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German Pages [344] Year 2021
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 161
Kathrin Gies
Strebe nach Schalom! Eine biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament
Begründet von Günther Bornkamm und Gerhard von Rad Herausgegeben von David S. du Toit, Martin Leuenberger, Johannes Schnocks und Michael Tilly 161. Band
Kathrin Gies
Strebe nach Schalom! Eine biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Felicitas Sedlmair, Göttingen Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9694 ISBN 978-3-7887-3496-1
Vorwort
Die vorliegende Arbeit stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die im Wintersemester 2019/20 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Viele Menschen haben in den letzten Jahren die Entstehung dieser Arbeit begleitet. An erster Stelle ist Prof. Dr. Johannes Schnocks zu nennen, dem ich viele wertvolle Anregungen grundsätzlicher Art und weiterführende Hinweise verdanke. Er hat meine Suche danach, wie das ethische Potential biblischer Texte, insbesondere der Psalmen, konzeptionell einzuholen ist, von Anfang an unterstützt und schließlich das Erstgutachten erstellt. Das Münsteraner Oberseminar, das von ihm und Prof. Dr. Marie-Theres Wacker geleitet wurde, war für mich ein Ort, mit anderen über hermeneutische Zugänge und inhaltliche Fragen ins Gespräch zu kommen. In diesem Sinne danke ich auch Prof. Dr. Marie-Theres Wacker, die besonders sensibel für bibelhermeneutische Fragen war. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Oberseminars möchte ich vor allem Dr. Christiane Wüste und Dr. Ludger Hiepel nennen, die mich während der Arbeit immer wieder bestärkt und inhaltlich sowie technisch unterstützt haben und denen ich mich freundschaftlich verbunden fühle. Für die Erstellung des Zweitgutachtens und weiterführende inhaltliche und methodische Anregungen danke ich Prof. Dr. Michael Konkel. Mein Dank gilt auch den Herausgebern der „Wissenschaftlichen Monographien zum Alten und Neuen Testament“ Prof. Dr. Martin Leuenberger und Prof. Dr. Johannes Schnocks für die Aufnahme in diese Reihe. Ich danke den Studierenden des Instituts für Katholische Theologie der Universität Duisburg-Essen, die in den Lehrveranstaltungen mit mir das Projekt einer biblisch-ethischen Lektüre reflektiert und diese an ausgewählten Texten erprobt haben. Insbesondere danke ich Lena Rehberg für ihre akribische Korrektur des Manuskripts. Auch die studentischen Hilfskräfte Dominik Scherer, Marie-Christin Bünzel, Nina Laszlo und Johanna Hackert haben je auf ihre Weise zum Entstehen der Arbeit beigetragen. Für kollegiale Unterstützung und die Initiative zu den fachübergreifenden Essener Mittelbaukolloquia, in deren Rahmen mein Projekt diskutiert wurde, danke ich Dr. Sebastian Eck. Von Herzen danke ich Daniel May, der stets daran geglaubt hat, dass ich diese Arbeit zu einem guten Ende bringen kann, und der mich in jeder Hinsicht unterstützt hat. Ihm und unseren Töchtern Hulda und Malka sei die Arbeit gewidmet. Wiesbaden, im April 2021
Kathrin Gies
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Exegetische Zugänge: Ethisch rein deskriptiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.1 Eckart Otto: Theologische Ethik des Alten Testaments (1994) 16 1.1.2 John Barton: Ethics in Ancient Israel (2014) . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.1.3 Rainer Kessler: Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.1.4 Ruben Zimmermann: Implizite – narrative – metaphorische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1.5 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Interdisziplinäre Bemühungen um eine biblische Ethik: Jenseits des Präskriptiven? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.2.1 Jahrestagung der AGAT (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.2.2 Der Sammelband Bibel und Moral (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2.3 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2. Ethische Bibellektüre: Methodisch-hermeneutische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.1 Die Welt des Textes – Möglichkeitsraum des ethischen Handelns 38 2.1.1 Die Hermeneutik des Textes bei Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1.2 Das ethische Potential biblischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2 Das Zeugnis – Konkretion im Wirklichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2.1 Die Zeugnismetapher bei Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2.2 Biblische Texte als Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.3 Programm einer ethischen Bibellektüre und Aufbau der Arbeit . . . . 52 2.4 Zur Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
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Inhalt
3. Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.1 Der Text – Psalm 34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.2 Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2.1 Schwerpunkte der Psalmen-/Psalterexegese . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.2.2 Forschungsüberblick zu Psalm 34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2.2.1. Psalm 34 als Akrostichon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67 3.2.2.2. Psalm 34 in strukturalistischer Analyse . . . . . . . . . . . .69 3.2.2.3. Psalm 34 im Kontext der Psalmengruppe 25–34 . . . .70 3.2.2.4. Kleinere Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .72 3.2.3 Folgerungen für eine biblisch-ethische Lektüre . . . . . . . . . . . . . 74 3.3 Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.4 Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.4.1 Biographische Situierung im Leben Davids (Vers 1) . . . . . . . . . 84 3.4.1.1. Vers 1: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms 84 3.4.1.2. Vers 1: Literarische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .85 3.4.1.3. Ertrag für die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .87 3.4.1.3.1 Die inhaltliche Ebene: Was ist gutes Handeln? . 88 3.4.1.3.2 Die hermeneutische Ebene: Die Funktion der biographischen Notiz für den Leser . . . . . . . . . . 89 3.4.1.3.3 Die Bedeutung von Lehrenden in ethischen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.4.1.3.4 Die ethische Relevanz für den Leser . . . . . . . . . . 90
3.4.2 Lobaufruf (Vers 2–4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.4.2.1. Vers 2–4: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms 91 3.4.2.2. Vers 2–4: Literarische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .95 Exkurs: Aussagen zu den „ ֲענָ וִ יםArmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 A Schwerpunkte der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . .98 B Traditionsgeschichtliche Einordnung der Armenaussagen .101 C Armenaussagen im Psalmenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .104 (a) Die Fürsorge des Königs für die Armen . . . . . . . . . . . . 104 (b) Die göttliche Zuwendung zu den Armen . . . . . . . . . . . 106 (c) Menschliche Verantwortlichkeit für die Armen . . . . . 108
D Fazit . 110 3.4.2.3. Ertrag für die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111 3.4.2.3.1 Keine ethische Frage ohne die Frage nach Gott .111 3.4.2.3.2 JHWH als Letztinstanz menschlichen Handelns 112
Inhalt
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3.4.2.3.3 Die ֲענָ וִ ים: Von der Solidarisierung zum Selbst anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.4.2.3.4 Die ethische Relevanz für den Leser . . . . . . . . . . 113
3.4.3 Rettung durch JHWH in unterschiedlichen Notsituationen (Vers 5–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.4.3.1. Vers 5–8: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms 114 3.4.3.2. Vers 5–8: Literarische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 3.4.3.2.1 Suche nach JHWH – Ausrichtung des betenden Ichs auf Gott (V. 5) . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.4.3.2.2 Menschliche Orientierung an JHWH (V. 6) . . . . 131 3.4.3.2.3 Rettung des Bedürftigen (V. 7) . . . . . . . . . . . . . . . 134 3.4.3.2.4 Der Bote JHWHs und die Umsetzung von Gerechtigkeit (V. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Exkurs: „ ירא יְ הוָ הGottesfurcht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 A Schwerpunkte der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . .141 B Untersuchung der Konzeptionen von JHWH-Furcht . . . . . .143 (a) Die deuteronomistische Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . 144 (b) Sprüchebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (c) Psalmenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
C Fazit . 155 3.4.3.3. Ertrag für die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 3.4.3.3.1 Ethisches Handeln im Kontext der Gottesbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3.4.3.3.2 Ethische Orientierung in der Gemeinschaft
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3.4.3.3.3 Ein umfassender Begriff von Rettung und Heil 158 3.4.3.3.4 Die Motivation ethischen Handelns . . . . . . . . . . 158 3.4.3.3.5 Die ethische Relevanz für den Leser . . . . . . . . . . 159
3.4.4 Aufforderung zu JHWH-Furcht und Unterweisung (Vers 9–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.4.4.1. Vers 9–15: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .160 3.4.4.2. Vers 9–15: Literarische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . .162 3.4.4.2.1 Wahrnehmen und Erkennen der Güte Gottes (V. 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3.4.4.2.2 Der Aufruf an die Heiligen zu JHWH-Furcht (V. 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.4.4.2.3 Das Löwenbild – kein Mangel für JHWHSuchende (V. 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3.4.4.2.4 Der Lehrer spricht – menschliche Unterweisung (V. 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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Inhalt
Exkurs: Zur Inszenierung als Lehr-Lern-Situation . . . . . . . . . .198 A Vorgehen und Hypothesen zur Rekonstruktionen eines Schulwesens in Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .198 B Einwände gegen die Rekonstruktion eines Schulwesens 200 C Zur Funktionalität der inszenierten Unterweisung . . . . . . . .202 3.4.4.2.5 Wer ist der Mensch? (V. 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3.4.4.2.6 Selbstverantwortung, das Böse zu meiden (V. 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.4.4.2.7 Das unbedingte Streben nach dem Guten und nach Šalom (V. 15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
3.4.4.3. Ertrag für die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246 3.4.4.3.1 Die Suche nach gelingendem Leben als anthropologisches Signum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 3.4.4.3.2 Die Vieldimensionalität von Gotteserfahrungen und Lebensfülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3.4.4.3.3 Menschliches Streben und Handeln in Freiheit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.4.4.3.4 Ethisches Lernen und Lehren in seiner gemeinschaftlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3.4.4.3.5 Die ethische Relevanz für den Leser . . . . . . . . . . 249
3.4.5 Zusammenhang von menschlichem Verhalten und Gottesnähe (Vers 16–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3.4.5.1. Vers 16–23: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .250 3.4.5.2. Vers 16–23: Literarische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . .253 3.4.5.2.1 JHWHs Körper (V. 16–17): Spiegel des ethischen Tuns des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 253 3.4.5.2.2 Die Folgen für die Übeltäter (V. 17) . . . . . . . . . . 260 3.4.5.2.3 Die Rettung der Bedrängten (V. 18–19) . . . . . . . 265 3.4.5.2.4 Das Leid des Gerechten (V. 20–21) . . . . . . . . . . . 269 3.4.5.2.5 Das Schicksal der Frevler (V. 22) . . . . . . . . . . . . . 277 3.4.5.2.6 Erlösung bei JHWH (V. 23) . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
3.4.5.3. Ertrag für die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .294 3.4.5.3.1 Ethisches Tun und Gottes-Verhältnis . . . . . . . . . 294 3.4.5.3.2 Konsequenzen aus dem Tun des Menschen . . . . 295 3.4.5.3.3 Das Schicksal des Frevlers und des Gerechten . 296 3.4.5.3.4 Erlösung als universales Angebot? . . . . . . . . . . . 297 3.4.5.3.5 Die ethische Relevanz für den Leser . . . . . . . . . . 298
3.5 Ps 34 im Gespräch mit Ps 25: Ethische Lektüre im Kontext der Psalterexegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
Inhalt
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4. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 4.1 Psalm 34 – ein Kompendium ethischer Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . 305 4.2 Psalm 34 als Zeugnis – ethische Optionen für den Leser . . . . . . . . . . . 311 4.3 Das Programm einer ethischen Bibellektüre – Rückblick . . . . . . . . . . 313
5. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Abkürzungen – Hilfsmittel, Wörterbücher, Textausgaben . . . . . . . . . . . . . 320 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
1. Einleitung „Strebe nach Šalom und jage ihm nach!“ (Ps 34,15)1
Menschen streben nach Lebensglück. Hierbei stellt sich die Frage, auf welchem Weg und mit welchem Handeln das Lebensglück zu erreichen ist. Das Psalmenbuch fragt nach einem gelingenden Leben in einer Dringlichkeit wie kaum ein anderes biblisches Buch. Die Psalmen stellen zur Diskussion, wie mit Leid und Schuld umzugehen ist und wie Krisen zu bewältigen sind. Immer wieder kommt die Überzeugung zur Sprache, dass am Guten festzuhalten ist, auch wenn die Brüchigkeit der Vorstellung vom Zusammenhang von Tun und Ergehen erlebt wird. Laut wird auch der Jubel über Erfahrungen von Rettung und Glück. Erst recht von seiner Eröffnung mit Ps 1 her gelesen ist der Psalter das Buch, das in der Orientierung an der Weisung Gottes zu einem ertragreichen Leben hinführen will. Damit erscheint es vielversprechend, die Psalmen zu ihrem Beitrag für eine biblische bzw. alttestamentliche Ethik zu befragen. Dies ist jedoch bislang kaum geschehen, da die alttestamentliche Exegese dafür vor allem explizit-normative Texte berücksichtigte. Grund dafür ist unter anderem, dass prinzipiell fraglich ist, was unter einer alttestamentlichen Ethik zu verstehen ist. Zwar wurde und wird einzelnen Vorschriften und Texten, so dem Dekalog, der Abgabe des Zehnt oder dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe sehr wohl eine ethische Bedeutung zugemessen. Unklar ist jedoch, wie deren Geltung zu begründen ist. Evident ist, dass das Alte Testament kein Verständnis von Ethik im Kant’schen Sinn als systematische Erörterung von Prinzipienfragen im Hinblick auf das rechte Handeln kennt. In der jüngeren Vergangenheit beschränkte sich deshalb die biblisch-ethische Exegese auf die Untersuchung der expliziten Normensysteme in den Überlieferungen des Bundesbuches, in weisheitlichen Texten, im Deuteronomium und im Heiligkeitsgesetz. In Bezug auf die Gegenwartsbedeutung alttestamentlicher Texte wurde betont, dass diese auch in ihren normativen Formulierungen nicht
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Für den Titel dieser Studie wurde die eingedeutschte Schreibweise „Schalom“ gewählt. Im Korpus der vorliegenden Arbeit wird für hebräische Begriffe eine Transkription gewählt.
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Einleitung
präskriptiv verstanden werden dürfen, weil die historische Distanz eine unmittelbare Applikation alttestamentlicher Normen verbiete. Eine alttestamentliche Ethik habe rein deskriptiv zu sein.2 Für die alttestamentlichen Texte gilt, dass sie – wie antike Texte überhaupt – zwar keine theoretische Problembehandlung bieten, aber die Gestaltung des Lebens und Lebenshaltungen thematisieren und Lebensfragen stellen. Die Frage nach der Lebensorientierung steht erstens inhaltlich immer im Zusammenhang mit der Frage nach Gott und den anderen Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung. Anthropologische und theologische Fragen überschneiden sich also mit ethischen. Zweitens wird nach der Ausrichtung des Handelns auch in narrativen und poetischen Texten wie den Psalmen gefragt, bzw. in diesen kommen ethische Vorstellungen und Konzepte zur Sprache. Die Texte entwerfen eine Ethik des guten Lebens und können als solche ethisch gelesen werden.3 Ziel dieser Arbeit ist, aus alttestamentlicher Perspektive ein Programm einer ethischen Lektüre biblischer Texte und speziell der Psalmen zu entwerfen und dieses in der konkreten Exegese eines Einzeltextes, in diesem Fall Psalm 34, zu überprüfen. Psalm 34 erweist sich – im Streben nach Šalom – als ein Kompendium ethischer Schlüsselbegriffe, die religionsgeschichtlich, semantisch und von ihren kanonischen Referenztexten her erschlossen werden können. So können ethische Grundfragen, die die biblischen Texte insgesamt diskursiv bearbeiten, deutlich werden. Um auszuloten, wie biblische Texte ethisch gelesen werden können und ob bzw. wie ihnen ethische Relevanz zukommen kann, werden exemplarisch vier verschiedene exegetische Zugänge bzw. Publikationen vorgestellt, die einen forschungsgeschichtlichen Trend erkennen lassen: Auch exegetische Arbeiten beanspruchen, mehr als nur deskriptive Aussagen im Hinblick auf eine biblische Ethik bieten zu können (1.1). Im Gespräch mit der Theologischen Ethik zeichnet sich als Konsens ab, dass die Bedeutung biblischer Texte auf einer anderen Ebene als der präskriptiven liegt, ohne deshalb weniger relevant zu sein (1.2). Wie das Verhältnis von Bibel und Ethik bestimmt wird und welche hermeneutischen Strategien in Fragen biblischer Ethik sich im gegenwärtigen Diskurs abzeichnen, wird jeweils in einer Zwischenbilanz festgehalten. Dabei werden zum einen Verfahren kritisiert, die als defizitär erscheinen, zum anderen aber vielversprechende Ansätze für eine ethische Bibellektüre gebündelt, die schließlich in den Entwurf einer Programmatik (Kapitel 2) einfließen. Der Aufbau der Arbeit wird von dieser her begründet werden (2.3). Dieses Modell einer ethischen Lektüre wird in der konkreten Exegese von Psalm 34 (Kapitel 3) erprobt werden. Dabei wird der Text als strukturiertes Ganzes in seinen Sinneinheiten erschlossen. Über eine semantische Analyse und die Ver-
2 Vgl. Otto 1999a, 1604. 3 Zur Unterscheidung von Ethik als Streben nach dem guten Leben und normativer Moral vgl. Haker 2000, 50–56.
Exegetische Zugänge: Ethisch rein deskriptiv?
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ortung des Textes im Psalmenbuch und in der hebräischen Bibel und eine religions- und kulturgeschichtliche Einordnung werden ethische Schlüsselbegriffe und Vorstellungen erarbeitet. Dabei wird jeweils nach deren Relevanz für den Leser bzw. Beter gefragt.4 Die Ergebnisse der Untersuchung werden abschließend auf der inhaltlichen und methodischen Ebene zusammengefasst (Kapitel 4). Kapitel 5 bietet ein Resümee.
1.1 Exegetische Zugänge: Ethisch rein deskriptiv? In Bezug auf das Unternehmen einer Ethik des Alten Testaments lassen sich im Bereich der alttestamentlichen Exegese – heuristisch – verschiedene methodische Zugänge unterscheiden: Der Zugang kann literatur- und religionsgeschichtlich sein, sozialgeschichtlich, kanonisch oder literarästhetisch.5 Diese Ansätze liegen jedoch selten in Reinform vor. Mit dem jeweiligen methodisch-hermeneutischen Ansatz verbunden sind auch voneinander differierende Ansprüche in Bezug auf die Art des Beitrags der Exegese zu ethischen Fragen. Im Folgenden seien vier Monographien bzw. Forschungsprojekte vorgestellt, die verschiedene Zugänge und einen unterschiedlichen Anspruch mit ihren Arbeiten zur Ethik der biblischen Texte verbinden. Sie stechen auch deshalb aus der Zahl weiterer Publikationen zu biblisch-ethischen Fragestellungen hervor, weil – zumindest im deutschsprachigen Bereich – Gesamtansichten seltener sind. Hierbei wird deutlich werden, dass der historische Ansatz von Eckart Otto den Referenzpunkt der ihm nachfolgenden Arbeiten bietet, die sich zum Teil auch kritisch von ihm absetzen. Die Arbeiten von Ruben Zimmermann entwickeln ihre Methodik und Hermeneutik an neutestamentlichen Texten. Sie sollen gleichwohl herangezogen werden, weil der von ihm verfolgte literarästhetische Ansatz in der alttestamentlichen Exegese wenig Berücksichtigung findet und seine Reflexionen durchaus von Interesse für die Frage einer Ethik des Alten Testaments sind. Es soll jeweils auch ein Blick darauf geworfen werden, ob das Psalmenbuch bei den Untersuchungen Berücksichtigung findet; es soll dabei jedoch weniger
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Im Hinblick auf die Psalmentexte sind zwei Größen zu unterscheiden: Das betende Ich als Größe des Textes und die Beterin bzw. der Beter als außertextliche Größe. Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden das generische Maskulinum gebraucht. Dies gilt auch für die Rede vom Autor und Leser bzw. Rezipient. Vgl. die Typologie bei Erbele-Küster 2013. Frevel 2015b, 17 unterscheidet ebenfalls vier Typen: Ethik im Alten Testament, Ethik des Alten Testaments, Ethik aus dem Alten Testament, Ethik mit dem Alten Testament. Der erste Typos umgreift dabei literatur-, religions- und sozialgeschichtliche Ansätze. Zum zweiten Typos zählt er grosso modo kanonische und literarisch-ästhetische Ansätze und ordnet ihm auch fundamentalistische Ethiken zu. Als Ethik aus dem Alten Testament bezeichnet er Zugriffe, die aus dem Alten Testament Grundsätze erarbeiten. Einer Ethik mit dem Alten Testament ordnet er z. B. systematische Tugendethiken oder die autonomen Moralen zu.
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Einleitung
um den inhaltlichen Ertrag der Arbeiten, sondern um ihren methodisch-hermeneutischen Ansatz gehen.
1.1.1 Eckart Otto: Theologische Ethik des Alten Testaments (1994) Eckart Otto bestimmt seine literatur- bzw. religionsgeschichtlich ausgerichtete Theologische Ethik des Alten Testaments6 in Abgrenzung zur Religionsgeschichte Israels und der Theologie des Alten Testaments. Dabei gelte, dass im Alten Testament die Beziehung von Gott und Israel stets eine ethische Dimension umfasse und durch handelnde Weltgestaltung vermittelt sei. Die Abgrenzung einer Ethik des Alten Testaments von einer Theologie des Alten Testaments erfordere die Beschränkung auf die expliziten Normensysteme des Alten Testaments und ihrer Geschichte. Im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung des Alten Testaments für die Gegenwart weist Eckart Otto darauf hin, dass die historische Distanz eine unmittelbare Applikation alttestamentlicher Normen auf die Gegenwart verbiete, zumal das alttestamentliche Normensystem durch das Neue Testament revidiert werde – so seine Einschätzung, die kritisch zu prüfen wäre. Daher habe jede Ethik des Alten Testaments deskriptiv, nicht präskriptiv zu sein. Zudem seien die Normensysteme des Alten Testaments nicht widerspruchsfrei und widersprächen in ihren partikularistischen Positionen, die auch zur Gewalt gegen andere Völker aufrufen, definitiv gegenwärtigen ethischen Grundsätzen. Es sei aber die Widersprüchlichkeit der Normensysteme, die wiederum nach inneralttestamentlichen Kriterien suchen lasse, die einzelne Handlungsanweisungen anfechtbar machen. Einen Maßstab findet Eckart Otto im Gottesgedanken, so dass die Aufgabe einer Ethik des Alten Testamentes darin bestehe, die Geschichte der Begründung der Handlungsanweisung im Gottesbegriff zu rekonstruieren. Die Relevanz der biblischen Texte für die Gegenwart sieht Eckart Otto darin, dass „der Nachvollzug des Reflexionsprozesses im antiken Israel im gegenwärtigen universalen Diskurs um die Lebensführung heutige Gestalt praktischer Vernunft mitzugestalten vermag. Dafür spricht, daß die Wurzeln der Rationalität moderner Gesellschaften in der rationalisierenden Pragmatik des israelitischen Gottes- und Weltverständnisses zu suchen sind.“7 Als Aufgabe seiner Ethik bestimmt Eckart Otto ein Dreifaches, nämlich „[1.] deskriptiv zu unserem Ver-
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Eine kritische Würdigung der Monographie bietet Barton 1999. Er bemängelt die Unzulänglichkeit des Ethosbegriffs bei Eckart Otto: Dieser konstatiert eine Entwicklung vom Recht zum Ethos. Das beginne dort, wo die Grenzen der Rechtsdurchsetzung erreicht sind. Diese seien die inneren Verpflichtungen, die auf dem Recht gründen, sich darin aber nicht erschöpfen. Statt diesen Gedanken fortzuführen, schreibe Eckart Otto eher eine Rechts- (und Weisheits-)geschichte. Der Ethosbegriff bleibe so unpräzise. John Barton fordert daher in Ergänzung zu einer „expliziten Ethik“, wie sie Eckart Otto betreibe, eine „implizite Ethik“ (Barton 1999, 431). Otto 1994, 11.
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stehen der Geschichte der alttestamentlichen Handlungsanweisungen an[zu]leiten, [2.] inneralttestamentliche Kriterien zu ihrer kritischen Differenzierung, die aus der Geschichte des Gottglaubens in Israel abgeleitet sind, an die Hand [zu] geben und [3.] die Perspektiven der kulturhistorischen Bedeutung des alttestamentlichen Ethos als Wurzelgrund des Geistes der Moderne [zu] eröffnen“.8 Das Projekt einer Ethik des Alten Testaments begründet er angesichts der synchronen und diachronen alttestamentlichen Vielfalt von Ethiken historisch: „Die Einheit der Ethik des Alten Testaments ist ihre Geschichte. Die Darstellung kann keine andere sein als die ihrer inneralttestamentlichen Rezeptionsgeschichte.“9 So bietet Eckart Otto eine Rekonstruktion der historischen Ausdifferenzierung des Ethos aus dem Recht, der sich wandelnden Begründungen und Legitimationen mit dem Willen Gottes und der literarischen Bewältigung der Diskrepanz von Ethos und lebensweltlicher Erfahrung. Berücksichtigung finden dabei vor allem Rechtsüberlieferungen im Bundesbuch und in weisheitlichen Texten und Rechtstexte des Deuteronomiums und des Heiligkeitsgesetzes, die auch in ihren altorientalischen kulturellen Hintergrund eingeordnet werden. Narrative sowie prophetische und poetische Texte finden in der Theologischen Ethik des Alten Testaments von Eckart Otto kaum Berücksichtigung.10 Nicht nur die Tatsache, dass der Monographie von Eckart Otto bis 2017 keine weitere im deutschsprachigen Raum folgte, machte sein Werk zum Referenzpunkt exegetisch-ethischer Fragestellungen. So ist es insbesondere die akribische Rekonstruktion der Prozesse, in denen sich das Ethos aus dem Recht ausdifferenziert, die zu würdigen ist. 8 Otto 1994, 12. 9 Otto 1994, 12. 10 Eine Ausnahme stellt die Untersuchung der Ps 8; 15 und 24 als Beispiel für die schöpfungstheologische Begründung des Ethos dar (vgl. Otto 1994, 91–99). In einer weiteren Publikation verfolgt Eckart Otto die Fragestellung weiter (vgl. Otto 2007). Aus seiner Perspektive bezeugen die Psalmen (wie auch der Pentateuch) die im Alten Orient singuläre „idealistic structure of Hebrew ethics“ (Otto 2007, 26), die wiederum in einer vom kulturellen Kontext differierenden Anthro pologie liegt, wie sie Ps 8 bezeuge. Ps 15 und 24 verdeutlichten wiederum die ethische Dimension der Tempeltheologie und damit die (schöpfungs-)theologische Legitimation der Ethik: Die Fähigkeit, צדקהzu realisieren, werde im göttlichen Segen vermittelt (vgl. Ps 24,5) und gründe in der Schöpfung (vgl. Ps 24,1–2). Das ethische Handeln des Menschen wiederum sei Teil der creatio continua und transferiere die meta-empirische Dimension von Ethik in eine empirisch erkennbare (vgl. Ps 15,5). Während die einzelnen Normen, die Ps 15 und 24 nennen, sich nicht von der altorientalischen Ethik unterscheiden, sei es die theologische Begründung, die als biblisches Alleinstellungsmerkmal gelten könne: „Nowhere in the ethics of the ancient Near East was it said, however, that the ethical rules were themselves the visible side of God in his empirical world, or that following these rules would mean taking part in God’s creation as a creatio continua.“ (Otto 2007, 33–34). Außerdem sei ein Novum der Religionsgeschichte, dass die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit demokratisiert werde und nicht vornehmliche Aufgabe des Königs sei: „For the first time in the cultural history of the ancient orient, ethical values were disengaged from loyality to the ruler.“ (Otto 2007, 35). Es deutet sich hier also an, dass bei der Frage nach der alttestamentlichen Ethik neben den Rechtstexten und expliziten Normsystemen vor allem bei grundlegenden Konzeptionen auch Psalmentexte heranzuziehen sind.
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Im Hinblick auf seine hermeneutischen Grundannahmen wurde jedoch auch Kritik an Eckart Otto laut. Auch wenn in exegetischer Hinsicht Konsens sein dürfte, dass das Projekt einer Ethik des Alten Testaments nicht präskriptiv sein kann, wird die gegenteilige Schlussfolgerung „Eine Ethik des AT hat deskriptiv zu sein.“11 in ihrem apodiktischen Anspruch nicht von allen mitgetragen. So plädiert Ludger Schwienhorst-Schönberger dafür, dass auch die Exegese über rein historisch-deskriptive Verfahrensweisen hinausgehen solle.12 Ilse Müllner weist darauf hin, dass auch jedes historische Interesse von gegenwärtigen Fragen beeinflusst ist und nicht allein auf die Rekonstruktion von Vergangenheit gerichtet ist, sondern Gegenwart und Zukunft gestalten will.13 Zudem ist anzumerken, dass auch die innerbiblischen Kriterien, die Eckart Otto sucht, durch eine kritisch-vernünftige Lektüre aufgefunden werden und keine historischen Kategorien sind. Jenseits der kulturgeschichtlichen Tradierung kennt Eckart Otto jedoch auch eine Bedeutung der alttestamentlichen Ethik für die Moderne, die nicht nur über die kulturgeschichtliche Kontinuität, sondern auch durch die Instanz des Gewissens vermittelt werde: „Kirchliche Verkündigung will also keinen direkten Einfluß auf das Recht. Sie wird gesellschaftlich wirksam, wenn sie die Gewissen derer schärft, die sie erreicht. […] Nur vermittelt über das Gewissen des je einzelnen Menschen, das zur Freiheit ethisch kompetenter Selbstbestimmung gerufen wird, wird im Wachhalten der Ursprungsbedingungen die zur Verfassung geronnene ethische Substanz unserer Gesellschaft wachgehalten.“14 Entgegen Eckart Ottos eigener Programmatik ist zu beobachten, dass er bisweilen die reine Beschreibung alttestamentlicher Sachverhalte überschreitet.
1.1.2 John Barton: Ethics in Ancient Israel (2014) Der sozial- bzw. kulturgeschichtlich ausgerichteten Monographie von John Barton Ethics in Ancient Israel15 gehen zahlreiche Publikationen von John Barton seit seiner Dissertation zur prophetischen Ethik des 8. Jh. v. Chr. von 1974 voraus. Neben der sozialgeschichtlichen Rekonstruktion der „moral norms of ancient Israelite society in various periods“16 ist ein zweites Hauptanliegen von John Barton, zu zeigen, dass auch im Alten Israel nicht nur ein Ethos, sondern eine ethi11 Otto 1999a, 1604. 12 Schwienhorst-Schönberger 2015, 89. Zu einer Würdigung Eckart Ottos siehe auch: Barton 1999. 13 Müllner 2015, 142–143. 14 Otto 1994, 116. Vgl. auch zu wirtschaftsethischen Fragen: „Die Verkündigung der biblischen Überlieferung schärft das Gewissen des je einzelnen, der auch Teilhabe am Wirtschaftsprozeß hat.“ (Otto 1996, 341). 15 Barton 2014. 16 Barton 2014, 1. Noch deutlicher führt er dieses Anliegen in früheren Publikationen aus: Die „contemporaneous existence of different social groups“ (Barton 2003, 18) sei bei ethischen Fra-
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sche Reflexion zu rekonstruieren sei: „my own belief is that the cultures of the eastern Mediterranean and Mesopotamia did think about ethics in more sophisticated ways than is commonly supposed“17. Dass es John Barton nicht um die theologische Konstruktion einer alttestamentlichen Ethik geht, sondern dass er das Alte Testament als „evidence for the thinking of ancient Israelites and Jews“18 betrachtet, spiegelt sich im Titel der Monographie Ethics in Ancient Israel wider. Er grenzt sich dabei von Arbeiten ab, die den canonical approach verfolgen, und reklamiert für sich einen streng histo rischen Ansatz. Dabei könne eine – zumindest annähernd – objektive Rekon struktion erfolgen: „I remain convinced that it is possible to study the past with out seeing only our own reflection“19. Dennoch und auch wenn er zugibt, dass das Alte Testament Vorstellungen biete, „that does not intersect with our own“20, hält er es für möglich, „that we can still ask whether this or that moral idea reflected in the Old Testament is ‚right‘ or not […]. [A]ncient Israelite ideas can be comprehensible to us more often than some suppose.“21 Neben diesem Postulat einer Gegenwartsbedeutung alttestamentlicher Konzeptionen findet sich bei John Barton keine weiterführende hermeneutische Reflexion außer dem Hinweis, dass auch eine deskriptive Beschreibung ethischer Sachverhalte der Heiligen Schrift nicht notwendigerweise mit diesen übereinstimmen müsse.22 Er betont weiter, dass es ihm nicht um eine gegenwärtige Applikation ethischer Überlegungen gehe, sieht aber auch eine Chance der Fremdheit und historischen Distanz der Texte: „Ideas in remote cultures can of course be illuminating today, sometimes because their very strangeness leads us to question our own assumptions.“23 Die fragwürdig gewordenen Datierungen einzelner Texte des Alten Testaments sind für John Barton Grund, seine Ausführungen, auch wenn sie historisch ausgerichtet sind, nicht chronologisch, sondern thematisch anzuordnen. Er
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gen zu berücksichtigen. Deshalb fordert er: „we must indicate to which social group and to which period it belongs.“ (Barton 2003, 22). Barton 2014, 2: „The present book could perhaps be entitled Before Moral Philosophy, since it argues […] that the ancient Israelites […] had ways of thinking that to some degree correspond to the place of theoretical ethics in the western philosophical tradition“ (Barton 2014, 2–3). Barton 2014, 4. Barton 2014, 12. Barton 2014, 5. Barton 2014, 5. „Using biblical texts as part of the evidence for ancient Israelite morality does not mean conniving with the texts when they describe with approval things that are morally objectionable. That would be too obvious to need saying in the study of most other cultures, but because the Old Testament is part of ‚Holy Scripture‘ there can be an assumption that anyone who writes about it is somehow obliged also to agree with it.“ (Barton 2014, 7). Leider reflektiert John Barton nicht weiter über den Grund divergierender ethischer Einschätzungen damals und heute bzw. darüber, warum für ihn Dinge eindeutig „morally objectionable“ sein können. Barton 2014, 11, vgl. Barton 2014, 276: „Application is not the point, except in this sense: that the history of ideas is always the history of ideas with which we can still engage.“
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betont in diesem Zusammenhang, dass dies nicht den Eindruck erwecken dürfe, es habe einheitlich ethische Vorstellungen gegeben. Vielmehr gelte, „that one of the most interesting features of Hebrew culture as it emerges from the literature we have is its argumentative character: on many moral issues the Old Testament presents opposing views.“24 Als Teil der Diversität alttestamentlicher Vorstellungen hält John Barton auch entgegen der landläufigen Vorstellungen von der alttestamentlich heteronomen Bestimmtheit des Menschen durch den göttlichen Willen fest, dass das Verhältnis von menschlich-ethischem Vermögen und seiner Beziehung zum Göttlichen nicht allein als die Abhängigkeit des Menschen vom göttlichen Gebot gedacht werde.25 Er bezieht sich hierbei auf das Euthypron-Dilemma (Sind moralische Vorstellungen gut, weil die Götter sie gebieten, oder gebieten die Götter sie, weil sie gut sind?) und will zeigen, dass auch das Alte Testament eine kritische Reflexion kenne.26 „And what is most striking […] is how far there is an appeal to reason and to the human mind (the ‚heart‘ in Hebrew idiom). Many different styles of ethical thinking can be found, including, certainly, a divine command ethic, and there is no unifying element. But rational […] thought is far more prevalent than most people think.“27 Anders als Eckart Otto lehnt John Barton jede Beschränkung auf Texte, die explizit ethische Anweisungen enthalten, ab. Er sieht ein „ethical potential of narrative and prophetic texts“28 und schätzt vor allem die Psalmen als wertvolle Quelle für ethische Vorstellungen ein und widmet ihnen auch einen Abschnitt im Kapitel The Sources29: Viele Psalmen „put forward suggestions about the nature of 24 Barton 2014, 11. An anderer Stelle greift er die These von John Rogerson auf, dass Parallelen zur Diskursethik von Jürgen Habermas bestünden (vgl. Barton 2014, 114; Rogerson 2004, 60–67). 25 Hier argumentiert John Barton, dass im Alten Israel ethische Anforderungen weniger als im göttlichen Willen gründend gedacht werden, sondern von der Vorstellung einer göttlichen Weltordnung her. Die Abhängigkeit vom göttlichen Willen würde dann in seinem Schöpfungshandeln offenbar, weniger in einzelnen Forderungen: „in Israel there was a belief in a moral order somehow built-in to the fabric of the world. In ancient context this was on the whole a theological belief “ (Barton 2014, 95; vgl. Barton 2014, 274). 26 Vgl. Barton 2014, 12: „There was indeed no moral philosophy in ancient Israel, but there were thinkers who were moving in that general direction“ (Barton 2014, 13). 27 Barton 2014, 274. 28 Barton 2014, 16. 29 Im Hinblick auf die bisherige Forschung hält John Barton fest, dass auch im Rahmen der gattungsgeschichtlichen Forschung bereits ein Augenmerk auf die Psalmen 15 und 24 als Toreinzugsliturgie bzw. als kleiner Katechismus geworfen wurde, und Ps 72 und 101 ethische Anforderungen für den König, der sich in besonderem Maße der Armen annehmen solle, enthalten. Über diese Psalmen hinaus bezieht sich John Barton auf die Tora-Psalmen Ps 19 und 119. „‚Law‘ here be comes a kind of instruction in living well in every aspect of life“ (Barton 2014, 37). Diese Form der Tora-Frömmigkeit verortet John Barton in nachexilischer Zeit. Weiter bezeugen die Psalmen das Interesse an einer persönlichen Gottesbeziehung und die Reflexion über das Wesen Gottes: „the psalms are an important source of information what was believed to be the character of God, and hence will be relevant to the question how far God can be called ‚ethical‘ himself “ (Barton
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good life, attitudes towards friends and enemies, and the goals of human conduct. […] The Psalms are also a reminder that ancient Israelites reflected on the moral character of God, and the purposes God was believed to have for humanity“30. Auch wenn John Barton keine weiterführenden hermeneutischen Überlegungen zur Gegenwartsbedeutung biblischer Texte in den Diskurs zur alttestamentlichen Ethik einbringt, bleibt zu würdigen, dass er den Blick auf die ethische Relevanz aller biblischen Texte richtet. Er zeigt damit zugleich auf, dass biblische Ethik sich durch ihre Vielgestaltigkeit und damit Diskursivität auszeichnet. Zudem hebt er hervor, dass sich im Alten Testament auch ethische Vorstellungen finden, die jenseits des Sprachspiels einer heteronomen Ethik anschlussfähig an rationale Diskurse sind.31
2014, 38). Diese Frage sieht John Barton vor allem in den Weisheitspsalmen Ps 37; 49; 73 behandelt. 30 Barton 2014, 16. 31 Das Unterfangen, das ethische Potential biblischer Texte zu erheben, wird durch die Tatsache erschwert, dass diesen in Bezug auf Begründungszusammenhänge allzu schnell die daraus folgende Fremdbestimmung des ethischen Subjekts unterstellt wird: „Neuzeitlich steht der Wille Gottes unter Heteronomieverdacht. […] Moralische Forderungen sind vernünftig begründbar und stehen mit der Fähigkeit des Menschen zur freien Selbstbestimmung in Einklang – oder sie gelten nicht.“ (Goertz 2014, 110). Dass es keinen Weg zurück hinter das Postulat der Vernunftautonomie gibt, ist selbstverständlich. Dennoch stellt sich die Frage, ob damit gesagt wird, dass biblische Texte generell von keiner Relevanz für ethische Fragestellungen sind. Dabei ist einerseits zu beachten, dass auch die Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie eine neuzeitliche ist und biblische Texte diese daher selbstverständlich nicht kennen: „Autonomie wird als Theonomie realisiert.“ (Assmann 2015, 395). Im Hintergrund steht die These Jan Assmanns von der „Theologisierung des Rechts“, deren Triebkraft allerdings die Wahrung von Autonomie unter den Bedingungen des babylonischen Exils und der persischen Fremdherrschaft war. Autonomie von staatlichen Autoritäten realisiert sich also in der Integration des Königsrechtes in das Gottesrecht. Das Konzept der Theonomie ist damit subversiv gegenüber staatlicher Fremdbestimmung. In Bezug auf die biblischen Texte müsste, wenn überhaupt, angemessener von Theonomie gesprochen werden. Dabei ist jedoch wiederum zu berücksichtigen, dass von den biblischen Texten gerade die Freiwilligkeit der Annahme des göttlichen Willens betont wird, dass es „um ein Angebot [geht], das in vollkommener Freiheit angenommen werden oder ausgeschlagen werden kann.“ (Assmann 2015, 283). Hiermit konvergiert die Einschätzung von Stephan Goertz: „Die Moraltheologie geht also auf Abstand zu der Vorstellung, mit Hilfe biblischer Texte ließen sich moralische Forderungen jenseits sittlicher Selbstgesetzgebung begründen. Aber sie versteht diese Autorität der Freiheit als genuines Anliegen des biblisch bezeugten Gottesglaubens.“ (Goertz 2015, 401). Andererseits ist dem Heteronomievorwurf auch entgegenzuhalten, dass diesem sowohl im Hinblick auf ein gegenwärtiges Offenbarungsverständnis als auch auf das Selbstverständnis des ethischen Subjektes widersprochen werden kann. Wenn Offenbarung nicht instruktionstheoretisch verstanden wird, sondern als kommunikatives Beziehungsgeschehen, können biblische Texte nicht als heteronom begründete Instruktionen gelesen werden. Und wenn Ethik immer ein sittliches Subjekt voraussetzt, das freiheitlich verantwortete Entscheidungen trifft, die unveräußerlich sind, dann muss es seine Lektüre verantworten: „Eine ethisch interessierte und hermeneutisch bewusste Lektüre biblischer Texte als Texte der Bibel […] birgt das Potential für eine Konzeption theologischer Ethik im Modell ethischer Kommunikation, in der sich das sittliche Subjekt überhaupt erst konstituiert.“ (Heimbach-Steins 2012, 29).
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1.1.3 Rainer Kessler: Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments (2017) Einen kanonisch-sozialgeschichtlichen Ansatz verfolgt Rainer Kessler, der 2017 mit Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments32 die erste umfassende deutschsprachige Ethik seit der von Eckart Otto von 1994 vorgelegt hat. Sie ist Resultat langjähriger Vorarbeiten. Aufschluss über seinen Zugang zu alttestamentlicher Ethik geben auch früherer Publikationen. Rainer Kessler begründet die Tatsache, dass er nach der Ethik der Bibel fragt, mit Verweis auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Jede ethische Reflexion sei situativ und im eigenen Kulturkreis verhaftet. Zu diesem gehören für ihn auch die biblischen Texte. Vor allem im konkreten Kontext Erziehung speise sich die ethische Reflexion aus kollektiven Überlieferungen, zu denen auch die Bibel gehöre. Aufgabe der Exegese sei zum einen die historische Rekonstruktion und zum anderen auch das hermeneutische Bemühen, sich den ethischen Gehalt der biblischen Texte aktuell anzueignen. Damit grenzt er sich in mehrfacher Hinsicht von Eckart Otto ab. Erstens besteht für ihn – anders als für Eckart Otto – die Einheit der Ethik des Alten Testaments nicht in ihrer Geschichte. Mit dieser Vorgabe verdoppele sich lediglich das Konstruktionsproblem: Jede Rekonstruktion von Geschichte sei interessengeleitet. Zudem sei der Geschichtsbegriff kein dem Alten Testament inhärenter Begriff, sondern ein Maßstab, der von außen angelegt werde. Rainer Kessler sieht die Einheit der pluralen und zum Teil auch widersprüchlichen ethischen Positionen des Alten Testaments im Kanon. Als Gründe nennt er das Kohärenz- und das Rezeptionsargument. Die biblischen Texte nehmen bewusst Bezug aufeinander: Signale innerer Kohärenz lassen sich finden. Rezipiert wird ferner der in einem historischen Prozess entstandene Kanon. Rainer Kessler entkräftet zudem mögliche Einwände gegen den kanonischen Ansatz: Anders als im vor- bzw. nachkritischen fundamentalistischen Zugriff auf die Heilige Schrift harmonisiere er weder die Spannungen der biblischen Texte, noch enthistorisiere er diese, sondern er lese sie gerade vor ihrem historischen und sozialgeschichtlichen Hintergrund. Der Kanon sei „kanonisierte Widersprüchlichkeit“33, die nicht harmonisiert werden dürfe. Es brauche vielmehr hermeneutische Werkzeuge, die die Vielfalt bestehen lassen. Dafür ist für ihn insbesondere die sozialgeschichtliche Verortung unerlässlich. Jedoch zielt er auch nicht auf die Rekonstruktion eines Ethos des Alten Israel ab: „So lässt sich festhalten, dass Gegenstand einer Ethik des Alten Testaments nicht das moralische Leben des alten Israel ist, sondern dass es die Schriften der Hebräischen Bibel sind.“34
32 Kessler 2017. 33 Kessler 2011b, 104. 34 Kessler 2017, 60.
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Damit widerspricht er zweitens Eckart Otto auch darin, dass sich das Unternehmen einer Ethik des Alten Testaments nur auf explizite Normsysteme berufen könne. Für Rainer Kessler sind grundsätzlich – in Anschluss an John Barton – alle kanonischen Texte relevant, auch die, die „eine implizite Ethik“35 enthalten. Am Beispiel der narrativen Texte betont er die ethische Bedeutung vor dem Hintergrund rezeptionsästhetischer Grundannahmen: Die biblischen Texte „bieten die ethische Reflexion nicht dar, fordern sie aber bei den Rezipientinnen und Rezipienten heraus“36. In diesem Zusammenhang gebraucht Rainer Kessler auch den Begriff des Diskursraumes. So könne der „Kanon selbst als Diskursraum aufgefasst“37 werden. „[I]nnerhalb des Kanons [entsteht] eine Bewegung, in die sich heutige Leserinnen und Leser hineinbegeben können“38. Rainer Kessler bleibt drittens anders als Eckart Otto nicht bei der Unmöglichkeit der unmittelbaren Applikation biblischer Texte in Fragen der Ethik stehen, sondern möchte eine Hermeneutik entwickeln, wie diese jenseits der kulturgeschichtlichen Kontinuität Bedeutung erlangen können. Diese Hermeneutik schließt an seinen sozialgeschichtlich-kanonischen Ansatz an. Die Vielfalt der Texte sei von der Sozialgeschichte her zu begreifen. Gleichzeitig könne die inner biblische Tendenz zur Abstrahierung von ethischen Prinzipien aufgegriffen werden, sofern damit nicht eine Verabsolutierung einhergehe. Auch die Strategie, zufällige Geschichtswahrheiten von überzeitlichen Prinzipien zu trennen, hält er nicht für grundsätzlich illegitim, aber für unterbestimmt, da mit diesem Verfahren die Konkretheit der Texte verloren gehe.39 Diese grundlegenden hermeneutischen Überlegungen zur situativen Ver ortung, zur Rückbindung an die konkreten Texte und der damit gegebenen Vielfalt greift er auch im Hinblick auf die Frage der Gegenwartsbedeutung biblischer Texte auf: „Damit ist eine Bewegung vorgegeben, die sich fortsetzt, wenn es um aktuelle ethische Entscheidungen geht. Sie sind nicht möglich ohne genaueste Kenntnisse der aktuellen Gegebenheiten. […] Ethische Entscheidungen sind ohne Sachverstand nicht möglich. Dies muss notwendigerweise dazu führen, dass bib35 Kessler 2017, 73. Im Kontext des Kanons sieht Rainer Kessler die ethische Bedeutung der weisheitlichen Schriften in ihrem grundsätzlich pädagogischen Charakter. Sie zielten vor allem auch auf die Internalisierung und Habitualisierung moralischen Verhaltens. Dabei stelle die Tora die Normen bereit; weisheitliche Erziehung sei nötig, um diese Normen für eine alltagstaugliche Lebensführung umzusetzen (vgl. Kessler 2010 mit Verweis auf Janzen, Waldemar: Old Testament Ethics. A Paradigmatic Approach. Louisville/KY 1994). Als Instanzen ethischen Handelns kennt Rainer Kessler ferner „Gefühl“ und „Gewissen“ (vgl. Kessler 2011b, 109: „Ethisches Verhalten muss habitualisiert werden. Es muss sich vom moralischen Gefühl und vom Gewissen lenken lassen.“). 36 Kessler 2017, 76; vgl. Kessler 2010 mit Bezug auf Mills, Mary E.: Biblical Morality. Moral perspectives in Old Testament narratives. Aldershot 2001. 37 Kessler 2010. Den Diskursbegriff von Jürgen Habermas im Kontext alttestamentlicher Ethik findet Rainer Kessler wie auch Barton 2014, 114 bei Rogerson, John: Theory and Practice in Old Testament Ethics. London/New York (JSOT.S 405) 2004. 38 Kessler 2010. 39 Kessler 2017, 569.
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lische Texte ausgelegt werden müssen. Sie sprechen nicht ‚von selbst‘, sondern müssen zu den neuen Situationen, auf die sie Anwendung finden sollen, in Bezug gesetzt werden.“40 Letztlich ist es für Rainer Kessler also die Vernunft, die ihre biblischen Lektüren verantworten muss: „Eine biblisch begründete christliche Ethik entlässt die Gemeinschaften, die sich auf die Bibel als ihre Grundlage beziehen, nicht aus der Aufgabe der Auslegung. Und sie entlässt den Menschen nicht aus seiner moralischen Verantwortung.“41 Bei der Frage, ob und wie eine Ethik biblisch begründet sein kann, entwickelt Rainer Kessler in Anschluss an Jörg Lauster den Gedanken der Erinnerungskultur.42 Jedes individuelle Leben, damit auch jede individuell verantwortete Entscheidung, erfolgt vor dem Hintergrund des kulturell vermittelten kollektiven Gedächtnisses, ist aber nicht gleichzusetzen mit unreflektierter Übernahme des Überkommenen. „Erinnern heißt, sich kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen.“43 Dabei betont Rainer Kessler, dass es gerade die Fremdheit der biblischen Texte sein kann, die ethisch relevant wird.44 So werde in Auseinandersetzung mit ethischen Diskursen der Vergangenheit die Analysekompetenz für gegenwärtige Probleme geschärft. Der hermeneutische Ansatz Rainer Kesslers ist insofern zu würdigen, als es ihm gelingt, die kanonische Relevanz aller biblischen Texte herauszuarbeiten, ohne diese zu enthistorisieren oder ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit harmonisieren zu müssen. Mit dem Verweis auf die Rolle des Rezipienten im ethischen Verstehensprozess wird ein Ansatzpunkt gegeben, wie auch angesichts der Orientierung an der Vernunft biblische Texte Bedeutung für ethische Reflexionen gewinnen können.
1.1.4 Ruben Zimmermann: Implizite – narrative – metaphorische Ethik Seit einer ersten Publikation aus dem Jahr 2002 hat Ruben Zimmermann in zahlreichen Publikationen zur Frage der Ethik neutestamentlicher Texte gearbeitet. Er ist Mitbegründer des 2009 eingerichteten Forschungszentrums für Ethik in Antike und Christentum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.45 In einem umfangreichen Œuvre thematisiert er hermeneutische Fragen und lotet literaturwissen40 Kessler 2017, 563. 41 Kessler 2017, 590. 42 Vgl. Kessler 2011b, 113 mit Verweis auf Lauster, Jörg: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Tübingen (HUTh 46) 2004, 454. 43 Kessler 2011b, 113. 44 Vgl. Kessler 2017, 573. So spricht Kessler 2010 in Auseinandersetzung mit Rodd, Cyril S.: Glimp ses of a Strange Land. Studies in Old Testament Ethics. Edinburgh 2001 von der „Chance, die das Alte Testament gerade dann bietet, wenn seine Fremdheit ernst genommen wird“. 45 In der Publikationsreihe des Forschungszentrums Kontexte und Normen der neutestamentlichen Ethik sind bislang neun Publikationen zum Thema erschienen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Veröffentlichungen.
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schaftlich-ethische Zugänge aus, die – anders als im angloamerikanischen Raum – im Bereich der deutschsprachigen alttestamentlichen Exegese weniger verbreitet sind. Daher seien an dieser Stelle einige seiner hermeneutischen Überlegungen und methodischen Verfahren vorgestellt. Grundlage aller Ausführungen ist der bereits 2002 für die alttestamentliche Weisheit46 entwickelte Begriff der impliziten Ethik, den er 2007 am Beispiel des 1. Korintherbriefes47 aufgreift und in der monographischen Publikation Die Logik der Liebe. Die ‚implizite Ethik‘ der Paulusbriefe am Beispiel des 1. Korintherbriefes (2016) ausarbeitet. Da die biblischen Schriften keine systematische Reflexion über Handlungsgründe und keine rationale Durchdringung des Moralkodexes im Sinne einer Metareflexion über Handlungsnormen und Begründungszusammenhänge kennen, ihnen jedoch implizit, zum Teil auch explizit Begründungen bzw. auch argumentative Bezugnahmen auf bestimmte ethische Maximen und Normen zu Grunde liegen, spricht Ruben Zimmermann von impliziter Ethik.48 In Anschluss an die rezeptionsästhetische Rede vom impliziten Leser wird mit dem Terminus auf „die auf den Text bezogene und nur mit ihm eruierbare Ethik“49 rekurriert. Diese ist fragmentarisch, insofern sie keine systematische Zusammenschau über Handlungsnormen und Begründungszusammenhänge bietet. Erst durch die Zusammenschau des Betrachters werde die Ethik zur eigentlichen Theorie. Jedoch sei deshalb nicht „das Tor für willkürliche Zuschreibungen geöffnet. […] Es ist gerade die detaillierte und präzise Textlektüre, die überhaupt dazu befähigt, aus den Mosaiksteinen ein zusammenhängendes Ganzes, eben ein kohärentes Gebilde zu erstellen.“50 „Die Ethik kann nur ex post in der Deskription durch einen Exegeten oder Ethiker expliziert werden, denn sie ist begrifflich, hermeneutisch, literarisch und historisch nur fragmentarisch und indirekt zugänglich.“51 Ruben Zimmermann hat ein Organon der impliziten Ethik entwickelt, mit dem er sich der Frage, wie in neutestamentlichen Texten moralische Signifikanz erzeugt wird, widmet. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Sprachform eines Textes konstitutiv für den ethischen Gehalt eines Textes ist. Mittels verschiedener Textstrategien wie Stilform, Gattung und Pragmatik werde moralische Signifikanz erzeugt.52 „[D]er Text selbst [wird so] in radikaler Weise als Medium der Ethik wahr- und ernst genommen“53. Die bekannteste Textstrategie mit einer eigenen ethischen Qualität stelle die narrative Ethik dar.54 Neben argumentativen Überzeu46 Zimmermann 2002. 47 Vgl. Zimmermann 2007a. 48 Vgl. z. B. Zimmermann 2002, 101–102; Zimmermann 2007a, 272–274; Zimmermann 2012, 141– 144; Zimmermann 2016a, 14–18; zuletzt Zimmermann 2018, 236–237. 49 Zimmermann 2016a, 17. 50 Zimmermann 2016a, 18. 51 Zimmermann 2018, 239. 52 Vgl. Zimmermann 2016b, 300–302. 53 Zimmermann 2018, 242. 54 Vgl. Zimmermann 2016b, 301 und dazu den Überblick über den literaturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Diskurs über narrative Ethik in Zimmermann 2012, 146–155.
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gungsethiken, die mit Argument und Logik eher autoren- bzw. sachorientiert sind, unterscheidet Ruben Zimmermann daher die nicht-diskursiven ethopoietischen Verstehensethiken, die die Beteiligung des Rezipienten im Hinblick auf ihren ethischen Gehalt fordern. Darunter zählt er die narrative, metaphorische, mimetische und doxologische Ethik. Seine Etho-Poietik versuche, „die sprachlichen Bildungsmechanismen en détail zu analysieren, um letztlich ihre Wirkung im ethischen Kommunikationsvorgang präziser beschreiben zu können“55. Den verschiedenen Verstehensethiken sei gemein, dass sie die Eigenständigkeit des ethischen Subjektes fordern und voraussetzen, dass Handlungsfähigkeit nur aus eigener Reflexion und Entscheidung folgen kann.56 Im Organon zur impliziten Ethik werden acht verschiedene Perspektiven zusammengefasst, die jeweils eigene ethisch relevante Aspekte untersuchen: 1. Sprachformen der Moral, 2. Normen, 3. Traditionsgeschichte, 4. Hierarchisierung von Normen, 5. Erzeugen moralischer Signifikanz, 6. ethischer Urteilsträger, 7. gelebtes Ethos und 8. Reichweite der Ethik. Der letzte Aspekt zielt auf die Frage nach der Gegenwartsbedeutung neutestamentlicher Ethik, wobei jenseits des rein rezeptionsästhetischen Zugangs bzw. des kanonischen Anspruchs nach Geltungsindizien in den biblischen Texten gefragt wird. Hier plädiert Ruben Zimmermann für Differenzierung in der Frage hermeneutischer Vermittlung. Die Leistung biblisch fundierter Ethik sieht er darin, eigene Überzeugungen in Frage zu stellen, aber auch in formaler und materialer Weise anzuregen. „Die implizite Ethik des NT wird dabei nicht zur richtenden Moralinstanz, aber zu einem Orientierungsmaßstab, gegenüber dem sich Christen freiwillig verantworten, wenn sie ihre Identität wahren wollen. […] Die implizite
Mit dem Ethical Turn stellen auch die Geistes- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren verstärkt die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Ethik bzw. literarisch-ästhetischen Reflexionsformen der Ethik. Ein Beispiel dafür ist die Reihe Ethik – Text – Kultur, die im Fink Verlag erscheint und mit dem ersten Band Narration und Ethik eröffnet wurde. Im Vorwort wird als Forschungsinteresse die Frage formuliert, „inwiefern Literatur dank ihrer fiktiven Beschaffenheit Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns eröffnet, die fremde, neue und alternative Deutungs- und Wahrnehmungsoptionen sichtbar machen. […] Ethik wäre dann nicht als eine dem Text äußerliche Kategorie zu denken, sondern der poetischen und poetologischen Struktur des literarischen Textes inhärent.“ (Öhlschläger 2009, 11). 55 Zimmermann 2016b, 300; vgl. zum Begriff der Etho-Poietik auch den früheren Aufsatz Zimmermann 2007b. Den Begriff der Ethopoietik findet Ruben Zimmermann bei Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Bd. II. Frankfurt 1989, 20–21: „Der Bereich, den ich analysiere, wird von Texten konstituiert, die Regeln, Hinweise, Ratschläge für richtiges Verhalten geben wollen: ‚praktische‘ Texte, die selbst Objekt von ‚Praktik‘ sind, sofern sie geschrieben wurden, um gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt zu werden, und sofern sie letzten Endes das Rüstzeug des täglichen Verhaltens bilden sollten. Diese Texte waren als Operatoren gedacht, die es den Individuen erlauben sollten, sich über ihr eigenes Verhalten zu befragen, darüber zu wachen, es zu formen und sich selbst als ethisches Subjekt zu gestalten; ihnen kommt also eine ‚etho-poetische‘ Funktion zu.“ Durch diese Texte formen Individuen sich selbst, folgen also mit Selbsttechnologien einer Ästhetik der Existenz. 56 Vgl. Zimmermann 2016b, 307.
Exegetische Zugänge: Ethisch rein deskriptiv?
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Ethik des Neuen Testaments kann somit Quelle der Inspiration und Dialogpartner in aktuellen Entscheidungs- und Lebensprozessen werden.“57 Auch für Ruben Zimmermann ist also die Autonomie des Subjektes in ethischen Fragen Voraussetzung für die ethische Bedeutung der neutestamentlichen Texte, wie in der Rede von Freiheit und Verantwortung des Christen deutlich wird. Nur unter dieser Prämisse kann die Bibel Quelle der Inspiration sein. Das moralische Subjekt kann sich in Freiheit auch gegen ethische Modelle der biblischen Texte wenden. Dieses Verhältnis von Leser und Text kommt auch in der Rede von der impliziten Ethik der Bibel als Dialogpartner zum Ausdruck.58 Ethische Einsicht formt sich demzufolge in Auseinandersetzung mit dem Text, der den Leser und die Leserin zu ethischen Schlüssen auffordert. Mit dieser Hermeneutik gelingt es Ruben Zimmermann, sowohl die Historizität des Textes als auch die Selbstbestimmtheit des Subjektes, das in seinem ethischen Handeln durch die Vernunft geleitet wird, ernst zu nehmen. Auch wenn das von ihm entwickelte Organon für die Praxis reichlich kompliziert anmutet, wird mit ihm ein hoher Differenzierungsgrad erreicht.
1.1.5 Zwischenbilanz Der Blick auf die vier Monographien zu einer alttestamentlichen bzw. neutestamentlichen Ethik zeigt nicht nur verschiedene methodische Zugänge zur Frage einer Ethik biblischer Texte, sondern auch Verschiebungen im alttestamentlichen bzw. exegetischen Diskurs seit 1993. So sind Grundannahmen zum Gegenstandsbereich einer biblischen Ethik ebenso fraglich geworden wie hermeneutische Prämissen hinsichtlich der Gegenwartsbedeutung biblischer Texte und das Selbstverständnis bzw. der Kompetenzbereich der biblischen Exegese. 1. Gültig bleibt die Aussage, dass die biblischen Texte keine „Ethik“ im Sinne einer argumentativ-reflexiven Durchdringung des Ethos enthalten. Gleichwohl
57 Zimmermann 2018, 250. Explizit spricht er z. B. in Bezug auf die Metaphorische Ethik von der Autonomie des ethischen Subjektes: „Die metaphorische Ethikreflexion ermöglicht und erleichtert vielmehr die Kommunikation über Handlungsgründe. Sie schreibt nicht direkt vor, sondern lädt vielmehr ein. Sie nimmt die Adressaten ernst und fordert ihre autonome Entscheidungssouveränität.“ (Zimmermann 2016b, 308). 58 Die Metapher der Bibel als Dialogpartner zur Umschreibung der biblisch-ethischen Hermeneutik verwendet Ruben Zimmermann immer wieder. So sollen Aspekte der impliziten Ethik des Paulus „mit ethischen Grundfragen und -konzepten ins Gespräch gebracht werden“ (Zimmermann 2016a, 253.273); gegenwärtige ethische Ansätze können „Gesprächspartner“ (Zimmermann 2016a, 256.266) sein. Gefragt wird nach der „Anschlussfähigkeit“ (Zimmermann 2016a, 283) an ethische Debatten der Gegenwart; die implizite Ethik könne man „in Zusammenhang“ bringen (Zimmermann 2016a, 287), und aufgezeigt werden „Schnittstellen“ mit ethischen Konzepten (Zimmermann 2016a, 260.289), die aber nicht inhaltlich bestimmt werden. Im Hinblick auf die Verzichtsethik des Paulus spricht Ruben Zimmermann explizit von „Sprengkraft“ (Zimmermann 2016a, 272) in unserer Gesellschaft, da sie herausfordere und zu einem Umdenken anleite.
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wird darauf verwiesen, dass biblisch-ethische Vorstellungen auch nicht irrational sind bzw. im Konzept einer impliziten Ethik erfasst werden können. Im Hinblick auf die Texte, die für ethische Fragestellungen von Bedeutung sind, wurde die Perspektive geweitet: Nicht nur die explizit-ethischen Texte bzw. das rein präskriptive Material ist zu sichten, vielmehr sind auch andere Textgattungen von Relevanz für ethische Fragestellungen. Die Vielgestaltigkeit, teilweise Widersprüchlichkeit biblischer Texte zeigt dabei auf, dass biblische Ethik genuin diskursiv ist. Drei Gründe mögen für diese Verschiebung ausschlaggebend sein: Erstens gilt für die Antike im Allgemeinen und für das Alte Testament im Besonderen, dass die Frage nach der Lebensorientierung nicht von der Frage nach Gott bzw. den Göttern und den anderen Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung losgelöst betrachtet werden kann.59 Wenn von der Beziehung des Menschen zu Gott gesprochen wird, umfasst dies also stets ethische Aspekte. Zweitens wird der Grund für die ethische Bedeutung der Bibel in ihrem kanonischen Anspruch gesehen, ohne die Texte zu enthistorisieren. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass auch allen biblischen Texten ethische Relevanz zukommt. Drittens wird auch von literaturwissenschaftlicher Seite nach dem ethischen Potential von Texten überhaupt gefragt. 2. Im Hinblick auf die Gegenwartsbedeutung einer biblischen Ethik herrscht Konsens, dass der historische Abstand eine (unmittelbare) Applikation alttestamentlicher Weisungen verbietet. Genauso unstrittig ist, dass eine biblische Ethik nicht präskriptiv sein kann. Allerdings wird die apodiktische Forderung, eine alttestamentliche Ethik könne nur deskriptiv sein und erschöpfe sich in der Deskription, angefragt. Hier wird durchaus die Frage gestellt, wie eine Relevanz jenseits des Präskriptiven möglich sein kann. Dabei wird ausgelotet, welche Rolle der kritischen Reflexion des Rezipienten bei der Konstitution von ethischer Bedeutung zukommt. Nicht Applikation, sondern die verantwortete Auslegung wäre der Grund der Gegenwartsbedeutung. Auch hier wird die ethische Relevanz nicht in der Affirmation gesehen, sondern in der Andersartigkeit biblisch-ethischer Positionen bzw. deren Fremdheit. Ethische Identität würde sich dann an und mit den biblischen Texten formen. Diese hermeneutischen Grundannahmen ermöglichen es, den historischen Text als kanonischen Text ebenso wie die rational-ethische Verantwortung des Lesers ernst zu nehmen. 3. An diesen Überlegungen wird auch deutlich, dass sich die Exegese als theologische Wissenschaft versteht, damit in ihren Kompetenzen nicht selbst beschränkt, sich aber auch nicht beschränken lässt. Sie reflektiert einerseits, dass jede Rekon struktion per definitionem auch Konstruktion ist. Andererseits nimmt sie auch die Argumentation der theologischen Ethik auf, die von der V ernunftbestimmtheit des Subjektes ausgeht, indem sie versucht zu zeigen, dass ihre hermeneutischen Bemühungen imstande sind, vernünftige Reflexion und biblisch-kanonischen Anspruch zusammenzudenken. 59 Vgl. Horn 1998, 14.
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Diese veränderten Vorstellungen in Bezug auf das Projekt einer biblischen Ethik bzw. noch grundsätzlicher in Bezug auf die ethische Bedeutung biblischer Texte und den Kompetenzbereich der biblischen Exegese werden auch im Bestreben deutlich, die Frage nach der ethischen Relevanz fachübergreifend zu bearbeiten.
1.2 Interdisziplinäre Bemühungen um eine biblische Ethik: Jenseits des Präskriptiven? Das gegenwärtige Interesse an der Frage, ob und wie Bibel und Ethik ins Verhältnis gesetzt werden können, spiegelt sich in verschiedenen Publikationen, Tagungen und Forschungsprojekten wider.60 Aus der Vielzahl seien zwei Sammelbände ausgewählt, die gegenwärtig in der deutschen Exegese und theologischen Ethik vertretene Positionen im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung der Bibel für ethische Fragestellungen aufzeigen und sich dabei um eine Anschlussfähigkeit der eigenen Hermeneutik an die Argumentation bzw. Arbeitsweise des jeweils anderen Faches bemühen.
1.2.1 Jahrestagung der AGAT (2015) Der Sammelband Mehr als Zehn Worte? Zur Bedeutung des Alten Testaments in ethischen Fragen geht auf die Vorträge der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Alttestamentlerinnen und Alttestamentler am 1.–4. September 2014 zurück. Dem Herausgeber Christian Frevel zufolge verfolgte die Tagung ein zweifaches Anliegen: Auf der einen Seite sollten „ethische Perspektiven in den alt-
60 Aus der Perspektive der Theologischen Ethik seien erwähnt: Noichl, Franz: Ethische Schriftauslegung. Biblische Weisung und moraltheologische Argumentation. Freiburg 2002; Hofheinz, Marco/Mathwig, Frank/Zeindler, Matthias (Hg.): Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik. Zürich 2011. Aus der Perspektive der Christlichen Sozialwissenschaft: Heimbach-Steins, Marianne/Steins, Georg: Ornament, Fundament, Argument und was sonst? Zur Rolle der Bibel als Kanon in theologischer Ethik und in gemeinsamen katholisch-evangelischen Texten. In: ZEE 45 (2001), 95–108; Heimbach-Steins, Marianne/Steins, Georg (Hg.): Bibelhermeneutik und Christliche Sozialethik. Stuttgart 2012. Erwähnt sei nochmals das Forschungszentrum der Universität Mainz Ethik in Antike und Christentum, das einen historischen Ansatz verfolgt und zu mehreren Publikationen geführt hat. Auch in säkularer literaturwissenschaftlicher Perspektive wird die Frage nach dem Zusammenhang von narrativen Texten und ethischem Gehalt bearbeitet. Beispielhaft sei genannt die Publikation der Reihe Ethik – Text – Kultur von Öhlschläger, Claudia (Hg.): Narration und Ethik. Ethik – Text – Kultur 1. München 2009.
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testamentlichen Texten“61 herausgearbeitet werden, auf der anderen Seite sollte die Frage nach „der ethischen Relevanz des Alten Testaments“62 gestellt werden, wobei unterstellt wurde, dass es sich lohne, die Perspektiven des Alten Testaments in ethische Diskurse der Gegenwart einzubringen. Blickt man auf die methodischhermeneutischen Ansätze der alttestamentlichen Publikationen zu ethischen Fragen, die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten, sind Anliegen und Grundüberzeugung nicht selbstverständlich, denn „explizit ethische Perspektiven [schaffen es] in der deutschsprachigen alttestamentlichen Bibelwissenschaft selten auf die Forschungsagenda“63. Im Hinblick auf die verschiedenen Beiträge lasse sich auch beobachten, dass die Einschätzungen in Bezug auf das Projekt einer alttestamentlichen Ethik auseinandergehen, und ebenso wie die Positionierungen, ob und wie alttestamentliche Texte in heutigen Kontexten Relevanz gewinnen können, unterschiedlich ausfallen. Konsens sei nicht zu erreichen, und gerade in der Vielfalt der methodischen und hermeneutischen Perspektiven liege der Gewinn der Tagung: „Eine gemeinsame Perspektive auf die Texte konnte und sollte nicht das Ergebnis der Tagung sein, weshalb dieser Band auch keine Zusammenfassung oder einen bündelnden systematisierenden Versuch mit ähnlichem Anspruch enthält. Wenn er zu weiteren vom Alten Testament ausgehenden Diskussionen anregt, hat er sein Ziel erreicht.“64 Zusammengestellt unter den Überschriften Dimensionen alttestamentlicher Ethik und Konkretionen alttestamentlicher Ethik folgen Beiträge, die einzelne Aspekte einer alttestamentlichen Ethik, wie etwa die historische Frage nach der Ausdifferenzierung von Recht und Ethik, nach einem distinkten Ethos in Israel und nach Ethik(en) verschiedener Bücher und Zeiten in den Blick nehmen. Diese Beiträge folgen eher dem erstgenannten Ziel, ethische Perspektiven in den Texten des Alten Testaments zu untersuchen. Explizit nach der Relevanz alttestamentlicher Ethik fragen weitere Autoren. Die verschiedenen hermeneutischen Verfahren seien hier kurz vorgestellt: Dominik Markl beschränkt sich – in Anschluss an Eckart Otto – auf „die deskriptive Analyse ethischer Pragmatik in den kanonischen Textgestalten des Pentateuchs als privilegierter biblischer Ausgangspunkt für präskriptive Erwägungen im Rahmen von Theologie und Kirche“65. Er stellt sich aber nicht der hermeneutischen Frage, wie biblische Texte Ausgangspunkt für normative Aussagen sein können und ob die Bedeutung alttestamentlicher Texte jenseits des entweder Deskriptiven oder Präskriptiven sein könnte. Anders hingegen schlussfolgert Ulrich Berges in Bezug auf die sperrigen Prophetentexte: „Wenn sich die exegetische Zunft allein hinter den sozial- und literaturgeschichtlichen Beweggründen ihrer Texte verschanzt, darf sie sich nicht wun61 62 63 64 65
Frevel 2015a, 7. Frevel 2015a, 7. Frevel 2015b, 9–57. Frevel 2015a, 7. Markl 2015, 324.
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dern, wenn sie weder in Kirche und Theologie, noch in der Gesellschaft besonders Gehör findet.“66 Angemessen sei die Dekonstruktion der das Gottesbild verdunkelnden Texte bzw. reading against the grain als ideologiekritische Lektüre, die den Einzelnen in die Pflicht nehme, sich für das Gute zu entscheiden. Rainer Kessler plädiert auch in diesem Band für die sozialgeschichtliche Verortung der Texte, an die sich die Frage nach den sozialgeschichtlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten anschließe. Auf diese Weise müssen nicht – entsprechend verbreiteter hermeneutischer Strategien – zeitbedingte Aussagen von zeitlosen Maximen unterschieden werden, sondern man bleibe im Kontinuum der Geschichte und könne danach fragen, was die Texte in diesem Kontinuum heute bedeuten können.67 Der letzte Beitrag des Sammelbandes ist ein moraltheologischer. Stephan Goertz liefert einen Problemaufriss: Aus systematischer Perspektive und vor dem Hintergrund der Vorstellung einer autonomen Moral ist fraglich, wie das Verhältnis von Bibel und Ethik, also Offenbarung und natürlicher Sittlichkeit, zu bestimmen ist. Vorgeordnet sei die Tatsache, dass der Mensch sich als sittliches Wesen begreift, bevor er überhaupt einen sittlichen Anspruch der Bibel bzw. Gotteswillen erfassen kann. Geltungsgrund des moralischen Sollens kann also nur das vernünftige Subjekt selbst sein. Allerdings kann der Sollensanspruch, der Anspruch der Freiheit, als dem Schöpfer verdankt verstanden werden – so Stephan Goertz in Anschluss an Franz Böckle.68 Insofern kann die Moraltheologie die „Autorität der Freiheit als genuines Anliegen des biblisch bezeugten Gottglaubens“69 sehen. Die Tatsache, dass in der Schrift die unbedingte Geltung sittlicher Ansprüche vorausgesetzt wird, bilde angesichts der autonomen Moral einen Anknüpfungspunkt für den Glauben, und die autonome Moral biete so der Exegese eine Heuristik an, die die ethische Relevanz zeige: Gerade weil die ethischen Positionierungen der Schrift sich der autonomen Reflexion des Menschen verdanken, sind sie für die Schrift unverzichtbar: „[E]rst auf diese Weise [kommt] die humane Relevanz der Schrift zum Tragen“70. Gegenüber Ansätzen, die zwar biblische Überlieferungen in ihrem ethischen Gehalt ernst nehmen (wollen), aber Begründungsfragen nicht beantworten können, hält Stephan Goertz daran fest, dass ethische Reflexion argumentativ begründen muss. Dasselbe gelte auch für Ansätze narrativer Ethik. Trotzdem ist nach Stephan Goertz auch ein Verstehen der Genese ethischer Positionen von Nöten. „Gerade in einer weltanschaulich und religiös pluralen Gesellschaft sind Bemühungen um ein besseres Verstehen eigener wie fremder Traditionen unverzichtbar. […] Auch moralische Welten erscheinen auf diese Weise als Konstrukte mensch-
66 Berges 2015, 360. 67 Vgl. Kessler 2015, 378. 68 Vgl. Böckle 1977, 84. 69 Goertz 2015, 401 in Anschluss an Merks 1998. 70 Goertz 2015, 403.
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licher Geschichte. Biblische Texte sind davon nicht ausgenommen.“71 Jenseits dieser Rekonstruktion ethischer Traditionen entscheide sich die ethische Relevanz der Bibel daran, ob sie selbst Freiheit für den Menschen will.
1.2.2 Der Sammelband Bibel und Moral (2018) Drei Jahre später erscheint der Sammelband Bibel und Moral – ethische und exegetische Zugänge72, der von zwei Moraltheologen herausgegeben wird. Das Vorwort eröffnen die beiden Herausgeber Christof Breitsameter und Stephan Goertz mit einer Reihe von Fragen, die die Möglichkeit der Orientierung an der Bibel problematisieren, bevor sie bereits einen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma aufscheinen lassen: „Vieles spricht dafür, dass die Bedeutung der Bibel für die Moral jenseits des rein Präskriptiven, also etwa im Narrativen zu suchen ist.“73 Als Problem wird weiter die historische und kulturelle Diskrepanz von biblischen Texten und Gegenwart benannt. Auch hier wird jedoch eine Chance gesehen: „Freilich ergibt sich daraus vielleicht die Chance, nicht nur Altes zu erschließen, sondern ein neues Verhältnis zu unserer Zeit, unserer Kultur, den Regeln, denen wir folgen, den Institutionen, in denen wir handeln, zu gewinnen. Dadurch können Irritationen entstehen, die das, was uns – mit Blick auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart – als selbstverständlich erscheint, gelegentlich auch erschüttern.“74 Die Beiträge des Bandes problematisieren jeweils aus moraltheologischer und exegetischer Perspektive die theologische Autorität der Schrift, die ethische Normativität biblischer Texte, die Verbindung von Universalität und Partikularität der biblischen Moral, das Verhältnis von Moralisierung der Religion und Theologisierung der Moral, das ethische Potential biblischer Texte jenseits des Präskriptiven und die Frage nach dem Subjektverständnis der biblischen Schriften. Auch von exegetischer Seite – so der Beitrag von Johannes Schnocks – ist selbstverständlich, dass eine ethische Hermeneutik biblischer Texte nicht an der Freiheit des sittlichen Subjektes vorbei entworfen werden kann. Als zentrales exegetisches Anliegen wird genannt, dass die Polyphonie biblischer Texte gewahrt wird und die Texte nicht von der Begriffslogik eines bestimmten Wortes her interpretiert werden.75 Die historische Priorität des Rechts und die sekundäre Theologisierung seien ein inneres Argument, warum „biblische Forderungen nicht in Konkurrenz treten [dürfen] zur moraltheologischen Basisvorstellung des Menschen
71 Goertz 2015, 411. 72 Breitsameter, Christof/Goertz, Stephan (Hg.): Bibel und Moral – ethische und exegetische Zugänge. Freiburg (Jahrbuch für Moraltheologie 2) 2018. 73 Breitsameter/Goertz 2018, 7. 74 Breitsameter/Goertz 2018, 7. 75 Vgl. Schnocks 2018, 15.
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als autonomen sittlichen Subjektes.“76 Bei der fortschreitenden Theologisierung des Rechts gehe es nicht um eine metaphysische Letztbegründung, sondern um Motivation für ein bestimmtes Verhalten.77 In der Gegenwart könne man die alttestamentlichen Texte als Vorschläge verstehen, die in aktuellen Fragen den Spiegel einer anderen Zeit vorhalten. Dieses Verständnis nehme die Texte als Texte ernst und mache sie zu einem theologisch bedeutsamen Gegenüber. Eine aus exegetischer Sicht angemessene ethische Lektüre der Bibel sei eine Gratwanderung, die sowohl vermeiden müsse, dass der Text im Hinblick auf eine einzige unveränderliche Wahrheit gelesen werde, als auch, dass sich die Bedeutung des Textes in einer rezeptionsästhetischen Beliebigkeit auflöse. Ersteres berge die Gefahr, dass vermeintlich normative Gehalte jenseits jeder historischen Rückfrage auf die Gegenwart appliziert würden. Letzteres laufe Gefahr, den Text als objektives Gegenüber in der subjektiven Lektüre aufzulösen. Die biblische und außerbiblische Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines Textes und damit die Kontextabhängigkeit des Textes seien bei der Auslegung zu berücksichtigen. Die Rolle der Exegese könne nur eine deskriptive sein. Allerdings sei sie sehr wohl in der Lage, die Autorität der Schrift in einen normativen Diskurs einzubringen. Für dieses Verständnis der biblischen Texte greift Johannes Schnocks in Anschluss an Friedhelm Hartenstein auf die Metapher des Zeugnisses im Sinne von Paul Ricœur zurück.78 Die theologische Autorität der Schrift liege darin begründet, dass sie allein Zugang zu Gotteserfahrungen bietet. Die anderen exegetischen Beiträge verfolgen eher Einzelfragen; hermeneutische Fragen werden nur am Rande gestellt. In methodischer Hinsicht zeichnen sie die historische Entstehungssituation der Texte nach und verorten Einzelfragen im neutestamentlichen Gesamtkontext. Von moraltheologischer Seite wird im Beitrag von Magnus Striet hervorgehoben: „Ethisch akzeptabel kann immer nur das sein, was in eigener Einsicht als akzeptabel eingesehen ist“79. Autonome Moral und die biblische Begründung mit dem Willen Gottes seien keine einander ausschließenden Gegensätze: Dass die biblischen Texte „teils eine Semantik der Heteronomie pflegen, mag sein, ist aber kein Argument. Man muss und darf biblische Institutionen durchaus weiterdenken. […] Normativ an der Bibel ist nicht der Wortlaut des Textes, den es ohnehin nicht gibt, sondern immer nur die historisch rekonstruierte, hermeneutisch
76 Schnocks 2018, 19. Ähnlich im selben Sammelband Eberhard Schockenhoff 2018, 128 in Bezug auf den Dekalog: „Dieser doppelte traditionsgeschichtliche Entstehungs- und Interpretationskontext, aus dem der Dekalog hervorging, kann als wichtiges exegetisches Argument für die Grundannahme der autonomen Moral angesehen werden, nach der die materialen Einzelnormen des christliche Ethos ihre Geltung nicht erst einer besonderes religiösen Legitimation verdanken, sondern aus einem autonomen Einsichtsprozess der praktischen Vernunft sowie der Deutung universaler menschlicher Lebenserfahrung hervorgehen.“ 77 Vgl. Schnocks 2018, 21. 78 Vgl. Schnocks 2018, 22–26. 79 Striet 2018, 36.
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erschlossene und damit interpretierte Form.“80 Grund für den normativen Gehalt der Bibel ist nach Magnus Striet, dass „sie einen Reflexionsprozess abbildet, der den Menschen und den ersehnten Gott immer entschiedener in ein moralischethisches Universum einbindet, in dem auf sozialen Ausgleich und möglichst große Gerechtigkeit gedrungen wird, das Marginalisierungen von Menschen ächtet und Individualinteressen ihren Raum zubilligt“81 und den Menschen auffordere, „[s]elbst zu denken und sich in seinem Denken Rechenschaft vor dem Gott abzulegen, der Gerechtigkeit will, der aber zugleich auch die Freiheit liebt“82. Letztlich entscheidet sich also auch für Magnus Striet die ethische Bedeutung der Bibel daran, ob der geglaubte Gott einer ist, der der moralischen Einsicht des Menschen entspricht, denn die Kategorien der Gerechtigkeit und Freiheit findet der Mensch vorgängig in sich. Daran schließt auch Stephan Goertz in seinem Beitrag an, wenn er darauf hinweist, dass es bibelexterner Kriterien bedarf, um die Bibel in ethischer Hinsicht in einem gottwürdigen Sinne – so die Formulierung mit Immanuel Kant – zu interpretieren.83 Grundlegend ist hierbei die Unterscheidung zwischen Gott selbst, der als Gott moralisch vollkommen ist, und der Rede über Gott, wie sie sich biblisch findet. Es bedarf also stets des „Umweg[es] ethischer Selbstvergewisserung“84. Walter Lesch schließlich fragt danach, ob die ethischen Potentiale der Bibel jenseits des Präskriptiven liegen, und schließt daran an, dass die ethische Bedeutung „nur auf dem Weg der Vermittlung und der Interpretation plausibel gemacht werden“85 könne, da ihre Distanz von aktuellen ethischen Fragen zu groß und sie selbst zu heterogen und in sich widersprüchlich sei. Biblische Texte „entfalten jedoch eine selbstaufklärerische und entmythologisierende Wirkung, insofern der religiöse Geltungsanspruch an die Materialität der Zeichen zurückgebunden ist und sich damit den demokratischen Verfahren des Lesens, Deutens, Verstehens und Nichtverstehens öffnet“86. Ihre Leser „müssen sich der Mühe des Verstehens und dem Streit der Auslegungen stellen, weil nur so die Wahrscheinlichkeit wächst, die Kommunikationsbedingungen eines antiken Textes zu begreifen und mit den Herausforderungen von heute ins Gespräch zu bringen“87. Das ethische Potential biblischer Texte sieht Walter Lesch in ihrer Literarizität, so ermöglichen insbesondere erzählende Texte das Ausprobieren von Handlungsperspektiven durch die Darstellung von Konflikten mit unterschiedlichen Identifikationsangeboten. Kritische Leser können auf diese Weise alte Plausibilitäten sprengen und neue
80 Striet 2018, 42–43. 81 Striet 2018, 38. 82 Striet 2018, 43. 83 Vgl. Goertz 2018, 68. 84 Goertz 2018, 77. So auch Körtner 2018, 180: „Zwischen dem Wort Gottes und den menschlichen Worten, die es bezeugen, gilt es zu unterscheiden.“ 85 Lesch 2018, 226. 86 Lesch 2018, 232. 87 Lesch 2018, 233.
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Paradigmen schaffen, so dass eine religiöse Tradition sich selbst aufklärt. „Ethische Einsichten entstehen dort, wo bisher Selbstverständliches neu durchdacht und mit unerwarteten Aspekten konfrontiert wird.“88 Die ethische Bedeutung der biblischen Texte läge daher in ihrem Verfremdungseffekt, der sich gerade aus der historischen Distanz ergebe.
1.2.3 Zwischenbilanz Beide Sammelbände zeigen den Willen, die Frage nach der ethischen Bedeutung biblischer Texte fächerübergreifend auszuloten. So dokumentiert der Sammelband Mehr als zehn Worte? das neu erwachte Bemühen der Exegeten, neben einer historischen Rekonstruktion auch theologisch-ethische Fragen nicht auszuklammern. Dabei gibt es einen Pluralismus im Hinblick auf die Frage, wie die Exegese nach der ethischen Bedeutung biblischer Texte fragen kann. Es finden sich Entwürfe einer ethischen Hermeneutik, die die Autonomie des Subjektes zum Ausgangspunkt machen. Die moraltheologischen Beiträge des Bandes Bibel und Moral – ethische und exegetische Zugänge zeigen, dass es durchaus auch ein Anliegen der theologischen Ethik ist, über die Bedeutung der Bibel in ethischen Fragen zu reflektieren. So etwas wie ein Konsens zeichnet sich dahingehend ab, die ethische Bedeutung der biblischen Texte jenseits des Präskriptiven zu suchen. 1. Immer wieder wird im Hinblick auf die ethische Bedeutung der Bibel angeführt, dass diese gerade in ihrer Fremdheit liege und in der Diskrepanz der biblischen Positionen zu aktuellen Situationen und Einschätzungen. Über diese Distanzierung sei es möglich, gegenwärtige Problemlagen anders zu beurteilen und gegebenenfalls neue Wege zu beschreiten. Die biblischen Texte könnten uns einen Spiegel vorhalten – so die gern benutzte Metapher. Die Fremdheit wird dabei vor allem als historisch und kulturell begründete bestimmt. Die Polyphonie der biblischen Texte und Heterogenität der ethischen Positionen unterstützt den Distanzierungsprozess. Sie verdeutlicht, dass ethische Problemlagen situativ sind und nach je neuen Antworten verlangen. 2. Mit der Wertschätzung der Fremdheit biblischer Texte ist ein zweiter Gedanke in Bezug auf ihre ethische Relevanz verbunden. Die Fremdheit zwingt, sich selbst zu ihr zu verhalten, sie ebenso wie die gegenwärtige Situation zu bewerten. Es bedarf also bibelexterner Kriterien zur Beurteilung der innerbiblischen Polyphonie. Die ethische Relevanz der Bibel entscheidet sich dann also daran, ob wir in ihr etwas finden, dem wir – trotz grundsätzlicher Fremdheit – vernünftigerweise zustimmen können oder aufgrund dessen wir in Abgrenzung von dem biblischen Konzept zu einer eigenen ethischen Position gelangen können.
