt eingestanden. Würden diese doch von den Soldaten selbst ausgehen, die immer öfter psychopathisch veranlagt wären und disziplinäre Mängel zeigten.⁶⁶² Nichtsdestotrotz konnten die therapeutischen Anstrengungen recht unterschiedlich ausfallen. So lehnte etwa der Leiter des Kriegsspitals Grinzing, Sigmund Kornfeld, Stromstöße als Behandlungsmethode ab. 1917 wurde er von Martin von Pappenheim abgelöst, der ein überzeugter Anhänger des therapeutischen Sinusstroms war. Ein solcherart mehrfach behandelter Soldat tötete sich am 7. Juli 1917 selbst.⁶⁶³ Ein Kamerad ergriff nach einem Suizidversuch die Flucht und wurde bei Sigmund Kornfeld vorstellig, der inzwischen im Kriegsspital Meidling arbeitete.⁶⁶⁴ Kornfeld intervenierte erfolglos beim Wiener Militärkommando gegen Pappenheim und seine Behandlungsmethoden.⁶⁶⁵ Die Methode blieb populär,⁶⁶⁶ was sicherlich damit zusammenhing, dass so prominente Ärzte wie Julius von WagnerJauregg von ihrer therapeutischen Nützlichkeit überzeugt waren. In einem am 11. Dezember 1918 erschienen Artikel über die Elektrische Folter klagte ein Soldat sein Leid.⁶⁶⁷ Die Stromtherapie wäre vor allem ein probates Mittel gewesen, um die Kriegsspitäler zu leeren – gepaart mit Quälerei und ausbleibender Genesung. In der anhängigen Untersuchung wurden Wagner-Jauregg und seine Kollegen entlastet,⁶⁶⁸ wozu auch Sigmund Freud beitrug, der sich mit Kritik zurückhielt.⁶⁶⁹
Thomas Kühne, States, Military Masculinites, and Combat in the Age of World Wars. In: Karen Hagemann et al. (Eds.), The Oxford Handbook of Gender,War, and the Western World since 1600 (New York 2020) 498 – 519, here 502. Stransky, Krieg und Geistesstörung, 72– 73. Paul Lerner, Hysterical Men. War. Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890 – 1930 (Ithaca and London 2003) 207. Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880 – 1920) (Wien u. a. 2004) 321. Hofer, Nervenschwäche und Krieg, 321. Hofer, Nervenschwäche und Krieg, 322. Die gegnerischen Kriegspartien waren und blieben skeptischer. Die elektrische Folter. In: Der freie Soldat 6 (11. Dez 1918) 3. Der Artikel in Der freie Soldat beruhte u. a. auf den Schilderungen von Walter Kauders. Der k. u. k. Leutnant hatte während seines Klinik-Aufenthaltes bei Wagner-Jauregg Tagebuch geführt.
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Seine Reserviertheit resultierte u. a. vermutlich daraus, dass die Kriegsjahre schwierig genug für die Psychoanalyse gewesen waren, was mit drei Faktoren zusammenhing. Erstens, eine psychoanalytische Behandlung war viel zu zeitintensiv und langwierig für die gewünschte rasche Wiederherstellung. Zweitens, ihr Fokus auf die psychosexuelle Entwicklung verstörte die arrivierten (Militär‐) Psychiater,⁶⁷⁰ welche in ihrer Polemik die Psychoanalyse darauf verkürzten. Tatsächlich berührte sie ein Tabu und irritierte den soldatischen Männlichkeitsentwurf. Wer diente, der war sich, seiner Männlichkeit und seiner Heterosexualität sicher. Drittens, solcherart litt die Rezeption der neuen Traumatheorie Freuds, welche er zudem erst 1917 publiziert hatte.
Suizidale Soldaten. Militärisches Prozedere und individuelles Erleben Dieses Kapitel fokussiert den Umgang der Heeresleitung mit suizidalem Verhalten. Neben den diesbezüglichen Richtlinien wird auch nach der gelebten Praxis gefragt. Geschlecht soll hinsichtlich seiner interdependenten Bezüge zu Sexualität und Klasse ausgeleuchtet werden. Analysiert werden statistische Erhebungen, wissenschaftliche Publikationen und an den Gebirgsfronten entstandene Kriegstagebücher. Anhand letzterer wird die Dimension individuellen Erlebens und Ausdeutens rekonstruiert. Diese Stellungen bildeten mit ihren 9.500 Kilometern die längsten im Ersten Weltkrieg.⁶⁷¹ Gekämpft wurde an der Südgrenze des heutigen Österreichs, den Karpaten, am Balkan und Kaukasus, in Persien und den Vogesen. Der Hochgebirgskämpfer sollte bald ideale Männlichkeit repräsentieren. Ihm wurde sogar zugetraut, einen neuen Menschen hervorzubringen, was seine rasche Mythologisierung förderte.⁶⁷² Vor diesem Hintergrund lohnen die Selbstzeugnisse dieser Soldaten und Etappenkräften besonders der Analyse.
Er berichtete von Höllenqualen und Folter und trat als einer der Hauptbelastungszeugen auf. Hofer, Nervenschwäche und Krieg, 105. Sander L. Gilman, Sigmund Freud and Electrotherapy. In: Arnold D. Richards (Ed.), The Jewish World of Sigmund Freud. Essays on Cultural Roots and the Problem of Religious Identity (Jefferson et al. 2010) 66 – 77. Stransky, Krieg und Geistesstörung, 76. Lutz Musner, Der verdammte Karst – Mikroräume des Ersten Weltkriegs an der Isonzo-Front. In: Michael Geyer et al. (Hg.), Zeitalter der Gewalt. Zur Geopolitik des Ersten Weltkriegs (Frankfurt/M. u. a. 2015) 93 – 116, hier 94. Musner, Der verdammte Karst – Mikroräume des Ersten Weltkriegs an der Isonzo-Front, 115 – 116.
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Um die hohe Vulnerabilität der k. u. k. Soldaten wusste man schon aus Vorkriegszeiten, da sich Statistiker wie Hans Kuttelwascher intensiv damit beschäftigt hatten. Er beschrieb 1912 auch das allgemeine Prozedere, welches suizidalen Soldaten angediehen wurde. Wer bei oder nach einem Suizidversuch angetroffen wurde, dem drohte strenge Bewachung. Nur wenn der Suizidversuch aus eigenen Stücken abgebrochen worden war, dann wurde davon abgesehen.⁶⁷³ Ansonsten folgten Belehrungen durch den Vorgesetzten und den zuständigen Seelsorger, dass suizidales Verhalten inakzeptabel und daher zu unterlassen sei.⁶⁷⁴ Dieses Einwirken wurde so lange fortgesetzt, bis die Suizidalität gebannt schien, welche der Heeresführung lange als eine Frage mangelnder Disziplin galt. Vor diesem Hintergrund wurde auch den Militär-Seelsorgern eingeschärft, kein Verständnis zu zeigen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte hier ein Paradigmenwechsel und psychologische Momente wurden berücksichtigt. Fortan wurden die Kameraden des Suizidenten genau befragt und auch Abschiedsbriefe ausgewertet.⁶⁷⁵ Diese veränderte Strategie dürfte aus zwei Entwicklungen resultiert haben. Eine noch schärfere Disziplinierung hatte das Suizidrisiko nicht zu senken vermocht. Gleichzeitig versprach die aufstrebende Psychologie praktikable Lösungen. Der neue Ansatz kann als durchaus erfolgreich beschrieben werden, begann doch mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Suizidalität in der Armee zu sinken. Im Gegensatz zum zivilen Bereich wurden die Suizide von Heeresangehörigen genau untersucht. Die Militärärzte spürten möglichen Ursachen und Motiven nach⁶⁷⁶ und öffneten die Leichen. Gab es Versorgungsansprüche der Hinterbliebenen zu klären, so wurde auch ermittelt, ob der Tote zurechnungsfähig gewesen war. Witwen- und (Halb‐)Waisenversorgung wurde nur dann gewährt, wenn Unzurechnungsfähigkeit erwiesen werden konnte. Zur Nichtigkeit führten auch eine bereits beschlossene Entlassung oder der Verlust von Pension oder Charge. Die Beerdigung folgte den allgemeinen Vorgaben des k. u. k. Heeres, daher wurde üblicherweise auch das militärische Kondukt gewährt. Davon ausgenommen wurden nur Suizidenten, die zum Tod verurteilt worden waren oder
Hans Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich. In: Statistische Monatsschrift. Neue Folge 17 (1912) 267– 350, hier 340. Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich, 340. „Und doch aus amtlichen Gründen muß es (Durchsicht des Nachlasses, Anm. MH) sein.“ Victor Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen. Eine religions- und moralpsychologische Studie von Pfarrer Lic. Dr. Victor Kirchner. In: Religionspsychologie 4 (1928) 83 – 111, hier 96. Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich, 338 – 339.
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ein öffentliches Ärgernis hervorgerufen hatten.⁶⁷⁷ In diesen Fällen wurde das Geleit verweigert und die Beerdigung hatte in der Nacht zu erfolgen, wobei sich die Handhabung im zeitlichen Verlauf verschärfte. Daher wurde das Kondukt seltener oder nicht voll umfänglich gewährt – bei gleichbleibenden Regelungen. Ob eine priesterliche Begleitung gewährt wurde, oblag weiterhin allein der Kirche.⁶⁷⁸ Der Seelsorger konnte auf Anfrage die militärischen Erhebungen einsehen. Lag Unzurechnungsfähigkeit vor, dann gewährte er meist eine rituelle Verabschiedung. Kuttelwascher führte die hohe Vulnerabilität im k. u. k. Heer darauf zurück, dass man sich der am weitesten gefassten Suiziddefinition bediente. Tatsächlich waren die Zahlen alarmierend hoch. Armeeangehörigen waren um das 15-Fache gefährdeter als die Zivilbevölkerung. Selbst vergleichbare Heere hatten deutlich niedrigere Suizidziffern. Die Zahlen von Kuttelwascher widersprechen der weitverbreiteten Annahme, dass die Offiziere besonders vulnerabel waren.⁶⁷⁹ Aufgrund der staatlichen Verantwortung und der vielen Toten wurden im Zeittraum von 1907 bis 1913 zahlreiche parlamentarische Interpellationen gestellt und scharfe Debatten geführt.⁶⁸⁰ Hinsichtlich der aufgezeichneten heteronormativen Motive dominierte die Furcht vor Strafe, gefolgt von Liebesgram und der Unlust zum Dienen. Bei den Suizidversuchen war das Bild ähnlich, außer dass das Motiv der Misshandlung noch hinzukam. Das Gros dieser Motive wurde auch im wissenschaftlichen Diskurs regelmäßig erörtert. Einzig der Liebesgram erhielt deutlich geringere Aufmerksamkeit. Hierfür gilt es, zwei Faktoren ins Auge zu fassen. Das Motiv galt als privates und schien somit wenig mit dem Soldatensein zu tun zu haben. Zudem war es explizit weiblich konnotiert und widersprach daher soldatischer, die Emotionen kontrollierender Männlichkeit. Hinsichtlich homosexuellen Begehrens fehlen statistische Aufzeichnungen, wodurch nur Aussagen wie jene des Juristen Karl Heinrich Ulrichs, der es weit verbreitet wähnte, übrigbleiben.⁶⁸¹
Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich, 339. Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich, 340. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 337– 338. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 328 – 335; 343 – 349. Hannes Leidinger, Suizid und Militär. Debatten – Ursachenforschung – Reichsratsinterpellationen 1907– 1914. In: Laurence Cole, Christa Hämmerle, Martin Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918), (Frieden und Krieg 18, Essen 2011) 337– 358, hier 342– 346. Karl Heinrich Ulrichs, Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe (Memnon, Abtheilung I, Schleiz 1868).
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Der Rekrut Leo Schuster beschrieb in seinen lebensgeschichtlichen Erinnerungen den schwierigen Alltag eines Soldaten in der Grundausbildung. Er war im Oktober 1910 zur Artillerie in Trient eingerückt und erlebte, dass jeder Abschnitt des Tages genau reglementiert und mit zahlreichen Normen belegt war. So musste etwa am Morgen das Bett gemacht werden und als gerichtet deutlich zu erkennen sein. Was als akzeptabel galt, oblag dem Gutdünken des Kameradschaftsführers. Wenn dieser unzufrieden war, konnte er Disziplinarstrafen verhängen, die als wichtiges Mittel galten, um den militärischen Gehorsam sicherzustellen. Wenig überraschend wurden sie daher zahlreich verhängt. Schuster beschrieb als leichte Strafen „Zimmertouren“⁶⁸², Wippen bis zum Umfallen oder Froschhüpfen. Letzteres erforderte, dass der Soldat in tiefer Kniebeuge durchs Zimmer hüpfte und dabei das Gewehr vor sich herstieß.⁶⁸³ Diese Strafen strapazierten auch das Zeitbudget der Disziplinierten, weshalb ihnen dann die Zeit fehlte, um die bis zur Visite erforderlichen Aufgaben zu erledigen. Als Konsequenz wurden dann neue Strafen verhängt, etwa das Antreten in voller Marschadjustierung.Wie von Christa Hämmerle herausgearbeitet, wurde so ein Zustand ständiger Kritisierbarkeit erzeugt.⁶⁸⁴ Hubert Treiber sprach in diesem Zusammenhang von einer Normenfalle,⁶⁸⁵ konnte doch selbst größtmögliche Kooperation die Willkür des Vorgesetzten nicht verhindern. Fatal war, dass aus einer einzigen Disziplinarmaßnahme eine Vielzahl aus Folgestrafen erwachsen konnte. Allerdings konnten gewisse ‚Privilegien‘ wie Ausgang auch erkauft werden. Laut Schuster schienen bestechliche Kameradschaftsführer zum militärischen Alltag zu gehören.⁶⁸⁶ Kameraden, die zahlungswillig waren und über die finanziellen Mittel verfügten, konnten so ihre
Die Zimmertour war verantwortlich für die Sauberkeit, Ordnung und Eigentumssicherheit in den Mannschaftsunterkünften. Daher durfte sie in der Regel den zugeteilten Bereich auch nicht verlassen. Leo Schuster, Kein Wunder, dass es alle Jahre Selbstmorde gab. In: Christa Hämmerle (Hg.), Des Kaisers Knechte. Erinnerungen an die Rekrutenzeit im k. (u.) k. Heer 1868 bis 1914 (Damit es nicht verlorengeht … 66, Wien u. a. 2012) 55 – 71, hier 61. Christa Hämmerle, „… dort wurden wir dressiert und sekiert und geschlagen …“. Vom Drill, dem Disziplinarstrafrecht und Soldatenmisshandlungen im Heer (1868 bis 1914). In: Cole, Hämmerle, Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam, 31– 54. Hubert Treiber, Wie man Soldaten macht. Sozialisation in „kasernierter“ Vergesellschaftung (Düsseldorf 1973) 43. Diese Aussage kontrastiert mit dem bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gepflegten Mythos der guten Kameradschaft. Thomas Kühne, Zärtlichkeit und Zynismus. Militärische Vergemeinschaftung 1918 – 1945. In: Manuel Borutta, Nina Verheyen (Hg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne (Kulturgeschichte der Moderne 2, Bielefeld 2010) 179 – 202, hier 182– 186.
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Lage verbessern. Angesichts dieses Systems erschienen Schuster die zahlreichen Suizide nur logisch. Er zeigte sich aber auch gegenüber den Kameraden kritisch: „Es war also kein Wunder, dass es alle Jahre Selbstmorde gab. Burschen mit weichem Gemüt hatten am meisten darunter zu leiden. Und wenn einer nicht mehr konnte, dann wurde er nicht etwa von seinen Kameraden bemitleidet, wie man es für logisch halten würde, sondern er wurde von diesen noch verhöhnt und ausgelacht, und sie verbitterten den Bedauernswerten noch mit allerlei rohen Späßen.“⁶⁸⁷
Offensichtlich waren Sensibilität und das Zurückbleiben hinter der männlichen Norm unerwünscht. Sowohl Vorgesetzte als auch die Kameraden griffen sanktionierend ein, um so das Leitbild von Heldenmut, Kameradschaft und Härte gegen sich selbst zu stabilisieren.⁶⁸⁸ Schlechte Behandlung und Schikane wurden auch vom Südtiroler Soldaten Karl Außerhofer erwähnt, der im k. k. Landsturm am Kriegsschauplatz Tirol eingesetzt war.⁶⁸⁹ Diese Formation umfasste Reservisten im Alter von 33 bis 42 Jahren. Außerhofer diente den Großteil der Kriegszeit im Hochgebirge (Pustertal und Dolomitenfront) und berichtete in seinem Tagebuch von hohem Leistungsdruck gekoppelt mit permanenter Strafandrohung, aber auch von Konflikten zwischen den Kameraden. Nicht-deutschsprachige Truppenteile wurden bei Unterkunft und Verpflegung benachteiligt. Außerhofer, im Februar 1915 zum Patrouillenführer befördert, beklagte die besonders schlechte Behandlung der galizischen Truppen.⁶⁹⁰ Am 29. September 1916 notierte er den Suizid eines jungen
Schuster, Kein Wunder, dass es alle Jahre Selbstmorde gab. In: Hämmerle (Hg.), Des Kaisers Knechte, 61. Robert L. Nelson, German Comrades – Slavic Whores. Gender Images in the German Soldier Newspapers of the First World War. In: Hagemann, Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front, 69 – 85, here 71– 74. Karl Außerhofer, am 3. November 1880 in Luttach/Weißenbach (Südtirol) geboren. Seine Eltern verdingten sich als Dienstmagd bzw. Bäuerin und als Bauer. Er absolvierte die Volksschule in Luttach und wurde als 20-Jähriger eigenständiger Bauer. Im Rahmen der Allgemeinen Wehrplicht rückte Karl Außerhofer am 7. Oktober 1901 in Brixen zu den Tiroler Kaiserjägern ein. Aufgrund der Verpflichtungen am eigenen Hof konnte er nach zweijähriger Dienstzeit eine dauerhafte Beurlaubung erwirken. Außerhofer musste am 1. August 1914 zum k. k. Landsturm einrücken. Sein Kriegseinsatz umfasste die Sicherung der k. u. k. Südbahn und den Einsatz als LandsturmInfanterist an der Dolomitenfront. Er starb als 85-Jähriger am 16. Jänner 1965. Sigrid Wisthaler (Hg.), Karl Außerhofer – Das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg (Alpine Space – Man & Environment 8, Innsbruck 22011) 21– 40. Außerhofer, Tagebucheintrag 17. Juli 1915. In: Wisthaler (Hg.), Karl Außerhofer, 119. Diese Diskriminierung war systematisch und von oben gewollt. Sie richtete sich sowohl gegen Staatsangehörige („Innerer Feind“) als auch gegen die Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Besonders davon betroffen waren die galizischen, bukowinischen und russischen Gebiete. Neben
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Kameraden, der offenbar unter Missgunst und Schikane gelitten hatte. Da das Begräbnis am Nachmittag stattfand, ist davon auszugehen, dass das militärische Kondukt gewährt wurde. Außerhofer mied ein moralisch negatives Urteil über den Toten. Vielmehr drückte er sein Mitgefühl aus: „Heute Nacht hat sich einer von unserer Maschienengewehrabteilung erschossen, Grund wie man hört, schlechte Behandlung u. Sekiererei, er war recht ein netter Bursch, höchstens 20 Jahre alt, ein Teutscher [Deutscher] … Nachmittag war das Begräbnis des Selbstmörders in der Nähe des Unterstandes in dem er sich erschossen hat.“⁶⁹¹
Auch Josef Wegl dokumentierte suizidale Handlungen in seinem Tagebuch.⁶⁹² Der niederösterreichische Rechnungsunteroffizier war seit 1915 an der Dolomitenfront eingesetzt. Am 6. August 1915 erschoss sich sein Kompagnon, der Soldat Peter Jörincz, im Schützengraben. Wegl vermied es, über ein Motiv zu spekulieren und auch eine moralische Verurteilung unterließ er. Dafür beschrieb er das Begräbnis recht genau. Militärisches Kondukt und Einsegnung schienen gewährt worden zu den ethnischen Minderheiten wurde auch die dortige jüdische Bevölkerung gezielt verdächtigt. Ihnen wurden allgemeine Unzuverlässigkeit, verbotene Feindkontakte und Hochverrat vorgeworfen. Auch die serbischen, montenegrinischen und bosnischen Untertan*innen wurden mit diesen Ressentiments konfrontiert. Alle diese Gruppen wurden zum Ziel von habsburgischen Kriegsverbrechen und der Militärjustiz. Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914– 1918, (Darmstadt 2008). Oswald Überegger, „Verbrannte Erde“ und „baumelnde Gehenkte“. Zur europäischen Dimension militärischer Normübertretungen im Ersten Weltkrieg. In: Sönke Neitzel, Daniel Hohrath (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Paderborn u. a. 2008) 241– 278. Offiziell gab es im Gemeinsamen Heer keinen Antisemitismus. Tatsächlich war dieser geringer ausgeprägt als bei den anderen Kriegsparteien. Dies erlaubte eine starke Präsenz von Juden als Reserveoffiziere und im Offizierskorps. Im Hinterland florierten hingegen antisemitische Ressentiments. Sie wurden besonders von der Presse verbreitet und in parlamentarischen Debatten abgebildet. Letztendlich bewirkte die jüdische Kriegsbeteiligung – trotz gegenteiliger Hoffnungen – keine stärkere gesellschaftliche Integration. Eleonore Lappin-Eppel, Reflections on the Jewish War Effort in the Viennese Jewish Press. In: Gerald Lamprecht et al. (Eds.), Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective (Wien et al. 2019) 145 – 169. Thomas Stoppacher, The Jewish Soldiers of Austria-Hungar in the Austrian Parliament Debates during World War I and the Postwar Years (1917– 1920). In: Lamprecht et al. (Eds.), Jewish soldiers in the collective memory of Central Europe (Wien et al. 2019) 257– 279. Außerhofer, Tagebucheintrag 29. September 1915. In: Wisthaler (Hg.), Karl Außerhofer, 139. Josef Wegl, am 3. März 1873 in Dittersdorf/Niederösterreich als Kind von Bauern geboren. Nach der Realschule absolvierte er die Lehrerbildungsanstalt St. Pölten und war dann als Volksschullehrer tätig. Kriegseinsatz als Rechnungsunteroffizier in Südtirol und als Fähnrich in Rumänien. Wegl verstarb am 5. November 1953. Maria Schiffinger (Hg.), Das Kriegstagebuch des Josef Wegl. Ein Niederösterreicher an der Dolomitenfront (Salzburg 2015) 10.
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sein. Auch der zuständige Geistliche schien durchaus verständnisvoll agiert zu haben: „Um 3h nachmittags fand das Leichenbegräbnis statt. Der Feldpater erschien hoch zu Ross. Ein Kondukt von 8 Soldaten unter Befehl des Oberleutnants war ausgerückt. ‚Kniet nieder zum Gebet‘ erscholl das Kommando, worauf die kirchliche Einsegnung erfolgte. Der Geistliche hielt eine ergreifende Ansprache und dann kollerten die Erdschollen auf den schlichten Sarg. Möge der Tote, wie der Priester sagte, sanft ruhen in fremder Erde!“⁶⁹³
Die Verabschiedung erfüllte eine wichtige, weil moralerhaltende Funktion, zudem stellte sie die Individualität des Toten wieder her.⁶⁹⁴ Nichtsdestotrotz waren die Militärgeistlichen angehalten, das Suizidtabu zu bekräftigen. Wer sich selbst tötete, versündigte sich dreifach: gegen Gott, das Vaterland und den Kaiser. Auch die Feldgeistlichen machten sie Gedanken über die zunehmende Suizidalität und führten sie auf die rückläufige Kriegsunterstützung zurück. Ein Kaplan wagte es sogar, auf die mangelhafte Ausrüstung hinzuweisen.⁶⁹⁵ Inoffiziell wussten viele Geistliche, dass es die Brutalität des Krieges war, die vulnerabel machte.⁶⁹⁶ Daher erhielten die meisten Suizidenten ein kirchliches Begräbnis und das militärische Kondukt. Das ist bemerkenswert, denn offiziell galten sie neben kriminellen Soldaten, „Selbstverstümmlern“ und Deserteuren als eine innere Bedrohung.⁶⁹⁷ Ihr Ausschluss beim sogenannten Heldengedenken, wenn an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnert wurde, untermauert diese These. Ganz offensichtlich waren Milde und Verständnis nur inoffiziell bzw. im halböffentlichen Bereich möglich. Außerhofer beschrieb in seinem Tagebuch die permanent schlechter werdende Versorgungslage. Da es an Ausrüstung, Lebensmitteln und Hygiene mangelte, grassierten auch viele Erkrankungen. Gleichzeitig wurden die Anforderungen keineswegs nach unten geschraubt. Jede Verfehlung wurde mittels des militärischen Disziplinarrechts geahndet. Außerhofer beschrieb die herausfordernde Situation am 28. September 1915 mit folgenden Worten:
Josef Wegl, Tagebucheintrag 7. August 1915. In: Schiffinger (Hg.), Das Kriegstagebuch des Josef Wegl, 20. Auch die kurze und nüchterne Grabinschrift wurde von Wegl festgehalten: „Jörincz Peter † 6. Aug. 1915.“ Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 195. Houlihan, Catholicism and the Great War, 232. Houlihan, Catholicism and the Great War, 232– 233. Beatriz Pichel, Death that Matters. Bodies and Masculinity in French Photography during the First World War. In: Glunz, Schneider (Eds.), „Then Horror Came Into Her Eyes…“, 119 – 134, here 130.
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„Ist jetzt alle Tage ein langer Befehl wie sich die Mannschaft zu verhalten hat, jeder soll stramm sein, niemand darf krank werden, ob die Leute die Richtige Verpflegung haben u. für die kalte Jahreszeit die entsprechende Bekleidung vorhanden ist, darnach fragt niemand der Mensch ist heute viel weniger wie ein Tier, wegen jeder Kleinigkeit wird mit Erschießen gedroht.“⁶⁹⁸
Daher kam es immer wieder zu Desertionen und selbstbeschädigendem Verhalten. Josef Wegl berichtete von einem hartnäckigen Deserteur, der wiederholt die Flucht ergriff. Er nannte ihn „ein echtes Wiener Früchtl“.⁶⁹⁹ Aufgrund des Diminutivs lässt sich schließen, dass er den Kameraden als wehleidig wahrnahm. Zu offensichtlich hatte dieser gegen das martialische Männlichkeitsideal verstoßen. Auch Außerhofer berichtete immer wieder über Desertionen; sowohl von österreichisch-ungarischen Truppenangehörigen, als auch von italienischen Überläufern. Am 17. August 1916 notierte er die Flucht eines offenbar schwer bedrückten Soldaten. Außerhofer spekulierte, dass sich dieser in den Bach gestürzt hatte. Auch diesen Kameraden verurteilte er nicht: „Gestern nachts ist einer in Hemd u. Gatte [Gattie] durchgebrannt wahrscheinlich ist er in den Bach gesprungen, er war in letzter Zeit trübsinnig.“⁷⁰⁰ Außerhofer entwickelte eine alternative Erzählung zum heroischen, Feindund Natur-überwindenden-Hochgebirgskämpfer,⁷⁰¹ was sich auch aus anderen Tagebüchern von der Isonzo-Front ableiten lässt.⁷⁰² Und selbst in den Originalnotizen von Ernst Jünger fehlten noch die Stahlgestalten.⁷⁰³ Ganz offensichtlich waren militärische Hierarchien und Befehle einzuhalten. Damit konnte von männlich-individueller Entscheidungsmacht kaum eine Rede sein. Die Hochgebirgskämpfer waren abhängig von ihren Vorgesetzten, den Kameraden und den feindlichen Soldaten; aber auch von ihren Maschinenwaffen, dem Wetter und der Topographie. Sie waren ständig in Gefahr, viktimisiert zu werden⁷⁰⁴ und damit
Außerhofer, Tagebucheintrag 28. September 1915. In: Wisthaler (Hg.), Karl Außerhofer, 139. Wegl, Tagebucheintrag 29. September 1915. In: Schiffinger (Hg.), Das Kriegstagebuch des Josef Wegl, 45. Außerhofer, Tagebucheintrag 17. August 1916. In: Wisthaler (Hg.), Karl Außerhofer, 163. Wie von Marco Monlini herausgearbeitet, war das Hochgebirgshelden-Narrativ auch in Italien sehr populär. Monlini, The Warlike Hero in World War I Literatur. In: Glunz, Schneider (Eds.), „Then Horror Came Into Her Eyes…“, 109. Musner, Der verdammte Karst, In: Geyer et al. (Hg.), Zeitalter der Gewalt, 93 – 116. Helmut Lethen, Die Nerven und das Phantom der „Stahlgestalt“: Ernst Jüngers Kriegserfahrungen. In: Geyer et al. (Hg.), Zeitalter der Gewalt, 239 – 254, hier 244– 245. Szczepaniak, Militärische Männlichkeiten und das „technoromantische Abenteuer“ in der österreichischen Literatur zum Ersten Weltkrieg, 290.
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fanden sie sich in einem typisch weiblichen Handlungskontinuum wieder.⁷⁰⁵ Wie die Frauen* konnten auch sie diese ‚Beschränkungen‘ nicht so einfach überschreiten. Suizidales Verhalten kam aber nicht nur bei der Mannschaft vor. Daran lässt uns der Salzburger Josef R. Werner in seinem Tagebuch teilhaben, der an der Karpatenfront stationiert war. Am 25. Februar 1917 berichtete er über den Suizid seines Kameraden Ertel.⁷⁰⁶ Dieser hatte sich im Spital Maramaros-Sziget das Leben genommen. Werner zeigte sich überrascht, hatte doch Ertel weder die bevorstehende Beförderung zum Leutnant noch die Verleihung der silbernen Tapferkeitsmedaille abgewartet.⁷⁰⁷ Der Tote erfüllte alle Kriterien martialischer Männlichkeit. Er war im Begriff, die militärische Karriereleiter hinaufzuklettern, und sein Mut sollte offiziell dokumentiert werden. Werner erlebte die suizidale Handlung als Widerspruch, aber nicht als moralisches Scheitern. Offensichtlich glaubte er aber an die Resilienz von Kameraden, die der soldatischen Männlichkeit genügten. Damit schält sich ein Scheitern daran als Suizidmotiv heraus. Werner erhielt eine letzte Karte vom suizidalen Kameraden, deren Inhalt er in sein Tagebuch übertrug. Das darin erwähnte Ende dürfte sich auf den vorausgegangenen Urlaub bezogen haben. Auffällig war der locker, saloppe Ton der Karte, der mit der Fronterfahrung vieler Soldaten kontrastierte. Besonders die Adjektive glücklich und sorgenfrei wirkten befremdlich, selbst wenn man die privilegierte Position Ertels bedachte. Möglicherweise befand er sich im Auge des Orkans. Menschen, die ihren Suizid beschlossen haben, können nämlich beruhigt und gebessert wirken, weil der schwerwiegende Entschluss gefasst und damit das Ende absehbar wird.⁷⁰⁸ Der ungekürzte Inhalt der Karte lautete folgendermaßen: „‘Lieber Kamerad! Es hat alles ein Ende … und glücklich sitze ich wieder als
Elisabeth Krimmer, A New Kind of Woman: The Feminisation of the Soldier in Works by Remarque, Jünger and Böll. In: Sarah Colvin, Peter Davies (Eds.), Masculinities in German Culture (New York 2008), 170 – 187, here 171. Feldtagebuch von 10. Mai 1916 bis 15. November 1918. Josef Werner unterhielt am Salzburger Mozartplatz ein Fahrradgeschäft. Unmittelbar nach der Reifeprüfung meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger zum Kriegsdienst; Einsatz in einer Ersatzbatterie an der Karpatenfront und an der Piave. Josef R. Werner, Tagebucheintrag 25. Februar 2017. In: Harald Gredler (Hg.), Kriegstagebuch. Ein Salzburger im 1. Weltkrieg von 1916 – 1918 (Salzburg 2013) 21. Manfred Wolfersdorf, Elmar Etzersdorfer, Suizid und Suizidprävention (Stuttgart 2011) 65 – 72. Bezüglich des von Erwin Ringel entdeckten präsuizidalen Syndroms siehe: Erwin Ringel, Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung. Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern (Wiener Beiträge zur Neurologie und Psychiatrie III, Wien u. a. 1953) 104– 153. Hinsichtlich der Stadien der präsuizidalen Entwicklung siehe: Walter Pöldinger, Die Abschätzung der Suizidalität. Eine medizinisch-psychologische und medizinisch-soziologische Studie (Bern 1968).
Religiosität als Ressource an der Front
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Art.Aufklärer in der Schwarmlinie … sorgenfrei … und summ die Fröhlichkeitsbringende Melodei: Mäderl gibt es wunderfeine … aber nicht mehr so wie vor dem Urlaub. Heil Dir! und Dank für die schönen Sylvesterstunden! Glück auf! Herzlich zum Gruß Dein Ertel.‘“⁷⁰⁹
Religiosität als Ressource an der Front Der Glauben half, die Kriegserfahrung zu bewältigen. Hervorzuheben sind die gemeinschaftliche religiöse Praxis und die Zuwendung der Militärgeistlichen, da diese Trost spendeten, motivierten und unterstützten.⁷¹⁰ Daher bildeten sie auch bei suizidalen Impulsen einen wichtigen Anlaufpunkt und Anker. Gläubige Armeeangehörige dürften resilienter gewesen sein als religiös Indifferente.⁷¹¹ Besonders Katholische profitierten von den reichen Ritualen und dem breiten Formenschatz ihrer Kirche. Ihr kollektives Zelebrieren, etwa das Lesen von Fürbitten oder das Rosenkranzbeten, stärkte das Gemeinschafsgefühl. Der Katholizismus selbst galt als weiblich, gefühlsbetont und archaisch, was wiederum den Soldaten ein emotionales Aufgehen ermöglichte.⁷¹² Zudem konnten sie sich so den Daheimgebliebenen nahe fühlen, da diese doch in ihren Kirchen Ähnliches praktizierten und erlebten. Darüber hinaus tröstete die Anrufung der leidenden Mutter Gottes. Dies galt insbesondere für Familien, die jemanden an den Krieg verloren hatten. Ein weiteres Sinnangebot lag in der christlichen Heilslehre selbst. Das Leiden Christi war nicht umsonst, vielmehr diente es einem höheren Zweck. Solcherart ließ sich der Krieg als christliches Martyrium verstehen.⁷¹³ Auch an den Tiroler Fronten spielte die religiöse Praxis eine bedeutende Rolle.⁷¹⁴ Außerhofer und seine Kameraden waren stark dem katholischen Glauben zugetan und beteten daher regelmäßig den Rosenkranz und nahmen an Messfeiern teil. Das Beten ermöglichte Gemeinschaft, tröstete und diente der kollektiven Selbstfin-
Josef R. Werner, Tagebucheintrag 25. Februar 1917. In: Harald Gredler (Hg.), Kriegstagebuch. Ein Salzburger im 1. Weltkrieg von 1916 – 1918 (Salzburg 2013) 21. Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 195. Houlihan, Catholicism and the Great War, 151. Houlihan, Catholicism and the Great War, 205. Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 193. Auch von der Karpaten-Front gibt es Belege über den hohen Stellenwert von religiöser Praxis: „Viele Soldaten tragen Heiligen-Bilder in den Kappen eingenäht, zu denen sie bei Artilleriefeuer vor dem Angriff beten.“ Werner, Tagebucheintrag 28. Februar 1917. In: Gredler (Hg.), Kriegstagebuch, 22.
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dung.⁷¹⁵ Im Hinterland konnten immer wieder die örtlichen Gotteshäuser aufgesucht werden, wie etwa im Oktober 1914, als Außerhofer einer Sonntagsmesse in Silian beiwohnte. Der Seelsorger bemerkte dies und ging besonders auf die Kombattanten ein. Er ermunterte sie zu intensiver religiöser Praxis und „daß die Soldaten im Felde praf den Rosenkranz beten sollen, dann wird es ihnen gut gehen“.⁷¹⁶ An der Front wirkten neben den regulären Militärgeistlichen auch sogenannte Feldkuraten. Zu ihnen gehörten sowohl Gemeindepfarrer und -pastoren als auch Ordensgeistliche, Rabbiner und Imame.⁷¹⁷ Sie leisteten aber nicht nur religiöse Dienste, sondern halfen auch bei Rettungseinsätzen und dem Wegebau. Andere verfassten spirituelle Ratgeber für die Front, wie etwa der katholische Feldkurat Meinrad Langhammer. Der Chorherr des Stiftes Tepl war ein vehementer Kriegsbefürworter und glaubte daher auch an Gottes Segen für den Waffengang: „Nur dann werden wir den Endsieg und dauernden Frieden erlangen, wenn wir uns innig an Gott anschließen, an den starken Helfer und Retter in Elend und Not.“⁷¹⁸ Der von ihm 1916 verfasste Wegweiser enthielt nicht nur Gebete, sondern auch Hinweise auf die christliche Heilslehre und religiöse Praxis sowie österreich-nationale Lieder. Darüber hinaus beschäftigte sich Langhammer recht genau mit dem (Helden)Tod und der Selbsttötung.⁷¹⁹ Letzteres sei ausgeschlossen, da jedes Leben Gott gehörte und somit seinem Willen unterworfen war. Soldaten mussten darauf achten, nicht leichtsinnig zu handeln, da sie sonst den Staat schädigen würden.⁷²⁰ Wenn gelindere Mittel genügten, galt es, diese zu wählen. Langhammer ermahnte auch, keinen Schwerverletzten auf dessen Bitte hin zu töten.⁷²¹ Religiöse Lebensanleitungen für die Front gab es auch von evangelischer Seite. Der Kriegsfürsorgeausschuss der beiden evangelischen Gemeinden in Wien hatte
Patrick J. Houlihan, Religiöse Lebenswelten in Krieg und Frieden. In: Geyer et al (Hg.), Zeitalter der Gewalt, 199 – 218, hier 202. Außerhofer, Tagebucheintrag 4. Oktober 1914. In: Wisthaler (Hg.), Karl Außerhofer, 95. Ähnlich wie die katholischen und evangelischen Soldaten wurden auch die jüdischen und muslimischen in ihrer religiösen Praxis unterstützt. Es wurde auch versucht, die jeweiligen Speisegebote und Feiertage einzuhalten. Gerald Lamprecht, Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg – eine Minderheit? In: Oswald Überegger (Hg.), Minderheiten-Soldaten. Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkriegs (Krieg in der Geschichte 109, Paderborn 2018) 177– 197. Meinrad Langhammer, Näher zu Gott! Andenken an den Weltkrieg. Den Kriegskameraden dargeboten von dem Feldkuraten des Egerländers Hausregiments Nr. 73 (Linz 1916) 4. Langhammer, Näher zu Gott! 132. Langhammer, Näher zu Gott! 132. Langhammer, Näher zu Gott! 132.
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1916 eine solche aufgelegt.⁷²² Welche Autor*innen darin mitgewirkt haben, lässt sich nicht rekonstruieren. Die evangelische Orientierungshilfe war kürzer als das katholische Pendant, ansonsten aber recht ähnlich aufgebaut. Auch hier wurde der Krieg befürwortet und vom gerechten Anliegen Österreich-Ungarns gesprochen. Analog spielte das Thema des (Helden)Tods eine bedeutsame Rolle im evangelischen Wegweiser, der sonst von Gebeten, Gedichten und kurzen Anekdoten dominiert wurde. Dazwischen waren immer wieder Martin-Luther-Zitate gestreut, die anleiten und ermutigen sollten. Die spirituellen Wegweiser warnten wiederholt vor dem Umgang mit ‚unreinen‘ Personen. Dadurch hätten zahlreiche Soldaten „sich, die Familie und andere Unschuldige unglücklich“ gemacht“.⁷²³ Vermutlich zielte dieser Wink auf Sexkauf, aber auch auf homosexuelle Kontakte ab. Tatsächlich waren hinter den Frontlinien Bordelle errichtet worden, welche den Missmut der Militärgeistlichen hervorriefen. Daher drängten sie darauf, sexuell enthaltsame und den Ehefrauen* treue Soldaten zu heroisieren.⁷²⁴ Demgegenüber wurden promiskuitive, bi- und homosexuelle sowie transgeschlechtliche Soldaten verdächtigt, den Kriegserfolg zu gefährden. Ebenso solche, die an Geschlechtskrankheiten erkrankt und zu sexueller Gewalt bereit waren und damit auch die heteronormative Ordnung in der Heimat bedrohten.⁷²⁵ Vor diesem Hintergrund war die Heeresleitung bestrebt, das sexuelle Verhalten ihrer Soldaten zu kontrollieren. Und tatsächlich hatte sich an Front und Etappe eine „Geschlechterunordnung“ breit gemacht.⁷²⁶ Auf einmal übernahmen Frauen* kriegswichtige Funktionen und Männer* mussten abhängig zuwarten. Zugleich lockerte sich die sexuelle Moral, deren Ausflüsse rasch den weiblichen Armee-Hilfskräften untergeschoben und diese als liederlich und abenteuersuchend verunglimpft wurden.⁷²⁷ Aber auch die Beziehungen zwischen den Soldaten änderten sich. Die seelischen Strapazen machten emotionale Qualitäten bzw. Fähigkeiten, die vor-
Kriegsfürsorgeausschuß der beiden evangelischen Gemeinden Wiens (Hg.), Nicht sterben, sondern leben! Ein Ostergruß, unseren evangelischen Soldaten im Felde und daheim entboten von ihrer Gemeinde (Wien 1916). Kriegsfürsorgeausschuß der beiden evangelischen Gemeinden Wiens (Hg.), Nicht sterben, sondern leben! Jason Crouthamel, Love in the Trenches: German Soldiers’ Conceptions of Sexual Deviance and Hegemonic Masculinity in the First World War. In: Hämmerle, Überegger, Bader Zaar (Eds.), Gender and the First World War, 52– 71, here 56. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 28 – 39. Hämmerle, Heimat/Front, 45. Hämmerle, Heimat/Front, 51. Bianca Schönberger, Motherly Heroines and Adventurous Girls. Red Cross Nurses and Women Army Auxiliaries in the First World War. In: Hagemann, Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front, 87– 115, here 92– 95.
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nehmlich Frauen* attribuiert wurden, begehrenswert,⁷²⁸ versprachen diese doch eine Linderung und ein Zur-Ruhe-Kommen, was ihre Aufnahme in das Konzept der guten Kameradschaft beförderte.⁷²⁹ Zugleich eröffneten sich auch Spielräume für gleichgeschlechtliches Begehren.⁷³⁰ Es wurde nun anders wahrgenommen, wodurch experimentiert oder sogar offen homosexuell gelebt werden konnte. Kameradschaft ist daher als ein Schirmkonzept zu verstehen, das unterschiedliche emotionale und sexuelle Bedürfnisse aufnehmen konnte, ohne das Mannsein zu gefährden.⁷³¹ Die so erzeugte Gemeinschaft verwies auf einen genuin männlichen Raum. Ihre Mitglieder schienen weder Frauen*, Familie noch eines Zuhauses zu bedürfen. Sie konnten das alles selbst produzieren und damit souverän agieren.⁷³² Selbst Cross-Dressing wurde akzeptabel, wenn auch in sorgsam kontrollierten Grenzen. Transvestitische Praktiken alleine galten als weitgehend unproblematisch, nicht aber, wenn sie von weiblich wirkenden Homosexuellen gezeigt wurden. Hier wurde rasch das Verdikt pathologisch und dem Wehrdienst entgegenstehend gefällt.⁷³³ Obwohl die verunsicherten Männer* am Krieg gesunden sollten, war etwas anderes eingetreten, kam doch so mancher Kamerad gerade deswegen vom heterosexuellen Pfad ab.⁷³⁴ Die so ‚Gestrauchelten‘ erklärten, dass die jahrelangen Entbehrungen ihre sexuellen Bedürfnisse verzerrt hätten. Und für jene, die sich ohnehin schon latent zu Männern hingezogen fühlten, lockten überall Versuchungen. Gleichzeitig verhalf die Fronterfahrung vielen Homosexuellen zu einem neuen Selbstbewusstsein.⁷³⁵ Sie hatten im Krieg erfolgreich gekämpft und seine Härten durchgestanden. Daher musste martialische Männlichkeit auch für sie gelten. Vielleicht sollte der ideale Heros sogar homosexuell sein, war er doch so von Frauen* unabhängig und konnte vollkommen in der Truppe aufgehen. Der Fokus auf martialische Männlichkeit forderte die Homosexuellenbewegung heraus, konkurrierte dieser doch offen mit Hirschfelds Theorie eines dritten Geschlechts.⁷³⁶ Besonders hypermaskulinen
Crouthamel, Love in the Trenches. In: Hämmerle, Überegger, Bader Zaar (Eds.), Gender and the First World War, 52– 71, here 55 – 56. Nelson, German Comrades – Slavic Whores, 72. Crouthamel, Love in the Trenches. In: Hämmerle, Überegger, Bader Zaar (Eds.), Gender and the First World War, 52– 71, here 60. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 3. Kühne, Zärtlichkeit und Zynismus. In: Borutta, Verheyen (Hg.), Die Präsenz der Gefühle, 182– 183. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 110. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 60. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 13. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 13.
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Homosexuellen widerstrebten weibliche Geschlechtsanteile, wollten diese doch als neue Normalität innerhalb von hegemonialer Männlichkeit anerkannt werden. Der Diarist Außerhofer monierte eine nachlassende religiöse Praxis im zeitlichen Verlauf.Vor allem Offiziere blieben immer häufiger den Rosenkranzgebeten und den Messfeiern fern. In gefechtsarmen Zeiten schloss sich auch die Mannschaft an. Der von ihm repräsentierte gläubige Soldat stellte einen akzeptierten Männlichkeitsentwurf dar, wenn auch sicherlich dem martialischen Heros nachgeordnet. Dieser wurde besonders von den Offizieren propagiert, wobei es auch hier Unterschiede gab. Und so befürwortete zwar so mancher den Drill, zeigte zugleich aber auch Empathie. Diesen respektierten Konzepten standen suizidale Soldaten fern, wodurch sie gefährdet waren, von Offizieren effeminiert und als Feiglinge verunglimpft zu werden.⁷³⁷ Außenhofers Notizen lassen den mythologisierten Alpinisten-Soldaten verblassen, denn er berichtete regelmäßig von Hunger, Brutalität und Resignation sowie über die enervierende und zermürbende Langweile des hochalpinen Stellungskrieges. Hier half die religiöse Praxis, den Tag zu strukturieren. Gleichzeitig konnten so die schrecklichen Erfahrungen bearbeitet und Lebenssinn (wieder)gefunden werden. Von den Erschütterungen der heteronormativen Ordnung profitierten auch die Frauen* und zwar sowohl jene an Front und Etappe als auch die Daheimgebliebenen. Ihr Spielraum hatte sich bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vergrößert. Damit war auch homo- und bisexuelles Begehren von Frauen* sichtbar geworden. Ähnliches galt auch für Praktiken wie Cross-Dressing und Passing, welche bald zum Kriegsalltag gehörten. Aus dem Kriegstagebuch der Krankenschwester R. M. Konrad geht hervor, dass das Verständnis für nervöse Frauen* zu schwinden begann.⁷³⁸ Solche Kolleginnen seien wenig soziabel und egoistisch und zudem würden sie ihre psychische Belastung nur vortäuschen: „Jung sein, gesund aussehen und bis tief in den Vormittag hinein ununterbrochen schlafen und des Abends auch die erste sein, die im Schlaf alle Sorgen vergißt und nervös sein!?“⁷³⁹ So sollte wohl die Lebensführung einer angeschlagenen Frau* nicht aussehen. Auch für die Krankenschwestern galt es, sich selbst zu überwinden und zurückzustecken. Gleichzeitig lockerten sich in der Etappe und an der Front die
Houlihan, Catholicism and the Great War, 232. Über die Rotkreuzschwester R. M. Konrad ist nur wenig bekannt. Zunächst arbeitete sie in Militärspitälern, um sich dann Ende 1915 auf eigenen Wunsch an die Front versetzen zu lassen. Zuerst war sie in Görz stationiert, wenig später versah sie ihren Dienst in Ljubljana. Tagebucheintrag 31. Jänner 1915, R. M. Konrad, Schwestern als Menschen. Aus den Aufzeichnungen einer Armeeschwester (Band I, Innsbruck s. a, vermutlich 1922) 23.
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Geschlechtergrenzen, wovon nicht zuletzt Konrad profitierte,⁷⁴⁰ lernte sie doch so gemeinsam mit anderen Schwestern, ein Pferd zu reiten – und das sogar im Herrensattel. Sie meinte in ihrem Tagebuch dazu: „Ich persönlich hatte nichts gegen den Reitunterricht einzuwenden, aber was würden unser gestrenger Papa, der Herr Oberstabsarzt und was würden die Delegierten sagen …?“⁷⁴¹ Ab 1917 machte es der desaströse Kriegsverlauf notwendig, sogenannte weibliche Hilfskräfte aufzustellen, welche vor allem die Soldaten in der Etappe entlasten bzw. ersetzen sollten. Konkret übernahmen sie technische und kommunikative Aufgaben, aber auch die Truppenverköstigung und Monturfertigung. Insgesamt dürften rund 36.000 bis 50.000 Frauen bei den Hilfskräften angestellt gewesen sein.⁷⁴² Unterstellt waren sie dem Chef des Ersatzwesens für die gesamte bewaffnete Macht. Laut der offiziellen Darstellung handelte es sich bei ihnen um keine Soldatinnen. Tatsächlich trugen sie – obwohl von der Heeresleitung bestritten – sogar eine Art Uniform.⁷⁴³ Zudem beschränkte sich ihr Einsatz nicht nur auf die Etappe und die oben beschriebenen Aufgaben. Dies hing mit dem jeweiligen Kommandanten, aber auch mit der Frage zusammen, inwieweit die Frauen* selbst aktiv in das Kampfgeschehen eingreifen wollten. Exemplarisch sei hier auf Viktoria Savs hingewiesen, die sich ihrem Vater am Kriegsschauplatz Tirol angeschlossen hatte. Als „Heldenmädchen von den Drei Zinnen“ errang sie Berühmtheit und auch die silberne Tapferkeitsmedaille.⁷⁴⁴ Solche Auszeichnungen konnten seit 1915 explizit auch an Frauen verliehen werden. Während Savs Vorgesetzte um ihr Geschlecht wussten, mussten sich die meisten anderen konsequent als Mann* ausgeben. Insbesondere die polnischen und ukrainischen Frauen* praktizierten das sehr erfolgreich und nahmen so auch an den Karpa-
Alleine schon die Kriegsrealität erschütterte die geschlechtliche und sexuelle Identität der Kriegskrankenschwestern und negierte die Kohärenz von Geschlecht. Helga Schreckenberger, Frauen an der Front. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für weibliches Selbstverständnis. In: Glunz, Pełka, Schneider (Hg.), Information Warfare, 135– 146, hier 143. Tagebucheintrag 23. April 1916, Konrad, Schwestern als Menschen, 93. Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I (Cambridge 2004) 204. Im Zuge ihrer Einkleidung erhielten die weiblichen Hilfskräfte Stoffe und Schnittmuster sowie Schuhe. Dennoch entstand dadurch kein einheitliches Erscheinungsbild. Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Manuskripte 1, Weltkrieg Allgemein/111, Bl. 12, Bestimmungen für die Aufnahme weiblicher Hilfskräfte und deren Verwendung im Bereich der Armee im Felde, 22. Bekleidung und Beschuhung. Sowie: Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Allerhöchster Oberbefehl, Chef des Ersatzwesens für die gesamte bewaffnete Macht, 1917, 18 – 1/8 – 50, Beilage C2. Reinhard Heinisch, Frauen in der Armee – Viktoria Savs, das „Heldenmädchen von den Drei Zinnen“. In: Pallasch. Zeitschrift für Militärgeschichte 1 (1997) 41– 44.
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tenschlachten teil.⁷⁴⁵ Während die Rotkreuz-Schwestern gerne gesehen und ebenso erinnert wurden, blieb dies den weiblichen Hilfskräften verwehrt.⁷⁴⁶ Dies hing mit ihrer klaren Überschreitung der Geschlechtergrenzen zusammen, welche ihnen rasch eintrug, vermännlicht, egoistisch und selbstsüchtig zu sein. Denn viele hatten sich aufgrund der guten Verdienstmöglichkeiten und besseren Allgemeinversorgung gemeldet. Zudem wurde ihnen unterstellt, dass sie nur auf (sexuelle) Abenteuer aus wären.Wie bei den regulären Soldaten kam auch bei den weiblichen Hilfstruppen suizidales Verhalten vor. Ein solcher Fall ereignete sich etwa im August 1918 in Zell am See.⁷⁴⁷ Zwei Schwestern, die nun voneinander getrennt werden sollten, arbeiteten dort gemeinsam im Hilfsdienst. Dies bedrückte laut offizieller Darstellung die eine so stark, dass sie sich selbst tötete. Zusätzlich diagnostizierte der hinzugezogene Arzt eine „nervöse, krankhafte Veranlagung“.⁷⁴⁸ Damit wurde auch hier den stereotypen Erklärungen für weibliche Suizidalität gefolgt, indem diese sowohl als beziehungs- als auch anlagebedingt interpretiert wurde. Nachdem so zwar das Militär entlastet worden war, stellte sich noch immer die Begräbnisfrage.Wo und wie die junge Frau beerdigen? Letztendlich wurde sie ohne Zuwarten auf eine Anordnung am nahen militärischen Friedhof beigesetzt. Wie bedeutsam Religion sein konnte, zeigt sich auch am Fall des suizidalen Soldaten Thaddäus X. Obwohl katholisch hatte er sich dem evangelischen Feldgeistlichen Victor Kirchner anvertraut, was freilich wohl auch aus Ermangelung eines katholischen Kuraten erfolgte. Kirchner reflektierte diese Episode in einer moral- und religionspsychologischen Studie. Folgende Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein. Erstens konnte er noch ausführlich mit dem Sterbenden sprechen. Zweitens war eine interkonfessionelle Begleitung keineswegs alltäglich. Kirchner nützte den Fall, um sich als gütigen Gottesmann zu präsentieren, sei doch seine Präsenz für den Suizidalen sehr vorteilhaft gewesen. Denn ein katholischer Seelsorger hätte ihm kaum ein „ehrendes Begräbnis und
Angelique Leszczawski-Schwerk, Amazonen, emanzipierte Frauen, „Töchter des Volkes“. Polnische und ukrainische Legionärinnen in der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg. In: Cole, Hämmerle, Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam, 55 – 76, hier 68 – 71. Schönberger, Motherly Heroines and Adventurous Girls. In: Hagemann; Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front, 87– 115. Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Allerhöchster Oberbefehl, Chef des Ersatzwesens für die gesamte bewaffnete Macht, 1918, 18 – 23/14– 11, Monatsberichte von Fraueninspektorinnen. Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Allerhöchster Oberbefehl, Chef des Ersatzwesens für die gesamte bewaffnete Macht, 1918, 18 – 23/14– 11, Monatsberichte von Fraueninspektorinnen.
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Geistlichenbegleitung“ gewährt.⁷⁴⁹ Offensichtlich hatte der sogenannte Kulturkampf auch die Front erreicht. Die Kritik am politischen Katholizismus überschattete aber nicht alles, denn mit dem Krieg hatte sich ein Dialogfeld eröffnet, wovon sogar Andersgläubige und Agnostiker*innen profitierten.⁷⁵⁰ Der evangelische Feldkurat Kirchner bekräftigte eingangs das Suizidtabu, um dann zu relativieren, dass es auch ein individuelles Zugehen geben konnte,⁷⁵¹ was besonders im Fall des Thaddäus X. zutraf, da sich dieser äußerst reuig zeigte.⁷⁵² Kirchner handelte hier aber nicht nach eigenem Ermessen, sondern vielmehr konform des gültigen Codex Iuris Canonici (CIC) von 1917. Laut diesem durften Bußfertige, also auch Suizident*innen, auf die Vergebung Gottes hoffen.⁷⁵³ Und so konnte Kirchner mit dem Bedauern des X. arbeiten: „Es war mir ganz klar: diesem Reumütigen vergibt Gott.“⁷⁵⁴ Wer war dieser Suizidale überhaupt? Der 18-jährige Thaddäus X. kam aus Posen und war dort zum Handlungsgehilfen ausgebildet worden. Er diente zum Zeitpunkt seines suizidalen Handelns an der Westfront. Exakte Angaben fehlen, aber er könnte in der Gegend um La Fère stationiert gewesen sein. Auf jeden Fall hielt er sich in der Etappe der Operation Michael auf, die am 21. März 1918 im Rahmen der letzten großen Westoffensive gestartet werden sollte. Eine Woche davor feuerte er einen Schuss gegen das eigene Herz ab. Diese Verletzung provozierte schwere Blutungen, die nach sechs Tagen im Kriegslazarett auch zu seinem Tod führten. Er war während dieser Zeit meist bei Bewusstsein und daher auch in der Lage, nach einem Geistlichen zu verlangen. Dieser sollte ihm die Beichte abnehmen, und danach noch das Heilige Abendmahl und die letzte Ölung spenden. Allerdings war ein katholischer Seelsorger nicht erreichbar. Der französische Curé wäre zwar nahe gewesen, aber aufgrund der Kriegsräson unerwünscht. In dieser Situation erklärte sich der evangelische Feldkurat Kirch-
Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 97. Becker, Religion. In: Hirschfeld et al. (Hg), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 195. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 99. Der Seelsorger meinte gegenüber Thaddäus X.: „Er solle Gott danken, daß er ihn am Leben gelassen habe; so habe er doch die Möglichkeit zur Reue, Sündenvergebung und Besserung.“ Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 84. „1917 CIC 1240 § 1. Ecclesiastica sepultura privantur, nisi ante mortem aliqua dederint poenitentiae signa. 1917 CIC 1240 § 1 n. 3 Qui se ipsi occiderint deliberato consilio.“ Codex Iuris Canonici 1917, Stefan Ihli, Codex Iuris Canonici/1917 online, online unter 14. 2. 2016. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 90.
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ner bereit, den Suizidalen zu betreuen und so weit wie möglich auf dessen Wünsche einzugehen. Victor Kirchner betonte, stets nur unzurechnungsfähigen Suizident*innen ein kirchliches Begräbnis gewährt zu haben. In den anderen Fällen hätte er trotzdem empathisch gehandelt und den Sarg privat begleitet. Er beschrieb auch den pflegerischen Umgang mit dem Verwundeten. Offenbar wurde versucht, eine Diskriminierung möglichst hintanzuhalten. Neben Thaddäus X. lag ein Kamerad, der bei einer Handgranatenübung schwer verletzt worden war. Dieser wurde laut Kirchner besonders umsorgt, aber das Pflegepersonal hat „auch den anderen (Thaddaeus X., Anm. MH) so gut wie möglich behandelt und ihn sein Unrecht nicht fühlen lassen.“⁷⁵⁵ Der Sterbende wollte sich unbedingt noch vom Vater verabschieden und da er den Brief nicht mehr selbst schreiben konnte, diktierte er ihn Kirchner.⁷⁵⁶ Offensichtlich war er regelmäßig von seinen Kameraden verhöhnt und schikaniert worden. Außerdem fiel er beim Appell negativ auf, womit er auch den Ärger des Feldwebels auf sich zog. Er betonte, sich stets bemüht zu haben, seine Herzschwäche hätte aber nicht mehr zugelassen. Als Suizidmotiv nannte er die bevorstehende Versetzung zu seinem früheren Stoßtrupp, welche er offenbar zutiefst fürchtete. Am Ende des Briefes bat er um Verzeihung und betonte, dass er aus der Aufregung heraus gehandelt hatte. Offensichtlich strauchelte Thaddäus X. am Ideal von soldatischer Männlichkeit, welches um Sportlichkeit und Selbstüberwindung zirkulierte. Scheiterte er doch an den Exerzieraufgaben, fiel in Bäche und vermochte seinem Körper nicht die geforderte Leistung abzuringen. So konnte er nicht in der Masse aufgehen und ein Teil der viel beschworenen Feldgemeinschaft werden. Diese ‚Defizite‘ wurde sowohl von den Kameraden als auch den Vorgesetzten sanktioniert, was dazu führte, dass er ausgelacht wurde, nachexerzieren musste und sein Bett mit Fäkalien verunreinigt vorfand. Für Kirchner war Thaddäus X. auch an seiner zu großen Feinfühligkeit gestorben. Damit zusammenhängend betonte er den „weichen sensiblen Charakter“⁷⁵⁷ des X., seine „Hypersensibilität“⁷⁵⁸ und „sein übertreibendes Spüren“.⁷⁵⁹
Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 84. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 87. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 95. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 105. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 105.
Selbstmörder während des Selbstmörder während des Selbstmörder während des Selbstmörder während des Selbstmörder während des
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Diese Merkmale waren als weiblich, homosexuell und neurasthenisch konnotiert, wodurch sie mit dem hegemonialen Ideal von soldatischer Männlichkeit konfligierten. Obwohl Thäddaus X. die Norm verfehlt hatte, suchte ihn Kirchner posthum in die Feldgemeinschaft zu integrieren. Dazu musste der Seelsorger den Korpsgeist und das militärische System bejahen, aber auch den Verstorbenen galt es, so zu positionieren. Den Grundstein dazu hatte dieser bereits selbst gelegt: „Er redet immer nur vom eigenen Unvermögen des Körpers, von dem Versagen seiner Nerven.“⁷⁶⁰ Kirchner lobte auch das Verhalten des X. im Lazarett, hätte er sich doch durch „Selbstbeherrschung, Selbstüberwindung, Selbstverleugnung“⁷⁶¹ ausgezeichnet. Kirchner entschärfte auch die Schuldfrage, indem er auf die gesundheitlichen Probleme des Suizidenten und die Härten des Krieges hinwies.⁷⁶² Zudem sei dieser durch die nervenkranke Mutter vorbelastet gewesen.⁷⁶³ Nichtsdestotrotz sei der Verstorbene immer willig gewesen und hätte damit sehr wohl einem Aspekt von soldatischer Männlichkeit genügt.⁷⁶⁴ Auch der zuständige Kompagnieführer zeigte etwas Verständnis, „aber man muß die Zähne aufeinanderbeißen“.⁷⁶⁵ Ähnlich argumentierte Kirchner, der darauf beharrte, dass am militärischen Drill nicht zu rütteln sei, um dann noch hinzufügen, dass permanente Härte vermieden werden und es Platz für Kameradschaftlichkeit geben sollte.⁷⁶⁶
Die Biologisierung suizidalen Verhaltens Mit dem Krieg erhielt das suizidale Verhalten der Soldaten neues Gewicht. Was beeinflusste dieses und woran hatten sie laboriert? Den pathologischen Anato-
Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 89. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 99. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 96. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 99. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 96. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 95. Deren vitalen Charakter illustrierte er am mächtigen Kollektivsymbol der Sonne. Kirchner, Eine interkonfessionale Handlungsweise an einem Selbstmörder während des Weltkrieges im Felde selber nebst ihren Begleiterscheinungen, 109.
Die Biologisierung suizidalen Verhaltens
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men bot sich reiches Analysematerial, wurde doch beim Heer routinemäßig obduziert. Die systematische Untersuchung dieser Leichen galt als erfolgsversprechend, da nicht nur neues Wissen lockte, sondern auch der Ausbau der Prävention. Besonderes Augenmerk genossen die sogenannten Konstitutionsanomalien, womit an und für sich normale Abweichungen gemeint waren, welche aber Krankheiten begünstigten. Solcherart bildeten sie ein wichtiges Scharnier zu suizidalem Verhalten und der Kriegshysterie.⁷⁶⁷ Der somatische Forschungsturn soll anhand einer Arbeit von Emil Neste näher vorgestellt werden, in welcher er die Sektionsprotokolle von suizidalen Soldaten analysierte.⁷⁶⁸ Die Obduktionen waren vom Direktor des pathologischen Instituts der vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt worden. Alle sechzehn Kombattanten hatten während des Krieges ihrem Leben ein Ende bereitet.⁷⁶⁹ Neste erkannte bei der Hälfte davon einen ausgeprägten Status thymico-lymphaticus, bei weiteren vier war dieser schwächer ausgeprägt und beim Rest fehlte er.⁷⁷⁰ Hinter diesem Status verbargen sich vergrößerte Lymphdrüsen (insbesondere Thymus), die von geschrumpften Nebennieren komplementiert wurden.⁷⁷¹ Neste schloss daraus auf eine veränderte Hormonausschüttung, welche wiederum das Nervensystem in Mitleidenschaft zog. Letztendlich würde so eine Suizid-Prädisposition entstehen.⁷⁷² Betroffene unterlägen leicht „Krankheitseinflüssen, besonders Infektionskrankheiten, Alkoholintoxikationen“⁷⁷³ und seien „auch psychischen Einwirkungen gegenüber sehr wenig widerstandfähig“⁷⁷⁴. Die Lehre des Status thymico-lymphaticus war vom Wiener Gerichtsmediziner Arnold Paltauf (1860 – 1893) begründet worden, der so versuchte, plötzliche Todesfälle von jungen, gesunden Erwachsenen zu erklä-
Hannes Leidinger,Verena Moritz, Nervenschlacht. „Hysterie“, „Trauma“ und „Neurosen“ am Beispiel der Ostfront 1914– 1918. In: Bernhard Bachinger, Wolfram Dornik (Hg.), Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz – Wien – Innsbruck 14, Innsbruck u. a. 2013) 157– 177, hier 162. Emil Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 60 (1919) 43 – 71, hier 55. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 55. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 55. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 43. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 47. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 68. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 68.
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ren.⁷⁷⁵ Paltauf vermutete einen Zusammenhang mit vorausgegangener körperlicher Anstrengung (z. B. Baden) oder akutem psychischen Stress. Der Fokus auf den lymphatischen Apparat wurde von den Pathologen Julius Bartel, Anton Brosch, Hermann Pfeiffer und Eduard Miloslavich übernommen und weiterentwickelt.⁷⁷⁶ Die Auswertungen von Eduard Miloslavich dürften für Neste besonders attraktiv gewesen sein, reproduzierte er doch dessen Studie seitenlang. Ihren gemeinsamen Grund hatten sie in den prädisponierenden Konstitutionsanomalien gefunden.⁷⁷⁷ Solcherart ließen sich auch die rivalisierenden psychologischen Thesen⁷⁷⁸ und damit die Einstufung des Suizids als reine Affekthandlung herausfordern. Neste klassifizierte den Suizid als typisch für Jugendliche und junge Erwachsene, was auch zu erklären schien, warum die Soldaten so vulnerabel waren. Gleichzeitig war nicht von der Hand zu weisen, dass sie unter dem militärischen Drill, den strengen Hierarchien und den Körperstrafen litten. Ebenso entlarvte er die Schikanen und den brutalen Kriegsalltag als Stressoren. Als solche fasste er auch akute Infektionen, innere Läsionen, rege Magen- und Darmtätigkeit sowie Menstruation und Schwangerschaft.⁷⁷⁹ Vor allem die letztgenannten Faktoren überraschen, da weibliche Leichen überhaupt nicht zum Sektionskorpus gehört hatten. Allerdings galt der weibliche Körper selbst als eine Anomalie, wodurch sich über ihn die These einer konstitutionellen Schwäche stärken ließ. En passant bestätigte Neste so auch die heteronormative Ordnung der Leiber. Für den Anatomen war es ein Status thymico-lymphaticus, der vulnerabel machte. Wenn dann noch psychische bzw. pyschosomatische Belastungen hinzukamen, lief das Fass über⁷⁸⁰ und die Betroffenen würden suizidal reagieren.⁷⁸¹ Obwohl Neste soziale und systemische Missstände klar ansprach, nivellierte er deren Einfluss, indem er eine schicksalhafte Konstitution und Vul-
Arnold Paltauf, Ueber die Beziehungen der Thymus zum plötzlichen Tod. In: Wiener klinische Wochenschrift 2/46 (1889) 877– 881. Sowie: Arnold Paltauf, Ueber die Beziehung der Thymus zum plötzlichen Tod. In: Wiener Klinische Wochenschrift 3/9 (1890) 172– 175. Michaela Maria Hintermayr, „… während die Männer an den härteren Kampf um’s Leben schon gewohnt sind.“ Der pathologisch-gerichtsmedizinische Aspekt des geschlechtsspezifischen Suiziddiskurses im frühen 20. Jahrhundert in Österreich. In: Alexia Bumbaris, Veronika Helfert, Jessica Richter, Brigitte Semanek und Karolina Sigmund (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert? Aktuelle Beiträge aus der jungen Forschung (Studien zur Frauenund Geschlechtergeschichte 11, Innsbruck u. a. 2016) 165 – 187. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 48. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 50. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 69. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten,69. Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 68.
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nerabilität als kausal setzte. Die obigen ‚Nebengeräusche‘ waren damit aber nicht erledigt, nur tönten sie nicht mehr so laut. Neste stellte fest, dass in den letzten beiden Kriegsjahren die Suizide zurückgingen und die Diagnose des Status thymico-lympathicus seltener zu stellen gewesen sei. Daher müsse es sich hier um eine temporäre Konstitutionsanomalie handeln.⁷⁸² Die These des Status thymicolympathicus konnte sich nie recht durchsetzen, denn letztendlich konnte sie keine überzeugenden, geschweige denn praktikable Antworten liefern. In der Zwischenkriegszeit wurde sie dann von Clemens Eickhoff falsifiziert.⁷⁸³
Die Heimatfront Kriegs- und Heimatfront bildeten keine getrennten Sphären, vielmehr bedingten sie sich gegenseitig.⁷⁸⁴ Dies illustrieren u. a. die zahlreichen Briefe, die hin und her gesandt wurden. Nähe produzierten auch die reichen Fürsorgeanstrengungen und sogenannten Liebesgaben.⁷⁸⁵ Besonders das Handarbeiten wurde patriotisch aufgeladen und nahm rasch einen prominenten Platz in der heimatlichen Militarisierung ein.⁷⁸⁶ Dieses Verwobensein spiegelte sich auch im Tagebuch der Frontkrankenschwester R. M. Konrad, die eine breite Kriegsbefürwortung notierte: „Da kam der Krieg. Die Männer scharten sich unter dem Doppeladler, von Begeisterung durchdrungen, von der Liebe zum Vaterlande beseelt. Und die Frauen, auch sie konnten
Neste, Die Beziehungen des Status thymico-lymphaticus zum Selbstmord von Soldaten, 70. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 337– 338. Die Thymusdrüse verschwand damit nicht ganz aus dem pathologischen Fokus, wurde sie doch eines möglichen Zusammenhangs mit dem plötzlichen Kindstod verdächtigt. Karen Hagemann, Home/Front. The Military,Violence and Gender Relations in the Age of the World Wars. In: Hagemann, Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front, 1– 42, here 7– 12. Hagemann, Mobilizing Women for War, 1062. Hageman führt die intensive Verflechtung darauf zurück, dass es sich beim Ersten Weltkrieg um einen sogenannten Totalen Krieg handelte. Dieser produzierte neue Dimensionen der Intensität, Mobilisierung und Vernichtung. Siehe dazu: Roger Chickering, Total War. The Use and Abuse of a Concept. In: Manfred F. Boemeke et al. (Eds.), Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871– 1914 (Cambridge 1999) 13 – 28 und Roger Chickering, Militärgeschichte als Totalgeschichte im Zeitalter des totalen Krieges. In: Benjamin Ziemann, Thomas Kühne (Hg.),Was ist Militärgeschichte? (Paderborn 2009) 301– 312. Hämmerle, Heimat/Front, 22. Anzeige des Tuchhauses Josef Foukal (Jägerndorf), Liebesgaben für unsere braven Soldaten! Elisabeth-Blatt 9. Jg./ Heft 19 (1914) 2. Hämmerle, Heimat/Front, 116 – 123. Damit zusammenhängend wurde das Handarbeiten auch temporär aufgewertet. Hämmerle, Heimat/Front, 136.
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nicht müßig bleiben, auch sie drängte die Fülle des Empfindens, Opfergaben auf den Altar des Vaterlandes zu legen, jegliche nach ihrer Art, nach Können und Vermögen.“⁷⁸⁷
Soziale Fürsorgearbeiten galten als ideal für Frauen*, die zudem so ihre ‚wahre‘ Weiblichkeit wiederfinden sollten. Bald traten aber neue oder erweiterte Aufgaben hinzu, mussten doch die Kriegswirtschaft und etwaige Familienunternehmen am Laufen gehalten werden. Im März 1918 kam sogar eine Regierungsvorlage über eine allgemeine Arbeitspflicht, die Männer* bis zum 60. und Frauen* bis zum 40. Lebensjahr umfasste. Die Vorlage wurde allerdings nicht mehr verabschiedet und so in gültiges Gesetz überführt.⁷⁸⁸ Viele der skizzierten Nivellierungen, etwa, dass Frauen* in Kaffeehäusern als Servicekraft arbeiteten, erodierten nach dem Kriegsende rasch. Bereits im Dezember 1918 forderte die Gehilfenversammlung der Kaffeesiedergenossenschaft die „s o f o r t i g e E n t f e r n u n g d e r w e i b l i c h e n B e d i e n s t e t e n .“⁷⁸⁹ Sollten doch die ehemaligen Soldaten rasch wieder einen Arbeitsplatz finden können. Die Relevanz der Heimatfront illustrieren auch die zahlreichen Flugblätter, die über den großen k. u. k. Städten abgeworfen wurden. Beispielhaft soll ein italienisches vorgestellt werden, das für Wien vorgesehen war und wahrscheinlich 1917 oder 1918 vom Himmel flatterte. Über das Flugblatt sollte die Bevölkerung zur Kapitulation oder zumindest zur politischen Erhebung motiviert werden. Neben den implizit männlichen Bürgern adressierte es auch Frauen*, Kinder und alte Menschen. Obwohl nachgeordnet, wurden diese also sehr wohl als politisch relevant wahrgenommen: „Wir Italiener führen den Krieg nicht mit Bürgern, Kindern, Greisen und Frauen. Wir führen den Krieg mit eurer Regierung, dem Feinde der nationalen Freiheit, mit eurer blinden, starrköpfigen und grausamen Regierung, die euch weder Brot noch Frieden zu geben vermag und euch nur mit Hass und trügerischen Hoffnungen füttert.“⁷⁹⁰
Konrad, Schwestern als Menschen, 4. Allgemeine Arbeitspflicht im Kriege. – Eine Regierungsvorlage, die sich auf Männer bis zum 60. auf Frauen bis zum 40. Jahr erstreckt, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6543, 21. März 1918, 2– 3. Im Dezember 1918 standen 800 weiblichen Servicekräften 1.800 männliche gegenüber. Das Ende der weiblichen Kaffeehausober, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6813, 20. Dezember 1918, 5. Wiener! Lernt die Italiener kennen! Flugblätter Italiens für Österreich-Ungarn 1917– 1918. Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv und Grafiksammlung, online unter , 16.10. 2013.
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Gleichzeitig wurde auch mit dem Säbel gerasselt, sollte Österreich-Ungarn auf dem Waffengang beharren: „Wollt ihr den Krieg fortführen? Tut es, wenn ihr Selbstmord begehen wollt!“⁷⁹¹ Damit versuchte die italienische Regierung die Verantwortung an die österreichische Bevölkerung auszulagern. Wie eng Kriegsund Heimatfront verwoben waren, illustriert auch die 1916 in Wien erschiene Schrift Wie wir uns im Kriege verändern. In dieser forderte Friedrich Nauman eine militarisierte Gesellschaft und einen mitteleuropäischen Wirtschaftsbund unter deutscher Führung. Der sozioliberale Politiker und evangelische Theologe Naumann vertrat klar sozialdarwinistisches Gedankengut und befürwortete den Weltkrieg, seien doch so ungesunder Material- und Individualismus zurückgegangen und der Staat, die Gemeinschaft und das Teilen endlich wichtiger geworden.⁷⁹² Augenscheinlich missbilligte er die Vorkriegskultur und -gesellschaft sowie ihre starken empfindsamen Regungen. Immerhin hätten sich diese kaum negativ ausgewirkt, zeigten doch die jungen Soldaten einen starken Willen sowie zähe und widerstandsfähige Körper. Auch der eigene Tod würde sie nicht schrecken. Letztendlich propagierte Naumann eine Gesellschaft der starken Männer*. Wehrkräftig und hart sollten diese sein, aber auch ihrer Heterosexualität sicher und den Frauen* überlegen. Soziale und emotionale Bedürfnisse galt es, wieder in das Private zu verschieben. Aus dem Obigen ergibt sich dreierlei. Erstens, kriegerische Männlichkeit sollte als hegemoniales Ideal gestärkt werden. Zweitens, klassenbezogene, ethnische und konfessionelle bzw. religiöse Unterschiede sollten verschleiert werden. Drittens, die heteronormative Geschlechtermatrix sollte inklusive ihrer sexistischen Agenda stabilisiert werden. Nicht nur die Geschlechter veränderten sich, sondern auch die Suizidstatistiken. Heteronormativ blieben sie zwar weiterhin, aber ihr zahlenmäßiger Trend wandelte sich. Hatten sich 1913 pro 100.000 Einwohner*innen noch 28 suizidiert, so sank diese Rate mit dem Krieg.⁷⁹³ An seinem Ende lag sie bei nur mehr 17.⁷⁹⁴ Allerdings sollte sie im Folgejahr gleich wieder auf 24 steigen.⁷⁹⁵ Dieser temporäre Rückgang war maßgeblich den Männern* geschuldet.⁷⁹⁶ Die weiblichen Suizide Wiener! Lernt die Italiener kennen! Friedrich Naumann, Wie wir uns im Kriege verändern (Wien 1916) 16 – 20. Absolute Suizide: 1.898. Diese und die folgenden Angaben ohne Burgenland, Untersteiermark, Südtirol und Trentino. Norbert Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988. In: Zeitgeschichte 17/5 (1990) 209 – 225, hier 222. Absolute Suizide: 1.121. Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988, 222. Absolute Suizide: 1.535. Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988, 222. Susanne Hahn, „Minderwertige, widerstandslose Individuen …“ – Der Erste Weltkrieg und das Selbstmordproblem in Deutschland. In: Wolfgang Eckart, Christoph Gradmann (Hg)., Die Medizin und der Erste Weltkrieg. Widerstandslose, minderwertige Individuen (Neuere Medizinund Wissenschaftsgeschichte 3, Pfaffenweiler 1996) 273 – 297, hier 276. Die frontabgestellten
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gingen hingegen kaum bis gar nicht zurück, dafür wuchs ihr Anteil an der Gesamtzahl. So waren vor dem Krieg nur 24 % aller Suizide auf Frauen* entfallen.⁷⁹⁷ An seinem Ende betrug dieses Kontingent bereits 33 %,⁷⁹⁸ bevor dann in den 1940er-Jahren das Allzeithoch von 46 %⁷⁹⁹ erreicht wurde. Diese Entwicklung weckte das Interesse des deutschen Psychiaters Hans Walter Gruhle und er setzte sich intensiv mit den heteronormativen Suizidkurven auseinander. Was begründete den so merkwürdigen weiblichen Trend? Zuerst überprüfte er die dafür angebotenen Thesen. Reagierten Frauen* tatsächlich weniger auf den Krieg? Waren ihre Suizide wirklich stärker durch intrinsische Faktoren motiviert?⁸⁰⁰ Gruhle negierte, dass die Frauen* vom Krieg unberührt geblieben waren, hätten sie doch zunehmend kriminellen Impulsen nachgegeben.⁸⁰¹ Die gestiegenen Eigentumsdelikte würden das eindeutig belegen, die zugleich mit dem typisch weiblichen Egoismus korrelierten.⁸⁰² Dieser würde sich auch in ihrem suizidalen Handeln manifestierten. Sie fokussierten (zu) stark das eigene Selbst und seien daher auch vulnerabler: „Mädchen sind nicht nur mit dem Reden vom Selbstmord, sondern auch mit Selbstmordversuchen viel schneller bei der Hand.“⁸⁰³ Damit erschien dieser eigentümliche Trend hinreichend erklärt, war letztendlich doch der weibliche Geschlechtscharakter dafür verantwortlich. Parallel dazu ließ Gruhle eine kriegsbedingte Unterregistrierung männlichen Suizidhandelns nicht gelten.⁸⁰⁴ Er negierte sowohl statistische Mängel als auch unentdeckte Frontsuizide, vielmehr sei die sinkende männliche Vulnerabilität eine reale Erscheinung gewesen. Dafür würde auch die regelmäßige und mit pazifistischen Staaten korrelierende Ent-
Männer* dürften zu diesem Absinken wenig oder gar nicht beigetragen haben. Das k. u. k. Kriegsministerium verzichtete vor allem gegen Kriegsende auf Erhebungen. Dies könnte – neben bürokratischen Engpässen – ein Indiz dafür sein, dass die Suizide als zu zahlreich erlebt wurden. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 183. Leidinger, Moritz, Nervenschlacht. „Hysterie“, „Trauma“ und „Neurosen“ am Beispiel der Ostfront 1914– 1918. In: Bachinger, Dornik (Hg.), Jenseits des Schützengrabens, 157. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 494. In Berlin überwogen bereits 1918 die weiblichen Selbsttötungen deutlich. Auf 100 männliche Suizide kamen dort 124 weibliche. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 328. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 494. Hans W. Gruhle, Selbstmord (Leipzig 1940) 30 – 40. Die fatale Versorgungslage und daraus resultierende, illegale Tätigkeiten zur Nahrungs- und Heizmittelbeschaffung ließ Gruhle unerwähnt. So galt etwa auch das Sammeln von Untergehölz und Zapfen als teilweise strafbar. Siehe dazu auch: Belinda J. Davis, Food, Politics and Women’s Everyday Life during the First World War. In: Hagemann, Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front, 115 – 137. Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, 31– 86. Naumann, Wie wir uns im Kriege verändern, 31– 32. Naumann, Wie wir uns im Kriege verändern, 31. Gruhle, Selbstmord, 35.
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wicklung sprechen.⁸⁰⁵ Letztendlich suchte Gruhle zu beweisen, dass Sozialität genuin männlich war und dass damit verknüpft die heteronormative Geschlechtermatrix unverrückbar sei.
Die Verhandlung suizidalen Verhaltens am Boulevard Nachfolgend soll analysiert werden, wie die Illustrierte Kronen-Zeitung suizidales Begehren verhandelte. Vorneweg geschickt werden kann, dass sie dieses hauptsächlich in den Chronikrubriken thematisierte; allerdings weniger umfänglich als vor dem Krieg. Selbst über bemerkenswerte Fälle wie jenen des korrupten Regierungsrat Eduard Rambousek berichtete sie nur knapp.⁸⁰⁶ Daher werden folgende Fragen fokussiert: Welche Motive waren sagbar? Bei welchen Fällen hielt sich das Medium zurück? Welche neuen Themen tauchten auf? Die Illustrierte Kronen-Zeitung verhielt sich gegenüber Krieg und Kaiserhaus affirmativ. Offener Widerstand war ohnehin seit 1914 rechtswidrig.⁸⁰⁷ Selbst öffentliche Zusammenkünfte waren verboten worden. Das Blatt verzichtete meist auch auf subtile Kritik, was mit seinem Gründer Gustav Davis zusammenhing, der von Krieg und Monarchie überzeugt war.⁸⁰⁸ Selbst im Juli 1918 ‚berichtete‘ es daher noch von „stürmische(n) Ovationen“ für das Kaiserpaar in Bratislava.⁸⁰⁹ Für den Unmut der Bevölkerung schien es hingegen keinen Platz zu geben. Dabei war längst klar, dass der Krieg verloren und politische Umwälzungen bevorstanden. Aber nicht alles wurde schöngefärbt, daher berichtete die Zeitung recht offen über die an-
Gruhle, Selbstmord, 35 – 36. Der 1873 in Prag geborene Eduard Rambousek hatte sechs Millionen Kronen unterschlagen, die Bedürftigen zu Gute hätten kommen sollen. Das Delikt flog auf und der flüchtige Rambousek wurde in Wien gefasst. Daraufhin erhängte er sich am 16. November 1918 im Polizeigefangenhaus. Die Affäre Rambousek. Selbstmord des Landesregierungsrates Rambousek, Illustrierte KronenZeitung, Nr. 6780, 17. November 1918, 4. Siehe zum Fall Rambousek und den ungenügenden politischen Konsequenzen auch: Janet Dernovsek, Tamara Neurauter, „Es hieß, daß der hohe Landesbeamte in Salzburg ein panamistisches Verwaltungssystem aufgerichtet hatte, mit dem er sich und seine Helfer Jahre hindurch bereichert habe.“ Die Affäre Rambousek 1918/1919. In: Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim (Neuaufl. der 2., durchges. und erw. Ausg., Innsbruck u. a. 2007) 170 – 184. Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire, 122 – 162. Gustav Davis hatte 14 Jahre beim k. u. k. Heer gedient, bevor er im Rang eines ArtillerieOberleutnants pensioniert wurde. Unter dem Pseudonym Gustav Tannhofer verfasste er Artikel und Fortsetzungsromane für die Kronen-Zeitung. Stürmische Ovationen für das Kaiserpaar in Preßburg, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6657, 17. Juli 1918, 2.
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gespannte Versorgungslage in den Städten und über Kriegsgewinnler*innen wusste sie sich sogar zu echauffieren.⁸¹⁰ Die Hunger-Thematik wurde auch mit suizidalem Verhalten verknüpft. Dies zeigt sich exemplarisch in einem Bericht über die Selbsttötung eines wohlhabenden Hietzinger Hausbesitzers.⁸¹¹ Motiviert hätten ihn dazu seine kürzliche Verwitwung und seine Hungerängste. Offenbar hatte sich Franz Dober in seinen letzten Wochen stark verändert. Er erlebte suizidale Impulse, fürchtete um seine Nahrungssicherheit und negierte Hinweise auf seinen Wohlstand. Auch das Gegenüber würde noch den Hungertod erleiden. Die Zeitung erkannte darin fixe Ideen und führte diese auf verwirrte Sinne zurück, titelte aber trotzdem mit: „Aus Angst vor dem Verhungern“.⁸¹² Den angeschlagenen psychischen Zustand des Verstorbenen enthüllte sie erst später. Für ein Boulevardmedium war das nur konsequent, da es von brisanten oder polarisierenden Schlagzeilen lebte. Tatsächlich war der Hunger im Jahr 1918 zu einem brennenden Thema geworden. „Irrsinn“ alleine hätte nie so attraktiv aufgemacht werden können, der sich zudem mit privilegierter Männlichkeit spießte. Im Fall der Theres Kubak, die am 24. Juli 1918 an einer durchschnittenen Kehle verstarb, setzte es hingegen ganz auf das Hungermotiv.⁸¹³ Laut der Zeitung war sie in ihrer Mobilität eingeschränkt und konnte daher nicht um Lebensmittel anstehen. Auch ihre Familie hätte an der daraus resultierenden Not zu leiden gehabt, was Kubak offenbar verzweifeln ließ: „Auch sie selbst litt oft Hunger, Ihren Nachbarn klagte sie wiederholt ihr Leid und erklärte, daß sie dies Leben nicht länger ertragen könne.“⁸¹⁴ Dieses Hören-Sagen genügte dem Medium, um auf das Motiv Hunger zu schließen. Über andere Gründe oder Hergänge spekulierte es nicht einmal. Dabei war die Leiche zur Sektion überstellt worden, da ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden konnte. Der eigentliche Anlass – der Krieg – für die vermuteten Hungerszenarien blieb unthematisiert. Vielmehr wurde die knappe Versorgungslage als schicksalhaft behandelt; sicherlich sehr drückend, aber unveränderbar, wodurch auch das Kritikpotential dieser Fälle entschärft wurde. Die Illustrierte Kronen-Zeitung berichtete kaum über suizidales Verhalten von beurlaubten Soldaten. Bei unklaren Szenarien bevorzugte sie alternative Erzäh-
Die Kürzung der Mehlquote, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6488, 17. Jänner 1918, 4– 5. Kleiderkarten in Ungarn, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6654, 14. Juli 1918, 9. Aus Angst vor dem Verhungern, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6488, 17. Jänner 1918, 6. Aus Angst vor dem Verhungern, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6488, 17. Jänner 1918, 6. Die Tote mit dem durchschnittenen Halse, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6666, 26. Juli 1918, 4. Die Tote mit dem durchschnittenen Halse, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6666, 26. Juli 1918, 4.