88 Lesch 2018, 240.
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Mit diesen hermeneutischen Überlegungen werden die Beschränkungen der älteren exegetischen Forschung überschritten. Eckart Otto suchte nach inneralttestamentlichen Kriterien wie Gerechtigkeit und Solidarität mit Schwachen, um die widersprüchlichen alttestamentlichen Normsysteme zu bewerten. Dem ist hinzuzufügen, dass es erst die vorgängige vernünftige Reflexion ist, die Gerechtigkeit oder Solidarität als Wert erscheinen lässt. Erst diese extern erfolgte Bewertung macht es möglich, die Tatsache, dass sich innerbiblisch eine größer werdende Tradition erkennen lässt, die sich an Recht und Gerechtigkeit orientiert, als ethisch bedeutsam einzustufen. Erst nachdem Gerechtigkeit vernünftigerweise als Wert erkannt wurde, kann diese als innerbiblisches Kriterium für die Bewertung pluraler ethischer Standpunkte verwendet werden. Ähnlich gilt auch für die historisch zu beobachtende sekundäre Theologisierung des menschlichen Rechts, dass diese zwar illustriert, dass biblisch-ethische Positionen nicht jenseits der rationalen Reflexion entstanden sind und ihre Gültigkeit nicht erst aufgrund der göttlichen Autorität erlangen. Gleichwohl ist die historische Genese der ethischen Positionen kein hinreichender Grund für die Begründung der ethischen Autorität der Texte. Diese besteht aufgrund ihrer Zustimmungsfähigkeit durch die Vernunft und auch jenseits dessen, auf welche Weise eine ethische Position präsentiert wird. So ist es für die Frage der Gültigkeit des biblisch präsentierten Wertes irrelevant, ob er als Wille Gottes präsentiert wird oder nicht. Entscheidend ist, dass es sich um einen Wert handelt, der zustimmungsfähig ist, wobei die Zustimmungsfähigkeit sich auch ändern kann. Insofern ist festzuhalten, dass biblische Texte ihre ethische Bedeutung dadurch erhalten, dass sie verantwortet gelesen werden. Zu einer verantworteten rationalen Lektüre der Bibel gehört dann auch, dass die Texte hermeneutisch verantwortet und methodisch erschlossen in ihrem historischen Kontext gelesen werden.
2. Ethische Bibellektüre: Methodisch-hermeneutische Vorüberlegungen
Wie im Überblick über exegetische Zugänge und interdisziplinäre Bemühungen zu Fragen einer biblischen Ethik1 und zu jeweiligen hermeneutischen Strategien in der systematisierenden Zwischenbilanz (Kapitel 1) deutlich wurde, wird der Wert biblischer Texte in ethischen Fragen zum einen sowohl von exegetischer als auch moraltheologischer Seite jenseits des Präskriptiven in ihrer Fremdheit gesehen. Diese wird als historische und kulturelle aufgefasst. Oft begegnet die Metapher des biblischen Textes als Gesprächspartner in einem Dialog, der Anregungen gibt bzw. als Spiegel ermöglicht, die eigene Situation verfremdet und aus einer neuen Perspektive zu sehen. Diese Verfremdung und der damit ermöglichte Perspektivwechsel erlaubten eine klarere ethische Analyse der jeweiligen Situation, die wiederum zur Handlung führen kann. Zum anderen betonen sowohl Exegese als auch theologische Ethik, dass der historischen Situativität der biblischen Texte bei ethischen Überlegungen Rechnung getragen werden muss. Es gehört zum Selbstverständnis der Exegese, die Texte auch in ihrem Entstehungskontext zu verorten. Für die theologische Ethik gehört zu einer vernunftgeleiteten Betrachtung der Heiligen Schrift gleichermaßen auch ihre historische Rekontextualisierung. An dieser Stelle soll nun der Frage nachgegangen werden, ob die ethische Relevanz biblischer Texte, die in ihrer Fremdheit ethisch bedeutsam werden können, nicht nur durch ihren historischen und kulturellen Abstand ermöglicht wird, sondern darüber hinaus in ihrer Literarizität zu suchen ist, nämlich darin, dass biblische Texte als Literatur (fremde) Textwelten eröffnen, die eine Distanzierung des Lesenden von sich selbst erlauben. Ganz grundsätzlich ist zu überlegen, „inwiefern Literatur dank ihrer fiktiven Beschaffenheit Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns eröffnet, die fremde, neue und alternative Deutungs- und Wahrnehmungsoptionen sichtbar machen. […] Ethik wäre dann nicht als eine dem
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In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf verwiesen, dass biblische Ethik als Ethik des guten Lebens zu verstehen ist (vgl. Hiller 2000, 50–56).
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Ethische Bibellektüre
Text äußerliche Kategorie zu denken, sondern der poetischen und poetologischen Struktur des literarischen Textes inhärent.“2 Gleichzeitig ist zu fragen, ob und inwiefern sich biblische Texte, denen aus gläubiger Perspektive zugeschrieben wird, Offenbarung zu sein, von anderer Literatur in ihrer Normativität unterscheiden und wie auch ihre Geschichtlichkeit ernst genommen werden kann. In der Vergangenheit wurde Paul Ricœur immer wieder als „Gesprächspartner“ der Theologie betrachtet. Auch hier sollen seine philosophischen hermeneutischen Überlegungen den Ausgangspunkt für die genannten Fragen bilden. Dabei soll es weder um eine reine Applikation seiner Gedanken auf die biblisch-ethische Hermeneutik gehen noch um einen Gesamtentwurf biblischer Ethik, vielmehr soll den hermeneutischen Impulsen nachgegangen werden, die seine Ausführungen geben können. Als wegweisend werden sich zum einen seine Überlegungen zur Texthermeneutik und zur Vorstellung der Welt des Textes und zum anderen die zur Metapher des Zeugnisses für die Vorstellung von Offenbarung erweisen.3 So erlaubt das Konzept der Welt des Textes zu präzisieren, inwiefern sich in der Lektüre durch ein für seine Lektüre Verantwortung übernehmendes Subjekt neue Handlungsperspektiven eröffnen, ein Text also seine ethische Bedeutung entfaltet, während der Begriff des Zeugnisses ermöglicht, Offenbarung zu denken und der historischen Situiertheit der Texte Genüge zu tun. Angeregt durch den gegenwärtigen Diskurs in der Exegese (Kapitel 1) soll vor dem Hintergrund der Philosophie Paul Ricœurs, seinem Konzept der Welt des Textes (2.1) und seinem Zeugnis-Begriff (2.2) ein Programm einer ethischen Bibellektüre entworfen werden. Dabei werden zunächst philosophische Überlegungen von Paul Ricœur zur Hermeneutik des Textes (2.1.1) und zum Zeugnis-Begriff (2.2.1) vorgestellt und in eine Reflexion über die ethische Bedeutung biblischer Texte überführt (2.1.2 und 2.2.2). Kapitel 2.3 entfaltet schließlich das Programm einer ethischen Bibellektüre in hermeneutischer und methodischer Hinsicht, das beispielhaft an Psalm 34 angewendet wird. Kapitel 2.4 begründet die Wahl von Psalm 34.
2.1 Die Welt des Textes – Möglichkeitsraum des ethischen Handelns 2.1.1 Die Hermeneutik des Textes bei Paul Ricœur In seinem Aufsatz Philosophische und theologische Hermeneutik (1974) reflektiert Paul Ricœur aus philosophischer Perspektive über den Beitrag einer philosophi-
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Öhlschläger 2009, 11; vgl. Gies 2016a. Vgl. hier die Dissertation von Veronika Hoffmann 2007, die die Metapher des Zeugnisses in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zum Begriff von Offenbarung stellt.
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schen Hermeneutik zur Theologie. Er erläutert dabei zunächst seinen Begriff des Textes und macht dann Ausführungen zur biblischen Hermeneutik und zu den biblischen Texten als Offenbarung. In seinen philosophischen Ausführungen zur Hermeneutik des Textes unterscheidet Paul Ricœur im ersten Teil des Aufsatzes vier Ebenen: Der Text als Übergang von Rede zu Schrift; der Text als strukturiertes Werk; der Text als Entwurf einer Welt und der Text als Ermöglichung des Sich-Verstehens. 1. Während die Rede ein Ereignis, der Akt eines Subjektes ist und sich auf Wirklichkeit bezieht, existiert der Text nur virtuell und richtet sich an ein anderes Subjekt, das prinzipiell jede Person sein könnte, die lesen kann. Mit der schriftlichen Fixierung wird der Text gegenüber der Intention des Autors, die hinter dem Text liegt, autonom. „Diese erste Modalität von Autonomie ermutigt uns dazu, der Verfremdung eine positive Bedeutung zuzuerkennen, […] dank der Schrift kann die ‚Welt‘ des Textes die Welt des Autors zerbrechen.“4 Mit dieser Verfremdung geht einher, dass sich der Text nicht nur von den psychologischen Bedingungen löst, also von der Intention des Autors, sondern auch von den psychosozialen Bedingungen seines Entstehens. Diese Loslösung von dem ursprünglichen Entstehungskontext mit seinem soziokulturellen Setting ist nach Paul Ricœur die Bedingung der Möglichkeit, dass der Text sich im Akt des Lesens wieder in ein neues Setting einfügen kann.5 Diese Ausführungen scheinen für einen Exegeten und eine Exegetin, für die zuallererst gilt, dass Texte auch und in erster Linie von ihrem Entstehungskontext zu verstehen sind, zunächst unerträglich. Sie erklären aber zum einen, warum es gerade ein großer Aufwand ist und genauester Analyse bedarf, den Entstehungshintergrund eines Textes zu rekonstruieren, und verweisen genauso auf den Kon struktionscharakter und die Unvollständigkeit auch jeder Rekonstruktion, mahnen also insofern zu noch größerem Bestreben nach Objektivität in jeder historischen Rückfrage. Zum anderen ermöglicht diese Grundkonzeption von Paul Ricœur, den Blick auf das zu lenken, was für die Frage danach, wie Texte ethisch bedeutsam werden können, relevant ist. Dies wird auf der dritten und vierten Ebene der Ausführungen Paul Ricœurs zu suchen sein. Zunächst also gilt es festzuhalten, dass die Verfremdung der Rede im Text konstitutiv für jedes Verstehen ist und dieses bedingt. 2. Auf der zweiten Ebene betrachtet Paul Ricœur den Text als Werk in dreifacher Hinsicht. Als Werk ist er ein strukturiertes Ganzes. Er ist einer kodifizierten Form unterworfen, lässt sich also einer bestimmten literarischen Gattung zuordnen. Die besondere Gestaltung, die ein Werk erhält, bezeichnet Paul Ricœur als Stil. Im Werk wird die Rede verobjektiviert und ist so auch einer strukturalen Analyse zugängig.6
4 Ricœur 1974a, 28. 5 Vgl. Ricœur 1974a, 28. 6 Vgl. Ricœur 1974a, 29–31.
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3. Paul Ricœur führt sodann als drittes den Begriff der Textwelt ein. Dazu unterscheidet er mit Gottlob Frege Sinn und Verweisungsbezug (auch Bedeutung oder Referenz7) einer Aussage. Während der Sinn einer Rede dieser Rede immanent ist, greift der Verweisungsbezug über die Rede hinaus, ist aber allen Gesprächsteilnehmern klar einsichtig: Der Verweisungsbezug der Rede „ist ihr Wahrheitsanspruch, ihr Anspruch, die Wirklichkeit zu erreichen“8. Mit der Textwerdung der Rede ist der Verweisungsbezug zur realen Welt nicht mehr eindeutig gegeben, wird somit aufgehoben: „Die Rolle des größten Teils unserer Literatur scheint geradezu darin zu bestehen, die Welt zu zerstören.“9 Trotzdem erreicht auch der fiktive Text Wirklichkeit, allerdings nach Paul Ricœur auf einer fundamentaleren und grundsätzlicheren Ebene als die Rede. Diese zweite Verfremdung neben der Enteignung des Textes von der Intention des Autors ist die Bedingung der Möglichkeit, dass neben des in der Rede gegebenen ersten Verweisungsbezuges „ein sekundärer Verweisungsbezug freigelegt werde, der die Welt nicht mehr nur als Bereich verfügbarer Gegenstände erreicht, sondern als das, was Husserl ‚Lebenswelt‘ und Heidegger ‚In-der-Welt-Sein‘ nennt.“10 Aufgabe der Hermeneutik ist nach Paul Ricœur daher weder – so die Überlegungen auf der ersten Ebene –, die hinter dem Text verborgene Intention des Autors aufzudecken, noch – so die Überlegungen auf der zweiten Ebene – sich auf 7 Der Originaltitel bei Gottlob Frege lautet „Über Sinn und Bedeutung“. Für das deutsche Wort Bedeutung verwendet Paul Ricœur im Französischen référence, was wiederum in der deutschen Übersetzung mit Bedeutung, Referenz oder Verweisungsbezug wiedergegeben wird; vgl. auch Ricœur 1974b, 49; Ricœur 1986b, 210–212. Die Ausführungen Paul Ricœurs können der mittleren Phase seines Schaffens zugeordnet werden. In seinem späteren Werk lassen sich Verschiebungen erkennen: „Ricœur bekennt jedoch später, er habe in seiner Eile, den Wirklichkeitsbezug von (fiktionalen) Texten und Metaphern herauszustellen, die Rolle des Lesers unterschätzt. Erst in Zeit und Erzählung wird er deutlicher der Tatsache Rechnung tragen, dass die ‚Welt des Textes‘ zugleich auch die ‚Welt des Lesers‘ ist, und in diesem Zusammenhang die Komplementarität von Sinn und Bedeutung/Referenz als ungeeignet aufgeben.“ (Hoffmann 2007, 106–107). Vgl. Paul Ricœur im Vorwort der lebendigen Metapher: „Nun zeigt aber die narrative Theorie mit größerer Präzision, daß der Übergang von der Welt des Textes zur wirklichen, von den Menschen bewohnten Welt eine spezifische Vermittlung voraussetzt: das Lesen. Im Akt des Lesens, den Wolfgang Iser so gut beschrieben hat, und allgemeiner im Prozeß der Textrezeption im Sinne von H. R. Jauss begegnen sich die Welt des Textes und die Welt des Lesers, verschmelzen manchmal, geraten manchmal miteinander in Konflikt, überschneiden einander jedoch auf die eine oder die andere Weise.“ (Ricœur 1986a, VIII). Die Neubeschreibung der Wirklichkeit erfolgt also nicht allein durch die (sekundäre) Referenzfunktion des Textes, sondern muss vom Leser vollzogen werden. Ricœur verwendet dafür später den Begriff der „Refiguration“ (vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung III: Die erzählte Zeit. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München (Übergänge 18/III), 1991, 254). Zur Bedeutung des Textes gehört – in Anschluss an Überlegungen von Hans Robert Jauss – auch die Interpretationsgeschichte des Textes dazu (vgl. Hoffmann 2007, 153). 8 Ricœur 1974a, 31. 9 Ricœur 1974a, 31. 10 Ricœur 1974a, 31; vgl. Ricœur 1974b, 53: „In der Sprache, in der ich mich hier ausdrücke, könnte ich sagen, daß die Dichtkunst die Wirklichkeit nur nachahmt, indem sie sie auf der mythischen Ebene der Rede neu schafft. Auch hier gehen Fiktion und Neubeschreibung zusammen; es ist die heuristische Funktion, welche die entbergende Funktion der dichterischen Sprache trägt.“
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eine strukturalistische Analyse des Werkes zu beschränken, sondern Aufgabe der Hermeneutik ist, „die Weise des vor dem Text entfalteten In-der-Welt-Seins darzustellen […]. Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen.“11 Es ist also die Fiktion, die die Wahrnehmung von Wirklichkeit verfremdet, indem sie eine eigene Welt konstituiert. In der alltäglichen Welt, auf die der primäre Verweisungsbezug der Rede gerichtet ist, werden durch die Welt des Textes, auf die der sekundäre Verweisungsbezug des Textes gerichtet ist, „neue Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins eröffnet. Fiktion und Poesie zielen auf das Sein, jedoch nicht im Modus des gegebenen Seins, sondern im Modus des Seinkönnens.12“ Durch die mit dem Text eröffneten Möglichkeiten kann die reale Welt verändert werden. Insofern bietet der Text Handlungsoptionen und wirkt wieder auf die Realität zurück. Im Zusammenhang seiner Metaphern-Theorie baut Paul Ricœur diese Idee in Anschluss an Aristoteles weiter aus. Demnach ist die Dichtung „eine Nachahmung der menschlichen Handlungen, doch diese mimēsis ist durch die Erfindung einer Fabel, einer Handlung vermittelt, die Züge der Komposition und der Ordnung aufweist, die in den Dramen des Alltagslebens fehlen“13. Das Verhältnis von mythos und mimēsis in der tragischen poiēsis ist das von heuristischer Fiktion und Neubeschreibung, nicht Abbildung. Der mythos lässt durch seine Ordnung und Struktur das erkennen, was uns die unmittelbare Betroffenheit in der Realität nicht erkennen lässt. Damit hat der mythos eine heuristische Funktion. Die mimēsis bezieht sich nicht auf die Referenz erster Ordnung, auf Bedeutung in der Alltagswelt, sondern enthält eine Referenz zweiter Ordnung, bezieht sich damit auf „einen weniger bekannten Bereich – das Menschliche“14. Das Menschliche ist für den Menschen insofern der weniger bekannte Bereich, als ihm die Alltagswelt keine distanzierte Analyse von sich selbst gestattet, da er in diese unmittelbar involviert ist und alle Geschehnisse als Einzelgeschehnisse nur Grundlage der Abstraktion für das Allgemeinmenschliche sein können. „Das hob Aristoteles durch das folgende Paradox hervor: die Dichtung ist wesensnäher als die Geschichte, die es mit dem Akzidentellen zu tun hat.“15 Was das Diktum des Aristoteles mit „wesensnäher“ beschreibt, bezeichnet Paul Ricœur mit dem von Martin Heidegger entlehnten Begriff des In-der-Welt-Seins für die grundlegende Ebene von Realität. Durch den mythos erkennt der Mensch das Menschliche, damit sich selbst, und er erschließt sich eine fundamentalere Ebene des Seins. Über die grundsätzlichere Textwelt,
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Ricœur 1974a, 32; vgl. Ricœur 1986b, 215. Ricœur 1974a, 32. Ricœur 1986b, 235. Ricœur 1986b, 235. Ricœur 1986b, 235. Paul Ricœur müsste sich auf die folgende Stelle der Poetik des Aristoteles beziehen: διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ’ ἱστορία τὰ καθ’ ἕκαστον λέγει. „Deshalb ist philosophischer und ernsthafter Dichtung als die Geschichte. Denn die Dichtung sagt mehr das Allgemeine, die Geschichte aber das Einzelne.“ (Aristoteles, Poetik 1451b)
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die Distanz gegenüber der alltäglichen Wirklichkeit aufbaut, eröffnen sich neue Möglichkeiten, neue Aspekte der Alltagswelt. 4. Bei der vierten Dimension des Textes bezieht sich Paul Ricœur auf die Subjektivität des Lesers. Der Text ist die Vermittlung, „durch welche wir uns selbst verstehen“16. Wie die Rede sich an ein Gegenüber richtet, so verlangt auch ein Text nach einem Leser. Es ist am Leser, sich den Text anzueignen bzw. ihn auf die gegenwärtige Situation anzuwenden. „Was ich mir schließlich aneigne ist ein Entwurf von Welt.“17 Dieser Entwurf von Welt befindet sich vor dem Text als grundlegendere Ebene der Wirklichkeit; darum spricht Paul Ricœur vom Verstehen des Textes als Sich-Verstehen vor dem Text. Für den Leser bedeutet dies, „sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenz entwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs“18. Paul Ricœur geht hier so weit zu sagen, dass nicht das Subjekt, der Leser, das Verstehen des Textes konstituiert, sondern „das Selbst wird durch die ‚Sache‘ des Textes konstituiert. […] Wie die Textwelt nur in dem Maße wirklich ist, als sie fiktiv ist, gelangt die Subjektivität des Lesers zu sich selbst nur in dem Maße, als sie in die Schwebe versetzt, aus ihrer Wirklichkeit herausgelöst und in eine neue Möglichkeit gebracht wird, wie die Welt selbst, die der Text entfaltet.“19 Wenn die Welt des Textes eine fundamentalere Art des In-der-Welt-Seins darstellt, dann gelangt der Leser nur durch den Text als Entwurf von Welt, durch den er sich aus seiner Alltagswelt löst, zu sich selbst. Das eigentliche Selbst erreicht der Leser, indem er die wirkliche Welt verlässt. Auch hierbei handelt es sich also um eine Verfremdung. Der Leser entfremdet sich von sich selbst, eignet sich aber durch diese Enteignung sich selbst an. Ohne diese Entfremdung und Verwandlung könnte der Leser sich nicht verstehen. Er versteht sich vor dem Text. Der Akt des Sich-Verstehens vor dem Text schließt mit Paul Ricœur eine Kritik der Illusionen des Subjektes ein.20 Die Selbstdarstellung der Welt des Textes korrigiert das, was das Subjekt über die Wirklichkeit annimmt. Diesen Schritt im Interpretationsprozess bezeichnet Paul Ricœur als „Aneignung“: „Unter Aneignung verstehe ich, dass die Interpretation eines Textes sich in der Selbstinterpretation eines Subjektes vollendet, das sich von nun an besser versteht, anders versteht oder zumindest sich zu verstehen beginnt. Diese Vollendung des Textverstehens in einem Selbstverstehen kennzeichnet die Art von Reflexionsphilosophie, die ich verschiedentlich konkrete Reflexion genannt habe.“21 Durch die Lektüre des Textes kann das Subjekt sich selbst verstehen. Für Paul Ricœur ist dies sogar der einzig
16 Ricœur 1974a, 33. 17 Ricœur 1974a, 33. 18 Ricœur 1974a, 33. 19 Ricœur 1974a, 33. 20 Vgl. Ricœur 1974a, 44. 21 Ricœur, Paul: Qu’est-ce qu’un texte? In: Paul Ricœur: Du texte à l’action. Essais d’hermeneutique II. Paris 1986, 153–178, hier: 170 in deutscher Übersetzung von Hoffmann 2007, 103, vgl. Ricœur 2005a, 99.
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mögliche Weg der Selbsterkenntnis: „Das Selbst erkennt sich nicht unmittelbar, sondern nur indirekt, über den Umweg über verschiedene kulturelle Zeichen.“22 Die Identifikation mit einem anderen, der Figur der Erzählung, ist notwendig, um zur Selbstidentifikation zu gelangen. „Sich eine Figur durch Identifikation aneignen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden.“23 Neben die Verfremdung von Rede und Alltagswelt tritt damit als dritte Verfremdung die des Lesers. Im zweiten Teil seines Aufsatzes Philosophische und theologische Hermeneutik (1974) wendet sich Paul Ricœur der biblischen Hermeneutik zu. Für ihn besteht „das Besondere des biblischen Wortes und der biblischen Schrift neben allen anderen Worten und Schriften […] nicht in der Beziehung von Wort und Schrift als solcher […]. Ihre Besonderheit liegt vielmehr in der ‚Sache‘ des Textes“24. Die Formen biblischer Rede sind nicht von ihrem Inhalt, der Rede von Gott, zu trennen. Die polyphone Sprache, die zu Spannungen in der Rede von Gott führt, macht Gott auf verschiedene Weise sichtbar. Die Spannungen sind also von theologischer Bedeutung. Gleichzeitig ist Gott der Einheit stiftende Punkt der verschiedenen Reden.25 Der Abschluss des Kanons führte schließlich dazu, dass ein Interpretationsraum entstanden ist, der durch alle Redeformen eröffnet wird. Offenbarung ist für Paul Ricœur hierbei ein literarischer Begriff: „Wenn man die Bibel offenbart nennen will, so muß das von der ‚Sache‘ her gesagt sein, die sie sagt, von dem neuen Sein, das sie entfaltet. Ich würde es wagen, die Bibel offenbart zu nennen, insofern das neue Sein, von dem sie redet, für die Welt, für die gesamte Wirklichkeit einschließlich meiner Existenz und meiner Geschichte offenbarend ist.“26 Der literarische Text ist offenbart, insofern er wirklichkeitserschließend ist. Dies schließt mit Paul Ricœur auch explizit die ethische Bedeutung der bi blischen Texte ein: Die Welt der Bibel „betrifft den Menschen in den vielfältigen
22 Ricœur 2005b, 222. 23 Ricœur 2005b, 223. 24 Ricœur 1974a, 36. Hierbei ist zu beachten, dass Paul Ricœur die Wendungen „Welt des Textes“ und „Sache des Textes“ synonym gebraucht. 25 Dies ist laut Paul Ricœur der entscheidende Unterschied zu „Gott“ im philosophischen Sinn des Wortes, dem zufolge Gott der Begriff des Seins ist. In der biblischen Rede besagt das Wort „Gott“ alles, wovon die biblischen Texte erzählen, also Rettung, Verheißung, Heil. Dasselbe gilt für Paul Ricœur auch vom Wort „Christus“. „Die Predigt des Kreuzes und der Auferstehung vermag dem Wort Gott eine Dichte zu geben, die das Wort Sein nicht in sich schließt. Ihre Bedeutung enthält den Begriff seiner Beziehung zu uns als Beziehung der Gnade und unsere Beziehung zu ihm als ‚unbedingt Angegangene‘ und vollkommen ‚Dankbare‘.“ (Ricœur 1974a, 42). Man kann hierin auch das Plus der biblischen Schriften im Vergleich zu einer vernünftig-normativen ethischen Reflexion sehen. 26 Ricœur 1974a, 40. Veronika Hoffmann betont, dass der von Paul Ricœur entwickelte Offenbarungsbegriff aus theologischer Perspektive unterbestimmt bleibt: „Vor allem aber bedeutet diese Akzentuierung der ‚Sache des Textes‘, dass ‚Offenbarung‘ in Ricœurs Hermeneutik keine Kategorie darstellen kann, die rückwärtsgewandt die Autorität der Bibel aus der Besonderheit ihrer Entstehung ableitete, sondern die Welt betrifft, welche die Bibel vor sich entwirft.“ (Hoffmann 2007, 108).
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kosmologischen und weltgeschichtlichen Dimensionen seines Daseins ebenso wie in seinen anthropologischen, ethischen und personalen Dimensionen.“27 Die Wirklichkeit, die durch den Text in der alltäglichen Wirklichkeit eröffnet wird, ist „die Wirklichkeit des Möglichen“28. Diese Möglichkeit betrifft vor allem das ethische Tun des Menschen.
2.1.2 Das ethische Potential biblischer Texte Das von Paul Ricœur beschriebene Textverständnis ermöglicht, die in der gegenwärtigen Diskussion zur ethischen Bedeutung biblischer Texte vertretenen Positionen, die ihre Bedeutung jenseits des Präskriptiven sieht, näher zu bestimmen. Gleiches gilt für die Einschätzungen, die die biblischen Texte als Gesprächspartner oder Spiegel betrachten und ihren Wert gerade in ihrer Fremdheit der Gegenwart gegenüber suchen. Legt man die Texthermeneutik Paul Ricœurs zugrunde, wird deutlich, dass die Fremdheit der biblischen Texte nicht nur in ihrer historischen und soziokulturellen Distanz begründet liegt, sondern viel grundsätzlicher in ihrer Eigenart als literarische Texte.29 Als Texte sind die biblischen Texte per se Verfremdung der Wirklichkeit. Sie eröffnen mit Paul Ricœur „neue Möglichkeiten des In-derWelt-Seins“30, die der Leser in der Lektüre erkundet und erprobt. Die Verfremdung der Wirklichkeit im (biblischen) Text erlaubt fundamentalere Einsichten in die Wirklichkeit und kann so auch auf die Gegenwart des Lesers zurückwirken. Historische und soziokulturelle Distanz sind dabei die augenscheinlichsten Verfremdungen. Den biblischen Texten kommt damit eine heuristische Funktion zu. Über die Verfremdung erlauben sie Einblicke in grundsätzliche Strukturen und eine Distanzierung des Lesers von seiner unmittelbaren Betroffenheit in der Alltagswelt, um das Allgemeinmenschliche zu erkennen. Eine Rückwirkung auf die Realität und die gegenwärtigen Lebensumstände des Lesers ist nur durch ihn möglich. Er muss sich den Entwurf von Welt aneignen und ihn anwenden.31 Hier ist auch der Ansatzpunkt, wie autonome Vernunft und Handlung des Menschen im Zusammenhang mit dem Text in Verbindung treten. Die Aneignung des Textes ist kein Automatismus, sondern liegt im Leser begründet. Darüber hinaus muss die Aneignung des Textes verantwortet werden.
27 Ricœur 1974a, 41. 28 Ricœur 1974a, 41. 29 Das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität biblischer Texte muss gesondert bestimmt werden. Hierbei geht es darum, dass eine dichotomische Gegenüberstellung von Geschichtsschreibung und Erzählung der Komplexität des Verhältnisses nicht gerecht wird. Auch Geschichtsschreibung zeigt Elemente des Fiktionalen, ebenso wie auch fiktionale Texte sich realer und historischer Elemente bedienen können (vgl. Müllner 2008). 30 Ricœur 1974a, 32. 31 Vgl. Ricœur 1974a, 33.
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Die Welt des Textes verlangt vom Leser eine Bewertung und stellt ihn vor die Frage, ob er dem, was ihm in ihr begegnet, den Handlungsoptionen, die ihm vorgestellt werden, vernünftigerweise zustimmen kann, oder auch, ob er in Abgrenzung von ihr zu einem eigenen (ethischen) Standpunkt gelangen kann. Nach Paul Ricœur wird das Selbst des Lesers durch die Sache des Textes konstituiert. Der Text hält dem Leser also gleichsam einen Spiegel vor, in dem der Leser sich selbst verstehen und erkennen kann. In den Worten Paul Ricœurs: Der Leser versteht sich vor dem Text. So führt die Aneignung des Textes letztlich zum Selbstverstehen des Lesers. Dieses Selbstverstehen ermöglicht dem Leser, in der realen Gegenwart (anders) zu agieren. Eine ethische Identität – in Abwandlung des Ricœur’schen Begriffs der narrativen Identität32 – entsteht, indem wir Texte lesen, in denen wir uns selbst und unsere Handlungsmöglichkeiten wiedererkennen und diese umsetzen: Im „irrealen Bereich der Fiktion erforschen wir unablässig neue Bewertungsweisen für Handlungen und Figuren. Die Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen. Etwas umzuwerten, möglicherweise sogar abzuwerten bedeutet immer noch, es zu bewerten. Das moralische Urteil ist nicht abgeschafft, es ist vielmehr selbst den der Fiktion eigenen imaginativen Variationen unterstellt.“33 Insofern also liegt das ethische Potential biblischer Texte nicht in ihrer expliziten Normativität und ist nicht nur in den entsprechenden Textgattungen zu suchen. Allen biblischen Texten kommt als literarischen Texten ethische Bedeutung zu, insofern sie auf eine grundlegendere Ebene von Wirklichkeit verweisen und so alternative Deutungs- und Handlungsoptionen auch in der gegenwärtigen Situation eröffnen. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, wie sich biblische Texte von anderen literarischen Texten unterscheiden. Das neue Sein, von dem Paul Ricœur spricht, werde „vor dem Text entfaltet“34. Insofern bleibt der Ricœur’sche Offenbarungsbegriff einer, der den Offenbarungscharakter aller literarischen Texte beschreibt. Die Konkretheit der Texte, die in einer bestimmten historischen soziokulturellen Situation haften und auf diese referieren, kann damit nicht gefasst werden; „vor allem aber führte diese Beschränkung der Referenz der Bibel auf die Referentialität zweiter Ordnung zu einer Marginalisierung der Verankerung der biblischen Offenbarung in konkreter Geschichte.“35 Der von Paul Ricœur entfaltete Begriff des Zeugnisses ermöglicht, auch die Geschichtlichkeit biblischer Texte hermeneutisch zu reflektieren.36
32 Nach Paul Ricœur wird die ethische Identität durch die Selbst-Ständigkeit figuriert. Selbst-Ständigkeit bedeutet, dass eine Person sich so verhält, dass der Andere auf sie zählen kann. Die Person ist Rechenschaft schuldig, also verantwortlich (vgl. Ricœur 1996, 202–203). 33 Ricœur 1996, 201. 34 Ricœur 1974a, 40. 35 Hoffmann 2007, 114. 36 Vgl. Hartenstein 2013; Werbick 2015; Gies 2016b; Gies 2018; Schnocks 2018.
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2.2 Das Zeugnis – Konkretion im Wirklichen 2.2.1 Die Zeugnismetapher bei Paul Ricœur In seinem Aufsatz Die Hermeneutik des Zeugnisses (1972) fragt Paul Ricœur nach einer Philosophie, die die Idee des Absoluten mit der Erfahrung des Absoluten verbinden will. Er greift zu diesem Zweck auf die Hermeneutik des Zeugnisses von Jean Nabert37 zurück und entwickelt diese weiter. Dabei zielt die Hermeneutik des Zeugnisses darauf, die Innerlichkeit der Urbejahung des Selbstbewusstseins, die auf eine absolute Bejahung des Absoluten verweist, mit der Äußerlichkeit der Handlungen und Existenzen, die das Absolute bezeugen, zu verbinden. Dafür unterzieht Paul Ricœur den Begriff des Zeugnisses einer semantischen Analyse mit dem Ziel, das Zeugnis nicht nur als juristische oder historische, sondern als philosophische Kategorie auszuweisen, und vergleicht diesen Zeugnisbegriff mit der Bedeutung des Zeugnisses im biblischen Sinn. 1. Für das Zeugnis im alltagssprachlichen Sinn erkennt Paul Ricœur drei Sinnebenen: Den quasi-empirischen Sinn, den quasi-juridischen Sinn und den quasimartyrologischen Sinn.38 Das Zeugnis hat quasi-empirischen Sinn, weil es zwar auf ein empirisches Ereignis bezogen ist, aber dieses nur im Bericht des Zeugen begegnet. Das Zeugnis ist nicht die Erfahrung selbst, gründet aber in dieser. Dem, der das Zeugnis hört, obliegt es, an die Wirklichkeit des Zeugnisses, der Tatsachen, von denen der Zeuge berichtet, zu glauben oder nicht. Damit steht das Zeugnis „im Dienst des Urteils“39 und dient dazu, eine Wahrheit zu belegen, geht damit also über die reine Informationsebene hinaus. Dies deutet bereits auf den quasi-juridischen Sinn des Zeugnisses hin. Sitz im Leben des Zeugnisses ist der Prozess, in dem es als Beweismittel dient. Das Zeugnis verweist auf eine Instanz, die eine gerichtliche Entscheidung fordert, die zwischen zwei oder mehreren Parteien entscheidet. Daher ist erstens ein Zeugnis per se eine Bezeugung für bzw. gegen etwas oder jemanden. Wahrheit wird über die Auseinandersetzung von gegnerischen Meinungen gesucht. Dies gilt auch für einen historischen Begriff des Zeugnisses, demzufolge ein Zeugnis dazu geeignet ist, ein Argument für oder gegen eine These zu liefern. Zeugnisse dienen als Erzählung der Rekonstruktion von Ereignissen. Insofern gibt es Interferenzen zwischen dem historischen und dem juridischen Zeugnisbegriff. Im Zusammenhang eines
37 Nabert, Jean: Le désir de Dieu. Buch III. Métaphysique du témoignage et herméneutique de l’absolu. Neuauflage Paris 1996. 38 Paul Ricœur selbst verwendet diese Bezeichnung nicht. Sie wurde von Veronika Hoffmann 2008, 125 von Dan R. Stiver (Stiver, Dan R.: Theology after Ricœur: New Directions in Hermeneutical Theology. Westminster 2001, 197) übernommen und begegnet nun im deutschsprachigen Diskurs (vgl. Hartenstein 2013, 42). 39 Ricœur 2008a, 11.
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Prozesses zielt die Bezeugung des Zeugnisses zweitens auf ein Urteil. Dabei dient es drittens als eine Art Beweismittel und ist Bestandteil eines Argumentationsgangs, der überzeugen will. Nimmt man die Rolle des Zeugen, der Zeugnis ablegt, in den Blick, so tritt der quasi-martyrologische Sinn des Zeugnisses zutage. Die Bedeutung des Zeugen lässt sich am besten über das falsche Zeugnis erschließen. Dieses ist nicht einfach eine Aussage, die nicht mit dem Sachverhalt übereinstimmt, sondern „eine Lüge im Herzen des Zeugen“40, denn der Zeuge bürgt mit seiner Person und seiner Existenz für die Wahrheit des Zeugnisses – in letzter Konsequenz mit seinem Leben. Das Lebens-Zeugnis als Martyrium ist weder Argument noch Beweis, insofern die bezeugte Sache nicht zwingend gerecht sein muss, aber es zeigt, wie ultimativ Zeuge und Zeugnis miteinander verwoben sind. Mit dem Begriff Zeugnis wird dann auch nicht mehr ein Sprechakt, sondern eine Handlung bezeichnet, die die innere Überzeugung eines Menschen, eines wahrhaftigen Zeugen, veräußerlicht. 2. Paul Ricœur untersucht nun in einem weiteren Schritt, wie der religiöse bzw. biblische Sinn des Zeugnisses in diese Semantik eindringt und sie bereichert, ohne sie aufzuheben: In „dieser semantischen Neufassung wird der profane Sinn nicht einfach aufgegeben; er ist in einer bestimmten Weise bewahrt und sogar erhöht“41. Paul Ricœur entwickelt diesen religiösen Sinn des Zeugnisses anhand prophetischer und neutestamentlicher Texte: Der Zeuge ist – mit Bezug auf Jes 43,8–13; 44,6–8 – derjenige, der gesandt ist. Er bezeugt nicht kontingente Fakten, „sondern den radikalen, umfassenden Sinn der menschlichen Erfahrung; es ist Jahwe selbst, der sich im Zeugnis bezeugt“42. Sein Zeugnis ist auf die Verkündigung ausgerichtet und impliziert das totale Engagement im Opfer des Lebens. Vom profanen Sinn des Begriffes unterscheidet sich der prophetische Sinn in seinem Ursprung, der einer absoluten Initiative entspringt, während die anderen drei Dimensionen erhalten bleiben. So bleibt auch der quasi-empirische Aspekt des Zeugnisses bestehen: Bewahrt wird ein narrativer Kern: „Man kann nicht für einen Sinn zeugen ohne zu bezeugen, dass etwas geschehen ist, das diesen Sinn bezeichnet. […] Es gibt folglich überhaupt keinen Zeugen des Absoluten, der nicht Zeugnis historischer Zeichen wäre, keinen Bekenner des absoluten Sinns, der nicht Erzähler der Befreiungstaten wäre.“43 Neutestamentlich ist das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus „das Zeugnis par excellence“44. Die Sinndimensionen des alltagssprachlichen Zeugnisbegriffes bleiben erhalten: Der Zeuge ist ein Zeuge von Geschehenem. Insbesondere das Lukas-Evangelium gestaltet das Zeugnis als Augenzeugnis, während das JohannesEvangelium den juridischen Aspekt betont. Das Zeugnis ist ein inneres Zeugnis, es ist aber auch ein Zeugnis der Werke, ein Zeugnis des Leidens. 40 41 42 43 44
Ricœur 2008a, 16. Ricœur 2008a, 18. Ricœur 2008a, 19. Ricœur 2008a, 21. Ricœur 2008a, 21.
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3. Schließlich führt Paul Ricœur seine Überlegungen in der Frage nach einer Philosophie des Zeugnisses zusammen. Diese sei möglich als Hermeneutik, als Philosophie der Interpretation. In der Interpretation des Zeugnisses konvergieren der Akt des Selbstbewusstseins der Urerfahrung und der Akt des historischen Verstehens im Blick auf die Zeichen des Absoluten in der Geschichte. So ist das Zeugnis im biblischen Sinn hermeneutisch, insofern es zum einen zu interpretieren gibt und zum anderen eine Interpretation fordert. Der Inhalt des Zeugnisses ist zu interpretieren. Dabei wirkt die Unmittelbarkeit des Absoluten als Ursprung, der nur über die Interpretation vermittelt werden kann. Das Zeugnis fordert eine Interpretation wegen seiner „Dialektik von Sinn und Ereignis“45, von Bekenntnis und Erzählung, wegen der Notwendigkeit, ein Urteil über den Wahrheitsgehalt des Zeugnisses zu fällen, und wegen der Dialektik von Zeuge und Zeugnis. In Bezug auf das endliche Bewusstsein ist die Urbejahung – ein Begriff, den Paul Ricœur von Jean Nabert übernimmt –, in der das Selbstbewusstsein sich konstituiert, ein kritischer Akt, in dem es die Attribute des Göttlichen in der Welt in seiner Innerlichkeit zusammenfügt. Das Göttliche oder Absolute ist weder durch Intuition noch durch absolutes Wissen zugänglich; ins Bewusstsein gehoben werden kann es nur durch die Reflexion des Selbst, das zerstreute göttliche Attribute zusammenführt. Die Identität dieses Urteils mit dem Urteil, das das Zeugnis fordert, ist nicht einfach gegeben, sondern sie muss über die Interpretation herstellt werden: „Es bleibt ein – endlos kleiner werdender – Abstand bestehen zwischen dem reflektierenden Urteil, das in einem gänzlich innerlichen Vorgang die Kriterien des Göttlichen hervorbringt, und dem historischen Urteil, das sich bemüht, in der Äußerlichkeit den Sinn der Zeugnisse zusammenzutragen, die sich ereignet haben.“46 Indem die Zeugnisse mit Realitäten konfrontieren, in denen sich das Absolute im Menschlichen eine konkrete Wirklichkeit gegeben haben kann, wird die „rationale Bearbeitung der Frage, ob sich darin zugleich die höchsten Möglichkeiten des Menschen und seiner Freiheit ankündigen, so dass das Bewusstsein sich affirmieren könnte“47, möglich. Für Paul Ricœur lassen sich Glaube und Offenbarung nicht von Interpretation trennen.48 Offenbarung ist nicht anders erreichbar als über die langen Wege 45 46 47 48
Ricœur 2008a, 32. Ricœur 2008a, 35. Werbick 2015, 213–214. Vgl. auch im Folgenden Hoffmann 2008, 134. Hoffmann 2007, 222–230 versteht in Anlehnung an Paul Ricœur den Begriff des Zeugnisses als Metapher für die Offenbarung. Das Zeugnis ist nicht Zeugnis von der Offenbarung, sondern es ist Zeugnis der Offenbarung. Sprachlich vermittelter Sinn und geschichtliches Ereignis fallen im Zeugnis zusammen. Eine vorschnelle Unterscheidung zwischen ewigen Wahrheiten und zeitbedingter Einkleidung ist nicht möglich, d. h. die Vermittlung ist konstitutiv. Allerdings entzieht sich diese, so dass das Zeugnis interpretiert werden muss. Auch die Interpretation ist dem Zeugnis nicht äußerlich, sondern dieses gibt zu interpretieren. Vgl. Hoffmann 2009, 80–84.
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der Interpretation. Der Zeugnisbegriff ermöglicht, biblische Texte als literarische Texte zu denken, die eine Welt nach vorne entwerfen, und sie als einen hermeneutisch einzigartigen Fall aufzufassen, insofern sie über die polyphonen Nennungen Gottes als Zielpunkt nach oben verweisen.49 Zudem ist es mit dem Zeugnisbegriff auch möglich, die Verankerung der Texte nach hinten zu denken, da es „keinen Zeugen des Absoluten [gibt], der nicht Zeuge historischer Zeichen wäre, keinen Bekenner des absoluten Sinnes, der nicht Erzähler der Befreiungstaten wäre“50. Er ermöglicht also, die Anwesenheit Gottes in der Geschichte zu denken, wie Paul Ricœur auch in Hermeneutik der Offenbarung (1977) ausführt: Der Zeugnisbegriff „führt die Dimension historischer Kontingenz ein, die derjenigen der Welt des Textes fehlt, die absichtlich unhistorisch oder transhistorisch ist“51. Offenbarung kann damit in ihrer Dialektik von Unmittelbarkeit und Entzogenheit gedacht werden: „Für das hebräische Glaubensbekenntnis fallen das Ereignis und der Sinn unmittelbar zusammen. […] Aber dieser Moment der Verschmelzung zerrinnt sogleich wieder. […] Es zeichnet sich also eine Spaltung ab, die eine nie endende Vermittlung des Unmittelbaren erzeugt. Auf diese Weise wird die Interpretation ein erstes Mal vom Zeugnis selbst gefordert.“52 Der Zeugnisbegriff Paul Ricœurs erlaubt, Offenbarung als Selbstbezeugung Gottes zu denken, die sich in Geschichte ereignet. Für dieses Verständnis von Offenbarung ist „die unauflösliche Verwobenheit des Zeugnisses mit den bezeugten Ereignissen und damit der unhintergehbare indirekte Bezug auf konkrete Geschichte(n) konstitutiv“53. Dies hat Implikationen für eine biblisch-ethische Hermeneutik.
2.2.2 Biblische Texte als Zeugnis Die biblischen Texte sind zunächst einmal literarische Texte, die mit Paul Ricœur vor sich eine Welt des Textes entstehen lassen. Als Zeugnis lassen sie aber auch die von Paul Ricœur benannten Sinndimensionen des Zeugnisses, die quasi-empirische, die quasi-juridische und die quasi-martyrologische Ebene erkennen. 1. Dem philosophischen Begriff des Zeugnisses entsprechend fallen im Zeugnis Sinn und Ereignis zusammen; er trägt die historische Kontingenz ein, die mit der Vorstellung von der Welt des Textes nicht zu fassen ist. Möglich wird es so, die Anwesenheit Gottes in der Geschichte zu denken. Hier ist insofern Vorsicht gebo-
49 Vgl. Ricœur 2008b, 69: „Der Entwurf einer Welt, der sich in der biblischen Sprache neue Welt, Neuer Bund, Reich Gottes nennt, ist die ‚Sache‘ des biblischen Textes, die vor dem Text entfaltet wird.“ 50 Ricœur 2008a, 21. 51 Ricœur 2008b, 75. 52 Ricœur 2008b, 78. 53 Hartenstein 2013, 43.
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ten, als mit der Rede von „historischer Kontingenz“54 auf die Geschichtlichkeit der Offenbarung, auf ein göttliches initium rekurriert wird, jedoch dieses nicht mit Historizität verwechselt werden darf. Das Zeugnis ist nicht identisch mit dem Ereignis, sondern es erzählt davon. Dennoch ermöglicht die quasi-empirische Ebene des Zeugnisbegriffs, neben der Vorstellung der von den biblischen Texten eröffneten transhistorischen Welt des Textes, in der Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns eröffnet werden, auch ihre situative Konkretheit zu bedenken, die den Hintergrund der ethischen Vorstellungen und Handlungsangebote bietet. So ist das Zeugnis auf konkrete Erfahrung bezogen, wurzelt also in einem bestimmten soziokulturellen Kontext. Hierbei ist zu bedenken, dass für das Zeugnis diese Konkretheit unabdingbar ist, d. h. im Hinblick auf ethische Fragen ist es nicht möglich, überzeitliche Wahrheiten von Zeitbedingtem zu lösen. Vielmehr sind ethische Vorstellungen stets situativ gebunden.55 Diese Überlegung korreliert damit, dass von Paul Ricœur bereits für die Texthermeneutik festgehalten wurde, dass Form und Inhalt aufeinander bezogen sind. Entgegen einer traditionellen biblischen Ethik, die „allgemeingültige sittliche Gebote“56 und „auf spätere Zeiten und gewandelte Gegebenheiten übertragbaren Forderungen“57 von „besonderen Rechtsbestimmungen“58 und Forderungen, die „zeitbedingt und von kulturgeschichtlichen Vorstellungen der damaligen Epoche abhängig“59 sind, trennt, ist also festzuhalten, dass für eine ethische Lektüre biblischer Texte diese in ihrer situativen Konkretheit mit ihrem soziokulturellen Kontext gelesen werden müssen. Versteht man Offenbarung als Selbstbezeugung Gottes in der Geschichte, sind Zeugnis und Bezeugtes untrennbar miteinander verbunden. Die Unterscheidung zwischen ewigen Wahrheiten und zeitbedingter Einkleidung ist nicht möglich, sondern Vermittlung und der Bezug auf den konkreten Kontext sind konstitutiv. 2. Dem quasi-juridische Charakter von Zeugnissen entsprechend fordern die biblischen Zeugnisse als Offenbarung auch in ethischer Hinsicht ein Urteil. Sie bezeugen durchaus verschiedene ethische Vorstellungen, so dass man davon sprechen könnte, dass sie die Wahrheit und das Gute über die Auseinandersetzung suchen. Es bedarf also bibelexterner Kriterien zur Beurteilung der innerbiblischen Polyphonie. Die unterschiedlichen Konzepte, die in den verschiedenen literarischen Gattungen und Literaturbereichen zutage treten, müssen insofern abgewogen 54 Ricœur 2008b, 75. 55 Vgl. Werbick 2015, 246: Die „konkret-historisch geprägte und literarische Gestalt der Zeugnisse [ist] für die Eruierung des darin Bezeugten nicht als irrelevant anzusehen. […] Das Was der Zeugnisse – das Bezeugte – lässt sich ohne sorgfältige Analyse ihres Wie nicht angemessen bestimmen.“ 56 Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Bonn (VAS 115) 21996, 96. 57 Schockenhoff 22014, 708. 58 Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Bonn (VAS 115) 21996, 96. 59 Schockenhoff 22014, 709.
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werden. Jede dieser ethischen Vorstellungen erfordert für sich ein verantwortetes Urteil. Insofern bieten die biblischen Texte mehr als nur eine Handlungsmotivation für das von der Vernunft als gut Erkannte oder einen transzendenten Horizont, in den ethisches Handeln eingefügt wird. Die biblischen Texte fordern Interpretation und damit auch die Vernunft in ethischen Fragen heraus. Ethische Positionen sind also nicht von vornherein gesetzt, sondern die Lektüren müssen vom Leser verantwortet werden. Daraus folgt auch, dass sich der Heteronomie-Vorwurf gegenüber biblischen Vorschriften auflöst. Wenn Offenbarung immer das Urteil des Subjektes verlangt und dieses für sie konstitutiv ist, wenn die Wirklichkeitserschließung in der Lektüre des autonomen Subjektes als Offenbarung verstanden wird und Offenbarung also subjektivierend gedacht wird, dann kann der Geltungsgrund ethischer Konzepte nicht in ihrer Präsentation als Wille Gottes liegen, sondern nur in der vernünftig verantworteten Lektüre des Lesers. 3. Die ethische Bedeutung der biblischen Texte muss sich schließlich in der Person des Zeugen bewähren. In den biblischen Texten wird der Zeuge hörbar, der dafür bürgt, dass sie auf das Gute ausgerichtet sind. Unter Berücksichtigung der Texthermeneutik Paul Ricœurs wird deutlich, „daß der Übergang von der Welt des Textes zur wirklichen, von Menschen bewohnten Welt eine spezifische Vermittlung voraussetzt: das Lesen.“60 Dies gilt auch für die Aktualisierung des Zeugnisses. Seine ethische Relevanz entscheidet sich daran, ob es möglich ist, mit ihm auch in der Gegenwart so umzugehen, dass die bezeugte Sache als gerecht erscheint. Das Zeugnis verlangt nach Handlungen, die es bewahrheiten und die innere Überzeugung zum Ausdruck bringen. Der Leser, der sie im Hinblick auf ihre ethische Bedeutung beurteilt hat, steht dann in der Verantwortung, sie auch zu realisieren. Jürgen Werbick spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die biblischen Texte semantische Potentiale darstellen: „Die Inanspruchnahme semantischer Potentiale zur Bearbeitung neu sich aufdrängender Herausforderungen spricht ja nicht gegen die dabei jeweils wahrgenommene Zeugnisverantwortung, sondern möglicherweise gerade für sie, insofern hier die pragmatische Referenz des Bezeugten neu hervortreten kann.“61 Auf diese Weise wird das innerliche ethische Urteil in Bezug auf die Zeugnisse veräußerlicht und damit überprüfbar. Die Zeugnisse bedürfen neben der Beurteilungen auch einer „Konkretheit, in der sie sich als vernünftig und tragfähig bewähren können und vergewissert werden müssen – in der sie für die prüfende Vernunft zur Herausforderung werden, dem Wirklichen nach-denkend gerecht zu werden“62. Betrachtet man die biblischen Texte als Zeugnis, so wird deutlich, dass diese zweifach in der Geschichte verankert sind: Sie bezeugen die Wahrheit dessen, was sich konkret ereignet hat. Sie verlangen aber auch danach, dass sich das Zeugnis
60 Ricœur 1986a, VIII. 61 Werbick 2015, 291. 62 Werbick 2015, 207.
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im Leben und der Tat konkretisiert. Ihr ethisches Potential liegt demnach darin begründet, dass sie ethische Konzepte als bewohnbare Welt entwerfen, die rückgebunden an ihren Entstehungskontext sind, dass diese aber – nach kritischer Beurteilung – auch wieder in Realität überführt werden können.
2.3 Programm einer ethischen Bibellektüre und Aufbau der Arbeit Diese Arbeit will aus der Perspektive der alttestamentlichen Exegese ein Programm einer ethischen Bibellektüre und speziell der Psalmen entwerfen, dieses in der konkreten Exegese eines Einzeltextes überprüfen und so das ethische Potential eines Einzeltextes, in diesem Fall Psalm 34, sichtbar machen. Im Folgenden sollen hermeneutische Voraussetzungen einer ethischen Bibellektüre und Implikationen für das methodische Vorgehen vorgestellt werden, um so den Aufbau der Untersuchung von Psalm 34 zu erklären. Das Programm einer ethischen Bibellektüre greift gegenwärtige Trends in Fragen biblischer Ethik auf, grenzt sich aber auch von traditionellen hermeneutischen Verfahren ab. Es führt Überlegungen von Paul Ricœur zur Welt des Textes und zum Begriff des Zeugnisses weiter und bedarf mehrerer hermeneutischer Grundannahmen: 1. Grundsätzlich können alle biblischen Texte als kanonische Texte und als Zeugnis im Hinblick auf ihre ethische Relevanz angefragt werden. Damit geht die Überzeugung einher, dass sich die ethische Bedeutung nicht auf bestimmte Textgattungen, also nicht nur auf explizit-normative Texte beschränkt. Die Form der Texte hat hierbei auch Implikationen für ihren Inhalt – mit Paul Ricœur: Die Frage nach dem ethischen Gehalt der Texte „ist von den Formen der Rede nicht zu trennen“63. So zeigen Dankpsalmen als Lobpreis oft auch narrative Elemente, wenn das betende Ich von der Verfolgung durch Feinde oder der göttlichen Rettung erzählt. Diese Erzählungen werden vor Gott zum Appell, rettend einzuschreiten, oder vor dem Auditorium der versammelten Gemeinde zum Lobpreis. Gleichzeitig sind Psalmen nicht auf die in ihnen enthaltenen Narrationen zu reduzieren, sondern verbinden narrative Elemente mit anderen Redeformen wie denen der Klage oder Bitte. Im Fall von Psalm 34 erzählt und bezeugt das Beter-Ich seine Rettung durch Gott, die im Kontext des Psalms Anlass zur ethischen Reflexion bzw. Unterweisung des Auditoriums bietet. 2. Der Untersuchung eines Einzeltextes liegt auch die Überzeugung zugrunde, dass die biblische Vielfalt – mit Paul Ricœur die „polyphone Sprache“64 – von jeder ethischen Fragestellung berücksichtigt und in den Blick genommen werden muss. Ziel kann nicht sein, allgemeine Grundaussagen zu erheben, sondern die
63 Ricœur 1974a, 37. 64 Ricœur 1974a, 39.
Programm einer ethischen Bibellektüre und Aufbau der Arbeit
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vielfältigen, zum Teil auch widersprüchlichen Positionen zur Sprache zu bringen. So geht die Bewegungsrichtung vom Text mit seiner individuellen Welt des Textes zu seinen ethischen Konzepten und nicht umgekehrt. 3. Im Hinblick auf die ethischen Vorstellungen des Textes soll nicht zwischen zeitlosen, universal gültigen Vorstellungen und zeitgebundenen unterschieden werden. Es gilt, einzelne biblische Texte nicht wegen ihrer Verhaftung im damaligen soziokulturellen Kontext auszuschließen, sondern vielmehr sollen die Konzepte des Textes erschlossen werden, so dass die Welt des Textes als „Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann“65, verstehbar wird. Damit verbunden ist auch die Grundannahme, dass biblischen Texten nicht aufgrund bestimmter Sprachspiele, z. B. der heteronomen Rede vom Willen Gottes oder der Unterweisung durch Gott, ethische Bedeutsamkeit grundsätzlich zu- oder abgesprochen werden kann. Wenn Ethik ein sittliches Subjekt prinzipiell voraussetzt, dann muss es auch seine Lektüren verantworten. 4. Um die Konzepte des biblischen Einzeltextes zu erschließen, erfolgt eine semantische Analyse von Psalm 34, die den Psalm nicht isoliert betrachtet, sondern in seinem primären Bezugsrahmen, dem Psalmenbuch, und im weiteren Sinnraum des Kanons untersucht. Wie die Psalterexegese gezeigt hat, bilden benachbarte Psalmen bewusst komponierte Psalmengruppen. Diese Psalmen können bei einer ethischen Lektüre ins Gespräch gebracht werden. Der Kontext des Psalmenbuches und des Kanons stellt einen Deutehorizont dar, der die ethischen Vorstellungen von Psalm 34 weiter anreichert. So wird speziell auch die Untersuchung von Psalm 34 zeigen, dass diese im biblischen Narrativ vom göttlichen Heilshandeln verankert sind. Gleichwohl wird auch danach gefragt, inwiefern die ethische Bedeutung von Psalm 34 jenseits einer bloßen Motivation zu gutem Handeln aufgewiesen werden kann. 5. Entsprechend der Texthermeneutik und des Zeugnisbegriffs von Paul Ricœur soll hier aus alttestamentlicher Perspektive das ethische Potential von Psalm 34 im Hinblick auf die von ihm konstituierte Welt des Textes und auf seinen sprachlichen und soziokulturellen Kontext untersucht werden. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die deskriptive Erfassung der ethischen Vorstellungen untrennbar mit dem Geltungsanspruch des Textes als Zeugnis verbunden ist. Allerdings wird hier auch eine Grenze des Vorgehens deutlich: So liegt der Schwerpunkt der Analyse darauf, die ethischen Vorstellungen des Textes nachzuzeichnen. Gleichwohl wird vorausgesetzt, dass diese damit auch von Relevanz für den Leser und Gegenstand einer Beurteilung durch den Leser sind, worauf jeweils kurz verwiesen wird. 6. Speziell für die Psalmen gilt hierbei, dass sie eine doppelte Funktion aufweisen. Sie sind einerseits Texte, die eine Größe als Gegenüber des Lesers sind. Andererseits stellen sie ein Gebetsangebot für den Leser bzw. Beter dar, mit dem er Gott adressiert. Psalmen sind also als kanonische Texte und als Heilige Schrift 65 Ricœur 1974a, 32.
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Texte, die der Leser vorfindet und die ihm gegenübertreten. Insofern konstituieren die Psalmen eine Welt des Textes und sind Zeugnis konkreter Erfahrungen, das auch in ethischer Hinsicht zu einem Urteil drängt. Das Ich des Psalms steht dann dem Beter als Textinstanz gegenüber. Gleichzeitig kommt den Psalmen in der kirchlichen und persönlichen Frömmigkeit als Gebetstexte eine große Bedeutung zu. Daher ist das Ich des Psalms mehr als nur eine Instanz des Textes. In der betenden Aneignung und Aktualisierung des Gebetsformulars wird das Ich des Textes zum Ich des gegenwärtigen Beters. Insofern gilt hier in besonderer Weise, dass mit Paul Ricœur das Selbst des Lesers durch den Text konstituiert wird und dieser mit dem Gebet des Psalms seine ethische Identität findet. Im Hinblick auf das methodische Vorgehen bedeutet dies bei einer ethischen Lektüre eines biblischen Textes Folgendes: 1. Texterschließende Verfahren wie die Strukturanalyse und die semantische Analyse des Textes sind essentiell für ein ethisches Verständnis des Textes. Sie dienen dazu, den Text als „strukturiertes Ganzes“66 zu erschließen. Nach dem ethischen Gehalt eines Textes zu fragen, setzt die Untersuchung der Form und Struktur voraus, da die Form von Bedeutung für ihren Inhalt ist. Insofern ist es sinnvoll, den biblischen Text im hebräischen Original bzw. in textgenauer Übersetzung auf Ebene des Einzelpsalms zu untersuchen und auszulegen. 2. Eine ethische Lektüre soll die Welt des Textes, den Möglichkeitsraum ethischen Handelns mit seinen ethischen Schlüsselbegriffen und Vorstellungen, den ein Text vor sich entwirft, zur Darstellung bringen. Durch die Berücksichtigung der literarischen Kontexte des Einzeltextes, in diesem Fall des Psalmenbuches und der gesamten hebräischen Bibel, wird es möglich, die Welt des Textes auszuleuchten und ihre ethischen Konzepte zu beschreiben. Die Verortung des Einzeltextes in seinen literarischen Kontexten ermöglicht ferner, die Vielfalt und „polyphone Sprache“67 der Bibel in ethischer Hinsicht aufzuzeigen. Deutlich wird so, dass biblische Ethik von ihrer Anlage her diskursiv ist. 3. Eine ethische Lektüre eines biblischen Einzeltextes überschreitet die Ebene des Einzeltextes. Dies korreliert mit Entwicklungen der Psalmenforschung bzw. Psalterexegese, die den Blick auf den Kontext des Einzelpsalms lenkt und ihn in den Kompositionseinheiten des Psalters liest. Daher soll auch die Forschungsgeschichte zur Psalmen- bzw. Psalterexegese berücksichtigt werden. Ein Forschungsüberblick zu Psalm 34 zeigt, inwiefern er bislang auf ethische Konzepte befragt wurde. 4. Wenn nicht zwischen zeitlosen, universal gültigen und zeitgebundenen ethischen Vorstellungen zu unterscheiden ist, sondern davon ausgegangen wird, dass für eine ethische Lektüre biblischer Texte als Zeugnis diese immer in ihrer situativen Konkretheit gelesen werden müssen, ist die Berücksichtigung des Entstehungskontextes mit seinen soziokulturellen Eigenheiten, auch durch den Einbezug
66 Ricœur 1974a, 29. 67 Ricœur 1974a, 39.
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des altorientalischen Kontextes, unabdingbar. Mit der Verortung in der Vorstellungswelt des Alten Orients können die ethischen Konzepte des biblischen Textes weiter profiliert werden, die dem Leser als mögliche Handlungsalternativen angeboten werden. Eine ethische Lektüre entfaltet diese Vorstellungswelten, um so die ethisch relevanten Schlüsselbegriffe und Konzepte des biblischen Textes aufzuzeigen, die im Möglichkeitsraum des Handelns für den Leser bereitgehalten werden. Die ethische Lektüre von Psalm 34 baut also auf einer textgenauen Übersetzung aus dem Hebräischen auf (3.1), berücksichtigt die bisherige Forschungsgeschichte (3.2) und setzt eine Strukturanalyse (3.3) voraus. Die Auslegung der fünf großen Abschnitte des Psalms (3.4) erfolgt jeweils zunächst textimmanent auf der Ebene von Psalm 34, um den Text als strukturiertes Ganzes in seinen Sinneinheiten zu erschließen. In einem zweiten Schritt werden die literarischen Kontexte im Psalmenbuch und in der hebräischen Bibel berücksichtigt. Dabei wird die Welt des Textes auch in der Vorstellungswelt des Alten Orients verortet. Abschließend wird der Ertrag für die Frage nach den ethischen Konzepten und nach der Relevanz für den Leser ausgewertet. Beispielhaft soll außerdem Psalm 34 ins kanonische Gespräch mit Psalm 25 gebracht werden, so dass mit der Psalmengruppe 25–34 deutlich wird, wie in einer biblisch-ethischen Lektüre Kompositionen des Psalters entfaltet werden können (3.5). Schließlich werden die Ergebnisse zusammengeführt (4.). Dabei wird aufgezeigt, inwiefern sich Psalm 34 als Kompendium biblisch-ethischer Schlüsselbegriffe erweist (4.1). Zudem werden die ethischen Optionen eruiert, die der Psalm als Zeugnis dem Leser anbietet und dessen Urteil er herausfordert (4.2). Über den inhaltlichen Ertrag hinaus wird das Programm einer biblisch-ethischen Lektüre ausgewertet (4.3). Abschließend soll im Schlusskapitel das Anliegen der Arbeit resümiert werden (5.).
2.4 Zur Textauswahl Die Bedeutung der Psalmen für biblisch-ethische Konzeptionen wurde in der Vergangenheit geringgeschätzt. So eröffnet z. B. Rainer Kessler das Kapitel „Ethisches in den Psalmen“ mit dem Urteil „Ethik ist kein zentrales Thema der Psalmen.“68 Dies überrascht angesichts des kanonischen Ansatzes von Rainer Kessler und seinem Verständnis von Ethik als Frage nach dem Weg zum Leben. Der Psalter insgesamt ist, von seinem Proömium her verstanden, „Wegweisung für ein Leben aus und mit der Tora (Ps 1) und zugleich die Botschaft an die
68 Kessler 2017, 446.
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Völkerwelt […], dass im Auftreten seines Gesalbten die Königsherrschaft JHWHs anbricht (Ps 2)“69. Psalm 34 kann als Fortführung und Exemplifizierung des Grundprogramms von Ps 1 gelesen werden, der der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass dem Gerechten trotz aller Anfechtungen das bleibende Glück der Gottesnähe zuteilwird70, dass also ein Zusammenhang von Tun und Gottesverhältnis bzw. dem Heil besteht. Diese Überzeugung zeigt sich in der gemeinsamen Seligpreisung dessen, der sich an die Tora JHWHs bindet (vgl. Ps 1,2) und bei ihm Zuflucht sucht (vgl. Ps 34,9). Mit Psalm 34 wird ein Psalm gewählt, der als weisheitlich inspirierter Text zu den Psalmen gehört, für die evident ist, dass sie ethische Fragestellungen bearbeiten. Damit ist sichergestellt, dass keine ethischen Fragestellungen von außen an 69 Hartenstein/Janowski 2012, 4. Die Frage nach dem richtigen Tun, das zu Gott und zum Heil führt, wird mit Ps 1 als hermeneutischem Horizont des Psalters implizit in allen Psalmentexten gestellt, auch in denen, die als Rede zu Gott gestaltet sind. Psalm 34 gehört im Kontext des ersten Psalmenbuches zu den wenigen Psalmen, die keine direkte Anrede JHWHs beinhalten, weder in Form eines Vokativs, der Anrede in 2. Sg. noch mit Imperativen. Psalmen ohne invocatio mit rein lehrhaftem Charakter finden sich durchgängig im „Rahmen“ des Psalters, dem „Proömium“ Ps 1–2 (vgl. Hartenstein/Janowski 2012, 1–6 mit Diskussion der Bezeichnung „Proömium“ auch vor dem Hintergrund der Rezeption von Ps 1–2 als Einheit in der frühjüdischen und rabbinischen Tradition und in der Kirchenväterexegese) und im Schluss-Hallel (Ps 146–150), im ersten Psalmenbuch mit Ps 11; 14; 29; 34; 37, im zweiten Psalmenbuch mit Ps 46–47; 49–50; 53, im dritten Psalmenbuch mit Ps 78; 81; 87, im vierten Psalmenbuch bei den JHWH-König-Psalmen (Ps 95–96; 98) und mit Ps 100; 103; 105 und gehäuft im fünften Psalmenbuch mit Ps 107; 110–112, im ägyptischen Hallel (Ps 113; 114; 117), bei den Wallfahrtspsalmen (Ps 121–122; 124; 127–129; 133–134) und mit Ps 135–136. Das Fehlen der invocatio dieser Psalmen ist darauf zurückzuführen, dass sie entweder zum Lob Gottes aufrufen bzw. danken (Ps 81; 100; 103; 107; 113; 117; 124; 127; 146–150), einen Wunsch nach göttlichem Segen in der 3. Person formulieren bzw. Segen zusprechen (Ps 121; 128–129; 134), Zion bzw. Jerusalem preisen (Ps 46; 87; 122; 133), über den König sprechen (Ps 110), auf Heilstaten Gottes in der Geschichte zurückblicken (Ps 78; 105; 114; 135; 136) oder das Königtum JHWHs besingen (Ps 29; 47; 95–96; 98). Außer Psalm 34 begegnen weitere Psalmen ohne direkte Anrede Gottes, die das Verhalten und Schicksal von Gerechtem und Frevler reflektieren (Ps 11; 14; 37; 49; 50; 53; 112), dabei besonders den Blick auf den Bedürftigen wenden (Ps 14; 53) und das Verhalten des Gerechten an Weisheit und Tora binden (Ps 37; 49; 111; 112). Ähnlich wie Ps 37 und 49 ist Ps 34 als „Lehre eines Menschen mit Lebenserfahrung“ mit Aufforderungen an angesprochene Dritte formuliert. Anders als diese reflektiert er explizit die eigene Rede als Lehre, Vertrauen zu Gott zu haben und aus diesem Vertrauen heraus das Leben zu gestalten (vgl. Ps 34,12). Die Psalmen, die die Frage nach dem richtigen Tun thematisieren, finden sich an kompositorisch markanten Stellen. So bilden Ps 14 und Ps 34 den Schlusspsalm der Teilkompositionen Ps 3–14 und Ps 25–34 innerhalb des ersten Psalmenbuches. Ps 49 ist der letzte Psalm der ersten Gruppe der Korach-Psalmen (Ps 42–49). Dem Asaf-Psalm 50 kommt eine Sonderstellung zwischen den Korach-Psalmen und dem zweiten David-Psalter (Ps 51–72) zu; Ps 111/112 verbinden die drei Davidpsalmen Ps 108–110 und die nachfolgenden Hallel-Psalmen Ps 113–118. Dies heißt zum einen, dass der Psalter in seiner Komposition selbst die Frage nach dem ethischen Handeln aufwirft, es also sinnvoll ist, den Beitrag der Psalmen für die Lebensgestaltung zu untersuchen, zum anderen dass der Psalter bei der Zusammenstellung der Psalmensammlungen auch gezielt ethische Fragestellungen behandelt. 70 Vgl. Hartenstein/Janowski 2012, 4; Hossfeld/Zenger 1993, 45–46.
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den Text herangetragen werden, sondern es die Welt des Textes ist, die Fragen der Lebensführung und Optionen der Wahrnehmung von Welt und daraus resultierende Handlungsmöglichkeiten zur Sprache bringt, die dem Leser zum Spiegel werden können. In der direkten Anrede des betenden Ichs von Psalm 34 an den Leser bzw. Beter wird deutlich, dass die Frage nach dem richtigen Tun stets auch der menschlichen Reflexion überantwortet ist. Sie steht im Rahmen einer Aufforderung zum gemeinsamen Gotteslob und wird so in den Kontext der Gottesbeziehung gestellt. Insofern eignet sich der Psalm in besonderer Weise, um die Frage nach dem Zusammenhang von Erfahrung und Zeugnis, Gott und menschlichem Handeln im Psalmenbuch zu stellen. Die persönliche Rettungserfahrung des Beter-Ichs von Psalm 34 wird als Zeugnis für die Güte Gottes zum Ausgangspunkt nicht nur der Aufforderung, JHWH zu preisen, sondern auch dazu, JHWHs Bezogenheit zum Menschen, besonders zu den Bedrängten, zu erkennen. Zentral ist dabei der Rekurs auf die ֲענָ וִ יםals ethische Größe und JHWH-Furcht als ethische Kategorie. Beiden Begriffen soll daher ein eigener Exkurs gewidmet werden. Angesichts der erfahrenen und bezeugten Güte Gottes wird ein ethisches Programm entwickelt, das – in der Sprache von Psalm 34 „im Streben nach Šalom“ – zu glückendem Leben führen soll. Es stellt in seiner Offenheit eine Herausforderung an den Menschen, konkret den Leser bzw. Beter, dar, der in der Verantwortung steht, zwischen Gutem und Bösem, dem Lebenszuträglichen und dem, was Leben beeinträchtigt, zu differenzieren. Diese Unterscheidung zeigt sich im Handeln und ist entscheidend, denn mit den Folgen der falschen Entscheidungen, der schlechten Taten und der Schuld ist zu leben. Die Möglichkeit der göttlichen Rettung und Hinwendung zu Gott ist – auch den Schuldigen – gegeben. Insofern also führt Psalm 34 mit seiner Welt des Textes in ethische Fragen und Vorstellungen hinein, die im Folgenden untersucht und vorgestellt werden sollen.
3. Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34 3.1 Der Text – Psalm 341 ימ ֶלְך ֑ ֶ ת־ט ְעמֹו ִל ְפ ֵנ֣י ֲא ִב ֭ ַ ּנֹותֹו ֶא ֣ ְל ָד ִ ֗וד ְּב ַׁש
1a
ַֽ ֜ויְ גָ ֲר ֵׁ֗שהּו וַ ּיֵ ַ ֽלְך׃
b
ל־עת ֑ ֵ הו֣ה ְּב ָכ ָ ְֲא ָב ֲר ָכ֣ה ֶאת־י ָּ֜ת ִ֗מיד ְ ּֽת ִה ָּל ֥תֹו ְּב ִ ֽפי׃ ַ ּ֭ביהוָ ה ִּת ְת ַה ֵּל֣ל נַ ְפ ִ ׁ֑שי יִ ְׁש ְמ ֖עּו ֲענָ ִו֣ים וְ יִ ְׂש ָ ֽמחּו׃ יהו֣ה ִא ִ ּ֑תי ָ ּגַ ְּד ֣לּו ַל רֹומ ָ ֖מה ְׁש ֣מֹו יַ ְח ָ ּֽדו׃ ְ ְּונ הו֣ה וְ ָע ָנ֑נִ י ָ ְָּד ַ ֣ר ְׁש ִּתי ֶאת־י ילנִ י׃ ֽ ָ גּורֹותי ִה ִּצ ַ֗ ל־מ ְ֜ ּומ ָּכ ִ ִה ִ ּ֣ביטּו ֵא ָל֣יו וְ נָ ָ ֑הרּו יהם ַאל־יֶ ְח ָ ּֽפרּו׃ ֶ֗ ֵּו֜ ְפנ יהו֣ה ָׁש ֵ ֑מ ַע ָ ֶַז֤ה ָע ִנ֣י ָ ֭ק ָרא ו יעֹו׃ ֽ הֹוׁש ִ רֹותיו ָ֗ ל־צ ָ֜ ּומ ָּכ ִ
1
„/“ bezeichnet die Setzung des Atnach.
David zugehörig, als er seinen Verstand vor Abimelech verstellte, / und er ihn wegtrieb, so dass er wegging.
2 a אIch will JHWH zu jeder Zeit preisen, / b beständig (sei) sein Lobpreis in meinem Mund. 3 a בIn JHWH soll sich lobpreisen meine Nefeš. / b Arme sollen (es) hören, und sie sollen sich freuen. 4 a גMacht JHWH groß mit mir, / b und lasst uns seinen Namen zusammen erheben! 5 a דIch habe JHWH gesucht, und er hat mir geantwortet, / b und aus allen meinen Ängsten hat er mich gerettet. 6 a הSie schauten auf ihn und strahlten, / b und ihre Gesichter mussten nicht beschämt sein. 7 a זDies war ein Armer, der rief, und JHWH hat (ihn) gehört, / b und aus allen seinen Bedrängnissen hat er ihn befreit.
Der Text – Psalm 34
הוה ָ֘ס ִ ֤ביב ִ ֽל ֵיר ָ֗איו ַ �וֽיְ ַח ְּל ֵ ֽצם׃ ֓ ָ ְח ֶֹנ֤ה ַמ ְל ַאְך־י
הו֑ה ָ ְי־טֹוב י ֣ ַט ֲע ֣מּו ּו ְ֭ראּו ִּכ ה־ּבֹו׃ ֽ ַ ֽא ְׁש ֵ ֥רי ַ֜ה ֗ ֶּג ֶבר יֶ ֱח ֶס הו֣ה ְקד ָ ֹׁ֑שיו ָ ְיְ ֣ראּו ֶאת־י י־אין ַ֜מ ְח ֗סֹור ִל ֵיר ָ ֽאיו׃ ֥ ֵ ִּכ וְ ָר ֵ ֑עבּו ם ָר ׁ֣שּו ּכ ִפ ִירי֭ ְ ל־טֹוב׃ ֽ הוה לֹא־יַ ְח ְס ֥רּו ָכ ֗ ָ וְ ד ְֹר ֵ ׁ֥שי ְ֜י עּו־לי ֑ ִ כּו־בנִ ים ִׁש ְמ ֭ ָ ְ ֽל הוה ֲא ַל ֶּמ ְד ֶ ֽכם׃ ֗ ָ יִ ְ�ֽר ַ ֥את ְ֜י י־ה ִאיׁש ֶה ָח ֵפ֣ץ ַח ִּי֑ים ֭ ָ ִ ֽמ א ֵ ֹ֥הב ָ֜י ִ֗מים ִל ְר ֥אֹות ֽטֹוב׃ נְ ֣צֹר ְלׁשֹונְ ָך֣ ֵמ ָ ֑רע ּו֜ ְׂש ָפ ֶ֗תיָך ִמ ַּד ֵ ּ֥בר ִמ ְר ָ ֽמה׃ ה־טֹוב ֑ ֣סּור ֵ ֭מ ָרע וַ ֲע ֵׂש ַּב ֵ ּ֖קׁש ָׁש ֣לֹום וְ ָר ְד ֵ ֽפהּו׃
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8 a חDer Bote JHWHs lagert sich um die, die ihn fürchten, und er rettet sie. 9 a טVersteht und seht, dass JHWH gut ist. / b Glücklich (ist) der Mann, der bei ihm Zuflucht sucht. 10 a יFürchtet JHWH, seine Heiligen, / b denn es ist kein Mangel für die, die ihn fürchten. 11 a כJunglöwen darben, und sie sind hungrig, / b aber denen, die JHWH suchen, mangelt es nicht an allem Guten. 12 a לKommt, Kinder, hört auf mich. / b JHWH-Furcht will ich euch lehren. 13 a מWer ist der Mensch, der am Leben Wohlgefallen hat, / b der Tage liebt, um Gutes zu sehen? 14 a נBewahre deine Zunge vor Bösem / b und Deine Lippen davor, Trügerisches zu reden. 15 a סWeiche von Bösem und tue Gutes. / b Strebe nach Šalom und jage ihm nach.
ל־צ ִּד� ִ ֑יקים ַ ֵע ֵינ֣י ְי֭הוָ ה ֶא16 a עDie Augen JHWHs (sind gerichtet) auf Gerechte, / ל־ׁשוְ ָע ָ ֽתם׃ ַ ְ ֜ו ָאזְ ָ֗ניו ֶא b und seine Ohren (sind gerichtet) auf ihren Hilferuf. ְּפ ֵנ֣י ְי֭הוָ ה ְּב ֣עֹ ֵׂשי ָ ֑רע17 a פDas Angesicht JHWHs (ist gerichtet) gegen die, die Böses tun, / ְל ַה ְכ ִ ֖רית ֵמ ֶ ֣א ֶרץ זִ ְכ ָ ֽרם׃ b um ihr Gedenken von der Erde auszurotten. יהו֣ה ָׁש ֵ ֑מ ַע ָ ַ ָצ ֲע ֣קּו ו18 a צSie haben geschrien, und JHWH hat sie gehört, / ילם׃ ֽ ָ רֹותם ִה ִּצ ָ֗ ל־צ ָ֜ ּומ ָּכ ִ b und aus all ihren Bedrängnissen hat er sie gerettet. י־ל֑ב ֵ ָק ֣רֹוב ְי֭הוָ ה ְלנִ ְׁש ְּב ֵר19 a קNah ist JHWH den zerbrochenen Herzen, / יע׃ ַ יֹוׁש ֽ ִ ּוח ַ י־ר ֥ ת־ּד ְּכ ֵא ַ ְ ֽו ֶא b und die verzagten Geistes befreit er. ַ ֭רּבֹות ָר ֣עֹות ַצ ִ ּ֑דיק20 a רMengen an Bösem (sind) einem Gerechten, /
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
aber JHWH rettet ihn aus ihnen allen. מֹותיו ֑ ָ ל־ע ְצ ַ ׁש ֵ ֹ֥מר ָּכ21 a שEr bewahrt alle seine Knochen, / ַא ַ ֥חת ֵ֜מ ֵ֗הּנָ ה ֣ל ֹא נִ ְׁש ָ ּֽב ָרה׃ b nicht einer von ihnen soll zer brochen werden. מֹותת ָר ָ ׁ֣שע ָר ָ ֑עה ֣ ֵ ְּת22 a תDen Frevler tötet das Böse, / וְ ׂש ֹנְ ֵ ֖אי ַצ ִ ּ֣דיק יֶ ְא ָ ֽׁשמּו׃ b und die einen Gerechten hassen sind schuldig. ּפֹודה ְי֭הוָ ה ֶנ ֶ֣פׁש ֲע ָב ָ ֑דיו ֶ֣ 23 a JHWH erlöst die Nefeš seiner Diener, / ל־הח ִ ֹ֥סים ּֽבֹו׃ ַ וְ ֥ל ֹא ֶ֜י ְא ְׁש ֗מּו ָ ּֽכ b und alle, die bei ihm Zuflucht suchen, sind nicht schuldig. הוה׃ ֽ ָ ְילּנּו י ֥ ֶ ּו֜ ִמ ֻּכ ֗ ָּלם יַ ִּצ
b
Anmerkungen zu Text und Übersetzung: Zu 1a ימ ֶלְך ֶ ֲא ִב: Der LXX-Papyrus Londiniensis Musei Britannici 37 liest Αχιμελεχ, der Codex Parisinus Latinus bibliotheca nationalis 11947 amelech. Die Variante Αχιμελεχ statt Αβιμελεχ in Ps (LXX) 33,1 lässt sich als lautliche Bezugnahme auf den Philisterkönig (ּגַ ת) ֶמ ֶלְך( ָא ִכי)ׁשin 1 Sam 21,11–16 lesen, nicht aber auf 1 Sam (LXX) 21,11–16. Dort heißt der Philisterkönig Αγχους. i
Zu 6a ִה ִּביטּו: BHS schlägt vor, hier mit einigen hebräischen Handschriften, Aquila, der Peschitta und Hieronymus den Imperativ ַה ִּביטּוzu lesen. Die LXX bringt ebenfalls einen Imperativ (προσέλθατε), der allerdings hebräisch ּגְ ׁשּוentsprechen würde. Hermann Gunkel liest einen Imperativ und ändert außerdem zu ֵא ַלי: „Blickt auf mich und erstrahlt!“2. Dieser Lesung zufolge verbessert nicht die eigene Hinwendung zu Gott („sie blickten auf ihn“) die Lebensqualität, sondern das Wissen um die Rettungserfahrung eines Anderen, in diesem Fall des betenden Ichs. Zu 6a וְ נָ ָהרּו: Auch hier will BHS den Imperativ ּונְ ָהרּוlesen – analog zu Aquila und LXX φωτίσθητε. Die Peschitta liest wsbrw bh „Und hofft auf ihn!“. Zu V. 6b: In Folge wird auch hier vorgeschlagen, ein ePP der 2. Pl.m. zu lesen ּופנֵ ֶיכם ְ , so auch LXX und Peschitta.3
2 3
Gunkel 51968, 144. Zur Übersetzung des Vetitiv vgl. Barthélemy 2005, 195 und GK § 109e.
Der Text – Psalm 34
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Zu dem gesamten V. 6: Der Konsonantenbestand von הביטוund ונהרוermöglicht, sowohl qatal-Formen als auch den Imperativ zu lesen. Das ePP der 3. Pl.m. von ופניהםlegt jedoch nahe, auch in הביטוund ונהרוFormen der 3. Pl. zu sehen, so auch die masoretische Vokalisierung. Dass in V. 6 kollektive Erfahrungen beschrieben werden, ist vom Kontext her zu plausibilisieren: Während V. 5 von einer individuellen Rettungserfahrung des Ichs berichtet und V. 6 von einem Kollektiv spricht, verweist V. 7 wieder auf die Rettung eines anderen Individuums, und V. 8 schließt erneut mit der kollektiven Perspektive. LXX und Peschitta beziehen V. 6 konsequent auf die 2. Pl. (auch τὰ πρόσωπα ὑμῶν in V. 6b) und sehen darin Aufforderungen analog zu V. 4a.9.10.12, auch um das Problem der uneindeutigen Referenz der 3. Pl. zu umgehen.4 Franz Delitsch hingegen liest V. 6 als „Verallgemeinerung einer Erfahrungsgewissheit“; das Subjekt muss ihm zufolge also unbestimmt bleiben, um die Allgemeingültigkeit der Aussage zu unterstreichen.5 Zu V. 7: Nach Waltke/O’Connor handelt es sich nicht um die Folge Nominalsatz – asyndetischer Relativsatz, sondern um einen einzigen Verbalsatz: „The one of poverty cried (i. e., The poor man cried).“ Sie bestimmen die Kombination von Demonstrativpronomen und Substantiv als CsV, weichen dafür jedoch von MT ab: „Read ‘oni ‚affliction‘ against the M’s ‘ani ‚afflicted‘.“6 Zu V. 8 וַ יְ ַח ְּל ֵצם: wa=jiqtol-x nach Partizip mit präsentischer Bedeutung.7 Zu V. 9 ְּוראּו: Mitchell Dahood leitet den Imperativ ְּוראּוvon ירה2 ab, einer Nebenform von רוה mit der Bedeutung „trinkt“ als Fortführung des Bildfeldes schmecken von ַט ֲעמּו.8 Berücksichtigt man, dass טעםauch „verstehen“ bedeutet, ist es jedoch sinnvoll, von der gebräuchlicheren Wurzel „ ראהsehen“ und damit von zwei Wahrnehmungsverben auszugehen.
4 Vgl. Craigie 1983, 277, so auch Hossfeld/Zenger 1993, 213; Kraus 51978, 417. 5 Vgl. Delitzsch 1984, 272. Zur Übersetzung des Vetitiv vgl. Barthélemy 2005, 195 und GK § 109e. 6 Waltke/O’Connor 1990, 338. 7 Vgl. Waltke/O’Connor 1990, 558. 8 Vgl. Dahood 1965, 206.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Zu V. 11 ְּכ ִפ ִירים: LXX liest πλούσιοι, in Entsprechung auch die Peschitta. Mögliche hebräische Bezugswörter sind das Verbaladjektiv ְּכ ֵב ִדיםvon ּכ ֵבד ָ 1 „Gewichtige“/„Reiche“ oder das substantivierte Adjektiv „ ַּכ ִּב ִיריםGewaltige“, das in einem Gerichtskontext auch in Ijob 34,24 begegnet und in Jes 17,12; 28,2 jeweils die Qualität der Naturgewalt Wasser beschreibt. Angeführt wird auch die Lesart „ ּכ ְֹפ ִריםLeugner“ bzw. „Abtrünnige“, so Bernhard Duhm.9 Neben das textkritische treten zwei inhaltliche Argumente: Das Verb „ רּוׁשarm sein“ führt sonst ein menschliches Subjekt mit sich; in den vorhergehenden Versen finden sich jedoch keine Tierbilder, wohl aber ein „Armer“ (V. 7), was gemeinsam mit dem „Reichen“ ein Oppositionspaar bilden würden.10 Jimmy J. M. Roberts argumentiert, dass die Raubtiermetaphorik weisheitlichen Ursprungs sei. Er verweist auf Ijob 4,7–11.11 In beiden Texten werden positive Größen genannt, die sich auf menschliches Verhalten beziehen (die „JHWH Fürchtenden und Suchenden“ in V. 10 und 11; die „Unschuldigen und Redlichen“ in Ijob 4,7) und den Löwen gegenübergestellt sind, die hungern (V. 11 und Ijob 4,10– 11). Parallelen finden sich, wie Jimmy J. M. Roberts aufzeigt, auch in mesopotamischen Texten: In der Babylonischen Theodizee illustriert das Raubtier „Löwe“ die Missachtung der Götter und kultische Verfehlung: Es fürchtet Gott nicht, bringt kein Opfer dar und lebt in Autonomie von der Gottheit. Mit ähnlichen Bildfeldern argumentiert die Figur Naram-Sin in der Kutha-Legende gegen die Notwendigkeit von Kriegsopfern zur Erfragung von Orakeln: Der Löwe beachte schließlich auch keine Omina und habe trotzdem Erfolg. Naram-Sin nutzt das Löwenbild, um zu zeigen, dass Frömmigkeit und Kult nicht zwangsläufig einen praktischen Wert hätten. Auch wenn die Wertung des Verhaltens des Löwen aus der Perspektive der Figur des Naram-Sin also eine andere ist, verweist er auch hier auf ein von Gott unabhängiges Verhalten. Der Fortgang der Erzählung um Naram-Sin zeigt, dass er mit seiner Parallelisierung nicht richtiggelegen hat: Er und seine drei Armeen, die er ohne Legitimation durch ein göttliches Orakel losschickte, kommen um. Jimmy J. M. Roberts führt weiter aus, dass die hebräische Formulierung דרׁש ( יְ הוָ הvgl. V. 11) mit akkadisch barû bīrī „Omen beachten“ verglichen werden könne. Damit handele es sich bei der Löwenmetaphorik um ein weisheitliches Motiv, mit dem die Frage nach der Beziehung des Menschen zu den Göttern, dem Zusammenhang von menschlichem Verhalten und Ergehen, bearbeitet werde. So kommen auch Hossfeld/Zenger zu dem Schluss, es handele sich um eine „Metapher der Gefräßigkeit und des permanenten Raubens“12. Sie verweisen dabei auf Ijob 4,10 f und bewerten eine Textkorrektur nach G als nicht unbedingt zwingend.
9 Vgl. Duhm 1922, 138. 10 Der LXX folgen daher u. a. Dahood 1965, 206; Girard 1996, 581; Goldingay 2006, 476. 11 Vgl. auch im Folgenden Roberts 1973, 265–267. 12 Hossfeld/Zenger 1993, 212.
Der Text – Psalm 34
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Laut Brent A. Strawn wird die Löwenmetaphorik bis V. 21 weitergeführt: JHWH bewahrt die Knochen des Gerechten, so dass sie nicht zerbrochen werden – wie es Löwen tun.13 Zu V. 11b: x-qatal/w=qatal zur Bezeichnung eines generellen Sachverhaltes mit ingressiver Bedeutung.14 Zu V. 13a: BHt/R5 fasst die Frage י־ה ִאיׁש ֶה ָח ֵפץ ַחּיִ ים ָ ִמals einen Satz auf. Die Fügung von Partizip mit (V. 13 ) ֶה ָח ֵפץoder ohne Artikel (V. 13 )א ֵֹהבbzw. Adjektiv mit Artikel (Jer 9,11 ) ֶה ָח ָכםist aber als Äquivalent eines Relativsatzes (Jer 9,11 וַ ֲא ֶׁשר ִד ֵּבר ִּפי־יְ הוָ ה ) ֵא ָליוzu werten und hat somit Satzcharakter.15 Zur Parallelität der Konstruktion von Adjektiv mit Artikel und Relativsatz vgl. Jer 9,11: י־ה ִ ֤איׁש ָ ִ ֽמ ֶ ֽה ָח ָכם ת־ז ֹאת ֔ וְ ֵיָב֣ן ֶא הו֥ה ֵא ָל֖יו ָ ְוַ ֲא ֶׁשר ִד ֵּבר ֽ ִּפי־י ּגדּה ֑ ָ ַוְ י
Wer ist der Mensch, der weise ist (ha=Adj), so dass er dies erkennt, und zu dem der Mund JHWHs redet (w=RelPron), so dass er kundtut (…). (Jer 9,11)
Zu V. 16: Mit Verweis auf Klgl 2,16–17; 3,46.49; 4,16–17 wird empfohlen, auch hier den פ-Vers vor den ע-Vers zu ziehen.16 Die anderen Akrosticha des Psalters Ps 25; 111; 112; 119 und 145 zeigen jedoch wie Ps 34 die Abfolge עan erster, פan zweiter Stelle. In Ps 9–10 fehlen beide Buchstaben; in Ps 37 der ע-Vers. Eine Umstellung ist also nicht zwingend. Zu V. 18: LXX und in Entsprechung Peschitta und Targumim vereindeutigen durch die Hinzufügung von οἵ δίκαιοι als Subjekt des Satzes, „um das Mißverständnis auszuschließen, die in 17 genannten ‚Bösen‘ seien Subjekt“17. Die Frage ist, ob die Vereindeutigung zwingend ist. Man kann V. 18 auch analog zu V. 6 als generalisierende Aussage über ein unbestimmtes Subjekt verstehen. Und zu fragen ist, ob die Möglichkeit, dass auch „die, die Böses tun“ (V. 17), zu Gott rufen, kategorisch auszuschließen ist, oder ob die Übeltäter nicht auch
13 Vgl. Strawn 2005, 51. 14 Vgl. Waltke/O’Connor 1990, 492. 15 Vgl. Waltke/O’Connor 1990, 621. 16 So z. B. Weiser 1963, 201; Kraus 51978, 417. 17 Hossfeld/Zenger 1993, 212. Die „Uneindeutigkeit“ des Textes wird auch auf die Umstellung der V. 16 und 17 zurückgeführt: „It is possible that vv 16 and 17 have been inverted, thus creating the syntactial ambiguity“ (Craigie 1983, 277).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
zu den „zerbrochenen Herzen“ und denen „verzagten Geistes“ (V. 19) gehören könnten. Liest man den Text von Ps 130,3–4 her: „Wenn du Sünden bewahrtest, JH, mein Adonaj, wer würde bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, so dass du gefürchtet wirst.“, kann durchaus mit der Möglichkeit der Rettung für die, die schuldig geworden sind, gerechnet werden. So findet sich auch im näheren Kontext zu Ps 34 die Möglichkeit von Vergebung dem Schuldigen gegenüber: „Meine Sünde machte ich bekannt, und meine Schuld bedeckte ich nicht. Ich sagte: Ich will meine Frevel JHWH bekannt machen. Und du, du hast aufgehoben die Schuld meiner Sünde.“ (Ps 32,5). Zu V. 18b רֹותם ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ : Die Präpositionalverbindung fehlt in der Peschitta. Zu V. 20/21: Die Satzgrenzen sind in der LXX und zwei Handschriften von MT anders gesetzt: In V. 20 erscheint kein Subjekt an der Satzoberfläche; יְ הוָ הbzw. κύριος ist explizites Subjekt von V. 21. Zu V. 21bנִ ְׁש ָּב ָרה/22a מֹותת ֵ ְּת: Die einzig lesbare Buchstabenfolge von Ps 34 in Fragment 5 von 4QPsa umfasst einen Buchstaben des letzten Wortes von V 21b und drei Buchstaben des ersten Wortes von V. 22: נשב]ר תמו[תת22 . Zum einen ist das רschlecht lesbar und könnte durchaus ein Teil eines הsein. Zum anderen ist es keine Seltenheit, dass in 4QPsa feminine Formen eine Schluss- הgeschrieben sind. MT kann also beibehalten werden. Ps 34 ist nur in 4QPsa belegt.18 Zu V. 22a מֹותת ֵ ְּת: Die LXX bringt statt eines Verbs das Substantiv θάνατος, entsprechend haben auch die Targumim mtwt’.
3.2 Forschungsgeschichte Psalm 34 wurde bislang vor allem unter drei Gesichtspunkten betrachtet: erstens unter gattungstypologischen Aspekten bzw. als eines der Akrosticha19 im Psalter (Ps 9–10; 25; 34; 37; 111–112; 119; 145), zweitens im Hinblick auf seine Struktur und drittens im Kontext der Psalmengruppe Ps 25–34. Die unterschiedliche Schwer-
18 Vgl. Flint/Alvarez 1997, 146. 19 Zum Phänomen der Akrostichie im Psalter vgl. Hossfeld/Zenger 2008, 216–218 und Koenen 2013.
Forschungsgeschichte
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punktsetzung ist eng verbunden mit der Geschichte der Psalmen- bzw. Psalterexegese der letzten hundert Jahre, die zur besseren Einordnung kurz vorgestellt sei.20
3.2.1 Schwerpunkte der Psalmen-/Psalterexegese Mit den Arbeiten Hermann Gunkels rückte die Psalmenexegese zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Fokus des Interesses in der religionsgeschichtlich ausgerichteten exegetischen Forschung, die bis dahin vor allem um die Rekonstruktion von Geschichte und Religionsgeschichte Israels bemüht war.21 Als Leistung Hermann Gunkels kann gelten, dass Psalmen nun nicht mehr historisierend und biographisierend als „Kunstpoesie“ gelesen wurden, sondern als „religiöse Volksdichtung“, die von ihrer Funktion im Kult und ihrem Verwendungszweck her verstanden werden sollte. Psalmen von ihrem Verwendungszweck her zu lesen, bedeutet diesem Konzept zufolge, sie formen- und gattungsgeschichtlich zu analysieren. Nur im Kontext der gemeinsamen Formensprache, inhaltlicher Berührungspunkte und der funktionalen Eigenart der Gattung22 könne ein Psalm angemessen untersucht werden. Innerhalb dieses methodischen Horizontes sei jedoch zu beachten, dass die ursprünglich im Kult verwendeten Gattungen zwar den Aufbau der meisten Psalmen bestimmen, diese aber in ihrer konkreten Überlieferungsgestalt „kultfrei“, also „geistliche Lieder“ seien. Nur wenige der Psalmen realisierten die Gattungen in Reinform, und zahlreiche der Psalmen seien stark weisheitlich geprägt. Hermann Gunkels Nachfolger hingegen waren weniger zurückhaltend als Hermann Gunkel selbst und erfinderisch genug, immer neue Gattungen bzw. Untergattungen mit entsprechendem „Sitz im Leben“ der Psalmen zu bestimmen. Kritisiert wurde an diesem methodischen Vorgehen: Viele Psalmen lassen sich keiner Gattung zuordnen, es sei denn, man definiere Gattung ganz allgemein in Bezug auf die Grundsituationen von Klage und Bitte, Lob und Dank. Die Abstraktion der idealen Gattung verstelle den Blick auf die Struktur des Einzelpsalms, das sprachliche, poetische und theologische Profil des individuellen Textes. Die Priorisierung der gattungsgeschichtlichen Frage lasse die Frage nach der Komposition des Psalmenbuches unberührt. Obwohl mit der gattungsgeschichtlichen Methode der Rahmen des Einzelpsalms stets überschritten werde, gerate der literarische Kontext des einzelnen Psalms nicht in den Blick. Damit könne allerdings letzten Endes auch die von Hermann Gunkel selbst gestellte Frage nach dem ursprünglichen Entstehungs- und Verwendungskontext des gesamten Psalmenbuches nicht beantwortet werden.23
20 Vgl. im Folgenden die Forschungsskizzen von Zenger 2010, 17–65; Ballhorn 2004, 13–17. Vgl. auch Whybray 1996, 16–35; Howard 1999. 21 Vgl. Gunkel 51985. 22 Vgl. Gunkel 51985, 22–23. 23 Vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 19.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Aus diesen Gründen entstanden seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts vermehrt Publikationen, die sich mit der Struktur von Einzelpsalmen beschäftigen, die angeregt durch den canonical approach die Komposition oder aber auch diachron die Redaktionsgeschichte des Psalters als Ganzen untersuchen.24 1. Zu den Vertretern der strukturellen oder auch poetologischen Analyse25 gehören neben Nicolaas Ridderbos26 vor allem Marc Girard27 und Pierre Auffret. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet jeweils die Oberflächenstruktur des masoretischen Textes, wobei die Bedeutung des Textes in seiner Struktur gründe und methodisch mit Hilfe der critique structurelle zu erschließen sei. Diese umfasst im Wesentlichen drei Ebenen: Die syntagmatische, die syntaktische und die der strukturellen Einheit.28 Ansatzpunkt der Kritik an der strukturellen Analyse ist die „Enthistorisierung der Texte“ durch die rein poetologischen Verfahren.29 2. Neben diesen strukturellen Zugängen, deren Gegenstand vor allem der Einzelpsalm ist, die aber auch Psalmengruppen in den Blick nehmen, finden sich Arbeiten, die die Komposition und Intention bzw. übergreifende Themen des gesamten Psalters untersuchen. Stand bis dahin die Frage nach dem „Sitz im Leben“ der mutmaßlich ursprünglichen Gattungen im Vordergrund, bildet den hermeneutischen Horizont nun der „Sitz im Text“30. Eine Vorreiterrolle kommt dabei der Arbeit The Editing of the Hebrew Psalter von Gerald H. Wilson31 zu, der als Schüler von Brevard S. Childs die Endgestalt des Psalters in den Blick nimmt. 3. Während Brevard S. Childs und andere in Folge vor allem die Frage nach der Programmatik des Psalmenbuches auf der Ebene des Endtextes stellen, verbinden Kommentar und Einzelarbeiten von Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger32 synchrone und diachrone Fragestellungen. Sie verfolgen die redaktionsgeschichtliche Fragestellung mit dem Interesse, den Psalter als Buch zu lesen. Sie wählen dabei den „induktiven Ansatz“ beim Einzelpsalm, von dem aus die redaktionelle Einbindung in größere Kontexte und die Entstehungsgeschichte des Psalters untersucht werden soll. Dabei werden Stichwortverbindungen zwischen benachbarten Psalmen dahingehend befragt, ob sie Indiz für eine gezielt geschaffene Verknüpfung seien, durch die die Psalmen sich gegenseitig auslegen. Auf einer zweiten
24 Vgl. Ballhorn 2004, 15. 25 So die Bezeichnung von Hossfeld/Zenger 1993, 20. 26 Vgl. Ridderbos 1972. 27 Vgl. Girard 1996. 28 Vgl. Girard 1996, 35. 29 Hossfeld/Zenger 1993, 20. 30 Vgl. Howard 1999, 333. 31 Vgl. Wilson 1985. 32 Vgl. Hossfeld/Zenger 1993; 32007; 2008, jeweils mit einer Einordnung der kommentierten Psalmen im Psalmenbuch bzw. „Skizze zur Entstehung“. Vgl. ferner die Zusammenstellung der Publikationen, die das Psalmenbuch als Ganzes oder Psalmengruppen bzw. Einzelpsalmen in ihrem literarischen Kontext untersuchen, bei Zenger 2010, 24–25. Im deutschsprachigen Raum fragte als eine der ersten die Arbeit von Mattias Millard 1994 nach der Komposition des Psalters, allerdings in formgeschichtlicher Perspektive.
Forschungsgeschichte
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Ebene wird nach erkennbaren Psalmengruppen gefragt, die wiederum zueinander in Beziehung gesetzt werden können.33
3.2.2 Forschungsüberblick zu Psalm 34 In die genannten Trends vergangener und gegenwärtiger Psalmenforschung können auch die vorliegenden Publikationen zu Psalm 34 eingeordnet werden, wobei im Einzelfall jeweils auch unterschiedliche Analyseverfahren und Fragestellungen kombiniert werden.
3.2.2.1 Psalm 34 als Akrostichon Die älteren formgeschichtlich arbeitenden Kommentatoren schenkten dem Psalm keine große Aufmerksamkeit bzw. äußern sich polemisch. So unterstellt Bernhard Duhm mindere ästhetische Qualität – „diese Alphabetisten nehmen ihre Aufgabe von der gemütlichen Seite … Logik darf man hier nicht verlangen“34 – und kritisiert inhaltlich den „naivste[n] Eudämonismus“ und „daß immer die kleinsten Geister am großartigsten auftreten und sich für Lehrer der Menschheit halten“35. Ähnlich abwertend äußert sich Hermann Gunkel: „Von einem alphabetischen Psalm kann man bei den großen formellen Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat, keine allzustraffe [sic!] Gedankenordnung verlangen. Immerhin verdient diese Dichtung um der verhältnismäßigen Klarheit der Komposition willen ein gewisses Lob.“36 Er liest den Psalm historisierend: „Der Verfasser, offenbar selber soeben aus großer Not gerettet, hatte sich in der Dankbarkeit seines Herzens vorgenommen, Gott zu Ehren und allen Frommen zu Nutzen ein kunstvolles Danklied zu dichten“37 und konstatiert eine Mischung der Gattungen: Nach dem Beginn „nach Art mancher Danklieder mit einer hymnischen ( תהּלהV. 2) Einführung“38
33 Vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 17–25; Hossfeld/Zenger 1996. Im Unterschied zu ihrem eigenen methodischen Vorgehen bezeichnen sie den Ansatz von Millard 1994 als „deduktiven Ansatz“, da er vor allem von der Gruppenbildung durch Überschriften und der formgeschichtlichen Beschreibung der Einzelpsalmen ausgehend Kompositionsprinzipien des Psalters untersucht (vgl. Hossfeld/Zenger 1996, 332). 34 Duhm 21922, 139. Dass mit der Form des Akrostichons zwangsläufig eine mangelnde Logik der Argumentation einhergehe, wird dem Psalm auch in der weiteren Auslegungsgeschichte vorgeworfen. Vgl. Dahood 1965, 205. 35 Duhm 21922, 138; Kraus 51978, 417. 36 Gunkel 51968, 142. 37 Gunkel 51968, 142. Vgl. auch Gunkel 51985, 265, wo er Ps 34 zur Gruppe der Danklieder rechnet. Eine innere Nähe zur Weisheit sei insofern gegeben, als die Bekundung des Dankes in der Öffentlichkeit automatisch auch den Charakter einer Lebenslehre für Andere habe (vgl. Gunkel 5 1985, 387). 38 Gunkel 51968, 142.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
ahmt „diese Einführung bald den Hymnus des Einzelnen (V. 2.3), bald den des Chorgesanges nach[…] (V. 4)“39 und gleitet dann „aus dem Tone des Dankliedes allmählich in den des Lehrgedichtes hinüber[…]“40. Während die gattungstypologische Unbestimmtheit von Psalm 34 und seine Eigenart als „nach alphabetischer Anordnung entworfene[s] Lehrgedicht“41 hier als Zeichen minderer Qualität gewertet wurde, rückt der Psalm auch gerade als alphabetisierende Dichtung in den Fokus des Interesses. So sieht Anthony R. Ceresko den Ursprung des Psalms in einem rein literarischen, nicht kultischen Kontext. Er will zum einen zeigen, dass sich in Ps 34 weitere Anspielungen an das Alphabet finden, und zum anderen, dass der „Formzwang“ des Alphabets dem Inhalt nicht äußerlich ist, sondern Anliegen der Weisheit Israels widerspiegele.42 Wurde V. 23 פgern literarisch als sekundär ausgeschieden mit dem Hinweis, er stehe außerhalb der in der Reihenfolge des Alphabets angeordneten Buchstaben43, so ist er für Anthony R. Ceresko ein notwendiger Vers, um mit V. 2 אund V. 12ל, der Mitte des Psalms, den ersten Buchstaben אלףzu bilden. Diese Buchstabenfolge findet er auch in V. 2, zusammengesetzt aus dessen ersten, mittleren und letzten Buchstaben. Inhaltlich bedeutsam sei die alphabetische Ordnung insofern, als sie symbolisch die chaotischen Alltagserfahrungen ordne und somit von schöpfungstheologischer Qualität sei.44 Anders als Anthony R. Ceresko, der einen Zusammenhang der äußeren Form des Psalms mit der inhaltlichen Aussage sieht, argumentiert Paul W. Gaebelein, dass sie und insbesondere die Notation der alphabetischen Texte im Aleppo Codex Schlussfolgerungen über deren literarische Genese erlauben. Unvollständigkeit von Akrosticha sei ein Hinweis, dass sie im Exil beschädigt worden seien. Für Psalm 34 heiße dies: Nur die V. 2–8 seien vorexilisch und gehörten zu einem Text, der sich auf 1 Sam 21,11–22,2 bezogen habe und dessen Rest ebenso wie der ו-Vers verloren gegangen sei. Die V. 9–23 habe ein anderer Dichter nach dem Exil angefügt.
39 Gunkel 51968, 142. 40 Gunkel 51968, 143. 41 Kraus 51978, 418. 42 Vgl. Ceresko 1985, 99–104. Noch kompliziertere Rechnungen mit „chi square Tests“ und „null hypothesis […] at the.05 level in all tests“ und entsprechendem Tabellenmaterial unternimmt Houk 1990. Die Tests führen letzten Endes zu einer Gliederung des Textes in V. 2–6.7–11.12– 15.16–22.23. Fortgeführt werden die Beobachtungen Anthony R. Cereskos von Freedman 1997 unter Einbezug von Ps 25. Er findet insgesamt sechs alphabetisierende Sequenzen. Im Vergleich mit Keilschrift-Akrosticha gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass die Kombination von Akrostichon, Telestichon und der Buchstaben אלףin Ps 34 ein Hinweis auf die Unendlichkeit, Allgegenwart und das Allwissen JHWHs sein könnte. 43 So Gunkel 51968, 143 mit Verweis auch auf Psalm 25. 44 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Gous 1999 unter Einbezug der Kognitionswissenschaften. Mit Hilfe der Prototypaktivierung werden den Lesern und auch Hörern Akrosticha deutlich. So werde ein Bewusstsein für die zugrundeliegende Ordnung geweckt, das auf den ersten Blick nicht zu erschießen sei.
Forschungsgeschichte
69
Das Layout von Ps 34 im Aleppo Codex spiegele das Wissen um diesen Tatbestand wider.45
3.2.2.2 Psalm 34 in strukturalistischer Analyse Die einzige zu Psalm 34 erschienene Monographie von Lars O. Eriksson grenzt sich dezidiert von dem canonical approach in Anschluss an Brevard S. Childs ab. Er verortet sich methodisch innerhalb des historisch-kritischen Zugangs, will aber eine als „postcritical“46 zu charakterisierende Stufe erreichen und wählt dazu strukturalistische Ansätze und die Methode des close reading. Dies möchte er aber noch um die Frage nach der „Auslegungs- und Wirkungsgeschichte“ des Psalms im Neuen Testament und bei den Kirchenvätern erweitern.47 Er untersucht in separaten Kapiteln „language“, „style and structure“ und „form“ des Psalms, bevor er zu einer Datierung und historischen Situierung gelangt. Lars O. Eriksson bezieht sich bei seinen Analysen auf die Arbeiten von Liebreich (1956), Ridderbos (1972), Auffret (1981) und Girard (1984) und Bazak (1985)48. Eine Übersicht der verschiedenen Strukturanalysen führt vor Augen, wie wenig Konsens innerhalb dieser Gruppe der critique structurelle bzgl. der Struktur eines einzigen Textes herrscht: Einigkeit besteht lediglich darin, dass die V. 2–4 45 Vgl. Gaebelein 1990, 141–142. Ganz anders erklärt Ronald Benun die „Anomalien“ der alphabetisierenden Psalmen im ersten Psalmenbuch: Sie seien nicht zufällig verloren gegangen, sondern es sei bewusst intendiert, dass Buchstaben des Alphabets fehlen. In ihrer Abfolge zeigen die defektiven Akrosticha die Abfolge von Auswirkungen des Übels (Ps 9–10), einem Prozess des Lernens (Ps 25) und erneutem Vertrauen in Gott (Ps 34), um schließlich zur Einsicht zu gelangen, dass Gott treu zu seinem Bund steht (Ps 37). Mit dieser Frage Ronald Benuns nach der Entwicklung einer „Handlung“ in der kanonischen Abfolge der (alphabetisierenden) Psalmen wird also der Rahmen des Einzelpsalms überschritten und der Blick auf eine fortlaufende Lektüre der Psalmentexte geweitet (vgl. Benun 2006). 46 Eriksson 1991, 4 mit Verweis auf Brueggemann 1984, 10.16. 47 Vgl. Eriksson 1991, 1–3. In texttheoretischer Hinsicht legt Lars O. Eriksson ein eher produktionsästhetisches Modell des Lektüreprozesses zugrunde. Zwar bekundet er, es genüge nicht, verstehen zu wollen, was ein Text ursprünglich gemeint habe – indirekt setzt er damit aber ja voraus, dass es möglich ist, eine „ursprüngliche Bedeutung“ des Textes zu erheben. Ihn interessiere, welche verschiedenen Interpretationen ein Text im Laufe der Geschichte erfahren habe. Hierbei bleibt der Begriff „Wirkungsgeschichte“ texttheoretisch unscharf bestimmt. Auch im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Autor und Sprecher des Textes ist Lars O. Eriksson unpräzise und identifiziert das „Ich“ des Psalms mit dem „Psalmisten“ als Autor (vgl. Eriksson 1991, 11). Er bezieht sich auf das klassische Sender-Empfänger-Modell, das den Text als Boten einer message sieht: „When the psalmist wrote his poem, he most certainly wanted to convey a message of some kind and chose for this an outward shape, which would in his opinion best help in bringing out the message.” (Eriksson 1991, 34). Einen interessanten Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Metapher des „Schmeckens“ und der „suavitas Dei“ im monastischen Westen bringt Fulton 2006. 48 Vgl. die weiteren Beiträge von Auffret 1988 und 2004 und Girard 1996. Mit dieser Herangehensweise an den Text ändert sich auch die Einschätzung seines ästhetischen Wertes. Er sei laut Marc Girard ein „véritable bijou d’art structurel“ (Girard 1996, 588).
70
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
eine Einheit bilden.49 Zwar spricht Lars O. Eriksson von den Grenzen der formgeschichtlichen Methode, stellt aber dann doch in einem Kapitel die verschiedenen Gattungsklassifizierungen zusammen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass sich Psalm 34 einer eindeutigen Einordnung entziehe und sich keine spezifische Kultsituation rekonstruieren lasse. Der Wert der Analyse von Lars O. Eriksson besteht vor allem in seiner detaillierten Aufarbeitung der Forschungsgeschichte und der „Wirkungsgeschichte“ des Psalms.50
3.2.2.3 Psalm 34 im Kontext der Psalmengruppe 25–34 Hossfeld/Zenger (1994) und Barbiero (1999) analysieren Psalm 34 im Kontext der Psalmengruppe 25–34 bzw. des gesamten ersten Psalmenbuches. Dabei unterscheiden sich ihre methodischen Prämissen. Hossfeld/Zenger setzen beim Einzelpsalm an und weiten vor dem Hintergrund redaktionsgeschichtlicher Fragestellungen den Blick auf die Psalmengruppe bzw. den Psalter in seiner redaktionellen Genese. Für Ps 29 zeigen sie auf, dass dieser im Zentrum der konzentrisch aufgebauten Komposition Ps 25–34 steht, die von den beiden Akrosticha Ps 25 und 34 gerahmt wird.51 Mit Ps 26–28 liefen drei Bittgebete auf Ps 29 zu, der eine Zäsur bzw. Wende von der Bitte zum Dank markiere. Inhaltlich seien die sieben inneren Psalmen (unter Absehung des sekundär eingefügten Ps 33)52 von der Jerusalemer Tempeltheologie geprägt. Mit Ps 30 komme zum ersten Mal das Thema Krankheit zur Sprache, das seinerseits mit der Frage nach dem Grund der Krankheit im weiteren Verlauf zum Themenkomplex von Schuld und Sünde überleite. Während sich die Ps 28 und 30; 27 und 31 jeweils thematisch entsprächen, stünden Ps 26 und 32 in einem Kontrastverhältnis. Entstehungsgeschichtlich sei die Zusammenstellung der sieben Psalmen Ps 26–32 der spätexilischen Armenredaktion zuzuordnen. Deren primäres Anliegen bestehe in der Frage nach der Begegnung zwischen dem Gerechten und JHWH im Tempel als dem Ort der Rettung, nach der Beziehung von menschlichem und himmlischem König und dessen Fürsorge für Menschen und seinen Gesalbten und in der Gegenüberstellung der Armen und Frommen einerseits und der Sünder und Frevler andererseits. 49 Vgl. die Übersicht bei Eriksson 1991, 53. 50 Während Lars O. Erikssons Analysen auf den Einzelpsalm beschränkt sind, untersucht Pierre Auffret die strukturellen Verbindungslinien der beiden aufeinander folgenden Psalmen 33 und 34. Er weist mittels Untersuchungen zu Lexemwiederholungen eine Nähe von Ps 33,20–22 zu Ps 34,2–4 und von Ps 33,13–19 zu Ps 34,5–23 nach und kommt zu dem Ergebnis: „Pour autant elles [d. h. die Analysen der Psalmen 33 und 34] suffisent à montrer que leur succession dans le livre des Psaumes n’est pas un hasard et qu’elle répond à une lecture très heureuse des deux textes.“ (Vgl. Auffret 1988, 27). 51 Vgl. Hossfeld/Zenger 1994. 52 Untersucht wird also die Komposition einer entstehungsgeschichtlich älteren Einheit, nicht die des Endtextes.
Forschungsgeschichte
71
Diese Psalmengruppe sei nun durch die nachexilische Armenredaktion mit den Psalmen 25 und 34 gerahmt worden, deren formale und inhaltliche Entsprechungen nachgewiesen werden.53 Mit dieser Rahmung werde die Psalmengruppe gleichzeitig um die „Israelperspektive“ mit Einfügung des פ-Verses erweitert, die durch den Rekurs auf יִ ְׂש ָר ֵאלbzw. ֲע ָב ָדיוgegeben sei (vgl. Ps 25,22; 34,23). Ein paar Jahre später bezieht Erich Zenger die Größen ( יִ ְׂש ָר ֵאלPs 25,22) und ( ֲע ָב ָדיוPs 34,23) auf „Israel und die Völker“.54 Der Ansatzpunkt von Gianni Barbiero ist ebenfalls eine inhaltliche Analyse der Einzelpsalmen. Er kritisiert allerdings den literarkritischen bzw. redaktionsgeschichtlichen Ansatz von Hossfeld/Zenger und betrachtet den Endtext des Psalters rein synchron.55 Dabei bedient er sich der Instrumente der critique structurelle in Folge von Nicolaas H. Ridderbos, Pierre Auffret und Marc Girard und des close reading. Als strukturierende Prinzipien betrachtet er die „Attraktion“ und „concatenatio“ der Psalmen in unmittelbarer Abfolge und „Vernetzung“ durch „Fernverbindungen“, wobei sich die Analyse des Einzeltextes und dessen intertextuellen Verknüpfungen komplementär zueinander verhielten. Der Psalter sei der erste Exeget des Einzelpsalms.56 Ziel der Analyse sei letztlich, die theologische Dimension des Psalmenbuches durch eine lectio continua zu untersuchen. Am Kompositionsmodell von Hossfeld/Zenger bemängelt er, dass Ps 33 bei der angenommenen konzentrischen Struktur ohne Entsprechung bleibe.57 Vielmehr sei eine chiastische Struktur gegeben, in deren Zentrum die Psalmen 29 und 30
53 Vgl. insbesondere die Fußnote 35 bei Hossfeld/Zenger 1994, 384–385. Auch Johannes Schildenberger zeigt die Verbindungen des „Psalmenpaares“ Ps 25 und 34 in formaler und inhaltlicher Hinsicht auf. Bei beiden Psalmen handele es sich um Akrosticha, die keinen eigenen Vers für וaufweisen, dafür am Ende einen zusätzlichen פ-Vers, und die sich in drei Teile mit je zwei Strophen gliederten (vgl. Schildenberger 1981). 54 Zenger 1998, 21. 55 Vgl. Barbiero 1999, 19–21. Ansatzpunkt seiner Anfragen ist – erstmals gestellt von Millard 1996, aufgegriffen von Rendtorff 1996 – der methodisch verdoppelt hypothetische Charakter der redaktionsgeschichtlichen Position von Hossfeld/Zenger zur Komposition des Psalters: Werde die literarkritische Hypothese zur Entstehung des Einzelpsalms zum Ausgangspunkt der weiteren Hypothesenbildung zur Redaktionsgeschichte des Psalters, könne keine sichere Aussage zur Komposition des Psalters gemacht werden. Diese sei nur auf synchroner Ebene möglich und ergründe nicht die mutmaßliche Intention von Autoren (oder Redaktoren), sondern gründe allein auf Textebene (vgl. Barbiero 1999, 22). Vgl. dagegen die Argumentation für „den methodischen Primat der Synchronie vor der Diachronie“ (Schnocks 2014, 70–71), durch den voreilige Schlüsse in Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Psalters gerade verhindert werden: Nur synchron kaum erklärbare Störungen in der Textkohärenz des Einzeltextes sind im Hinblick auf die diachrone Frage relevant. Diese Beobachtungen müssen sich erst nach der Beschreibung des Kontextes des Einzelpsalms, also der Kompositionsstruktur auf der synchronen Ebene auch als relevant für die Redaktionsgeschichte erweisen. So verstanden sind auch die intertextuellen Bezüge der redaktionell zusammengestellten Texte nicht identisch mit der „Intention des Redaktors“ (vgl. Schnocks 2014, 80), sondern auch die entstehungsgeschichtliche Frage zielt letzten Endes auf ein adäquateres Verständnis des Textes selbst. 56 Vgl. Barbiero 1999, 30 mit Verweis auf Auwers 1994, 46: „Le livre comme exégète“. 57 Vgl. Barbiero 1999, 325–327.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
analog zu den Psalmen 8 und 9 in der ersten Struktureinheit von Ps 3–14 stehen. Begründet wird diese Strukturierung auch mit der Abfolge von Klageliedern zu Lob- und Dankliedern. Auch in der kompositionellen Einheit von Ps 25–34 stünden die beiden Hauptthemen des Psalters, die Königsherrschaft JHWHs und die Orientierung an der Tora, in einem korrelativen Verhältnis. Eine Dialektik zwischen dem himmlischen und dem irdischen König entstehe durch den Bezug zur zweiten Struktureinheit, vor allem Ps 18; 20–21. Die Tora-Thematik werde in der Psalmengruppe in den „weisheitlichen Eckpsalmen 25 und 34 aufgeführt […]. Hier werden die Bedingungen für die Wallfahrt zum Tempel vorgestellt.“58 Die Psalmen 30–34 seien zusätzlich durch das Thema „Sünde“ charakterisiert, so dass Rettung nicht so sehr auf äußere Feinde, sondern auf die eigene Schuld bezogen sei.59 Parallel dazu verlaufe das Motiv der Armenfrömmigkeit, und mit Ps 26–28 und 31 werde der Blick auf die kollektive und universale Ebene geweitet: Der Einzelfall werde zum Paradigma (Ps 34,7), der Schüler (32,8–9), der durch JHWH belehrt worden ist, werde zum Weisheitslehrer (Ps 34,12). Die Struktureinheit von Ps 25–34 werde durch den Abschluss mit Ps 34 durch den „Optimismus gekennzeichnet, der aus der Erfahrung der Rettung kommt“60.
3.2.2.4 Kleinere Untersuchungen Einige kleinere Aufsätze behandeln Einzelfragen in Bezug auf Psalm 34. So untersucht Kent H. Richards u. a. die biographische Notiz in V. 1.61 Wiliam P. Brown 58 Barbiero 1999, 330. So bestimmt Gianni Barbiero auch die gesamte Psalmengruppe als „Wallfahrtspsalmen“. Diese gattungsmäßige Engführung der Texte wirkt in ihrer Konkretisierung doch stark historisierend und kann den einzelnen Psalm nicht in seinem literarischen Profil würdigen, auch wenn Gianni Barbiero für sich reklamiert, sein methodischer Ausgangspunkt sei der Einzelpsalm (vgl. Barbiero 1999, 19). Zudem gerät bei dieser Vereinheitlichung aus dem Blick, dass die Einzelpsalmen möglicherweise im Widerspruch zueinander, also im Diskurs oder „Gespräch“ (Schnocks 2014, 57) in Form einer „theologische[n] Mehrstimmigkeit“ (Schnocks 2014, 70) stehen können. 59 Vgl. Barbiero 1999, 540–541. 60 Barbiero 1999, 541. 61 Kent H. Richards verbindet in seinem Aufsatz verschiedene Fragestellungen und Ebenen. Er zeigt zunächst die Verbindungslinien von V. 1 zum Psalmencorpus auf, die formal über den Gebrauch von טעםals Substantiv in V. 1 und als Imperativ in V. 9 laufen. Liest man V. 1 als historisierenden Rekurs auf 1 Sam 21,10–15, dann ist es die eigene Findigkeit Davids, die ihn sich vor dem König von Gat verstellen lässt. Er legt damit die Rolle des mächtigen Kämpfers ab und wechselt in die Rolle des Verrückten, der in der Perspektive des Königs von Gat nicht verfolgenswert ist. Erst im größeren Kontext der Davidserzählungen werden Dank und Lobaufforderungen des Ichs von Ps 34 als Dank und Preis Davids für die Erwählung durch JHWH transparent. Im Kontext des gesamten Psalters bleibe der Optimismus, dass JHWH Gerechte hört und rettet, während das Böse die Frevler dahinrafft, nicht unwidersprochen (vgl. Ps 73,3). Mit 1 Petr 3,10–12 werde schließlich deutlich, dass die Frage nach dem, der das Leben liebt (vgl. Ps 34,13), vor dem Hintergrund der Auferstehungshoffnung als Frage nach dem ewigen Leben gelesen werden kann
Forschungsgeschichte
73
fragt nach Verbindungslinien der Psalmen zur Weisheit, indem er ausgewählte Psalmen mit dem Sprüchebuch kontrastiert, die gemeinsame Rhetorik beschreibt und Spezifika benennt.62 Phil J. Botha verfolgt in zwei Aufsätzen eine sozialgeschichtliche Fragestellung. Über die Erschließung der sozialgeschichtlichen, literarischen und ideologischtheologischen Textdimensionen soll die Textpragmatik deutlich werden, so dass die Eigenart des Textes als Instrument von Kommunikation und sozialer Interaktion deutlich wird.63 Ausgehend von dem Rekurs auf „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ (V. 3) sieht er eine Verbindung zwischen sozialem Status und ethischer Qualifikation יקים ִ ַצ ִּד „Gerechte“ (V. 15), da das Lexem ֲענָ וִ יםseine materielle und soziologische Bedeutung von „arm“ nie verloren habe. So sei auch „Scham“ (V. 6) ein soziales Phänomen, das auf den Verlust von Status und Würde zurückzuführen sei. Das primäre Ziel des Psalms wird in der Ermutigung gesehen, JHWH treu zu folgen, also in der Stabilisation der Gemeinschaft in ihrer Identität als JHWH-Treue durch das Zeugnis des betenden Ichs. Medium sei die didaktische Belehrung, die sich formal in der Wahl von Imperativen und Sentenzen äußere, deren theologische Grundüberzeugung darin bestehe, dass sich die innere Verpflichtung JHWH gegenüber letztlich auszahle. Nicht die Gattungsfrage, sondern diese Bestimmung der Funktion des Psalms führe zu seinem „Sitz im Leben“. Für Phil J. Botha besteht dieser aufgrund intertextueller Bezüge in der nachexilischen Zeit, in der die nachexilische Gemeinde angesichts der Bedrohung durch fremde Völker dazu aufgefordert werde, an Macht und Güte JHWHs festzuhalten. In einem weiteren Aufsatz verbindet Phil J. Botha die Frage nach der Entstehungsgeschichte und sozialgeschichtlichen Kontextualisierung des Psalms mit der nach der Funktion der redaktionellen Situierung des Psalms im Leben Davids durch V. 1 und der nach der Bedeutung der Zuschreibung an David für die Unter-
(vgl. Richards 1986). Interessant im Hinblick auf gegenwartsgeleitete ethische Anfragen an die biblischen Texte und eine ethische Hermeneutik ist sein Hinweis, dass die rhetorische Frage, welcher Mensch lange Tage zu sehen liebe (Ps 34,12), angesichts von Sterbehilfedebatten der Gegenwart keine rein rhetorische Frage mehr ist. Angesichts eines veränderten Kontextes müssen Konzepte von gelingendem Leben, wie sie biblische Texte entwerfen, auf ihre Plausibilität und Relevanz in der Gegenwart kritisch hinterfragt werden. Allerdings setzt Kent H. Richards auch voraus, dass sich die Frage nach den „Tagen“ auf ein langes Leben beziehe. Diesem Verständnis muss man nicht folgen. So werden hier die Schwierigkeiten deutlich, die entstehen, wenn die ethische Relevanz biblischer Texte darin gesehen wird, einzelne Aussagen in die Gegenwart übertragen zu wollen. 62 Vgl. Brown 2005. Ps 34 weise in seiner rhetorischen Struktur mit Aufmerksamkeitssignalen wie ְלכּוund ( ִׁש ְמעּוV. 12), der rhetorischen Frage (V. 13) und den generellen Ermahnungen (V. 14– 15) Ähnlichkeiten zur Form der Unterweisung im Sprüchebuch auf. Eigenheiten ergeben sich jedoch im Verständnis der JHWH-Furcht. Im Sprüchebuch sei diese Gegenstand von Wissen und Verstehen in kognitiver Hinsicht (vgl. Spr 1,7.29; 2,5; 9,10; 15,33), die durch Erziehung erworben werden können. In Ps 34 sei JHWH-Furcht eine existentielle Größe, die das betende Ich befähige, das Rettungshandeln JHWHs zu bezeugen. „Refuge-taking is as much a matter of moral orientation as reverence is charged with saving significance.“ (Brown 2005, 91). 63 Vgl. Botha 1997, 178 mit Verweis auf Elliot, John H.: What is social-scientific criticism? Minneapolis 1993.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
weisung der JHWH-Treuen.64 So verweise die literarische Nähe von Psalm 34 zu weisheitlichen Texten65 auf eine Trägergruppe in nachexilischer Zeit, für die David zur Figur des weisheitlichen Lehrers66 wird, dessen Lehre Reflexion der eigenen Lebenserfahrung ist. Durch die Zuschreibung an die David-Figur werde die didaktische Unterweisung zugleich autorisiert und verifizierbar.
3.2.3 Folgerungen für eine biblisch-ethische Lektüre Bisherige Untersuchungen von Psalm 34 konzentrieren sich auf die Eigenart des Psalms als Akrostichon, wobei das Spektrum der Einschätzungen von seiner minderen ästhetischen Qualität bis dahin reichen, dass es sich um ein „véritable bijou d’art structurel“67 handele, auf Fragen der Gattungszuordnung und der Bestimmung seines historischen Ortes und auf redaktionskritische Analysen. Insbesondere die formengeschichtlichen und strukturalistischen Arbeiten verstellen den Blick auf ethische Fragestellungen. Diese kommen erst im Rahmen von Untersuchungen in den Fokus, die Einzelpsalmen im Kontext von Psalmengruppen bzw. des Psalters lesen. So rücken z. B. mit den Arbeiten von Hossfeld/Zenger und ihren Überlegungen zur Armenredaktion ethisch relevante Schlüsselbegriffe wie „ ֲענָ וִ יםArme“ und deren Anliegen in den Fokus. Sie lenken den Blick auf ethische Konzeptionen bzw. Fragen wie die nach der Möglichkeit der Begegnung des Gerechten mit JHWH und dessen Sorge um die Armen in der Gegenüberstellung von Armen bzw. Frommen und Frevlern. Kleinere Untersuchungen zeigen, dass Verbindungslinien von Psalm 34 nicht nur innerhalb des Psalmenbuches verlaufen, sondern auch zu anderen weisheitlichen Texten wie dem Sprüchebuch. So teilt Psalm 34 die Überzeugung, dass die JHWH-Furcht das Grundprinzip gelingenden Lebens ist, mit dem Sprüchebuch (vgl. Spr 1,7; 9,10; 15,33; Ijob 28,28), und auch das Ideal des langen, glücklichen Lebens (Spr 3,13–18). Ausgehend von diesem Forschungsstand soll im Folgenden Psalm 34 im Hinblick auf seine Struktur textimmanent ausgelegt werden, um poetische Eigenheiten, semantische Felder und Motive, Metaphorik und Themen zu benennen. Um 64 Vgl. Botha 2008. 65 Zur Frage nach einer weisheitlichen Bearbeitung vgl. als einer der ersten Joseph Reindl 1981: Ausgehend von Ps 1 als Eröffnung des Psalmenbuches sieht er im Redaktor des Psalters einen der „aus der Torahfrömmigkeit lebenden, schriftkundigen Männer, die an die Stelle der ‚Weisen‘ der alten Zeit getreten sind“ (Reindl 1981, 340). Dass sich weisheitliche Texte im Psalter finden, sieht er als Hinweis darauf, dass der Psalter in seiner Endgestalt nicht auf den Kult bezogen sei, sondern die Psalmen als „Meditationstexte“ verwendet worden seien. Auch wenn Joseph Reindls redaktionsgeschichtliche Thesen heute differenziert werden müssen, so behalten seine Textbeobachtungen doch weiter Gültigkeit und werden rezipiert (vgl. Schnocks 2002, 192–196). 66 Diese Tradition wird in 11QPsa fortgeführt: David wird als weise ( )חכםund voller Einsicht ()נבון beschrieben. 67 Girard 1996, 588.
Strukturanalyse
75
die in Psalm 34 zur Sprache kommenden ethische Konzeptionen und Schlüsselbegriffe – z. B. zu den Armen oder der JHWH-Furcht – zu erfassen, ist es zudem notwendig, die literarischen Kontexte des Psalters bzw. der hebräischen Bibel und auch die außerbiblische Traditionsgeschichte in den Blick zu nehmen. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse können so für die Frage nach den ethischen Konzepten der Welt des Textes und damit der Optionen für den Leser ausgewertet werden.
3.3 Strukturanalyse Psalm 34 lässt sich über Stichwortbezüge, aufgrund von syntaktischen Merkmalen und der wechselnden Sprechrichtung in drei große Teile (V. 5–8; 9–15; 16–23) gliedern, denen die Zuschreibung ְל ָדוִ דmit einer zeitlichen Verortung der Sprechsituation in V. 1 (Inf. cs. mit der temporal zu verstehenden Präposition ) ְּבund ein Lobaufruf in V. 2–4 vorangestellt sind.68
68 Vgl. die Strukturanalyse von Auffret 1981, 75–97, der ebenfalls die vier Segmente V. 2–4.5–8.9– 15.16–23 erkennt, allerdings V. 2–4 keine Sonderstellung gegenüber den drei anderen Abschnitten einräumt. Zu den verschiedenen Vorschlägen zur Struktur von Ps 34 im Vergleich vgl. Eriksson 1991, 46–54.
76
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Folgende Übersicht zeigt die Lexemverknüpfungen in Ps 34:69 Lexemverknüpfungen in Psalm 34 V. 1
טעם יהוה
V. 2
ֲענָ וִ ים ׁשמע יהוה נֶ ֶפׁש
V. 3 V. 4
יהוה
V. 5
יהוה
נצל דרׁש
V. 6
ָענִ י ׁשמע
V. 7
יׁשע ָצ ָרה ירא
V. 8 V. 9
טעם
יהוה
V. 10
יהוה
V. 11
יהוה
V. 12
ׁשמע יהוה
טֹוב ירא 2x דרׁש
ַמ ְחסֹור חסה טֹוב
חסר
טֹוב
V. 13
ַרע
V. 14
טֹוב
V. 15 V. 16
יהוה
V. 17
יהוה
V. 18
ׁשמע יהוה
V. 19
יהוה
V. 20
יהוה
ַרע ַצ ִּדיק ַרע
ָצ ָרה נצל יׁשע
ׁשבר
נצל
ַצ ִּדיק ׁשבר
V. 21
ַצ ִּדיק ַרע
V. 22 V. 23
יהוה נֶ ֶפׁש
חסה
אׁשם אׁשם
69 Berücksichtigt wurden Verben, Adjektive, Substantive und der Gottesname. Nicht berücksichtigt wurde die Wiederaufnahme der wa=jiqtol von הלךaus V. 1b im Imperativ von V. 12a. Die semantische Differenz der beiden Formen ist zu groß. Der Imperativ ist nicht als Fortbewegungsverb zu lesen, sondern als Aufmerksamkeitssignal.
77
Strukturanalyse
Folgende Übersicht zeigt syntaktische Strukturen und wechselnde Sprech richtungen: Konjugierte Verben qatal
jiqtol
Imp
wa= jiqtol
Nominal Inf
Ptz
V. 1
Sprechrichtung
NS x
x x x V. 2
x x
V. 3
x-jiqtol jiqtol
Subjekt Zuschreibung und Ereignisse der Vergangenheit Aufforderungen zum Gotteslob
V. 5
1. Sg. Sub-ePP 1. Sg.
2. Pl.
Aufruf (ihr – wir)
x
1. Pl.
qatal-x
Rettungserfahrungen der Vergangenheit
qatal-x qatal-x
Arme
1. Sg. (JHWH) (JHWH) 3. Pl. 3. Pl.
x-jiqtol x
ein Armer
qatal
(ein Armer)
x-qatal
JHWH
x-qatal
(JHWH)
V. 8
x
Bote JHWHs
x
(3. Sg.?) x x x x
jiqtol-x V. 10
Not des Betenden (ich) und Hilfe JHWHs (er) Not eines Kollektivs (sie)
Sub-ePP 3. Pl.
V. 7
V. 9
Lobvorsatz (ich)
Sub-ePP 1. Sg.
x
x-qatal
x x
V. 11
(David)
Verallgemeinerung (sie)
qatal-x V. 6
(Achimelch?)
Bericht über David (er – er )
(Arme)
jiqtol V. 4
(David)
x-qatal
Aufforderungen und allgemeine Aussagen über JHWH mit Aufruf zur Unterweisung
2. Pl.
Not einer dritten Person (er) allgemeine Aussage über die göttliche Rettung (er – er) Aufforderung (ihr)
2. Pl. JHWH der Mann (der Mann)
Inhalt (er) und Schlussfolgerung (er)
2. Pl. (seine Heiligen)
Aufforderung (ihr)
kein Mangel
Gründe (sie)
Junglöwen
qatal
(Junglöwen) x-jiqtol
V. 12
JHWH Suchende x
2. Pl. (Kinder)
x
2. Pl.
x-jiqtol
Aufruf (ihr) durch Beter (ich)
1. Sg.
V. 13 x
x
der Mann
x
(der Mann) (der Mann)
Rhetorische Frage (er)
78
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34 Konjugierte Verben qatal
jiqtol
V. 14
Imp
wa= jiqtol
Nominal Inf
Ptz
Sprechrichtung
NS
Subjekt
x
2. Sg. x
V. 15
(2. Sg.)
x
2. Sg.
x
2. Sg.
x
2. Sg.
x
2. Sg.
V. 16 V. 17
x
Augen JHWHs
x
seine Ohren
x
Angesicht JHWHs
Ereignisse der Vergangenheit und allgemeine Aussagen über JHWH
x V. 18
qatal x-qatal x-qatal
V. 19
x x-jiqtol x x-jiqtol x-qatal
V. 22
3. Pl. JHWH (JHWH) JHWH Mengen an Bösem JHWH
x
Wesen JHWHs (er)
(JHWH)
(JHWH)
V. 20
V. 21
Verhaltensregeln (du)
(JHWH)
JHWHs Handeln (er) als Reaktion auf Hilferufe (sie) JHWHs rettendes Handeln allgemein (er) angesichts der Hassenden (sie) an den Zuflucht Suchenden (sie)
nicht einer jiqtol-x
das Böse
x-jiqtol V. 23
die Hassenden x
x-jiqtol
JHWH Zuflucht Suchende
Vers 1: Als Bezugspunkt des Psalms wird eine Episode aus dem Leben Davids genannt: David verstellt vor Abimelech seinen Verstand, wird daher vertrieben und geht. Der Vers hebt sich durch die Referenz auf namentlich genannte Figuren, David und Abimelech, von den namenlosen Figuren und Figurengruppen des Psalmencorpus ab. Erzählt wird über Ereignisse in der Vergangenheit mit einem Inf. cs. und wa=jiqtol-Fügungen. Nicht eindeutig ist die Referenz der 3. Sg. m. in 1b. Vers 2–4: Das Psalmencorpus beginnt mit einer Lobaufforderung: Der beständige Lobpreis70 JHWHs durch das Ich soll selbst für Arme zum Anlass von Freude werden, so dass das betende Ich auch ein anwesendes Kollektiv zum Gotteslob auffordert. 70 Der hebräische Text ist hier mehrdeutig: V. 3b nennt kein explizites Objekt, was die Armen hören sollen und Anlass zu ihrer Freude sein soll. Aus dem Kontext ist der Bezug auf ְּת ִה ָּלתֹו „sein Lobpreis“ (V. 2b) als akustische Größe gegeben. Metonymisch steht der Ausdruck des Jubels für dessen Grund: Die noch zu berichtende Rettungserfahrung. Die Freude der Armen muss sich also auf diese beziehen. Vorausgesetzt wird für das Verständnis des Textes also dieser Zusammenhang von Lob und Grund des Lobes.
Strukturanalyse
79
Die Verse werden mit dem Wortfeld „loben“ bzw. Bildfeld „erhöhen“ (ברך pi. „segnen/preisen“ in V. 2a; „ ְּת ִה ָלהLobpreis“ in V. 2b; הללhit. „sich lobpreisen“ in V. 3a; גדלpi. „groß machen“ in V. 4a; רּוםpol. „erheben“ in V. 4b), den beiden Dauer ausdrückenden Zeitangaben „zu jeder Zeit“ (ל־עת ֵ ְּב ָכin V. 2a) und „beständig“ ( ָּת ִמידin V. 2b) und der parallelen Umschreibung der 1. Sg. mit „mein Mund“ (V. 2b) bzw. „meine Nefeš“ (V. 3a) verknüpft. Strukturell enger verbunden sind V. 2–3 durch jiqtol-Formen: Der Kohortativ in V. 2a und analog die beiden Nominalsätze in V. 2b–3a beschreiben den Selbstvorsatz des Ichs, V. 3b die angezielte Reaktion der Armen. Dem gegenüber wechselt in V. 4 die Sprechrichtung: Mit einem Imperativ wird die Audienz zum Gotteslob aufgefordert (V. 4a). Mit der präpositionalen Angabe „ ִא ִּתיmit mir“ (V. 4a) und einem Kohortativ (V. 4b) werden die Ich- und die Ihr- in die Wir-Perspektive überführt. Zwar werden V. 2–4 inhaltlich über das gemeinsame Thema des Lobpreises und der Erhöhung JHWHs zusammengehalten. Argumentiert man stärker formal, wäre es auch möglich, von einem Neueinsatz mit V. 4 analog zu den Imperativen von V. 9.10.12 auszugehen. Da allerdings auch eine formale Nähe zwischen dem Kohortativ in V. 2a, dem Imperativ in V. 4a und dem Kohortativ in V. 4b besteht, ist aufgrund formaler und inhaltlicher Gründe eine strukturelle Einheit von V. 2–4 gegeben. Vers 5–8: Als Grund für den Lobpreis Gottes werden menschliche Rettungserfahrungen genannt: Das betende Ich, unbekannte Dritte und ein individueller Armer haben auf ihre Hinwendung zu JHWH folgend göttliche Hilfe erlebt. Von diesen Heilserfahrungen wird die generelle Aussage abgeleitet, dass JHWH-Fürchtenden Rettung widerfährt. Die Sprechrichtung des gesamten Abschnitts ist abgesehen von V. 5a wie im dritten großen Abschnitt V. 16–23 die der 3. Person: Während in der Lobaufforderung (V. 2–4) und im Zusammenhang der Unterweisung (V. 9–15) die Audienz direkt in der 2. Person angesprochen wird, erfolgt hier – ausgelöst von der eigenen Rettungserfahrung – ein Bericht über Erlebnisse der Menschen mit JHWH. V. 5a kommt insofern eine Sonderrolle zu, als mit dem Eigenbericht eine Überleitung zwischen der Lobaufforderung und den folgenden Ausführungen geschaffen wird. Auch wenn das Folgende nicht explizit mit „ ִּכיdenn“ eingeleitet wird, werden so die V. 5–23 zur Begründung der Aufforderung zum Gotteslob. Zusammenhalt entsteht in diesem Abschnitt nicht nur über die Sprechrichtung, sondern auch über Wortfelder, die ein asymmetrisches Verhältnis von Mensch und Gott als Hilfesuchender und Rettender beschreiben: Verschiedene Verben, vor allem aus dem akustischen und visuellen Bildfeld, veranschaulichen in diesem Abschnitt die Hinwendung zu JHWH („ דרׁשsuchen“ in V. 5a; נבטhi. „schauen auf “ in V. 6a; „ קראrufen“ in V. 7a; „ יָ ֵראfürchtend“ in V. 8a) und die göttliche Reaktion („ ענהantworten“ in V. 5a; נצלhi. „retten“ in V. 5a; „ ׁשמעhören“ in V. 7a; יׁשעhi. „retten/befreien“ in V. 7b; חלץpi. „retten“ in V. 8a) bzw. die Folgen für den Menschen („ נהרstrahlen“ in V. 6a; חפרpi. „nicht beschämt sein“ in V. 6c). Die missliche Situation wird mit den Substantiven „Ängsten“ (V. 5a) und „Bedrängnissen“
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
(V. 7b) beschrieben. Indirekt verweist auch die Bezeichnung „ein Armer“ auf den Grund für die Anrufung Gottes. Die fast durchgängig verwendeten qatal-Formen weisen das Geschilderte als Erlebnis der Vergangenheit aus. Die Perspektive wechselt von der 1. Person Singular zur 3. Person Plural, dann zur 3. Person Singular. Der Abschnitt schließt mit einer partizipialen Aussage in V. 8a, mit der die Dauer des göttlichen Schutzes angezeigt wird. Vers 9–15: Von den Rettungserfahrungen ausgehend erfolgt eine erneute Hinwendung an die Anwesenden, die zu Erkenntnis, JHWH-Furcht und Belehrung aufgefordert werden. Mit der direkten Anrede an die Audienz wird in V. 9 ein neuer Abschnitt eröffnet, der durch die Anrede an die 2. Person bestimmt ist. Die Imperative in V. 9a; 10a; 12a erzeugen dabei jeweils Unterabschnitte: Die Aufforderung, zu erkennen, dass JHWH gut ist, führt zur Schlussfolgerung, dass derjenige glücklich ist, der sich an ihn wendet (V. 9). Der Appell, JHWH zu fürchten, kann daher auch damit begründet werden, dass derjenige keinen Mangel leidet, der JHWH sucht (V. 10–11). Weil JHWH gut ist, die ihn Suchenden bzw. Fürchtenden also keinen Mangel an Gutem leiden, ergibt sich als Konsequenz der Aufruf „Kommt, Kinder!“ und der Vorsatz des Ichs, die Angesprochenen in JHWH-Furcht zu unterweisen (V. 12). Im Kontext des Psalms nimmt V. 12 nicht nur formal als Mittelvers des Akrostichons (exklusiv V. 1.23),71 sondern auch inhaltlich eine Sonderstellung ein: Das betende Ich reflektiert die eigene Rede als Unterweisung in Bezug auf die JHWH-Furcht. Strukturiert wird der Psalm auch von den in der 1. Person Singular formulierten Aussagen: Die Selbstaufforderung (V. 2a) gründet in der Rettungserfahrung (V. 5a), die zur Unterweisung (V. 12a) führt. Von einer Frage eingeleitet, die die Universalität des Strebens nach dem Guten, im Kontext des Verses also nach Gott, voraussetzt, folgen nun Handlungsaufforderungen, die ein JHWH-fürchtiges Verhalten umschreiben (V. 13–15). Formal ist auch der einzige Fragesatz des Psalms ein Aufmerksamkeitssignal, das die Gewichtigkeit der inhaltlichen Aussage unterstreicht: Die Unterweisung bezieht sich auf das universal konzipierte menschliche Glücksstreben. Begreift man die Rede des Ichs von V. 2–4 her gelesen als Gotteslob, zeigt sich, dass die Unterweisung Anderer in JHWH-Furcht, also ethischem Verhalten, und der Lobpreis Gottes in der Perspektive des Ichs identisch sind. Die Frage nach dem Handeln des Menschen ist aufs engste mit der Beziehung zu Gott verbunden. Geschlossenheit wird in dem Abschnitt V. 9–15 vor allem über Imperative an die 2. Person Pl. bzw. 2. Person Sg. und Lexemwiederaufnahmen („ טֹובgut“ als Leitwort in V. 9a.11b.13b.15a bzw. „ ַרעböse“ in V. 14a.15a) erzeugt.
71 Vgl. die Überlegungen von Ceresko 1985, 101. Dagegen Eriksson 1991, 55, der den außerhalb des Alphabets stehenden פ-Vers miteinbezieht: Die Anfangsbuchstaben von V. 2.12.23 als Anfangs-, Mittel- und Schlussvers ergeben zusammen gelesen das Wort אלף, das nicht nur den ersten Buchstaben des Alphabet bezeichnet, sondern auch ein Synonym zu „lernen“ למדist.
Strukturanalyse
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Vers 16–23: Im letzten Abschnitt wird ausgefaltet, inwiefern Gott, der gut ist, denen, die Gutes tun, also den Gerechten, nah ist, während die, die Böses tun, sich von ihm entfernen. Dabei führt das Tun des Guten zur Nähe Gottes, also zu Rettung, es schließt aber nicht aus, dass auch den Gerechten „Mengen an Bösem“ widerfahren. Wer gottlos ist und den Gerechten hasst, ist schuldig, während denen, die sich an JHWH wenden, Erlösung und Freiheit von Schuld in Aussicht gestellt werden (V. 16–23). Die Verse dieses Teils sind vor allem durch Stichwortverknüpfungen und Wortfelder miteinander verknüpft. Gegenübergestellt wird das Verhalten von dem „Gerechten“ ( ַצ ִּדיקin V. 16a.20a.22b) und denen, die Böses tun ( ע ֵֹׂשי ָרעin V. 17a). Mit der abstrakten Größe „Böses“ ist auch der Gerechte konfrontiert ( ָר ָעהin V. 20a). Er jedoch kann von JHWH gerettet werden, während den Frevler das Böse ( ָר ָעהin V. 22a) tötet. Zum Wortfeld „Böses“ als Charakterisierung des negativ bewerteten menschlichen Verhaltens gehört innerhalb dieses Abschnittes auch die Bezeichnung für den Frevler ( ָר ָׁשעin V. 22a) und den, der den Gerechten hasst (ׂשנא in V. 22b). Die missliche Lage der Gerechten und die Hinwendung zu Gott wird mit zwei Lexemen des Wortfeldes „schreien“ („ ַׁשוְ ָע ָתםihr Schreien/ihr Hilferuf “ in V. 16b und „ צעקschreien“ in V. 18a) bzw. dem Verb „Zuflucht suchen“ ( חסהin V. 9b.23b) beschrieben. Diesem menschlichen Verhalten korrespondiert das göttliche, das im Hören ( ׁשמעin V. 18a) und Retten ( נצלhi. in V. 18a; 19b; 20b) bzw. Erlösen ( פדהin V. 23a) besteht. Kohärenz wird in den Versen 16–23 vor allem auch dadurch erzeugt, dass JHWH fast durchgängig explizites Subjekt ist und in der 3. Person über sein Wesen und Handeln berichtet wird. Innerhalb der Verse 16–23 werden weitere Unterabschnitte generiert: In V. 16a– 17b wird mit der anthropomorphen Beschreibung JHWHs in Nominalsätzen Kohärenz erzeugt („ ֵעינַ יִ םAuge“ in V. 16a; „ ָאזְ נַ יִ םOhr“ in V. 16b; „ ָּפנִ יםAngesicht“ in V. 17a). Die qatal-Formen in V. 18a–c weisen das Erzählte als Ereignis in der Vergangenheit aus, während ab V. 19 mit jiqtol-Formen und NS wieder generelle Sachverhalte beschrieben werden. Beide Verse thematisieren das göttliche Rettungshandeln ( נצלhi. in V. 18; יׁשעhi. in V. 19). Die V. 19a.21a.23a sind analog konstruiert und beschreiben mit einem Adjektiv bzw. Partizip jeweils positiv die Gegenwart Gottes bzw. sein rettendes Handeln. V. 22 befasst sich jedoch mit dem Schicksal des Frevlers ( ָר ָׁשעin V. 22). Ein Bezug zwischen V. 23 und 22, dem ת-Vers, also dem letzten Vers des Akrostichons, wird durch die Wiederaufnahme des Verbs „schuldig sein“ ( אׁשםin 22b; 23b) hergestellt. Darüber hinaus bestehen Verbindungen der einzelnen Teile untereinander. Nicht zuletzt sind die Verse 2–22 mit Akrostichie verbunden. Außerhalb des Akrostichons stehen V. 1 und 23. Ein Bezug von V. 1 zum Psalmencorpus V. 2–23 wird über die Stichwortverbindung ( טעםV. 1a.9a) hergestellt. Von V. 23 ist mit der Wiederaufnahme der Verben חסה(V. 23b.9b) und אׁשם(V. 23b.22b) aus V. 22 und V. 9 und der Wiederaufnahme des Lexems ( נֶ ֶפׁשV. 23a.3a) ein Bezug zum alphabetischen Corpus gegeben. Zwar steht V. 23 außerhalb des Akrostichons, wobei zudem erstmals die Gruppe der ֲע ָב ִדיםgenannt wird, jedoch ist V. 23 anders als V. 1 the-
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
matisch in das Psalmencorpus integriert. V.1 eröffnet einen narrativen Kontext; V. 23 hingegen gehört noch zur Unterweisung. Daher gebührt ihm keine Sonderstellung, wie es bei V. 1 der Fall ist. Die einzelnen Teile sind über Lexemwiederholungen miteinander verknüpft: Während JHWH in V. 2–4 Objekt des Lobpreises ist, tritt er ab V. 5a und insbesondere ab V. 16a bis zum Ende des Psalms in V. 23a als handelndes Subjekt in den Blick. Gerahmt wird das Psalmencorpus über die Wiederaufnahme des Lexems Nefeš, die konkret das Organ des JHWH-Lobs (V. 3a) bezeichnet und abstrakt für die Existenz des Ichs und der Knechte JHWHs steht (V. 3a.23a). Der Psalm weitet also den Blick vom einzelnen Geretteten zur Gesamtheit der Erlösten. Als Schlüsselwort findet sich in allen vier Abschnitten das Verb „hören“ ( ׁשמעin V. 3b.7a.12a.18a), das sich im Wechsel auf das gehörte Gotteslob bzw. die Unterweisung in der JHWH-Furcht und das Rettungshandeln JHWHs bezieht. Mit dem Verb „suchen“ ( דרׁשin V. 5a.11b) als Ausdruck für die Hinwendung an JHWH werden die V. 5–8 und 9–16 verbunden. Eine größere strukturelle Nähe besteht innerhalb des Psalmencorpus aufgrund der identischen Sprechrichtung in der 3. Person und wegen Lexemwiederaufnahmen zwischen dem 2. Abschnitt V. 5–8 und dem 4. Abschnitt V. 16–23, die die ethische Unterweisung (V. 9–15) rahmen. Diese wiederum ist um den zentralen Mittelvers (V. 12) gruppiert. Da die Belehrung der Angesprochenen nicht erst mit V. 12 beginnt, sondern bereits mit den Imperativen in V. 9, ist V. 12 nicht nur kataphorisch, sondern auch anaphorisch zu verstehen. Im engeren Sinn wäre also die Adresse an die 2. Person von Vers 9 bis Vers 15 als Lehrrede aufzufassen, im Weiteren sogar der gesamte Psalm, da sich die Anrede an ein Kollektiv bereits ab V. 4 findet. Es ergibt sich also eine insgesamt konzentrische Struktur.72 Wie Ps 33 kann man Psalm 34 als weisheitlich abgewandelten Hymnus mit V. 2–4 als Lobaufruf und V. 5–23 als corpus hymni verstehen, der angesichts der Größe und des rettenden Handelns Gottes über menschliches Verhalten reflektiert. Aus der Gesamtheit der Beobachtungen ergibt sich folgende Struktur:
72 Vgl. Weber 2001, 166, der allerdings von einem „3-stanzigen Psalm“ mit den Strophen 2–8.9– 15.16–23 ausgeht. Die Analyse von Hossfeld/Zenger 1993, 210–211 will zwei Teile erkennen (V. 2–11.12–22). Richtig ist, dass V. 12 als Reflexion der Rede auf einer anderen Ebene liegt als die inhaltlichen Teile des Psalms. Allerdings hebt er sich so auch von den folgenden Versen ab, so dass aufgrund der syntaktischen Merkmale und lexematischen Verbindungen besser von einer Dreigliedrigkeit auszugehen ist. Eine Zweiteilung in ein „Danklied V. 2–11 und einer weisheitlichen Belehrung V. 12–23“ (Oeming 2000, 194) wird der wechselseitigen Bezogenheit von Erfahrung und Lehre, Dank und Unterweisung, der Güte Gottes und dem menschlichen Handeln, wie sie Psalm 34 beschreibt, nicht gerecht. Dieser Struktur entspricht Girard 1996, 582 eher, wenn er von „un grand diptyque“ spricht und die beiden Teile A (V. 2–4; 9–15) mit Doxologie und Didaktik den beiden inhaltlichen Teilen B (V. 5–8; 16–23) mit der Aussage, Gott blicke auf die Benachteiligten, gegenüberstellt.
Auslegung
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V. 1: Biographische Situierung im Leben Davids V. 2–4: Lobaufruf V. 2a-3a: Selbstaufforderung zum beständigen Lob JHWHs V. 3b: freudige Reaktion der Armen auf das Gotteslob V. 4: Aufruf zu gemeinsamem Lob JHWHs V. 5–23 Das gemeinsame Lob als Unterweisung I. V. 5–8: Rettung durch JHWH in unterschiedlichen Notsituationen V. 5: Rettung des Ichs aus Ängsten V. 6: Vermeiden von Scham durch die Hinwendung zu JHWH V. 7: Rettung eines Armen aus allen Bedrängnissen V. 8: Allgemeine Rettungsaussage für JHWH-Fürchtende ()ירא II. V. 9–15: Aufforderung zu Erkenntnis und JHWH-Furcht und Unterweisung V. 9: Aufruf zu Erkenntnis und Schlussfolgerung V. 9a: Aufruf, JHWHs Güte ( )טֹובzu erkennen V. 9b: Schlussfolgerung: Zuflucht bei JHWH führt zu gelingendem Leben V. 10–11: Aufruf zu JHWH-Furcht und Begründung V. 10a: Aufruf zu JHWH-Furcht ()ירא V. 10b–11b: Grund: kein Mangel an Gutem ()טֹוב V. 12: Metareflexion: Höreraufforderung für die Unterweisung in JHWH-Furcht ()ירא V. 13: Menschliches Verlangen nach Gutem ( )טֹובals Grund für Unterweisung (formal: Frage) V. 14–15: Unterweisung: Meiden des Bösen () ַרע, Tun des Guten ()טֹוב
III. V. 16–23: Zusammenhang von menschlichem Verhalten und Gottesnähe V. 16–17: JHWHs Verhältnis zum leidenden Gerechten ( ) ַצ ִּדיקund zum Übeltäter () ַרע V. 18–19: Rettungshandeln JHWHs aus Bedrängnissen V. 20–21: Rettung des Gerechten ( ) ַצ ִּדיקvor dem Bösen ( ) ַרעdurch JHWH V. 22: Tod durch das Böse ( ) ַרעund Schuld der Feinde des Gerechten () ַצ ִּדיק V. 23: Allgemeine Aussage zu Erlösung bei JHWH
3.4 Auslegung Im Folgenden sollen die Strukturabschnitte von Psalm 34 jeweils zunächst (1) textimmanent auf der Ebene des Einzelpsalms ausgelegt werden. Dabei werden die poetischen Eigenheiten, semantische Felder und Motive, Metaphorik und Themen benannt.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
In einem weiteren Schritt (2) werden die literarischen Kontexte berücksichtigt und die thematischen Bezüge hergestellt, die das Verständnis des Einzelpsalms erhellen. Primärer Kontext des Psalms ist der Psalter; darüber hinaus werden das gesamte Alte Testament und die außerbiblische Traditionsgeschichte einbezogen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden abschließend (3) für die Frage nach den ethischen Konzepten und ihrer Relevanz für den Leser ausgewertet.
3.4.1 Biographische Situierung im Leben Davids (Vers 1) 3.4.1.1 Vers 1: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms ימ ֶלְך ֑ ֶ ת־ט ְעמֹו ִל ְפ ֵנ֣י ֲא ִב ֭ ַ ּנֹותֹו ֶא ֣ ְל ָד ִ ֗וד ְּב ַׁש
1a
ַֽ ֜ויְ גָ ֲר ֵׁ֗שהּו וַ ּיֵ ַ ֽלְך׃
b
David zugehörig, als er seinen Verstand vor Abimelech verstellte, / und er ihn wegtrieb, so dass er wegging.
Vers 1 steht außerhalb des Psalmencorpus, das von einem Akrostichon gebildet wird. Er bezieht den folgenden Psalm zum einen auf David und ordnet ihn zum anderen mit einem temporalen Infinitivus constructus einer bestimmten Situation im Leben Davids zu. Als Antagonist erscheint Abimelech, da mit ihm die Vertreibung Davids ( גרׁשin V. 1b) verbunden ist. Allerdings wird die Reaktion Davids auf die Vertreibung neutral mit הלךbenannt und nicht als Flucht beschrieben. Vers 1 setzt mit dem Infinitivus constructus eine dem Leser bekannte Situation voraus. Ansonsten bleibt unverständlich, worauf sich das „Verstellen des Verstandes“ (V. 1a) bezieht. Erst von V. 5 („aus allen meinen Ängsten hat er mich gerettet“) her wird die beschriebene Situation eindeutig als Notsituation erkennbar. Vom weiteren Textverlauf her erscheint David nicht nur als dankender und Gott lobender Beter (V. 2–8), sondern auch als weisheitlicher Lehrer, der sein Auditorium unterweist (V. 9–23). Mit der Überschrift wird der folgende Psalm also in einen narrativen Rahmen eingebettet und damit konkretisiert und individualisiert: Das betende Ich des Psalms, das in der ersten Person spricht, wird so zu David. Mit dem Schlussvers V. 23 wird die Rettung Davids, die Rettung des Einzelnen – mit dem Verweis auf die „Armen“ in V. 3 und auf das Kollektiv in V. 6.8 vorbereitet – kollektiviert.73 Unabhängig von der Frage nach ihrer historischen Genese bildet die Überschrift einen hermeneutischen Schlüssel für die Lektüre des Psalms, wie die weitere Analyse zeigen wird.74 73 Vgl. Schnocks 2019, 280. 74 Überwiegend wurde in redaktionsgeschichtlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass die biographischen Zuordnungen der Davidspsalmen der einfachen Zuschreibung ְל ָדוִ דgegenüber sekundär sind. Die Reihenfolge der Psalmen scheint schon festgestanden zu haben, bevor sie einer konkreten Situation im Leben Davids zugeordnet wurden, sonst wären die Psalmen entsprechend der bio-
Auslegung
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3.4.1.2 Vers 1: Literarische Kontexte Mit der Davidzuschreibung ist ein erster Kontext von Psalm 34 das Corpus der Davidpsalmen. Darüber hinaus wird auf eine bestimmte Episode aus Davids Leben Bezug genommen, so dass 1 Sam 21,11–16 einen Kontext im engeren Sinn, 1 Sam 21–26 im weiteren Sinn bildet. (1) Im Kontext der Davidpsalmen ist Ps 34 mit seiner Zuschreibung singulär. Während die überwiegende Zahl der Davidpsalmen mit historisierenden Angaben bzw. biographischen Überschriften klagenden Charakter haben, bildet Ps 34 mit Ps 18 und Ps 30 eine Ausnahme: Zurückgeblickt wird explizit (Ps 18,1 „am Tag, als JHWH ihn errettet hatte“ ( נצלhi.)) oder implizit auf die Rettung durch Gott (Ps 30,1)75; zudem beginnen die Psalmencorpora mit einer Lobaufforderung. Ps 34 ist der einzige weisheitliche Psalm, der eine biographische Verortung im Leben Davids zeigt.76 Mit Psalm 56 gibt es einen weiteren Davidspsalm, der auf dieselbe narrative Passage der Samuelbücher (1 Sam 21,11–16) verweist. Die biographische Notiz lautet hier: „ ֶ ּֽב ֱא ֙ח ֹז א ֹ֖תֹו ְפ ִל ְׁש ִ ּ֣תים ְּב ַ ֽגת׃Als ihn Philister in Gat ergriffen.“ (Ps 56,1). Anders als Ps 34 lässt sich Ps 56 aber als Explikation der Furcht Davids (vgl. 1 Sam 21,13 „Und David fürchtete sich sehr.“) und als Prozess der Überwindung der Furcht durch sein Gottvertrauen lesen (vgl. Ps 56,5.12: „Ich fürchte mich nicht.“): „Auf diese Weise trägt der Psalm Davids Gottverhältnis in dieser Episode nach, das die Erzählung ganz ausläßt.“77 Ps 34 hingegen entwickelt ausgehend von der erzählten Notsituation und der erfolgten Rettung eine ethische Reflexion bzw. Unterweisung. Zieht man hinzu, graphischen Angaben sicherlich chronologisch angeordnet worden (vgl. Ballhorn 1995, 21 mit Angabe von Literatur). Dagegen Schnocks 2019, 277–279: Die biographischen Überschriften in Ps 52–59* seien bereits auf der ersten Stufe der Sammlungen anzusetzen. Erst dann würden die übrigen Psalmen des ersten und zweiten Davidpsalters mit ְל ָדוִ דdavidisiert. Die Überschriften von Ps 3 und 34 könnten zeitgleich dazu entstanden sein. Craigie 1983, 278 hingegen hält die biographische Situierung auch literarkritisch für ursprünglich: Der „Titel“ weise so wenig Gemeinsamkeiten mit dem Psalm auf, dass man nicht erklären könne, warum er sekundär hinzugefügt worden wäre. Er sei vielmehr alt und sei einem älteren Danklied vorangestellt gewesen, das dann erst zu diesem Akrostichon ausgebaut worden sei. 75 Die Situationsangabe „Zur Einweihung des Hauses“ (Ps 30,1) ist zu beziehen auf die in 1 Chr 21 geschilderte Rettung Davids vor einer durch David verursachten Bedrohung, zu der Stichwortverbindungen vorliegen, vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 188. Zudem wird bei kanonischer Lektüre auch von Ps 30,2 („Ich will dich erheben, JHWH, denn du hast mich herausgezogen, so dass meine Feinde sich nicht über mich freuen konnten.“) im Rückblick deutlich, dass die Angabe in V. 1 als Verweis auf eine Rettungssituation verstanden werden kann. Anders Botha 2008, 593, für den Ps 30 nicht zu den Psalmen mit einer biographischen Überschrift gehört. 76 Vgl. Botha 2008, 595. 77 Kleer 1996, 99. Ps 56 ist im Hinblick auf die biographischen Notizen besser in seinen Kontext integriert (vgl. Ps 52,1: Verrat durch Doeg; Ps 54,1: Verrat durch die Sifiter; Ps 57,1: Flucht vor Saul; Ps 59,1: Bedrohung durch Sauls Männer), was mit Claudia Süssenbach daran liegen mag, dass diese bereits auf einer ersten Stufe durch diese Überschrift zu einer Sammlung zusammengefügt worden sind (Süssenbach 2005, 290).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
dass auch Ps 25 einerseits um Errettung aus Not bittet (vgl. vor allem Ps 25,17 und 34,5) und andererseits Fragen des richtigen Verhaltens thematisiert, wird der Zusammenhang von göttlichem Rettungshandeln und menschlichem Tun zum Leitthema der Psalmengruppe Ps 25–34. Während in Ps 25 das betende Ich die Notlage ausführlicher beklagt, wird in Ps 34 durch die Einfügung der biographischen Notiz der mit V. 5 gegebene Verweis auf die eigene Rettung entfaltet.78 (2) Ps 34 ist mit dem Vermerk ְל ָדוִ ד79und einer biographischen Situierung versehen. Sie verweist auf eine Episode im Leben Davids, von der in 1 Sam 21,11–16 erzählt wird. David ist auf der Flucht, nachdem klargeworden ist, dass Saul ihm nach dem Leben trachtet (vgl. 1 Sam 20,33). In Nob erfährt er Unterstützung durch den Priester Ahimelech (vgl. 1 Sam 21,2–10). Von dort gelangt er zu Achisch, dem König von Gat (vgl. 1 Sam 21,11; in Ps 34 Abimelech80). Dessen Knechte erkennen in ihm den erfolgreichen Krieger und König David (vgl. 1 Sam 21,12), was für David Anlass ist, sich – vorausgesetzt ist in der Erzählung das Wissen um die Feindschaft zwischen Israel und den Philistern – vor Achisch zu fürchten (vgl. 1 Sam 21,13; vgl. Ps 34,5 Rettung des Ichs aus seinen Ängsten: גּורֹותי ַ „ ְמmeine Ängste“).81 Im Anschluss stellt er sich wahnsinnig (ת־ט ְעמֹו ַ וַ יְ ַׁשּנֹו ֶאin 1 Sam 21,14; vgl. Ps 34,1a), so dass Achisch seine Knechte zur Rede stellt, wozu diese ihn zu ihm gebracht hätten. Achisch schließt mit einer rhetorischen Frage, ob ein solcher Wahnsinniger denn in sein Haus kommen solle (vgl. 1 Sam 21,15–16). Dass die Rede des Philisterkönigs als Vertreibung Davids ( וַ יְ גֲ ֵׁשהּוin Ps 34,1a) und des-
78 Die Art der biographischen Situierung von Ps 34 stimmt mit der von Ps 3 überein. Dies mag Indiz sein, dass sie im selben Zug entstanden sind (vgl. Schnocks 2019, 280). 79 Zur Diskussion der „ursprünglichen Bedeutung“ und „Bedeutungsentwicklung“ des Vermerks vgl. Kleer 1996, 78–86. 80 Der Philisterkönig Abimelech begegnet in Gen 20; 21; 26. Nach Midrasch Tehillim ist Achisch ein gerechter König. Die Referenz auf ihn mit „Abimelech“ in Ps 34,1 wird erklärt: „Allein er war so gerecht wie Abimelech.“ (Vgl. Midrasch Tehillim zu Ps 34 nach der Ausgabe von Wünsche 1892), weshalb er in V. 1 „König Abimelch“ genannt wird. Anders Franz Delitzsch, der keinen ausdrücklichen Bezug „auf jenen philistäischen Vorgang“ (Delitzsch 1984, 271) (gemeint ist 1 Sam 21,14) erkennen will, also nicht von literarischer Abhängigkeit ausgeht, sondern ein historisches Ereignis aus dem Leben Davids und eine sich darauf beziehende Überlieferung voraussetzt. Um dieses habe der Schreiber von Ps 34 gewusst. Abimelech sei der „Würdename der philistäischen Könige wie Pharao der Ägypter, Agag der Amalekiter und Lucumo der Etrusker“. Die Möglichkeit der Identifizierung von Abimelch als den philistäischen König schlechthin ziehen auch Craigie 1983, 278; Hossfeld/Zenger 1993, 213 in Betracht. Insofern erschiene V. 1 durch die Nennung eines Personennamens nur im Gewand der Individualisierung. Tatsächlich würde der Verweis auf Abimelech dann eine Vielzahl von Identifikationsmöglichkeiten eröffnen. Zu den verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten, dass in V. 1 Abimelech und nicht, wie zu erwarten, Achisch erscheint, vgl. Seitz 2013, 282: 1. Irrtum des Schreibers (Hans-Joachim Kraus); 2. Abimelech ist Achimelech, der Priester von Nob; 3. Abimelech ist der hebräische Name für philistäisch Achisch (Raschi, rezipiert von Mitchell Dahood); 4. Abimelech als Würdentitel (Thomas von Aquin, Calvin, s. o.). 81 Von 1 Sam 17 her ist die Furcht Davids umso verständlicher: Schließlich hat er den Kämpfer Goliat aus Gat erschlagen und trägt nun dessen Schwert bei sich (vgl. 1 Sam 21,10).
Auslegung
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sen Rettung zu verstehen ist, legt der folgende Vers nahe: „Und David ging von dort und entkam [ ]מלטin die Höhe Adullam.“ (1 Sam 22,1; vgl. וַ ּיֵ ַלְךin Ps 34,1b). In 1 Sam 21,11–16 ist es die Findigkeit Davids selbst, der in der Situation das Richtige tut, um sich zu retten. Brisant dabei ist, dass es gerade die Vortäuschung falscher Sachverhalte ist, vor der Ps 34,14 warnt, die ihn rettet. Ausdrücklich wird diese Rettung allerdings erst in Ps 34 im Kontext der Lobaufforderung als göttliche Rettung benannt.82 (3) Versteht man die Präposition ְּבdes Infinitivus constructus nicht rein punktuell, lässt sich auch der weitere Kontext von 1 Sam 21–26 als hermeneutischer Rahmen von Ps 34 lesen.83 Auf der Handlungsebene blickt Ps 34 dann auf in 1 Sam 21–26 erzählte Erfahrungen zurück. Im Kontext der Belagerung Keilas befragt David JHWH und erhält eine Antwort ( וַ ּיַ ֲענֶ הּוin 1 Sam 23,4; vgl. וְ ָענָ נִ יin Ps 34,5), die ihn vor Saul rettet. Ein expliziter Bezug auf das Rettungshandeln Gottes erfolgt durch den Erzähler: „Und Saul suchte ihn alle Tage, aber Gott gab ihn nicht in seine Hand.“ (1 Sam 23,14). Im weiteren Erzählverlauf kommt ein Bote ( ַמ ְל ָאְךin 1 Sam 23,27; vgl. Ps 34,8) zu Saul, der aufgrund dessen Botschaft den Kampf mit den Philistern aufnimmt, statt David weiterzuverfolgen. Indirekt hat also der Bote David gerettet, der aus der Perspektive von Ps 34 als Bote JHWHs erscheint. Dass die, die JHWH fürchten, keinen Mangel an Gutem leiden (vgl. Ps 34,11), erfährt David durch Abigail, die ihn versorgt (vgl. 1 Sam 25,18.27), da sie mit ihrer Segensgabe versucht, den antizipierten Zorn Davids abzuwenden. Am Ende des Erzählzyklus formuliert David vor Saul die Überzeugung, JHWH werde ihn aus aller Bedrängnis retten: וְ יַ ִּצ ֵלנִ י ל־צ ָרה ָ „ ִמ ָּכUnd er wird mich aus jeder Bedrängnis retten.“ (1 Sam 26,24). Das betende Ich des Psalms blickt auf solch eine Rettungserfahrung in der Vergangenheit zurück (הֹוׁשיעֹו ִ רֹותיו ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ in Ps 34,7), verallgemeinert sie (רֹותם ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ ִה ִּצ ָילםin Ps 34,18) und deutet sie so theologisch.
3.4.1.3 Ertrag für die Fragestellung Die durch V. 1 ermöglichte intertextuelle Lektüre von Psalm 34 umfasst eine inhaltliche und eine hermeneutische Ebene und verweist zugleich auf die Bedeutung des Rekurses auf Autoritäten im Kontext ethischer Fragestellungen.