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lungen und bei Fällen mit hohem Kritikpotential am Heer und Krieg schwieg sie. Daher ignorierte sie auch die vor dem Krieg häufig registrierten Motive der Unlust zum Dienen, der Furcht vor Strafe und der Misshandlung. Das lässt sich etwa am Fall des 38-jährigen Karl Pluschek illustrieren.⁸¹⁵ Dieser diente bei der Fliegerkompanie und stürzte am 10. Juli 1918 im Haus Lerchenfelder Straße 104 in den Lichthof. Für das Medium stand fest: „Ein Selbstmord erscheint ausgeschlossen.“⁸¹⁶ Wie es zu diesem Schluss gekommen war, erläuterte es nicht und vermied damit auch die naheliegende Spekulation, dass 1918 wohl die wenigsten Soldaten noch an die Front zurückkehren wollten. Das Handeln von beurlaubten Soldaten war keineswegs dem Auge des Heeres entzogen; besonders dann nicht, wenn sie unter Mord- oder Suizidverdacht gerieten. Dies traf etwa auf den Fall von Leopold Kanzelmar zu. Seine Liebespartnerin, die 19-jährige Hilfsarbeiterin Marie Pillwein, war seit dem 22. Juni 1918 abgängig.⁸¹⁷ Ihre Kleidung sowie zwei voneinander abweichende Abschiedsbriefe fand man am Donaukanal, aber nicht ihre Leiche. Da Kanzelmar kurz darauf ebenfalls verschwand, nahm die Polizei Ermittlungen auf. Der Verdächtige kehrte am 28. Juni 1918 nach Wien zurück und wurde vom Sicherheitsbureau über mehrere Tage intensiv vernommen. Da ihn klar belastende Beweise fehlten, kam er frei. Offenbar war ein Heeresanwalt in die Befragungen involviert gewesen. Denn laut der Tageszeitung stimmte dieser dem Vorgehen der ermittelnden Beamten zu. Rund zwei Wochen später wurde die tote Pillwein bei der Jubiläumsbrücke in Döbling gefunden.⁸¹⁸ Da der Fall weiterhin unklar war, wurde ihre Leiche gerichtsmedizinisch in Anwesenheit einer militärischen Kommission untersucht. Pillwein war ertrunken und ihr Körper frei von Gewaltanzeichen. Diesen Befund interpretierte die Illustrierte Kronen-Zeitung als „e i n e v o l l s t ä n d i g e E h r e n r e t t u n g “⁸¹⁹ Kanzelmars. Zahlreiche Ungereimtheiten blieben aber bestehen, welche sich u. a. aus einem der Abschiedsbriefe von Pillwein ergaben. Dort hatte sie ein längeres Untertauchen angekündigt, da sie ein Kind erwartete. Laut der Obduktion war sie aber nicht schwanger gewesen. Ob Kanzelmar tatsächlich schuldlos war, wie mehrfach von der Zeitung betont, lässt sich nicht klären.⁸²⁰ Darum soll es auch gar nicht gehen. Vielmehr
Ein Todessturz, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6651, 11. Juli 1918, 3. Ein Todessturz, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6651, 11. Juli 1918, 3. Das mysteriöse Verschwinden der Hilfsarbeiterin Marie Pillwein, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6644, 4. Juli 1918, 4. Die Leiche der Marie Pillwein, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6653, 13. Juli 1918, 2. Der Tod der Marie Pillwein aufgeklärt. Das Ergebnis der Leichenöffnung: Selbstmord, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6656, 16. Juli 1918, 2– 3. Der Tod der Marie Pillwein aufgeklärt. Das Ergebnis der Leichenöffnung: Selbstmord, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6656, 16. Juli 1918, 2– 3.
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veranschaulicht dieser Fall, wie nahe Suizid und Mord beisammen liegen konnten; und ebenso, wie die Gerichtsmedizin das Zünglein an der Waage bildete. Sie konnte nur beweisen, dass Marie Pillwein ohne Anzeichen körperlicher Verletzungen ertrunken war, damit war aber Fremdeinwirkung, z. B.: durch Hineinstoßen, nicht ausgeschlossen. Dennoch dürften die fehlenden körperlichen Traumata den Ausschlag pro Suizid gegeben haben. Aus diesem Fall geht auch hervor, wie weit die Befugnisse des Militärs reichten, das bei allen Ermittlungsschritten zugegen war und offenbar auch angehört wurde. Hinsichtlich weiblichem Suizidhandeln dominierten zwei Erklärungsstränge, wovon der erste auf affektives und krankes Verhalten reflektierte. Dies traf etwa auf die Selbstverbrennung der 40-jährigen Thea Kaiser oder auf Fälle zu, bei denen Frauen* scheinbar unüberlegt gehandelt hatten.⁸²¹ Hier wurde das Grauenhafte und Entrückte prominent ausgestellt. Darunter fielen auch Infantizide, die von suizidalem Verhalten begleitet wurden.⁸²² Sie wurden mit starken Affekten wie Wut oder Zorn in Verbindung gesetzt, um so die verfehlte Weiblichkeit der Täterinnen zu betonen.⁸²³ Gleichzeitig konnte so das Idealbild der sanften und kontrollierten Mutter gestärkt werden. Der zweite Erklärungsstrang fokussierte unglückliche oder aussichtslose Liebesbeziehungen.⁸²⁴ Auch weibliches Suizidhandeln konnte unangenehme Fragen aufwerfen und damit waren Vertuschung und Umdeutung meist nicht weit. Dies könnte auch auf den Fall einer 29-jährigen Silberschmiedsgehilfengattin zugetroffen haben.⁸²⁵ Laut den Hinterbliebenen wurde sie das Opfer eines tragischen Irrtums. Anna Leiner begehrte, Weinessig zu kaufen, stattdessen wurde ihr aber Laugenessenz eingepackt. Sie trank davon und zog sich letale Verätzungen im Mund- und Halsbereich zu. Die Illustrierte KronenZeitung meldete zwar ihren Tod, ohne aber einen Suizidverdacht auszusprechen. Ob der offensichtlichen Ungereimtheiten wurde die Leiche der Gerichtsmedizin übergeben. Auch hier stellt sich die Frage, was die Sektion beweisen konnte und was nicht. Der Vergiftungstod stand ja außer Frage, hingegen dürfte wohl kaum zu klären gewesen sein, ob Anna Leiner die Substanz verwechselt hatte.
Selbstmordversuch einer Diebin, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6753, 21. Oktober 1918, 4. Selbstmord durch Verbrennen, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6545, 23. März 1918, 5 Mit dem Kinde aus dem Fenster gesprungen, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6579, 28. April 1918, 5. „Das Kind muß mit! …“ Die Zornestat einer Mutter, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6658, 18. Juli 1918, 3. Zwei Liebestragödien, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6481, 15. Jänner 1918, 8. Ein Liebesdrama. Mord und Selbstmord, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6669, 29. Juli 1918, 5. Mit Laugenessenz vergiftet, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6507, 13. Februar 1918, 5.
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Über alles Nicht-Heteronormative berichtet die Illustrierte Kronen-Zeitung kaum und wenn, dann benutzte sie diskriminierende Chiffren wie pervers oder entartet. Dabei musste meist aus dem Kontext erschlossen werden, ob damit homosexuelles oder anderweitig unerwünschtes Verhalten gemeint war.⁸²⁶ Beispielhaft dafür kann folgender Femizid, gefolgt von einem Suizid, gelten. Im Juli 1915 war eine schwer verstümmelte Frauenleiche in einem Wiener Hotel gefunden worden.⁸²⁷ Besonders ihr Unterleib und ihre Hüfte waren von Schnitten übersäht. Daneben fand man die Leiche des Täters, die ebenfalls ähnliche Verletzungen aufwies. Die Zeitung erkannte darin einen „Lustmord“, der von einem pervers Veranlagten verübt wurde.⁸²⁸ Aus dem Kontext ergibt sich, ein Mörder und Suizident ja, gleichgeschlechtlich veranlagt wohl eher weniger. Ihr abschätziges Narrativ veränderte sich kaum, wenn es um tatsächlich Homosexuelle ging. Bildete doch die vermutete Transgression das verbindende Element, was sich wiederum darin spiegelte, wo überhaupt berichtet wurde, nämlich ausschließlich in der Gerichtsrubrik. Homosexuelle Neigungen wurden mitunter gezielt enthüllt, um das Gegenüber zu diffamieren, galten sie doch als erstes Indiz für dessen mangelnde Rechtschaffenheit.⁸²⁹ Selbst Opfer durften nicht auf eine schonende Behandlung hoffen, wie sich etwa beim Fall des 58-jährigen Emilian Maly zeigt.⁸³⁰ Der wohlhabende Mann war tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Anfänglich war nicht klar, ob Suizid oder Mord vorlag, aber schließlich konnte sein 17-jährigen Liebhaber als Täter überführt werden. Das Opfer wurde in der Zeitung nicht nur als „entarteter Sonderling“, sondern auch als „pervers“ und als „Knabenfreund“ bloßgestellt.⁸³¹ Auch der Täter wurde vorgeführt: „Erwin G u b s c h, der Mörder von siebzehn Jahren, war seit jeher ein ‚Früchterl‘, leichtsinning, lügenhaft, gewalttätig. Als seine Eltern in Brünn starben, lebte er nur von Diebstählen …“⁸³² Beim Fehlen einer kriminellen Komponente, setzte das Blatt auf eine andere Erzählung. Darunter fiel etwa der Doppelsuizid eines jungen Freundespaar, das sich im Juli 1915 in einem Wiener Hotel selbst getötet hatte. Da
Die Chiffre pervers vertrat in der Regel sexuelle ‚Übertretungen‘. Darunter fielen Sodomie, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, Kindesmissbrauch und Femizid. Sie inkludierte aber auch konsensuale, als amoralisch empfundene sexuelle Beziehungen und Praktiken. Das blutige Drama im Hotel, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 5587, 21. Juli 1915, 11. Das blutige Drama im Hotel, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 5587, 21. Juli 1915, 11. Der Ordensschacher des Hochstaplers, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 5654, 26. September 1915, 14– 16, hier 14. Der 17jährige Raubmörder, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg., Nr. 6650, 10. Juli 1918, 4– 5, hier 4. Der 17jährige Raubmörder, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg., Nr. 6650, 10. Juli 1918, 4– 5, hier 4. Der 17jährige Raubmörder, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg., Nr. 6650, 10. Juli 1918, 4– 5.
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das Motiv unbekannt war, begann das Blatt zu spekulieren. Wahrscheinlich seien die beiden „hochgradig überspannt und in dem Augenblicke, da sie die entsetzliche Tat begangen, ihrer Sinne nicht ganz Herr“ gewesen.⁸³³ Dies ließ Platz für vieles, darunter auch für homosexuelle Neigungen. Diese direkt anzusprechen, war riskant. Stellten sich diese nämlich als falsch heraus, konnte jederzeit auf Ehrenbeleidung geklagt werden; selbst von den Hinterbliebenen noch. Die Zeitung interessierte sich aber auch für weibliche Transgressionen. Daher berichtete sie im Juli 1917 erstaunt über eine Diebin in Männerkleidung.⁸³⁴ Die 15-jährige Auguste S. war von ihrer Pflegemutter fortgelaufen und hatte einen Brief zurückgelassen, in welchem sie ankündigte, in die Donau zu gehen. Dies tat sie aber nicht und schaffte sich stattdessen Herrenkleidung an. Ob ihrer prekären Lage beging sie auch einen Diebstahl – bei dem sie prompt ertappt wurde. Die hinzugerufene Polizei konnte rasch ihre Identität erheben und sorgte dafür, dass ihr „weibliche Straeflingkleider angezogen“ wurden.⁸³⁵ Sie gab bei der Polizei zu Protokoll, dass sie sich als Bauernknecht hatte verdingen wollen, da diese einen besseren Lohn erhielten. In ihrem Abschiedsbrief sprach sie auch von Konflikten mit der Ziehmutter. Diese sei hitzig gewesen und hätte ihr ihren WäscherinnenLohn abgenommen. Sie klagte sich aber auch selbst an und wies auf schlechte Bücher hin, welche sie verdorben gemacht hätten.⁸³⁶ Die befragte Pflegemutter beschrieb Auguste S. als brav, aber überspannt und mit einem Hang zum Vagabundieren. Wie im vorherigen Fall kann auch hier nicht eruiert werden, wofür die Platzhalter verdorben und überspannt genau standen. Sollte ihr das Cross-Dressing ‚nur‘ helfen, der Lohndiskriminierung zu entgehen? Oder wollte sie vielmehr als Trans*Mann leben? Oder fühlte sie sich von Frauen angezogen? All das muss Spekulation bleiben. Sicher ist, sie fühlte sich in ihrem Leben unwohl und verstieß bewusst gegen Geschlechtergrenzen. Diese Transgressionen wurden von ihrer Pflegemutter und der Polizei sanktioniert. Gleichzeitig hatte sie diese Ablehnung offenbar auch internalisiert, denn sonst hätte sie sich nicht selbst als verdorben bezeichnet.
Geheimnisvoller Doppelselbstmord zweier Freunde, Illustrierte Kronen-Zeitung, 16. Juli 1915, Nr. 5582, 6. Die Diebin – in Männerkleidern, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6309, 24. Juli 1917, 8 – 9. Die Diebin – in Männerkleidern, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6309, 24. Juli 1917, 8 – 9, hier 9. Die Diebin – in Männerkleidern, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 6309, 24. Juli 1917, 8 – 9, hier 9.
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Die Verhandlung suizidalen Verhaltens in konservativen Frauen*kreisen Nachstehendend soll erörtert werden, wie das katholische Elisabeth-Blatt suizidales Verhalten verhandelte. Was war überhaupt sagbar? Welche Motive wurden identifiziert? Wie sollte Prävention aussehen? Und wie wurde Geschlecht dazu in Bezug gesetzt? Das seit 1905 monatlich erscheinende Blatt war vom Kanonikus Friedrich Pesendorfer gegründet worden und richtete sich an christliche Hausfrauen*, Mütter und Erzieherinnen.⁸³⁷ Inhaltlich beschäftigte es sich mit Fragen rund um die christliche Moral und Lebensführung. Daneben wurde ausgesucht über das Weltgeschehen und die Institution der katholischen Kirche berichtet, aber auch unterhaltende Themen fanden ihren Platz im Heft. Laut Impressum wurde das Blatt „redigiert von einem Redaktionskomittee hervorrag. kathol. Schrifstellerinnen“.⁸³⁸ Hinsichtlich der Autor*innen überwogen Männer*, allerdings mit der Einschränkung, dass Verfasser*innenangaben häufig unterschlagen wurden. Die kaisertreue Zeitschrift trat gegen die Suffragetten und die Idee einer weiblichen Emanzipation auf, berichtete aber trotzdem regelmäßig über die englische Wahlrechtsbewegung. Daher meldete sie im Juni 1913 auch den Tod, der von ihr als „Wahlweib“ diskreditierten Emily Davison.⁸³⁹ Die 40-jährige OxfordAbsolventin hatte sich beim Epson-Derby vor das Pferd von König George V. gestürzt. Der Vorfall erregte großes Aufsehen und löste rege Spekulationen aus. Handelte es sich um politischen Aktionismus oder um einen tragischen Unfall? Für die Suffragetten war es klar politischer Protest und daher ikonisierten sie Davison auch rasch. Nicht so das Elisabeth-Blatt, welches darin bloß ein Unglück erkannte. Auch bei einem ähnlichen Vorfall in Ascot kam es zum gleichen Schluss.⁸⁴⁰ Zu sehr verstießen politisch aktive und radikalisierte Frauen* gegen das katholische Ideal. Dieses akzeptierte nur komplementäre Geschlechtscha-
Der in Linz ansässige katholische Preßverein verantwortete das Blatt. Dieser gab u. a. auch die praktisch-theologische Quartalsschrift heraus. Von 1896 bis 1925 agierte der überzeugte Monarchist Pesendorfer als Direktor der Linzer Preßvereinsdruckereien. Er fungierte aber auch als Kassier des Preßvereins selbst und als Präses des christlichen Müttervereins in Linz. Kriemhild Pangerl, Die Linzer Domkapitulare von 1925 bis 1945, 2. Teil. In: Neues Archiv für die Geschichte der Diözese Linz 5/2 (1987/88) 93. Impressum, Elisabeth-Blatt 9. Jg./ Heft 19 (1914) 1. Welt-Rundschau für die Frauen. England. In: Elisabeth-Blatt 8/8 (1913) 172. Welt-Rundschau für die Frauen. England. Elisabeth-Blatt 8/9 (1913) 195. Ein Mann hatte sich mit einer Fahne, welche die Farben der Suffragetten trug, vor ein Rennpferd geworfen. Es handelte sich dabei um den 40-jährigen Harold Hewitt, der neben dem politischen Emblem auch einen geladenen Revolver bei sich trug. Der Cambridge-Absolvent kam mit dem Leben davon.
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raktere und die patriarchale Versorgerehe, weshalb im Blatt auch über alles NichtHeteronormative geschwiegen wurde.⁸⁴¹ In Hinblick auf Onanie, vor- oder außerehliche Sexualkontakte und Sexarbeit vertrat man eine klar ablehnende Haltung. Nichtsdestotrotz setzte sich das Blatt aber auch für Frauen*anliegen ein; und zwar für solche, die für das Selbstbild seiner weißen, privilegierten Klientel wichtig waren. Daher lobte es auch die erste Studentin aus einem Fürstenhaus⁸⁴² oder berichtete über die 1914 erweiterten Frauen*rechte.⁸⁴³ Diese waren aufgrund des Krieges notwendig geworden und wurden wohlwollend erläutert. Organisierte Frauen* irritierten das Blatt zwar, aber nicht global. Insbesondere katholische Bewegungen wurden rege unterstützt: „Angesichts dieser Auswüchse der Frauenbewegung ist es mit Freuden zu begrüßen, daß sich die katholische Frauenorganisation, die streng auf dem Boden der katholischen Religion steht, so mächtig entfaltet.“⁸⁴⁴ Neben den liberalen und proletarischen Frauenbewegungen schmähte das Blatt auch Protestantinnen⁸⁴⁵ und Jüdinnen⁸⁴⁶. Damit verbunden verbreitete es wiederholt anti-aufklärerisches und -semitisches Gedankengut und verknüpfte ersteres auch explizit mit suizidalem Verhalten.⁸⁴⁷ Das Thema suizidalen Verhaltens nahm nur wenig Platz im Elisabeth-Blatt ein, da dessen Ablehnung und das daraus hervorgehende Tabu zu stark waren. Gebrochen wurde dieses nur, um es zu exemplifizieren und so zu bekräftigen. Das zeigte sich etwa in einer Erzählung über eine junge verzweifelte Schwangere.⁸⁴⁸ Diese war vom Sohn ihres Arbeitgebers sitzengelassen worden, nachdem er ihr zuvor noch die Ehe versprochen hatte. Damit erfüllte sie das Stereotyp des „leichtsinningen, arglos-dummen“ Mädchens, das an die baldige Heirat glaubte.⁸⁴⁹ Aber auch die Mutter der jungen Frau wurde negativ porträtiert, weil sie die Beziehung gefördert hatte. Der Schwangeren wurde geraten, sich an ein Rettungshaus für erstmalig gefallene Mädchen zu wenden. Zudem sollte sie „ihre Gedanken auf Reue und Buße und auf Gottes Barmherzigkeit und Verzeihung“
Was Mann und Frau sein und nicht sein sollen. In: Elisabeth-Blatt 9/10 (1914) 214. Margaretha von Dänemark. In: Elisabeth-Blatt, 9/12 (1914) 11. Dabei handelte es sich um die ABGB-Kriegsnovelle vom 15. Oktober 1914. Neue Frauenrechte, Dr. Josef Stampfl, jur. Beirat der kathol. Frauenorganisation für Oberösterreich. In: Elisabeth-Blatt 9/12 (1914) 251– 252. Fanni Fürstin Starhemberg, Die katholische Frauenorganisation in Oberösterreich. In: Elisabeth-Blatt 9/5 (1914) 111. A. Hackmann, Liebe. In: Elisabeth-Blatt 9/5 (1914) 105 – 107, hier 106 – 107. Truggold. In: Elisabeth-Blatt 5/9 (1910) 166 – 167, hier 166. L. Kern, Jean-Jacques Rousseau als Pädagoge. In: Elisabeth-Blatt 5/9 (1910) 170 – 171, hier 171. Elsbeth Düker, Reisestunden. In: Elisabeth-Blatt 9/5 (1914) 102– 103. Elsbeth Düker, Reisestunden. In: Elisabeth-Blatt 9/5 (1914) 102– 103, hier 103.
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lenken.⁸⁵⁰ Die Erzählung suchte offensichtlich zu erziehen. Wäre die junge Frau abstinent geblieben, hätte sie noch ihre Arbeitsstelle und auch das Stigma einer ledigen Schwangerschaft wäre ihr erspart geblieben. Mutter und Tochter wurden heftig kritisiert und voll in die Verantwortung genommen. Während man der Mutter vorwarf, sie hätte aus materialistischen Gründen gehandelt, machte man bei der Tochter primär naiv-unmoralische Motive aus. Der Geliebte blieb hingegen außen vor; als ob ihn das Ganze nicht betreffen würde. Tatsächlich handelten in solchen Kontexten Schwangere immer wieder suizidal, weshalb es nur konsequent war, sie an die Notschlafstelle zu verweisen.⁸⁵¹ In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die sexuelle Integrität den Kern von weiblicher Ehre bildete. War diese einmal angetastet, konnte sie kaum rehabilitiert werden, was auch mit dem Sexualprivileg des (zukünftigen) Ehemannes zusammenhing. Nur dieser durfte auf den Leib seiner Frau zugreifen und daher störte alles andere, egal ob konsensual oder gewaltvoll, sein Recht und ihre Integrität. Um dieser Dynamik zu entgehen, bot sich suizidales Verhalten als letzter Zufluchtsort an. Die Selbsttötungen der mythologischen Figuren der Dido, der Porcia und der Lucretia fanden alle vor dem Hintergrund der bedrohten, verlorenen oder infrage gestellten weiblichen Ehre statt.⁸⁵² Auch Emilia Galotti verlangte ihren Tod, um so ihre sexuelle Integrität zu bewahren.⁸⁵³ Eine solche Suizidmotivation galt lange als akzeptabel, bevor die frühen Kirchenväter auch diese Fälle als unentschuldbar einstuften. Nichtsdestotrotz sollte es noch bis zum Konzil von Nîmes (1284) dauern, bis dass eine globale Sanktionierung beschlossen wurde.⁸⁵⁴ Im Elisabeth-Blatt folgte noch eine weitere Erzählung dem Motiv der weiblichen Ehre. Diese Anekdote fokussierte eine 16-jährige Kärntnerin, die in der Stadt bessere Perspektiven für sich wähnte.⁸⁵⁵ Ihr Lehrer warnte sie vor dem Umzug und den dort lauernden Gefahren, aber sie ging dennoch fort und sammelte auch erste sexuelle Erfahrungen. Als die Eltern das erfuhren, verstießen sie ihre Tochter. Die junge Frau* wurde daraufhin „unsagbar elend an Leib und Seele“ und selbst ein Spitalsaufenthalt brachte keine Besserung.⁸⁵⁶ Sie erlebte suizidale Impulse und
Elsbeth Düker, Reisestunden. In: Elisabeth-Blatt 9/5 (1914) 102– 103, hier 103. Elsbeth Düker, Reisestunden. In: Elisabeth-Blatt 9/5 (1914) 102– 103, hier 103. Renate Schrodi-Grimm, Die Selbstmörderin als Tugendheldin. Ein frühneuzeitliches Bildmotiv und seine Rezeptionsgeschichte (Dissertation Universität Göttingen 2009) 166 – 176. Die Figur der Emilia Galotti hatte zuvor bereits einen Suizidversuch unternommen. Alan H. Marks, Historical Suicide. In: Clifton D. Bryant (Ed.), Handbook of Death and Dying (Vol. 1, The Prescence of Death, Thousand Oaks et al. 2003) 309 – 318, here 314. „Herr Lehrer, hätte ich Ihnen gefolgt!“ In: Elisabeth-Blatt 9/6 (1914) 131. „Herr Lehrer, hätte ich Ihnen gefolgt!“ In: Elisabeth-Blatt 9/6 (1914) 131.
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vergiftete sich schlussendlich selbst. Da der Tod nicht sofort eintrat, konnte sie noch reflektieren und wie suggeriert, besinnen: „In den letzten Stunden und unter furchtbaren Schmerzen hatte sie sich doch noch reumütig zu Gott gewendet und die heiligen Sterbesakramente empfangen.“⁸⁵⁷ Offensichtlich war die Erzählung als katholisches Lehrstück angelegt. Kirche und Schule sollten als Autoritäten stabilisierend wirken, die Eltern hingegen belehrt werden, da sie doch die Warnungen dieser Institutionen ignoriert hatten.⁸⁵⁸ Damit lag es auch an ihnen, dass ihre „Tochter, ein bildschönes Mädchen, dessen Gesicht voll kindlicher Unschuld und reinsten frommen Seelenadel zeugte“, ihre Ehre verlieren konnte.⁸⁵⁹ Die Anekdote verhandelte auch weibliche Berufstätigkeit und Emanzipation. Tatsächlich stellte die Stadt für viele junge Frauen* vom Land einen Sehnsuchtsort dar, denn nur dort schien persönliche und finanzielle Unabhängigkeit erreichbar. Aber auch Familienkonflikte und Ausbeutung trieben sie fort, denn selbst Hausgehilfin hatten meist mehr Handlungsoptionen als junge Frauen* am elterlichen Hof.⁸⁶⁰ Mit einem solchen Umzug stieg aber auch das Risiko, eine narzisstische Kränkung zu erleiden; insbesondere dann, wenn die neue Lebenssituation den Erwartungen so gar nicht entsprach.⁸⁶¹
Fazit Im habsburgischen Kosmos war der Krieg herbeigesehnt worden, denn nur so schien das allgegenwärtige Unbehagen kurierbar. Auch mit den Geschlechter- und Sexualitäts-Experimenten sollte Schluss sein. Zu verunsichert war man durch ein drittes Geschlecht und die Erosion der heteronormativen Matrix. Für diese Rosskur galt es, sich unter dem nationalen Banner zu versammeln und die sozialen Ungleichheiten auszublenden. Alles – auch die Frauen* – sollte für den Krieg und den ausgemalten Triumph mobilisiert werden. Tatsächlich stellten Front und Etappe streng hierarchische Orte dar, die auch die Geschlechterbeziehungen und -entwürfe informierten. Offiziere, die hart gegen sich selbst und die Kriegserfah-
„Herr Lehrer, hätte ich Ihnen gefolgt!“ In: Elisabeth-Blatt 9/6 (1914) 131. „Herr Lehrer, hätte ich Ihnen gefolgt!“ In: Elisabeth-Blatt 9/6 (1914) 131. „Herr Lehrer, hätte ich Ihnen gefolgt!“ In: Elisabeth-Blatt 9/6 (1914) 131. Michaela Maria Hintermayr, Diskurs über Suizide und Suizidversuche von Hausgehilfinnen in Wien zwischen 1925 und 1933/1934 (Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Universität Wien, Wien 2010) 47– 48. Benigna Gerisch, Suizidalität bei Frauen. Mythos und Realität. Eine kritische Analyse (Forschungsbeiträge zu Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Psychotherapie und Soziologie 9, Tübingen 1998) 106.
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rung waren, besetzten hegemoniale Männlichkeit und einfache, aber folgsame Soldaten konnten immerhin eine komplizenhafte Dividende einfahren. Marginalisiert wurde, wer homo- und bisexuelle oder transgeschlechtliche Regungen zeigte, wobei diese Phänomene zumindest meist nicht mit Militärstrafen belegt wurden. Dies galt auch für Leistungsschwache oder psychisch Erkrankte. Untergeordnet wurden Kombattanten, die desertierten, überliefen oder suizidal handelten, aber auch sogenannte Psychopathen und Selbstverstümmler. Ebenso diskriminiert wurden Sexarbeiterinnen und fremde Frauen*, die sich mit Soldaten einließen.⁸⁶² Als irregulär galten auch die weiblichen Armee-Hilfskräfte, die polnisch-ukrainischen Soldatinnen und die Fotografinnen.⁸⁶³ Diese heteronormativen Abstufungen waren klassenbezogen, ethnisch-rassistisch und religiöskonfessionell informiert. So musste man es sich etwa finanziell leisten können, als Rotkreuzschwester zu arbeiten, da deren Vergütung dermaßen gering war. Diese wiederum profitierten vom Image einer selbstlosen katholischen Nonne. Allgemein waren anti-slawische Ressentiments weit verbreitet, was sich auch bei der schlechteren Versorgung der polnisch-galizischen Truppen zeigte. Die gerne verhängten und oft schikanösen Disziplinarstrafen orientierten sich ebenso an den Differenzkategorien. Sie wurden von Vorgesetzten ausgesprochen, welche meist aus dem Bürgertum oder Adel stammten, während die Disziplinierten oft das andere Ende der sozialen Skala besetzten. Standesdünkel und Ressentiments florierten unter den Offizieren, da man moralische Mängel nur bei den anderen wähnte, aber nicht bei sich selbst. Damit verknüpft galten der Heeresleitung suizidale Soldaten als feig und schwach und sie wurden effeminiert und verhöhnt. Eine mögliche Mitschuld wollten die Befehlsränge nicht erkennen, da Disziplin und Härte alternativlos seien, um den Gehorsam aufrechtzuerhalten. Die Medizinisierung suizidalen Verhaltens arbeitete dieser Logik zu, indem sie die Frage nach der Verantwortung entschärfte. ‚Schuld‘ waren suizidbegünstigende Anomalien und Konstitutionen. Die Kameraden agierten häufig empathischer als die Offiziere und die Heeresleitung. Dies zeigte sich auch bei den untersuchten Diaristen, die sich mit moralischen Verurteilungen von suizidalen Kameraden zurückhielten. Sie drückten in der Regel und besonders dann Bedauern und Mitgefühl aus, wenn ‚plausible‘ Gründe für das suizidale Verhalten vorlagen. Dazu zählten Schikanen
Auch hier gab es Hierarchien. Französische Frauen* wurden in Soldaten-Zeitungen deutlich positiver dargestellt als polnische und russische. Nelson, German Comrades – Slavic Whores. In: Hagemann, Schüler-Springorum (Eds.), Home/Front, 69 – 85, here 78 – 80. Stephanie Seul, A Female War Correspondent on the Italian Front, 1917– 1917: the Austrian Travel Journalist and Photographer Alice Schalek. In: Journal of Modern Italian Studies 21/2 (2016) 220 – 251.
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und längerdauernde seelische Nöte und selbst wenn ein nachvollziehbares Motiv fehlte, konnte Kritik ausbleiben. Und so reagierte der Freund eines dekorierten Kriegshelden vor allem mit Ratlosigkeit. Wieso tötete sich ein die Karriereleiter hinaufkletternder Offizier selbst? Neben dem Ideal des stählernen Heros wurden weitere Männlichkeitsentwürfe akzeptiert. Dazu zählte der gläubige und mitfühlende Soldat, wie er von Karl Außerhofer verkörpert wurde, da er sich auch als kaisertreu und einsatzbereit auszeichnete. Bei den Offizieren verkörperten verträgliche einen ebenso respektablen Männlichkeitsentwurf. Analog dazu veränderten sich auch die Weiblichkeitsentwürfe*, da neben der idealisierten sozialen Mütterlichkeit bald umstrittenere Figurationen auftauchten. Das Leitbild von emotionaler und pflegerischer Zuwendung wurde von den Kriegskrankenschwestern verkörpert, die gleichzeitig aber rasch in den Verdacht gerieten, sich nur einen gutsituierten Ehemann suchen zu wollen. Ungleich kontroverser wurden die 1917 aufgestellten weiblichen Hilfskräfte diskutiert. Obwohl als unerlässliche Notwendigkeit präsentiert, schlug ihnen Abneigung und Misstrauen entgegen. Zu offensichtlich verstießen sie gegen die heteronormative Matrix. Ähnliches galt für die Heimatfront, wo die Übernahme männlich codierter Aufgaben zwar als unabdingbar galt, aber dennoch erheblich verunsicherte. Die Versorgungssituation wurde mit der Kriegsdauer immer schlechter. Da Grundnahrungsmittel bereits seit 1915 rationiert wurden, dominierten lange Menschenschlangen rasch das Wiener Straßenbild. Am journalistischen Boulevard wurde der Hunger auch als Suizidmotiv verhandelt, ohne aber die Frage zu stellen, inwieweit das eigene Kriegsgebaren die Not befeuerte. Selbst für subtile Kritik gab es nur wenig Platz und darüber Hinausgehendes war ohnehin verboten. Ähnlich zurückhaltend agierte die Illustrierte Kronen-Zeitung auch bei den soldatenbezogenen Suizidmotiven. Unlust zum Dienen, Furcht vor Strafe und Misshandlung, das alles schien es nicht mehr zu geben. Vor dem Krieg hatten diese Motive die militärische Suizidstatistik dominiert, nun hätten sie allzu leicht als Kritik am Krieg und der Heeresführung interpretiert werden können. Einzig über den sogenannten Liebesgram wurde auch weiterhin häufig berichtet, lag er doch deutlich auf einer individuellen Ebene und war daher unverdächtig. Ansonsten hielt sich der Boulevard mit Spekulationen zurück; und zwar auch in jenen Fällen, wo ein Suizid durchaus naheliegend erschien. Stattdessen wurde auf einen Unfall oder ein Missgeschick verwiesen. Dabei zeigte sich auch, welche weitreichenden Hoffnungen in die Gerichtsmedizin gesetzt wurden. Ziel war es, herauszufinden, ob ein Mord, eine Verkettung unglücklicher Umstände oder ein Suizid vorlag. Tatsächlich konnte sie das oft nicht, denn wie sollte sie ein Fremdverschulden bei wenig invasiven Todesursachen wie Ertrinken oder Intoxikation nachweisen? Umso schwieriger war es, wenn neben den körperlichen Zeichen auch noch die Kontexte fehlten. Während über die obigen Fälle immerhin berichtet wurde,
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blieben nicht-heteronormative Szenarien meist außen vor. Wenn diese thematisiert wurden, dann unter den diskriminierenden Chiffren pervers oder entartet und nur über die Gerichtsrubrik. Das heißt, dass hier immer eine Verbindung zu einem Verbrechen (etwa Mord, Raub, Diebstahl und Betrug) bestand, wobei die sogenannte Unzucht wider die Natur selbst schon kriminalisiert war. Letztendlich war es die scheinbar synchrone Suizidal-, Sexual-, und Kriminalität, welche den journalistischen Boulevard anzog. Damit wurde diese anstößige Trias gleichzeitig produziert und bestätigt. Fehlte eine kriminelle Komponente, dann arbeitete die Illustrierte Kronen-Zeitung mit Andeutungen und Spekulationen. Hier kamen dann solche Passepartout-Begriffe wie verdorben, überspannt oder verwirrt zum Einsatz, um so die Möglichkeit einer nicht-heteronormalen Orientierung anzudenken. Eindeutiger waren da die Narrative für vulnerable Frauen*, da der weibliche Leib doch schon a priori als pathologisch galt. Daher gerieten Menstruation, Schwangerschaft und Menopause in den Verdacht, suizidales Verhalten zu begünstigen. Diese Phänomene schienen wiederum die These der prädisponierenden Konstitutionsanomalien zu bestätigen. Demgegenüber schien bei Männern der Urogenital-Apparat kaum eine Rolle zu spielen. Frauen* galten aber nicht nur aufgrund ihres Geschlechtskörpers als vulnerabel. Ihre Suizidalität schien auch aus einem psychologischen Momentum zu erwachsen, konnten sie laut Psychiatrie doch allzu leicht von ihren Affekten überschwemmt und fortgerissen werden. Es war daher auch diese Disziplin, welche eine weibliche Neigung zum „Irrsinn“ monierte. Ebenso wenig schienen Frauen* eine gescheiterte Liebesbeziehung verkraften zu können. Angesichts dieser Fragilität empfahl das katholische Elisabeth-Blatt seinen Leser*innen eine patriarchale Versorgerehe. Dort konnte dann auch Sexualität stattfinden, die allerdings fortpflanzungsorientiert zu sein hatte.Vor- oder außereheliche Sexualkontakte galt es unbedingt zu vermeiden, war doch daran die weibliche Ehre genknüpft. Tatsächlich stellte die verlorene sexuelle Integrität das älteste Suizidmotiv für Frauen dar. Dieses konnte selbst die kirchliche Ablehnung überdauern und wurde vielfach weiterhin toleriert. Skeptischer betrachtet wurden hingegen die Möglichkeiten, welche die liberalen Städte den jungen Frauen* boten. Insbesondere weibliche Berufstätigkeit geriet so in den Verdacht, suizidales Verhalten zu begünstigen.
Kapitel 4 Fiebrige Zwischenkriegszeit Ökonomie, Arbeiter*innen, Jugendliche – Krise überall? (1918 – 1938) Die Metapher der „Selbstmordepidemie“ stellte wohl die markanteste diskursive Zuspitzung in der Zwischenkriegszeit dar. Sie verschärfte die Tatsache des häufigen suizidalen Verhaltens noch einmal, indem sie eine unkontrollierbare Ausbreitung postulierte. Und tatsächlich schien das 1932 und 1938 erreichte Niveau ihren Gebrauch zu rechtfertigen,⁸⁶⁵ da die Suizidfälle dieser beiden Jahre nur noch 1945 übertroffen wurden.⁸⁶⁶ Das rasante Wachstum wurde besonders von den Frauen* getragen, die sich immer häufiger selbst töteten.⁸⁶⁷ Solcherart schmolz der von der heteronormativen Statistik nahegelegte Männer*überhang kontinuierlich.⁸⁶⁸ Bei gemeinsamer Berücksichtigung der Suizide und Suizidversuche fiel die Zunahme noch dramatischer aus.⁸⁶⁹ Der Wiener Magistrat René Marco Delannoy führte diese Entwicklung auf eine „Vermännlichung“ zurück und notierte, dass „das Weib rasch des traditionellen Schutzes ihrer privilegierten Stellung verlustig (geht, Anm. M. H.)“.⁸⁷⁰ Vor diesem Hintergrund wird in diesem Kapitel untersucht, wie die Themen der Epidemie, der rasch wachsenden weiblichen Vulnerabilität und der wirtschaftlichen Krise verhandelt und perspektiviert wurden. Als eine weiters besonders gefährdete Gruppe galten Jugendliche.⁸⁷¹ Ihr Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988, 222. Das letzte Kriegsjahr markierte den Höchststand an Suiziden, der auch danach nie mehr erreicht wurde. Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988, 222. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 494. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 494. Im Zeitraum 1893 – 1900 entfielen von 100 suizidalen Handlungen nur 32 auf Frauen*. 1900 – 1908 waren auf 100 männliche suizidale Handlungen 48 weibliche gekommen. Am Ende der 1920er-Jahre standen 100 suizidalen Handlungen von Männern* bereits 107 von Frauen* gegenüber. Sigismund Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung. In: Allgemeines Statistisches Archiv. Organ der Deutschen Statistischen Gesellschaft. Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsprognosen, Band 22, Rubrik A, Jena 1932) 343 – 364, hier 344. R.(ené) M.(arco) Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926 (Statistische Mitteilungen der Stadt Wien Sonderheft 3, Wien 1927) 16. Die Frage, wer in der Zwischenkriegszeit als jugendlich bzw. erwachsen galt, kann nicht eindeutig geklärt werden. Die Kronen-Zeitung bezeichnete 1930 eine 23-Jährige noch als Mädchen: Tragischer Selbstmord einer Hausgehilfin, Illustrierte Kronen-Zeitung, 4. Jänner 1930, Nr. 10760, 7. Im selben Jahr bezeichnete sie einen 22-Jährigen als jungen Mann: Ein erschütterndes Drama junger Liebe, Doppelselbstmord eines Brautpaares, Illustrierte Kronen-Zeitung, 21. Jänner 1930, https://doi.org/10.1515/9783110664256-005
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Sterbenwollen beunruhigte zutiefst. Warum verzichteten sie gar so jung auf das Leben? In diesem Zusammenhang wird der wissenschaftliche Spezialdiskurs mit Tagebuchaufzeichnungen und Medienberichten kontrastiert. Im Zentrum der Analyse stehen folgende Fragen: Wie bezogen sich die jeweiligen Akteur*innen auf Geschlecht, Begehren, vergeschlechtlichte Körper und Sexualität? Welche Wissensbestände spielten eine Rolle? Welche sozialen Praktiken informierte der Diskurs und vice versa? Ebenso wird der Frage nachgegangen, welche Präventionsstrategien entwickelt und wie diese in die Praxis umgesetzt wurden. Damit zusammenhängend wird analysiert, wie die verschiedenen Diskursteilnehmer*innen suizidale Handlungen interpretierten. Die nachfolgenden Ausführungen ruhen auf folgenden Thesen: Erstens, die starken soziopolitischen Verwerfungen eskalierten auch den Diskurs über suizidales Verhalten. Vor dem Hintergrund der politischen Instrumentalisierung suizidalen Verhaltens rückten auch nachgeordnete Subjekte in den Fokus. Suizidalität wurde als gesellschaftspolitisches, aber auch als individuelles Problem, oder schärfer formuliert, als Versagen, verhandelt. Es gab klare Tendenzen der politischen Lager, eine der beiden Interpretationen zu favorisieren. Wenig überraschend bevorzugte die Sozialdemokratie eine gesellschaftspolitische Verortung, während die bürgerlich-konservativen Kräfte und die Kirche auf eine individuelle Verantwortung pochten. Dies war allerdings nicht gleichbedeutend mit einer Ignoranz gegenüber der weniger gebrauchten Auslegung oder einer konsequenten Desintegration.⁸⁷² Zweitens, Geschlecht und die ihm innewohnenden Differenzkategorien konstituierten und strukturierten die suizidalen Subjekte. Das heißt also, dass die suizidalen Subjekte nicht jenseits davon gedacht werden konnten. Auch gerade erst im Entstehen begriffene Disziplinen konnten sich dieser Dynamik nicht entziehen. Drittens, die Kategorien der Differenz luden den Diskurs biopolitisch auf und erzeugten eine Hierarchie der suizidalen Subjekte. Damit soll aber nicht behauptet werden, dass die Kategorien und Subjekte dem Diskurs vorgängig waren.Vielmehr ist das Verhältnis als sich wechselseitig voranbringend Nr. 10776, 6. Der Wiener Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen definierte die Zielgruppe der Jugendfürsorge 1925 folgendermaßen: „Eigentlich beginnt die Jugendfürsorge schon bei den Eltern des zukünftigen Kindes, weil sie nicht früh genug einsetzen kann. Sie endet in ihrem ausgedehntesten Maße mit dem 18. Lebensjahr des Menschen insofern, als die Gemeinde Wien die Jugendlichen, wo es not tut, in der erweiterten Jugendfürsorge vom 14. bis zum 18. Lebensjahr behält.“ Julius Tandler, Wohltätigkeit oder Fürsorge? (Wien 1925) 6. Mit Bestimmtheit kann nur gesagt werden, dass männliche Subjektpositionen früher und eher mit Erwachsensein assoziiert wurden als weibliche. Michaela Maria Hintermayr, Diskurs über Suizide und Suizidversuche von Hausgehilfinnen in Wien zwischen 1925 und 1933/1934 (Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Universität Wien, Wien 2010) 94– 96.
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und konstitutierend zu denken. Viertens, die Technologien des Selbst waren von immenser Bedeutung für die suizidalen Subjekte. Dies gilt besonders hinsichtlich der Fragen von Identität und Selbstkonstitution. Die Bezugnahme auf Geschlecht fiel dabei viel subtiler und komplexer aus, als von den zeitgenössischen Wissenschaftler*innen vermutet und behauptet. Vor dieser Folie spielte sich die Subjektivierung zwischen einer stets anerkennungsbedürftigen Geschlechtsperformance, die zunehmend partikuläre und ubiquitäre Kontexte bewältigen musste, und einer identitätsstiftenden Sorge um das Selbst ab. Fünftens, die Gesellschaft blickte zwar liberaler auf nicht-heteronormatives Leben und Begehren, dennoch drohten weiterhin strafrechtliche Verfolgung, Landesverweis, Erpressung und Diskriminierung. So wurden in den Jahren 1922 bis 1937 6.632 Männer* und 153 Frauen* nach dem Paragrafen 129 verurteilt.⁸⁷³ ‚Positive‘ Normalisierung und eine zunehmend sichtbar werdende ‚lesbische‘ Subkultur trafen auf einen journalistischen Boulevard, der Homosexuelle und Transgeschlechtliche pathologisierte.⁸⁷⁴ Die Psychiatrie beförderte dies, indem sie eine nicht-heteronormale Sexualität als erworben interpretierte.⁸⁷⁵ Verantwortlich seien eine gestockte Sexualentwicklung und psychopathische Störungen, die wiederum aus Onanie, „Verführung“ und Alkoholmissbrauch resultierten.⁸⁷⁶
Suizidales Handeln als Signifikat der Krise Der Neurologe Emil Redlich und der Pädiater Erwin Lazar meinten, ein regelmäßiges Auftreten von hohen Suizidzahlen erkannt zu haben. Gleich einer Welle würden die Zahlen nach Erreichen einer Klimax auch wieder absinken. Ganz offensichtlich versuchten sie mit dieser Erkenntnis, suizidales Verhalten zu normalisieren: „Der Selbstmord ist häufig und häufiger geworden, ja es gab und gibt Zeiten, wo eine förmliche Welle des Selbstmordes über die zivilisierte Menschheit
Julius Zinner, Entspricht die Bestrafung der Homosexuellen unserem Rechtsempfinden? Österreichs erste Streitschrift eines Betroffenen. Mit einem Beitrag zur Homosexualität um 1900 von Hans-Peter Weingand (Edition Regenbogen – Studienreihe Homosexualität 2, Graz 2008) 49. Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“ Österreich, 1870 – 1938 (Wien 2015) 287– 395. Franz X. Eder, Homosexualitäten. Diskurse und Lebenswelten 1870 – 1970 (Wien 2010) 54. Die fortschrittlicheren Positionen von Magnus Hirschfeld und Sigmund Freund konnten sich nicht durchsetzen. Claudia Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität (Pfaffenweiler 21997) 124– 125.
Suizidales Handeln als Signifikat der Krise
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dahinbraust.“⁸⁷⁷ Der Terminus der Epidemie beschreibt im engeren Sinne die temporäre und lokale Häufung einer infektiösen Krankheit. Augenfällig musste sein, dass suizidale Handlungen weder ansteckend waren, noch eine diagnostizierbare Krankheit darstellten. Ähnlich gelagert war die äquivalent verwendete Metapher des „Selbstmordfiebers“.⁸⁷⁸ Diese schlug genauso eine Brücke zum Pathologischen und knüpfte an eine besondere Erscheinungsform des Fiebers an. Gemeint war ein plötzlich auftretendes und sich schnell dramatisierendes Fieber, das ebenso den Charakter des Unkontrollierbaren in sich trug. Mit den beiden Metaphern konnte Angst vor einer (weiteren) Zunahme der suizidalen Handlungen heraufbeschworen werden. Beide Figuren setzten beim Bild der krankheitserregenden Bakterien und Viren an, deren kausale Wirkung erstmals 1876 von Robert Koch (Bakterien) und 1892 von Dmitri Iossifowitsch Iwanowski (Viren) beschrieben worden war. Diese medizinische Revolution strahlte weit über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus. Bakterien und Viren wurden zu kollektiven Symbolen für Ansteckung und Krankheit. Sie tauchten fortan in wissenschaftsnahen Diskursen, aber auch in journalistischen und politischen sowie in Kunstund Alltagskontexten auf.⁸⁷⁹ Die in der parlamentarischen Opposition maßgeblichen Sozialdemokrat*innen hatten erkannt, dass sich das Szenario der vielen suizidalen Handlungen politisch verwerten ließ, indem sie eine kausale Verbindung zwischen der hohen Vulnerabilität und der sozioökonomischen Lage in Österreich behaupteten. Dieses Argument konnte zudem durch die Perspektive einer weiteren Zunahme eskaliert werden. Als Beispiel für diese diskursive Strategie kann die dringliche parlamentarische Anfrage des Sozialdemokraten Otto Bauer vom 4. Februar 1925 gelten: „Die Arbeitslosigkeit (ist, Anm. MH) jetzt bei einer Wirtschaft, die immerhin schon Friedenswirtschaft ist, ebenso groß … Es genügt darauf hinzuweisen, daß wir, wenigstens in Wien, jetzt eine Selbstmordepidemie erleben, die etwas ganz Unerhörtes und Beispielloses ist.“⁸⁸⁰ Übereinstimmend berichtete auch der Wiener Psychoanalytiker Gaston Rosenstein von einer „Selbstmordepidemie“
E. Redlich, E. Lazar, Über kindliche Selbstmörder (Zwanglose Abhandlungen aus den Grenzgebieten der Pädagogik und Medizin 3, Berlin 1914) 3. Redlich, Lazar, Über kindliche Selbstmörder, 3. Eva Gredel, Diskursdynamiken. Metaphorische Muster zum Diskursobjekt Virus (Berlin u. a. 2014) 94– 97. Klaus Koch, Walter Rauscher, Arnold Suppan (Hg.), Unter der Finanzkontrolle des Völkerbundes. 7. November 1922 bis 15. Juni 1926 (Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938, ADÖ 5, Wien 2002) 299.
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in der österreichischen Hauptstadt.⁸⁸¹ Ganz dem psychoanalytischen Paradigma verhaftet, verwies er auf die unbewussten Nachwirkungen von erlebter Not. Daher sei es auch zu kurz gefasst, den spontanen Anlass der Tat zu fokussieren. Das Zahlenmaterial schien diesen kritischen Stimmen recht zu geben. Die Statistiken der Stadt Wien indizierten eine deutliche Steigerung der Suizidfälle ab 1923, bevor sich in den Jahren von 1925 bis 1927 die Zunahme verlangsamte. Ab 1928 nahmen dann die Suizide außerordentlich stark zu, um 1931– 1935 mit 1.102 Fällen einen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen.⁸⁸² Vergleicht man die Werte, so hatten sich die Suizide in etwas mehr als zehn Jahren beinahe verdoppelt. Als Referenzpunkt bietet sich auch die aktuelle Suizidstatistik an. Im Jahr 2015 suizidierten sich in ganz Österreich 1.249 Personen.⁸⁸³ Die Ausführungen von Bauer und Rosenstein geben Aufschluss darüber, wie sie die vergangene Wirklichkeit erlebten; oder zumindest, welche diskursiven Strategien sie als erfolgsversprechend einstuften, um die Zukunft möglichst günstig zu gestalten. Die arbeitsmarktpolitische Beunruhigung war durchaus gerechtfertigt, waren doch noch immer an die 200.000 Personen beschäftigungslos. Um den männlichen Kriegsheimkehrern eine Perspektive zu bieten, waren Frauen* aus dem Arbeitsmarkt gedrängt worden.⁸⁸⁴ Sekundarärztinnen und weibliche Assistenzkräfte der früheren k. u. k. Armee hatte man bereits 1919 entlassen. Auch die Arbeitslosenunterstützung wurde als Instrument zur Herstellung der Vorkriegsverhältnisse eingesetzt. Beschäftigungslosen Frauen*, die keinen Posten in dienenden Berufen oder als Heimarbeiterin annehmen wollten, wurde die Fürsorge ersatzlos gestrichen. Interessanterweise schien es sowohl der Sozialdemokratie als auch den konservativen Kräften nur wenige Überlegungen wert, dass Frauen* mit dieser Vorgehensweise in Bedrängnis gebracht wurden. Dabei beharrte gerade die Sozialdemokratie darauf, dass Personen aus sozio-
Pseudonym: Gaston Roffenstein, geb. 19.6.1882 Triest, gest. 7.9.1927, 1910 Eintritt in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Gründungsmitglied des Vereins für Angewandte Psychopathologie und Psychologie. Gaston Roffenstein, Das Problem des psychologischen Verstehens. Ein Versuch über die Grundlagen von Psychologie, Psychoanalyse und Individualpsychologie (Kleine Schriften zur Seelenforschung 15, Stuttgart 1926) 107. H. Fuchs, Selbstmordhandlungen. In: Beiträge zur Österreichischen Statistik 62 (1961) 15. Bundesministerium für Gesundheit und Frauen (Hg.), Suizid und Suizidprävention in Österreich. Bericht 2016, online unter , Zugriff: 3. 2. 2018. Dieses Projekt wurde nicht nur von den konservativen Kräften, sondern auch von der Sozialdemokratie vorangetrieben. Anfänglich konnte sogar auf die Unterstützung der Frauen*bewegungen gezählt werden. Christa Hämmerle,Vor vierzig Monaten waren wir Soldaten, vor einem halben Jahr noch Männer … Zum historischen Kontext einer Krise der Männlichkeit in Österreich. In: L’Homme 19/2 (2008) 51– 74, hier 60 – 61.
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ökonomischer Not suizidal handelten. Auch der Umstand, dass Frauen* in Berufe mit bekannt hohem Suizidrisiko gedrängt wurden, löste nur geringe Bedenken aus. Besonders die Hausgehilfinnen stellten eine solche Hochrisiko-Gruppe dar, da etwa 1926 jede vierte suizidale Handlung einer Frau in Wien auf sie entfiel.⁸⁸⁵ Die Kulmination der gegen Frauen* gerichteten Arbeitsmarktpolitik stellte das sogenannte „Doppelverdienergesetz“ von 1933 dar, das sämtliche verheiratete Frauen* aus dem Staatsdienst verbannte.⁸⁸⁶
Das Motiv der „Wirtschaftlichen Not“ Im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen steht ein besonders häufig genanntes Suizidmotiv, die „Wirtschaftliche Not“.⁸⁸⁷ Besonders die Sozialdemokratie fokussierte es und konnte sich auch auf entsprechende statistische Aussagen stützen. Das Motiv war um einen weißen, männlichen Arbeiter bzw. Arbeitslosen mit Partnerin und Kind organisiert. Er war heterosexuell, trank nicht und partizipierte fleißig an der sozialdemokratischen Bewegung. Der Sozialdemokratie war bewusst, dass nicht jede suizidale Handlung gleich gut zur diskursiven Eskalation geeignet war. Genauso wenig war der Terminus des Freitodes praktikabel.⁸⁸⁸ Die Selbsttötung konnte nur dann ‚fruchtbar‘ gemacht werden, wenn sie aus extremer Not und Ausbeutung resultierte. Daher war die Kenntnis der vermuteten Motive zentral. Die Suizidstatistiken erfassten diese nach folgendem heteronormativen Schema: unglückliche Liebe, Familienzwist, Kränkung, Schande und Furcht vor Bestrafung, Krankheit und Geisteskrankheit,
Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 57, 60, 63. Über die Debatte zur Kennzeichnung der Periode 1933/34– 1938: Lucile Dreidemy, Der Dollfuß-Mythos. Eine Biographie des Posthumen (Wien u. a. 2014) 13 – 17. Gerhard Botz fordert, sich von „alten, provinziellen Denkschemata“ zu lösen und konstatiert, dass „in den letzten Jahren eine Aufweichung der alten polarisierten Positionen zu beobachten“ sei. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist für ihn „das Konzept ‚Austrofaschismus‘ höchst fragwürdig“, da das Regime „keine ausgesprochen österreichische Besonderheit“ darstellte, „sondern … in international vergleichender Perspektive zu der durch große Teile Europas laufenden antidemokratischen Welle“ gehörte. Daher sei es zu begrüßen, dass die „neue Faschismus- und Diktaturenforschung ein besonderes Interesse an Ideentransfer, Differenzierung und Hybridität“ zeigt. Gerhard Botz, Dollfuß: Mythos unter der Lupe, derstandard.at, 21. 2. 2015, online unter , 21.9. 2016. Zur Untersuchung dieses Aspekts wurden die Suizidstatistik mit ihrem heteronormativen Motivgruppenschema sowie sozio-statistische Erörterungen herangezogen. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 215.
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Trunksucht, wirtschaftliche Not und unbekannter Grund.⁸⁸⁹ Wenig überraschend wurde das Schema sowohl von wissenschaftlicher, aber auch von politischer Seite kritisiert. Aussagefähigkeit und -qualität standen immer wieder zur Diskussion. Die wissenschaftliche Argumentation lässt sich bei René Marco Delannoy, dem Vorstand des Wiener Magistrats für Statistik, nachvollziehen. Für ihn vereinfachte das Schema auf unzulässige Weise und berührte die wahren Suizidgründe überhaupt nicht.⁸⁹⁰ Er war überzeugt, dass letztendlich alle Motive auf jenes der finanziellen Not hindeuteten. Diese Umdeutung war zentral für die sozialdemokratische Strategie. Denn nur mit einer möglichst engen Kopplung von suizidaler Handlung und sozialer Chancenlosigkeit konnte politischer Druck ausgeübt werden. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, die vielfach unterbliebene Motividentifikation zu kritisieren.⁸⁹¹ Wie bereits früher festgestellt, wurden Suizidversuche regelmäßig vernachlässigt, denn auch suizidales Verhalten unterlag einer dichotomen Ordnung. Derart galten Suizide als ernsthafteres und signifikanteres Problem. Dies zeigte sich u. a. in der Einstufung des Suizidversuches als „Fehlleistung“.⁸⁹² Diese Ordnung reflektierte auch die statistisch indizierte Prävalenz von Geschlecht und suizidalem Verhalten. Bei Delannoy zeigte sich hinsichtlich der Bewertung eine Verschiebung und so argumentierte er, dass Suizidversuche zwar harmloser wirkten, aber letztendlich ähnlich dramatische Folgen zeitigten. Er vermutete, dass das Individuum durch eine versuchte Selbsttötung dauerhaft Schaden nahm.⁸⁹³ Zudem würde die Bewältigung suizidaler Impulse meist nur gelingen, wenn das Individuum, „seine besten Kräfte in diesem Kampf“ verzehrt.⁸⁹⁴ Die verstärkte Berücksichtigung der weiblich konnotierten Suizidversuche war zwei Entwicklungen geschuldet. Die erste hatte mit einer neuen Sichtbarkeit weiblicher Körper zu tun und die zweite mit einer Aufladung des Weiblichen als modern.⁸⁹⁵ Dieses Modernsein wurde allerdings ambivalent verhandelt. Sowohl positive als auch negative Vorstellungen und Utopien wurden damit assoziiert. Während die sogenannte Neue Frau intensiv am zeitgenössischen Leibeskult partizipierte,
Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung, 362. Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 5. Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 6. Diese Interpretation unterstellt, dass unbewusst der Tod gar nicht angestrebt worden war. Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 8. Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 54. Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 55. Christine Buci-Glucksmann, Catastrophic Utopia: The Feminine as Allegory of the Modern. In: Catherine Gallagher, Thomas Laqueur (Ed.), The Making of the Modern Body. Sexuality and Society in the Nineteenth Century (Berkeley et al. 1987) 220 – 229, here 221– 222.
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verloren idealisierte weibliche Körper an Strahlkraft.⁸⁹⁶ Gleichzeitig wurde der weibliche Leib kommodifiziert und durch fragmentierte, tote und versteinerte Figurationen konkurrenziert.⁸⁹⁷ So ließen sich Begierde, Tod und Korrumpiertheit metaphorisieren.⁸⁹⁸ Vor diesem Hintergrund gewannen Politiken, die den Tod umgaben, an Bedeutung, die ihrerseits keineswegs ‚nur‘ die Negativfolie für die moderne Biopolitik bildeten, sondern vielmehr ihr primäres Prinzip darstellten.⁸⁹⁹ Die positive Bewirtschaftung und Pflege des Lebens stand immer auf diesem Grund und agierte davon ausgehend. Gleichzeitig weist Achille Mbembe darauf hin, dass der Foucaultsche Entwurf der Biomacht nicht ausreicht, um rezente Formen der Unterwerfung des Lebens unter den Tod zu erklären. Daher schlägt er als Erweiterung den Begriff der Nekromacht vor, um so Politiken zu fassen, die vor folgendem Horizont operieren: „ … of maximally destroying persons and creating death-worlds, that is, new and unique forms of social existence in which vast populations are subjected to living conditions that confer upon them the status of the living dead.“⁹⁰⁰ Nekropolitik arbeitet mit Mitteln des Terrors, aber auch der Verarmung und des sozialen Tods und genau diese letzten Punkte erwiesen sich für die Sozialdemokratie als anschlussfähig.⁹⁰¹ Mbembe selbst betont die vitale Verbindung zwischen kapitalistischen und biopolitischen Logiken: „To be sure, capitalism must be understood as an economic system. But it is also an apparatus of capture and a regime of signs, a certain kind of compulsion, that is, a certain mode of organization and redistribution of power: the compulsion to put things in order as a precondition for extracting their inner value. It is the compulsion to categorize, to separate, to measure, and to name, to classify and to establish equivalences between things and between things and persons, persons and animals, animals and the so-called natural, mineral, and organic world.“⁹⁰² Konservative politische Kräfte verzichteten zwar nicht auf eine Instrumentalisierung und diskursive Ausschlachtung des Todes, konnten aber keine ähnliche diskur-
Alys X. George, The Naked Truth. Viennese Modernism and the Body (Chicago 2020) 110. Buci-Glucksmann, Catastrophic Utopia: The Feminine as Allegory of the Modern, here 224. Buci-Glucksmann, Catastrophic Utopia: The Feminine as Allegory of the Modern, here 228. Der literarische Diskurs war bestimmt von Figuren wie der femme fatale und fragile, Lolita-Typen und dem süßen Mädel, die alle das Pathologische im Weiblichen verkörperten. Stephanie Catani, Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1935 (Würzburg 2005) 88 – 113. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Frankfurt/Main 2002). Achille Mbembe, Necropolitics (Durham 2019) 92. Mbembe, Necropolitics, 157. Mbembe, Necropolitics, 158.
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sive Dringlichkeit entwickeln. Der Schauplatz der menschlichen Vergänglichkeit war von heteronormativen und eugenischen Fürsorgepolitiken gerahmt. Diese sollten u. a. den Vorwurf abwehren, dass die ‚Homosexuellenepidemie‘ von den Arbeiter*innen ausging.⁹⁰³ Das Individuum wurde aber auch als eigenverantwortliche Instanz angerufen. Um im „Daseinskampf“ zu bestehen, galt es, das Selbst zu pflegen, zu nähren und zu stärken. Dies belegen u. a. Anzeigen für nervenstärkende Arzneien und Lebensmittel, die über ein breites Medienspektrum verteilt waren.⁹⁰⁴ Die hohe Suizidgefährdung bot den Sozialdemokrat*innen einen willkommenen Anlass, um die gesellschaftliche Ordnung als eine Ordnung, die unterprivilegierte Schichten nicht nur im ökonomischen und sozialen Sinn sterben ließ, sondern auch Perspektivlosigkeit⁹⁰⁵ vermittelte zu kritisieren; oder wie von Achille Mbembe formuliert, eine Ordnung, die ein Leben als wandelnde Tote⁹⁰⁶ anbot. Damit wurde auch die so sicher scheinende Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben. Das Leben fiel dem Tod anheim und dieser konnte sich als höchst produktiv erweisen.⁹⁰⁷ Letztendlich verwandelte die nekropolitische Argumentation Arbeiter*innen in eine Subjektgruppe bzw. in Subjekte, die auf das Wir der organisierten Arbeiter*innenbewegung angewiesen waren.
Crouthamel, An Intimate History of the Front, 16. Es partizipierten katholischen Medien (Anzeige für Auskunft zur Heilung nervöser Symptome: Nervös? In: Elisabeth-Blatt 25/12 (1930) 197), die Boulevard-Presse (Anzeige für das Produkt Biocitin: Nervenstörungen beseitigt Biocitin, Illustrierte Kronen-Zeitung, 20. März 1938, Nr. 13.710, 10) sozialdemokratisch orientierte Blätter (Anzeige für das Produkt Ovomaltine: Angst vor dem Leben, Das Kleine Blatt, 8.5.1927, 8) usw. Akhil Gupta geht noch weiter und fragt, ob in diesem Kontext auch von Töten in der Tätigkeitsform gesprochen werden kann und ob diese Leben im Agambschen Sinn heilige Leben waren: „Die Unausweichlichkeit des Todes von Armen gewinnt eine neue ethische Färbung, wenn die Gewalt einer solchen ‚Thanatopolitik‘ als Töten verstanden wird, und nicht nur als ‚Sterbenlassen‘ oder als ein ‚Dem-Tod-Aussetzen‘.“ Akhil Gupta, Nationale Armut, globale Armut und Neoliberalismus. Eine anthropologische Kritik. In: Hubertus Büschel, Daniel Speich (Hg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit (Frankfurt/M. 2009) 113 – 139, hier 119 Mbembe, Necropolitics, 92. Michel Foucault beschrieb diese Produktivität folgendermaßen: „Go get slaughtered and we promise you a long and pleasant life“ Michel Foucault, The Political Technology of Individuals. In: James D. Faubion (Ed.), Power: The Essential Works of Michel Foucault 1954– 1984 (Vol. 3, New York 1994) 403 – 418, here 405.
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Veridiktion. Die Wahrheit über suizidales Handeln sprechen Nachstehend wird besonders den produktiven Aspekten im Diskurs nachgegangen.Wie sollte suizidales Handeln fruchtbar gemacht werden?⁹⁰⁸ Konnte mit einer suizidalen Handlung die Wahrheit gesprochen werden? Und falls ja, auf welche Modi und Subjektkonstruktionen war eine gelingende Anerkennung angewiesen? Wie bereits gezeigt, fungierte Suizidalität als Signifikat für die sozioökonomische Krise. Den Rahmen für diese Aussage bildeten jene Politiken, die das Sterben und den Tod umgaben. Michel Foucault argumentierte, dass ab dem 18. Jahrhundert eine Verschiebung von thanatos zu bios stattfand und fortan der Tod nicht mehr das Leben erklärte.⁹⁰⁹ Die längste Zeit hatte die Theologie verkündet, dass erst der Tod ein christliches Leben erfüllte. Damit war der Tod nicht nur negativ besetzt, sondern konnte auch als Triumph und Sieg gelesen werden. Auch im untersuchten Diskurs über suizidales Verhalten zeigte sich die neue Dominanz des bios. Viele der Metaphern für Suizidalität bemühten nicht das Bild des Todes, sondern vielmehr jenes des Lebens.⁹¹⁰ Als Beispiele hierfür sind Metaphern wie „Lebensekel“⁹¹¹, „Lebensüberdruss“⁹¹², „Lebensverneinung“⁹¹³, die „Lebensmüden“⁹¹⁴ usw. zu nennen. Den Zitaten liegen folgende konzeptuelle Metaphern zu Grunde: SUIZIDALITÄT IST UNTEN (dem Lebensüberdruss verfallen), SUIZIDALITÄT IST EIN ÜBERFALL (vom Lebensekel gepackt werden), SUIZIDALITÄT IST STILLSTAND (lebensmüde sein), SUIZIDALITÄT IST EIN WEG (suizidales Handeln als Reaktion). Mit der von Foucault identifizierten Verschiebung verloren die produktiven Aspekte des Todes an Beachtung. Während ein krankheits- oder unfallbedingter Tod als ‚natürlich‘ galt, zeigte sich bei Suiziden bald ein anderes Zur Analyse dieser Aspekte wurde auf Tageszeitungsberichte, die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Frau und wissenschaftliche Publikationen zurückgegriffen. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983) 129 – 153, hier 134– 135. Katrina Jaworski argumentiert, dass Suizid und Leben stets aufeinander verweisen und nicht klar getrennt werden können: „To use a metaphor, suicide is like a coin. One side represents death through suicide and the other sides represents life and living. While each side represents something different, neither can be clearly separated. They remain interconnected with each other and, as such, relational.“ Katrina Jaworski, The Gender of Suicide. Knowledge Production, Theory and Suicidology (Farnham 2014) 40. Emil Szittya, Selbstmörder. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte aller Zeiten und Völker (Nachdruck der Ausgabe von 1925, Wien-München 1985) 67. Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung, 360. Käthe Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord (Dissertation Wien 1934) 52. Margarethe v. Andics, Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens. Auf Grund von Gesprächen mit geretteten Selbstmördern (Wien 1938) 64.
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Szenario, griff doch der selbstgewählte Tod auf eine unerhörte Weise in die Sphäre des bios, also in das Leben ein, das es zu bewahren, gestalten und formen galt. Hinsichtlich des Todes gilt es, zwei Ebenen zu unterscheiden; und zwar den jeweils individuellen Tod und das, was der Tod für ein gesellschaftliches Wir bedeutet.⁹¹⁵ Für Letzteres konnte ein Suizid höchst produktiv wirken. Besonders interessant ist hierbei, auf welche/n Körper Bezug genommen wurde. Auf einen vordiskursiv-neutralen, wie ihn Giorgio Agamben in Homo Sacer nahelegt?⁹¹⁶ Oder zeigten sich auch hier die Kategorien der Differenz als relevant? Laut Michel Foucault ist dem Diskurs ein System inhärent, das regelt, welche Aussagen als wahr oder falsch erkannt werden. Dieses System bezeichnete er mit dem Begriff der Veridiktion.⁹¹⁷ Es ermöglichte den Diskursteilnehmer*innen wahrzusprechen, also die Wahrheit zu verkünden und damit Macht zu reklamieren. Foucault ging es hierbei allerdings nicht um die Wahrheit an sich, d. h. als unumstößlichen Tatbestand. Es ging ihm vielmehr um die Frage, unter welchen Umständen eine Aussage als wahr aufgefasst wurde. Davon abzugrenzen bzw. als spezifische Form davon ist die Sprechaktivität der Parrhesia zu verstehen. Damit bezeichnete Focault die offene und furchtlose Rede, um eine unliebsame Wahrheit auszudrücken.⁹¹⁸ Während die Veridiktion auf das System zur Scheidung Stuart J. Murray, Thanatopolitics: On the Use of Death for Mobilizing Political Life. In: Polygraph 18 (2006) 191– 215, here 191– 193. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Frankfurt/Main 2002). Colby Dickinson interpretiert den von Agamben verhandelten Körper als einen vordiskursiven, göttlichen Leib. Dieser hätte das Potential, alle Einschreibungen hinter sich zu lassen und daher sei es nur schlüssig, dass Agamben Geschlecht als Kategorisierung nicht bemüht. Diesen Ausführungen gilt es, die Realität der NS-Konzentrationslager beizustellen. Geschlecht und die anderen Kategorien der Differenz prägten die Überlebenswahrscheinlichkeiten der KZHäftlinge entscheidend. Colby Dickinson, Biopolitics and the theological body: On the apparent absence of gender in the work of Giorgio Agamben. In: Annali d’Italianistica 29/Italian Critical Theory (2011) 189 – 203. Wie von Sebastian Winter herausgearbeitet, half den KZ-Insass*innen die geschlechtliche Identität, ein kohärentes Selbstgefühl zu erhalten. Sebastian Winter, Weibliche und männliche Überlebenseisen im Konzentrationslager. Das Beispiel Hannover-Limmer, fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte, online unter , 2. 5. 2016. „Das System der Veridiktion ist allerdings nicht ein bestimmtes Gesetz der Wahrheit, sondern die Gesamtheit der Regeln, die in Bezug auf einen gegebenen Diskurs die Bestimmung dessen gestatten, welches die Aussagen sind, die darin als wahr oder falsch charakterisiert werden können.“ Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, Geschichte der Gouvernementalität (Frankfurt/Main 2006) 60. Michel Foucault, Discourse and Truth: the Problematization of Parrhesia. 6 lectures given by Michel Foucault at the University of California at Berkeley, Oct-Nov. 1983, online unter , Zugriff: 5. 8. 2015.
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wahrer und falscher Aussagen abzielt, fokussiert die Parrhesia das sprechende Subjekt, welches unter hohem persönlichem Einsatz Kritik formuliert und die eigene Lebensführung in die Waagschale wirft.⁹¹⁹ Nachstehend werden medial vermittelte Suizidfälle untersucht, um herauszuarbeiten, worauf Veridiktion angewiesen war. Der erste Fall betraf Anna Hamm, die als Hausgehilfin im tschechischen Reichenberg arbeitete und sich 1927 selbst tötete.⁹²⁰ Offenbar hatte sie die Annäherungsversuche ihres Dienstgebers zurückgewiesen, worauf dieser sie des Mordes und der Brandstiftung bezichtigte. Über Anna Hamm wurde die Untersuchungshaft verhängt und sie tötete sich noch in der Nacht vor ihrer Enthaftung mit einem Messerstich in den Hals. Das der Sozialdemokratie nahestehende Kleine Blatt präsentierte ihren Fall als Anklage gegen den Dienstgeber, aber auch gegen Polizei und Staatsanwaltschaft, weil sie die Glaubwürdigkeit des Arbeitgebers nicht in Frage gestellt hatten, jene von Hamm hingegen sehr wohl. Das Medium beschrieb die Hausgehilfin als Opfer eines rachsüchtigen Dienstgebers und von in Standesdünkel denkenden Staatsapparaten.⁹²¹ Allerdings ging es dem Blatt kaum um die junge Frau selbst. Der toten Hausgehilfin wurde keine aktive, handelnde Rolle zugestanden. Vielmehr war es das Medium, welches für sich die aufdeckende und wahrheitsverkündende Rolle reklamierte. Hamm als Individuum blieb nachrangig, ihre Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenschaft war zentral, oder pointiert formuliert, ihr Sterben ermöglichte, dass die Arbeiter*innenbewegung leben konnte. Das Wahrsprechen ließ sich auch in der Illustrierten Kronen-Zeitung finden. Der Anstreichergehilfe Franz P. war Opfer eines Säureattentats durch seine frühere Liebespartnerin geworden.⁹²² Er suchte mehrmals ein Krankenhaus auf, um das schwerverletzte rechte Auge behandeln zu lassen. Dort teilte ihm ein Arzt mit, dass wenig Hoffnung auf Heilung bestünde. Nachdem sich auch noch das andere Auge entzündet hatte, tötete er sich selbst. Im Zuge der Gerichtsverhandlung gegen die Übergreiferin wurde Franz P. als doppeltes Opfer präsentiert: zuerst als das Opfer einer rachsüchtigen Frau und dann noch als
Petra Gehring, Abseits des Akteurs-Subjekts. Selbsttechniken, Ethik als politische Haltung und der Fall der freimütigen Rede. In: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung (Wiesbaden 2012) 21– 35. Tragisches Schicksal einer Hausgehilfin, Das Kleine Blatt, 18. Nov. 1927, Nr. 257, 11. Tragisches Schicksal einer Hausgehilfin, Das Kleine Blatt, 18. Nov. 1927, Nr. 257, 11. Verzweiflungstat eines Geblendeten. Durch eine falsche Diagnose in den Tod getrieben, Illustrierte Kronen-Zeitung, 1. März 1930, Nr. 10.815, 10.
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Opfer eines wenig mitfühlenden Arztes. Und so war am 1. März 1930 auf der Titelseite zu lesen: „Erst geblendet, dann in den Tod getrieben“.⁹²³ Missglückte Schwangerschaftsunterbrechungen stellten weitere diskursive Ereignisse dar, die veridiktorisch fruchtbar gemacht werden konnten. Schwer verletzte oder tote Schwangere konnten auf verschiedene Szenarien hinweisen. Möglich waren ein Unfall, ein Todeswunsch oder eine fehlgegangene Abtreibung. Obwohl tiefe Gräben die proletarische und die bürgerlich-liberale Frauen*bewegung trennten, forderten beide eine Liberalisierung des Strafrechtsparagraphen 144, der Schwangerschaftsunterbrechungen kriminalisierte.⁹²⁴ Die sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete Adelheid Popp verlangte wiederholt die Entpönalisierung der Abtreibung bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats.⁹²⁵ Popp argumentierte, dass der Paragraph 144 besonders ärmere Schwangere benachteiligte. Bessersituierte könnten sich leicht eine Behandlung durch verschwiegenes und qualifiziertes medizinisches Personal erkaufen. Damit zusammenhängend waren sie auch kaum der Gefahr einer Anzeige ausgesetzt. Eine 1924 veröffentlichte Untersuchung über Schwangerschaftsunterbrechungen unterstützte Popps Argumentation.⁹²⁶ Diese offenbarte, dass Frauen* aus den deklassierten Bevölkerungsgruppen besonders häufig nach Paragraph 144 verurteilt wurden.⁹²⁷ Vor diesem Hintergrund forderte Popp, dass die öffentliche Hand mittellosen Schwangeren den Eingriff entweder ganz kostenfrei stellen oder zumindest teilfinanzieren sollte. Damit verknüpft forderte die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Frau, den sogenannten Gebärzwang aufzuheben.⁹²⁸
Erst geblendet, dann in den Tod getrieben, Illustrierte Kronen-Zeitung, 1. März 1930, Nr. 10.815, 1. Andrea Ellmeier, Frauenpolitik. Zur Geschichte emanzipatorischer Politik und Praxis (in der Ersten Welt). Am Beispiel Österreich. In: Forum Politische Bildung (Hg.), Geschlechtergeschichte. Gleichstellungspolitik. Gender Mainstreaming (Informationen zur Politischen Bildung 26, Innsbruck u. a. 2006) 5 – 23, hier 11. Republik Österreich, Parlament, Adelheid Popp als Parlamentarierin. Die parlamentarischen Mühlen im Kampf um Frauenrechte, online unter Zugriff: 7. 8. 2015. Luise Kobau, Zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der weiblichen Dienstboten in Wien, 1914– 1938 (Ungedr. Geiteswiss. Diss. Wien 1985) 135. Kobau, Zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der weiblichen Dienstboten in Wien, 1914– 1938, 135. Beim Medium handelte es sich um die Nachfolgerin der Arbeiterinnenzeitung, welche von 1892 bis 1924 bestanden hatte. Hinsichtlich der Distribution erreichte das Blatt zwar 994 Orte, nichtsdestotrotz wurde es außerhalb der Arbeiter*innenzentren kaum nachgefragt. Seit 18. November 1919 fungierte Adelheid Popp als Herausgeberin des monatlich erscheinenden Mediums. Sie hatte damit die Nachfolge von Anna Boschek angetreten, die ebenfalls eine Parlamentarierin der ersten Stunden gewesen war. Eugenie Brandl übernahm 1919 als Schriftleiterin. Angaben aus:
Veridiktion. Die Wahrheit über suizidales Handeln sprechen
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Ganz den sozialdemokratischen Überzeugungen der Zeit verpflichtet, propagierte das Blatt u. a. die Kameradschaftsehe, würde diese doch heterosexuelle Kontakte ermöglichen und der Sexarbeit entgegenwirken.⁹²⁹ Die zugrundeliegende Sexualreform bewirkte einen Heterosexualisierungsschub, der gleichgeschlechtlich empfindende Frauen* bewog, sich auf ihre ‚lesbische‘ Identität zurückzuziehen.⁹³⁰ Gleichzeitig verweigerten sie sich auch einer Partizipation an der männlichen Homosexuellenbewegung um legistische Gleichstellung. Letztendlich entwickelten sie einen eigenen Diskurs, der um das Geschlechterverhältnis und die Moderne zirkulierte.⁹³¹ Aber auch mit der bürgerlich-konsumorientierten Neuen Frau, weiblichen Migrant*innen und Women of Colour konnte die proletarische Frauenbewegung keine gemeinsame Position finden.⁹³² Im Juli 1930 kritisierte das Blatt, dass ein den Paragrafen 144 behandelndes Theaterstück nur einmal am Raimundtheater aufgeführt worden war.⁹³³ Bei dem Drama handelte es sich um das Stück Zyankali des Arztes Friedrich Wolf. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und kannte aus seiner Arztpraxis die dringendsten Nöte. Das Drama war am 6. September 1929 am Berliner Lessingtheater uraufgeführt und vom Publikum stark nachgefragt worden. Bereits 1930 wurde der Stoff verfilmt. Das namensgebende Gift Zynakali war ein bekanntes, aber riskantes Abtreibungsmittel. In dem Stück schilderte Wolf den Weg einer ungewollt schwangeren Arbeiterin in den Tod, da sie und ihre Mutter das Gift Zynakali zu hoch dosierten. Der herbeigerufene Arzt konnte nicht mehr helfen und zeigte die Mutter wegen Beihilfe zu unerlaubtem Schwangerschaftsabbruch an. Der gleiche Arzt hatte zuvor einer vermögenden Frau, die ebenfalls ihre Schwangerschaft beenden wollte, gegen Zahlung einer entsprechenden Summe, ein Attest über eine medizinische Indikation ausgestellt. Die heftigen Reaktionen in Berlin und Wien zeigten, dass das Stück und seine Thematik als wahr empfunden wurden.⁹³⁴ Vor diesem Hintergrund konnte es auch nicht einfach ignoriert
Die Frau. Sozialdemokratische Monatsschrift für Politik, Wirtschaft, Frauenfragen, Literatur 39/6 (1930) 17. Der Bankrott der Ehe. Ein Buch über die sexuelle Revolution. In: Die Frau 39/5 (1930) 11– 13, hier 12– 13. Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“ Österreich, 1870 – 1938 (Wien 2015) 393; 402. Hacker, Frauen* und Freund_innen, 394. Charlotte J. Rich, Transcending the New Woman. Multiethnic Narratives in the Progressive Era (Columbia and London 2009) 4. Der § 144 auf dem Theater. In: Die Frau 39/7 (1930) 16. Kirsten Peters, Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet. Eine motivgeschichtliche Untersuchung der Literatur des 18. Jahrhunderts (Würzburg 2001) 209. Siehe auch: Daniel Halft, Die
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oder beiseite geschoben werden. Willkür, Zufall und Ungerechtigkeit schienen zu dominieren. Im Zuge der scharfen Debatten um die Aufhebung des Abtreibungsverbots geriet auch der Autor in das Fadenkreuz strafrechtlicher Ermittlungen.⁹³⁵ Der als Arzt tätige Friedrich Wolf wurde 1931 angeklagt, gewerbsmäßig Schwangerschaften unterbrochen zu haben. Die Verhaftung löste eine breite Solidarisierungswelle aus. Aufgrund fehlender Beweise wurde das Verfahren allerdings bald eingestellt. Im Kontext der Debatte über den Schwangerschaftsabbruch hatte die Option, dass sich Frauen* selbst töten wollten, keinen Platz. Auch in Zynakali wurde das selbstgewählte Hinabstürzen einer Arbeitskollegin aus dem Fenster als Reaktion auf deren ungewollte Schwangerschaft präsentiert. Schwangere konnten nicht jenseits ihres graviden Umstandes gedacht werden. Ein unauftrennbares Band zur Schwangerschaft umgab ihr Sterbenwollen. Dieses Muster zeigte sich auch in der Argumentation des Sexualwissenschaftlers Max Marcuse, der meinte, „echte“ von „scheinbaren“ Suiziden sicher unterscheiden zu können. Unter „echten“ suizidalen Handlungen verstand er Szenarien, bei denen sich wohlsituierte Mädchen und Frauen* mit einem Schuss in Bauch und Herz selbst getötet hatten. Für ihn war klar, dass mit dem Schuss in den Bauch „‘die Unglückliche den Beweis ihres Fehltrittes vernichten wollte‘.“⁹³⁶ „Scheinbarer“ Suizid schien hingegen vorzuliegen, wenn sich die Schwangeren mit bekannten Abortiva wie Phosphor, Arsen, Sabina oder Safran vergiftet hatten.⁹³⁷
Suizidale Handlungen verhindern. Prävention Nachfolgend geht es um die Präventionsstrategien zur Verhinderung von (weiteren) suizidalen Handlungen. Wie sahen diese Interventionsansätze aus? Wer formulierte sie und an wen richteten sie sich? Welche Akteur*innen und Organisationen bemühten sich besonders um Prävention?⁹³⁸ Es war der prominente Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, Julius Tandler, der erstmalig auch sogenannte Geisteskranke in die Wiener Fürsorgeüberlegungen miteinbe-
Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels ‚Cyankali‘ von Friedrich Wolf (Berlin 2007). Peters, Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet, 209 – 210. Max Marcuse, Selbstmord und Sexualität. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 7 (1922) 192– 200, hier 196. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 196. Als Analysematerial dienten das Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur Wien, die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Frau, die Illustrierte Kronen-Zeitung sowie eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen.
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zog.⁹³⁹ Angesichts steigender Fallzahlen hatte er seine anfängliche Skepsis aufgegeben und so wurde am 11. März 1926 eine Beratungsstelle für Nerven- und Geisteskranke eröffnet.⁹⁴⁰ Nicht nur Betroffene konnten sich dort melden, sondern auch deren Angehörigen. Die Stelle, die nach dem Prinzip der offenen Fürsorge organisiert war, wurde stark nachgefragt und die Öffnungszeiten mussten bald ausgedehnt werden. Einen noch viel wichtigeren Meilenstein stellte die 1928 vom Philosophen und Schriftsteller Wilhelm Börner gegründete Beratungsstelle für Lebensmüde dar. Dabei handelte es sich um ein Interventionszentrum, das in der Ethischen Gemeinde in Wien verankert war.⁹⁴¹ Obwohl die Bewegung viele sozialdemokratische Ideen teilte und unterstützte, blieb ihr ein Verbot 1934 erspart, bevor dann aber 1938 diese Duldungsphase endgültig vorbei war. Und so wurde ihr innerhalb einer Woche nach der NS-Machtergreifung die Wirkungsgrundlage entzogen. Die Ethische Gemeinde wurde kurze Zeit später verboten, was auch dazu führte, dass ihr Besitz beschlagnahmt und viele Akten vernichtet wurden. Wilhelm Börner und der Obmann,Walter Eckstein, wurden von der Gestapo verhaftet, allerdings konnte die mit der Ethischen Gemeinde eng verbundene New Yorker Ethical Society zugunsten von Börner und Eckstein intervenieren. Beide wurden unter Auflage einer sofortigen Auswanderung entlassen. In der Ethischen Gemeinde und in der von ihr betriebenen Beratungsstelle hatten sich viele jüdische Mitbürger*innen engagiert. Von den 700 Mitgliedern im Jahr 1938 emigrierten 256 und 107 wurden in die Lager des nationalsozialistischen Regimes verschleppt.⁹⁴²
Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer (Frankfurt/M. 22010) 246– 247. Thomas Mayer, Julius Tandler. In: Marius Turda (Ed.), The History of East-Central European Eugenics, 1900 – 1945. Sources and Commentaries (London and New York 2015) 20 – 25, here 20 – 21. Als Student war Wilhelm Börner der sogenannten Ethischen Gemeinde in Wien beigetreten und leitete diese von 1919 bis 1938. Diese überkonfessionelle Bewegung war 1894 von so prominenten Figuren wie Friedrich Jodl, Marianne Hainisch, Rosa Mayreder, Bertha von Suttner u. a. als Gesellschaft für Ethische Kultur gegründet worden. Das Ziel der Bewegung hatte darin bestanden, moralphilosophische Einsichten unter Erwachsenen und Schüler*innen zu verbreiten. Die Ethische Gesellschaft war 1919 in die Ethische Gemeinde aufgegangen, um praktischen Belangen stärker nachzugehen. Im Zuge dieser Umwandlung fand auch eine Annäherung an die Sozialdemokratie statt. Sonja Kato Mailath-Pokorny, Die Ethische Gemeinde in Wien – Politik und Ethik während der Ersten Republik. In: Anne Siegetsleitner (Hg.), Logischer Empirismus, Werte und Moral: Eine Neubewertung (Wien 2010) 61– 80, hier 70 – 71. Die Ethische Gesellschaft hatte sich als unpolitische und überparteiliche Plattform verstanden. Ihre Nachfolgerin propagierte die legale Gleichstellung der heterosexuellen Geschlechter, das Allgemeine Wahlrecht und die Schulreform. Kato Mailath-Pokorny, Die Ethische Gemeinde in Wien – Politik und Ethik während der Ersten Republik, 70 – 71.