82 Vgl. Midrasch Tehillim zu Ps 34 nach der Ausgabe von Wünsche 1892. Der Midrasch Tehillim theologisiert die Rettung Davids: Dieser erfleht von Gott den Wahnsinn, der ihn dann errettet. 83 Vgl. Kleer 1996, 92: Der „Autor der Psalmüberschrift“ habe eventuell auch einen Bezug zwischen 1 Sam 23,1–13 gesehen. Vgl. auch Botha 2008, 605, der weitere Referenzpunkte von Ps 34,1 וַ ּיֵ ַלְך in 1 Sam 22,3.5; 23,5 (vgl. auch 1 Sam 26,25) erkennt und den gesamten Textkomplex 1 Sam 21– 26 zur Basis seiner Ausführungen macht. Für ihn ist Ps 34 ein Dialog Davids mit seinen Gefolgsleuten über JHWH (vgl. Botha 2008, 595). In Psalm 34 referiere David also auf sich selbst als „Armer“ und seine erfolgte Rettung (vgl. Botha 2008, 606).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
3.4.1.3.1 Die inhaltliche Ebene: Was ist gutes Handeln? Die durch V. 1 angeregte intertextuelle Lektüre von Psalm 34 mit 1 Sam 21–26 führt in die Frage nach dem ethischen Tun des Menschen ein. Explizit oder implizit ist Thema, was es heißt, zu verstehen, dass JHWH gut ist (vgl. Ps 34,9), und das Gute zu tun und das Böse zu meiden (vgl. Ps 34,15). Auch wenn Ps 56 auf dieselbe narrative Passage im ersten Samuelbuch rekurriert, wird diese in Ps 34 zum Ausgangspunkt anderer Fragestellungen. Bezieht man Ps 34,1 auf die Episode in 1 Sam 21,11–16, tut David das Richtige, das ihn am Leben erhält, indem er den König Achisch vorsätzlich täuscht, kommt aber damit der Wahrheitsverpflichtung von Ps 34,14 nicht nach. Gut und böse sind also keine abstrakten moralischen Kategorien, sondern das situativ Angemessene und dem Leben Förderliche, wobei Ps 34 zeigt, dass die Möglichkeit der Rettung auch dem gegeben ist, der den ethischen Ansprüchen nicht genügt. Zu erkennen ()טעם, dass JHWH gut ist, zeigt sich im weiteren Kontext von 1 Sam 21–26 erstens in seiner Konkretheit im Handeln der Abigail. Sie hält David davor zurück, sich an Nabal zu rächen, deutet dies aber als Handeln JHWHs: „JHWH hat dich davor zurückgehalten, in Blutschuld zu geraten und dich mit deiner Hand zu retten.“ (1 Sam 25,26). David preist ihre Klugheit () ַט ַעם, die aus der Perspektive der Figuren identisch mit dem Handeln Gottes ist (vgl. 1 Sam 25,39). Die Frage, was gutes Handeln bedeutet, stellt sich zweitens auch in der Erzählung über die Ereignisse in der Höhle von En-Gedi. Als Saul sich in die Höhle zurückzieht, deuten Davids Männer dies als die von Gott gegebene Gelegenheit, Saul zu tun, „wie es gut ist in deinen [= Davids] Augen“ (1 Sam 24,5). Aus Davids Perspektive ist dies der Rat der Männer, Saul zu töten (vgl. 1 Sam 24,11), den er jedoch vor JHWH zurückweist, weil Saul dessen Gesalbter ist (vgl. 1 Sam 24,7). Im anschließenden Gespräch mit Saul tritt David als weisheitliche Figur wie das betende Ich von Ps 34 auf, die ein „altes Sprichwort“ zitiert: „Von den Frevlern geht Gottlosigkeit aus.“ (1 Sam 24,14; vgl. Ps 34,22: „Den Frevler tötet das Böse.“), mit dem David seine eigene moralische Integrität behauptet. Saul bezeichnet David als „gerecht“ und erkennt dessen moralische Überlegenheit an. Das Handeln Davids ist für ihn Kriterium für die Erkenntnis von Gutem und Bösem: David habe ihm Gutes erwiesen, er ihm aber Böses (vgl. 1 Sam 24,18). Das richtige Tun zeige sich darin, wie man seinem Feind gegenübertritt: „Denn wenn jemand seinen Feind findet, lässt er ihn dann im Guten seinen Weg gehen?“ (1 Sam 24,20). David erweist sich hier als ethisch überlegen, weil er nicht, wie die rhetorische Frage impliziert, so handelt, wie zu erwarten wäre (nämlich, den Feind zu töten), sondern er lässt seinen Feind Saul „im Guten seinen Weg gehen“ (1 Sam 24,20). Die Möglichkeit und Notwendigkeit, die allgemeinen Aussagen und ethischen Aufforderungen zu konkretisieren, zeigen sich in der Zusammenschau mit dem ersten Samuelbuch, in dem die Frage nach dem guten Handeln gestellt wird. Damit wird zugleich auf die hermeneutische Ebene verwiesen.
Auslegung
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3.4.1.3.2 Die hermeneutische Ebene: Die Funktion der biographischen Notiz für den Leser
Von Vers 1 her gelesen ist Psalm 34 ein Lobaufruf angesichts der erfolgten Rettung aus einer individuellen Notsituation und der Wende vom Unheil zum Heil. Die konkrete Verortung im Leben Davids macht David zu einer exemplarischen Gestalt: „Es ist ein Paradox, daß gerade über die Bindung von ‚allgemeinen‘ Psalmen an ganz bestimmte Situationen aus dem Leben Davids diese Psalmen auf das jeweils unterschiedliche und individuelle Leben der vielen Beter adaptibel werden.“84 Dabei kann der Grund für die Bedeutung der Psalmen für den Leser unterschiedlich bestimmt werden: In der Analogie der Bedrängnis oder in der Offenheit der Sprache. Für Martin Kleer ist die Zuschreibung an David als Identifikationsangebot an den Leser bzw. Beter zu verstehen. Vorausgesetzt wird bei dieser Deutung die Vergleichbarkeit von Notsituationen: Sind ähnliche Erfahrungen im Leben Davids und des Lesers gegeben, besteht die Möglichkeit der Identifikation.85 Allerdings ist hier zu fragen, ob es tatsächlich die Vergleichbarkeit der Notsituationen ist, die eine Identifikation ermöglicht, und nicht vielmehr die Offenheit der Psalmensprache bzw. die Welt des Textes, die die Rezeption und Lektüre des Textes vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen ermöglicht. Der Vermerk ְל ָדוִ דwäre dann ein textliches Signal, das auf die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, die Psalmentexte mit konkreten Erfahrungen zu füllen, hinweist. In Bezug auf die Sprechrichtung von Ps 34 ist zudem zu differenzieren: Der Leser nimmt gewissermaßen eine Doppelrolle ein. Als Beter ist er in der Rolle dessen, der aufgrund eigener Erfahrungen zu anderen spricht. Als angesprochenes Du bzw. Teil eines kollektiven betenden Ihr erfährt er sich unter dem Anspruch der Belehrung. Die situative Verortung im Kontext der Erzählungen von der Flucht Davids vor Saul zeigt, dass die inhaltliche Unterweisung im Dialog mit konkreten Erfahrungen steht, denen der im Text handelnden Figuren und denen der Leser des Textes. Die implizite Anweisung, Ps 34 von der eigenen Lebenserfahrung her und im Hinblick auf konkrete Anforderungssituationen zu lesen, gilt dann auch für die im Psalm formulierten Appelle.86 84 Ballhorn 1995, 24. Man könnte sagen, dass hier ein Fall von Abduktion vorliegt: Vom vorliegenden Einzelfall (die Rettung Davids) wird auf die allgemeine Regel (Gott rettet Bedrängte) geschlossen. Unter der Voraussetzung, dass die allgemeine Regel zutrifft, gilt sie auch für den Einzelfall (jeder Bedrängte wird gerettet). 85 Vgl. Kleer 1996, 78–86. 86 Diese wurden in ihrer Offenheit als Zeichen für die mindere Qualität gelesen. So formuliert Bernhard Duhm polemisch in Bezug auf V. 12–15: „Hier soll nun nichts geringeres [sic!] als die Gottesfurcht gelehrt werden, man dürfte von Rechts wegen etwas besonders Bedeutsames und Umfassenderes erwarten. Der Verf. kann sein Versprechen in den drei Versen 13–15 abmachen. Voran stellt er V. 13 den Zweck der Gottesfurcht: es ist ein gutes Leben! Wieder der naivste Eudämonismus (s. V. 10), ausgedrückt in der witzigen Frage: wer möchte es gut haben (die Frage
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Diese Unbestimmtheit der Unterweisung ermöglicht eine Rezeption von Ps 34 in wechselnden Kontexten. Das angesprochene Du, also der Leser bzw. Beter des Psalms, kann und muss die Aufforderungen von seiner eigenen Lebenssituation her lesen.87 Dies wird mit Vers 1 als hermeneutischem Horizont des Psalms deutlich. Was es heißt, zu verstehen, dass JHWH gut ist, und was es bedeutet, das Gute zu tun, muss je situativ ergründet werden. 3.4.1.3.3 Die Bedeutung von Lehrenden in ethischen Zusammenhängen Psalm 34 als Gebet Davids, der als Lehrer auftritt, zu verstehen, bedeutet auch, dem Text eine besondere Autorität zuzuschreiben. Die Unterweisung wird gewissermaßen doppelt abgesichert: Sie ist einerseits erfahrungsgesättigt und bezieht sich auf konkrete Ereignisse im Leben eines Menschen. Andererseits erfolgt sie mit Bezug auf Begebenheiten im Leben Davids. Dies heißt aber nicht, dass die Person, die diese Belehrung übernimmt, automatisch über jeden moralischen Zweifel bzw. jede Anfrage erhaben wäre. So kann das betende Ich des Psalms dazu auffordern, sich vor trügerischer Rede zu hüten (vgl. Ps 34,14). Die Figur David sagt Ahimelech, dem Priester von Nob, die Unwahrheit über den Anlass seiner Reise und täuscht vor, sie sei nicht alleine, sondern mit heiligen Männern unterwegs (vgl. 1 Sam 21,1–6).88 Das Streben nach gutem Handeln ist nicht identisch damit, tatsächlich Gutes zu tun. Damit rechnet auch das betende Ich des Psalms: Es ist nicht die Rede davon, dass nur die Gerechten erlöst werden, sondern dass die, die bei ihm Zuflucht suchen, nicht schuldig seien (vgl. Ps 34,23). Davon unabhängig ist dem Leser die Möglichkeit gegeben, den David der Erzählungen der Samuelbücher an den Ratschlägen des Ichs von Ps 34 zu messen. 3.4.1.3.4 Die ethische Relevanz für den Leser Mit dem Verweis auf David und der Zuordnung des Psalms zu einer Situation in seinem Leben in V. 1 wird Psalm 34 als Gebetstext in Handlungszusammenhänge eingeführt. Der Leser wird auf diese Weise angeregt, die Textwelt von Ps 34
ähnlich wie 25,12)? Natürlich möchte das jeder. Es fragt sich also, wie man dazu kommt. Man kommt dazu durch Gottesfurcht. Worin besteht diese? Darin, daß man nichts Böses und Betrügerisches redet V. 14 und mit anderen Frieden hält V. 15. Welch ein Lehrer! welche [sic!] tiefe und neue Erkenntnis für den ‚Sohn‘. Hat der Verf. ernsthaft gemeint, damit die Gottesfurcht gelehrt zu haben?“ (Duhm 1922, 138). 87 Vgl. zu narrativen Texten: „Die Unbestimmtheit des Textes stimuliert somit die Aktivität der Leser und begründet damit die kommunikative Wirksamkeit des fiktionalen Textes. Je weniger eine Geschichte einem ganz bestimmten Kontext verhaftet ist und nur in diesem ‚funktioniert‘, je ‚typischer‘ die in ihr erzählten Handlungen und Rollen erscheinen, desto leichter wird es den Leserinnen und Lesern fallen, die Welt des Textes mit ihrer Welt zu verbinden, den Text zu adaptieren und »bisher Unbekanntes an die eigene ‚Erfahrungsgeschichte‘ anzuschließen«.“ (Frey 2000, 340 mit Zitat von Iser 31998, 249). 88 Vgl. auch Botha 2007, 611.
Auslegung
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in diese einzutragen und so „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen“89 zu unternehmen. Er wird zu einem Urteil darüber herausgefordert, ob und wie sich Bekenntnisaussagen von Ps 34 wie „JHWH ist gut“ (V. 9) in der Lebensgeschichte Davids wiederfinden und ob und wie dieser die Aufforderung, „Gutes zu tun und Böses zu meiden“ (V. 15), handelnd umsetzt. Dabei ist zu klären, was unter „gut“ und „böse“ zu verstehen ist. Mit der Davidsfiktion wird ein Identifikationsangebot für den Leser geschaffen, das ihm Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, zu denen er sich zu verhalten hat. Diese kann er probeweise übernehmen und wird gleichzeitig durch die Welt des Textes mit einer Weltsicht konfrontiert, die ethisches Tun mit dem Gottesgedanken verbindet. So wird an den Leser in der intertextuellen Lektüre mit 1 Sam 21–26 die Frage gestellt, ob er – wie Abigail – Gott im rettenden Handeln der Menschen erkennt. Im Konflikt mit Saul stellt sich die Frage, wie auf dessen Versuche, David zu töten, angemessen zu reagieren ist und welche Rolle dabei spielt, dass Saul als der Gesalbte JHWHs gilt. Für den Leser ist David Zeuge des göttlichen Rettungshandelns. Er bürgt für die Wahrheit der Zuwendung Gottes zum Menschen und der aus ihr erwachsenen Konsequenz für das menschliche Handeln, das am Guten orientiert zu sein hat. Dieses Zeugnis fordert den Leser heraus, sich zu diesem Blick auf ethische Fragestellungen im Zusammenhang der Beziehung von Gott und Mensch zu verhalten.
3.4.2 Lobaufruf (Vers 2–4) 3.4.2.1 Vers 2–4: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms ל־עת ֑ ֵ הו֣ה ְּב ָכ ָ ְֲא ָב ֲר ָכ֣ה ֶאת־י ָּ֜ת ִ֗מיד ְ ּֽת ִה ָּל ֥תֹו ְּב ִ ֽפי׃ ַ ּ֭ביהוָ ה ִּת ְת ַה ֵּל֣ל נַ ְפ ִ ׁ֑שי יִ ְׁש ְמ ֖עּו ֲענָ ִו֣ים וְ יִ ְׂש ָ ֽמחּו׃ יהו֣ה ִא ִ ּ֑תי ָ ּגַ ְּד ֣לּו ַל רֹומ ָ ֖מה ְׁש ֣מֹו יַ ְח ָ ּֽדו׃ ְ ְּונ
2 a אIch will JHWH zu jeder Zeit preisen, / b beständig (sei) sein Lobpreis in meinem Mund. 3 a בIn JHWH soll sich lobpreisen meine Nefeš. / b Arme sollen (es) hören, und sie sollen sich freuen. 4 a גMacht JHWH groß mit mir, / b und lasst uns seinen Namen zusammen erheben!
„Ich will JHWH zu jeder Zeit preisen!“ (V. 2a) – mit dieser Selbstaufforderung beginnt der Psalm und markiert somit zugleich sein eigenes Selbstverständnis als Gotteslob. V. 2–4 zeichnen sich zum einen durch die formale Geschlossenheit aus.
89 Ricœur 1996, 201.
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Zu fragen ist also erstens nach deren Bedeutung für die Textaussage. Zum anderen stellt sich zweitens die Frage nach dem Verhältnis von betendem Ich, Angesprochenen und der Größe der ֲענָ וִ ים. (1) Die sprachliche Gestaltung von V. 2–4 ist streng ausgeführt und betont so die Bedeutung des Lobaufrufes. Der Abschnitt beginnt mit einem Trikolon in V. 2a–3a in der Form abc // c’a’d // ba’d’ über die Versgrenze hinweg, das die Jubelrufe des Ichs aus verschiedenen Perspektiven beschreibt.90 Das Monokolon in V. 3b ist insofern das Pendant von V. 2a–3a, als nun der Blick auf die möglichen Hörer des Jubels gelenkt und deren erwartete Reaktion geschildert wird. Durch die Wiederaufnahme des Gottesnamens aus V. 2a. verbindet V. 4a den formal disparaten Abschnitt inhaltlich. V. 4a–b formulieren syntaktisch parallel gestaltet die Konsequenz, die sich aus der Perspektive des Ichs ergibt: das gemeinsame Gotteslob. Evoziert wird von der Eröffnung her für den gesamten Psalm eine öffentliche Redesituation, in der ein Einzelner einem Kollektiv gegenübertritt. ל־עת ֑ ֵ ְּב ָכ
[Temp] c Trikolon
Monokolon
ְּב ִ ֽפי
הו֣ה ָ ְֶאת־י
ֲא ָב ֲר ָכ֣ה2a
[Obj.] b [loben] [1. Sg.] a ְ ּֽת ִה ָּל ֥תֹו
[1. Sg. ] d [lobpreisen] [Obj] a’ נַ ְפ ִ ׁ֑שי
ִּת ְת ַה ֵּל֣ל
[1. Sg.] d’
[lobpreisen] a’
וְ יִ ְׂש ָ ֽמחּו
ֲענָ ִו֣ים
[freuen]
[Subj.]
ִא ִ ּ֑תי
יהו֣ה ָ ַל
[comm.][1. Sg.]
[Obj.]
יַ ְח ָ ּֽדו
ְׁש ֣מֹו
[comm.]
[Obj.]
ָּ֜ת ִ֗מידb
[Temp] c’ ַ ּ֭ביהוָ ה3a
[Obj.] b יִ ְׁש ְמ ֖עּוb
[hören] ּגַ ְּד ֣לּו4a
[loben][2. Pl.] רֹומ ָ ֖מה ְ ְ ּונb
[loben][1. Pl.]
In V. 2–4 wird auf diese Weise sowohl eine Korrelation von individuellem und kollektivem Gotteslob als auch von Rettungserfahrungen des Einzelnen und deren Bedeutung für die Gesamtheit hergestellt. Noch bevor explizit der Grund des individuellen Gotteslobes genannt wird, soll es für die Zuhörer zum Anlass zu Freude werden. Lob und Lobursache sind also auseinander abzuleiten. „Durch das Erzählen der konkreten Rettungserfahrung im Kult […] wird die individuelle Heilshoffnung in das Heilswissen der Gemeinde integriert“91, und unabhängig davon, ob jedes andere Mitglied der Gemeinde eine vergleichbare Rettungs-
90 Vgl. zum Parallelismus membrorum Wagner 2007a, 1–26; Janowski 42013, 13–21. 91 Janowski 42013, 245.
Auslegung
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erfahrung schon gemacht hat, wird die individuelle Rettungserfahrung zu einer „paradigmatischen Rettungserfahrung des Kollektivs“92, für das sie Anlass zu Hoffnung und Freude wird.93 (2) Offen bleibt im Kontext von Psalm 34, in welchem Verhältnis das betende Ich und die Angesprochenen zu den „Armen“ stehen. Im engeren Kontext von V. 2–4 erscheinen drei Größen: das betende Ich, die ֲענָ וִ יםund die Adressaten in 2. Pl., deren Verhältnis ungeklärt ist. Diese Leerstelle wird in der Auslegungs geschichte gefüllt. Im weiteren Kontext berichtet das betende Ich von seinen Ängsten (V. 5). Eine Zuordnung des Ichs zur Gruppe „der Armen“ wäre möglich. Vers 7 verweist analog zur Rettung des Ichs in 1. Sg. (V. 5) auf die „eines Armen“. Allerdings bleibt auch hier offen, ob das betende Ich mit „dem Armen“ identisch ist. Dennis W. Tucker zieht Ps 86,1–2 heran, um zu zeigen, dass das betende Ich in 1. Sg. und „der Arme“ identisch sind. Er sieht Ps 34 als vergleichbares Beispiel, „where twice the psalmist claims to be one of the poor ( ענוים34:2; עני34:6), but then concludes the psalm with the affirmation that the Lord redeems the life of his servants (“)עבדים94. Folgt man dieser Identifizierung in Bezug auf Ps 34, dann wird die Situation „des Armen“ (V. 7), nun aber Geretteten mit der der ֲענָ וִ יםgleichgesetzt. Deren fortdauernde miserable Lage wird durch den Blick auf die Rettung überdeckt. Gleichermaßen wäre aber auch möglich, dass es sich bei den ( ֲענָ וִ יםV. 3) und den Angesprochenen (V. 4) um dieselbe Gruppe handelt. So identifizieren Hossfeld/Zenger die Adressaten der Rede mit den „Armen“95. Das betende Ich könnte dann gleichermaßen dieser Gruppe zugeordnet werden. Konsequenz beider Lesarten ist, dass es sich bei der Unterweisung von Ps 34 um eine Binnenmoral handelt, die nur für eine spezifische Gruppe gilt. Die Aufforderung an die Gruppe der ֲענָ וִ ים, das Böse zu meiden (V. 14), verweist in dieser Perspektive zudem darauf, dass sich die Gruppenbezeichnung nicht primär auf eine reale Notlage, sondern auf eine ethische Größe bezieht.96 Beide Identifikationen werden der Offenheit des Psalms nicht gerecht. Selbst wenn die ֲענָ וִ יםmit der Gruppe der mit den Imperativen in V. 4 zum Gotteslob Aufgerufenen identisch sind oder das betende Ich Teil dieser Gruppe ist, leistet der Personenwechsel einen Wechsel der Blickrichtung und damit eine bewusste Einnahme der Fremdperspektive. Dies gilt auch für V. 7: Auch wenn das betende Ich von sich selbst in der 3. Person reden sollte, wird so ein neuer distanzierter Blick auf es möglich.97
92 Gärtner 2012, 50. 93 In Ps 34 wird von verschiedenen Heilserfahrungen in V. 5–8 erzählt werden. 94 Tucker 2003, 168. Auch für Kraus 1978, 419 verweist Vers 7 „paradigmatisch und demonstrativ auf das erlebte Schicksal des Psalmisten“; vgl. Ridderbos 1972, 248. 95 Vgl. Zenger/Hossfeld 1993, 213. 96 Vgl. Bremer 2016, 354–356. 97 Zum Personenwechsel vgl. Wagner 2007a, 23.
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Im Kontext von V. 2–4 hat der Verweis auf das Kollektiv der Armen eine argumentative Funktion: Nicht nur das betende Ich jubelt über JHWH, sondern sein Lob soll auch diejenigen, die sich in einer deprivierten Situation befinden, erfreuen. Als Grund dafür legt sich die Antizipation des eigenen Heils analog dem des Geretteten nahe. Dass auch die Armen von Freude erfüllt sein sollen, obwohl sie noch keinen persönlichen und konkreten Anlass dazu haben, wird für die Angesprochenen zum Appell, sich den Armen zuzuwenden. Der Blick auf die ֲענָ וִ יםführt dieser Sicht folgend zu einem „Prozeß der Solidarisierung“98. Das betende Ich verkündet zunächst sein eigenes Lobvorhaben (V. 2a–3a). Die Freude der Armen (V. 3b) wird zum Anlass, auch das Kollektiv zum Lobpreis JHWHs mit ihm (V. 4a) aufzufordern (2. Pl.), so dass das Gotteslob ein gemeinsames (1. Pl.) ist (V. 4b). Mit dieser Aufforderung zur grenzüberschreitenden Erhöhung des Namen JHWHs99, also der Überführung der Ich- in die Wir-Perspektive, endet der Abschnitt. Im weiteren Verlauf des Psalms, der in das rechte Verhalten einführen will, werden die Gerechten (V. 16) zur positiven Referenzgröße im Unterschied zu denen, die Böses tun (V. 17). Ein weiteres Gegensatzpaar stellen die „zerbrochenen Herzen“ bzw. „die verzagten Geistes“ (V. 19) und der „Frevler“ (V. 22) dar. Durch die weisheitlichen Oppositionen wird der Leser angeleitet, in den „Zerbrochenen“ und „Verzagten“ die ֲענָ וִ יםzu sehen und sie mit den „Gerechten“ zu identifizieren, so dass die Qualifikation als ֲענָ וִ יםeine ethische Dimension erhält. Der Abschnitt V. 2–4 erfüllt – so das Ergebnis – mehrere Funktionen: 1. Mit einer Selbstverpflichtung eröffnet das betende Ich eine Zukunftsdimension. Die von Lob bestimmte Beziehung zu JHWH reicht über den gegenwärtigen Zeitpunkt und den expliziten Lobpreis und ein aktuelles Beten des Psalms hinaus. Das Ziel der gesamten Existenz des betenden Ichs ist der Lobpreis Gottes. 2. Gleichzeitig wird dieser Lobpreis in einem performativen Sprechakt vollzogen.100 Der Lobpreis ist mit der Rede des Ichs identisch. Der ganze Psalm ist Gebet und Lobpreis trotz fehlender invocatio.
98 Hossfeld/Zenger 1993, 213. 99 Auch an anderen Stellen im Psalter wird zur Segnung des Namens JHWHs (Ps 96,2; 100,4 u. ö.), zum Lobpreis seines Namens (Ps 7,18; 68,5; 69,31; 149,3 u. ö.; „Name seiner Herrlichkeit“ in Ps 72,19) oder der „Ehre seines Namens“ ( ְּכבֹוד ְׁשמֹוin Ps 29,2; 66,2; 96,8 u. ö.) aufgerufen. In Ps 34,4 steht ְשמֹוwie in Ps 96,2 in einem synonymen Parallelismus zu JHWH (vgl. auch Ps 7,18; 29,2; 68,5). Anders als beim direkten Bezug auf JHWH als Objekt des Preisens umfasst die Aufforderung zur Erhöhung des JHWH-Namens einen materiellen und einen funktionalen Aspekt: Konkret ist an die Nennung des Namens im Lobpreis gedacht. Dadurch, dass der Name genannt wird, wird JHWH – in einem performativen Akt – erhöht. 100 Vgl. Janowski 42013, 271 mit Bezug auf Ps 30; vgl. Scharbert 1973, 825: „Solche Formeln galten vielmehr selber schon als Lobpreis JHWHs.“ Zur Frage nach der Pragmatik der Formulierungen mit ברךvgl. Leuenberger 2008a, 10–11, der als Grundkonstellation von ברךeine Kombination von Handlung und Äußerung ansieht. Dass der Lobaufruf selbst schon Gebet ist und somit Wirklichkeit schafft, zeigt sich in der erwarteten Reaktion der Armen: Sie verstehen die Rede des Ichs als Lobpreis der Größe JHWHs, deshalb freuen sie sich (V. 3b–c).
Auslegung
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3. Die V. 2–4 haben zudem die Funktion, einen öffentlichen Raum zu schaffen und eine Solidargemeinschaft zwischen den „Armen“ und den Adressaten der Rede zu konstituieren, in die der Leser bzw. Beter des Psalms hineingenommen ist. Er ist bei der Lektüre des Psalms Beter und Angesprochener zugleich, nicht Beobachter, sondern Teil der Welt des Textes. Insofern also werden in dem ersten Abschnitt in einer Art Metareflexion das Selbstverständnis des Psalms und die Rolle des Ichs deutlich gemacht. Er weckt zudem eine Erwartungshaltung beim Leser, weitere Informationen über den Grund des Lobpreises zu erfahren, und verweist so auf die Rettungserzählung voraus (V. 5).
3.4.2.2 Vers 2–4: Literarische Kontexte Die Kontexte des Psalms im Psalter vertiefen die anthropologische, theologische und ethische Dimension des Lobaufrufes (V. 2–4). Dies zeigt der Blick auf die spezifischen Lexeme des Lobaufrufes und armentheologische Kontexte. Die Frage nach den literarischen Kontexten eines Textes in Form von ähnlich strukturierten Texten stellt auch die gattungsgeschichtlich orientierte Exegese. Sie erfolgt in diesem Zusammenhang mit dem Ziel, die Verwendungssituation eines Textes zu erheben. Gleichzeitig vermag sie aber auch, zu einer anthropologischen Fragestellung hinzuführen. Klassisch und gattungsgeschichtlich gesehen handelt es sich nach Hermann Gunkel von dieser Eröffnung her bei Psalm 34 um ein Danklied des Einzelnen, das mit der Einführung – hier mit hymnenähnlicher Form – beginnt und das „unerlässliche Wort“101 JHWH nennt, in diesem Fall als Objekt des Dankens und Lobens. Das Allerwichtigste und Hauptstück des Dankpsalms und „darum ein völlig sicheres Kennzeichen der Gattung ist die Erzählung des Dankenden von seinem Geschick“102. Diese Erzählung richte sich an die Gäste der Feier und rede von JHWH in der dritten Person. Als zweites Hauptstück eines Danklieds des Einzelnen schließe sich das Bekenntnis zu JHWH vor anderen als den Retter aus der Not an, das dritte sei die seltene Ankündigung des Dankopfers.103 Der Sitz im Leben von Psalm 34 ist jedoch nach Hermann Gunkel nicht der Kult: „Das alphabetische Danklied Ps 34 ist überhaupt nicht mehr für den Vortrag an irgendwelcher Stelle, sondern allein für das Lesen und die Augen bestimmt; demnach würde auch nichts im Wege stehen, diejenigen Gedichte unserer Gattung, die vom Heiligtum schweigen, in das Haus des Frommen zu setzen“104. Da Ps 34 einige der klassischen Elemente des Dankliedes des Einzelnen wie die direkte Anrede Gottes nicht aufweist und da auch die beiden ersten Hauptstücke 101 Gunkel 51985, 265. 102 Gunkel 51985, 265. 103 So die Kategorisierung von Gunkel 51985, 265. Zu dem „klassischen Aufbau“ des Dankliedes des Einzelnen vgl. Gunkel 51985, 267–272. 104 Gunkel 51985, 279.
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mit V. 5–7 nur sehr kurz ausgeführt sind, ist auch vorsichtiger davon die Rede, dass der „erste Teil V. 2–11 […] sich an der Struktur des Dankgebets des einzelnen [sic!] [inspiriert]“105 und „sich in Folge aber immer mehr zu einer in der Weisheit beheimateten Belehrung über das rechte, gottesfürchtige Verhalten“106 entfaltet. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Form anders bestimmt: „Ps 34 utilizes the form of a testimony (we should hardly call it a thanksgiving, since there is not one line adressed to Yhwh).“107 Egal, wie die Frage nach der Gattungszugehörigkeit beantwortet wird: Richtig ist die Beobachtung, dass die Eröffnung von Ps 34 lexematische Parallelen zum Beginn anderer Psalmen aufweist. Zu zeigen ist, inwiefern von diesen her möglich ist, die Aufforderung zum Gotteslob und ihre individuelle Funktion für den gesamten Psalm besser zu verstehen. Mit vier verschiedenen Verben wird das Gotteslob der Menschen umschrieben, von denen ברךpi. und ( הללhit. und nominal ְּת ִה ָּלהin V. 2b; vgl. die „Überschrift“ in Ps 145,1) eine vor allem akustische Dimension aufweisen, während גדלpi. und רוםpol. von der Ursprungsbedeutung her einen Raum eröffnen. JHWH und sein Heiligtum sind in der Höhe (vgl. Ps 93,4; 102,20; 144,7). Damit wird die Größe und Macht Gottes und seines Namens deutlich. Entsprechend soll das menschliche Lob diesen Raum erfüllen. In seinem narrativen Charakter weist es somit sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Komponente auf. Selbstaufforderungen mit ברך108, die das Folgende als Gotteslob ausweisen, finden sich in Ps 63,5; 145,2 in direkter Anrede an JHWH, mit JHWH als Objekt des Lobes (vgl. auch Ps 16,7; 26,12) und in einer inclusio schließend auch in Ps 103,1– 2.22; Ps 104,1.35 – dort wie in V. 3a mit נַ ְפ ִׁשיals Umschreibung für das Ich, die hier wie auch die Nennung ִּפיals Ort der ְּת ִה ָּלהin V. 2b zugleich abstrakt und konkret ist.109 Kehle und Mund sind die Organe, mit denen JHWH gepriesen wird;
105 Hossfeld/Zenger 1993, 210. 106 Weber 2001, 165. Ganz anders Gerstenberger 1991, 148–149: „Unfortunately, most scholars simply assume that it represents the category of private literature – although such a genre very probably did not exist in Hebrew antiquity! […] The psalm is a well-knit unity; it is a Thanks giving of the Individual in the new congregational environment of the early synagogue.“ 107 Goldingay 2006, 477. 108 Vgl. Scharbert 1973, 824–835. Josef Scharbert differenziert bei der Bedeutung von ברךnach menschlichem („segnen“) und göttlichem („preisen“) Empfänger, was Leuenberger 2008a, 5 kritisch diskutiert. Nimmt man eine Grundbedeutung von ברךpi. als „mit Segen (also heilschaffender Kraft) ausstatten“ an, ergibt sich für ברךpi. mit göttlichem Objekt eine ähnliche Kon stellation wie bei גדלpi. und רוםpol.: JHWH ist groß und erhaben, und ihm kommt Segen bzw. heilschaffende Kraft zu. Indem das betende Ich ihm Größe, Erhabenheit und Segen zuschreibt, erkennt es diese an. Es stattet JHWH mit Segen aus, d. h. macht den Segen bekannt. Dies geschieht im lobpreisenden Erzählen von JHWHs Rettungstaten, die Heil schaffen. Eine Übersetzung von ברךpi. mit göttlichem Objekt als „loben“ ist also durchaus angemessen und durch den Parallelbegriff הללangezeigt. ברךpi. mit göttlichem Objekt bezieht sich also auf zwischenmenschliche Kommunikation vor Gott als „Rede über Gott“ (vgl. auch Leuenberger 2008c). 109 Zum Bedeutungsspektrum von נֶ ֶפׁשvgl. Janowski 42013, 204–2014; Wolff 2010, 33–55. Vgl. zu נֶ ֶפׁשund ִּפיauch Schroer/Staubli 22005, 45–54.109–122.
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gleichzeitig bedeuten sie die ganze Person in ihrer Lebendigkeit und kommunikativen Fähigkeit. Insofern ist der Lobpreis „eine Grundform von Theologie und nach alttestamentlichem Verständnis sogar die Bestimmung des Menschen“110. Zugleich ist das Gotteslob so der Ort, an dem das betende Ich auch sich selbst und seine soziale Bezogenheit reflektiert, indem es von sich selbst in der dritten Person spricht. Deutlich wird, dass die Rühmung Gottes nicht nur ein Kommunikationsgeschehen in Bezug auf JHWH ist, sondern auch ein zwischenmenschliches. Das Gotteslob ist hörbar und soll von Anderen gehört werden, deren Existenz sich dadurch ändert. So erfolgt der Lobaufruf bzw. Lobvorsatz in der Öffentlichkeit der „Versammlungen“ ( ְּב ַמ ְק ֵה ִליםin Ps 26,12; vgl. Ps 68,27) oder „im Haus JHWHs“ ( ְּב ֵבית־יְ הוָ הin Ps 134,1; vgl. Ps 100,4). Er ist nicht zeitlich – z. B. auf den Kult111 – begrenzt, sondern währt vielmehr die ganze Zeit (ל־עת ֵ ְּב ָכin V. 2a; ָּת ִמידin V. 2b; vgl. Ps 63,5; 115,18; 145,2)112. Die gesamte Existenz des Ichs ist durchdrungen von dem Jubel vor und angesichts Gottes. Das Lobversprechen ist auf Dauer angelegt und damit losgelöst von der konkreten Situation, in der sich das betende Ich befindet und in Zukunft sein wird. So bezeugen ja auch die Klagepsalmen selbst „angesichts elementarer Differenzerfahrungen […], daß menschliches Leben nur als Leben coram Deo gelingen kann“113. Ausgehend von einer gattungsgeschichtlichen Fragestellung wird hier im Hinblick auf eine Anthropologie der Psalmen deutlich, dass der Mensch als Gott lobendes Wesen konzipiert wird, das in Beziehung zu seinen Mitmenschen steht. Neben dieser anthropologischen Dimension zeigt sich über die Bezeichnung des hörenden Kollektivs als „ ֲענָ וִ יםArme“ im Lobaufruf von V. 3 im Kontext des Psalters auch eine theologische und ethische Dimension von V. 2–4, die im folgenden Exkurs ausführlich dargestellt werden soll.
110 Janowski 42013, 266 mit Verweis auf Ps 34,2; vgl. auch Wolff 2010, 316–319. 111 Vgl. Seybold 1996, 141. 112 Zu Ps 145,1–2, ebenfalls ein Akrostichon, bestehen lexematisch die größten Verbindungen:
לֹוּהי ַּה ֶ ֑מ ֶלְך ֣ ַ ָ רֹומ ְמָך֣ ֱא ִ ֲא עֹולם וָ ֶ ֽעד׃ ֥ ָ ּוַ ֲא ָב ֲר ָ ֥כה ִׁ֜ש ְׁמ ָ֗ך ְל ָל־יֹ֥ום ֲא ָב ֲר ֶכָ֑ך ָ ְב ָכ עֹולם וָ ֶ ֽעד׃ ֥ ָ ּוַ ֲא ַּה ְל ָ ֥לה ִׁ֜ש ְׁמ ָ֗ך ְל i
i
1 2
Ich will dich erheben, mein Gott, der König, und ich will deinen Namen preisen immer und ewig, an jedem Tag will ich dich preisen, und ich will deinen Namen lobpreisen immer und ewig.
Wie in Ps 34 dienen die Verben רּוםpol., ברךpi. und הללpi. zur Beschreibung des Gotteslobs; auch hier wird mit „der Name“ Gott selbst umschrieben, und dreimal wird auf die Dauer des Lobpreises verwiesen (עֹולם וָ ֶעד ָ ְלund ) ְב ָכל־יֹום. Allerdings steht in Ps 145 die Beziehung des Ichs zu seinem Gott im Vordergrund, wie sich in der direkten Anrede zeigt. Der menschlich-kommunikative und Gemeinschaft konstituierende Aspekt ist nicht explizit Thema. 113 Janowski 42013, 266.
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Exkurs: Aussagen zu den „ ֲענָ וִ יםArmen“ A Schwerpunkte der Forschungsgeschichte Im Psalmenbuch finden sich in mehr als 40 Psalmen Aussagen über Arme, entweder als Selbstbezeichnung des Ichs als „arm“ oder als Gruppenbezeichnung, und JHWH wird gepriesen als der, der für die Armen eintritt. Dieser Befund führte dazu, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts Gründe für diese Präsenz der Armen im Psalter gesucht wurden.114 Man versuchte einerseits, eine Gruppe oder Partei hinter den Psalmen zu finden, deren Anliegen das Schicksal der Armen sei, und andererseits, deren Anliegen zeit- und sozialgeschichtlich zu verorten. Diskutiert wurden dabei die Fragen, in welchem Verhältnis die Armen zu den Knechten JHWHs und den Frommen bei Deuterojesaja bzw. ganz Israel stehen, ob „Armut“ sich auf eine grundlegende ökonomische Benachteiligung oder aktuelles Leid beziehe, ob sie materiell-sozial zu verstehen sei oder ob es sich um einen religiös-spirituellen Begriff für „Demut“ handele. So erarbeitete der jüdische Exeget Heinrich Graetz als erster 1882115 eine Theorie aus, der zufolge die Psalmen von der sozialen Klasse der Leviten gedichtet worden seien. Dass diese Leviten verarmten, bezeuge das Deuteronomium. Diese „Anawiten“ seien schon vor dem Exil von der höheren aaronitischen Priesterschaft unterdrückt worden. Die Geschichte dieser Gruppe sei bis in die nachexilische Zeit zu rekonstruieren. Der Franzose Isidore Loeb sieht 1889116 den Ausgangspunkt der Armenliteratur bei Deuterojesaja gegeben: Während des babylonischen Exils sei eine Klasse von Menschen aufgetreten, die sich in besonderer Weise als Knechte Gottes gefühlt hätten. Sie hätten demütig und arm aus Prinzip gelebt und Vereine oder Bruderschaften gegründet. Für Ernest Renan habe seiner 1891117 erschienen Geschichte des Volkes Israel zufolge eine fanatische pietistische Partei, die ihre Anfänge schon in der Zeit Jesajas und Hiskijas habe, sich selbst als Arme bezeichnet. In Deutschland greift 1892 Alfred Rahlfs118 die Ideen von Heinrich Graetz auf. Die Anawim seien eine Partei gewesen, die sich im Exil gebildet habe und die die Tatsache des Exils damit begründe, dass Israel als Ganzes zu einem Armen werden solle. Er identifiziert die Anawim mit den Knechten Jahwes als eine Partei
114 Vgl. die Forschungsüberblicke bei Lohfink 1986; Ro 2002, 114–126. Eine Übersicht über die „Armutsdiskussion im AT“ und eine Analyse, wie sich im Buch Jesaja der Referenzbereich der Größe „die Armen“ verschiebt, findet sich bei Berges 1999, ein aktueller Überblick bei Bremer 2016, 21–42. 115 Graetz, Heinrich: Kritischer Kommentar zu den Psalmen nebst Text und Übersetzung. Bd. I. Breslau 1882, 20–37. 116 Loeb, Isidore: Les Dix-huit Bénédictions. In: REJ 19 (1889), 17–40. 117 Renan, Ernest: Histoire du people d’Israël. Bd. III. Paris 1891. 118 Rahlfs, Alfred: ‛ānî und ‛ānâw in den Psalmen. Göttingen 1892.
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innerhalb des Volkes, die von den Frommen, den entschlossenen Anhängern Jahwes, gebildet werde. Hermann Gunkel greift in der 1933 posthum von Joachim Begrich veröffentlichten Einleitung in die Psalmen119 diese Überlegungen auf und führt die religiösen Gegensätze zwischen Gerechtem und Frevler auf sozioökonomische Unterschiede zurück: Der Arme reklamiere für sich, der Fromme zu sein, und sieht in den Reichen die Frevler. Bei Antonin Causse findet sich 1922120 erstmals in Ansätzen die Idee einer Armenspiritualität. Die Armenbewegung habe ihren Ursprung in den nomadischen Anfängen Israels. Der Psalter spiegele die Spiritualität der persischen Epoche und sei Werk des Volkes, von den Armen für die Armen. Die Armen hätten real existiert, aber eine Religion der Demut entwickelt und so die Armut spiritualisiert. Dem widerspricht 1950 Jan van der Ploeg121: Es sei ausgeschlossen, dass Armut im Alten Testament je ein religiöses Ideal gewesen sei. Die Armen seien nicht in besonderer Weise fromm oder religiös gewesen. Die Existenz einer Armenpartei oder Armenspiritualität bestreiten 1921 Sigmund Mowinckel122 und 1933 sein Schüler Harris Birkeland123. Bei den Armenaussagen des Psalmenbuches handele es sich stets um aktuelle Armut und gegenwärtiges Leid. Daran schließt Erhard Gerstenberger 1980124 an: Das betende Ich der Psalmen könne jedem sozialen Stand angehören, d. h. materiell arm oder reich sein. In einer aktuellen Notlage könne jeder das Psalmengebet sprechen; eine Einschränkung des Bittzeremoniells auf eine bestimmte soziale Schicht der Bevölkerung könne nicht nachgewiesen werden. Entscheidend sei die Notsituation, nicht die soziale Zugehörigkeit des betenden Ichs. Nach Johannes Un-Sok Ro 2002125 verweisen die Armentermini eindeutig nicht auf materielle Armut, sondern auf religiös-weisheitlich interessierte und theologisch gebildete Personen, die ihre Niedrigkeit Gott gegenüber ausdrücken. Die Not- und Verfolgungssituation der „Armen“ resultiere daraus, dass der theologische Standpunkt der Trägerkreise abgelehnt worden sei. Im Gegensatz dazu geht Rainer Albertz in der 2. Auflage seiner Religionsgeschichte von 1997126 davon aus, dass es im 5. Jahrhundert v. Chr. zu einer sozialen Differenzierung der Gesellschaft gekommen sei. Er rekonstruiert eine Armen-
119 Gunkel, Hermann: Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels. Zu Ende geführt von Joachim Begrich. Göttingen (HAT II Erg.) 51985. 120 Causse, Antonin: Les ‚pauvres‘ d’Israël (Prophètes, psalmistes, messianistes). Straßburg-Paris (EHPhR 3) 1922. 121 Ploeg, Jan van der: „Les pauvres d’Israël et leur pieté“. OTS 7 (1950), 236–270. 122 Mowinckel, Sigmund: Psalmenstudien. Bd. I. Kristiania 1921, 113–117. 123 Birkeland, Harris: ‛ānî und ‛ānâw in den Psalmen. Oslo (SNVAO 2) 1933. 124 Gerstenberger, Erhard S.: Der bittende Mensch. Bittritual und Klagelied des Einzelnen im Alten Testament. Neukirchen-Vlyn (WMANT 51) 1980. 125 Ro, Johannes U.-S.: Die sogenannte „Armenfrömmigkeit“ im nachexilischen Israel. Berlin (BZAW 322) 2002. 126 Albertz, Rainer: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2. Göttingen (ATD 8/2) 2 1997.
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frömmigkeit der Unterschichtszirkel. Die Begriffe, die im Psalter Armut bezeichnen, seien zunächst wörtlich zu verstehen und auf tatsächliche Armut bezogen. Wo um Gottes Eingreifen gebeten werde, sei aber auch eine religiöse Konnotation enthalten. Ferner sei zu differenzieren zwischen Selbstbezeichnungen des Ichs, die auf eine aktuelle Notlage zu beziehen seien, und Gruppenbezeichnungen, die eine Gruppe innerhalb Israels oder ganz Israel meinten. Die Gruppe in Israel verstehe sich als Fromme und soziales Opfer der Frevler. Zu unterscheiden sei auch eine mit den Armen solidarische und eine unsolidarische Oberschicht. Die fromme Oberschicht habe sich gegen die unsolidarische Oberschicht für die ethische Verantwortung der Gruppe in der sozialen Krise eingesetzt. Die Armenfrömmigkeit habe dazu gedient, den Unterschichtsgemeinden Würde und Lebenshoffnung wiederzugeben. Armut sei insofern als religiöser Begriff zu verstehen, als auf diese Weise ein soziales Defizit religiös kompensiert werde. Mit diesem Ansatz wird deutlich, dass ein pauschales Urteil über die Bedeutung von „arm“ bzw. „Armut“ nicht möglich, sondern jeweils in Bezug auf jede Textstelle einzeln zu eruieren ist. Hossfeld/Zenger sehen 1993127 die Verweise auf eine Gruppe der ֲענָ וִ יםals Indiz für die Redaktionsgeschichte des Psalters: Ursprünglich mag diese Bezeichnung sich tatsächlich auf eine soziale Gruppe bezogen haben. In einer ersten Redaktion in spätexilischer/frühnachexilischer Zeit artikuliere sich das Gruppenbewusstsein von Armen und Verfolgten, die als „Gerechte“ leben wollen. Im Zuge einer nachexilischen Redaktion avanciere dieser Begriff zu einer religiösen Kategorie. In diesem Kontext werde auch Ps 34 zusammen mit Ps 25 und 33 als „Eckpsalm“ in die bestehende Gruppe Ps 26–32* aufgenommen. Diese „religiös Armen“ stünden als „gerechte Diener JHWHs“ in Opposition zu den Feinden im Gottesvolk. In hellenistischer Zeit schließlich werde der Referenzbereich im Zusammenhang mit der Schaffung der Teilsammlung Ps 2–89* noch weiter auf ganz Israel ausgedehnt. In diesen Kontext gehöre auch die Einfügung der „Armenpsalmen“ Ps 9 und 10. Dennis W. Tucker 2003 geht davon aus, dass die „Präsenz“ der Armen in Ps 2–89 daher rühre, dass von Ps 89 her gelesen mit dem Ende der Monarchie die ursprünglich in deren Verantwortungsbereich fallende Aufgabe, soziale Gerechtigkeit herzustellen, nun demokratisiert werde. Nach Johannes Bremer 2016 und 2017 seien – zumindest für den 1. Davidpsalter – nicht zwangsläufig die Armen selbst die Trägerkreisgruppe. Der wiederholte Hinweis auf JHWHs Hilfe für die Armen sei vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden sozial-materiellen Verarmung mindestens eines Teils der Bevölkerung in der Achämenidenzeit plausibel. Der Trägerkreis zeige eine besondere Affinität zu den Armen, die bis zur Selbstidentifikation reiche. Die Sorge für die Armen und ein sich für die Armen einsetzender Gott seien in dessen Theologie zentraler als die Ausführung von Kult oder Opfern. Für diesen Trägerkreis zeichnen sich die
127 Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich: Die Psalmen I. Psalm 1–50. Würzburg (NEB.AT 29) 1993.
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Armen jenseits ihrer materiell-sozialen Armut wesentlich durch ihre Nähe zu Gott aus. Ein Rückschluss auf materielle Armut dieses Trägerkreises sei jedoch nicht zulässig. Ganz anders verhält es sich nach Johannes Bremer 2016 mit den armentheologischen Akzentuierungen der Asafpsalmen. Das betende Ich identifiziert sich nicht mit den Armen, sondern spricht über sie. Sie sind vor allem Opfer von Unrecht und Gewalt. Gefordert wird kein solidarisches Handeln ihnen gegenüber, sondern das rettende Handeln Gottes. Mit Blick auf die lange Forschungsgeschichte zu den Armenaussagen besonders der Psalmen zeichnet sich eine gegenwärtige Tendenz ab, von einer Entwicklung eines religiös-spirituellen Demutsbegriffs aus einer materiell-sozialen Bedeutung von Armut auszugehen. Pauschale Urteile zu Begriffsbedeutung und Trägerkreisen werden dabei abgelehnt. Vielmehr soll die Bedeutung von Armut für die einzelnen Belegstellen einzeln geprüft werden. In Bezug auf die Trägerkreise wird ebenfalls vor vorschnellen Ein- und Zuordnungen gewarnt. Als plausibel erscheint, dass deren Identifizierung auch für die verschiedenen Phasen der Geschichte Israels bis in die hellenistische Zeit zu differenzieren ist.
B Traditionsgeschichtliche Einordnung der Armenaussagen Die Rede von den Armen bzw. von Gottes Sorge um sie ist vor ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen. Im Alten Orient und im Alten Ägypten fungieren die Götter als Richter, und der König erlässt als ihr Vertreter Recht und Gesetz. Dies zeigt bereits die älteste keilschriftliche Rechtssammlung des Königs Šulgi aus dem späten 3. Jahrtausend v. Chr. oder – bekannter – der Codex Hammurapi.128 Im Prolog der Rechtssammlung des Königs Šulgi lässt sich ein dreigliedriges Schema erkennen: (1) Die Herrschaft des Königs wird vermittelt über Nanna, den Stadtgott von Ur, auf An und Enlil zurückgeführt und so theologisch begründet. (2) Es folgt ein Bericht über seine außen- und innenpolitischen Leistungen, die die göttliche Herrschaftsausübung begründen. (3) Daran schließen sich Ausführungen zu seinem sozialpolitischen Wirken an. Hierbei ist es Anspruch und Aufgabe des Königs, das Recht aufzurichten, wozu die Fürsorge für die Schwachen gehört. Der Prolog des Codex Hammurapi ist ausführlicher, folgt aber in der Anlage der des Königs Šulgi. Die Götter setzen Marduk, den Stadtgott von Babylon, zum Herrscher über die Menschheit ein und berufen Hammurapi zur Königsherrschaft über die Menschen und übertragen ihm die Aufgabe des Sonnengottes, Gerechtigkeit durchzusetzen. Diese „Parallelisierung [ist] keine Vergöttlichung des Königs im Sinne einer distanzlosen Identifizierung […], sondern der König [nimmt] in der
128 Vgl. auch im Folgenden Otto 1994, 86–94; Assmann 2003, 71–81; Assmann 2015, 249–304.392– 395; Lichtheim 1997, 89–99; Gies 2019.
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Rechtsdurchsetzung eine göttliche Funktion wahr[…]“129. Allerdings gilt, dass die soziale Verantwortung für die Schwachen nicht durch eine entsprechende Gesellschafts- und Rechtsordnung durchgesetzt werden konnte, sondern nur durch die partielle Aufhebung bestehenden Rechts mittels der königlichen mīšarum-Akte. Demgegenüber forderte nach Eckart Otto das judäische Recht die permanente Solidarität des wirtschaftlich Stärkeren mit dem Schwächeren. Und anders als den altorientalischen Vorstellungen zufolge ist es JHWH selbst, der das Recht zugunsten der Schwächeren durchsetzen wird. So werden die Bestimmungen von Ex 22,20–26 mit der Barmherzigkeit JHWHs begründet. Während nach der altorientalischen Konzeption die theologische Begründung den Normen äußerlich bleibt, wird biblisch die sozialethische Forderung mit dem Handeln Gottes legitimiert. Die Funktion, Recht zu erlassen und durchzusetzen, wird also biblisch umgebucht, und Gott selbst agiert anstelle der Könige als Gesetzgeber.130 Während in der altorientalischen Konzeption Gerechtigkeit durch die Außerkraftsetzung des Rechts hergestellt wurde, ist biblisches Recht an Gerechtigkeit orientiert. „Israel [entwickelte] in der Königszeit Motive der theologischen Rechtsbegründung, die sich von vergleichbaren Begründungen altorientalischer Rechtskorpora charakteristisch unterscheidet. Während dort, etwa im Rahmenwerk des Kodex Hammurapi, der König als Initiator und Garant der Rechtsdurchsetzung zugunsten der Armen und Schwachen auftrat, wurde in Israel das Recht zugunsten der Armen und Schwachen nicht auf die Autorität des Königs, sondern auf JHWH als ‚Rechtshelfer der Armen‘ zurückgeführt: ‚denn barmherzig ()חנון bin ich‘ (Ex 22,26bγ).“131 Auch in Ägypten ist es die Aufgabe des Königs, das Recht herzustellen und die Maat zu verwirklichen. Die königliche Durchsetzung der Maat zeigt sich im Schutz der Armen und Schwachen. Biblisch ist Gott der Anwalt der Armen und Bedürftigen. Während ägyptisch die Normen der Wohltätigkeit und Armenpflege in das Gebiet der „Weisheit“ gehörten, werden sie biblisch in den Bereich des Rechts integriert. Durch diese Theologisierung des Rechts werden sie mit einer höheren Verbindlichkeit ausgestattet; vor Gott werden sie einklagbar. Im Neuen Reich lässt sich für Ägypten die Entwicklung einer persönlichen Frömmigkeit beobachten. Man erhofft die direkte Intervention des persönlichen Gottes. Der König ist daher nicht mehr der, der Maat herstellen muss, sondern der exemplarisch Fromme. Wenn die Gottheit sich direkt der Armen annimmt, ist dies nicht mehr Aufgabe des Königs, sondern dieser selbst wird zum paradigmatisch Frommen, der sich als Armer bezeichnen kann. Das solidarische Verhalten gegenüber dem Schwachen ist keine Primärforderung mehr, da für diesen die Gottheit sorgt. Das private Heil wird in der persönlichen Frömmigkeit gesucht.
129 Otto 1994, 87. 130 Vgl. Assmann 32006, 64–70. 131 Janowski 1999a, 119; vgl. Janowski 2000, 33–79.
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In der biblischen Konzeption ist die Konsequenz der göttlichen Fürsorge für die Armen eine andere: In der Orientierung „am Willen Gottes […] gewinnt sich ein Ethos der Gemeinschaftstreue. Nicht also, weil der König es gebietet, soll der Mensch solidarisch sein, sondern weil Gott solidarisch mit den Menschen ist. Das Ethos erhält einen den Staat und die Gesellschaft überschreitenden Zielpunkt und kann so zur kritischen Instanz gegenüber dem Staat werden, wenn seine Ordnung dieses Ethos nicht realisiert. Nicht die Einordnung in einen von König und Staat gesetzten Ordnungszusammenhang läßt das Ethos zu sich selbst kommen, sondern die im Anruf Gottes als des Barmherzigen angesprochene Einsicht des je einzelnen Menschen.“132 Die Solidarität mit den Schwachen wird legitimiert mit der Solidarität Gottes mit den Schwachen. „Die königliche Aufgabe der Solidarität mit dem Schwachen gilt entsprechend für jedermann unmittelbar.“133 Religionsgeschichtlich beerbt JHWH also als Königsgott den Sonnengott. Wahrscheinlich ist, dass es auch in Juda ursprünglich die Bindung der sozialen Fürsorge an den König gegeben hat und diese einer traditionsgeschichtlichen Entwicklung unterliegt: „Gehört bis zum Untergang der Monarchie in Juda (587 v. Chr.) gemäß der altvorderorientalischen Königsideologie die Fürsorge gegenüber Armen, Witwen, Waisen, Fremdlingen, mithin Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen, zu den Idealen des Königs (vgl. Ps 72,12 f.; Prov 29,14; 31,9; Jer 22,2 f.), so geht dieses Ideal im Judentum der nachköniglichen Zeit im Zuge einer ‚Demokratisierung‘ auf den Weisen über. Nicht nur der König, sondern der Gerechte soll ‚menschenfreundlich‘ (φιλάνθρωπος) sein, wie es in Aufnahme eines paganen Begriffs heißt. […] Traditionsgeschichtlich stehen diese Begründungen im Zusammenhang einer ‚Demokratisierung‘ der Königsideologie, insofern der Weise als Barmherziger eine königliche Aufgabe wahrnimmt, einer Ethisierung und Spiritualisierung kultischer Vorstellungen, insofern Barmherzigkeit neben Opfer, Gebet und Fasten als eine Form des Gottesdienstes erscheint, sowie eine Eschatologisierung von Heilsvorstellungen, insofern das dem Barmherzigen zugesagte erfüllte Leben auch erst ein Leben nach dem Tod sein kann.“134 Mit der Theologisierung des Rechts geht also eine Art „Demokratisierung“ einher. Nicht mehr der König allein ist Vertragspartner Gottes, sondern das ganze Volk ist Gottes unmittelbarer Partner. So wird im Bundesbuch der einzelne Mensch direkt angesprochen. Der personale Gott, vor dem der Mensch sich rechtfertigen muss und vor dem er sein Recht einklagen kann, ist nun Garant der moralischen Ordnung und Quelle des Rechts. Man kommt ihm näher, wenn man moralisch handelt. „Gerechtigkeit [wird] zu einer heilsrelevanten Handlungsnorm, die Gottesnähe vermittelt.“135 Und zu dem Ideal von Gerechtigkeit gehört die Fürsorge für die Armen. 132 Otto 1994, 90. 133 Otto 1994, 94. 134 Witte 2014, 394.408. Auch nach Tucker 2003, 174 werde diese Aufgabe mit dem Ende der Monarchie demokratisiert und so zum Anspruch an jeden Einzelnen. 135 Assmann 32006, 69.
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C Armenaussagen im Psalmenbuch Die Armenaussagen des Psalmenbuches können vor ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund im Hinblick darauf differenziert werden, ob die Fürsorge für die Armen dem König oder Gott selbst zugeschrieben oder vom Menschen erwartet wird. Während im Alten Ägypten und altorientalisch generell die Verantwortung für die personae miserae beim König zu suchen ist, ist Ps 72, der die Armenfürsorge des Königs thematisiert, biblisch eine Besonderheit. Daneben ist im Psalter die Vorstellung, dass Gott sich in besonderer Weise den Armen zuwendet und die Fürsorge für sie zu den Wesenseigenschaften JHWHs gehört, breit belegt. Diese armentheologischen Vorstellungen haben auch Implikationen für das ethische Verhalten des Menschen und münden in Aufforderungen zu menschlicher Solidarität mit den Armen. (a) Die Fürsorge des Königs für die Armen Ein Sonderfall im Psalmencorpus stellt Psalm 72 dar.136 Analog der altorientalischen Vorstellung, dass der König die göttliche Gerechtigkeit umsetzt, ist der König die Instanz, die für den gerechten Rechtsspruch dem Bedürftigen gegenüber verantwortlich ist.
ִל ְׁשֹל ֙מ ֹה׀ ֹלהים ִ ֭מ ְׁש ָּפ ֶטיָך ְל ֶ ֣מ ֶלְך ֵ ּ֑תן ִ֗ ֱ ֽא ן־מ ֶלְך׃ ֽ ֶ וְ ִצ ְד ָק ְתָך֥ ְל ֶב יָ ִ ֣דין ַע ְּמָך֣ ְב ֶצ ֶ֑דק וַ ֲענִ ֶּי֥יָך ְב ִמ ְׁש ָ ּֽפט׃ יִ ְׂש ֤אּו ָה ִ ֓רים ָׁ֘ש ֥לֹום ָל ָ ֑עם �ָקה׃ ֽ ָ ּו֜ גְ ָב ֗עֹות ִּב ְצד י־עם ָ֗ ֵיִ ְׁש ֤ ֹּפט׀ ֲ ֽענִ ּי יע ִל ְב ֵנ֣י ֶא ְבי֑ ֹון ַ ֹוׁש ִ ֭י עֹוׁשק׃ ֽ ֵ ִ ֽו ַיד ֵּכ֣א
1 Von/für Salomo. Gott, Deine Rechtsvorschriften gib dem König, und deine gerechte Tat dem Sohn des Königs, 2 [so dass] er richte dein Volk in Gerechtigkeit / und deine Armen mit Recht. 3 Die Berge sollen Šalom für das Volk tragen / und die Hügel – durch Erweis von Gerechtigkeit! 4 Er verschaffe Recht den Armen des Volkes, er rette die Kinder der Besitzlosen, / er zerschlage den Unterdrücker. (Ps 72,1–4)
Darin, dass der König für die göttliche Sorge um soziale Gerechtigkeit in die Verantwortung genommen wird, zeigt sich ein „spezifisch israelitische[r] Akzent: Während die Könige Ägyptens und Mesopotamiens ihre königliche Macht vor allem im Kampf gegen außenpolitische Feinde des Reichs demonstrierten, soll der israelitische König den innenpolitischen Kampf gegen die Mächtigen und Ausbeuter führen.“137 136 Pleins 1992, 409 betont die Singularität der Benennung des Königs als Instanz der sozialen Gerechtigkeit: „The rarity of the connection between the king and the poor in the Psalms would seem to indicate that the Psalms do not intend to work out a theology detailling the state’s responsibilities towards the poor or one that challenges the rulers for their failure to face societal injustices“. 137 Hossfeld/Zenger 32007, 322.
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Anders als in altorientalischen Konzeptionen ist nicht der König der Gesetzgeber, sondern Gott selbst: „Gott, gib deine Rechtssprüche dem König und deinen Gerechtigkeitserweis dem Sohn des Königs.“ (Ps 72,1). Die Armen, die Objekt der königlichen Rechtsprechung gemäß des göttlichen Rechts sind, bleiben die Armen JHWHs („ וַ ֲענִ ּיֶ יָךdeine Armen“ in V. 2). „Es besteht also eine direkte Relation zwischen Jahwe und dem Volk.“138 Die Armen JHWHs werden der Fürsorge des Königs übergeben (V. 4.12–14). ַי־י ִּ֭ציל ֶא ְבי֣ ֹון ְמ ַׁשֵּו֑ע ַ ִ ּֽכ12 Wahrhaftig, er wird den Bedürftigen, der um Hilfe ruft, retten ְ ֜ו ָע ִ֗ני ְ ֽו ֵאין־ע ֵֹז֥ר ֽלֹו׃ und den Armen und den, der keinen Helfer hat. ל־ּדל וְ ֶא ְבי֑ ֹון ֣ ַ ָ ֭יחֹס ַע13 Er habe über den Geringen und den Bedürftigen Erbarmen, יע׃ ַ יֹוׁש ֽ ִ יֹונ֣ים ִ וְ נַ ְפ ׁ֖שֹות ֶא ְב und die Nefeš der Bedürftigen wird er retten. ִמ ּ֣תֹוְך ּו ֵ֭מ ָח ָמס יִ גְ ַ ֣אל14 Aus Unterdrückung und aus Gewalttat wird er נַ ְפ ָ ׁ֑שם ihre Nefeš erlösen. וְ יֵ � ַ ֖יקר ָּד ָ ֣מם ְּב ֵע ָינֽיו׃ Und ihr Blut wird in seinen Augen wertvoll sein. (Ps 72,12–14)
Der König ist dieser Konzeption folgend der Mittler der göttlichen Gerechtigkeit. Das königliche Richten ist zugleich Richten ( ׁשפטin V. 4) und Retten ( יׁשעhi. in V. 4.13; נצלhi. in V. 12) bzw. Erlösen ( גאלin V. 14) des Armen, dem gegenüber sich der König erbarmt ( חוסin V. 13). Durch die Übergabe der göttlichen Rechtssprüche erhält der König Anteil an der göttlichen Richterfunktion. Das Recht wird letztlich mit dem göttlichen Willen begründet.139 Liest man Ps 101 als Königspsalm140 und „Rollenbeschreibung eines Herrschers“141, zeigt sich dort ebenfalls, dass der König die göttliche Aufgabe der Durchsetzung des Rechts übernimmt, die zuvor in den JHWH-Königpsalmen beschrieben wurde: Er bringt die Frevler zum Schweigen ( צמתhi. in Ps 101,5.8; sonst von JHWH in Ps 54,7; 73,27; 94,23; 143,12). Auch der königliche Beter von Ps 18 führt die Vernichtung der Feinde selbst aus: יתם׃ ֽ ֵ „ ְ ֽוא ַֹ֗יְבי נָ ַ ֣ת ָּתה ִ ּ֣לי ֑עֹ ֶרף ּו֜ ְמ ַׂשנְ ַ֗אי ַא ְצ ִמUnd die mich hassen, ich habe sie zum Schweigen gebracht ( צמתhi.).“ (Ps 18,41). Während in Ps 18,28 im weiteren Kontext von einer speziellen Hinwendung JHWH zu den Bedürftigen die Rede ist: תֹוׁש ַיע ֑ ִ ם־ע ִנ֣י ָ י־א ָּתה ַע ֭ ַ „ ִ ּֽכJa, Du, das bedürftigen Volk rettest du!“ (Ps 18,28), fehlt dieser Aspekt jedoch in Ps 101.
138 Arneth 2000, 126, für den – in direkter Abhängigkeit – der neuassyrische „Krönungshymnus Assurbanipals“ SAA III,11 den traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Ps 72 bietet. Der neuassyrischen Konzeption zufolge ist das Land, für das der König Sorge trägt, das Land des Königs, nicht das des Sonnengottes. 139 Vgl. Arneth 2000, 128–129.135, für den neben SAA III,11 Ex 22,20–26* mit der Sorge für die personae miserae die konzeptionellen Voraussetzungen von Ps 72,1 f.* bildet. 140 Vgl. Hossfeld/Zenger 2008, 35. 141 Ballhorn 2004, 113.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Auch in den wenigen Psalmen, in denen der Herrscher als Mittler der göttlichen Gerechtigkeit fungiert, bleibt die Fürsorge für und die Rettung der Armen an Gott gebunden. (b) Die göttliche Zuwendung zu den Armen Im Kontext des Psalters findet sich durchgängig die Vorstellung und Hoffnung, dass JHWH sich gerade und in besonderer Weise „den Armen“ zuwendet (vgl. Ps 10,12.17), sie belehrt (vgl. Ps 25,9), durch sein Gericht rettet (vgl. Ps 76,10) bzw. für sie Gerechtigkeit fordert (vgl. Ps 82,3) und aufrichtet (vgl. Ps 147,6; 149,4). Konkret zeigt sich diese göttliche Zuwendung in der verheißenen Versorgung mit ausreichend Nahrung (vgl. Ps 22,27) und der Gabe des Landes (vgl. Ps 37,11). Für die ֲענָ וִ יםist das Heil (noch) keine Primärerfahrung (vgl. Ps 9,19), sondern vermittelt im Gotteslob eines Anderen (vgl. Ps 69,33). Rettung und Heil sind für „die Armen“ noch keine gegenwärtige Größe, aber in der Zukunft zu erwarten, weil es JHWHs Wesen entspricht, sich ihnen zuzuwenden. Locus classicus der Parteinahme JHWHs für die Benachteiligten ist Psalm 82, der die Götter wegen ihrer ungerechten Gerichtstätigkeit und des Unrechts in der Welt anklagt und zum Tode verurteilt und an ihrer Stelle zum Gott der ganzen Erde und der Völker wird.
ִמזְ ֗מֹור ְל ָ֫א ָ ֥סף1 Ein Psalm. Von Asaf. ת־אל ֑ ֵ ֹלהים נִ ָ ּ֥צב ַּב ֲע ַד ִ֗ ֱ ֽא Gott steht in der Versammlung Gottes, ֹלהים יִ ְׁש ֽ ֹּפט׃ ֣ ִ �ְק ֶרב ֱא ֖ ֶ ּב in der Mitte der Götter richtet er. טּו־עוֶ ל ֑ ָ ד־מ ַ ֥תי ִּת ְׁש ְּפ ָ ַע2 „Bis wann wollt ihr in Ungerechtigkeit richten אּו־ס ָלה׃ ֽ ֶ ּופ ֵנ֥י ְ ֜ר ָׁש ִ֗עים ִּת ְׂש ְ und das Angesicht der Frevler erheben? Sela. יָתֹום ֑ ְטּו־דל ו ֥ ַ ִׁש ְפ3 Richtet den Geringen und die Waise, ָע ִנ֖י וָ ָ ֣רׁש ַה ְצ ִ ּֽדיקּו׃ dem Armen und dem Bedürftigen verschafft Gerechtigkeit! טּו־דל וְ ֶא ְבי֑ ֹון ֥ ַ ַּפ ְּל4 Befreit den Geringen und den Elenden, ִמ ַּי֖ד ְר ָׁש ִ ֣עים ַה ִ ּֽצילּו׃ aus der Hand der Frevler reißt ihn heraus.“ (Ps 82,1–4)
Maßstab der Gerechtigkeit ist die Sorge um die personae miserae. „Während in altorientalischen Texten die Schutzpflicht für Waisen, Witwen und Entrechtete nur zu den Aufgaben einzelner ‚Rechtsgottheiten‘ gehört, macht unser Psalm diese Schutzpflicht zum entscheidenden Merkmal des Gott-Seins aller Gottheiten und damit zum göttlichen Wesensmerkmal schlechthin.“142 Diese theologische Aussage zeigt sich auch deutlich von Psalm 145 her, auch wenn er die ֲענָ וִ יםnicht explizit nennt. Der eröffnende Lobvorsatz in V. 1–2 zeigt große Parallelen zu Ps 34. Als Grund für den Lobpreis JHWHs wird seine Gerech142 Hossfeld/Zenger 32000, 487.
Auslegung
107
tigkeit genannt, die sich in Güte und Barmherzigkeit zeigt (vgl. Ex 34,6; Ps 86,15; 103,8; Joel 2,13; Jona 4,2; Neh 9,17): הו֑ה ָ ְ ַחּנ֣ ּון וְ ַר ֣חּום י8 Gnädig und barmherzig ist JHWH, ל־ח ֶסד׃ ֽ ָ ֶ ֥א ֶרְך ַ֜א ֗ ַּפיִ ם ּוגְ ָד lang zum Zorn und groß an Gnade. הו֥ה ַל ּ֑כֹל ָ ְ ֹוב־י9 Gut ist JHWH für alle, ל־מ ֲע ָ ֽׂשיו׃ ַ ל־ּכ ָ ְ ֜ו ַר ֲח ָ֗מיו ַע und seine Barmherzigkeit ist über allen seinen Werken. (Ps 145,8–9)
Die Zuwendung an die Bedrängten und Elenden wird in partizipialen Aussagen als Wesensmerkmal JHWHs beschrieben: ל־הּנ ְֹפ ִ ֑לים ַ סֹומְך ְי֭הוָ ה ְל ָכ ֵ֣ פּופים׃ ֽ ִ ל־ה ְּכ ַ זֹוקף ְל ָכ ֗ ֵ ְ ֜ו
Ein Stützender ist JHWH für alle Fallenden, und ein Aufrichtender ist er für alle Gebeugten. (Ps 145,14)
Auch Psalm 146 beschreibt ausführlich mit Partizipialaussagen die Zuwendung JHWHs zu den Benachteiligten: ַא ְׁש ֵ ֗רי ֶ ׁ֤ש ֵ ֣אל יַ ֲע ֣קֹב ְּב ֶעזְ ֑רֹו ֹלהיו׃ ֽ ָ הו֥ה ֱא ָ ְִׂ֜ש ְב ֗רֹו ַעל־י ת־ה ָּי֥ם ַ ע ֶ ֹׂ֤שה׀ ָׁ֨ש ַ ֤מיִ ם וָ ָ֗א ֶרץ ֶא ר־ּבם ֑ ָ ל־א ֶׁש ֲ ת־ּכ ָ וְ ֶא עֹולם׃ ֽ ָ ַהּׁש ֵ ֹ֖מר ֱא ֶ ֣מת ְל ׁשּוקים ִ֗ ֶ ׂ֤שה ִמ ְׁש ֙ ָּפט׀ ָל ֲע נ ֵ ֹ֣תן ֶ֭ל ֶחם ָל ְר ֵע ִ ֑בים סּורים׃ ֽ ִ הוה ַמ ִ ּ֥תיר ֲא ֗ ָ ְ֜י הו֤ה׀ ֨ ֹּפ ֵ ֤ק ַח ִעוְ ִ ֗רים ָ ְי פּופים ֑ ִ ְי֭הוָ ה ז ֵ ֹ֣קף ְּכ הוה א ֵ ֹ֥הב ַצ ִּד� ִ ֽיקים׃ ֗ ָ ְ֜י יָתֹום ֣ הו֤ה׀ ׁ֨ש ֹ ֵ ֤מר ֶאת־ּגֵ ִ ֗רים ָ ְי עֹודד ֑ ֵ ְוְ ַא ְל ָמ ָנ֣ה י וְ ֶ ֖ד ֶרְך ְר ָׁש ִ ֣עים יְ ַעֵּוֽת׃
5 Glücklich ist der, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist, dessen Hoffnung bei JHWH, seinem Gott, ist, 6 machend Himmel und Erde, das Meer und alles, das in ihm ist, bewahrend Treue auf immer, 7 machend Recht den Unterdrückten, gebend Brot den Hungrigen. JHWH, befreiend die Gefangenen. 8 JHWH, öffnend die [die Augen der] Blinden, JHWH, aufrichtend die Gebeugten, JHWH, liebend die Gerechten, 9 JHWH, bewahrend die Fremden, Waisen und Witwen richtet er auf, aber den Weg der Frevler krümmt er. (Ps 146,5–9)
Die göttlichen Wesensaussagen stehen im Zusammenhang der Seligpreisung eines JHWH-Anhängers (V. 5), sind also integriert in eine Beziehungsaussage. Dabei entsprechen sich Schöpfungsaussagen (V. 6a) und Aussagen zum göttlichen Rettungshandeln (V. 7–9), die verbunden sind durch den Verweis auf die göttlich Treue (V. 6b). „Wie in einem crescendo werden hier die Tätigkeiten von JHWH für Hilfsbedürftige genannt.“143 Bei ihnen handelt es sich um kein punktuelles
143 Bremer 2014, 21.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Handeln, sondern analog der creatio continua um eine dauerhafte Fürsorge, die im Wesen JHWHs begründet ist. Zum Ausdruck kommt in Ps 145 im Kontext des Konzepts der universalen Königsherrschaft JHWHs und in Ps 146 vor dem Hintergrund der Schöpfungsmacht Gottes die Vorstellung einer umfassenden Ordnung und eines ständigen Ordnens JHWHs, der die Weltordnung durchsetzt, indem die Benachteiligten gerettet und die Frevler in ihre Schranken verwiesen werden. Insofern ist er die letztinstanzliche, alle gesellschaftliche Realität transzendierende Grundlage gerechten Lebens und Handelns.144 (c) Menschliche Verantwortlichkeit für die Armen Ausdrücklich ergeht die Aufforderung der Armenfürsorge in den Rechtskorpora: ּול ֶא ְבי ֹנְ ָך֖ ְּב ַא ְר ֶ ֽצָך׃ ְ „ ֠ ָּפת ַֹח ִּת ְפ ַּ֙תח ֶאת־יָ ְד ָ֜ך ְל ָא ִ ֧חיָך ַל ֲענִ ֶּי�ָ֛ךÖffne deine Hand weit für deinen Bruder, für deinen Armen und deinen Elenden in deinem Land.“ (Dtn 15,11).145 Auch weisheitliche Texte fordern, gerade den Armen Gerechtigkeit zu verschaffen: ט־צ ֶ֑דק ְ ֜ו ִ ֗דין ָע ִנ֥י וְ ֶא ְביֽ ֹון׃ ֶ ח־ּפיָך ְׁש ָפ ֥ ִ „ ְּפ ַתÖffne deinen Mund, richte gerecht und schaffe dem Armen und Elenden Recht.“ (Spr 31,9). Ijob erzählt von seiner Unterstützung der Armen als Illustration seiner Rechtschaffenheit und seines tadellosen ethischen Verhaltens, das ihn zu Ansehen gebracht hat: י־א ַמ ֵּלט ָע ִנ֣י ְמ ַׁשֵּו ַ֑ע ְ ֜ויָ ֗תֹום ֲ֭ ִ ּֽכ „ ְ ֽולֹא־ע ֵֹז֥ר ֽלֹו׃Denn ich rettete den Armen, der schrie, und die Waise, die keinen Helfer hatte.“ (Ijob 29,12). Diese zwischenmenschliche ethische Forderung wird im Kontext der Gottes beziehung gesehen: ק־ּדל ֵח ֵ ֣רף ע ֵ ֹׂ֑שהּו ּו֜ ְמ ַכ ְּב ֗דֹו ח ֵֹנ�֥ן ֶא ְביֽ ֹון׃ ֭ ָ „ ֣עֹ ֵ ֽׁשDer Unterdrücker des Armen verhöhnt den, der ihn gemacht hat. Ehre erweist ihm aber, wer dem Bedürftigen gegenüber gnädig ist.“ (Spr 14,31). Unsolidarisches Handeln dem Benachteiligten gegenüber wird also als religiöses Vergehen Gott gegenüber gewertet. Im Psalmenbuch wird vielfach über den Armen oder die Armen gesprochen. Der Beter stellt sich selbst als arm vor oder zeigt „durchweg eine auffällige solidarische Nähe zu den Armen, mit denen er sich identifiziert“146. Dass Armut nicht zwangsläufig materiell zu verstehen ist, zeigt z. B. Psalm 25, in dem das betende Ich seine Sünden bekundet (vgl. Ps 25,7) und seine Armut in diesem Sinn versteht: אותי׃ ֽ ָ ֹ ל־חּט ַ „ ְר ֵ ֣אה ָ ֭ענְ יִ י וַ ֲע ָמ ִ ֑לי ְ ֜ו ָׂ֗שא ְל ָכSiehe meine Armut und meine Mühe, und hebe auf alle meine Sünden.“ (Ps 25,18). Fast alle Selbstcharakterisierungen setzen kein sozial-materielles Verständnis von Armut voraus. Spricht das betende Ich über Arme, kann damit materielle Armut gemeint sein, eine spirituell-religiöse Bedeutung von Armut ist gleichermaßen eingeschlossen.147 144 Vgl. Janowski 2009, 363. 145 Zum generellen Verbot der Unterdrückung der personae miserae vgl. Ex 22,20–26; zum Nachleseverbot zugunsten des Armen vgl. Lev 19,9–10; 23,22; Dtn 24,14–22. 146 Bremer 2014, 7; vgl. für das erste Psalmenbuch Ps 12,8; 14,1; 18; 22,1–23; 34; 35; 37. 147 Vgl. Bremer 2016, 320. Zur Frage nach der Bedeutung von ֲענָ וִ יםsiehe auch Gerstenberger 1989, 247–270. In der LXX zeigt sich die Tendenz, die Termini zur Kennzeichnung einer deprivierten
Auslegung
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Explizit positiv gewertet wird die Beachtung des Benachteiligten in der eröffnenden Seligpreisung von Psalm 41: הוה׃ ֽ ָ ְל־ּדל ְּבי֥ ֹום ָ ֜ר ֗ ָעה ְי ַֽמ ְּל ֵ ֥טהּו י ֑ ָ ַ ֭א ְׁש ֵרי ַמ ְׂש ִ ּ֣כיל ֶא „Glücklich der, der auf den Geringen achtet; an einem bösen Tag wird JHWH ihn retten.“ (Ps 41,2) Die Referenz des ePP in V. 2b ( )יְ ַמ ְּל ֵטהּוist uneindeutig. Grammatisch möglich ist, diese Rettungsaussage auf den Glücklichgepriesenen oder den Geringen (V. 2b) zu beziehen. Im ersten Fall fordert der Psalm zur Barmherzigkeit mit dem Armen auf und begründet dies mit der göttlichen Rettung als Belohnung für die Zuwendung zum Armen. Im zweiten Fall ist der Psalm auf den Armen zu beziehen. Ihm wird das göttliche Heil verheißen. Seliggepriesen wird dann der, der – im weisheitlichen Sinn – auf den Armen achtet ( ׂשכלhi.), um aus seinem Leben zu lernen, von dem das betende Ich ab V. 5 erzählt. „Die Seligpreisung also will als Überschrift gelten, die die Hauptperson des Psalms vorstellt und die Nachahmung oder aufmerksame Berücksichtigung dieses Armen auslobt.“148 „Der Duktus von V. 2–4 spricht eher für die zweite Möglichkeit, auch wenn syntaktisch beide Verständnismöglichkeiten bestehen. Denn wie das Verb ׂשכלhif. ‚einsichtig sein, achtgeben, wahrnehmen‘ zeigt, will die Seligpreisung von V. 2a zur Barmherzigkeit mit dem Geringen motivieren.“149 Seliggepriesen wird der, der sich dem Armen, den JHWH rettet, gegenüber solidarisch erweist. Am Armen wird einsichtig, wie JHWH ist, nämlich ein Gott, der sich dem Bedürftigen zuwendet. Diese Einsicht ist jedoch keine theoretische, sondern ist eine lebenspraktische. Aus ihr erwächst die eigene Parteilichkeit für den Armen.150 Neben Ps 41 beschreibt auch das Akrostichon Psalm 112 die Fürsorge des Gottesfürchtigen für den Armen: ַ ֥ה ְללּו יָ֙ ּה׀1 Lobt JH! הו֑ה ָ ְי־איׁש יָ ֵ ֣רא ֶאת־י ֭ ִ ַא ְׁש ֵר אGlücklich ein Mann, der JHWH fürchtet, אד׃ ֹ ֽ ֹותיו ָח ֵ ֥פץ ְמ ָ֗ ְּ֜ב ִמ ְצ בder großen Gefallen an seinen Anordnungen hat. ּגִ ּ֣בֹור ָ ּ֭ב ָא ֶרץ יִ ְה ֶי ֣ה זַ ְר ֑עֹו2 גGewaltig wird seine Nachkommenschaft im Land sein, ּד֭ ֹור יְ ָׁש ִ ֣רים יְ ב ָ ֹֽרְך׃ דals Geschlecht der Aufrichtigen wird sie gesegnet sein. יתֹו ֑ הֹון־וָ ֥עֹ ֶׁשר ְּב ֵב3 הVermögen und Reichtum wird in seinem Haus sein, ְ ֜ו ִצ ְד ָק ֗תֹו ע ֶ ֹ֥מ ֶדת ָל ַ ֽעד׃ וund seine Gerechtigkeit steht auf ewig. (Ps 112,1–3)
Situation positiv im Hinblick auf ein Gelassenheitsideal umzudeuten: In Ps 34,2 wird ֲענָ וִ יםmit πραεῖς „Sanftmütige“ wiedergeben (vgl. Ps 24,9; 36,11; 75,11; 147,6; 149,4), ָענִ יaus V. 7 jedoch mit dem Lexem πτωχός „arm“, womit eindeutig auch auf eine soziale Notlage verwiesen wird. 148 Hossfeld/Zenger 1993, 258. 149 Janowski 42013, 184. 150 „Ethisches Verhalten im Sinne eines Armenethos, d. h. eines Ethos der Rezipienten der Psalmen selbst, konnte dabei der Seligpreisung des letzten Psalms, Ps 41,2 (vgl. auch Ps 40,5) entnommen werden.“ (Bremer 2017, 195).
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Glücklich gepriesen wird der, der JHWH fürchtet und sein Handeln an der göttlichen Ordnung ausrichtet (V. 1). Ihm wird Segen zuteilwerden, und ihm wird es gut ergehen (V. 1b–3). Die Gründe dafür liegen im Handeln des JHWH-Fürchtigen und seinem Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber. Er selbst bietet Orientierung für die, die nach Aufrichtigkeit streben, und wie Gott wird er als gnädig, barmherzig und gerecht qualifiziert. Ihm wird Beständigkeit und Gedenken über den Tod hinaus verheißen (V. 4–6). Seine ewige Gerechtigkeit zeigt sich in der Hinwendung zu denen, bei denen mit keiner Gegenleistung zu rechnen ist – den Armen. Gerade dies resultiert jedoch in Ehre und Anerkennung (V. 9): יֹונים ִ֗ ִּפ ַּז֤ר׀ ֘ ָנ ַ ֤תן ָל ֶא ְב ִ ֭צ ְד ָקתֹו ע ֶ ֹ֣מ ֶדת ָל ַ ֑עד ַ ֜ק ְרנ֗ ֹו ָּת ֥רּום ְּב ָכ ֽבֹוד׃
פEr hat ausgestreut, hat gegeben für die Armen, צseine Gerechtigkeit steht auf ewig. קSein Horn wird in Ehre erhaben sein. (Ps 112,9)
Der Psalter kennt also den Gedanken der menschlichen Verantwortlichkeit für die Armen, die im Kontext der Gottesbeziehung gesehen wird. Weil Gott ein mit den Armen solidarischer Gott ist, ist auch der, der in Beziehung zu Gott steht, sich auf ihn ausrichtet, zu Solidarität aufgerufen. Weil Gott solidarisch mit den Menschen ist, soll der Mensch solidarisch sein. Die menschliche Einsicht in die göttliche Zuwendung zu den Armen als Wesensmerkmal Gottes, wie sie in den Psalmen beschrieben wird, bleibt dabei keine theoretische, sondern hat lebenspraktische und damit ethische Konsequenzen.