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Wie war es überhaupt zur Gründung der Beratungsstelle für Lebensmüde gekommen? In einer der sonntäglichen Zusammenkünfte der Ethischen Gemeinde hatte ein Vereinsmitglied 1926 vorgeschlagen, sich der praktischen Präventionsarbeit anzunehmen. Im März 1928 unterrichtete Börner die Vereinsmitglieder über die Errichtung einer Kriseninterventionsstelle für suizidale Personen: „Die Stelle wird jedem ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit, des Alters und der Weltanschauung (Konfession) unentgeltlich zu Verfügung stehen.“⁹⁴³ Dieser Mitteilung waren intensive Vorbereitungsarbeiten vorausgegangen. Die freiwilligen Mitarbeiter*innen waren vereinsintern geschult worden, um eine umfassende Beratung leisten zu können. Die Hilfesuchenden wurden aber nicht nur psychologisch versorgt, sondern es wurde auch besonderer Wert auf die praktische Unterstützung gelegt.⁹⁴⁴ Die Beratungsstelle arbeitete im Nebengebäude der Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft (Obere Weißgärberstraße (sic!) 2, Wien III). Jeden Tag zwischen 16 und 18 Uhr, auch an Sonn- und Feiertagen, wurden suizidale Menschen von ehrenamtlichen Berater*innen betreut. Eine Bürokraft war ab 1929 halbtägig angestellt, um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Zum Team gehörten neben den 27 Berater*innen auch 8 Ärzt*innen und 26 Rechtsanwält*innen, die allerdings nicht permanent ihre Dienste anboten.⁹⁴⁵ Laut Stephanie Börner interessierte sich auch Tomáš Garrigue Masaryk, inzwischen Präsident der Tscheschoslowakischen Repbulik, für die Beratungsstelle.⁹⁴⁶ Trotz der von nationalsozialistischer Seite betriebenen Aktenvernichtung kann die Betreuungsleistung teilweise noch nachvollzogen werden. In ihrer rund 10-jährigen Wirkungszeit betreute die Einrichtung 7.134 Personen (3.970 Männer* und Aussendung der Ethischen Gemeinde, März 1928, Werte Mitglieder. In: Wienbibliothek im Rathaus/Handschriftensammlung, Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur, Aufstellungsnummer 176, ZPH 620. Aus den Aufzeichnungen der Stelle geht hervor, wie tatkräftig diese Unterstützung war: „In vielen Fällen war die Aussprache das Wichtigste. Die F ü r s o r g e erstreckte sich hauptsächlich auf Interventionen bei Aemtern, Vereinen, Verwandten, Freunden, Bekannten, Arbeitgebern, Gläubigern, Schuldnern, auf Vorsprechen wegen Wohnung und Unterkunft, auf Hausbesuche, auf Vermittlung ärztlicher Untersuchungen und Behandlung, auf Rechtsberatungen, auf Rechtshilfe, auf Anwesenheit bei Gerichtsverhandlungen, auf Beschaffung von Aushilfsarbeit, auf materielle Hilfe durch Zins-, Gas- und Elektrizitätszahlungen, Auslösen oder Umsetzen verpfändeter Gegenstände, Unterbringung von Zeitungsannoncen, Beteiligung mit Speisemarken und Bekleidungssachen, Geldbeschaffung durch Familienangehörige oder Freunde, Interventionen bei Zwistigkeiten, ferner in Ehe. und Liebesangelegenheiten u.s.w. – nicht zuletzt auch durch eine Unzahl von Eingaben, Gesuchen und Briefen.“ Wienbibliothek im Rathaus/Handschriftensammlung, Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur, Aufstellungsnummer 176, ZPH 620. Stephanie Börner,Wilhelm Börner. Biographische Skizze. In: Ethische Gemeinde Wien (Hg.), Zum Gedächtnis Wilhelm Börners (Wien 1952) 17– 27, hier 23. Börner, Wilhelm Börner, 24.
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3.164 Frauen*).⁹⁴⁷ Die Beratungsstelle operierte unter Zusage vollkommener Diskretion, trotzdem wollten 458 Personen keinen Namen nennen. Um an bereits geführte Gespräche wieder anknüpfen zu können, war mit anonym Gebliebenen ein Kennwort ausgemacht worden. Im Schnitt kam jede Person dreimal in die Beratungsstelle. Im arithmetischen Mittel besuchten 2.518 Personen pro Jahr die Stelle, woraus sich ein Schnitt von sieben Hilfesuchenden täglich ergab. Die Höchstzahl an Beratungen wurde 1929 mit 1.336 Personen erreicht, davon waren 728 Fälle auf männliche Klienten entfallen. Betreuung der Beratungsstelle für Lebensmüde nach binärem Geschlecht
Frauen* Männer* Summe
.
Quelle: Statistik der Lebensmüdenstelle der Wiener ‚Ethischen Gemeinde‘, ZPH 620 Lebensmüdestelle, Wienbibliothek im Rathaus/Handschriftensammlung, Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur, Aufstellungsnummer 176.
Aus den Aufzeichnungen der Beratungsstelle für Lebensmüde geht hervor, dass Männer* häufiger als Frauen* betreut wurden und dass die mittleren Jahrgänge überwogen. Statistisch betrachtet überwogen die Suizide von Männern*. Zählte man aber Suizide und Suizidversuche zusammen, stellten Frauen* eine besonders vulnerable Gruppe dar. Hinsichtlich des Alters waren bei beiden Geschlechtern die über 60-Jährigen am gefährdetsten. Obwohl sich die Beratungsstelle das Ziel gesteckt hatte, einzelne Bevölkerungsgruppen nicht zu privilegieren, so schien sie doch Männer* im mittleren Alter am besten zu erreichen. Damit eröffnet sich abermals die enge Koppelung von heterosexueller Männlichkeit und Suizid sowie dessen gesellschaftsrelevanter Dimension. Denn letztendlich wurde die Proletarisierung weiterhin als ein genuin männliches Phänomen begriffen. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass sich die Beratungsstelle neben dem psychologischen Aspekt besonders dem sozialen und praktisch-unterstützenden zuwandte. Der Befund der guten Inanspruchnahme durch Männer* ist insofern aufschlussreich, als heutige Kriseneinrichtungen darüber klagen, diese Gruppe nur schwer zu erreichen. Als Begründung dafür wird oft argumentiert, dass es Eröffnung der Stelle: 22. Mai 1928. Erzwungene Einstellung: 18. März 1938. Statistik der ‚Lebensmüdenstelle‘ der Wiener ‚Ethischen Gemeinde‘, ZPH 620 Lebensmüdestelle, Wienbibliothek im Rathaus/Handschriftensammlung, Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur, Aufstellungsnummer 176.
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Burschen und Männern* schwer fällt, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Hier gilt es, auf einen Bedeutungswandel hinsichtlich der suizidalen Handlung selbst hinzuweisen. Während die Selbsttötung in der Zwischenkriegszeit als gesellschaftsrelevantes Problem verankert war, ist Suizidalität heute als ein privates, individuelles Problem konnotiert. Damit verlor die Selbsttötung ihre indizierende Funktion für eine gesamtgesellschaftliche Krise. In der Zwischenkriegszeit war es durchaus vereinbar, dass Männer* mit Hilfe der Beratungsstelle gegen sozioökonomische Deprivation ankämpften. Betreuungsleistung der Beratungsstelle für Lebensmüde nach Alter
Unter J. – Jahre – Jahre – Jahre – Jahre – Jahre Über J.
Quelle: Statistik der Lebensmüdenstelle der Wiener ‚Ethischen Gemeinde‘, ZPH 620 Lebensmüdestelle, Wienbibliothek im Rathaus/Handschriftensammlung, Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur, Aufstellungsnummer 176.
Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass die Beratungsstelle besonders von 30- bis 40-Jährigen frequentiert wurde. Wie bereits skizziert, bot sie nicht nur psychologische Hilfe an, vielmehr versuchten die Berater*innen, eine umfassende, multiperspektivische Lösung akuter Probleme zu erreichen. Diese Aussage deckt sich mit den Beobachtungen von William D. Bowman. Dieser notierte in seiner Studie über das Psychiatrische Krankenhaus am Steinhof eine ähnlich breit gefächerte Herangehensweise an Suizidalität.⁹⁴⁸ Das dortige medizinische Personal untersuchte und betreute die Patient*innen nicht nur in psychologischer Hinsicht. Auch das soziale Umfeld und mögliche physiologische Grundlagen von suizidalem Verhalten wurden fokussiert. Vor diesem Hintergrund wurden alkoholkranke, suizidgefährdete Personen in das nebenanliegende Entwöhnungszentrum überwiesen. Diese multiperspektivische Herangehensweise lag auch
William Bowman, Suicide and Steinhof (Vienna). Outline Comments concerning the understanding and treatments of suicidal patients in the first decades of the twentieth century. In: Eberhard Gabriel, Martina Gamper (Hg.), Psychiatrische Institutionen in Österreich um 1900 (Wien 2009) 73 – 79.
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darin begründet, dass sich in den 1920er und 1930er-Jahren noch kein Modell zur Erklärung und Behandlung von Suizidalität durchgesetzt hatte. Das medizinischphysiologische, das statistisch-soziologische und das psychologisch-psychoanalytische Modell hatte jeweils seine Anhänger*innen, ohne dass eine Richtung ein entscheidendes Übergewicht ausbilden konnte.⁹⁴⁹ Die Beratungsstelle für Lebensmüde führte auch eine Statistik über die Motive der Klient*innen, die ihre Einrichtung aufsuchten. Die Aufzeichnungen deckten sich teilweise mit dem heteronormativen Motivgruppenschema der offiziellen Suizidstatistik, wichen aber auch davon ab. Die staatlichen Erhebungen kannten folgende Gründe für suizidales Verhalten: unglückliche Liebe, Familienzwist, Kränkung, Schande und Furcht vor Bestrafung, Krankheit und Geisteskrankheit, Trunksucht, wirtschaftliche Not und unbekannter Grund. Letztendlich wurde mit diesem Schema die suizidale Handlung normalisiert.⁹⁵⁰ Normal waren die Motive des Gruppenschemas, anormal all jene, die nicht berücksichtigt wurden. So halfen die normalen Motive, das Unerklärliche am suizidalen Verhalten zu erklären. Die Aussagekraft dieses Schemas war allerdings u. a. deshalb umstritten, weil es in einem Spannungsverhältnis zu den von Überlebenden,Verwandten und Freunden geschilderten suizidalen Szenarien stand. Der Psychoanalytiker Karl Josef Friedjung ging in seiner Kritik noch weiter und meinte, dass auch diese vorschnelle Urteile fällen würden.⁹⁵¹ Die genauen Motive zu rekonstruieren sei nur möglich, wenn neben den bewussten auch die unbewussten Gründe aufgedeckt würden. Auch Carl Furtmüller und Alfred Adler schlugen in eine ähnliche Kerbe. Furtmüller meinte, dass die Statistik nur das auslösende Moment erfassen könne.⁹⁵² Adler unterstützte diese Argumentation und ergänzte, dass die Statistik in erster Linie dazu geeignet sei, Häufungen und Begleitumstände aufzudecken.⁹⁵³ Auch die Psychologin Margarethe Andics-Karikas setzte auf ein komplexeres Bild als die offiziellen Erhebungen und betonte die Multikonditionalität von suizidalem Verhalten. Laut ihr resultierte Suizidalität aus Problemen auf mehreren Ebenen, weshalb sie auch für 100 von ihr untersuchten Personen rund 250 Motive notierte.⁹⁵⁴ Ein ähnlich diverses Bild boten auch die Unterlagen der Beratungs-
Bowman, Suicide and Steinhof (Vienna), 79. Die stärkere Berücksichtigung von Suiziden gegenüber Suizidversuchen stellte eine weitere solche Normalisierung dar. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord. Diskussionen des Wiener psychoanalytischen Vereins. Herausgegeben von der Vereinsleitung (1. Heft, Wiesbaden 1910) 23 – 24. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 51. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 44. Von Andics, Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens, 17.
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stelle für Lebensmüde, aus denen 51 verschiedene Motive hervorgingen. Am häufigsten hatten die Hilfesuchenden auf die allgemeine wirtschaftliche Not und die verschiedenen Ausprägungen derselben verwiesen. Die Motive der Krankheit, der Zwistigkeiten und der unglücklichen Liebe sprachen sie deutlich seltener an. Damit ergab sich ein Spannungsverhältnis zu den offiziellen, heteronormativen Statistiken. Laut diesen dominierten folgende Motive bei Männern*: Krankheit, wirtschaftliche Not und Familienzwist.⁹⁵⁵ Bei Frauen* ragte auch die Krankheit heraus, gefolgt von unglücklicher Liebe und Kränkung. Suizidversuche von Männern* waren gekennzeichnet von wirtschaftlicher Not, an zweiter Stelle rangierte Krankheit und an dritter Stelle Familienzwist. Bei Suizidversuchen von Frauen* stellte Familienzwist das Hauptmotiv, gefolgt von Krankheit und unglücklicher Liebe, dar. Bemerkenswert ist, dass die bei der Lebensmüdenstelle vorstelligen Personen das Motiv der unglücklichen Liebe, welches als das weibliche Motiv schlechthin galt, selten nannten. Es wurde bei einem Korpus von 3.164 Frauen* nur 41 Mal erwähnt. Auch das ähnliche Motiv der unglücklichen Ehe tauchte nur 48 Mal auf. Aber auch Krankheit und Familienzwist wurden von den Hilfesuchenden nachgereiht.⁹⁵⁶ Von den 7.134 beratenen Personen gaben 5.886 Personen wirtschaftliche Not oder eine Ausprägung davon an (Positionen 2 bis 14 der nachstehenden Tabelle). Damit ergibt sich ein weiterer Widerspruch zur offiziellen Statistik, die für Frauen* finanzielle Probleme nicht unter die drei meistzutreffenden Motive reihte. In den Beratungsgesprächen müssen mindestens zwei Drittel der Frauen* das Motiv der wirtschaftlichen Not oder eines seiner Ausprägungen genannt haben. Ansonsten lässt sich die gesamte Dimension mit 5.886 Nennungen rein rechnerisch nicht erreichen. Motive der Beratungswilligen Reihung Angegebene Motive
Allgemeine wirtschaftliche Not Verschuldung Dringender Bedarf eines Darlehens Geschäftsschwierigkeiten Arbeitslosigkeit Entzug der Arbeitslosen- oder Notstandsunterstützung
Nennungen
Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung, 364. Bei der Beratungsstelle „Körperliche Krankheit und Gebrechen“ genannt und 97 Mal als Motiv erwähnt bzw. als „Nerven- und Geisteskrankheit“ beschrieben und 83 Mal als Besuchsgrund genannt. Der Familienzwist wurde bei der Beratungsstelle unter Zwistigkeiten geführt und 52 Mal als Motiv angeführt.
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Motive der Beratungswilligen (Fortsetzung) Reihung Angegebene Motive
Drohender Verlust des Arbeitspostens oder erfolgte Entlassung Nichterteilung der Arbeitsbewilligung bezw. Entzug der Bewilligung Mangel an Reisegeld in die Heimat oder an den Dienstort Verlust eines Geldbetrages Drohender Geldverlust (Bankguthaben, gewährtes Darlehen, Kaution, Bürgschaft Obdachlosigkeit Wohnungsnot Drohende Delogierung Heimat- und Staatenlosigkeit Schwierigkeiten bei Erlangung wichtiger Dokumente und Lizenzen Nichtaufnahme in die geschlossene Fürsorge oder Verweigerung der Rente, Pension, Pfründe, Abfertigung Mangelhafte Bekleidung Körperliche Krankheit und Gebrechen (Schwerhörigkeit, Blindheit, Missgestalt, Sprachstörung) Schwangerschaft Nerven- und Geisteskrankheit Geisteskrankheit naher Angehöriger Homosexualität Sexuelle Not Zwistigkeiten Unglückliche Ehe Unglückliche Liebe Einsamkeit Furcht vor Prüfung Sorge und Kummer über schlechtes Verhalten des Kindes Schwierigkeiten bei Unterbringung der Kinder Erziehungssorgen Verzweiflung über Schändung der Kinder Abnahme der Kinder seitens der Behörde Abgängigkeit des Gatten, der Gattin, des Sohnes Gram über den Tod geliebter Angehöriger Verhängung der Kuratel Unzufriedenheit mit dem Beruf bezw. Berufsschwierigkeiten Süchtigkeit (Trunksucht, Morphinismus, Kokainismus, Spielsucht) Zivilrechtliche Angelegenheiten Strafrechtliche Angelegenheiten Furcht vor Anzeige wegen Diebstahles, Veruntreuung, Betrugs Furcht vor Strafantritt Verzweiflung wegen Intriguen (sic!) und wegen Erpressung, Angst vor Racheakt Angst vor Namensnennung in der Zeitung
Nennungen
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Motive der Beratungswilligen (Fortsetzung) Reihung Angegebene Motive
Folgen der strafrechtlichen Verurteilung Abschaffung oder Ausweisung Schlechte Behandlung an der Dienststelle Verweigerung der Namensänderung Wandertrieb Verschollenheit der Mutter Seelischer Konflikt Summe beratener Personen
Nennungen
Quelle: Statistik der Lebensmüdenstelle der Wiener ‚Ethischen Gemeinde‘, ZPH 620 Lebensmüdestelle, Wienbibliothek im Rathaus/Handschriftensammlung, Teilarchiv der Gesellschaft für ethische Kultur, Aufstellungsnummer 176.
Die obige Motivstatistik bildet die erste, nicht ausschließlich heteronormativ informierte, da zumindest der Punkt Homosexualität mit der tradierten Erfassung und Darstellung brach. Auf eine tatsächliche Dimensionierung lässt sich damit – wie bei allen anderen Motiven – auch nicht schließen. Es lässt sich nämlich nicht sagen, ob eine Mietvertragskündigung aufgrund regelmäßigen Herrenbesuchs als Wohnungsnot oder Homosexualität erfasst wurde.⁹⁵⁷ Aus den Unterlagen lässt sich leider auch nicht rekonstruieren, welche Rolle Geschlecht, Sexualität, Begehren und vergeschlechtlichte Körper in den Beratungen spielten. Wurden beispielsweise Homosexuelle in ihrer sexuellen Identität bestärkt und unterstützt? Oder wurde ihnen geraten, es vielleicht doch mit einer Ehe zu versuchen? Oder gab es die Empfehlung, sich möglichst diskret zu verhalten? Ähnliche Fragen drängen sich letztendlich bei allen erfassten Motiven auf.Wurde versucht, entlang von Heteronormativität zu ‚normalisieren‘ oder folgte man liberalen, auf Selbstakzeptanz ausgerichteten Prinzipien? Nicht nur die Beratungsstelle für Lebensmüde widmete sich Fragen der Prävention. Auch die der Sozialdemokratie nahestehenden Medien setzten neben der nekropolitischen Indienstnahme der vielen suizidalen Handlungen auf Intervention. Allerdings gingen sie in ihren Vorstellungen von gelingender Prophylaxe noch weiter, da Notlagen erst gar nicht entstehen sollten. In einem bemerkenswerten Artikel in der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Frau empfahl Marianne Pollak, die „äußere Erscheinung im Kampf ums Dasein“ zu optimie-
Der Homosexuelle in Frauenkleidern, Illustrierte Kronen-Zeitung, 32. Jg., Nr. 11.134, 20. Jänner 1931, 10.
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ren.⁹⁵⁸ Damit sollten Arbeitslosigkeit und Not von vornherein vermieden werden. Konkret schlug sie vor, einer möglichen Kündigung aus Altersgründen mit kosmetischen Mitteln entgegenzuwirken: „Ist es da nicht eine s o z i a l e P f l i c h t d e s A r z t e s , den Eindruck des Altwerdens bei diesen Frauen klug verwischen zu helfen? Wenn die S t e n o t y p i s t i n , das K i n d e r f r ä u l e i n , auch die F a b r i k a r b e i t e r i n den Kosmetiker aufsucht, dann tut sie es gewiß nicht aus Luxus. Sie muß im Kampf ums Dasein ihre Jugend ausdehnen, solange es geht, um Käufer für ihre Arbeitskraft zu finden, von der allein sie ja – und oft nur allzu kümmerlich! – ihr Leben bestreitet.“⁹⁵⁹
Auch mangelnde physische Attraktivität sollte bekämpft werden. Und so fand ein günstiges Institut für Schönheitsoperationen, das „die krummen und schiefen Nasen, die vorzeitigen Gesichtsfurchen, die hängenden Brüste, die plumpen Waden, die wegstehenden Ohren und die anderen Entstellungen“⁹⁶⁰ behandelte, lobende Erwähnung. Offensichtlich sollten die Technologien des Selbst einem verantwortungsbewussten Individuum helfen, nicht der Not anheim zu fallen. Wenig überraschend bedurften diese Strategien meist geschlechtsspezifischer Arbeit am Selbst. Ein letztes Segment der Akuthilfe und Präventionsarbeit stellten die psychiatrisch-neurologischen Abteilungen der Krankenhäuser dar. Diese wurden meist erst dann aufgesucht, wenn bereits eine suizidale Handlung erfolgt war. Vor diesem Hintergrund publizierte Margarethe Andics-Karikas 1938 eine umfangreiche Studie über ihre Gespräche mit geretteten Selbstmördern. ⁹⁶¹ Die Interviews hatte sie an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie (Vorstand Otto Pötzl) und an der angegliederten Beratungsstelle für Psychische Hygiene durchgeführt.⁹⁶² Darüber hinaus hatte sie auch Klient*innen der Eheberatungsstelle der Gemeinde Wien befragt.⁹⁶³ Außerdem arbeitete sie drei Jahre für die Beratungsstelle für Le-
Marianne Pollak, Soziale Kosmetik. Die äußere Erscheinung im Kampf ums Dasein. In: Die Frau. Sozialdemokratische Monatsschrift für Politik, Wirtschaft, Frauenfragen, Literatur 39/7 (1930) 9 – 10. Pollak, Soziale Kosmetik, 9 – 10. Pollak, Soziale Kosmetik, 9 – 10. Sie forschte ab 1929 am Psychologischen Institut in Wien und beschäftigte sich u. a. auch mit dem Tagebuchbestand von Charlotte Bühler. Die 1935 promovierte Psychologin engagierte sich später im antifaschistischen Widerstand, wurde 1942 verhaftet und zum Tod verurteilt. Die Hinrichtung wurde allerdings nicht exekutiert, sondern in eine Zuchthausstrafe umgewandelt. Als Jüdin wurde ihr darüber hinaus der von der Universität Wien verliehene Doktorgrad aberkannt. Von Andics, Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens, 6 – 7. Von Andics, Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens, 7.
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bensmüde und gehörte als Anhängerin Alfred Adlers dem Kreis um Charlotte Bühler an.⁹⁶⁴ Laut Andics-Karikas wurden Überlebende von suizidalen Handlungen polizeiärztlich untersucht.⁹⁶⁵ Lag Wiederholungsgefahr oder eine psychische Störung vor, so wurden die Betroffenen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dies geschah auch dann, wenn der Polizei suizidgefährdete Personen gemeldet wurden. Bei Diagnose einer psychischen Störung wurden die Betroffenen in die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geistesund Nervenkranke Am Steinhof überwiesen. Suizidale Personen, die keine Störung zeigten und sich ruhig und unauffällig verhielten, wurden in häusliche Pflege entlassen. Weiterhin Suizidgefährdete und solche ohne familiäre Unterstützung mussten für einen Zeitraum von zwei Wochen in der Aufnahmeklinik bleiben. Sollte die Unterbringung länger andauern, musste ein gerichtlicher Beschluss über eine befristete Entmündigung erwirkt werden. Gute Aussicht auf eine Entlassung bestand, wenn es der eingewiesenen Person gelang, das Personal von seiner Resilienz zu überzeugen. Laut William Bowman war es erfolgversprechend, eine aus drei Aussagen bestehende Läuterung anzubieten und zu bekräftigen: Erstens, dass zukünftig kein suizidales Verhalten mehr auftreten würde. Zweitens, dass man nie erwogen hatte, sich selbst zu töten. Drittens, dass man nicht einmal geplant hatte, sich selbst Gewalt zuzufügen.⁹⁶⁶
Erwachsenwerden ist schwer Heranwachsende rückten in den 1920er- und 1930er-Jahren in den Fokus unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und politischer Reformen. Dazu zählten die Kinder- und Jugendpsychologie, die Pädagogik, die Sexualwissenschaften sowie die Fürsorgeämter. Im Zuge dieser Bemühungen wurden auch marginalisierte Kinder mit verstärkter Aufmerksamkeit bedacht.⁹⁶⁷ Die sozialdemokratische Dominanz in Wien erlaubte es dem Arzt und Stadtrat Julius Tandler,
Elke Mühlleitner, Andics-Karikas, Margarethe. In: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken (Wien u. a. 2002), 15 – 17, hier 15. Von Andics, Über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens, 7. William Bowman, Despair unto Death? Attempted Suicide in Early 1930s Vienna. In: Austrian History Yearbook 39 (2008) 138 – 156, hier 156. Allein schon aus ökonomischer Erfordernis sollten sämtliche Bildungsreserven ausgeschöpft und schichtspezifische Benachteiligungen abgebaut werden. Wolfang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945. In: Peter Csendes, Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Von 1790 bis zur Gegenwart (Band 3, Wien u. a. 2006) 175 – 544, hier 369.
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die Wohlfahrt massiv auszubauen.⁹⁶⁸ Es ist von größter Bedeutsamkeit, dass sich dieser der Utopie eines Neuen Menschen verpflichtet fühlte, den er in seinem vierbändigen Lehrbuch der systematischen Anatomie als ein „gesundes, kräftiges Individuum, ein konfessionsloser Bürger mit multi-ethnischem Hintergrund“ vorstellte.⁹⁶⁹ Wenig zurückhaltend beanspruchte der Atlas, den ‚normalen‘, gesunden und zweigeschlechtlichen Menschen kompakt und systematisch darzustellen. Die so fixierte ‚Normalität‘ sollte durch das Wiener Fürsorgesystem erreicht und gegebenenfalls wiederhergestellt werden.⁹⁷⁰ Dazu gehörte auch die Befreiung des heterosexuellen Koitus aus der bürgerlichen Enge.⁹⁷¹ Insbesondere der männliche Proletarier sollte regelmäßig orgiastische Genüsse erleben können.⁹⁷² Aber auch die vermutete weibliche Geschlechtskälte wurde adressiert. Es darf nicht übersehen werden, dass Tandler eine neo-lamarckistische Auffassung der Erblichkeit von erworbenen Eigenschaften vertrat.⁹⁷³ Daher appellierte er an das verantwortungsbewusste Individuum, sich umfassend beraten zu lassen und bestmögliche, eugenisch ‚richtige‘ Entscheidungen zu treffen. Konsequenterweise baute er auch die Kinder- und Jugendfürsorge massiv aus. Er war sich sicher, dass alle Aufwendungen in diesem Bereich besonders günstige Auswirkungen zeitigten. Zusammenfassend lässt sich das Wiener Fürsorgewesen als ein humanitäres, Julius Tandler war seit 1910 Professor für Anatomie (Lehrstuhl I) an der Universität Wien. 1919 errang er den Posten eines Unterstaatssekretärs für Volksgesundheit und wurde Gemeinderat der Stadt Wien. Er war eine der maßgeblichen Figuren des Wiener Gesundheits- und Fürsorgesystems (Kinder- und Jugendfürsorge, Eheberatung, Schwangeren- und Mütterberatung, Spitalwesen etc.). Tandler argumentierte seine Fürsorgeanstrengungen nicht nur humanitär, sondern auch positiv und negativ eugenisch. Gudrun Exner unter Mitarbeit von Alexander Pinwinkler, Julius Tandler (1869 – 1936): soziale Reformen mit bevölkerungspolitischem Hintergrund. In: Gudrun Exner, Josef Kytir, Alexander Pinwinkler (Hg.), Bevölkerungswissenschaft in Österreich in der Zwischenkriegszeit (1918 – 1938). Personen, Institutionen, Diskurse (Wien u. a. 2004) 34– 55, hier 40 – 44. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln wurden er und sein Lehrstuhl zum Ziel massiver antisemitischer Angriffe. Im Zuge der Februarereignisse 1934 wurde er zwangsemeritiert und entschied sich für das Exil in Moskau, wo er 1936 verstarb. Birgit Nemec, Klaus Taschwer, Terror gegen Tandler. Kontext und Chronik der antisemitischen Attacken am I. Anatomischen Institut der Universität Wien, 1910 bis 1933. In: Oliver Rathokolb (Hg.), Der lange Schatten des Anti-Semitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert (Zeitgeschichte im Kontext 8, Wien 2013) 147– 171, hier 157– 169. Birgit Nemec, Die Anatomie des Neuen Menschen. In: Werner Schwarz, Ingo Zechner (Hg.), Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift für Siegfried Mattl zum 60. Geburtstag (Wien u. a. 2014) 136 – 145 hier 138. Nemec, Die Anatomie des Neuen Menschen, 143. Maria Mesner, Geburtenkontrolle. Reproduktionspolitiken im 20. Jahrhundert (Wien u. a. 2010) 76. Mesner, Geburtenkontrolle, 76. Mayer, Julius Tandler. In: Turda (Ed.), The History of East-Central European Eugenics, 21.
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kostenkontrollierendes und normalisierendes Instrumentarium charakterisieren.⁹⁷⁴ Vor diesem Hintergrund begann Viktor Frankl ab 1927, Jugendberatungsstellen zu organisieren.⁹⁷⁵ Diese wurden mit folgendem Slogan in ganz Wien beworben: „‘Jugendliche! Wendet Euch in jeder seelischen Not an die unten angeführten Jugend-Beratungs-Stellen! Unentgeltlich! Keine Namensnennung nötig! Strengste Verschwiegenheit! Es ist nie zu spät!‘“⁹⁷⁶ Frankl fokussierte insbesondere Schüler*innen und erläuterte seine Strategie diesbezüglich: „1930 organisierte ich erstmalig eine Sonderaktion zur Zeit der Zeugnisverteilung, was zur Folge hatte, dass in Wien nach vielen Jahren erstmalig kein einziger Schülerselbstmord zu verzeichnen war.“⁹⁷⁷ Einen weiteren wichtigen Schauplatz bildete das neugegründete Psychologische Institut der Stadt Wien, welches von 1922/1923 bis 1934 im Palais Epstein untergebracht war. Es verdankte seine Entstehung der Wiener Schulreform und fungierte als Wirkungsstätte sowohl für Charlotte Bühler als auch für ihren Ehemann.⁹⁷⁸ Auch das 1923 neu gegründete Pädagogische Institut der Stadt Wien war bis 1925/26 teilweise im Stadtschulratsgebäude angesiedelt. Das Institut diente vor allem der Lehrer*innenaus- und fortbildung und wurde von solch prominenten Dozent*innen wie Karl Bühler (Leiter des psychologisch-pädagogischen Labora Die Strategie des Wiener Fürsorgewesens ist nach Jürgen Link (Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 42009) als proto-normalistisch einzustufen, da sich das ‚Normale‘ noch weitgehend mit den Gesetzen deckte. Siehe dazu auch: Alexander Brunner, Normalisierung als Diskurs der entstehenden Fürsorge in Österreich 1900 – 1935. In: soziales_kapital 10 (2013), online unter , 13.05. 2015. Er wurde dabei von folgenden Kolleg*innen unterstützt: Erwin Wexberg, Charlotte Bühler, Rudolf Dreikurs und August Aichhorn. Letzterer war ab 1922 auch in der Erziehungsberatungsstelle des Wiener Jugendamtes tätig. Er lehnte rigide Erziehungsmethoden und Körperstrafen ab. Aichhorn betonte, dass auffällige und vernachlässigte Kinder und Jugendliche keine Schuld an ihrer Lage traf. Sein Zugang konnte sich in den Wiener Erziehungsheimen nicht durchsetzen. Nur in der Therapieanstalt Dornbach wurden seine Empfehlungen berücksichtigt. Reinhard Sieder, Andrea Smioski, Der Kindheit beraubt. Gewalt in den Erziehungsheimen der Stadt Wien (1950er bis 1980er-Jahre) (Innsbruck u. a. 2012) 38. Ulrich Kümmel, Erwin Wexberg. Ein Leben zwischen Individualpsychologie, Psychoanalyse und Neurologie (Göttingen 2010) 60. Viktor E. Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen (München 1995) 47– 48. Hier gilt es, besonders auf die Assistent*innen und Doktorand*innen der Bühlers hinzuweisen: Hildegard Hetzer, Lotte Schenk-Danzinger, Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda, Lajos Kardos, Josef Krug, Alexander Willwoll, Peter Hofstätter, Else Frenkel, Elsa Köhler, Käthe Wolf, Hedda Bolgar, Albert Wellek, James Bugenthal, Henry Wegrocki und Karl Popper. Ebenso erwähnenswert ist, dass Charlotte Bühler mit ihrem Stipendium von der Rockefeller Foundation u. a. die Marienthal-Studie von Lazarsfeld und Jahoda mitfinanzierte.
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toriums), Alfred Adler, Max Adler, Charlotte Bühler, Wilhelm Jerusalem und Hans Kelsen betreut. Dieser Knotenpunkt nahm eine zentrale Stellung bei der Übersetzung von Forschung in Praxis und vice versa ein. Bemerkenswerterweise privilegierte die Wissenschaft weiterhin den bürgerlichen und heterosexuellen Nachwuchs, obwohl die Probleme marginalisierter Jugendlicher drängten. Dies lässt sich auch im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten feststellen, denn die besonders vulnerablen jungen Hausgehilf*innen erhielten nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die meist gleichaltrigen Mittelschüler*innen.⁹⁷⁹ Eine Ausnahme davon bildeten Forschende, die der Sozialdemokratie nahestanden bzw. die sich in deren Umfeld bewegten. Dazu zählte auch der Sozialmediziner Sigismund Peller, der 1932 das hohe Risiko dieser sozialen Gruppe betonte.⁹⁸⁰ Aber auch Wilhelm Reich nahm sich der proletarischen Jugend an. Gemeinsam mit Marie Frischauf hatte er 1928/1929 sechs Sexualberatungsstellen für Arbeiter*innen und Angestellte gegründet.⁹⁸¹ Reich war überzeugt, dass zahlreiche Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren an sexuellen Störungen litten.⁹⁸² Dazu zählte er Onanieund Erektionsprobleme, vorzeitigen Samenerguss, „Frigidität“ und die angstvollzögerliche Verwendung von empfängnisverhütenden Mitteln. Aber auch coitus interruptus und Abstinenz galt es zu vermeiden, um nicht infantile Sexualmechanismen zu fixieren. Die Jugendlichen müssten „vor der endgültigen Wendung zur Homosexualität bewahrt werden, nicht aus moralischen sondern aus rein sexualökonomischen Gründen; denn es läßt sich feststellen, daß die durchschnittliche sexuelle Befriedigung beim gesunden, andersgeschlechtlich Gerichteten noch immer viel intensiver ist als die Befriedigung beim gesunden Homosexuellen. Und das bedeutet viel für die Ordnung des seelischen Haushalts.“⁹⁸³
Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 374– 375. „Unter jugendlichen Personen, die einen Selbstmord verüben oder versuchen, spielen nämlich H a u s g e h i l f i n n e n eine große Rolle. Mädchen, die diesen Beruf ergreifen, sind in Wien selten unter 15, zumeist über 16 Jahre alt; wiewohl die meisten von ihnen Landmädchen sind und aus einem selbstmordarmen Milieu stammen, stellen sie bald das stärkste Kontingent an Selbstmordkandidatinnen. Weniger als 1/6 der 15 – 20jährigen, aber mehr als 1/3 aller weiblichen Personen, die in diesem Alter einen SM oder SMV begehen, sind Hausgehilfinnen.“ Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung, 348. Diese waren Einrichtungen der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung. Wilhelm Reich, Erfahrungen und Probleme der Sexualberatungsstellen für Arbeiter und Angestellte in Wien. In: Der Sozialistische Arzt. Vierteljahrszeitschrift des Vereins Sozialistischer Ärzte 5/3 (1929) 98 – 102. Wilhelm Reich, Der sexuelle Kampf der Jugend (Berlin u. a. 1932) 75.
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Damit offenbart sich, wie heterosexistische, genital- und orgasmusorientierte sowie männliche Bedürfnisse privilegierende Anteile in die sozialdemokratische Sicht auf Geschlecht und Sexualität verwoben waren und wie damit gleichzeitig nicht-penetrierende, homosexuelle und weibliche Sexualempfindungen und -praktiken untergeordnet wurden. Das Diskursphänomen der „Schülerselbstmorde“ wurde medial und literarisch intensiv bearbeitet.⁹⁸⁴ Herausragende diskursive Ereignisse bildeten die Publikation von Friedrich Torbergs Schüler Gerber (1930) und die sogenannte Steglitzer Schülertragödie, die sich als verabredeter Suizid am 28. Juni 1927 in Berlin ereignet hatte. Auch die österreichischen Medien berichteten ausführlich über diesen Fall. Im Gerichtsprozess, der einen Totschlagsvorwurf gegen Paul Krantz verhandelte, hatte u. a. der prominente Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger als Gutachter fungiert. Der freigesprochene Krantz reflektierte die Ereignisse teilweise in seinem Roman Die Mietskaserne, der 1931 unter dem Pseudonym Ernst Erich Noth erschien und sich regen Zuspruchs erfreute.⁹⁸⁵ Im Zuge der NS-Bücherverbrennungen des Frühsommers 1933 wurden Noths Roman, aber auch Frank Wedekinds Frühlingserwachen und André Gides Die Falschmünzer ⁹⁸⁶, als „undeutsch“ klassifiziert und vernichtet. Alle diese Romane behandelten seelische Nöte und suizidale Gedanken von Jugendlichen. Die beiden letztgenannten sprachen zudem das Thema der jugendlichen Homosexualität unverblümt an. Der intensive Diskurs um die suizidalen Schüler*innen korrelierte kaum mit den Aussagen der Statistiken. Zumindest gelangte Gerhard Benetka für die Weimarer Republik zum Schluss, dass dem Diskurs kein statistisches Phänomen zu Grunde lag.⁹⁸⁷ Andere Einsichten ließen die Statistiken für das Ende des 19. Jahrhunderts zu, da sie erhöhte Zahlen offenbarten. Für Österreich fehlen statistische Aufzeichnungen, die sich speziell mit der Gruppe der Schüler*innen auseinandergesetzt hätten. Hinsichtlich der Zwischenkriegszeit lässt sich ein Anstieg der suizidalen Handlungen vor allem bei Jugendlichen und jungen Er-
Arno Herberth, Der Jugendsuizid in der Moderne. Wissenschaftliche Vermessung und literarischer Diskurs (Unveröff. Geisteswi. Dissertation Univ. Wien, Wien 2014). Die Schichtspezifik macht diesen Roman besonders interessant. Die beiden in einer Mietskaserne wohnhaften Protagonisten, Albert und Walter, wurden in das Gymnasium aufgenommen. Allerdings blieben sie dort sozial Ausgeschlossene. Aber auch im alten Milieu wurden sie fortan nicht mehr akzeptiert. Gides Roman war 1925 als Les Faux-Monnayeurs in Frankreich erschienen und 1929 ins Deutsche übertragen worden. Aufgrund seiner komplexen Erzählweise gilt das Werk als richtungsweisend für den „Nouveau Roman“. Gerhard Benetka, Psychologie in Wien: Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922– 1938 (Wien 1995) 294
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wachsenen registrieren.⁹⁸⁸ Das Gros davon dürfte auf Hausgehilf*innen, Lehrlinge und Pflichtschulabsolvent*innen entfallen sein. Im Zuge der nachstehenden Untersuchung der Illustrierten Kronen-Zeitung zeigte sich, dass über suizidale Schüler*innen nicht oft, aber sehr ausführlich berichtet wurde. Demgegenüber wurden suizidale Handlungen von Hausgehilf*innen, Auszubildenden und jungen Arbeiter*innen regelmäßig aber mit wenig Tiefgang thematisiert.
Suizidale Jugendliche im Fokus der Tagespresse Die vielen jungen suizidalen Hausgehilf*innen stellten keinen bevorzugten Gegenstand der Forschung dar. In den Chronik-Rubriken der Boulevard-Presse waren sie hingegen prominent vertreten – meist unter dem Hinweis, dass eine unglückliche Liebesbeziehung, soziale Konflikte oder unbedachte Kurzschlussreaktionen die suizidale Handlung motiviert hatten.⁹⁸⁹ Das formale Grundgerüst dieser Texte war immer ähnlich: genauer Name, Wohnort, Beruf bzw. aktuelle Beschäftigung, Suizidart und -methode sowie das Motiv. Mit dieser verknappten Berichterstattung wurde versucht, das Geschehen verständlich und für die Leser*innen transparent zu machen. Um die Expertise des Mediums zu betonen, wurde in der Regel ein Motiv angegeben oder zumindest darüber spekuliert. Als ebenso charakteristisch ist die Nachordnung weiblicher Individuen bei „Doppelselbstmorden“⁹⁹⁰ einzustufen. Stellvertretend für die vielen Fälle und die bevorzugten Erklärungsmuster können die folgenden Artikel aus der Illustrierten Kronen-Zeitung stehen.⁹⁹¹ Am 20. Jänner 1930 berichtete sie:
Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926. „Eine dumme Liebesgesichte, ein Streit im Geschäfte, mitunter auch nur ein Zank mit einer Kollegin haben schon dazu geführt, daß zur Schwermut neigende Mädchen nicht nur selbst in den Tod gingen, sondern auch gleichgesinnte Freundinnen oder Verwandte (f, Anm. MH)anden, welche mit ihnen gemeinsam Selbstmord verübten.“ Weil sie nicht ins Kino durften. Doppelselbstmord zweier Schwestern, Illustrierte Kronen-Zeitung, 15. Jänner 1918, Nr. 6481, 8. Sofern das Gegenüber als männlich identifiziert werden konnte. Die Illustrierte Kronen-Zeitung stellte das auflagenstärkste, täglich erscheinende Medium der Zwischenkriegszeit dar. Die Tageszeitung konnte ihre Auflage bis 1933 auf 223.700 Stück steigern. Allerdings dominierte sie damit keineswegs den Wiener Zeitungsmarkt. 1933 erschienen in Wien 26 Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 1.379.600 Stück. Die Bundesländerpresse war demgegenüber kaum ausgebaut. Gabriele Melischek, Josef Seethaler, Auflagenzahlen der Wiener Tageszeitungen 1895 – 1933 in quellenkritischer Bearbeitung (Arbeitsberichte der Kommission für historische Pressedokumentation 1, Wien 2001), 12. Online unter 5. 2. 2015. Die Illustrierte Kronen-Zeitung setzte auf hohe Bildund Illustrationsanteile, Spektakel und Sensation. Vor diesem Hintergrund wurden suizidale
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„Der 18jährige Spenglergehilfe Franz S o m m e r l e c h n e r , Theresiengasse 30 wohnhaft, hat sich in der Küche seiner Wohnung mit der 17jährigen Hausgehilfin Julie H o f e r, Martinstraße 23, mit Leuchtgas zu vergiften versucht. Die beiden wurden wegen Wiederholungsgefahr auf das Kommissariat Währing gebracht. Das Motiv der Tat ist u n g l ü c k l i c h e L i e b e .“⁹⁹²
Die zweite Meldung ist in die Rubrik unüberlegte Kurzschlusshandlung einzureihen. Die 16-jährige Hausgehilfin Agnes Kania hatte sich im Jänner 1930 selbst getötet und zwei Abschiedsbriefe hinterlassen. Sie nannte als Motiv der Tat gefühlte Zurücksetzung gegenüber der älteren Schwester. Die Zeitung entwertete den angeführten Grund und meinte, dass dieser ein Hirngespinst war: „Agnes glaubte, daß die Mutter ihr ihre ältere Schwester vorzog. Wie sich im Kopf des jungen Mädchens ein derartiger Gedanke festsetzen konnte, wir wissen es nicht. Aber es ist kaum anzunehmen, daß Agnes wirklich Grund gehabt hat, sich zurückgesetzt zu fühlen.“⁹⁹³ Im Bericht wurde zwar erwähnt, dass dem Suizid ein Streit mit den Eltern vorausgegangen war, allerdings wurde dieser mögliche Auslöser nicht weiter verfolgt. Vielmehr meinte die Zeitung weiterhin, dass ihr Suizid nichts Anderes als ein tragischer Irrtum war.⁹⁹⁴ Er wurde damit als das Gegenteil einer überlegten Handlung präsentiert und das Irrationale betont.⁹⁹⁵ Und so blieb am Ende nur eine Jugendliche, welche die Lage falsch eingeschätzt hatte. Obwohl die Illustrierte Kronen-Zeitung oft auf das Spektakel setzte und den Voyeurismus ihrer Leser*innen zu bedienen suchte, konnte sie auch anders. So Handlungen auch regelmäßig am Cover thematisiert. Eine Auswahl an diesbezüglichen TitelSchlagzeilen: „Mein Mann wollte mich umbringen!“ Eine Ehetragödie in Breitenlee, Illustrierte Kronen-Zeitung, 2. Jänner 1930, Nr. 10758, 1. Mit der Dienstgeberin in den Tod. Die Treue einer Hausgehilfin, Illustrierte Kronen-Zeitung, 7. Jänner 1930, Nr. 10762, 1. An der Leiche der Gattin und zweier Kinder. Familiendrama in Penzing, Illustrierte Kronen-Zeitung, 1. Februar 1930, Nr. 10787, 1. Die Illustrierte Kronen-Zeitung verzichtete in der Regel darauf, Autor*innennamen zu nennen. Zwei Doppelselbstmordversuche in der heutigen Nacht. Notlage und unglückliche Liebe, Illustrierte Kronen-Zeitung, 20. Jänner 1930, Nr. 10775, 4. Selbstmord am Namenstag, Illustrierte Kronen-Zeitung, 22. Jänner 1930, Nr. 10777, 6. „Der Selbstmord des unglücklichen Mädchens erscheint in noch viel tragischerem Lichte durch eine Karte, die – um einen Tag zu spät – von Fanny Kania eintraf, eben der Schwester, um derentwillen sich Agnes von der Mutter zurückgesetzt wähnte. Sie lautete: ’Wir wünschen Dir zu Deinem Namenstag und Geburtstag viel Glück und langes gesundes Leben. Grüße von allen Fanny.’ An dem Tag, der ihr Namenstag und gleichzeitig ihr sechzehnter Geburtstag war, hat Agnes ihrem jungen Leben ein Ende gemacht. Der Segenswunsch der Schwester, der sich sicherlich von ihrem unseligen Vorhaben abgebracht hätte, kam zu spät …“ Selbstmord am Namenstag, Illustrierte Kronen-Zeitung, 22. Jänner 1930, Nr. 10777, 6. Das gesellschaftskritische Potential der Irrationalität erlebte einen Erosionsprozess. Auch aufgeklärte Stimmen wollten nichts anderes als ein „Asyl, das so hergerichtet wäre, daß die Krankheit darin vegetieren könnte, ohne sich jemals auszubreiten“. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (Frankfurt/M. 1996) 365.
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erörterte sie etwa den Tod des 16-jährigen Gewerbeschülers Friedrich Baurek im Jänner 1930 mit Zurückhaltung.⁹⁹⁶ Trotz einer Gasvergiftung und absentem Fremdverschulden spekulierte das Blatt nicht mit Suizid. Selbst ein ‚passendes‘ Motiv wäre mit Schulproblemen vorhanden gewesen: „Wenn es ihm auch in der Schule nicht sonderlich gut ging, hat er doch seine Lebensfreude nicht verloren.“⁹⁹⁷ Die Zeitung beharrte stattdessen darauf, dass der Apothekersohn „sehr lebensfroh“⁹⁹⁸ war und „niemals Selbstmordabsichten geäußert“⁹⁹⁹ hat. Schlussendlich interpretierte sie den Tod des Schülers als Unfall.“¹⁰⁰⁰ Vier Umstände dürften hier entscheidend gewesen sein. Erstens gab es eine Reihe von Stimmen aus dem Umfeld des Schülers, die eine suizidale Handlung als unwahrscheinlich einstuften. Zweitens schien das singuläre Motiv der Schulprobleme als Erklärung nicht auszureichen. Drittens waren Affekthandlung, „Geisteskrankheit“ und unglückliche Liebe klar weiblich codiert und fielen daher als potenzielle Motive weg.Viertens wurde regelmäßig auf ein ‚moralisch‘ günstigeres Szenario geschlossen, wenn transgressives Verhalten fehlte. Eine solche Nachsicht zeigte die Illustrierte Kronen-Zeitung nicht, wenn gleichgeschlechtliches Begehren im Spiel war. In einem Fall von versuchtem Mord und Suizid verunglimpfte sie die beiden Liebenden beträchtlich: „Die Helden des Dramas gehören jenen Kreisen s i t t l i c h Ve r i r r t e r an, in denen die Leidenschaften viel heftiger wüten als bei den normal veranlagten Menschen. Racheakte und blutige Verbrechen sind daher bei diesen Unglücklichen verhältnismäßig häufig.“¹⁰⁰¹ Aus dem Mund der Großmutter erfuhren die Leser*innen, dass ihr Enkel vom Älteren verführt worden war. Dass Jugendliche leicht das ‚Opfer‘ von älteren Homosexuellen werden konnten, stellte festes Diskursinventar dar, etwa wenn die Illustrierte Kronen-Zeitung Folgendes zu wissen glaubte: „Sie zeigt auch starke h o m o s e x u e l l e N e i g u n g e n und pflegte besonders Ve r k e h r m i t j u n g e n M ä d -
Unaufgeklärter Tod eines Gewerbeschülers. Im Badezimmer leblos aufgefunden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 31. Jg., 13. Jänner 1930, Nr. 10768, 9. Unaufgeklärter Tod eines Gewerbeschülers. Im Badezimmer leblos aufgefunden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 31. Jg., 13. Jänner 1930, Nr. 10768, 9. Unaufgeklärter Tod eines Gewerbeschülers. Im Badezimmer leblos aufgefunden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 31. Jg., 13. Jänner 1930, Nr. 10768, 9. Unaufgeklärter Tod eines Gewerbeschülers. Im Badezimmer leblos aufgefunden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 31. Jg., 13. Jänner 1930, Nr. 10768, 9. Unaufgeklärter Tod eines Gewerbeschülers. Im Badezimmer leblos aufgefunden, Illustrierte Kronen-Zeitung, 31. Jg., 13. Jänner 1930, Nr. 10768, 9. Ein Eifersuchtsdrama zwischen – Männern, Illustrierte Kronen-Zeitung, 26. Jg., 21. März 1925, Nr. 9039, 4– 5, hier 4.
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c h e n .“¹⁰⁰² Oder indem sie einen suizidalen Homosexuellen als gefährlichen Verführer diskreditierte: „In Parks machte sich der K i n d e r v e r d e r b e r a n J u n g e n v o n 1 4 b i s 1 6 J a h r e n heran, wurde gegen sie zärtlich und stellte an sie ganz unziemliche Fragen.“¹⁰⁰³ Mit dem Fall des 15-jährigen Schneiderlehrlings Fritz Loßmann beschäftigte sich das Blatt wiederholt und intensiv. Der Jugendliche war im September 1924 tot und mit einem Revolver in der Hand aufgefunden worden. Trotz eines Abschiedsbriefs bezweifelte die Zeitung ein suizidales Szenario. Vielmehr spekulierte sie, dass Loßmann von seinem ‚Verführer‘ ermordet worden war. Beim vermuteten Täter handelte es sich um einen Gewerbetreibenden, der, „obwohl er verheiratet und Vater mehrerer Kinder ist, widernatürlichen Neigungen fröhnt“.¹⁰⁰⁴ Tatsächlich hatte dieser einen Erpresserbrief erhalten und Loßmann als Absender verdächtigt. Der daraufhin eingeschaltete Anwalt dürfte den Jugendlichen, wie sich aus dem Abschiedsbrief an den Vater schließen lässt, massiv bedroht haben: „‘I c h m u ß i n d e n T o d g e h e n . Wenn du Näheres wissen willst, warum, wird dir das R e c h t s a n w a l t … sagen.‘“¹⁰⁰⁵ Dennoch brandmarkte die Kronen-Zeitung weiterhin den Gewerbetreibenden. Und so war dort am 26. September 1924 auf der Titelseite zu lesen: „Das Opfer eines gewissenlosen Verführers“.¹⁰⁰⁶ In manchen Fällen hielt sich die Zeitung aber auch zurück. Wie etwa beim Linzer Theaterdirektor Heinrich Hagin, der sich 1925 suizidierte. Sie berichtete wohlwollend über den prominenten Suizidenten und vermied jeglichen Hinweis auf dessen Sexualgebaren.¹⁰⁰⁷ Ein deutsch-nationales Blatt wühlte dagegen genüsslich in seinem Privatleben: „Der Grund zum Selbstmord soll, wie wir erfahren, nicht allein in Geldschwierigkeiten bestanden haben, dazu soll auch seine h o m o s e x u e l l e Ve r a n l a g u n g , weswegen Hagin bereits vor Jahren mit dem Gesetz in Konflikt kam, beigetragen haben.“¹⁰⁰⁸
Der erste weibliche Lustmörder, Illustrierte Kronen-Zeitung, 28. Jg., 15. Juni 1927, Nr. 9840, 12. Mordversuch an dem Freund, Illustrierte Kronen-Zeitung, 24. Jg, 29. September 1923, 3. Der Tod des Fritz Loßmann, Illustrierte Kronen-Zeitung, 25. Jg, Nr. 8868, 26. September 1924, 4. Der Tod des Lehrlings Loßmann, Illustrierte Kronen Zeitung, 25. Jg., Nr. 8866, 24. September 1924, 4– 5, hier 4. Der Tod des Lehrlings Loßmann, Illustrierte Kronen Zeitung, 25. Jg., Nr. 8866, 24. September 1924, 4– 5, hier 4. Tragischer Selbstmord des Linzer Theaterdirektors, Illustrierte Kronen-Zeitung, 26. Jg., Nr. 9203, 5. September 1925, 12. Nervenzerrüttung und Geldschwierigkeiten, Deutschösterreichische Tages-Zeitung, 5.9. 1925, 4.
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Suizidale Jugendliche im Fokus von Pädagogik, Psychoanalyse und Sexualwissenschaften Wie bereits angesprochen, wurde dem Phänomen der „Schülerselbstmorde“ große Aufmerksamkeit zuteil. Vor diesem Hintergrund soll es darum gehen, welcher Status dieser Gruppe attribuiert wurde und welche Subjekte aus diesem Rahmen herausfielen. Ebenso wird untersucht, wie sich die wissenschaftlichen Disziplinen auf Geschlecht und Sexualität bezogen. Arbeiteten sie sich implizit oder explizit daran ab und welchen Stellenwert schrieben sie diesen Strukturierungen zu? Vulnerable und deviante Jugendliche zogen nicht nur wissenschaftliches Interesse auf sich, sondern auch jenes von Sozialpolitik und Fürsorge – insbesondere im Roten Wien. Die städtische Jugend- bzw. Familienfürsorge war 1917 etabliert worden. Sie richtete sich vor allem an sozioökonomisch deklassierte, marginalisierte und deviante Familien und ihre Kinder.¹⁰⁰⁹ Die zentrale Aussage im Fürsorgediskurs, dass es eine große Anzahl von verwahrlosten, in ihrem physischen und psychischen Wohl bedrohte Minderjährige gab, skizzierte einen veritablen Notstand, da diese Kinder nicht nur als Opfer imaginiert wurden, sondern auch als potentiell Kriminelle, sexuell Deviante und Arbeitsverweiger*innen. Insbesondere männliche Arbeiterjugendliche wurden beschuldigt, sexuelle Gewalt, promiske und homosexuelle Sexualpraktiken zu präferieren und zu verbreiten.¹⁰¹⁰ Labile Jugendliche galten zudem gefährdet, das Opfer von älteren ‚Verführern‘ zu werden und sich so möglicherweise in Gewohnheitshomosexuelle zu verwandeln. Solcherart bedrohten sie die Gemeinschaft und daher galt es, zu intervenieren. Vor diesem Hintergrund wurden nicht nur die (Bezirks‐) Jugendämter eingeführt, sondern auch die sogenannte nachgehende Fürsorge. Damit war gemeint, dass die städtischen Fürsorger*innen die Familien vor Ort besuchten und sich ein Bild von ihrer Lage machten.¹⁰¹¹ Hierbei orientierten sich die Fürsorgebeauftragten insbesondere an wissenschaftlichen Normen, die beschrieben und absteckten, wie eine ‚normale‘ Entwicklung, Familie und Erziehung auszusehen hatte. Offensichtlich war der Fürsorgediskurs auf das Engste mit einer biopolitischen Agenda verquickt, die sich insbesondere um die heteronormative Ordnung und deren Durchsetzung drehte.¹⁰¹² Das Ziel einer ‚normalen‘
Sieder, Smioski, Der Kindheit beraubt, Kapitel 1. Crouthamel, An Intimate History of the Front, 16. Frauen*, die Fürsorgerin werden wollten, mussten anfänglich unverheiratet und kinderlos sein sowie einen zweijährigen Fachkurs für Jugendfürsorge absolvieren. Ab 1918 mussten sie die Akademie für soziale Verwaltung besuchen, welche bereits ein Jahr später nur mehr Maturant*innen zugänglich war. Sieder, Smioski, Der Kindheit beraubt, 28 – 29. Foucault, Der Wille zum Wissen, 139.
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Bevölkerung konnte nur erreicht werden, wenn bei abweichenden Subjekten korrigierend eingegriffen wurde. Das Elternpaar sollte verheiratet sein, der Vater einer Erwerbsarbeit nachgehen und die Mutter den gemeinsamen Haushalt und die Kinder versorgen. Alleinerziehende, homosexuelle, arbeitslose, (alkohol) kranke oder schlichtweg bitterarme Elternteile kontrastierten mit diesem Ideal.¹⁰¹³ Vor diesem Hintergrund wurde 1922 in Wien eine Generalvormundschaft über alle unehelichen Kinder eingeführt. Drei Jahre später wurde ein Anspruch auf Hilfe für Mutter und Kind per Gesetz geregelt.¹⁰¹⁴ Die das elterliche Heim aufsuchenden Fürsorger*innen begutachteten die Lebensumstände der Kinder.¹⁰¹⁵ Gingen sie regelmäßig zu Schule, waren ihre Leiber und ihre Kleidung gepflegt, zeigten sie psychische Auffälligkeiten? Wurden zu Hause Moral, Sitte und Anstand hochgehalten? War die Wohnung sauber und gingen die Jugendlichen einer Arbeit oder zumindest einer Ausbildung nach? Kam der Vater regelmäßig nach Hause? Konnte die Mutter das geforderte Ideal einer konsequenten und regelhaften Erziehung erfüllen? Die Umgebung der Kinder wurde also seziert. Der so gewonnene Eindruck bildete die Grundlage für diagnost- und prognostizierende Berichte, welche wiederum Empfehlungen formulierten. Das Ziel der Wohlfahrt bestand auch im Roten Wien darin, dass die befürsorgten Kinder produktive Mitglieder der Gesellschaft wurden und sich in den normalen Kreislauf einer kapitalistischen Ordnung eingliederten.¹⁰¹⁶ Obwohl die mit dem Kindeswohl befassten wissenschaftlichen Disziplinen vorgaben, streng objektiv und wertneutral zu sein, bildete auch hier stets das ‚normale‘, bürgerliche Kind die Messlatte. Um deviante Kinder dieser Normalität zuzuführen, hatte im November 1911 die erste Heilpädagogische Station an der
Sieder, Smioski, Der Kindheit beraubt, 19 – 23. Diese gesetzliche Ermächtigung brachte auch neue vergeschlechtlichte und rassifizierte Subjektivitäten hervor, wie die in den letzten Jahrzehnten politisch besonders umkämpfte „Welfare mom“. Dieser wird vorgeworfen, Kinder nur deswegen zu bekommen, um auf Kosten der staatlichen Wohlfahrt zu leben. Mitchell Dean, The Malthus Effect: population and the liberal government of life. In: Economy and Society 44/1 (2015) 18 – 39, here 33. Gleichzeitig symbolisiert die sogenannte „Welfare mom“ auch die „Feminization of Poverty“. Diana Pearce, The Feminization of Poverty: Women, Work, and Welfare. In: The Urban & Social Change Review (Special Issue on Women and Work) 11/1– 2 (1987) 28 – 36. Rezente Forschungen zur Pearce-These vereint dieser Sammelband: Gertrud Schaffner Goldberg (Ed.), Poor Women in Rich Countries. The Feminization of Poverty Over the Life Course (New York 2010). Das 1925 eingeführte und von der Sprengelfürsorgerin überreichte Säuglingswäschepaket ermöglichte lückenlose Hausbesuche bei allen Neugeborenen und ihren Familien. Sieder, Smioski, Der Kindheit beraubt, 33. Sieder, Smioski, Der Kindheit beraubt, 26 – 27.
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Wiener Kinderklinik ihre Tore geöffnet. Als ihr erster Leiter fungierte Erwin Lazar, der 1929 auch eine außerordentliche Professur für Kinderheilkunde antreten konnte. Die Heilpädagogik war ein integraler Bestandteil des Wiener Fürsorgewesens und in ihrer Ausrichtung als proto-normalistisch zu klassifizieren.¹⁰¹⁷ Das heißt in diesem Zusammenhang, sie reklamierte, die fürsorge- bzw. therapiebedürftigen Kinder und Jugendliche treffsicher erkennen und versorgen zu können. Solcherart formulierte sie auch das Angebot, ‚anomale‘ Heranwachsende in ‚normale‘ wandeln zu können. Deviante Minderjährige galten als typisch für deklassierte und marginalisierte Milieus. Demgegenüber schienen bürgerliche Jugendliche vor sexueller ‚Abnormität‘, Alkoholismus und Kriminalität gefeit zu sein. Das hing damit zusammen, dass diese Phänomene nach wie vor auf moralische Mängel zurückgeführt wurden. Auch suizidales Verhalten von Jugendlichen wurde unter diesen Vorzeichen verhandelt. Für die Kinder der Arbeiter*innen und anderweitig Marginalisierter schien es zahlreiche plausible Gründe zu geben, warum diese suizidal handelten. Der 1855 in Wien geborene Reformpädagoge Ludwig Gurlitt skizzierte einige dieser Gründe, erkannte aber auch die Vulnerabilität des bürgerlichen Nachwuchs: „Dabei handelt es sich nicht um Proletenkinder, die Hunger oder elterliche Rohheit in den Tod trieben, sondern um die Söhne ‚guter‘ Familien, um junge Leute, denen Böses auch nicht nachzusagen war.“¹⁰¹⁸ Aus Gurlitts Argumentation ist zu schließen, dass suizidale bürgerliche Kinder zutiefst verstörten. Warum hatten sie so gehandelt und wie sollte man damit umgehen? Ein häufig gewählter Weg war jener des Kaschierens und Vertuschens – eine Strategie, die auch vom Wiener Heilpädagogen Theodor Heller angesprochen wurde.¹⁰¹⁹ Laut ihm verschwiegen bürgerliche Eltern selbst starke Verhaltensauffälligkeiten oder stuften diese als nicht therapiebedürftig ein.¹⁰²⁰ Bezeichnenderweise stellte er einen klaren Zusammenhang zwischen deviantem Verhalten und psychopathologischer Motivation her. Gleichzeitig suchte er, die Heilpädagogik als Ansatz zur Beseitigung von unerwünschtem Verhalten zu etablieren. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit suizidalen Jugendlichen wird
Jürgen Link, Concerning Two Normalistic Strategies: Regulating Inclusion and Exclusion. In: Peter Becker (Ed.), Normalising Diversity (EUI Working Paper HEC No. 2003/5, San Domenico di Fiesole 2003) 9 – 23. Ludwig Gurlitt, Schülerselbstmorde (Berlin s. a., vermutlich 1908) 5. Heller war ärztlicher Direktor der heilpädagogischen Erziehungsanstalt in Grinzing, die er 1895 selbst gegründet hatte. Er gilt als eine der zentralen Figuren der frühen Heilpädagogik in Österreich. 1938 wurde er von den nationalsozialistischen Machthabern zum Rücktritt gezwungen, da er jüdische Vorfahren hatte. Im selben Jahr unternahm er einen Suizidversuch, an dessen Folgen er am 12. Dezember 1938 verstarb. Theodor Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes (Wien 21925) 59.
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im Zusammenhang mit der Wiener Schule der Kinder- und Jugendpsychologie noch einmal aufgegriffen und näher ausgeführt. Die Anfänge der „Schülerselbstmord“-Debatte liegen am Ende des 19. Jahrhunderts, wobei die Hochphase erst im 20. Jahrhundert erreicht wurde.¹⁰²¹ In ihrem Mittelpunkt standen Burschen,¹⁰²² war doch die Mittelschule nach wie vor die Domäne einer männlichen Jugend.¹⁰²³ Das Phänomen des „Schülerselbstmordes“ nahm trotz der wenigen Fälle großen Raum im Suiziddiskurs ein. In absoluten Zahlen neigten junge Erwachsene bzw. die mittleren Jahrgänge am stärksten zur Selbsttötung; relativ hingegen die Älteren.¹⁰²⁴ Die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung hatten das Thema bereits 1910 diskutiert¹⁰²⁵ und dabei einen Zusammenhang zwischen Suizidalität, Neurose und Sexualität hergestellt.¹⁰²⁶ Die theoretische Grundlage für die Diskussion bildete Benetka, Psychologie in Wien, 294. Hans Rost meinte 1927, dass weibliche Jugendliche im Allgemeinen gefährdeter seien als männliche: „Für Eltern und Erzieher ist es wissenswert, daß bei den Pubertätsselbstmorden (Alter von 16 – 20 Jahren) 14,6 Prozent männliche und über 40 Prozent weibliche Selbstmorde festzustellen sind, bei denen ‚Liebesaffären‘ als unmittelbare Motive gefunden wurden.“ Hans Rost, Bibliographie des Selbstmordes (Augsburg 1927) 166 – 167. Seit 1871 konnten weibliche Jugendliche eine vierklassige Höhere Bildungsschule besuchen. Ab 1878 stand ihnen auch die Matura offen. Selbst bei positiver Absolvierung blieb ihnen aber ein Hochschulstudium verwehrt. 1892 öffnete das erste Mädchengymnasium seine Pforten. Prüfungen mussten dennoch bis 1903 an Knabengymnasien abgelegt werden. 1920/1921 wurden in Wien rund 1.150 weibliche Mittelschüler*innen gezählt. Marina Fischer-Kowalski, Peter Seidl u. a., Von den Tugenden der Weiblichkeit. Mädchen und Frauen im österreichischen Bildungssystem (Wien 1986) 52. Hans Kuttelwascher. Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich. In: Statistische Monatsschrift. Neue Folge 17 (1912) 267– 350, hier 320 – 321. Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 20. Den Anlass für die Diskussion bildete der Suizid eines Wiener Gymnasiasten. Im Kontext einer regen Debatte publizierte Hermann Swoboda einen Artikel, in welchem er die Schulen verteidigte und als zentralen Krisenherd die jugendliche Sexualität identifizierte. Diese Arbeit erregte das Interesse von David E. Oppenheim und Wilhelm Stekel intervenierte, um das Thema auf die Agenda der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu setzen. Almuth Bruder-Bezzel (Hg.), Alfred Adler. Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904– 1912) (Göttingen 2007) 114. Auch Theodor Heller erwähnte den debattenauslösenden Suizid in einem seiner zentralen Werke: „Wir haben erst kürzlich in Wien ein derartig tragisches Geschehen miterlebt und finden es durchaus begreiflich, dass allenthalben tiefes Mitleid mit dem jungen Mann bekundet wurde, der vorschnell seinem Leben ein Ende bereitet hatte, wobei immerhin die Befürchtung zur Geltung kam, es sei die Schule gewesen, die diesen katastrophalen Ausgang verschuldet habe.“ Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 54. Leo A. Lensing, The Neue Freie Presse Neurosis. Freud, Karl Kraus, and the Newspaper as Daily Devotional. In: Arnold D. Richards (Ed.), The Jewish World of Sigmund Freud. Essays on Cultural Roots and the Problem of Religious Identity (Jefferson et al. 2010) 51– 74, here 61.
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eine Publikation über kindliche Suizident*innen von Abraham Baer, einem jüdischen Kantor, welche von David E. Oppenheim referiert wurde.¹⁰²⁷ Baer kritisierte insbesondere die Mittelschulen, welche überhöhte Anforderungen an ihre Schüler*innen stellen würden. Vor dem Hintergrund der behaupteten Überbürdung wird deutlich, dass dieser Diskurs mit jenem über die Nervosität korrelierte.¹⁰²⁸ Alfred Adler und Wilhelm Stekel besorgten die wichtigsten theoretischen Impulse. Ersterer nutzte die Möglichkeit, seine Neurosentheorie vorzustellen und zwar als das Oszillieren zwischen gefühlter Schwäche und Überlebensgröße sowie den bipolaren Geschlechtscharakteren. Er betonte die Ich-Gerichtetheit suizidalen Verhaltens und dass die betroffenen Jugendlichen Zurücksetzung übertrieben erlebten. Dies führte zur Abwertung alles Weiblichkonnotierten, da Frauen* eine scheinbar nicht aufzuhebende Nachrangigkeit verkörperten.¹⁰²⁹ Um die erlebte Kränkung aufzulösen, suchten die betroffenen Kinder Macht über die Nahestehenden. Sie begehrten entweder Krankheiten oder den eigenen Tod. Solcherart gelang ihnen die Aneignung von Macht und damit auch die Rückkehr in eine männlich konnotierte Rolle.¹⁰³⁰ Demzufolge stellte selbstschädigendes Verhalten eigentlich einen verkleideten Racheakt dar und Neurose und Suizidalität verwiesen auf die gleichen psychischen Probleme: erlebte „Minderwertigkeit“ und Konfusion über die geschlechtliche Identität.¹⁰³¹ Vor diesem Hintergrund war der baldige Bruch mit Freud vorprogrammiert, welcher die (psycho‐) sexuelle Entwicklung und daraus resultierende Probleme als Neurosenursache privilegierte.¹⁰³² Hinsichtlich der Rolle der Presse machte Oppenheim eine be-
Abraham Baer, Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine socialhygienische Studie (Leipzig 1901). Gwendolyn Whittaker, Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne (Literatur- und Mediengeschichte der Moderne 2, Göttingen 2013) 27. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 48. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 48 – 49. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 49. Darüber hinaus lehnte er auch Freuds Theorie über das Unbewusste sowie dessen biologistisch und sexistisch fundierte Sexualtheorie ab. Adlers anti-essentialistische Einstellung umfasste auch die Zurückweisung von Krankheitsmodellen, welche psychische Störungen auf Vererbung und Degeneration zurückführten. Da er die Unverrückbarkeit des dichotomen Geschlechterkonzepts bezweifelte, gab es für ihn auch keine natürliche Nachrangigkeit der Frau. Obwohl Adler die gesellschaftliche Fundierung von psychischen Störungen erkannt hatte, konnte auch er sich nicht davon lösen, gesund und krank als stabile Kategorien beizubehalten. So beschrieb er etwa Neurotiker*innen als Individuen, denen es an Gemeinschaftsgefühl fehlt. Katrin Schmersahl, Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (Sozialwissenschaftliche Studien 36, Opladen 1998) 294– 295; 298. Zur Weiblichkeitskonstruktion im Diskurs der Psychoanalyse siehe insbesondere auch:
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merkenswerte Feststellung, indem er auf ihre suggestive Kraft hinwies und sie scharf angriff.¹⁰³³ Auch Wilhelm Stekel notierte einen zentralen Zusammenhang mit der Masturbation und ihrer symbolischen Repräsentation.¹⁰³⁴ Er behauptete, dass die Zeitung die Rolle einer Sexarbeiterin einnahm und als Ersatz für den Vater diente. Stekel bestand im Gegensatz zu Adler darauf, dass unterdrückte Onanie den Weg in die Angstneurose ebnet.¹⁰³⁵ Ihm zur Folge wurde diese Angst auf die Schule verschoben. Um dieser entgehen zu können, wählten die Betroffenen in letzter Konsequenz die suizidale Handlung: „Es ist ja eine Psychoanalytikern bekannte Tatsache, dass die Prüfungsangstträume erwachsener Männer regelmäßig der Befürchtung psychisch Impotenter entspringen, die sexuelle ‚Prüfung‘ beim Weibe nicht bestehen zu können … Als letztes und radikalstes Mittel, der Prüfungsangst zu entgehen, bleibt noch der Selbstmord.“¹⁰³⁶ Anhand der Argumentation von Stekel wird klar, wie fragil der männliche Subjektstatus war. Selbst nur einmal auftretende Impotenz schien das Konstrukt Männlichkeit nachhaltig zu gefährden und zu beschädigen. Derart war es nur folgerichtig, dass die Psychoanalyse um eine gelingende psychosexuelle Phase zirkulierte. Konkret bedeutete dies aber auch die Privilegierung einer männlich-heteronormalen Entwicklung. In der Auseinandersetzung mit suizidalem Geschehen wurde immer wieder diskutiert, welchen Einfluss wohl die Konfession hat. Die Statistiken legten nahe, dass Katholik*innen am wenigsten und Protestant*innen am stärksten gefährdet waren. Für jüdische Gläubige konstatierten die Aufzeichnungen eine mittlere Suizidgefährdung.¹⁰³⁷ Dieses Verhältnis war allerdings in Verschiebung begriffen und Sigismund Peller notierte 1932 eine erhöhte jüdische Vulnerabilität. Er führte diese Entwicklung darauf zurück, dass „die Juden seit ihrer politischen Emanzipation und kulturellen Assimilation in ihren wachsenden Aspirationen auf zunehmenden Widerstand der Nichtjuden stoßen, sich öfters enttäuscht, unverschuldet zurückgesetzt f ü h l e n und daher auch öfters dem Lebensüberdruß verfallen“.¹⁰³⁸ Darcy Buerkle argumentiert, dass das „Schülerselbstmord“-Phä-
Christa Rohde-Dachser, Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse (Gießen 2003). Lensing, The Neue Freie Presse Neurosis, 61. Lensing, The Neue Freie Presse Neurosis, 61. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 20. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 22– 23. Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung, 357. Peller, Zur Statistik der Selbstmordhandlung, 360.
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nomen implizit jüdisch aufgeladen war.¹⁰³⁹ Jüdische Schüler*innen erlebten an den Schulen Anti-Semitismus und waren den schwierigen Fragen von Identität, Verleugnung und Assimilation ausgesetzt.¹⁰⁴⁰ Um antisemitische Ressentiments nicht zu schüren, vermieden die Mitglieder der Wiener psychoanalytischen Vereinigung die Benennung einer jüdischen Vulnerabilität.¹⁰⁴¹ Als Hintergrund gilt es zu beachten, dass jüdische Männlichkeiten zunehmend sichtbar geworden waren und um diese herum auch die psychoanalytische Rede gruppiert war.¹⁰⁴² Die Diskutanten verzichteten aber nicht nur auf die Erörterung eines Risikos für jüdische Schüler*innen. Konsequenterweise vermieden sie auch das Bild des homosexuellen und effeminierten jüdischen Burschen.¹⁰⁴³ Dieses missgünstige Bild war im zeitgenössischen Homosexualitäts-Diskurs fest verankert. Es war durchdrungen von folgenden – mitunter widersprüchlichen – Annahmen: Homosexuelle seien auf ihre Mutter fixiert, empfänden übersteigerte Selbstliebe und sehnten sich nach einem Abbild von sich selbst.¹⁰⁴⁴ Homosexuelles Begehren wurde aber auch als Angst vor weiblicher Sexualität und vor Frauen* überhaupt oder als Bewältigungsstrategie für erlebte Traumata interpretiert.¹⁰⁴⁵ Die Psychoanalytiker vermieden direkte Angriffe auf die Institution Schule. Denn trotz schikanöser und antisemitischer Töne stellte sie ein wichtiges Integrationsvehikel für jüdische Kinder dar.¹⁰⁴⁶ Ähnlich vorsichtig hatte sich Freud auch in einem anderen Fall verhalten. Ihm war auf elterlichen Wunsch eine suizidale 18-Jährige vorgestellt worden, die sich in eine um zehn Jahre ältere Frau verliebt und postwendend soziale Sanktionen erlebt hatte. Die Eltern forderten von Freud, dass er sie von ihrem homosexuellen Begehren kurieren möge. Gelänge das nicht, dann würde sie zwangsverheiratet werden. Freud empfand die junge Frau als gesund und brach die Analyse ab, da diese „nicht dazu berufen (sei, Anm. MH), das Problem
Darcy C. Buerkle, Nothing Happened. Charlotte Salomon and an Archive of Suicide (Ann Arbor 2013) 115 – 116; 119 – 120. Buerkle, Nothing Happened, 116. Buerkle, Nothing Happened, 122. Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord, 8 – 9. „Abgesehen von der viel geringeren Zahl der jugendlichen Selbstmörder, fällt die Höchstbeteiligung am Selbstmorde unter den Frauen auch wie in den Jahren seit 1895 auf die Altersklasse 20 – 30, unter den Männern dagegen auf die Jahre 45 – 50.“ Kuttelwascher, Selbstmord und Selbstmordstatistik in Österreich, 320. Sander Gilman, The Jew’s Body (New York 1991) 199. Buerkle, Nothing Happened, 122. David Greven, The Fragility of Manhood. Hawthorne, Freud, And the Politics of Gender (Columbus 2012) 45. Greven, The Fragility of Manhood, 45. Buerkle, Nothing Happened, 116
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der Homosexualität zu lösen“.¹⁰⁴⁷ Auch hinsichtlich der Frage, ob homosexuelles Begehren angeboren oder erworben sei, hielt sich Freud bedeckt: „Weder mit der Annahme, die Inversion sei angeboren, noch mit der anderen, sie werde erworben, ist das Wesen der Inversion erklärt.“¹⁰⁴⁸ Trotz der Aufgeschlossenheit Freuds gegenüber homosexuell begehrenden Menschen darf nicht unterschlagen werden, dass auch er der Stabilisierung der Heteronormalität zuarbeitete. Im Sonderheft Selbstmord der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik wurde 1929 das suizidale Verhalten von Schüler*innen noch einmal aufgegriffen.¹⁰⁴⁹ Der einleitende Artikel war von Paul Federn verfasst worden und widmete sich der Rückschau, aber auch den inzwischen erreichten Einsichten. Federn vertrat die Ansicht, dass in der 1910 geführten Debatte der Psychoanalytischen Vereinigung die Kritik an der Schule viel zu zahm ausgefallen war. Selbst der damals anwesende Gymnasiallehrer David Ernst Oppenheim, der in der späteren Publikation lieber nicht erwähnt sein wollte, würde sich inzwischen von seinen Aussagen distanzieren.¹⁰⁵⁰ Neben der Rekapitulation zielten Federns Ausführungen auch darauf ab, Adlers und Furtmüllers Thesen zu widerlegen. Besonders Adlers Ablehnung der Libidolehre und des Unbewussten war Federn ein Dorn im Auge.¹⁰⁵¹ Vor diesem Hintergrund betonte Federn die inzwischen gewonnen Einsichten von Freud in Trauer und Melancholie sowie die Beziehung letzterer zu suizidalem Verhalten. Sigmund Freud hatte 1917 das Dreieck aus Aggression, Melancholie und suizidalem Verhalten folgendermaßen umrissen: Die suizidale
Sigmund Freud, Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 6 (1920) 1– 24, hier 19. Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Wien 41920) 8. Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik 3/Heft 11/12/13 (1929). Oppenheim war Lehrer am Akademischen Gymnasium, welches besonders viele jüdische Kinder anzog. Er zeigte beharrliches Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen bezüglich Schule, Jugend und Psychologie. Kurz vor der Debatte über die „Schülerselbstmorde“ war er Mitglied in der Wiener Vereinigung für Psychoanalyse geworden. Diese verließ er 1911, um mit Alfred Adler und Carl Furtmüller die tiefenpsychologisch fundierte Schule der Individualpsychologie zu begründen. 1938 wurde Oppenheim aufgrund seiner jüdischen Abstammung gezwungen, seinen Posten am Akademischen Gymnasium aufzugeben. Er kam 1943, wenige Monate nach seiner Deportation in das Lager Theresienstadt, zu Tode. Genaugenommen waren bei der Diskussion von 1910 zwei Lehrer anwesend gewesen. Carl Furtmüller (Pseudonym Karl Molitor in der nachgelagerten Publikation) arbeitete nämlich ebenso als Lehrer. Aus dem Kontext der Debatte und den nachfolgenden Ereignissen lässt sich schließen, dass sich Federn auf Oppenheim bezog. Paul Federn, Die Diskussion über „Selbstmord“, insbesondere „Schüler-Selbstmord“ im Wiener Psychoanalytischen Verein im Jahre 1918. In: Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik 3/Heft 11/12/13 (1929), 333 – 344, hier 333. Federn unterzog auch die Positionen von Josef Friedjung, Wilhelm Stekel, Rudolf Reitler und Isidor Sadger einer Revision.
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Person richtet die Aggression gegen sich, weil sie das aggressionsbesetzte Objekt einverleibt hat. Die Integration bewirkt, dass die frühere Trennung wegfällt und das Individuum sowohl Liebe als auch Hass erlebt, wobei letzterer als Selbsthass auftritt und dem Subjekt Schuldgefühle beschert. Diese Spannung wird letztendlich durch eine suizidale Handlung aufgelöst, indem sich das Individuum nicht nur selbst, sondern auch das einverleibte Objekt tötet. ¹⁰⁵² Die Debatte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung über die „Schülerselbstmorde“ zog aber noch weitere Kreise. Die vom deutschen Sexualwissenschaftler Max Marcuse 1922 verfasste Arbeit Selbstmord und Sexualität war klar von dieser Diskussion informiert. Sie wurde wiederum von Theodor Reik für die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse rezensiert.¹⁰⁵³ Marcuse war neben Magnus Hirschfeld einer der bedeutendsten Sexualwissenschaftler in der Zwischenkriegszeit. Er fungierte zudem als Herausgeber der Zeitschrift für Sexualwissenschaft. Diese konnte aus einem Reservoir so prominenter Mitarbeiter wie Max Dessoir, Sigmund Freud, Josef Jadassohn, Albert Moll, Hugo Sellheim, Sebald Rudolf Steinmetz und Leopold von Wiese schöpfen. Der Zusammenhang von Sexualität und Suizidalität war für Marcuse evident. Als Grund dafür führte er die vielen suizidalen Handlungen unter Jugendlichen und die vermutete Dominanz des Motivs der unglücklichen Liebe an.¹⁰⁵⁴ Marcuse bestätigte die Annahme Alfred Adlers, dass suizidale und neurotische Ideen unter gleichen Bedingungen entstehen, distanzierte sich aber von der vorgeschlagenen Motivation.¹⁰⁵⁵ Einen zweifelsfreien Zusammenhang erkannte Marcuse nur für die jugendliche Suizidalität und Onanie. Praktizierte, aber auch unterdrückte Masturbation vermochte Angstgefühle zu wecken und somit suizidales Verhalten zu begünstigen.¹⁰⁵⁶ Eine ebenso negative Auswirkung schrieb Marcuse verfrühten Liebesbeziehungen
Sigmund Freud, Trauer und Melancholie (Studienausgabe Band III, Frankfurt/M. 1982) 205 – 206. Reik legte in seiner Rezension Wert darauf, dass sich Marcuse von der Freudschen Schule distanziert hatte. Ansonsten schätzte er die Arbeit folgendermaßen ein: „Die weiteren Ausführungen des Verfassers sind unzweifelhaft richtig, die Erklärungen, die er gibt, oberflächlich und dürftig.“ Theodor Reik, Marcuse, Max: Selbstmord und Sexualität (Zeitschrift für Sexualwissenschaft, H. 7, Oktober 1922). In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 9/Kritiken und Referate (1923) 229. Max Marcuse, Selbstmord und Sexualität. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 7 (1922) 192. Besonders gegenüber den „einzelnen nach der Lehre der Psychoanalytiker wirksamen Mechanismen (‚Hand-an-sich-legen‘, Todeswünsche gegen den Vater, Racheakt)“ war Marcuse skeptisch. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 193. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 193.
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zu.¹⁰⁵⁷ Im Allgemeinen wähnte er junge Frauen* aufgrund ihres Geschlechtscharakters deutlich suizidgefährdeter, „was durch die stärkere Erschütterung der Mädchen als der Knaben wohl schon durch die Pubertät an sich wie durch die überhaupt emotionalere Wirkung der sexuellen und erotischen Motive auf die weibliche Psyche hinreichend erklärt ist“.¹⁰⁵⁸ Marcuse konstatierte aber nicht nur eine psychische Vulnerabilität, sondern auch eine physiologische und verdächtigte daher Menstruation, Schwangerschaft und Menopause, suizidale Impulse zu begünstigen.¹⁰⁵⁹ Offensichtlich kannte und folgte er dabei dem Diskurs einer weiblichen Sonderanthropologie. Ein diesbezüglich zentrales Störungsbild, die sogenannte Psychosis Menstrualis, war 1902 von Richard von Krafft-Ebing beschrieben worden. Als typisch für das Syndrom galten: Wahn, Zerstreutheit und sozial auffälliges Verhalten während der Menstruation, was wiederum KrafftEbing dazu verleitete, die vermeintlich betroffenen Frauen* u. a. als Furien und Xantippen zu verunglimpfen. Die unverhohlen pathologisierende und sozialdisziplinierende Stoßrichtung dieser Diagnose ist evident.¹⁰⁶⁰ Mit diesem Befund wurden weibliche Subjekte, die aufbegehrten oder sich männlich codierter Privilegien bedienten, diskreditiert und bloßgestellt. Als einen weiteren Grund für suizidales Verhalten von Jugendlichen, hier waren vor allem Burschen gemeint, nannte Marcuse homosexuelles Begehren: „H o m o – E r o t i k ist bei den S c h ü l e r – Selbstmorden bisher erst noch ganz selten nachweisbar gewesen, aber es ist zu bedenken, daß dieses Motiv besonders im Dunkeln zu liegen pflegt und daß allem Anschein nach in Zukunft diesem Motiv – wenn auch nur als vorübergehende Zeiterscheinung – eine größere Bedeutung auch für die Selbstmorde von Jugendlichen und Kindern zukommen dürfte.“¹⁰⁶¹
Für Frauen* führte Marcuse als Motiv noch Angst vor dem ersten Geschlechtsverkehr bzw., dass dieser bereits vorehelich erfolgt war, an.¹⁰⁶² Für ihn war auch klar, dass suizidales Verhalten von (jungen) Schwangeren nicht unbedingt einen Todeswunsch ausdrückte.¹⁰⁶³ Er wies darauf hin, dass es sich dabei vielfach um missglückte Abtreibungsversuche handelte. Schwangerschaftsunterbrechungen wurden in der Zwischenkriegszeit nach wie vor vom Strafrecht verfolgt. Vor die-
Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 194. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 194. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 198. Richard von Krafft-Ebing, Psychosis menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie (Stuttgart 1902) 93 – 94. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 194. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 198. Marcuse, Selbstmord und Sexualität, 196.
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sem Hintergrund und der Knappheit an Verhütungsmitteln war eine hohe Dunkelziffer an tödlichen Ausgängen anzunehmen.