D Fazit Die Tatsache, dass sich im Psalmenbuch auffällig viele Aussagen zu den Armen finden, hat in der Vergangenheit zur Suche nach Gruppen bzw. Trägerkreisen, deren Sorge den Armen gilt, und Versuchen der zeit- und sozialgeschichtlichen Verortung geführt. Gleichzeitig wurde gefragt, ob die Rede von Armut sich auf grundlegende ökonomische Defizite beziehe oder auf aktuelles Leid, ob sie materiell-sozial oder religiös-spirituell zu verstehen sei. Allzu genaue vereinseitigende Positionen haben sich dabei als Sackgasse erwiesen. Vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund und vom biblischen Gottesbild her, für das die Fürsorge für die Armen Wesensmerkmal JHWHs ist, ist deutlich, dass die Rede von Armut immer auch religiöse Konnotationen und eine theologische Bedeutung haben muss, insofern der Arme auf göttliche Gerechtigkeit hoffen kann und Gott insofern nahe ist. Im Hinblick auf die Frage nach Trägerkreisen scheint plausibel, dass diese sich nicht zwangsläufig als Arme verstanden haben müssen, sondern über die mit der Theologisierung des Rechts und dem Ende des Königtums einhergehenden Demokratisierung der Verantwortung für die Armen diese zu einer Grundforderung im Kontext der Gottesbeziehung wird. Weil die Fürsorge für die Armen und
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deren Rettung an Gott gebunden ist, wird sie zu einer zentralen Forderung auch in Bezug auf das menschliche Handeln. Dass es sich bei den „ ֲענָ וִ יםArmen“ auch um eine ethische Kategorie handelt, zeigen die Passagen im Psalmenbuch, in denen als Gegenbegriff die „ ְר ָׁש ִעיםFrevler“ genannt werden. Beide Größen werden in Verbindung zur Gerechtigkeit JHWHs gesetzt: י־א ֶרץ׃ ֽ ָ הו֑ה ַמ ְׁש ִ ּ֖פיל ְר ָׁש ִ ֣עים ֲע ֵד ָ ְעֹודד ֲענָ ִו֣ים י ֣ ֵ „ ְמJHWH hilft den Armen, die Frevler erniedrigt er zur Erde.“ (Ps 147,6). Der Arme darf auf die göttliche Rettung hoffen, gleichzeitig ergeht auch an ihn ein ethischer Anspruch. Auch in Ps 34 ist die Rede vom Frevler (vgl. Ps 34,22), was „Arme“ und „Frevler“ zu einem Gegensatzpaar werden lässt. Durch diese Opposition wird der Begriff ֲענָ וִ יםzu einem ethischen, und die Parteilichkeit JHWHs für die Armen wird deutlich. Auf Psalterebene werden die ֲענָ וִ יםdurch diese Gegenüberstellung mit den „Frevlern“ nicht nur selbst in Beziehung zu den Gerechten gesetzt, sondern es wird die Frage nach dem solidarischen Handeln an ihnen gestellt. Daher können auch die Armen von Ps 34,3 in Antizipation des Heils von Freude erfüllt sein. Vorausgesetzt wird immer eine Erfahrung von Deprivation, wobei offenbleibt, welche Form von Benachteiligung gemeint ist. Es reicht also nicht aus, die Gruppe der ֲענָ וִ יםallein in denen zu sehen, die sich JHWH zuwenden, bzw. den Begriff rein spirituell zu verstehen. Jenseits der Frage, ob es sich dabei um eine soziale Gruppe oder um eine religiöse Größe handelt und welche Schlussfolgerungen die „Armenpsalmen“ für die Redaktionsgeschichte des Psalters erlauben, zeigt Ps 34 wie auch andere Psalmen: Das Heil der ֲענָ וִ יםsteht noch aus. Es wird bezeugt durch das Gotteslob eines Anderen, das den Armen Hoffnung zu geben vermag. Der göttlichen Fürsorge um die Armen entsprechen die menschliche Verantwortung für sie und der Aufruf zu Solidarität. – Ende des Exkurses –
3.4.2.3 Ertrag für die Fragestellung Der Lobaufruf von Psalm 34 zeigt, dass es die Frage nach dem richtigen Tun nicht ohne die Frage nach Gott gibt. Dieser fungiert als Letztinstanz menschlichen Handelns, und über die Solidarisierung mit „den Armen“ wird diese Bezeichnung zum Ausdruck des Selbstanspruchs einer Gruppe. 3.4.2.3.1 Keine ethische Frage ohne die Frage nach Gott Im Lob Gottes zeigt sich die Bezogenheit des Menschen auf Gott. Er reflektiert sich und seine soziale Bezogenheit. Dieser Anthropologie folgend kann die Frage nach dem Menschen nicht unabhängig von seiner Beziehung zu Gott und zu den Anderen gestellt werden. Von daher ist offensichtlich, dass auch die Frage, die Psalm 34 stellt, wie nämlich menschliches Leben gelingen kann, als Konsequenz der erfahrenen Zuwendung Gottes nur im Kontext dieser lebenslangen Gottesbeziehung
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beantwortet werden kann. Die individuelle Rühmung Gottes ist dabei von paradigmatischer Bedeutung für das Kollektiv und dessen ethische Vorstellungen. 3.4.2.3.2 JHWH als Letztinstanz menschlichen Handelns Mit der Lobaufforderung und dem Verweis auf die ֲענָ וִ יםeröffnen die V. 2–4 den Horizont der Frage nach dem Zusammenhang von Theologie und Ethik. Der Aufruf zum Gotteslob ist nur verständlich, wenn Gottes Güte und sein rettendes Handeln am Menschen vorausgesetzt werden, wie in Ps 34 ja auch an späterer Stelle beschrieben wird (vgl. Ps 34,5–8.9.16–23). Nach Ps 34,3 ist der Lobpreis JHWHs Anlass für die Armen, sich zu freuen. Erst im weiteren Verlauf des Psalms wird deutlich, warum: JHWH rettet den Armen, der ihn anruft (V. 7–8). Dass die Armen sich freuen sollen, verweist also auf die Vorstellung, dass JHWH sich in besonderer Weise den Armen zuwendet. Im Lobpreis wird JHWH als Begründung der Weltordnung anerkannt und seine Parteilichkeit für die Benachteiligten als Maßstab für gerechtes Handeln anerkannt. Dass JHWH rettet, ist Anlass zu Freude und Hoffnung für die ֲענָ וִ ים. Worin die Armut bzw. Bedrängnisse bestehen, lässt Ps 34 offen. Die Aufforderung, JHWH zu loben, richtet sich also auf die Anerkenntnis der rettenden Gerechtigkeit JHWHs und implizit einer theologisch begründeten Ethik. Indem mit den Worten des Ichs eine Solidargemeinschaft zwischen „den Armen“ und dem angesprochenen Kollektiv hergestellt wird, wird dieses auch auf solidarisches Handeln ihnen gegenüber verpflichtet. Aufgrund der Parteilichkeit JHWHs für die ֲענָ וִ יםwerden diese zu einer ethischen Größe für das Kollektiv. Im Kontext des Psalmenbuches sind es besonders die Asafpsalmen und die Psalmen im Schlusshallel, die die Vorstellung zeigen, dass der Welt eine göttliche Rechtsordnung zugrunde liegt und dass diese göttliche Gerechtigkeit darin besteht, den Benachteiligten Gerechtigkeit zu verschaffen (vgl. Ps 82,1–4; Ps 145,8–9.14; Ps 146,5–9). Die Schutzpflicht gegenüber den Waisen, Witwen und Entrechteten ist Merkmal des Gottseins und damit göttliches Wesensmerkmal schlechthin.151 Die ֲענָ וִ יםsind die Größe, an der deutlich wird, dass JHWH diese Letztinstanz menschlichen Handelns ist. Die gesellschaftliche Bedeutung der ֲענָ וִ יםbesteht in ihrer Relevanz für die Frage nach dem ethischen Handeln, unabhängig davon, ob der Rekurs auf diese sich auf materielle Armut und eine reale gesellschaftliche Größe bezieht, sei diese nun sozial oder religiös. 3.4.2.3.3 Die ֲענָ וִ ים: Von der Solidarisierung zum Selbstanspruch Im Kontext von V. 2–4 gelesen können die ֲענָ וִ יםals dritte Größe neben Ich und Adressaten gelten. Aufgerufen wird dann zu einer Solidarisierung mit ihnen. Außerdem erscheint im Psalmenbuch die Bezeichnung „Arme“ in Zusammen-
151 Vgl. Hossfeld/Zenger 2007, 487.
Auslegung
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hang mit deren ethischem Verhalten, wie vor allem Ps 147,6 zeigt. Während die Frevler sich dadurch auszeichnen, dass sie JHWH verachten, den Elenden verfolgen und sich betrügerisch verhalten (vgl. Ps 10,2–11), wird impliziert, dass sich „der Arme“ durch ethisch verantwortungsvolles Verhalten auszeichnet, das in Zusammenhang mit seiner Beziehung zu JHWH steht. Insofern steht auch der, der sich zu „den Armen“ zählt, vor einem ethischen Anspruch, den es zu erfüllen gilt. So gesehen sind die ֲענָ וִ יםeine Gruppe, die für sich in Abgrenzung von Anderen Rechtschaffenheit reklamiert. 3.4.2.3.4 Die ethische Relevanz für den Leser Mit seinem Lobvorsatz und der Aufforderung zum JHWH-Lob legt das betende Ich Zeugnis von seinem JHWH-Glauben ab. Die Welt des Textes konfrontiert den Leser bzw. Beter mit der Vorstellung, dass menschliche Existenz, ethisches Tun und Gottesbeziehung unlösbar miteinander verknüpft sind. Diese Vorstellung kann der Leser durch die Rede in der 1. Person probeweise für sein eigenes Leben übernehmen. Im göttlichen Lobpreis wird die eigene Existenz als eine Existenz vor Gott begriffen. Das Lob Gottes gründet auch darin, dass Gottes Wesen sich entscheidend von seiner Hinwendung zu den Bedürftigen bestimmt. Mit dem Verweis auf die ֲענָ וִ יםwerden umfassende Konzepte einer Weltordnung und einer an Gerechtigkeit orientierten Ethik, die die Solidarität mit den Armen einschließt, eingespielt. Damit bietet die Welt des Textes eine material-ethische Position, die handlungsleitend sein kann und situativ gefüllt werden muss. Nur einem über diese Konzepte und ihre religionsgeschichtlichen Hintergründe informierten Leser erschließen sich diese Zusammenhänge. Deutlich wird also, dass das Wissen um antike Konzepte und die Bedeutung des Textes in seinem Entstehenszusammenhang von Relevanz für eine ethische Lektüre von Psalm 34 sind. Dabei gibt es durchaus Konvergenzen zur Vorstellung der ethischen Selbstbestimmtheit des Menschen auch angesichts der Vorstellung eines göttlichen Willens. Wenn es mit Eckart Otto „die im Anruf Gottes als des Barmherzigen angesprochene Einsicht des je einzelnen Menschen“152 ist, die das Ethos begründet, dann wird der Leser bzw. Beter durch die Aufforderung des Psalms, JHWH zu loben, auch herausgefordert, sich auf eine Gerechtigkeit auszurichten, die sich den Schwachen in Solidarität verbunden weiß.
152 Otto 1994, 90.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
3.4.3 Rettung durch JHWH in unterschiedlichen Notsituationen (Vers 5–8) 3.4.3.1 Vers 5–8: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms הו֣ה וְ ָע ָנ֑נִ י ָ ְָּד ַ ֣ר ְׁש ִּתי ֶאת־י
5a ד
ילנִ י׃ ֽ ָ גּורֹותי ִה ִּצ ַ֗ ל־מ ְ֜ ּומ ָּכ ִ
b
ִה ִ ּ֣ביטּו ֵא ָל֣יו וְ נָ ָ ֑הרּו
6a ה
יהם ַאל־יֶ ְח ָ ּֽפרּו׃ ֶ֗ ֵּו֜ ְפנ
b
יהו֣ה ָׁש ֵ ֑מ ַע ָ ֶַז֤ה ָע ִנ֣י ָ ֭ק ָרא ו יעֹו׃ ֽ הֹוׁש ִ רֹותיו ָ֗ ל־צ ָ֜ ּומ ָּכ ִ הוה ָ֘ס ִ ֤ביב ִ ֽל ֵיר ָ֗איו ֓ ָ ְח ֶֹנ֤ה ַמ ְל ַאְך־י ַ �וֽיְ ַח ְּל ֵ ֽצם׃
7a ז b 8a ח b
Ich habe JHWH gesucht, und er hat mir geantwortet, / und aus allen meinen Ängsten hat er mich gerettet. Sie schauten auf ihn und strahlten, / und ihre Gesichter mussten nicht beschämt sein. Dies war ein Armer, der rief, und JHWH hat (ihn) gehört, / und aus allen seinen Bedrängnissen hat er ihn befreit. Der Bote JHWHs lagert sich um die, die ihn fürchten, und er rettet sie.
Nach dem eröffnenden Lobaufruf (V. 2–4) folgen Bericht und Unterweisung über das paradigmatische rettende Handeln JHWHs in der Vergangenheit aus verschiedenen Perspektiven. An den Eigenbericht (V. 5) schließt sich der Blick auf ein Kollektiv an (V. 6), um dann von einer individuellen Rettungserfahrung zu erzählen (V. 7). Aus den unterschiedlichen Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen wird eine allgemeine Beistandsaussage abgeleitet (V. 8) und so die Bezogenheit von Individuellem und Typischem153, von Erleben und der Reflexion des Erfahrenen deutlich. Für den Abschnitt ergeben sich formale Beobachtungen und offene Fragen, die die Grammatik und Verbalsyntax berühren. Ferner ist zu fragen, welche Wirkung die gewählte Metaphorik der Verse besitzt und in welchem Verhältnis dabei die genannten Figuren(gruppen) stehen. (1) Im Hinblick auf die grammatische Struktur der Verse fällt der häufige Subjektwechsel bzw. die Änderung in der Erzählperspektive auf. Es ergeben sich folgende Wechsel: 1. Sg. (V. 5); 3. Pl. (V. 6); 3. Sg. (V. 7), 3. Pl. (V. 8). Diese Per spektivenvielfalt wird in der Auslegungsgeschichte oft reduziert, indem die singularischen und die pluralischen Subjekte miteinander identifiziert werden. So sei das betende Ich, das in der 1. Person spricht (V. 5), „ ָענִ יein Armer“, der exemplarisch als Objekt des göttlichen Rettungshandelns genannt wird (V. 7). Mit diesem Lexem wird einerseits ein Rückbezug zum Abschnitt V. 2–4 mit der Nen-
153 Vgl. Weber 2001, 165.
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Auslegung
nung der ֲענָ וִ יםhergestellt,154 andererseits entspricht V. 7 in Aufbau und Syntax (bis auf den asyndetischen Relativsatz in V. 7a) dem V. 5:155 Ps 34,5 Hinwendung zu JHWH Feststellung der gött lichen Reaktion Inhalt der Reaktion: Totalität der Rettung
suchen
Ps 34,7 ָּד ַר ְׁש ִּתי ֶאת־יְ הוָ ה
זֶ ה ָענִ י ָק ָרא
rufen
וְ ָענָ נִ י ָׁש ֵמ ַע וַ יהוָ ה antworten hören גּורֹותי ִה ִּצ ָילנִ י ַ ל־מ ְ ּומ ָּכ ִ הֹוׁשיעֹו ִ רֹותיו ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ Rettung aus Ängsten Befreiung aus Bedrängnissen
Diese Struktur eröffnet die Möglichkeit, das Ich mit dem ָענִ יzu identifizieren. Konstruiert wird im Psalm wiederholt ein Zusammenhang von Hinwendung zu
154 Die Frage nach einem möglichen semantischen Unterschied der beiden Adjektive und danach, in welchem Verhältnis ָענִ יund ֲענָ וִ יםstehen, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Für einen Überblick vgl. Gerstenberger 1989, 247–270, vor allem 259 (s. o.). Pleins 1992, 411 kommt zu dem Urteil: „When we consider the usage of the term ‛ănāwîm throughout the Psalms, it is striking to notice that this word matches ‛ānî in its range of meaning and usage. This is one important piece of evidence for the theory pursued below that the term ‛ănāwîm, is simply a plural form for ‛ānî, and that the two actually should be treated together.“ Während LXX ָענִ יin Ps 34,7 auf πτωχός einschränkt, verweisen die Verwendung des Adjektivs und die Parallelbegriffe darauf, dass der „Natur der Sache entsprechend […] kein konkretes Elend gemeint“ ist (Gerstenberger 1989, 257). Ist ָענִ יvon ענה2 abzuleiten, ist auch der Aspekt der Unterdrückung und Gewaltanwendung gegen den Schwachen enthalten. Da in den Psalmen oft um JHWHs Eingreifen und eine Beendigung des als Notlage empfundenen Zustandes, der wiederum oft den Nachstellungen und der Unterdrückung durch die Feinde angelastet wird, gebeten wird, erscheint die Übersetzung „Bedürftiger“ angemessener als eine Vereinseitigung und Konkretisierung mit dem deutschen Wort „Armer“. Die Angewiesenheit und Verwiesenheit auf JHWH als Helfer und Retter, dessen es bedarf, die Notwendigkeit des einschreitenden Handelns eines Anderen wird so auch deutlicher als durch die Übersetzung mit „Elender“. 155 Vgl. analog V. 18: i
Ps 34,5
Hinwendung zu JHWH Feststellung der göttlichen Reaktion Inhalt der Reaktion: Totalität der Rettung
ָּד ַר ְׁש ִּתי ֶאת־יְ הוָ ה suchen וְ ָענָ נִ י antworten גּורֹותי ִה ִּצ ָילנִ י ַ ל־מ ְ ּומ ָּכ ִ individuelle Rettung ( נצלhi.) aus Ängsten
Ps 34,7 rufen hören
Ps 34,18
זֶ ה ָענִ י ָק ָרא וַ יהוָ ה ָׁש ֵמ ַע
הֹוׁשיעֹו ִ רֹותיו ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ
schreien hören
ָצ ֲעקּו וַ יהוָ ה ָׁש ֵמ ַע
רֹותם ִה ִּצ ָילם ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ
individuelle Befreiung kollektive Rettung ( יׁשעhi.) aus Be( נצלhi.) aus Bedrängdrängnissen nissen
Ähnlich als Begründung des Lobpreises JHWHs auch in Ps 22,25: „Denn er (= JHWH) hat nicht verachtet und nicht verabscheut die Armut ( ) ֱענּותdes Armen () ָענִ י, und er hat sein Angesicht vor ihm nicht verborgen; und als er zu ihm schrie ()ׁשוע, hat er gehört ()ׁשמע.“
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
JHWH ( דרׁשbzw. )קראund der Feststellung seiner Reaktion ( ענהbzw. )ׁשמע, die in einem rettenden Handeln besteht. Von dem Bekenntnis und Zeugnis des Ichs (V. 5) ausgehend wird der Blick vom Individuum zum Kollektiv (V. 6) geweitet: „In the proper manner of a testimony, the psalm goes on to speak of an experience of Yhwh acting, which is relevant not just for the person who had the experience but for others.“156 Hierbei kann die uneindeutige Referenz dieser 3. Pl. (V. 6) entweder so entschärft werden, dass gegen die masoretische Punktierung, aber mit LXX, Aquila und Peschitta ein Imperativ an die 2. Pl. analog zu V. 4 gelesen wird, oder sie wird durch die Identifizierung der ungenannten Gruppe mit den ( ֲענָ וִ יםV. 3) aufgelöst.157 Von V. 8 her ist schließlich eine Gleichsetzung mit den „JHWH-Fürchtenden“ möglich. In der Konsequenz wird der Psalm als Selbstaussage einer ֲענָ וִ ים-Gruppe verstanden, die die JHWHVerehrung und das rechte Verhalten von der Zugehörigkeit zu ihr abhängig macht. Vereindeutigt man aber nicht so weit, sind die Verse so zu verstehen, dass das betende Ich zwar von eigenen „Ängsten“ (V. 5) spricht, der „Arme“ wie die ֲענָ וִ ים aber eine von ihm unterschiedene weitere Größe bleibt, so dass durch die Vielfalt der Beispiele das Rettungshandeln JHWHs in den Vordergrund rückt und betont wird. Als weitere offene Frage kann die Referenz des ePP in V. 6a und in V. 8a gelten. Geht man davon aus, dass das betende Ich ab V. 6 beginnt, in 3. Person über sich selbst zu sprechen, wird es für die Gruppe zum „Armen“ (V. 7) zum exemplarischen Geretteten. Einfacher und damit plausibler ist aber die Annahme der Referenz auf das letztgenannte explizite Objekt, also JHWH (V. 5). Dies entspricht der Beobachtung, dass die Multiperspektivität der Subjekte JHWHs Handeln betont. (2) Neben der Uneindeutigkeit der Referenz sind auch die Tempusverhältnisse unklar. Während die qatal-Formen in V. 5 eher unproblematisch sind und sich eindeutig auf die Vergangenheit beziehen, ist die Frage, ob der Vetitiv in V. 6 präsentisch zu verstehen ist oder sich ebenfalls auf die Vergangenheit bezieht. Folgt man MT und liest in V. 6a qatal-Formen (s. o. unter Textkritik), ergibt sich auch für V. 6b die Zeitstufe der Vergangenheit. Der Wechsel zur jiqtol-Form lässt sich damit erklären, dass Modalität ausgedrückt wird: „Ihre Gesichter mussten nicht beschämt sein.“ (V. 6b). Unsicher ist die Syntax von V. 7 und damit auch die Zeitverhältnisse. זֶ ה ָענִ י ָק ָרא kann als ein Verbalsatz verstanden werden: „The one of poverty cried (i. e., The poor man cried).“158 oder als Nominalsatz mit angeschlossenem asyndetischem Relativsatz: „Dies ist/war ein Armer, der rief.“ So übersetzt z. B. John Goldingay in V. 6 den Vetitiv im Anschluss an von ihm konjezierte Imperative präsentisch, den folgenden Nominalsatz mit Relativsatz jedoch mit Vergangenheit: „Look to 156 Goldingay 2006, 479. 157 Siehe oben die Anmerkungen zu Text und Übersetzung. 158 So fassen Waltke/O’Connor 1990, 338 die Kombination von Demonstrativpronomen und Substantiv als CsV auf, müssen dafür aber postulieren: „Read ‘oni ‚affliction‘ against the MT’s ‘ani ‚af flicted‘.“
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Auslegung
him and shine; your faces are not to be ashamed. This was a weak man who called and Yhwh listened and delivered from all his troubles.“159 und rekonstruiert damit eine ähnlich komplexe Zeitstruktur wie in Ps 30: Am Anfang steht die Bedürftigkeit, diese führt zur Anrufung JHWHs, der in der Vergangenheit bereits gerettet hat, worauf das betende Ich in der Jetzt-Zeit verweist. Damit verbunden ist die Frage nach dem Verständnis der Begriffe, die Bedürftigkeit bezeichnen. Die Wiedergabe des Nominalsatzes mit dem Präsens impliziert, dass ָענִ יauch dann noch verwendet werden kann, wenn der Zustand der Bedürftigkeit bereits überwunden ist. Insofern kann er sich zur Bezeichnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe entwickeln, unabhängig davon, ob diese sich tatsächlich im Zustand der Bedürftigkeit befindet. Die Übersetzung von קראmit dem Präteritum ist hingegen zu favorisieren, da im Psalm die Überwindung der Notsituation im Vordergrund steht. Dies wird durch die dreifache Erzählung von der Hinwendung an JHWH ()קרא – נבט – דרׁש, der göttlichen Reaktion ( )ׁשמע – נהר – ענהund der Rettung ( )יׁשע – ַאל חפר – נצלerreicht. Dabei sind göttliche Reaktion und Rettung für V. 6 nur indirekt an der Gruppe derer, die nicht beschämt sein müssen, abzulesen. (3) Die Metaphorik dieses Abschnittes ermöglicht den emotionalen Nachvollzug der Rettungserzählungen. JHWH wird über Verben der Kommunikation ( ענהund )ׁשמעpersonal bestimmt: Die Personalisierung evoziert Nähe und damit Hoffnung. Mit dem Verb נצלhi. (V. 5) wird im Bild einer räumlichen Trennung die Beendigung des negativ gewerteten Zustandes ausgedrückt.160 Auch in V. 7 wird mit dem Gebrauch der Präposition „ ִמןaus“ Rettung mit einem räumlichen Bild umschrieben. Assoziiert werden ein Zustand der Enge und Bedrohtheit, der überwunden und in Weite überführt wird. Parallel werden in V. 6 die Rettungserfahrungen des an der Textoberfläche nicht näher bestimmten Kollektivs mit visueller Metaphorik umschrieben: „Sie schauten ( ) ִה ִּביטּוauf ihn ( ) ֵא ָליוund strahlten, und ihre Gesichter mussten nicht beschämt sein.“ (V. 6) Helligkeit und Licht sind dabei positiv konnotiert. Pars pro toto und konkret stehen die Gesichter für das unbekannte Kollektiv. Das Bild des Strahlens wird fortgeführt bzw. rückblickend auf die Gesichter hin konkretisiert: Die Gesichter sind strahlend, nicht beschämt. Die Schutzfunktion des Boten JHWHs wird in Ps 34,8 durch das militärische Bild des Sich-Lagerns um die, die JHWH fürchten, unterstrichen.161 i
i
i
i
i
i
159 Goldingay 2006, 475. 160 Vgl. Hossfeld/Kalthoff 1986, 570–577. 161 Das Bild wurde entweder religionsgeschichtlich erklärt: „Daß er (samt seiner Heeresmacht) sich hier um die Frommen ‚lagert‘, zeigt die Nachwirkung uralter Vorstellungen vom göttlichen Heer vgl. Jos 5,14; Ex 14,9 und zu Ps 103,20f; wie Jahwes Heer den Erwählten schützt, erzählt 2 Kön 6,17.“ (Gunkel 51968, 144; vgl. Kraus 51978, 419) oder historisiert: „Though the nature of the deliverance is not specified, the language of v 8 implies deliverance from a military crisis; the ‚Lord’s angel‘ is reminiscent of the angel of God encountered by Joshua at Jericho (Josh 5:13–15). It is prob able that a precise military situation may lie behind this portion of the psalm in his p rehistory; in
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
(4) Mit dem genannten Problem der Referenz verbunden ist die Frage nach dem Verhältnis der genannten Figuren und Figurengruppen. Zusätzlich stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von JHWH und Bote JHWHs (s. u.). Explizit werden das betende Ich und der „Arme“, ein nicht näher bestimmtes Kollektiv und die Gruppe der JHWH-Fürchtenden auf der einen Seite benannt, JHWH und sein Bote auf der anderen Seite. Während die den ersten zugeschriebenen Handlungen sich auf die vorgängige Hinwendung an JHWH beziehen, reagiert dieser wiederholt auf die Kommunikationsaufnahme durch sein rettendes Handeln. Das göttliche Handeln wird so als zuverlässig qualifiziert. Die generelle Aussage in V. 8 bringt insofern einen neuen Aspekt zur Sprache, als keine vorhergehende Anrufung geschildert wird, sondern der Schutz durch den Boten JHWHs allen JHWH-Fürchtenden zugesprochen wird. Die weitere Figurengruppe, die allerdings im MT von V. 5–8 nicht direkt erwähnt wird, ist die des angesprochenen Kollektivs (V. 4), das als Adressat der Rettungserzählungen fungiert. Festhalten lässt sich für den Abschnitt V. 5–8: 1. Mit der Nennung des „Armen“ (V. 5) wird ein Rückbezug zu der Lobaufforderung (V. 2–4) geschaffen. Das erzählte Rettungshandeln JHWHs wird auf diese Weise zum Grund des Lobpreises. Deutlich wird im Rückblick, warum das betende Ich bereits im Kontext seines Appells, JHWH zu preisen, auf die ֲענָ וִ ים verweist: Als Deprivierte haben sie berechtigte Hoffnung, dass JHWH ihre Not wenden wird und auch sie so Anlass zum Jubel haben werden. 2. Die beschriebene Offenheit des Psalms und seine Uneindeutigkeit in Bezug auf das Verhältnis der genannten Figuren und Figurengruppen und die Tempora legen nahe, von einer konkret-materiellen Bedeutung der ֲענָ וִ יםzu abstrahieren, so dass diese wie auch die Bezeichnung der „JHWH-Fürchtenden“ als Gruppenbezeichnung verstanden werden kann. Gleichzeitig ist auch die konkrete Deutung nicht ausgeschlossen. 3. Über die Vielzahl der Beispiele und Subjekte lenken die Rettungserzählungen den Blick auf JHWH als den Retter. Im Rahmen einer personalen Gottesbeziehung ist er der, der sich der Benachteiligten annehmen und sie zu ihrem Recht führen wird. Das göttliche Handeln wird als verlässlich beschrieben. Insofern wird in diesem Abschnitt die Existenz einer gerechten Weltordnung vorausgesetzt, deren Garant JHWH ist. 4. Neben das einmalige Rettungshandeln an Menschen in Not tritt die Zusage eines allgemeinen Beistands JHWHs für die Menschen, die JHWH fürchten. Dabei wird vom Individuellen auf das allgemein Gültige geschlossen. Dass dies Relevanz für die Frage nach dem richtigen Tun hat, zeigt die sich anschließende Unterweisung.
its present literary form, however, the military associations have become merely metaphorical.“ (Craigie 1983, 279).
Auslegung
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3.4.3.2 Vers 5–8: Literarische Kontexte 3.4.3.2.1 Suche nach JHWH – Ausrichtung des betenden Ichs auf Gott (V. 5) Die Selbstaussage des Ichs, JHWH gesucht zu haben, der ihm geantwortet und es gerettet habe, ermöglicht verschiedene Lektüren, die von einem konkret-rituellen über ein existentielles bis hin zu einem ethischen Verständnis reichen. Entscheidend ist dabei, welche Bedeutung den Verben „ דרׁשsuchen“ – „ ענהantworten“ – „ נצלretten“ zugeschrieben wird. So wurde das Lexem דרׁשforschungsgeschichtlich ebenso wie das Verb ענה1, mit dem die korrespondierende Reaktion JHWHs bezeichnet wird (V. 5a), im Rahmen von gattungskritischen Zugängen vor allem rituell-kultisch und konkret verstanden: Der JHWH-Verehrer in Ps 34 bekunde seinen Glauben „after receiving a divine oracle from the Lord through a temple servant“162. Diese Kultorakelthese wird jedoch kaum noch vertreten.163 Im Folgenden soll daher je gesondert die Verwendung der Verben „ דרׁשsuchen“ – „ ענהantworten“ – „ נצלretten“ allgemein und im Psalter untersucht werden. 1. דרׁש – „suchen“: Orientierung an JHWH Das Verständnis von דרׁשist abhängig davon, was als Gegenstand der Suche genannt wird. Das Verb begegnet in Bezug auf einen bestimmten Ort, der aufgesucht wird, personal mit Bezug auf JHWH ( )דרׁש יְ הוָ הoder mit Bezug auf sprachliche Größen wie ein Gesetz oder ein Gebot. Die relevanten Formulierungen werden im Folgenden jeweils vorgestellt und in einigen Kontexten exemplarisch ausgelegt. (1) So wird im Zusammenhang mit der Forderung nach Kultzentralisation erstens davon gesprochen, JHWH an dem Ort, also dem Tempel in Jerusalem, aufzusuchen (vgl. ל־ה ָּמקֹום ַ ֶא דרׁשin Dtn 12,5). (2) Die personale Formulierung דרׁש יְ הוָ הbegegnet zweitens in Kontexten, die vor allem kultisch-rituell zu verstehen sind. In den Chronikbüchern findet sich die Formulierung im Zusammenhang mit der Darbringung eines Opfers (vgl. 1 Chr 21,30; 2 Chr 1,5–6). Zudem wird JHWH befragt (vgl. Gen 25,22; Jes 58,2) bzw. ein Wort von ihm erfragt, das durch Propheten weitergegeben wird (vgl. Jes 58,2; 1 Kön 14,5; 22,5–6). Diese Texte wurden zusammengelesen, so dass man religionsgeschichtlich – vor allem bei den Psalmen mit sog. „Stimmungsumschwung“ – ein Orakel unter prophetischer oder priesterlicher Vermittlung im Kontext eines Opfers am Tempel und dies als Sitz im Leben der entsprechenden Psalmen rekonstruierte.164 162 Craigie 1983, 279. 163 Zu einem Forschungsüberblick vgl. Rechberger 2012, 3–51. 164 Vgl. Kraus 51978, 419: „Zu דרׁשals term.tech. des Heiligtumbesuches: Am 5,5; 1 Ch 21,30; 2 Ch 1,5. An heiliger Stätte ‚antwortete‘ ( )ענהJahwe dann durch den Mund des Priesters (vgl. JBegrich, Das priesterliche Heilsorakel: ZAW 52, 1934, 81–92). Sein Wort erwies sich als wirksam und ‚rettete aus allen Ängsten‘.“ Vgl. auch das konkretisierende Verständnis bei Wagner 1977, 323: „Für
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Allerdings lässt sich der „‚Stimmungsumschwung‘ in den Psalmen […] durch textexterne Erklärungsversuche im Zusammenhang mit institutionalisierten Geschehenszusammenhängen nicht erklären“165. Die Psalmen sind nicht nur sequenziell zu lesen, sondern der „‚Stimmungsumschwung‘ entlässt den Beter nicht aus der Spannung, dass Leben immer ein ‚Zugleich‘ bedeutet. […] Wenn der Beter von Ps 22, nachdem er in V.3 nur klagen kann ‚du antwortest nicht‘, in V.22 bekennt ‚du hast mir geantwortet‘, zeigt dies gerade in der Zusammenschau zum einen die Absolutheit beider Erfahrungen und zum anderen die Unmöglichkeit einer menschlichen Vermittlung, wodurch wiederum das Wunder der Antwort bzw. des ‚Stimmungsumschwungs‘ und mit ihm auch die Dankbarkeit darüber umso intensiver zum Ausdruck kommt.“166 Gleichermaßen gilt auch für die Gottesreden in den Psalmen, dass diese nicht auf eine kultprophetisch-liturgische Tätigkeit am Tempel zurückgeführt werden müssen, sondern als ein funktionales stilistisches Element verstanden werden können.167 So beschreibt die Wendung „ דרׁש יְ הוָ הJHWH suchen“ im Kontext des Psalters nicht zwangsläufig den Besuch im Tempel, sondern die Wendung bezieht sich auf ein Vertrauensverhältnis und Beziehungsgeschehen. Im Parallelismus membrorum entsprechen sich in Ps 9,11 „ דרׁשsuchen“ und „ ידע ְׁש ֶמָךdeinen Namen kennen“: הוה׃ ֽ ָ ְׁשיָך י ֣ ֶ א־ע ַז ְ֖ב ָּת ד ְֹר ָ ֹ יֹוד ֵע֣י ְׁש ֶ ֑מָך ִ ּ֤כי ֽל ְ „ וְ ְיִב ְט ֣חּו ְ ֭בָךUnd auf dich vertrauten die, die deinen Namen kennen. Denn du hast die nicht verlassen, die dich suchen, JHWH!“ (Ps 9,11). Gott zu suchen meint dann, seinen Namen im Gebet anzurufen. Den Namen zu kennen und anzurufen verweist auf eine persönliche Beziehung und ein Vertrauensverhältnis („ בטחvertrauen“). Gott zu vertrauen ist der existentielle Vollzug des Menschen, auf den Gott damit antwortet, dass er ihn nicht verlässt. Die Hinwendung zu Gott beinhaltet aber nichtsdestotrotz ein intentionales Moment und kann eine Reaktion auf göttliche Strafe sein, so dass es zur Umkehr und Neuausrichtung kommt: רּו־אל׃ ֽ ֵ ם־ה ָר ָג֥ם ְּוד ָר ׁ֑שּוהּו ְ ֜ו ָׁ֗שבּו וְ ִ ֽׁש ֲח ֲ „ ִאWenn er [= der Zorn Gottes] sie tötete, dann suchten sie nach ihm [ = Gott]. Und sie kehrten um und fragten nach Gott.“ (Ps 78,34). Zur vertrauensvollen Ausrichtung auf Gott hin kommt es in Zeiten der Not: „ ֲאד ֹנָ י ָּד ָר ְׁש ִּתי ְּביֹום ָצ ָר ִתיAm Tag meiner Bedrängnis
Gen 25,22 muß man eine kultische Lokalität voraussetzen, das gleiche gilt für Ps 34,5“ und bei Weiser 1963, 200: „In V. 5 f spricht er zunächst von der Feierstunde, da er Gott im Heiligtum ‚aufgesucht‘ und Erhörung und Rettung erfahren hat in Anwesenheit der frommen Gemeinde, die in Scharen V. 10 herbeigeströmt und Zeuge sein durfte der Gegenwart des hilfreichen Gottes (‚sie schauten auf ihn‘; vgl. 2.Mose 24,9 f.; Sach.12,10, s. Einl. 25 f.49), der ihren Glauben nicht zuschanden werden ließ V. 6.“ 165 Rechberger 2012, 342; vgl. auch Bauks 2004, 36–51.132–138. Ihr Fazit zu dem Stimmungsumschwung von Ps 22 ist: „Der Psalm umschreibt eine wenig konkrete Notsituation mit unpräzise charakterisiertem Feindbild und präsentiert eine Erhörungssituation, die im Inneren des Beters vor sich zu gehen scheint.“ (Bauks 2004, 52). 166 Rechberger 2012, 346. 167 Vgl. Doecker 2002, 288–315.
Auslegung
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habe ich den Herrn gesucht“, und sie wird sichtbar im körperlichen Ausdruck einer Orantenhaltung: „ יָ ִדי ַליְ ָלה נִ ּגְ ָרהMeine Hand war nachts ausgestreckt.“ (Ps 77,3)168. Psalm 22 zeigt, dass diese Ausrichtung der eigenen Existenz auf JHWH, die Gottsuche als Vertrauensverhältnis, in einer Gemeinschaft parallel zu דרׁש יְ הוָ ה „JHWH suchen“ auch mit „ ירא יְ הוָ הJHWH fürchten“ umschrieben werden kann. הוה׀ ַ ֽה ְל ֗לּוהּו ָ ֙ ְ יִ ְר ֵ ֤אי י24 JHWH-Fürchtende, lobt ihn; ל־ז ַ�֣רע יַ ֲע ֣קֹב ַּכ ְּב ֑דּוהּו ֶ ָּכ alle Nachkommen Jakobs, verherrlicht ihn, ל־ז ַ�֥רע יִ ְׂש ָר ֵ ֽאל׃ ֶ וְ ג֥ ּורּו ִ֜מ ֶּ֗מּנּו ָּכ und schaudert vor ihm, alle Nachkommen Israels. א־ב ֙ ָזה ָ ֹ ִ ּ֤כי ֽל25 Denn er hat nicht verachtet וְ ֪ל ֹא ִׁש ַ ּ֡קץ ֱענ֬ ּות ָע ִ֗ני und nicht verabscheut die Armut des Armen, א־ה ְס ִ ּ֣תיר ָּפ ָנ֣יו ִמ ֶ ּ֑מּנּו ִ ֹ וְ ל und er hat sein Angesicht vor ihm nicht verborgen; ּוֽ ְב ַׁשּוְ ֖עֹו ֵא ָל֣יו ָׁש ֵ ֽמ ַע׃ und als er zu ihm schrie, hat er gehört. ֵ ֥מ ִא ְּת ָ֗ך ְ ֽת ִה ֫ ָּל ִ ֥תי ְּב ָק ָ ֥הל ָ ֑רב26 Über Dich ist mein Lobgesang in großer Gemeinde, נְ ָד ַ ֥רי ֲ֜א ַׁש ֗ ֵּלם ֶנ�֣גֶ ד יְ ֵר ָ ֽאיו׃ meine Gelübde will ich erfüllen vor denen, die ihn fürchten. אכ ֬לּו ֲענָ ֙ ִוים׀ וְ יִ ְׂש ָּ֗בעּו ְ ֹ י27 Die Armen sollen essen und satt werden; יְ ַ ֽה ְל ֣לּו ְי֭הוָ ה ּ֣ד ֹ ְר ָ ׁ֑שיו die ihn suchen sollen JHWH loben; יְ ִ ֖חי ְל ַב ְב ֶכ֣ם ָל ַ ֽעד׃ euer Herz soll für immer leben. (Ps 22,24–27)
Hier entspricht im Abschnitt V. 24–27 in Form einer Inklusion169 die Bezeichnung des Kollektivs „ יִ ְר ֵאי יְ הוָ הJHWH-Fürchtende“ (V. 24) dem der „ ּד ְֹר ָׁשיוihn [= JHWH] Suchenden“ (V. 27). Der abschnittseröffnende Lobaufruf יִ ְר ֵאי יְ הוָ ה ַה ְללּוהו „JHWH-Fürchtende, lobt ihn“ (Ps 22,24; vgl. auch 22,26) bestimmt das angesprochene Kollektiv gleichzeitig auch als soziale Größe „ ָּכל־זֶ רע יַ ֲעקֹבalle Nachkommen Jakobs“ (V. 24) bzw. ׂשר ֵאל ָ ִ„ ָּכל־זֶ רע יalle Nachkommen Israels“ (V. 24). „In dem ersten Schlüsselvers geht die Errettung des Beters, der hier von sich selbst in der Rückschau in der 3. Person als dem ‚Armen‘ spricht (V. 25aβγ), einher mit der hoffnungsvollen Voraussage der Errettung eines jeden in der Gemeinschaft, der in eine solche Lage gerät und Gott vertraut (V. 24). Um an der Errettung des Beters partizipieren zu können, fordert der Beter die Gemeinde auf, YHWH zu
168 Vgl. Hossfeld/Zenger 32007, 407, in deren Augen ein zweifaches Verständnis möglich ist: Die Suche nach JHWH als elementare religiöse Rückbindung und als spezielle Befragung eines Mittlers des Volkes im Kontext einer nationalen Krise (vgl. Jer 21,2; 37,7; Ez 14,1–11; 20,2–4). Die Offenheit des Psalms ermöglicht ein individuelles Verständnis. Zugleich wäre auch bei einer kollektiven Anfrage an JHWH die Frage nach dem richtigen Tun in der politischen Konfliktsituation gegeben. 169 Die Zusammenschau von Gottsuche und JHWH-Furcht erfolgt auch in Ps 34: Am Anfang und Ende des Abschnittes V. 5–8 werden JHWH-Suche (V. 5a) und -Furcht (V. 8a) mit Rettungserfahrungen korreliert; in V. 10–11 wird beides ebenfalls als Abwesenheit von Mangel bestimmt.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
fürchten, zu rühmen und vor ihm zu erschauern (V. 24).“170 Die Aufforderung an die JHWH-Fürchtenden wird mit dem Wunsch „ יְ ַה ְללּו יְ הוָ ה ּד ְֹר ָׁשיוdie ihn suchen sollen JHWH loben“ (Ps 22,27) am Ende des Abschnittes fortgeführt, so dass die beiden Größen miteinander identifiziert werden können. Wer sich zur Gemeinschaft der JHWH-Fürchtenden zählt, sich und seine Existenz auf ihn ausrichtet, ist auch ein JHWH-Suchender. Die Gottsuche bzw. das Gotteslob ist Inbegriff von Leben: „ יְ ִחי ְל ַב ְב ֶכם ָל ַעדeuer Herz soll für immer leben“ (Ps 22,27). Begründet wird der Lobaufruf auch mit der heilvollen Zuwendung JHWHs zum Armen (vgl. Ps 22,25), und den ֲענָ וִ יםwird mit dem Bild einer sättigenden Speisung das Ende ihres deprivierten Zustandes in Aussicht gestellt. „Hier wird das Stichwort der Armen mit dem der Gottsuchenden parallelisiert“171. Der anerkennende Lobpreis JHWHs bestätigt die göttliche Ordnung, die sich in besonderer Weise „der Armen“ annimmt. Über die Parallelisierungen von JHWH-Fürchtenden, Gottsuchenden und Armen, deren Rettung von Gott bezeugt wird, erhält auch die Formulierung „ דרׁש יְ הוָ הJHWH suchen“ eine ethische Dimension. „Sache und Sprache gehören in die nachexilische Armentheologie, die von JHWHs Option für die Armen ausgeht und Erhörungszuversicht propagiert (Ps 10,17; 34,7.18; 69,34)“172. Die göttliche Sorge um die Armen fordert den heraus, der JHWH sucht, selbst entsprechend zu handeln. Dass mit der Formulierung דרׁש יְ הוָ הursprünglich einmal auf den Besuch im Tempel verwiesen wurde, ist also möglich, gilt aber sicher nicht ausschließlich. Wie bei dem sog. Stimmungsumschwung und den Gottesreden in den Psalmen ist es nicht notwendig, diese Formulierung auf eine kultische Handlung zu beziehen. Gottesnähe und Gottesbegegnung sind nicht nur im Tempel möglich, sondern im ethischen Handeln erfahrbar.173 Dieses ethische Verständnis von דרׁש יְ הוָ הist auch für Ps 14,1–2; 24,3–5 und Am 5,14–15 gegeben. Die Passagen zeigen deutlich, dass Gottesnähe im Tun des Guten besteht, die Suche nach Gott also der Suche nach dem Guten entspricht. So ist mit Psalm 14 „ ַמ ְׂש ִּכילein Verständiger“ (V. 2) einer, der Gott sucht (ּד ֵֹרׁש להים ִ ת־א ֱ ֶאin V. 2), der – so die Schlussfolgerung – Gutes tut (V. 1). ַל ְמנַ ֵּ֗צ ַח ְל ָ ֫דִ ֥וד1 Dem Chorleiter. Von David. ָ֨א ַ ֤מר נָ ָב֣ל ְ ּ֭ב ִלּבֹו Der Schändliche spricht in seinem Herzen: ֹלהים ֑ ִ ֵ ֣אין ֱא Es ist kein Gott. ִ ֽה ְׁש ִ֗חיתּו ִ ֽה ְת ִ ֥עיבּו ֲע ִל ֗ ָילה Sie haben Verderben angerichtet; sie tun gräuliche Taten. ה־טֹוב׃ ֽ ֵ ֣אין ֽעֹ ֵׂש Keiner ist da, der Gutes tut. �ְקיף ֪ ִ ֽהוה ִמ ָּׁש ַמיִ ם֘ ִהׁש ֗ ָ ְ י2 JHWH, vom Himmel hat er heruntergeschaut 170 Bauks 2002, 42. 171 Bauks 2002, 43. 172 Hossfeld/Zenger 1993, 150. Mit Irsigler 1988, 222–223 handelt es sich um ein Gebetsformular „für die Anfechtung des frommen Armen der nachexilischen Israelgemeinde“. 173 Vgl. Zenger 2006, 27–30.
Auslegung
י־א ָ ֥דם ָ֫ ֵל־ּבנ ְ ַ ֽע ִ ֭ל ְראֹות ֲה ֵי ׁ֣ש ַמ ְׂש ִ ּ֑כיל ֹלהים׃ ֽ ִ ת־א ֱ ּ֜ד ֹ ֵרׁש ֶא
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auf die Kinder des Menschen, um zu sehen, ob es einen Verständigen gibt, einen, der nach Gott sucht. (Ps 14,1–2)
Das Verhalten des Schändlichen hingegen, der Gott negiert, wird mit ethisch negativ gewertetem Verhalten in Beziehung gesetzt. Verderben anzurichten ( ׁשחתhi. in V. 1) und Gräuel zu tun ( תעבhi. in V. 1), also nicht das Gute zu tun (עׂשה טֹוב in V. 1), ist ein Verhalten, das Gott leugnet: ֹלהים ִ „ ֵאין ֱאEs ist kein Gott.“ (V. 1). Im Umkehrschluss ist der Gottsuchende also der, der sich am Guten orientiert. Die Gottsuche und damit die Ausrichtung des Handelns an ihm und dem Guten ist auch in der Perspektive von Psalm 24 die absolute Nähe zu Gott, die sonst vom Tempel erwartet wird. הו֑ה ָ ְִ ֽמי־יַ ֲע ֶ ֥לה ְב ַהר־י י־יקּום ִּב ְמ ֥קֹום ָק ְד ֽׁשֹו׃ ָ֜ ּומ ִ ר־ל ָ ֥בב ֵ ֫ נ ִ ֥�ְקי ַכ ֗ ַּפיִ ם ּוֽ ַב ֲא ֶ ׁ֤שר׀ לֹא־נָ ָ ׂ֣שא ַל ָ ּׁ֣שוְ א נַ ְפ ִ ׁ֑שי וְ ֖ל ֹא נִ ְׁש ַּב֣ע ְל ִמ ְר ָ ֽמה׃ הו֑ה ָ ְיִ ָ ּׂ֣שא ְ ֭ב ָר ָכה ֵמ ֵ ֣את י ֹלהי יִ ְׁש ֽעֹו׃ ֥ ֵ ּו֜ ְצ ָד ָ ֗קה ֵמ ֱא ֶ֭זה ּ֣דֹור ּד ְֹר ָ ׁ֑שיו ְמ ַב ְק ֵׁ֙שי ָפ ֶנ֖יָך יַ ֲע ֣קֹב ֶ ֽס ָלה׃
3 Wer steigt hinauf zum Berg JHWHs und wer steht am Ort seiner Heiligkeit? 4 Wer reine Hände hat und ein lauteres Herz, wer seine Nefeš nicht an Nichtiges hängt und wer dem Trug nicht schwört, 5 der empfängt Segen von JHWH und Gerechtigkeit vom Gott seiner Rettung. 6 Dies ist ein Geschlecht derer, die ihn suchen, die dein Angesicht aufsuchen, Jakob. Sela. (Ps 24,3–6)
Als Antwort auf die Frage, wer sich dem Berg JHWHs und dem Ort seiner Heiligkeit nähert (V. 3), wird formuliert: Wer unschuldige Hände und ein reines Herz hat und frei von trügerischem Verhalten ist, der ist Gott nah und dem widerfahren Segen und Gerechtigkeit (vgl. Ps 24,4–5). Rekapitulierend fasst V. 6 zusammen: „ ֶ֭זה ּ֣דֹור ּד ְֹר ָ ׁ֑שיו ְמ ַב ְק ֵׁ֙שי ָפ ֶנ֖יָך יַ ֲע ֣קֹב ֶ ֽס ָלה׃Dies ist ein Geschlecht derer, die ihn suchen, die dein Angesicht aufsuchen, Jakob. Sela.“ (V. 6).174 Die Gottsuche ist ein Handeln, das an ethischer Integrität orientiert ist und wie auch der Eintritt in den Tempel Gottesnähe bedeutet bzw. diese überhaupt ermöglicht.175 Damit bezeugt Ps 24 174 ּדֹור ּד ְֹר ָׁשיוlautet die Constructus-Verbindung im Qere, Tg und in vielen Manuskripten, die analog dem folgenden Partizip ְמ ַב ְק ֵׁשיpluralisch lautet. Das Ketib formuliert im Singular attributiv ּדֹור „ ּד ְֹרׁשֹוein ihn suchendes Geschlecht“. Theologisch weitreichendere Konsequenzen hat jedoch die Entscheidung, im zweiten Teil des Verses mit MT „dein Angesicht“ mit dem Vokativ „Jakob“ zu lesen oder LXX, zwei Handschriften und der Peschitta zu folgen, die von dem Geschlecht „der das Angesicht des Gottes Jakobs Aufsuchenden“ (ζητούντων τὸ πρόσωπον τοῦ θεοῦ Ιακωβ) sprechen. Während der Psalm so auf die Israel-Perspektive beschränkt wird, hat MT eine weitere Perspektive auf die Menschheit ()ּדֹור, die gemeinsam mit Jakob, also Israel, JHWH anruft. Erich Zenger behält MT in V. 6 bei: „Dies ist ein Geschlecht, das nach ihm [JHWH] fragt, die dein Angesicht suchen, o Jakob.“ (vgl. Zenger 2010, 44). 175 Erich Zenger hat gezeigt, wie aus redaktionsgeschichtlicher Perspektive für die Psalmengruppe Ps 22–25 eine fortlaufende Lektüre möglich ist, die V. 6 universalistisch versteht: Jakob wird zum
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
„ein Lebensmodell […], das jene Gottesnähe vermittelt, die sonst vom Betreten des Tempels bzw. vom Wohnen auf dem Berg Zion erwartet wird“176. Das ethische Verhalten wird hier zum Medium der außerkultischen Gottesbegegnung. Dies gilt auch für Psalm 15: ִמזְ ֗מֹור ְל ָ ֫דִ ֥וד1 Ein Lied Davids. ְי֭הוָֹ ה ִמי־יָ ג֣ ּור ְּב ָא ֳה ֶלָ֑ך JHWH, wer ist Gast in deinem Zelt, י־י ְׁש ּ֗כֹן ְּב ַ ֣הר ָק ְד ֶ ֽׁשָך׃ ִ֜ ִ ֽמ wer wohnt auf dem Berg deines Heiligtums? הֹולְ֣ך ָ ּ֭ת ִמים ּופ ֵ ֹ֥על ֶצ ֶ֑דק ֵ 2 Wer untadelig geht und Gerechtigkeit tut וְ ד ֵ ֹ֥בר ֱ֜א ֶ֗מת ִּב ְל ָב ֽבֹו׃ und wer Wahrheit in seinem Herzen redet, ל־לׁש ֹנ֗ ֹו ְ א־רגַ֙ ל׀ ַע ָ ֹ ֽל3 wer nicht mit seiner Zunge verleumdet א־ע ָ ׂ֣שה ְל ֵר ֵע֣הּו ָר ָ ֑עה ָ ֹל und wer seinem Nächsten nicht Böses getan hat ל־ק ֽר ֹבֹו׃ ְ ְ ֜ו ֶח ְר ֗ ָּפה לֹא־נָ ָ ׂ֥שא ַע und wer keinen Spott auf seinen Nahestehenden legte, נִ ְב ֶז֤ה׀ ְ ּֽב ֵ֨ע ָינ֤יו נִ ְמ ָ֗אס4 der, in dessen Augen der Verworfene verachtet ist, הו֣ה יְ ַכ ֵּב֑ד ָ ְוְ ֶאת־יִ ְר ֵ ֣אי י und wer die ehrt, die JHWH fürchten, נִ ְׁש ַ ּ֥בע ֜ ְל ָה ַ ֗רע wer geschworen hat zu seinem Nachteil יָמר׃ ֽ ִ וְ ֣ל ֹא und wer nicht ändert (den Eid), ַּכ ְס ּ֤פֹו׀ לֹא־נָ ַ ֣תן ְּבנֶ ֶׁש ְ֘ך5 wer sein Geld nicht auf Zins gegeben hat וְ ׁ֥ש ֹ ַחד ַעל־נָ ִ֗קי ֥ל ֹא ֫ ָל ָ ֥קח und nicht Bestechung gegen den Unschuldigen nahm, ה־א ֶּלה ֑ ֵ ֽעֹ ֵׂש wer dieses tut, עֹולם׃ ֽ ָ ֖ל ֹא יִ ּ֣מֹוט ְל wird in Ewigkeit nicht wanken. (Ps 15,2–5)
Wer sich entsprechend verhält, der „partizipiert an der (mythischen) Festigkeit des Zion bzw. er wird durch sein ethisches Verhalten zum ‚Tempelbesucher‘, obwohl er physisch nicht im Tempel ist und nicht an der Tempelliturgie teilnimmt“177.
Vorbild der Völker. So werde mit den „Tempeleinlassbedingungen“ in Ps 24 die universalisierende Tendenz von Ps 22,28–32 mit der Öffnung hin zur Völkerwelt weitergeführt. Das gemeinsame JHWH-Lob von Nicht-Israeliten und Menschen aus der Völkerwelt formuliere dann Ps 25,1–2: „Zu dir, JHWH, erhebe ich meine Seele/Stimme. Du bist mein Gott, auf dich vertraue ich.“ Die Formulierung נַ ְפ ִׁשי ֶא ָּׂשאin Ps 25,1 bilde eine Stichwortverknüpfung nach Ps 24,4, wo eine der Zulassbedingungen zur Begegnung mit JHWH laute: „ לֹא־נָ ָׂשא ַל ָׁשוְ א נַ ְפ ִׁשיwer seine Nefeš nicht an Nichtiges hängt“. Von Ps 25,1 her gelesen zielt auch die Formulierung in Ps 24,4 auf die Anerkenntnis von JHWH als wahren Gott im Unterschied zu den trügerischen und nichtigen Göttern (vgl. Zenger 2010, 44–45). V. 6 wird daher diachron als nachexilischer Zusatz gewertet, der im ersten Versteil mit der Rede von den Gottsuchenden (Ps 9,11; 14,2.5 und 22,27), die „messianische Armenfrömmigkeit“ in Ps 24 verankert, und die Zugehörigkeit zum Geschlecht JHWHs analog zu Ps 73,1.15 und 111,12 ethisch, nicht national bestimmt (vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 157–158). Im Diskurs der Psalmen miteinander wird also deutlich, dass ethisches Verhalten und Bindung an JHWH als zwei Perspektiven auf ein und denselben Sachverhalt gelten können. 176 Zenger 2006, 28. 177 Zenger 2006, 30.
Auslegung
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Diese Vorstellung, dass Gottesnähe im Tun des Guten gegeben ist, zeigt sich auch in Amos 5: „ ִּד ְרׁשּו ֶאת־יְ הוָ ה וִ ְחיּוSucht JHWH, damit ihr lebt.“ (Am 5,6; vgl. Ps 22,27; 69,30 )יְ ִחי ְל ַב ְב ֶכם. Während vor Bet-El, Gilgal und Beerscheba, damit vor der Verengung auf den Kult gewarnt wird, ermöglicht die Bindung an JHWH wirkliche Existenz. Dessen Schöpfergewalt steht in Opposition zu denen, die Recht und Gerechtigkeit entgegenstehen (vgl. Am 5,7) und sich gegen „ ַּדלden Geringen“ (Am 5,11), „ ַצ ִּדיקden Gerechten“ und „ ֶא ְביֹונִ יםdie Armen“ (Am 5,12) stellen, was als „ ְּפ ָׁש ִעיםFrevel“ und „ ַח ָּטאֹותSünden“ (Am 5,12) gewertet wird. Als Kriterium des rechten Verhaltens gilt die Ausrichtung an der in der Schöpfungsordnung gegebenen Gerechtigkeit, die sich an den Benachteiligten bewähren muss. Expliziert wird die Korrelation der Bindung an JHWH und der mit dieser einhergehenden Fülle von Existenz mit dem ethischen Verhalten in der Aufforderung: ל־רע ְל ַ ֣מ ַען ִ ּֽת ְחי֑ ּו ֖ ָ ׁשּו־טֹוב וְ ַא ֥ ִּד ְר14 Sucht das Gute und nicht das Böse, damit ihr lebt י־צ ָב ֛אֹות ְ ֹלה ֽ ֵ הו֧ה ֱא ָ ְי־כן י ֵ֞ יה ִ ִו und damit JHWH, der Gott der Heerscharen, ִא ְּת ֶכ֖ם mit Euch ist, ַּכ ֲא ֶ ׁ֥שר ֲא ַמ ְר ֶ ּֽתם׃ wie ihr sagt! אּו־ר ֙ע וְ ֶ ֣א ֱהבּו ֔טֹוב ָ ְ ִׂשנ15 Hasst das Böse und liebt das Gute וְ ַה ִ ּ֥ציגּו ַב ַ ּׁ֖ש ַער ִמ ְׁש ָ ּ֑פט und richtet im Tor das Recht auf! י־צ ָב ֖אֹות ְ ֹלה ֽ ֵ הו֥ה ֱא ָ ְאּולי ֶי ֱֽח ַנ�֛ן י ַ֗ Vielleicht wird JHWH, der Gott der Heerיֹוסף׃ ֽ ֵ ְׁש ֵא ִ ֥רית scharen, mit dem Rest Josefs gnädig sein. (Am 5,14–15)
Während in V. 6 die Aufforderung דרׁש יְ הוָ הsowohl mit Bezug auf den Kult als auch umfassend auf die Ausrichtung am göttlichen Willen verstanden werden kann, konkretisieren die V. 7–12 דרׁש יְ הוָ הethisch. Die späteren V. 14–15178 vereindeutigen die ethische Dimension des Appells, indem die Gottsuche als Liebe des Guten benannt wird und der Mensch in die Verantwortung gerufen wird, dieses im Recht umzusetzen. So richte sich das Amoswort gegen einen Heilsglauben, der aus der Zusage der schützenden Gegenwart Gottes im Kult einen Libertinismus des Handelns ableitetet, erhält durch den Aufruf zur Liebe des Guten eine emo178 Entstehungsgeschichtlich kann der Passus in Am 5,14–15 als weiterführende Interpretation gelten: Am 5,4–6 verweist über die Nennung der Orte Bet-El und Gilgal auf Am 4,4–5. Dabei dürfte es sich um die ursprüngliche Kritik an einem Verständnis von Kult und Opfer handeln, das allein auf Öffentlichkeit ausgerichtet ist (vgl. Am 4,5) bzw. die Aufforderung ( דרׁש יְ הוָ הvgl. Am 5,4) kultisch verengt (vgl. Jeremias 1995, 48). Mit Am 5,6 wird sekundär der an das Haus Josefs gerichtete Umkehrruf eingefügt, der wohl gleichen Ursprungs wie Am 5,14–15 („Rest Josefs“ in V. 15) ist. Da die Begründung in V. 5 Beerscheba nicht nennt, kann die Aufforderung, nicht nach Beerscheba zu gehen (V. 5), der deuteronomistischen Redaktion zugeschrieben werden (zumindest der Bezug auf Beerscheba in Am 8,14). Erst diese versteht den Vers als Aufruf zur Kultzentralisation und Kritik an der Verehrung fremder Götter. Möglich ist ferner, dass Am 5,13 als späterer Nachtrag von Ps 14,1–2 inspiriert ist und die Verbindung von Gottsuche und Tun des Guten zum Einsichtigen ( ) ַה ַּמ ְׂש ִּכילherstellt (vgl. Fleischer 2001, 189–204).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
tionale Komponente und nennt eine unerlässliche Konkretion des Guten: die von außen unbeeinflusste Rechtssprechung.179 (3) Statt der personalen Formulierung דרׁש יְ הוָ הfindet sich drittens auch דרׁש ּקּודים ִ „ ִּפVorschriften suchen“ (Ps 119,45.94) bzw. ל־מ ְצֹות ִ „ ׁשמר ודרׁש ָּכalle Gebote bewahren und suchen“ (1 Chr 28,8; vgl. auch תֹור ְתָך ָ „ ׁשמרdeine Tora bewahren“ in Ps 119,44). Die Konstruktion mit Abstrakta wie „ ִמ ְׁש ָּפטRechtsspruch“ (vgl. Jes 1,17; 16,5), „ ָׁשלֹוםFrieden“ (vgl. Jer 29,7; 38,4), „ טֹובGutes“ (Est 10,3; Dtn 23,7; Esr 9,12) oder „ ָר ָעהBöses“ (Spr 11,27) impliziert das Tun und die Realisierung des Gesuchten durch das Subjekt der Suche.180 דרׁשbedeutet also umfassender ein Handeln, das an der göttlichen Weisung ausgerichtet ist. Dass ein Zusammenhang zwischen der Suche nach JHWH, der Orientierung menschlichen Handelns am göttlichen Willen und Heil und Wohlergehen besteht, führt Psalm 119 besonders deutlich vor Augen. JHWH suchen, heißt im Parallelismus membrorum, seine Gebote und Weisung zu bewahren ( נצר ֵעד ָֹתיוin Ps 119,2; תֹור ְתָך ָ ׁשמרin Ps 119,44). Sie führen zum Leben ( חיהin Ps 119,93.154) und sind Rettung (vgl. Ps 119,94); Frevler hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nach den Geboten suchen ()דרׁש, so dass das Heil fern ist (vgl. Ps 119,155). Insofern können die Gottsuchenden auch als soziale Größe, die sich durch ihre Ausrichtung auf JHWH und seine Tora von anderen unterscheiden, konzipiert werden. Die Formulierung דרׁש יְ הוָ הin Ps 34,5 sollte nicht kultisch verstanden werden. Der Tempel spielt in Ps 34 keine Rolle, und es muss auch nicht betont werden, dass Gottesbegegnung außerkultisch möglich ist. Dies wird vielmehr vorausgesetzt. Analog legt sich auch für V. 11 ein ethisches Verständnis nahe: Den ד ְֹר ֵׁשי „ יְ הוָ הJHWH-Suchenden“ wird es nicht an Gutem mangeln. Wer ethisch handelt und damit JHWH sucht, der darf auf seine rettende Nähe hoffen. 2. ענה – „antworten“: Göttliche Zuwendung Mit ענהwird in den Psalmen die dem Menschen unverfügbare göttliche Reaktion und Zuwendung auf menschliche Hinwendung zu Gott beschrieben. In den meisten Fällen dient das Verb zur Umschreibung der individuellen Gottesbeziehung, seltener einer kollektiven (vgl. Ps 20,10; 60,7 K; Ps 65,6; 99,6 in der Hoffnung oder im Rückblick auf eine erfolgte Rettung). Der Mensch bittet Gott um Zuwendung: „Antworte mir“ (vgl. ֲענֵ נִ יin Ps 4,2; 13,4; 27,7; 55,3 u. ö.) oder erzählt von erfahrener Unterstützung: „Du hast mir geantwortet“ (vgl. וַ ּיַ ֲענֵ נִ יin Ps 3,5; 17,6; 22,22 u. ö.), wobei auch Verlassenheitserfahrungen zur Sprache kommen: „Du antwortest nicht.“ ( וְ לֹא ַת ֲענֶ הin Ps 22,3; vgl. Ps 18,42). Während man ענהforschungsgeschichtlich einseitig als konkrete Reaktion in Form eines Orakels verstanden hat, legen die Kontexte der Verwendung im Psalter
179 Vgl. Jeremias 1995, 72. 180 Vgl. Wagner 1977, 315–316.
Auslegung
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ein umfassenderes Verständnis im Zusammenhang der Frage nach menschlicher Schuld und Not und göttlicher Gerechtigkeit und Gnade nahe. So wird in Ps 99 – im Rekurs auf die Ereignisse des Exodus – explizit, dass die göttliche Zuwendung als Rettung nicht nur auf die Beendigung einer konkreten Notlage zu beziehen ist, sondern auch Erlösung aus und Reaktion auf menschliche Schuldhaftigkeit bedeuten kann: ֣ית ָל ֶ ֑הם ְ ֜ונ ֵ ֹ֗קם ָ ִיתם ֵ ֣אל ֹנ ֵׂ֭שא ָהי ֥ ָ ֹלהינּו֘ ַא ָ ּ֪תה ֲע ִ֫נ ֵ הו֣ה ֱא ָ ְי ילֹותם׃ ֽ ָ ל־ע ִל ֲ „ ַעJHWH, unser Gott, du hast ihnen geantwortet, ein vergebender Gott warst du ihnen, aber auch zur Verantwortung ziehend in Bezug auf ihre Taten.“ (Ps 99,8). Eine ähnliche Vorstellung, die das Spannungsverhältnis bzw. die Komplementarität von erhoffter Rettung und Gerechtigkeit zeigt, findet sich auch in Ps 65,6: י־א ֶרץ וְ ָי֣ם ְרח ִ ֹֽקים׃ ֜ ֶ֗ ֵל־ק ְצו ַ ֹלהי יִ ְׁש ֵ ֑ענּו ִמ ְב ָ ֥טח ָּכ ֣ ֵ „ נ֤ ָֹור ֙אֹות׀ ְּב ֶצ ֶ֣דק ַ ּ֭ת ֲענֵ נּו ֱאDu wirst uns mit furchterregenden Taten in Gerechtigkeit antworten, Gott unserer Rettung.“ Die göttliche Reaktion und das Gnadenhandeln Gottes werden auch ausdrücklich parallelisiert: קֹולי ֶא ְק ָ ֗רא וְ ָח ֵּנ֥נִ י וַ ֲע ֵנֽנִ י׃ ֥ ִ הו֖ה ָ ְ„ ְׁש ַמע־יHöre, JHWH, auf meine Stimme, wenn ich rufe, und sei mir gnädig und antworte mir.“ (Ps 27,7).181 Mit dem Verb ענהwird göttliche Zuwendung als Kommunikation beschrieben. Die Zuwendung besteht in der Rettung aus konkreter Not oder auch in der gnadenvollen Begegnung angesichts menschlicher Schuld. 3. נצל – „retten“: Gottesnähe in Notsituationen Grundlegend für die Hoffnung auf göttliche Rettung ist die Erzählung von der Befreiung Israels aus Ägypten. Gott steigt herab, um sein Volk aus der Gewalt der Ägypter herauszureißen ( נצלhi. in Ex 3,8; vgl. Ex 6,6; 12,27 u. ö.). So ist auch im Psalter in der Regel Gott Subjekt des mit נצלhi. bezeichneten Rettungshandelns, wenn er vor Feinden (vgl. Ps 31,16; 59,2 u. ö.), Hassern (vgl. Ps 69,15 u. ö.) oder Frevlern (vgl. Ps 81,4 u. ö.) und aus Bedrängnis (vgl. Ps 54,9), Tod (vgl. Ps 33,19; 56,14) und der Scheol (vgl. Ps 86,13) rettet.182 Es wird die nur Gott, nicht dem
181 Neben dieser kommunikativ-akustischen Metapher kann der göttliche Beistand parallel auch mit visuellen Metaphern umschrieben werden: ֹלהי ָ יטה ֲענֵ נִ י יְ הוָ ה ֱא ָ „ ַה ִּבSchau her, antworte mir, JHWH, mein Gott.“ (Ps 13,4). 182 Hossfeld/Kalthoff 1986, 572 argumentieren, dass נצלhi. in den Situationen, „aus denen gewöhnlich kein Entrinnen mehr denkbar ist (Tod [Ps 31,19; 56,14; Spr 10,2; 11,4], Scheol [Ps 86,3; Spr 23,14], Schwert [Ex 18,4; Ps 22,21], fremde Frau [Spr 2,16]), […] eher mit ‚bewahren vor‘ zu übersetzen“ sei. Allerdings hat Christoph Barth schon 1947 (Barth, Christoph: Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testaments. Neu herausgegeben von Bernd Janowski. Stuttgart/Berlin/Köln 21987) gezeigt, dass es zu kurz greifen würde, die „Todesmetaphern“ als bloße Bildsprache abzutun. Dabei sind zwei Gedanken bestimmend, die den Todesbegriff und die Frage nach dem Realitätsgehalt der metaphorischen Sprache betreffen: Mit dem Begriff „Tod“ wird nicht nur auf das Ende der physischen Existenz des Menschen referiert, sondern die Erfahrung vom „Tod“ ist umfassend zu denken. Überall wo und immer wenn Existenz gemindert ist, ist dies eine Erfahrung des Todes. „Nur in beschränktem Umfang, vielleicht nur punktuell, kommt der Bedrängte mit der Wirklichkeit des Todes in Berührung; aber gerade das genügt, um ihn die ganze Wirklichkeit des Todes erfahren zu lassen.“ (Barth 21987, 116) Die Erfahrung des Todes ist real, auch wenn die Differenz zwischen Bedrängnis und Tod als physischem Tod bestehen bleibt. Räumliche Bilder vom Tod (das Hinabsteigen in die Tiefe der
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Menschen mögliche Rettung zur Sprache gebracht. Diese Einzigartigkeit der göttlichen Rettung wird insbesondere dann deutlich, wenn Bedrohungssituationen und Grenzerfahrungen mit Todesmetaphern und räumlich mit der Entfernung in der Scheol gefasst werden.183 Zudem wird נצלhi. auch in einem ethischen Kontext gebraucht, um angesichts der eigenen Schuld an die göttliche Gnade zu appellieren. (1) So zeigt sich erstens z. B. im Kontext von Ps 33 und 71, dass sich die von JHWH geschenkte Rettung dem Menschenmöglichen entzieht. Psalm 33 betont die Souveränität Gottes: ב־חיִ ל ֑ ָ נֹוׁשע ְּב ָר ֣ ָ ין־ה ֶּמ ֶלְך ֭ ַ ֵ ֽא16 Der König wird nicht durch die Größe des Heeres befreit ( יׁשעni.), ֜ ִּג ּ֗בֹור ֽל ֹא־יִ ּנָ ֵ ֥צל ְּב ָרב־ ּֽכֹ ַח׃ ein Held rettet sich ( נצלni.) nicht durch die Größe der Kraft. ׁשּועה ֑ ָ ׁש ֶקר ַ ֭הּסּוס ִל ְת ֣ ֶ 17 Ein Trug ist das Pferd in Bezug auf Befreiung (ׁשּועה ָ ) ְּת, ּוב ֥ר ֹב ֵ֜ח ֗ילֹו ֣ל ֹא יְ ַמ ֵ ּֽלט׃ ְ und mit der Größe seiner Kraft rettet ( מלטpi.) es nicht. ִה ֵּנ֤ה ֵע֣ין ְי֭הוָ ה ֶאל־יְ ֵר ָ ֑איו18 Siehe, das Auge JHWHs ist auf die gerichtet, die ihn fürchten ()יָ ֵרא, ַ ֽל ְמיַ ֲח ִ ֥לים ְל ַח ְס ּֽדֹו׃ auf die, die auf seine Gnade harren, ְל ַה ִ ּ֣ציל ִמ ָ ּ֣מוֶ ת נַ ְפ ָ ׁ֑שם19 um ihre Nefeš aus dem Tod zu retten ( נצלhi.) ּיֹותם ָּב ָר ָ ֽעב׃ ָ֗ ּו֜ ְל ַח und sie in der Hungersnot am Leben zu erhalten ( חיהpi.). (Ps 33,16–19)
Scheol) bezeichnen den Zustand, dem Bereich des Todes ausgesetzt zu sein. Der Raumbegriff ist also dynamisch zu verstehen. Vgl. auch neuere Arbeiten, die von den Überlegungen Christoph Barths ausgehen: Janowski 2003a, 201–243, dabei vor allem die Übersicht zu den Bildern, mit denen das Rettungshandeln Gottes ausgedrückt wird auf S. 212; Janowski (2003b), 244–266; Janowski (42013), 250–255; Liess 2004, 324–330; Schnocks 2009, 74–76. Dass daneben metaphorischer Sprache ein der begrifflichen Rede analoger Realitätsgehalt zukommt und daher berechtigterweise von einer „metaphorischen Wahrheit“ zu sprechen ist, weisen auch Arbeiten zur Metapherntheorie auf. Vgl. dazu insbesondere Ricœur 1974; 1986, Vorwort zur deutschen Ausgabe, I–VIII; Vorwort zur französischen Ausgabe, 7–11; 5. Studie. Metapher und Referenz, 209–251 und Jüngel 1974 und ihre Rezeption bei Liess 2004, 155–164; Grund 2004, 111–112.156–158, Schnocks 2009, 37–38; Schnocks 2014, 17–21; vgl. zur Fragestellung auch Zimmermann 2000, 197–133. Eine Metapher steht nicht „for its own sake“ (so die Position von Roman Jakobson), ihre referentielle Funktion ist nicht aufgehoben, sondern spezifisch für metaphorische Sprache ist ihre Mehrdeutigkeit. Die Suspension von Referenz im Sinn von deskriptiver Rede ermöglicht einen fundamentaleren Modus von Referenz. Ein Gedicht ist insofern weder wahr noch falsch, sondern hypothetisch, indem es als imaginärer Entwurf eine andere Welt beschwört, die anderen Existenzmöglichkeiten entspricht, die aber die dem Menschen ureigensten Möglichkeiten, also real sind. Eine Stimmung „mood“ einer anderen Welt wird entfaltet. Mit „mood“ wird also ein außersprachlicher Faktor bezeichnet, der den referentiellen Gehalt von metaphorischer Sprache darstellt, vgl. Ricœur 1986, 224–227. 183 Vgl. zu dem Todesverständnis der Klage- und Danklieder Liess 2004, 322–332.
Auslegung
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Aus eigener Kraft ist keine Rettung möglich ( נצלni. in Ps 33,16). „ ֶמ ֶלְךKönig“ und „ ּגִ ּבֹורHeld“ sind Symbolfiguren, an denen die Unmöglichkeit, sich selbst Heil zu schenken, verdeutlicht wird: Was den Mächtigen der Mächtigen nicht möglich ist, gelingt keinem Menschen (vgl. Ps 33,16–17). Grundlage der Rettung ist vielmehr die Gottesbeziehung, die Hinwendung zu JHWH ( ירא יְ הוָ הin Ps 33,18) und die Orientierung an seiner „ ֶח ֶסדGnade“ als Grundordnung der Schöpfung (vgl. Ps 33,5.18.22). Die Zuwendung JHWHs wird umschrieben mit dem Bild des auf den Menschen gerichteten Auges JHWHs.184 Dabei wird diese Zuwendung intentional bestimmt als Rettung vor dem Tod als die lebensbedrohliche Macht schlechthin und als Gabe von Leben (vgl. Ps 33,19). Auch im Mund der Feinde des Ichs in Psalm 71 wird der Zusammenhang von Gottesnähe und Rettung zur Sprache gebracht. Wenn Gott nicht rettet, gibt es niemanden, der zu retten vermag: אֹויְבי ִ ֑לי ַ֣ י־א ְמ ֣רּו ָ ִ ּֽכ10 Denn meine Feinde reden über mich, נֹוע ֥צּו יַ ְח ָ ּֽדו׃ ֲ וְ ׁש ְֹמ ֵ ֥רי ַ֜נ ְפ ִׁ֗שי und die meine Nefeš überwachen ratschlagen zusammen, ֹלהים ֲעזָ ֑בֹו ֣ ִ ֵ ֭לאמֹר ֱא11 indem sie sagen: „Gott hat ihn verlassen. ִ ֽר ְד ֥פּו ְ ֜ו ִת ְפ ׂ֗שּוהּו Verfolgt und ergreift ihn, י־אין ַמ ִ ּֽציל׃ ֥ ֵ ִּכ denn es gibt keinen, der (ihn) rettet ( נצלhi.).“ (Ps 71,10–11)
Die Einzigartigkeit und Souveränität des göttlichen Rettungshandelns wird auch ganz explizit reflektiert. Vor allen Verfolgern, also aus allen als lebensmindernd empfundenen Situationen, kann letztlich nur JHWH retten, daher die Bitte des Ichs in Ps 7,2–3: יתי ִ ֹלהי ְּבָך֣ ָח ִ ֑ס ַ הו֣ה ֭ ֱא ָ ְ י2 JHWH, mein Gott, bei dir suche ich Zuflucht. ילנִ י׃ ֽ ֵ יענִ י ִמ ָּכל־ ֜ר ֹ ְד ֗ ַפי וְ ַה ִּצ ֥ ֵ הֹוׁש ִ Errette mich vor allen, die mir nachjagen, und rette ( נצלhi.) mich! ֶּפן־יִ ְט ֣ר ֹף ְּכ ַא ְר ֵי ֣ה נַ ְפ ִ ׁ֑שי3 Damit niemand wie ein Löwe meine Nefeš zerreißt ()טרף, ֜ ֹּפ ֵ ֗רק וְ ֵ ֣אין ַמ ִ ּֽציל׃ einer, der reißt, und es gibt keinen, der rettet ( נצלhi.). (Ps 7,2–3)
(2) Dass JHWH allein Sicherheit zu geben vermag, zeigt zweitens die metaphorische Rede von der nur Gott möglichen Rettung aus dem Tod und der Scheol in den Dankliedern des Einzelnen: ִ ּ֤כי ִה ַּצ ְ֪ל ָּת נַ ְפ ִׁ֡שי ִמ ָּמוֶ ֘ת ֲה ֥ל ֹא ַרגְ ֗ ַלי ִ֫מ ֶ ּ֥ד ִחי ְ ֭ל ִ ֽה ְת ַה ֵּלְך ִל ְפ ֵנ֣י ֹלהים ְּ֜ב ֗אֹור ַ ֽה ַח ִּיֽים׃ ֑ ִ „ ֱאDenn du hast meine Nefeš aus dem Tod gerettet ( נצלhi.) – und etwa nicht auch meine Füße vor dem Stolpern? –, / damit ich wandele vor Gott
184 Vgl. „ ִהּנֵ ה ֵעין יְ הוָ ה ֶאל־יְ ֵר ָאיוSiehe! Das Auge JHWH ist auf die gerichtet, die ihn fürchten.“ (Ps 33,18); vgl. יקים ִ ל־צ ִּד ַ „ ֵעינֵ י יְ הוָ ה ֶאDie Augen JHWHs (sind gerichtet) auf Gerechte.“ (Ps 34,16).
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im Licht des Lebens.“ (Ps 56,14). Diese Rettung wird als göttliches Gnadenhandeln verstanden: י־ח ְס ְּדָך ּגָ ֣דֹול ָע ָל֑י וְ ִה ַ ּ֥צ ְל ָּת ַ֜נ ְפ ִׁ֗שי ִמ ְּׁש ֥אֹול ַּת ְח ִּתָּיֽה׃ ֭ ַ „ ִ ּֽכDenn deine große Gnade ( ) ֶח ֶסדist auf mir, / und du hast gerettet ( נצלhi.) meine Nefeš aus der tiefsten Scheol.“ (Ps 86,13). (3) Drittens wird auch die nur Gott mögliche Rettung bzw. seine Gnade angesichts menschlichen Fehlverhaltens und die von Gott gewährte Gerechtigkeit den Benachteiligten gegenüber in Ps 50 und 35 mit נצלhi. ausgedrückt. So klagt Psalm 50 in Übereinstimmung mit den Dekaloggeboten ethisch fragwürdiges Verhalten an (Diebstahl in Ps 50,18; Ehebruch in Ps 50,18 und falsches Zeugnis in Ps 50,19–20185). Sich so zu verhalten, bedeutet, Gott zu vergessen (vgl. Ps 50,22), und führt zu Zurechtweisung und Anklage des Frevlers durch Gott selbst (vgl. Ps 50,21): ית׀ ְ ֽו ֶה ֱח ַ ֗ר ְׁש ִּתי ָ ֵ ֤א ֶּלה ָע ִ ׂ֙ש21 Dies hast du getan, und ich schwieg. יֹות־א ְה ֶי֥ה ָכ ֑מֹוָך ֶֽ ית ֱ ֽה ָ ִּד ִּ֗מ Du dachtest, ich sei wie du. יחָך֖ וְ ֶ ֽא ֶע ְר ָכ֣ה ְל ֵע ֶינֽיָך׃ ֲ אֹוכ ִ Ich werde dich zurechtweisen und (es) dir vor Augen stellen. ֹוּה ַ ינּו־נ֣א ז ֹ֭את ׁש ְֹכ ֵ ֣חי ֱא ֑ל ָ ִ ּֽב22 Versteht dies, Gott Vergessende, ן־א ְט ֗ר ֹף ֶ֜ ֶּפ damit ich nicht zerreiße, וְ ֵ ֣אין ַמ ִ ּֽציל׃ und es gibt keinen, der rettet ( נצלhi.). ּתֹודה יְ ַֽ֫כ ְּב ָ ֥דנְ נִ י ֗ ָ ז ֵ ֹ֥ב ַח23 Wer ein Dankopfer opfert, verherrlicht mich וְ ָ ׂ֥שם ֶ ּ֑ד ֶרְך und bereitet einen Weg; ֹלהים׃ ֽ ִ ַ֜א ְר ֶ֗אּנּו ְּב ֵי ַׁ֣שע ֱא ich werde ihn das Heil Gottes sehen lassen. (Ps 50,21–23)
Statt aber ein Strafgericht anzukündigen, appelliert Gott an die Menschen, zur Einsicht zu kommen ( ִּבינּוin Ps 50,22), droht ihnen mit der Metapher des reißenden Löwen (vgl. Am 3,4.8.12; Hos 5,14). Angesichts des göttlichen Strafhandelns gibt es keinen Retter ( ַמ ִּצילin Ps 50,22). Angesichts des Fehlverhaltens gibt es Rettung nur bei Gott, sofern der Mensch seinen Weg ( ֶּד ֶרְךin Ps 50,23), also seinen Lebenswandel, entsprechend ausrichtet. Dies führt zum Heil ( יֵ ַׁשעin Ps 50,23). In Psalm 35 wird in einer Unvergleichlichkeitsaussage das Wesen JHWHs als Retter der Unterdrückten bestimmt: הוה ִ ֥מי ָ֫כ ֥מֹוָך ַמ ִ ּ֣ציל ָ ֭ענִ י ֵמ ָח ָז֣ק ֗ ָ ְאמ ְרנָ ֮ה י ַ ֹ מֹותי׀ ּת ַ֙ ָ ּ֥כל ַע ְצ „ ִמ ֶ ּ֑מּנּו וְ ָע ִנ֥י ְ ֜ו ֶא ְבי֗ ֹון ִמּגֹזְ ֽלֹו׃Alle meine Knochen sagen: JHWH, wer ist wie Du? Einer, der den Armen vor dem rettet, der stärker als er ist, und den Armen und Bedürftigen vor dem, der ihn ausraubt.“ (Ps 35,10). Das rettende Handeln ist als ausgleichende Gerechtigkeit, als Option für den Deprivierten zu verstehen. Diese semantische Analyse der zentralen Verben „ דרׁשsuchen“ – „ ענהantworten“ – „ נצלretten“ in Ps 34,5 zeigt, dass die kultische Deutung dieses Verses zu kurz greift. Eine Lektüre, die anthropologisch ausgerichtet ist und die Beziehungen des
185 Vgl. den Vorwurf, sich in Betrug ִמ ְר ָמהverstrickt zu haben, in Ps 50,19, und die Anweisung, sich davor zu hüten in Ps 34,14.
Auslegung
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Ichs zu Gott und seinen Mitmenschen in den Blick nimmt, vermag die verschiedenen Aspekte der Lexembedeutungen zu integrieren. Wenn das betende Ich von Ps 34 davon spricht, es habe JHWH gesucht, so darf diese Aussage nicht kultisch enggeführt werden. Auch wird damit nicht allein auf eine einmalige konkrete Notsituation Bezug genommen, in der es sich an JHWH wendet. Gemeint ist die vertrauensvolle Ausrichtung der eigenen Existenz auf JHWH als die Lebensmacht schlechthin. Diese Orientierung an JHWH zeigt sich im eigenen Handeln und wird als Heil erfahren. Insofern kann das betende Ich auch davon sprechen, dass JHWH ihm geantwortet habe (V. 5 )וְ ָענָ נִ י. Die göttliche Reaktion wird als unverfügbare Antwort erlebt; die Rettungserfahrungen werden Gott zugeschrieben, auf den letztlich jedes Heil und jede Erlösung aus bedrohlichen Zuständen, auch Sünde und Schuld, zurückzuführen ist. Die göttliche Rettung ist fundamental, absolut und Inbegriff von Rettung überhaupt. Auch im Kontext von Ps 34, der JHWH als טֹובbestimmt (V. 9a), ist das Suchen von JHWH ethisch konnotiert. In der an der Güte JHWHs orientierten Handlung, seiner existentiellen Rückbindung an Gott und Ausrichtung an ihm findet der Mensch JHWH und seine eigene Rettung. 3.4.3.2.2 Menschliche Orientierung an JHWH (V. 6) Das Verständnis der Aussagen des Ichs über das nicht näher spezifizierte Kollektiv: „Sie schauten auf ihn und strahlten, und ihre Gesichter mussten nicht beschämt sein.“ (V. 6) entscheidet sich an der Bedeutung der Verben נבטhi. „schauen“ – „ נהרstrahlen“ – „ חפרschämen“, die aus ihrem Verwendungskontext erhoben werden kann. 1. נבטhi. – „schauen“: Hinwendung zu JHWH Während mit נבטhi. meist das göttliche Schauen bezeichnet wird (vgl. Ps 13,4; 33,13; 80,15; 94,6; 102,20; 104,32 u. ö.), wird in Ps 34 damit die menschliche Orientierung an JHWH beschrieben. Ps 119 konkretisiert analog die Ausrichtung auf JHWH mit Gesetzestermini: Das betende Ich blickt ( נבטhi.) ֹותיָך ֶ ל־מ ְצ ִ ל־ּכ ָ „ ֶאauf alle deine Gebote“ (Ps 119,6), „ א ְֹרח ֶֹתיָךdeine Pfade“ (Ps 119,15) und ּתֹור ֶתָך ָ נִ ְפ ָלאֹות ִמ „die Wunder deiner Weisung“ (Ps 119,18). Diese so metaphorisch umschriebene Hinwendung zu und Orientierung an JHWH hat also ethische Implikationen. 2. נהר – „strahlen“: Reaktion auf göttliches Heilshandeln Die Folge auf diese Hinwendung zu JHWH formuliert Ps 34,6 zweifach: „Sie strahlten ()נהר, und ihre Gesichter mussten nicht beschämt ( )חפרsein.“ נהר2 ist sonst nur in Jes 60,5 und Jer 31,12 belegt. In Jes 60,5 wird damit ähnlich der Verwendung in Ps 34 die freudige Reaktion der personifizierten Stadt Zion beschrieben, die das Kommen der Völker erblickt: ּופ ַ ֥חד וְ ָר ַ ֖חב ָ אי וְ נָ ַ֔ה ְר ְּת ֙ ִ ָ ֤אז ִּת ְר „ ְל ָב ֵבְ֑ךDann wirst du (es) sehen und strahlen, und dein Herz wird beben und weit werden.“ (Jes 60,5). Wie in Korrelation mit dem zweiten Teil des Halbverses deutlich wird, handelt es sich um die Umschreibung einer emotionalen Reaktion, einer beglückenden Erfahrung, die als nach außen sichtbar gedacht wird.