Suizidale Jugendliche in Selbstzeugnissen Aus wissenschaftshistorischer Sicht liegen hier die Fragestellungen ähnlich wie bei den bereits erörterten Disziplinen der Pädagogik, der Psychoanalyse und den Sexualwissenschaften. Gleichzeitig wird den suizidalen Subjekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Welche Sicht hatten diese auf sich selbst? Welche Themen und Argumente favorisierte sie in ihren Tagebüchern und wie wurden diese wiederum wissenschaftlich interpretiert? Zudem gilt es, dem Genre des Tagebuchschreibens selbst Aufmerksamkeit zu schenken und zu fragen, welche Funktion es für die suizidalen Jugendlichen erfüllte. Die von Charlotte Bühler beforschten bürgerlichen Jugendlichen kontrastierten mit den marginalisierten Gleichaltrigen. Allerdings dürfen weder bürgerliche Jugendliche noch solche aus den marginalisierten Milieus als monolithischer Block verstanden werden. Weite Teile des Bürgertums zeigten sich beunruhigt, dass sich nicht nur subalterne Jugendliche selbst töteten. Zu offensichtlich schienen dort Mängel der Selbstdisziplinierung, der sexuellen Moral und der allgemeinen Lebensumstände. Dem bürgerlichen Selbstverständnis zur Folge war man vor solchen Unzulänglichkeiten gefeit. Daher musste suizidales Verhalten im bourgeoisen Kreis entweder als unverständlich erscheinen oder zur kritischen Introspektion aufrufen. Neben der Dimension des persönlichen Verlustes, die klassenunspezifisch alle Angehörigen und Freunde gleichermaßen traf, wirkten im bürgerlichen Umfeld besondere Triebfedern, wurden doch mit einer suizidalen Handlung des Kindes die elterlichen Anstrengungen, das soziale und kulturelle Kapital zu transferieren, gefährdet oder gar zunichtegemacht. Zudem konnten sich weder die Eltern noch die bürgerlichen Institutionen dem Vorwurf entziehen, mit ihren rigiden Normen und Werten suizidale Handlungen begünstigt zu haben. Für die Söhne der kleinbürgerlichen Schichten hielt das Reüssieren an den Bildungseinrichtungen zudem ein Aufstiegsversprechen bereit. Daher bedrohte ein ‚Scheitern‘ an diesen zentralen Institutionen die Zukunftshoffnungen der ohnehin unter verstärktem ökonomischem Druck stehenden bürgerlichen Familien. Für jüdische Eltern tauchte zudem die Frage auf, ob die Haskala und die Öffnung zur christlichen Mehrheitsgesellschaft die richtige Entscheidung war. Konnte es sein, dass diese Neuorientierung vermehrte antisemitische Angriffe und ein erhöhtes Suizidrisiko für die Kinder erzeugte? Die Suizidalität von Heranwachsenden stellte auch die Sinnhaftigkeit des erst vom Bürgertum etablierten Freiraumes Jugend in Frage. Diese Reifezeit bildete ein
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neues Phänomen des 19. Jahrhunderts, das insbesondere bürgerlichen Burschen zugestanden wurde.¹⁰⁶⁴ Für Mädchen schien diese Findungszeit nicht notwendig zu sein. Ihr Weg galt noch durch Bildungsverbote, möglichst günstiges Auftreten am Heiratsmarkt sowie sexistische und antisemitische Beschränkungen vorherbestimmt.¹⁰⁶⁵ Auch subalterne Heranwachsende konnten erst verspätet eine vergleichbare Phase für sich reklamieren. Darüber hinaus wurde männlichen Arbeiterjugendlichen unterstellt, dass sie besonders gefährdet wären, kriminell zu werden, sexuell deviant und sozial schwer integrierbar zu sein.¹⁰⁶⁶ Während bürgerliche Jugendliche eifrig Tagebuch führten, fehlen solche Selbstzeugnisse von marginalisierten Heranwachsenden weitgehend. Zur geringen Würdigung dieses Genres kam hinzu, dass Selbstzeugnisse dieser Schichten kaum aufbewahrt wurden. Bürgerliche Jugendliche des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden angehalten, Tagebuch zu führen, daher gilt diese Periode auch als das goldene Zeitalter des Diariums.¹⁰⁶⁷ Den Hintergrund für diese Empfehlung bildeten pädagogische Überlegungen, um die Entwicklung der Kinder genau verfolgen zu können.¹⁰⁶⁸ In diesem Zusammenhang war es durchaus üblich, dass die Tagebücher von den Eltern oder Geschwistern gelesen oder unter Freund*innen ausgetauscht wurden. Autobiografisches Schreiben galt als ein dem Gesellschaftlichen entzogener Akt und erfuhr solcherart eine Aufladung als typisch weibliche Kulturtechnik.¹⁰⁶⁹ Das Tagebuchschreiben von bürgerlichen Jugendlichen hing eng mit der genretypischen Introspektion und dem Wunsch nach Austausch und verbesserter Selbstführung zusammen. Daher ermöglichte es sowohl die (Aus)Übung von Kontrolle,
Albert Scherr, Jugendsoziologie. Einführung in Grundlagen und Theorien (Wiesbaden 2009) 89. Siehe dazu auch den noch immer lesenswerten Klassiker: Michael Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend (Frankfurt/M. 1986). Hanna Hacker, Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“ Österreich, 1870 – 1938 (Wien 2015) 271. Scherr, Jugendsoziologie, 20. Christa Hämmerle, Li Gerhalter, Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert. In: L’Homme 21 (2015) 7– 31, hier 11. Marilyn Himmesoëte, Writing and Measuring Time: Nineteenth-Century French Teenagers’ Diaries. In: Arianne Baggerman, Rudolf Dekker, Michael Mascuch (Eds.), Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing since the Sixteenth Century (Egodocuments and history series 3, Leiden and Boston 2011) 147– 167, here 147. Im 20. Jahrhundert wurde das Tagebuchschreiben schließlich als typisch weibliches Tun und Genre konnotiert. Katie Holmes, Making Time: Australian Women’s Diaries of the 1920s and 1930s. In: Baggerman, Dekker, Mascuch (Eds.), Controlling Time and Shaping the Self, 169 – 196, here 171. Hämmerle, Gerhalter, Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, 7; 11.
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als auch ein Weben am Ich.¹⁰⁷⁰ Die Tagebuchschreiber*innen konnten sich mittels ihrer Aufzeichnungen in ihren Welten verorten, Narrative und Bilder vom verbrachten Tag formen und damit etwas über ihr Dasein erfahren.¹⁰⁷¹ Zu den Ersten, die das erkannten, zählte die seit 1923 in Wien tätige Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler. Um die Jugendphase genau beforschen zu können, sammelte sie über 100 Tagebücher von vorwiegend bürgerlichen, oft weiblichen Heranwachsenden.¹⁰⁷² Ein nicht unerheblicher Anteil entfiel dabei auf Jugendliche mit jüdischem Hintergrund. Bühler edierte zehn dieser Tagebücher ganz bzw. teilweise in den Quellen und Studien zur Jugendkunde. ¹⁰⁷³ Sie war überzeugt, dass die Diarist*innen nach Ergänzung, zugleich aber auch nach Isolierung, oder vielleicht besser formuliert, nach Abnabelung strebten.¹⁰⁷⁴ Michel Foucault stufte das autobiografische Schreiben und die zu Grunde liegende Forderung nach Individualität als subjektivierende Disziplinartechnik ein.¹⁰⁷⁵ Paul John Eaki lehnt dies ab und sieht das autobiografische Schreiben keineswegs dem Prinzip der Gouvernementalität ausgeliefert bzw. von ihr unterworfen. Für ihn stehen vielmehr der einzelne Mensch, das Soziale und dessen Strukturen in einem dialogischen, wechselseitigen Verhältnis.¹⁰⁷⁶ Eakin schlägt vor, von einem narrativen Identitätssystem auszugehen, also von einer erzählerisch hergestellten Identität.¹⁰⁷⁷ Demzufolge beschreibt das Narrativ nicht nur das Selbst, sondern bildet einen konstituierenden Teil des Selbst, welches in Erzählungen darüber ausgedrückt wird. Solcherart tritt das Selbst als ein Textprodukt auf und daher auch als etwas Prozesshaftes. Es muss also permanent hergestellt werden. Gleichzeitig ist die eigene Identität in der Pluralform zu denken, die in autobiografischen Texten um Himmesoëte, Writing and Measuring Time: Nineteenth-Century French Teenagers’ Diaries, 165. Holmes, Making Time: Australian Women’s Diaries of the 1920s and 1930s, 171. Die genaue Anzahl aller gesammelten Tagebücher lässt sich nicht klären und daher auch nicht die exakte geschlechtsspezifische Verteilung. Li Gerhalter, Zwei Quellenfunde, k/ein Archiv. Die Tagebuchsammlung des Wiener Forschungsteams von Charlotte Bühler. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 10/2 (2010) 53 – 72, hier 59 – 61. Die editorischen Eingriffe von ihr und ihrem Team bestanden vor allem aus Anonymisierungen und Zusammenfassungen bzw. Kürzungen. Charlotte Bühler (Hg.), Zwei Knabentagebücher. Mit einer Einleitung über die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie (Quellen und Studien zur Jugendkunde 3, Jena 1925) VXIV. Michel Foucault, Die Sorge um sich selbst (Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt/M. 1991) 71. Paul John Eakin, The Economy of Narrative Identity. In: Baggerman, Dekker, Mascuch (Eds.), Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing since the Sixteenth Century, 231– 245, here 242. Eakin, The Economy of Narrative Identity, 231– 233.
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ein der Zeit und seinen Veränderungen unterworfenes Subjekt zentriert ist. Das heißt also, dass in Tagebüchern eine Kontinuität hergestellt wird, welche dem Individuum ein Kohärenzgefühl ermöglicht. Die Selbst-Narrative helfen daher dem Schreibenden, weder in Zeit noch Raum verloren zu gehen. Wenn auch die Entscheidung, ein Tagebuch zu führen, mehr oder minder freiwillig erfolgt, so steht es dem Individuum keineswegs frei, über sich selbst zu erzählen. Wer ein akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft sein will, muss über sich, seine Persönlichkeit und seine Vergangenheit berichten können.¹⁰⁷⁸ Auch die Art, wie eine Person über sich erzählt, folgt Regeln und Normen, die vom Diskurs über das Autobiografische strukturiert werden. Er reguliert aber nicht nur das Wie, sondern auch das Was. Denn nicht alles, was denkbar ist, kann tatsächlich gesagt oder niedergeschrieben werden. Bühlers Fokus lag auf Tagebüchern von weiblichen Jugendlichen, die etwa sechzig Prozent ihres Materials ausmachten. Ihr Forschungskollege Eduard Spranger konzentrierte sich demgegenüber auf die Subjektposition von männlichen Jugendlichen und auf eine äußere Entwicklungsdynamik. In Abgrenzung davon suchte Bühler zu untermauern, dass die Jugendphase einem intrinsischen und telelogischen Spannungsbogen folgt. Die von ihr und ihrem Team gesammelten Tagebücher sollten das beweisen, wobei sie klar heterosexistisch argumentierte: „Der Zweck der Verwandlung des jungen Menschen ist klar, das Ziel heißt Paarung oder genauer Paarungsmöglichkeit.“¹⁰⁷⁹ In den von Bühler editierten Tagebüchern spielten suizidale Ideen und Überlegungen in der Hälfe der Aufzeichnungen eine Rolle. Von den unveröffentlichten Tagebüchern, die nach der Anfertigung von Typoskripten an die Verfasser*innen zurückgegeben wurden, sind nur mehr fünf erhalten. Der Rest ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auffindbar. Hinsichtlich der verlorenen Bestände zählte Käthe Vértes 1934 folgende Verteilung: In 61 Tagebüchern von weiblichen Jugendlichen wurden Tod und Suizid 35 Mal thematisiert.¹⁰⁸⁰ Drei davon töteten sich selbst, eine vierte versuchte es mehrmals.¹⁰⁸¹ In 42 Tagebüchern von männlichen Jugendlichen wurde das Thema 17 Mal angesprochen. Vértes zur Folge handelte ein einziger davon suizidal.¹⁰⁸² Diese Zusammenschau ist dem spezifischen Forschungsinteresse von Vértes zu verdanken, die sich in ihrer Dissertation mit der Einstellung
Eakin, The Economy of Narrative Identity, 233 – 236. Charlotte Bühler (Hg.), Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät (Jena 1922) 16. Käthe Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord (Dissertation Universität Wien, Wien 1934) 1. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 1. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 1.
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des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord befasst hat. Ihre Doktorarbeit war vom Lehrstuhlinhaber für Experimentelle Psychologie¹⁰⁸³, Karl Bühler, betreut worden. Als erste Tagebuchschreiberin soll Hildegard Köhler (Pseudonym) näher vorgestellt werden, da sie suizidale Ideen und Impulse mehrfach reflektierte.¹⁰⁸⁴ Die im Jahr 1899 Geborene schrieb Tagebuch von knapp 12 bis beinahe 21 Jahre, bevor sie sich im Alter von 33 selbst tötete. Charlotte Bühler editierte ihr Tagebuch 1932 in den Schriften und Quellen zur Jugendkunde unter dem Titel Jugendtagebuch und Lebenslauf. Zwei Mädchentagebücher mit einer Einleitung. Die 14-jährige Hildegard bearbeitete in ihrem Tagebuch u. a. ein Gespräch, das sie mit einer Mitschülerin geführt hatte. Gegenstand der Unterhaltung war Hildegards Wunsch nach verbesserter Selbstführung und -kontrolle gewesen.¹⁰⁸⁵ Dabei offenbarte sie ihre häufigen suizidalen Gedanken und versuchte, eine Perspektive für sich und ihr zukünftiges Leben zu entwickeln: „Bis jetzt hatte ich oft, sehr oft Selbstmordgedanken, diese werde ich ganz aufgeben, denn ich habe heute noch einen wunderschönen Spruch gelesen, der lautet: Geht Dir’s in deiner Jugend schlecht, so sprich, Ich bin zu jung, um mich vom Turm zu stürzen, Mir kann und wird noch vieles Gute kommen.“¹⁰⁸⁶
Die Bedeutung des Tagebuchschreibens zur Überwindung suizidaler Ideen wurde von ihr mehrfach betont. Die Selbstkonstitution sollte durch das schriftliche Bändigen dieser Impulse gewährleistet werden: „Ich denke so oft, wie schön es doch wäre, wenn ich nicht lebte. Warum verübe ich aber dann keinen Selbstmord …? Ich will jetzt jeden Tag einen kleinen Abschnitt in dies Buch schreiben. Ich glaube, es tut mir gut.“¹⁰⁸⁷ Frappant ist, dass in den thematisch relevanten Tagebüchern die explizite Verbindung von Suizidalität und Geschlecht nur selten gesucht wurde. Die Verweise folgten vielmehr einem indirekten Duktus und be-
Am Institut für Philosophie der Universität Wien. M 16 Hildegard Köhler, Suizid mit 33 Jahren, geboren 1899, Tagebuch von 11,1 bis 20,11. Charlotte Bühler (Hg.), Jugendtagebuch und Lebenslauf. Zwei Mädchentagebücher mit einer Einleitung (Quellen und Studien zur Jugendkunde 9, Jena 1932) 108. Zur Erklärung: Das Team von Charlotte Bühler hatte die einzelnen Tagebücher bzw. die Typoskripte mit Pseudonymen und Kürzeln versehen. Das Kürzel M 16 wies nicht nur auf die Signatur innerhalb der Sammlung hin, sondern gab auch das Geschlecht an. M stand dabei für Mädchen, K für Knabe. Hildegard Köhler hatte ihr Tagebuch mit 11 Jahren und 1 Monat eröffnet und als beinahe 21-Jährige geschlossen. Alle weiteren biografischen Referenzen in diesem Kapitel folgen diesem System. Bühler (Hg.), Jugendtagebuch und Lebenslauf, 107. Bühler (Hg.), Jugendtagebuch und Lebenslauf, 107. Bühler (Hg.), Jugendtagebuch und Lebenslauf, 108.
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zogen sich in der Regel auf die Anforderungen, die an die Entwicklung einer heteronormalen Geschlechtsidentität gestellt wurden. Nichtsdestotrotz bemühte sich Charlotte Bühler um eine engere, offensichtlichere Koppelung, die sie durch dementsprechende Hinweise erreichte. Obwohl auch sie ganz offensichtlich der heteronormativen Matrix zuarbeitete, ist ihr zu Gute zu halten, dass sie autoritäre und vor den Gefahren der Onanie warnende Pädagogiken überwand.¹⁰⁸⁸ Ebenso ist zu würdigen, dass sie Tagebücher von (weiblichen) Jugendlichen überhaupt erst in einem Forschungsgegenstand wandelte. So konnte sie eine Alternative zur Eduard Sprangers Kulturpädagogik und der Kinderpsychoanalyse von Anna Freud und Melanie Klein anbieten.¹⁰⁸⁹ Wie bereits angesprochen, verankerte sie die These einer geschlechtsspezifischen und heteronormalen Entwicklung fest in der Jugendforschung. Dies erreichte Bühler, indem sie Mädchen emotionale Qualitäten und Sehnsüchte unterstellte und sie als besonders ergänzungsbedürftig charakterisierte.¹⁰⁹⁰ In diesem Zusammenhang behauptete sie auch, dass in den Tagebüchern der Burschen der „objektive Gehalt der Probleme“, bei Mädchen aber die „gefühlsmäßige(n) Problematik des Erlebens“ überwog.¹⁰⁹¹ Bühler meinte zudem, dass bei Mädchen Zukunftsorientierung und Handlungsfähigkeit weniger ausgeprägt waren bzw. herbeigesehnt wurden.¹⁰⁹² Allerdings hätte sie aus dem Tagebuch der 17-jährigen Toni Robert (Pseudonym)¹⁰⁹³ ebenso andere Schlüsse ziehen können. 1919 hatte diese notiert, dass sie große Pläne für ihr Leben hat und sich einiges zutraut: „Aber nein, tausendmal nein, ich will und darf nicht müde werden, ich bin ja noch so jung und muß hoffen und streben.Was würde auch aus der A u f g a b e , die ich mir steckte, aus meinen Plänen, der Menschheit Großes zu bringen.“¹⁰⁹⁴ Bei Burschen glaubte Charlotte Bühler, rationale Überlegungen zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Probleme zu beobachten.¹⁰⁹⁵ Beziehungsthematiken würden im Gegensatz zu Mädchen kaum eine Rolle spielen. Auch dieser Behauptung ist anhand der edierten Tagebücher
Helmut Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters (Opladen 22001) 54. Ebenso hervorzuheben sind die psychoanalytisch informierten Reformpädagogiken von Maria Montessori, August Aichhorn und Siegfried Bernfeld. Inge Seiffge-Krenke Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Beziehungen: Herausforderungen. Ressourcen. Risiken (Heidelberg 22009) 3. Charlotte Bühler (Hg.), Drei Generationen im Jugendtagebuch (Quellen und Studien zur Jugendkunde 11, Jena 1934) 11. Bühler (Hg.), Zwei Knabentagebücher, XIV. Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 53. M 56 Toni Robert, geboren 1902, Tagebuch von 14 bis 24. Bühler (Hg.), Drei Generationen im Jugendtagebuch, 3. Bühler (Hg.), Drei Generationen im Jugendtagebuch, 108. Fend, Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 53.
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ein anderer Befund entgegenzuhalten. So erzählte etwa Erhard Kolb (Pseudonym, 1895 geboren) über weite Strecken seines Tagebuchs, wie sehr er unter dem Wegzug seines bestens Freundes litt. Diese Problematik schien ihm suizidale Gedanken zu bereiten und so hielt er fest: „Ich glaube, daß sich Menschen in diesem Gefühl ermordet haben.“¹⁰⁹⁶ Bühler zeigte sich gegenüber der von den frühen Psychoanalytiker*innen aufgezeigten sexuellen Thematik reserviert. Dies lässt sich besonders im Vorwort des 1922 von ihr herausgegebenen Tagebuch eines jungen Mädchens feststellen.¹⁰⁹⁷ Dort negierte sie ein reges Interesse von Mädchen an Sexualität, dabei war ihr aber, wie von Petra Stach angemerkt, eine Unaufmerksamkeit unterlaufen.¹⁰⁹⁸ Das von Bühler editierte Tagebuch der Irmgard Winter (Pseudonym) war nämlich keineswegs frei von sexuellen Inhalten.¹⁰⁹⁹ Die Tagebuchschreiberin rang heftig mit sich, weil sie einen Roman über sexuell begehrende junge Frauen* gelesen hatte: „Ich hätte doch lieber nicht dieses Tauentziengirl lesen sollen. Ich muß zuviel daran denken. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Jesus hat so recht.“¹¹⁰⁰ Deutlich ablehnend hinsichtlich einer kindlich-jugendlichen Libido zeigte sich der Wiener Heilpädagoge Theodor Heller. In der zweiten, erweiterten Auflage seines Werkes Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes kritisierte er den sexuellen Fokus der Psychoanalytiker*innen.¹¹⁰¹ Heller war überzeugt, dass sich die Jugendlichen kaum zu sexuellen Themen hingezogen fühlten, sondern beständig und zu früh von außen damit bedrängt wurden.¹¹⁰² Besonders die beengten Wohnverhältnisse der Arbeiter*innenschaft würden zu unvermeidlichen Beobachtungen führen und so vorzeitig sexuelles Begehren wecken.¹¹⁰³ Heller neigte besonders der medizinischen Konstitutionsthese zu, womit eine erbliche Veranlagung zu Krankheiten und deviantem Verhalten gemeint war. In der Zwischenkriegszeit erlebte dieses Denken mit der Typenlehre des deutschen Psychiaters Ernst Kretschmer eine Renaissance.¹¹⁰⁴ Vor diesem Hintergrund
Bühler (Hg.), Zwei Knabentagebücher, 164. Irmgard Winter M4 (Pseudonym), schrieb Tagebuch von 13,9 bis 16,7 Jahre, geboren 1898. Petra Stach, Das Seelenleben junger Mädchen. Zwei Tagebücher der Jahrhundertwende in der Kontroverse zwischen Psychoanalyse und Psychologie. In: Psychologie und Geschichte 5/3 u. 4 (1994) 183 – 207, hier 195. Irmgard Winter M4 (Pseudonym), schrieb Tagebuch von 13,9 bis 16,7 Jahre, geboren 1898. Charlotte Bühler (Hg.), Tagebuch eines jungen Mädchens (Quellen und Studien zur Jugendkunde 1, Jena 1922) 3. Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 55. Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 55 – 56. Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 56. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten (Berlin 1921).
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meinte Heller, bei Kindern nervöse und psychopathische Konstitutionen beobachtet zu haben. Als spezifisches Störungsbild nannte er die „Psychasthenie“, welche einen konstitutionell bedingten Symptomkomplex aus Ängsten, Phobien, Unzulänglichkeits- und Überforderungsgefühlen beschrieb. Heller verknüpfte dieses Störungsbild mit einer Neigung zu suizidalem Verhalten.¹¹⁰⁵ Der Heilpädagoge war nämlich überzeugt, dass Krisen erst dann auftraten, wenn das Individuum belastet wurde. Darunter verstand er kindliche Überforderung, mangelnden schulischen Lernerfolg, eine rigide, elterliche Erwartungshaltung usw. Laut ihm schlitterten Psychastheniker*innen bereits bei durchschnittlichen Hürden in eine suizidale Krise: „Es ist klar, daß solche Existenzen den Anforderungen der Schule, geschweige denn denen des praktischen Lebens nicht standhalten können und früher oder später Schiffbruch erleiden müssen.“¹¹⁰⁶ Der Begriff des Schiffs fungierte in Hellers Argumentation als Kollektivsymbol, welches beschrieb, dass menschliches Leben jederzeit in einen Sturm, also in Not, geraten konnte. Zentral bei diesem Symbol war, dass durch möglichst gute Vorbereitung das Risiko minimiert, aber dennoch nicht vollkommen ausgeschaltet werden konnte. Unterblieben solche Vorkehrungen oder wurden sie als unzureichend eingestuft, war der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit meist nicht weit. Dies gilt übrigens für sämtliche Naturgewaltsymbolik, die im Diskurs über suizidales Verhalten gebraucht wurde. Im Tagebuch von Toni Robert (Pseudonym) fand sich ebenso das Kollektivsymbol des Schiffs und der Gefahr, schiffbrüchig zu werden: „Mein Schifflein ist auf gefährlichem Grund, tags geht es hoch auf in den Wellen und nachts ruht es auf steilen Klippen. Und die Sturmvögel fliegen, und es ist nirgends Ruhe. Ich bin müde und meine Seele krank.“¹¹⁰⁷ Die Verknüpfung von Schiff und Leben bzw. Schiffbruch und suizidaler Handlung ist auch metaphernanalytisch aufschlussreich. Das zu Grunde liegende Konzept beschreibt nämlich Leben als eine Reise, also einen zurückzulegenden Weg. Der Hafen steht dabei für das zumindest temporär sichere Ziel. Wenig überraschend verteidigte Heller die Institution Schule und ortete dort keine belastenden Bedingungen.¹¹⁰⁸ Er bestand vehement darauf, dass auch in schweren Fällen therapeutische Interventionen möglich waren. Er ermutigte daher die Erziehungsberichtigten, Diagnosen und heilpädagogische Behandlungen aktiv zu suchen. Als Anreiz stellte er die Unterdrückung von suizidalem Verhalten in Aussicht.“¹¹⁰⁹ Daraus geht auch hervor, wie sehr therapeutische Intervention auf die Technologien des
Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 48. Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 47. Bühler (Hg.), Drei Generationen im Jugendtagebuch, 115 – 116. Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 57. Heller, Über Psychologie und Psychopathologie des Kindes, 58.
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Selbst verwiesen und daher als ein bürgerliches Projekt par excellence zu werten ist. Wie Charlotte Bühler setzte auch Käthe Vértes in ihrer Analyse suizidaler Jugendlicher auf vergeschlechtlichte Wissensvorräte.¹¹¹⁰ Sie dissertierte bei Karl Bühler, der seit 1922 eine ordentliche Professur für Psychologie an der Universität Wien besetzte.¹¹¹¹ Zudem stand er dem neuerrichteten Psychologischen Institut an der Lehrerakademie der Stadt Wien vor. In ihrer Doktorarbeit fanden sich auch einige der wenigen Tagebuchbelege, die Geschlecht und Suizidalität explizit miteinander verbanden. Die 18-jährige Mathilde Reiner (Pseudonym) besprach die Geschlechterthematik folgendermaßen: „‚Das sei wohl ein Unterschied zwischen Mann und Weib. Ganz so mutlos steht ein grosses Weib dem Tode nicht gegenüber wie ein grosser Mann (Binder über den Prinzen von Homburg). Das liegt im Wesen der Frau, die physische Lebenskraft ist doch stärker im Mann, also auch der Widerstand gegen den Tod (Dez. 14 Unsinn!).‘“ ¹¹¹²
Die Tagebuchschreiberin reflektierte offensichtlich eine Diskussion über das Heinrich-Kleist-Drama Der Prinz von Homburg. Sie negierte das Argument, dass sich Männer* stärker dem eigenen Tod widersetzten, Frauen* hingegen ruhiger die Endlichkeit akzeptierten.¹¹¹³ Hinsichtlich einer Sexualproblematik schien der Fall eines adoleszenten Burschen eindeutig zu liegen. Vértes war überzeugt, dass sich dieser aufgrund seines im Tagebuch geschilderten homosexuellen Begehrens selbst getötet hat.¹¹¹⁴ Interessanterweise erörterte sie den Fall nur knapp. Ein so
Michaela Maria Hintermayr, „‘… die physische Lebenskraft ist doch stärker im Mann, also auch der Widerstand gegen den Tod … Unsinn!‘“ Die Darstellung von Suizidalität in den Tagebüchern von Jugendlichen und ihre wissenschaftliche Verwertung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In: Anne Conrad, Johanna E. Blume, Jennifer J* Moos (Hg.), Frauen. Männer. Queer. Ansätze und Perspektiven aus der historischen Geschlechterforschung (SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 20, St. Ingbert 2015) 221– 234. Ihr Zweitgutachter, Richard Meister, war 1923 Professor für Pädagogik an der Universität Wien geworden. Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich wurde er von dieser Position abberufen. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 6. Um das Kleist-Stück zu vergegenwärtigen: Angesichts des drohenden Todes verlor der Prinz von Homburg die Haltung, während Prinzessin Nathalie diese bewahrte. Die ‚unmännliche‘ Schwäche des Protagonisten löste Kleist mit dessen Läuterung auf. Die Angaben zu diesem mit dem Kürzel K 29 erfassten Jugendlichen sind widersprüchlich. Laut dem Verzeichnis der bis 1934 gesammelten Tagebücher gab es keinen Tagebuschreiber mit dem Kürzel K 29. Aufgrund der biografischen Angaben und des Tagebuchinhalts scheint es sich um den 1906 geborenen Sigurd Brig (Pseudonym) zu handeln, der als K 28 geführt wurde. Dieser
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gut etabliertes Suizidmotiv bedurfte wohl keiner weiteren Analyse.¹¹¹⁵ Homosexuelles Begehren galt „durch eine fehlerhafte sexuelle Entwicklung in der frühen Kindheit“ hervorgerufen.¹¹¹⁶ Und diese würde noch weitere pathologische Folgen zeitigen: „Viele Homosexuelle sind auch sonst seelisch und sexuell nicht in Ordnung, das heißt neurotisch.“¹¹¹⁷ Passenderweise schien ein entsprechender Tagebucheintrag dies zu ‚verifizieren‘. Auch dieses Tagebuch bzw. das Typoskript ist nicht mehr vorhanden. Die besondere Aufmerksamkeit von Vértes erregte der Fall von Olga Wanneck (Pseudonym).¹¹¹⁸ Diese war 1914 als Tochter von einem Gastwirtehepaar geboren worden und schaffte als Lehrerin den sozialen Aufstieg. Sie begann ihr Tagebuch als 13-Jährige und beschloss es mit 18 Jahren.Vértes zur Folge beschäftigte sie sich intensiv mit dem Wunsch, zu sterben, und erwähnte diesen 29 Mal.¹¹¹⁹ Die Psychologin verknüpfte die suizidalen Ideen von Wanneck mit der veränderten sozialen Umgebung in der Lehrer*innenbildungsanstalt: „Aus ihrer häuslichen Umgebung gerissen und in das neue Milieu nicht leicht aufgenommen, erleidet sie mannigfaltige Konflikte, die sie fast dauernd zum vollkommenen Versagen führen. Typologisch ist sie als hysterisch zu bezeichnen …“¹¹²⁰ Der so als Hysterikerin verunglimpften Diaristin warf sie widerwilliges und resignatives Verhalten vor.¹¹²¹ Diese pessimistische Lebenseinstellung würde die Tagebuchschreiberin auch zur beständigen Thematisierung des Suizidthemas antreiben. Olga Wanneck setzte knapp vor ihrem 17. Geburtstag eine suizidale Handlung. Laut Vértes gelang der Suizid nicht, weil ihn die Tagebuchschreiberin nicht ernsthaft genug gewollt
schrieb von 15 bis knapp 17 Jahre Tagebuch und tötete sich als 19-Jähriger selbst. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 1. Neben homosexuellem Begehren wurden auch autosadistische Sexualpraktiken als Risikofaktoren klassifiziert. Paul Näcke, Auto-Sadismus und autosadistischer Selbstmord. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 42 (1911) 171– 172. Arthur Hübner, Selbstmord oder „zufälliges Erhängen“ aus sexuellen Motiven. In: Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 33/10 (1927) 134– 136. Auch die Erkrankung an einer infektiösen Geschlechtskrankheit (z. B.: Syphillis) wurde in dieses Schema eingereiht. Lutz Sauerteig, Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 12, Stuttgart 1999) 225. Wilhelm Reich, Der sexuelle Kampf der Jugend (Berlin u. a. 1932) 74. Reich, Der sexuelle Kampf der Jugend, 74. Das Tagebuch von Wanneck bzw. das davon angefertigte Typoskript ist nicht mehr zugänglich. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 52. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 52. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 52.
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hatte¹¹²² und außerdem sei ihr ganzer Umgang damit nur eins, kindisch.¹¹²³ Vértes präsentierte die Suizidalität von Wanneck als das Ergebnis von mangelnder Selbstdisziplinierung und -kontrolle. Den von der jungen Frau geschilderten Schikanen und Zurückweisungen schenkte Vértes kaum Aufmerksamkeit, da sie sich lieber darauf konzentrierte, die Tagebuchschreiberin zu pathologisieren. Von den vier Tagebüchern, die Vértes im Kapitel über suizidale Gedanken und Impulse von Jugendlichen analysierte, ist nur mehr ein einziges als Typoskript erhalten.¹¹²⁴ Es handelt sich dabei um jenes von Fanny Römer (Pseudonym), die drei Suizidversuche unternahm und einen davon recht ausführlich in ihrem Tagebuch reflektierte.¹¹²⁵ Römer war 1904 geboren worden und wurde von Vértes folgendermaßen charakterisiert: „Sie ist ein intellektueller Typus, der geistig frühreif, in sexueller Hinsicht jedoch weit in der Entwicklung zurückgeblieben ist. Vielleicht liegt der Konflikt ihrer harmonischen Entwicklungsmöglichkeit darin.“¹¹²⁶ Römer schwärmte intensiv für ihre Lehrerin, die allen Raum ihres Sehens und Begehrens einnahm. Ähnlich empathische Äußerungen bezüglich anderer Personen fehlen in ihrem Tagebuch. Indem Vértes die sexuelle Entwicklung der Schülerin als „zurückgeblieben“ bezeichnete, disqualifizierte sie Römers Begehren. Sie vermied es auch, von einer gleichgeschlechtlichen Neigung zu sprechen. Vermutlich erschien ihr Römer nicht ausreichend ‚viril‘ und damit nur pseudohomosexuell. Darüber hinaus interpretierte die Wissenschaft weibliches Begehren als passiv und wähnte dementsprechende gleichgeschlechtliche Handlungen als unwahrscheinlich.¹¹²⁷ Und selbst, wenn es zu diesen kam, galten sie durch ungünstige männliche Sexualpartner und charakterliche Verdorbenheit motiviert.¹¹²⁸ Eine innere Veranlagung und eine daraus zu gewinnende ‚lesbische‘ Identität, beides trug noch für viele Forschende den Charme des Kuriosen. Ebenso
Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 52. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 3. Hildegard Köhler M16 (Pseudonym) und Erna Salzmann M 99 (Pseudonym), die sich beide im 30. Lebensjahr selbst töteten, Grete Fischer M 73 (Pseudonym), die in ihrem 15. Lebensjahr Suizid verübte sowie Sigurd Brig (Pseudonym) K 28 bzw. 29, der sich als 19-Jähriger suizidierte. Fanny Röhl/Römer M 88 (Pseudonym) unternahm als Jugendliche drei Suizidversuche. Bühler (Hg.), Drei Generationen im Jugendtagebuch, 2– 4. Geboren 1904, Kürzel M 88, Tagebuch von 16 bis 18 Jahre und 8 Monate. Im Typoskript wurde der Nachname Römer benutzt, in der 1934 erstellten Auflistung der Tagebücher hingegen der Nachname Röhl. Bühler (Hg.), Drei Generationen im Jugendtagebuch, 3. Im Folgenden wird dem Pseudonym Römer der Vorzug gegeben. Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord, 42. Elisabeth Greif, Verkehrte Leidenschaft. Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin (Wien 2019) 396. Greif, Verkehrte Leidenschaft, 404.
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wird deutlich, dass die Psychologin suizidales Verhalten von Jugendlichen als – vorübergehende – Entwicklungskrise auffasste. Nach Überwindung dieser sei ein „schaffendes, zweckvolles Leben“¹¹²⁹ möglich. Römer thematisierte Suizidalität und Geschlecht an mehreren Stellen in ihrem Tagebuch. Sie beschäftigte sich u. a. mit ihrer privilegierten bürgerlichen Position, die ihr das Schicksal gleichaltriger Arbeiter*innen ersparte. Diese Erkenntnis bewog sie dazu, das eigene Dasein als nichtig einzustufen.¹¹³⁰ Darüber hinaus reflektierte sie einen ihrer Suizidversuche ausführlich und nannte mehrere Gründe dafür. Zuvorderst verwies sie auf die belastende Schwärmerei für ihre Lehrerin, welche die Gefühlsbekundungen nicht erwiderte. Ebenso bedrückte sie das familiäre und soziale Umfeld, aber auch die größere gesellschaftliche Lage bereitete ihr Kummer. Daneben haderte sie auch mit sich selbst und mit vermeintlichen Fehlschlägen. Solcherart wird offensichtlich, dass Fragen der Selbstführung und -disziplinierung von eminenter Bedeutung im Diskurs über suizidales Verhalten waren. Besonders interessant ist der explizite Verweis auf ihren als mangelhaft beschriebenen Körper und dessen Prozesse: „Ob sie (Fr. Koch, Anm. MH) von meiner Tat, den bewussten S-d Versuch weiss, weiss ich nicht. Es war ja natürlich nicht allein diese Angelegenheit mit Frl. Koch, welche mich soweit brachte, sondern es summierten sich dazu noch viele andere Gründe wie die häuslichen Verhältnisse, das soziale Elend und überhaupt die Hässlichkeiten und Gemeinheiten des Lebens, (z. B. auch dieser Defekt der Natur: die Menstruation!!) (sic!) eigene Unfähigkeiten und Misserfolge u.s.w. aber dies war doch der Hauptgrund …“¹¹³¹
Anhand der oben dargestellten Ausführungen wird deutlich, dass sich das Subjekt nicht jenseits gesellschaftlicher Wissensvorräte ausdeuten konnte. Am Hinweis auf die als pathologisch besetzte Menstruation wird dies besonders evident. Das von Nikolas Rose als psy knowledge beschriebene Wissen war offenbar auch für das Individuum attraktiv bzw. wurde von diesem mithervorgebracht.¹¹³² Letzteres
Vértes, Die Einstellung des Jugendlichen zu Tod und Selbstmord ,49 – 50. Typoskript des Tagebuchs von Fanny Römer, Archiv des Psychologischen Instituts der Universität Wien, 178. Typoskript des Tagebuchs von Fanny Römer, Archiv des Psychologischen Instituts der Universität Wien, 195. Psycholog*innen, Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen genießen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine privilegierte Position, wenn es darum geht, die inneren Determinanten menschlichen Verhaltens zu erklären. Dieses Wissen, von Nikolas Rose als psy knowledge bezeichnet, wurde nicht nur von diesem Personenkreis hervorgebracht. Vielmehr gilt es auch, auf interessierte Individuen hinzuweisen, die sich dem Prinzip des liberalen Selbst-Managements folgend, nach Wissen über sich selbst sehnten. Die im Psy-Netzwerk geleistete Arbeit ist daher in
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vor allem dadurch, weil sich die Betroffenen danach sehnten, sich selbst zu verstehen und das eigene suizidale Handeln zu rationalisieren. Dies zeigt sich recht deutlich auch in einem Sarah-Kane-Drama, in welchem sich die suizidale(n) Psychiatriepatient*in(nen) anhand des Beck’schen Depressionsinventarium¹¹³³ selbst ausdeuten, sich aber auch widerständig dagegen positionieren.¹¹³⁴ Die dort beschriebenen Stations-Ärzt*innen erlangen durch ihr Wissen und ihre Titel eine Machtposition, welche die Protagonist*in(nen) – letztendlich vergeblich – aufzulösen suchen. Es wird evident, dass das aus den wissenschaftlichen Narrativen gewinnbare, verlockende Wissen über sich selbst immer auch jenes ist, welches das Subjekt unterwirft.¹¹³⁵ Die zu Grunde liegenden, widerstreitenden Bedürfnisse nach Identität, Orientierung und Selbstbehauptung zeigten sich auch bei den untersuchten Tagebuchschreiber*innen. Sie arbeiteten sich an den angebotenen Subjektpositionen im Suiziddiskurs ab, indem sie diese übernahmen, zurückwiesen oder reinterpretierten. Diese Auseinandersetzung war nicht nur unvermeidbar, sondern lockte auch mit Sinnstiftung und schlüssigen Selbst-Narrationen.
die Regierungstechniken der Gouvernementalität einzureihen. Nikolas Rose, Inventing Our Selves. Psychology, Power, and Personhood (Cambridge 1998) 10 – 13. Beim Beck-Depressions-Inventar handelt es sich um einen psychologischen Test, der die Schwere einer Depression misst, aber nicht das eigentliche Vorliegen einer solchen. Als derzeit gültige Versionen gelten das BDI-II aus dem Jahr 1996 bzw. die für den deutschen Sprachraum 2013 publizierte Kurzform BDI-FS. Aaron T. Beck, Gregory K. Brown, Robert A. Steer, Beck-Depressions-Inventar-FS (BDI-FS). Manual. Deutsche Bearbeitung von Sören Kliem und Elmar Brähler (Frankfurt/M. 2013). Bei dem Stück handelte es sich um das im Jahr 2000 entstandene Drama 4.48 Psychosis, welches keine Angaben über die geschlechtliche Identität macht und auch nicht klärt, ob es sich um eine/n oder mehrere Protagonist*innen handelt. Ian Marsh, Suicide. Foucault, History and Truth (Cambridge 2010) 193 – 213. Dieser Prozess lässt sich auch anhand der Geständnispraktiken Homosexueller im 19. Jahrhundert illustrieren, welche zentralen Stellenwert für die Herausbildung einer homosexuellen Identität hatten. Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität (München 22009) 151– 169. Im Kane-Stück kommt aber auch noch der Aspekt der (modifizierten) apotropäischen Handlung hinzu, wodurch das widersprüchliche Begehren nach einem noch potenteren Subjekt und dem Wunsch kein solches zu sein, evident wird. Jeffrey Champlin, „Look away from me“. Apotropäische Beichte und die Zukunft von Sarah Kanes 4.48 Psychosis. In: Günter Blamberger et al. (Hg.), Ökonomie des Opfers. Literatur im Zeichen des Suizids (Morphomata 14, München 2013) 391– 407.
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Fazit Charakteristisch für die Zwischenkriegszeit war die wiederkehrende Rede von einer „Selbstmordepidemie“, was sich auch in den zahlreichen Tageszeitungen widerspiegelte. Nur Medien, die der Kirche nahestanden, übten sich weiterhin in Zurückhaltung.¹¹³⁶ Insbesondere Boulevardmedien wie die Illustrierte KronenZeitung suchten und fanden das Spektakuläre und Sensationelle am selbstgewählten Sterbenwollen. Aufsehenerregende Fälle wurden regelmäßig am Titel aufgemacht, was u. a. auch auf Fälle von nicht-heteronormal Begehrenden zutraf.¹¹³⁷ Auf den Schutz der persönlichen Daten wurde allgemein keine Rücksicht genommen, weswegen so manche ihre Identität zu verschleiern versuchten.¹¹³⁸ Auch die Beratungsstelle für Lebensmüde wusste um diese Problematik und warb daher mit dem Versprechen absoluter Anonymität. Die von Viktor Frankl initiierten Beratungsstellen für Jugendliche taten es ihr gleich.¹¹³⁹ Diese intensive Berichterstattung, verschränkt mit einer sensibilisierten Wahrnehmung und der politischen Indienstnahme suizidalen Verhaltens, intensivierte und eskalierte den Diskurs. Durch die Analyse der Modi der Veridiktion konnte herausgearbeitet werden, wie die Arbeiter*innenpresse suizidale Handlungen fruchtbar machte. Dies darf nicht mit einem Eingehen auf die jeweiligen Suizident*innen verwechselt werden, da die betroffenen Personen, ihr jeweiliger Charakter sowie ihre Vita nachrangig blieben. Es war vielmehr ihre Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenschaft, die sich verwerten ließ. Diese suizidalen Handlungen konstituierten daher kein Ich, sondern das Wir der organisierten Arbeiter*innen und sicherten so deren (Über)Leben. Zudem darf nicht übersehen sehen werden, dass die sozialdemo-
Das untersuchte Elisabeth-Blatt streifte die Thematik nur in einem Kriminalroman. Dort hieß es: „Nein, der alte Mann hat sich bestimmt nicht selbst getötet! Er haßte und verachtete Selbstmord zeitlebens als erbärmliche Feigheit und man begeht doch nicht mit 70 Jahren etwas, das man bis dahin stets aus innerster Überzeugung verworfen hat, nicht wahr?‘“ Anni Hruschka, Das silberne Auto. In: Elisabeth-Blatt 25/11 (1930) 173 – 175, hier 174. Anzeige Nervös? In: ElisabethBlatt 25/12 (1930) 197. Den Kompagnon und sich selbst erschossen, Illustrierte Kronen-Zeitung, 1. Jänner 1930, Nr. 10757, 1. Mit der Dienstgeberin in den Tod, Illustrierte Kronen-Zeitung,7. Jänner 1930, Nr. 10762, 1. Die Tragödie eines arbeitslosen Chauffeurs, Illustrierte Kronen-Zeitung, 25. Jänner 1930, Nr. 10780, 1. An der Leiche der Gattin und zweier Kinder, Illustrierte Kronen-Zeitung, 1. Februar 1930, Nr. 10787, 1.Grauenhaftes Familiendrama in der Leopoldstadt, Illustrierte Kronen-Zeitung, 17. Februar 1930, Nr. 10.803, 1. Eher sterben, als von einander lassen, Illustrierte Kronen-Zeitung, 4. Jänner 1930, Nr. 10760, 6. Selbstmordversuch in einem fremden Haus, Illustrierte Kronen-Zeitung, 30. Jänner 1930, Nr. 10785, 6. Kümmel, Erwin Wexberg, 60 – 61.
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kratische Rede letztendlich um einen weißen, heterosexuellen und sesshaften Industriearbeiter mit Partnerin und Kind organisiert war. Alle anderen Lebensentwürfe und Sexualitäten wurden ihm nachgeordnet. Die offiziellen, heteronormativen Statistiken standen in einem Spannungsverhältnis mit den Schilderungen von suizidalen Personen. Dies zeigte sich etwa in den Berichten der Beratungsstelle für Lebensmüde, denn dort dominierte mit großem Abstand das Motiv der wirtschaftlichen Not – und das für alle erfassten Personen. Die offiziellen Statistiken indizierten hingegen, dass Frauen* vor allem aufgrund von unglücklicher Liebe, Krankheit, Kränkung und Zwistigkeiten suizidal handelten. Für Männer* wiesen sie vor allem auf die Motive der wirtschaftlichen Not und der Krankheit hin. Während weiblichen Suizident*innen also emotional-soziale Motive unterstellt wurden, schienen Männer* besonders von finanziellen Problemen geplagt zu werden. Darüber hinaus hatten es bei der Beratungsstelle mehrere Personen gewagt, ihre Homosexualität und daraus resultierende Schikanen zu benennen. Es ist evident, dass die Statistiken nicht nur ein eigenes Genre darstellten, sondern einen privilegierten Platz in der Ordnung des Diskurses einnahmen. Es galt, sie zu verfeinern und so das Wissen über vulnerable soziale Gruppen zu steigern, wozu nun endgültig auch die Frauen* zählten. Als Erklärung für diese Entwicklung verwies die Forschung auf einen verstärkten Geschlechterkampf und eine „Vermännlichung“.¹¹⁴⁰ Aber auch suizidale Kinder und Jugendliche gerieten in den wissenschaftlichen Fokus. Anhand der partizipierenden Disziplinen konnte herausgearbeitet werden, wie diese Geschlecht sukzessive in den Forschungsgegenstand hineintrugen bzw. die Subjekte nicht jenseits davon denken konnten; und derart mit einer Kategorie operierten, die ganz offensichtlich eugenisch, rassistisch sowie sexual- und klassenbezogen aufgeladen war. Damit zusammenhängend wurden weibliche (Haushalts)Arbeiter*innen, nicht-heteronormal Lebende und sexuell ‚Deviante‘ nachgeordnet. Diese Marginalisierung traf auch verhaltensauffällige Jugendliche, psychisch Erkrankte und an Geschlechtskrankheiten leidende Personen. Trotz gegenteiliger Hoffnungen halfen diese Ausschlüsse nicht, suizidales Verhalten zu erklären, vielmehr bestätigten sie vorrangig die These einer Geschlechterdifferenz. Dabei waren gerade die bürgerliche Lebensführung und Sexualmoral ein wichtiger Ausgangspunkt für die Psychoanalyse gewesen, schienen doch die daraus hervorgehenden Zwänge und Tabus psychische Störungen zu motivieren. Es ist daher bemerkenswert, dass die Psychoanalytiker*innen um Freud nicht die (hetero) sexistische Geschlechterordnung fokussierten und weiterverfolgten. Selbst das verstärkte Interesse an den Sexualitäten erwies sich ambivalent. Zwar rehabili-
Delannoy, Selbstmorde und Selbstmordversuche in Wien im Jahre 1926, 16.
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tierte Sigmund Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie bi- und homosexuelles Begehren weitgehend, allerdings ergänzte er diese Publikation bis 1924 um die Komplexe des Penisneides, der Kastrationsangst und der ödipalen Konstellation.¹¹⁴¹ Hinzu kam, dass er heterosexuelles Begehren als Normalfall des menschlichen Geschlechtslebens betrachtete. Letztendlich war es insbesondere der Kreis um Freud, der hinter die kritische Bearbeitung der Geschlechterordnung zurückfiel.¹¹⁴² Hinsichtlich der Selbstzeugnisse von suizidalen Jugendlichen zeigten sich andere Schwerpunkte. Sie suchten die explizite Verknüpfung von Geschlecht und Suizidalität nur selten und wenn sie das taten, dann um suizidale Impulse und Handlungen zu rationalisieren. Für die suizidalen Subjekte waren die Technologien des Selbst und anderweitige, identitätsstiftende Praktiken zentraler. Vor allem der Wunsch nach verbesserter Selbstführung und -kontrolle war evident. Das Tagebuchschreiben sollte genau diesen Zweck durch intensive Selbstreflektion und -erforschung erfüllen. Gleichzeitig konnten sich die Jugendlichen durch die Überwindung suizidaler Impulse Kontur verleihen. Auch die beiden Psycholog*innen, Charlotte Bühler und Käthe Vértes, setzten auf heteronormative Wissensvorräte, um suizidales Verhalten zu erklären.Vor diesem Hintergrund betonte Bühler die sozialen und affektiven Qualitäten der weiblichen Tagebuchschreiber*innen, den männlichen Diaristen unterstellte Bühler hingegen einen stärkeren Objektbezug und eine Auseinandersetzung mit rationalen Problemen. Vértes, die sich explizit mit suizidalem Verhalten beschäftigte, nannte für weibliche Jugendliche die Suizidmotive der Hysterie, des Versagens und der fehlenden Lebenskompetenz. Für den einzigen Burschen artikulierte sie als Motiv sein homosexuelles Begehren. Auffällig an dieser Aufteilung ist, dass der Fall von Fanny Römer, die intensiv für ihre Lehrerin geschwärmt hat, genauso gut unter ‚lesbisches‘ Begehren subsummiert werden hätte können. Vértes vermied aber in diesem Zusammenhang den Begriff Homosexualität oder einen ähnlich qualifizierten. Daraus lässt sich schließen, dass gleichgeschlechtliches Begehren von weiblichen Heranwachsenden entweder von vornherein nicht als solches wahrgenommen wurde und wenn, dann als nicht so gravierend, wie es bei männlichen Jugendlichen eingestuft wurde. Die Diarist*innen selbst konstruierten Geschlecht
Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Wien 41920) 2– 10. Alfred Adler hatte mit seinem Konzept des männlichen Protests und des Schwankens zwischen den Geschlechterrollen sehr wohl nahegelegt, dass die Anforderung an dominante Männlichkeit Neurosen zu produzieren vermochte. Dies gefährdete die Neurosentheorie von Freud und dieser konnte bzw. wollte keine Brücke zu Adler schlagen, was zum Bruch von 1911 beitrug. A. L. Jones, The Gender Vendors, Sex and Lies from Abraham to Freud (Lanham et al. 2014) 170.
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anhand klassenbezogener, korporealer, sexistischer und sexueller Elemente. Die untersuchten Tagebücher belegen aber auch, dass Identität nicht als natürlich zu begreifen ist, sondern dass sie das Resultat ständiger Arbeit, sprich Subjektivierung ist und dass dabei Geschlecht stets ‚richtig‘ performt werden muss, da sonst soziale und psychische Pathologisierung drohen. Angesichts der skizzierten Kontexte eröffnet sich auch die biopolitische Dimension des Gegenstandes. Suizidale Handlungen von jungen Menschen waren bereits aufgrund des Umstandes, dass erwartungsgemäß noch viele Lebensjahre vor ihnen lagen, unerhört. Dieser Ausnahmecharakter befeuerte das starke Interesse an diesen suizidalen Handlungen. Damit zusammenhängend gilt es auch, das kindliche Abhängigkeitsverhältnis zu beachten. Das traf besonders auf die Schuldfrage zu, die im Diskurs permanent verhandelt wurde. Ebenso davon betroffen war die Auslotung von hegemonialer Männlichkeit. Was machte sie aus? Wie sollte deren richtige Performance am besten erlernt werden? Waren doch die männlichen Gymnasiasten als die Patriarchen der nächsten Generation vorgesehen.¹¹⁴³ Solcherart störten insbesondere homosexuelle und effeminierende, aber auch antisemitische ‚Misstöne’ eine erfolgreiche Sukzession. Gleichzeitig drängte die Frage, ob es nicht die bourgeoisen Normen und Werte waren, die suizidales Verhalten begünstigten. Der Gerichtsmediziner Hermann Pfeiffer sprach in diesem Zusammenhang von „übergroßen Aufgaben“, die an die Kinder herangetragen wurden.¹¹⁴⁴ Ebenso kritisierte er, dass die Eltern allzu oft auf einem Gymnasium- bzw. Mittelschulbesuch beharrten und diesen „als das einzig lebenswerte Ziel“¹¹⁴⁵ betrachteten. Viele Erziehungsberechtigte reagierten, indem sie die Verantwortung zurückwiesen oder die Suizidalität vertuschten. Für Eltern, die entweder selbst eine marginalisierte Position verlassen hatten können oder deren Kinder gerade im Begriff waren, dies zu tun, stellte sich hingegen die Frage nach dem Preis für das gesellschaftliche Vorankommen. So war es nicht von der Hand zu weisen, dass diese Integrations- und Aufstiegsanstrengungen besonders von Personen, die um die eigene gesellschaftliche Position fürchteten und sich bedroht sahen, missgünstige Reaktionen provozierten. Nichtsdestotrotz blieben die Arbeiter*innenkinder und -jugendlichen graue Masse im Diskurs und erreichten nicht den individuellen Subjektstatus des bürgerlichen Nachwuchses. Ihre Fälle wurden, wie gezeigt, weniger sorgfältig und umfänglich erörtert. Für sie gab es
Im antisemitischen Diskurs wurde ein jüdischer Hintergrund als ebenso privilegierend verhandelt bzw. als Erklärung für suizidales Verhalten benannt. Hermann Pfeiffer, Über den Selbstmord. Eine pathologisch-anatomische und gerichtlichmedizinische Studie (Aus dem Institute für gerichtliche Medizin der k. k. Karl Franzens-Universität zu Graz, Jena 1912) 191– 192. Pfeiffer, Über den Selbstmord, 191– 192.
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eine Reihe gut etablierter Master-Erzählungen und Deutungen. Derart galten männliche Arbeiterjugendliche als besonders gefährdet, zu verwahrlosen und suizidbegünstigenden Alkoholmissbrauch zu entwickeln. Aber auch kriminelle, homosexuelle und gewaltbereite Neigungen würden sie vulnerabel machen. Das weibliche Pendant schien demgegenüber über eine unglückliche Liebe nicht hinwegkommen zu können. Hinsichtlich der organisierten Präventions- und Krisenarbeit fiel auf, dass sich die christlichen Kirchen und ihre Vereine kaum engagierten. Es war die überkonfessionelle Ethische Gemeinde Wien und die von ihr geführte Beratungsstelle für Lebensmüde, welche suizidale Personen tatkräftig unterstützte. Sie erreichte insbesondere Männer* im mittleren Alter, weniger gut hingegen, die seit den 1920er-Jahren immer stärker gefährdeten Frauen*. Besonders schlecht konnte sie zur überaus vulnerablen Gruppe der über 60-Jährigen vordringen, was auch für nicht-heteronormal Begehrende gegolten haben dürfte, da sich insgesamt nur 73 Homosexuelle an die Stelle wandten. Neben dieser Kriseninterventionsstelle existierte auch ein breites Spektrum an Empfehlungen und Produkten, die dem Aufbau einer guten Resilienz dienen sollten. Nicht nur die psychische Widerstandsfähigkeit galt es zu optimieren, sondern auch den Leib selbst. Wer die Ernährung verbesserte, nervenstärkende Arzneien einnahm oder gar kosmetische Eingriffe erwog, dem schien eine sorgenfreie Zukunft zu winken. Wenig überraschend wurden Schönheitsoperationen nur für Frauen* angedacht, die so die Zeichen des Alters oder der mangelhaften Attraktivität tilgen sollten. Hier wurde definitiv das Individuum zur Arbeit an sich selbst aufgerufen.
Kapitel 5 Untergänge Suizidales Handeln im Nationalsozialismus (1938 – 1945) Die Suizidkrise blieb in der nationalsozialistischen Periode mehr als aktuell, kulminierte sie doch hier. Das hing nicht nur mit der Verzweiflung der Verfolgten und dem wechselnden Kriegsgeschick zusammen. Als ebenso relevant stellten sich die Suizidaffinität der NS-Führungskader¹¹⁴⁶ und der wachsende Terror gegen die eigene Bevölkerung¹¹⁴⁷ heraus. Bemerkenswert ist, dass Frauen* offenbar nie dringender sterben wollten als während dieser Jahre.¹¹⁴⁸ Mitglieder der imaginierten Volksgemeinschaft ‚durften‘ sich nicht selbst töten – außer wenn so den NS-Zielen gedient werden konnte. Die von dieser Gemeinschaft Ausgestoßenen sollten hin-
Thomas Macho schlägt eine Unterteilung in suizidfaszinierte und -distanzierte Kulturen vor und ordnet den Nationalsozialismus in den ersten Bereich ein. Die affirmative Haltung der NSFührungsfiguren wurde von einem ausgeprägten Nihilismus und einer Va-banque-Mentalität getragen und gestützt. Thomas Macho, Vorbilder (München 2011) 404– 405. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch, dass der nach Großbritannien geflohene Journalist Sebastian Haffner (eigentlich Raimund W. M. Pretzel) den Suizid Hitlers bereits 1940 prognostizierte. Sebastian Haffner, Germany. Jekyll & Hyde (London 1940). Christian Goeschel weist darauf hin, dass das gewaltvolle Sterben einen wichtigen Platz in der NS-Ideologie einnahm. Dies lässt sich besonders gut am Beispiel Horst Wessels rekonstruieren. Seine Ermordung wurde von den Nazis umfassend und erfolgreich instrumentalisiert und bildet ein beredsames Beispiel für die Produktivität des Todes. Dieser Umstand dürfte auch eine zentrale Rolle bei den vielen Suiziden von NS-Führungsfiguren zu Kriegsende gespielt haben. Wie von Goeschel argumentiert, töteten sich diese selbst, damit die Idee des Nationalsozialismus überleben bzw. ihr Sterben in diesem Sinn fruchtbar gemacht werden konnte. Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich (Berlin 2011) 237– 238. Bis 1943 ging die Gesamtanzahl der Suizide im ehemaligen Österreich zurück, danach erfolgte ein rapider Anstieg, der in den bis dato unerreichten Werten von 1945 kulminierte. Die Abnahme bis 1943 war vor allem der sinkenden Suizidbeteiligung der Männer* geschuldet. Der Anteil der Frauen* legte alleine von 1939 auf 1940 um elf Prozentpunkte zu und blieb auf diesem hohen Niveau bis inklusive 1945. Wie auch in früheren Perioden waren die Statistiken heteronormativ organisiert und erfassten suizidales Geschehen jenseits davon nicht. Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, 184– 185. Hannes Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung. Aspekte der Suizidproblematik in Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zweiten Republik (Innsbruck u. a. 2012) 487. Während der Kriegsjahre erreichten ihre Suizidzahlen beinahe jene der Männer*. Zur Diskussion der Qualität der statischen Aussagen für Österreich: Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 263 – 264 und Norbert Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988. In: Zeitgeschichte 17/5 (1990) 209 – 225, hier 212. https://doi.org/10.1515/9783110664256-006
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gegen auch physisch verschwinden. Suizidale Handlungen von Jüd*innen, politischen Gegner*innen, aber auch von Homosexuellen, Kranken und Alten schienen daher nicht allzu bedauerlich zu sein.¹¹⁴⁹ Vielmehr konnte so dem Ziel einer homogenen Gesellschaft der Starken gedient werden. Um die jüdischen Suizident*innen und anderweitig Verfolgten konnte nicht offen getrauert werden, da sie nicht zur Gesellschaft gehörten und ihr Handeln mitunter auch von der eigenen sozialen Gruppe abgelehnt wurde.¹¹⁵⁰ Damit muteten weder ihr Leben noch ihr Sterben real an und sie verblieben in einem unabschließbaren Schwebezustand. Sie formten das schlicht Unbeerdigbare. Nichtsdestotrotz waren diese verworfenen Subjekte für die imaginierte Volksgemeinschaft bedeutsam. Sie stellten nämlich das Andere dar, das es zu bekämpfen galt. Gleichzeitig schienen diese ausgestoßenen Subjekte der Kontrolle des Nationalsozialismus entglitten zu sein. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass die SS in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern suizidales Handeln zu kontrollieren suchte.¹¹⁵¹ Nachfolgend wird beleuchtet, wie im Nationalsozialismus mit suizidalen Handlungen und Impulsen umgegangen wurde. Welche Deutungen und Interpretationen wurden favorisiert? Worüber konnte gesprochen werden und worüber nicht? Dabei nahm die Frage nach Schuld, die im Zentrum des Diskurses über suizidales Geschehen stand, besondere Bedeutung ein. Ebenso wichtig war hier auch die Frage nach der Verantwortung des Individuums gegenüber sich selbst und gegenüber der Gesellschaft. Diese erwies sich sowohl für Verfolgte als auch überzeugte Nationalsozialist*innen und Mitläufer*innen als zentral. Vor diesem Hintergrund wird zuerst der Fokus auf das Jahr 1938 gerichtet. Neben der Perspektive der Bedrohten soll auch jene der neuen Mächtigen und Profiteur*innen nicht zu kurz kommen. Diese Thematik wird vor allem im mittleren und letzten Teil dieses Kapitels beleuchtet. Zur Rekonstruktion des subjektnahen Diskurses wird besonders auf lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, Biografien und Briefwechsel zurückgegriffen. Die Analyse von zwei Frauen*zeitschriften – einer katholischen und einer nationalsozialistischen – dient der Erweiterung der Perspektive. Das mediale Rauschen und Tönen, das einen bedeutsamen Prozess im Interdiskurs darstellte, wird anhand von Berichten aus der Illustrierten KronenZeitung und der Kleinen Wiener Kriegszeitung rekonstruiert. In den Medien wurde
Christian Goeschel, Methodische Überlegungen zur Geschichte der Selbsttötung im Nationalsozialismus. In: Andreas Bähr, Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis (Köln u. a. 2005) 169 – 190, hier 177. Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence (London and New York 2004) 32– 34. Siehe dazu auch: Judith Butler, Frames of War.When is Life Grievable? (London and New York 2009). Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 253 – 254.
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Welt verhandelt und ausgedeutet – unter Zuhilfenahme von Expert*innenwissen. Damit nahmen diese eine Vermittler*innenposition zwischen dem höchst individuellen, erfahrungsweltlichen Diskurs und dem speziellen der Wissenschaften ein. Letzterer wird anhand von medizinischen Schriften untersucht. Vor dieser Folie ruht dieses Kapitel auf folgenden Thesen. Erstens, während der NS-Zeit wurde der Diskurs über suizidales Verhalten als ein eugenischer, rassistischer, antisemitischer, homophober und sexistischer geführt.¹¹⁵² Demzufolge setzten vor allem ‚inferiore‘ Subjekte suizidale Handlungen.¹¹⁵³ Zweitens, Jüd*innen und Homosexuelle wurden einer besonderen Degeneration verdächtigt und ihr suizidales Verhalten diente als Beweis dafür. Als drastische Feindbilder wurden (sexuell) emanzipierte jüdische Frauen* und gleichgeschlechtlich begehrende Männer* aufgebaut. Von ihnen schienen zersetzende Kräfte auszugehen, die die heteronormale und -sexistische Sexual- und Geschlechterordnung gefährdeten. Drittens, das Suizidthema blieb für das NS-Regime problematisch und zwar aufgrund der nach wie vor hohen Zahlen innerhalb der imaginierten Volksgemeinschaft.¹¹⁵⁴ Suizidale Handlungen erwiesen sich dann als thematisierbar, wenn den nationalsozialistischen Zielen gedient worden war. Oft waren daran Ideale von soldatischer Ehre geknüpft, die aber nur für heterosexuelle Männer gelten sollten. Für Frauen* wurde suizidales Handeln eher als reaktives Ausweichverhalten verhandelt; etwa als letzter Zufluchtsort, um militärischen Übergriffen und Vergewaltigungen zu entgehen. Viertens, egal ob Verfolgte oder NS-Sympathisant*innen, auf beiden Seiten begannen sich Weiblichkeit- und Männlichkeitskonzepte zu erweitern.
Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 235 – 238. Das Konzept der Volksgemeinschaft stellt kein genuin nationalsozialistisches dar. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezogen sich politische Gruppen aller Couleurs positiv auf die damit verknüpfte Utopie einer nationalen Handlungsgemeinschaft. Sein Erfolg beruhte darauf, dass die postulierten Ziele der Identitätsstiftung und -bewahrung, der Sicherheit und der Fürsorge für sowohl rechts- als auch linksorientierte Politiken anschlussfähig waren. Im Nationalsozialismus bildete das Konzept ein wichtiges Vehikel, um die Loyalität der Bevölkerung sicherzustellen und um die Aufhebung sämtlicher gesellschaftlicher Spannungen zu suggerieren. Über die Möglichkeiten und Probleme bei der forschungspraktischen Operationalisierung des Konzepts der Volksgemeinschaft: Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 59/1 (2011) 1– 17. Martina Steber, Bernhard Gotto (Eds.) Visions of community in Nazi Germany. Social engineering and private lives (Oxford 2014). Vor diesem Hintergrund unterdrückte das NS-Regime ab 1941/42 die Publikation von Suizidstatistiken. Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, 184.
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Der Griff nach der Macht und neue Unsagbarkeiten Nachstehend wird den Fragen nachgegangen, wie die suizidalen Handlungen von Jüd*innen, politischen Gegner*innen und anderweitig Marginalisierten im Jahr 1938 verhandelt wurden. Hierbei wird auf Zeitzeug*innenberichte zurückgegriffen, um deren Perspektive rekonstruieren zu können, aber auch auf mediale Berichte, um den öffentlichen Diskurs abzubilden. Es wird analysiert, was fortan (un)sagbar war und welche Erklärungen für das suizidale Handeln der Verfolgten dominierten. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, wie bzw. ob bereits etablierte Narrative über suizidale Handlungen und Subjekte berücksichtigt wurden. Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung erreichte die Suizidrate einen vorläufigen Höhepunkt.¹¹⁵⁵ Die jüdische Zeitzeugin Margit Czernetz (geborene Kohn) erlebte die entscheidenden Tage an ihrem Arbeitsplatz, dem Spital der israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Dieses blieb als einziges Krankenhaus, das jüdische Patient*innen annahm, bis 1943 geöffnet.¹¹⁵⁶ Danach wurde es von der Wiener NS-Führung in ein Kriegslazarett umgewandelt. Die sozialistische Funktionärin Czernetz¹¹⁵⁷ beschrieb die Märzereignisse folgendermaßen: Werner Welzig (Hg.), „Anschluss“. März/April 1938 in Österreich (Wien 2010). Bernhard Fetz, Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung (St. Pölten u. a. 2013). Wolf Steininger, Austria, Germany, and the Cold War. From the Anschluss to the State Treaty 1938 – 1955 (New York 2008). Walter Rauscher, Arnold Suppan (Hg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938 (Band 12, Österreich zwischen Isolation und Anschluss: 28. September 1937 bis 15. März 1938, Wien 2016). Viktor Frankl übernahm die verwaiste neurologische Abteilung, bevor er selbst 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Der Sohn von assimilierten jüdischen Eltern hatte von 1933 bis 1937 in der Suizidstation für Frauen* am Steinhof gearbeitet. Am Rothschildspital unternahm er an suizidalen Patient*innen – viele davon Jüd*innen – medizinische Experimente, um sie am Leben zu erhalten. Dazu zählten das Einbringen von Amphetaminen via Lumbalpunktion sowie via Trepanation direkt in das Gehirn. Diese Interventionen gelten heute als ethisch fragwürdig, da sie durch keinerlei klinisches Erfahrungswissen gedeckt waren und den Willen der Betroffenen ignorierten. Timothy Pytell, Viktor Frankl: The Inside Outsider. In: Günter Bischof, Fritz Plasser, Eva Maltschnig (Eds.), Austrian Lives (Contemporary Austrian Studies 21, New Orleans 2012) 240 – 255. Sie war Mitglied bei den Revolutionären Sozialisten. Diese wollten verhindern, dass nach 1934 die sozialistische Stimme in Österreich verstummt. Im Zuge der NS-Machtergreifung flohen zentrale Köpfe der Revolutionären Sozialisten nach Brüssel und vereinigten sich dort mit dem Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS) zur Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES). Die Organisation befürwortete die Angliederung Österreichs an Deutschlands und hoffte auf einen sozialistischen Umsturz. In Österreich wirkte nach dem „Anschluss“ vor allem die 1934 geschaffene Sozialistische Arbeiterhilfe (SAH) weiter. Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881– 1938) (Wien 2011) 324– 342.
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„Im Rothschild-Spital sind nach dem Einmarsch natürlich nur Juden eingeliefert worden, und die Nacht, als Hitler gekommen ist, war entsetzlich. Weil wir viele Leute, die Selbstmordversuche begangen haben, eingeliefert bekommen haben. Sie haben zwar noch gelebt, aber die meisten sind dann gestorben. Lauter Juden waren das, die das nicht begreifen konnten, daß man sie von heute auf morgen aus ihren Wohnungen entfernt.“¹¹⁵⁸
Laut ihr hatten viele Österreicher*innen den Nationalsozialismus herbeigesehnt, um sich am Eigentum jüdischer Nachbar*innen zu bedienen oder um politische Widersacher*innen loszuwerden bzw. Racheakte zu setzen. Mit dem Regimewechsel begannen zahlreiche, meist anonyme Anzeigen bei der Gestapo einzugehen; oft auch unter dem Hinweis, dass diese oder jene Person homosexuell sei.¹¹⁵⁹ Um sicher an ihren Arbeitsplatz zu gelangen, ergriff Czernetz ‚Vorsichtsmaßnahmen‘, gehörte sie doch als Jüdin und sozialistische Funktionärin¹¹⁶⁰ zu einer besonders gefährdeten Gruppe: „Man hat mir nahegelegt, aus Sicherheitsgründen mit der Krankenschwesterntracht ins Spital zu gehen. Das war auch gut so, denn ich wäre nie lebendig ins Spital gekommen. So haben die Leute doch irgendwie das Gefühl gehabt, eine Krankenschwester kann man nicht angreifen. Ich habe sehr zeitig zum Dienst müssen und habe gesehen, wie die Juden angefallen wurden.“¹¹⁶¹
Margit Czernetz, In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Institut für Wissenschaft und Kunst (Hg.), Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten (Band 1 Arbeiterbewegung, Wien u. a. 1985) 175 – 176. Andreas Brunner, Ines Rieder, Nadja Schefzig, Hannes Sulzenbacher, Niko Wahl, Geheimsache: Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts (Wien 2005) 156. So mancher Scheidungswillige dürfte seine Partnerin als ‚lesbisch‘ angeschwärzt haben, um eine rasche und schuldlose Trennung zu erreichen. Brunner et al., Geheimsache: Leben, 157. Sie fungierte zudem als Kontaktperson für das ALÖS. Bezüglich des österreichischen Widerstandes gilt es festzuhalten, dass auch dieser die längste Zeit eine starke parteipolitische Fragmentierung aufwies. Als bedeutendste Gruppen lassen sich die Kommunist*innen, die Sozialdemokrat*innen, die Monarchist*innen und das bürgerlich-katholische Lager identifizieren. Die höchsten Opferzahlen mussten die Kommunist*innen und Legitimist*innen beklagen. Eine überparteiliche Organisation des Widerstands wurde erst in der Endphase des Krieges erreicht und stellte maßgeblich eine Reaktion auf die Moskauer Deklaration dar. Neben dem organisierten Widerstand darf der individuelle nicht übersehen werden. Dazu zählten etwa die Unterstützung von sogenannten jüdischen U-Booten oder das Hören verbotener Radiosender. Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938 – 1945 (Wien 2008). Anton Pelinka, Der österreichische Widerstand im Widerspruch der verschiedenen Narrative. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 2007 (Schwerpunkt namentliche Erfassung von NS-Opfern, Wien 2007) 13 – 25. Czernetz, Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, 176.
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Der NS-Mob hielt sich gegenüber weiblichen Jüd*innen meist zurück,¹¹⁶² da im Zentrum der Nazi-Propaganda und Verfolgung jüdische Männer* standen.¹¹⁶³ Dies führte dazu, dass sich die Geschlechterrollen flexibilisierten.¹¹⁶⁴ Frauen* trugen nun verstärkt zum Familienerhalt bei, übernahmen Behördengänge und organisierten die Emigration. Die Repressionen bewirkten, dass männliche Familienmitglieder früher und häufiger vor den Nazis flohen. Daher waren es die älteren und weiblichen Jüd*innen, die am längsten aushielten. Dies geht auch aus den Tagebuchaufzeichnungen von Elise Richter hervor.¹¹⁶⁵ Bezüglich der jüdischen Suizide lässt sich in den frühen NS-Jahren ein Männer*überhang feststellen.¹¹⁶⁶ Marion Kaplan zufolge verliehen sie damit ihrem Schock über den Verlust der beruflichen und finanziellen Perspektive sowie über die erlebte Rechtelosigkeit Ausdruck.¹¹⁶⁷ Später kam die Angst vor der Deportation hinzu. So manche suizidalen Jüd*innen bemühten sich, ihre nationale und kulturelle Zugehörigkeit zu betonen, indem sie etwaige militärische Orden anlegten oder einen deutschen literarischen Klassiker neben sich drapierten. Bald nach Deportationsbeginn überwogen die weiblichen Suizide, da sich besonders die vielen älteren jüdischen
Marion Kaplan, Der Mut zum Überleben, Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland (Berlin 2001) 32– 78; 174– 208. Marion Kaplan, The Jewish Response to the Third Reich: Gender at the Grassroots. In: Jonathan Frankel (Hg.), Jews and Gender. The Challenge to Hierarchy (Studies in Contemporary Jewry. An Annual XVI, 2000) 70 – 87, here 70. Marion Kaplan, Changing Roles in Jewish Families. In: Francis R. Nicosia, David Scrase (Eds.), Jewish Life in Nazi Germany. Dilemmas and respones (University of Vermont at Burlington 2010) 15 – 46. In der Provinz war diese Zurückhaltung nicht immer gegeben. So wurden im oberösterreichischen Steyr auch jüdische Frauen* und Kinder inhaftiert. Regina Thumser, Jüdische Frauen in Oberösterreich. Beispiele von Ausgrenzung und Verfolgung. In: Johanna Gehmacher, Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen (Querschnitte 23, Innsbruck u. a. 2007) 135– 149. Allerdings gab es auch Situationen der Unterstützung. Dolfi Uprimny, Was macht denn der Judenbub hier? In: Waltraud und Georg Neuhauser, Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt (Grünbach 1998) 34– 48, hier 42. Kaplan, Der Mut zum Überleben, 58 – 59. Kaplan, The Jewish Response to the Third Reich: Gender at the Grassroots, 71. Kaplan, The Jewish Response to the Third Reich: Gender at the Grassroots, 71. Diese Rollenverschiebung vollzog sich in Österreich konzentrierter, da hier die aktive Verfolgung später, aber dafür umso eskalierender einsetzte. Thumser, Jüdische Frauen in Oberösterreich, hier 137. Viele der nach Theresienstadt deportierten jüdischen Frauen hatten das 60. Lebensjahr bereits überschritten. Zudem litten sie häufig an verschiedensten Erkrankungen und kämpften seit dem Ersten Weltkrieg mit finanziellen Nöten. Ingrid Brommer, Christine Karner, Das Tagebuch einer Autobiographie. Elise Richters ‚öffentliches‘ und ‚privates‘ Schreiben. In: L’Homme 21 (2015) 55 – 70, hier 57. Kaplan, Der Mut zum Überleben, 258. Kaplan, Der Mut zum Überleben, 259.
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Frauen* keine Hoffnung mehr gemacht haben dürften.¹¹⁶⁸ Daher pendelte sich das durchschnittliche Suizidalter zwischen dem sechsten und siebten Lebensjahrzehnt ein.¹¹⁶⁹ Ähnliches gilt für Berlin, wo am Verfolgungshöhepunkt dreiviertel aller Selbsttötungen von weiblichen Jüd*innen verübt wurden.¹¹⁷⁰ Das flexible und couragierte Handeln der jüdischen Frauen* zeigte sich auch in den Briefen von Mignon Langnas. Diese war 1903 in Boryslaw (Galizien) in eine jüdische Familie hineingeboren worden, bevor ihre Eltern später nach Wien umsiedelten. Von dort suchte sie nach der NS-Machtergreifung mit ihnen zu fliehen, blieb aber, nachdem die Flucht misslungen war, mit ihnen in Österreich und pflegte sie.¹¹⁷¹ Sie zählt zu den wenigen jüdischen Personen, denen es gelang, unverdeckt zu überleben. Ihre Arbeit als geriatrische bzw. Kinderkrankenschwester der Jüdischen Gemeinde Wien dürfte dabei eine erhebliche Rolle gespielt haben.¹¹⁷² Um der Isolation entgegenzuwirken, unterhielt sie einen umfangreichen Briefwechsel mit ihrer in die Schweiz geflüchteten Cousine. Über deren Vermittlung konnte sie sich auch mit ihren Angehörigen in den USA austauschen. Mignon Langnas musste täglich um ihr Leben und das ihrer Eltern fürchten. Die Option Suizid war für sie zwar offensichtlich denkbar, aber aufgrund ihrer pflegebedürftigen Eltern nicht erstrebenswert. In dieser zermürbenden Situation schrieb sie am 8. November 1942 an ihre Cousine: „Glaube mir, meine Gute, auch mir wäre es oft ein Leichtes, das Leben einfach wegzuwerfen, um diesen schweren Kampf loszuwerden – aber der Gedanke an Euch alle, meine Geliebten, gibt mir Kraft + Mut! Nimm Dich zusammen, Halusiénka, ich bitte Dich so sehr darum! Bleib gesund + sehr innig geküsst von Deiner Dich sehr liebenden Mignon.“¹¹⁷³
Suizidale Gedanken und Handlungen wurden zur neuen Normalität für Jüd*innen, wenn auch Netzwerke und Freundschaften sowie soziale und geschlechts-
Kaplan, Der Mut zum Überleben, 260. Hannes Leidinger kam in seiner suizidbezogenen Auswertung der Friedhofskartei der Israelischen Kultusgemeinde Wien (1940 – 1945) zu ähnlichen Schlüssen. Sechzig Prozent der Suizident*innen waren weiblich und knapp neunzig Prozent hatten das 50. Lebensjahr überschritten. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 251. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 250. Beide Eltern verstarben 1940 bzw. 1943 in Wien. Ihr Mann, Leo Langnas, war über mehrere Stationen in die USA geflohen. Die gemeinsamen Kinder, Manuela und George, erwarteten ihn dort bereits. Elisabeth Fraller, George Langnas (Hg.), Mignon. Tagebücher und Briefe einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938 – 1949 (Innsbruck u. a. 2010) 226.
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spezifische ‚Pflichten‘, diese teilweise einzuhegen vermochten.¹¹⁷⁴ Wie bedeutsam gute soziale Integration war, zeigte sich auch bei der gebürtigen Steyrerin Lotte Herrmann (geborene Schimmerling), die als 15-Jährige den Einmarsch Hitlers in Österreich erlebt hatte.¹¹⁷⁵ Rund zwei Monate danach wurde das elterliche Haus durchsucht, den jüdischen Eltern kommunistisches Material untergeschoben und selbst Lotte inhaftiert. Die SS forderte von ihr, den Vater zu belasten und gab ihr in einer Verhörpause den ‚Rat‘, suizidal zu handeln: „Auf einmal führte mich ein SSMann auf das Dach und sagte: ‚Du bist so ein nettes Mädchen, du tust mir so leid. Ich weiß, was dir bevorsteht, ich rate dir, hinunterzuspringen‘“.¹¹⁷⁶ Das geschlechtsspezifische Muster im Umgang mit den jüdischen Verfolgten ist hier evident. Der Vater wurde scharf angegangen, Lotte gegenüber präsentierte sich der SS-Mann als jovialer und väterlicher ‚Freund‘. Letztendlich war sein Vorschlag natürlich nichts anderes als eine Drohung und eine Geste, die beim zeitgenössischen Geschlechterwissen um vermeintliche weibliche Manipulierbarkeit ansetzte. Lotte Herrmanns Fall nahm eine günstige Wendung, da sowohl sie als auch ihr Vater enthaftet wurden und die Familie aus Österreich fliehen konnte. Auch für Homosexuelle, Personen mit Entwicklungsverzögerungen und -störungen, psychisch Erkrankte, Sexarbeiter*innen und anderweitig als asozial Deklarierte begann bald eine Zeit der Verfolgung oder oft vielmehr des verschärften Terrors.¹¹⁷⁷ Nach der Annexion war in Österreich das deutsche Strafrecht installiert worden. Tatsächlich umfasste dies aber nur die Rassengesetzgebung und jene Paragrafen, die politische Subversion kriminalisierten. Für alle anderen Delikte blieb weiterhin das österreichische Strafrecht anzuwenden. Dies galt auch für die sogenannte Unzucht wider die Natur. Dieser spezifische Kontext führte Christine Hartig, „Conversations about taking our own lives – oh, a poor expression for a forced deed in hopeless circumstances!“ Suicide among German Jews 1933 – 1943. In: Leo Baeck Year Book 52 (2007) 247– 265, here 258. Susanne Hoffmann, Suizidalität im Alltagsdiskurs: Populare Deutungen des „Selbstmords“ im 20. Jahrhundert. In: Historical Social Research 34/4 (2009) 188 – 203, hier 196. Auch in den Tagebuchaufzeichnungen von Elise Richter spielte das Thema Suizid wiederholt eine Rolle. Die Schwestern diskutierten das präferierte Mittel der Wahl – Morphium – und ob Suizid einen Ausweg darstellen könnte. Brommer, Karner, Das Tagebuch einer Autobiographie, 64. Lotte Herrmann (geb. Schimmerling), Ich bin eine Amerikanerin. In: Waltraud und Georg Neuhauser, Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt (Grünbach 1998) 97– 104, hier 99. Herrmann (geb. Schimmerling), Ich bin eine Amerikanerin, 99. Hinsichtlich der Frage, ob Homosexualität angeboren oder erworben ist, hatten sich drei psychiatrische Positionen herauskristallisiert. Theo Lang argumentierte für eine genetische Bedingtheit, Rudolf Lemke votierte für eine hormonelle Störung und Hans Bürger-Prinz sah Homosexuelle von einer Art Sucht befallen. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 – 1945. Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfelder (Berlin 2011) 194– 197; 54– 56.
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dazu, dass homosexuelle Frauen im ehemaligen Österreich verfolgt wurden, in Deutschland hingegen nicht. Dort wurden ‚lesbische‘ Frauen* und Transgeschlechtliche vielfach als asozial, unglücklich veranlagt oder körperlich bzw. geistig ‚minderwertig‘ kriminalisiert respektive psychiatrisiert.¹¹⁷⁸ Dieses Verfolgungsrepertoire wurde auch in Österreich angewandt, nur dass hier mit der Unzucht noch eine weitere Option zur Verfügung stand. Vor diesem Hintergrund dürften von 1938 bis 1945 rund 7.000 Verfahren nach dem Paragrafen 129 b geführt worden sein.¹¹⁷⁹ Das Landesgericht Wien verurteilte von 1938 bis 1943 pro Jahr durchschnittlich 205 Personen, davon 11 Frauen.¹¹⁸⁰ Zuvor war jährlich nur über rund 144 Angeklagte ein solches Urteil verhängt worden.¹¹⁸¹ Daran zeigt sich, dass in der nationalsozialistischen Periode die Strafverfolgung auf allen Ebenen intensiviert wurde.¹¹⁸² Dies inkludierte auch die Verschleppung in Konzentrationslager sowie erzwungene medizinische ‚Heilbehandlungen‘ und unfruchtbarma-
Andreas Brunner, Ines Rieder, Nadja Schefzig, Hannes Sulzenbacher, Niko Wahl, Geheimsache: Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts (Wien 2005) 171. Transgeschlechtliche standen unter dem Generalverdacht der Homosexualität und wurden aufgrund dieser verfolgt. Ließ sich diese Annahme nicht erhärten, dann wurde durchaus auch Toleranz geübt. Ilse Reiter-Zatloukal, Geschlechtswechsel unter der NS‐Herrschaft „Transvestitismus“, Namensänderung und Personenstandskorrektur in der „Ostmark“ am Beispiel der Fälle Mathilde/ Mathias Robert S. und Emma/Emil Rudolf K. In: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 1 (2014) 172– 209. Akten des Wiener Stadt- und Landesgerichtes I. und II. Brunner et. al., Geheimsache: Leben, 151. Claudia Schoppmann, Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität (Pfaffenweiler 1997) 115. Fünf dieser Fälle betrafen Frauen*. Brunner et al., Geheimsache: Leben, 151. Tatsächlich wurden vorwiegend homosexuelle Männer verfolgt*, die zusätzlich oft auch noch als Gewohnheitsverbrecher verurteilt wurden. Das hing damit zusammen, dass ihr Verhalten als besonders schädlich eingestuft wurde, weil sie einerseits andere Männer und Kinder verführen würden und andererseits schlicht kriminell seien. ‚Lesbisches‘ Begehren galt als weniger sichtbar und verfestigt. Daher dürften Freundinnen und Lebensgefährtinnen seltener angezeigt oder denunziert worden sein. Dies ist insofern bemerkenswert, als das österreichische Strafrecht homosexuelle Frauen* sehr wohl als Täterinnen fasste, es ihnen also zugetraut wurde, von sich aus und selbstständig sexuelle Handlungen zu setzen. Elisabeth Greif, Verkehrte Leidenschaft. Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin (Wien 2019) 88 – 92; 404. In Deutschland war 1935 der sogenannte Unzuchtsparagraf 175 verschärft worden. Derart konnte fortan auch unanständiges Verhalten verfolgt werden. Vor diesem Hintergrund erhöhten sich die Schuldsprüche erheblich. Waren zwischen 1933 und 1935 rund 4.000 Männer* verurteilt worden, erhöhte sich die Zahl zwischen 1936 und 1938 auf über 22.000. Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich (Berlin 2011) 137.