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In Jer 31,12 steht das Verb im Kontext der verheißenen Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem: הוה ֗ ָ ְל־טּוב י ֣ רֹום־צּיֹון֒ וְ נָ ֲה ֞רּו ֶא ִ אּו וְ ִרּנְ נ֣ ּו ִב ְמ ֮ ּוב ָ „Sie werden kommen und jubeln auf der Höhe von Zion. Und sie werden strahlen wegen der Güte JHWHs.“186 (Jer 31,12). Hier bedeutet die metaphorische Rede vom Strahlen der Heimkehrer eine Reaktion auf das göttliche Heilshandeln. Auch in Ps 34 wird mit dem Verb נהר2 die Freude über die Zuwendung und Rettung durch Gott zum Ausdruck gebracht. 3. חפר – „schämen“: Hoffnung auf göttliche Gnade Nach dieser positiven Umschreibung der Konsequenz der göttlichen Anschauung enthält der zweite Halbvers von V. 6 eine Negativbestimmung: „Ihre Gesichter mussten nicht beschämt ( )חפרsein.“ Die Rede von Scham und Schande gehört in den Kontext sozialer Herabwürdigung des ethischen Verhaltens.187 Die Bedeutung des Verbs חפרerschließt sich im Kontext des Psalters. Das individuelle Ich wünscht sich immer wieder die Beschämung seiner Feinde (vgl. Ps 35,4; 35,26; 40,15) bzw. blickt auf diese zurück (vgl. Ps 71,24). Es handelt sich also um eine „Feindschädigungsbitte“188. Die Beschämung ist bzw. soll die Folge des negativen Verhaltens dem Ich gegenüber sein: Wer ihm nach dem Leben trachtet bzw. sich über sein Unglück erfreut, der soll beschämt werden (vgl. Ps 35,4; 35,26; 40,15). Mit Blick auf die Feinde ist deren Beschämung für das betende Ich Ausdruck der göttlichen Gerechtigkeit: י־ח ְפ ֗רּו ְמ ַב ְק ֵ ׁ֥שי ָר ָע ִ ֽתי׃ ָ֜ ל־הּיֹום ֶּת ְה ֶּג֣ה ִצ ְד ָק ֶ ֑תָך ִּכי־ ֥בֹׁשּו ִ ֽכ ֭ ַ ׁשֹוני ָּכ ִ֗ ם־ל ְ ַּג „Auch meine Zunge soll von deiner Gerechtigkeit den ganzen Tag murmeln, denn beschämt wurden, denn es schämten sich die, die nach meinem Unglück suchten.“ (Ps 71,24).189 Gleiches gilt auch in kollektiver Perspektive für das Verhalten der Völker Israel gegenüber (vgl. Ps 83,17–19). Ein Vorgehen gegen Israel ist Ausdruck der fehlenden Anerkennung JHWHs bzw. der Verehrung der falschen Götter. Dies soll Schande und Beschämung nach sich ziehen, allerdings nicht als Selbstzweck, sondern mit einer didaktischen Intention: Die Beschämung der Feinde zielt auf die Anerkenntnis JHWHs als Höchster über die ganze Erde (vgl. Ps 83,19).190 In allen Belegfällen im Psalter (außer Ps 34,6) ist חפרKomplementärbegriff zu dem häufiger belegten Verb בוׁש. Mit Objekt („jemanden beschämen“) zeigt das Verb בוׁשdie Vernichtung eines Gegners an, die erbeten wird. In reflexiver Ver-
186 Die LXX leitet die Form von נהר1 her und bringt: καὶ ἥξουσιν ἐπ᾽ ἀγαθὰ κυρίου „Und sie werden kommen zu den Gütern des Herrn.“ Vgl. Vg: et confluent ad bona Domini „Und sie strömen herbei zu den Gütern des Herrn.“ 187 Vgl. auch im Folgenden Grund-Wittenberg 2015. 188 Zur Feindbeschämung in den Psalmen vgl. Van der Velden 1997, 92–97. 189 Über das Verb הגהbesteht auch eine intertextuelle Referenz zu Ps 1,2 und damit zur Orientierung an der Weisung Gottes: Die Beschämung der Feinde ist Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit, die sich in der göttlichen Weisung zeigt. 190 Vgl. Van der Velden 1997, 139: „Der abschließende V 19 stellt die primäre Absicht der metaphorischen Gestaltung des Fremdvölkersummariums heraus: Jahwe soll als Herr über alle Länder geschildert werden.“
Auslegung
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wendung wird subjektiv das Gefühl des Vernichteten ausgesagt („sich schämen“).191 Gegenbegriff dazu ist „ ׂשמחsich freuen“ (vgl. Ps 109,28). Die Bitte, nicht beschämt zu werden ()בוׁש – analog zu der Verwendung von חפרin Ps 34,6 –, korreliert oft mit einer Vertrauensaussage. Insbesondere in den Individualpsalmen gehört die Bitte, nicht beschämt zu werden, zu einem geläufigen Topos. So stellt sie auch Psalm 25 in den Kontext des Vertrauens in Gott, das das betende Ich auch um Vergebung von Schuld bitten lässt: ֹוׁשה ָ ל־א ֑ב ֵ ֹלהי ְּבָך֣ ָ ֭ב ַט ְח ִּתי ַא ַ֗ ֱ ֽא ֹיְבי ִ ֽלי׃ ֣ ַ ל־י ַֽע ְל ֖צּו א ַ „ ַאMein Gott, auf dich vertraue ich. Ich will nicht beschämt werden! Meine Feinde sollen nicht über mich jubeln!“ (Ps 25,2; vgl. Ps 22,6; 25,3.20; 31,2.18; 69,7; 71,1). Das betende Ich hofft auf Gott (vgl. Ps 25,3), sucht Zuflucht bei Gott (vgl. Ps 25,20; 31,1; 71,1), ruft zu ihm (vgl. Ps 31,18) und bittet um Rettung (vgl. פלטin Ps 31,2; נצלhi. und פלטin Ps 71,1). Der menschlichen Hinwendung entspricht das göttliche Rettungshandeln: Mit Gottes Hilfe wird der Mensch nicht zuschanden bzw. wird nicht beschämt sein. Im Kontext von Ps 25 entspricht der Wunsch בֹוׁשה ָ ל־א ֵ „ ַאIch will nicht beschämt werden.“ (V. 2) der Bitte um göttliche Gnade und Vergebung: ּופ ָׁש ֗ ַעי ְ עּורי׀ ֙ ַ ְַח ּ֤ט ֹאות נ הוה׃ ֽ ָ ְטּובָך֣ י ְ י־א ָּתה ְל ַ ֖מ ַען ֑ ַ ר־ל ִ ל־ּתזְ ּ֥כֹר ְּכ ַח ְס ְּדָך֥ זְ ָכ ִ֫ „ ַאDer Sünden meiner Jugend und meiner Frevel gedenke nicht! Entsprechend deiner Gnade denke du an mich, wegen deiner Güte, JHWH!“ (Ps 25,7). Dabei geht die Beschämung nicht von Gott, sondern vom Menschen selbst aus, der sich mit seinen Taten selbst beschämt hat, weil er das ethischen Ideal nicht erfüllen konnte. Beschämung ist damit die zwangsläufige Konsequenz des eigenen fehlerhaften Tuns. Vergeben hingegen kann nur Gott: אותי ָ ֹ ל־חּט ַ „ וְ ָׂ֗שא ְל ָכHebe all meine Sünden auf!“ (Ps 25,18). „Beschämung“ ist insofern die eigentlich zu erwartende Folge auf negatives Verhalten des Menschen und Beschämung durch Gott somit Ausdruck der göttlichen Gerechtigkeit, während Vertrauen zu Gott und die Ausrichtung des eigenen Tuns an JHWH das Freisein von Beschämung verspricht. Angesichts von Verfehlungen braucht aber auch der Sünder, der sich Gott zuwendet, keine Beschämung zu erwarten, sondern kann auf Gottes Gnade hoffen. Der Blick des Ichs in Ps 34,6 auf ein unbestimmtes Kollektiv zeigt ihm die Bedeutung und Notwendigkeit der Ausrichtung der Existenz auf Gott. In einem umfassenden Verständnis beschreibt es die Orientierung an JHWH ( נבטhi.) im Rahmen der Gott-Mensch-Beziehung, die emotional geprägt ist (נהר2). Wer sich an JHWH orientiert und sich ihm zuwendet, der wird nicht beschämt ()חפר. Die Ausrichtung des Lebens an JHWH bewahrt vor Fehlverhalten, damit vor Schuld und Beschämung als deren Konsequenz. Umgekehrt kann der, der sich JHWH zuwendet, auch auf göttliche Gnade hoffen, so dass er nicht beschämt wird. Der Blick des Ichs auf das ungenannte Kollektiv verheißt dem, der sich JHWH zuwendet, Wohlergehen und motiviert zur Ausrichtung des eigenen Lebens und Handelns an Gott.
191 Vgl. Stolz 62004, 269–272.
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So gelesen generalisiert V. 6 nicht nur das Subjekt, das sich an JHWH wendet und von dessen Rettungserfahrung berichtet wird, sondern auch der Gegenstand des Rettungshandelns JHWHs ist umfassend zu denken: Eingeschlossen sind konkrete Situationen der Bedrohung wie eine allgemein gedachte Erlösung von menschlichem Fehlverhalten und Schuld. 3.4.3.2.3 Rettung des Bedürftigen (V. 7) Die Aussage von V. 7 hängt wesentlich am Verständnis der Substantive ָענִ י „Armer“ – „ ָצרֹותBedrängnisse“ und des Verbs יׁשעhi. „befreien“. Deren Bedeutungen werden anhand ihrer kontextuellen Verwendung eruiert. 1. ָענִ י – „Armer“: Angewiesenheit auf göttliche Fürsorge und Hilfe Parallelbegriffe zu ָענִ יsind ּכֹואב ֵ „in Schmerzen“ (Ps 69,30), „ יָ ִחידeinsam“ (Ps 25,16); „ ֶא ְביֹוןNot leidend“ (Ps 40,18; 70,6; 86,1; 109,22 vgl. Ps 35,10; 37,14; 74,21; 109,16). Das Bedeutungsspektrum von ָענִ יist also groß bzw. offen für eine Lektüre in unterschiedlichsten Notsituationen. Beispielhaft sei der Gebrauch zur Bezeichnung von Beeinträchtigungen, die die Sozialsphäre betreffen, an Psalm 10 erläutert.192 Als Gründe dieser Notsituation werden mit der Verfolgung durch Feinde lebensmindernde soziale Konstellationen genannt, so im Tiervergleich und in der Jagdmetaphorik von Ps 10,8–10 (vgl. auch Ps 12,3–5): Der Frevler ָר ָׁשעlauert dem Bedürftigen wie ein Löwe auf und fängt ihn wie ein Jäger.
יֵ ֵ ׁ֤שב׀ ְּב ַמ ְא ַ ֬רב ֲח ֵצ ִ ֗רים8 Er sitzt in einem Hinterhalt der Höfe, ַֽ ּ֭ב ִּמ ְס ָּת ִרים יַ ֲה ֣ר ֹג נ ִ ֑�ָקי in Verstecken will er den Unschuldigen töten. ֵ֜ע ָ֗יניו ְ ֽל ֵח ְל ָ ֥כה יִ ְצ ֽ ֹּפנּו׃ Seine Augen spähen193 auf den Unglücklichen. יֶ ֱא ֬ר ֹב ַּב ִּמ ְס ָּ֙תר׀ ְּכ ַא ְר ֵ֬יה ְב ֻס ּ֗כֹה9 Er lauert im Versteck wie ein Löwe im Dickicht, ֶי ֱ֭אר ֹב ַל ֲח ֣טֹוף ָע ִנ֑י er lauert, um den Armen zu fangen. יַ ְח ֥טֹף ָ֜ע ִ֗ני ְּב ָמ ְׁש ֥כֹו ְב ִר ְׁש ּֽתֹו׃ Er fängt den Armen, indem er ihn zieht in sein Netz. יִ ְד ֶ ּ֥כה יָ ׁ֑ש ֹ ַח10 Er zerschlägt, er wird überwältigt. צּומיו ֵ ֣חיל ָּכ ִ ֽאים׃ ָ֗ וְ נָ ַ ֥פל ַּ֜ב ֲע Und es kommt zu Fall wegen seinen Kräften die Menge der Schwachen (?).194 (Ps 10,8–10)
In der Situation der Bedürftigkeit liegt der Anspruch auf Hilfe begründet, so dass das betende Ich an JHWH appelliert: ל־ּת ְׁש ַ ּ֥כח ֲענָ ִ ֽוים׃ ִ הוה ֵ ֭אל נְ ָ ׂ֣שא יָ ֶ ֑דָך ַא ֗ ָ ְקּומה י ֤ ָ „Steh
192 Vgl. sonst den Exkurs: Aussagen zu den „Armen“ ֲענָ וִ ים. 193 Mit LXX: οἱ ὀφθαλμοὶ αὐτοῦ εἰς τὸν πένητα ἀποβλέπουσιν. 194 Mit LXX: καὶ πεσεῖται ἐν τῷ αὐτὸν κατακυριεῦσαι τῶν πενήτων. Kraus 1978, 216 mit Gunkel 5 1968, 32: „und es fallen durch seine Pläne (מֹועּצ ָֹתיו ֲ ) ְּבdie Schwachen.“
Auslegung
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auf, JHWH! Hebe deine Hand!195 Nicht vergiss die Armen [Qere]!“ (Ps 10,12). Auf diese Weise soll der Tun-Ergehen-Zusammenhang wieder in Kraft gesetzt werden, denn aus der Perspektive des Ichs verlangen die Vergehen des Frevlers Strafe (vgl. Ps 10,15; vgl. 37,14–15). Die vom betenden Ich erfahrene Realität ist jedoch anders: Die Wege des Frevlers haben Bestand (vgl. Ps 10,5), so dass dieser hochmütig eine der Welt innewohnende Gerechtigkeitsordnung in Frage stellt: ָר ָׁ֗שע ְּכ ֹ֣ג ַבּה ּמֹותיו׃ ֽ ָ ִל־מז ְ ֹלהים ָּכ ִ֗ „ ַ ֭אּפֹו ַּבל־יִ ְד ֑ר ֹׁש ֵ ֥אין ֱ֜אDer Frevler (denkt) in seiner Hochnäsigkeit: ‚Er wird nicht suchen. Es ist kein Gott.‘ – (Dies sind) Alle seine Pläne.“ (Ps 10,4). Angesichts dieser Infragestellung der Fürsorge Gottes und dessen gerechter Weltordnung kann der andauernde Zustand der Bedürftigkeit und der Erfolg der Frevler nur als – in der Perspektive der Benachteiligten – temporäres „Vergessen“ Gottes gedeutet werden (vgl. Ps 10,12)196. Die Hoffnung, dass sich letztlich die gerechte Weltordnung zeigen wird, bringt das abschließende JHWH-Lob zum Ausdruck: הו֑ה ָ ְ ַּת ֲא ַ ֬ות ֲענָ ִו֣ים ָׁש ַ ֣מ ְע ָּת י17 Das Begehren der Armen hast Du gehört, JHWH. ָּת ִ ֥כין ֜ ִל ָּ֗בם ַּת ְק ִ ׁ֥שיב ָאזְ ֶנ�ָֽך׃ Du machst ihr Herz fest und neigst dein Ohr, יָתֹום ָ ֫ו ָ ֥דְך ֗ ִל ְׁש ֥ ֹּפט18 um dem Waisen und dem Bedrückten Recht zu schaffen, ל־יֹוסיף ֑עֹוד ֥ ִ ַּב so dass kein Mensch von der Erde ן־ה ָ ֽא ֶרץ׃ ָ ַל ֲע ֥ר ֹץ ֱ֜אנ֗ ֹוׁש ִמ mehr Schrecken verbreitet.197 (Ps 10,17–18)
Als Antwort auf die Aufforderung an Gott, aufzustehen und rettend einzuschreiten (vgl. Ps 10,12), liest sich Ps 12,6: „Wegen der Gewalt gegen die Armen, dem Schreien der Notleidenden – jetzt stehe ich auf! Spricht JHWH. Ich will dem Heil bringen, den man anschnaubt198.“ (Vgl. auch Ps 18,28; 35,10; 68,11; 82,3; 140,13).
195 ֵאל נְ ָׂשא יָ ֶדָךist textkritisch unsicher: LXXARL und Peschitta lesen ein ePP: „Hebe deine Hand zu mir.“ Im Targum fehlt die Präposition. 196 In der Deutung der Frevler muss das Vergessen dauerhaft sein (vgl. Ps 10,11), damit sie an ihrem Tun festhalten können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Im Vergleich der beiden Frevlerreden „Es ist kein Gott.“ (Ps 10,4) und „Gott hat (es) vergessen. Er hat sein Gesicht verborgen. Niemals ( ) ָלנֶ ַצחsieht er (es).“ (Ps 10,11) wird deutlich, dass es auch der ersten Feststellung nicht um eine grundsätzliche Leugnung der Existenz Gottes geht. In beiden Fällen zielen die Frevlerreden auf die Diffamierung dessen, der an dem Konzept einer gerechten Weltordnung festhält, auch wenn die Empirie dieses zu widerlegen scheint. Sie dienen der Verspottung desjenigen, der sich am Prinzip der Gerechtigkeit orientiert. In Frage gestellt wird die Annahme einer innerweltlichen Gerechtigkeitsordnung, die in Gott gründet. Der Frevler verhält sich, als müsste er mit einer solchen nicht rechnen. Negiert er durch sein Verhalten diese Gerechtigkeitsordnung, kommt dies einer Leugnung dessen gleich, der Gerechtigkeit letztlich garantiert, also Gott. 197 Entweder „dass kein Mensch von der Erde mehr Schrecken verbreitet“ oder „dass kein Mensch von der Erde sich mehr fürchtet“ (vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 85). Der Zusammenhang des Psalms legt die zweite Übersetzung nahe. 198 Textkritisch unsicher, vgl. Ges18, 1042.
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Mit dem Begriff ָענִ יwerden also vielfältige Beeinträchtigungen gefasst. Das Beispiel von Ps 10 zeigt, dass soziale Bezüge gegeben sind. Gleichzeitig sind über die Appelle an JHWH, die Not zu wenden, auch religiöse Konnotationen gegeben.199 2. ָצרֹות – „Bedrängnisse“: Vielfalt an Bedrohungen Anders als in Ps 10 wird in Ps 34 die Notsituation nicht personal auf den Frevler zurückgeführt, sondern allgemein mit „ ָצרֹותBedrängnissen“ umschrieben. Im Kontext der Psalmen begegnet das Substantiv ָצרֹותin der Regel in Kombination mit einer göttlichen Rettungsaussage: Gott antwortet ( ענהin Ps 86,7; 120,1), befreit ( יׁשעhi. in Ps 34,7), rettet ( נצלhi. in 25,17; 34,18; 54,9), führt heraus (יצא hi. in Ps 25,17; 143,11), ist Helfer ( עֹוזֵ רin Ps 22,12) oder Hilfe ( ֶעזְ ָרהin Ps 46,2). Die Bedrängnisse sind temporäre, zu überwindende Zustände, wie die Rede vom „Tag der Bedrängnis“ (vgl. ְּביֹום ָצ ָרהin Ps 20,22; 50,15; 77,3; 86,7) bzw. der „Zeit der Bedrängnis“ (vgl. ְּב ֵעת ָצ ָרהin Ps 37,39) anzeigt. Auch diese negativ empfundenen Erfahrungen werden auf Gott zurückgeführt: יתנִ י׀ ָצ ֥רֹות ַר ּ֗בֹות וְ ָ ֫ר ֥עֹות ַ֙ ֲא ֶ ׁ֤שר ִה ְר ִא „Du hast mich große und böse Bedrängnisse sehen lassen.“ (Ps 71,20)200. Insofern wendet sich das betende Ich mit der Bitte, aus den Bedrängnissen zu retten, mit Gott gegen Gott. Der Gegenstandsbereich der „Bedrängnisse“ bleibt vage und wenig konkret. Kollektive Bedrohungen für Israel (vgl. Ps 25,22) sind ebenso eingeschlossen wie die individuelle Innerlichkeit der „Bedrängnis des Herzens“ (vgl. ָצרֹות ְל ָב ִביin Ps 25,17). In Ps 34,7.18; 54,9 wird die allumfassende Rettungsmacht Gottes besonders hervorgehoben. Er rettet ל־צרֹות ָ „ ִמ ָּכaus allen Bedrängnissen“. 3. יׁשעhi. – „befreien“: Umfassende göttliche Rettung Dieser Souveränität Gottes in Bezug auf alle Erfahrungen von Not entspricht die Umschreibung des Rettungshandelns in Ps 34,7 mit dem Verb יׁשעhi. „befreien/ retten“201. Subjekt von יׁשעhi. ist bei allen Belegen immer Gott, der allein umfassendes Heil ermöglicht,202 wie die Aufforderung ׁשּועת ָא ָדם׃ ֥ ַ ה־ּל֣נּו ֶעזְ ָ ֣רת ִמ ָ ּ֑צר ְ ֜ו ָׁ֗שוְ א ְּת ָ „ ָ ֽה ָבBring uns Hilfe gegen einen Feind, denn Trug ist Rettung durch Menschen.“ (Ps 60,13; vgl. Ps 108,13) und die Warnung ׁשּועה׃ ֽ ָ ן־א ָ ֓דם׀ ֶ ׁ֤ש ֵ ֽאין ֥לֹו ְת ָ יבים ְּב ֶב ֑ ִ ל־ּת ְב ְט ֥חּו ִבנְ ִד ִ „ ַאVertraut nicht auf Edle, auf einen Menschensohn, bei dem keine Rettung ist.“ (Ps 146,3) verdeutlichen. Diese Exklusivität wird explizit in der Formulierung לֹוהי יִ ְׁש ִעי ֵ „ ֱאGott meiner Rettung“ (Ps 18,47; 25,5; 27,9; 88,2) oder im Bekenntnis ׁשּועה ָ ְ„ ַליהוָ ה ַהיbei JHWH ist Rettung“ (Ps 3,9) ausgesagt. JHWH rettet den Armen ( ָענִ יin Ps 34,7;
199 Vgl. Bremer 2016, 320. 200 Im Kontext des Geschichtspsalms Ps 78 werden die Bedrängnisse als Ausdruck des göttlichen Zorns in Bezug auf Ägypten, also als Rettungshandeln an Israel gedeutet: „Er schickte auf sie [= die Ägypter] seinen Zorn, Grimm und Fluch und Bedrängnis.“ 201 Die Übersetzung mit „befreien“ verweist auf die Raummetaphorik, die in der Formulierung von Ps 34,7 durch die Konstruktion mit der Präposition ִמןbewirkt wird. 202 Vgl. Sawyer 1982, 1055–1059.
Auslegung
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69,30), die Armen ( ֲענָ וִ יםin Ps 76,10; 149,4), den Notleidenden ( ֶא ְביֹוןin Ps 109,31) und den Erniedrigten (ּלֹותי ִ ַּדin Ps 116,6).203 Wie umfassend Heil und Rettung gedacht werden, zeigt Psalm 51. Im Rahmen seiner Bitte um göttliche Gnade und Erbarmen (vgl. Ps 51,3) angesichts der eigenen menschlichen Sündenverstricktheit erfleht das betende Ich von Gott Entsündigung (vgl. Ps 51,9) und Neuschöpfung (vgl. Ps 51,12). Der Wunsch ָה ִ ׁ֣ש ָיבה ִ ּ֭לי „ ְׂש ׂ֣שֹון יִ ְׁש ֶעָ֑ךFühre zu mir zurück die Freude deines Heils!“ (Ps 51,14) bezieht sich im Zusammenhang des Psalms auf die Vergebung der Sünden. Rettung ist Vergebung und göttliche Gerechtigkeit: ׁשֹוני ִ֗ ׁשּוע ִ ֑תי ְּת ַר ֵּנ�֥ן ֜ ְל ָ ֹלהי ְּת ֥ ֵ ֹלהים ֱא ִ֗ ַה ִּ֘צ ֵיל֤נִ י ִמ ָּד ִ֙מים׀ ֱ ֽא „ ִצ ְד ָק ֶ ֽתָך׃Rette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meines Heils, so dass meine Zunge über deine Gerechtigkeit jubelt.“ (Ps 51,16). Heil ist dem Menschen in der Wahrnehmung und Anerkennung der eigenen Begrenztheit und der Sündhaftigkeit menschlicher Existenz und in der Hinwendung an Gott möglich, dessen Gericht angesichts seiner Gnade und Barmherzigkeit Anlass zu Hoffnung und Jubel ist.204 Der Blick des Ichs auf den „Armen“ in Ps 34,7 verweist auf die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit angesichts einer als ungerecht erfahrenen Welt. Das Ich des Psalms hat die Erfahrung der göttlichen Rettung gemacht (V. 5). Dass Gott auf der Seite der Bedrängten steht, zeigt auch das Beispiel des „Armen“ (V. 7). Die Armen, von denen sich das Ich wünscht, dass sie seinen Lobpreis angesichts der eigenen Rettungserfahrung hören (V. 3), sind aktuell depriviert, ob materiell oder in einem erweiterten Sinn. Die Rettungserfahrung des Ichs kann für sie zum Anlass werden, nicht an der Welt zu verzweifeln. Im Psalm kommt die Hoffnung zur Sprache, dass Gott letztlich die Notsituationen des Menschen und dessen Erfahrungen von Mangel und Beeinträchtigung jeder Art und auch von Schuld und Versagen wenden können wird. Insofern ist der Psalm für alle, die in Notlagen sind, Motivation, sich an der göttlichen Weltordnung zu orientieren und nicht dem Weg des Frevlers zu folgen. 3.4.3.2.4 Der Bote JHWHs und die Umsetzung von Gerechtigkeit (V. 8) Die in V. 5–7 in Bezug auf Ereignisse in der Vergangenheit beschriebenen individuellen und kollektiven Rettungserfahrungen werden in V. 8 in eine allgemeine Aussage überführt. Nachdem diese konkreten Berichte von auf JHWH zurückgeführten Heilsereignissen jeweils von der menschlichen Perspektive ausgegangen
203 Die Narration, die diese Wesensbeschreibung JHWHs als Retter der Bedürftigen beschreibt, ist die von der Herausführung aus Ägypten, die von einer kollektiven Heilserfahrung erzählt. Rettung kommt von JHWH (vgl. Ex 14,13; 14,30; 15,2 und auch Ps 106,8.10). Umgekehrt wird in den Zuschreibungen der Psalmen diese kollektive Erfahrung individualisiert. Wie sich in der Erzählung des Exodus JHWH als der Retter seines Volkes zeigt, so wird in den Psalmen die Rettung des Kollektivs oder des Individuums (vgl. Ps 106,4 als Bitte um Teilhabe am erfahrenen und neu zu erzählendem Heil des Volkes) erbeten oder JHWH für gegenwärtiges Heil gepriesen. 204 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 49–52.
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sind und eine menschliche Aktivität zum Ausgangspunkt haben, wechselt mit V. 8 der Fokus auf eine neu eingeführte Figur, den „ ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הBoten JHWHs“. Die ihm zugeschriebene Handlung wird mit „ חנהlagern“ benannt, und er agiert in Bezug auf ִל ֵיר ָאיוdie, „die ihn [= JHWH] fürchten“. Die Semantik der Ausdrücke soll im Folgenden untersucht werden. 1. ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ ה – „Boten JHWHs“: Gottes rettendes Eingreifen Die Belege für die Rede vom „ ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הBoten JHWHs“ sind im Alten Testament breit gestreut und zeigen vielfältige Aspekte. Sie begegnet mit einem Schwerpunkt in den narrativen Texten des Pentateuchs und in den Büchern der Geschichte und der Prophetie. Vor allem in den narrativen Texten erscheint er auch als eigenständig Redender und Handelnder, oft in Notsituationen, in denen er bzw. seine Rede Rettung bringt, so bei Hagar und Ismael (vgl. Gen 16,7.9.10.11), Abraham und Isaak (vgl. Gen 22,11.15) oder Eliah (vgl. 1 Kön 19,7). Häufig begegnet im Kontext der Auszugs- und Landgabetraditionen die Vorstellung eines Boten JHWHs, der vor Israel hergesandt wird, um Israel zu schützen (vgl. Ex 23,20; Num 22,16; Ri 2,1 u. ö.). Der Bote JHWHs kann auch der sein, der die gerechte Strafe Gottes ausführt, was JHWH jedoch letztlich verhindert (vgl. 2 Sam 24,15; 1 Chr 21,14). In einen militärischen Kontext wird das göttliche Rettungshandeln an Israel durch den Boten JHWHs in der Erzählung von der Vernichtung der assyrischen Armee gestellt (vgl. 2 Kön 19,35; 2 Chr 32,21; Jes 37,36). In späterer Aufnahme bei Mal 3,1 wird dieses Motiv im Zusammenhang von Gerichtsvorstellungen ethisiert: Sein Erscheinen führt zur Scheidung der Gerechten und der Sünder. Es zeigt sich also die Bedeutung des Boten JHWHs für Rettung und Schutz und als der, der auch die Notwendigkeit der Orientierung an der Gerechtigkeit vor Augen führt. Nicht immer sind dabei JHWH und der Bote JHWHs in ihrem Verhalten gegenüber dem Menschen zu unterscheiden.205 Typischerweise wird der Bote im Sacharjabuch als „ ַה ַּמ ְל ָאְך ַהּד ֵֹברder Bote, der mit mir redete“ (Sach 1,9; 2,2.7 u. ö.) bezeichnet. Nur im ersten Nachgesicht ist vom „ ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הBoten JHWHs“ die Rede (vgl. Sach 1,11.12). Seine Funktion ist „nicht das Übersetzen der Bilder, sondern das Sprechen im Visionszusammenhang“206. Ob der Bote der Vision der Amtseinführung Josuas (vgl. Sach 3,1.5.6) mit dem als „ ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הBoten JHWHs“ bezeichneten Boten des ersten Nachtgesichts identisch ist, bleibt offen. In diesem Zusammenhang tritt er als Zeuge bzw. Prozessteilnehmer auf und betätigt sich als Prophet, indem er ein JHWH-Wort übermittelt und erläutert. Er kann als Visionsgestalt sowohl himmlischer Bote als „auch ein das göttliche Wort ausrichtender irdischer Bote, also wohl ein Prophet […], der nicht mit Sacharja identisch ist“207, sein.
205 Vgl. Feedman-Willoughby 1984, 896–904. 206 Willi-Plein 2007, 64. 207 Willi-Plein 2007, 87.
Auslegung
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Ist im Psalter vom ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הdie Rede, so hat er die Funktion, die Gott zugeschriebene Gerechtigkeit umzusetzen,208 so im Nachbarpsalm Psalm 35. Das betende Ich appelliert unter Verwendung von Kriegsmetaphorik an JHWH, gegen die Feinde des Ichs zu kämpfen. Die, die ihm nach dem Leben trachten (ְמ ַב ְק ֵׁשי נַ ְפ ִׁשי in Ps 35,4), sollen als Folge ihres negativen Verhaltens dem Ich gegenüber und als Ausdruck der gerechten Weltordnung und der göttlichen Gerechtigkeit beschämt werden. Die Instanz, die dafür sorgt, ist der Bote JHWHs: ּדֹוחה ֶ 209 ּומ ְל ַאְך יְ הוָ ה ַ „Und (es sei) der Bote JHWHs [sie] stoßend.“ (Ps 35,5) und ּומ ְל ַאְך יְ הוָ ה ר ְֹד ָפם ַ „Und (es sei) der Bote JHWHs sie verfolgend.“ (Ps 35,6). Im folgenden Lobvorsatz wird die Rettung des Benachteiligten vor dem, der ihn unterdrückt, mit einer Unvergleichlichkeitsaussage als Handeln Gottes benannt und gedeutet: ִ ֥מי ָ֫כ ֥מֹוָך ַמ ִ ּ֣ציל ָ ֭ענִ י ֵמ ָח ָז֣ק „ ִמ ֶ ּ֑מּנּו וְ ָע ִנ֥י ְ ֜ו ֶא ְבי֗ ֹון ִמּגֹזְ ֽלֹו׃Wer ist wie Du? Einer, der den Armen vor dem rettet, der stärker als er ist, und den Armen und Bedürftigen vor dem, der ihn ausraubt.“ (Ps 35,10). Auch der Appell, für das betende Ich einzutreten, richtet sich direkt an JHWH, dort allerdings rechtsmetaphorisch formuliert (vgl. „ ; ִמ ְׁש ָּפטRechtsspruch“; „ ִריבRechtsstreit“; „ ׁשפטrichten“ in Ps 35,22–25). Mit dem Boten JHWHs wird rettendes Eingreifen Gottes dargestellt.210 Während dies in Ps 35 negativ als Vernichtung der Feinde formuliert ist,211 wird mit dem Boten JHWHs in Ps 91 der göttliche Schutz positiv umschrieben: ל־ּד ָר ֶ ֽכיָך׃ ְ ה־ּלְ֑ך ֜ ִל ְׁש ָמ ְר ָ֗ך ְּב ָכ ָ ֶ„ ִ ּ֣כי ַ ֭מ ְל ָא ָכיו יְ ַצּוDenn seinen Boten befiehlt er im Hinblick auf dich, dass sie dich auf allen deinen Wegen bewahren.“ (Ps 91,11). Auch in Ps 34 ist der Bote JHWHs eine rettende Instanz, die befreit ( חלץin V. 8) und damit die Rettungstat JHWHs ausführt ( נצלhi. in V. 5; יׁשעhi. in V. 7). Er handelt damit an der Stelle JHWHs und steht für die Möglichkeit des göttlichen Handelns am Menschen in der Welt.
208 Der Bote ist hier also weniger ein „Vermittler zwischen dem Bereich der Menschen und der Sphäre Gottes“ (Krispenz 2006) als eine Form der göttlichen Repräsentanz und des göttlichen Handelns. Eine andere Rolle nehmen die „Boten“ in Ps 103,20; 104,4; 148,2 ein. Als Teil des königlichen Hofstaates dienen sie der bildlichen Ausmalung des Königtums JHWHs. Für einen Überblick über Deutungen des „Boten JHWHs“ vgl. Röttger 1991, 539–541. Allerdings ist zu beachten: Die Funktionen der „Boten JHWHs“ sind in den einzelnen Texten zu unterschiedlich, als dass eine einzige Deutung dem Textbefund gerecht werden würde. Es ist im Einzelfall im Kontext zu eruieren, welche Bedeutung ihnen zukommt. 209 Die LXX bringt explizit ein direktes Objekt: καὶ ἄγγελος κυρίου ἐκθλίβων αὐτούς (LXX Ps 34,5). Die Verwendung des griechischen Lexems in der Septuaginta verweist ebenfalls auf einen militärischen Kontext bzw. die Bedrohung durch Feinde (vgl. Ri 1,34; 2,15; 10,12; LXX Ps 17,39; 41,10; 42,2; 118,157). 210 Ähnlich gilt das auch für die Boten-Gestalten in Gen 19; 21,17; 48,16; Ex 3,2; 14,19 und Num 20,16, wobei zu unterscheiden ist zwischen den Figuren, die rettend handeln, und denen, die rettendes Handeln ermöglichen. 211 Vgl. dazu auch Ps 78,49: „ ִ֜מ ְׁש ֗ ַל ַחת ַמ ְל ֲא ֵ ֥כי ָר ִ ֽעים׃Die Scharen der Boten des Bösen“ sind Konkretisierungen des Befreiungshandelns Gottes, das abstrakt als „Zorn“ beschrieben wird.
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2. חנה – „lagern“: Schutz durch Gott Die Schutzfunktion des Boten JHWHs wird in Ps 34,8 durch das militärische Bild des sich Lagerns um die, die JHWH fürchten, unterstrichen. Das Verb „ חנהsich lagern“ wird neben seinem Gebrauch im nichtmilitärischen Sinn (vgl. Gen 26,17; 33,18 u. ö.) im militärischen Kontext in der Regel im Sinn von „belagern“ gebraucht (vgl. Jos 10,5.31.34 u. ö.), ist also feindlich konnotiert (vgl. Ps 27,3; 53,6). In dieser Verwendung begegnet das Verb nur in Sach 9,8: יתי ִמ ָּצ ָב ֙ה ֤ ִ יתי ְל ֵב ִ ִ֙וְ ָחנ יתי ְב ֵע ָינֽי׃ ִ יהם ֖עֹוד נ ֵֹגׂ֑ש ִ ּ֥כי ַע ָ ּ֖תה ָר ִ ֥א ֛ ֶ ּומ ָּׁ֔שב וְ ֽל ֹא־יַ ֲע ֧בֹר ֲע ֵל ִ „ ֵמע ֵֹב֣רUnd ich werde für mein Haus als Wachposten lagern – gegen den Vorbeiziehenden und Zurückkehrenden, so dass an ihnen kein Unterdrücker mehr vorbeizieht, denn ich selbst sehe jetzt mit meinen Augen (danach).“ (Sach 9,8). Mit der Militärmetaphorik wird analog zu 2 Kön 19,35; 2 Chr 32,21; Jes 37,36 der unbedingte Einsatz von göttlicher Seite zu Schutz und Rettung verdeutlicht. Dessen Beständigkeit wird durch die partizipiale Konstruktion unterstrichen. Mit dem Bild des Sich-Lagerns wird im Zusammenhang von Ps 34 die Abwehr von Gefahren und Rettung beschrieben: „ וַ יְ ַח ְּל ֵצםUnd er rettet sie.“ (Ps 34,8). 3. ִל ֵיר ָאיו – „die ihn [= JHWH] Fürchtenden“: JHWH-Furcht als ethische Kategorie Der Beistand des Boten JHWHs bezieht sich auf „ ִל ֵיר ָאיוdie ihn Fürchtenden“ (Ps 34,8). Grammatikalisch gesehen ist das letztgenannte Subjekt ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ ה „der Bote JHWHs“. Möglich wäre, das ePP auf den Boten zu beziehen, so dass auch das Subjekt der Rettungshandlung ( וַ יְ ַח ְּל ֵצםPs 34,8) „ ַמ ְל ַאְךder Bote“ wäre. Die Konstruktion mit ePP „ ִל ֵיר ָאיוdie ihn Fürchtenden“ (Ps 34,8) findet sich auch in Ps 22,26; 25,14; 33,18; 103,11.13; 111,5; 145,19; 147,11 und in direkter Anrede „die dich Fürchtenden“ יִ ֵר ֶאָךin Ps 31,20; 60,6; 119,74.79, dort jeweils mit eindeutigem Bezug auf JHWH. Grammatisch ist in Ps 34,8 auch der Bezug des ePP auf JHWH in der Constructus-Verbindung „ ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הBote JHWHs“ möglich. Vom Kontext des Psalms, in dem durchgängig JHWH rettendes Subjekt ist, liegt nahe, in ihm auch das Subjekt von V. 8a וַ יְ ַח ְּל ֵצםzu sehen. Die Doppeldeutigkeit des Bezugs unterstreicht die enge Verbundenheit bzw. Identität von ַמ ְל ַאְך־יְ הוָ הund JHWH selbst. Der Bote ist und im Boten zeigt sich die Rettung durch JHWH. Im Psalter ist sonst entweder explizit von „ יִ ְר ֵאי יְ הוָ הdie JHWH Fürchtenden“ (Ps 15,4; 22,24; 115,11.13; 118,4; 135,20; in Ps 25,12 einmal im Singular ָה ִאיׁש יְ ֵרא „ יְ הוָ הder Mann, der JHWH fürchtet“) bzw. ֹלהים ִ „ יִ ְר ֵאי ֱאdie Gott Fürchtenden“ (Ps 66,16) oder in direkter Anrede von „ יִ ְר ֵאי ְׁש ֶמָךdie deinen Namen Fürchtenden“ (Ps 61,6) die Rede. In V. 8a ist „ ירא יְ הוָ הJHWH fürchten“ ein Gruppenmerkmal. Im Kontext des Abschnittes V. 5–8 sind damit die gemeint, die sich an JHWH wenden, ihr Verhalten an ihm als Instanz ethischen Handelns orientieren und an ihm auch angesichts von Notsituationen festhalten bzw. von ihm Rettung erhoffen. Diese Ausrichtung auf JHWH, die Beziehung zwischen Mensch und Gott, schafft also gleichzeitig auch eine Bindung zwischen den Menschen, die auf JHWH vertrauen.
Auslegung
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Die allgemeine Aussage zum Rettungshandeln Gottes in Gestalt des göttlichen Boten in Ps 34,8 beendet den Abschnitt V. 5–8. In den Blick kommen die innerweltliche Umsetzung der göttlichen Gerechtigkeit durch den Boten JHWHs und der gemeinschaftskonstituierende Aspekt der Hinwendung zu JHWH und des an ihm orientierten ethischen Handelns.
Exkurs: „ ירא יְ הוָ הGottesfurcht“ A Schwerpunkte der Forschungsgeschichte In der Regel sind die Ausführungen zur „Gottesfurcht“ stark von den Begrifflichkeiten und Konzepten Rudolf Ottos „Das Heilige“212 geprägt. Ihm zufolge reagiert der Mensch auf die Begegnung mit dem Heiligen, dem Numinosen, das dem Menschen als tremendum et fascinosum erscheint, mit Furcht und Zurückweichen einerseits und mit Vertrauen und Hinwendung andererseits. Vor diesem Hintergrund unternahm Joachim Becker 1965213 eine Kategorisierung der unterschiedlichen Konzepte von „Gottesfurcht“ und rekonstruierte deren historische „semasiologische Entwicklung“214. Biblisch zu unterscheiden seien neben dem profanen Gebrauch215 des Verbs ירא die Furcht vor dem Numinosen, wie sie Reaktion auf Theophanien oder andere Formen des sinnfälligen Gott-Erlebens und seines Handelns in Geschichte und Natur sei,216 und eine ehrfürchtige Scheu und Bewunderung des Heiligen, in der Vertrauen gründet. Daneben sei ein „kultischer“ Begriff der Gottesfurcht, den die deuteronomistische Literatur zeige, nachzuweisen. JHWH-Furcht meine in diesem Zusammenhang die selbstverständliche Treue zu JHWH und seiner Bundesordnung. Die „sittliche“ Gottesfurcht hingegen greife über Israel hinaus und beziehe sich auf individuelle Verantwortlichkeit. Sie dominiere die E-Schicht des Pentateuchs, das Heiligkeitsgesetz, die Prophetie und die Weisheitsliteratur. Dieser „sittlichen“ Gottesfurcht stellt Joachim Becker außerdem die „nomistische“ 212 Otto 1963, Erstauflage 1917. Die Ausführungen Rudolf Ottos sind geprägt von einer wertenden Gegenüberstellung der Religion der „Primitiven“ und deren entwickelter Form. So geht auch er von einer „Versittlichung und allgemeinen Rationalisierung des Numinosen“ in den biblischen Zeugnissen und der Vollendung dieser Entwicklung im Evangelium (Otto 1963, 95) aus. 213 Vgl. Becker 1965. Vgl. auch die Rezension von Scharbert, Josef: Rezension zu Joachim Becker, Gottesfurcht. In: MThZ 18(1967)3, 243–244. 214 Becker 1965, V. 215 Vgl. Fuhs 1982, 869–893; Stähli 62004, 765–778. Im profanen Gebrauch wird mit יראeine negative Emotion des Subjekts bezeichnet. Steht das Verb ohne weiteres Satzglied absolut, drückt es die Angst bzw. Furcht des Subjekts aus (vgl. אד וַ ֵּי ֶ֣צר ֑לֹו ֹ ֖ ירא יַ ֲע ֛קֹב ְמ ֧ ָ ִ„ וַ ּיDa fürchtete sich Jakob sehr, und ihm wurde angst.“ (Gen 32,8)). Der Grund der Furcht kann entweder mit einem direkten Objekt benannt werden (vgl. ֹכי א ֹ֔תֹו ֙ ִ ּכי־יָ ֵ ֤רא ָאנ ֽ ִ „Denn ich fürchte ihn.“ (Gen 32,12)) oder mit der Präposition ִמןgefügt sein (vgl. א־ת ְיר ֖אּון ֵמ ֶ ֽהם ֽ ִ ֹ „ ְ ֽולFürchtet euch nicht vor ihnen.“ (Dtn 1,29)). 216 Dies vor allem dann, wenn נֹורא ָ als Attribut JHWHs oder seiner Taten in Schöpfung und Geschichte – und parallel zu „ ּגָ דֹולgroß“, „ ָקדֹוׁשheilig“oder נַ ֲע ָרץ „fürchterlich“ – erscheint. Die Umschreibung mit נֹורא ָ beziehe sich vor allem auf den Aspekt des Heiligen als mysterium tremendum.
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gegenüber, die in der Priesterschrift, bei Jesus Sirach und in den späten Psalmen zu finden sei. Gottesfurcht heiße in diesem Kontext Gesetzesfrömmigkeit. Insgesamt sei eine Entwicklung von der ursprünglich numinosen zur ethisch-sittlichen Gottesfurcht zu beobachten. So beziehe sich die Verbindung יִ ְר ֵאי יְ הוָ הin den älteren Psalmen auf die „Kultgemeinde“, später dann auf den einzelnen Frommen. „Numinose Furcht bei Taten Jahwes erscheint als Ausgangspunkt einer semantischen Entwicklung zu sittlicher Gottesfurcht hin. Denn Taten Jahwes sind häufig zugleich Gerichte; die von den Taten ausgelöste Furcht bewirkt sittlichen Gehorsam, der schliesslich [sic!] einfachhin als Gottesfurcht bezeichnet wird. […] An anderen Stellen lässt sich eine Bedeutungsschattierung wahrnehmen, die sich durch den Gedanken der Anerkennung Jahwes und der Hinwendung zu ihm dem kultischen Begriff (fürchten = verehren) nähert. […] Auch hier ist jedoch unverkennbar, dass beim eigentlichen kultischen Begriff der numinose weit mehr zurücktritt. Der semantische Schritt von numinoser Furcht bei Taten Jahwes zum kultischen Begriff ist so zu erklären, dass der Erweis der Macht leicht zu Anerkennung und Verehrung führt.“217 Rezipiert wird die Arbeit Joachim Beckers von Hans-Peter Stähli im THAT (Erstauflage 1971), der den „theologischen“ Gebrauch der jr’ -Belege in sieben Kapiteln darstellt: 1. der ursprünglich numinose Charakter der Gottesfurcht, 2. die Formel „fürchte dich nicht“, 3. jr’ in der dtn.-dtr. Literatur, 4. „die Jahwefürchtigen“ in den Psalmen, 5. jr’ als kultische Verehrung, 6. jr’ in den weisheitlichen Texten und 7. der nomistische Begriff der Gottesfurcht.218 In Anschluss an Hans-Peter Stähli greift auch Hans F. Fuhs 1982 in seinem Artikel im ThWAT Joachim Beckers Untersuchung auf: „Numinose Furcht wird somit zum Ausgangspunkt einer semantischen Entwicklung, die unter Abschwächung des Momentes eigentlicher Furcht hin zu ‚sittlicher Gottesfurcht‘ und in Anerkennung, Hinwendung und Bekenntnis JHWHs dem ‚kultischen Begriff ‘ (fürchten = verehren) verläuft.“219 Hans-Peter Stähli unterteilt ebenfalls in die 217 Becker 1965, 38–39. Es wird deutlich, dass im Hintergrund von Joachim Beckers Überlegungen doch die Vorstellung vom „gnadenlosen Richtergott“ steht. Das Gericht Jahwes muss – in seiner Wahrnehmung – negativ besetzt, daher Furcht einflößend sein. Alttestamentliche Gerichts- und Gerechtigkeitsvorstellungen sind jedoch wesentlich komplexer. Das Gericht kann sogar Anlass zur Freude sein, so beispielsweise in Ps 96,12–13: „Das Feld jauchze und alles, was in ihm ist. Dann sollen alle Bäume des Waldes jubeln, vor dem Angesicht JHWH, denn er kommt. Denn er kommt, um die Erde zu richten. Er wird den Erdkreis in Gerechtigkeit richten und die Völker in seiner Treue.“ Auf Gottes Gerechtigkeit kann als Strafgerechtigkeit rekurriert werden (so z. B. Hos 11,8–11; Am 7–8). Gerechtigkeit und Barmherzigkeit müssen sich aber im Gericht nicht widersprechen: Gott richtet und rettet. Und er rettet, indem er richtet (vgl. z. B. Janowski 1999a; 1999b; 2003). Dazu aus jüdischer Perspektive Samson Raphael Hirsch: „Im Gegensatz zu außerjüdischen Anschauungen steht Frohsinn und Lebensheiterkeit nicht im Gegensatz zum ‚Religiösen‘, zur Gottesfurcht, ist vielmehr ein Ziel, das nur auf dem Weg einer wahren Gottesfurcht zu finden ist.“ (Hirsch 1995, 191). 218 Stähli 2004. 219 Fuhs 1982, 883.
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Kapitel III. Gottesfurcht (religionsgeschichtlich), IV. Gottesfurcht als Furcht vor dem Numinosen, V. „Fürchte dich nicht!“, VI. JHWH-Furcht als Treue zum Bundesgott, VII. Gottesfurcht als sittliche Haltung des Menschen vor dem Anspruch Gottes, VIII. Gottesfurcht als Torafrömmigkeit. Joachim Beckers Verdienst ist, mit dieser Differenzierung eine antithetische Gegenüberstellung von alttestamentlichen Vorstellungen von Gott (der Strafende, Furchterregende, Richtende) und neutestamentlichen Gottesbildern (der Liebende, Gnädige, Verzeihende) in Frage gestellt zu haben. Eine nicht nur negative Deutung der Gerichtsvorstellung hat er jedoch nicht im Blick. Die Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Begriffs der JHWH-Furcht basiert zum einen auf älteren literarkritischen Annahmen und setzt zum anderen einen Progressionsgedanken voraus, der stark wertend ist: So ist die sittliche Gottesfurcht in seiner Wertung der kultischen überlegen. Dieser „Fortschrittsoptimismus“ läuft zudem Gefahr, vermeintlich frühere Konzepte als überholt anzusehen, wenn behauptet wird, numinose Vorstellungen seien ethisiert worden. Grundlegende menschliche Erfahrungen mit dem Heiligen werden dann nicht ernst genommen. Die Arbeit von Joachim Becker rechnet nicht mit dem (auch zeitlichen) Neben- und Ineinander von verschiedenen Akzentuierungen und Zugängen zur Vorstellung der Gottesfurcht, die unterschiedliche Schwerpunkte bilden. Weiterführend ist, die Vorstellungen zur JHWH-Furcht in den einzelnen literarischen Einheiten gesondert zu untersuchen und deren Akzentuierungen herauszuarbeiten.
B Untersuchung der Konzeptionen von JHWH-Furcht Prominent ist die Rede von der Furcht des ersten Menschen (vgl. Gen 3,10), den nicht die Angst vor Strafe umtreibt, sondern der seine eigene Begrenztheit erkennt und in der ihr entsprechenden Haltung Gott gegenübertritt.220 Anders versteht die Erzählung von der Bindung Isaaks die Gottesfurcht Abrahams als Vertrauen Gott gegenüber auch angesichts der ungeheuerlichen Forderung, den eigenen Sohn zu opfern (Gen 22,12).221 In der Breite entfalten das Buch Deuteronomium, das Sprüchebuch und das Psalmenbuch ihr Verständnis von JHWH-Furcht. Es bietet sich daher an, die Vorstellungen von „Gottesfurcht“ nach diesen Textgruppen zu differenzieren und Berührungspunkte der verschiedenen Konzepte aufzuzeigen. Zunächst werden die Konzeptionen des Deuteronomiums und des Sprüchebuches vorgestellt, um vor diesem Hintergrund Spezifika des Begriffes der JHWH-Furcht im Psalmenbuch beleuchten zu können.
220 Vgl. Konkel 2015, 272. 221 Vgl. Schnocks 2014, 38.45–46.
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(a) Die deuteronomistische Konzeption Schlüsselstelle für die Vorstellung, JHWH zu fürchten, ist im Deuteronomium Dtn 10222 mit seinem Pendant Dtn 6.223 JHWH-Furcht wird im Deuteronomium entfaltet als Liebe zu Gott, in treuem Dienst und treuer Verehrung des alleinigen Gottes JHWH, die sich im Tun des Menschen ausdrückt und Zugehörigkeit zu
222 In der jüdischen Rezeptionsgeschichte (vgl. Rabinowitz/Kasher 2007, 725–726 und Borowitz/Jospe/Kasher 2007, 230–231) gilt Dtn 10,12 als Gewährsstelle für die Annahme des freien Willens: Gott erbittet Gottesfurcht, weil diese allein im freien Willen des Menschen gründet, der sich zu Gott hinwendet. Gottesfurcht besteht dieser Vorstellung zufolge nicht in der Kenntnis der Tora, sondern vervollständigt diese. Allerdings nimmt die jüdische Tradition gegenüber dem Konzept der „Gottesfurcht“ eine ambivalente Haltung ein, erscheine doch „Liebe zu Gott“ als erstrebenswerter. Das Motiv der „Gottesfurcht“ kann zweifach bestimmt werden: Zum einen versteht man „Gottesfurcht“ als in Angst vor Strafe wurzelnd, also als extrinsisches, damit minderwertiges Motiv für menschliches Handeln, zum anderen kann „Gottesfurcht“ verstanden werden als bewunderndes Staunen vor der Größe Gottes, das beim Menschen Scham angesichts der eigenen Schuldhaftigkeit auslösen kann. Trotzdem wird die „Liebe zu Gott“ – bei Maimonides eine intellektuelle Aktivität –, die nur aus sich selbst heraus begründet ist, als wertvollerer Beweggrund für das Tun des Menschen gesehen. Daneben wird in der jüdischen Tradition ausgehend von Lev 19,14.32; 25,17.36.43 ein Konzept von Gottesfurcht entwickelt, das sozial nicht-sanktionierbares Verhalten verhindern soll, so in Sifra und bei Raschi (Übersetzung von Julius Dessauer) zu Lev 19,14: „Es ist dem Menschen nicht anheim gestellt, wissen zu können, ob der Rat gut oder schlecht ausfallen wird, da kann sich doch jeder freimachen und sagen: Meine Absicht war eine gute, daher steht dabei: Fürchte dich vor deinem Gotte, der deine Gedanken kennt. Ebenso heißt es immer von jeder Sache, die nur der handelnden Person allein anvertraut ist, doch Anderen unbekannt bleibt: Fürchte dich vor Deinem Gotte!“ Das Motiv, gut zu handeln, ist also Gottesfurcht und nicht eine sonst zu erwartende Strafe. So auch Thomas Hieke 2014b in Rezeption von Sifra und Raschi zu Lev 19,14: „Somit geht es auch hier wieder um Dinge, die nicht vor menschlichen Gerichten verhandelbar, sondern eine ‚Sache des Anstandes‘ oder der ‚ethischen Gesinnung‘ sind. Eine Sanktionierung ist nicht möglich – es geht nur um die ernsthafte Ermahnung (Paränese), dass Gott auf der Seite der Schwachen steht, und wenn man Gott fürchtet, soll man es tunlichst unterlassen, die Schwachen zu übervorteilen“ (Hieke 2014b, 725.). Zu Lev 25,17: „Damit verbunden ist die Mahnung, JHWH zu fürchten – blickt man auf Lev 19 zurück, so begegnet diese Wendung bei Ermahnungen, die nicht rechtlich bewehrt und eingeklagt werden können: den Tauben nicht verfluchen, dem Blinden kein Hindernis in den Weg legen (Lev 19,14); ältere Menschen zu ehren (Lev 19,32) – das sind Dinge, die (oft mangels Augenzeugen) kaum justiziabel sind, sondern Vorschriften, die aus innerer ethischer Überzeugung (biblisch: ‚Gottesfurcht‘) einzuhalten sind. Wenn dieses Konzept auch hier auftaucht, so steckt dahinter wohl die Erfahrung, dass es genug Möglichkeiten gibt, den Mitbürger auszunutzen und zu übervorteilen, ohne dass dies nachweisbar und damit justiziabel wäre. Also wird die Sache mit Gott als Zeugen bewehrt, da man keinen anderen Weg der Sanktionierung sieht.“ (Hieke 2014b, 1005). Zu Lev 25,43: „Religiöses und soziales Verhalten lassen sich nicht auseinanderdividieren. Oder anders ausgedrückt: Das rechte religiöse Verhalten, die wahre Gottesfurcht zeigt sich darin, dass jemand sozial und menschlich mit seinen Mitmenschen umgeht, gerade mit denen, die ihm unterlegen sind, weil sie finanziell von ihm abhängig sind“ (Hieke 2014b, 1030). 223 Entstehungsgeschichtlich können Dtn 10,12–11,17 und Dtn 6,10–19 als nachexilische Fortschreibung von Dtn 6,1–9 gelten (vgl. Otto 2012b, 815).
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JHWH und seinen Verehrern bewirkt. Daraus erwächst die Forderung und Notwendigkeit, JHWH-Furcht zu lehren und zu lernen. (1) Zentral für die deuteronomistische Konzeption ist die Forderung, Gott zu fürchten und ihm im Kult zu dienen. So formuliert Deuteronomium 10 als Vorbereitung der Gesetzespromulgation in Dtn 12–26 fast definitorisch:224 ֹלהיָך ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְ וְ ַע ָּת ֙ה יִ ְׂש ָר ֵ֔אל ָ ֚מה י12 „Und jetzt, Israel, was fragt JHWH, dein Gott, ׁש ֵ ֹ֖אל ֵמ ִע ָ ּ֑מְך von dir, ֹלהיָך ֶ֜ הוה ֱא ָ ֙ ְם־ליִ ְר ָאה ֶאת־י ְ ֠ ִ ּ֣כי ִא außer JHWH, deinen Gott, zu fürchten, ל־ּד ָר ָכ ֙יו ְ ָל ֶל ֶ֤כת ְּב ָכ indem du auf allen seinen Wegen gehst und ּול ַא ֲה ָ ֣בה א ֹ֔תֹו ְ indem du ihn liebst und ֹלהיָך ְּב ָכל־ ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְוְ ַ ֽל ֲעב ֹ֙ד ֶאת־י indem du JHWH, deinem Gott, mit deinem ganּוב ָכל־נַ ְפ ֶ ֽׁשָך׃ ְ ְ֖ל ָב ְבָך zen Herzen und deiner ganzen Nefeš dienst, ת־מ ְצֹו֤ ת יְ הוָ ֙ה וְ ֶאת־ ִ מר ֶא ֹ ֞ ִל ְׁש13 indem du die Gebote JHWHs und seine ֻחּק ָֹ֔תיו Anordnungen bewahrst, ֲא ֶ ׁ֛שר ָאנ ִ ֹ֥כי ְמ ַצּוְ ָך֖ ַהּי֑ ֹום die ich dir heute gebiete, ְל ֖טֹוב ָ ֽלְך׃ damit es dir gut geht?“ (Dtn 10,12–13)
Die Aufforderung, JHWH zu fürchten, wird hier unter Verwendung der WegMetapher verstanden als ein Gott entsprechendes Verhalten, als Liebe zu Gott und als Gottesdienst. Diese Konzeption knüpft an Dtn 6,4–5 an: „Gottesfurcht wird in Dtn 10,12 unter Rückgriff auf Dtn 6,5 als Liebe zu JHWH und Dienst an JHWH ‚mit ganzem Herzen und ganzer Seelenkraft‘ exemplifiziert.“225 Gleichzeitig werden Dtn 6,2.24 (Bewahren der Gebote und Ordnungen; Wohlergeben in V. 13) und Dtn 6,13 (JHWH dienen in V. 12) integriert. JHWH zu fürchten, heißt, seine Gebote und Anordnungen zu bewahren mit dem Ziel, dass es dem Angesprochenen gut geht. Gottesfurcht zielt also auf ein gelingendes Leben. Die Aufforderung, Gott zu lieben, bezieht sich weniger auf Emotionen als auf eine innere Einstellung, die sich in äußeren Taten zeigt. So werden auch in assyrischen Vasallenverträgen die Vasallen auf Liebe zum assyrischen König verpflichtet. Dabei geht es um politische Loyalität, die sich in Taten, z. B. Tributleistungen oder Vereitelung von Putschversuchen zeigt.226 Die Forderung, Gott zu lieben, bezieht sich also auch auf ein entsprechendes Handeln. Umgekehrt zeigt sich auch die Liebe Gottes in seinen Taten, die wiederum Vorbild für das Handeln Israels sind:
224 Die Vorstellung, dass Gott ein bestimmtes Verhalten vom Menschen verlangt, findet sich nicht nur im Deuteronomium, sondern auch in Mi 6,8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was JHWH von dir ersucht ()דרׁש, nämlich, Recht zu tun und Treue zu lieben und besonnen zu gehen mit deinem Gott.“ Otto 2012b, 1034 spricht daher von „einem Prozess des Dialogs zwischen den Autoren der nachexilischen Tradentenprophetie […] und den Autoren nachexilischer Fortschreibungen im Pentateuch.“ (Mi 6,8) 225 Otto 2012b, 1035. Siehe auch dort zu den weiter reichenden intertextuellen Bezügen bzw. entstehungsgeschichtlichen Rückbezügen im Deuteronomium. 226 Vgl. Hieke 2014b, 731–732.
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ֹלהיָך ַה ָּׁש ַ ֖מיִ ם ֶ֔ יהו֣ה ֱא ָ ֵ ֚הן ַל14 Siehe, JHWH, deinem Gott sind die Himmel ּוׁש ֵ ֣מי ַה ָּׁש ָ ֑מיִ ם ְ und die Himmel der Himmel, ר־ּבּה׃ ֽ ָ ל־א ֶׁש ֲ ָה ָ ֖א ֶרץ וְ ָכ die Erde und alles, was auf ihr ist. הו֖ה ָ ְ ַ ֧רק ַּב ֲאב ֶ ֹ֛תיָך ָח ַ ׁ֥שק י15 Nur deinen Vätern neigte sich zu JHWH, אֹותם ֑ ָ ְל ַא ֲה ָ ֣בה um zu sie lieben. יהם ֶ֗ וַ ְּיִב ַ֞חר ְּבזַ ְר ָ ֣עם ַא ֲח ֵר Und er erwählte ihre Nachkommen nach ihnen, ל־ה ַע ִ ּ֖מים ַּכּי֥ ֹום ַהּזֶ ה׃ ָ ָּב ֶכ֛ם ִמ ָּכ euch, aus allen Völkern, wie heute. ּומ ְל ֶּ֕תם ֵ ֖את ָע ְר ַל֣ת ְל ַב ְב ֶכ֑ם ַ 16 Und ihr sollt die Vorhaut eures Herzens beschneiden, וְ ָ֙ע ְר ְּפ ֶ֔כם ֥ל ֹא ַת ְק ׁ֖שּו ֽעֹוד׃ und euren Nacken sollt ihr nicht mehr verhärten! ֹלהים ִ֔ ֹלהי ָ ֽה ֱא ֣ ֵ יכם ֚הּוא ֱא ֶ֔ הו֣ה ֱא ֹֽל ֵה ָ ְ ִ ּ֚כי י17 Fürwahr, JHWH, euer Gott, er ist der Gott der Götter וַ ֲאד ֵֹנ֖י ָה ֲאד ִֹנ֑ים und der Herr der Herren, ּנֹורא ֔ ָ ָה ֵ֙אל ַהּגָ ֤ד ֹל ַהּגִ ּב ֹ֙ר וְ ַה der große, starke und furchtbare Gott, ֲא ֶׁש ֙ר לֹא־יִ ָ ּׂ֣שא ָפ ִ֔נים וְ ֥ל ֹא יִ ַ ּ֖קח ֽׁש ֹ ַחד׃ der nicht das Angesicht erhebt und Bestechung nimmt, ע ֶ ֹׂ֛שה ִמ ְׁש ַ ּ֥פט יָ ֖תֹום וְ ַא ְל ָמ ָנ֑ה18 der der Waise und der Witwe Recht schafft וְ א ֵ ֹ֣הב ֔ ֵּגר und den Fremden liebt, ָ ֥ל ֶתת ֖לֹו ֶ ֥ל ֶחם וְ ִׂש ְמ ָ ֽלה׃ um ihm Brot und Kleidung zu geben. ת־ה ֵּג֑ר ַ וַ ֲא ַה ְב ֶ ּ֖תם ֶא19 Und ihr sollt den Fremden lieben, יתם ְּב ֶ ֥א ֶרץ ִמ ְצ ָ ֽריִ ם׃ ֖ ֶ ִִ ּֽכי־גֵ ִ ֥רים ֱהי denn Fremde seid ihr im Land Ägypten gewesen. ירא ֖ ָ ֹלהיָך ִּת ֛ ֶ הו֧ה ֱא ָ ְ ֶאת־י20 JHWH, deinen Gott, ihn sollst du fürchten, א ֹ֣תֹו ַת ֲע ֑בֹד ihm sollst du dienen ּובֹו ִת ְד ָּ֔בק ֣ und ihm sollst du anhängen, ּוב ְׁש ֖מֹו ִּת ָּׁש ֵ ֽב ַע׃ ִ und bei seinem Namen sollst du schwören. (Dtn 10,14–20)
Die in Dtn 10 folgenden V. 14–16.17–19 beschreiben die Größe und das Handeln Gottes, woraus jeweils ein Appell an Israel erwächst: Was es bedeutet, JHWH zu fürchten und auf seinen Wegen zu gehen (V. 12), wird so konkretisiert. Betont werden JHWHs Hoheit als Schöpfer der Welt und seine Universalität, Unvergleichbarkeit und Einzigkeit (V. 14.17). Er wendet sich in Liebe seinem Volk zu, stiftet somit Beziehung zwischen Gott und Israel und innerhalb des Volkes (V. 15) und ist unparteilich, unbestechlich und gerecht gegenüber den Waisen und der Witwe, und er liebt den Fremden (V. 17–18). Daraus erwachsen die Forderungen, zum einen die Vorhaut des Herzens zu beschneiden, sich also innerlich auf JHWH auszurichten und seinem Bund treu zu sein (V. 16), und zum anderen den Fremden zu lieben (V. 19). In diesem Kontext erscheint auch נֹורא ַָ als Attribut Gottes (V. 17) nicht als rein „numinoser“, sondern als ethischer Begriff. „In diesen nachexilischen Zusammenhang gehört es, dass in Dtn 10,17–18 die JHWH-Prädikation als ‚großer, starker und
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furchterregender Gott‘ mit Motiven sozialethischen Handelns der Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit JHWHs verbunden wird.“227 Die Forderung, kein Ansehen der Person zu kennen und keine Bestechung anzunehmen (vgl. Dtn 16,19), wird hier theologisch im Handeln Gottes begründet. Der Mensch ist aufgefordert, auf seinen Wegen zu gehen (V. 12). Im Folgenden wird daher die Forderung der JHWH-Furcht und des Gottesdienstes aus V. 12 aufgegriffen (V. 20). (2) Die Forderung von Dtn 10,12–13, Gott zu fürchten, ihn zu lieben und seine Gebote zu tun, wird im Kontext des gesamten Buches Deuteronomium eingespielt. Betont wird jeweils, dass sie zur Bestimmung der Beziehung von Gott und Israel dient (ֹלהיֶ ָך ֶ „ ֱאdein Gott“ in Dtn 4,10; 6,2.13 u. ö.; יכם ֶ ֹלה ֵ „ ֱאeuer Gott“ in Dtn 6,2; 13,5 u. ö.). Als beziehungs- und gemeinschaftskonstituierendes Moment gilt JHWH-Furcht als erlernbar und wird an die nachfolgende Generation weitergegeben (vgl. Dtn 4,10; 14,23; 17,19; 31,12.13). Sie verbindet die Gemeinschaft der Gottfürchtigen also synchron und diachron. Am deutlichsten wird dieser Gedanke in der Forderung nach der Verlesung der Tora am Laubhüttenfest im Erlassjahr (vgl. Dtn 31,9–13). Die Versammlung aller hat das Ziel, die Weisung zu hören, zu lernen, JHWH zu fürchten und die Worte der Weisung zu tun (vgl. Dtn 31,12). Die praktische Dimension der JHWH-Furcht verbindet so auch die Verehrer JHWHs untereinander und stiftet Gemeinschaft. Am deutlichsten wird dies erfahrbar im Essen vor JHWH, in der Freude des Opferfestes, das zu begehen Ausdruck von JHWH-Furcht ist (Dtn 14,23; vgl. Dtn 16,11.14). Resümierend lässt sich für die Konzeption der JHWH-Furcht im Deuteronomium festhalten: Es greift zu kurz, sie rein „kultisch“ oder rein „numinos“ zu verstehen. JHWH zu fürchten ist Pendant dazu, JHWH zu lieben. Auch Liebe zu JHWH ist ein praktischer Begriff, insofern der Mensch aufgefordert wird, JHWHs Gebote zu halten (vgl. Dtn 5,10; 7,9; 11,1; 30,16). Jedoch bedeutet sie mehr als ein äußerliches Tun der Gebote, sondern umfasst eine innere Einstellung und Bindung an Gott – so das Bild von der Beschneidung des Herzens (vgl. Dtn 30,6). Die Forderung nach JHWH-Furcht steht im Kontext der Vorstellung von der Universalität und Einzigkeit Gottes und der Beziehung zwischen Gott und seinem Bundesvolk. (b) Sprüchebuch In der Konzeption des Sprüchebuches ist die JHWH-Furcht ein lebenspraktischer Begriff, der im Zusammenhang mit der Vorstellung einer von Gott geordneten an der Gerechtigkeit ausgerichteten Welt steht, die jedoch auch in ihrer Widersprüchlichkeit erfahren wird. Den willkürlich erscheinenden Abläufen in der Welt, den Mangelerfahrungen auch des Weisen wird in pädagogischer Zielsetzung der langfristige Erfolg des JHWH-Fürchtigen entgegengesetzt. (1) Als Ziel der „Sprüche Salomos“ wird in der Eröffnung programmatisch das Erlangen von Weisheit genannt, die bestimmt wird als Gerechtigkeit und
227 Otto 2012b, 1037.
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Recht, Klugheit, Erkenntnis und Besonnenheit (vgl. Spr 1,1–2). Die Hinwendung zu JHWH bietet Orientierung und führt zu Erkenntnis und Weisheit als Handlungswissen: ילים ָ ּֽבזּו׃ ֥ ִ ִמּוסר ֱאו ָ֗ ֜אׁשית ָ ּ֑ד ַעת ָח ְכ ָ ֥מה ּו ֣ ִ „ יִ ְר ַ ֣את ְי֭הוָ ה ֵרFurcht JHWHs ist der Anfang der Erkenntnis, Weisheit und Erziehung verachten Narren.“ (Spr 1,7; vgl. auch Spr 1,29; 2,5; 9,10; 15,33; Ijob 28,28 und Ps 110,10228). „Furcht JHWHs“ gilt als Fundament für ein gutes und gerechtes Leben und als etwas, das durch Erziehung lern- und lehrbar ist und in der Orientierung an anderen Menschen (Vater und Mutter unmittelbar folgend in Spr 1,8) erwerbbar ist. Aus dem Kontext wird so deutlich, dass sich יִ ְר ַאת יְ הוָ הauf eine vertrauensvolle Ausrichtung auf JHWH bezieht, durch die die weisheitliche Lebensgestaltung in den Kontext der Gottesbeziehung gerät. JHWH-Furcht wird explizit als Vertrauen in einer Welt beschrieben, die der Zuflucht bei Gott bedarf: ְּביִ ְר ַ ֣את ְי֭הוָ ה ִמ ְב ַטח־ ֑עֹז „ ּו֜ ְל ָב ָ֗ניו יִ ְהֶי֥ה ַמ ְח ֶ ֽסה׃In der JHWH-Furcht ist starkes Vertrauen, und für seine Kinder wird eine Zuflucht sein.“ (Spr 14,26). Auch wenn offen ist, ob „seine Kinder“ auf die des Gottesfürchtigen oder die JHWHs rekurriert, wird deutlich, dass JHWHFurcht Vertrauen in Gott umfasst, bei dem Zuflucht und Rettung zu erwarten ist. „In der weisheitlichen Reflexion ist Gottesfurcht bzw. JHWH-Furcht […] ein Schlüsselwort, insofern es sich als geeignet erwies, angesichts einer welthaft erfahrenen Welt mit ihrer relativen Eigengesetzlichkeit der immanenten Abläufe und relativen Eigenwertigkeit der Lebensgüter (Leben, Besitz, Ehre etc.) einerseits und des Wissens um JHWHs souveränes Walten und Handeln in Geschichte und Welt andererseits dem Menschen diese komplexe Lebenswirklichkeit zu erschließen, damit er sich in ihr zurechtfinde und richtig verhalten könne. Dieses rechte Verhalten nennt die Weisheit jir’aṯ JHWH.“229 Die Vorstellung der JHWH-Furcht ist Teil der Frage, wie Orientierung zu gewinnen ist angesichts von Bedrohung, erfahrener Ungerechtigkeit und menschlichem Scheitern. Sie bezieht sich auf die Lebensgestaltung des Menschen und die erhoffte göttliche Rettung und Gerechtigkeit. (2) So wird in Spr 15,33 nach dem Verhältnis von JHWH-Furcht und den Erfahrungen von „Demut“ bzw. „Demütigung“ ( ) ֲענָ וָ הgefragt: מּוסר ֣ ַ יִ ְר ַ ֣את ְי֭הוָ ה „ ָח ְכ ָ ֑מה וְ ִל ְפ ֵנ֖י ָכ ֣בֹוד ֲענָ ָ ֽוה׃Die Furcht JHWHs ist Erziehung zur Weisheit, und vor der Ehre ist Demut.“ (Spr 15,33). JHWH-Furcht ist ein erlerntes Verhalten und Handeln, das als weisheitlich qualifiziert wird, also von bestimmten Lebensprinzipien geleitet wird. Es muss nicht zwangsläufig sofort entsprechende positive Konsequenzen („ ָּכבֹודEhre“) haben, sondern kann vorübergehend auch Deprivation („ ֲענָ וָ הDemut“ bzw. „Demütigung“) nach sich ziehen – so die Konzeption. „Hier wird die Furcht JHWHs direkt mit der Zucht identifiziert und im Horizont der Demut reflektiert; gerade die Debatte um die Demütigen, Armen und Elenden hat in nachexilischer Zeit nicht nur in der Weisheitsliteratur, sondern auch 228 Ganz deutlich wird in Ps 110,10, dass sowohl Gottesfurcht als auch Weisheit etwas ist, was getan werden muss und was sich auf menschliches Handeln bezieht: ׂש ֶכל ֭טֹוב ֣ ֵ הוה ֗ ָ ְאׁשית ָח ְכ ָ֙מה׀ יִ ְר ַ֬את י ֤ ִ ֵ ֘ר יהם ְּ֜ת ִה ָּל ֗תֹו ע ֶ ֹ֥מ ֶדת ָל ַ ֽעד׃ ֑ ֶ „ ְל ָכל־ע ֵֹׂשDer Anfang der Weisheit ist JHWH-Furcht, eine gute Einsicht für alle, die (sie) tun.“ (Ps 110,10). 229 Fuhs 1982, 889–890.
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im Psalter deutliche Spuren hinterlassen und spiegelt offenkundig einen eigenen theologischen Diskurs, der hier mit der Gottesfurchtthematik verbunden wird.“230 Auch angesichts der Mangelerfahrungen wird für JHWH-Furcht und die ethische Orientierung an den Maßstäben der Gerechtigkeit geworben. (3) In Situationen, in denen weder ein bestimmtes negatives Halten sanktioniert werden kann noch sich unmittelbar ein Nutzen des positiv gewerteten Verhaltens einstellt, erfüllt die enge Rückbindung an Gott die Funktion, das (gesellschaftlich) erwünschte Verhalten zu motivieren. Der langfristige Vorteil des G ottesfürchtigen gegenüber dem, der nicht entsprechend handelt, wird aber auch ganz eindeutig behauptet: ּוׁשנ֖ ֹות ְר ָׁש ִ ֣עים ִּת ְק ֽצֹ ְרנָ ה׃ ְ יָמים ֑ ִ ּתֹוסיף ֣ ִ „ יִ ְר ַ ֣את ְי֭הוָ הDie Furcht JHWHs fügt Tage hinzu, die Jahre der Frevler aber werden gekürzt.“ (Spr 10,27; vgl. Spr 14,27; 19,23; 22,4). Das Missachten der Gebote zieht Strafe nach sich (vgl. Spr 13,13). (4) Neben die Reflexion darüber, ob JHWH-Furcht in einer Welt, in der auch der JHWH-Fürchtende Mangel leidet, langfristig zum Erfolg führen kann, tritt die nach der Frage von Gottesfurcht und eigener Schuldhaftigkeit. Diese schließen sich nicht automatisch gegenseitig aus: הוה ֣סּור ֵמ ָ ֽרע׃ ֗ ָ ּוביִ ְר ַ ֥את ְ֜י ְ ְּב ֶ ֣ח ֶסד ֶ֭ו ֱא ֶמת יְ ֻכ ַ ּ֣פר ָעֹו֑ ן „Durch Gnade und Treue wird Schuld gesühnt, und durch JHWH-Furcht weicht man von Bösem.“ (Spr 16,6). Möglich ist, ֱא ֶמתund ֶח ֶסדauf JHWH zu beziehen: Sühne von Schuld ist durch göttliche Gnade möglich,231 dem Menschen ist mit der JHWH-Furcht die Möglichkeit gegeben, sein Verhalten zum Positiven zu ändern. Oder man versteht ֱא ֶמתund ֶח ֶסדhier nicht als Attribute Gottes, sondern als Tun des Menschen, mit dem er für seine eigenen Sünden Sühne erwirken kann, so wie er sich mit gottesfürchtigem Verhalten vom Bösen abwendet. Im Sprüchebuch ist das Konzept der JHWH-Furcht eingebunden in die übergreifende Frage nach der Gestaltung des Lebens. „Es geht eben nicht um ‚Gottesfurcht‘ (EÜ), d. h. um devote Anerkennung einer göttlichen Schöpfungs- und Lebensordnung durch den erkennenden Menschen. Das ist von der Antike an bis zum Beginn der Neuzeit – von wenigen Infragestellungen abgesehen – eine Selbstverständlichkeit. Der Punkt, um den es dem Dichter geht, ist einfach, aber vital: bedeutende Wertesysteme und Gesellschaftsordnungen kollabieren, weniger aus Mangel an Substanz als aus Mangel an Fundierung und Autorität. Allein eine in JHWH fundierte und an seiner Wegweisung orientierte Werte- und Gesellschaftsordnung hat auf Dauer Bestand. JHWHs Wegweisung ist Israel mit der Tora gegeben.“232 Das Sprüchebuch hat eine dezidiert pädagogische Intention und wirbt für ein Leben in weisheitlicher Praxis, die durch die JHWH-Furcht theologisch begründet
230 Saur 2011, 238. 231 Vgl. Sæbø 2012, 227. 232 Fuhs 2001, 42–43 zu Spr 1,7. Vgl. auch: „Wenn JHWH, der ‚Erste‘ und ‚Letzte‘ (Jes 41,4; 44,6; 48;12, vgl. Offb 1,8.67), außer dem es keinen Gott gibt (Jes 44,6), nach 2,5f Geber der Weisheit ist, kann der Ausgangspunkt jeder Erkenntnis nur JHWH-Furcht sein, d. h. Suche nach JHWH (28,5) verbunden mit Sehnsucht und Vertrauen, Liebe und Gehorsam (z. B. 3,3–6; 8,11–13).“ (Fuhs 2001, 43).
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ist. Dabei werden auch die Grenzen der JHWH-Furcht reflektiert, insofern auch der JHWH-Fürchtige mit der Komplexität von Leben und Welt konfrontiert ist. Dieser wird die Orientierung an der göttlichen Weltordnung entgegengesetzt, die sich in der JHWH-Furcht konkretisiert und dauerhaft zu einem guten Ziel führt. (c) Psalmenbuch Dem Konzept der JHWH-Furcht eignen im Psalmenbuch vielfältige Aspekte. Zum einen steht sie im Zusammenhang mit der Frage nach der Lebensgestaltung, nach Orientierung und Weisung. Zum anderen wird mit ihr ein Vertrauensverhältnis umschrieben, das für das betende Ich Basis seiner Hoffnung auf die Überwindung von Notlagen, auf göttliche Gaben, Segen und Vergebung ist. Und schließlich wird im Psalmenbuch die gemeinschaftskonstituierende Kraft der JHWHFurcht reflektiert. (1) Die Psalmen stellen mit der lehr- und lernbaren יִ ְר ַאת יְ הוָ הdie Orientierung am göttlichen Willen in den Vordergrund, im Sinne eines Ausrichtens der eigenen Handlungen an den Wesenseigenschaften und Handlungsoptionen, die JHWH zugeschrieben werden. יִ ְר ַאת יְ הוָ הwird hier verstanden als von Vertrauen getragene Ausrichtung der ethischen Praxis auf JHWH und auf die mit ihm verbundenen Wesensmerkmale der Güte und Gerechtigkeit. Die Unterweisung in JHWH-Furcht kann wie im Sprüchebuch zwischenmenschlich erfolgen (vgl. Ps 34,12), oder sie wird direkt Gott zugeschrieben als Offenbarung seines Willens, wobei die göttlichen Weisungen als Offenbarungsmedien gelten.233 So beschwört das betende Ich von Psalm 25 sein Vertrauen in Gott (vgl. V. 2) und bittet um Unterweisung und Belehrung (vgl. V. 4–5; vgl. Ps 86,11 „um deinen Namen zu fürchten“). JHWHs Güte und Geradheit sind Grund für die Unterweisung ( טֹוב־וְ יָ ָׁשרin V. 8). Heil wird denen verheißen, die seinen Bund und seine Gebote wahren ( ְּב ִרית ֹֹו וְ ֵעד ָֹתיוin V. 10). Schließlich fragt das Ich: הו֑ה ָ ְי־ז֣ה ָ ֭ה ִאיׁש יְ ֵ ֣רא י ֶ ִמ ֹורּנּו ְּב ֶ ֣ד ֶרְך ְיִב ָ ֽחר׃ ֗ ֶ ֜„ יWer denn ist der Mann, der JHWH füchtet? Er unterweist ihn in dem Weg, den er wählen soll.“ (Ps 25,12). JHWH-Furcht ist somit die menschliche Bereitschaft, sich von Gott unterweisen zu lassen und seine Wege zu gehen, sich also an göttlicher Güte und Gerechtigkeit auszurichten. Die JHWH-Fürch-
233 In diesem Zusammenhang unterscheidet Ludger Schwienhorst-Schönberger zwischen dem „Typ der Erfahrungsweisheit“ und dem „Typ der Offenbarungsweisheit“, wobei erstere in letztere integriert worden sei: Auch die durch persönliche Erfahrung erworbene oder gelernte (damit auch gelehrte?) Einsicht sei letztlich eine „Gabe Gottes“. Der Typ der Offenbarungsweisheit rücke (wie sich an den Schriften Spr, Koh, Ijob, Sir, Weish in dieser, ihrer Entstehungsreihenfolge zeigen ließe) immer mehr in den Vordergrund (vgl. Schwienhorst-Schönberger 2012, 114). Weisheit sei Gabe, also Offenbarung Gottes, die Gottesfurcht der Weisheit vorgeordnet: „Einen Zugang zur Weisheit findet der Mensch nur über Gott, über die Gottesfurcht. Gott ist es, der die Menschen Weisheit lehrt ([Ijob] 11,6; 38,36.37). […] Durch Gottesfurcht findet Ijob zur Einsicht.“ […] So wird ihm, dem Gottesfürchtigen, am Ende durch Offenbarung Einsicht (Weisheit) zuteil.“ (Schwienhorst-Schönberger 2012, 133). Allerdings wäre hier der zugrunde gelegte Offenbarungsbegriff, der in Opposition zu Erfahrung bestimmt wird, kritisch zu hinterfragen.
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tenden sind Vertraute JHWHs (vgl. סֹודin V. 14), und JHWHs Bund, seine Beziehung zum Menschen, zeigt sich in der Belehrung der Gottesfüchtigen (vgl. V. 14). Gottesfurcht ist zu lernen, weil Menschen grundsätzlich Einsicht in den göttlichen Willen haben können. Das betende Ich in Psalm 64 klagt wegen seiner Feinde, die das Böse gegen die Unschuldigen planen, sich nicht fürchten und mit keinen negativen Konsequenzen ihres Tuns rechnen, so die Rede der Feinde: „Wer sieht auf sie [= die Schuldlosen]?“ (vgl. V. 6). Angesichts des Gerechtigkeit schaffenden Handelns Gottes, dessen Pfeil die Bösen trifft (vgl. V. 8), fürchten sich die Menschen: ֹלהים ּוֽ ַמ ֲע ֵ ׂ֥שהּו ִה ְׂש ִ ּֽכילּו׃ ִ֗ ל־א ָ ֥דם ַ ֭וּיַ ּגִ ידּו ֥ ֹּפ ַעל ֱא ָ֫ „ וַ ִ ּֽי ְיר ֗אּו ָּכEs fürchteten sich alle Menschen und verkündeten das Tun Gottes, und in sein Werk hatten sie Einsicht.“ (Ps 64,10). Die die göttliche Weltordnung bestimmende Gerechtigkeit Gottes ist für den Menschen erkennbar. Er versteht, dass die Bestrafung der Übeltäter Gerechtigkeit bedeutet. Dass Menschen über den Begriff von Gerechtigkeit verfügen und diese auf Gott zurückführen, macht es ihnen möglich, JHWH-Furcht zu lernen. Neben der Vorstellung der unmittelbaren Einsicht und göttlichen Unterweisung finden sich in Psalm 119 als Offenbarungsmedien zur Handlungsorientierung ּקּודים ִ „ ִּפVorschriften“ (Ps 119,63), „ ֵעד ֹתZeugnisse“ (Ps 119,79) und „ ִמ ְׁש ָּפטRechtsspruch“ (Ps 119,120). JHWH-Furcht und Befolgen der Gebote erscheint dabei als komplementär: ּקּודיָך׃ ֽ ֶ ׁשר יְ ֵר ֑אּוָך ּו֜ ְלׁש ְֹמ ֵ ֗רי ִּפ ֣ ֶ ל־א ֲ „ ָח ֵב֣ר ָ ֭אנִ י ְל ָכFreund bin ich allen denen, die Dich fürchten, und denen, die deine Vorschriften bewahren.“ (Ps 119,63). Im Kontext von Ps 119 referieren die acht Begriffe für Tora nicht auf unwandelbare konkrete Gebote, sondern sie bezeichnen „die durch JHWH jeweils aktuell bewirkte Belehrung über den Sinn und die konkrete Bedeutung seiner Willensoffenbarung. ‚Tora‘ ist hier keine statische, abgeschlossene, sondern eine dynamische, offene Größe.“234 Damit wird JHWH-Furcht in Beziehung gesetzt mit der Orientierung an der Tora als „umfassende und vielgestaltige Ordnungsstruktur der Welt“235, in die sich das betende Ich einordnet.236 (2) Neben diesem eher instruktionstheoretisch ausgerichteten Verständnis von Gottesfurcht, das auf Orientierung im Handeln und ein gelingendes Leben zielt, findet sich komplementär sehr häufig ein Verständnis von „Gottesfurcht“ als Vertrauensverhältnis. Mit dem Konzept der JHWH-Furcht werden so jeweils die theologische und die anthropologische Seite der Offenbarung reflektiert. Dies zeigt sich insbesondere bei der Verwendung von יראim Psalmenbuch.237 Das Verb erscheint mit göttlichem Referenzpunkt im Parallelismus membrorum oder im unmittelbaren Umfeld von „ חסהZuflucht suchen“ (Ps 31,20), יחלpi. „warten auf “ (Ps 33,18) und „ בטחvertrauen“ (Ps 40,4; 115,11). JHWH-Furcht ist dabei entweder
234 Hossfeld/Zenger 2008, 353. 235 Hossfeld/Zenger 2008, 353. 236 Dieses Verständnis von Gottesfurcht, die als Toragehorsam verstanden wird, findet sich v. a. in der späten Weisheit, so auch im zweiten Kohelet-Nachwort: ֹותיו ְׁש ֔מֹור ֣ ָ ת־מ ְצ ִ ֹלהים יְ ָר ֙א וְ ֶא ֤ ִ ת־ה ֱא ָ „ ֶאFürchte Gott und beachte seine Gebote!“ (Koh 12,13) und bei Jesus Sirach (vgl. Sir 1,26–27). 237 Als Beschreibung der subjektiven Angst vor dem Bösem nur in Ps 23,4.
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die Haltung des Vertrauens in einer Notsituation oder Grundlage für Wohlergehen und göttliche Unterstützung. So wünscht sich das betende Ich von Psalm 31 das Scheitern der Frevler, hofft auf Rettung und preist die Zuwendung JHWHs, die er für die bereithält, die von ihm die Wende der Not erbeten: יר ֶ ֥איָך ָ ּ֭פ ַע ְל ָּת ַלח ִ ֹ֣סים ָ ּ֑בְך נֶ֜ ֗גֶ ד ֫ ֵ ר־צ ַ ֪פנְ ָּת ִ ּֽל ָ ב־טּוב ָ֮ך ֲא ֶׁש ְ ָ ֤מה ַ ֽר „ ְּב ֵנ֣י ָא ָדם׃Wie groß ist dein Gutes, das du bewahrst für die, die dich fürchten ()ירא, das du bereitest für die, die bei dir Zuflucht suchen vor den Söhnen des Menschen.“ (Ps 31,20). Es zeigt sich eine Asymmetrie von Subjekt und Objekt von ירא: Gott ist dem Menschen insofern überlegen, als er die Macht hat, Gefahrensituationen zu beenden und Zuflucht zu bieten. Im Zusammenhang der vertrauensvollen Übereignung begibt sich der Mensch in den Machtbereich Gottes, dessen Überlegenheit anerkannt und positiv verstanden wird, da sie die Notsituation wenden kann. יִ ְר ַאת יְ הוָ הumfasst also neben dem richtigen Verhalten und der ethischen Ausrichtung des Handelns auch ein Moment der Übereignung an Gott. Auf göttlicher Seite entspricht dem die gütige Zuwendung. Dazu gehören auch das Anerkennen der eigenen Grenzen und die Einsicht, dass es nicht möglich ist, die eigene, als schlecht erlebte Situation zu verändern. An die Stelle der eigenen Begrenztheit rückt nicht die Verzweiflung, sondern das Vertrauen auf Gottes Güte: ִה ֵּנ֤ה „ ֵע֣ין ְי֭הוָ ה ֶאל־יְ ֵר ָ ֑איו ַ ֽל ְמיַ ֲח ִ ֥לים ְל ַח ְס ּֽדֹו׃Siehe, das Auge JHWHs ist auf die gerichtet, die ihn fürchten, auf die, die auf seine Gnade harren ( יחלpi.).“ (Ps 33,18; vgl. בטחin Ps 40,4; 115,11). Dass sich diese letztlich durchsetzen wird, steht außer Frage: ְרצֹון־ יעם׃ ֽ ֵ יֹוׁש ִ ְת־ׁשוְ ָע ָ ֥תם ִ֜י ְׁש ַ֗מע ו ַ „ יְ ֵר ָ ֥איו יַ ֲע ֶ ׂ֑שה ְ ֽו ֶאDas Verlangen derer, die ihn fürchten, tut er, und ihr Geschrei hört er, und er rettet sie.“ (Ps 145,19). Diese göttliche Überlegenheit wird erfahrbar im Schöpfungshandeln (vgl. Ps 65,6–8), und die darin gründende Hilfe, auf die vertraut wird, ist Grund der Polarität von Furcht und Jubel: ֹוצ ֵאי־ ֖בֹ ֶקר וָ ֶע ֶ֣רב ַּת ְר ִנֽין׃ ֽ ָ וַ ִּי ְ֤יר ֙אּו׀ י ְֹׁש ֵב֣י ְ ֭ק ָצֹות ֵמאֹות ֶ ֹ֑תיָך ֤מ „Es fürchteten sich die Bewohner der Enden vor deinen Zeichen; die Herausgänge von Morgen und Abend lässt du jubeln.“ (Ps 65,9). JHWH-Furcht findet im Jubel ihren konkreten Ausdruck. (3) Die vertrauensvolle Haltung Gott gegenüber kann sich auf die Hoffnung auf eine Wende der Not und Rettung, auf die Beendigung eines negativ erlebten Zustandes (vgl. Ps 34,8) beziehen. JHWH-Furcht steht aber auch in Zusammenhang mit positiven Erfahrungen, die als göttliche Zuwendung gedeutet werden. Umschrieben wird dieses Heilshandeln Gottes am Menschen abstrakt mit ב־טּובָך ְ ַר „Mengen von deinem Guten“ (vgl. Ps 31,20), „ ֶח ֶסדGnade“ (vgl. Ps 33,18; 103,11.17; 118,3; 147,11), „ רחםsich erbarmen“ bzw. „Erbarmen“ (vgl. Ps 103,13), יֵ ַׁשעoder „ ֵע ֶצרHilfe“ (vgl. Ps 85,10; 115,11) und „ ְצ ָד ָקהGerechtigkeit“ (vgl. Ps 103,17) oder konkret mit „ יְ ֻר ָּׁשהEigentum“ (vgl. Ps 61,6), „ ֶט ֶרףSpeise“ (vgl. Ps 111,5)238 und ָמגֵ ן „Schild“ (vgl. Ps 115,11). Möglich ist auch die narrative Einbettung: ָ֨נ ַ ֤ת ָּתה ִּל ֵיר ֶ ֣איָך נֹוסס ִ֜מ ְּפ ֵ֗ני ֣קֹ ֶׁשט ֶ ֽס ָלה׃ ֑ ֵ „ ֵּנ֭ס ְל ִה ְתDu hast denen, die dich fürchten, ein Signal gegeben, damit sie vor dem Bogen fliehen können.“ (Ps 60,6). 238 Die Zuwendung wird hier auch als Zeichen der Bundestreue JHWHs verstanden.
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(4) Gottesfurcht steht auch in Zusammenhang mit dem Segen Gottes. Göttlicher Segen und JHWH-Furcht bedingen sich gegenseitig. So ist die Gottesfurcht – als Zeichen von Dankbarkeit verstanden – die Konsequenz des göttlichen Segenshandelns: י־א ֶרץ׃ ֽ ָ ל־א ְפ ֵס ַ א ֗תֹו ָּכ ֹ ֜ ֹלהים וְ יִ ְֽיר ֥אּו ֑ ִ „ ָיְב ְר ֵ ֥כנּו ֱאEs segne uns Gott, so dass ihn alle Enden der Erde fürchten.“ (Ps 67,8). Gottesfurcht wird diesem Verständnis zufolge also nicht initial vom Menschen geleistet, sondern gründet im Widerfahrnis der Güte Gottes. Umgekehrt sind die, die Gott fürchten, die, die gesegnet werden: ְי ָ֭ב ֵרְך יִ ְר ֵ ֣אי ם־הּגְ ד ִ ֹֽלים׃ ַ הו֑ה ַ֜ה ְּק ַט ִּ֗נים ִע ָ ְ„ יEr segne die, die ihn fürchten, die Kleinen mit den Großen.“ (Ps 115,13). Die Seligpreisung des Gottesfürchtigen (הו֑ה ָ ְי־איׁש יָ ֵ ֣רא ֶאת־י ֭ ִ ַא ְׁש ֵר in Ps 112,1), der sich an den Geboten ( ִמ ְצֹותin V. 1) orientiert, verspricht diesem Wohlstand und Reichtum ( הֹון־וָ ע ֶֹׁשרin V. 3) und beschreibt sein ethisches Tun inhaltlich mit der Unterstützung des Deprivierten: יֹונים ִ֗ „ ִּפ ַּז֤ר׀ ֘ ָנ ַ ֤תן ָל ֶא ְבReichlich gibt er den Bedürftigen.“ (Ps 112,9). Auch Ps 128 verbindet in der Seligpreisung Gottesfurcht, verstanden als gottgemäßes Handeln ( הלך ִּב ְד ָר ָכיוin V. 1), Wohlergehen und göttlichen Segen. Dem JHWH-Fürchtigen wird materieller Genuss seiner Mühen ( אכלin V. 2), reiche Nachkommenschaft (V. 3) und allgemein gelingendes Leben ( וְ טֹוב ָלְךin V. 2) verheißen. V. 4 resümiert werbend für ein Leben in JHWH-Furcht: הוה׃ ֽ ָ ְי־כן יְ ֥בֹ ַרְך ֗ ָּג ֶבר יְ ֵ ֣רא י ֭ ֵ „ ִה ֵּנ֣ה ִכSiehe, so wird der Mann gesegnet sein, der JHWH fürchtet.“ (Ps 128,4). (5) Gottesfurcht resultiert nicht nur aus der Erfahrung glückenden Lebens, sondern steht auch in Zusammenhang mit der göttlichen Reaktion angesichts von menschlicher Schuld. Psalm 130 wird eröffnet mit der Klage des betenden Ichs, es rufe „aus Tiefen“ zu JHWH (V. 1). Die räumliche Distanz zwischen dem Ich und seinem Gott ist metaphorische Umschreibung der Entfremdung durch die existentielle Sündhaftigkeit des Menschen, angesichts derer keiner vor Gott als dem absoluten Guten bestehen kann (V. 3.8). Vergebung findet der Mensch bei Gott: יחה ֜ ְל ַ֗מ ַען ִּתּוָ ֵ ֽרא׃ ֑ ָ י־ע ְּמָך֥ ַה ְּס ִל ִ „ ִ ּֽכBei dir ist Vergebung, so dass du gefürchtet wirst.“ (Ps 130,4). Diese Gottesfurcht kann verstanden werden als „Anerkenntnis und Verehrung JHWHs“239. Die göttliche Vergebung überwältigt den Menschen, da er zu der umfassenden göttlichen Vergebung nicht fähig ist und er sich so der Differenz von Gott und sich selbst bewusst wird. Gleichzeitig erfüllt sie den Menschen mit Vertrauen: „Die Gottesfurcht ist nicht Voraussetzung, sondern umgekehrt Ziel oder Folge der Vergebung. […] Furcht als Folge der Vergebung wird möglich, weil ‚Furcht‘ letztlich Vertrauen meint.“240 In ethischer Hinsicht kommt so als weiterer Aspekt hinzu, dass es gerade die Aussicht auf Vergebung ist, die den Menschen befähigt, JHWH-fürchtig zu handeln.241
239 Hossfeld/Zenger 2008, 572. 240 Schmidt 1966, 247–248. 241 Vgl. auch Kittel 41922, 402: „Es wird darum kaum ein Eintragen moderner Ideen in unseren Text bedeuten, wenn wir – allerdings modern ausgedrückt – den Gedanken in ihm finden, dass die Vergebung stets einen ethischen Zweck verfolgen müsse.“
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Reue und Umkehr angesichts des eigenen Fehlverhaltens werden wiederum als Ausdruck von Gottesfurcht verstanden. Das betende Ich in Psalm 55 beklagt den Verrat durch die, die ihm am nächsten sind. Von ihnen erwartet es keine Einsicht, sondern hofft auf die Wende seiner Situation durch Gott: יפֹות ָל֑מֹו ֣ ֲא ֶ ׁ֤שר ֵ ֣אין ֲח ִל ֹלהים׃ ֽ ִ „ וְ ֖ל ֹא יָ ְר ֣אּו ֱאDenn es ist kein Wechsel (d. h. Umkehr) für sie [= die Gegner des Ichs], und sie fürchten Gott nicht.“ (Ps 55,20). Ihre mangelnde Bereitschaft, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen, wird als fehlende Gottesfurcht gewertet. Die (Wieder-)Ausrichtung auf Gott hingegen wird ermöglicht durch dessen vorausgesetzte Vergebungsbereitschaft.242 (6) „Gottesfurcht“ ist im Psalter nicht nur ein individuelles Verhalten oder eine individuelle Ausrichtung auf Gott, sondern ist gemeinschaftskonstituierend. Bei „ יִ ְר ֵאי יְ הוָ הdie JHWH Fürchtenden“ handelt es sich um eine spezifische Gruppenbezeichnung des Psalmenbuches243, die sich sonst nur in Ex 18,21244 und Mal 3,16.20245 findet. In Ps 15 ist die Achtung und damit Zuordnung zu dieser Gruppe Kriterium für den Zugang zum Berg der Heiligkeit (vgl. Ps 15,4). Zwischen den JHWH Fürchtenden herrscht gegenseitige Verbundenheit (vgl. Ps 119,63.74.79). Die Gemein-
242 Angesichts dieses komplexen Konzepts von ירא יְ הוָ הgreift die Schematisierung Bedingung – Konsequenz in Bezug auf Ps 34 von Nicolaas Herman Ridderbos zu kurz: „Auch der Ausdruck ‚das Fürchten Jahwes‘ spielt in diesem Psalm eine besondere Rolle. Neben ‚gut‘ kann ‚das Fürchten Jahwes‘ als ein Schlüsselwort der Perikope v. 10–15 gelten. V. 8 nennt – man könnte fast sagen: beiläufig – als ‚Bedingung‘ des Gerettet-Werdens das ‚Fürchten Jahwes‘. Im Anschluß daran steht in v. 10 eine kräftige Aufforderung zur Furcht Jahwes. In v. 12–15 erteilt der Dichter Unterricht in der Furcht Jahwes.“ (Ridderbos 1972, 247). 243 Mit 27 Belegen. 244 In Ex 18,21 erscheint die Bezeichnung ֹלהים ִ „ יִ ְר ֵאי ֱאdie Gott fürchten“ gerade nicht als Bezeichnung eines Kollektivs, sondern als Distinktionsmerkmal und Qualifikation für das Amt des „Richters“. Genannt werden als Eignungsbedingungen, die Männer sollen י־חיִ ל ַ „ ַאנְ ֵׁשfähig sein“, ֹלהים ִ יִ ְר ֵאי ֱא „Gott fürchtend sein“ und „ ַאנְ ֵׁשי ֱא ֶמתMänner der Zuverlässigkeit sein“ sowie „ ׂש ֹנְ ֵאי ָב ַצעProfitsucht hassen“. Der inneren persönlichen Fähigkeit bzw. Tugend entspricht die Ausrichtung auf die äußere Größe Gott, nicht den eigenen Gewinn. Auf Gott zu vertrauen bedeutet also eine Haltung und Orientierung an Gott als Inbegriff des Guten. 245 Im Schlusskapitel von Maleachi ist „JHWH-Furcht“ Kriterium der Scheidung am Tag des göttlichen Gerichts (vgl. Kessler 2011a, 266–315). Der anscheinende Erfolg der Frevler führt zur Infragestellung der Sinnhaftigkeit der Orientierung an den göttlichen Anweisungen unter denen, die „JHWH fürchten“ (vgl. Mal 3,14–15). JHWH jedoch hört die Zweifel derer, die ihn fürchten. Um diese und deren Verhalten bestätigen zu können, wird ein Buch zum Gedächtnis der JHWHFürchtenden geschrieben (vgl. Ps 69,29), so dass eschatologisch das rechte Handeln und der Dienst an Gott zu ihrem Recht kommen: ֹלהים ַל ֲא ֶ ׁ֖שר ֥ל ֹא ֲע ָב ֽדֹו׃ ִ֔ יתם ֵ ּ֥בין ַצ ִ ּ֖דיק ְל ָר ָ ׁ֑שע ֵ ּ֚בין ע ֵֹב֣ד ֱא ֶ֔ וְ ַׁש ְב ֶּת ֙ם ְּור ִא „Und ihr werdet wieder (einen Unterschied) sehen zwischen dem Gerechten und dem Frevler, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient.“ (Mal 3,18). Der Gottesfurcht entspricht das Handeln des Gerechten. Hier erscheint „JHWH-Furcht“ also als ethische und praktische Kategorie; der Dienst an Gott ist ein gerechtes Handeln, das im Kontext des Buches Maleachi an die Weisung des Mose rückgebunden wird (vgl. Mal 3,22). In der Konzeption der hochmütigen Siegesgewissheit der „praktischen Atheisten“ zeigen sich Parallelen zu Ps 14 und in der verzweifelten Anfrage derer, deren eigenes gerechtes Handeln in der Welt keine Bestätigung zu erfahren scheint, zu Ps 73.
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schaft ist erfahrbar im gemeinsamen Gotteslob (vgl. Ps 22,24.26). JHWH-Furcht hat also eine sinnlich erfahrbare Ausdrucksseite246 und wird im gemeinsamen Narrativ247 neu konstituiert: ֹלהים ֲא ֶ ׁ֖שר ָע ָ ׂ֣שה ְלנַ ְפ ִ ֽׁשי׃ ֑ ִ ּו־ׁש ְמ ֣עּו ַ ֭ו ֲא ַס ְּפ ָרה ָּכל־יִ ְר ֵ ֣אי ֱא ִ „ ְל ֽכKommt, hört, und ich will erzählen, alle, die Gott fürchten, was er an meiner Nefeš getan hat.“ (Ps 66,16). Die Gruppe derer, die JHWH fürchten, kann identisch mit den Nachkommen Jakobs bzw. Israels sein (vgl. Ps 22,24.26); im Vordergrund steht hier also weniger das ethische Verhalten als Kriterium der Zuordnung, sondern die Vorstellung, dass JHWH der Gott Israels ist. Diese Konzeption ist in anderen Psalmen universal geweitet. So wird explizit ל־ה ָא ֶרץ ָ „ ָּכdie ganze Erde“ (vgl. Ps 33,8; 67,8) aufgefordert, JHWH zu fürchten, bzw. die JHWH-Furcht „ גֹויִ םder Völker“ visionär beschrieben (vgl. Ps 102,16). Als ein solch universaler Begriff fungieren die „JHWH-Fürchtenden“ auch in der Trias „Israel – Aaron – JHWH-Fürchtende“ (vgl. Ps 115,9–11.12– 13; 118,2–4; in Ps 135,19–21 mit Levi statt Aaron).
C Fazit In der Zusammenschau der verschiedenen Vorstellungen und Entfaltungen der Gottesfurcht in den verschiedenen alttestamentlichen Texten wird deutlich, dass diese sowohl buchübergreifende Gemeinsamkeiten, Konvergenzen und Korrelationen als auch textinterne Differenzen aufweisen. So akzentuiert das Dtn JHWH-Furcht als ethischen Begriff im Zusammenhang mit der Vorstellung der Einzigkeit und Universalität JHWHs, der mit Israel einen Bund geschlossen hat. JHWH-Furcht ist lern- und lehrbar und bezieht sich auf die Tora unter mosaischer Mittlerschaft. Das Sprüchebuch konzipiert JHWHFurcht in lebenspraktischer und weisheitlicher Ausrichtung und lotet dabei insbesondere die Grenzen der JHWH-Furcht im Kontext des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und der Frage nach menschlicher Schuld aus. Anders als das Dtn heben die Psalmen die Vorstellung der unmittelbaren Belehrung durch Gott hervor und akzentuieren JHWH-Furcht als Vertrauensverhältnis, das gemeinschaftskonstituierend wirkt. Sie loten sowohl den Grund der JHWH-Furcht, nämlich die göttliche Gnade und Vergebungsbereitschaft, als auch die erhofften Folgen, Wohlergehen und Segen, aus. Dieser Textbefund lässt sich weniger durch ein Entwicklungsmodell erklären. Die unterschiedlichen Konzeptionen der Gottesfurcht lassen sich vielmehr als Stimmen eines gleichzeitigen Diskurses begreifen, in dem gefragt wird, in wel246 Daher auch die Klassifikation von יראals kultischer Begriff. Hier ist jedoch Vorsicht geboten hinsichtlich einer in gattungskritischer Hinsicht engen Lesart. 247 Im Kontext von Ps 66 sind dies sowohl die Erzählung vom Exodus bzw. Meerwunder als kollektive Heilserfahrung, von Chaoskampf und Schöpfung, als auch die individuelle Rettungserfahrung des Ichs (vgl. Hossfeld/Zenger 32007, 224).
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chem Zusammenhang menschliches Handeln und göttlicher Wille zu verstehen sind, bzw. mit dem Begründungsmuster für ethisch akzeptiertes Verhalten geliefert werden sollen.248 Anders als z. B. Ps 25 und 119 bestimmt Ps 34 Gottesfurcht nicht vom Toragehorsam her und setzt sie auch nicht in Beziehung zum Bund mit Israel, sondern akzentuiert sie als Vertrauensverhältnis, das sich in einem ethischen Handeln zeigt, das auf das Tun des Guten und Meiden des Bösen gerichtet ist (V. 14). Während in der deuteronomistischen Konzeption und in der Konzeption der späten Weisheit Gottesfurcht an Toragehorsam gebunden wird (vgl. auch Koh 12,12–14), wird Gottesfurcht in Ps 34 über das Gottesverhältnis bestimmt. Aus diesem folgt die Orientierung am Guten. Die Wiedergabe des hebräischen Lexems יראund seiner Derivate mit dem deutschen Verb „fürchten“ gibt diese komplexe Vorstellung schlecht wieder. Insbesondere die positiv konzipierte Übereignung in ein positiv verstandenes asymmetrisches Verhältnis von Gott und Mensch wird verdeckt.249 Mit dem Lexem „Ehrfurcht“ werden also auch eher negative Konnotationen zum Ausdruck gebracht. Die positiv konnotierte Übereignung in den Machtbereich JHWHs kann besser mit „sich anvertrauen“ oder „vertrauen“ wiedergegeben werden, die ethische Dimension wird mit „sich ausrichten auf “ deutlich. – Ende des Exkurses –
3.4.3.3 Ertrag für die Fragestellung Die V. 5–8 verweisen auf das gemeinschaftskonstituierende Moment einer an JHWH ausgerichteten ethischen Orientierung und einen umfassenden Begriff von Rettung und Heil. Ihre textpragmatische Funktion ist, zu ethischem Handeln zu motivieren. Eine Lektüre im Kontext des Psalters und der hebräischen Bibel zeigt, dass ein auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch gerichteter Blick unabhängig von gattungskritischen Hypothesen ethische Dimensionen von Psalm 34 freizulegen vermag.
248 So auch Saur 2011, 241 mit Rekurs auf Gottesfurchtkonzeptionen in Spr, Ijob und Koh: „Die vorgestellten Texte sind mit einiger Wahrscheinlichkeit erst in nachexilischer Zeit entstanden. Man hat es im Blick auf die skizzierten Gottesfurchtkonzeptionen daher wohl weniger mit einer Entwicklung zu tun, sondern muss mit der Gleichzeitigkeit theologischer Positionen rechnen, die als Wegmarken eines Diskurses gedeutet werden können, innerhalb dessen die unterschiedlichen Trägergruppen ihre jeweils eigenen theologischen Ansätze vertraten und zur Debatte stellten.“ 249 Sprachgeschichtlich gesehen ist auch der Begriff „Ehrfurcht“ für das Deutsche wenig geeignet. Das Wort ist erst spät aufgekommen; beispielsweise findet es sich bei Martin Luther noch nicht. Es entstand aus der Zusammenfügung des Wortes Êra mit Furcht, als Êra die „Vorstellung der Scheu“ nicht mehr hinreichend zum Ausdruck bringen konnte, vgl. DW III, 68.
Auslegung
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3.4.3.3.1 Ethisches Handeln im Kontext der Gottesbeziehung Die formgeschichtlich ausgerichtete Exegese hat vor allem V. 5 als Beschreibung eines Ritualablaufes im Kult verstanden: Das betende Ich sucht das Heiligtum auf, um eine Bitte vor Gott zu bringen; durch den Priester wird ihm die wirkmächtige Antwort JHWHs zuteil, die dem Ich Abhilfe in Bezug auf sein Anliegen bringt. Im Zusammenhang des Einzelpsalms sind die in V. 5–8 geschilderten Rettungserfahrungen für das Ich Anlass, JHWH-Furcht zu lehren (vgl. V. 12). Im Kontext von Ps 34 handelt es sich nicht um die Schilderung eines Rituals. Tempel und Kult spielen in Ps 34 keine Rolle. Der Psalm betont auch nicht wie z. B. Ps 15 und 24, dass Gottesnähe außerkultisch im ethischen Handeln zu erfahren ist. Die ethische Bedeutung der Gottsuche und von JHWH-Furcht wird vielmehr vorausgesetzt und entfaltet, was beides im Zusammenhang der Gott-Mensch-Beziehung bedeutet. Die Gottsuche ist die existentielle Ausrichtung des Menschen auf Gott, die ein Vertrauensverhältnis darstellt und emotionale Momente beinhaltet (vgl. „Sie schauten auf ihn und strahlten.“ in Ps 34,6). Die Suche nach Gott erfolgt in der Erfahrung der Not. Das Ich wendet sich in seiner Not an JHWH, um sich seiner Gegenwart und der Beziehung zu vergewissern. Wenn Ps 34,9 JHWH als „gut“ bestimmt, impliziert die Suche nach ihm auch das Tun des Guten. Das Zeugnis des betenden Ichs von seiner Gottsuche bestätigt die Existenz der göttlichen Weltordnung, die für den, der sich an JHWH ausrichtet, Heil und Rettung bietet. Vor allem die Lektüre von Am 5,14–15 her zeigt, dass die JHWH-Suche auch als Frage nach der Ausrichtung des eigenen Handelns verstanden werden kann. Dabei geht es bei Amos nicht um eine generelle Kultkritik, sondern um „verfehlte[…] Gottsuche bei den Wallfahrten“250. Im Kult wird die Heiligkeit und Nähe Gottes erfahrbar und erlebbar. Nähe zu Gott bedeutet aber zugleich: „sich an Gott und seinen Willen – statt an andere Mächte – halten“251. Wenn bei Amos die Gottsuche und die Suche nach dem Guten identifiziert werden, dann verbirgt sich „hinter diesem Begriff des ‚Guten‘ kein philosophisches System einer Tugendlehre“252, wohl aber eine Absage an Heilsgewissheit unabhängig vom ethischen Tun. 3.4.3.3.2 Ethische Orientierung in der Gemeinschaft Die kollektive Ausrichtung von Psalm 34 ist bereits mit der Redesituation gegeben: Ein Einzelner spricht vor einer Gruppe (in 2. Pl.), der er sich zuordnet (in 1. Pl.).
250 Jeremias 1995, 72. Vgl.: „In Am 5,21 ff wird also nicht die Bedeutung des Gottesdienstes gegen die Bedeutung des Ethos abgewogen und auf diese Weise der Gottesdienst im Vergleich zum Ethos abgewertet, wie die liberale Theologie meinte, sondern einem schuldigen Israel wird gesagt, daß sein Gottesdienst Gott nicht mehr erreicht und insofern zum ‚Dienst an sich selber‘ pervertiert ist […], weil ein Gotteskontakt Israels ohne ‚Recht und Gerechtigkeit‘ (V. 24) unmöglich ist.“ (Jeremias 1995, 79). 251 Jeremias 1995, 66. 252 Jeremias 1995, 71.
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Als dritte Größe wird in V. 3 die Gruppe der ֲענָ וִ יםgenannt und zur Solidarisierung mit ihr aufgerufen. In V. 6 wird der Blick auf ein weiteres Kollektiv gelenkt, dessen Ergehen für die Gedankenentwicklung des zu JHWH-Furcht aufrufenden Psalms ebenfalls von Bedeutung ist. Deutlich wird dies durch die resümierende und generalisierende Aussage in V. 8: Der Bote JHWHs ist Schutz und Rettung für alle JHWH-Fürchtenden. Allen, die sich JHWH zuwenden, wird Heil verheißen. Und die Beziehung zu JHWH verbindet alle die, die zu JHWH in Beziehung stehen, auch untereinander. Die Beziehung zu JHWH hat ethische Implikationen, so die Ausrichtung auf JHWH, die Orientierung am Guten und die Solidarisierung mit den ֲענָ וִ ים. Gottesfurcht ist im Psalmenbuch nie nur eine individuelle Haltung, sondern eingebunden in soziale Beziehung. Im Psalter kann diese Gruppe der JHWHFürchtigen ethnisch in Bezug auf Israel (vgl. Ps 22,24.26) bestimmt werden, sie wird jedoch auch in Bezug auf die ganze Erde (vgl. Ps 33,6; 67,8) und die Völker (vgl. Ps 102;16; 115,9–11.12–13; 118,2–4; 135,19–21) universalisiert. Der IsraelBezug spielt in Ps 34 anders als z. B. in Ps 25, dem Psalm, der die Psalmengruppe Ps 25–34 eröffnet, keine Rolle. Vielmehr ist Ps 34 universal ausgerichtet und bezieht alle, die bei JHWH Zuflucht suchen (V. 23) ein. 3.4.3.3.3 Ein umfassender Begriff von Rettung und Heil Wenn in Psalm 34 von Rettung und Befreiung die Rede ist, sind die verwendeten Lexeme für das göttliche Rettungshandeln ( נצלhi. in V. 5; in ישעhi. V. 7 und חלץ hi. in V. 8) und für die Notsituation (גֹורה ָ ְמin V. 5; ָצ ָרהin V. 7) so bedeutungsofffen, dass jede Situation, die Menschen als beeinträchtigend erfahren (physisches oder psychisches Leiden, Gefahr, Gewalt, soziale Benachteiligung), gemeint sein kann. Mit der Rede von Beschämung wird auf soziale Herabwürdigung als Folge ethisch negativ gewerteten Verhaltens angespielt. In der Bitte, die Feinde mögen beschämt werden, drückt sich der Wunsch nach Sanktionierung unethischen Verhaltens und damit nach Gerechtigkeit aus. Mit dem Lexem הפרwird im Psalter auch auf das eigene Verhalten verweisen, das ethisch fragwürdig ist (vgl. Ps 35,4.26; 40,15; 71,24). Die Formulierung in in Ps 34,6b „ihre Gesichter mussten nicht beschämt sein ( “)הפרlegt nahe, dass auch Formen der Beeinträchtigung der Lebenssituation gemeint sein können, die nicht von außen auferlegt sind, sondern im Inneren des Menschen begründet liegen. In Ps 34 ist damit auch der Aspekt der Rettung des Menschen angesprochen, der sich aus der Verstrickung in Schuld zu JHWH hinwendet und Vergebung erfährt. Die Rede von Rettung und Heil bezieht sich in Ps 34 also sowohl auf konkrete Notsituationen als auch auf Erlösung aus Schuld. 3.4.3.3.4 Die Motivation ethischen Handelns Mit ihren Beispielen und der allgemeinen Aussage über göttliches Rettungshandeln haben die V. 5–8 die textpragmatische Funktion, auch angesichts gegentei-
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liger Erfahrungen an der Ausrichtung des Handelns an der Güte Gottes und in Solidarität mit dem Armen festzuhalten. Bezeugt wird der Gedanke der von Gottes Gerechtigkeit bestimmten göttlichen Weltordnung, die für die, die sich JHWH zuwenden, Heil bereithält. Insofern dienen die Rettungserzählungen auch der Selbstvergewisserung der ethischen Orientierung. Wer sich und sein Handeln an JHWH ausrichtet, dem wird es gut ergehen – auch wenn die gegenwärtig erfahrene Welt anders ist. Im Zusammenhang des Psalms begründen die Erzählungen von der JHWHFurcht, die zu Rettung führt, die Unterweisung in JHWH-Furcht durch das betende Ich und motivieren so seine Zuhörer, seine Lehre anzunehmen. 3.4.3.3.5 Die ethische Relevanz für den Leser Die Welt des Textes von Psalm 34 nimmt den Leser bzw. Beter in die Vorstellung der Gottsuche als existentielle Ausrichtung des Menschen auf Gott, die die Frage nach dem menschlichen Tun umfasst, hinein. Sie fordert ihn heraus, sein Handeln in Zusammenhang mit der Vorstellung einer göttlichen Weltordnung zu sehen und über das Verhältnis von Gottsuche und Streben nach dem Guten zu reflektieren. Wieder ist es die Rede in der 1. Person, die es dem Leser bzw. Beter ermöglicht, die eigene Lebensgeschichte als Gottsuche zu verstehen. Dem Leser, der mit biblischen Konzepten, die sich von Ps 15,2–5 und 24,3–6 und Am 5,14–15 ergeben, vertraut ist, erschließt sich die Suche nach Gott als ein Unterfangen, das die eigene ethische Ausrichtung umfasst. Das betende Ich bezeugt eine Gottesbeziehung, die auch in Ängsten und Bedrängnissen trägt, und es steht für die Gewissheit der Rettung durch Gott ein, der sich den Bedürftigen zuwendet. Damit bestätigt das Ich die Weltordnung, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Wieder ist der Leser bzw. Beter mit dem material-ethischen Angebot der Sorge um die Bedürftigen konfrontiert. Die Offenheit des Psalms ermöglicht, ihn auf unterschiedlichste Situationen von Beeinträchtigung zu beziehen. Göttliche Rettung wird unabhängig von den Ursachen der Bedrängnis, die auch in der eigenen Schuld gründen kann, verheißen. Diese Sicht auf den Umgang mit Schuld und Leid übernimmt der Leser von Psalm 34 probeweise und muss sie in Zusammenhang mit seiner eigenen ethischen Verantwortung setzen.
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3.4.4 Aufforderung zu JHWH-Furcht und Unterweisung (Vers 9–15) 3.4.4.1 Vers 9–15: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms
הו֑ה ָ ְי־טֹוב י ֣ ַט ֲע ֣מּו ּו ְ֭ראּו ִּכ ה־ּבֹו׃ ֽ ַ ֽא ְׁש ֵ ֥רי ַ֜ה ֗ ֶּג ֶבר יֶ ֱח ֶס
9a ט b
הו֣ה ְקד ָ ֹׁ֑שיו ָ ְ יְ ֣ראּו ֶאת־י10a י י־אין ַ֜מ ְח ֗סֹור ִל ֵיר ָ ֽאיו׃ ֥ ֵ ִּכ b ּ ְ ּ֭כ ִפ ִירים ָר ׁ֣שּו וְ ָר ֵ ֑עבּו11a כ ל־טֹוב׃ ֽ הוה לֹא־יַ ְח ְס ֥רּו ָכ ֗ ָ וְ ד ְֹר ֵ ׁ֥שי ְ֜י b עּו־לי ֑ ִ כּו־בנִ ים ִׁש ְמ ֭ ָ ְ ֽל12a ל הוה ֲא ַל ֶּמ ְד ֶ ֽכם׃ ֗ ָ יִ ְ�ֽר ַ ֥את ְ֜י b י־ה ִאיׁש ֶה ָח ֵפ֣ץ ַח ִּי֑ים ֭ ָ ִ ֽמ13a מ א ֵ ֹ֥הב ָ֜י ִ֗מים ִל ְר ֥אֹות ֽטֹוב׃ b נְ ֣צֹר ְלׁשֹונְ ָך֣ ֵמ ָ ֑רע14a נ ׃ּו֜ ְׂש ָפ ֶ֗תיָך ִמ ַּד ֵ ּ֥בר ִמ ְר ָ ֽמה b ה־טֹוב ֑ ֣סּור ֵ ֭מ ָרע וַ ֲע ֵׂש15a ס ַּב ֵ ּ֖קׁש ָׁש ֣לֹום וְ ָר ְד ֵ ֽפהּו׃ b
Versteht und seht, dass JHWH gut ist. / Glücklich (ist) der Mann, der bei ihm Zuflucht sucht. Fürchtet JHWH, seine Heiligen, / denn es ist kein Mangel für die, die ihn fürchten. Junglöwen darben, und sie sind hungrig, / aber denen, die JHWH suchen, mangelt es nicht an allem Guten. Kommt, Kinder, hört auf mich. / JHWH-Furcht will ich euch lehren. Wer ist der Mensch, der am Leben Wohl gefallen hat, / der Tage liebt, um Gutes zu sehen? Bewahre deine Zunge vor Bösem / und Deine Lippen davor, Trügerisches zu reden. Weiche von Bösem und tue Gutes. / Strebe nach Šalom und jage ihm nach.
Die JHWH zugeschriebene Rettung aus Unheilssituationen (V. 5–8) ist Grund für die sich anschließenden Aufrufe, sich JHWH zuzuwenden und das Gute zu tun (V. 9–15). Für den Abschnitt lässt sich beobachten, dass er zum einen eine Vielzahl an Verknüpfungsleistungen erfüllt. So ist er mit der biographischen Notiz in V. 1 über das Lexem טעםverbunden. Formal bestehen durch die Imperative und inhaltlich über die angesprochenen Kollektive Bezüge zu den vorangehenden Abschnitten V. 2–4.5–8. Durch die Opposition von Gut und Böse ergibt sich eine Verbindung zu dem folgenden Abschnitt V. 16–23. Der Abschnitt V. 9–15 beinhaltet zum anderen den zentralen Mittelvers ל, der formal die Mitte des Alphabets darstellt, so auch das Herzstück des Psalms bezeichnet und inhaltlich als selbstreflexive Meta-Kommunikation die Funktion des Psalms als Ganzen zur Sprache bringt: Das Gebet zu JHWH in der Gemeinschaft dient der Orientierung des Kollektivs und bietet eine ethische Selbstvergewisserung in Bezug auf die Bedeutung der JHWH-Furcht für die Lebensgestaltung. Der erste Imperativ ַט ֲעמּוin V. 9a leistet die Verknüpfung von Psalmkorpus und biographischer Notiz zur Situierung im Leben Davids in V. 1. In entstehungsge-
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schichtlicher Hinsicht könnte das Lexem טעםder Anlass gewesen sein, die Stichwortverknüpfung zu 1 Sam 23,1–13 herzustellen.253 Weitere Imperative (9a.10a.12a. in 2. Pl.; 14a.15.a.b in 2. Sg.) dominieren den Abschnitt V. 9–15 und schließen so an den Abschnitt V. 2–4 an. Wieder richtet sich das betende Ich an sein Publikum, das mit den Vokativen „ ְקד ָֹׁשיוseine Heiligen“ (V. 10a) und „ ָּבנִ יםKinder“ (V. 12a) angesprochen wird. Als weitere kollektive Gruppen erscheinen „ יְ ֵר ָאיוdie ihn Fürchtenden“ (V. 10b) und „ ד ְֹר ֵׁשי יְ הוָ הdie JHWH Suchenden“ (V. 11b), so dass lexematisch und konzeptuell an den Abschnitt V. 5–8 mit dem Selbstbericht der JHWH-Suche ( ָּד ַר ְׁש ִּתי ֶאת־יְ הוָ הin V. 5a) und der Rettungszusage an „ יְ ֵר ָאיוdie ihn Fürchtenden“ (V. 8a) angeknüpft wird. Auch wenn in V. 14a–15b Imperative in der 2. Person Singular stehen, wirken diese nicht abschnittstrennend: Die letzten beiden pluralischen Imperative עּו־לי ִ כּו־בנִ ים ִׁש ְמ ָ ְל „Kommt, Kinder, hört auf mich“ (V. 12a) leiten die Unterweisung des Publikums durch das betende Ich ein, die in der 2. Person Singular formuliert und so an jeden Einzelnen gerichtet ist. Der Wechsel von der Anrede im Plural zum Singular ergibt sich durch die Frage ־ה ִאיׁש ָ ( ִמV. 13) als dynamischer Übergang. Die Frage richtet sich an das Kollektiv der ָּבנִ ים, spricht aber den Einzelnen an. Insofern besteht ein enger Zusammenhang von V. 9a–12b und 13a–15a. Der Abschnitt V. 9–15 weist bestimmte Leitwörter bzw. ihn prägende Wortfelder auf. Auffällig ist der vierfache Gebrauch des Lexems „ טֹובgut“ (V. 9a.11b.13a.15a), dessen Bedeutung zu untersuchen ist, und seines Antonyms „ ַרעböse“ (V. 14a.15a). Inhaltlich ist der Abschnitt von der Frage nach glückendem Leben und Wohlergehen bestimmt. Zweites Leitwort ist der Gottesname. So wird JHWH als „ טֹובgut“ prädiziert, und er ist viermal Objekt menschlichen Strebens ( ירא ֶאת־יְ הוָ הin V. 10a, sub stantivisch formuliert als יִ ְר ַאת יְ הוָ הin V. 12b; דרׁש יְ הוָ הin V. 11a; mit Referenz des ePP חסה ּבֹוin V. 9b). Alle Verben bezeichnen dabei die Hinwendung zu JHWH. Die thematischen Leitwörter verbinden den Abschnitt wiederum mit den vorausgehenden Teilen. So beschreibt auch der Abschnitt V. 5–8 die Orientierung an JHWH ( דרׁשin V. 5a; נבטhi. in V. 6a; קראin V.7a; יראin V. 8a). Abschnitt V. 16–23 thematisiert wiederum das Verhältnis von JHWH zum Gerechten und zu denen, die Böses tun ( ע ֵֹׂשי ָרעin V. 17a), die Frage nach dem Bösen, das dem Gerechten widerfährt ( ַרּבֹות ָרעֹותin V. 20a), und den Zusammenhang von Bösem und Ergehen des Frevlers (מֹותת ָר ָׁשע ָר ָעה ֵ ְּתin V. 22a). Deutlich wird durch diese Vernetzungen nach vorne und nach hinten, dass die Unterweisung – mit dem Schlüsselvers ל – das zentrale Anliegen des Psalms ist. Aus den Rettungserfahrungen resultiert die Selbstbindung an JHWH, die zu gelingendem Leben führt und die aus der Per spektive des Ichs jedem als Möglichkeit offenstehen muss. Deshalb wendet es sich an sein Publikum. Abschnitt V. 16–23 bietet – abgesehen von dem textkritischen Problem der ( ְכ ִפ ִיריםLXX πλούσιοι) – wenig offene Fragen. Grammatik und Verbalsyntax sind 253 Vgl. Kleer 1996, 92.
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klar. Der Numeruswechsel der Imperative ist durch die individuelle Anrede der Unterwiesenen erklärbar. Ausgelotet werden muss die semantische Tiefe der relativ offenen Lexeme.
3.4.4.2 Vers 9–15: Literarische Kontexte 3.4.4.2.1 Wahrnehmen und Erkennen der Güte Gottes (V. 9) 1. טעםund ראה – „schmecken“ und „sehen“: Sinnliche und intellektuelle Gotteswahrnehmung
Mehrheitlich wird bei der Kommentierung von Psalm 34 die sinnliche Qualität des Zugangs zum Göttlichen hervorgehoben, und die beiden Imperative ַט ֲעמּו ְּוראּו in V. 9 werden mit „schmeckt und seht“ oder auch „fühlt und seht“ oder „kostet und seht“254 übersetzt. Zunächst soll aufgezeigt werden, in welcher Tradition diese Übersetzung bzw. Auslegung gründet; in einem zweiten Schritt wird vor allem das seltenere Verb טעםeiner semantischen Analyse unterzogen. (1) Die gängigen Übersetzungen und Auslegungen, die die Sinnlichkeit des Zugangs zu Gott hervorheben, stehen in der Tradition der Vg, Psalmi iuxta LXX, die „Gustate et videte quoniam suavis est Dominus.“ (Vg Ps 33,9) liest und somit nicht nur טעםals Verb der sinnlichen Wahrnehmung versteht, sondern auch die Attribuierung Gottes als Verweis auf einen sinnenhaften Zugang zu Gott liest. Die Übersetzung von טֹובmit suavis rührt wiederum von Ps 135 her: „Laudate Dominum quia bonus ( )טֹובDominus, psallite nomini eius quoniam suave ()נָ ִעים. „Lobt JH, denn gut ist JHWH, / spielt seinem Namen, denn er ist süß.“ (MT Ps 135,3/Vg, Psalmi iuxta LXX 134,3). Ausgehend von dem Parallelismus – נָ ִעים טֹובin Ps 135 im masoretischen Text werden bonus und suavis als Synonyme aufgefasst, so dass in Vg Ps 33,9 טֹובmit suavis übersetzt werden kann.
254 Seybold 1996, 140. Dahood 1965, 206 weist jede andere Lesart vehement zurück: „Failure to grasp the nature of the metaphor has led La Bible de la Pléiade, II, p. 960, to render ṭa‘amū, which really means ‚taste, savor!‘ by constatez, a dubious translation.“ Er nimmt auch für den zweiten Imperativ eine konkrete Bedeutung an und argumentiert ְראּוsei von der Wurzel ירא2 bzw. ירה2 abzuleiten, deren Bedeutung von Spr 11,25 zu erschließen ist: „Wer tränkt ()רוה, wird auch selbst getränkt (ירא2).“ (vgl. auch Jes 53,11; Ijob 10,15). Daher übersetzt er: „Taste and drink deeply, for Yahweh is sweet.“ טֹובmit „süß“ zu übersetzen, rechtfertigt er mit Hld 1,2: „Süßer ( )טֹובals Wein ist deine Liebe.“ und bleibt damit im Bildfeld des Trinkens (s. o. zur Übersetzung von Ps 34). Historisierend konkretisiert Oeming 2000, 196 den Vers vor dem Hintergrund eines mutmaßlichen Sitzes im Leben des Psalms: „V. 9 spielt auf die Speisen an, die im Rahmen einer Dankfeier im gemeinschaftlichen Freudenmahl verzehrt werden.“ So auch Gerstenberger 1991, 148. Ganz anders hingegen Duhm 1922, 137: „,Schmecken‘ so viel wie deutlich wahrnehmen, urteilen, hier neben ְראּוwie bei Jer ְּדעּו.“
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Vor diesem Hintergrund wird die konkrete Bedeutung von „ טעםschmecken“ als Metapher für die Gottesbegegnung gelesen, so dass die Erfahrungsdimension betont wird: „To taste that the Lord is sweet is […] more than simply be able to see, to be in possession of knowledge about God. Rather, to taste (sapere) is, first and foremost, to have experience (experientia) of God’s wisdom (sapientia).“255 In dieser Lesart verweisen für Ysabel De Andia die Verben טעםund ראהauf zwei verschiedene Zugänge zu Gott: „‚Goûter‘ et ‚voir‘ la bonté du Seigneur suppose une autre approche de la bonté que l’approche philosophique ou théologique, elle fait appel aux sens spirituels de la vue et plus particulièrement du goût car la bonté est une chose ‚excellente‘ qu’il faut savourer longuement.“256 Grund für die Möglichkeit dieser Zugänge sei, dass Gott im Inneren des Menschen gegenwärtig ist: „Les effets de cette ‚dégustation‘ de la saveur divine sont, selon le verset du psaume 33,9, la certitude intellecutelle à laquelle correspond le verbe ‚videte‘ et la sécurité affective (securitas affectus) de celui qui a goûté Dieu: ‚gustate‘, qui apporte une satisfaction de tout l’être.“257 (2) Eine semantische Analyse der Wurzel טעםin der hebräischen Bibel zeigt, dass diese sowohl konkret als auch abstrakt gebraucht werden kann. Ausgehend von der sinnlichen Bedeutung kommt es zu einer semantischen Verschiebung zu einem Verb des Erkennens und Verstehens. So findet sich zum einen der konkrete Gebrauch analog zu ( אכלvgl. 1 Sam 14,24.29.43; 2 Sam 3,35; Jon 3,7), wo טעםein direktes Objekt (z. B. „ ֶל ֶחםBrot“ in 1 Sam 14,24) mit sich führen kann.258 Das zugehörige Substantiv ַט ַעםbeschreibt eine Eigenschaft einer Speise. In Bezug auf das Manna in der Wüste wird gesagt: וְ ָה ָי֣ה ַט ְע ֔מֹו ְּכ ַ ֖ט ַעם ְל ַ ׁ֥שד ַה ָ ּֽׁש ֶמן׃ „Und sein Geschmack war wie der Geschmack von Kuchen aus Öl.“ (Num 11,8; vgl. Ex 16,31). In Jer 48,11 steht das Substantiv ַט ַעםparallel zu „ ֵר ַיחGeruch“; in Ijob 6,6 ist es Gegensatz zu „ ָּת ֵפלungesalzen/geschmacklos“. Ähnlich kann das Verb טעםauch ein prüfendes Essen im Sinn von „schmecken“ bezeichnen, das ein Vermögen beschreibt: „Kann ich ( )ידעzu unterscheiden zwischen gut und böse () ֵּבין־טֹוב ְל ָרע, oder schmeckt ( )טעםdein Knecht, was er isst und was er trinkt?“ (2 Sam 19,36). Sinnliches Erfahren und intellektuelles Bewerten können auch verbunden werden: „Weiß das Ohr ein Wort zu prüfen ()בחן und der Gaumen ein Essen zu kosten ( )טעםfür sich?“ (Ijob 12,11, vgl. Ijob 34,3). Dieses spezifische Unterscheiden in Bezug auf Nahrung bedingt zum anderen den generellen Gebrauch von טעםals Verb des Erkennens und Verstehens, so in der narrativen Tradition, auf die sich Ps 34,1 bezieht: „David verstellte seinen Verstand ( ) ַט ַעםin ihren Augen.“ (1 Sam 21,14). In derselben Bedeutung erscheint טעםin der Erzählung von Abigail in 1 Sam 25 und in der weisheitlichen Tradition. 255 Fulton 2006, 192. 256 De Andia 2008, 27. 257 So die Wiedergabe des Psalmenkommentars von Thomas von Aquin bei: De Andia 2008, 31. 258 In dieser konkreten Bedeutung bezieht sich das abgeleitete Substantiv ַמ ְט ָע ִמםauf die „Leckerbissen“, die Isaak von Esau zu essen erbittet (vgl. Gen 27,4.7.9.14.17.31 und auch Spr 23,3.6).
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Auch Abigajil, die als ת־ׂש ֶכל ֶ טֹוב ַ „gut an Verstand“ (1 Sam 25,3) eingeführt wird und die einer der Jungknechte auffordert: „Und jetzt: Erkenne ( )ידעund sieh, was du tun kannst.“ (1 Sam 25,17), wird für ihre Klugheit gepriesen: ּוברּוְך ַט ְע ֵמְך ָ „Gepriesen sei dein Verstand!“ (1 Sam 25,33). Abigajil selbst deutet ihr Vorgehen als Handeln JHWHs: „JHWH hat dich davor bewahrt, in Blutschuld zu kommen.“ (1 Sam 25,26). Insofern kann man davon sprechen, dass „die menschliche Klugheit und Urteilskraft grundsätzlich als göttliche Gabe eingestuft [wird], die JHWH zur Durchsetzung seines Planes schenken und wirksam werden lassen (1 Sam 25,33), die er aber auch wiederum den Verständigen entziehen kann (vgl. Hi 12,20)“259. Diese Bedeutung von ַט ַעםfindet sich vor allem in weisheitlichen Texten. In Ps 119 wird ַט ַעםparallel zu „ ַּד ַעתErkenntnis“ verwendet: ֤טּוב ַ ֣ט ַעם וָ ַ ֣ד ַעת ַל ְּמ ֵ ֑דנִ י ִ ּ֖כי ֹותיָך ֶה ֱא ָ ֽמנְ ִּתי׃ ֣ ֶ „ ְב ִמ ְצDas Gut des Verstehens und der Erkenntnis lehre mich, denn ich vertraue deinen Geboten.“ (Ps 119,66). Im Kontext dieser Bitte wird für das Gute, das JHWH an dem Ich getan hat, gedankt (vgl. Ps 119,65) und in direkter Anrede über JHWH gesagt: ּומ ִ֗טיב ַל ְּמ ֵ ֥דנִ י ֻח ֶ ּֽקיָך׃ ֵ טֹוב־א ָ ּ֥תה ַ „Du bist gut und tust Gutes. Lehre mich deine Ordnungen.“ (Ps 119,67). Das erbetene Verstehen und Wissen bezieht sich auf die Orientierung an der Tora JHWHs und auf ihre lebenspraktischen Konsequenzen. Die Ausrichtung auf den göttlichen Willen wird als ein erstrebenswertes Gut konzipiert, das der Mensch zu erkennen hat, und mit der Güte JHWHs und JHWHs gutem Handeln begründet. Weil Gott als gut erfahren wird, nicht damit Gott sich gut zeigt, will das betende Ich entsprechend handeln. Diese lebenspraktische Konnotation von ַט ַעםzeigt auch Ijob 12,20. Als unverständliches Handeln Gottes wird angeklagt: „Er entzieht das Sprechen den Bewährten, und Alten nimmt er Urteilskraft () ַט ַעם.“ (Ijob 12,20). Wie „ ָח ְכ ָמהWeisheit“ kommt „ ַט ַעםUrteilskraft“ dem Alter zu, sie basiert auf Erfahrung und ist auf das Handeln ausgerichtet.260 In Spr 31,18 wird – wie auch in Ps 34,9 – der Inhalt des Verstehens mit ִּכיeingeführt und über die tüchtige Frau gesagt: „Sie versteht ()טעם, dass ( ) ִּכיihr Erwerb gut ist, nachts erlischt ihre Lampe nicht.“ (Spr 31,18). Im Kontext der weisheitlichen Verwendung legt sich für Ps 34,9 nahe, die Aufforderung ַט ֲעמּוauch intellektuell-lebenspraktisch zu verstehen. Der Imperativ von טעםkann so mit einer abstrakteren Bedeutung in Bezug auf die Nähe des rettenden Gottes gelesen werden, wobei eine Verbindung von Theologie, Erfahrung und Verhalten gegeben ist. Das Gute konstituiert das, was Leben lebenswert macht. Es ist auf JHWH zurückzuführen, d. h. JHWH ist als Urheber des Guten zu erkennen. Das Gute zu tun ist dann eine Frage des richtigen Verhältnisses zu JHWH. Wer das Gute tut, wird Gutes erfahren.261 So auch Samson Raphael Hirsch: „Versucht
259 Schüpphaus 1982, 371. 260 Als positive Tugend, aber unabhängig vom Alter auch in Spr 11,22: „Ein Ring aus Gold in der Nase eines Schweins, so ist eine Frau, schön, aber Verstand ( ) ַט ַעםentbehrend.“ und in Spr 26,16 als Gegenbegriff zu „faul“: „Weiser ist der Faule in seinen Augen als sieben, die mit Verstand () ַט ַעם antworten.“ 261 Vgl. Goldingay 2006, 480.
Auslegung
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es doch, und erprobt es aus Erfahrung, wie gut Gott ist, und wie der immer zum Heil fortschreitet, der in Ihn seine Zuversicht hat.“262 Für die Auslegung von Psalm 34 bedeutet dies: Von V. 1 her, der das von טעםabgeleitete abstrakte Substantiv verwendet („als er seinen Verstand ( ) ַט ְעמֹוverstellte“), kann man auch für טעםin V. 9 das abstrakte Verständnis als Verb des Verstehens annehmen. Liest man V. 9 als Fortführung von V. 5–8, dann bezieht sich die Aufforderung ַט ֲעמּו ְּוראּו ִּכי־טֹוב יְ הוָ הdarauf, Erfahrungen von Rettung und Heil als Gotteserfahrung zu verstehen. Mit dem Verb טעם wird die Erfahrungsdimension der Güte Gottes und die intellektuelle Erkenntnis des Erfahrenen als in Gott selbst gründend bezeichnet. In Verbindung mit V. 11: „Junglöwen darben, und sie sind hungrig, aber denen, die JHWH suchen, mangelt es nicht an allem Guten.“ tritt hingegen die konkrete Bedeutung von טעםhervor. Im Bild der materiellen Versorgung, des Essens und Schmeckens erschließt sich die Güte JHWHs. Analog zu dem Lexem טעםhat das Verb „ ראהsehen“ nicht nur die konkrete Bedeutung „wahrnehmen mit den Augen“, sondern bezeichnet wird wie mit טעם auch ein prüfendes Betrachten und Erkennen,263 so wie auch an prominenter Stelle in Gen 1: י־טֹוב׃ ֽ ֹלהים ִּכ ֖ ִ „ וַ ַּי ְ�֥רא ֱאUnd Gott sah/befand, dass (es) gut (war).“ (Gen 1,10 u. ö.). Die Analyse hat gezeigt, dass es richtig ist, die sinnliche Bedeutungsdimension der Verben טעםund ראהund des Adjektivs טֹובhervorzuheben. Dies sollte jedoch nicht in Opposition und unter Ausschluss der intellektuell-reflexiven Ebene erfolgen, die vor allem im Zusammenhang des Selbstverständnisses von Ps 34 als Unterweisung von Bedeutung ist. Die erfahrene Güte Gottes und Rettung durch ihn müssen als solche erkannt und gedeutet werden. Zu dieser Erkenntnis führen die Rettungserzählungen und die Lehre anderer Menschen. 2. טֹוב – „gut“: Bekenntnis zur Güte Gottes Mit „gut“ טֹובwird die Funktionalität und Zweckmäßigkeit des Referenzobjektes ausgedrückt. Inhalt der Aufforderung in Ps 34,9 ist also nicht die Gottesschau (Gott ist nicht Objekt des Sehens), sondern ein sinnliches und intellektuelles Erkennen, wie Gott ist. Zwar ist an der Oberfläche keine Bezugsgröße, „für wen“ JHWH gut ist, genannt, aber im Kontext des Psalms und des Psalters wird deutlich, dass die „Güte“ Gottes sich in seinem Gut-Sein für das menschliche Gegenüber zeigt. Damit
262 Hirsch 1995, 190. Für ihn ist der Gebrauch von טעםin V. 1 der hermeneutische Schlüssel des Psalms: Das Verb bezeichnet „das geistige Vermögen, die Dinge und Verhältnisse nach ihrer Wahrheit und ihren Beziehungen zu dem Geziemenden und Nichtgeziemenden zu erkennen und zu beurteilen, daher: Einsicht, Verständnis und Urteil“, der Psalm wolle also die von David „gemachte Erfahrung, den Weg zum Heil weisend, zum Gemeingut aller Menschen machen. […] Zu dieser Tiefe aus glanzvollster Höhe gestürzt, spricht David die bedeutsamen, Lebensweisheit lehrenden Wahrheiten aus“ (Hirsch 1995, 187). 263 Vgl. Vetter 62004, 693–694.
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handelt es sich weniger um eine Wesensaussage als um eine Beziehungsaussage, die ethische Implikationen hat. Im Folgenden soll untersucht werden, wer im Kontext des Psalmenbuches erstens als Adressat der Güte Gottes genannt wird, worin diese zweitens besteht, wie drittens der Mensch auf die Güte Gottes reagiert und viertens, welche Konsequenzen die Güte Gottes für das Tun des Menschen hat. An fünfter Stelle erfolgt eine Auswertung und Zusammenfassung. (1) Im Psalter werden die Adressaten der Güte Gottes ethnisch, ethisch oder universal bestimmt. Deutlich wird ein Diskurs darüber, wer zu der Gruppe derer gehört, zu denen JHWH „gut“ ist. So wird in Psalm 73 zunächst von der Güte Gottes gesagt, dass sie sich auf Israel bezieht: ֹלהים ְל ָב ֵ ֥רי ֵל ָ ֽבב׃ ִ֗ „ ַ ֤אְך ֭טֹוב ְליִ ְׂש ָר ֵ ֥אל ֱאFürwahr, gut ist Gott für Israel, für die, die reinen Herzens sind.“ (Ps 73,1). Im ersten Halbsatz wird die Güte Gottes an eine ethnische Größe gebunden – es sei denn, man spiritualisiert „Israel“.264 Dieser Vorstellung entsprechend ist die Güte Gottes an sein Volk gebunden. Im zweiten Halbsatz von Ps 73,1 tritt als weiteres Kriterium hinzu, dass die Empfänger der Güte Gottes die Menschen reinen Herzens sind, also die, deren Lebensführung tadellos ist. Damit werden die Adressaten der göttlichen Güte ethisch bestimmt und nicht mehr allein auf Israel begrenzt. Völlig entgrenzt und losgelöst von der Frage nach menschlicher Schuld wird die Aussage über die Güte JHWHs am Ende des Psalters. Hier erscheint die Güte Gottes in Beziehung zu seinem universalen Erbarmen: ל־ּכל־ ָ הו֥ה ַל ּ֑כֹל ְ ֜ו ַר ֲח ָ֗מיו ַע ָ ְטֹוב־י „ ַמ ֲע ָ ֽׂשיו׃Gut ist JHWH für alle, und seine Barmherzigkeit ist über allen seinen Werken.“ (Ps 145,9). Zwar ergibt sich aus der Güte Gottes die Notwendigkeit für den Menschen, gut zu handeln, im Fall seines Scheiterns an der ethischen Verantwortung wird ihm jedoch die Gnade Gottes zugesagt. Die Güte Gottes wird hier also universal verstanden. (2) Im Hinblick auf die Frage, worin sich die Güte Gottes für den Menschen zeigt, ergeben sich verschiedene Akzentuierungen im Psalmenbuch. Hervorge-
264 Seit dem 19. Jh. ist in der Auslegungsgeschichte das Bestreben zu beobachten, entgegen den alten Versionen (LXX 72,1 ἀγαθὸς τῷ Ισραηλ ὁ θεός) statt „ ְליִ ְׂש ָר ֵאלfür Israel“ mit anderer Vokalisierung und durch Ziehen einer Wortgrenze „ טֹוב ַלּיָ ָׁשר ֵאלgut für den Redlichen/Geraden ist Gott“ zu lesen (vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 332). Auf der einen Seite wird der masoretische Text so entgrenzt und universalisiert, auf der anderen Seite wird er aber auch ethisch verschärft. Für die Textänderung spricht: Es ergäbe sich ein synonymer Parallelismus mit chiastischer Wortfolge. Zudem steht im restlichen Psalm die Beziehung von JHWH und Israel nicht im Vordergrund. Es ist also nicht unplausibel, anzunehmen, dass der Endtext nicht die ursprüngliche Fassung des Verses bewahrt hat. Erich Zenger schlägt vor, die Redaktion, die Ps 73 an den Anfang der Asafpsalmenreihe Ps 73–83 gestellt hat, für den Israel-Bezug verantwortlich zu machen. Ethische Fragen wären damit auch Ursache für redaktionelle Überarbeitungen (vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 332). In diesem Fall würde der Fokus auf menschliche Verantwortlichkeit zugunsten des identitätsstiftenden Konzepts, dass Gott sich seinem Volk in besonderer Weise zuwendet, verschoben. Wenn hingegen die Güte Gottes nur der Gruppe der Menschen „reinen Herzens“ gilt, ist die Güte Gottes eine Größe, der ein bestimmtes menschliches Verhalten entspricht.
Auslegung
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hoben werden die Rettung durch Gott aus Notsituationen, göttliche Vergebung, das Wohlergehen des Menschen und die Unterweisung des Menschen durch Gott. Das betende Ich von Ps 31 preist die göttlichen Güte, die allen versprochen wird, die sich in Situationen der Bedrohung an ihn wenden: ר־צ ַ ֪פנְ ָּת ִ ּֽל ֵ ֫יר ֶ ֥איָך ָ ב־טּוב ָ֮ך ֲא ֶׁש ְ ָ ֤מה ַ ֽר „ ָ ּ֭פ ַע ְל ָּת ַלח ִ ֹ֣סים ָ ּ֑בְך נֶ֜ ֗גֶ ד ְּב ֵנ֣י ָא ָדם׃Wie groß ist dein Gutes, die du bereit hältst für die, die dich fürchten, die du bereitest für die, die bei dir Zuflucht suchen vor den Söhnen des Menschen.“ (Ps 31,20). Die Güte Gottes besteht für den Menschen in Rettung. Sie zeigt sich auch in seiner Vergebungsbereitschaft und Gnade: י־א ָ ּ֣תה ֲ֭אד ֹנָ י ַ ִ ּֽכ ב־ח ֶסד ְל ָכל־ק ְֹר ֶ ֽאיָך׃ ֜ ֶ֗ „ ֣טֹוב וְ ַס ָּל֑ח וְ ַרJa, / Denn du bist, Adonaj, gut und vergebend und groß an Gnade für die, die dich anrufen.“ (Ps 86,5). Dabei steht die Güte Gottes im Zusammenhang der Beziehung von Gott und Mensch. Gott wendet sich dem Kollektiv derer zu, die ihn anrufen, sich ihm also im Bewusstsein ihrer Vergebungsbedürftigkeit zuwenden. JHWHs Güte und Gnade sind es deshalb, an die das Ich angesichts der eigenen Schuld appelliert: ֥ל־ּתזְ ּ֥כֹר ְּכ ַח ְס ְּדָך ִ֫ ּופ ָׁש ֗ ַעי ַא ְ עּורי׀ ֙ ַ ְַח ּ֤ט ֹאות נ הוה׃ ֽ ָ ְטּובָך֣ י ְ י־א ָּתה ְל ַ ֖מ ַען ֑ ַ ר־ל ִ „ זְ ָכDer Sünden meiner Jugend und meiner Frevel gedenke nicht! Entsprechend deiner Gnade denke du an mich, wegen deine Güte, JHWH.“ (Ps 25,7).265 Die Güte JHWHs ist nicht bloßes Bekenntnis, sondern sie wird als für den Menschen erfahrbar verstanden, nämlich in Gottes rettendem Handeln in der Geschichte und auch angesichts von menschlicher Schuld und Versagen. In Ps 16,2 kommt die Überzeugung zur Sprache, dass letztlich jede Erfahrung des Guten, von Wohlergehen und von Lebensglück in der Gottesbeziehung gründet: ֹוב ִ֗תי ַּבל־ ָע ֶ ֽליָך׃ ָ „ ָא ַ ֣מ ְר ְּת ַֽ ֭ליהוָ ה ֲאד ָֹנ֣י ָ ֑א ָּתה ֜טIch habe zu JHWH gesagt: Mein Herr bist du. Mein Gutes ist nur bei dir.“ (Ps 16,2).266 Diese Überzeugung wird in unterschiedlichen Bildern ausgesagt, mit denen menschliches Wohlergehen beschrieben wird: Grundversorgung mit Nahrungsmitteln (JHWH sättigt die durstende und hungernde Nefeš mit Gutem, vgl. Ps 103,5; 104,28; 107,9),267 ertragreiche Ernte (JHWH gibt das Gute, das das Land bringt, vgl. Ps 65,12; 68,11; 85,13), all-
265 In Verbindung mit „ ֶח ֶסדGnade“ bzw. „Zuwendung“ auch in Ps 23,6; 25,7; 69,17; 86,5; 100,5; 106,1; 107,1; 109,21; 118,1.29; 136,1, mit „ ֵחןWohlwollen“ und „ ָּכבֹודHerrlichkeit“ bzw. „göttliche Gegenwart“ in Ps 84,12; mit „ ַָרצֹוןWille“ bzw. „Gunst“ in Ps 51,20; mit „ ַר ֲח ִמיםErbarmen“ auch Ps 69,17; 145,9, mit „ ְּב ָר ָכהSegen“ in Ps 21,4; mit „ ֱאמּונָ הTreue“ in Ps 100,5 und mit „ ְצ ָד ָקהGerechtigkeit“ in Ps 145,7. 266 Zu Textkritik und Übersetzung vgl. Liess 2004, 36–42. Kathrin Liess zeichnet in Bezug auf das Adjektiv טֹובvor allem die Verbindung zur „Landthematik“ (JHWH gewährt dem Land „Gutes“), den Bezug zum Tempel als Ort, an dem das „Gute JHWHs“ und Schutz erfahren werden (vgl. auch Ps 34,9: „Glücklich (ist) der Mann, der Zuflucht sucht bei ihm.“), und den „Lebensbezug“ nach. Sie kommt dabei zu dem Schluss: „Gottes ‚Gutsein‘ erweist sich vor allem in seinem rettenden und bewahrenden Handeln.“ (Liess 2004, 125). Die ethische Dimension des Begriffs kommt bei ihr nicht explizit zur Sprache. 267 Betont man die sinnliche Bedeutung von „( טעםKostet und seht, dass JHWH gut ist.“), lässt sich auf Bildebene auch eine Verbindung zu Ps 19,11; 119,103 herstellen: Die Rechtssprüche JHWHs sind „köstlicher als Gold“ und „süßer als Honig“. Die Güte JHWHs besteht also in seiner „köstlichen“ Weisung, die Leben gelingen lässt.
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gemeine Lebensqualität (JHWH ermöglicht das Wohnen im Guten, vgl. Ps 25,13; 37,2), Besuch im Tempel (das Gut der Gegenwart JHWHs, vgl. Ps 84,11; 65,5).268 Unter göttlicher Güte wird auch verstanden, dass Gott den Menschen im richtigen Verhalten unterweist: יֹורה ַח ָּט ִ ֣אים ַּב ָ ּֽד ֶרְך׃ ֖ ֶ ל־ּכ֤ן ֵ הו֑ה ַע ָ ְ„ טֹוב־וְ יָ ָ ׁ֥שר יGut und gerade ist JHWH, darum unterweist er die Sünder auf ihrem Weg.“ (Ps 25,8). Oder sie ist der Grund, warum das betende Ich Gott bittet, es zu belehren (vgl. Ps 119,68). Auch hier wird deutlich, dass die Güte Gottes in Zusammenhang mit dem Tun des Menschen gesehen wird. Daher kann JHWH auch aufgefordert werden: יט ָיבה ֣ ִ ֵה ּבֹותם׃ ֽ ָ יׁש ִ ֗רים ְּב ִל ָ ּטֹובים ְ ֜ו ִ ֽל ֑ ִ „ ְי֭הוָ ה ַלTue Gutes, JHWH, den Guten und den Aufrichtigen in ihren Herzen.“ (Ps 125,4; vgl. auch Ps 112,5). (3) Der Mensch reagiert auf die Güte Gottes mit Hinwendung. Er sucht bei ihm Zuflucht (vgl. 31,20); die Menschen rufen Gott an (vgl. Ps 86,5), und das betende Ich bekundet seine Dankbarkeit für die erfahrene und erfahrbare Güte JHWHs und seine ewig währende Gnade im Lob: עֹול֣ם ָ י־טֹוב ִ ּ֖כי ְל ֑ יהו֣ה ִּכ ָ הֹודּו ַל ֣ ַ ֽה ְללּויָ֙ ּה׀ „ ַח ְס ּֽדֹו׃Lobt JH, preist JHWH, denn gut ist er, denn für immer ist seine Gnade.“ (Ps 106,1, vgl. Ps 100,5; 107,1; 118,1.29; 136,1). Die „liturgische Formel“ wird dabei schöpfungs- und heilsgeschichtlich konkretisiert, so z. B. in den Geschichtspsalmen Ps 105/106, die die Güte Gottes als in der Geschichte erfahrbar verstehen.269 (4) Auch wenn das Gute letztlich auf Gott beruht, wird eine Beziehung von
268 Liess 2004, 127 sieht aufgrund der mit dem Lexem ( חסהV. 9) verbundenen Schutzmetaphorik auch für Ps 34 eine Verbindung zum Tempel. Hartenstein 2008 weist nach, dass die Rede vom Angesicht JHWHs eine höfisch-kultische Audienzvorstellung des königlichen Gottes voraussetzt. Wo Psalmen vom Angesicht Gottes sprechen (vgl. Ps 4,7; 16,11; 27,8; 31,17.21; 69,18), werde die Erfahrung des טֹוב יְ הוָ הan die Gottesnähe im Heiligtum geknüpft. Auch mit der Rede vom Guten des Hauses JHWHs (vgl. Ps 65,5) und dem Guten und dem Ertrag des Landes (vgl. Ps 65,12–14) lasse sich eine Verschränkung von Tempel und Land beobachten (vgl. Liess 2004, 127). Dies entspreche der „für das Jerusalemer Heiligtumskonzept (in vor- und nachexilischer Zeit) grundlegende[n] Logik der Entsprechung zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘, zwischen Tempel und Welt“ (Hartenstein 2008, 96). Gutes und Wohlergehen in der Welt, das Schauen des Angesichts JHWHs und seine Nähe im Tempel werden miteinander verknüpft. Explizit wird der mit dem Angesicht JHWHs und seiner Thronsphäre verbundene Schutz in Ps 31,20–21:
ב־טּוב ָ֮ך ְ ָ ֤מה ַ ֽר20 Wie groß ist dein Gutes, das du bewahrst für die, die dich fürchten, יר ֶ ֥איָך ֫ ֵ ר־צ ַ ֪פנְ ָּת ִ ּֽל ָ ֲא ֶׁש das du bereitest für die, die bei dir Zuflucht suchen ()חסה ָ ּ֭פ ַע ְל ָּת ַלח ִ ֹ֣סים ָ ּ֑בְך vor den Söhnen des Menschen. נֶ֜ ֗גֶ ד ְּב ֵנ֣י ָא ָדם׃ ירם׀ ְּב ֵ ֥ס ֶתר ָּפנֶ ֮יָך ֤ ֵ ַּת ְס ִּת21 Du birgst sie im Schutz deines Angesichts vor den Verschwörungen der Menschen, ֵ ֽמ ֻר ְכ ֵ֫סי ִ ֥איׁש du bewahrst sie in einer Hütte vor dem Streit der Zungen. ִּת ְצ ְּפ ֵנ֥ם ְּב ֻס ָּ֗כה ֵמ ִ ֥ריב ְלׁש ֹנֽ ֹות׃ (Ps 31,20–21) Auch wenn Ps 34,9 das Lexem חסהwählt, um den göttlichen Schutz zum Ausdruck zu bringen und auf diesen in Zusammenhang mit der Güte Gottes verweist, ist jedoch kein direkter Bezug auf den Tempel gegeben. Spezifikum von Ps 34 ist, dass er vielmehr von Gottes rettendem Handeln spricht, ohne dies an den Tempel zu binden. 269 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 339.
Auslegung
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göttlicher Güte und menschlichem Verhalten hergestellt: JHWH ist der Grund alles Guten, und der göttlichen Güte entspricht ein Tun des Menschen. „Yhwh’s goodness lies in a generosity that gives good things. It suggests a link between the theological and the behavioral; doing the good thing is a matter of taking the right attitude to Yhwh. It also suggests a link between the behavioral and the experiential; doing good leads to enjoying the good.“270 Deutlich wird im Psalter immer wieder, dass in der Konsequenz das Gute auch durch den Menschen realisiert werden muss. Daher wird an den Menschen appelliert, Gutes zu tun (vgl. Ps 34,15; 37,3.37). Das Gute JHWHs ist für die, die „in Vollkommenheit wandeln“ ( הלך ְב ָת ִמיםin Ps 84,12; vgl. „ ֶד ֶרְך ָּת ִמיםWeg der Vollkommenheit“ in Ps 101,2). Die Weg-Metapher als zentrale Metapher und heuristischer Schlüssel des Psalters (vgl. Ps 1,1) verweist auf die Frage nach der rechten Lebensführung, für die die Tora JHWHs wegweisend ist, da sie „vollkommen“ ist (ימה ָ ּתֹורת יְ הוָ ה ְּת ִמ ַ in Ps 19,8; vgl. auch ִּכי טֹובים ִ „ ִמ ְׁש ָּפ ֶטיָךDenn deine Rechtssprüche sind gut.“ (Ps 119,39)).271 Doch die Realität und der am göttlichen Handeln gemessene Anspruch an den Menschen klaffen in der Wahrnehmung des Ichs häufig auseinander. Beklagt wird die Abwesenheit derer, die Gutes tun (vgl. Ps 14,1.3, vgl. Ps 53,2.4; 36,4.5). Maxime ist, auf gutes Handeln auch mit gutem Handeln zu reagieren und so das Gute zu realisieren. Ist dies nicht der Fall, wird dies als Perversion der gesellschaftlichen Konventionen gebrandmarkt (vgl. Ps 35,12; 38,21; 52,5; 109,5). Über den Psalter hinaus, im Kontext der gesamten hebräischen Bibel zeigen sich intertextuelle Bezüge von Ps 34 und Amos 5 auch bei der Frage, wie die Beziehung von יְ הוָ הund טֹובzu denken ist.272 Wegen der Schuld Israels wird die Totenklage erhoben (vgl. Am 5,1). Bereits in der eröffnenden Anklage in Am 2 ist Israel beschuldigt worden, die ּתֹורה ָ „Weisung“ und „ ֻח ִּקיםOrdnungen“ (Am 2,4) verworfen zu haben. Die Vergehen werden näher spezifiziert als Vergehen gegen „ ַּדלden Geringen“ (Am 2,7; 4,1; vgl. auch 270 Goldingay 2006, 480. 271 In Bezug auf Ps 84 spricht Erich Zenger von einer „Ethisierung der Wallfahrt zum Zionsgott“ (Zenger 32007, 519). Das betende Ich sehnt sich nach den Höfen JHWHs und dem lebendigen Gott (vgl. Ps 84,3). Der konkrete Ort wird zum Bild der Gottesnähe. Das Bild des Wohnens im Haus JHWHs (vgl. Ps 84,5), die Präsenz Gottes in Raum und Zeit, wird in ein dynamisches überführt: Präsenz Gottes ist nicht an den einen Ort gebunden, sondern sie ist erfahrbar auf den Wegen der Herzen der Menschen, also in deren Handeln (vgl. Ps 84,6). Die Ethisierung wird explizit in V. 11: das „Stehen im Haus Gottes“ wird kontrastiert mit dem „Wohnen in den Zelten des Frevels“. Das „Haus Gottes“ ist dort, d. h. Gott ist dort präsent, wo Menschen nicht dem Frevel folgen, sondern „in Vollkommenheit gehen“ (Ps 84,12). Zenger 32007, 516 resümiert: „Sie bewirken die ‚Gottes-Welt‘ – dadurch daß sie ‚die Zions-Straßen in ihren Herzen haben‘ (V 6), d. h. dadurch, daß sie die mit den Wegen zum Zion verbundenen Verheißungen und insbesondere den Gott in ihren Herzen haben, der denen, die ihn als ihr ‚Haus‘ suchen, die Fülle des Lebens schenkt.“ Allerdings ist zu beachten: Der Zusammenhang von menschlichem Tun und „GottesWelt“ ist kein rein menschliches Tun („bewirken“), sondern auch in der Konzeption von Ps 84 „Gnade und Herrlichkeit“ (Ps 84,12), die JHWH gibt. 272 Siehe oben zu ( דרׁשV. 5a).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
5,11), „ ַצ ִּדיקden Gerechten“ (Am 2,6; vgl. auch 5,12), „ ֶא ְביֹונִ יםdie Armen“ (Am 2,6; 4,1; vgl. auch 5,12; 8,4), „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ (Am 2,7). Die göttliche Weisung zielt jedoch auf das Leben (vgl. „ ְל ַמ ַען ִּת ְחיּוDamit ihr lebt.“ (Dtn 4,1)). Insofern ist die Frage nach dem Halten der Ordnungen eine Frage auf Leben und Tod.273 Da Israel der Weisung nicht folgt, hat es den Tod gewählt. So ist auf der Ebene der Metapher folgerichtig, die Totenklage anzustimmen. Diese jedoch transformiert angesichts JHWHs, der ein Gott des Lebens ist, inhaltlich zu einem Ruf zur Umkehr: „ ִּד ְרׁשּונִ י וִ ְחיּוSucht mich, damit ihr lebt.“ (Am 5,4).274 Die Aufforderung wird hier zunächst als Appell des göttlichen Sprechers an ein Kollektiv formuliert, der zur Beziehungsaufnahme drängt: „Sucht mich“ (Am 5,4), erst dann ergeht sie als Prophetenrede: „ ִּד ְרׁשּו ֶאת־יְ הוָ ה וִ ְחיּוSucht JHWH, damit ihr lebt.“ (Am 5,6). Das Beziehungsangebot steht vor dem Schuldaufweis (vgl. Am 5,7.10–12). An erster Stelle wird bei diesem das Vergehen gegen „ ִמ ְׁש ָּפטRechtspruch“ und ְצ ָד ַקה „Gerechtigkeit“ genannt (Am 5,7; 6,12), das an zweiter Stelle in Rückgriff auf Am 2,6–8 und 4,1 konkretisiert wird: Kriterium für die Verletzung der göttlichen Weisung ist das unsolidarische Verhalten den Geringen, den Gerechten und den Elenden gegenüber. Dieses entscheidet über die Nähe zu Gott, wie dann in Wiederaufnahme von Am 5,4.6 in Am 5,14–15 ausgeführt wird: ל־רע ְל ַ ֣מ ַען ִ ּֽת ְחי֑ ּו ֖ ָ ׁשּו־טֹוב וְ ַא ֥ ִּד ְר14 Sucht das Gute und nicht das Böse, damit ihr lebt י־צ ָב ֛אֹות ְ ֹלה ֽ ֵ הו֧ה ֱא ָ ְי־כן י ֵ֞ יה ִ ִו und damit JHWH, der Gott der Herrscharen, ִא ְּת ֶכ֖ם mit Euch ist, ַּכ ֲא ֶ ׁ֥שר ֲא ַמ ְר ֶ ּֽתם׃ wie ihr sagt! אּו־ר ֙ע וְ ֶ ֣א ֱהבּו ֔טֹוב ָ ְ ִׂשנ15 Hasst das Böse und liebt das Gute וְ ַה ִ ּ֥ציגּו ַב ַ ּׁ֖ש ַער ִמ ְׁש ָ ּ֑פט und richtet im Tor das Recht auf! י־צ ָב ֖אֹות ְ ֹלה ֽ ֵ הו֥ה ֱא ָ ְאּולי ֶי ֱֽח ַנ�֛ן י ַ֗ Vielleicht wird JHWH, der Gott der Heerיֹוסף׃ ֽ ֵ ְׁש ֵא ִ ֥רית scharen, mit dem Rest Josefs gnädig sein. (Am 5,14–15)
Wenn die Suche nach Gott und die nach dem Guten zum Leben führen, dann ist Gott das Gute. Das Gute und die Präsenz JHWHs realisieren sich im Tun der Menschen, denen die Unterscheidung zwischen gut und böse abverlangt wird. Konkret werden sie im Rechtsspruch ִמ ְׁש ָּפט, also genau in dem Verhalten, das Israel nicht zeigt (vgl. Am 5,10–13). Die Dringlichkeit der Entscheidung, die ethische Brisanz und die Unverfügbarkeit Gottes werden damit markiert, dass JHWH sich „vielleicht“ (אּולי ַ in Am 5,15) dem Volk wieder zuwendet. Gleichzeitig wird so aber auch die Möglichkeit der Gnade Gottes in Aussicht gestellt.
273 Vgl.: „Siehe, ich lege vor euch heute das Leben und das Gute ( )טּובund den Tod und das Böse () ַרע.“ (Dtn 30,15), vgl. auch Dtn 39,19. 274 Vgl. auch die zahlreichen Versuche, Israel zur Umkehr zu bewegen, die Am 4 nennt.
Auslegung
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(5) In Ps 34 stellt das Bekenntnis zu der Güte Gottes eine Beziehungsaussage dar. Sie erfolgt als Vertrauensaussage im Kollektiv derer, die sich JHWH zuwenden. Erfahrene Rettung und Wohlstand werden als Ausdruck der Güte Gottes verstanden; in Notsituationen und im Zusammenhang mit menschlicher Schuld wird auf die Güte Gottes gehofft. Der göttlichen Zuwendung entspricht auf der Seite des Menschen die Ausrichtung des Handelns am Guten. Zwar wählt Ps 34,9 mit dem Lexem חסהtempeltheologische Sprache, um den Schutz auszudrücken, der aus der Güte Gottes für den folgt, der sich Gott zuwendet, bindet die Nähe Gottes und die Erfahrung seiner Güte aber gerade nicht an den Tempel. Die Antwort des Ichs auf die erfahrene Rettung besteht auch nicht allein in liturgischem Dank wie z. B. in Ps 105/106, sondern in erster Linie in der Unterweisung: Weil es die Güte Gottes in der Welt erkennt, verweist es andere auf diese, macht sie auf sie aufmerksam und unterweist sie in der Orientierung am Guten. Diese Unterweisung wird erst im Kontext des Psalms bzw. im Psalmenbuch zum Gebet. Die Unterweisung zeigt, dass die Güte Gottes impliziert, dass das Gute auch durch den Menschen realisiert werden muss. Im Kontext von Ps 34 ist die Aussage „Gott ist gut“ (V. 9) also eine relationale Aussage, mit der angesichts der erfahrenen Notsituation des Ichs und der gegenwärtigen Notsituation der Adressaten das erhoffte Rettungshandeln zur Sprache kommt und mit der gleichzeitig auch deutlich wird, dass das Gute ein Anspruch an den Menschen ist. Insofern geht es „um die ‚Wahrheit‘ dieses Satzes in weisheitlicher, d. h. lebenspraktischer Perspektive, also darum, ob und wie mit diesem Bekenntnis das Leben […] [und] das Leiden […] bestanden werden können“.275 Der Aufruf von Ps 34,9 erfolgt im Horizont der Überzeugung, dass die Güte Gottes in Verbindung mit dem ethischen Handeln des Menschen steht, der in Anbetracht seiner Begrenztheit und Fehlbarkeit der Orientierung und Unterweisung bedarf. Dies wird in der Hörer-Aufforderung, JHWH-Furcht zu lernen (vgl. V. 12), expliziert.276 3. ַא ְׁש ֵרי – „glücklich“: Gelingendes Leben und menschliches Tun In der Überzeugung, dass in der Bindung an JHWH Leben glückt, wird in Ps 34 der glücklich gepriesen, der sich an JHWH wendet: ה־ּבֹו׃ ֽ „ ַ ֽא ְׁש ֵ ֥רי ַ֜ה ֗ ֶּג ֶבר יֶ ֱח ֶסGlücklich (ist) der Mann, der bei ihm Zuflucht sucht.“ (V. 9).
275 Vgl. Hossfeld/Zenger 32007, 339. Explizit wird der Zusammenhang von Lebensglück bzw. Rettung und Güte Gottes in Ps 69,17 formuliert: י־טֹוב ַח ְס ֶ ּ֑דָך ְּכ ֥ר ֹב ַ ֜ר ֲח ֶ֗מיָך ְּפ ֵנ֣ה ֵא ָ ֽלי׃ ֣ „ ֲע ֵנ֣נִ י ְי֭הוָ ה ִּכAntworte mir, JHWH, denn deine Gnade ist gut, und entsprechend der Größe deines Erbarmens wende dich mir zu.“ (Ps 69,17; vgl. 109,21). 276 Insofern ist also auch V. 9 schon Teil der Unterweisung in „Gottesfurcht“ (V. 12). An dieser Stelle bestätigt es sich also, den Psalm 34 nicht in zwei Hauptteile mit einer Zäsur vor V. 12 zu gliedern, sondern V. 9–15 als Einheit zu betrachten.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Im Folgenden wird die Seligpreisung277 im Kontext des Psalmenbuches verortet und von diesem her erschlossen. Gefragt wird erstens nach den Adressaten der Seligpreisungen, zweitens nach den Gründen für die Beglückwünschung und drittens nach ihrer pragmatischen Funktion und dem Sprechakt. Adressat Adressat der Seligpreisung ist ( ַהּגֶ ֶברvgl. auch Ps 40,5; 94,12; 127,5). Als individuelle Adressaten finden sich im Psalter daneben auch ( ָה ִאיׁשPs 1,1) bzw. ִאיׁש (Ps 112,1) oder ( ָא ָדםPs 32,2; 84,6.13; vgl. auch Spr 3,13; 8,34; 28,14) und außerhalb des Psalters ( ֱאנֹוׁשIjob 5,17; Jes 56,2).278 Kollektive Adressaten sind ( ָה ָעםPs 33,12; 89,16; 144,15(2x)) und ( ַהּגֹויPs 33,12), im Mose-Lied auch ( יִ ְׂש ָר ֵאלDtn 33,29) und bei Kohelet ( ֶא ֶרץKoh 10,17).279 Die Verwendung von ַהּגֶ ֶברim Kontext von Ps 34 277 In der Regel wird ַא ְׁש ֵריmit „glücklich“ oder „gepriesen“ übersetzt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich moderne Glückskonzeptionen von antiken unterscheiden. Der Ursprung des Lexems wird wegen der ungewöhnlichen grammatischen Form in Ägypten gesehen (vgl. Cazelles 1973, 484). „Daher ist auch die beste ägyptische Übersetzung für ‚Glück‘ vermutlich […] ‚Weg des Lebens‘. Darunter versteht der Ägypter nicht den Lebensweg, wie ihn jeder auf seine Weise geht, sondern den richtigen Weg, der zum guten Leben führt, und den jeder auf seine Weise suchen und finden muß. Dazu verhilft ihm die Weisheit. Weisheit ist das Geheimnis der spontanen Koinzidenz von Wohlverhalten und Wohlbefinden, richtigem Handeln und gutem Leben.“ (Assmann 1994, 26). Im Hinblick auf die Vorstellungswelt im Alten Ägypten ist dabei zu differenzieren: „Der Ägypter wünscht sich also Glück (in Form von Leben, Heil und Gesundheit) ‚hier‘ und Seligkeit (in Form von Macht, Verklärtheit und Rechtfertigung) ‚dort‘“ (Assmann 1994, 31). In der Welt ist „Glück […] immer nur im Rahmen der konnektiven Ordnung denkbar. […] Die Verbindung von Sinn und Zusammenhang oder Konnektivität impliziert im ägyptischen Denken immer auch die Vorstellung der Zuständigkeit und Verantwortung. Diese Konnektivität funktioniert nicht automatisch bzw. naturgesetzlich. Jeder einzelne [sic!] ist verantwortlich für seinen Anteil am Ganzen, und die Gemeinschaft als Ganzes, bzw. der König, bzw. die Götterwelt oder ein Gott, ist zuständig für das Ganze.“ (Assmann 1994, 33). Während zur Zeit des Mittleren Reiches der König als Garant der Ordnung fungiert, hat sich seit der Ramessidenzeit die „Konnektivität […] zum Willen Gottes verdichtet“ (Assmann 1994, 46). Beispiel dafür ist die Glücklichpreisung aus dem Grab des Petosiris aus dem späten 4. Jh.: „Glücklich, wer auf dem Wege Gottes wandelt“ (Assmann 1994, 47). Die Verbindung von Glücksvorstellung und Verantwortlichkeit lässt sich auch für die alttestamentliche Vorstellung nachweisen, da der Glückwunsch „gewisse Taten von seiten des Gläubigen fordert“ (Cazelles 1973, 482), gleichzeitig aber auch im Kontext der Gottesbeziehung steht. 278 Weitere singularische Seligpreisungen finden sich in folgenden Konstruktionen: 1. mit Partizip: ֽׂשּוי־ּפ ַׁשע ְּכ ֣סּוי ֲח ָט ָ ֽאה׃ ֶ֗ „ ַא ְׁש ֵ ֥רי ְנGlücklich ist der, dem der Frevel aufgehoben ist, dem die Sünde bedeckt ist.“ (Ps 32,1) und ל־ּדל ֑ ָ „ ַ ֭א ְׁש ֵרי ַמ ְׂש ִ ּ֣כיל ֶאGlücklich ist der, der auf den Geringen achtet.“ (Ps 41,2), 2. mit asyndetischem Relativsatz: ּות ָק ֵר ֮ב ְ „ ַא ְׁש ֵ ֤רי׀ ִ ּֽת ְב ַ ֣חרGlücklich ist der, den du erwählst und dem du nahe bist.“ (Ps 65,5), 3. in direkter Anrede mit ePP: „ ַ֜א ְׁש ֶ ֗ריָך וְ ֣טֹוב ָ ֽלְך׃Glücklich bist du, und Gutes ist für dich.“ (Ps 128,2), 4. mit Relativsatz mit Relativpronomen: ׁש ֵ ֣אל יַ ֲע ֣קֹב ְּב ֶעזְ ֑רֹו ֤ ֶ „ ַא ְׁש ֵ ֗ריGlücklich ist der, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist.“ (Ps 146,5), 5. nachgestellt in Pendens-Konstruktion mit ePP: חֹונ�֖ן ֲענָ ִו֣ים ַא ְׁש ָ ֽריו׃ ֵ ּומ ְ „Wer sich der Armen erbarmt, glücklich ist er.“ (Spr 14,21) und יהו֣ה ַא ְׁש ָ ֽריו׃ ָ ּובֹוט ַח ַּב ֖ ֵ „Und wer auf JHWH vertraut, glücklich ist er.“ (Spr 16,20). 279 Im Psalter werden auch Kollektive über ihr Verhalten adressiert und mit Partizip oder Adjektiv bezeichnet: ל־חֹוסי בֹו ֵ „ ָּכalle, die bei ihm Zuflucht suchen“ (Ps 2,12), יתָך ֶ יֹוׁש ֵבי ֵב ְ „die, die in deinem
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und auch der anderen singularischen Formulierungen im Psalter zeigt, dass sie als generelle Aussagen zu verstehen sind. So wird in Ps 34,4.9.10 ein Kollektiv angesprochen, für das ( ַהּגֶ ֶברV. 9) und ( ָה ִאיׁשV. 13) paradigmatisch stehen.280 Vor dem Hintergrund dieser Generalisierungstendenz können diese Formulierungen inklusiv als generisches Maskulinum gelesen werden.281 Bereits an dieser Stelle wird die soziale Dimension der Seligpreisung deutlich: Alle ַא ְׁש ֵרי-Formulierungen im Psalter bezeichnen kommunikative Handlungen mit menschlichen Beteiligten.282 Es handelt sich also um menschliche Selbstverständigung bzw. kollektive Selbstvergewisserung, welches Verhalten und Handeln letztlich zu einem glückenden Leben führt. Die Seligpreisung erfolgt im Rahmen der Beziehung von Gott und Mensch und kann auch göttliches Handeln am Menschen in den Vordergrund stellen.283 Im Nominalsatz mit ַא ְׁש ֵריwird eine Person oder eine Gruppe als „glücklich“284 qualifiziert, die bzw. deren Tun wiederum näher durch einen (asyndetischen) Relativsatz, ein Adjektiv oder Partizip bestimmt wird.