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chende Eingriffe.¹¹⁸³ 1936 war sogar eine eigene Reichszentrale installiert worden, um Homosexualität und Abtreibung zu bekämpfen.¹¹⁸⁴ Auch für ‚lesbische‘ Frauen und Transgeschlechtliche dürfte sich die Situation insbesondere dann verschärft haben, wenn zusätzliche Verfolgungsgründe wie ‚asoziales‘ Verhalten, Geschlechtsnonkonformismus, schlechtes Passing ‚Erbkrankheiten‘ und Sexarbeit vorlagen¹¹⁸⁵ oder sie als jüdisch dokumentiert waren. Dies könnte beim Doppelsuizid von Ilse Friedmann und Grete Gerngross eine Rolle gespielt haben. Im Annexionsjahr fand man die Cousine von Egon Friedell und ihre Freundin aus der Kaufhaus-Dynastie in einer Döblinger Wohnung gemeinsam erhängt vor. Noch schwieriger zu rekonstruieren ist suizidales Handeln von homosexuellen Personen in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern. Sicher ist nur, dass diejenigen, die den Rosa Winkel tragen mussten, in der Lager-Hierarchie ganz unten standen.¹¹⁸⁶ Besonders terrorisiert wurden hierbei feminin wirkende Männer* und Transgeschlechtliche.¹¹⁸⁷ Laut Heinz Heger dürften Homosexuelle recht häufig suizidal gehandelt haben: „Noch viele seiner böswilligen Anordnungen sollten uns das erniedrigende und entwürdigende KZ-Leben nur noch mehr erschweren und viele von uns in den Freitod treiben.“¹¹⁸⁸ Die Frage, ob suizidales Handeln von Verfolgten einen widerständigen oder kollaborativen Akt darstellte, war umstritten. Es gab aber auch eindeutige Fälle, beispielsweise wenn der Suizid nur vorgetäuscht worden war, um sich so den NSSchergen zu entziehen. Dies traf etwa auf die jüdische und homosexuelle Malerin Gertrude Sandmann zu. Nach dem über sie verhängten Berufs- und Ausreiseverbot fingierte sie ihren eigenen Suizid. De facto konnte sie als U-Boot in verschiedenen, von ihrer Freundin Hedwig organisierten Wohnungen überleben.¹¹⁸⁹
Unter explizitem Hinweis auf ihre Homosexualität dürften nur wenige Frauen – nach verbüßter Gefängnisstrafe – in ein KZ überstellt worden sein. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 – 1945. Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfelder (Berlin 2011) 198. Franz X. Eder, Homosexualitäten. Diskurse und Lebenswelten 1870 – 1970 (Wien 2010) 69. Laurie Marhoefer, Wurden lesbische Frauen im Nationalsozialismus verfolgt? Mikrogeschichte und der Begriff der „Verfolgtengruppe“. In: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 21 (2019) 15 – 48. Auch bezüglich der Frage, wie viele ermordet wurden, gibt es nur Schätzungen. Es dürften rund 6.000 gewesen sein. Franz X. Eder, Homosexualitäten. Diskurse und Lebenswelten 1870 – 1970 (Wien 2010) 64. Heinz Heger (alias Josef Kohout), Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939 – 1945 (Hamburg 1972) 89. Franz X. Eder, Homosexualitäten. Diskurse und Lebenswelten 1870 – 1970 (Wien 2010) 89. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 – 1945. Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfelder (Berlin 2011) 199.
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Anders schienen die Dinge zu liegen, wenn es tatsächlich Tote gab. Recht zurückhaltend kritisierte Kirsten Strindberg das suizidale Handeln der Lebensgefährtinnen Ilse Friedmann und Grete Gerngross. In einem Brief an ihre Wiener Freundin Lina Loos wich sie auf die ‚versöhnliche‘ Erklärung von höchstem psychischem Druck aus: „‘Es ist mir derart unbegreiflich, dass sich kein anderer Weg ergeben haben sollte, dass ich eher an völlig zermürbte Nerven glaube, als an die tatsächliche Unmöglichkeit es anders enden zu lassen.‘“¹¹⁹⁰ Deutlich schärfer wurde der Suizid von Stefan Zweig debattiert. Der Literat hatte sich 1942 gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte im brasilianischen Exil suizidiert. Seine Tat erschütterte die jüdisch-deutschen Emigrant*innen und provozierte auch heftige Kritik.¹¹⁹¹ Franz Werfel warf ihm vor, sich unsolidarisch gegenüber den anderen Verfolgten verhalten zu haben. Thomas Mann ging noch weiter und beschuldigte ihn der Desertion und dass mit seinem Suizid der Nationalsozialismus gesiegt hätte. Anders Carl Zuckmayer, dieser wählte einen Mittelweg und rief die Emigrant*innen zum Durchhalten auf.¹¹⁹² Der Vorwurf eines ‚kollaborativen‘ suizidalen Handelns vernachlässigte den Leib als zentrales Territorium des Selbst.¹¹⁹³ Wer Identität und leiblich eingeschriebene Differenzkategorien bestätigte, handelte widerständig. Das Gespenst homo sacer blieb ansatzweise gebannt, was u. a. auch das Engagement als KZ-Boxsportler illustriert.¹¹⁹⁴ Wer in den
Andreas Brunner, Ines Rieder, Nadja Schefzig, Hannes Sulzenbacher, Niko Wahl, Geheimsache: Leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts (Wien 2005) 169. Carl Zuckmayer berichtete diesbezüglich: „In den Kreisen der Emigration hatte Stefan Zweigs freiwilliger Tod eine ungeheure Bestürzung hervorgerufen. Die Briefe, die ich bekam, zeugten von einer niedergeschmetterten Hoffnungslosigkeit. Wenn er, dem alle Möglichkeiten offen standen, das Weiterleben für sinnlos hält – was bleibt dann denen übrig, die um ein Stück Brot kämpfen? Die Mehrzahl der Emigranten lebte in jämmerlichen Verhältnissen. Frauen, die keine Sorgen gekannt hatten, gingen als Putzweiber in fremde Wohnungen. Intellektuelle liefen mit Musterköfferchen treppauf und treppab, um sich in einer fremden Sprache hinauswerfen zu lassen“. Carl Zuckmayer, Aufruf zum Leben. Porträts und Zeugnisse aus bewegten Zeiten (Frankfurt/M. 1976) 10. „Wir müssen dieses Leben bis zum äußersten verteidigen, denn es gehört nicht uns allein. Was auch kommen mag: kämpft weiter. Lebt: aus Trotz – wenn alle andern Kräfte Euch versagen und selbst die Freude lahm wird – lebt: aus Wut! Keiner von uns darf sterben, solange Hitler lebt! Seid ungebrochen im Willen, die Pest zu überleben. Denkt an die Männer, die kämpfen – denkt an das Ziel!“ Carl Zuckmayer, Aufruf zum Leben. Porträts und Zeugnisse aus bewegten Zeiten (Frankfurt/M. 1976) 13. Maja Suderland, Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager (Frankfurt/M.) 2004. Veronika Springmann, Boxen im Konzentrationslager. Erzählmuster und Interpretationen. In: Anette Dietrich, Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus.
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Ring stieg, stärkte nicht nur seine männliche Identität, sondern profitierte auch von erhöhten Essensrationen. Ähnliches gilt für die vergeschlechtlichten Überlebensstrategien von deportierten jüdischen Männern*. Diese orientierten sich u. a. am Ideal des kommunistischen Revolutionärs, des scharfsinnig-selbstkontrollierten Bürgers sowie des tapferen Soldaten.¹¹⁹⁵ Die Debatte um den prominenten Literaten ist auch auf der Beziehungsebene aufschlussreich. Zweig hatte offenbar bereits seine erste Ehefrau Friderike zum gemeinsamen Suizid bewegen wollen.¹¹⁹⁶ Diese lehnte sein Ansinnen aber zweimal ab. Nicht so seine zweite Ehefrau Lotte: „Es scheint, daß sie, ein leidender und gedrückter Mensch, nicht sehr am Leben hing und daher den depressiven und Suicidideen ihres Mannes weit eher zugänglich war als Friderike, ihre Vorgängerin. Zweig wollte ja, wie wir von Friderike wissen, nicht allein in den Tod gehen.“¹¹⁹⁷
Demzufolge hätte Lotte Zweigs Verhalten die entscheidende Wendung herbeigeführt, was zugleich die Angewiesenheit des Suizidenten enthüllen würde. Die Transgression des männlichen Subjekts war hier nämlich eine doppelte: Psychische Verletzbarkeit traf auf zögerliches und dependentes Handeln. Um dieses Subjekt zu stabilisieren, war es notwendig, das weibliche Agens zu brechen. Genau das wurde über die unterstellte Schwäche und Manipulierbarkeit erreicht. In Wien töteten sich im Jahr vor der NS-Machtergreifung 98 Jüd*innen selbst.¹¹⁹⁸ 1938 stieg diese Zahl auf 428, was einer Vervierfachung gleichkam. 1940 wurden 53 Fälle gezählt, bevor sie im Zuge der Deportationen wieder hochschnellten.¹¹⁹⁹ Für den März 1938 liegen folgende Zahlen vor: Vom Monatsbeginn
Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis (Frankfurt/M. 2013) 185 – 201. Kim Wünschmann, Männlichkeitskonstruktionen jüdischer Häftinge in NS-Konzentrationslagern. In: Anette Dietrich, Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis (Frankfurt/M. 2013) 201– 223. Arthur Stern, Stefan Zweig und sein Freitod. Eine psychologisch-psychiatrische Betrachtung In: Stefan Zweig, Archiv der Internationalen Stefan-Zweig Gesellschaft 2 (Internationale Stefan Zweig-Gesellschaft, Wien 1968) 1– 14, hier 12. Stern, Stefan Zweig und sein Freitod, 13. Jonny Moser, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938 – 1945 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zur Geschichte der NS-Gewaltverbrechen 5, Wien 1999) 22. Bezüglich der Deportationen konstatieren Christian Goeschel und Hannes Leidinger einen eindeutigen Zusammenhang mit den Suizidzahlen. Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, 168. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 250 – 251.
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bis zur Machtergreifung suizidierten sich täglich zwei bis drei Menschen.¹²⁰⁰ Ab 12. März nahmen die Zahlen zu und kulminierten am 17. und 18. März mit jeweils 22 Selbsttötungen.¹²⁰¹ Danach gingen sie auf fünf oder sechs pro Tag zurück.¹²⁰² Der jüdische Zeitzeuge und Redakteur der Neuen Freien Presse, Theodor Friedrich Meysels, erinnerte sich an andere Zahlen. Er verwies auf 187 Fälle in den ersten drei Tagen, über die zudem nicht berichtet werden durfte: „In der Redaktion wieder neue Lücken. Der arme Dr. S. hat Selbstmord begangen, als er die S. A.-Wache vor dem Haus sah. Auernheimer und Hirschfeld sind schon verhaftet. Insgesamt haben in den ersten drei Tagen des Regimes 187 Leute Selbstmord begangen. Das darf natürlich nicht gemeldet werden – im redaktionellen Teil. Wer es sich leisten kann, mag das ‚jähe Abscheiden‘ seiner Angehörigen aber in einer Parte in der ‚Neuen Freien Presse‘ bekannt geben, informiert man uns“.¹²⁰³
Die Aussagen von Meysels gilt es zu relativieren, da sich nämlich durchaus Suizidberichte finden ließen.¹²⁰⁴ Allerdings wurden diese rasch weniger und in der Wortwahl unpräzise und verschleiernd. Darüber hinaus verboten die Nazis bald Berichte über bestimme Suizidmethoden, insbesondere Leuchtgas.¹²⁰⁵ Die Redaktion der Illustrierten Kronen-Zeitung war in der Nacht auf den 12. März besetzt worden und wie überall übernahmen NS-Truppen und Kommissare die Leitung.¹²⁰⁶ Acht jüdische Angestellte verloren unmittelbar ihre
Gerhard Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39 (Wien u. a. 21980) 101. Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg, 101. Im März 1938 töteten sich in Österreich 218 Menschen selbst. Davon wurden 79 als mosaisch identifiziert. Im Folgemonat ereigneten sich 139 Suizide, 64 davon wurden Jüd*innen zugeordnet. Im Mai wurden 147 Suizide gezählt, wovon 66 auf jüdische Religionsbekenntnisse entfielen. In diesen drei Monaten ereigneten sich 128 Suizide von männlichen Juden und siebzehn von Männern* mit einem jüdischen Elternteil. Im gleichen Zeitraum wurden 81 Suizide von weiblichen Jüd*innen erfasst. Weitere acht Suizide entfielen auf Frauen* mit einem jüdischen Elternteil. Suizidversuche wurden nicht erfasst. Botz, Wien vom „Anschluß“ zum Krieg, 100. Theodor Friedrich Meysels, Die erste Woche. Notizen eines österreichischen Journalisten (Jerusalem, um 1944) 11. Eckart Früh, Terror und Selbstmord in Wien nach der Annexion Österreichs. In: Felix Kreissler (Hg.), Fünfzig Jahre danach – Der „Anschluß“ von innen und außen gesehen (Beiträge zum Internationalen Symposion von Rouen 29. Februar – 4. März 1988, Wien u. a. 1989) 216 – 226, hier 221. Früh, Terror und Selbstmord in Wien nach der Annexion Österreichs, 222. Mitte Juni 1938 wurden sämtliche Presseangelegenheiten dem Reichsverband der Deutschen Presse bzw. dem Landesverband Ostmark unterstellt. Diese Organe regelten fortan, wer eine journalistische Ausbildung beginnen durfte und wer welchen Posten besetzen konnte.
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Stelle.¹²⁰⁷ Die Zeitung berichtete in den Tagen vor und nach der Machtergreifung ausführlich – und affirmativ – über die politischen Ereignisse. Auch über die Auflösung aller Frauen*organisationen, mit Ausnahme der Kongregationen und Orden, informierte sie eifrig.¹²⁰⁸ Als neues Angebot führte sie die Rubrik Für dich, deutsche Frau ein, in welcher sie am 1. Mai 1938 die Aufhebung der divergierenden Klasseninteressen behauptete.¹²⁰⁹ Zudem konkretisierte das Medium, wer innerbzw. außerhalb der imaginierten Volksgemeinschaft stand: „Die Kindergärtnerin steht neben der Aerztin, die Lehrerin neben dem Schreibfräulein und die Hausfrau neben dem Mädchen draußen in der Küche. Ihre Arbeit ist ebensowenig verloren wie die aller jener Frauen, die die heiligste Aufgabe des Weibes erfüllen dürfen und als Mütter ihr ganzes Leben in den Dienst ihrer Kinder stellen. Außerhalb dieser großen Arbeitsgemeinschaft, die das ganze Volk verbindet, stehen nur die, die nicht arbeiten wollen“.¹²¹⁰
Das sonst so sensationslüsterne Boulevardmedium meldete im Annexionskontext keinen einzigen Suizid. Erst Tage später dokumentierte sie wieder eine Selbsttötung und zwar jene von Friedrich Reitlinger; einem prominenten Industriellen und Mitglied des Obersten Rechnungshofes.¹²¹¹ Dieser hatte auch politische Kontakte zur Heimwehr sowie zu den christlich-sozialen Politikern Ignaz Seipel
Hausjell, Journalisten für das Reich, 36 – 39. Österreichweit wurden mindestens 58 Redaktionsangehörige gekündigt; entweder, weil sie als jüdisch klassifiziert waren, oder weil sie als politisch unzuverlässig galten. Die Zahlen sind nicht vollständig, da z. B. die Daten für die Neue Freie Presse fehlen. Hausjell, Journalisten für das Reich, 38.Was Frauen* in den Redaktionsstuben angeht, so betrachtete man sie im Nationalsozialismus als zweite Wahl. Den zentralen Stellen zufolge fehlten ihnen die notwendigen Qualifikationen und Charakter-Eigenschaften. Sandra Paweronschitz, Zwischen Anspruch und Anpassung. Journalisten und der Presseclub Concordia im Dritten Reich (Wien 2006) 37. Aber auch vor dem Nationalsozialismus war der österreichische Pressemarkt nicht frauenfreundlich gewesen. Laut Paweronschitz waren 1929 ganze 7 Prozent der Organisation der Wiener Presse weiblich. Paweronschitz, Zwischen Anspruch und Anpassung, 27. Liquidierung der Frauenorganisationen, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 13.705, 15. März 1938, 11. Anhand des Zitats zeigt sich deutlich, dass das Konzept der Volksgemeinschaft nicht nur aus kohäsiven und integrierenden Momenten bestand, sondern auch aus trennenden und konfliktösen. Nicole Kramer, Volksgenossinnen on the German Home Front: An Insight into Nazi Wartime Society. In: Steber Martina, Bernhard Gotto (Eds.) Visions of community in Nazi Germany. Social engineering and private lives (Oxford 2014) 171– 186. Für dich, deutsche Frau! Die Arbeitsfrau im Dritten Reich, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 13.751, 1. Mai 1938, 18. Präsident Reitlinger läßt sich von der Tochter erschießen, Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 13.706, 16. März 1938, 12.
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und Anton Rintelen gepflegt.¹²¹² Offenbar über seine bevorstehende Verhaftung informiert, ließ er sich von seiner Tochter Johanna erschießen. Und obwohl diese die entscheidende Tat setzte, blieb ihr Agens nebulös. Selbst Johanna Reitlingers Suizid verhandelte das Blatt nur als ‚Kollateralschaden‘. Immerhin wurde mit der Nähe ihres Vaters zur Heimwehr ein politischer Kontext erwähnt. Die antisemitischen Anfeindungen, unter denen der Konvertit gelitten hatte, blieben hingegen außen vor. Damit wählte die Zeitung einen Mittelweg in der Berichterstattung. Sie deutete Politisches zwar an, erörterte es dann aber nur sehr selektiv. Bei ideologisch opportunen Themen schien eine solche Zurückhaltung obsolet und daher lobte sie Mitglieder von NS-Verbänden, die eine suizidale Handlung verhindert oder erste Hilfe geleistet hatten. Am 23. April 1938 meldete sie überschwänglich, dass ein „Hitler-Junge als Lebensretter“ fungiert hatte.¹²¹³ Dieser wurde sogar mit einer Porträtzeichnung gewürdigt. Kurze Zeit später feierte sie einen SA-Angehörigen für eine ähnliche Tat.¹²¹⁴ Diese jungen Männer* wurden so zu Helden stilisiert. Das Schweigen war nur ein partielles, gab es doch auch Fälle, die öffentlich und dezidiert als Selbsttötung verhandelt wurden, wozu ‚Selbstopfer‘ von in Ungnade gefallenen NS-Funktionären zählten. Letztere wurden vor die Wahl gestellt, sich selbst zu töten oder NS-Schergen würden dies erledigen. Ein solches Exempel wurde etwa am SA-Stabschef Ernst Röhm statuiert. Die Illustrierte Kronen-Zeitung berichtete umfänglich und bemerkte „daß man Roehm, offenbar ähnlich wie seinerzeit in Oesterreich dem Spion Oberst R e d l , G e l e g e n h e i t z u m S e l b s t m o r d gab“.¹²¹⁵ Der beinahe reflexhafte Hinweis auf Redl enthüllt den entscheidenden Konnex dieser beiden Fälle: die gleichgeschlechtliche Neigung der beiden Protagonisten. Solcherart ließ sich an das bereits etablierte Narrativ anknüpfen, dass Männer*gemeinschaften anfällig für homosexuelle Unterwanderung seien. Dieser Deutung lag das Bild des konspirativen und illoyalen Homosexuellen zugrunde, der ein ganzes Verräternetzwerk um sich ausbildete. Genau hier setzte auch die Illustrierte Kronen-Zeitung an: „Stabschef R o e h m , der vom Führer mit seltenem Vertrauen ausgestattet worden war, trat diesen Erscheinungen nicht nur nicht entgegen, sondern f ö r d e r t e sie. Seine bekannte unglückliche Veranlagung führte allmählich zu so unverträglichen Belastungen, daß der
Wolfgang Meixner, Ing. Friedrich Reitlinger (1877– 1938). Industrieller und Wirtschaftsfunktionär in Tirol zwischen Heimwehr und Nationalsozialismus. In: Zeitgeschichte 29/4 (2002) 191– 201, hier 193 – 194. Hitler-Junge als Lebensretter, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.743, 23. April 1938, 8. Mutige Tat eines SA-Mannes, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.727, 6. April 1938, 10. Die Niederkämpfung der S.A.-Revolte in Deutschland, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 35, Nr. 12.373, 3. Juli 1934, 3 – 5, hier 3.
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Führer der Bewegung und oberste Führer der S. A. selbst in schwerste Gewissenskonflikte getrieben wurde.“¹²¹⁶
Mit Röhm wurde noch eine Reihe weiterer SA-Führer und missliebiger Personen ermordet – egal, ob sie homosexuell oder heterosexuell gewesen waren.¹²¹⁷ Das relativiert die Bedeutsamkeit der sexuellen ‚Transgression‘ als solche, nicht aber ihren Einsatz zwecks propagandistischer Ausschlachtung.¹²¹⁸ Auch der gegenüber Hitlers Außenpolitik kritisch eingestellte Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch, wurde als homosexuell denunziert und verlor daraufhin seinen Posten. Und obwohl er später vom Reichskriegsgericht freigesprochen und rehabilitiert wurde, blieb ihm eine Wiedereinsetzung verwehrt. Fritsch zählt zu den ersten prominenten Toten des Zweiten Weltkriegs, der sein Ende bewusst in feindlichem Kugelhagel gesucht haben soll.¹²¹⁹ Zu den Opfern eines oktroyierten Suizids zählt auch Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Weiters sind hier die Fälle von Ludwig Beck (Generaloberst) und den weniger prominenten Beteiligten des Putsches vom 20. Juli 1944 zu nennen. Alle diese Szenarien knüpften an eines der ältesten Skripte für suizidales Handeln an, das für Feldherren in aussichtsloser Lage reserviert war. Allen diesen Glücklosen wurde als ehrenhafter ‚Ausweg‘ der Sturz in das eigene Schwert zugestanden.¹²²⁰ Bezüglich Österreich ist vor allem der Fall von General Wilhelm Zehner relevant, der in der Nacht auf den 11. April 1938 von der Gestapo in seiner Wohnung aufgesucht worden war. Angeblich fand sie ihn dort mit selbstbeigebrachten tödlichen Schusswunden vor.¹²²¹ Einen ähnlich liegenden Fall stellt jener von Major Emil Fey dar. Der erklärte Anti-Sozialist und Leiter der Heimwehr wurde in der Nacht auf den 16. März 1938 tot in seiner Wohnung aufgefunden. Auch seine Ehefrau Malvine und seinen Sohn Hebert entdeckte man leblos. Ähnlich wie bei Zehner machten sich Zweifel breit. Hatte sich – wie kolportiert – Frey tatsächlich suizidiert und vorher seine Angehörigen getötet?¹²²² Ungeachtet des tatsächlichen Hergangs, unplausibel war die verbreitete Version nicht. Die Illustrierte Kronen-
„Wer die Hand gegen das Dritte Reich erhebt …“, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 35., Nr. 12.371, 1. Juli 1934, 4– 5, hier 4. Michael Schwartz, Homosexuelle, Seilschaften, Verrat. Ein transnationales Stereotyp im 20. Jahrhundert (Berlin u. a. 2019) 160 – 212. Florence Tamagne, A History of Homosexuality in Europe. Berlin, London, Paris 1919 – 1939 Vol. I & II. (New York 2006) 299 – 300. Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich (Berlin 2011) 114. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 242– 245. Früh, Terror und Selbstmord in Wien nach der Annexion Österreichs, 220. G. E. R. Gedye, Fallen Bastions. The Central European Tragedy (London 61939) 54.
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Zeitung war voll mit Berichten über sogenannte „Familien- und Liebestragödien“. Mit diesen Begriffen wurden Femi- und Infantizide verharmlost, die sich entweder im familiären Kontext oder zwischen (ehemaligen) Liebespaaren ereignet hatten. Die Medien codierten diese Fälle als privat und als ultima ratio eines starken männlichen Subjekts.¹²²³ Gleichzeitig war eine solche Kompromisslosigkeit fest verankert als ein Charakteristikum von Mörder*innen und Suizident*innen. Frauen* wurden in erster Linie als Opfer, das etwas falsch gemacht hatte, präsentiert und gegenüber dem Täter nachgeordnet. Aus diesem Rahmen fielen insbesondere suizidale Mütter, die ihre eigenen Kinder ermordet hatten. Aufgrund der exzeptionellen weiblichen Täterschaft wurden diese Fälle medial intensiv beleuchtet und ihr Handeln meist als krankhaft, unnachvollziehbar und tragisch charakterisiert. Dies zeigte sich auch beim Fall der 34-jährigen Anna Streicher aus Oberösterreich, die sich und ihr Kind in einen hochwasserführenden Bach gestürzt hatte.¹²²⁴ Über das Motiv spekulierte die Illustrierte Kronen-Zeitung, dass „ihr Annerls Vater eine schwere Kränkung zugefügt hatte.“¹²²⁵ Damit wurde ihr Handeln auf eine private und emotionale Ebene verschoben und gesellschaftliche Strukturen blieben ausgeblendet. So intensiv die Zeitung vor der NS-Machtergreifung über Lebensmüde berichtet hatte, so rasch ließ sie das Thema fahren. Bereits mit Herbst 1938 hatte sich das Medium auffallend zurückgezogen und den noch thematisierten Fällen schienen vor allem Motive aus dem persönlichen Lebensbereich zu Grunde zu liegen. Insbesondere die Gründe der finanziellen oder wirtschaftlichen Not wurden weitgehend ausgeklammert. Die favorisierten Motive ersteckten sich auf psychische Störungen, ‚Familienkonflikte‘, Unglücksfälle oder sogenannte Selbstjustiz. Dies zeigte sich auch an den gebrauchten Wörtern, da das Wort „Selbstmord“ zunehmend verschwand und durch vage Formulierungen wie „plötzlicher Tod“, „rätselhafter Tod“ und „Familientragödie“ ersetzt wurde.¹²²⁶ Ebenso hatten Beschreibungen wie „in den Tod gehen“, „Tod durch
Mordversuch und Selbstmord eines Verschmähten, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.663, 1. Februar 1938, 8. Liebestragödie in Rudolfsheim. Radrennfahrer tötet seine Geliebte und sich selbst, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg, 39, Nr. 13.642, 11. Jänner 1938, 6. Familientragödie in Pötzleinsdorf. Das Ende eines Trinkers, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.750, 30. April 1938, 8. Bluttat in Mödling. Universitäts-Fechtmeister erschießt seine Freundin und sich selbst, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.633, 1. Jänner 1938, 5. Ein Kind kämpft um sein Leben, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.652, 21. Jänner 1938, 9. Ein Kind kämpft um sein Leben, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.652, 21. Jänner 1938, 9. Rätselhafter Tod eines Landwirtes in Burgenland, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 39, Nr. 13.762, 12. Mai 1938, 7. Plötzlicher Tod einer Linzer Schauspielerin, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 40, Nr. 13.995, 3. Jänner 1939, 9.
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Leuchtgas“ oder „in die Donau gesprungen“ Konjunktur.¹²²⁷ Besonders die vielen Leuchtgasvergiftungen wurden ausschließlich als Unfall bezeichnet, was nur Raum für regelmäßige Aufrufe ließ, doch vorsichtiger mit Leuchtgas zu hantieren.
Suizidales Verhalten innerhalb der imaginierten NS-Volksgemeinschaft Nachfolgend wird am Beispiel von Anton Rintelen, einem Politiker und NS-Anhänger, untersucht, wie sich suizidales Handeln auf die Karriere auswirken konnte. Gleichzeitig wird rekonstruiert, wie er seinen Suizidversuch zu rationalisieren suchte. Allen nihilistischen Tendenzen zu trotz galt suizidales Verhalten meist als feig und degenerativ. Auch die Illustrierte Kronen-Zeitung orientierte sich an diesem Muster und meinte, dass jene, die suizidale Ideen äußerten, keineswegs gefährdet waren.¹²²⁸ Vielmehr hätte man es mit unsozialem Drückebergertum zu tun. Daher empfahl sie, suizidale Personen in die Schranken zu weisen und sich von ihnen zu distanzieren. Für den politisch ambitionierten Anton Rintelen sollte sich diese Interpretation noch als problematisch erweisen. Der ehemalige Landeshauptmann hatte sowohl Kontakte zur Heimwehr als auch zur nationalsozialistischen Bewegung gepflegt. Letztere proklamierte ihn im Zuge des Juli-Putsches 1934 als neuen Regierungschef. Nachdem der Coup gescheitert war und ein polizeilicher Zugriff drohte, richtete er seine Schusswaffe gegen sich selbst. Er überlebte und wurde im anhängigen Putsch-Prozess verurteilt, bevor er durch die Generalamnestie für ‚verfolgte‘ illegale Nazis 1938 freikam. Nichtsdestotrotz hatte er das Vertrauen des nationalsozialistischen Führungspersonals verloren. Um dieses wiederherzustellen, publizierte er im Jahr 1941 seine Erinnerungen an Österreichs Weg in den Nationalsozialismus. ¹²²⁹ Er präsentierte sich in diesem Werk als früher und überzeugter Nationalsozialist. Die Einhegung seines Suizidversuchs sollte sich dabei als schwierig erweisen. Auch wenn das Regime ‚dienliche‘ suizidale Handlungen propagandistisch ausschlachtete, so waren die
Vom Geliebten der Gattin im Schlaf erschlagen. Aufdeckung eines bestialischen Mordes nach zwei Jahren, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 40, Nr. 14.163, 24. Juni 1939, 7. Tod durch Leuchtgas, Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 40, Nr. 14.019, 27. Jänner 1939, 10. Heinz Scharpf, Der Lebensüberdrüssige, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 170, 18. März 1945, 7. Anton Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg. Versailles. Berchtesgaden. Grossdeutschland (1. und 2. Auflage, München 1941).
Suizidales Verhalten innerhalb der imaginierten NS-Volksgemeinschaft
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Grenzen dafür eng. Das musste auch Rintelen am eigenen Leib erfahren, da sich gerade sein Überleben als veritables Problem erweisen sollte. Suizidversuche galten als unernstes, mitunter gar theatralisches Verhalten und liefen dem Ideal eines starken, präzise planenden und zielfokussierten männlichen Subjektes entgegen.¹²³⁰ Diese weiblichen Konnotationen kollidierten daher zwangsläufig mit dem Ideal eines führungsstarken und zuverlässigen Nationalsozialisten. Um seinen Suizidversuch zu rationalisieren, präsentierte er ihn als Reflexhandlung. Kongruent argumentierte er: „Einer derartigen überlegten Handlung (Suizidversuch, Anm. MH) stand meine zutiefst erschütterte und auch meine religiöse Einstellung entgegen, wie sie in meiner Weltanschauung verankert ist.“¹²³¹ Zudem präsentierte er sich als Opfer von Schuschnigg, hatte ihn dieser doch trotz seines freiwilligen Erscheinens im Heeresministerium verhaften wollen. Er behauptete auch, dass ihn das Scheitern des Putsches zutiefst erschütterte und er sich nur daher zu einer suizidalen Handlung hinreißen ließ.¹²³² Auch die Spekulation der Gerichtsärzte, dass Rintelen aus „einer augenblicklichen Bewußtseinstörung“¹²³³ heraus suizidal gehandelt hatte, erwies sich als ungünstig. Wie soll oder kann man sich für eine politische Karriere empfehlen, wenn Rationalität und Zurechnungsfähigkeit öffentlich in Frage gestellt wurden? Daher beharrte Rintelen in seinen Lebenserinnerungen vehement darauf, dass hier eine Fehleinschätzung vorlag: „Ich habe eine solche nicht gehabt! Daß der Schuß eine automatische Folge meiner grenzenlosen Empörung war, nicht aber einer Tötungsabsicht entsprach, habe ich nicht nur während des Prozesses immer wieder festgestellt …“¹²³⁴ Obwohl Rintelen mehrfach betonte, dass er dem Nationalsozialismus den Weg geebnet hatte, misslang es ihm, das schädliche Narrativ aus affektivem und mutlosem Handeln aufzulösen. Derart blieb auch seine Transgression in weiblich codiertes Terrain aufrecht, die verhinderte, dass ihm – trotz all seiner Anbiederungen – eine weitere Karriere gelang.
Vor diesem Hintergrund wurde sogar debattiert, die versuchte Selbsttötung wieder zu pönalisieren. Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids von 18. bis zum 20. Jahrhundert (Weimar 2001) 352. Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg, 313. Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg, 312. Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg, 314. Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg, 314.
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Suizidalität in Familienkontext Für Frauen*zeitschriften, die liberalen, (sozial)demokratischen oder kommunistischen Ideen verpflichtet waren, gab es im Nationalsozialismus keinen Platz. Hauptsächlich NS-Organisationen und kirchennahe Institutionen konnten noch legal publizieren.¹²³⁵ Vor diesem Hintergrund boten sich die Völkische Frauenzeitung und das katholische Elisabeth-Blatt als Analysematerial an. Die von der NS-Frauenschaft ¹²³⁶ herausgegebene Völkische Frauenzeitung ¹²³⁷ berichtete nur sporadisch über suizidales Verhalten, war doch ein solches Handeln abseits propagandistisch verwertbarer Fälle verpönt. Dies zeigte sich auch in der Völkischen Frauenzeitung, wenn dort zum Durchhalten aufgefordert wurde: „Man kann es verstehen, wenn ein Mensch, ja gerade ein Mensch, der die Notzeit tapfer trug, einmal die Kraft verliert und zusammensackt. Aber das darf nur für eine Weile sein. Dann muß der alte Mut wieder aufstehen, jener Mut, der mit Nietzsche sagt: ‚Was mich nicht umbringt, macht mich stärker‘“.¹²³⁸
Zur ambivalenten, überwiegend affirmativen Rolle der katholischen Kirchenleitung in Österreich siehe: Walter Sauer, Loyalität, Konkurrenz oder Widerstand? Nationalsozialistische Kultuspolitik und kirchliche Reaktionen in Österreich 1938 – 1945. In: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2000) 159 – 187. Nichtsdestotrotz gab es auch Seelsorger, Mitglieder von Ordensgemeinschaften und Gläubige, die dem Nationalsozialismus aktiv entgegentraten. Hier ist etwa die große konfessionelle Widerstandsgruppe um Roman Karl Scholz zu erwähnen. Johannes Schönner, Katholikinnen und Katholiken in Widerstand und Verfolgung, Dokumentationsarchiv Österreichischer Widerstand, Namentliche Erfassung der Opfer politischer Verfolgung 1938 – 1945, online unter , 30.7. 2017. Die NS-Frauenschaft wurde von Gertrud Scholtz-Klink geleitet. Ihr zur Seite standen 25.000 vollzeitbeschäftigte Frauen*, die u. a. die acht Millionen Freiwilligen koordinierten und überwachten. Jack G. Morrison, Ravensbrück. Das Leben in einem Konzentrationslager für Frauen 1939 – 1945 (Zürich 2002) 22– 23. Die Völkische Frauenzeitung wurde durch die NS-Frauenschaft verbreitet und stellte ihr Organ dar. Das Medium war 1933 von Fritz Overdick gegründet worden. Als Hauptschriftleiterin fungierte Hilde Wahn. Dem kulturpolitischen und unterhaltsamen Teil des Blattes stand Ernst Voege vor. Die Anzeigen wurden von Franz Kratz betreut. Die Durchschnittsauflage der Völkischen Frauenzeitung lag im vierten Quartal 1938 bei 86.000 Stück. Jede Woche wurde eine neue Ausgabe erstellt, welche um 15 Pfennig auch im ehemaligen Österreich erworben werden konnte. Das Blatt wurde vom Düsseldorfer Völkischen Verlag herausgegeben, welcher auch die Völkische Zeitung sowie die Braune Post publizierte. Cläre Esser-Röttgen, Im Schatten der Vergangenheit. In: Völkische Frauenzeitung 32/7 (1939) keine Paginierung bzw. 1– 2, hier 2.
Suizidalität in Familienkontext
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Diese Argumentation ist auch metaphernanalytisch sehr aufschlussreich. Folgende konzeptuelle Metaphern konnten identifiziert werden: DURCHHALTEN UND ÜBERWINDUNG SIND OBEN (die Notzeit tapfer tragen, muss der alten Mut wieder aufstehen), SUIZIDALE TENDENZEN SIND UNTEN (zusammensacken), LEBEN IST EINE REISE (darf nur für eine Weile sein), LEBEN IST KAMPF (Was mich nicht umbringt, macht mich stärker) und ZUSTÄNDE SIND GEFÄSSE (die Kraft verlieren). Bezeichnend für diese Metaphern war ihre starke emotionale Qualität und das von ihnen beschriebene Auf und Ab. Solcherart normalisierten sie Krisen, die es nicht nur um seiner selbst willen, sondern auch als Dienst an der imaginierten Volkgemeinschaft mittels konzentrierter Anstrengung zu überwinden galt. Wenig überraschend folgte die Völkische Frauenzeitung konsequent den ideologischen Vorgaben des NS-Regimes. Dies zeigte sich auch bei Geschlechterthemen, die heterosexistisch und -normal verhandelt wurden. Einzig der eheliche Rahmen wurde aufgebrochen, indem Sexualität auch ohne Trauschein stattfinden konnten. Trotzdem propagierte die Zeitschrift weiterhin die patriarchal organisierte Ehe. Das Regime selbst agierte in Geschlechterfragen ambivalent und so wurde einerseits die Nachordnung alles Weiblichen verfestigt, andererseits aber auch nivelliert.¹²³⁹ Während sich das Konzept der Frauen*arbeit als flexibel erweisen sollte, blieb jenes der chancengleichen politischen Partizipation und Gestaltung davon ausgenommen. Auch die vermutlich wichtigste weibliche Einflussgröße, die NS-Frauenschaftsleiterin Gertud Scholtz-Klink, musste sich letztendlich doch den männlichen Parteigenossen unterordnen.¹²⁴⁰ Und damit blieb der Nationalsozialismus bis zu seinem Ende, was er von Anfang an gewesen war: ein männlich dominiertes System von und für leistungsfähige Heterosexuelle, die „rassischen“ Kriterien genügten.¹²⁴¹ Aufgrund der skizzierten Flexibilisierung ließ
Susanne Lanwerd, Irene Stoehr, Frauen- und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven. In: Gehmacher, Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus, 57– 58. Siehe dazu auch: Ingrid Bauer, Eine frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektivierung des Nationalsozialismus. In: Emmerich Tálos, Ernst Hanisch, Wolfgang Neugebauer, Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch (Wien 2000) 409 – 446. Nichtsdestotrotz verfügte sie über Macht und Handlungsspielräume, die insbesondere auf einer (re)präsentativen und symbolischen Ebene lagen. Christiane Berger, Die „Reichsfrauenführerin“ Gertrud Scholtz-Klink. Zur Wirkung einer nationalsozialistischen Karriere in Verlauf, Retrospektive und Gegenwart (Dissertation Universität Hamburg, Hamburg 2005) 149 – 163. Massimiliano Livi, Gertrud Scholtz-Klink. Die Reichsfrauenführerin. Politische Handlungsräume und Identitätsprobleme der Frauen im Nationalsozialismus am Beispiel der „Führerin aller deutschen Frauen“ (Politische Soziologie 20, Münster u. a. 2005). Morrison, Ravensbrück, 17– 19.
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sich weibliche Berufstätigkeit durchaus mit fürsorglicher Mutterschaft vereinbaren. Das zeigte sich auch in der Völkischen Frauenzeitung, die etwa eine verwitwete Mutter mit fünf Kindern zur Arbeitsheldin stilisierte. Und auch ihr im Ersten Weltkrieg gefallener Mann wurde posthum gewürdigt.¹²⁴² Die nur zögerlich unterstützte Witwe klagte an: „Ich war das alles schließlich so leid. Einmal war ich fast so weit, daß ich mit mir und den Kindern einfach Schluß machen wollte … Aber ich fing mich wieder, und eines Tages nahm ich kurz entschlossen meine Schneiderei wieder auf.“¹²⁴³ Offensichtlich reüssierte sie als Geschäftsfrau und konnte so ihre Familie durchbringen. Selbst ein neuer Ehemann ließ sich finden und ein Stammhalter wurde geboren. Anhand des Textes zeigt sich, dass suizidale Krisen durch Willen und Beharrlichkeit überwunden werden sollten. Suizidales Verhalten schien nicht in Frage zu kommen. Es waren der unternehmerische Elan und die Arbeit am Selbst, welche den Ausweg aus der Notsituation gewiesen hatten. Im März 1938 frohlockte Joseph Goebbels, dass sich die Suizidgefährdung verschob, womit er auf die vielen Selbsttötungen unter den österreichischen NSVerfolgten anspielte. Allerdings verschwand damit suizidales Verhalten keineswegs von der volksgemeinschaftlichen Bühne.¹²⁴⁴ Dies war vermutlich auch der Grund, warum Anzeigen für nervenstärkende Mittel und Arzneien weiterhin geschalten werden konnten. Dies gilt auch für die Völkische Frauenzeitung, in welcher 1939 der „echte Naus’s Herz- und Nerventee Marke ‚Alpspitz‘ für gesunde Nerven“ angepriesen wurde.¹²⁴⁵ Zwei Ausgaben später wurde den Leser*innen die Einnahme von „Quick mit Lezithin für Herz und Nerven“ nahegelegt.¹²⁴⁶ Nicht nur ihre eigene Gesundheit würde davon profitieren, sondern auch die Beziehung zum Partner: „Das liebt der Mann wenn die Frau trotz Hausarbeit und Kinderlärm abends noch froh und guter Laune ist. Nervosität, Abspannung kennt sie nicht …“¹²⁴⁷ Wie bereits erwähnt, stellte Suizidalität ein nachrangiges Thema für die Völkische Frauenzeitschrift dar. Sie bearbeitete keine aktuellen Fälle, was für ein
Das ‚unbedankte Opfer‘ der Kriegsversehrten des Ersten Weltkriegs und ihrer Angehörigen nahm einen zentralen Platz in der NS-Propaganda ein. Nils Löffelbein, Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus (Essen 2013). Munni Herbst, So ist meine Mutter …. In: Völkische Frauenzeitung 51/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 1 Goeschel, Suicide in Nazi Germany, 100 – 101. Anzeige „Nerven, Herz u. Schlaf“. In: Völkische Frauenzeitung 2/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 1. Anzeige „Kurz vorm Ziel“. In: Völkische Frauenzeitung 2/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 12. Anzeige „Das liebt der Mann“. In: Völkische Frauenzeitung 4/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 2.
Suizidalität in Familienkontext
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wöchentlich erscheinendes Medium durchaus möglich gewesen wäre. Das Gros der suizidbezogenen Texte trat in einem pseudo-realistischen Stil auf, die entweder auf die Zwischenkriegszeit oder die großen Veränderungen seit des Systemwechsels verwiesen.¹²⁴⁸ Solcherart bildeten sie eine Kontrastfolie zur Vergangenheit: früher Leid und Elend, nun deren Überwindung durch den Nationalsozialismus. Damit schien endlich die lange Krise gebannt, die durch weiße, heterosexuelle Familienväter aus der Arbeiter*innenschaft symbolisiert worden war. Auch die Erzählung Um Mitternacht bediente sich dieses Narrativs: „Keiner hat ihn gekannt, ihn unseren Volksgenossen, der irgendwo in dem hohen Haus an der reklamehellen Straße in seiner kalten Stube aus seiner bitteren Not keinen Ausweg mehr wußte und deshalb sein Leben fortwerfen wollte. Eine Frau weint in der Haustür“.¹²⁴⁹
Es folgte ein harter Schnitt und das Publikum wurde aufgeklärt, dass sich diese Szene bereits 1934 ereignet hatte. Jetzt sei die Situation ganz anders, da man nun überall Spenden einwarb. Und so würde sich jetzt die Gelegenheit bieten, Bedürftigen zu helfen und so die Fehler der Vergangenheit gut zu machen: „Gebt für die Winterhilfe und macht heute durch euer Opfer wieder gut, was dereinst von euch versäumt wurde, als ihr euer Herz vom Führer noch nicht hattet aufschließen lassen“.¹²⁵⁰ Das Kollektivsymbol des (offenen bzw. geschlossenen) Herzens sollte illustrieren, dass der Nationalsozialismus die Wendung zum Guten gebracht hatte.¹²⁵¹ Der Text verknüpfte aber nicht nur wirtschaftliche Nöte mit der Zwi-
Martin Beheim-Schwarzbach, Die Vergeltung. In: Völkische Frauenzeitung 11/7 (1939) keine Paginierung bzw. 10. Hans Watzlik, Stilles Gericht. In: Völkische Frauenzeitung 15/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 2. Hildegard Burwick, Um Mitternacht. In: Völkische Frauenzeitung 4/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 2. Hildegard Burwick, Um Mitternacht. In: Völkische Frauenzeitung 4/7 (1939) ohne Paginierung bzw. 2. Das bereits 1933 eröffnete und medial intensiv beworbene Winterhilfswerk des Deutschen Volkes diente einer Reihe von Zwecken. Es sollte dem vielfach propagierten Sozialismus der Tat ein reales Antlitz verleihen und bildete einen wichtigen Indikator für die erfolgreiche Errichtung der Volksgemeinschaft. Jede Person sollte spenden und so dem Wohlergehen des Volkes – weniger der Einzelperson – dienen. Spendenunwillige gerieten unter Verdacht, sich von der Volksgemeinschaft abzugrenzen und wurden auch öffentlich bloßgestellt.Vor diesem Hintergrund ist der Charakter der Freiwilligkeit in Frage zu stellen, insbesondere, da die Spendensammler*innen immer auch den verlängerten Arm des NS-Regimes darstellten. Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich. In: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Köln u. a. 2008) 161– 232. Peter Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus
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schenkriegszeit, sondern auch fehlende Empathie, soziale Kälte und Vereinzelung. Offensichtlich wurde selbst im Nationalsozialismus Vulnerabilität multikonditional gedacht. Einem ganz ähnlichen Muster folgte eine in das Jahr 1928 zurückblickende Erzählung.¹²⁵² Dem Text zufolge erfuhr eine postpartale Frau noch in der Klinik vom Suizidversuch ihres Mannes. Als Ursache wurde das schlechtgehende Familiengeschäft angeführt. Die Erzählung schloss mit düsteren Gedanken der Frau, die eine weitere suizidale Handlung ihres Mannes befürchtete. Mithilfe der Erzählung sollte demonstriert werden, dass durch den Nationalsozialismus die schlechten Zeiten überwunden worden waren und somit auch der Suizidalität der Nährboden entzogen wurde. Typisch für Erzählungen wie diese war, dass sie suizidale Familienväter fokussierten. Durch die wirtschaftlich schwierige Zwischenkriegszeit waren sie unverschuldet in Not gekommen. Daher genügten sie selbstverständlich auch „rassischen“ Merkmalen, tranken nicht und mieden sexuelle Transgressionen. Sie waren ‚nur‘ suizidal geworden, weil sie ihre Familien nicht mehr versorgen konnten. Ungleich weniger Aufmerksamkeit erhielten ihre Partnerinnen, diese blieben sekundär und litten still als emotionale Ressource im Hintergrund. Das Elisabeth-Blatt ¹²⁵³ räumte NS-Gedankengut¹²⁵⁴ deutlich weniger Platz ein, da weiterhin die Vermittlung von katholischen Werten im Zentrum stand. Egal ob bei Fragen der Haushaltsführung oder der Kindererziehung, die kirchliche Familien- und Ehemoral bildete stets den Referenzpunkt. Auch die zahlreichen Fortsetzungsromane und Erzählungen waren diesem Prinzip verpflichtet, wo-
(Wiesbaden 1999). Eckhard Hansen, Wohlfahrt im NS-Staat. Motivation, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches (Augsburg 1991). Marianne Schirm, Es war im Mai des Jahres 1928 … In: Völkische Frauenzeitung 21/7 (1939) keine Paginierung bzw. 1– 2, hier 1. Der Gründer und Herausgeber des Blattes, der Kanonikus Friedrich Pesendorfer (1867– 1935), war mit der Jänner-Ausgabe 1930 von seiner Herausgeber-Funktion zurückgetreten. Die Leser*innen-Zahl dürfte 1938 bei rund 15.000 bis 20.000 gelegen haben. Der regelmäßige Autor Heinrich Mayrhuber lobte, dass der Leser*innenkreis nicht nur aus Frauen* bestand. Laut ihm lasen auch junge Männer* die Zeitschrift. Heinrich Mayrhuber, Nimm und lies! In: Elisabeth-Blatt 33/4 (1938) 54– 58, hier 54. Wie bereits thematisiert, agierte die Leitung der katholischen Kirche eher affirmativ und vorsichtig gegenüber dem nationalsozialistischen Regime. Diese Appeasement-Politik und die fehlende Unterstützung für widerständige Katholik*innen wurde erst nach langem Schweigen problematisiert. David Cymet, History vs. Apologetics: The Holocaust, the Third Reich, and the Catholic Church (Lanham 2010). John Pollard, The Papacy in the Age of Totalitarianism 1914– 1958 (Oxford History of the Christian Church, Oxford 2014). Eine Reihe von Priestern übte aus privatem Antrieb Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime. Ertappte Seelsorger wurden zentral im Konzentrationslager Dachau inhaftiert und zwar im sogenannten Pfarrerblock. Guillaume Zeller, The Priest Barracks. Dachau 1938 – 1945 (San Francisco 2017).
Suizidalität in Familienkontext
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durch die heteronormale und -sexistische Geschlechts- und Sexualordnung umfassend bestätigt wurde. Das Blatt tabuisierte geschlechtliches Begehren und Sexualität allgemein und daher wurden diese Themen nicht einmal in Zusammenhang mit Verlobung und Heirat angesprochen. Eine ähnliche Distanz pflegte man gegenüber suizidalem Verhalten. Die Zeitschrift wollte ihre Leser*innen vor allem erziehen und daher betonte sie regelmäßig den Wert guter Bücher und schlug passende Lektüre vor.¹²⁵⁵ Das Elisabeth-Blatt erlebte die NS-Machtergreifung personell unbehelligt, nichtsdestotrotz war die Redaktion bemüht, sich das Wohlwollen der neuen Machthaber zu sichern.¹²⁵⁶ Dazu bediente man sich auch antisemitischer Inhalte und warnte, dass Jüd*innen jede Schwäche ausnützten: „D u r c h T r u n k s u c h t s i n d g a n z e V ö l k e r u n t e r d i e H e r r s c h a f t d e s J u d e n t u m s g e k o m m e n“.¹²⁵⁷ Vulnerabilität wurde primär über Ratschläge, wie sich nervöse Leiden mildern lassen, und über Anzeigen für nervenstärkende Mittel bespielt. Hinzukam häufig die Feststellung, dass auch Jesus leiden musste und dass einem das Joch näher zu ihm bringen könne. Damit zusammenhängend wurde von den Leser*innen gefordert, christliches Mitgefühl und Trost zu spenden. Diese sorgenden und mitfühlenden Qualitäten schrieb sich auch der Linzer Pfarrer und Autor Heinrich Mayrhuber zu: „Wenn ich da lese, daß so viele Trost finden, daß ich manchen in trüben und traurigen Stunden Sonne gebracht, so ist mir das ein Ansporn, es mit dem Schreiben erst recht gewissenhaft zu nehmen.“¹²⁵⁸ Derart konnte er sich seiner journalistischen Mühen und seines verfeinerten Daseins vergewissern. Die Gewährung von tröstenden Worten und christlicher Caritas sind daher auch als Technologien des Selbst zu verstehen. Aufschlussreich ist seine Argumentation auch wegen des mächtigen Kollektivsymbols der Sonne, die für ein glückendes Leben steht, während ihre Absenz das Misslingen illustriert. Gleichzeitig weist eine solche Metaphorik immer auch auf Unbeeinflussbares hin. Die Frage der Schicksalshaftigkeit beschäftigte das Blatt noch an anderer Stelle, und zwar im Kontext von kindlicher Nervosität und wodurch diese hervorgerufen wurde. War sie angeboren, oder doch anerzogen? Letzteres berührte die für das Blatt so wichtige Frage der Erziehung, die wiederum über die Nervosität an das Suizidthema anknüpfte. Im Blatt wurde die These vertreten, dass die wenigsten Kinder von Geburt an zu nervösem Verhalten
Heinrich Mayrhuber, Nimm und lies! In: Elisabeth-Blatt 33/4 (1938) 54– 58, hier 54. Die Titelseite der Mai-Ausgabe 1938 wurde vollkommen Adolf Hitler gewidmet. Ein großes Foto des Diktators wurde begleitet von folgenden Grußworten: „Die Frauen Österreichs grüßen den großen Sohn der Heimat und bitten Gott, daß er ihm alles lohne, was er an Gutem und Wertvollem seinem Volke schenkt.“ Titelseite Mai 1938, Elisabeth-Blatt, 33/5 (1938) 1. F. Rochhart, Was jedermann vom Alkohol wissen muß. In: Elisabeth-Blatt 33/3 (1938) 36. Mayrhuber, Nimm und lies! 56.
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Kapitel 5: Untergänge
neigten und dass es sich vielmehr um einen Erziehungsfehler handeln würde. Daher müssten sich die Eltern vor zu viel Zuwendung hüten: „D a s n e r v ö s e K i n d ist ein solches allzu umsorgtes kleines Wesen … Bei den allermeisten erst nervös gewordenen Kindern haben die Eltern viel Schuld, manchmal sogar nur durch ein Übermaß der Pflege, Aufmerksamkeit und Beschäftigung“.¹²⁵⁹ Hier zeigen sich deutliche Bezüge zu den populären Erziehungsratgebern von Johanna Harrer.¹²⁶⁰ Die überzeugte NSDAP-Angehörige und Lungenfachärztin warnte davor, sich Kindern empathisch zuzuwenden, da so nur Tyrann*innen herangezogen würden.¹²⁶¹ Sie empfahl, Kinder zu ignorieren und sie so abzuhärten und lebenstauglich zu machen. Ihre hochproblematischen Ratgeber hatten weit über den Nationalsozialismus hinaus Erfolg und erlebten zahlreiche Neuauflagen.¹²⁶²
Wissenschaftliche Anbiederungen Nachfolgend wird untersucht, wie suizidales Verhalten im wissenschaftlichen Spezialdiskurs verhandelt wurde. Welche Narrative wurden beibehalten, welche modifiziert und welche neu eingeführt? Das zentrale Quellenmaterial bildeten fünf Doktorarbeiten, die an den medizinischen Fakultäten in Wien, Innsbruck und Berlin eingereicht worden waren. Wissenschaftliche Publikationen boten sich als Karrierevehikel an, daher suchte manche (angehende) medizinische Kraft sich so, als verlässlich zu empfehlen.¹²⁶³ Demgegenüber verzichteten etablierte Wissenschaftler wie Hans-Walter Gruhle und Aloys Greither auf eine Anbiederung ans Regime.¹²⁶⁴ Erster setzte die anerkannte sozialstatistische Erforschung suizidalen Verhaltens fort, während zweiter 1939 noch einen Vorstoß in die psychoanalyti-
Nicht krank, aber Sorgenkind. In: Elisabeth-Blatt 33/5 (1938) 72– 75, hier 72– 74. Johanna Harrer, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (München 1934). Johanna Harrer, Unsere kleinen Kinder (München 1936). Johanna Harrer, „Mutter, erzähl’ von Adolf Hitler!“ Ein Buch zum Vorlesen, Nacherzählen und Selbstlesen für kleinere und größere Kinder (München 1939). Rose Ahlheim, Johanna Haarer/Gertrud Haarer. Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter (Hannover 2012). Einzig die offenen Bezüge zum Nationalsozialismus wurden nach 1945 entfernt. Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert (München 2009) 85 – 91. Ute Benz, „Mutter erzähl von Adolf Hitler!“ Demagogie im Kinderzimmer. In: Wolfgang Benz (Hg.),Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur (Berlin 2010) 161– 182. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 351. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 351.
Wissenschaftliche Anbiederungen
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sche Richtung wagte. Wenig überraschend ließ sich die von Enrico Morselli vorbereitete Position, dass vor allem die Schwächeren im Daseinskampf scheiterten, gut mit nationalsozialistischem Gedankengut vereinbaren. Obwohl die These einer positiven Selektion weit verbreitet war, blieb sie kritisierbar. Und so war es (weiterhin) sagbar, dass suizidale Personen an Neurosen litten und dass diese weder organisch begründet noch ererbt seien.¹²⁶⁵ Wie bereits erwähnt, stand im Nationalsozialismus das Kollektiv an erster Stelle, in welches sich das Individuum möglichst produktiv einzufügen hatte. Daher wurden Menschen, die das nicht konnten (oder wollten), als Last betrachtet und zum Ziel der Euthanasie, oder zynisch formuliert, war es zu ihrer Pflicht geworden, zu sterben. Genau das durften die Mitglieder der imaginierten Volksgemeinschaft nicht. Sie mussten ihre Kräfte auf die Staatsziele richten und ‚egoistisches‘ suizidales Handeln vermeiden, weshalb das Regime überlegte, suizidales Verhalten wieder zu pönalisieren.¹²⁶⁶ Neue produktive Kräfte waren erwünscht und derart frohlockte der Humanmediziner Hans Kallenbach, dass die „Schülerselbstmorde“ verschwunden seien. In seiner Begründung stellte er genau jene Verknüpfung her, welche die Wiener Psychoanalytische Vereinigung sorgfältig vermieden hatte, und zwar jene einer besonderen jüdischen Anfälligkeit.¹²⁶⁷ Als neurotisierende Einflüsse benannte er das enge Familienleben, die Beschneidung, die Prügelpädagogik an jüdischen Schulen und einen generellen Minderwertigkeitskomplex.¹²⁶⁸ Sein Kollege, Wolfgang Damus, glaubte zu wissen, dass jüdische Jugendliche frühreif seien und mit der Pubertät schlecht zurechtkommen.¹²⁶⁹ Zudem würden sie zu übermäßiger Onanie sowie zu homosexuellen und perversen Handlungen neigen.¹²⁷⁰ Bereits in den 1920er-Jahren hatte der streitbare katholische Publizist Hans Rost behauptet, dass Jüd*innen zunehmend unter „Degeneration in Rasse und Religion“ litten.¹²⁷¹ In seinem antisemitischen Eifer attackierte er jüdische Frauen* besonders scharf. Er warf ihnen „Genußsucht und Sinnenkitzel“ vor und dass sie „der häufigen Mutterschaft aus dem Wege gehen, einen tollen Modeluxus verfallen sind und den
Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 355 – 56. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 352. Hans Kallenbach, Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen (Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität Wien, Wien 1942) 3 – 4. Kallenbach, Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen, 3 – 4. Wolfgang Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden (Inaugural-Dissertation Med. Fak. der Univ. Wien, Wien 1942) 54. Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden, 54. Hans Rost, Bibliographie des Selbstmords (Augsburg 1927) 32.
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Jahrtausendealten Ruhm der kinderreichen jüdischen Mutter ins vollkommene Gegenteil umgekehrt haben“.¹²⁷² Rost bediente sich in seiner Abwertung nicht nur sexistischer und antisemitischer Elemente, sondern arbeitete auch mit klassenbezogenen und psychopathologischen Momenten. Diese reicherte er noch um die älteren Thesen des Rassenhygienikers Robert Stigler an. Der frühe Nationalsozialist hatte sich darauf verwendet, jüdische Männer* zu effeminieren und weibliche Jüd*innen zu virilisieren: „Feministische Bestrebungen finden besonders häufig bei der jüdischen Intelligenz lauten Widerhall. Weltschmerzliche Überempfindlichkeit bei männlichen Juden steht häufig unweiblichen Eigenschaften und hemmungsloses Streben nach persönlicher Geltung im öffentlichen Leben bei Jüdinnen gegenüber.“¹²⁷³
Die Beunruhigung über den Verlust von heterosexistischen und -normalen ‚Wahrheiten‘ lässt sich auch bei Rost nachvollziehen. Rückläufige Fertilität, reformierte Familienstrukturen und vermehrte Geschlechtskrankheiten, all das schien ihm eine allgemeine jüdische Degeneration zu indizieren. Dahingehend wähnte er säkularisierte Jüd*innen besonders von psychischen Störungen und suizidalen Impulsen betroffen, die unerhört neu seien und im vollkommenen Gegensatz zur früheren jüdischen Resilienz stünden.¹²⁷⁴ Das antisemitische Narrativ einer kulturpathologischen Entwicklung wurde auch von der Ärztin Julie Dorothea Wessinger aufgegriffen, die als Gründe die Wirtschaftskrise sowie die bildungsaffine, aufgeklärte und säkularisierte Lebensweise benannte.¹²⁷⁵ Laut Wessinger litten auch Protestant*innen unter ihrem hohen Bildungsstandard, während die katholischen Gläubigen von der Ohrenbeichte profitierten und so kaum gefährdet wären.¹²⁷⁶ Analog zu Rost attackierte sie ebenso jüdische Frauen* und behauptete, dass diese besonders suizidgefährdet seien und vor allem Liebeskummer kaum verwinden könnten.¹²⁷⁷ Insgesamt wähnte sie Frauen* anfällig
Rost, Bibliographie des Selbstmords, 32. Robert Stigler, Die rassenphysiologische Bedeutung der sekundären Geschlechtscharaktere (Monatsversammlung am 12. November 1919, Sitzungsberichte der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, redigiert von Leo Bouchal, Jahrgang 1919 – 1920, Wien 1920). In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (L. Band, Der dritten Folge XX. Band, Wien 1920) 6 – 9, hier 7. Rost, Bibliographie des Selbstmords, 32. Julie Dorothea Wessinger, Ueber den Selbstmord bei Frauen in den ersten zehn Jahren nach dem Kriege (Inaugural-Dissertation Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1933) 18. Wessinger, Ueber den Selbstmord bei Frauen in den ersten zehn Jahren nach dem Kriege, 16. Wessinger, Ueber den Selbstmord bei Frauen in den ersten zehn Jahren nach dem Kriege, 19.
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für psychische Störungen und insinuierte, dass die Hälfte aller weiblichen Suzident*innen unter einer neurologischen oder psychischen Störung gelitten hatte. Indem sie weiblichen Subjekten eine dermaßen hohe Rate an derartigen Störungen attribuierte, pathologisierte sie diese. Gleichzeitig reduzierte sie damit das gesellschaftskritische Moment suizidalen Handelns und privilegierte das individuelle. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass emanzipierte und säkulare jüdische Frauen* als ein besonderes Feindbild aufgebaut wurden. Sie wurden über mehrere Achsen der Ungleichheit abgewertet, wobei besonders sexistische, antisemitische, rassistische, psychopathologische und klassenbasierte Demütigungen hervorzuheben sind. Ganz offensichtlich war der Suiziddiskurs spätestens seit den 1920er-Jahren substanziell mit antisemitischen Elementen amalgamiert.Vor diesem Hintergrund war das Feld für Hans Kallenbach und Dieter Bischoff längst bereitet, die beide 1942 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien mit Arbeiten über suizidales Geschehen dissertierten. Während Kallenbach Jüd*innen und Personen mit einem jüdischen Elternteil fokussierte, konzentrierte sich Bischoff auf den regionalen Aspekt der Stadt Wien. Letzterer positionierte sich affirmativ gegenüber der nationalsozialistischen Machtergreifung und notierte für das Jahr 1938 trocken, dass sich „391 Selbstmorde auf Grund politischer Vergehen“ ereigneten.¹²⁷⁸ Er lobte zudem, dass bereits 1933 ein Rückgang der suizidalen Handlungen eingesetzt hatte, der sich nun fortsetzte, und das, obwohl „2/3 des deutschgesinnten Volkes“ unter „Terror mit Parteiverbot, Konzentrationslager, Landesverweisungen und Todesstrafe“ zu leiden gehabt hätten.¹²⁷⁹ Letztendlich entschied er sich dazu, diesen ‚Belastungen‘ eine stärkende Wirkung zu attribuieren. Stärker beunruhigte ihn die gestiegene weibliche Vulnerabilität, die er heterosexistisch und -normal über die verstärkte Berufstätigkeit von Frauen* und den kriegsbedingten Mangel an Heiratschancen zu erklären wusste. Nichtsdestotrotz würden sie weiterhin vom ehelich-familiären Schutz und ihrer geringen Tatkraft profitieren.¹²⁸⁰ Ganz in sozialdarwinistischer Tradition behauptete er auch, dass der Suizid eine positiv selektorische Wirkung ausübte. Er argumentierte offen eugenisch, dass Suizident*innen „später sich und den Anderen als Psychopathen zur Last gefallen“ wären.¹²⁸¹ Auch die unterschiedliche Methodenpräferenz erklärte er heterosexistisch, indem er Frauen* Eitelkeit und den Wunsch nach einer schönen Leiche unterstellte.¹²⁸² Er meinte zudem erkannt zu haben, dass die statistisch
Dieter Bischoff, Der Selbstmord in Wien (Inaugural-Dissertation, Wien 1942) 7. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 7. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 9 – 10. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 14. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 29.
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dominanten Motive der unglücklichen Liebe und der Kränkung in der „empfindsameren weiblichen Psyche“ begründet lägen.¹²⁸³ Ähnliches reklamierte er für die Motive des Familienzwistes und des Irrsinns. Wenig überraschend blieb Bischoff bezüglich männlicher Suizidalität ebenso im heterosexistischen und -normalen Rahmen. Solcherart versuchte er hier, hegemoniale Männlichkeit über große berufliche Belastungen zu stabilisieren und von transgressiven Leben(sentwürfen) zu scheiden.¹²⁸⁴ Obwohl sich Bischoff umfänglich auf die Motivgruppenstatistik berief, bezeichnete er sie als unzuverlässig und daher sei ihre Einstellung im Jahr 1939 auch nicht allzu bedauerlich.¹²⁸⁵ Die gestiegene jüdische Vulnerabilität handelte er lapidar mit den „ungünstigen Entwicklungen des Jahres 1938“ ab.¹²⁸⁶ Allerdings sei dies nicht der Hauptgrund, vielmehr wirkten reduzierte Fertilität und der Zuzug in das suizidaffine städtische Milieu eskalierend. Zudem gäbe es unter Jüd*innen überproportional viele Familiensuizide und viele Bekenntnislose seien letztendlich jüdisch. Sein Kollege, Hans Kallenbach, griff noch tiefer in die antisemitische Theoriekiste, insinuierte er doch, dass Jüd*innen und Personen mit einem jüdischen Elternteil besonders unter „sexueller Applanation“ litten.¹²⁸⁷ Dieses Lehrgebäude war vom bereits erwähnten Rassentheoretiker Robert Stigler aufgestellt worden, der so versuchte, die Erosion von heterosexistischen und -normalen ‚Wahrheiten‘ zu theoretisieren.¹²⁸⁸ Dazu setzte er bei den dimorph beschriebenen Leibern an und reklamierte ein Verblassen der sekundären Geschlechtsmerkmale. Dies sei dann der Fall, wenn Menschen „rassehygienisch“ ungünstige Verbindungen eingingen.¹²⁸⁹ Vor allem Jüd*innen glaubte er davon betroffen, und so ließe sich auch problemlos erklären, warum sich jüdische Frauen emanzipiert und politisiert hätten.¹²⁹⁰ Kallenbach monierte in diesem Zusammenhang eine bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts andauernde jüdische „Nervenkrise“, welche aber
Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 35. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 33. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 33. Bischoff, Der Selbstmord in Wien, 18. Kallenbach, Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen, 9. Stigler, Die rassenphysiologische Bedeutung der sekundären Geschlechtsmerkmale, 6 – 9. Robert Stigler, Die rassenphysiologische Bedeutung der sexuellen Applanation (München 1934). Robert Stigler war bereits Anfang der 1930er Jahre der NSDAP beigetreten und konnte seine stagnierende Karriere ab 1938 revitalisieren. Auch seine nach 1945 erfolgte Zwangspensionierung tat seinem rasse(n)hygienischen Forschungsdrang keinen Abbruch. Simon Loidl, Kolonialpropaganda und -aktivitäten in Österreich-Ungarn 1885 – 1918 (Dissertation Universität Wien, Wien 2012) 211– 227. Stigler, Die rassenphysiologische Bedeutung der sekundären Geschlechtsmerkmale, 8. Stigler, Die rassenphysiologische Bedeutung der sekundären Geschlechtsmerkmale, 7.
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in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den wachsenden antisemitischen Angriffen stünde.¹²⁹¹ Jüdischen Frauen* unterstellte er zudem eine spezifische Neigung zu effekthaschenden, erpresserischen Handlungen: „Es ist sicherlich so, dass bei vielen Frauen, vielleicht speziell bei Jüdinnen, ein Selbstmordversuch mehr einer Drohung aus Hysterie oder einer Sensation für die Umwelt gleichkommt, als einer Frucht konsequenter Ueberlegungen.“¹²⁹² Beide Autoren initiierten intensive Grenzziehungsprozesse, um suizidale Jüd*innen aus dem Kollektiv auszuscheiden. Dazu pathologisierten sie diese und erklärten jüdisches Leben als degeneriert. Gleichzeitig fochten sie die Geschlechtsidentität und den vergeschlechtlichen Leib von Jüd*innen an und werteten sie darüber ab. Jüdische Frauen* attackierten sie zusätzlich über sexistische Platzanweisungen und versuchten, deren Agency über den weiblichen Geschlechtscharakter zu verknappen. Eine weitere medizinische Dissertation war 1942 von Wolfgang Damus an der Universität Wien eingereicht worden. Er beschäftigte sich darin explizit mit suizidalen Jüd*innen und arbeitete darauf hin, sich als überzeugten Antisemiten auszuweisen. Auch er bediente sich an den etablierten Thesen, dass suizidale Handlungen von Frauen* weniger ernst seien, sie bevorzugt zu langsam wirkenden Methoden greifen und eher gerettet werden (wollen).¹²⁹³ Bei den als mutlos verunglimpften jüdischen Männern* sei es ähnlich, da sie ebenso zu Gift und Theatralik neigten und sich öffentlich von Kirchtürmen und Fenstern herabstürzten.¹²⁹⁴ Damus effeminierte aber nicht nur jüdische Männlichkeit*, sondern bezweifelte auch die Weiblichkeit jüdischer Frauen*. Als besonders transgressiv bewertete er das liberale und sexuell freizügige „Modern Girl“¹²⁹⁵, welches er implizit als jüdisch auffasste.¹²⁹⁶ Allgemein wähnte er Jüd*innen von ihrer Libido dominiert, was sich in ihrer Neigung zu autoerotischen und homosexuellen Praktiken niederschlagen würde. Gemeinsam mit der typischen sexuellen Applanation sei so auch zu erklären, warum sie für psychische Störungen¹²⁹⁷ und suizidales Handeln anfällig seien.¹²⁹⁸
Kallenbach, Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen, 20. Kallenbach, Der Selbstmord bei Juden und Judenmischlingen, 23. Wolfgang Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden (Inaugural-Dissertation Medizinische Fakultät der Universität Wien, Wien 1942) 35 – 36. Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden, 36. Uta G. Poiger, Fantasies of Universality? Neue Frauen, Race, and Nation in Weimar and Nazi Germany. In: Alys Eve Weinbau et al. (Eds.), The Modern Girl around the World. Consumption, Modernity, and Globalization (Durham and London 2008) 317– 347. Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden, 54. Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden, 50. Damus, Der Selbstmord unter besonderer Berücksichtigung der Juden, 54.
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Bezüglich des Nationalsozialismus wurde bereits angemerkt, dass dieser homophob ausgerichtet war. Solcherart kam es ungelegen, dass der prominente Psychiater und Rassenhygieniker, Theo Lang, die Erblichkeit von Homosexualität empirisch zu belegen suchte, da ein solches Ergebnis die polizeiliche und juristische Verfolgung Homosexueller in Frage stellen musste. Daher wurde ausgerecht im Nationalsozialismus die Veranlagungsthese zurückgedrängt, um so das stark politisierte Feindbild vom verbrecherischen Homosexuellen nicht zu gefährden.¹²⁹⁹ Solche Bilder spielten in der medizinischen Doktorarbeit von Ulrich Spiegelberg keine Rolle. Sein Fokus lag vielmehr auf der psychologischen Motivation suizidalen Handelns und dem Versuch einer Typologie. Ähnlich wie die bereits vorgestellten Autoren wertete auch er suizidale Frauen* über ihren Geschlechtscharakter und ihren vergeschlechtlichten Leib ab. Während Männer* mutig und zielstrebig den Tod suchten, würden Frauen* „Szene und Demonstration“¹³⁰⁰ favorisieren und an der Ehelosigkeit verzweifeln.¹³⁰¹ Zudem seien sie für Schizophrenie, klimakterische Depressionen und anderweitige psychische Störungen anfällig.¹³⁰² Bei Männern* schienen hormonelle Prozesse hingegen keine Rolle zu spielen, da sie eher als das Opfer von suizidbegünstigenden arteriosklerotischen Hirnveränderungen galten.¹³⁰³ Spiegelberg teilte suizidales Verhalten in vier Typen ein, welche auf heterosexistischen und antisemitischen Kli-
Susanne zur Nieden, Erbbiologische Forschungen zur Homosexualität an der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie während der Jahre des Nationalsozialismus. Zur Geschichte von Theo Lang (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Ergebnisse 25, Berlin 2005). Ulrich Spiegelberg, Über Ursachen und psychologischen (bzw. psychopathologischen) Aufbau von Selbstmorden und Selbstmordversuchen (Inaugural-Dissertation Med. Fakultät Universität Innsbruck, Innsbruck 1943), 23 – 24. Spiegelberg, Über Ursachen und psychologischen (bzw. psychopathologischen) Aufbau von Selbstmorden und Selbstmordversuchen, 22. Zur diskursiven Verhandlung eines quantitativen ‚Zuviels‘ von Frauen und ihres Ledigseins: Maria Mesner, „Frauenüberschuß“ und „alleinstehende Frauen“. Zur Konstruktion eines Mangels. In: Siglinde Clementi, Alessandra Spada (Hg.), Der ledige Un-Wille. Norma e contrarietà. Zur Geschichte lediger Frauen in der Neuzeit. Una storia del nubilato in età moderna e contemporanea (Wien u. a.1998) 27– 45. Mesner vertritt dabei die These, dass „die ‚alleinstehende Frauen‘ zur Projektionsfläche einer Norm wurden, die nur eine geschlechtliche Dichotomie mit eindeutigen Mann-Frau-Schemata und Heterosexualität in Form der Ehe kannte.“ Mesner, „Frauenüberschuß“ und „alleinstehende Frauen“, 28. Spiegelberg, Über Ursachen und psychologischen (bzw. psychopathologischen) Aufbau von Selbstmorden und Selbstmordversuchen, 21; 33. Spiegelberg, Über Ursachen und psychologischen (bzw. psychopathologischen) Aufbau von Selbstmorden und Selbstmordversuchen, 21; 33.
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schees beruhten.¹³⁰⁴ Als ersten Typ nannte er den Bilanzsuizid, der aus einer rationalen Abwägung resultierte. Davon abzugrenzen sei der Fluchtsuizid, dem immerhin noch ein Überlegen vorausgegangen wäre. Dieser Typus leitete zu den patholog- und stigmatisierenden Formen über, wovon er zuerst den Affektsuizid vorstellte, der als „unüberlegte Primitivreaktion“ zu klassifizieren sei.¹³⁰⁵ Als letzten Typus arbeitete er noch den Theatersuizid heraus, den er als exzentrisch und konfrontativ wertete. Während die ersten Typen auf ein männlich-rationales Subjekt verwiesen, operierten die letzten auf der Basis eines diskreditierten weiblichen und/oder jüdischen Subjekts. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den analysierten Quellen große Anstrengungen unternommen wurden, suizidale Jüd*innen auszuspeien und abzusondern. Multiple Abwertungen zielten darauf ab, sie als maximal anders und unintegrierbar, ja für das Kollektiv schädlich zu präsentieren. Ein zentrales Scharnier stellte hier die rassistisch-eugenisch motivierte Einhegung als kranke und degenerierte Subjekte dar. Neben psychopathologischen Schmähungen setzten die Mediziner auch auf physiologische und suchten über eine behauptete Erosion der sekundären Geschlechtsmerkmale jüdische Leiber als irregulär und anomal zu brandmarken. Damit verknüpft warfen sie Jüd*innen Verstöße gegen die heterosexistische und -normale Ordnung vor. Solcherart wurden unverheiratete, emanzipierte und sexuell transgressive jüdische Frauen als maximale Verirrung aufgebaut. Letztendlich sollte die privilegierte wissenschaftliche Sprechposition gewährleisten, Jüd*innen konsequent abzusondern und die nationalsozialistische Ideologie und ihre heteronormale und -sexistische Programmatik als superior zu normieren.
Suizidales Handeln angesichts des Zusammenbruchs Nachfolgend wird untersucht, wie mit den vielen suizidalen Handlungen in den letzten Tagen des NS-Regimes umgegangen wurde. Welche Durchhalteparolen wurden ausgegeben? Konnte die anrollende Suizidwelle thematisiert werden? Wie wurde mit suizidalem Verhalten innerhalb der Wehrmacht umgegangen? In den späten Kriegsjahren ging das Angebot an Printmedien erheblich zurück, da zu viele Ressourcen bereits aufgebraucht waren. Vor diesem Hintergrund wurde am 1. September 1944 eine Fusionszeitung aus (Wiener) Illustrierter Kronen-Zeitung, Spiegelberg, Über Ursachen und psychologischen (bzw. psychopathologischen) Aufbau von Selbstmorden und Selbstmordversuchen, 16 – 17. Spiegelberg, Über Ursachen und psychologischen (bzw. psychopathologischen) Aufbau von Selbstmorden und Selbstmordversuchen, 16 – 17.
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Kleiner Volks-Zeitung, Kleinem Blatt und Kleinem Volksblatt eingeführt, die unter dem Namen Kleine Wiener Kriegszeitung bis zum 7. April 1945 erschien.¹³⁰⁶ Ihre Linie war geprägt von Durchhalteparolen, beschönigenden Aussagen und Panikmache – besonders vor der herannahenden Roten Armee.¹³⁰⁷ Trotz der offensichtlichen Niederlage¹³⁰⁸ suchte sie gezielt Frauen* zum Durchalten¹³⁰⁹ zu motivieren, was auch dazu führte, dass sich die traditionellen Platzanweisungen lockerten und erweiterten. Der fest in weiblicher Hand befindliche zivile Luftschutz stellte ein Beispiel für solche Anpassungen dar, wurden doch die hier tätigen Frauen* als schutzspendende Mütter angerufen, die keiner männlichen Schirmhand bedurften.¹³¹⁰ Solcherart konnten sie bei der Brandbekämpfung und bei Rettungsaktionen kräftig anpacken, ohne dabei ihre ‚Weiblichkeit‘ zu gefährden. Selbst Ausbildungs- und Leitungsfunktionen in technischen Berufen sollten Frauen* im März 1945 offenstehen.¹³¹¹ Ebenso war ihr Kriegseinsatz, etwa als Flakhelferin, kein Tabu mehr.¹³¹² Bei allen Lobpreisungen für Frauen*, „die auf ihren Posten voll ihren ‚Mann‘ stehen“, ¹³¹³ sollten sie weiterhin dem traditionellen Aufgabenkreis zugetan bleiben, also nach getaner Erwerbsarbeit und ‚Freiwilligenarbeit‘ nach Hause eilen und dort Familie und Haushalt versorgen. In der
Schriftleitung und Verwaltung waren in den Räumlichkeiten des Vorwärts-Verlages untergebracht. Mit Anfang Februar 1945 wurde die Seitenanzahl gekürzt, da das Papier immer knapper wurde. An Dienstagen, Donnerstagen und Sonntagen erschien das Medium mit den üblichen 8 Seiten, an den restlichen Tagen (außer Montag) mit nur mehr 4 Seiten. An unsere Leser, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 130, 31. Jänner 1945, 4. Ende März 1945 überschritt die Sowjetarmee die österreichische Grenze im Burgenland.Wien wurde am 6. April 1945 erreicht und rasch befreit. Von Westen kommend eroberten amerikanische Truppen am 3. Mai 1945 Salzburg. Zwei Tage später befreiten diese Truppen auch das Konzentrationslager Mauthausen. Am 7. Mai 1945 trafen sie an der Grenze zu Niederösterreich auf die Rote Armee. An unsere Leser, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 130, 31. Jänner 1945, 4. Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45 (München 2011) 54– 55. Unsere Parole: Gläubig, mutig und tapfer sein, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 159, 6. März 1945, 3. Nicole Kramer, Mobilisierung für die „Heimatfront“. Frauen im zivilen Luftschutz. In: Steinbacher (Hg.), Volksgenossinnen, 69 – 92. Die technisch „unbegabte“ Frau, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 173, 22. März 1945, 3. Kampfgefährtin der Männer im Granatenhagel, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 174, 23. März 1945, 2. Die technisch „unbegabte“ Frau, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 173, 22. März 1945, 3. Diese ‚Wertschätzung‘ drückte sich nicht in Lohngleichheit aus. Die Entwicklung zeigte vielmehr in eine gegenteilige Richtung und so wuchs die geschlechtsbedingte Lohnschere eher an, als sich zu verringern. Nicole Kramer, Haushalt, Betrieb, Ehrenamt. Zu den verschiedenen Dimensionen der Frauenarbeit im Dritten Reich. In: Marc Buggeln, Michael Wildt (Hg.), Arbeit im Nationalsozialismus (München 2014) 33 – 51, hier 40.
Suizidales Handeln angesichts des Zusammenbruchs
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Praxis war das allerdings nicht immer möglich und so wurden tatsächlich Kochkurse für Strohwitwer angeboten.¹³¹⁴ Während diese ‚Transgression‘ akzeptabel war, galt dies nicht für verletzte und gezeichnete Soldatenkörper. Ihr Zustand konfligierte mit forscher Männlichkeit, da das sexistische Gefälle zwischen männlichem Gewaltmonopol und weiblicher Verletzungsoffenheit zu wirkmächtig war.¹³¹⁵ Demnach forderten die Kriegsversehrten das NS-Regime doppelt heraus, symbolisierten die doch den Preis des Krieges und passten nicht (mehr) in die Leistungsgesellschaft.¹³¹⁶ Die Kleine Wiener Kriegszeitung empfahl, sie strategisch zu ignorieren und auszublenden. Gerade Frauen* sollten sich hüten, öffentlich tröstende Worte an sie zu richten oder gar Mitgefühl zu zeigen. Solcherlei emotionale Zuwendung würde die Kriegsversehrten nur beschämen.¹³¹⁷ Bezüglich soldatischer Männlichkeit ist auch die sogenannte Wehrkraftzersetzung zu thematisieren. Bereits vor Kriegsbeginn waren Dienstverweigerung, soldatische Resignation und selbstverletzendes Verhalten pönalisiert und für überführte Soldaten drakonische Sanktionen bis hin zur Todesstrafe etabliert worden. Da Denunziation auch in der Wehrmacht häufig auftrat, waren diesbezügliche intensive Nachforschungen oft gar nicht notwendig.¹³¹⁸ Mit Fortschreiten des Krieges und zunehmend aussichtslos werdender Lage schien selbstverletzendes Verhalten zuzunehmen,¹³¹⁹ nicht aber Desertionen, die relativ selten blieben.¹³²⁰ Das hing mit dem zentralen Leitbild von Männlichkeit zusammen, welches stark von Einsatzbereitschaft, Tapferkeit und Kameradschaft geprägt war. Diese Attri-
Neuer Strohwitwerkurs, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 114, 12. Jänner 1945, 5. An ihnen trat der Kontrast zwischen dem individuellen Leib und den utopischen Körperbildern der NS-Propaganda besonders scharf zu Tage. Dagmar Ellerbrock, Zur Übersterblichkeit „arischer“ Männerkörper: Körperkonzepte in Transition. In: Paula Diehl (Hg.), Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen (München 2006) 281– 305, hier 290. Wie im Ersten gab es auch im Zweiten Weltkrieg weibliche Kriegsversehrte. Deren prinzipielle Versorgungsansprüche wurden in einer Mitteilung des NS-Reichsarbeitsministers im März 1945 bestätigt. Uta Krukowska, Kriegsversehrte. Allgemeine Lebensbedingungen und medizinische Versorgung deutscher Versehrter nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Britischen Besatzungszone – dargestellt am Beispiel der Hansestadt Hamburg (Hamburg 2006) 19. Still und unauffällig, Kleine Wiener Kriegszeitung, 21. Februar 1945, Folge 148, 3. Ela Hornung, Denunziation, „Wehrkraftzersetzung“ und Geschlecht. In: Gehmacher, Hauch (Hg.), Frauen – und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus, 169 – 185, hier 167. Statisches Material fehlt weitgehend, aber für die Zeit ab 1940 ist ein Anstieg anzunehmen. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 357. Magnus Koch, Männlichkeit und Verweigerung. Deserteure der Wehrmacht aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Anette Dietrich, Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis (Frankfurt/M. 2013) 83 – 99.
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bute stärkten die Disziplin und stimulierten den Durchhaltewillen. Gleichzeitig wurde erschöpften Soldaten großzügig das Methamphetamin Pervitin verabreicht,¹³²¹ was deshalb bemerkenswert ist, da von dieser Droge ein hohes Risiko zu selbstverletzendem Verhalten ausgeht.¹³²² Ob eine Kriegsverletzung oder eine Selbstbeschädigung vorlag, musste auch hinsichtlich von Rentenansprüchen geklärt werden. Laut Klaus-Jürgen Preuschoff dürften rund 6.200 Todesurteile wegen „Selbstverstümmelung“ ergangen sein.¹³²³ An Suiziden wurden von 1939 bis Mitte 1943 knapp 7.000 dokumentiert.¹³²⁴ Für die letzten beiden Kriegsjahre fehlen Angaben. Rüdiger Overmans geht von höheren Zahlen aus und beziffert für die gesamte Wehrmacht rund 25.000 Selbsttötungen.¹³²⁵ Wenig überraschend wurde suizidalen Soldaten die Beerdigung auf Friedhöfen verwehrt, die Armeeangehörige ehrten. Darüber hinaus durften ihre Namen bei sogenannten Gefallenenehrungsfeiern nicht genannt werden.¹³²⁶ Vor diesem Hintergrund war die Heeresführung angehalten, bei Suizidversuchen kein Pardon walten zu lassen und keinesfalls eine Entlassung auszusprechen.¹³²⁷ Vielmehr sollten suizidale Soldaten wieder kampftauglich gemacht werden. Auch als ‚psychopathisch‘ Eingestufte durften mit keinerlei Nachsicht rechnen und wurden vielfach stigmatisiert und drangsaliert. Homosexuellen Kombattanten drohte darüber hinaus
Pervitin war seit 1937 frei im Handel erhältlich. Die Wehrmachtsärzte empfahlen es vor allem im Polen- und Frankreich-Feldzug. Es sollte die Leistung steigern und gleichzeitig Angst, Hunger und Schmerz lindern. Aufgrund der zahlreichen Nebenwirkungen und der rasch eintretenden Abhängigkeit wurde es 1941 dem Reichsopiumgesetz unterworfen. Zu den wichtigsten Begleiterscheinungen zählten psychotische und paranoide Symptome, Herzrhythmusstörungen, Hyperthermie und Aggressivität. Peter Steinkamp, Pervitin (Metamphetamine) Tests, Use and Misuse in the German Wehrmacht. In: Wolfgang Uwe Eckart (Ed.), Man, Medicine, and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century (Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2, Stuttgart 2006) 61– 73. David J. Nutt et al., Drug Harms in the UK: A Multicriteria Decision Analysis. In: The Lancet 376/9752 (2010) 1558 – 1565, doi:10.1016/S0140-6736(10)61462-6 Klaus-Jürgen Preuschoff, Suizidales Verhalten in deutschen Streitkräften (Regensburg 1988) 123. Der Krieg verkomplizierte die bürokratische Erfassung suizidalen Verhaltens. Besonders an der Front waren ‚normale‘ und suizidale Szenarien kaum unterscheidbar. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 358. Ein festgestellter Suizid führte zur Verweigerung der militärischen Ehrenbezeugung und einer Bestattung abseits der anderen Soldaten. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 359 Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 46, München 1999) 335. Monica Black, Death in Berlin. From Weimar to Divided Germany (New York 2010) 108, footnote 142. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 357.
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noch ein Verfahren vor der Wehrmachtsjustiz. Insbesondere Otto Wuth, Oberstabsarzt und Beratender Psychiater des Heeres-Sanitätsinspekteurs, tat sich als wahrer Homosexuellenjäger hervor. Da der Krieg gewonnen werden musste und dazu möglichst viele einsatzfähige Soldaten notwendig waren, scheute die Wehrmachtführung auch nicht die Rezeption psychoanalytischer Theorien.¹³²⁸ Daneben sollten mögliche Versorgungsansprüche der Hinterbliebenen gering gehalten werden,¹³²⁹ weshalb die Gutachter in höchstens einem Drittel aller Suizidfälle auf „Wehrdienstbeschädigung“ entschieden.¹³³⁰ Chance auf Anerkennung bestand, wenn der Suizid als Folge eines Schädel- oder Hirntraumas oder einer Erschöpfungsdepression eingestuft wurde.¹³³¹ Anderweitige psychische Störungen oder körperliche Vorschädigungen wurden hingegen nicht berücksichtigt. Ausgenommen davon waren nur akute Verschlechterungen oder eine falsche Beurteilung durch den Vorgesetzten.¹³³² Der offiziellen Diktion nach galt Suizidalität als ein überwundenes Leiden,¹³³³ sei doch durch die zahlreichen NS-Bünde und -Verbände die ungesunde Vereinzelung aufgehoben worden.¹³³⁴ Dennoch, oder vielmehr gerade deswegen, blieben die Suizidstatiken seit dem Kriegsbeginn geheim.¹³³⁵ Die Medien waren angehalten, reserviert über den selbstgegebenen Tod zu berichten und Suizide mittels Leuchtgas waren laut Anordnung des Reichspressechefs Otto Dietrich überhaupt nicht zu thematisieren.¹³³⁶ Vor diesem Hintergrund meldete die Kleine Wiener Kriegszeitung zahlreiche Unfälle mit Leuchtgas und beharrte stets darauf, dass die Verunglückten leichtsinnig oder unvorsichtig gehandelt hatten. Als typisch für diese Art der Berichterstattung kann eine kurze Meldung vom 2. Jänner 1945 gelten: „In der Zeit von Samstag auf Sonntag sind durch unsachgemäße Handhabung der Gasgeräte die 66jährige Private Leopoldine Wallach, Albrechtskreithgasse 12, der 70jährige Schuhmacher Franz Bonek, Ennsgasse 21, der 46jährige Angestellte Max Hauser, Haberlgasse 31,
Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 356 – 357. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 364. Hier gab es einen bedeutenden Ermessensspielraum der Gutachter. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 361– 62. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 359 – 360. Auch Furcht vor Strafe oder Alkoholsucht wurden nicht als Wehrdienstbeschädigung eingestuft. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 363. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 361. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 230. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 230 – 231. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 233. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, 234.
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Kapitel 5: Untergänge
die 51jährige Private Marianne Czech, Tichtelgasse 22, und die 87jährige Rentnerin Marie Tuschek, Barischgasse 22, tödlich verunglückt.“¹³³⁷
Ungeachtet der Tatsache, dass das Spekulieren untersagt war, dürften dennoch viele gewusst haben, dass eine Leuchtgasvergiftung eine häufige Suizidvariante darstellte. Obwohl Selbsttötungen weitgehend tabuisiert wurden, fiel diese Zurückhaltung, sobald gegnerische Kriegsparteien betroffen waren, und machte einer höhnischen Berichterstattung Platz.¹³³⁸ So charakterisierte die Kleine Wiener Kriegszeitung etwa den suizidalen Vizeadmiral der britischen Streitkräfte, George Preece, als den Belastungen seines Amtes nicht mehr gewachsen. Ließ sich hingegen die nationalsozialistische Weltsicht bedienen, dann wurde suizidales Verhalten heroisiert, was sich bei den Berichten über die japanischen Kamikaze-Piloten zeigte.¹³³⁹ Es wurde dabei sorgfältig vermieden, ihr Handeln als suizidal oder gar erzwungen zu benennen, stattdessen wurden Umschreibungen wie Selbstabsturz gewählt. Das NS-Regime unterhielt auch selbst ein solches Projekt, welches rund siebzig sogenannte Selbstopfermänner umfasste, die sich mit V1Gleitbomben zu Tode stürzen sollten. Freiwilligkeit war offenbar nur bedingt gegeben und nicht alle dürften sich im Klaren darüber gewesen sein, was von ihnen verlangt wurde.¹³⁴⁰ Der für militärische Sonderprojekte zuständige Heinrich Himmler schlug vor, nur auf Lebensmüde, Kranke und Kriminelle zurückzugreifen.¹³⁴¹ Diese sollten so ihre Ehre rehabilitieren können. Zu einem tatsächlichen Einsatz kam es nicht, da das Projekt gestoppt und die betroffenen Piloten rückversetzt wurden.¹³⁴² Anders verhielt sich die Situation beim sogenannten Rammjäger-Projekt. Hier wurde den Fliegern immerhin eine Rettungsmöglichkeit per Fallschirmabsprung zugestanden. Am 7. April 1945 touchierten rund 120 deutsche Rammjäger ein amerikanisches Geschwader mit etwa 1.000 Bombern und 800 Begleitmaschinen. 77 der deutschen Piloten überlebten diesen Einsatz
Vorsicht mit Leuchtgas, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 105, 2. Jänner 1945, 6. Selbstmord eines Britenadmirals, Kleine Wiener Kriegszeitung, 22. Februar 1945, Folge 149, 2. Im Selbstabsturz gegen Flugzeugträger. Neue Erfolge des Kamikazekorps. Die Kämpfe um die Schweselinsel, Folge 151, 24. Februar 1945, 2. Zu den japanischen Kamikaze-Soldaten siehe: Albert Axell, Hideaki Kasi, Kamikaze. Japan’s Suicide Gods (London 2002). Ohnuki-Tierney Emiko, Kamikaze Diaries. Reflections of Japanese Student Soldiers (Chicago 2006). Joseph Croitoru, Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats (München u. a. 2003) 68. Croitoru, Der Märtyrer als Waffe, 66. Die Kamikaze-Taktik selbst kam hingegen schon zur Anwendung. Konkret wurden zwischen dem 16. und 19. April 1945 sechsunddreißig Kampfflieger mit einer Selbstabsturz-Mission an den Oderübergängen beauftragt. Croitoru, Der Märtyrer als Waffe, 69 – 70.
Suizidales Handeln angesichts des Zusammenbruchs
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nicht bzw. blieben verschollen.¹³⁴³ Anhand dieser radikalen Projekte zeigt sich, dass die Fortführung des Krieges alternativlos war, was genau so von den Medien verbreitetet wurde.¹³⁴⁴ Aufgrund dieser suggerierten Zwänge und der zusätzlichen Panikmache vor Kriegsverbrechen, suizidierten sich zahlreiche Familien.¹³⁴⁵ Machstrukturen und Hierarchien innerhalb dieser schienen keine Rolle zu spielen und so konnte der Eindruck entstehen, dass alle Familienmitglieder gleichberechtigt dieser ‚Lösung‘ zugestimmt hatten. Insbesondere die Ermordung abhängiger Angehöriger hätte eigentlich viel Anlass zu Kritik in sich getragen. Stattdessen fokussierte die Kleine Wiener Kriegszeitung die heranrückende Rote Armee und stellte sie in den grässlichsten Farben dar. In ihren Reihen würden sich nur Unmenschen und Kriminelle finden, die bloß darauf warteten zu morden und zu plündern. Vor diesem Hintergrund dokumentierte die Zeitung wiederholt brutale Vergewaltigungen und damit verknüpftes suizidales Verhalten.¹³⁴⁶ Derart meldete sie Anfang März 1945, dass russische Soldaten ein dreijähriges Kind sexuell missbraucht hatten.¹³⁴⁷ Ebenso in dieses Schema fiel der Bericht über eine junge Mutter, die von Sowjet-Soldaten mehrfach vergewaltigt worden war und daraufhin ihr Kind tötete, bevor sie selbst einen Suizidversuch unternahm.¹³⁴⁸ Anhand dieser Beispiele zeigt sich die dichotome Verhandlung suizidalen Verhaltens, welches Männer* als Kamikaze-Piloten heroisierte, während Frauen* nur den Opfer-Status erreichen konnten. Laut Christian Goeschel präferierten viele Nazi-Größen den selbstgegebenen Tod, um so vermeintlich unbesiegt und hel-
Croitoru, Der Märtyrer als Waffe, 69. Verschärfter U-Boot-Krieg und V-Beschuß. Dr. Goebbels über die militärische und politische Lage des Reiches, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 155, 1. März 1945, 1– 4. Niemals das eigene Todesurteil unterschreiben, Unkündbare Treue dem Führer auf Leben und Tod, Mit wehenden Fahnen an die neuen Ufer einer bessren Zeit, alles: Kleine Wiener Kriegszeitung, 1. März 1945, Folge 153, 4. Christian Goeschel, Suicide at the End of the Third Reich. In: Journal of Contemporary History 41/1 (2006) 153 – 173. Brunhilde Pomsel, eine Sekretärin Joseph Goebbels, berichtete, dass es zu ihrem Aufgabengebiet gehörte, die Vergewaltigungen durch die Rote Armee zahlenmäßig übertrieben darzustellen. Kate Connolly, Joseph Goebbels’ 105-year-old secretary: ’No one believes me now, but I knew nothing’, theguardian, online at , 30.1. 2017. Entsetzliche Tragödie eines vierzehnjährigen Mädchens, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 160, 7. März 1945, 2. Flucht vor den Sowjetteufeln in den Tod. Die Tragödie der Frau Gerda Wagner. Unvorstellbares Grauen, Kleine Wiener Kriegszeitung, Folge 161, 8. März 1945, 1.
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denhaft zu sterben;¹³⁴⁹ eine Ehre, welche die Bevölkerung scheinbar längst verloren hatte, da sie nicht mehr weiterkämpfen wollte. Konkret töteten sich 8 von 41 regionalen NS-Parteigrößen selbst¹³⁵⁰ und von den 47 höheren SS- und Polizeioffizieren bereiteten 7 ihrem Leben ein Ende. Insgesamt suizidierten sich im letzten Kriegsjahr 4.678 Personen in Österreich, was einer Suizidrate von 66 entspricht. Dieser Wert stellt mit Abstand den höchsten der österreichischen Vergangenheit dar, was wenig überraschend erscheint, da das NS-Regime konsequent Perspektivlosigkeit vermittelte. Der Tod war besser, als in die Hände der gegnerischen Kriegsparteien zu fallen. Der Nationalsozialismus und seine Anhänger*innen hatten sich gnadenlos und brutal gegeben, daher war die Befürchtung, Ähnliches erleiden zu müssen, nicht von der Hand zu weisen.¹³⁵¹
Fazit Die intensive mediale Berichterstattung über suizidale Handlungen riss während der nationalsozialistischen Periode ab, da sie bald unerwünscht war. Die katholischen Medien hatten das Thema auch vorher schon beinahe ganz ausgeklammert bzw. es nur in verklausulierter Form behandelt. Für gläubige Katholik*innen durfte eine suizidale Handlung keine Option sein, einzig Ausharren und Gottvertrauen waren geboten. Vor diesem Hintergrund berichteten die Medien auch nicht über die vielen Leuchtgas-Toten oder beharrten konsequent darauf, dass es sich um Unfallopfer handelte. Demgegenüber wurde bei männlichen Regimegegnern oder bei in Ungnade gefallenen NS-Größen auf einer suizidalen Handlung beharrt, wobei ignoriert wurde, dass diese Selbsttötungen oft erzwungen worden waren. Besonders Heereskräften und hochrangigen Angehörigen von NSVerbänden sollte so zugestanden werden, ihre soldatische Ehre zu erhalten. Damit wurde an eines der ältesten Motive für männliches Suizidhandeln angeknüpft, welches schon in der Antike geschlagenen Feldherren den Suizid empfahl, um so ihre Ehre zu bewahren und heldenhaft zu sterben. Ein solches ‚Privileg‘ wurde ‚schwulen‘ Männern nicht gestattet, vielmehr wurde deren Verfolgung verschärft, galten sie doch als kriminelle „Volksschädlinge“. Gleichzeitig wurden weit verbreitete homophobe Ressentiments genutzt, um missliebige politische Konkurrenz auszuschalten. Ideale Männlichkeit zirkulierte um unerschütterliche Goeschel, Suicide in Nazi Germany, 155. Auch der Suizid von Hitler wurde nach diesem Muster kommuniziert. Dieser tötete sich – ganz dem männlichen Stereotyp folgend – mit einer Schusswaffe, während Eva Braun auf das ‚frauentypische‘ Gift setzte. Kershaw, Das Ende, 486. Goeschel, Suicide in Nazi Germany, 152. Kershaw, Das Ende, 486.
Fazit
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Kampfmoral, loyale Pflichterfüllung und gute Kameradschaft. Ähnliches galt für kühnes und überlegtes Handeln, welches aber auch von maßloser Selbstentgrenzung abgelöst werden konnte.¹³⁵² Diesem Männlichkeitsentwurf wurden suizidale und homosexuelle Soldaten untergeordnet, aber auch Wehrmachtsangehörige, die selbstverletzendes Verhalten gezeigt hatten oder desertiert waren. Sie alle wurden militärstrafrechtlich verfolgt und bei Gedenkfeiern ausgeschlossen. Solche Konsequenzen blieben psychisch Erkrankten erspart, aber auch sie wurden verachtet und drangsaliert. Der Nationalsozialismus hatte den athletischen und kampfbereiten Männerkörper zum Ideal erhoben, damit kontrastierten Kriegsversehrte augenscheinlich, waren sie doch verwundbarer Weiblichkeit gefährlich nahegekommen. Dahingehend wurden sie gegenüber gesunden und leistungsfähigen Männern* marginalisiert. Suizidales Verhalten galt gemeinhin als feig, schwach und degenerativ – außer, wenn den nationalsozialistischen Zielen gedient worden war. Diese Attribute und die Konnotation des Suizidversuchs als theatralisch, unernst und typisch weiblich sollten auch dem Politiker und NS-Anhänger Anton Rintelen zum Verhängnis werden. Gemeinsam mit seiner politischen Unzuverlässigkeit war so an eine Karriere nicht mehr zu denken. Auch der wissenschaftliche Spezialdiskurs war heteronormal und -sexistisch organsiert sowie mit rassistischem und eugenischem Gedankengut amalgiert. Als besonderes Feindbild wurden (sexuell) emanzipierte und säkular-liberale Jüd*innen aufgebaut, deren suizidales Handeln über Stereotype wie theatralisch, unernst und unüberlegt abgewertet wurde. Auch die rassistische These verblasster sekundärer Geschlechtsmerkmale sollte die jüdische Degeneration belegen, weshalb jüdische Männer* effeminiert und jüdische Frauen* virilisiert wurden. Ließ sich doch über die verfehlte Geschlechtsperformance der soziale Ausschluss rechtfertigen und gleichzeitig konnte so die heterosexistische und heteronormale Ordnung bestätigt werden.¹³⁵³ Wenn die Medien anfänglich suizidales Handeln noch dokumentierten, dann unpräzise und unter Vermeidung von (gesellschafts)politischen Motiven. Diese
Frank Werner, „Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser“. Soldatische Männlichkeit im deutschen Vernichtungskrieg 1941– 1944. In: Anette Dietrich, Ljiljana Heise (Hg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis. (Frankfurt/M. 2013) 45 – 65. Diese Interpretation lässt sich auch bei heutigen konservativen und rechtsgerichteten politischen Parteien finden. Siehe dazu: Eszter Kováts, Maari Põim (Ed.), Gender as symbolic glue. The position and role of conservative and far right parties in the anti-gender mobilizations in Europe (FEPS – Foundation for European Progressive Studies, Friedrich-Ebert-Stiftung, Budapest 2015).
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Kapitel 5: Untergänge
Zurückhaltung kontrastierte mit Berichten über organisierte Nationalsozialist*innen, die suizidale Handlungen verhindert oder erste Hilfe geleistet hatten. Diese wurden regelrecht heroisiert, während die vielen suizidalen Handlungen der Verfolgten totgeschwiegen wurden, da sie wohl zu offensichtlich eine Anklage ausdrückten. Vor dem Hintergrund der spezifischen Verfolgungslogik des nationalsozialistischen Regimes erweiterten und verschoben sich die Geschlechterkonzepte und -ordnung. Da jüdische Frauen* anfänglich physisch weniger bedroht waren, organisierten sie vielfach die Auswanderung und harrten mit den Alten und Pflegebedürftigen aus. Dies zeigte sich auch am Beispiel der Wiener Pflegekraft Mignon Langnas, die den Nationalsozialismus als offen lebende Jüdin überlebte. Zahlen aus Berlin legen nahe, dass am Höhepunkt der Verfolgung dreiviertel aller Suizide auf jüdische Personen entfielen.¹³⁵⁴ Davon waren wiederum Frauen* besonders betroffen, da sie vermehrt zurückgeblieben waren. Für Wien zeigte sich ein ähnliches Bild, da auch hier die Selbsttötungen von jüdischen Frauen überwogen und beinahe alle Suizidtoten über 50 Jahre alt gewesen waren.¹³⁵⁵ Für die Verfolgten wurden suizidale Gedanken und Handlungen zur neuen Normalität, wobei aber auch unter ihnen umstritten blieb, ob damit widerständig oder kollaborativ gehandelt wurde. Manche täuschten die Selbsttötung auch nur vor, um sich so den NS-Schergen zu entziehen. Andere unterstrichen damit ihre nationale und kulturelle Zugehörigkeit, wodurch evident wird, dass der Leib einen zentralen Schauplatz im Suiziddiskurs darstellte. Oder anders formuliert, wer seine Identität betonte, der konnte nicht so leicht zu einem homo sacer werden. Am Beispiel der Völkischen Frauenzeitung wurde exemplarisch herausgearbeitet, dass suizidales Verhalten die krisenhafte Zwischenkriegszeit symbolisierte, daher sollte es idealerweise fortan überwunden sein. Der NS-Staat und die imaginierte Volksgemeinschaft würden nun den notwendigen Schutz bieten, weshalb gleichzeitig Selbstbezähmung und -überwindung intensiv eingefordert wurden. Dieser kombinierte Ansatz lässt sich daher am ehesten als nationalsozialistische Präventionsstrategie beschreiben. Während die Mitglieder der imaginierten Volksgemeinschaft nicht sterben durften, ‚mussten‘ dies die verworfenen Subjekte im Rahmen des umfangreichen Euthanasie-Programms oder in den zahlreichen Vernichtungslagern. Gleichzeitig wurde selbstbeschädigendes Verhalten bei der Wehrmacht streng geahndet, bis hin zur Todesstrafe. Angesichts des Zusammenbruchs wurde suizidales Verhalten entweder als ‚Selbstaufopferung‘, wie am Beispiel der japanischen Kamikaze-Piloten und der NS-Führungskader herausgearbeitet, oder als letzte Zufluchtsstätte, um der na-
Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 250. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 251.
Fazit
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henden Kriegsfront zu entgehen, verhandelt. Auch hier wurde die heteronormale und -sexistische Geschlechterordnung reproduziert und so wurden fanatisierte Soldaten und Hitlerjugend-Angehörige zu unbeugsamen Widerstandsfiguren stilisiert, suizidale Frauen* hingegen zu Opfern der feindlichen Armeen und deren Gewaltgelüsten degradiert. Allerdings gab es auch hier Spielraum für adaptierte Geschlechterperformances und so wurden entgegen jeder Vernunft aushaltende weibliche Flak- und Wehrmachtshelfer*innen gelobt und positiv hervorgehoben. Angesichts des drohenden Zusammenbruchs waren Frauen* als zentrale ‚Ressource‘ erkannt worden und wurden daher auch beschworen, durchzuhalten. Gleichzeitig fürchtete man wohl auch, dass sie politisch unzuverlässig werden könnten und den Gehorsam verweigerten. Daher wurden sie aufgerufen, ihre Nerven zu bezähmen und als Vorbild zu dienen, das überall tätig wird und anpackt. Zudem suggerierte die NS-Führung, Verständnis für ihre vielfältigen und schwierigen Aufgaben zu haben. Nichtsdestotrotz wurden suizidale Frauen* weiterhin konsequent als passive, höchstens reaktive Subjekt dargestellt, die zu psychischen Störungen und zu affektiv-spontanem Verhalten neigten. Das entkleidete ihr suizidales Handeln weitgehend des gesellschaftspolitischen Kontextes. Derart dominierte in der Gesamtschau weiterhin die etablierte Dichotomie von männlicher Handlungsfähigkeit und weiblicher Schicksalsergebenheit. Oder anders formuliert, Männer* traten der Herausforderung aktiv und selbstbewusst entgegen, Frauen* gaben dem Druck der Ereignisse nach.
Kapitel 6 Pathologisches Paradigma: durchgesetzt Die Nachkriegszeit (1945 – 1970) Ende und Neuanfang lagen 1945 nahe beieinander, wurde doch der selbstgegebene Tod nie dringender begehrt. Landesweit wurden 4.678 Selbsttötungen erfasst, woraus sich die enorme Suizidrate von 66 ergab.¹³⁵⁶ Auch bezüglich der heteronormalen Geschlechterverteilung herrschte nun beinahe Parität und so standen 2.034 weiblichen Suizidtoten 2.644 männliche gegenüber.¹³⁵⁷ Die letzten Kriegsmonate waren von Durchhalteappellen und einer intensiven medialen Panikmache begleitet worden. Pausenlos wurde so wiederholt, dass es keine Alternative zu einem nationalsozialistisch durchgeformten Leben gäbe und vom Osten her Schlimmstes drohte. Diesem gezielten Aufbau von Furcht folgte in den ersten Apriltagen 1945 das Schweigen der Presse, wodurch Gerüchte und Spekulationen blühten. In diesem nervösen, angespannten Klima gingen ganze Familien gemeinsam in den Tod, worüber allerdings kaum öffentlich debattiert wurde – weder in den Wissenschaften noch in den Medien. Ähnlich gering war das Interesse an den vielen Suiziden, der vom NS-Regime Verfolgten, die am ehesten noch von den sozialdemokratischen und kommunistischen Überlebenden thematisiert wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren verlor das Suizidthema pauschal seine öffentliche Bühne, was aus der psychiatrischen Verengung und dem Rückzug wichtiger Diskursteilnehmer*innen resultierte. Gleichzeitig konnte durch die Medizinisierung der Schauplatz Religion endgültig befriedet werden.
Hannes Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung. Aspekte der Suizidproblematik in Österreich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Zweiten Republik (Innsbruck u. a. 2012) 487. Eva Eichinger, Suizidär. Suizidal. Suizidant. Suizid als pathologisches Phänomen? Diskurs. Genealogie. Analyse (Wien 2010) 106 – 107. In Berlin stellte sich das Verhältnis ähnlich dar. Unter 7.057 Personen, die den Tod gesucht hatten, befanden sich 3.966 Frauen*. Christian Goeschel weist alleine für den April 1945 3.881 Suizide in Berlin aus und meint, dass die Jahressumme zu niedrig angesetzt sei. Er führt dies auf den Zusammenbruch der Administration zurück und meldet daher auch Zweifel an der verfügbaren Geschlechter- und Altersverteilung an. Ähnlich wie Ursula Baumann bringt auch er die vielen Suizide von Frauen* in Zusammenhang mit den massenhaften Vergewaltigungen zu Kriegsende. Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich (Berlin 2011) 247– 247. Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Weimar 2001) 377. Hatte sich von 1940 bis 1945 die Geschlechterschere beinahe vollkommen geschlossen, öffnete sie sich danach wieder, allerdings ohne jemals wieder die Werte des 19. Jahrhunderts zu erreichen. https://doi.org/10.1515/9783110664256-007
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Damit war es für die katholische Kirche und die ihr nachgegliederte Caritas möglich, in der Suizidprävention tätig zu werden. Auch die Sozialdemokratie zeigte sich konsensorientiert und verzichtete darauf, das Motiv der wirtschaftlichen Not weiter intensiv zu thematisieren. Derart wurde suizidales Handeln zunehmend entpolitisiert und auf die These des psychisch kranken Individuums konzentriert, was sich günstig auf die Installation einer professionellen Suizidprävention auswirkte. Einen letzten Versuch, das Politische und Luzide zu retten, unternahm Jean Améry in seiner Schrift über den Freitod (1976). Auch für die Geschlechter- und Sexualordnung galt nach dem Krieg: zurück zur ‚Normalität‘. Damit war eine harmonisch-verkitschte Konstellation gemeint, die es als solche gar nie gegeben hatte, idealisierte sie doch die heteronormale und -sexistische Matrix und ignorierte ihre konfliktösen und ausschließenden Momente. Als Kontext gilt es zu bedenken, dass viele überzeugt waren, dass die gelockerte Sexualmoral zur NS-Katastrophe beigetragen hatte.¹³⁵⁸ Diese Beobachtungen leiten zu den Thesen dieses Kapitels über. Erstens, moralische und sexuelle ‚Devianz‘ erschien besonders verdächtig, psychische Störungen zu motivieren. Daher wurde, wer keine harmonische Ehe aufbauen und sich als Male-breadwinner etablieren konnte, als vulnerabel gelesen. Zwangsläufig wurde so eine verfehlte heteronormale Geschlechtsperformance pathologisiert. Zweitens, auch die neugegründete Suizidprävention war sexistisch gerahmt, da die soziale Fürsorge weiblich adressiert wurde, die psychiatrisch-therapeutische Intervention hingegen männlich. Darüber hinaus war ein Treffen auf Augenhöhe mit den Klient*innen (noch) nicht vorgesehen. Drittens, suizidale Frauen* sollten motiviert werden, eine mögliche Schwangerschaft auszutragen, sich zu verheiraten und den Verkauf sexueller Dienstleistungen zu meiden. Bei Männern* wurde hingegen darauf hingearbeitet, dass sie die patriarchale Führungsrolle innerhalb der Familie übernehmen konnten. Zusammengefasst zielten die Interventionen darauf ab, zur Eheschließung und zur Reproduktion zu motivieren und Störungen im Regelkreis der patriarchalen Familie zu beheben. Letztendlich sollte so der heteronormative Rahmen gestärkt und arbeitsame und pflichtbewusste Bürger*innen herangezogen werden. Viertens, suizidales Verhalten von Frauen* wurde als unernst und vermeintlich ursachenlos abgewertet. Dieser Fokus trug dazu bei, den Suizidversuch als distinkte, typisch weibliche Kategorie durchzusetzen. Epidemiologische Daten oder vielmehr Schätzungen bildeten dafür die evidenzerzeugende Basis. Fünftens, die vermutete weibliche Anlasslosigkeit schuf ein neues Problem: Sie unterlief den
Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (München 2005) 127– 173.
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Versuch, suizidales Verhalten intelligibel zu machen und vergrößerte dessen bedrohliches Potenzial.
Enttäuschung, Angst und Panik Die NS-Propaganda setzte auf Angst und berichtete von unerhörten „Greueltaten der Bloschewisten in den besetzten Ostgebieten“.¹³⁵⁹ Derart stünde die „systematische Ausrottung des deutschen Volkes“ bevor und die Sowjets würden jedes Haus niederbrennen, das militärisch nutzlos sei.¹³⁶⁰ Männlichen Zivilisten drohte die Hinrichtung oder die Deportation in den Osten und jede Frau unter 55 Jahren hatte mit – mehrfacher – Vergewaltigung zu rechnen.¹³⁶¹ Dabei würden die durchziehenden sowjetischen Militärs immer gleich vorgehen: „Die Frauen werden in der Regel in einen Raum gezerrt und dort von sämtlichen Rotarmisten vergewaltigt. Wenn am nächsten Tag eine neue Nachschubkolonne einrückt, beginnt diese höllische Tragödie von neuem. Jeder Versuch eines Widerstandes, jede leichte Geste des Unwillens hatte Genickschuß zur Folge.“¹³⁶²
Laut NS-Presse zogen daher viele Frauen* und Ehepaare den Suizid vor. Sie erschossen sich an den Familiengräbern, stürzten sich in Brunnen oder liefen in brennende Häuser.¹³⁶³ Tatsächlich indizieren die Suizidstatistiken für das Jahr 1945 eine nie dagewesene Anzahl an Selbsttötungen. Darunter befanden sich auch viele Nazi-Größen, inklusive Adolf Hitler und Eva Braun.¹³⁶⁴ Während viele
Generaloberst Guderian klagt an. Der geschändete deutsche Osten. Systematische Ausrottung der Bevölkerung. Offener Mordbefehl General Schukows, Kleine Wiener Kriegszeitung, 7. 3.1945, im 6. Kriegsjahr, Folge 160, 1– 2, hier 1. Offenbar waren in Deutschland die Suizide dort besonders zahlreich, wo die Rote Armee einmarschierte. In Bayern wurden vergleichsweise niedrige Zahlen registiert. Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45 (München 2011) 487. Generaloberst Guderian klagt an, Kleine Wiener Kriegszeitung, 7. 3.1945, 2. Selbst religiöse Frauen* dürften einen Suizid insbesondere dann weniger schändlich als eine Vergewaltigung empfunden haben, wenn es sich beim Täter um einen Rotarmisten handelte. Auch Pfarrer zeigten sich bei diesem Suizidmotiv nachsichtig und gewährten eine Einsegnung. Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs (München 2015) 51. Generaloberst Guderian klagt an, Kleine Wiener Kriegszeitung, 7. 3.1945, 2. An Motiven sind zu berücksichtigen: die unerträgliche Aussicht auf eine schambesetzte Kapitulation und ein Leben ohne Nationalsozialismus. Gebhardt, Als die Soldaten kamen, 52. Eva Braun versicherte Hitler, dass sie nicht ohne NS-Diktatur leben wollte. Dieser schätzte das als besonderen Treuebeweis. Braun hatte bereits 1932 und 1935 Suizidversuche unternommen,
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der NS-Führungsfiguren ihr Handeln als heroisch verstanden wissen wollten – ganz im Anschluss an Cato¹³⁶⁵ – fiel das Urteil der Zeitgenoss*innen differenzierter aus und so war in einer sozialdemokratischen Zeitschrift im Herbst 1945 zu lesen: „Dann standen die Soldaten des genialen Führers vor Moskau. Ist es wahr, daß die Geschichte sich nicht wiederholt? ‚Mit Mann und Roß und Wagen hat sie der Herr geschlagen!‘ Und der ‚geniale Führer‘ hat sich feige der Verantwortung entzogen, als es total schief ging.“¹³⁶⁶ Angesichts des früher breit und intensiv geführten Suiziddiskurses würde man erwarten, dass das Thema nun zurückkehrte. Tatsächlich tat es das aber nicht – trotz der schier unglaublichen Anzahl, der vielen prominenten Namen und der politischen Verwertbarkeit. Relativierend lässt sich einwenden, dass auch die journalistischen Strukturen zusammengebrochen waren und eine Vielzahl an Problemen drängte.¹³⁶⁷ Dieses Argument könnte eine zeitliche Verschiebung nach hinten erklären. De facto fand aber auch eine verspätete Auseinandersetzung kaum statt¹³⁶⁸ und so wurde darüber geschwiegen, dass ganze Familien suizidal gehandelt hatten.¹³⁶⁹ Daher blieb nebulös, wie die einzelnen Familienangehörigen zu dieser Entscheidung gelangt
die als appellativ-erpresserisch verhandelt wurden. Hitler selbst soll sich beim behandelnden medizinischen Personal nach der Ernsthaftigkeit erkundigt haben. Heike B. Görtemaker, Eva Braun. Leben mit Hitler (München 42010) 59 – 63; 111– 112; 256. Kershaw, Das Ende, 486. Fini Tuma, Ein Jahr nach Kriegsende, Die Frau, 2.Jg., Nr. 19, 11.5.1946, 2. Der Zusammenbruch der Presse wirkte verschärfend, da so Gerüchte besonders gut gedeihen konnten. Die massive Ungewissheit dürfte dazu beigetragen haben, das ohnehin ‚suizidale‘ Klima noch zu verstärken. Auch die Vienna Mission, die das ‚russische‘ Wien im Juni 1945 für zwei Wochen inspizierte, beschrieb eine höchst irritierte Bevölkerung: „First impressions of Vienna. (A) population in state of high nervous tension which present evidence has NOT justified. Lack of internal communication facilities breeds exaggerated rumours and isolated instances of high handed behaviour by individual RUSSIANS are commonly taken as typical.“ Siegfried Beer, Eduard G. Staudinger, Die „Vienna Mission“ der Westalliierten im Juni 1945. Eine Dokumentation. In: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte der Stadt Wien 50 (1994) 317– 412, hier 396. Auch Hannes Leidinger weist darauf hin, dass der Blick kaum zurück gerichtet wurde. Wegschieben und Verleugnen dominierten. Die jüngste Geschichte wurde als Ausnahme und als kollektiver Suizid betrachtet. Sie sollte durch eine Rückkehr zu tradierten Ordnungsmustern getilgt werden. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 266. Vor diesem Hintergrund erwies sich der klar fixierte christliche Wertekanon als besonders attraktiv. Die Kirchen ihrerseits führten Krieg und Verbrechen auf die fortschreitende Entkirchlichung und Säkularisierung zurück. Ursula Baumann, Suizid im „Dritten Reich“ – Facetten eines Themas. In: Michael Grüttner et al. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup (Frankfurt/M. u. a. 1999) 482– 516. Selbst sehr konkrete Hinweise, dass Personen gegen ihren Willen getötet worden waren, wurden nicht verfolgt. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 262; 264.
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waren und welche Rolle Machtstrukturen und Hierarchieverhältnisse gespielt hatten. Wie komplex diese Thematik ist, zeigt sich auch daran, dass selbst die rezente Suizidologie um Begrifflichkeiten ringt. Im Strafrecht kristallisierten sich folgende Termini als relevant heraus: Tötung auf Verlangen, Mitwirkung am Suizid sowie Mord und Totschlag. Im psychiatrisch-forensischen Feld wird eher vom Doppelsuizid, Partnertötung mit nachfolgendem Suizid, erweitertem Suizid und Mitnahmesuizid gesprochen.¹³⁷⁰ Die letztgenannten Begriffe sind hochproblematisch, da sie die Täterschaft privilegieren und das Opfer als Anhängsel präsentieren. Diese Perspektive ist vor dem zeitlichen Kontext der 1940er-Jahre besonders relevant, galt doch die Familie als privates Terrain, das dem väterlichen Machtmonopol unterworfen war. Daher war es an diesem Schauplatz besonders leicht möglich, Mord- und Suizidopfer zu vermengen, als ob sie eins wären und als ob es zulässig wäre, dass ein vulnerabler Patriarch seine Angehörigen tötet. Hier ist auch unerheblich, ob er aufgrund finanziellen Schiffbruchs¹³⁷¹ oder, um politische Verfolgung zu antizipieren, handelte: „Politisch oder sonstwie exponierte Persönlichkeiten vernichten z. B. bei einem Umsturz des Regimes die Ehegattin, die Kinder und sich selbst. Solche Fälle sind aus Anlaß der politischen Ereignisse im März 1938 in Wien vorgekommen.“¹³⁷² Interessanterweise wandte sich der Autor dieser wissenschaftlichen Publikation nachfolgend nicht den vielen Suizidtoten von 1945 zu. So konnte der Eindruck entstehen, dass nur jüdische und anderweitig verfolgte Familienväter ihre Angehörigen zum gemeinsamen Suizidhandeln motiviert oder getötet hatten. Freilich blieb in all diesen Fällen das männliche Agens erhalten, welches einem weiblich konnotierten Ertragen diametral gegenüberstand. Gleichzeitig wird so das Verbindende dieser Szenarien evident: das Aus eines Männlichkeitsentwurfs, das auf der Ausübung von Macht und Gewalt beruhte. Privilegierte und komplizenhafte Männlichkeiten dürfte dies besonders erschüttert haben, mussten sie doch auch noch mit rechtlichen Kon-
Maria Faller-Marquardt, Stefan Pollak, Erweiterter Suizid mit Tötung von 5 Familienangehörigen aus 3 Generationen. In: Gerold Kauert et al. (Hg.), Kausalität. Forensische Medizin, Toxikologie, Biologie, Biomechanik und Recht (Berlin 2006) 43 – 53, hier 43 – 45. „Wenn zum Mord die Zustimmung des Opfers nicht gegeben ist, findet man meistens beim Täter und Selbstmörder ein Motiv vorherrschend, das vom Standpunkt des Handelnden vermeintlich auch das Opfer mit ihm verbindet. Hiezu gibt beispielsweise ein wirtschaftlicher Zusammenbruch, die Schande und Angst um die Existenz der Angehörigen, das Endmotiv.“ H. Fuchs, Selbstmordhandlungen. Bearbeitet im Österreichischen Statistischen Zentralamt (Beiträge zur Österreichischen Statistik. Herausgegeben vom Österreichischen Statistischen Zentralamt 62. Heft, Wien 1961) 91. Fuchs, Selbstmordhandlungen. Bearbeitet im Österreichischen Statistischen Zentralamt, 91.
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sequenzen rechnen. Deren Kinder sowie abhängige Familienmitglieder konnten hingegen auf Schonung spekulieren, was deren Tötung umso verwerflicher und egoistischer erscheinen lässt. Interessanterweise handelten unter den tatsächlich gerichtlich belangten Nazis nur wenige suizidal.¹³⁷³ Neben fehlendem Schuldbewusstsein dürfte hier der Glaube, ‚nur‘ Werkzeug und gehorsamer Befehlsempfänger gewesen zu sein, eine Rolle gespielt haben.¹³⁷⁴
(Nicht‐)Bearbeitungen Am ehesten setzten sich noch jene mit den vielen Suiziden auseinander, die verfolgt worden waren, wobei hier die Sozialdemokrat*innen und die Kommunist*innen hervorstachen. Wenig überraschend fokussierten sie das suizidale Verhalten ihrer Parteigenoss*innen, da viele von ihnen den Terror am eigenen Leib zu spüren bekommen hatten.¹³⁷⁵ Die seit dem 3. November 1945 wiedererscheinende sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Frau klagte dies in ihrer ersten Ausgabe an und kritisierte die „vollständige allgemeine Rechtslosigkeit“ und die „vorher unvorstellbare gewesenen H e r a b w ü r d i g u n g d e r F r a u “.¹³⁷⁶ In derselben Nummer schilderte Grete Stabey, eine ehemalige politische Gefangene im KZ Ravensbrück, die quälenden Zählappelle und die stets drohende körperliche Züchtigung. Regelmäßig stürzten sich welche in den elektrisch geladenen Zaun: „Wir kommenden zu dem elektrisch geladenen dichten Stacheldraht, der das ganze Lager umspannt. Ein junges Mädchen hängt tot im Draht. Weder die Entnazifizierung noch die Strafverfolgung bewirkten bemerkenswertes suizidales Verhalten unter den Betroffenen. Insgesamt wurden 13.607 Schuldsprüche von den österreichischen Volksgerichten gefällt – darunter 43 Todesurteile. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 260. Gerd R. Ueberschär, Rainer A. Blasius (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 – 1952 (Frankfurt/Main 1999). Konrad Kwiet, Von Tätern zu Befehlsempfängern. Legendenbildung und Strafverfolgung nach 1945. In: Jürgen Matthäus et al. (Hg.), Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der „Endlösung“ (Frankfurt/Main 2003) 114– 138. Ruth Bettina Birn, Die Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen und deren politische und moralische Folgen für die beiden Deutschland. In: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau (München 1995) 393 – 418. Yoram Dinstein, The Defence of ‚Obedience to Superior Orders’ in International Law (Reprint Oxford 2012) 125 – 156; 162– 190. Mathias Wirth, Distanz des Gehorsams. Theorie, Ethik und Kritik einer Tugend (Religion in Philosophy and Theology 87, Tübingen 2016) 43 – 90. Sozialistinnen beraten, Die Frau, 1. Jg., Nr. 2, 10.11.1945, 2– 3, hier 2. Das Frauenzentralkomitee der Sozialistischen Partei Österreich, Elf Jahre, Die Frau, 1. Jg. Nr. 1, 3.11.1945, 1.
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Erschüttert stehen wir da. Wollte sie heim? Oder – wollte sie dies alles nicht mehr ertragen? Sie konnte es uns ja nicht mehr sagen.“¹³⁷⁷ Stabey vermied es, sich auf ein Motiv festzulegen, was bemerkenswert ist, da das stark reglementierte Lagerleben zu eindeutigen Schlüssen einlud. Offenbar blieb aber selbst hier suizidales Handeln komplex und interpretationsbedürftig. Die begleitende Illustration legte eine weitere Deutungsmöglichkeit nahe und zwar als märtyrerhafte Geste. Das Opfer hing nicht schlaff im Zaun, sondern schien vielmehr an ihm zu rütteln – wie eine Kämpferin, die sich dem Unrecht entgegenstemmt. Die kraftvolle Pose, die starken Oberarme, all das referenzierte der erwachten und organisierten Arbeiter*innenschaft.
Abb. 8: Ohne Titel (Tod am Starkstromzaun), Zeichnung v. F. Mynni. F. Mynni, Ohne Titel, Die Frau, 1. Jg., Nr. 1, 3. 11. 1945, 4.
Offenbar ließ die SS die leblosen Körper hängen und entfernte sie erst nach und nach, was Stabey zu folgender Überlegung anregte: „Aber was wollte die SS damit bezwecken, daß sie uns diesen Anblick aufzwang? Sie wollte uns wohl den Weg weisen, denn tausende Menschenleben galten ihnen nichts.“¹³⁷⁸ Die Ausstellung der Leichen dürfte eher der Abschreckung gedient haben. Aus dem gleichen Grund waren früher zu einem unehrlichen Tod Verurteilte nicht vom Grete Stabey, Zählappell, Die Frau, 1. Jg., Nr. 1, 3.11.1945, 4. Grete Stabey, Zählappell, Die Frau, 1. Jg., Nr. 1, 3.11.1945, 4.
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Galgen abgenommen worden.¹³⁷⁹ Für diese Interpretation spricht auch, dass die SS suizidales Handeln in den Lagern bestrafte.¹³⁸⁰ Wer bei einer suizidalen Handlung ertappt wurde, den trafen Prügel oder eine qualvolle Ermordung. Laut dem Ausschwitz-Überlebenden Jean Améry wogen daher viele genau ab: „Es war bezeichnend für die Situation des Häftlings¹³⁸¹ dem Tode gegenüber, daß nur wenige sich entschlossen, ‚an den Draht zu laufen‘, wie man sagte, das heißt: durch Berühren der mit Starkstrom geladenen Stacheldrähte Selbstmord zu begehen. Der Draht war ja eine gute und ziemlich sichere Sache, vielleicht aber wurde man noch vorher, beim Versuch, sich ihm zu nähern, ertappt und in den Bunker geworfen, was zu einem schwierigen und peinvolleren Sterben führte. Das Sterben war allgegenwärtig, der Tod entzog sich.“¹³⁸²
Offensichtlich quälte viele Inhaftierte weniger die Todesangst als vielmehr die Furcht vor einem schmerzhaften und langwierigen Sterben. In den Lagern war nur das Eine gewiss, und zwar, dass man sie eher tot als lebendig verlassen würde, und daher drängte das Wie in den Vordergrund. Gleichzeitig reklamierte die SS die vollkommene Durchgestaltung des Sterbens für sich, um keinen Moment die Kontrolle zu verlieren.¹³⁸³ In dieses Bild passen auch die Schilderungen von Stanislaw Grzesiuk, der die Lager Dachau, Mauthausen und Gusen überlebte. Er
Richard J. Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532– 1987 (Berlin 2001). Die Nürnberger Prozesse (1946) sahen bei den ausgesprochenen Todesurteilen den Vollzug mittels Strang vor – und damit die Konnotation der unehrlichen Hinrichtung. Das Erhängen war von den Nazis 1933 wieder eingeführt worden und löste das zuvor praktizierte Enthaupten ab. Hermann Göring protestierte vehement gegen den Strang und forderte für sich die Erschießung durch ein Hinrichtungskommando. Er kam dem Hängen durch Suizid mittels Zyankali zuvor. Roger Manvell, Heinrich Fraenkel, Goering. The Rise and Fall of the Notorious Nazi Leader (London et al. 2011) 393. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 253 – 254. Der Terminus des KZ-Häftlings impliziert ein männliches, erwachsenes Subjekt. Das ergibt sich bereits aus dem grammatikalischen Genus, das eine weibliche Form nicht zulässt. Damit werden Kinder, Jugendliche, Frauen* und alte Menschen ausgeschlossen.Vor dieser Folie war die Aufmerksamkeit für den KZ-Lagerkomplex Ravensbrück lange gering. Die vorgenommene ReFokussierung produzierte einen weiteren Ausschluss. Ravensbrück wurde fortan als Frauen*-KZ beschrieben, womit die dort untergebrachten Männer* marginalsiert wurden. Manuela Gerlof, Tonspuren. Erinnerungen an den Holocaust im Hörspiel der DDR (1945 – 1989) (Berlin u. a. 2010) 216 – 217. Zur geschlechtsspezifischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur im Kontext des NSGenozids siehe: Insa Eschebach et al. (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids (Frankfurt/M. et al. 2002). Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (Stuttgart 72012) 44– 45. Marion Kaplan, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland (Berlin 2001) 257.
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berichtete, dass die SS ausgewählte Inhaftierte so lange drangsalierte, bis dass diese ‚freiwillig‘ in den Zaun oder die Wachpostenlinie liefen.¹³⁸⁴ Solcherart füllten weniger Suizidtote die Lagerbücher, wurden diese doch als auf der Flucht erschossen registriert.¹³⁸⁵ Im Rahmen der horizontalen Machtverteilung entschieden aber auch Block- und Stubenälteste sowie Kapos, wer „erledigt“ werden sollte.¹³⁸⁶ Damit waren angeordnete Suizide gemeint, etwa weil der Betroffene gestohlen oder die Stube verunreinigt hatte. Wer sich widersetzte, wurde zu Tode geprügelt, ertränkt oder dem Erfrieren ausgesetzt.¹³⁸⁷ Auch Rosa Jochmann berichtete über Starkstromtote und darüber, wie die toten Leiber präsentiert wurden: „So manche Kameradin, die all das seelische und körperliche Leid nicht ertragen konnte, wählte den Freitod im elektrischen Draht, und wir mußten an ihr vorbeimarschieren, vorbei an der lachenden SS, die sich königlich amüsierte über unsere bestürzten Gesichter und über unser Gefühl der tiefsten Ohnmacht. Wir marschierten vorbei mit der stummen Frage in unserem Herzen, wie lange all die Qual noch dauern soll.“¹³⁸⁸
Bemerkenswert an ihrer Aussage war die Begriffswahl, sprach sie doch von einem Freitod. Gänzlich anders fiel diese beim Suizid der Parteifreundin Sophie Pigler aus, welche als Opfer der Nazi-Schergen präsentiert wurde, weil diese sie „zum Selbstmord getrieben“ hatten.¹³⁸⁹ Offenbar ließen auch Verfolgungsszenarien kontroverse Deutungen zu: hier das Opfer von äußerem Zwang, dort das Subjekt, welches souverän und autonom handelte.
Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 52. Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 165. Auch Grzesiuk sollte erledigt werden. Eines Tages wurde er zum Lehmschaufeln befohlen und der Kapo schlug ihn den ganzen Tag. Zugleich verkündete er ihm, dass er morgen ins Krematorium kommen würde. Daraufhin beschloss Grzesiuk „in den Draht zu gehen, ein Augenblick, und man ist erledigt. Ich ging schon die Allee entlang, die man nicht überschreiten durfte. Ich sah schon, wie der Posten hinter den Drähten das Gewehr abnahm, um – wenn ich bereits in die Drähte gegriffen haben würde – den Häftling beim ‚Fluchtversuch‘ zu erschießen. Da dachte ich mir, dass ich es vielleicht überlebe, und dass ich mich dann würde rächen können, wenn ich aber im Stacheldraht umkomme, wer würde mich dann rächen? Da kehrte ich um.“ Er hatte am nächsten Tag unwahrscheinliches Glück. Der Arbeitsdienst entfiel, da im Lager Typhus ausgebrochen war und niemand es verlassen durfte. Und so war er auch vor dem Kapo sicher. Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 261– 262. Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 287. Rosa Jochmann, Was wir niemals vergessen dürfen! Die Frau, Ruf an die Frauen und Mädchen, 1. Jg., Nr. 3, 17.11.1945, 1– 2, hier 2. Sozialistinnen beraten, Die Frau, 1. Jg., Nr. 2, 10.11.1945, 2– 3, hier 2.
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Bezüglich weiblicher KZ-Inhaftierter sticht hervor, dass viele die physische Aufnahme ins Lager als traumatisch erlebten.¹³⁹⁰ Besonders das Scheren des Kopfhaares demütigte und bewegte regelmäßig Frauen* dazu, den Tod am elektrischen Zaun zu suchen.¹³⁹¹ Wer seine Haare verlor, der wurde eines zentralen weiblichen Insignums beraubt und daher das Trauma. Gleichzeitig wird so evident, dass eine intakte geschlechtlichen Identität und Performance eine wichtige Überlebensstrategie darstellte.¹³⁹² Von ähnlich zentralem Stellenwert waren soziale Beziehungsgeflechte, denn wer in ein Netzwerk integriert war, der wurde eher mit dem Lebensnotwendigen versorgt und auch psychisch unterstützt.¹³⁹³ Resilienz war enorm wichtig, wie auch Stanislaw Grzesiuk betonte: „Wer psychisch zusammenbrach, war schnell erledigt, weil er dann auf nichts mehr reagierte und ihm alles egal war. Wer so passiv war, ergab sich seinem Schicksal. Er hörte auf, um sein Leben zu kämpfen, weil er nicht daran glaubte, dass man überleben kann, und in diesem Fall konnte er verständlicherweise nicht überleben.“¹³⁹⁴ Gleichzeitig gab es auch ‚Beziehungen‘ und sexuelle Begegnungen, die vor allem ‚pragmatisch‘ und hierarchisch strukturiert waren. Damit ist die sogenannte Lagerhomosexualität gemeint, die sowohl zwischen Männern* als auch Frauen* auftrat.¹³⁹⁵ Natürlich gab es auch echte Partnerschaften, aber viele waren geprägt von Zwang und Gewalt.¹³⁹⁶ Besonders Funktionshäftlinge und sogenannte Prominente nötigten junge und gutaussehende Inhaftierte, womit sie nicht nur ihre Macht ausnützten, sondern auch festigten. Grzesiuk verurteilte diese
Lisa Pine, Testimonies of Trauma: Surviving Ausschwitz-Birkenau. In: Peter Leese, Jason Crouthamel (Eds.), Traumatic Memories of the Second World War and After (Basingstoke 2016) 69 – 93. Jack G. Morrison, Ravensbrück. Das Leben in einem Konzentrationslager für Frauen 1939 – 1945 (Zürich 2002) 49. Zu den KZ-Erfahrungen von Buchmann siehe: Erika Buchmann, Die Frauen von Ravensbrück (Berlin 1960). Maja Suderland, Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager (Frankfurt/M.) 2004. Morrison, Ravensbrück,142. Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 51. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 – 1945, 193. Hinzukamen reine Zwangsverhältnisse und Vergewaltigungen. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 – 1945, 192. Grzesiuk beschrieb die Situation folgendermaßen: „Es gab solche, die wirklich aus Hunger mitmachten. Es gab solche, die hätten nicht schlecht leben können, aber sie wollten sehr gut leben. Und es gab viele, die es aus Neugierde taten. Wie Affen. Sie wussten, dass andere es taten, und wollten auch. Ich kannte einen jungen Mann, der das machte, obwohl er eine gute Arbeit hatte und viele Pakete von Zuhause bekam. Als ich ihn fragte, warum er das macht, antwortete er, weil es ihm Vergnügen bereitet. Ein anderer antwortete, als wir ihn ansprachen: ‚Was schadet es mir, schließlich macht er mir kein Kind‘“. Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 437.
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‚Arrangements‘: „Ich wurde wütend. Ich beschimpfte ihn und sagte, dass jemand, der viel Essen hat, es anderen geben und sie nicht in sein Bett holen soll. Denn wenn so jemand kommt, dann nicht, weil der dabei Vergnügen empfindet, sondern nur, weil er Angst hat zu hungern …“¹³⁹⁷ Gleichzeitig beobachtete er an sich selbst, dass sich sein heteronormatives Wertegerüst zu lockern begann und er sich von Männern* angezogen fühlte: „Und bitteschön! Ein paar Monate nach diesem Gespräch erwischte ich mich selbst dabei, dass mir Jungs zu gefallen begannen. Das war – in meinem Verständnis – keine Perversion, sondern das natürliche Bedürfnis, sich sexuell auszuleben. Es gab auch Perverse, aber die Mehrheit der ‚Herren‘ sah, nachdem sie freigekommen waren, Jungs nicht einmal mehr an.“¹³⁹⁸
An anderer Stelle drückt Grzesiuk sogar sein Bedauern aus, dass ihm nie jemand Avancen machte, was er auf sein Alter und seine vermeintlich mangelnde Attraktivität zurückführte. Daher fühlt er sich in eine „fabelhafte Stimmung“ versetzt, als ihn sein Hallenleiter einmal auf die Wange küsste.¹³⁹⁹ Viele bemühten sich, suizidales Verhalten von ihnen wichtigen Personen zu zerstreuen, wovon auch Käthe Sasso ‚profitieren‘ sollte: „Und da war ich soweit, ich hab‘ nicht mehr können und wollt‘ am Draht gehen – am Draht, das heißt am Stacheldraht, der elektrisch geladen war, mit Starkstrom. Und jeder, der dort hingegangen ist, ist schwarz geworden wie eine Kohle. Ich war so verzweifelt, ich wollt‘ mir das Leben nehmen … Und als ich dort hingegangen bin, zum Draht, kommt eine Österreicherin, die Bertl und fragt was mit mir los ist? Ich sagte ihr – ich kann nicht mehr, ich geh am Draht! Die hat mir rechts eine Watschen gegeben und links eine Watschen, die waren von keinen schlechten Eltern – und ich bin nicht mehr am Draht gegangen. Ich war empört – das Luder! Ein Häftling und haut auf mich. Das war aber das einzige was geholfen hat. Und dann hat sie noch gesagt: ›Glaubst‘, wir wollen wieder alle Appell stehen?‹ Weil, wenn einer am Draht gegangen ist, mussten alle Strafappell stehen. Aber das war nicht die Triebfeder, sondern sie wollte mich einfach zurückhalten. Und daraufhin bin ich wieder zurück in meinen Block und habe es nicht getan.“¹⁴⁰⁰
Aus all diesen lebensgeschichtlichen Schilderungen geht hervor, dass Mord und Suizid nahe beieinanderlagen, insbesondere dann, wenn sich die Betroffenen selbst aufgegeben hatten. So beschrieb etwa eine Ravensbrück-Überlebende, dass
Stanislaw Grzesiuk, Fünf Jahre KZ (Mauthausen Erinnerungen 4, Wien u. a. 2020) 435. Grzesiuk, Fünf Jahre KZ, 435. Grzesiuk, Fünf Jahre KZ, 437. Katja Seidel im Gespräch mit Käthe Sasso, Die Letzten Zeugen. A Letter to the Stars. Verein Lernen aus der Zeitgeschichte, online unter , 16. 5. 2017.
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sich eine Mitinhaftierte auf den Barackenboden legte und jedes Aufsehen verweigerte. Da sie weder durch Zureden noch durch Drohungen umgestimmt werden konnte,¹⁴⁰¹ wurde sie schlussendlich von der SS entfernt – ohne dass ihr Schicksal je bekannt geworden wäre.¹⁴⁰² Anhand dieses Falles stellt sich die Frage, ob reduzierte Überlebensanstrengungen überhaupt mit suizidalem Verhalten assoziiert wurden.¹⁴⁰³ Bei einer Verknüpfung wäre nämlich die Behauptung, dass suizidales Verhalten in den NS-Lagern selten vorkam, nicht haltbar.¹⁴⁰⁴ Diese Annahme dürfte auch fundamental mit einem Geschlechterbias zu tun haben, wurde die Selbsttötung doch auf ein männliches und zielstrebiges Subjekt zurückgeführt. Fehlte ein solches Agens, so schienen die dennoch produktiven Aspekte der Selbstaufgabe ignoriert zu werden. Der Fokus von Die Frau lag ganz klar auf der Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen, weshalb sie vor allem die täglichen Sorgen und Nöte thematisierte. Sie zeigte sich aber auch erbost, dass nun kaum jemand ein Nazi gewesen sein wollte.¹⁴⁰⁵ Ihre besondere Aufmerksamkeit genossen die ersten Heimkehrenden –
Erika Buchmann fungierte seit Jänner 1945 als Blockälteste im Ravensbrücker TuberkuloseAreal. Sie beschrieb ihren Dienst folgendermaßen: „In der ständigen engsten Gemeinschaft mit so vielen gegensätzlichen Menschen, ohne eine Möglichkeit zur Ruhe und Selbstbesinnung, waren die meisten zu dahinvegetierenden Nervenbündeln geworden. Mit ihnen einen letzten Rest von Ordnung zu erhalten, sie vor der Selbstzerfleischung und Selbstaufgabe zu bewahren – das war eine sehr schwere Aufgabe für die Block- und Stubenältesten.“ Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.), Die Frauen von Ravensbrück (Zusammengestellt und bearbeitet von Erika Buchmann, Berlin 1960) 139. Morrison, Ravensbrück, 142. Hier ist insbesondere an Teilnahmslosigkeit, Traurigkeit und Auszehrung zu denken. Meine Erlebnisse im Konzentrationslager Mauthausen. Paul Geier – KZ-Häftling Nr. 14985. Karl Breitenfellner – Schutzhäftiling Nr. 50801 (Norderstedt 2017) 14. Melanie Dejnega, Rückkehr in die Außenwelt. Öffentliche Anerkennung und Selbstbilder von KZ-Überlebenden in Österreich (Wiener Studien zur Zeitgeschichte 4, Wien u. a. 2012) 132. Paul Matussek et al., Die Konzentrationslagerhaft und ihre Folgen (Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie. Psychiatrie Series 2, Berlin u. a. 1971) 100 – 118. „Wie schon erwähnt, brach der Lebenswille im KZ selbst relativ selten zusammen, im Gegenteil, die schwersten Gefahren und Prüfungen, denen der Mensch ausgesetzt war, stärkten meist den Selbsterhaltungstrieb.“ Erwin Ringel, Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung. Eine Untersuchung an 745 geretteten Selbstmördern (Wiener Beiträge zur Neurologie und Psychiatrie III, Wien u. a. 1953) 68. „Heute sitzen die Nazis. Nicht alle, oh nein, Gott behüte! Denn es hat ja plötzlich ganz erstaunlich wenig Nazi in Österreich gegeben, keiner will einer gewesen sein, keiner hat den Charakter zu seiner Gesinnung zu stehen. Alle waren, wenn man ihnen zuhört, ‚nur gezwungen‘ oder ‚zum Schein‘ dabei.“ El-y, Einst und Jetzt. Damals saßen wir – heute die Nazi, Die Frau, 2. Jg., Nr. 2, 12.1.1946, 3.
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die sich ihre Ankunft offenbar anders vorgestellt hatten.¹⁴⁰⁶ Wenn dieser Begriff fiel, dann waren damit ehemalige Wehrmachtsangehörige gemeint, denn LagerÜberlebende und Exilant*innen schienen nicht in diese Gruppe hineinzufallen und wurden so ein weiteres Mal ausgeschlossen.¹⁴⁰⁷ Besonders marginalisiert wurden ehemalige Rosa-Winkel-Träger,¹⁴⁰⁸ die nicht als NS-Opfer galten und deren Wiedergutmachungsanträge unter Hinweis auf den Paragrafen 129 abgelehnt wurden.¹⁴⁰⁹ Dieser blieb auch weiterhin aufrecht und damit auch die grundsätzliche Kriminalisierung und Verfolgung. Die Zeitschrift haderte damit, dass sich so mancher Heimkehrende selbst Gewalt antat und formulierte daher in einem solchen Fall nebulos: „Er wird wohl zusammengesunken und für immer eingeschlafen sein.“¹⁴¹⁰ Zu verstörend dürfte für sie gewesen sein, dass ein Soldat den Krieg überlebt hatte und nun nicht weiterleben wollte. Für den KZ-Überlebenden und Psychologen Erwin Ringel kam das weniger überraschend, wurden doch vielen die Gräuel erst nach und nach voll bewusst. Er verwies dabei auf KZ-Inhaftierte, die „oft die Haft selbst ohne jede seelische Störung überstanden, nach wiedererlangter Freiheit aber vielfach zusammenbrachen“.¹⁴¹¹ Zudem sei die NS-Zeit mit einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung einhergegangen, welche die Überlebenden weiterhin beschäftige und in Konflikte stürze.¹⁴¹² Ein Artikel in Die Frau bot konkrete Ratschläge, um suizidalen Impulsen unter den Heimkehrenden zu begegnen. Mit folgendem Szenario wurde ein dementsprechender Beitrag eingeleitet: „Doch als der erste Redeschwall zu Ende ist, ist auch der Jammer da. ‚Ich fahr zurück oder ich erschieße mich‘.“¹⁴¹³ Die Umstehenden versuchten, die Situation durch Witz und Ironie zu entschärfen:
Dem schwierigen Heimkommen setzte Wolfgang Borchert 1947 mit Draußen vor der Tür ein literarisches Denkmal. Suizidales Verhalten spielt eine durchgehende Rolle im Stück, u. a. gleich am Anfang, als die Elbe den suizidalen Protagonisten zurückweist und ihn wieder ausspuckt. Mehrmals plant er seine Tat zu wiederholen, verzichtete dann aber. Nicht so sein Vater – ein NaziAnhänger – und seine Mutter. Beide töteten sich selbst, weil sie ihre Schuld nicht akzeptieren wollten. Am Ende wird eine erneute suizidale Handlung des Protagonisten avisiert. Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk (Reinbek 2007) 115 – 192. Ela Hornung, Trennung, Heimkehr und Danach. Karls und Melittas Erzählungen zur Kriegsund Nachkriegszeit. In: Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1995) 133 – 149. Ähnliches gilt für Zwangssterilisierte sowie Roma und Sinti. Zudem wurden sie weiterhin als vorbestraft geführt. Eder, Homosexualitäten, 98. Wir wollen unsere Kriegsgefangenen! Enttäuscht die Heimkehrer nicht, Die Frau, 2. Jg., Nr. 2, 12.1.1946, 1– 2, hier 1. Ringel, Der Selbstmord, 3 – 5. Ringel, Der Selbstmord, 3 – 5. Die Frau und der Heimkehrer, Die Frau, 2.Jg., Nr. 9, 2. 3.1946, 1– 2, hier 1.
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„‚Geh nur gleich hinaus auf den Friedhof und tue es, da ersparst du uns das Hinausführen.‘ Betroffenheit bei dem Mann und gleich darauf: ‚Die Freud‘ mach ich euch nicht.‘ Er hat nie mehr vom Erschießen oder Weggehen gesprochen. Gemeinsam haben wir dann seine Frau und sein Kleines heimgeholt.“¹⁴¹⁴
Die Kriegsereignisse und das Heimkommen in ein verändertes Zuhause belasteten viele Soldaten.¹⁴¹⁵ Zudem wirkte das Erlebte lange nach und konnte auch noch viele Jahre später suizidales Verhalten begünstigen, wie etwa im Fall des 58-jährigen Landwirts Johann Rathmayr.¹⁴¹⁶ Allerdings wurde sein Suizid weniger mit dem Krieg als mit seiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft verknüpft, die ihn „geistig verändert und lebensmüde“ zurückließ.¹⁴¹⁷ Viele der Heimkehrenden
Die Frau und der Heimkehrer, Die Frau, 2.Jg., Nr. 9, 2. 3.1946, 1– 2, hier 1. Alice Förster und Birgit Beck plädieren dafür, kriegs- und gewaltbedingte Traumata und ihre Konsequenzen interdisziplinär zu erforschen. Zentral ist es, ahistorische und kulturblinde Forschungssettings zu überwinden und physische sowie psychische Vulnerabilität zu fokussieren. Diesem Anspruch versuchen die sich rasch entwickelnden Historical Trauma Studies Rechnung zu tragen. Alice Förster, Birgit Beck, Post-Traumatic Stress Disorder and World War II: Can A Psychiatric Concept Help Us Understand Postwar Society? In: Richard Bessel, Dirk Schumann (Eds.), Life After Death. Approaches to a Cultural and Social History During the 1940s and 1950s (Publications of the German Historical Institute, Cambridge 2003) 15 – 35. Peter Leese, Jason Crouthamel, Introduction. In: Leese, Crouthamel (Eds.), Traumatic Memories of the Second World War and After, 1– 19. Während Kriegsgefangenen offenbar Traumatisierungen zugestanden wurden, erfuhren KZ-Häftlinge deutlich weniger Verständnis. Dies kommt in zahlreichen Gutachten zum Ausdruck, die das Opferfürsorgegesetz forderte. Laut diesen sollten spätestens nach zwei Jahren alle Störungen erloschen und daher auch keine Ansprüche zu befriedigen sein. Helga Embacher, Maria Ecker. A Nation of Victims. How Austria dealt with the victims of the authoritarian Ständestaat and national socialism. In: Jolande Withuis, Annet Mooij (Eds.), The Politics of War Trauma. The Aftermath of World War II in Eleven European Countries (Amsterdam 2010) 15 – 47, here 37– 38. Siehe dazu auch: Brigitte Bailer-Galanda, Entschädigung für seelisches Leid? Verfolgungsbedingte Gesundheitsschäden und das österreichische Opferfürsorgegesetz. In: Alexander Friedmann et al., Psychotrauma. Die posttraumatische Belastungsstörung (Wien u. a. 2004) 213 – 221. Es gab nur einige wenige Ärzt*innen wie Viktor Frankl, Emanuel Edel und Ella Lingens-Reiner, die sich gegen diese Ignoranz und das allgemeine Schweigen positionierten. Wobei Frankl insbesondere die Aussöhnung fokussierte. Timothy Pytell,Viktor Frankl: The Inside Outsider. In: Günter Bischof, Fritz Plasser, Eva Maltschnig (Eds.), Austrian Lives (Contemporary Austrian Studies 21, New Orleans 2012) 240 – 255. Von dieser ‚Vergessenheit‘ blieben nur prominente Suizidfälle ausgenommen. Die Selbsttötungen von Bruno Bettelheim, Primo Levi, Paul Celan und Jean Améry wurden alle auf KZ-Traumatisierungen zurückgeführt. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 265. Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, 149. In der Gefangenschaft verlor er den Verstand, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 337, 21. Mai 1960, 7. Johann Rathmayr zählte zu den insgesamt 135.000 österreichischen Kriegsgefangenen, die in sowjetischen Lagern interniert waren. Ihre Lage war besonders prekär, da die Sowjetunion das
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litten daran, dass sie zu Opfern geworden waren und dass das propagierte Männlichkeitsideal aus Kampf und unbedingter Selbstüberwindung nun darnieder lag. Wie mit dem psychisch und leiblich eingeschriebenen Erfahrungen umgehen? Wie mitfühlender Sorge und Nachfrage begegnen? Dieses schwierige Austarieren zeigte sich auch bei einem Heimkehrenden, der sich zuerst unbeeindruckt zeigte, dann aber in eine Krise geriet: „Er aber konnte Mitleid nicht mehr ertragen, übernahm seine Kräfte und täuschte den Kreis. Dann kam der Zusammenbruch. Es ging nicht mehr. Zehn Tage Spital, Ruhe, Umgebung von Kranken, die nicht schaffen konnten, der Besuch, der Leckerbissen brachte, und es ging besser.“¹⁴¹⁸ Vor diesem Hintergrund debattierte Die Frau regelmäßig, wie man den Heimkehrenden die Eingewöhnung erleichtern könne. Solcherart gerieten auch die veränderten Geschlechtskonzepte und ihre Ordnung in den Fokus und daher bemühte sich die Zeitschrift zu erklären, warum Frauen* in männliche Territorien eingebrochen waren: „Die Männer dürfen nicht vergessen: wir waren sechs Jahre fast allein auf uns gestellt, wir mußten im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen anziehen“.¹⁴¹⁹ Gleichzeitig versicherte sie, dass sich die Frauen* bald wieder in die zweite Reihe zurückziehen würden: „Alles das hat uns härter, in mancher Beziehung recht ‚kantig‘ gemacht, das s e l b s t s t ä n d i g e E n t s c h e i d e n und Handeln, zu dem wir bisher genötigt waren, werden wir erst mit der Zeit und allmählich ablegen können, um dann wieder die a n s c h m i e g s a m e G e f ä h r t i n zu sein, die ihr Männer braucht und euch wünscht und die wir von Natur aus auch sind.“¹⁴²⁰
Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929 nicht unterzeichnet hatte. Günter Bischof, Barbara Stelz-Marx, Lives Behind Barbed Wire: A Comparative View of Austrian Prisoners of War during and after World War II in Soviet and American Captivity. In: Günter Bischof et a. (Hg.), Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr (Wien u. a. 2005) 327– 358. Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrung im Zweiten Weltkrieg (München 2011). Frank Biess, Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany (Princeton et al. 2006). Die Frau und der Heimkehrer, Die Frau, 2. Jg., Nr. 9, 2. 3.1946, 1– 2, hier 2. Anny Gomsi, Wir mußten die Hosen anziehen, Die Frau, 2.Jg., Nr. 7, 16. 2.1946, 7. Anny Gomsi, Wir mußten die Hosen anziehen, Die Frau, 2.Jg., Nr. 7, 16. 2.1946, 7. Maria Mesner notiert zwar auch eine „Hausfrauisierung“, widerspricht aber der verbreiteten These von der Rückkehr zur kleinbürgerlichen Familienorganisation. Tatsächlich fand erst in den 1950erJahren die breite Durchsetzung dieses Familienmodells statt. Zentral hierbei ist, dass die Möglichkeit, sich zu verheiraten und eine patriarchal organisierte Familie zu gründen, vielfach als sozialer Gewinn empfunden wurde. Maria Mesner, Geburten/Kontrolle. Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert (Wien u. a. 2010) 175. Erika Thurner, Die stabile Innenseite der Politik. Geschlechterbeziehungen und Rollenverhalten in Österreich in den Fünfzigern. In: Thomas Albrich et al. (Hg.), Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte (Band 11, Innsbruck 1995) 53 – 66.
(Nicht‐)Bearbeitungen
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Nichtsdestotrotz regte sich auch Widerstand und so ärgerte sich Maria Wesp in einem Leserbrief, dass bei vielen Neubesetzungen Frauen* systematisch übergangen wurden und dass die Männer* wenig kollegial reagierten.¹⁴²¹ Viele heterosexuelle Paare fanden sich nach dem Krieg entfremdet und traumatisiert wieder. Zudem hatten viele Frauen* sexuelle Gewalt erlebt und waren so auch schwanger geworden.¹⁴²² Vor dieser Folie zerbrachen in den Nachkriegsjahren viele Ehen und die Scheidungsrate schnellte hoch.¹⁴²³ Gleichzeitig kehrten viele Angehörige überhaupt nicht mehr aus dem Krieg zurück. So hatte etwa auch Maria Spr. den von ihr als Lebenskamerad bezeichneten Partner verloren, weshalb sie zweifelte, ob es Sinn machen würde, weiterzuleben: „Oft überkam mich eine solche Mutlosigkeit, daß ich am liebsten Schluß gemacht hätte. Wozu noch weiter vegetieren? Was konnte mir noch beschieden sein?“¹⁴²⁴ Eine andere Schreiberin, Maria Dorner, beklagte, dass ihre ohnehin dezimierte Familie schlimmen Hunger litt.¹⁴²⁵ Vor diesem Hintergrund sei es „kein Wunder, daß die ‚Gasunfälle‘ täglich
Maria Wesp, Müssen Frauen immer die Letzten sein? Die Frau, 2. Jg., Nr. 4, 26.1.1946, 7. Eine verzweifelte Mutter, Das Kind einer grausamen Zeit, Die Frau, 2. Jg., Nr. 3, 19.1.1946, 8. Während vor allem Rotarmisten in den öffentlichen Fokus gerieten, übten auch US-amerikanische, französische, belgische und britische Armeeangehörigen sexuelle Gewalt aus. Letztere verzichteten offenbar am ehesten darauf. Was kaum erinnert wird, auch Männer* wurden vergewaltigt. Da sich diese Übergriffe nicht mit den akzeptierten Männlichkeitskonzepten vereinbaren ließen und die heteronormative Ordnung bedrohten, wurden sie besonders tabuisiert. Gebhardt, Als die Soldaten kamen, 23 – 41. Helke Sander, Barbara Johr (Hg.), BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder (Frankfurt/M. 2005). J. Robert Lilly, Taken by Force. Rape and American GIs in Europe during World War II (Basingstoke 2007). James W. Messerschmidt, The Forgotten Victims of World War II. Masculinities and Rape in Berlin, 1945. In: Violence Against Women 12/7 (2006) 706 – 712. Udo Grashoff, „In einem Anfall von Depression …“ Selbsttötungen in der DDR (Berlin 2006) 187. Julia König, Susanne Schmitz, Single girls, playboys und bachelors. Phänomene der Nachkriegszeit aus einer feministischen Perspektive. In: Feminismus Seminar (Hg.), Feminismus in historischer Perspektive. Eine Reaktualisierung (Bielefeld 2014) 165 – 183, hier 170. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein wurde eine Krise der Ehe und der heterosexuellen Beziehungen postuliert. Solcherart sollten die erschütterte heteronormative Sexual- und Geschlechterordnung und der moralische Bankrott der NS-Zeit eingefangen werden. Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (München 2005) 127– 171. Zum Umgang mit Sexualität in der Nachkriegszeit: Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität (München 22009) 212– 217. Maria Spr., Der Lebenskamerad, Die Frau, 2.Jg., Nr. 8, 23. 2.1946, S.3 Zum geschlechtsspezifischen Umgang mit Hunger, Schwarzmarktkäufen und dem sogenannten Hamstern siehe: Irene Bandhauer-Schöffmann, Women’s Fight for Food: A Gendered View of Hunger, Hoarding and Black Marketeering in Vienna after World War Two. In: Claire Duchen, Irene Bandhauer-Schöffmann (Ed.), When the War Was Over. Women, War, and Peace in Europe, 1940 – 1956 (London et al. 2000) 71– 88. Zur systematischen Schlechterstellung von
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zunehmen … Warum quält man uns so und läßt uns langsam verhungern?“¹⁴²⁶ Trotz dieser sehr direkten Anspielung warnte die Zeitschrift nur verklausuliert, mit Leuchtgas vorsichtig umzugehen. Deutlich engagierter zeigte sich das Blatt, wenn es um heterosexuelle Liebes- und Sexualkontakte mit den Besatzungssoldaten ging. Und so wurde Kritik laut, dass sich so manche Frau* den fremden Männern* an den Hals werfen und die heimischen verschmähen würde.¹⁴²⁷ Diese Beziehungen wurden auch zum Gegenstand der Motivstatistik, wie etwa in der Stadt Salzburg, die in ihrem Statistischen Jahrbuch den Zwist mit oder wegen eines US-Soldaten zu führen begann.¹⁴²⁸ Gescheiterte Beziehungen wurden üblicherweise unter dem Motiv der unglücklichen Liebe erfasst, hier wurde aber sorgfältig getrennt und damit stigmatisiert. Der Begriff der Liebe wurde durch jenen des Konflikts ersetzt und um den Hinweis auf einen GI erweitert. Lange wurde tabuisiert, dass aus solchen Begegnungen auch Kinder hervorgingen, was insbesondere dann zutraf, wenn die Väter aus den französischen Überseegebieten stammten oder Afro-Amerikaner waren.¹⁴²⁹ Nichtsdestotrotz berichtete die Illustrierte Kronen Zeitung ausführlich über den Suizidversuch des 21-jährigen Werner L. Das Blatt vermeinte zu wissen, dass der „Sohn eines amerikanischen Negersoldaten“ ein „ungewolltes Kind“ war, „das Elternliebe entbehren mußte“.¹⁴³⁰ Es
Frauen* im Lebensmittelkartensystem siehe: Irene Bandhauer-Schöffmann, Schlechte Karten für Frauen. Die Frauendiskriminierung im Lebensmittelkartensystem im Nachkriegs-Wien. In: Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1995) 41– 57. Maria Dorner, Kein Wunder, daß die „Gasunfälle“ zunehmen! Die Frau, 2. Jg., Nr. 25, 22.6. 1946, 7. Anni Tesar, Der Sittenrichter, Die Frau, 2. Jg., Nr. 3, 19.1.1946, 8. Auch zu diesem Thema: Fini Tuna, Das Wiener Mädel, Die Frau, 2. Jg., Nr. 5, 2. 2.1946, 3. H.(ans) Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum. Bearbeitet im Österreichischen Statistischen Zentralamt (Beiträge zur Österreichischen Statistik. Herausgegeben vom Österreichischen Statistischen Zentralamt 42. Heft, Wien 1959) 27. Zur Figur des „Ami-Liebchens“: Ingrid Bauer, Die „Ami-Braut“ – Platzhalterin für das Abgespaltene? Zur (De‐)Konstruktion eines Stereotyps der österreichischen Nachkriegsgeschichte, 1945 – 1955. In: L’Homme 7/1 (1996) 107– 121. Ingrid Bauer, Welcome Ami go home. Amerikanische Besatzung in Salzburg 1945 – 1955 (Salzburg 1998). Regina Fritz, Marion Krammer, Philipp Rohrbach, Niko Wahl, „Guter Dauerpflegeplatz gesucht.“ Kinder afro-amerikanischer GIs und österreichischer Frauen in der Besatzungszeit. In: Barbara Stelzl-Marx, Silke Satjukow (Hg.), Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland (Wien u. a. 2015) 207– 217. Renate Huber, Französische und marokkanische Besatzungskinder in Vorarlberg. Historisches Phänomen und diskursiver Nachhall. In: Stelzl-Marx, Satjukow (Hg.), Besatzungskinder, 355 – 379. Der Sohn des Negers: Seine Farbe ist nicht licht genug, Illustrierte Kronen Zeitung, 5. Juni 1967, Nr. 2514, 7.
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fügte hinzu, dass der junge Mann immer wieder mit Depressionen zu kämpfen hatte. Das Blatt deutete als Grund hierfür Rassismus an, nur um dieses Szenario sofort wieder zu relativieren, indem es die Diskriminierung als bloße Meinung von Werner L. präsentierte. Zudem verknüpfte es seinen Suizidversuch mit einem Diebstahlsverdacht, den es unkommentiert stehen ließ. Auch die Besatzungsmächte selbst interessierten sich für suizidales Verhalten und zwar insbesondere dann, wenn es sich um ausgewiesene Nazis handelte. Hier stand die Verhinderung der Selbsttötung im Fokus, weshalb etwa die im Palais Epstein untergebrachte sowjetische Kommandantur die Arrestfenster vergitterte, nachdem sich von dort jemand hinausgestürzt hatte.¹⁴³¹ Offenbar ereigneten sich nichtsdestotrotz weitere suizidale Handlungen in diesem Gebäude.¹⁴³²
Hitler vs. das gesichtslose Opfer des Volkes Reinhold Schneider, ein in konservativ-katholischen Kreisen verkehrender Schriftsteller, zählte zu den wenigen, welche die vielen Suizide thematisierten und dabei auch die nationalsozialistische Periode reflektierten.¹⁴³³ Bezeichnenderweise wählte er einen abstrakten und verklausulierten Duktus und so sinnierte er über Hitler und die „Mächtigen der zwölf Jahre“¹⁴³⁴: „Es ist, als ob die sich auftürmende Todeswoge die Welt zerbrechen sollte, – bis sie endlich an den ihr gesetzten Felsen schlägt und zurückstürmt und die heimholt, von denen sie
Albert Hilscher, Die Arrestfenster der ehemaligen sowjetischen Kommandantur in Wien, 1956, Österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv und Grafiksammlung (POR), Signatur OEGZ/ H10534. Brigitte Hamann, Das Palais Epstein im Lauf der Geschichte. In: Forum Parlament 3/2 (2005) 49 – 54. Der in eine Hoteliersfamilie geborene Reinhold Schneider erlebte in seiner unmittelbaren Umgebung suizidales Verhalten. Sein Vater tötete sich selbst und er unternahm 1922 einen Suizidversuch. Er überlebte und wandte sich fortan der Katholischen Erneuerungsbewegung zu. Als Kritiker des Nationalsozialismus wurde ihm 1941 ein Publikationsverbot auferlegt – wogegen er verstieß. Der daraus resultierenden Verfolgung durch die Gestapo konnte er sich durch die Flucht in ein evangelisches Kloster entziehen. Der im April 1945 gegen ihn angestrengte Hochverratsprozess kam nicht mehr zustande. Im Nachgang des Zweiten Weltkrieges beschäftige er sich mit der Frage, wie dieser und der Holocaust hatten passieren können. Als zentral identifizierte er den Deutschen Idealismus und seine Gottferne. Schneider profilierte sich als vehementer Friedensbefürworter und Gegner der Wiederaufrüstung, was ihn beruflich und privat isolierte. Cordula Koepcke, Reinhold Schneider. In: Neue Deutsche Biographie (NDB 23 Berlin 2007) 305 – 306. John Klapper, Nonconformist Writing in Nazi Germany. The Literature of Inner Emigration (New York 2015) 243 – 279. Reinhold Schneider, Über den Selbstmord (Baden-Baden 1947) 20.
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ausgegangen, und endlich auch den Einen, in dem die Verzweiflung mächtig war von Anfang an.“¹⁴³⁵ Die von ihm gebrauchte Metaphorik und ihr alttestamentarischer Bezug sind aufschlussreich, hatte doch der Prophet Hosea das Volk Israel gewarnt: „Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten.“¹⁴³⁶ Aus dem Antezedens folgt die Konsequenz; gerade so, als ob die Nötigung des Gegenübers zu suizidalem Verhalten führt oder dieses auf viele überspringt.¹⁴³⁷ Gleichzeitig blieb so im Dunkeln, wie sich der nationalsozialistische Schrecken überhaupt erst hatte etablieren können. Dort, wo Schneider auf passive Formulierungen verzichtete und ein Agens sichtbar wurde, beschränkte sich dieses auf Hitler und seine unmittelbare politische Umgebung: „Ein Einzelner glaubt Macht, Ruhm geschichtliches Wirken erkaufen zu können für den selbstgewählten Tod. Ausdrücklich haben sich der Mächtige der zwölf Jahre und die Männer seines Kreises darauf berufen, daß sie bereit seien, selbst zu sterben … um einen jeden, ein ganzes Volk zu zwingen, dasselbe zu tun.“¹⁴³⁸
Seine Ausführungen fußten auf einer klar sexistischen Dichotomie: das Agens einiger weniger Männer* versus eines weiblich konnotierten Opfergangs Vieler. Schneider hierarchisierte aber auch die suizidalen Subjekte entlang von Geschlecht. Während Frauen* suizidal reagierten, um sich drohender Gewalt zu entziehen, drückten Männer* so ihren Mut aus.¹⁴³⁹ In anderen Fällen verabsäumte er es, klar zu differenzieren: „Es mögen viele Tode gestorben worden sein, die nur ein Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit waren. Und wie viele sind aus der Welt geflohen, weil wir mitgeholfen haben, die Welt zu verderben! Der Prozeß um all diese Schicksale ist nicht zu Ende; wir sind in die Verantwortung für sie gerufen.“¹⁴⁴⁰
Reinhold Schneider, Über den Selbstmord, 21. Altes Testament, Hosea, Kapitel 8, Vers 7, Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholische Bibelanstalt Stuttgart (1980), BibleServer – ERF Medien e.V., online unter , 6.6. 2017. „So ist geschehen, was wir schaudernd erlebt haben und noch immer erleben müssen. Von dem innersten gräßlichen Todeskreise her … wogt die Todeswelle fort; es hat sich offenbar so Grauenvolles begeben, daß diese Woge sich nicht mehr beruhigen will. Noch ist der Abgrund offen, sind die haltenden Kräfte nicht auf hinreichende Weise sichtbar, wirksam geworden.“ Schneider, Über den Selbstmord, 24. Reinhold Schneider, Über den Selbstmord, 24– 25. Reinhold Schneider, Über den Selbstmord, 37– 38. Reinhold Schneider, Über den Selbstmord, 39.
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Das vage Satzsubjekt ließ offen, wer genau die vielen ungerechten Tode gestorben war. Dadurch konnte sich sogar die frühere Volksgemeinschaft als Opfer einsetzen. Auch der Psychiater Erwin Menninger-Lerchenthal thematisierte die suizidaffine Haltung der NS-Größen und sprach dabei zwei Kontexte explizit an: und zwar die unliebsamen Kadern aufgezwungenen Suizide und die vermutlich verabredeten Selbsttötungen der Nazi-Bonzen,¹⁴⁴¹ benutzten doch viele von ihnen das schwer zu besorgende Gift Zyankali.¹⁴⁴² Der Arzt verknüpfte die generell hohe Suizidrate der NS-Zeit mit dem mangelhaften Angebot an seriöser therapeutischer Behandlung. Tatsächlich waren die Psychiatrien und Sanatorien zu gefährlichen Orten geworden, daher brachte man suizidale Patient*innen dort besser nicht unter.¹⁴⁴³ Zwar sprach er die Praxis der Patient*innen-Morde nicht konkret an, aber es ist naheliegend, dass viele medizinische Fachkräfte darum wussten.¹⁴⁴⁴ Mit seinen Vermutungen übereinstimmend, musste er in seiner Privatpraxis eine hohe Anzahl an Suiziden registrieren, da sich alleine in den Jahren von 1939 bis 1944 vierzehn seiner Klient*innen selbst töteten.¹⁴⁴⁵ Der von NS-Apologeten wie
Erwin Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem. Eine zeitgemäße Betrachtung (Wien 1947) 45. Auch Christian Goeschel fand zahlreiche Hinweise, die das koordinierte Momentum dieser Suizide stützen. Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich, 230 – 241. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 10 – 11. Neben dem ärztlichen Zögern könnten auch die Bedenken der Betroffenen und ihrer Angehörigen eine Rolle gespielt haben. Zugleich waren Präventionsstellen wie die Lebensmüdenstelle der Ethischen Gemeinde in Wien gleich nach der NS-Machtübernahme geschlossen worden. Zur Einführung in die Thematik: Henry Friedlander, Der Weg zum Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung (Berlin 1997). Ernst Klee, „Euthanasie“ im dritten Reich – Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Frankfurt am Main 22010). Eberhard Gabriel, Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Euthanasie in Wien (Wien u. a. 2000). Eberhard Gabriel, Wolfgang Neugebauer (Hg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung (Zur Geschichte der NS-Euthanasie 2, Wien u. a. 2002). Zur Debatte um die Begrifflichkeiten siehe: Schwarzer, Mord durch Hunger – „Wilde Euthanasie“ und „Aktion Brandt“ in Steinhof in der NS-Zeit. In: Gabriel, Neugebauer (Hg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung, 119 – 121. Die durch die Aktion T 4 freigewordenen Räume und Ressourcen wurden u. a. zur Behandlung von psychisch belasteten Soldaten genützt. In der Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke Am Steinhof wurde im Pavillon 12 das Reservelazarett VIIc (Fachgebiet Psychiatrie) eingerichtet, welches insbesondere suizidgefährdete Soldaten fokussierte. Traumatisierte wurden auch mit Elektroschocks behandelt. Schwarzer, Mord durch Hunger – „Wilde Euthanasie“ und „Aktion Brandt“ in Steinhof in der NS-Zeit. In: Gabriel, Neugebauer (Hg.),Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung, 123 – 124. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 10 – 11. Menninger-Lerchenthal charakterisierte seine Patient*innen nicht näher. Es ist anzunehmen, dass sich darunter eine Reihe von Jüd*innen befand.
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Gottfried Benn proklamierten These, dass suizidales Verhalten positiv selektiert, hielt Menninger-Lerchenthal entgegen, „daß es auch wertvolle Psychopathen gibt“.¹⁴⁴⁶ Zudem erklärte er die unterstellte Prävalenz von psychischen Störungen für unplausibel¹⁴⁴⁷ und betonte, dass keine soziale Gruppe überflüssig sei: „Es ist einfach nicht richtig, daß Junggesellen und Jungfrauen, kinderlose Eheleute, Ruheständler, Greise und Greisinnen eigentlich keine Daseinsberechtigung hätten, welche Ansicht in der auf Reinrassigkeit, Erbtüchtigkeit, Volksvermehrung ganz einseitig eingestellten nationalsozialistischen Ideologie bedenklich weite Kreise erfaßt hatte.“¹⁴⁴⁸
So könnten auch ledige Frauen* wertvolle Stützen der Gesellschaft sein, insbesondere, wenn sie pflegende und karitative Aufgaben übernahmen.¹⁴⁴⁹ Darüber hinaus war er überzeugt, dass durch suizidales Verhalten „nicht wenige überdurchschnittlich Tüchtige ihrem Berufs- und Pflichtenkreis entzogen (werden, Anm. MH). An ihnen geht besonders viel Kapital, das in jedem individuellen Leben aufgespeichert ist, verloren.“¹⁴⁵⁰ Auch wenn Menniger-Lerchenthal rassistisch-eugenische Utopien dämpfte, so bestätigte er doch deren Profitprinzip und so sollten sich auch marginalisierte Subjekte produktiv in die Gesellschaft eingliedern. Derart sahen seine heterosexistischen Platzanweisungen für unverheiratete Frauen* Care-Aufgaben vor, während die von ihm nur implizit adressierten Männer*, in ihren erlernten Berufen untergebracht werden sollten. Daraus ergibt sich, dass weder psychopathologische Verfasstheiten noch geschlechtliche Ausgrenzungen die kapitalistische Verwertungslogik gefährden sollten. Menninger-Lerchenthal interpretierte die vielen Suizide in den Apriltagen 1945 als Reaktion auf die „zu gewärtigende(n) Verantwortung“, wobei viele gar keine persönliche Schuld auf sich geladen hätten.¹⁴⁵¹ Ein Kollege von ihm sah das etwas anders und meinte, dass die Mitläufer*innen sehr wohl auch straffällig geworden waren und sich nun den Konsequenzen zu entziehen suchten. Letztere Motivation identifizierte Menninger-Lerchenthal vor allem bei den NS-Größen. Allerdings würden sich die wenigstens aus Schuldeinsicht suizidieren, sondern „einzig und allein aus nüchterner Einschätzung des künftigen Schicksals“.¹⁴⁵² Die beiden Kollegen waren sich einig, dass psychische Störungen hier keine Rolle spielten. Vielmehr seien solche suizidalen Handlungen als abwägend und bi
Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 39. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 39. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 57– 58. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 58. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 39. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 13 – 14. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 13 – 14.
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lanzierend zu fassen, womit sie diese als perfekt rational und souverän verorteten.¹⁴⁵³ Reinhold Schneiders Verdikt fiel gänzlich anders aus, denn für diesen indizierte die suizidaffine Haltung der NS-Größen eine sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Pathologie. Oder anders formuliert, wer stets mit der Option Suizid spekulierte, der konnte in seinen Augen nur fehlgeleitet sein. Übereinstimmung fanden sie anderswo und zwar in der fehlenden Opferdifferenzierung. Egal ob 1938 oder 1945, Menninger-Lerchenthal bezeichnete alle diese Szenarien als „Umbruchsselbstmorde“¹⁴⁵⁴ und damit als typisch für Phasen starker politischer Veränderung. Darüber hinaus interpretierte er das suizidale Verhalten der NS-Führungsriege als bedacht, während er jenes von Vergewaltigungsopfern diffamierte.¹⁴⁵⁵ Zu diesem Urteil gelangte er angesichts zweier suizidaler Mädchen, zu denen er im Frühjahr 1945 geholt worden war: „Sie glauben, den Verlust der Frauenehre nicht überleben zu können. In diesen Selbstmorden liegt tiefste Tragik. Andererseits sei hier der Verzerrung von Ehrbegriffen gedacht, der man z. B. in Studenten- und Offizierskreisen manchmal begegnete, die zu übereilten Selbstmordhandlungen führen kann.“¹⁴⁵⁶ Aus diesem Zitat ergibt sich,
Das ist umso bemerkenswerter, als Menninger-Lerchenthal auf einer sehr geringen Anzahl an rationalen Suiziden beharrte: „So bleibt schließlich nur mehr eine kleine Zahl von Selbstmördern mit ruhiger Überlegung übrig. Das mit der starken Zunahme der Selbstmorde parallel gehende Abrücken von der Auffassung des Selbstmordes als eine gewöhnlich geisteskranke Handlung hat in zunehmendem Maße ein psychologisches Verständnis für den Selbstmord wachgerufen, das z. B. zum Ausdruck kommt in der Einteilung der nicht durch Geisteskrankheit verursachten Selbstmorde in Bilanz-, Flucht-, Affekt-, Theaterselbstmord.“ Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 13. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 13 – 14. Der gleichzeitige Wunsch nach Normalität führte dazu, dass sexuelle Gewalt nur heternormativ thematisiert wurde bzw. die „Davonkommensgeschichten“ dominierten. Zahlreiche Plakate in Wien ermunterten Frauen, die an ‚Kriegsfolgen‘ litten, zu einem Krankenhausbesuch. Damit waren vor allem Geschlechtskrankheiten und unerwünschte Schwangerschaften gemeint. Letztere wurden recht häufig unter der Ausnutzung einer gesetzlichen Grauzone gewährt. Insgesamt suchten rund 80.000 vergewaltigte Frauen* die Wiener Spitäler auf. Andrea Petö, Memory and the Narrative of Rape in Budapest and Vienna in 1945. In: Bessel, Schumann (Eds.), Life After Death, 129 – 148. Maria Mesner, Frauensache? Zur Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch in Österreich nach 1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 23, Wien 1994) 36 – 46. Marianne Baumgartner, Vergewaltigung zwischen Mythos und Realität. Wien und Niederösterreich im Jahr 1945. In: Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien (Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1995) 59 – 71. Irene Bandhauer-Schöffmann, Ela Hornung, Vom „Dritten Reich“ zur Zweiten Republik. Frauen im Wien der Nachkriegszeit. In: David F. Good et al. (Eds.), Frauen in Österreich. Beiträge zu ihrer Situation im 19. und 20. Jahrhundert (Wien u. a. 1994) 225 – 246. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 14.
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dass er offensichtlich nicht nur nach Geschlecht hierarchisierte, sondern auch nach Alter und schichtspezifischen Codices. Der Psychiater war aber auch um gemäßigtere Thesen bemüht, da er es ablehnte, Schwangere als „geisteskrank“ einzustufen.¹⁴⁵⁷ Ganz „normal“ seien sie aber auch nicht, weil sie unter Stimmungsschwankungen leiden und unüberlegt handeln würden.¹⁴⁵⁸ Zudem seien viele der suizidalen Schwangeren von sozialen Nöten betroffen, d. h. ledig und arm. Ansonsten folgte er etablierten Thesen, indem er Pubertierende als vulnerabel¹⁴⁵⁹ bestätigte und behauptete, dass „den Mann die größere Neigung zur Tat, zum Handeln auszeichnet, die Frau mehr zur Rede, zur Szene, zur Demonstration neigt“.¹⁴⁶⁰ Letztere würde ihre Resilienz vor allem aus sozialen Pflichten und einem stärkeren religiösen Empfinden gewinnen.¹⁴⁶¹ Die dennoch gestiegene weibliche Vulnerabilität erklärte er über emanzipative Bestrebungen: „Je mehr die Frauen am Erwerbsleben teilnehmen, um so größer wird bei ihnen die Selbstmordhäufigkeit, eine bedauerliche Folge der Frauenemanzipation.“¹⁴⁶² Weiters führte er noch eine Präferenz von passiven Suizidmethoden und das leicht zugängliche Leuchtgas ins Feld, wodurch die neue weibliche Vulnerabilität hinreichend erklärt schien.¹⁴⁶³ Menninger-Lerchenthal stellte der sexistischen Abwertung aber auch noch eine gescheiterte Selbstmodellierung bei und so wähnte er den entscheidenden Grund für suizidales Handeln „im Versagen der Persönlichkeit gegenüber der Lebenssituation“.¹⁴⁶⁴ Zwecks Prävention empfahl er, den heterosexistischen und -normalen Dogmen der katholischen Kirche und damit ihrer globalen Ablehnung von Suizid, Ehescheidung und Schwangerschaftsunterbrechung zu folgen.¹⁴⁶⁵ Vor allem durch den letzten Punkt meinte er, der sozialen Isolation vorbeugen zu können. Zudem war er überzeugt, dass sich die Menschen nach traditioneller Spiritualität und Orientierung sehnten,¹⁴⁶⁶ insbesondere nachdem der ihnen angebotene nationalsozialistische Ersatz nicht funktioniert hatte.¹⁴⁶⁷
Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 11– 12. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 11– 12. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 5. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 14– 15. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 14– 15. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 24. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 24– 25. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 36. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 30 – 31. Die katholische Kirche beharrte darauf, dass nur sie wisse, wie ein friedliches Miteinander organisiert werden könne. Die säkulare Gesellschaftsordnung hätte u. a. in die nationalsozialistische Katastrophe geführt. Solcherart fühlte sich die katholische Kirche als „Siegerin in Trümmern“. Damian van Melis, „Strengthened and Purified Through Ordeal by Fire“. Ecclesiastical
Jüdische Distanz
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Jüdische Distanz Erwin Menninger-Lerchenthal zeichnete mehr als sein ärztliches Engagement aus, war er doch das Kind einer assimilierten Jüdin. Diese war am 10. Jänner 1944 nach Theresienstadt deportiert worden und sollte dort zu den wenigen Überlebenden gehören.¹⁴⁶⁸ Auch zwei weitere Geschwister des Psychiaters wurden von der NSVerfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie erfasst. Albert Theodor MenningerLerchenthal, ein hochdekorierter k. u. k. Oberleutnant, war ebenso im Arztberuf tätig und wurde gezwungen, seine Praxis aufzugeben, um in Magdeburg einer sogenannten Notdienstverpflichtung nachzukommen.¹⁴⁶⁹ Allerdings hielt er es dort nicht aus und kehrte 1944 ins Gailtal zurück.¹⁴⁷⁰ Kurz darauf fand er auf der Radniger Alm – in Begleitung eines SS- und eines SD-Mannes – den Tod. Die offiziellen Dokumente nannten als Ursache Herzmuskelentartung, woran die lokale Bevölkerung nicht glauben wollte und stattdessen von einem erzwungenen Suizid sprach. Offenbar hatten weder sein Veteranenstatus noch seine Verwendung für einen vor 1938 verhafteten illegalen Nazi seinen ‚Tod‘ verhindern können.¹⁴⁷¹ Auch Kurt Theodor Menninger-Lerchenthal, ein weiterer Bruder und früherer Angestellter der Österreichischen Bundesbahnen (BBÖ), wurde verfolgt.¹⁴⁷² Er verlor bereits 1938 seinen Eisenbahner-Posten und musste bis 1945
Triumphalism in the Ruins of Europe. In: Bessel, Schumann (Eds.), Life After Death, 231– 241. Karen Riechert, Der Umgang der katholischen Kirche mit historischer und juristischer Schuld anlässlich der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse. In: Joachim Köhler, Damian van Melis (Hg.), Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft (Stuttgart 1998) 18 – 41. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 52– 53. Die katholische Familie seines Vaters war im Kärntner Gailtal ansässig. Sie brachte zahlreiche beamtete und medizinische Fachkräfte hervor. Bernhard Gitschtaler, Dr. Menninger-Lerchenthal, Albert Theodor. In: Bernhard Gitschtaler (Hg.), Ausgelöschte Namen. Die Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal (Salzburg u. a. 2015) 127– 133. Erwin Menninger-Lerchenthal benannte Heimatverlust und Zwangsumsiedelung explizit als Suizidmotiv. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 54. Politisch missliebige Weltkriegsteilnehmer hatten zuerst noch eine Reihe von Privilegien genossen (z. B. Frontkämpferprivileg, Versorgungsansprüche), später wurden auch sie verfolgt, darunter auch Veteranen, die an psychischen Störungen litten und so zu Opfern der NS-Euthanasie wurden. Philipp Rauch, Von Verdun nach Grafeneck. Die psychisch kranken Veteranen des Ersten Weltkriegs als Opfer der nationalsozialistischen Krankenmordaktion T 4. In: Babette Quinkert et al. (Hg.), Krieg und Psychiatrie 1914– 1950 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 26, Göttingen 2010) 54– 74. Janina Koroschitz, Menninger-Lerchenthal, Kurt Theodor. In: Gitschtaler (Hg.), Ausgelöschte Namen, 133 – 134. Er wurde wie andere jüdische Angestellte der Österreichischen Bun-
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zuerst Zollgrenzschutzdienst und dann Zwangsarbeit verrichten. In den letzten Kriegstagen inhaftierte ihn die Gestapo noch in Slowenien, bevor er nach Kriegsende im Sammellager Sterntal interniert und dort schwer misshandelt wurde. Über die restlichen beiden Geschwister und deren Schicksal ist nichts bekannt. Genausowenig lässt sich rekonstruieren, wie Erich Menninger-Lerchenthal noch für eine unbestimmte Zeit den Arztberuf ausüben konnte. Vermutlich half ihm dabei sein früheres Engagement im Kärntner Abwehrkampf und bei der Niederschlagung der kommunistischen Unruhen in der Steiermark.¹⁴⁷³ Der offenbar ganz als Katholik empfindende Psychiater erwähnte die vielen jüdischen Suizide nur selten. Engagierter zeigte er sich, wenn es darum ging, die Behauptung zurückzuweisen, dass „der Selbstmord der Juden eher ein Rasse- als ein Konfessionsproblem sei“,¹⁴⁷⁴ hatten für ihn doch die säkularen und liberalen Entwicklungen die jüdische Seele zerüttet. Zudem erschien es ihm unplausibel, dass sich in den letzten fünfzig Jahren die „rassischen“ Eigenschaften fundamental geändert hätten.¹⁴⁷⁵ Sein zweiter Hinweis bezog sich auf die zahlreichen jüdischen Suizide im Jahr 1941, wobei er allerdings den zentralen Deportationskontext aussparte. Ein letztes Mal sprach er das Thema im Zusammenhang mit einer nach Theresienstadt verschleppten Jüdin an. Es dürfte sich dabei um seine Mutter gehandelt haben, die trotz mehrmaliger suizidaler Impulse von einer entsprechenden Handlung absah: „Aber die in einem katholischen Kloster genossene Erziehung und der Gedanke an ihre, zu rechtschaffenen Menschen herangewachsenen Kinder in der Heimat habe sie immer wieder von diesem Schritt abgehalten, obwohl ihr der sichere Tod durch Vergasung bevorstand.“¹⁴⁷⁶ Ihre beharrlichen, und damit typisch männlichen, Qualitäten durchquerten und überschritten das übliche weibliche Terrain. Menninger-Lerchenthal fing diese Transgression aber sogleich wieder ein, und zwar indem er das katholische Normen- und Wertegerüst und die Mutterrolle als stabilisierend einführte. Letztend-
desbahnen (BBÖ) aufgrund von „rassischen“ Gründen entlassen. ÖBB-Holding AG (Hg.), Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938 – 1945. Eine Dokumentation (Wien 2012) 15; 22– 23. Erich Menninger-Lerchenthal hatte in Graz Medizin studiert und dann für kurze Zeit an der dortigen Nervenklinik als Assistent gearbeitet. Dieses Spital zeichnete sich durch einen hohen Anteil an ärtzlichem Personal aus, das in wehrhaften Studentenverbindungen korporiert war. Als wohl bekannteste Figur ging Maximinian de Crinis, oberster NS-Heerespsychiater und zentrale Figur der NS-Euthanasie, aus diesem Grazer Kreis hervor. Michael Hubenstorf, Tote und/oder lebendige Wissenschaft: Die intellektuellen Netzwerke der NS-Patientenmordaktion in Österreich. In: Gabriel, Neugebauer (Hg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung, 237– 420, 331. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 26. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 26. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 59 – 60.
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lich bestätigte er so das Ideal von weiblicher Beziehungsorientierung und Schicksalsergebenheit. Offensichtlich diskutierte auch die jüdische Community die vielen Selbsttötungen nur verhalten, was vermutlich damit zusammenhing, dass viele Überlebende suizidales Verhalten ablehnten.¹⁴⁷⁷ Dort, wo über den Suizid der Angehörigen gesprochen wurde, dominierten offenbar Respekt und Verständnis. Zu dieser Zurückhaltung trug auch Viktor Frankl bei, da er sich nach dem Holocaust vor allem um das Zuschütten von Gräben bemühte.¹⁴⁷⁸ So verwendete er sich auch für NS-Parteimitglieder wie den bekannten Wiener Psychiater und Neurologen Otto Pötzl.¹⁴⁷⁹ Bezüglich suizidalen Verhaltens vertrat Frankl eine klar ablehnende Linie.¹⁴⁸⁰ Für ihn war es schlichtweg unsinnig – auch, oder besonders im Konzentrationslager, drohte doch ohnehin permanent die Ermordung.¹⁴⁸¹ Er war überzeugt, dass dem Verlust des Lebenssinns nicht durch eine suizidale Handlung beizukommen war. Dies vermochte nur eine neue oder rehabilitierte Sinn-
Marion Kaplan, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland (Berlin 2001) 257– 258. Auch der Amtsdirektor der Israelitischen Kultusgemeinde und sozialdemokratische Regierungsrat Wilhelm Krell hielt sich in seinen Erinnerungen zurück. Er erwähnte die zahlreichen Suizide und eine kausale Beziehung zur NS-Machtergreifung nur knapp: „Ich spreche im Namen der Juden, die als erste Opfer des Naziterrors wurden. Am 13. März 1938 lebten in Österreich 200.000 Juden. Nach einer deutlich vorbereiteten Regie wurden die Juden zunächst zum Gespött des johlenden Straßenmobs gemacht. Unmittelbar danach folgten Mißhandlungen und Verhaftungen. Hunderte verübten Selbstmord.“ Österreichs Widerstand 1938 – 1945. In: Der neue Mahnruf. Zeitschrift für Freiheit, Recht und Demokratie 4/18 (1964) 3. Die weiterflorierenden anti-jüdischen Ressentiments dürften diese Haltung verstärkt haben. Frankl sagte zugunsten von Pötzl aus. Dieser hätte ihn dabei unterstützt, „Geisteskranke“ vor der Euthanasie durch Umdeklaration zu bewahren. Viktor E. Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen (München 1995) 60 – 61. Timothy Pytell argumentiert anhand eines Frankl-Dramas über Buchenwald, dass dieser Suizident*innen als feig, fehlgeleitet und bestrafungswürdig empfand. Timothy E. Pytell, Redeeming the Unredeemable: Auschwitz and Man’s Search for Meaning. In: Holocaust and Genocide Studies 17/1 (2003) 89 – 113. „Nicht in den Draht zu gehen, dieser negative Entschluß brauchte einem in Ausschwitz freilich nicht schwer zu fallen: der Selbsttötungsversuch war dort schließlich ziemlich gegenstandslos; der durchschnittliche dortige Lagerinsasse konnte, rein erwartungsmäßig im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsrechnung oder ziffernmäßigen ‚Lebenserwartung‘, doch nicht damit rechnen, zu dem ganz geringen Prozentsatz derer zählen zu dürfen, die auch alle weiteren, noch bevorstehenden Selektionen und diversen Selektionsarten überleben würden.“ Viktor E. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen. Und ausgewählte Briefe 1945 – 1949 (Gesammelte Werke I, Wien u. a. 2005) 55– 56.
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stiftung. Frankl erlebte auch persönlich suizidale Impulse,¹⁴⁸² und zwar bei seiner Ankunft in Ausschwitz, aber er habe sich selbst „das Versprechen abgenommen, nicht ‚in den Draht zu laufen‘.“¹⁴⁸³ Für ihn kristallisierten sich seine psychologischen Beobachtungen als neuer Lebenssinn heraus, welche ihm später auch für seine Logotherapie nützlich sein würden.¹⁴⁸⁴ Frankls distanzierte Haltung gegenüber den vielen jüdischen Selbsttötungen dürfte noch einen weiteren Grund haben, hatte er doch am Rothschild-Krankenhaus medizinische Experimente an komatösen Suizident*innen vorgenommen. Konkret behandelte er sie mit Amphetaminen via Lumbalpunktion oder über direkte Injektion in das Gehirn. Die Belegschaft lehnte diese unerprobten Praktiken ab und distanzierte sich davon. Laut Frankl protestierte auch seine Assistentin dagegen, „daß ich Leute, die einen Selbstmordversuch unternommen hatten, zu retten versuchte. Dann kam der Tag, an dem Frau Dr. Rappaport selbst den Befehl erhielt, sich zur Deportation einzufinden. Sie unternahm daraufhin einen Selbstmordversuch, wurde auf meine Abteilung eingeliefert und von mir ins Leben zurückgerufen – und später deportiert.“¹⁴⁸⁵
An diesen Aussagen muss der patriarchal-göttliche Gestus ins Auge stechen, handelte er doch ausdrücklich gegen den Willen seiner Kollegin, die zudem seine Methoden ablehnte. Timothy Pytell bewertet Frankls Agieren als mehrfach grenzüberschreitend.¹⁴⁸⁶ Nicht nur, dass er unethische Eingriffe vornahm, er be-
Laut eigenen Angaben hatte er jedes Jahr am Steinhofschen „Selbstmörderinnenpavillon“ 3.000 Frauen* behandelt. Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht, 52. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen, 55. „Und so kam ich nach Auschwitz. Es war das experimentum crucis. Die eigentlich menschlichen Urvermögen der Selbst-Transzendenz und der Selbst-Distanzierung, wie ich sie in den letzten Jahren so sehr betonte, wurden im Konzentrationslager existentiell verifiziert und validiert. Diese Empirie im weitesten Wortsinn bestätigte den ‚survival value‘, um mit der amerikanisch-psychologischen Terminologie zu sprechen, der dem ‚Willen zum Sinn‘, wie ich ihn nenne, oder eben der Selbst-Transzendenz – dem Über-sich-selbst-Hinauslangen menschlichen Daseins nach etwas, das nicht wieder es selbst ist – zukommt. Ceteris paribus überlebten jene noch am ehesten, die auf die Zukunft hin orientiert waren, auf einen Sinn hin, dessen Erfüllung in der Zukunft auf sie wartete.“ Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht, 75. Solche Aussagen ließen Timothy Pytell schließen, dass Frankl die Realität von Ausschwitz für den Nachweis seiner psychologisch-philosophischen Theorien opferte. Pytell, Redeeming the Unredeemable: Auschwitz and Man’s Search for Meaning, 89 – 113. Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht, 58. Seine Kolleg*innen monierten, dass Frankl über keinerlei Ausbildung als Hirnchirurg verfügte. Zudem sei es schlichtweg sinnlos, deportationsbefohlene Menschen am Leben erhalten zu wollen. Timothy Pytell,Viktor Frankl. Das Ende eines Mythos (Innsbruck u. a. 20005) 109 – 110.
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schädigte auch den Zusammenhalt und Protest der jüdischen Gemeinschaft.¹⁴⁸⁷ Offenbar wussten auch die Nazis von Frankls Experimenten und billigten diese – weil sie sich nützliche Ergebnisse für militärische Anwendungen erhofften.¹⁴⁸⁸ Nachdem er selbst nach Theresienstadt deportiert worden war, installierte er im Ghetto ein Präventionsregime; auch hier wiederum mit dem Einverständnis der Nazis, die danach trachteten, suizidales Verhalten zu unterbinden.
Prävention, Prävention, Prävention Die Caritas reagierte 1948 auf die hohen Suizidraten mit der Gründung einer Lebensmüdenfürsorge in Wien und erklärte zu ihrem Leiter den individualpsychologisch orientierten Psychiater Erwin Ringel.¹⁴⁸⁹ Laut dessen Beschreibung fokussierte die Einrichtung „die Interessen der psychischen Hygiene, der Gemeinschaft und damit des Staates“.¹⁴⁹⁰ Er adressierte ganz offen die biopolitische Agenda sowie das Primat von Staat und Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. Recht selbstbewusst forderte er auch, dass jede suizidale Person psychiatrisch begutachtet und die (Erst‐)Kontaktstellen intensiver verschränkt werden sollten.¹⁴⁹¹ An diesbezüglichen Einrichtungen nannte er die Beratungs-
Konrad Kwiet und Konrad Eschwege beschäftigten sich intensiv mit der Frage, ob suizidale Handlungen von jüdischen Personen widerständige Akte darstellten. Sie kamen zum Schluss, dass es sich dabei eher um verzweifeltes und resignatives Verhalten handelte. Konrad Kwiet, Konrad Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933 – 1945 (Hamburg 1984). Laut Christian Goeschel wurde ungeachtet der Intention auf jeden Fall die Deportationsabwicklung gestört. Christian Goeschel, Selbstmord im Dritten Reich (Berlin 2011) 149. Die jüdischen Ärzt*innen in Berlin hatten sich verabredet, Suizidwillige sterben zu lassen. Auf die Bereitstellung von Barbituraten wollte man sich hingegen nicht einigen. Pytell, Viktor Frankl, 106. Frankl selbst publizierte seine Forschungsergebnisse im Jahr 1942 in der Schweiz – augenscheinlich auf das Zutun der Nazis hin. Zum rezenten erfolgsorientierten Präventionsregime und der versuchten Zähmung des Todes siehe: Ian Marsh, Suicide. Focault, History and Truth (Cambridge 2010) 62– 64; 150 – 155. Gernot Sonneck, Krisenintervention. Von den Anfängen der Suizidprävention bis zur Gegenwart (Weitra 2008). Eichinger, Suizidär. suizidal. suizidant. Regina Seibl, Auswirkung eines Klientensuizids auf Helfer im außerstationären sozialpsychiatrischen Arbeitsfeld. Untersuchung zu den Folgen dieses Ereignisses und adäquaten Formen der Unterstützung für betroffene Helfer (Dissertation Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Innsbruck 2014) 32– 41. Ringel, Der Selbstmord, 219. Auch heute noch stuft ein erheblicher Prozentsatz des mit suizidalem Verhalten beschäftigten Berufsspektrums dieses als feig oder egoistisch ein. Françoise Zenner, Einstellungen zum Suizid und Erfassung persönlicher Ressourcen. Analyse im Hinblick auf die Entwicklung von
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stellen für Ehe- und Sexualprobleme, Schwangere, Geschlechts- und Krebskranke sowie Arbeitslose.¹⁴⁹² Bezeichnenderweise sah er den gemeinsamen Nenner all dieser Klient*innen nicht in deren sozialen Not, sondern in den psychischen Konflikten.¹⁴⁹³ Das sollte sich auch in der neugegründeten Lebensmüdenfürsorge spiegeln. Nicht mehr fürsorgerische Intervention stand dort im Vordergrund, sondern ärztlich angeleitetes Fallmanagement.¹⁴⁹⁴ Dennoch gab es im psychiatrisch-psychologischen Team weiterhin einen Platz für eine Fürsorgerin und erstmalig wieder für einen Priester.¹⁴⁹⁵ Ganz offensichtlich wurde das Soziale dem Psychischen und das Soziologische dem Psychiatrischen untergeordnet.¹⁴⁹⁶ Auch das Spirituelle wurde letztendlich nachgereiht und die Agenda des Priesters genau reglementiert. Gleichzeitig bestand eine ganz klar geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: Führungsfunktion, wissenschaftliche Expertise und spirituelle Anleitung wurden männlich adressiert, die Fürsorge hingegen weiblich. Oder wie von Ringel selbst formuliert: Die Fürsorgerin sollte die unmittelbaren Anlässe für suizidales Verhalten beseitigen, der Arzt hingegen die grundlegende Haltung der Klient*innen gegenüber dem Leben ändern.¹⁴⁹⁷ Als Behandlung schlug Ringel
adaptierten Suizidpräventionsangeboten in Luxemburg (Dissertation Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Innsbruck 2010). Erwin Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe. In: Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie und Neurologie 1/1 (1951) 149 – 161, hier 151– 152. Diese psychischen Konflikte wähnte er oft sexueller Natur. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 156. Als Einschränkung fügte er hinzu, das materielle Not „oft den Selbstmordentschluß“ erleichtert. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 153. Dieser Fokus hat sich in der Zwischenzeit noch verstärkt. Heute zirkuliert die Suizidprävention um ein vulnerables Subjekt mit gestörtem Hirnstoffwechsel. Hilfesuchende Menschen werden ermutigt, sich mit der Rolle des kranken und gefährdeten Individuums zu identifizieren. Während manchen diese Anrufung tatsächlich hilft, ist sie für andere unerträglich und schränkt in der Konsequenz ihre Optionen ein. Durch die Priorisierung des Todeswunsches gerieten alternative Bedeutungen von suizidalem Verhalten aus dem Blick. Etwa, dass das eigene Leben bzw. das Leben an und für sich als nicht lebbar oder lebenswert erscheint. Marsh, Foucault, History and Truth, 62– 63. Dieser war angehalten, weder zu missionieren noch das wissenschaftliche Primat in Frage zu stellen. Seine Integration dürfte der Trägerorganisation Caritas, aber auch der persönlichen Überzeugung Frankls geschuldet gewesen sein. Damit ergab sich ein deutlicher Unterschied zur früheren Beratungsstelle für Lebensmüde. Diese Einrichtung war 1928 von der Ethischen Gemeinde Wien als überkonfessionelle Anlaufstelle gegründet und 1938 von den Nazis kassiert worden. Selbst die Rolle der Psychologie wollte Ringel auf die Testtheorie und -entwicklung sowie Diagnostik beschränkt wissen. Der Fürsorgerin oblag der Erstkontakt und sie überzeugte sich auch vor Ort von der Richtigkeit der Klient*innenangaben. Sie half, finanzielle Nöte und Wohnungsmängel sowie chronische, terminale oder stigmatisierende Krankheiten (vor allem Erkrankungen am Sexual-
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eine ambulante Psychotherapie nach individualpsychologischen Gesichtspunkten vor.¹⁴⁹⁸ Nota bene fühlten sich die Fürsorgekräfte „bis zu einem gewissen Grade (den Klient*innen, Anm. MH) ausgeliefert“, daher kontrollierten sie hartnäckig, was wiederum das Misstrauen förderte.¹⁴⁹⁹ Den Klient*innen bot sich aber noch ein weiterer Anlass für eine skeptische Haltung, erachtete es Ringel doch als notwendig und akzeptabel, auf die betreuten Personen suggestiv einzuwirken und sie nachzuerziehen.¹⁵⁰⁰ In der Praxis bedeutete dies, vor allem entlang der heteronormativen Geschlechtermatrix zu regulieren. Damit war er noch von der zentralen Einsicht der Humanistischen Psychologie und insbesondere der von Carl R. Rogers vertretenen Richtung entfernt. Klient*innen sind hier als Expert*innen für sich selbst verankert und therapeutische Ziele können nur von ihnen entwickelt und erreicht werden.¹⁵⁰¹ Offensichtlich war in der Wiener Kriseninterventionsstelle (noch) nicht vorgesehen, mit suizidalen Personen auf Augenhöhe zu agieren.¹⁵⁰² Das bedeutet auch, dass Personen und Lebensentwürfe jenseits des heteronormalen Kontinuums weiterhin pathologisiert wurden. Dabei hätten gerade sie psychologischer Unterstützung bedürft, da sie nach wie vor stigmatisiert und ihnen so das Leben vergällt wurde. Hinzu kam die strafrechtliche Verfolgung, die sich gegenüber den 1930er-Jahren sogar noch intensiviert hatte. Es wurden nun doppelt so viele Personen nach Paragraf 129 verurteilt, was rund 600
apparat) zu managen. Gleichzeitig animierte sie alte und einsame Personen zu Sozialkontakten und suchte zerrüttete Ehen und Alkoholmissbrauch zu bessern. Sie konnte auch bei einer unehelichen Schwangerschaft und politischer Verfolgung zu Rate gezogen werden. Insbesondere sollte sie aber darauf hinwirken, dass bald wieder eine Erwerbsarbeit aufgenommen wurde. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 153 – 154. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 155. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 152. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 157. Carl R. Rogers, Client-Centered Therapy (Reprint London 2003). Auch heute noch können suizidale Menschen in Psychiatrien zwangsuntergebracht und dort mit sedierenden und antidepressiv wirkenden Medikamenten konfrontiert werden. Solche Maßnahmen erhöhen den Druck auf das Individuum und wirken mitunter kontraproduktiv. Laut Helmut Späte und K.-R. Otto ist zu hinterfragen, ob diese Interventionen wirklich ausschließlich dem Patient*innenwohl dienen. Diese Argumentation blendet nämlich das Beziehungsgeflecht des suizidalen Menschen aus und suggeriert, dass das medizinische Personal und die Angehörigen frei von Eigeninteressen handeln würden. Vor diesem Hintergrund fordern Späte und Otto die Aufgabe jedweder paternalistischen Haltung: „Nicht Trost, nicht Mitleiden und Mitleid, nicht das Vorgeben von Lösungen, nicht das gemeinsame Hoffen auf bessere Zeiten, nicht die in die ’Tiefe gehende’ Analyse der Lebensgeschichte sind wirksame Interventionen, sondern das Einverstanden sein damit, dass auch der Tod als Lösung gewählt werden kann, ermöglicht es dem Suizidalen, das Leben zu wählen.“ Helmut F. Späte, Klaus-Rüdiger Otto, Leben nehmen – Verführung zum Leben – Gedanken zur Suizidverhütung (Leipzig-Weissenfels 2015) 12.
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Schuldsprüche pro Jahre bedeutete.¹⁵⁰³ Gleichzeitig bemühten sich viele Homosexuelle, die ihnen unterstellten Stereotype zu widerlegen und sich selbst zu normalisieren, indem sie sich als anständig und sittlich präsentierten. Diese Bemühungen um Respektabilität erschufen neue marginalisierte und untergeordnete Subjekte, und zwar solche Homosexuelle, die sich in dieses schamhaft bürgerliche Korsett nicht einfinden wollten oder konnten.¹⁵⁰⁴ Bezüglich der geschlechtsspezifischen Einschreibungen erwiesen sich Ringels fallbezogene Ausführungen als besonders aufschlussreich. Seine erste Kasuistik fokussierte eine schwangere 19-Jährige, die von ihrem Geliebten, einem Besatzungssoldaten, verlassen worden war.¹⁵⁰⁵ Dieser Beziehungsverlust nötigte sie, wieder bei ihren Eltern einzuziehen, vor welchen sie als Minderjährige geflohen war. Aufgrund des konfliktösen Zusammenlebens entwickelte die junge Frau suizidale Impulse und wandte sich an die Lebensmüdenfürsorge. Die Fürsorgerin half ihr, einen Posten als Hausgehilfin zu finden und damit auch ein Dach über dem Kopf. Aufgrund einer Erkrankung verlor sie diese Stelle und zog dann zu ihrer Tante, aber auch hier traten Spannungen auf und abermals bedrückten sie suizidale Ideen, weshalb sie sich wieder an die Lebensmüdenfürsorge wandte. Dort wurde darauf hingearbeitet, dass sie sich endgültig vom früheren Liebespartner – dem mutmaßlichen Quell ihrer suizidalen Tendenzen – abnabeln konnte. Ringel wertete es als Erfolg der Lebensmüdenfürsorge, dass sie weder ihre Schwangerschaft unterbrach noch den Verkauf sexueller Dienstleistungen erwog. Damit galt ihr Fall als gelöst und in eine positive Richtung gelenkt. Offensichtlich hatte ihn ihre normalisierte Geschlechtsperformance zu diesem Schluss motiviert. Beruflich nun im Care-Sektor verankert, losgelöst vom fremdländischen Kindsvater, die Schwangerschaft bejahend, damit schien alles Transgressive gebändigt und solcherart auch die mutmaßliche Ursache ihrer Suizidalität behoben. Gleichzeitig schien das von Ringel identifizierte Hauptmotiv zu bestätigen, dass weibliche Suizidalität beziehungsbezogen sei. Der zweite Fall drehte sich um einen 37-jährigen Kaufmann, der im Krieg geheiratet hatte und Vater zweier Kinder geworden war.¹⁵⁰⁶ Diesen verblieben bei einem berufsbedingten Umzug nach Wien bei den Großeltern in Kärnten. Das Paar selbst lebte getrennt, da es keine gemeinsame Wohnung finden konnte. Als der Mann* arbeits- und wohnungslos wurde, wagte er es nicht, sich seiner weiterhin berufstätigen Frau* anzuvertrauen. So eskalierte die bereits angeschlagene Beziehung und er unternahm einen Suizidversuch, der von Ringel als überaus ernst eingestuft wurde. Der Psychiater
Eder, Homosexualitäten, 96. Eder, Homosexualitäten, 101. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 159 – 160. Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 160 – 161.
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identifizierte eheliche Minderwertigkeitsgefühle als Ursache für die suizidale Handlung seines Klienten. Offenbar fühlte sich der Mann* in seiner Familie unterlegen, was wiederum mit Kindheitserfahrungen zu korrespondieren schien.Vor diesem Hintergrund half die Fürsorgerin dem Paar, eine gemeinsame Wohnung und einen neuen Arbeitsplatz für ihn zu finden. Laut Ringel konnte der Mann* damit „in der Ehe sozusagen die Gleichberechtigung“ erringen und seine suizidalen Gedanken schwanden.¹⁵⁰⁷ Oder anders formuliert, war erst die patriarchalmännliche Norm wiederhergestellt und die ‚Transgression‘ in weibliches Territorium überwunden, so schien auch die Suizidalität gebannt. Ringels Interpretation stärkte auch den vermuteten Konnex zwischen einem Arbeitsplatzverlust und männlichem Suizidhandeln. Gleichzeitig blieb so unterbelichtet, dass nicht ‚verfehlte‘ Männlichkeit reparaturbedürftig war, sondern deren toxischen Vorgaben. Innerhalb des heteronormativen Paradigmas galt das auch anlog für Weiblichkeitskonzepte und die von ihnen produzierten Ausschlüsse. Aufgrund dieser blinden Flecken wurde in der Prävention und Therapie darauf hingearbeitet, geschlechtliche und sexuelle ‚Transgressionen‘ einzuhegen und als pathologisch zu belegen.¹⁵⁰⁸ Die Lebensmüdenfürsorge richtete sich sowohl an vulnerable Personen als auch an Überlebende von suizidalen Handlungen. Ringel rühmte die Einrichtung, dass sie letztere Zielgruppe „praktisch lückenlos erfaßt(e)“.¹⁵⁰⁹ Das hing damit zusammen, dass die Rettung üblicherweise die Lebensmüdenfürsorge informierte und dies auch viele Spitäler taten. Bevor diese Stelle gegründet wurde, hatte die Caritas ein für diese Agenden zuständiges Referat unterhalten, das nur von einer hauptamtlichen Fürsorgerin koordiniert und betreut worden war. Im Berichtsjahr 1946 – 1947 hatte diese auf 960 Meldungen zu reagieren, wovon beinahe die Hälfte auf Personen entfiel, die sich mit Leuchtgas vergiftet hatten.¹⁵¹⁰ 579 Meldungen galten Frauen*, wovon 162 ihre suizidale Handlung nicht überlebten und von den restlichen 381 Männern* erlagen 163 ihren Verletzungen. Als das häufigste Motiv wurde Ehezwist verzeichnet, wobei hier nicht nach Geschlecht unterschieden wurde. Diese Statistik ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Gerade für das Jahr 1946 würde man als dominantes Motiv ein anderes erwarten, und zwar jenes der Angst vor möglichen Konsequenzen als NS-Sympathisant*in. Tatsächlich wurde
Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 161. Auch Eva Eichinger kam zu dem Schluss, dass Ringel die heteronormative Familie förderte und forderte. Sämtliche Abweichungen davon erschienen ihm geeignet, suizidbegünstigende Traumatisierungen hervorzurufen. Eichinger, Suizidär. Suizidal. Suizidant, 110. Ringel, Der Selbstmord, 220. Caritas der Erzdiözese Wien (Hg.), Die Caritas der Erzdiözese gibt Rechenschaft. Tätigkeitsbericht 1946 – 1947 (Wien 1947) 31– 32.
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das passende Rahmenmotiv, die Frucht vor Strafe, kaum attribuiert. Was sich am dominanten Zwistmotiv aber schon ablesen lässt, ist die Erschütterung so vieler Ehen, wofür es mannigfaltige Gründe gab. Manche hatten (zu) hastig geheiratet, viele die Partner*in lange nicht gesehen und andere sich schlichtweg entfremdet. Gleichzeitig hatten viele sexuelle Gewalt erlebt, sich mit Geschlechtskrankheiten angesteckt und mit unerwünschten Schwangerschaften zu kämpfen. Zudem waren zahlreiche heterosexistische und -normale ‚Wahrheiten‘ erschüttert worden. Die Gefechte hatte zuhauf vulnerable und physisch gezeichnete Männer* produziert und auch viele Frauen* waren durch die schier endlose Gewalt traumatisiert. Letzteren hatte der Krieg aber auch erweiterte Spielräume und neue heterosexuelle Optionen in Form der Besatzungssoldaten gebracht. Wenig überraschend hielten viele Beziehungen diesen adaptierten Geschlechtsperformances nicht stand.¹⁵¹¹ Dies zeigt sich auch anhand der Suizidmotive, die in den kumulierten Berichten der Lebensmüdenfürsorge statistisch erfasst wurden. Ebenso geht aus ihnen hervor, dass im Zeitraum von März 1946 bis Oktober 1949 insgesamt 2.842 Fälle betreut wurden. Für Männer* galten folgende Motive als dominant: Krankheit, häusliche bzw. Ehe-Zwistigkeiten und unglückliche Liebe. Bezüglich der Frauen* ergab sich ein ähnliches Bild, da hier häusliche bzw. EheZwistigkeiten, unglückliche Liebe und Krankheit vorherrschten. Diese Aufzeichnungen illustrieren eindrucksvoll, wie weit sich die Geschlechtskonzepte und -performances im Nachgang des Krieges angenähert hatten. Das traf selbst bei den früher weit auseinander liegenden Motiven der unglücklichen Liebe, der Geisteskrankheit und des Alkoholismus zu. Ungewöhnlich ist auch, dass ein Motiv wie Furcht vor Strafe überhaupt nicht (mehr) geführt wurde, was angesichts der durchzuführenden Entnazifizierung verwundern muss. Als ebenso bemerkenswert darf gelten, dass das Motiv der materiellen Not nur selten verzeichnet wurde. Charakteristisch war hingegen, dass nun die Depression als eigenständiges Motiv etabliert wurde, allerdings ohne (noch) auf die Kategorie der Geisteskrankheit zu verzichten. Die depressive Störung bildet bald das zentrale, mit suizidalem Verhalten assoziierte Krankheitsgeschehen, da sich auch die Medien an ihr abzuarbeiten begannen. Wie bei allen solchen Statistiken stellt sich auch hier die Frage, wie die Motivzuordnung erfolgte. Gaben die Betroffenen den Tenor vor? Wurden die Angaben von der Rettung und den Spitälern übernommen? Oder legte die Fürsorgestelle die Motive fest? Leider lässt sich dieser Prozess anhand des zur Verfügung stehenden Materials nicht mehr rekonstruieren. Daher kann Karin M. Schmidlechner, Heimo Halbrainer (Hg.), Aus dem Blickfeld. Eine biographische Annäherung an ambivalente Lebensszenarien steirischer Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit (1939 – 1955) (Graz 2008) und daraus besonders der Aufsatz der Herausgeberin, Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Frauen in der Nachkriegszeit 106 – 123.
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nur spekuliert werden, dass auch hier die kulturellen Skripte rund um suizidales Verhalten und das Geschlechterwissen entscheidend waren. Tabelle heteronormative Motivgruppenstatistik der Lebensmüdenfürsorge 1946 – 1949 Männer* Krankheit Häusliche Zwistigkeiten Ehezwistigkeiten Unglückliche Liebe Depression Notlage Geisteskrankheiten Alkoholismus Sonstige Motive
Prozente , % , % , % , % , % , % , % , % , %
Frauen* Häusliche Zwistigkeiten Ehezwistigkeiten Unglückliche Liebe Krankheit Depression Geisteskrankheiten Notlage Alkoholismus Sonstige Motive
Prozente , % , % , % , % , % , % , % , % , %
Quelle: Rudolf Graf, Der Selbstmord in Beziehung zu Wetter, Tagesstunde und Wochentag (Dissertation philosoph. Fak. Univ. Wien, Wien 1950) 51.
Wie Sigmund Freud verknüpfte auch Erwin Ringel aggressives mit suizidalem Verhalten. De facto betrachtete er suizidales Handeln als eine Entladung von lange aufgestauten Aggressionen und sexuellen Konflikten. Nach einem Suizidversuch seien diese abgeführt und daher bestünde keine Wiederholungsgefahr, wovon aber „Geisteskranke“, „Psychopath*innen“ und unter exogenen Faktoren Leidende auszunehmen sind.¹⁵¹² Zusätzlich exkludierte er Personen, die vermeintlich demonstrative und hysterische Suizidversuche unternommen hatten, wodurch sich mehrere Bruchlinien entlang von Geschlecht zeigen. Offenbar assoziierte Ringel letales suizidales Verhalten mit alles durchdringender und verzehrender Aggression.¹⁵¹³ Nicht-tödliche Szenarien interpretierte er hingegen als unübersichtlich und mehrdeutig. Neben einer aggressiven Komponente schienen hier auch spontane, affektive und egoistische Qualitäten zum Tragen zu kommen.¹⁵¹⁴ Über diese Zuschreibungen spaltete er den Suizidversuch auf, dort die kathartische Funktion, hier der psychopathologische Beleg. Oder anders formu Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 151. Auch Aggression und Gewalt sind nicht selbstevident, sondern das Ergebnis soziokultureller Aushandlung und des Geschlechterwissens. Offensichtliche und verheerende Körpertraumata werden häufig mit einem festen Todeswunsch assoziiert. Katrina Jaworski, The Gender of Suicide. Knowledge Production, Theory and Suicidology (Farnham 2014) 43. Beiden Deutungen wird eine Appell- und Erpressungsfunktion unterstellt. Christina Rachor, Selbstmordversuche von Frauen. Ursache und soziale Bedeutung (Frankfurt/M. u. a. 1995) 51– 72; 107– 136.
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liert, Männer* konnten daran gesunden, nicht aber sozioökonomisch und psychiatrisch Marginalisierte sowie Frauen*. Vor diesem Hintergrund erschien es ihm plausibel, dass im Ersten Weltkrieg nur die männliche Suizidrate gesunken war.¹⁵¹⁵ Zwei Jahrzehnte später hatte die Entlastung nicht gelingen können, weil viele unter Gewissenskonflikten litten.¹⁵¹⁶ Die Verfolgten wiederum fanden aufgrund der gegen sie gerichteten Aggressionen mehr als genügend Anlass, suizidal zu handeln. Ringel nutzte seine Studie über die Lebensmüdenfürsorge auch dazu, das von ihm beobachtete präsuizidale Syndrom vorzustellen. Dieses charakterisiert Suizidalität als einen dreistufigen Prozess: Auf starke Einengung folgen gehemmte Aggression und irreale Vorstellungen, bevor schlussendlich suizidal gehandelt wird.¹⁵¹⁷ Dieses Syndrom war für die Professionalisierung der Suizidprävention essenziell, da es nämlich endlich medizinisch fassbare Zeichen und Symptome lieferte. Das Erkennen des Todeswunsches ist bis heute zentral, da eine suizidale Handlung selbst keine Krankheit darstellt, wohingegen der vom präsuizidalen Syndrom beschriebene Zustand sehr wohl diagnosefähig ist.¹⁵¹⁸ Dessen Definition hatte Ringel anhand der Beobachtung von 745 Überlebenden von Suizidversuchen gewonnen, die alle Patient*innen an der Wiener Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik gewesen waren.¹⁵¹⁹ Obwohl 61 Prozent der von ihm beforschten Patient*innen weiblich gewesen waren, vermied er es, das präsuizidale Syndrom dementsprechend zu etikettieren.Wichtiger war ihm die Einsicht, dass die Anzahl psychotischer Suizident*innen gering war,¹⁵²⁰ woraus sich ergab, dass suizidales Verhalten mit dem neurotischen Formenkreis korrelierte.¹⁵²¹ Neben der Lebensmüdenfürsorge wurden aber auch andere Maßnahmen zur Prävention ergriffen, wobei hier besonderes Augenmerk auf die vielen Leuchtgasvergiftungen gelegt wurde. Tatsächlich nahm diese Suizidmethode im Dezennium 1949/1958 mit Abstand den ersten Platz unter den registrierten Mitteln
Ringel, Der Selbstmord, 4. Zum Umgang mit dem Holocaust und der Schuld siehe: Frank Bajohr, Dieter Pohl, Massenmord und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust (Frankfurt/M. 2008). Ringel, Praktische Selbstmordprophylaxe, 154. Eichinger, Suizidär. suizidal. Suizidant, 109. Ringel, Der Selbstmord, 7. Ringel, Der Selbstmord, 14. Sein neurosenbezogener Fokus hing auch damit zusammen, dass er einer sozial- und entwicklungsbasierten Krankheitsgenese anhing. Damit distanzierte er sich von dem stärker im genetischen Bereich verankerten Psychopathiekonzept. Eichinger, Suizidär. Suizidal. Suizidant, 109 – 110.
Prävention, Prävention, Prävention
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ein.¹⁵²² Aufgrund der hier ursächlichen Kohlenmonoxid-Vergiftung galt es, die Energiewirtschaft ins Boot zu holen, wobei in Wien das Gaswerk Simmering eine Vorreiterrolle einnahm.¹⁵²³ Daher wurde dort bereits 1946 dem wichtigen städtischen Energieträger Erdgas beigemischt, welches überwiegend aus Methan bestand und so eine Vergiftung unwahrscheinlich machte. Ab Mitte der 1960er-Jahre wurde die Ersetzung forciert und rund fünfzehn Jahre später war Wien leuchtgasfrei.¹⁵²⁴ Die medikamentöse Intoxikation mit Barbituraten nahm einen ähnlich prominenten Rang bei den Suizidmitteln ein, daher schien auch hier Anlass zur Intervention geboten. Die erstmals von Adolf von Baeyer 1864 gewonnene Barbitursäure und ihre Derivate Barbital und Phenobarbital galten als die schlaffördernden Wirkstoffe schlechthin. Das geläufigste Präparat trug den Namen Veronal und wurde aufgrund seiner sedativen Eigenschaften auch zur Hypnoseund Schizophrenie-Therapie eingesetzt. Barbiturate wurden von Anfang an von der Problematik der Überdosierung begleitet, denn wenn die therapeutische Dosis überschritten wurde, drohte der Zusammenbruch der vom zentralen Nervensystem gesteuerten Vitalfunktionen. Vor diesem Hintergrund und dem häufigen Gebrauch von Barbituraten in suizidaler Absicht wurde ab den 1950er- und 1960erJahren nach Alternativen gesucht. In diesem Kontext erfolgten der Umstieg auf risikoärmere Schlafmittel und die (Weiter)Entwicklung von Benzodiazepinen, Anti-Depressiva und Neuroleptika.¹⁵²⁵ Vergiftungen wurden als weiche Suizidmethode klassifiziert, nichtsdestotrotz dominierte der Leuchtgastod unter den Suizident*innen. Dies muss die Einstufung als wenig ernste Methodik fragwürdig erscheinen lassen, die vor allem von der Besetzung des Leuchtgassuizids als weiblich herrührte. Ähnlich waren auch die Barbiturate codiert, die ebenso mit einer hohen Fatalität einhergingen. Eine Studie über die Entwicklung in Wien von 1946 bis 2002 zeigt, dass die zuvor skizzierten Maßnahmen einen Rückgang bei den fokussierten Methoden bewirkten. Gleichzeitig registrierte sie aber auch ein
Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum, 13. Stadtgas, Leuchtgas und Erdgas im Gaswerk, Wiener Gasometer, online unter , 29.6. 2017. Michael G. Schimek, Heinz Katschnig, Die Entgiftung des Wiener Stadtgases. Eine quasi experimentelle Evaluation einer suizidpräventiven Maßnahme mittels nichtparametrischer Splingregession. In: Österreichische Zeitschrift für Statistik und Informatik 17 (1987) 293 – 320. Im klinischen Bereich wurden psychotrope Substanzen erst ab den 1950er-Jahren konsequent eingesetzt. Eine Vorreiterrolle in der Psychopharmakologie nahmen die Neuroleptika und hier besonders das Chlorpromazin und später das Haloperidol ein. Thomas Elbert, Brigitte Rockstroh, Psychopharmakologie. Anwendung und Wirkungsweise von Psychopharmaka und Drogen (Berlin u. a. 1990) 10 – 17. Für die Behandlung von unipolaren Depressionen stellte sich Imipramin als erstes potentes Medikament heraus. David Healy, The Antidepressant Era (Cambridge 32000).
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Ausweichen auf andere Suizidmittel, das heißt also, dass insbesondere Verschiebungseffekte erzielt wurden.¹⁵²⁶ Vielsagend ist auch, dass die ‚typisch‘ weiblichen Suizidmethoden schon kurz nach dem Krieg legistischen und administrativen Restriktionen unterworfen worden waren. Demgegenüber blieb die harte Methodik des männlich konnotierten Schusswaffengebrauchs lange davon unbehelligt. Damit verbunden wurde der Zugang zu Feuerwaffen in Österreich überhaupt erst 1997 entscheidend reguliert. Die gewünschten Effekte blieben aber aus, vielmehr steigerten sich sogar die Schusswaffensuizide.¹⁵²⁷
Pathologisches Paradigma oder die Verengung eines Themas In den 1950er- und 1960er-Jahren begann die öffentliche Aufmerksamkeit für suizidales Verhalten zurückzugehen, wurde nun doch die These durchgesetzt, dass Suizidale vor allem eines seien, nämlich psychisch krank.¹⁵²⁸ Erwin Ringel hielt 1953 diesbezüglich fest: „Es ist von entscheidender Bedeutung, daß der Selbstmord als das gesehen wird, was er wirklich ist: als eine Krankheit und nicht als eine Lösung oder gar ein Ideal. Die Ansicht, man solle jedem Menschen seinen Willen lassen, man solle ihn also auch durch eigene Hand sterben lassen, wenn es sein Wille sei, ist medizinisch und ethisch irrig.“¹⁵²⁹
Psychozentrische Thesen wie diese verengten den Diskurs maßgeblich, nichtsdestotrotz konnten Aspekte einer antimodernistischen Moral- und Kulturkritik – samt (kultur)rassistischer Elemente – weiterbestehen. So befürchtete etwa Ri-
Kanita Dervic et al., Suicide among Viennese minors, 1946 – 2002. In: Wiener Klinische Wochenschrift 118/5 – 6 (2006) 152– 159, here 156. Vor diesem Hintergrund forderte die Suizidologie schärfere Zugangsbeschränkungen: „Our findings have a high political relevance for Austria: a recent systematic review revealed shooting as one of two evidence-based targets in suicide prevention, and shooting is a target that can easily be influenced by legal measures as restricting gun ownership.“ Elmar Etzersdorfer, Nestor D. Kapusta, Gernot Sonneck, Suicide by shooting is correlated to rate of gun licenses in Austrian counties. In: Wiener Klinische Wochenschrift 118/15 – 16 (2006) 464– 468, here 467. Auch in der Illustrierten Kronen Zeitung wurde nun regelmäßig auf depressive Leiden verwiesen: „Der junge Mann dürfte die Tat in einem Zustand der Gemütsdepression verübt haben.“ In den Donaukanal, Illustrierte Kronen Zeitung, 5. Jänner 1960, Nr. 221, 6. Auch die Suizide der 51jährigen Bäuerin Katharina G. und der 15-jährigen Christine P. wurden damit verknüpft. Die Leiche im Heu, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 229, 15.1.1960, 5. Mit einem Buch in der Hand gestorben. Selbstmord einer Fünfzehnjährigen fehlt jegliches Motiv, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 239, 27.1. 1960, 7. Ringel, Der Selbstmord, 231.
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cardo Sloman 1958 einen Selbstmord der weißen Kulturvölker, schienen diese doch massiv unter falschen Lebens- und Ernährungsstilen zu leiden. Gesellschaftspolitische Fragen bewegten auch die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Frau. Sie beklagte, dass suizidales Verhalten vielfach ignoriert würde, genauso wie der Nationalsozialismus und rezente Hakenkreuzschmierereien¹⁵³⁰: „Geben wir es zu: wir beachten solche Dinge nicht mehr richtig. (Wo kämen wir denn da hin, wenn wir wegen jeder Leiche ein Geschrei machen?) Wir sind abgestumpft, uninteressiert, überfordert schon seit damals, als von den sechs Millionen ermordeter Juden zum ersten Male gesprochen wurde.“¹⁵³¹
Letztendlich wurde suizidales Verhalten in das Reich des Pathologischen eingezogen und damit seines sozialen Gewandes entkleidet. Als Problem eines psychisch erkrankten Individuums markiert, bedurfte es medizinischen Spezialwissens und Managements, welches insbesondere die Psychiatrie anzubieten schien. Dies bedingte auch den Aufstieg der Prävention – stets unter der Prämisse, dass jeder Suizid zu verhindern sei.¹⁵³² Vergleichbar wichtig blieben nur die psychologische, statistische und epidemiologische Disziplin, da diese die argumentatorische Basis für präventive Interventionen lieferten. Der Statistiker Hans Fuchs beschäftigte sich von 1959 bis 1962 in vier Publikationen mit suizidalem Verhalten, wovon er die ersten beiden explizit versuchten Selbsttötungen widmete.¹⁵³³ Daran lässt sich ablesen, dass diese an Relevanz gewonnen und als abgrenzbares Verhalten begriffen wurden. Bezüglich der ka-
Die ‚glücklichen‘ Jahre: Ja, wir reden DARÜBER!, Die Frau, 16. Jg, Nr. 8, 20. 2.1960, 17. Wert des Lebens, Die Frau, 23. Jg., Nr. 6, 11. 2.1967, 25. Anders der Tenor in der Illustrierten Kronen Zeitung. Zwar meldete sie, dass sich rund um den Jahreswechsel 1960 zahlreiche Hakenkreuzschmierereien ereignet hatten. Sie bediente sich dann aber eines verharmlosenden Narrativs unter Hinweis auf den österreichischen Opferstatus. Diese lauwarme Verurteilung wurde zudem mit dem Vorwurf kontrastiert, dass die internationale Berichterstattung deutschlandfeindlich ausgefallen sei. Hakenkreuzwelle über Oesterreich. Auch Villa Dr. Kreiskys beschmiert, Illustrierte Kronen Zeitung Nr. 223, 8.1.1960, 1; 5. Schmiererhände schockieren die ganze Welt, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 223, 8.1.1960, 3. Zum Nachkriegs-Antisemitismus in Österreich siehe: Heinz P.Wassermann, Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergebnisse, Positionen und Perspektiven der Forschung (Innsbruck u. a. 2002). Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (Hg.), Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer (Wien 2012). Robert Ṿisṭrits, Anti-Zionism and Antisemitism. The case of Bruno Kreisky (Jerusalem 2007). Eichinger, Suizidär. suizidal. suizidant, 123. Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum. H.(ans) Fuchs, Selbstmordversuche im Groß-Stadtraum. Nachtrag (Wien 1959). Fuchs, Selbstmordhandlungen. Hans Fuchs, Ernst Gabriel, Militärdienst und Selbstmordneigung (Wien 1962).
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tegorialen Ausdifferenzierung leistete Erwin Stengel entscheidende Impulse. Als zentral sollten sich hierbei die Geschlechterrelation und die vermeintliche weibliche Präferenz erweisen, wofür die Epidemiologie das argumentatorische Antezedens lieferte. Tatsächlich musste sie oft auf Schätzungen zurückgreifen, da es an statistisch (belastbaren) Daten mangelte, waren doch die ‚unernsten‘ Suizidversuche entweder nachlässig oder gar nicht dokumentiert worden. Das suizidologische Begriffsarsenal wurde 1969 von Norman Kreitman um den Terminus des Parasuizids erweitert.¹⁵³⁴ Dieses Konzept unterscheidet sich vom Suizidversuch darin, dass hier weniger das Scheitern fokussiert wird. Vielmehr geht es um Selbstbeschädigung mit einem ausgeprägten Wunsch zum Über- und Weiterleben. Damit wurde diese Variante noch stärker als appellatives oder auch erpresserisches Verhalten aufgeladen.¹⁵³⁵ Gleichzeitig wurde so der Parasuizid als weibliches Handlungsrepertoire institutionalisiert.¹⁵³⁶ Damit ist gemeint, „daß die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft wissen, daß unter bestimmten äußeren Umständen oder inneren Spannungszuständen die eine oder andere suizidale Geste die ‚richtige Lösung‘ darstellt“.¹⁵³⁷ Vor diesem Hintergrund behauptete der französische Soziologe Jean Baechler, dass Männer* nur ganz vereinzelt parasuizidal reagieren würden: „So kann die Frau im Falle eines Konflikts zwischen Ehepartnern, Geliebten oder Verliebten einen Selbstmordversuch inszenieren, um auf den Mann Druck auszuüben; hingegen muß der Mann schon von ganz spezieller (also seltener) psychologischer Statur sein, um zu einer solchen Lösung zu greifen … Es gibt praktisch keine männliche Rolle, die den Selbstmordversuch als angemessene Taktik gelten ließe.“¹⁵³⁸
Damit war aber die begriffliche Ausdifferenzierung noch nicht abgeschlossen, galt doch die in den 1970ern etablierte Trias aus Suizid, Suizidversuch und suizidalen Ideen als unbefriedigend. Die rezente Entwicklung lässt sich gut anhand des Oxford Handbook of Suicide and Self-Injury dokumentieren. Es führt folgendes klassifi- und nomenklatorisches System als verbindlich: Als Oberbegriff nennt es Self-Injurious Behavior, welches als Unterkategorien Non-Suicidal Self-Injurious Behavior (with no intent to die), Undetermined Self-Injurious Behavior und Suicidal
Norman Kreitman et al., Parasuicide. In: The British Journal of Psychiatry 115 (1969) 746 – 747. Beispielsweise bei Jean Baechler, Tod durch eigene Hand. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Selbstmord (Berlin 1981) 222. Rachor, Selbstmordversuche von Frauen, 51– 107. Baechler, Tod durch eigene Hand, 257. Baechler, Tod durch eigene Hand, 221.
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Behavior (with intent to die) zulässt.¹⁵³⁹ Die letzte Kategorie teilt sich noch einmal folgendermaßen: Suicide, Suicide Attempt, Interrupted Attempt, Self-Interrupted/ Aborted Attempt, Preparatory Acts or Behavior. Der Statistiker Fuchs wähnte eine besonders ungünstige Entwicklung bei den Suizidversuchen.¹⁵⁴⁰ Wie viele seiner Kolleg*innen war auch er überzeugt, dass sich diese in ernsthaft und vorgetäuscht unterteilen ließen – nichtsdestotrotz blieb es ein rätselhaftes Verhalten.¹⁵⁴¹ Warum wollten so viele sterben, obwohl die Nachkriegsnöte längst überwunden waren? Und wieso waren darunter so viele Frauen*? Vor dieser Folie forderte er, dass „von der Wissenschaft nach der eigentlichen Ursache im Menschen selbst geforscht werden“ müsse.¹⁵⁴² Dieser neue Fokus spiegelte sich auch in den Suizidstatistiken wider, denn im Dezennium 1949/1958 wurden diese von folgender Trias dominiert: unbekannter Grund, Ehezwist und Krankheit.¹⁵⁴³ Auch Suizidversuche wurden weiterhin erfasst. Jene von Frauen* galten als geprägt von Familienzwist, unbekanntem Grund und unglücklicher Liebe. Das früher weibliche Motiv des Irrsinns wurde nur mehr selten zugeordnet und wenn dann sogar eher Männern*.¹⁵⁴⁴ Gegenläufig verhielt es sich beim Motiv der Trunksucht, das nun auch Frauen* attribuiert wurde. Bezüglich der männlichen Suizidversuche zeigte sich ein ähnliches Bild. Hier wurde nun am häufigsten der unbekannte Grund notiert, gefolgt von Familienzwist und Krankheit. Bemerkenswerterweise folgte die unglückliche Liebe bereits
Kelly Posner et al., The Classification of Suicidal Behavior. In: Matthew K. Nock (Ed.), The Oxford Handbook of Suicide and Self-Injury (Oxford Library of Psychology, New York 2014) 7– 22, here 12. Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum, 7. „Vom Standpunkt der Statistik taucht hier primär die Frage auf, ob der Selbstmord mit dem Selbstmordversuch v e r g l e i c h b a r ist oder ob der Versuch insbesondere dann, wenn man jene spezifischen Fälle ins Auge faßt, die einen mehr oder weniger starken Charakter prämeditierter Art zeigen (demonstrandi, compromittendi, quasi extorquendi causa). Daß solche Fälle vorkommen und auch weiter vorkommen werden, ist bekannt. Ob sie aber ziffernmäßig den e c h t e n Versuch, der doch zur tatsächlichen Vernichtung führen hätte sollen, weit überdecken, ist im Rahmen der Statistik nicht zu klären, wenngleich bei Kombinationen verschiedener Charakteristika eine begründete Vermutung bestehen könnte.“ Fuchs, Selbstmordversuche im GrossStadtraum, 18. Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum, 7. Daten für Wien. Tabelle Relativzahlen Dezennium 1949/1958: Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum, 26; 28. Der Begriff des Irrsinns wurde zunehmend von der Psychiatrie und Psychologie aufgegeben und durch treffgenauere, weniger globale Termini ersetzt. Rainer Tölle, Wahn. Seelische Krankheiten. Geschichtliche Vorkommnisse. Literarische Themen (Stuttgart 2008) 16; 211– 225. Heinz Schott, Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen (München 2006).
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auf dem vierten Platz. Damit gilt für die motivische Erfassung suizidalen Handelns, dass der sexistische Bias schwand. Nichtsdestotrotz blieb das heteronormative Geschlechterwissen wichtig und so wurde weibliches Suizidhandeln weiterhin als beziehungsbezogen und vorgetäuscht verhandelt.¹⁵⁴⁵ Gleichzeitig galt es als gordisch und gorgonenhaft, womit das Rätselhafte und Grausame betont wurde.¹⁵⁴⁶ Wie viele andere bediente sich auch Fuchs ausgiebig an der heteronormativen Motivgruppenstatistik – um sie zugleich zu kritisieren. Würden doch die ‚wahren‘ Gründe für suizidales Handeln im Dunkeln bleiben: „Was sagt beispielsweise der Begriff ‚Familienzwist‘? Die wahre Ursache kann genauso im Bereich des intimsten Seins und Lebens liegen, es kann sich um Meinungsverschiedenheiten in Erziehungsfragen, um weltanschauliche oder politische Probleme oder – um das neueste Hutmodell handeln. Auch wieder vom tiefen Ernst getragene Fragen bis zum letzten hektischen Modeschrei.“
Das Eingeständnis einer möglicherweise ernsthaften Motivation dürfte der intensiven Männer*beteiligung geschuldet gewesen sein. Dadurch geriet aber auch das Dogma, dass die Familie autonom und privat sei, unter Druck, und ebenso die Frage nach deren gegenwärtigen Organisation.Vor diesem Hintergrund zeigte sich Fuchs tief beunruhigt und argwöhnte, „daß die F a m i l i e – im früheren patriarchalischen Sinne – zum Aussterben verurteilt sei“. ¹⁵⁴⁷ Auch die Schriftstellerin Hertha Kräftner setzte sich mit dem Rätselhaften und Verstörenden an weiblichem Suizidhandeln auseinander. De facto setzte sich in ihrem Abschiedsbrief selbst als Forschungsgegenstand ein.¹⁵⁴⁸ Sie antizipierte damit die Reaktionen auf ihren Tod und ordnete diese drei Strängen zu. Den ersten gruppierte sie um blankes Unverständnis und unterstellte Grundlosigkeit. Hier würde sich alles darum drehen, dass hübsche und begabte Frauen* wie Kräftner schlicht keinen Grund für eine suizidale Handlung hätten. Auch dass sie
H. Fuchs, Selbstmordversuche im Gross-Stadtraum. Bearbeitet im Österreichischen Statistischen Zentralamt (Beiträge zur Österreichischen Statistik. Herausgegeben vom Österreichischen Statistischen Zentralamt 42. Heft, Wien 1959) 27. Durch die zweite Welle der Frauen*bewegungen fand ein intensives Reclaiming und -writing der Figur der Medusa und ihrer beiden Schwestern statt. Zuvor hatte sich bereits Christine de Pizan in ihrem Livre de la cité des dames (1405) um eine freundliche Annäherung bemüht. David Leeming, Medusa. In the Mirror of Time (London 2013) 71– 78. Lizbeth Goodman, Who’s Looking a Who(m)? Re-viewing Medusa. In: Modern Drama 39/1 (Spring 1996) 190 – 210. Hélène Cixous, Das Lachen der Medusa. In: Esther Hutfless et al. (Hg.), Hélène Cixous. Das Lachen der Medusa zusammen mit aktuellen Beiträgen (Wien 2013) 39 – 61. Fuchs, Selbstmordhandlungen, 47. Das literarische Talent vergiftete sich im November 1951 selbst. Hertha Kräftner, Kühle Sterne. Gedichte, Prosa, Briefe (Klagenfurt u. a. 1997) 284– 286.
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vielen Personen sympathisch und von einer liebevollen Familie umgeben war und zudem eine glückliche Liebesbeziehung führte, schien eine Selbsttötung zu verbieten.¹⁵⁴⁹ Die Autorin resümierte: „Hatte dieses Mädchen also Grund, sich zu töten? Nein, antworten die Philister.“¹⁵⁵⁰ Als zweiten Strang skizzierte sie ein Erklärungsmuster, dass um ein plötzliches Unglück, den Tod eines lieben Menschen oder einen untreuen Geliebten zirkulierte. Kräftner quittierte diese möglichen Spekulationen mit den Worten: „Niemand wird etwas Genaues wissen, aber alle werden von der Richtigkeit ihrer Annahme überzeugt sein.“¹⁵⁵¹ Als letzten Strang benannte sie die Verknüpfung ihres suizidalen Verhaltens mit einer psychischen Störung oder „daß ein hysterischer Selbstmordversuch unabsichtlich ein unglückliches Ende nahm.“¹⁵⁵² Kräftners Analyse deckt die zentralen kulturellen Skripte rund um weibliches Suizidhandeln auf und gibt damit vor, wann sich eine Frau* selbst töten ‚durfte‘ und wann nicht.Wer die weibliche Norm aus hübschem Äußerem, intaktem Familienleben und heterosexueller Paarbeziehung erfüllte, der sollte resilient sei. Solcherart irritierte es enorm, dass suizidales Verhalten auch vor diesem Hintergrund stattfand. Ohne ‚identifizierbare‘ Anhaltspunkte blieben nämlich nur das Mysterium, die Sprachlosigkeit und das Herumtappen im bedrohlichen Dunkel und damit die beunruhigende Frage, ob suizidale Ideen und Impulse jeden Menschen ereilen könnten. Kräftner selbst formulierte: „Die wirkliche Ursache, warum der Tod einen trifft, zu wissen, ist niemals möglich; wirklich und ausschlaggebend ist nur, daß der Tod auch nach Teheran kommt.“¹⁵⁵³ Die Medien interessierten sich meist ‚nur‘ mehr dann für suizidales Geschehen, wenn prominente Personen betroffen waren und ungewöhnliche Umstände vorlagen.¹⁵⁵⁴ Vor diesem Hintergrund wurde der Suizidversuch von Brigitte Bardot recht hämisch kommentiert: „Es hatte bei ihr ‚seelischen Kurzschluß‘ gegeben – einen Moment, in dem der Verwöhnten, Vielgeliebten, regelrecht Vergötterten ihr
Die Illustrierte Kronen Zeitung beschrieb den Suizid der 15-jährigen Christine P. genau nach dem von Kräftner identifizierten Muster. Sie war das Kind arbeitsamer Eltern, hübsch, überall gerne gesehen, hatte Freude und eine Lehrstelle. Ihrem Abschiedsbrief zufolge wollte sie schon früher eine suizidale Handlung setzen, entschied sich aber dagegen. Die Zeitung wich letztendlich auf die These einer psychischen Krise aus, um ihr Verhalten intelligibel zu machen. Mit einem Buch in der Hand gestorben. Selbstmord einer Fünfzehnjährigen fehlt jegliches Motiv, Illustrierte Kronen Zeitung, 27.1.1960, Nr. 239, 7. Kräftner, Kühle Sterne, 285. Kräftner, Kühle Sterne, 285. Kräftner, Kühle Sterne, 284. Kräftner, Kühle Sterne, 286. N., Hinter den Traumkulissen, Die Frau, 23. Jg., Nr. 4, 28.1.1967, 26 – 27.
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Dasein, um das sie von Millionen beneidet wurde, leer und sinnlos schien.“¹⁵⁵⁵ Die Metapher des seelischen Kurzschlusses erweist sich als besonders aufschlussreich, denn sie deutet einerseits auf eine Fehlkonstruktion und einen Unfall, anderseits auf eine starke Affektbeteiligung hin. Als zugrunde liegende konzeptuelle Metapher lässt sich identifizieren: SUIZIDALES VERHALTEN IST CHAOS bzw. AUFHEBUNG DER ORDNUNG.¹⁵⁵⁶ Damit ließ sich das Unerklärliche erklären und gleichzeitig die weibliche Impulsivität bestätigen. Auch in der seit 1959 wiedererscheinenden Illustrierten Kronen Zeitung interessierte man sich für suizidale Transgressionen. Besonders sogenannte Familien- und Ehetragödien – dabei handelte sich meist um Femizide – faszinierten das Blatt, wobei es sich bei personenbezogenen Daten inzwischen etwas zurückhielt. Nichtsdestotrotz hievte es besonders spektakuläre Fälle, wie etwa den Fall der 21-jährigen Elfriede Schodak, weiterhin auf das Cover – inklusive Fotobegleitung. Diese tötete im April 1960 sowohl ihren Freund als auch sich selbst mittels Leuchtgas. Neben einem Portraitfoto von Schodak war am Cover zu lesen: „Lieber morden als verzichten“.¹⁵⁵⁷ Offenbar hatte der Lebensgefährte die Beziehung beenden wollen, daher soll Schodak – nachdem die beiden zu Bett gegangen waren – noch einmal aufgestanden sein und den Gashahn geöffnet haben.¹⁵⁵⁸ Der Fall dürfte deswegen prominent auf dem Cover thematisiert worden sein, weil ähnliche Morde meist von einem männlichen Aggressor ausgingen. Die Medien blickten daher irritiert und fasziniert auf die wenigen weiblichen Täter*innen.¹⁵⁵⁹ Von der Berichterstattung über Femizide wurde die Nachreihung des Opfers übernommen und Hinweise darauf, was dieses ‚falsch‘ gemacht hatte. Ansonsten wurde Schodaks Handeln über gut etablierte sexistische Stereotype erklärt.¹⁵⁶⁰ Derart wurde der
N., Hinter den Traumkulissen, Die Frau, 23. Jg., Nr. 4, 28.1.1967, 26 – 27. Die (Fehl‐)Schaltung gehört in den Bereich der Elektrotechnik und der Maschinen. Diesbezügliche Metaphern werden häufig gebraucht, um die Organisation des menschlichen Organismus und Gehirns zu beschreiben. Juliana Goschler, Metaphern für das Gehirn. Eine kognitivlinguistische Untersuchung (Berlin 2008) 150 – 151. Lieber morden als verzichten. Liebestragödie in der Josefstadt, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 299, 6.4.1960, 1. Ihre Täterschaft ließ sich anhand einer zurückgelassenen Notiz erschließen. 21jährige tötete ihren Freund und sich selbst. Liebesdrama in der Josefstadt – Abschied endete mit Gas – Er merkte nichts davon, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 299, 6.1.1960, 5. Marita Metz-Becker, Aus Not und Verzweiflung. Verwandtenmord im 19. Jahrhundert. In: Eva Labouvie, Ramona Myrrhe (Hg.), Familienbande – Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft (Köln u. a. 2007) 239 – 253, hier 240. Marita Metz-Becker, Aus Not und Verzweiflung. Verwandtenmord im 19. Jahrhundert. In: Eva Labouvie, Ramona Myrrhe (Hg.), Familienbande – Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft (Köln u. a. 2007) 239 – 253, hier 240.
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beziehungsbezogene und affektive Aspekt herausgearbeitet und die besondere Heimtücke – unter dem Hinweis auf das gebrauchte Gift – betont. Auch die Auffindungssituation schien das moralisch Unerhörte zu plausibilisieren: „Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes war der eines friedlich Schlafenden, dem Mädchen aber merkte man an, daß es unter Qualen gestorben war.“¹⁵⁶¹ Das wissenschaftlich kaum mehr relevante Motiv der finanziellen Not wurde von den Medien weiterhin und besonders dann, wenn die Sachlage eindeutig schien, bespielt. Wie etwa in dem von der Illustrierten Kronen Zeitung dokumentierten Doppelsuizids des Favoritener Textilkaufmanns Johann M. und seiner Ehefrau.¹⁵⁶² Offenbar gelang es dem Blatt selbst in den 1960er-Jahren noch immer, den Inhalt von Abschiedsbriefen zu erfahren. Wie sonst hätte es wissen können, dass darin das Motiv der drückenden Schuldenlast genannt worden war? Und ebenso, dass der Verfasser Wert darauf legte, unverschuldet in diese Situation geraten und das Opfer von zahlungsunwilligen Ratenkäufer*innen geworden zu sein? Im gegenständlichen Fall lässt sich rekonstruieren, dass wohl das Polizeikommissariat selbst den Briefinhalt weitergegeben haben musste, denn Johann M. hatte sein Schreiben an dieses adressiert. Die Zeitung führte auch den Suizidversuch des 17-jährigen Lehrlings Helmuth G. auf dessen prekäre finanzielle Situation zurück und so spekulierte das Blatt: „Er dürfte es sich allzusehr zu Herzen genommen haben, daß er mit seinem kleinen Lehrlingslohn seiner Angebeteten nichts zu bieten vermochte.“¹⁵⁶³ Auch der Fall des 22-jährigen Probegendarms August Koisegg schien sich um ein finanzielles Motiv zu drehen, denn offenbar lehnte ihn der Vater seiner Partnerin aufgrund seiner prekären Beschäftigung ab. Daraufhin drohte er, sich selbst zu töten, bevor er den Vater ermordete und dann einen Suizidversuch unternahm. Entgegen wissenschaftlicher Behauptung setzten Männer* also doch auf emotionale Erpressung. Vor dieser Folie lässt sich auch ein interessanter Kontrast zum Fall einer Halleiner Mutter feststellen, die sich und ihre elfjährige Tochter vergiftet hatte.¹⁵⁶⁴ Die Illustrierte Kronen Zeitung behauptete, dass die Frau weit über ihren Verhältnissen gelebt hatte und angesichts des Bankrotts zuerst ihre Tochter tötete und dann sich selbst. In der Zusammenschau ergibt sich, dass finanzielle Nöte weiterhin als ein typisch männliches Motiv verhandelt wurden – wobei die moralische Verantwortung weiterhin eine große Rolle spielte. War man schuldlos in die Misere ge-
21jährige tötete ihren Freund und sich selbst. Liebesdrama in der Josefstadt – Abschied endete mit Gas – Er merkte nichts davon, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 299, 6.1.1960, 5. Mit der Gattin in den Tod, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 221, 5.1.1960, 6. Gas gegen Liebe, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 221, 5.1.1960, 7. In Hallein: Schulden trieben Mutter und Kind in den Tod, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 2364, 3.1.1967, 8 – 9.
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raten oder hatte man sie selbst heraufbeschworen? Da Frauen als Hüter*innen der Moral galten, wurde bei weiblichen Suizident*innen besonders genau hingeschaut und schnell eine (Mit‐)Verantwortung diagnostiziert.¹⁵⁶⁵ Die heterosexistische Geschlechtermatrix beschäftigte die Illustrierte Kronen Zeitung immer wieder und so legte sie auch dar, welche Gründe – aus männlicher Sicht – zum Scheitern von Ehen führten. Die dabei formulierte Klage deckte ein breites Spektrum ab und so wurde Nachlässigkeit bei der Essenszubereitung neben fehlende emotionale Zuwendung gestellt. Besonders unerhört erschien dem Blatt, dass die Männer* zunehmend bei der Kinderbetreuung helfen sollten, um gleichzeitig darauf zu bestehen, dass der Liebesehe die Zukunft gehörte.¹⁵⁶⁶ Im Jahr 1967 wurde als Status quo die egalitäre heterosexuelle Partnerschaft¹⁵⁶⁷ verkündet: „‘Heute ist kein Ehepartner mehr dem anderen untertan. Die gegenseitige Achtung ist Trumpf‘.“¹⁵⁶⁸ Trotz dieser liberalen Wendung blieben die Grenzen für zulässige Männlichkeit eng, wie sich am Fall des 47-jährigen Karl Mollik beobachten lässt. Dieser hatte nach jahrelangen Ehekonflikten auf seine Frau eingestochen und dann suizidal gehandelt. Das Medium berichtete über den versuchten Femizid ausführlich und titelte: „Pantoffelheld wollte ‚stark‘ sein.“¹⁵⁶⁹
Dieb trieb Ehrenmann in den Tod, Illustrierte Kronen Zeitung, 9.1.1960, Nr. 224, 8. Eifersucht wird unmodern. Auch Ehebruch toleriert? Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 2378, 17.1.1967, 5. „‘Nicht der Idealmann und die Idealfrau finden sich in dieser modernen Ehe zusammen. Heute gehen realistisch denkende junge Menschen zum Standesamt. Sie lernen sich meist schon lange vor der Ehe kennen. Sie prüfen sich auf Liebe und Treue genau. So entsteht eine echte persönliche Partnerschaft. Eine Ehe ohne Illusionen. Eine Ehe, in der es kein blindes Versprechen, sondern Sehen und echtes Verstehen gibt!’“ Der Liebesehe gehört die Zukunft, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 2452, 2.4.1967, 24– 25, hier 24. Zum Ringen um die Organisation von Ehe und Familie und ihre Reform in den 1950-er bis 1970-er Jahren: Michaela Kuhnhenne, (K)ein Königreich für einen Mann. Zur Debatte um die Etablierung alternativer Familienformen in der westdeutschen Nachkriegszeit. In: Julia Reuter et al. (Hg.), Geschlechterleben im Wandel. Zum Verhältnis von Arbeit, Familie und Privatsphäre (Tübingen 2006) 139 – 154. Thomas Großbölting,Von der „heiligen Familie“ zur „Ehenot“. Religiöses Familienideal und praktiziertes Zusammenleben in den 1960-er und 1970-er Jahren. In: Reuter et al. (Hg.), Geschlechterleben im Wandel, 169 – 188. Ingrid Bauer, Americanizing/Westernizing Austrian Women: Three Scenarios from the 1950s to the 1970s. In: Günter Bischof, Anton Pelinka (Eds.), The Americanization, westernization of Austria (Contemporary Austrian Studies 12, New Brunswick et al. 22009) 170 – 185. Reinhard Sieder, From Patriarchy to New Fatherhood? Private Life and the Process of Modernization in Twentieth-Century Austria. In: Bischof, Pelinka (Eds.), The Americanization, westernization of Austria, 186 – 198. Eifersucht wird unmodern. Auch Ehebruch toleriert? Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 230, 17.1.1967, 5. Pantoffelheld wollte „stark“ sein, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 229, 15.1.1960, 9 – 10, hier 9.
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Im dazugehörigen Bericht erläuterte es dann, dass der Mann jahrelang von seiner Frau schikaniert und gedemütigt worden sei und sie hätte ihn – „ein Krüppel“ – nie geliebt und nur wegen des Krieges geheiratet.¹⁵⁷⁰ Seine Aggressionen dürften im Rahmen eines neuerlichen Konflikts eskaliert sein, weshalb Mollik zum Messer griff und auf seine Frau einstach, bevor er es gegen sich selbst richtete. Da beide überlebten, kam es zu einem Gerichtsprozess, der von der Illustrierten Kronen Zeitung ausführlich dokumentiert wurde. Die Anklage lautete auf versuchten Mord, welcher die Geschworenen aber nicht folgten. Stattdessen entschieden sie auf schwere Körperverletzung, die mit fünf Monaten schweren Kerkers belegt wurde. In der milden Strafe und der parallelen medialen Verunglimpfung – von Täter und Opfer – drückt sich die geschlechtsbezogene Dynamik dieses Falls aus. Einerseits dürfte die Kränkungserfahrung des Täters als mildernd bewertet worden sein, andererseits lud sie zu effeminierender Kritik ein, waren doch patriarchales Machtverhältnis und männliches Gewaltmonopol beschnitten worden. Obwohl Mollik mit dem Mordversuch in gewaltvolles Handeln eintrat und damit toxische Männlichkeit bediente, schien seine Maskulinität beschädigt und so wertete ihn das Blatt über die lange ‚verfehlte‘ Geschlechtsperformance als vulnerabel und damit weiblich ab. Bezüglich weiblicher Suizidalität folgte man den etablierten Narrativen, daher wurden vor allem das Beziehungs- und das Bluffmotiv bedient. So auch im Fall der 23-jährigen Helga Schachner aus Graz, die sich im Jänner 1967 vom Wiener Stephansdom hinabstürzen wollte. Die Illustrierte Kronen Zeitung brachte den Fall am Cover und wusste als Motiv zu verkünden: „Wie sich später ergab, hatte Helga Schachner wegen unglücklicher Liebe sterben wollen. Möglicherweise spielte sie nur mit dem Gedanken, Selbstmord zu verüben.“¹⁵⁷¹ Noch größere Aufmerksamkeit erregte 1968 die Tragödie des homosexuellen Polizisten Ernst Karl.¹⁵⁷² War dieser doch aufgrund seiner gleichgeschlechtlichen Neigung erpresst worden und hatte daraufhin seinen Peiniger ermordet. Das rege Interesse am Fall hing auch damit zusammen, dass sich die gesellschaftliche
Pantoffelheld wollte „stark“ sein, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 229, 15.1.1960, 9 – 10, hier 9. Mädchen wollte aus 70 Meter Höhe in die Tiefe springen! Feuerwehr raste zu Stephansdom, Illustrierte Kronen Zeitung, Nr. 2391, 30.1.1967, 1. Der dazugehörige, genauere Bericht: Stephansdom: Lebensmüde gerettet! Illustrierte Kronen-Zeitung, Nr. 2391, 30.1.1967, 9. Hans-Peter Weingand, „Auch in Oesterreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen“. Die Beseitigung des Totalverbots homosexueller Handlungen in Österreich durch die Strafrechtsreform 1971. In: Martin J. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht. Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrates von 1945 bis 2002 (Studienreihe Homosexualität 4, Graz 2011) 17– 62, hier 27.
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Einstellung gegenüber Homosexualität geändert hatte. Derart wurde die strafrechtliche Verfolgung von gleichgeschlechtlich Begehrenden inzwischen als antiquiert und ungerecht empfunden. Und tatsächlich sollte 1971 das sogenannte Totalverbot aufgehoben werden.¹⁵⁷³ Als ein Grund für die Entkriminalisierung wurde u. a. auf die vielen homosexuellen Suizidtoten hingewiesen.¹⁵⁷⁴ Dies ist umso bemerkenswerter, als die heteronormativen Suizidstatistiken diese nie erfasst hatten und somit eigentlich auch keine Zahlen vorlagen. Hier wird die erfolgreiche Lobbyingarbeit der ‚lesbischen‘ und ‚schwulen‘ Community sichtbar, die sich nach dem Krieg erst spät reorganisiert hatte, da sich die gesellschaftliche Ablehnung zäh hielt. Dies geht auch aus dem Brief eines jungen Homosexuellen an das schweizerische Szenemagazin Der Kreis hervor. Der 21-jährige Verfasser aus Österreich schilderte darin seinen Leidensweg, nachdem er sich in einen Gleichaltrigen verliebt hatte: „Nach einigen Wochen kamen wir uns auch sexuell näher und das gab dem österreichischen Gesetz das Recht, uns als >Verbrecher< zu behandeln. Allein und in tiefster Verzweiflung erhängte sich der Mensch, der mir das liebste auf der Welt war, in seiner Zelle, weil er mich nicht lieben durfte.“¹⁵⁷⁵
Auch der zutiefst erschütterte Schreiber musste eine Gefängnisstrafe absitzen. Zusätzlich wurden ihm auch noch die Haftkosten verrechnet, die ihn um seine letzten Ersparnisse brachten. Als Sexualstraftäter gebrandmarkt, sollte sich die Arbeitssuche als sehr schwierig herausstellen und sein gesamtes Dasein erschien ihm hoffnungslos: „Ich stehe wieder da, einsam, allein und verzweifelt. Jeder Gang in der Öffentlichkeit ist ein Spießrutenlauf.“¹⁵⁷⁶ Letztendlich fühlte er sich von der Gesellschaft im Stich gelassen und perspektivierte auch für sich eine suizidale Handlung: „Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich dieses Land hasse, dieses Land in dem Tag und Nacht von der Freiheit, vom goldenen Westen und vom Wirtschaftswunder ge-
Eine Strafrechtskommission war bereits 1957 einberufen wurde. Diese befürwortete die Reform des sogenannten Homosexuellenparagrafens. Eine politische Verständigung darauf konnte aber nicht erzielt werden. Daher wurde der § 129 b erst 1971 im Zuge der SPÖ-Alleinregierung aufgehoben. Die gleichzeitig erlassene und diskriminierende Schutzalterbestimmung für männliche Homosexuelle wurde erst 2002 gestrichen. Andreas Brunner, Ines Rieder, Nadja Schefzig, Hannes Sulzenbacher, Niko Wahl, Geheimsache:Leben. Schwule und Lesben in Wien im 20. Jahrhundert (Wien 2005) 155. Brunner et al., Geheimsache: Leben, 156. Brunner et al., Geheimsache: Leben, 156.
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sprochen wird, wo man sich nicht scheut, einen auf seine Art glücklichen Menschen in den Tod zu jagen und den anderen langsam auch dorthin zu bringen.‘“¹⁵⁷⁷
Auch bei der Strafverfolgung spielte die Interdependenz von sozialem Status, Finanz- und Bildungsressourcen und Geschlecht eine Rolle. Die stärker im Privaten angesiedelte weibliche Homosexualität wurde zudem als weniger anstößig und schädlich empfunden. Davon dürfte 1950 auch ein lesbisches Paar in Wien profitiert haben.¹⁵⁷⁸ Die Ärztin und die Physikerin lebten seit 1946 zusammen, wobei aufgrund eines Auslandsaufenthalts ein reger Briefwechsel zwischen ihnen stattfand. Bedrohlich wurde die Lage, als eine temporäre Mitbewohnerin diesen neben anderen Wertgegenständen stahl. Und tatsächlich gelangte im Zuge ihrer Festnahme das Konvolut in die Hände der Staatsanwaltschaft, die aufgrund des Homosexuellenparagrafens aktiv wurde. Damit drohte eine Anklage, die allerdings von den beiden Frauen geschickt bekämpft wurde. Neben dem etwas milderen Behördenblick dürften ihnen hierbei vor allem ihre bildungsbürgerlichen und finanziellen Ressourcen geholfen haben. So argumentierten sie über den beauftragten Anwalt, dass ihr Zusammenleben aus einem Schutzbedürfnis resultierte und verbale Zärtlichkeiten auch in Freundschaftskontexten üblich seien. Zudem wären sie nur in Verdacht geraten, weil die Diebin selbst homosexuelle Kontakte pflegte. Aufgrund dieses Intervenierens und der dünnen Beweislage wurde die Anklage als aussichtslos zurückgestellt. Tatsächlich wurden die Behörden häufig erst im Kontext anderer Delikte auf die ‚Unzucht‘ aufmerksam, wie auch in einem ursächlich wegen Schleichhandels verfolgten Falles aus dem Jahr 1946.¹⁵⁷⁹ Laut einer suizidalen Arbeitskollegin war die beschuldigte Köchin ‚lesbisch‘ veranlagt und hatte auch ihr sexuelle Avancen gemacht. Nachdem sich die Zeugin selbst getötet hatte, bestand die Beschuldigte umso vehementer darauf, dass die Tote gelogen hatte – verurteilt wurde sie trotzdem. Suizidales Verhalten spielte auch beim Fall einer ‚verführten‘ Schülerin eine Rolle, die sich ihrer Lehrerin angenähert und diese geküsst hatte.¹⁵⁸⁰ Offenbar wusste die Mutter um die gleichgeschlechtliche Neigung ihrer Tochter, welche sie ablehnte. Daher dürfte sie die betroffene Lehrerin als ‚Verführerin‘ angezeigt haben. Ihre Tochter sagte bei der Staatsanwaltschaft Folgendes aus: „‘Schon im Schullandheim nach dem ersten Kuss in der Duschkabine musste ich Frau S. mein Ehrenwort geben, mit niemanden darüber zu sprechen, weil es sonst ihre Stellung kosten würde. Ich Brunner et al., Geheimsache: Leben, 156. Ines Rieder, Aktenlesen 1946 – 1959. Lesben in Wien im Visier der Justiz. In: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 15 (2013) 113 – 139, hier 120 – 123. Rieder, Aktenlesen 1946 – 1959, 116 – 120. Rieder, Aktenlesen 1946 – 1959, 128 – 132.
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wollte mich an dieses Ehrenwort unbedingt halten und dies war auch ein Grund zu meinem Selbstmordversuch.‘“¹⁵⁸¹ Die Lehrerin wehrte sich gegen die Ermittlungen und argumentierte, dass ihr Schützling auf das angebotene Du-Wort zu überschwänglich reagierte. Zudem hätte sie ihre Schülerin nach besagter Vertraulichkeit auch gleich zurechtgewiesen. Im weiteren Verlauf wurden zahlreiche Zeug*innen einvernommen – ohne einen stichhaltigen Beweis gewinnen zu können. Letztendlich kam die Lehrerin nach 2-monatiger Untersuchungshaft frei und auch das Verfahren wurde eingestellt. Nichtsdestotrotz versuchte die Mutter es wiederzubeleben, wurde aber im Zuge dessen selbst diffamiert. Die Wiener Jugendgerichtshilfe stellte sie nämlich als schlechte Mutter dar, die nur ihren Beruf im Kopf gehabt und die Erziehung ihrer Tochter vernachlässigt hatte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch nach dem Krieg die Pönalisierung von Homosexualität gesellschaftlich befürwortet wurde, was sich erst Ende der 1950er-Jahre zu ändern begann. Zuvor hatten zahlreiche medizinische Expert*innen versucht, das moralische Verdikt durch eines der Krankheit zu ersetzen. Vor diesem Hintergrund hatten einige bessersituierte Angeklagte auch selbstständig Gutachten beauftragt, um so ihren ‚pathologischen‘ Zustand zu bekräftigen. Damit ließ sich vor Gericht dann argumentieren, dass man therapiewillig sei oder sich schon in Behandlung begeben habe. Gleichzeitig gab es aber auch Angeklagte, die sich selbstbewusst zu ihrer Homosexualität bekannten und eine diesbezügliche Identität für sich reklamierten. Abseits des Boulevards beschäftigte sich die Presse auch mit weniger ‚spektakulären‘ Aspekten mentaler Gesundheit. Solcherart wurden Ängste, psychische Probleme und die hohe Vulnerabilität von älteren Menschen thematisiert.¹⁵⁸² Tatsächlich erörterte Die Frau ganz offen die modernen Behandlungsmöglichkeiten bei depressiven Störungen, wobei große Hoffnungen in die Anti-Depressiva gesteckt wurden: „Um so höher muß der Erfolg der Chemiker und Mediziner gewertet werden – denen es in gemeinsamer Arbeit gelang, eine Unzahl an Präparaten zu entwickeln, die tatsächlich imstande sind, Depressionen völlig zu verscheuchen, den Menschen wieder Lebenslust und Mut einzuflössen und sie vor Selbstmord und Verzweiflung zu bewahren.“¹⁵⁸³
Rieder, Aktenlesen 1946 – 1959, 128. Anneliese Hitzenberger, Lebensangst – medizinisch gesehen, Die Frau, 16. Jg., Nr. 15, 16.4. 1960, 22. Anneliese Hitzenberger, Moderne Behandlung von Trübsinn, Die Frau, 23. Jg., Nr. 6, 11. 2. 1967, 23.
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Mittels psychotroper Substanzen sollten die drängendsten Symptome bekämpft werden, was praktikabel erschien, da die eigentliche Ursache einer depressiven Störung unbekannt war. Selbst die zuvor angesprochene sozialdemokratische Frauenzeitschrift fokussierte die Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit und heteronormativer Matrix. Davon sollten auch depressive Ehefrauen und Mütter in den Wechseljahren profitieren: „Dann ist sie nicht mehr fähig und willens gewesen, ihrer Hausarbeit nachzukommen. Schließlich ist sie tagelang im Bett geblieben, teilnahmslos an allem Geschehen rings um sie.“¹⁵⁸⁴ Da die leidende Frau auch Anzeichen von Suizidalität zeigte, intervenierte der Ehemann und organisierte psychiatrische Hilfe. Und während früher aufgrund der noch unbekannten Anti-Depressiva vor allem zugewartet werden musste, konnte nun rasch geholfen werden.¹⁵⁸⁵ Der Artikel bediente sich ganz klar am wissenschaftlichen Paradigma einer besonderen klimakteriellen Vulnerabilität. Bemerkenswerterweise wurde die Not der beschriebenen Frau* – trotz bereits vorher aufgetretener Symptomatik – erst dann dringlich, als sie ihre häuslichen Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte und damit aus der weiblichen Rolle fiel. Obwohl das Blatt darauf verzichtete, die Menopause ihres pathologischen Stigmas zu entkleiden, bemühte es sich um Ausgleich: „Natürlich waren (und sind!) nicht nur Frauen in den Wechseljahren von diesem Leiden befallen. Die Depressionen können alte und junge Menschen, Männer wie Frauen befallen.“¹⁵⁸⁶ Tatsächlich gab es Hochrisikogruppen, worunter relativ gesehen schon länger ältere Menschen fielen. Ihr suizidales Handeln genoss dennoch nur wenig Aufmerksamkeit, was auch mit den kulturellen Skripten rund um suizidales Verhalten zusammenhing.¹⁵⁸⁷ Während das Sterbenwollen von jungen Menschen zutiefst verstörte, galt es vielen als verständlich, wenn alte, kranke und vereinsamte Menschen den Tod suchten.¹⁵⁸⁸ Selbst der Psychiater Erwin Menninger-Lerchenthal bediente sich dieser Argumentation:
Anneliese Hitzenberger, Moderne Behandlung von Trübsinn, Die Frau, 23. Jg., Nr. 6, 11. 2. 1967, 23. Die (Psycho)Pharmakologie agiert in dem Spannungsfeld Symptombekämpfung versus Heilung. Letztere erfordert in der Regel größere Ressourcen sowie eine komplexere und holistische Herangehensweise. Joseph E. Davis, Ana Marta Gonzalez (Eds.), To Fix Or To Heal. Patient Care, Public Health, and the Limits of Biomedicine (New York et a. 2016). Anneliese Hitzenberger, Moderne Behandlung von Trübsinn, Die Frau, 23. Jg., Nr. 6, 11. 2. 1967, 23. Leidinger, Die BeDeutung der Selbstauslöschung, 368 – 402 und Ortmayr, Selbstmord in Österreich 1819 – 1988, 212– 216. Tina Löbig et al., Suizid im hohen Lebensalter. In: Rechtsmedizin 25/4 (2015) 274– 280. Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 5.
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„Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Selbstmorde der Menschen im höheren Lebensalter die normalst motivierten Selbstmorde sind. Umso mehr sehen wir uns veranlaßt, in der Verurteilung der Selbstmorde zurückhaltend zu sein. Wir können auch nicht eine im ehrwürdigen Alter besonders oft vorkommende Handlungsweise ausnahmslos als etwas Unerlaubtes oder Unsittliches hinstellen.“¹⁵⁸⁹
Die Frau warnte, dass ältere Personen oft unter Einsamkeit und sozialer Isolierung litten, daher dürfe es auch nicht wundern, dass diese zu letal verlaufenden Suizidszenarien neigten.¹⁵⁹⁰ Nicht mehr finanzielle Nöte quälten sie, aber die gefühlte Sinn- und Nutzlosigkeit ihres Daseins. Daher setzte sich das Blatt für einen professionellen Altersbesuchsdienst ein, mangelte es doch den Familien an Zeit für die älteren Angehörigen. Trotz der vorgeschlagenen Auslagerung der Sorge um die Alten blieb diese weiblich adressiert, was klar aus der begleitenden Illustration hervorging.¹⁵⁹¹ Nicht immer blieb der Ton so ruhig und lösungsinteressiert, haderte doch die Zeitschrift mit Vorfällen wie dem folgenden aus Niederösterreich. Dort hatte sich ein Landarbeiter-Vater erhängt, „weil seine Kinder, wegen ein paar Zuckerln, die er ihnen nicht kaufen konnte, zu Dieben wurden und er die Schande nicht überleben wollte“. ¹⁵⁹² Welche Rolle hier – auch – ein toxisches Männlichkeitsideal gespielt hatte, das thematisierte das Blatt nicht, denn offensichtlich war der Tote daran gescheitert, die patriarchale Ernährer- und Versorgerrolle sowie das Machtprivileg auszufüllen. Auch bei Femiziden verabsäumte es das Blatt, die heterosexistische Geschlechterordnung konsequent zu adressieren, verhandelte es doch diese Morde euphemistisch als „Eifersuchtstragödien“.¹⁵⁹³ In anderen Fällen agierte das Blatt aufgeklärter und identifizierte patriarchale Gewalt als solche. Dies kam etwa in einem Artikel über eine junge Frau zum Ausdruck, die gegen ihre Zwangsverheiratung protestierte, indem sie ihr Haupthaar demonstrativ abschnitt.¹⁵⁹⁴ Der Vater reagierte darauf mit einem Suizidversuch. Dies hinderte seine Tochter aber nicht daran, sich durchsetzen, was von der Zeitschrift als Triumph gefeiert wurde. Die besondere Aufmerksamkeit der Zeitschrift erregte der Fall der 39-jährigen Maria Eckert. Diese hatte 1960 ihre beiden Kinder mit
Menninger-Lerchenthal, Das europäische Selbstmordproblem, 40. Isa Strasser, Gefährdetes Alter, Die Frau, 16. Jg., Nr. 1, 2.1.1960, 22. Zur dahinterliegenden Auslagerung und Professionalisierung von Care-Arbeit, ihrer weiblichen Adressierung und den vielfach prekären Arbeitsverhältnissen: Barbara Thiessen, ReFormulierung des Privaten. Professionalisierung personenbezogener, haushaltsnaher Dienstleistungsarbeit (Wiesbaden 2004) 283 – 380. Andl, Nachdenkliches. 2000 Schilling ‚Taschengeld‘, Die Frau, 16. Jg., Nr. 9, 27. 2.1960, 17. Tragödie der Eifersucht, Die Frau, 16.Jg, Nr. 8, 20. 2.1960, 10. Der ungeliebte Mann, Die Frau, 16. Jg, Nr. 20, 14. 5.1960, 19.
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Leuchtgas vergiftet und dasselbe Schicksal auch für sich selbst vorgesehen. Sie überlebte aber auch diesen, bereits vierten Suizidversuch. Die Frau verurteilte die Tat klar und beschrieb das zukünftige Leben von Eckert als sinn- und freudlos. Gleichzeitig fragte sie sich, „ob die Frau, die vor dem Gesetz zur Mörderin wurde, wirklich die allein Schuldige ist“.¹⁵⁹⁵ Hier fiel ihre Antwort differenzierter aus, denn sie wollte das Ereignis nicht als tragischen Einzelfall verstanden wissen und untersuchte die Begleitumstände.¹⁵⁹⁶ Offenbar hatte der Ehemann eine außereheliche Affäre unterhalten und war seiner Frau nicht auf Augenhöhe begegnet. Daher wähnte sie diese Partnerschaft als exemplarisch für die vielen nicht mehr zeitgerechten Ehen: „Immer mehr Frauen sehen in der Ehe nicht eine Versorgung oder eine Versicherungspolizze für die Zukunft, sondern einen Lebensbund, der durch die Liebe zueinander und später auch zu den Kindern seine Gültigkeit bekommt.“¹⁵⁹⁷ Sie hielt aber auch fest, dass diese modernen Beziehungen beständiger Arbeit und gemeinsamer Anstrengungen bedürfen.¹⁵⁹⁸ Anhand dieser Ausführungen wird klar, dass ein gesellschaftspolitischer Aufbruch stattgefunden hatte, der eine neue Subjektivität und auch ein verändertes emotionales Regime hervorbringen sollte.¹⁵⁹⁹ Das Selbst und das Soziale wurden fortan hauptsächlich unter psychologischen Gesichtspunkten adressiert. Diese Verwissenschaftlichung leistete aber noch mehr, denn sie produzierte ein neues therapeutisches Angebot, das dem Individuum helfen sollte, sich selbst zu erkennen. In diesem Kontext fand auch eine nachholende Medizinisierung von Männern* statt und der Blick auf nicht-heteronormativen Sexualitäten begann, sich zu wandeln.¹⁶⁰⁰ Von zentralem Stellenwert ist, dass diese neuartigen Subjektivierungsformen einen nie dagewesenen Zugriff auf sich selbst versprachen. Besonders die als emanzipative Selbsttechnik deklarierte Psychotherapie sollte den Weg zu einem optimierten, glücklichen und authentischen Dasein ebenen. Damit wurden auch suizidales Begehren und insbesondere seine Überwindung zu einer Frage der gelingenden
B. H., Unschuldig schuldig, Die Frau, 16. Jg., Nr. 23, 4.6.1960, 3. B. H., Unschuldig schuldig, Die Frau, 16. Jg., Nr. 23, 4.6.1960, 3. Sowie als Reaktion darauf zwei Leser*innenbriefe: Die Frau, 9.6.1960, Nr, 28, 21. Zu den Ambivalenzen von Mutterschaft und ihrer oft mit starken Gefühlen aufgeladenen Verhandlung: Sarah LaChance Adams, Mad Mothers, Bad Mothers, and What a „Good“ Mother Would Do. The Ethics of Ambivalence (New York 2014) 27– 72. Eva Tolasch, Die protokollierte gute Mutter in Kindstötungsakten. Eine diskursanalytische Untersuchung (Wiesbaden 2016). B. H., Unschuldig schuldig, Die Frau, 16. Jg., Nr. 23, 4.6.1960, 3. B. H., Unschuldig schuldig, Die Frau, 16. Jg., Nr. 23, 4.6.1960, 3. Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren (Göttingen 2016) 9 – 18. Martin Dinges, Männergesundheit im Wandel: Ein Prozess nachholender Medikalisierung? In: Bundesgesundheitsblatt 59/8 (2016) 925 – 931.
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Arbeit an sich selbst. Allen liberalen und pluralistischen Tendenzen zum Trotz erforderte das auch ein Einfinden in eine akzeptierte geschlechtliche und sexuelle Identität und damit in eine Norm, die noch immer heterosexuell und -sexistisch war und eine fortpflanzungsorientierte Paarbeziehung propagierte.
Fazit Die Suizidwelle im letzten Kriegsjahr bewirkte divergierende Interpretationen, darunter auch Schweigen und Tabuisierung. Dort, wo debattiert wurde, erfüllte die heteronormative Geschlechtermatrix weiterhin eine zentrale Orientierungsund Ordnungsfunktion. Davon abweichende Sexualitäten und Begehren wurden zur Projektionsfläche für das moralische und ethische Scheitern in den Jahren zuvor. Die Sprachlosigkeit wich am ehesten, wenn es um die Selbsttötungen der führenden NS-Männer* ging, die in wissenschaftlichen Kreisen als akribisch geplant und vorbereit verhandelt wurden. Solcherart stiegen sie zur perfekt rationalen Gesten auf, die im Angesicht des Zusammenbruchs nur logisch waren. Und tatsächlich reklamierten die NS-Führungsfiguren für sich, ganz in der Tradition Catos, ein selbstbestimmtes und heroisches Sterben. Sie waren und blieben ‚herausragend‘, was nicht zuletzt auch aus einer interdependenten Dynamik resultierte, waren sie doch zugleich als autochthon Deutsche, erfolgreiche Aufsteiger und Träger idealisierter Männlichkeit markiert. Das Agens des Volkes schien hingegen kaum ausgeprägt und daher verkörperte es, und vor allem die Frauen* und Kinder, primär eins: Opfer. Opfer der Flächenbombardements, der (sexuellen) Gewalt und der allgemeinen Kriegsnot. Nicht berücksichtigt wurden hier sogenannte Fremd- und Zwangsarbeiter*innen, U-Boote, Deserteure, Euthanasie-Opfer und die zahlreichen Inhaftierten in NS-Lagern. Vor diesem Hintergrund erschien es nur konsequent, dass viele Familien quasi als Reaktion auf das bereits Erlittene und noch zu Erwartende gemeinsam den Tod suchten. Aufgrund des dominanten Charakters dieser Interpretation erschienen weitere Erörterungen weder zweckmäßig noch notwendig. Dies ist umso bemerkenswerter, da es sehr wohl Hinweise gab, dass Angehörige auch gegen ihren Willen getötet worden waren. Da und dort wurde zwar das Machtgefälle in der patriarchalen Familie thematisiert, aber meist nur oberflächlich. Und so blieb es oft bei der Feststellung, dass wohl so mancher Familienvater die treibende Kraft beim gemeinsamen ‚Suizid‘ gewesen war. Derart wurde ignoriert, dass Kinder und Minderjährige, aber auch sonstige abhängige Familienmitglieder, einem solchen Plan gar nicht zustimmen bzw. sich ihm verweigern konnten. Gleichzeitig blieb so das Agens einer autochthon-deutschen Männlichkeit, die Gewalt und Macht über sich und das familiäre Umfeld reklamierte, erhalten.
Fazit
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Bezüglich autochthon-deutscher Frauen* wurden vor allem sexuelle Gewalt und Lebensmüdigkeit gekoppelt. Der Psychiater Erwin Menninger-Lerchenthal wertete eine diesbezügliche suizidale Reaktion als inadäquat und überzogen. Damit ignorierte er eines der ältesten Skripte für suizidales Verhalten von Frauen*, den Verlust der sexuellen Integrität. Parallel dazu spielte er auch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Propaganda und damit die von ihr verbreitete Ausweglosigkeit und Gewaltvorhersage herunter. Nach dem Zusammenbruch waren es vor allem die politisch Verfolgten, welche die NS-Zeit und ihr Ende thematisierten. Die jüdische Community agierte zurückhaltender, was einerseits damit zusammenhing, dass sie zahlenmäßig äußerst dezimiert war und andererseits antisemitische Ressentiments weiterhin florierten. Ähnlich still blieben die Stimmen von sogenannten Fremd- und Zwangsarbeiter*innen und von anderweitig Verschleppten und Umgesiedelten, wurden doch hier die interdependenten Wechselwirkungen von NichtDeutschsein, niedrigem sozialen Status und möglichem weiblichen Geschlecht wirksam. Für viele der in den NS-Lagern Inhaftierten bildete der (erzwungene) Suizid am elektrisch geladenen Zaun eine eindrückliche Erinnerung. In zahlreichen Zeugnissen diskutierten sie die damit verbundene Gefahr, Sichtbarkeit und Häufigkeit. Weniger Aufmerksamkeit genossen passiv konnotierte ‚Suizidmethoden‘ und hier jene, die an der Grenze zur Selbst-Aufgabe und des Sich-Dreinfügens lagen. Zu sehr war der Suizid mit einer aktiv-männlichen und selbstbestimmten Komponente, mit einem klaren Beginn und Ende sowie mit körperlichen Traumata konnotiert. Ein Dahinsiechen und Dissoziieren war hingegen passiv-weiblich konnotiert und damit der Sphäre des Suizids entzogen. Vor diesem Hintergrund ist auch die These in Frage zu stellen, dass selbstschädigendes Handeln in den NS-Lagern selten vorkam.¹⁶⁰¹ Auf die aktive Definition suizidalen Handelns mag das zutreffen. Nicht so aber für Verhaltensweisen, die weniger zielgerichtet und passiv ausgekleidet waren und dennoch zum eigenen Tod beitrugen. Wie bereits angesprochen, agierte die jüdische Community im Nachkriegsdiskurs vorsichtig und zurückhaltend. Dies gilt auch bezüglich der vielen Suizidtoten unter ihnen, die nekropolitisch fruchtbar gemacht werden hätten kön-
Auch David Lester bezweifelt die These der niedrigen Suizidzahlen und meint, dass vielmehr das Gegenteil anzunehmen sei. Er argumentiert, dass die Aussagen von Überlebenden kontextualisiert und eingeordnet werden müssen, dürften doch viele verwundert gewesen sein, dass sich angesichts der widrigen Umstände nicht mehr Personen selbst töteten. Darüber hinaus erzeugte der ständig präsente Tod eine gewisse Indifferenz gegenüber dem Suizid und man beachtete ihn daher kaum noch. Definitiv gesagt werden kann, dass das Thema des suizidalen Verhaltens in den Ghettos und NS-Lagern noch weiterer Forschung bedarf. David Lester, Suicide and the Holocaust (New York 2005) 107– 119.
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nen. Selbst prominente KZ-Überlebende wie Jean Améry hielten sich lange zurück oder verzichteten gar darauf, die politische Dimension suizidalen Handelns zu thematisieren. Diese Hemmung trifft insbesondere auf Viktor Frankl zu, denn für ihn waren versöhnliche Gesten und seine psychologischen Erkenntnisse wichtiger. Und so dienten ihm der Holocaust und seine eigene KZ-Erfahrung vor allem dazu, seine logotherapeutischen und existenzanalytischen Thesen zu belegen. Gleichzeitig ließ sich sowohl bei ihm als auch der frühen Suizidprävention ein paternalistischer Gestus beobachten. Eine Begegnung auf Augenhöhe mit den Klient*innen war (noch) nicht vorgesehen. Vielmehr galt es, sie nachzuerziehen und suggestiv auf sie einzuwirken. Dies erklärt auch, warum viele Klient*innen mit großem Misstrauen reagierten und nicht immer korrekte Angaben machten. Einen wichtigen Schauplatz bildete auch die geschlechtsspezifische Aufspaltung der Krisenintervention in einen weiblich adressierten fürsorgerischen und einen männlich codierten therapeutischen Teil. Nota bene lag das entscheidende Wort im Fallmanagement bei der Psychiatrie, der sich letztendlich auch die psychologische Diagnostik unterzuordnen hatte. In der Nachkriegszeit wurde das pathologische Paradigma durchgesetzt und damit suizidales Handeln entpolitisiert. Damit verbunden hatte Erwin Ringel 1953 das präsuizidale Syndrom definiert, welches bis heute gültig ist. Solcherart waren die Suizidalen fortan klar umrissen und die Basis für die moderne Prävention gelegt. Die Bedeutung dieses Schrittes kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn das Symptomkonglomerat lieferte die diagnostische Grundlage für jegliche psychiatrische Intervention. Damit war fortan jeder Suizid vermeidbar, sofern nur rechtzeitig die Zeichen erkannt würden. Suizidales Handeln wurde so auf eine zu verhindernde, private Tragödie reduziert, was sich auch in den heteronormativen Suizidstatistiken und ihren Motivzuordnungen widerspiegelte. Diese wurden fortan von Konflikten im sogenannten privaten Bereich und von Krankheiten dominiert. Bemerkenswerterweise schrumpfte der Geschlechterbias bei den Motiven erheblich, was damit zusammengehangen haben dürfte, dass die politische Dimension suizidalen Handelns eingekürzt worden war. Gleichzeitig wurden nun Männer* nachholend medizinisiert und therapeutisiert. Konsequenterweise forderte die Psychiatrie, dass der individuelle Entfaltungs- und Wirkungskreis störungsfrei zu halten sei oder die Konflikte zumindest auf ein erträgliches Maß zu reduzieren seien. Die ideale Grundlage für ein harmonisches Dasein verkörperte die patriarchale Familie und fortpflanzungsorientierte Ehe. Sämtliche Abweichungen von diesem heteronormalen und -sexistischen Ideal wurden verdächtigt, suizidales Verhalten zu fördern. Daran änderte auch die weitgehende Entkriminalisierung von Homosexualität im Jahr 1971 nur wenig. Verblieben doch Konversions- und Reparationstherapien im medizinischen Repertoire.
Fazit
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Fortan sollte sich das Individuum über die Technologien des Selbst (er)finden und so seine Suizidalität überwinden. Subjektivierung konnte nie jenseits von Machtbeziehungen stattfinden, erforderte sie doch sowohl individuelle Unterordnung als auch eigensinnige Selbstermächtigung und damit auch das Einfinden in geschlechtliche und sexuelle Subjektpositionen, die ihrerseits wieder in soziale Hierarchien eingegliedert waren. Im untersuchten Diskurs wurde dabei nicht nur nach heterosexuellem Geschlecht hierarchisiert. Partnerinnen von Besatzungssoldaten wurden gleichzeitig über ihr Frausein* und auch über eine ethnische und (kultur)rassistische Dimension abgewertet. Das traf auch auf Kinder zu, die aus diesen Beziehungen hervorgingen. Verschärft wurde dieser Ausschluss, wenn es sich dabei um Väter afro-amerikanischer, -karibischer oder -französischer Herkunft handelte. Der schwellende Anti-Semitismus marginalisierte Jüd*innen auch weiterhin über rassistische, nationalistische und geschlechtsspezifische Stereotype. Gleichzeitig blieb alles Weibliche, Jüdische und Nicht-Heteronormative einer Sonderpathologie verdächtig, was sowohl auf einer physischen als auch psychischen Ebene zutraf. Parallel dazu wurden über die Priorisierung psychozentrischer Ursachen sozioökonomische Nöte und Ausschlüsse als Suizidmotiv entwertet. Dieser Umstand sowie der paternalistische Gestus der Suizidprävention konfligierte mit idealer Männlichkeit. Und tatsächlich erreicht vor diesem Hintergrund die Krisenintervention bis heute Männer* allgemein schlechter als Frauen*, wobei auch hier rassistische und klassenbezogene Wechselwirkungen mitzudenken sind. Auch die distinkte Kategorisierung der versuchten Selbsttötung korrelierte mit der skizzierten psychozentrischen Dynamik. Nur so war es möglich, diese als affekt- und beziehungsorientiertes Verhalten – das als typisch weiblich gilt – festzuzurren. Die Verengung suizidalen Handelns auf einen pathologischen Kern generierte auch neue Probleme. Was, wenn keine psychische Störung identifiziert werden konnte? Diese Leerstelle lud dazu ein, eine versteckte, noch nicht erkannte Pathologie zu reklamieren.¹⁶⁰² Ein solches argumentatorisches Antezedens war notwendig, denn ohne psychopathologische Transgression gab es auch keine gefährdeten und hilfsbedürftigen Subjekte.¹⁶⁰³ Die nachgelagerte Anrufung des suizidalen Individuums, doch Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen und (wieder) ein rationales Subjekt zu werden, forcierte seine biopolitische Zurichtung. Dies darf aber keinesfalls als einseitiger Prozess verstanden werden. Denn wer sich über die Technologien des Selbst (re‐)modellierte, der
Marsh, Suicide, 47– 51. Chloë Taylor, Birth of the Suicidal Subject: Nelly Arcan, Michel Foucault, and Voluntary Death. In: Culture, Theory and Critique 56/2 (2015) 187– 207.
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Kapitel 6: Pathologisches Paradigma: durchgesetzt
konnte eine neue und verbesserte Identität gewinnen. Der skizzierte biopolitische Raumgewinn spiegelte sich in der voranschreitenden Diversifikation selbstbeschädigenden Verhaltens und in der Forderung der World Health Organization (WHO), auch Suizidversuche konsequent zu dokumentieren.¹⁶⁰⁴ Und damit begann das biopolitische Auge, sich nicht nur dem männlich konnotierten Suizid, sondern sämtlichen suizidalen, vielfach als weiblich konnotierten Verhaltensweisen zuzuwenden. Gleichzeitig visionieren die rezenten Wissenschaften die letzten Tage des Todes oder zumindest ein hartes Kräftemessen mit ihm, und zwar indem sie nicht nur die leibliche Basis zu optimieren trachten, sondern auch die von uns produzierten Daten digital zu archivieren suchen.¹⁶⁰⁵ So könnten unsere virtuellen Doppelgänger*innen dann tatsächlich einen Blick auf die Ewigkeit erhaschen. Gleichzeitig würde eine solche Praktik aber auch suizidales Verhalten ad absurdum führen.
Suicide, Fact sheet, Updated March 2017, World Health Organization – Media centre, online unter , 14.7. 2017. Yuval Noah Harari, Homo Deus. A Brief History of Tomorrow (London 2015) 21– 29. Moritz Riesewick, Hans Block, Die digitale Seele. Unsterblich werden im Zeitalter Künstlicher Intelligenz (München 2020).
Fazit Das nachfolgende Resümee dient der kursorischen Zusammenschau der Forschungsergebnisse, soll diese Dimension aber auch überschreiten, um das Thema für mannigfaltige wissenschaftliche Betrachtungen und Ansätze zu öffnen. Dies bedeutet ein Diskussions- und Perspektivierungsangebot an diverse Wissenschaften wie die Gender und Queer Studies, die Kulturwissenschaften, die Medienwissenschaften, die linguistischen Disziplinen, aber selbstverständlich auch an die etablierten Stakeholder. Um der Querschnittsmaterie des suizidalen Verhaltens gerecht zu werden, ist der interdisziplinäre Austausch von zentraler Bedeutung und angesichts noch immer zahlreicher essentialisierender, pathologisierender und stereotypisierender Forschungsparadigmen dringend geboten. Dieser verengte Blick resultiert auch aus der dominierenden psychozentrischen Lehrmeinung, die suizidales Verhalten als Ausdruck eines inhärenten und vordiskursiven Todeswunschs fasst. Vor diesem Hintergrund können Betroffene nur mehr entlang ‚ihrer‘ suizidalen Identität erfasst werden. Der Dialog soll auch in Richtung der niedrigschwellig und im Erstkontakt mit suizidalen Individuen arbeitenden Institutionen und Personen eröffnet werden, aber vor allem mit jenen Menschen, die suizidales Verhalten erwägen oder bereits gesetzt haben. Dies impliziert insbesondere und unabdingbar eine Begegnung auf Augenhöhe und ein Sprechen mit den Betroffenen anstatt über sie. Es gilt, vorauszuschicken, dass es sich beim untersuchten Diskurs über weite Strecken um einen eugenisch-rassistischen und anti-liberalen handelte. Gleichzeitig war dieser androzentrisch und heteronormativ organisiert und suchte Geschlechter, Sexualitäten, Begehren und vergeschlechtlichten Leiber als ein logisch-stringentes System zu verweben und damit zu stabilisieren. Wer diesen normalen und normierten Rahmen überschritt, der galt als suizidgefährdet, wobei penibel darauf geachtet wurde, die ‚Transgression‘ als kausal zu setzen und nicht die soziale Sanktionierung. Wurde Suizidalität allgemein besprochen, bildete die Ineinandersetzung Mensch und westeuropäisch-weißer heterosexueller Mann die implizite Basis. (Marginalisierte und untergeordnete) Männlichkeiten wurden dann direkt adressiert, wenn es um dichotome Abgrenzung bzw. hegemoniale Kontrastierung ging. Die meisten der analysierten Quellen suchten die heterosexuelle, ehebezogene und fortpflanzungsorientierte Norm zu bestätigen. Solcherart wurden nicht-heteronormative Lebens- und Sexualformen entweder nicht erfasst oder nachgeordnet und pathologisiert.¹⁶⁰⁷ Dieses Muster zeigte sich insbesondere bei den statistischen Quellen, die suizidales Verhalten höchstens in Die größte Sichtbarkeit konnten hier noch männliche Homosexualitäten erreichen. https://doi.org/10.1515/9783110664256-008
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den Kategorien männlich oder weiblich erfassten. Hinsichtlich der religiösen Quellen ist ein ähnliches Verdikt zu formulieren. Als zulässig galt die fortpflanzungsorientierte Sexualität innerhalb einer Ehe oder die Keuschheit. Über alternative Sexual- und Lebenskonzepte wurde meist geschwiegen, da sie als schwere Sünde galten. Aber auch die meisten Wissenschaften und die Medien zeigten sich dem heteronormalen und -sexistischen Prinzip verpflichtet. Alles jenseits davon wurde als unsittliches Verhältnis, Geschlechtssünde oder Perversität umschrieben und so ins Reich der unerwünschten Abnormitäten gebannt. Am ehesten hiervon auszunehmen waren die Sexualwissenschaften und die frühe Psychoanalyse. Sie untersuchten zumindest die Welt der queeren Lebensformen, allerdings häufig noch unter den Vorzeichen einer Pathologisierung. Diese Gemengelage spiegelt sich auch in den Forschungsergebnissen. Weibliche, heterosexuelle Suizidalitäten waren in den Quellen meist gut zugänglich, weil sie als ‚Sonderfall‘ im androzentrischen Diskurs deutlich markiert wurden. Demgegenüber gingen männliche, heterosexuelle Suizidalitäten recht häufig in allgemeinen Aussagen über den selbstgegebenen Tod auf. Das heißt also, dass die universale Setzung einen analytischen Zugriff erschwerte oder mitunter auch verunmöglichte. Graduell noch stärker entzogen sich nicht-heteronormative Suizidalitäten einer Analyse, da sie in einem Großteil der Texte entweder nur verklausuliert oder gar nicht erwähnt wurden. Das gilt auch für Intersexualität und Transgeschlechtlichkeit, welche zudem häufig der Homosexualität zugeschlagen wurden. Gleichzeitig wurden Praktiken des Passings und Cross-Dressings, aber auch transgeschlechtliche Personen selbst, meist als transvestitisch deklariert. Die unterstellten Motive für suizidales Handeln reflektierten immer die Lebensumstände und die Möglichkeiten, dieses zu gestalten; aber auch die Frage, welche Subjektentwürfe möglich respektive unmöglich waren. Geschlecht bestimmte analog zu den anderen Differenzkategorien die Handlungsspielräume der Menschen und lieferte daher zentrale Impulse, wie suizidales Verhalten interpretiert und geskriptet werden konnte. Einen zentralen diskursiven Schauplatz stellte der suizidale Leib dar, da an ihm die Totenbeschauer*innen feststellten, ob eine suizidale Handlung, ein Mord oder ein Unfall plausibel war. Die Mediziner*innen insistierten darauf, unvoreingenommen an die Leichen heranzutreten und sich nur von ihrem geschulten Auge und ihrem objektiven Expert*innenwissen leiten zu lassen. Für Gemeinplätze und stereotype Annahmen über die Geschlechter gäbe es in ihren Theorien und Analysen keinen Raum. Da aber die suizidalen Leiber längst mit Geschlechtlichkeit und weiteren Differenz erzeugenden Einschreibungen durchtränkt waren, konnten diese nie neutral oder vordiskursiv sein. Derart waren sie immer schon (un)rassifiziert, (un)pathologisch, (dis)abled sowie sexuell, sozial und altersbezogen markiert. Stets interdependent organisiert, knüpften diese Kategorien ihrerseits an eurozentrische,
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nationalistische und weiß-suprematistische Konzepte an. Diese und darüber hinausgehende Wissensbestände informierten und regelten, wie ein Suizid ‚auszusehen‘ hatte und konstituierten auch eine Hierarchie der toten Leiber.Vor dieser Folie erschien die Handlungsoption Suizid dann besonders naheliegend und plausibel, wenn es sich um einen weißen männlichen Toten handelte und dieser von einer Schusswaffe oder einem anderen, deutlich sichtbare Verletzungen hervorrufenden Mittel Gebrauch gemacht hatte. Gleichzeitig musste die tödliche Handlung zeitlich genau ab- und eingrenzbar, frei von Zufallsmomenten und von ‚triftigen‘ Gründen geprägt sein. Unter letzterem wurden Ehr- und Gesichtsverlust, finanzielle Probleme oder chronisch-terminale Krankheiten verstanden. Dieses Setting formte und definierte die ‚ideale‘ suizidale Handlung und daher gerieten davon abweichende Szenarien in den Verdacht, etwas anderes als den Tod fokussiert zu haben. Dahingehend wurden nicht-letale Szenarien weiblich konnotiert und mit unernsten, kommunikativen, irrationalen und erpresserischen Intentionen aufgeladen. Vor dieser Folie wird evident, dass der Diskurs regelte, welche Handlungen überhaupt als suizidale erfasst und innerhalb des möglichen Spektrums priorisiert bzw. marginalisiert wurden. In der Antike waren noch mehr als 300 Lexeme in Gebrauch, um suizidales Verhalten zu beschreiben, wovon sprachlich auch heute noch viele formuliert werden könnten. Tatsächlich lässt sich aber eine Beschränkung auf einige wenige Begriffe beobachten, was bedeutet, dass zahlreiche Bedeutungen und Nuancierungen aufgegeben wurden. Besondere Aufmerksamkeit verdient die aufklärerische Vorliebe für Nomen bzw. nominale Begriffe, da über sie die Handlung als solche in den Hintergrund rückte und zu jener Tatsache wurde, wie sie Emile Durkheim später im Fin de siècle definierte.Vor diesem Hintergrund wandelte sich suizidales Verhalten auch von einem in der Regel privilegierten, weißen, männlichen Bürgern und Soldaten vorbehaltenen Handeln, zu einem sozialen Tatbestand, der fortan alle Bevölkerungsschichten spezifisch kennzeichnete. Die dahinterliegende, von der Aufklärung ausgehende Entwicklung bewirkte, dass suizidales Verhalten nicht nur demokratisiert, sondern auch popularisiert und emotionalisiert wurde. Solcherart machte es fortan auch ‚Sinn‘, dass es von nachgeordneten Gruppen reklamiert oder zumindest in den Quellen und Statistiken besser dokumentiert wurde. Tatsächlich hatten in der Antike Philosophen noch konstatiert, dass suizidales Handeln von Frauen* vor allem eines sei, nämlich lächerlich. Die veränderten kulturellen Skripte korrespondierten mit dem von den Statistiken indizierten Anstieg der suizidalen Handlungen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die statistischen Erhebungen und Aussagen vom Diskurs selbst hervorgebracht wurden. Sie gingen ihm weder voraus, noch existierten sie unabhängig von ihm und dem verfügbaren Wissen. Dessen ungeachtet wirkten sie auf den Diskurs ein und gestalteten ihn fundamental mit. Zentral ist
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auch, dass vom 19. Jahrhundert an die Lebensrealitäten von Frauen* sowie deklassierten und marginalisierten Subjekten besser dokumentiert wurden. Infolgedessen wurde das suizidale Verhalten dieser Gruppen erfasst, diskutiert und in den Inter- und Elementardiskurs eingespeist. Gleichzeitig wirkte aber auch die ungeheure mediale Aufmerksamkeit für den selbstgegebenen Tod auf den wissenschaftlichen Spezialdiskurs zurück und bewirkte die Integration von populären Deutungen. Ähnliches gilt für elementar-literarische Formen wie Tagebuchaufzeichnungen, Lebenserinnerungen und Leser*innenbriefe, die ihrerseits von inter- und spezialdiskursiven Aussagen informiert waren, diese aber auch mitgestalteten. Den Preis für die skizzierte Demokratisierung suizidalen Verhaltens stellte seine schrittweise Depolitisierung dar, daher wurde es immer weniger als Ausdruck einer überlegten Handlung gewertet, sondern als Ausfluss einer psychischen Störung. Nichtsdestotrotz war die politische Konnotation im Fin de siècle noch ausgeprägt genug, damit die Suffragetten selbstbeschädigendes Verhalten als höchsten und dringlichsten Einsatz für ihre Bewegung reklamieren konnten. Analog dazu wusste auch die frühe Sozialdemokratie um das politische Potential suizidalen Verhaltens und erklärte ihre Anhänger*innen zu Opfern der ausbeuterischen Elite, schien doch klar, dass sich diese lieber selbst den Tod gaben, als ihr Dasein als sozioökonomisch Deprivierte zu fristen. Nichtsdestotrotz verurteilte auch die Sozialdemokratie suizidales Verhalten, aber weniger, weil sie darin ein individuelles Scheitern erblickte – so wie von der bürgerlichen Seite betont – sondern ein gesellschaftliches. Vor diesem Hintergrund verwandelte sie den mannigfachen Tod in ihren Reihen in etwas Produktives – und zwar in ein Kampfmittel um ein besseres Leben. Ganz offensichtlich konnte bei richtiger Inszenierung und Instrumentalisierung post-mortem ein langes und ‚fruchtbares‘ Leben warten. Die ‚idealen‘ Opfer innerhalb der Arbeiter*innenschaft verkörperten die vielen weiblichen Hausgehilf*innen. Zweifelsfrei waren sie den Dienstgeber*innen ausgeliefert – alleine schon aus arbeitsrechtlicher Sicht – und zudem oft jung, unerfahren und vielfach aus der österreichischen oder böhmisch-mährischen Provinz. Gleichzeitig ließ sich ihr reihenweises suizidales Verhalten mit den gängigen Geschlechterstereotypen verbinden, schienen sie doch besonders gefährdet, eine gescheiterte Liebesbeziehung nicht verwinden zu können. Dabei wurde häufig ignoriert, dass eine Partnerschaft in der Regel für mehr als ein liebevolles Gegenüber stand. Tatsächlich galt die Begründung einer ehelichen Gemeinschaft als Königsweg, um die dienende Position in den quasi-feudalen Haushalten hinter sich zu lassen. Vor diesem Hintergrund ließ sich das Schicksal dieser Frauen* besonders gut emotionalisieren und instrumentalisieren. Von dieser respektablen Gruppe wurden jene (ehemaligen) Hausgehilf*innen abgespalten, die Kinder von verschiedenen Vätern hatten, sexuelle Dienstleistungen
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verkauften oder vagabundierten. Suizidales Handeln von achtbaren Männern* aus der autochthonen Arbeiter*innenschaft wurde vor allem darauf zurückgeführt, dass sie schlecht verdienten, arbeitslos oder krank wurden und ihre Familien nicht mehr ernähren konnten, sie also letztendlich die geforderte Geschlechterrolle als beschützender und versorgender Patriarch nicht mehr einnehmen konnten. Damit kontrastierten junge und migrantische Arbeiter*, die als arbeitsscheu und anfällig für homosexuelle Neigungen, Alkoholmissbrauch und (sexuelle) Gewalt galten. Über diese moralischen Mängel würden sie zudem nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch die bürgerlichen Männer* ‚anstecken‘. Dieser Vorwurf illustriert die Bedeutsamkeit des sogenannten Verführermotivs, das im Diskurs über Homosexualität und anderweitige sexuelle ‚Devianz‘ noch lange persistieren sollte. Verletzliche Männlichkeit(en) wurde(n) häufig nur indirekt und verklausuliert adressiert, da sie die heteronormative Geschlechterordnung störte(n). Um diese zu stabilisieren, wurde männliche Vulnerabilität an marginalisierte und deviante Subjekte ausgelagert. Umso mehr verstörte es, dass auch jene, die von ihrer hegemonialen Position oder zumindest patriarchalen Dividende profitierten, nicht vor Suizidalität gefeit waren. Anstatt diese Männlichkeitsentwürfe kritisch zu überprüfen, wurde entweder auf überlebensgroße Leistungen und Herausforderungen hingewiesen, oder schlichtweg jede Thematisierung vermieden. Letzteres zeigte sich auch bei den mit internalisierender toxischer Männlichkeit zusammenzudenkenden Femiziden, welche häufig von einem Tätersuizid begleitet wurden. Anders gestaltete sich der Diskurs bei Männern*, die die Aufführung von heterosexistischer oder -normaler Männlichkeit ablehnten oder verfehlten. Sie durften nicht auf Schonung hoffen, da ihr suizidales Handeln an die vermeintlich misslungene Geschlechtsperformance gekoppelt und diese als kausal etikettiert wurde. Auch bei Frauen* wurde der Diskurs über psychologische oder sexuelle ‚Devianzen‘ geführt – wobei hier somatische noch hinzukamen. Sie wurden als zentraler Suizidgrund eingesetzt, wenn die unterstellten Lebensziele – sich zu verheiraten und Kinder zu gebären – in unerreichbare Ferne gerückt oder abgelehnt worden waren. Dabei spielte es kaum eine Rolle, ob eine Frau* aus sozialdemokratischen, religiösen oder bürgerlichen Kreisen stammte, denn als Konsens galt, dass fehlende Heiratsmöglichkeiten und geringe Fertilität die weibliche Vulnerabilität erhöhten. Vor dieser Folie verstörten Frauen*, die ihr eigenes Geschlecht begehrten oder in männlich konnotierte Territorien und Machtbezirke eindrangen, immens. Entlastung schuf auch hier, die vermutete Transgression als eine zentrale Suizidursache zu markieren. Demgegenüber wurde ein möglicher Zusammenhang mit der patriarchal organisierten Ehe negiert, erschien doch angesichts der hohen Suizidgefährdung von verlassenen Männern* eine Scheidung wenig wünschenswert. Die Bedürfnisse von Frauen* konnten auch daher
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leicht nachgereiht werden, weil nur männliches Suizidhandeln als dringlich und krisenindizierend aufgeladen war. Zudem schienen diese ohnehin von ihrer biologisch-instinkthaften Resilienz und ihrer größeren Religiosität zu profitieren. So ließ sich auch die von den Suizidstatistiken ausgehende Spannung reduzieren, indizierten diese doch sehr deutlich, dass die Männer* den verfemten Suizid viel zu häufig verübten, um die Norm menschlichen Verhaltens definieren zu können. Indem die weibliche Resilienz zum unverdienten Geschenk erklärt wurde, konnte leichter über das männliche ‚Suizidmanko‘ und das daraus resultierende moralische Dilemma hinweggesehen werden. Zahlreiche der unterstellten Motive für suizidales Handeln weisen eine lange genealogische Ahnenreihe auf. So wurde bereits in der Antike der selbstgegebene Tod von Frauen* in Verbindung mit ihrem dependenten Sozialstatus gesetzt. Infolgedessen galten die Motive der Trauer und des scheinbar nutzlosen Zurückbleibens nach dem Tod des Ehegattens oder engster Familienangehöriger als plausible Gründe, um sich das Leben zu nehmen. Ebenso wurde neben dem psychologisch-sozialen Explikationsmuster bereits das physiologische verhandelt. Dahingehend betrachteten frühe Ärzte menstruierende und postpartale Frauen* als besonders anfällig für suizidale Impulse – wenn auch die genauen Begründungen dafür noch variierten. Nichtsdestotrotz fußten diese Erklärungsansätze bereits auf einer Sonderpathologie des Weiblichen. Der zähe und persistente Charakter der skizzierten Motive hing damit zusammen, dass sie an die jeweiligen Geschlechts- und Subjektentwürfe gekoppelt waren und daher deren Bewegungen mitmachten. Damit soll keineswegs ein ahistorisches Argument bedient werden, vielmehr wird so offensichtlich, dass bereits in der Antike ein flexibler Umgang mit Geschlecht üblich war. Dieser geschmeidige und variationsreiche Einsatz erklärt, warum die These eines geschlechtlichen Durchdrungenseins fortbestehen konnte. Gleichzeitig lieferte sie einen zentralen Anker, der es erlaubte, extra Wissen über suizidales Verhalten abzuschöpfen. Solcherart tragen sämtliche Kategorien der Differenz das Potenzial, suizidales Verhalten intelligibel zu machen oder diesem Prozess zuzuarbeiten. Der Wunsch vieler Diskursteilnehmer*innen, diese Handlung verstehen zu können, hat fundamental damit zu tun, ihr – wie dem Tod allgemein – den Schrecken zu nehmen und etwas über sie zu erfahren. Denn letztendlich lauert die bedrohliche Frage im Hintergrund: Könnte es auch mich treffen? Könnte auch ich den Wunsch entwickeln, dieses Leben nicht mehr zu wollen? Damit offenbart sich auch die enge Verbindung zum Wunsch nach einem guten, gelingenden Leben und einem ebensolchen Tod. Um den Verheißungen der ars vivendi und insbesondere der ars moriendi – die immer erst den krönenden Abschluss ersterer darstellte – nahezukommen, entwickelten die mit den Fragen des Lebens beschäftigten Expert*innen unterschiedliche Strategien. Heute erweisen sich jene
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als zentral, welche den Tod zu bändigen wünschen und solche, welche den genauen Zeitpunkt bestimmen wollen. Damit sind der biotechnologische Traum vom ewigen (digitalen) Leben und die Sterbehilfe angesprochen. So verlockend auch die biopolitische Phantasmagorie der Unendlichkeit sein mag, so zeigt sich doch in deren Gegenpol, der Sehnsucht nach dem Tod, ein Korrektiv. Dieses lässt die Frage nach dem guten Leben und dem ebensolchen Tod virulent werden, denn wer ewig lebt, dem kann auch zugemutet werden, auf das gute Leben zu warten. So lässt sich auch erklären, warum der Tod in der Gegenwart wieder erhöhte Aufmerksamkeit genießt und warum er vielleicht doch mehr ist als ein notwendiges oder gar vermeidbares Übel. Vor diesem Hintergrund ist auch die These Foucaults zurückzuweisen, dass das Sterben und der Tod vom 18. Jahrhundert an privatisiert und mit staatlichem Desinteresse bedacht wurden. Insbesondere für die letzten Jahrzehnte ist diese Behauptung unhaltbar, da anhand nekropolitischrassistischer Politiken die Festung Europa und der weiße Suprematismus verteidigt werden. Gleichzeitig wird heute bevorzugt in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen gestorben. Zwangsläufig reglementieren und normieren diese Institutionen das Aus-der-Welt-Gehen und den Umgang mit der zurückgebliebenen menschlichen Hülle. Gleichzeitig erlangte diese im 20. Jahrhundert zunehmend den Status eines popkulturellen Artefakts. Der tote Leib und sein Aussehen wurde durch Gemälde, Fotos und Filme interpretiert, aber auch definiert und festgeschrieben. Dieser Fokus und insbesondere die verfolgte Stilisierung und Ästhetisierung legen nahe, dass die Forderung nach Subjekthaftigkeit die Leiche einschließt. Diese Logik wurde insbesondere dann schlagend, wenn es sich beim Toten um einen weißen, heterosexuellen Mann* handelte. Daher stellten stark zerstörte männliche Suizidleichen, die nicht mehr klar umrissen waren, eine besondere diskursive Herausforderung dar. Indem das Auflösen der Leib-UmweltGrenze als ein psychopathologisches Indiz gewertet wurde, konnte aber das bedrohliche Moment entschärft werden. Dieser diskursive Kniff deutet auch auf die nachholende Medizinisierung und Therapeutisierung an Männern* hin, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Die Medizinisierung traf neben dem Suizid auch die Sterbehilfe, indem die ärztlichen und psychologischen Expert*innen beide Felder für sich reklamierten. Die von den Doktor*innen und Wissenschaftler*innen vorgeschlagenen Theorien und entwickelten Behandlungen leisteten aber noch viel mehr. Sie brachten überhaupt erst die suizidalen Subjekte hervor, die scheinbar so dringend ihrer Interventionen bedurften. Einen frühen Hintergrund für die Medizinisierung suizidalen Verhaltens bildeten die serienweisen Sektionen an Suizident*innen im Fin de siècle. Auch hier spielten die interdependenten Differenzkategorien eine entscheidende Rolle, handelte es sich doch bei vielen dieser Suizidleichen um marginalisierte Männer* – was aber kaum reflektiert wurde. Dahingehend tat man
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sich in den Sektionssälen leicht, soziale Probleme in medizinische umzudeuten. Diese Verschiebung war auch deswegen so populär, weil über sie die Mediziner*innen die Eindämmung der ‚Suizidepidemie‘ versprechen konnten. Zudem schien mittels der millimetergenauen Inspektion der toten Leiber jeder Raum für Spekulationen wegzufallen. Da nichtsdestotrotz der These einer weiblichen Sonderpathologie gefolgt wurde, musste dem Sexual- und Reproduktionsapparat höchste Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wenig überraschend fanden die mit den Sektionen beauftragten Kräfte diesen häufig krankhaft und anormal. Damit bedienten sie die um Deutungshoheit ringenden psychiatrischen und gynäkologischen Disziplinen, welche bereits zuvor menstruierende, schwangere, postpartale und klimakterielle Frauen* als vulnerabel erklärt hatten. Das Zirkulieren dieser pathologisierenden Aussagen ließ sich gut anhand des Beispiels der Menstruation rekonstruieren. Zweifellos erwies sich für Mädchen und Frauen*, die mit suizidalen Impulsen rangen, das medizinische Spezialwissen als attraktiv, um so mehr über sich selbst und den eigenen Zustand zu erfahren. Trotz dieser offensichtlichen Integration blieb der komplexe und multikonditionale Charakter suizidalen Verhaltens erhalten. Und so übernahmen sie die offerierten Deutungen nicht nur, sondern modifizierten oder negierten sie auch. Die psychologischen Expert*innen wussten, dass die betroffenen Personen damit haderten, ihr Selbst auszudeuten und das frühere suizidale Verhalten in die eigene Biografie zu integrieren. Auf wissenschaftlichen und therapeutischen Rat hin sollte das Selbst remodelliert und so eine (neue) Identität gefunden werden. Daher wurde nur wer sich selbst disziplinierte und lernte, seine Selbstführung an die sozialen Normen und Vorgaben anzunähern, aus der Sphäre der Devianz entlassen und galt fortan für das Leben gewappnet. Im Rahmen der Analyse zeigte sich, dass bei Männern* der Sexualapparat als möglicher Lokus von suizidbegünstigenden Störungen beinahe vollkommen ignoriert wurde. Übrig blieben damit jene somatischen, vermeintlich suizidbegünstigenden Veränderungen, die beiden heteronormalen Geschlechtern attribuiert wurden. Die Mediziner*innen dachten hierbei insbesondere an gehirnliche und nervliche Läsionen sowie an Konstitutionsanomalien. Die mit den Sektionen beauftragten Fachkräfte fanden ihr ‚Material‘ vor allem unter den Militärangehörigen, Armen und Verbrecher*innen. Sie identifizierten entzündliche Prozesse, Abnützungs- und Mangelerscheinungen sowie Konstitutionsmängel und setzten diese in Verbindung mit suizidalem Verhalten. Die eigentlich näherliegende Erklärung, wonach miserable Wohn- und Hygieneverhältnisse, Ernährungsmängel und soziale Missstände auch den Körper zeichneten, blieb seltsam unterbelichtet. Und somit erhielt auch der Umstand, dass schlechte Lebensbedingungen den Leib immens auszehrten und die Lebensqualität und -dauer erheblich minimierten, nicht die notwendige Aufmerksamkeit. Bemerkenswert war auch der Zugang zu
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Alkoholismus, dessen suizidbegünstigende Wirkung bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt war. Der phasenweise in der Arbeiter*innenschaft um sich greifende Alkoholabusus wurde keineswegs als ein pathologisches Verhalten eingestuft. Vielmehr galt er entweder als eine verständliche Reaktion auf die elenden Lebensbedingungen im Industriekapitalismus oder als moralischer Mangel. Damit blieb diesen Männern* zumindest das Stigma einer psychischen Problematik erspart. Bürgerliche Männer* galten aufgrund der von ihnen praktizierten Mäßigung als weitgehend immun gegenüber solchen Phänomenen, womit sich auch hier die interdependenten Wechselwirkungen von Geschlecht und sozialer Klasse zeigen. Im Kontext der bereits angesprochenen Sterbehilfe spielt die Intoxikation als präferiertes Mittel eine besondere Rolle. Die Vergiftung – früher durch Leuchtgas und Barbiturate und heute vor allem durch Medikamenten-Cocktails bewirkt – , gilt bis heute als weibliche und sanft-passive Suizidmethode. Diese Konnotation lohnt der näheren Betrachtung, denn tatsächlich kann niemand wissen, ob diese ihre Wirkung so friedvoll und ruhig entfaltet. Gleichzeitig bedroht diese Aufladung das moderne Subjekt fundamental, denn was, wenn es tatsächlich ‚genussvoll‘ wäre, die Kontrolle aufzugeben, kein souveränes Subjekt mehr sein zu ‚müssen‘ und zu disfigurieren? Diese doppelte Konnotation vermag zu erklären, warum diese Suizidmethode über ihren angeblichen weiblichen Charakter so vehement abgewertet wurde und damit letztendlich in ihrer ‚Attraktivität‘ entschärft werden sollte. Das Suizidhandeln von Frauen* wurde neben der Methodik auch über die unterstellte Motivation abgewertet. Aufgrund ihrer affektiven Qualitäten schienen sie insbesondere einen Beziehungsverlust nicht verkraften zu können. Darüber hinaus wurden ihre Todeswünsche sowie jene von nicht-heteronormalen Subjekten beständig mit einem Identitätsverlust verknüpft. Für heterosexuelle Frauen* wurde die durch eine Vergewaltigung, eine Affäre oder eine außereheliche Schwangerschaft verlorengegangene sexuelle Integrität privilegiert. Außerhalb des heteronormativen Spektrums wurden die vermeintlich gegengeschlechtlichen inneren Anteile und das Ausleben eines ‚transgressiven‘ sexuellen Begehrens als suizidbegünstigend eingesetzt. Diese Koppelung ließ die Fehlkonstruktion bzw. Erosion des imaginierten inneren, stabilen Geschlechtskerns umso gefährlicher erscheinen. Daher galten sämtliche Interventionen, welche das Individuum zu seinem ‚normalen‘ oder vormaligen Selbst (zurück) führten, als dringend angeraten. Die Alternative einer neuen oder nicht-heteronormativen Subjektivität wurde hingegen kaum als attraktives Ziel formuliert. Und die noch viel radikalere Option, dass das Leben auch jenseits eines festen Identitätskerns leb- und gestaltbar sein könnte, war unsagbar. Suizidales Verhalten von marginalisierten Personen sowie Sexualitäten mit disputiertem Subjektstatus verstörte aber auch noch aus anderen Gründen. Mit ihrem suizidalen
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Verhalten zeigten sie nämlich überdeutlich an, dass sie trotz ihrer angezweifelten Handlungsfähigkeit über diese sehr wohl verfügten. Als besonders bedrohlich erschien, dass sie ihr Agens nur zu einem Zweck reklamierten, und zwar, um es aufzugeben. Diese Geste ließ die Frage nach Subjektentwürfen jenseits eines heteronormativen, erhabenen und unmittelbaren Zugriffs auf sich selbst und seine Umwelt umso virulenter werden. Um dieser Problematik zu entgehen und sie im wahrsten Sinne des Wortes zu bewältigen, schien es dringend geboten, den selbstgegebenen Tod zu domestizieren und ihn so weit als möglich zu verhindern. Als ähnlich bedeutsam stellte sich das neuerwachte Interesse der aufgeklärten Staaten an ihren Bevölkerungen heraus. Um das Leben ideal bewirtschaften zu können, konnten sie es nicht tolerieren, dass manche sich dem Verwertungskreislauf entzogen. Die gouvernementalen Regierungen beunruhigte aber nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Problematik, spekulierten doch die Wissenschaften, dass die als superior klassifizierten heteronormativen Subjekte besonders vulnerabel waren. Solcherart befürchteten sie, dass sich die heterosexuellen männlichen Leistungsträger beständig selbst dezimierten, hingegen Taugenichtse, psychopathisch Veranlagte und sexuell Deviante allzu sehr am Leben hingen.Vor diesem Hintergrund ist auch die Debatte um die sogenannten Schülerselbstmorde zu verstehen, kratzten doch die prospektiven Heroen mit ihrer suizidalen Geste am Status des sich selbst und die Umgebung kontrollierenden Patriarchen. Diese und verwandte Wissensbestände produzierten eine klare Hierarchie, wer für die Gemeinschaft relevant war und wer nicht. Dahingehend erschien suizidales Verhalten von alten, kranken und queeren Personen tolerierbar, nicht aber von heteronormalen Sexualitäten im reproduktionsfähigen Alter. Während die Suizidprävention in der Zwischenkriegszeit vulnerable Männer* – darunter auch homosexuelle – noch gut erreichte, tut sich die rezente Krisenintervention schwer damit. Das hängt damit zusammen, dass sich die Bedeutung suizidalen Verhaltens wandelte. Während es in der Zwischenkriegszeit noch als Ausdruck materieller und sozialer Deprivation galt, so wird es heute vor allem mit psychischen Störungen assoziiert. Aufgrund dieser Umwertung erreicht die heutige Krisenintervention externalisierende und insbesondere internalisierende toxische Männlichkeiten nur schlecht. Für sie ist dieses Identitätsangebot schlichtweg nicht attraktiv, da es das ganze Ich mit Dependenz und Verlorensein zu durchtränken droht. Paternalistische Reste in der Krisenintervention dürften das verstärken, verhindert doch der partiell disputierte Subjektstatus, an das Verantwortungsbewusstsein der suizidalen Person zu appellieren. Sie kann nicht mehr bzw. noch nicht souverän Ja zum Leben sagen. Tatsächlich wird erst dann das Individuum motiviert, wieder vernünftig und (selbst‐)kontrolliert zu werden, wenn die Suizidalität gebannt erscheint. Dahin-
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gehend kann es sich auch erst hier über die Technologien des Selbst (er)finden und das so das Ich remodellieren. Die wohl radikalste Interpretation, den eigenen Tod – und nichts Anderes – begehrt und auch konsequent in eine dementsprechende Tat übersetzt zu haben, wurde lange für männliche, weiße, autochthone und heterosexuelle Subjekte reserviert. Demgegenüber erschien das suizidale Handeln von nachgeordneten und marginalisierten Subjekten immer schon fremd, seltsam und auch zufällig. Für Frauen* galt, dass sie weniger den Tod um seiner selbst willen wünschten, sondern vielmehr einen Beziehungsdialog anstoßen wollten. Damit geriet auch die Kehrseite eines solchen Angewiesenseins in den Fokus. Konnte es sein, dass abhängige Personen suizidales Verhalten einfach nur vortäuschten, um sich so die notwendige Zuwendung und Absicherung zu erhalten? Auf jeden Fall bewirkten diese Spekulationen, dass ihr suizidales Begehren als weniger dringlich und ernst wahrgenommen wurde. Gleichzeitig konnte diese Annahme dem Todeswunsch weder seinen Schrecken noch seine Rätselhaftigkeit nehmen, galt doch insbesondere der familiäre Lebensbereich als geschützt und sicher. Damit drängte sich die Frage auf, warum selbst die vermeintlich am wenigsten exponierten Mitglieder der Gesellschaft suizidales Verhalten erwogen. Hier wäre es naheliegend gewesen, die heteronormale und -sexistische Geschlechterordnung zu befragen, stattdessen wählten die bürgerlichen Wissenschaften und Kirchenmänner* einen anderen Ausweg. Sie behaupteten, dass jene für suizidale Impulse empfänglich wurden, welche gegen die heteronormative Geschlechtermatrix verstießen. Gleichzeitig wurden die so Ausgestoßenen verdächtigt, noch etwas Schlimmeres als ihre eigene Vulnerabilität kreiert zu haben. Ihnen wurde unterstellt, dass sie mit ihrem Verhalten die Gesellschaft angesteckt und so das allgemeine Suizidrisiko erhöht hatten. Nicht nur ihre emanzipativen Bestrebungen galten als schädlich, sondern auch ihre vermeintliche Neigung zu Geisteskrankheiten, würden sie doch dem populären Vererbungsparadigma folgend, ihre pathologischen Neigungen weitergeben. Mit diesem diskursiven Kniff konnte die Schuld für die empfundene Krise an alle nicht-heteronormativen Lebens- und Sexualformen ausgelagert werden. Hegemoniale heterosexuelle Männlichkeit konnte damit entlastet und das Legimitationsproblem des Patriarchats verdeckt werden. Unübersehbar waren es die bürgerlichen Männer* gewesen, welche die Industrialisierung, die kapitalistische Wirtschaftsordnung sowie die Individualisierung des Menschen massiv befeuert hatten. Sie als Initiatoren dieser als suizidbegünstigend markierten Umwertungen offensiv zu benennen, hätte zwei unvermeidliche Feststellungen provoziert. Sie wären als Verursacher des suizidalen Chaos identifiziert und ihre Geeignetheit als gesellschaftliche Elite erschüttert worden. Vor diesem Hintergrund wurden die soeben angesprochenen Entwicklungen zwar von der bürgerlichen Presse und in den Wissenschaften
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kritisiert, aber es war vollkommen klar, dass es ein Zurück oder eine Abwendung nicht geben konnte. Diese Errungenschaft waren nämlich zum Kern des weißen, männlichen, autochthonen und heterosexuellen Bürgertums geworden. Daher war es letztendlich nur möglich, darüber zu diskutieren, wie adjustiert und moderat gezähmt werden konnte bzw. sollte. Das so eröffnete Möglichkeitsfeld sollte von der Sozialdemokratie besetzt werden, die darauf drängte, die Sozialversicherung einzuführen bzw. zu erweitern und das Arbeits- und Wirtschaftsleben zu regulieren. Gleichzeitig wurden die schlimmsten Exzesse einer deregulierten Wirtschaft, eines hedonistischen Lebensstils und einer ausgiebigen gesellschaftlichen Experimentierfreude jüdischen, homosexuellen und zugezogenen Männern* vorgeworfen. Wie bereits skizziert, galten Verstöße gegen die heteronormative Geschlechtermatrix als suizidbegünstigend, daher wurden autoerotische, homo-, bi-, asexuelle und promiske Sexualpräferenzen pathologisiert. Dies traf auch auf zu frühe Sexualkontakte, Impotenz, Geschlechtskrankheiten und den Verkauf sexueller Dienstleistungen zu. Solcherart war es nur konsequent, dass der Pubertät besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, sollte doch in dieser Phase eine sexuelle Identität gefunden und übernommen werden. Nur wer sich einer heterosexuellen, fortpflanzungsorientierten und ehelich gerahmten Lebensgemeinschaft unterwarf, der schien resilient. Genau an diesem Punkt setzte auch die von Erwin Ringel nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Kriseninterventionsstelle in Wien an. Die von ihm gemeinsam mit der Caritas lancierte Stelle verdient besondere Aufmerksamkeit, da sich in ihr mehrere Entwicklungen bündelten. Hervorzuheben sind die Unterschiede zu der in der Zwischenkriegszeit von der Ethischen Gemeinde Wien gegründeten Lebensmüdenstelle. Diese war nicht nur überkonfessionell organisiert, sondern hat noch sozialfürsorgerische, psychologische und medizinische Aspekte gleichberechtigt nebeneinandergestellt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg setzte sich das psychiatrische Paradigma durch, dem sich nun die explizit weiblich adressierte soziale Fürsorge und die wieder aufgegriffene seelsorgerische unterzuordnen hatten. Selbst die Psychologie wurde nur als flankierende Wissenschaft angerufen, die für Diagnose und Testerstellung zuständig sein sollte. Die Suizidalität aufzulösen, das schien nur unter psychiatrischer Anleitung und Orchestrierung aller Hilfsmaßnahmen möglich zu sein. Die von der Psychiatrie reklamierte Führungsrolle resultierte auch daraus, dass sie das sogenannte präsuizidale Syndrom erkannt und damit endlich ein diagnosefähiges Symptomkonglomerat anbieten konnte. Dieses beschrieb suizidale Menschen als unter einer stark verengten, irrationalen Perspektive leidend und ihren suizidalen Phantasien hilflos ausgeliefert. Solcherart schien es ausgeschlossen, dass sie eine rationale, wohlüberlegte Entscheidung – und noch dazu eine so folgenreiche, die den eigenen Tod begehrte – treffen
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konnten. Die skizzierte Reorientierung milderte zwar den Vorwurf eines moralischen Versagens, pathologisierte dafür aber den Todeswunsch. Damit einhergehend geriet auch die soziale, kulturelle, politische und historische Dimension suizidalen Handelns in den Hintergrund. Zwangsläufig blieben so jene Subjektpositionen unterbelichtet, die von der Gesellschaft sanktioniert und mit Ausschlüssen belegt worden waren. Und damit auch die so wichtige Frage, ob die Produktion von devianten Subjekten dazu führte, dass sich diese dem Weiterexistieren verweigerten. Die Abwendung von der soziostrukturellen Dimension resultierte daraus, dass sich die zentralen Stakeholder nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgezogen hatten. Damit sind vor allem die Sozialdemokrat*innen und die ihnen nahestehenden Presseorgane, Gewerkschaften und Vereine angesprochen, die nach dem Holocaust betont versöhnlich auftraten und den Ausgleich mit den bürgerlichen, nationalen und katholischen Stimmen suchten. Das gleichzeitig hinzukommende Wirtschaftswunder und der unterstellte Wegfall des Motivs der wirtschaftlichen Not taten ihr Übriges. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch das Florieren von moral- und wertekonservativen Haltungen. Dieses kalmierende Auftreten war umso erstaunlicher, da die sozialdemokratische Bewegung zahlreiche Opfer im Widerstand gegen den NS-Staat beklagen musste, wovon sich nicht wenige in eine suizidale Handlung geflüchtet hatten. Das weitgehende jüdische Schweigen spiegelte die enorme Dezimierung ihrer Gemeinde und die weiter existierenden Anfeindungen wider. Darüber hinaus spielte die Versöhnungspolitik von zentralen jüdischen Figuren wie Viktor Frankl eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit den NS-Lagern hält sich bis heute die These, dass Suizide dort selten vorkamen. Diese Behauptung kann aus zwei Gründen persistieren: Erstens ist die Quellengrundlage schwierig und zweitens ist die Selbsttötung als ein männliches, zielgerichtetes, zeitlich klar begrenztes und den Leib deutlich zeichnendes Verhalten konnotiert. Infolgedessen gerieten diffuse und mehrdeutige Praktiken der Selbstaufgabe und -verzehrung aus dem Blick und disqualifizierten sich. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass das Ignorieren eigener Bedürfnisse und die Annahme von Leidenserfahrungen nicht zwangsläufig irritierte. Das tat es insbesondere dann nicht, wenn es sich dabei um nachgeordnete oder marginalisierte Subjekte handelte. Solche, dem Leid verschriebene Identitätskonstruktionen gewannen ihre Attraktivität dadurch, dass über sie soziales Kapital lukriert werden konnte. Tatsächlich konnte so der eigene Tod zu einem akzeptablen Preis für die Formung eines Ichs werden. Um das zuvor skizzierte Opferpotential wusste auch das postfaschistische Österreich. Solcherart wurde die notleidende Bevölkerung zum unschuldigen Opfer der Nazis, des Krieges und der Besatzungsarmeen erklärt. Sie schien weder während des NS-Regimes ein Agens gehabt zu haben, noch später eine andere Wahl als massenhaft suizidales
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Verhalten. Eine gänzlich andere Interpretation forderten die führenden NS-Männer* für ihren Suizid ein, denn sie wollten Helden wie Cato sein, der die Unterwerfung vermied und seine Ehre bewahrte. Für Verbrechensvorwürfe oder der Flucht vor der Justiz, dafür gab es in ihrer Weltsicht keinen Anlass. In der NS-Gesellschaft hatte es nur Platz für die „rassisch“ Genügenden, Gesunden und Leistungsfähigen gegeben, weshalb jene, die diese Attribute nicht auf sich vereinen hatten können, dem Tod ausgesetzt worden waren. Das Wissen um diese verbrecherische Episode charakterisierte den österreichischen Diskurs zur Sterbehilfe – neben seiner starken katholischen Prägung – für die nächsten 75 Jahre. Tatsächlich war die „Mitwirkung am Selbstmord“ schon während des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes in das Strafgesetzbuch aufgenommen und mit 5 Jahren Haft bedroht worden. Der diesbezüglich relevante Paragraph 78 war sehr weitreichend formuliert und verbot daher selbst geringe Hilfestellung durch Dritte. Über rezente Beschwerden von Sterbewilligen wurde diese Regelung vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof bekämpft, der sie im Dezember 2020 als verfassungswidrig erkannte. Unberührt blieb davon die „Tötung auf Verlangen“, gemeinhin als aktive Sterbehilfe bekannt. Im Spruch des Verfassungsgerichtshofes findet sich folgende Begründung für die Aufhebung: „Zur freien Selbstbestimmung gehört zunächst die Entscheidung des Einzelnen, wie er sein Leben gestaltet und führt. Ebenso gehört dazu aber auch die Entscheidung des Einzelnen, ob und aus welchen Gründen er sein Leben in Würde beenden will. All dies hängt von den Überzeugungen und Vorstellungen jedes Einzelnen ab und liegt in seiner Autonomie.“¹⁶⁰⁸
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Anhang Abbildungen Abb. 1: Fall 1, S., mazerierter Schädel, Messer, Beil Aus: Pfeiffer, Hermann, Über den Selbstmord. Eine pathologisch-anatomische und gerichtlich-medizinische Studie (Aus dem Institute für gerichtliche Medizin der k. k. Karl Franzens-Universität zu Graz, Jena 1912) Tafel I (s. p.). Abb. 2: Fall 2, R. F., Hand in Drahtschlinge Aus: Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel II (s. p.). Abb. 3: Fall 3, P. M., Strangulation und Schnittwunden Aus: Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel III (s. p.). Abb. 4: Fall 3, R., versuchte Erdrosselung und Schnittwunden (Totale) Aus: Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel IV (s. p.). Abb. 5: Fall 3, R., versuchte Erdrosselung und Schnittwunden (Details) Aus: Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel V (s. p.). Abb. 6: Fall 4, F. L., Ertrinkungstod Aus: Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel VI (s. p.). Abb. 7: Fall 5, J. F., Stichverletzung Aus: Pfeiffer, Über den Selbstmord, Tafel VII (s. p.). Abb. 8: Ohne Titel (Tod am Starkstromzaun), Zeichnung v. F. Mynni Aus: F. Mynni, Ohne Titel, Die Frau, 1. Jg., Nr. 1, 3. 11. 1945, 4.
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Register Ableistisch 81, 90, 97, 102 Abschiedsbrief 24 f., 58, 84, 94, 109, 113, 131, 133, 151, 177, 180, 218, 220, 332 f., 335 Abtreibung > Schwangerschaft 200 f., 231, 258 Améry, Jean 45, 293, 299, 305, 346 Antisemitismus 60 f., 67, 155, 329 Aquin, Thomas 35 f. Asexuell 360 Aufklärung 6, 11, 26, 43, 45, 48 f., 63, 66, 351 Augustinus, Hippo 31 f., 34 f. Biopolitik 20, 85, 96, 110, 137, 195, 198 Bisexuell 13, 56, 93 f., 122, 137, 163, 185 Briefwechsel 250, 255, 339 Brière de Boismont, Alexandre 44 Bühler, Charlotte 211 f., 214 f., 231, 233 – 239, 241, 246 Bürgertum 48, 81, 98, 110, 127 f., 145, 185, 231 f., 360 Butler, Judith 17, 27, 33, 44, 110 f., 250 Canetto, Silvia Sara 2, 45 Cato 30, 32, 34, 45, 295, 344, 362 Degeneration 80, 82 f., 92, 137, 226, 251, 275 f., 289 Depression 3, 23, 46, 48, 134, 243, 280, 307, 309, 324, 327, 340 f. Durkheim, Emile 21, 50, 55, 74, 77, 351 Esquirol, Jean-Etienne Dominique 44 Eugenik 60, 85, 107 Evangelische Kirchen 50, 58, 60 f. Foucault, Michel 12, 20 f., 26, 51 – 53, 59, 105 f., 108, 136 f., 196 – 198, 219, 222, 233, 243, 320, 347, 355 Frankl, Viktor 214, 244, 252, 305, 317 – 320, 346, 361
https://doi.org/10.1515/9783110664256-010
Frauenbewegung 87, 182, 201 – Emanzipation 14, 93, 141, 181, 184, 227, 295 – Suffragetten 51, 88, 136, 181, 352 Freud, Sigmund 27, 44, 84, 142, 149 f., 182, 225, 227 – 229, 236, 246, 259, 305, 325, 333 Frigidität 83 f., 215 Geisteskrankheit 44, 107, 123, 193, 207 – 209, 219, 313, 324, 359 – geisteskrank 45, 81, 92, 135, 203, 311, 313 f., 317, 325 Geschlechterordnung > Heteronormal, heterosexistisch, heteronormativ 79, 93, 98, 132, 135, 137, 246, 251, 291, 307, 342, 353, 359 Geschlechtskrankheit 82, 88, 97, 161, 240, 245, 276, 313, 324, 360 Geschlechtsorgane 136 Gouvernementalität 20, 52, 85, 198, 233, 243 Heteronormal, heterosexistisch, heteronormativ 1, 5, 10, 12 f., 15 – 18, 41, 56, 59 f., 64, 66, 68, 75, 79 – 83, 87, 90, 92, 94, 97 – 99, 107, 110, 121 – 125, 130 – 132, 135 – 138, 140 f., 143, 146 f., 152, 161, 163, 170, 173 – 175, 179, 182, 184 – 188, 190, 193, 196, 207 f., 210, 216, 222, 226, 228, 234, 236, 244 – 246, 248, 250 f., 269, 273, 276 – 278, 280 f., 289, 291 – 293, 302, 307, 312, 314, 321, 323 – 325, 332, 336, 338, 341 – 344, 346 f., 349 f., 353, 356 – 360 Heterosexualität 89, 150, 173, 280 Hirschfeld, Magnus 1, 56, 83 f., 93 – 95, 142 f., 156, 159, 162, 166, 190, 229, 261 Homosexualität 1, 56, 64, 83 f., 93 – 95, 146, 190, 201, 210, 216, 227 f., 232, 245, 247, 256 – 258, 280, 304, 322, 337 – 340, 346, 349 f., 353
Register
– homosexuell 10, 41, 56, 60, 63, 66, 83, 92 – 95, 98, 122, 135, 138, 147, 152, 161 – 163, 168, 179 f., 190, 210, 216, 220 – 222, 227 f., 230, 240, 243, 246 – 248, 250 f., 253, 256 – 258, 263 f., 275, 279 f., 284, 289, 322, 337 – 339, 353, 358, 360 Hume, David 43, 78 Hysterie 81, 84, 142, 146 f., 169, 174, 246, 279 – hysterisch 66, 144, 241, 325, 333 Interdependenz 17, 339 – Interdependente Kategorien 17 Intersektionalität > Interdependenz Intersexualität 83, 350 Islam 62, 160
17
Japan > Kamikaze 286, 290 Jaworski, Katrina 2, 11 f., 27, 33, 100 f., 104 f., 197, 325 Judentum 32, 64, 67, 273 – jüdisch 25, 31 f., 58, 61 f., 64, 89, 98, 103, 135, 146 f., 155, 160, 203, 213, 224 – 228, 232 f., 247, 250 – 256, 258 – 262, 275 – 279, 281, 289 f., 296, 315 – 319, 345, 347, 360 f. Kamikaze 286 f., 290 Kane, Sarah 243 Katholische Kirche 66 – 69, 181, 272, 292, 314 f. Kollektivsymbol 1, 21 f., 24, 79, 86, 100, 132, 168, 238, 271, 273 Konzentrations- und Vernichtungslager 250, 258 – KZ 198, 258, 259, 297, 299, 301, 304, 305, 346 – NS-Lager 303, 344, 345, 361 Krankenhaus, psychiatrisches 73, 90, 199, 206, 252, 318 Kriminalisierung 304 – Entkriminalisierung 338, 346 Lebensgeschichtliche Erinnerung 23, 25, 153 Link, Jürgen 21 f., 54 f., 111, 113, 116, 118 f., 214, 223, 302 Lucretia 27, 30, 32 – 34, 36, 183
411
MacDonald, Michael and Murphy, Terence, R. 4, 38, 54, 71, 121 Macho, Thomas 7, 51, 89, 105, 249 Masaryk, Tomas Garrigue 43, 55, 69 f., 77 – 81, 204 Masturbation > Onanie 41, 92, 226, 230 Medizinisierung 4, 33, 44, 63, 96, 136, 185, 292, 343, 355 Melancholie 11, 47 f., 63, 121, 141 f., 229 Menopause 102, 187, 230, 341 Menstruation 81 f., 102, 116, 170, 187, 230, 242 f., 356 Metapher, konzeptuelle 19 – 22, 24, 80, 100, 188, 191, 197, 269, 334 Moral 35, 46 f., 60, 78, 88, 142 f., 161, 165, 181, 203, 222, 231, 328, 336, 361 Morselli, Heinrich 71, 275 Neurasthenie 144 – 146, 148 – nervös 81, 130, 135, 138, 144 – 146, 163, 165, 196, 238, 244, 273 f., 292 – neurasthenisch 82, 107, 168 Nietzsche, Friedrich 44 f., 268 Obduktion > Sektion 101, 103, 106, 111, 169, 177 Onanie 91, 93, 182, 190, 215, 226, 230, 236, 275 Papageno-Effekt 23 Parrhesia 198 f. Pathologie 56, 141, 313, 347 – (Pathologische) Anatomie 56, 58, 102, 103, 123, 213 – Gerichtsmedizin 57, 75 f., 101, 105, 169, 178, 186, 247 – Klinische Pathologie 56, 103 – Psychopathologie 146, 192, 224 f., 237 – 239 Philosophie 28, 44, 48, 58, 78, 145, 184, 235 Pönalisierung > Kriminalisierung 26, 35, 37, 39, 43, 95, 200, 340 Protestantismus > Evangelische Kirchen 58 Psychoanalyse 142, 145, 150, 192, 214, 221, 226, 228 f., 231, 237, 246, 350
412
Register
Psychologie 1 f., 9, 27, 77 f., 146, 151, 184, 192, 217, 224 f., 228, 235, 237 – 239, 320 f., 331, 360 Rassismus 87, 309 – rassiert, „rassisch“, rassistisch, rasse(n) biologisch 80, 82, 84, 89, 101, 137, 269, 272, 316 Religiöse Praxis > Katholische Kirche, Evangelische Kirche, Judentum, Islam 63, 142, 159, 160, 163 Ringel, Erwin 9, 158, 303 f., 319 – 323, 325 f., 328, 346, 360 Säkularisierung 62 f., 295 Schwangerschaft 102, 122, 124, 170, 183, 187, 201 f., 209, 230, 293, 313, 321 f., 324, 357 Sektion 51, 56, 59, 82, 101 – 103, 105 f., 115, 134, 176, 178, 355 f. Selbstzeugnisse > Abschiedsbrief, Briefwechsel, Lebensgeschichtliche Erinnerung, Tagebuch 24, 25, 38, 58, 65, 150, 231, 232, 246 Sexarbeit 53, 64, 83, 88, 182, 201, 256, 258 Sodomie 41, 63, 95, 179 Sozialdemokratie 57, 103, 120, 136, 189, 192 f., 195, 199, 203, 210, 215, 293, 352, 360 Soziologie 7, 47, 51, 53, 55, 58 f., 65, 77, 134, 184, 269 Strafrecht > Kriminalisierung 26, 39, 41, 43, 92, 93, 98, 190, 200, 202, 210, 231, 256, 257, 289, 296, 321, 338 Subjektivierung > Subjektivität 101, 190, 247, 343, 347 Subjektivität 21, 25, 44, 81, 222, 343, 357 Suizid 1 – 14, 18, 23, 26 – 32, 34 – 45, 47, 49, 51 – 53, 56, 60 – 62, 68 – 77, 79, 83, 94, 96, 101 f., 104 – 106, 108 – 111, 113, 116, 119, 121, 123, 126, 128, 130, 132,
134 f., 139, 141, 148, 151 f., 154, 158, 169 – 171, 173 f., 178 f., 184, 186, 188 f., 192, 194, 197 f., 202, 205, 207, 216, 218 f., 224 f., 235, 241, 243, 249, 254 – 256, 258 – 264, 267, 277, 284 f., 288, 290, 292, 294 – 297, 299 f., 302, 305, 309, 311 – 317, 319, 328 – 330, 333, 341, 344 – 346, 348, 351, 354 f., 361 f. Suizidologie 8 – 10, 15, 25, 33, 54, 77, 296, 328 – Critical oder Post Suicidology 12 Suizidprävention 2, 9 – 11, 158, 192, 293, 319 f., 326, 346 f., 358 Suizidstatistik 3 – 5, 18, 24, 54 f., 61, 76, 120, 173, 186, 192 f., 207, 251, 294, 331, 338, 346, 354 – Fin de siècle 5, 25, 56 f., 60 f., 86, 92, 107, 123, 135, 138, 144, 351 f., 355 – Genealogie 26 f. – Motivstatistik 210, 308 – Nachkriegszeit 292, 304, 307, 313, 324, 336, 346 – Erster Weltkrieg 140 f. – Zweiter Weltkrieg 249 f. – Zwischenkriegszeit 5, 85, 171, 188, 206, 213, 217 f., 229, 231, 238, 244, 271 f., 290, 358, 360 Tagebuch 149, 154 – 156, 158, 164, 171, 232 – 238, 240 – 242, 254, 256 Technologien des Selbst 99, 137, 190, 211, 239, 246, 273, 347, 359 Terminologie 318 Transgeschlechtlichkeit 64, 83, 350 – transgeschlechtlich 30, 93, 122, 137, 161, 185, 190, 257 f., 350 Veridiktion
197 – 199, 245
Werther 23, 46 f. – Werther- und Papageno-Effekt 23 World Health Organization (WHO) 348