Haus wohnen“ (Ps 84,5), „ ׁש ְֹמ ֵרי ִמ ְׁש ָּפטdie, die das Recht wahren“ (Ps 106,3), י־ד ֶרְך ָ ימ ֵ „ ְת ִמdie, die beständig auf dem Weg sind“ (Ps 119,1), „ נ ְֹצ ֵרי ֵעד ָֹתיוdie, die seine Zeugnisse/Vorschriften bewahren“ (Ps 119,2), „ ָּכל־יְ ֵרא יְ הוָ הalle, die JHWH fürchten“ (Ps 128,1); mit asyndetischem Relativsatz im Sprüchebuch „ ְּד ָר ַכי יִ ְׁשמֹרּוdie, die meine Wege bewahren“ (Spr 8,32) und bei Jesaja mit Partizip ל־חֹוכי לֹו ֵ „ ָּכalle, die auf ihn harren“ (Jes 30,18); mit ePP in direkter Anrede ל־ה ּׁ֖שֹור וְ ַה ֲח ֽמֹור׃ ַ ֶל־מיִ ם ְמ ַׁש ְּל ֵ ֥חי ֶ ֽרג ֑ ָ ל־ּכ ָ יכם ז ְֹר ֵ ֖עי ַע ֶ֕ „ ַא ְׁש ֵרglücklich, die ihr sät an allen Wassern und die ihr das Rind und den Esel frei laufen lasst“ (Jes 32,20). 280 Vgl. Weber 2008, 197: „Selbst wo es sich bei Adressaten um singularische Größen handelt, eignet diesen meist ein paradigmatischer (idealtypischer) und damit kollektivierender Aspekt.“ 281 Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt in V. 9 „Glücklich der Mann, die Frau, die sich bei ihr [= die Ewige] bergen.“ und in V. 13 „Wer sind die Menschen, die Lust am Leben haben, die die Tage lieben, um Gutes zu sehen?“. Auch wenn diese Übersetzung vom hebräischen Text nicht gedeckt ist, expliziert sie doch eine in den Texten grundgelegte Tendenz zur Universalisierung der Reflexionen über gelingendes Leben im Hinblick auf Mann und Frau. 282 Vgl. Weber 2008, 196–197. 283 In einigen Fällen ist der Grund für die Seligpreisung das göttliche Handeln: Im Fall von Ps 32,1.2 wird zwar auch ein menschliches Subjekt mit einem Partizip näher qualifiziert, bei den Passivpartizipien ֽׂשּוי־ּפ ַׁשע ְּכ ֣סּוי ֲח ָט ָ ֽאה׃ ֶ֗ „ ַא ְׁש ֵ ֥רי ְנGlücklich ist der, dem der Frevel aufgehoben ist, dem die Sünde bedeckt ist.“ von Ps 32,1 handelt es sich jedoch um ein passivum divinum. Im folgenden Vers ist JHWH explizit Subjekt des vergebenden Handelns, das Grund für die Seligpreisung ist: הו֣ה ֣לֹו ָעֹו֑ ן ָ ְ„ ַ ֥א ְ ֽׁש ֵרי ָא ָ ֗דם ֤ל ֹא יַ ְח ׁ֬ש ֹב יGlücklich ein Mensch, dem JHWH die Schuld nicht anrechnet.“ (Ps 32,2). JHWH ist auch Subjekt der Handlung in Ps 33,12; 65,5; 94,12. In allen Fällen handelt es sich um Aussagen über die Beziehung von JHWH und dem Adressaten der Seligpreisung. 284 ַא ְׁש ֵריwird in der Regel als zur Interjektion erstarrter pl. cs. von ‚ ֶא ֶׁשרGlück, Heil‘ aufgefasst (vgl. Cazelles 1973, 481 und GK28 § 93 l), anders Schorch 2005, 371–372, der die Endung auf Jod nicht als Plural versteht, sondern als Markierung einer Interjektion von der Grundform ֶא ֶׁשר im Akkusativ.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Gründe Als Grund285 für die Seligpreisung wird zum einen eine Haltung des Vertrauens beschrieben, zum anderen ein bestimmtes ethisches Verhalten genannt. (1) Hinwendung zu Gott und Vertrauen zu ihm wird in den Seligpreisungen umschrieben mit den Verben „ חסהZuflucht suchen“286 (Ps 2,12; 34,9), „ דרׁשsuchen“ (Ps 119,2) oder „ בטחvertrauen“ (Ps 84,13; vgl. Spr 16,20) bzw. mit der Wendung ׂשים „ ִמ ְב ַטחֹוzu seinem Vertrauen machen“ (Ps 40,5) und eschatologisch eingefärbt mit dem Verb „ חכהausharren“ (Jes 30,18; Dan 12,12). Wie auch im Kontext von Ps 34 wird die Haltung Gott gegenüber als ירא יְ הוָ הbeschrieben (Ps 112,1; 128,1; vgl. פחד in Spr 28,14). Seliggepriesen wird das Volk, dessen Gott JHWH ist (vgl. Ps 33,12; 144,15), bzw. der Einzelne, für den JHWH Hilfe und Hoffnung ist (vgl. Ps 146,5). (2) Neben diesen Aussagen, die die vertrauensvolle Hinwendung zu Gott mit der Seligpreisung in Verbindung bringen, finden sich andere, deren Gegenstand das menschliche Verhalten ist. Exemplarisch soll an Ps 1 gezeigt werden, in welchem Zusammenhang die Seligpreisung und die Orientierung an der Tora stehen, und an Ps 32, wie in ihrem Kontext die Frage nach menschlicher Schuld zur Sprache kommt. Die Lebensführung wird vor allem mit Weg-Metaphern umschrieben oder in Beziehung zur Weisung JHWHs gesetzt, so in der Eröffnung des Psalters in Psalm 1:
285 Steinberg 2013 spricht von „Bedingung“, an die die Zusage von Glück bzw. Heil geknüpft sei. Auf der Ebene der Syntax handelt es sich jedoch nicht um Konditionalsätze, sondern um Nominalsätze, die einen Sachverhalt wiedergeben. Wie deren kommunikative Funktion zu bestimmen ist, ist zu diskutieren. Der, auf den das zutrifft, was mit dem zweiten Satzglied des Nominalsatzes ausgesagt wird, wird als „selig“ qualifiziert. Es ist also besser, von „Begründung“ als von „Bedingung“ für das Glück zu sprechen. 286 Hierbei ist auch auf „tempeltheologische Sprachbezüge“ (Liess 2004, 285) zu achten. Im Hintergrund von חסה ְּבsteht das Motiv der Zufluchtssuche im Heiligtum, ebenso verweist die Rede von טֹובauf „die Erfahrung von ‚Gutem‘ im Tempelbereich“ (Liess 2004, 286). Zu der „Hintergründigkeit“ des biblisch-orientalischen Weltbildes, das kein absolut transzendentes Jenseits kennt, sondern die „Tiefe“ der Welt, ihre „hintergründige Dimension“ vgl. schon Hartenstein 1997, 15, auch Hartenstein 2008, 286. Damit wird auch die Deutekategorie der „Spiritualisierung“ von Kultbegriffen fragwürdig (vgl. Hartenstein 2011; Liess 2004,155–164.285–291). Statt zwischen Körper und Geist, Materiellem und Ideellem, Außen und Innen in neuzeitlicher Tradition zu unterscheiden, womit häufig die Wertung von „gering“ und „höherwertig“ verbunden ist, ist es angemessener, von „Metaphorisierung“ oder „Transformation“ zu sprechen (vgl. Hartenstein 2011, 55). So spricht auch Erich Zenger von einer Metaphorisierung der Tempeltheologie: „Im und mit dem Rezitieren des Psalms ruft der Beter die Gotteswirklichkeit herbei, die ‚eigentlich‘ im und vom Tempel erwartet wird“ (Zenger 1998, 42). Der Kult soll nicht abgelöst werden, sondern mit dem Psalter soll Gottesnähe medial erzeugt werden, die jenseits des Tempels möglich ist, aber in ihren konkreten Bezügen an den Tempelkult rückgebunden ist (vgl. Hartenstein 2011, 56). Für Ps 16 kommt Kathrin Liess zu dem Schluss, es sei „im Hinblick auf die tempeltheologische Sprache in Ps 16 besser von Lebensmetaphorik [zu] reden“ (Liess 2004, 290), um eine unzutreffende Gegenüberstellung von kultisch vs. geistig zu vermeiden. Angesichts der Tatsache, dass auch Ps 34 von der Suche nach Leben (V. 13) spricht, bezeichnet auch חסה ְּבin V. 9 den Wunsch nach göttlicher Nähe als Ausdruck besonderer Lebensintensität.
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י־ה ִ֗איׁש ָ ַ ֥א ְ ֽׁש ֵר1 Glücklich ist der Mann, ַּב ֲע ַצ֪ת ְר ָׁ֫ש ִ ֥עים/ ֥ל ֹא ָה ַל ְ֮ך ֲא ֶ ׁ֤שר׀der nicht gegangen ist / nach dem Rat der Frevler ֥ל ֹא ָע ָ ֑מד/ ּוב ֶ ֣ד ֶרְך ַ ֭ח ָּט ִאים ְ und auf den Weg der Sünder / Sünder sich nicht gestellt hat ֣ל ֹא יָ ָ ֽׁשב׃/ מֹוׁשב ֜ ֵל ִ֗צים ֥ ַ ּוב ְ und am Sitzplatz der Spötter / nicht gesessen hat. הוה ֶ֫ח ְפ ֥צֹו ֗ ָ ְתֹורת י ֥ ַ ְּב ִ ּ֤כי ִ ֥אם2 sondern (der) an der Tora JHWHs seine Lust hat יֹומם וָ ָ ֽליְ ָלה׃ ֥ ָ תֹור ֥תֹו יֶ ְה ֗ ֶּגה ָ ּוֽ ְב und murmelnd nachsinnt über seine Tora bei Tag und bei Nacht. (Ps 1,1–2)
V. 1 nähert sich dem „Grund für die Seligpreisung des Gerechten“287 in V. 2 in einer dreifachen Negativbeschreibung. Glücklich ist der, dessen Verhalten nicht dem des Frevlers, Sünders und Spötters entspricht. Dass dies der Fall ist, zeigt sich im tatsächlichen Verhalten und ist nur im Rückblick zu erkennen, wie die qatal-Formen in V. 1 anzeigen. Während zunächst eine generelle Aussage getätigt wird, mit der die grundsätzliche Lebenseinstellung des Gepriesenen benannt wird, sich nämlich nicht dem „Rat der Frevler“ zugewendet zu haben, illustrieren und konkretisieren die beiden folgenden Aussagen das Abstraktum „Rat der Frevler“ und zeigen dessen praktische Konsequenzen auf, eben nicht den „Weg der Sünder“ betreten zu haben und am „Sitzplatz der Spötter“ gesessen zu haben.288 Erst in einem zweiten Schritt erfolgt die positive Bestimmung, worin das rechte Verhalten besteht, das Anlass zur Seligpreisung ist. Der Gepriesene steht in einem emotionalen Verhältnis zur Tora JHWHs ()חפץ289, findet in ihr kognitiv Orientierung bzw. überprüft sein Verhalten an ihr. Das Verb הגהist als verbum dicendi „murmeln, sinnen, nachdenken über etwas“290 zu bewerten. Im Anschluss an die drei negierten Wendungen von V. 1, die sich auf das Verhalten des Menschen beziehen, ist jedoch deutlich, dass damit nicht eine bloße Rezitation von Worten gemeint sein kann, sondern eine prüfende Auseinandersetzung mit der Tora, die zur Grundlage des Handelns wird, so auch: „ ְל ַמ ַען ִּת ְׁשמֹר ַל ֲעׂשֹותdamit du sie bewahrst, indem du sie tust“ (Jos 1,8). Die lebenspraktische Bedeutung von הגה zeigt sich ebenfalls in Ps 37,30, der „ ָח ְכ ָמהWeisheit“ als Objekt von הגהnennt. „Im Unterschied zum stillen, nur ‚im Kopf ‘ stattfindenden ist das (halb-)laute Lesen ein identifizierendes Lesen: Es geht darum, dass das ganze Leben mit dem Text der Weisung JHWHs durchtränkt und gesättigt wird.“291
287 Hartenstein/Janowski 2012, 12. 288 Vgl. Hartenstein/Janowski 2012, 12–13. 289 חפץals „freudig bewegte existentielle Ausrichtung des ganzen Lebens“ (Botterweck 1982, 106). 290 Vgl. Hartenstein/Janowski 2012, 10 und Ges18. 291 Hartenstein/Janowski 2012, 27.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Bezeichnenderweise wird der Seliggepriesene an dieser Stelle noch nicht als ( ַצ ִּדיקvgl. Ps 1,5) gewertet, sondern neutral mit dem Appellativ ָה ִאיׁש. Entscheidend ist die Grundentscheidung, von der der Gepriesene sein Leben in der Gegenwart bestimmen lässt (so die jiqtol-Form in V. 2), nämlich die Ausrichtung an der Weisung JHWHs. Es erfolgt keine Konkretisierung auf Einzeltaten, sondern entsprechend der Annahme, dass sich הגה ְּבauf eine schriftliche Größe bezieht, geht es um die grundsätzliche Orientierung an dem, „was an schriftlich vorliegendem Text für die Gemeinschaft, der der Verfasser oder Beter von Ps 1 angehört, als autoritative Weisung Gottes gilt“292. Auch wenn die Seligpreisung zu Beginn von Ps 1 im Singular formuliert ist, bezieht dieser sich nicht allein auf die individuelle Ausrichtung des Handelns, sondern auf das des Kollektivs (vgl. יקם ִ ַצ ִּדin Ps 1,6), das in der Orientierung an der gemeinsamen Tora glückendes Leben erkennt. Analog zu Ps 1 findet sich eine Verbindung von Makarismus und der Ausrichtung an der Tora auch in Ps 94,12 und Ps 119,1–2. So sind die Unterweisung in der Tora durch JHWH selbst und dessen Erziehung ( יסרpi. in Ps 94,12), das Gehen in der Tora JHWHs (תֹורת יְ הוָ ה ַ הלך ְּבin Ps 119,1) und das Bewahren der Bestimmungen ( נצר ֵעד ָֹתיוin Ps 119,2) Grund des Glücks. Dass damit ein ethisches Tun gemeint ist, kommt nicht nur in Ps 1,1 mit dem Bildfeld des „Weg/Wandelns“ zum Ausdruck, sondern auch in Ps 84,6 („ ְמ ִס ָּלהgerade Wege“); 89,16 (ך ְּבאֹור ָּפנֶ יָך „ הלim Licht deines Angesichts wandeln“); 119,1 (ימי ֶד ֶרְך ֵ „ ְת ִמdie, die beständig auf dem Weg sind“) und Spr 20,7 ( ְּב ֻתּמֹו ַצ ִּדיק„ הלךin seiner Vollkommenheit als Gerechter wandeln“). Explizit wird auf das rechte Handeln verwiesen in Ps 106,3: ַ ֭א ְׁש ֵרי ל־עת׃ ֽ ֵ �ָקה ְב ָכ ֣ ָ „ ׁש ְֹמ ֵ ֣רי ִמ ְׁש ָ ּ֑פט ע ֵ ֹׂ֖שה ְצדGlücklich sind die, die das Recht wahren und die ganze Zeit Gerechtigkeit tun.“ (Ps 106,3; vgl. auch Jes 56,1–2).293 Wie auch in Ps 34 erscheinen als Bezugsgröße des Handelns ( ָּדלPs 41,2)294 und ( ֲענָ וִ יםSpr 14,21). In der Zusammenschau zeigt sich für Ps 1: Komplementär zur Haltung des Vertrauens JHWH gegenüber wird das ethische Handeln des Seliggepriesenen als Grund der Seligpreisungen genannt.295 Glück bzw. gelingendes Leben wurzeln die292 Hartenstein/Janowski 2012, 29. 293 Liest man den Psalter fortlaufend, so kann man mit Weber 2008, 210 von einer „Demokratisierung“ sprechen. Ps 72 wünscht dem König in seiner Zuständigkeit als Garant der Weltordnung göttliches Recht und Gerechtigkeit, so dass dieser von allen Völkern glücklich gepriesen werden möge ( אׁשרals Verb in V. 17); nach dem Ende der Monarchie (vgl. Ps 89) benennen Ps 99,4 und 103,6 einerseits JHWH als Urheber von Recht und Gerechtigkeit, und Ps 106 entwirft andererseits ein Programm einer demokratisierten „Gottesvolk-Ethik“. 294 Zur Frage nach dem Verständnis der Seligpreisung von Ps 41 ל־ּדל ְּבי֥ ֹום ָ ֜ר ֗ ָעה יְ ַֽמ ְּל ֵ ֥טהּו ֑ ָ ַ ֭א ְׁש ֵרי ַמ ְׂש ִ ּ֣כיל ֶא הוה׃ ֽ ָ ְ„ יGlücklich der, der der auf den Geringen achtet; an einem bösen Tag wird JHWH ihn retten.“ (Ps 41,2) vgl. Hossfeld/Zenger 1992, 26–29. Während in der Regel das ePP des Verbs יְ ַמ ְּל ֵטהּו im zweiten Kolon auf den Seliggepriesenen bezogen wird, beziehen es Hossfeld/Zenger auf ָּדל. Mit ל־ּדל ָ ַמ ְׂש ִּכיל ֶאsei nicht „die Fürsorge um den Armen/Schwachen“ gemeint, sondern das „weisheitliche Achten auf den Armen/Schwachen“ in der Absicht, daraus die rechte „Lehre“ bzw. das „rechte Handeln“ zu erlernen. JHWH rettet den Bedrängten, dies gilt es, zur Maxime des eigenen Handelns zu machen (vgl. Hossfeld/Zenger 1992, 27), s. o. 295 Vgl. Weber 2008, 200 zu Ps 119: „Bereits in den Anfangsversen wird (ähnlich wie in Ps 112) deutlich, dass die Zuwendung zur Wort-Offenbarung JHWHs (‚Tora‘ und verwandte Begriffe) und die
Auslegung
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sem Konzept zufolge im Menschen und seinem Verhalten und Handeln in Bezug auf Gott und entsprechend der göttlichen Weisung. Mit diesem korrespondiert die Hinwendung Gottes zum Menschen als Grund der Seligpreisung. In Bezug auf das Handeln des Menschen und dessen Fehlbarkeit ist neben der Orientierung an der Tora auch das rettende bzw. vergebende Handeln Gottes am Menschen Grund der Seligpreisung, so in Psalm 32, der über menschliche Schuld und die Möglichkeit von Vergebung reflektiert: ְל ָד ִ ֗וד ַ֫מ ְׂש ִ ּ֥כיל1 Von/für/über David. Ein Maskil. ֽׂשּוי־ּפ ַׁשע ְּכ ֣סּוי ֲח ָט ָ ֽאה׃ ֶ֗ ַא ְׁש ֵ ֥רי ְנ Glücklich (ist) der, dem der Frevel aufgehoben ist, dem die Sünde bedeckt ist. הו֣ה ֣לֹו ָ ְ ַ ֥א ְ ֽׁש ֵרי ָא ָ ֗דם ֤ל ֹא יַ ְח ׁ֬ש ֹב י2 Glücklich (ist) ein Mensch, dem JHWH die ָעֹו֑ ן Schuld nicht anrechnet רּוחֹו ְר ִמּיָ ה׃ ֣ וְ ֵ ֖אין ְּב und in dessen Geist keine Täuschung ist. י־ה ֱח ַר ְׁש ִּתי ָּב ֣לּו ֲע ָצ ָ ֑מי ֶ֭ ִ ּֽכ3 Denn als ich schwieg, zerfielen meine Gebeine ל־הּיֽ ֹום׃ ַ ְּ֜ב ַׁש ֲאגָ ִ֗תי ָּכ durch mein Stöhnen den ganzen Tag lang. יֹומם וָ ַליְ ָל ֮ה ִּת ְכ ַ ּ֥בד ָע ֗ ַלי ָ֫י ֶ ֥דָך ֣ ָ ִ ּ֤כי׀4 Denn bei Tag und bei Nacht war deine Hand schwer auf mir, נֶ ְה ַ ּ֥פְך ְל ַׁש ִ ּ֑די verwandelt wurde mein Mark ְּב ַח ְר ֖בֹנֵ י ַ ֣קיִ ץ ֶ ֽס ָלה׃ in Gluten des Sommers.296 Sela. יתי ִ א־כ ִּ֗ס ִ ֹ אֹוד ֲיע ָ֡ך וַ ֲע ֹ֘ו ִנ֤י ֽל ֪ ִ אתי ִ֙ ַח ָּט5 Meine Sünde machte ich bekannt, und meine Schuld bedeckte ich nicht. יהו֑ה ָ אֹודה ֲע ֵל֣י ְ ֭פ ָׁש ַעי ַל ֤ ֶ ָא ַ֗מ ְר ִּתי Ich sagte: Ich will meine Frevel JHWH bekannt machen. אתי ֶ ֽס ָלה׃ ֣ ִ את ֲעֹו֖ ן ַח ָּט ָ וְ ַא ָּ֙תה ֘ ָנ ָ ׂ֤ש Und du, du hast aufgehoben die Schuld meiner Sünde. Sela (Ps 32,1–5)
Der Psalm beginnt mit einer allgemeinen Seligpreisung (V. 1–2), die zwar singularisch formuliert ist, aber kollektive Gültigkeit beansprucht. In der Abfolge des Psalms steht sie zu Beginn, in der Chronologie der Narration des Ichs ist sie eine abstrakte Verallgemeinerung des individuellen Erlebens, von der das betende Ich erzählt (V. 3–6). Das Ich setzt ein mit seinem Schweigen ( ֶה ֱח ַר ְׁש ִּתיin V. 3) und den damit für es verbundenen negativen Konsequenzen. Seine Not gründet in seinem Schweigen. Von V. 1–2 her gelesen, kann das Leiden des Ichs nur damit erklärt werden, dass es sich in Frevel und Sünde befindet und in seinem Geist – anders
vertrauensvolle Beziehung zu Gott selbst – vorgeprägt durch dtn Vorgaben (vor allem Dtn 6,4–9) und induziert durch Ps 1 […] – zwei Seiten der einen Münze sind“. 296 Der Text ist schwer lesbar: Die Bedeutung von לשדיist unsicher. LXX deutet לשדיals Verbindung der Präposition ְלmit dem Substantiv „ ׁשדGewalttätigkeit, Verwüstung“, liest statt „ קיץSommer“ „ קוץStachel“ und ergänzt ein passendes Verb: ἐστράφην εἰς ταλαιπωρίαν ἐν τῷ ἐμπαγῆναι ἄκανθαν „Ich bin geraten in Not, als eindrang der Stachel.“ In der patristischen Literatur, z. B. bei Hieronymus (CCL 72, 203) wird der Stachel als Metapher für die Sünde oder das Gewissen gedeutet (vgl. Bons 2011, 1586).
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als in dem des Seliggepriesen – „ ְר ִמּיָ הTäuschung“ ist. Während zunächst noch unklar ist, welche Form von Täuschung gemeint ist, ob Gott oder den Menschen gegenüber, als betrügerisches Verhalten (vgl. das von derselben Wurzel abgeleitete ) ִמ ְר ָמהoder Lüge (so in Ps 101,7), legt der weitere Kontext nahe, dass mit ְר ִמּיָ הdas Hinwegtäuschen über die eigene Schuld gemeint ist (vgl. כסה ָעֹוןin V. 5). In der Abfolge des Psalms ist in Bezug auf das betende Ich zunächst unklar, ob der von Täuschung freie Geist ( ֵאין ְר ִמּיָ הin V. 2b) die Folge oder der Grund der Vergebung ist. Von der Rettungserzählung des Ichs her (V. 5) ist der Geist, der über Schuld hinwegtäuscht, das Verschweigen der eigenen Fehlerhaftigkeit, der Grund für die Not. Mit dem Rückblick des Ichs wird deutlich, dass es selbst sich zu den Glücklichen zählt, deren Frevel aufgehoben ist (V. 1), und dass die Seligpreisung eine Generalisierung seiner eigenen Erfahrung ist. In dieser Konzeption ist der Glückliche nicht ein Gerechter, der ohne Schuld ist. Die Schuld stellt eine menschliche Realität dar, der begegnet werden muss. Im Ich-Bericht des Beters wird die Unmöglichkeit der Verdrängung deutlich; die einzige Möglichkeit, mit ihr zu leben, ist, sie zu bekennen. Paradoxerweise darf der Mensch die Schuld nicht bedecken ( לֹא כסהin V. 5), damit sie von Gott bedeckt ( כסהin V. 1) und aufgehoben ( נׂשאin V. 1.5) werden kann. Auch wenn zunächst das Subjekt der Vergebung nicht genannt wird, wird in der Trias von Aufheben des Frevels – Bedecken der Schuld – Nichtanrechnen der Schuld durch JHWH von V. 1 her deutlich, dass JHWH derjenige ist, der letztlich die Schuld aufhebt – so auch in direkter Anrede JHWHs in V. 5. Das Schuldbekenntnis ist dabei nicht Bedingung für göttliche Vergebung, sondern thematisiert sie aus anthropologischer Perspektive. Differenziert beleuchtet der Psalm die Frage nach dem Umgang mit Schuld, der Möglichkeit von Vergebung und glückendem Leben und der Rolle von Gott und Mensch. Die Seligpreisungen gründen also in dem vertrauensvollen Verhältnis und der Hinwendung des Menschen zu Gott. Sie implizieren eine an Gottes Willen, seiner Tora, orientierte Lebensgestaltung. Innerhalb der Beziehung von Gott und Mensch wird auch die göttliche Vergebungsbereitschaft zum Grund der Seligpreisung. Pragmatik Deutlich wurde: Die Seligpreisung von Ps 34 steht im Zusammenhang einer umfassenden Reflexion des Psalters, worin menschliches Glück gründet: in der vertrauensvollen Beziehung zu Gott, dem Handeln entsprechend seiner Weisung und der Möglichkeit von Vergebung. Bezeichnend für diese Reflexion ist, dass es – zumal es sich um Nominalsätze handelt – schwer fällt, den Sprechakt der Seligpreisungen genauer zu bestimmen.297 Die Seligpreisungen beschreiben assertiv Wirklichkeit,
297 Vgl. hierzu Steinberg 2013 in der Terminologie von Searle; Hellholm 1998, 301–304.307; Erbele-Küster 2001, 110 und Weber 2008, 202–203. Die Bestimmung von Wagner 1997, 144, die „ ַא ְׁש ֵרי-Sprüche, die eher WUNSCHcharakter haben […]. Vgl. etwa Ps 40,5.“ greift zu kurz. Weber 2008, 202 spricht von einem „Oszillieren zwischen Zuspruch und Anspruch“.
Auslegung
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die als heilvoll wahrgenommen wird, und sagen Glück zu. Gleichzeitig laden sie expressiv zu einer freudigen Reaktion ein. Die Seligpreisungen sind aber auch nicht nur Selbstausdruck, sondern bekunden soziale Anerkennung und gewähren diese als performativer Akt. Sie umschreiben Zustände der Gegenwart, sagen als Kommissive aber auch zukünftiges Glück zu. Diese auf die Zukunft ausgreifende Aussage kann nicht vom Ich direkt eingelöst werden. Vor dem Hintergrund der Vorstellung eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen bzw. der „konnektiven Gerechtigkeit“ ergibt sich ein komplexes Zusammenspiel von menschlichem Adressaten, sozialer Zubilligung und – im Kontext der Gebetstexte – von Gott als Urheber des Wohlergehens. Daneben ist im Zusammenhang mit der Frage nach der ethischen Relevanz der Gebetstexte auch die appellative Dimension der Seligpreisung hervorzuheben. Wie sich zeigte, stellt eine Großzahl der Seligpreisungen nicht Gott, sondern den Menschen und sein Handeln in den Vordergrund. Die Seligpreisung in Ps 34 „Glücklich ist der Mann, der Zuflucht sucht bei ihm.“ (Ps 34,9) kann der Gruppe von Seligpreisungen zugeordnet werden, die auf die Hinwendung zu Gott fokussieren. Die Seligpreisung ist im Kontext des Psalms auch expressiv zu verstehen. Das betende Ich lädt sein Auditorium zur Teilhabe an seinem Lob ein (vgl. vor allem V. 4). Thematisch führt sie den Abschnitt V. 5–9 mit Aussagen zum Rettungshandeln JHWHs an denen, die sich ihm zuwenden, fort. Die Kontextualisierung im Psalter hat gezeigt, dass die Lexeme dieses Wortfeldes, nämlich „ חסהZuflucht suchen“ (Ps 2; 12; 34,9), „ דרׁשsuchen“ (Ps 119,2), „ בטחvertrauen“ (Ps 84,13; Spr 16,20), sowie die Seligpreisungen selbst immer auch im Zusammenhang mit der Frage nach dem ethischen Handeln und glückendem Leben stehen. Dieses menschliche Handeln kann theologisch als Hinwendung zu Gott, ethisch als Tun von Recht und Gerechtigkeit, als Hinwendung zu dem Armen benannt werden. Es gilt als Grund für das Glück des Menschen, so dass die Seligpreisungen für ihre Hörer direktive Funktion haben298 und als „Werberuf “299 für eine an JHWH orientierte Lebensführung und die Gemeinschaft der JHWH-Verehrer dienen. In Bezug auf die Selipreisungen lässt sich festhalten: Mit ihnen wird in individueller und kollektive Perspektive über die Möglichkeit glückenden Lebens reflektiert. Dieses wird immer innerhalb der Beziehung zu Gott verortet, als vertrauensvolle Hinwendung, als an JHWHs Weisung orientiertes Handeln und als Erfahrung von Vergebung und Versöhnung. Wenn Ps 34 also den Mann glücklich preist, der bei JHWH Zuflucht sucht (Ps 34,9), dann ist dies eine allgemein anthropologische Aussage. Sie rückt die vertrauensvolle Hoffnung auf Rettung 298 So auch Weber 2008, 201: „Im Weiteren ist erkennbar, dass die Seligpreisungen weithin in einem weisheitlich tangierten Umfeld angesiedelt sind, welches mit ‚Pädagogik‘ (Belehrung, Motivierung, Verpflichtung) überschrieben werden kann. Inhaltlich werden Haltungen der Tora-Verpflichtung, des JHWH-Vertrauens sowie Handlungsweisen von Gerechtigkeit und Recht (inkl. Armenunterstützung) und Wohlergehen samt Familiensegen beglückwünscht.“ 299 Hossfeld/Zenger 1993, 213.
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in den Vordergrund, die aber auch die Orientierung des eigenen Verhaltens an JHWH impliziert. 3.4.4.2.2 Der Aufruf an die Heiligen zu JHWH-Furcht (V. 10) Der Aufruf an die Heiligen zu JHWH-Furcht (V. 10) ergibt sich aus den vorher bekundeten Überzeugungen des Ichs. Weil JHWH gut ist (V. 9a), ist derjenige glücklich, der bei ihm Zuflucht sucht (V. 9b). Dies gilt für David, der von Abimelech weggetrieben wird (V. 1c), für die Armen (V. 3b; vgl. V. 6–8) und das betende Ich selbst (V. 5a). Zugleich ist die Tatsache, dass derjenige Glück findet, der sich zu JHWH hinwendet, Grund für die folgende Aufforderung: „ יְ ראּו ֶאת־יְ הוָ הFürchtet JHWH!“ (V. 10a). Sie schließt als Imperativ formal an V. 9 an und verweist auf V. 12. Begründet wird sie im zweiten Kolon des Parallelismus von V. 10 damit, dass für JHWH-Fürchtende kein Mangel herrsche. Für Vers 10 ergeben sich drei Fragen im Hinblick auf Semantik und intertextuelle Verortung: 1. Das Verständnis von יראund seines Derivats יְ ֵר ָאיו, 2. die Konnotationen des Lexems ַמ ְחסֹורund 3. die Bedeutung des Vokativs ְקד ָֹׁשיו. Während die ersten beiden semantischen Fragen unter Rückbezug auf die Ausführungen zu Vers 8 schnell geklärt werden können, sollen die intertextuellen Bezüge der Attribuierung der JHWH-Anhänger als ְקד ָֹׁשיוnäher in den Blick genommen werden und im Hinblick auf die ethischen Implikationen der Bezeichnung untersucht werden. i
1. ירא – „fürchten“/יְ ֵר ָאיו – „die, die ihn fürchten“: Ausrichtung auf Gott Wie die semantische Analyse für den substantivischen Gebrauch von „ יְ ֵר ָאיוdie ihn Fürchtenden“ (V. 8) zur Wurzel יראgezeigt hat, ist auch hier die Ermutigung „ יְ ראּו ֶאת־יְ הוָ הfürchtet JHWH“ als Aufruf zu einer vertrauensvollen Haltung Gott gegenüber zu verstehen, die in eine ungünstige Situation bzw. Notlage hineingesprochen wird. Ist in V. 8 die Rede von Rettung, wird nun die Aufforderung zum Vertrauen zu JHWH damit begründet, dass für die JHWH-Fürchtenden kein Mangel herrscht. Analog zu V. 8a ist die Bezeichnung יְ ֵר ָאיוals Gruppenbezeichnung zu verstehen, die zugleich die Hinwendung zu und Orientierung an JHWH als auch die gegenseitige Verbundenheit der Menschen bezeichnet. Die formale Aufforderung zu JHWH-Furcht wird in V. 12 aufgegriffen, und ihr entspricht inhaltlich die daran anschließende Unterweisung über die rechte Lebensführung (V. 13–15). 2. ַמ ְחסֹור – „Mangel“: Abwesenheit von Not Von der Seligpreisung aus V. 9b her gelesen wird die Aufforderung ( יְ ראּו יְ הוָ הV. 10a) zum Appell, bei JHWH, der gut ist (V. 9a), Zuflucht zu suchen. V. 10b stellt im Abschnitt V. 9–11 ein Gegenstück zur Aussage von V. 9a dar. Nach der positiven Charakterisierung JHWHs als טֹובwird nun ex negativo ( ַאיִ ןin V. 10) die Bedeutung dieser Aussage für den ausgesagt, der sich JHWH zuwendet. Aus dem Wesen Gottes und seiner Güte folgt für den Menschen die Abwesenheit des Mangels, wie V. 11b resümiert: י־אין ַ֜מ ְח ֗סֹור ִל ֵיר ָ ֽאיו׃ ֥ ֵ „ ִּכKein Mangel ist für die, die ihn fürchten.“
Auslegung
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Im Folgenden soll die Bedeutung des Lexems ַמ ְחסֹורausgelotet werden. Ps 23 wird als psalterinterner Paralleltext herangezogen, und die intertextuellen Bezüge zur Tradition des Exodus und des Deuteronomiums werden offengelegt. (1) In Spr 6,11 erscheint ַמ ְחסֹורals Parallelbegriff zu „ ֵריׁשArmut“, und in Spr 6,32; 7,7; 9,4 u. ö. findet sich die Annexionsverbindung ר־לב ֵ „ ֲח ַסMangel an Verstand“ in Bezug auf die Lebensführung und das Wissen um das rechte Verhalten. Koh 4,8 stellt die Frage nach dem Sinn der Mühe, die als Abwesenheit vom Guten betrachtet wird: ּטֹובה ָ֔ ׁשי ִמ ֙ ִ ּומ ַח ֵ ּ֤סר ֶאת־נַ ְפ ְ ּול ִ ֣מי׀ ֲא ִנ֣י ָע ֵ֗מל ְ „Und für wen mühe ich mich und lasse meine Nefeš Mangel an Gutem leiden?“ (Koh 4,8). Jegliche Form der Entbehrung, ökonomisch, intellektuell, auch das Unvermögen, angemessen zu handeln, oder das sorgenvolle Streben wird mit dem Lexem ַמ ְחסֹורoder einem Derivat bezeichnet. (2) Eine Parallele ergibt sich mit Psalm 23 innerhalb des Psalters: הו֥ה ֜ר ֹ ֗ ִעי ֣ל ֹא ָ ְי „ ֶא ְח ָ ֽסר׃JHWH ist mein Hirte. Nicht werde ich Mangel leiden.“ (Ps 23,1). Im Bild des königlichen Hirten wird angezeigt, dass JHWH den versorgt, der zu ihm gehört. Dabei bleibt offen, ob es sich um materielle Not oder andere Formen der Einschränkung oder Bedürftigkeit handelt. So wie in Ps 34 mit der Attribuierung ( טֹובV. 9) JHWH positiv charakterisiert wird, findet sich auch in Ps 23 eine positive Entsprechung der Aussage, die der ex negativo-Umschreibung in Ps 23,1 entspricht, dass nämlich das betende Ich bei JHWH Gutes ( )טֹובund Gnade () ֶח ֶסד findet (vgl. Ps 23,6). 34,9 Versteht und seht, dass JHWH gut ( )טֹובist. 34,10 Denn es ist kein Mangel ( ) ַמ ְחסֹורfür die, die ihn fürchten.
23,1 JHWH ist mein Hirte. Nicht werde ich Mangel leiden () ֶא ְח ָסר. 23,6 Sicher werden mir Gutes ()טֹוב und Gnade alle Tage meines Lebens folgen.
(3) Die Vorstellung, dass JHWH-Fürchtende keinen Mangel leiden, steht in intertextueller Beziehung zur narrativen Tradition des Exodus und deren deuteronomistischer Rezeption. So wird die Wüstenwanderung als Zeit der Entbehrung und der Not beschrieben. Doch bereits auf dem Weg zum Sinai (vgl. Ex 15,22–18,27) übernimmt JHWH die Versorgung seines Volkes, was sich auch als eine Prüfung Israels erweist, die sich auf dessen Tora-Treue bezieht: ם־ל ֹא׃ ֽ תֹור ִ ֖תי ִא ָ „ ְל ַ ֧מ ַען ֲאנַ ֶ ּ֛סּנּו ֲהיֵ ֵ ֥לְך ְּבDamit ich es prüfe, ob es sich entsprechend meiner Weisung verhält oder nicht.“ (Ex 16,4).300 JHWH unterstützt sein Volk mit Fleisch am Abend und Brot am Morgen und sorgt für die Versorgung eines jeden, der das Manna sammelt, und zwar so, dass es weder Überschuss noch Mangel gibt: „ וְ ַה ַּמ ְמ ִ ֖עיט ֣ל ֹא ֶה ְח ִ ֑סירWer wenig gesammelt hatte, dem mangelte es nicht.“ (Ex 16,18). Das Verbot, sechs Tage etwas von dem 300 Vgl. Dohmen 2015, 384.
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Gesammelten aufzuheben, am siebten Tag aber genau dies zu tun, wird zur Überprüfung, ob Israel nach der Weisung Gottes lebt. Gleichzeitig zielt die Erzählung darauf, den Schabbat als etwas Gegebenes, das nicht nach individueller Leistung zugeteilt wird, sondern für alle gleich ist, zu charakterisieren.301 Im Rückblick des Deuteronomiums erscheinen die 40 Jahre der Wüstenwanderung als Zeit und Zeichen der göttlichen Gegenwart und Unterstützung: ֶז֣ה׀ ֹלה ֙יָך ִע ָּ֔מְך ֥ל ֹא ָח ַ ֖ס ְר ָּת ָּד ָ ֽבר׃ ֶ֙ הו֤ה ֱא ָ ְ„ ַא ְר ָּב ִ ֣עים ָׁש ָ֗נה יDiese 40 Jahre war JHWH, dein Gott, mit dir; du hattest keinen Mangel an irgendetwas.“ (Dtn 2,7; vgl. auch Neh 9,21). Der göttliche Beistand verwandelt die unwirtliche Wüste in einen Ort der Bedürfnislosigkeit. Auch das Brot des verheißenen Landes wird im Rückblick mit dem Manna in Verbindung gebracht. Israel wird davor gewarnt, angesichts des Reichtums des in Aussicht stehenden Landes die Weisung JHWHs nicht zu vergessen (vgl. Dtn 8,7– 18). Das Land wird beschrieben als א־ת ְח ַ ֥סר ֶ ֹ ל־ּבּה ֔ ֶל ֶחם ֽל ֣ ָ אכ ַ ֹ ֶ֗א ֶרץ ֲא ֶׁ֙שר ֤ל ֹא ְב ִמ ְס ֵּכנֻ ֙ת ּֽת „ ּ֖כֹל ָ ּ֑בּהein Land, in dem du nicht in Armut Brot isst, in dem du keinen Mangel haben wirst“ (Dtn 8,9). Wenig später wird Israel mit Deuteronomium 15 auf ein Gesetz der Fürsorge für den Armen verpflichtet: ִ ּֽכי־יִ ְהיֶ ֩ה ְב ָ֙ך ֶא ְבי֜ ֹון ֵמ ַא ַ ֤חד ַא ֶ֙ח ֙יָך7 Wenn bei dir ein Armer ist, einer von deinen Brüdern, ְּב ַא ַ ֣חד ְׁש ָע ֶ ֔ריָך ְּב ַ֙א ְר ְצ ָ֔ך in einem deiner Tore, in deinem Land, ֹלהיָך נ ֵ ֹ֣תן ָלְ֑ך ֖ ֶ הו֥ה ֱא ָ ְֲא ֶׁשר־י das JHWH, dein Gott, dir gibt, ת־ל ָב ְב ָ֗ך ְ ֧ל ֹא ְת ַא ֵ ּ֣מץ ֶא sollst du dein Herz nicht verhärten ת־י ְ�֣ד ָ֔ך ֵמ ָא ִ ֖חיָך ָ וְ ֤ל ֹא ִת ְקּפ ֹ֙ץ ֶא und deine Hand nicht vor deinem Bruder, dem ָה ֶא ְביֽ ֹון׃ Armen, verschließen, ת ַח ִּת ְפ ַ ּ֛תח ֶאת־יָ ְדָך֖ ֑לֹו ֹ ֧ י־פ ָ ִ ּֽכ8 sondern du sollst deine Hand weit für ihn öffnen, יטּנּו ֵ ּ֚די ַמ ְחס ֹ֔רֹו ֶ֔ וְ ַה ֲע ֵב ֙ט ַּת ֲע ִב und du sollst ihm willig ausleihen, entsprechend des Mangels, ֲא ֶ ׁ֥שר יֶ ְח ַ ֖סר ֽלֹו׃ den es ihn mangelt. (Dtn 15,7–8)
Somit ergibt sich eine Spannung zwischen der Verheißung, dass Israel im verheißenen Land Brot ohne Armut isst und es ihm an nichts mangeln wird, und der Verordnung, dem Armen zu geben, der Mangel im Land hat. Dtn 15,4–6 verheißt, dass es keine Armen im Land geben werde, wenn Israel auf JHWHs Stimme hört, während Dtn 15,1–3.7–11 mit der Schuldenerlassregelung den Umgang mit gegebener Armut regelt. Eckart Otto will die Spannung nicht literarkritisch lösen, sondern geschichtstheologisch. So hätten die Adressaten des Deuteronomiums die Beschneidung des Herzens (vgl. Dtn 30,6) „am Ende der Tage“ (Dtn 4,30) noch vor sich. Bis dahin aber müsse der Gehorsam JHWHs Satzungen gegenüber angemahnt
301 Vgl. Dohmen 2015, 390–391.
Auslegung
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werden, und Dtn 15,7–11 gelte auch angesichts der Verheißung von Dtn 8,9.302 Die Zeitangabe „am Ende der Tage“ (Dtn 4,30) sei dabei nicht eschatologisch zu verstehen, sondern beziehe sich auf ein innergeschichtliches neues Handeln JHWHs.303 Es gehe in Dtn 15,4–6 „als Zeugnis nachexilischer Fortschreibung des Deuteronomiums darum, eine Alternative zum Gegebenen sozialer Wirklichkeit der Erzählzeit des Deuteronomiums, die in Neh 5,1–13 beschrieben wird, zu entwerfen.“304 Jedoch wäre hier auch zu erwägen, ob eine Spielart der Vorstellung von einer konnektiven Gerechtigkeit vorliegt.305 Die Spannung von Dtn 8,7–8; 15,4–6 mit Dtn 15,1–3.7–11 muss nicht unbedingt von Dtn 4,30 damit aufgelöst werden, dass Dtn 8,9; 15,6–7 erst „am Ende der Tage“ durch JHWH hergestellt werde. Vielmehr kann man den in Dtn 8,9; 15,4–6 beschriebenen Zustand ohne Mangel, die Alternative zum real Gegebenen und Erfahrenen, auch als Auftrag an den Menschen begreifen. Theologisch gilt er als Segen JHWHs, wenn Israel auf die Stimme JHWHs hört und das Gebot erfüllt (vgl. Dtn 15,5). Anthropologischethisch gesprochen ist er mögliches Resultat eines Handelns in Orientierung an der göttlichen Weisung. Für Psalm 34 gilt: JHWH-Furcht wird in Verbindung mit Wohlergehen und Glück gesetzt. Wer JHWH fürchtet, sich also zum einen in der Not an JHWH wendet, zum anderen sein ethisches Handeln an JHWH und dem Guten orientiert, dem werde es an nichts mangeln. So wie die Charakterisierung JHWHs als טֹובzum Appell an den Menschen wird ( ֲע ֵׂשה־טֹובin V. 15), hat auch die Aussage, bei JHWH sei kein Mangel für die, die ihn fürchten, ethische Implikationen für das Tun des Menschen. JHWH gilt als letzter Grund des Vertrauens und bietet Orientierung. Dies ist die Überzeugung des Ichs von Ps 34, das diese vor seiner Zuhörerschaft zeugnishaft zum Ausdruck bringt. 3. ְקד ָֹׁשיו – „seine Heiligen“: Beziehung und ethischer Anspruch Das betende Ich von Ps 34 bezeichnet seine Adressaten, die es zu JHWH-Furcht aufruft, als ְקד ָֹׁשיו. Diese Bezeichnung findet sich erstens in Ps 34 und 16 als unspezifische Gruppenbezeichnung, zweitens sonst vor allem in Bezug auf das Volk Israel in der Tora (vor allem Ex 19; Dtn 7; 14; 26). Sie gründet drittens letztlich in der Heiligkeit Gottes. Die Rede und Vorstellung von der „Heiligkeit“ Gottes impliziert das Streben nach Heiligkeit. In Bezug auf das Buch Levitikus und viertens auch für Jes 5–6 und Ps 24 zeigt sich, dass die Attribuierung als „heilig“ als Aufruf zur imitatio dei verstanden werden. (1) Die Benennung des Kollektivs als ְקד ָֹׁשיוin Ps 34 ist nach Martin Noth singulär, und die Wendung ְקד ָֹׁשיוbeziehe sich nur an dieser Stelle im Alten Testa-
302 Vgl. Otto 2012b, 916. 303 Vgl. Otto 2012a, 578. 304 Otto 2016, 1353. 305 Vgl. Janowski 1994, 247–271; Assmann 1990.
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ment auf ein Kollektiv von Menschen.306 Kathrin Liess argumentiert für Psalm 16 überzeugend, dass sich דֹוׁשים ִ ְקin Ps 16,3 nicht auf Götter oder auf (levitische) Priester beziehe,307 sondern analog zu Ps 34,10 auf die JHWH-Frommen. In diesem Zusammenhang weist sie die engen semantischen Bezüge von Ps 16 und 34 nach und auf Motivparallelen hin und kommt zu dem Ergebnis: „Diese Parallelisierung von דֹוׁשים ִ ְקund יִ ְר ֵאי יְ הוָ הüber die Psalmen 15 und 16 hinaus legt nahe, die ‚Heiligen‘ in Ps 16,3 wie in Ps 34,10 im Sinne von יִ ֵר ָאיוals JHWH-Fromme zu interpretieren, die sich durch JHWH-Furcht, Treue und Zugehörigkeit auszeichnen.“308 (2) Häufiger findet sich die Bezeichnung Israels als ַעם ָקדֹוׁשoder „ גֹוי ָקדֹוׁשein heiliges Volk“ in den Texten der Sinai-Perikope, im Zusammenhang mit der Heiligkeitskonzeption des Buches Levitikus und im Deuteronomium. Die „Höhenlinie Ex 19,3–6; Dtn 7,6; 14,2.21; 26,18–19 [ist] auf nachexilische Fortschreibungen des Pentateuch zurückzuführen, die damit das Deuteronomium an die Sinaiperikope des Tetrateuch anbinden“309. Diese postpriesterschriftliche Fortschreibung begründe die Applikation der priesterlichen Reinheitsgebote auf das Volk als Ganzes im Heiligkeitsgesetz (Lev 19,27–28) schon in der Eröffnung der Sinaiperikope.310 Die Redaktion des Heiligkeitsgesetzes habe wiederum in Lev 11,43–45 die Berufung Israels zur Heiligkeit eingefügt.311 In allen Texten erscheint die Charakterisierung Israels als ַעם ָקדֹוׁשerstens als Beziehungsaussage. Die Beziehung von heiligem Volk und seinem Gott steht zweitens im Zusammenhang menschlichen Handelns und gründet drittens in der Heiligkeit und im Handeln Gottes. Die Bezeichnung Israels als heiliges Volk bezieht sich erstens auf die Beziehung von JHWH und Israel. Schlüsselstelle sind in Exodus 19 die Worte, die Mose dem Haus Jakob und den Kinder Israels (vgl. Ex 19,3) bei der Ankunft am Sinai unmittelbar vor Theophanie und Gesetzesgabe mitteilen soll:
306 So Kraus 51978, 420 mit Verweis auf Noth, Martin: Die Heiligen des Höchsten. In: Martin Noth: Gesammelte Studien zum Alten Testament. München 1957, 274–290, hier: 277. Dem Heiligen werden auch bestimmte Personengruppen wie die Nasiräer (Num 6) und die Priester (Lev 21) zugeordnet. 307 So die Position von Kraus 51978, 264. 308 Liess 2004, 147 (zur gesamten Argumentation siehe 130–147). 309 Otto 2012b, 850. Während Otto 2012b, 850 noch unterscheidet: „Von dieser Höhenlinie, die in Dtn 7,6 Israels Status als ῾am qādôš mit der Erwählung durch JHWH begründet, ist Dtn 28,9 [als Ursprung dieser Motivik] geschieden, das die Aufrichtung Israels als ῾am qādôš an seinen Gesetzesgehorsam bindet.“ spricht er sich 2017 gegen die Verteilung auf unterschiedliche literarische Schichten aus: „Dtn 7,8 widerspricht keineswegs Dtn 28,9, da die Begründung der Erwählung als heiliges Volk mit der Liebe JHWHs in Dtn 7,8 im Aufbau von Dtn 7 mt Dtn 7,6–11 und also mit Dtn 7,11 verknüpft ist“ (Otto, 2017, 2004). 310 Vgl. Otto 2016, 1299. 311 Vgl. Hieke 2014a, 414–415.
Auslegung
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עּו ְּבק ֔ ִֹלי ֙ ֹוע ִּת ְׁש ְמ ַ ם־ׁש ֤מ ָ וְ ַע ָּ֗תה ִא5 Und nun, wenn ihr aufmerksam meine Stimme hört יתי ֑ ִ ת־ּב ִר ְ ּוׁש ַמ ְר ֶ ּ֖תם ֶא ְ und meinen Bund haltet, ל־ה ַע ִּ֔מים ֣ ָ יתם ִ ֤לי ְסגֻ ָּל ֙ה ִמ ָּכ ֶ ה ִ֙וִ ְ י dann werdet ihr mir ( ) ִליzum Eigentum aus allen Völkern sein, ל־ה ָ ֽא ֶרץ׃ ָ י־לי ָּכ ֖ ִ ִּכ denn mir ist die ganze Erde. יּו־לי ֛ ִ וְ ַא ֶ ּ֧תם ִּת ְה6 Aber ihr, ihr werdet mir ( ) ִליsein, ַמ ְמ ֶל ֶ֥כת ּכ ֲֹה ִנ֖ים וְ ג֣ ֹוי ָק ֑דֹוׁש ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk ()ּגֹוי ָקדֹוׁש. ֵ ֚א ֶּלה ַה ְּד ָב ִ ֔רים Dies sind die Worte, ל־ּב ֵנ֥י יִ ְׂש ָר ֵ ֽאל׃ ְ ֲא ֶ ׁ֥שר ְּת ַד ֵ ּ֖בר ֶא die du zu den Söhnen Israels reden sollst. (Ex 19,5–6)
Die Attribuierung der Heiligkeit Israels steht in Zusammenhang mit dem Bundesschluss und der Erwählung Israels als besonderes Eigentum JHWHs ( ִליin V. 5.6). Auch in Dtn 7,6; 14,2.21; 26,19 wird Israel als „ ַעם ָקדֹוׁשein heiliges Volk“ benannt, wobei es sich jeweils um Relationsaussagen handelt: Israel ist ein heiliges Volk „ ַליהוָ הfür JHWH“ und „ ַעם ְסגֻ ָּלהVolk des Eigentums“ (Dtn 7,6; 14,2; 26,18).312 „Der Begriff der Heiligkeit bezeichnet als Aus- und Abgrenzungslexem die Aussonderung aus dem Andersartigen, an erster Stelle JHWHs als des heiligen Gottes in Abgrenzung von der Schöpfung […]. Da qādoš auch ein Relationsbegriff ist, wird mit der Heiligkeit des Volkes auch die Relation zu JHWH als die herausgehobene Nähe bestimmt.“313 Die Aussonderung Israels hat allerdings zweitens Implikationen für das Verhalten Israels. Erwählung bedeutet in Exodus 19 „nicht das exklusive Verhältnis eines Nationalgottes zu seiner Nation […]. Vielmehr bedeutet Erwählung nach der Konzeption von V. 5, dass Israel etwas tun kann, um das, was JHWH anbietet, nämlich Israel zu seinem besonderen Eigentum [und zu einem heiligen Volk] unter allen Völkern zu machen, zu realisieren.“314 Die Zuschreibung von Heiligkeit an Israel ist verbunden mit einem bestimmten Tun. So verweist die Formulierung, den Bund zu halten ( ׁשמרin Ex 19,5), voraus auf die Gebote, die Israel empfangen wird: Die Antwort des Volkes: הו֖ה נַ ֲע ֶ ׂ֑שה ָ ְר־ּד ֶ ּ֥בר י ִ „ ּ֛כֹל ֲא ֶׁשAlles, was JHWH sagt, wollen wir tun!“ (Ex 19,8) versteht den Inhalt des Bundes und die Rede von der Heiligkeit ebenfalls als ein Tun des Menschen. Die Bezeichnung als „ ַמ ְמ ֶל ֶכת ּכ ֲֹהנִ יםKönigreich von Priestern“ (Ex 19,6) unterstreicht die mit dem Priesterstatus üblicherweise verbundene Hervorhebung Israels in Bezug auf die Völker. Diese gilt jedoch nicht generell, sondern nur insofern Israel
312 Ohne den Verweis auf die ethnische Größe ַעםsteht „ ְסגֻ ָּלהEigentum“ allein in Ex 19,6; Ps 135,4; Mal 3,17. 313 Otto 2012b, 865. 314 Dohmen 22012, 61.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
den Gotteswillen realisiert.315 Analog gilt dies auch für die Heiligkeit Israels. Sie ist nicht per se gegeben, sondern sie ist Auftrag Israels und wird im Tun Wirklichkeit. Auch in Deuteronomium 7 wird die Abgrenzung von den Vorbewohnern des Landes durch ein bestimmtes Verhalten (vgl. Dtn 7,1–5), das von der exklusiven Zuordnung zu JHWH bestimmt ist, mit dem Auftrag der Heiligkeit Israels begründet: „Denn ein heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott!“ (Dtn 7,6; 14,2.21). „Die Gebote in Dtn 7,2b–5 sind also mit der Heiligkeit des Volkes begründet, wobei das Erste Gebot mit Einschluss des Bilderverbotes den hermeneutischen Schlüssel bereitstellt, um die Abgrenzung durch Handlungsweisen zu konkretisieren.“316 Der Heiligkeit Israels entspricht die Einzigkeit Gottes: ֹלהיָך ֣הּוא ֖ ֶ הו֥ה ֱא ָ ְוְ ָי ַ�֣ד ְע ָּ֔ת ִ ּֽכי־י ֹלהים ֑ ִ „ ָ ֽה ֱאSo erkenne, dass JHWH dein Gott, dass er der Gott ist.“ (Dtn 7,9). Das Tun der Gebote ist dem Volk mit seiner Heiligkeit, seiner Aussonderung durch den einen Gott geboten. Erwählung und Heiligung sind aber drittens nicht zu trennen von Gott, sondern gründen in ihm. Die göttliche Rede am Sinai, in der Israel in Exodus 19 als heiliges Volk JHWHs bezeichnet wird, wird mit dem Verweis auf die Rettungstat JHWHs eröffnet: ל־ּכנְ ֵפ֣י נְ ָׁש ִ ֔רים וָ ָא ִ ֥בא ֶא ְת ֶכ֖ם ֵא ָ ֽלי׃ ַ יתי ְל ִמ ְצ ָ ֑ריִ ם וָ ֶא ָ ּׂ֤שא ֶא ְת ֶכ ֙ם ַע ִ יתם ֲא ֶ ׁ֥שר ָע ִ ׂ֖ש ֶ֔ ַא ֶ ּ֣תם ְר ִא „Ihr habt gesehen, was ich an Ägypten getan haben. Und ich trug euch auf den Flügeln des Geiers, und ich führte euch zu mir.“ (Ex 19,4). Die Forderung nach Heiligkeit Israels ergeht vor dem Hintergrund des Exodus und der erfolgten Rettung. Auch in der Konzeption von Deuteronomium 7 sind die Erwähltheit Israels und seine Heiligkeit zwar Auftrag, das Tun Israels und die Realisation der Heiligkeit jedoch nicht Grund für die Erwählung (vgl. Dtn 7,7–12): JHWH erwählt Israel auch nicht aufgrund „ ֵמ ֻר ְּב ֶכםeurer Größe“ (Dtn 7,7), sondern „ ִּכי ֵמ ַא ֲה ַבת יְ הוָ ה ֶא ְת ֶכםwegen der Liebe JHWHs zu euch“ (Dtn 7,8), die sich in der Befreiungstat der Herausführung aus Ägypten zeigt (vgl. Dtn 7,8). „Die Autoren bedienen sich einer im Alten Testament typischen Motivverbindung, dass JHWH gerade die Geringen erwähle, um aber auch die Kleinheit des Volkes nicht als Begründung gelten zu lassen. Allein bei JHWH sei der Grund für die Erwählung zu finden.“317 Hierbei läuft die Argumentation auf eine Paradoxie hinaus: JHWH liebt ( חׁשקin V. 7) Israel wegen seiner Liebe ( ַא ֲה ָבהin V. 8): „Eine Begründung für JHWHs Liebe wird auf diese Weise gerade verweigert und so als Geheimnis Gottes zu erkennen gegeben, um so die Freiheit und damit Gottheit Gottes zu wahren.“318 Aus der Erwählung folgt die Paränese, die Gebote und Gesetze zu halten (V. 11), was im folgenden Vers als erfüllt wiederholt wird: ֹלהיָך ְל ָ֗ך ֶ֜ הוה ֱא ָ ֙ ְיתם א ָ ֹ֑תם וְ ָׁש ַמר֩ י ֖ ֶ ּוׁש ַמ ְר ֶ ּ֥תם וַ ֲע ִׂש ְ וְ ָהָי֣ה׀ ֵע ֶ֣קב ִּת ְׁש ְמ ֗עּון ֵ ֤את ַה ִּמ ְׁש ָּפ ִט ֙ים ָה ֵ֔א ֶּלה ת־ה ֶ֔ח ֶסד ֲא ֶ ׁ֥שר נִ ְׁש ַ ּ֖בע ַל ֲאב ֶ ֹֽתיָך׃ ַ ת־ה ְּב ִר ֙ית וְ ֶא ַ „ ֶ ֽאUnd es wird sein: Weil ihr auf diese Rechtssprüche hört und sie bewahrt und sie tut, wird JHWH, euer Gott, dir den Bund und die Gnade bewahren, die er deinen Vätern geschworen hat.“ (Dtn 7,12).
315 Vgl. Dohmen 22012, 63. 316 Otto 2012b, 866. 317 Otto 2012b, 867. 318 Otto 2012b, 867.
Auslegung
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(3) Innerhalb der Beziehung von JHWH und seinem Volk ist es nach Levitikus 11 und 19 letztlich die Heiligkeit JHWHs, die von Israel Heiligkeit verlangt: יתם ְקד ִֹׁ֔שים ִ ּ֥כי ָק ֖דֹוׁש ָ ֑אנִ י ֣ ֶ ִם וְ ִה ְת ַק ִּד ְׁש ֶּת ֙ם וִ ְהי ֒ יכ ֶ „ ִ ּ֣כי ֲא ִנ֣י יְ הוָ ֮ה ֱא ֹֽל ֵהDenn ich bin JHWH, euer Gott. Ihr aber sollt euch heiligen, und ihr sollt heilig werden, denn ich bin heilig.“ (Lev 11,44, vgl. Lev 11,45; 19,2; 20,26). Heiligkeit als Eigenschaft JHWHs bezeichnet und verlangt nicht nur eine Bereitstellung von Orten, Zeiten, Personen und Gegenständen für die Gottheit, Gott zu heiligen und zu verehren, sondern bedeutet auch die Nachahmung von Gott durch die, die sich ihm zuordnen: „Holiness means imitatio Dei – the life of godliness“319. Diese Vorstellungen sind nicht als „nomistisch“ zu verstehen, denn die „Bewahrung der Gebote durch das Volk und JHWHs Bewahrung von berît und haesaed bedingen sich wechselseitig“320. Im Pentateuch bedeutet imitatio dei eine Verknüpfung von kultisch-rituellen Vorschriften und ethisch-sozialen Geboten in der Tora. So folgen auf die Aufforderung יכם׃ ֽ ֶ ֹלה ֵ הו֥ה ֱא ָ ְ„ ְקד ִ ֹׁ֣שים ִּת ְהי֑ ּו ִ ּ֣כי ָק ֔דֹוׁש ֲא ִנ֖י יHeilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, JHWH, euer Gott“ (Lev 19,2) wechselnd religiöse und v. a. soziale Weisungen, zentral darunter das Gebot der Nächstenliebe (vgl. Lev 19,18), zweimal auch verknüpft mit der Aufforderung zu Gottesfurcht (vgl. Lev 19,14.32). Lev 19 bezieht sich dabei inhaltlich auch auf den Dekalog, geht aber mit dem Konzept der Heiligkeit über den Dekalog hinaus. „Der Aufruf zur Heiligkeit fügt dem Anspruch des Dekalogs auf Gehorsam gegenüber den Geboten aber noch einen entscheidenden Aspekt hinzu, indem auch das Ziel und die Motivation des Gebotsgehorsams genannt wird, nämlich Anteil zu haben an der Heiligkeit Gottes und so durch das Befolgen der göttlichen Weisung immer in der Gegenwart und im Schutz Gottes leben zu können.“321 Sich zu heiligen ermöglicht göttliche Nähe und bedeutet Gemeinschaft mit Gott: „Der ethische Anspruch von Lev 19 ist damit untrennbar mit dem Gottesverhältnis verbunden“322. (4) Neben den Texten der Tora, die von der Heiligkeit Israels als Aufruf, an der göttlichen Heiligkeit teilzuhaben, sprechen, lassen sich mit Jes 5–6 und Ps 24 auch zum einen ein prophetischer und zum anderen ein Gebetstext vor dem Hintergrund der Vorstellung der imitatio dei verstehen, ohne dass Israel explizit als „heilig“ attribuiert wird. 319 Zitat von Milgrom, Jacob: Leviticus 1–16. New York et al. (AB 3A) 1991, 731 bei Hieke 2014a, 124. Vgl. dort auch im Folgenden zum Konzept der Heiligkeit. Vgl. auch Müller 62004, 599: „Aber die Heiligkeit Jahwes hat zugleich verpflichtenden Charakter. So wird [sic! in] Ex 22,30 innerhalb des Bundesbuches, programmatisch dagegen im Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) eine Jahwe entsprechende Heiligkeit des Menschen gefordert: ‚Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, Jahwe, euer Gott!‘ (Lev 19,2). Dabei nimmt ‚heilig‘ die Bedeutung der ethischen Reinheit an.“ 320 Otto 2012b, 872. 321 Hieke 2014b, 711. Vgl. dort auch die Überlegung: Die in Lev 19 genannten Gebote sind nicht durch menschliche Strafen sanktioniert, weil sie nicht vor menschlichen Gerichten justiziabel sind. Die Aussage „ ֲאנִ י יְ הוָ הIch bin JHWH.“ hat daher die Funktion, JHWH selbst als Grund der Ordnung zu präsentieren. 322 Hieke 2014b, 722.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Im Weinberglied Jesaja 5 beklagt – so die Bildrede – der Besitzer den Ertrag mit schlechten Beeren (V. 2); er wartet vergeblich auf gute Ernte. Das Bild wird auf die Inhaltsebene überführt und im Wortspiel formuliert: Statt „ ִמ ְׁש ָּפטRechtsspruch“ findet JHWH nur „ ִמ ְׂש ָּפחRechtsbruch“, statt „ ְצ ָד ָקהGerechtigkeit“ ertönt ְצ ָע ָקה „Klagegeschrei“ wegen der fehlenden Gerechtigkeit (V. 7). Dem wird im folgenden Weheruf entgegengestellt: �ָקה׃ ֽ ָ הו֥ה ְצ ָב ֖אֹות ַּב ִּמ ְׁש ָ ּ֑פט וְ ָה ֵאל֙ ַה ָּק ֔דֹוׁש נִ ְק ָ ּ֖דׁש ִּב ְצד ָ ְ„ וַ ּיִ גְ ַ ּ֛בה יUnd JHWH der Heerscharen ist erhaben im Gericht, und Gott, der Heilige, erweist sich durch Gerechtigkeit als heilig.“ (Jes 5,16). Durch Recht und Gerechtigkeit erweist sich JHWH als der Heilige. Er hat Recht und Gerechtigkeit in Israel, seinem Weinberg gesucht, aber nicht gefunden (Jes 5,1–7). Der Weheruf hat zum Ziel, Israel zu bewegen, Recht und Gerechtigkeit zu üben. Gottes Gerechtigkeit soll durch die Gerechtigkeit Israels realisiert werden, und so wird sich der Heilige als heilig erweisen und Israel an seiner Heiligkeit partizipieren.323 In diese Richtung lässt sich auch die Berufungsszene in Jesaja 6 lesen. Dem dreimalige Ruf der Seraphim „ ָקדֹוׁש ָקדֹוׁש ָקדֹוׁשHeilig, heilig, heilig“ (Jes 6,3) steht wie in Jes 1–5 die Anklage der Schuld des Volkes – hier aus der Perspektive des prophetischen Sprechers – entgegen: יֹוׁשב ֑ ֵ ם־ט ֵ ֣מא ְׂש ָפ ַ֔תיִ ם ָאנ ִ ֹ֖כי ְ תֹוְך ַע ֙ ּוב ְ „und in der Mitte eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich“ (Jes 6,5). Ihr ist die Selbsterniedrigung Jesajas vorausgegangen: א־ׂש ָפ ַ֙תיִ ֙ם ָא ֔נ ֹ ִכי ְ „ ִ ּ֣כי ִ ֤איׁש ְט ֵ ֽמDenn ein Mann von unreinen Lippen bin ich.“ (Jes 6,5). Die Heiligkeit Gottes wird kontrastiert mit der Unreinheit des Menschen. ָקדֹוׁשund ָט ֵמאbilden auch sonst Gegensatzpaare (vgl. Lev 10,10; 11,44; 20,3; Jes 35,8 u. ö.). Die folgende Reinigung beseitigt allerdings nicht kultische Unreinheit () ָט ֵמא, sondern zeigt „Sühne“ und Reinigung von „Sündigkeit“: אתָך֖ ְּת ֻכ ָ ּֽפר׃ ְ „ וְ ָ ֣סר ֲע ֶֹ֔ונָך וְ ַח ָּטUnd deine Schuld ist gewichen und deine Sünde gesühnt.“ (Jes 6,7). Die unpersönlichen Formulierungen und כפרpu. verweisen auf JHWH als eigentliches Subjekt der Versöhnung. „Sie schließt Vergebung ein“324. Gefordert ist von Israel statt sündhaftem Tun ein Verhalten, das der Heiligkeit Gottes entspricht. Diese Verbindung von göttlicher Heiligkeit und menschlich-ethischem Verhalten zeigt auch Psalm 24.325 Die Frage י־יקּום ִּב ְמ ֥קֹום ָק ְד ֽׁשֹו׃ ָ֜ ּומ ִ הו֑ה ָ ְ„ ִ ֽמי־יַ ֲע ֶ ֥לה ְב ַהר־יWer
323 Vgl. Hieke 2014a, 124. Vgl. dazu auch Beuken 2003, 151 zu Jes 5,16: „JHWHs ontologische Überlegenheit besteht gerade aus derselben moralischen Integrität, die er von Israel fordert und am Ende seines Eingreifens in die Geschichte dieses Volkes auch zustande bringen wird“. 324 Beuken 2003, 174. Vgl. das (missverständliche) Urteil von Ringgren 1998, 1194 zu Jes 6: „Hier sind wir einer ethischen Bestimmung der Heiligkeit näher als sonst im AT.“ Solche Aussagen implizieren eine grundsätzliche Gegenüberstellung von „AT: Konzept kultischer Reinheit vs. NT: Konzept ethischer Reinheit“, die dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht wird. 325 Auch Ps 99 lässt sich so lesen: Analog zu Jes 6 wird JHWH dreimal als ָקדֹוׁשbezeichnet und diese Heiligkeit als Grund der Aufforderung zum Lobpreis Israels benannt (V. 3.5.9). In diesem Begründungszusammenhang steht auch die Aussage: יׁש ִ ֑רים ִמ ְׁש ָ ּ֥פט ּו֜ ְצ ָד ָ ֗קה ְּביַ ֲע ֤קֹב׀ ַא ָּ֬תה ָ ּכֹונ֣נְ ָּת ֵמ ַ ַ ֭א ָּתה ית׃ ָ „ ָע ִ ֽׂשDu hast die Rechtsordnung gegründet, Recht und Gerechtigkeit hast du in Jakob gemacht.“ (Ps 99,4). Im Beziehungsverhältnis von Gott und Mensch sind Heiligkeit Gottes und rechtes Verhalten des Menschen verbunden. Die Aufforderung zum Lobpreis ist nicht unabhängig von der Orientierung an Recht und Gerechtigkeit zu verstehen. Daher wird an die Gesetzesgabe am Sinai
Auslegung
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steigt hinauf zum Berg JHWHs und wer steht am Ort seiner Heiligkeit?“ (Ps 24,3) wird mit ethischen Anforderungen beantwortet: ר־ל ָ ֥בב ֲא ֶ ׁ֤שר׀ לֹא־נָ ָ ׂ֣שא ַל ָ ּׁ֣שוְ א ֵ ֫ נ ִ ֥�ְקי ַכ ֗ ַּפיִ ם ּוֽ ַב „ נַ ְפ ִ ׁ֑שי וְ ֖ל ֹא נִ ְׁש ַּב֣ע ְל ִמ ְר ָ ֽמה׃Wer reine Hände hat und ein lauteres Herz, wer seine Nefeš nicht an Nichtiges hängt und wer dem Trug nicht schwört.“ (Ps 24,4). Das Tun des Menschen muss mit der Heiligkeit Gottes übereinstimmen, um in die Gegenwart Gottes treten zu können und damit Gott gegenwärtig ist. Für Psalm 34 lässt sich festhalten: Die Anrede der Zuhörer als „ ְקד ָֹׁשיוseine Heilige“, durch ePP bezogen auf JHWH, wurzelt in der Bezeichnung des Volkes Israel als „ ַעם ָקדֹוׁשheiliges Volk“. ָקדֹוׁשkann hier allerdings als menschliches Attribut verstanden werden, das aber nicht auf Israel, das Volk oder den Bund bezogen wird. Anders als z. B. in dem Zentraltext Lev 19 wird Heiligkeit inhaltich auch nicht mit dem Bezug auf die Tora und den Dekalog gefüllt. Mit der Bezeichnung wird vielmehr eine Beziehungsaussage gemacht, ein universaler ethischer Anspruch an den Menschen formuliert, der heilig sein soll, und die Heiligkeit und das Rettungshandeln Gottes als Orientierungsmaßstab für den Menschen impliziert. Wenn das betende Ich in Ps 34,10 seine Zuhörer also mit „seine Heiligen“ anredet, dann erhebt es damit auch den Anspruch, sich der Heiligkeit Gottes entsprechend zu verhalten.326 „Revering Yhwh thus involves behaving in a way that corresponds to one’s position as someone brought into association with the holy one.“327 Synonym dazu erscheint im folgenden Kolon „ יְ ֵר ָאיוihn Fürchtende“ und parallel auch im folgenden Vers „ ד ְֹר ֵׁשי יְ הוָ הJHWH-Suchende“. Diese Parallel-Formulierungen legen nahe, dass die mit ְקד ָֹׁשיוangesprochenen JHWH-Treuen zu Heiligkeit aufgefordert werden und sich dem Heiligen zuordnen sollen.328 Sie sind diejenierinnert ן־למֹו׃ ֽ ָ יהם ָׁש ְמ ֥רּו ֜ ֵעד ָֹ֗תיו וְ ֣חֹק ָנ ַֽת ֑ ֶ „ ְּב ַע ּ֣מּוד ָ ֭ענָ ן יְ ַד ֵּב֣ר ֲא ֵלIn der Wolkensäule redete er zu ihnen; sie bewahrten seine Zeugnisse und die Ordnung, die er ihnen gegeben hatte.“ (Ps 99,7) und mit einer Anspielung auf die „Gnadenformel“ (Ex 34,6–7) an göttliche Vergebung, aber auch Verantwortung des Menschen ילֹותם׃ ֽ ָ ל־ע ִל ֲ ֣ית ָל ֶ ֑הם ְ ֜ונ ֵ ֹ֗קם ַע ָ ִיתם ֵ ֣אל ֹנ ֵׂ֭שא ָהי ֥ ָ ינּו ַא ָ ּ֪תה ֲע ִ֫נ ֮ ֹלה ֵ הו֣ה ֱא ָ ְ„ יJHWH, unser Gott, du hast ihnen geantwortet, ein vergebender Gott warst du ihnen, aber auch zur Verantwortung ziehend in Bezug auf ihre Taten.“ (Ps 99,8). Mit der für die Dankpsalmen typischen Formulierung „ ענהantworten“ (vgl. Ps 34,5a) wird auf die Rettungstaten JHWHs rekurriert. Gleichzeitig wird die ethische Bedeutung des Konzeptes von „Heiligkeit“ deutlich, die menschliche sittliche Fähigkeit als Möglichkeit und Pflicht benennt, aber auch das Scheitern an diesem Anspruch in Betracht zieht. 326 „Worin aber muß das Fürchten Jahwes sich äußern? V. 12–15 geben die Antwort: es [sic!] muß sich in dem Tun des Guten zeigen. […] Eine wichtige Rolle in diesem Psalm spielen die Wörter ‚gut‘ und ‚böse‘. V. 9 macht die fundamentale Aussage, daß Jahwe gut ist. Damit hängt zusammen, daß es denen, die sich an Jahwe wenden, an nichts Gutem gebricht, v. 11, daß das Fürchten Jahwes der Weg zum Sehen des Guten ist, v. 13, und daß das Fürchten Jahwes sich im Tun des Guten zeigen muß, v. 15. Dem Guten wird das Böse gegenübergestellt, v. 15, siehe auch v. 14. Wer das Böse tut, wird von Gottes zornigem Blick getroffen, v. 17. Er wird, wie es in v. 22 sehr prägnant heißt, vom Bösen getötet.“ (Ridderbos 1972, 246). 327 Goldingay 2006, 481. 328 „His holy ones“ (cf. 16:3) restates the point once more, in that holiness is the position of the people whom the holy one has chosen and taken. Revering Yhwh thus involves behaving in a way that corresponds to one’s position as someone brought into association with the holy one.“ (Goldi nay 2006, 481).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
gen, für die JHWH heilig ist. ָקדֹוׁשkann hier also auch als göttliches Attribut verstanden werden, so dass die kollektive Zuordnung zu JHWH in den Vordergrund rückt. Deutlich wird, dass es sich bei den drei Ausdrücken יְ ֵר ָאיו, ְקד ָֹׁשיוund ד ְֹר ֵׁשי יְ הוָ הum Bezeichnungen für eine Gemeinschaft329 handelt, die sich JHWH, dem Heiligen, zuordnet, ihn sucht und auf ihn vertraut und für die die Orientierung an und Hinwendung zu JHWH heilsversprechend sind. Diese Gemeinschaft wird nicht explizit auf Israel beschränkt. Heiligkeit wird in Ps 34 vielmer in Verbindung mit JHWH-Furcht gesetzt, die in der Unterweisung (V. 14–15) expliziert wird. 3.4.4.2.3 Das Löwenbild – kein Mangel für JHWH-Suchende (V. 11) Die abstrakte Begründungי־אין ַ֜מ ְח ֗סֹור ִל ֵיר ָ ֽאיו ׃ ֥ ֵ „ ִּכDenn es ist kein Mangel für die, die ihn fürchten“ (V. 10) wird in V. 11 antithetisch und metaphorisch330 entfaltet. Dabei wird zunächst im ersten Kolon ein Negativbeispiel („Junglöwen darben, und sie sind hungrig.“) gewählt, das konkret und bildhaft formuliert ist, dann im zweiten Kolon ein Positivbeispiel („aber denen, die JHWH suchen, mangelt es nicht an Gutem.“), das sich wieder auf der abstrakten Ebene befindet. Als Gegenfolie zu den JHWH-Fürchtenden dienen die „ ְּכ ִפ ִיריםJunglöwen“, die wie auch in Ps 17,12; 35,17; 58,7; 91,13 und in Ijob 4,10 das Verhalten der Frevler zeigen und im Folgenden im Hinblick auf die Bildsprache untersucht werden sollen.331 329 „The ‚God fearing‘ (v. 8) and ‚saints‘ (v. 10) are late names for the confessional community“ (Gerstenberger 1991, 147). 330 Zur Entscheidung, MT zu folgen und „ ְּכ ִפ ִיריםJunglöwen“ zu lesen, siehe oben unter Textpräsentation. 331 In der prophetischen Anklage sind die ְּכ ִפ ִיריםbei Ezechiel sowohl Bild für das Fehlverhalten der Herrscher Israels als auch des ägyptischen Pharaos. In der Totenklage über die Könige Israels (Ez 19) ist im ersten Bildwort von der Löwenmutter und den „ ְּכ ִפ ִיריםLöwenjungen“ die Rede. Historische Referenzpunkte der Bildrede sind uneindeutig. Das Bild der Löwenmutter mag sich auf die Königinmutter oder die Versammlung Israels beziehen, und mit dem Bild der Löwenjungen könnte auf Joahas (vgl. 2 Kön 23,30–34) und Jojachin (vgl. 2 Kön 24,8–15) oder Zidkija (vgl. 2 Kön 24,18–25,7) angespielt werden (vgl. Greenberg 2001, 298–299). Die Totenklage der „Fürsten Israels“ (Ez 19,1) will jedoch nicht Historie abbilden, sondern ihr Thema ist die Vernichtung des mächtigen Despoten, der reißt und Menschen frisst (vgl. Ez 19,3.6). Im Bildwort ist das Reißen und Fressen der „ ְּכ ִפ ִיריםJunglöwen“ Grund für deren Gefangennahme in Ägypten bzw. Babel (vgl. Ez 19, 4.9). Bild für den Pharao ist der Junglöwe auch in der ironischen Totenklage auf den König von Ägypten (Ez 32,2). Funktion der Löwenmetaphorik ist wie im gesamten ägyptisch-orientalischem Raum der Aufweis von Stärke und Macht des Herrschers, aber auch von Gewalt, Versagen und Schuld, für die er zur Rechenschaft gezogen wird. Zu weiteren Belegstellen von ( ְּכ ִפ ִיריםinsgesamt 31-mal in der hebräischen Bibel) vgl. Strawn 2005, 304. In seiner umfangreichen Untersuchung zur Metapher des Löwen differenziert Brent A. Strawn zwischen „Naturalistic Usages“ und „Metaphorical Usages“ des Löwenbildes. Im Hinblick auf den metaphorischen Gebrauch unterscheidet er zwischen dem positiv besetzten Löwenbild für die In-Gruppe und dem negativ besetzen Löwenbild für den Feind bzw. Frevler und zwischen dem „königlichen“ und dem „göttlichen“ Löwen. Zum Ausdruck gebracht werden Bedrohung und Macht. In Bezug auf die Belegstellen von ְּכ ִפירkommt er zu dem Ergebnis: „ כפירis frequently employed in metaphorical constructions.“ (Strawn 2005, 310).
Auslegung
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(1) So beteuert das betende Ich von Psalm 17 seine eigene Unschuld, erinnert JHWH an die von ihm überprüfte Tadellosigkeit (V. 1–5) und nutzt den expliziten Vergleich ְּכmit den Löwen, um die unverdiente Bedrohung durch die „ ְר ָׁשיִ םFrevler“ (Ps 17,9) zu beschreiben: „ ִּד ְמי ֹנ֗ ֹו ְ ּ֭כ ַא ְריֵ ה יִ ְכ ֣סֹוף ִל ְט ֑רֹוף ְ ֜ו ִכ ְכ ֗ ִפיר י ֵ ֹׁ֥שב ְּב ִמ ְס ָּת ִ ֽרים׃Er ist dem Löwen ähnlich, der darauf giert zu zerreißen, und wie der Junglöwe sitzt er im Versteck.“ (Ps 17,12). Im Löwenbild kommen die Hinterhältigkeit, die Gier und die Gewalttätigkeit des Gegners, die in starkem Kontrast zu der Unschuld des Ichs stehen, zum Ausdruck. Angesichts dieser Ungerechtigkeit und Bedrohung bittet das betende Ich Gott um Gnade und Rettung. (2) In Psalm 35 werden die Gegner zunächst nicht explizit als „Frevler“ oder „Feinde“ bezeichnet, sondern partizipial über ihr Tun charakterisiert.332 Diese Beschreibung des negativen Verhaltens dem Ich gegenüber kulminiert in der zentralen Bitte: ירים יְ ִח ָיד ִ ֽתי׃ ֗ ִ יהם ִ֜מ ְּכ ִפ ֑ ֶ „ ָה ִ ׁ֣ש ָיבה ַ ֭נ ְפ ִׁשי ִמּׁש ֵֹאFühre meine Nefeš aus ihren Verwüstungen zurück, weg von den Junglöwen mein einziges (Gut).“ (Ps 35,17; vgl. Ps 22,22). „Solche Tiervergleiche, die auch in anderen alten, vorexilischen Psalmen eine große Rolle spielen (Ps 7,3; 22,14.21f mit wörtlichen Entsprechungen) führen die lebensgefährliche, nicht beeinflußbare Übermacht und Brutalität der Feinde vor Augen.“333 (3) Auch in Psalm 58 wird im Löwenbild von den feindlichen Mächten gesprochen: ַ ֽה ֻא ְמ ָ֗נם ֵ ֣א ֶלם ֶ֭צ ֶדק ְּת ַד ֵּב ֑רּון2 Ist es wirklich so, dass ihr in eurem Reden das Recht zum Verstummen bringt, יׁש ִ ֥רים ִּ֜ת ְׁש ְּפ ֗טּו ְּב ֵנ֣י ָא ָ ֽדם׃ ָ ֵמ anstatt (in) Geradheit den Menschenkindern Recht zu verschaffen?
Vor allem in den Psalmen wird (auch unter Verwendung weiterer Lexeme für „Löwe“) neben anderen Tierbildern das Löwenbild gebraucht, um den Feind bzw. die Feinde zu beschreiben (vgl. Ps 7,3; 10,9; 17,12; 22,14.22; 34,11; 35,17; 57,5; 58,7 und auch 74,4; 124,6). „This is significant for it would appear that – although the comparative material also knows of the wicked- or enemy-as-lion (see § 4.2.4 [mit Verweis auf die Babylonische Theodizee, Ludlul bēl nēmeqi, die Kutha-Legende von Naram-Sin, einen neuassyrischen Brief von Urad-Gulda an Assurbanipal]) – the Hebrew Bible (especially the Psalter) uses this sort of lion metaphor more extensively, consistently, and personally than does the broader Near Eastern context.“ (Strawn 2005, 274). Aufgrund des gleichzeitigen Gebrauchs der Löwenmetapher für Gottheiten zieht Brent A. Strawn die Schlussfolgerung: „[T]here is justification in positing that the application of imagery used so extensively and positively for the two most powerful figures in the ancient world (monarch and deity) to one’s own, personal enemies is a rhetorical attempt to demonize them in a way that should not be underestimated.“ (Strawn 2005, 275). Von einer „gegen-göttlichen“, dämonischen Macht könnte man also für den Gebrauch im Psalter insofern sprechen, als sich der Löwe wie der Frevler an die Stelle Gottes und gegen Gott stellen und nicht gottgemäß handeln. 332 V. 1 „ ריבdie gegen mich einen Rechtsstreit führen“; „ לחםdie mich bekämpfen“; V. 3 „ רדףdie mich verfolgen“; V. 4 „ בקׁש נַ ְפ ִׁשיdie nach meiner Nefeš suchen“; „ חׁשב ָר ָע ִתיdie auf mein Unglück sinnen“; in V. 11 wird das Auftreten der „ ֵע ֵדי ָח ָמסZeugen der Gewalt“ beklagt. Erst nach dem Einsatz der Löwenmetapher werden die Bedränger explizit als „ אֹיֵבFeinde“ und „ ׂש ֹנֵ אHasser“ bezeichnet (V. 19). 333 Hossfeld/Zenger 1993, 221–222.
192
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
עֹוֹלת ִּת ְפ ָ֫ע ֥לּון ֪ ף־ּב ֵל ֘ב ְ ַא3 Sogar im Herzen tut ihr Ungerechtigkeiten, יכם ְּת ַפ ֵ ּֽל ֽסּון׃ ֶ֗ ָּב ָ֡א ֶרץ ֲח ַ ֥מס ְ֜י ֵד auf der Erde bahnt ihr die Gewalttat eurer Hände an. ֹ֣זרּו ְר ָׁש ִ ֣עים ֵמ ָ ֑ר ֶחם4 Abtrünnig sind die Frevler vom Mutterschoß an, ָּת ֥עּו ִ֜מ ֶּ֗ב ֶטן ּד ְֹב ֵ ֥רי ָכ ָזֽב׃ die Lügenredner irren vom Mutterleib an ab. ת־למֹו ִּכ ְד ֥מּות ֲח ַמת־נָ ָ ֑חׁש ָ ֗ ֲח ַמ5 Ihr Gift gleicht dem Gift der Schlange, מֹו־פ ֶתן ֵ֜ח ֵ ֗רׁש יַ ְא ֵ ֥טם ָאזְ נֽ ֹו׃ ֥ ֶ ְּכ wie (das) einer tauben Kobra, die ihr Ohr verschließt, א־י ְׁ֭ש ַמע ְל ֣קֹול ְמ ַל ֲח ִ ׁ֑שים ִ ֹ ׁשר ל ֣ ֶ ֲא6 (damit) sie nicht auf die Stimme der (Schlangen-)Beschwörer hört, חֹובר ֲח ָב ִ ֣רים ְמ ֻח ָ ּֽכם׃ ֵ֖ des weisen Bannbeschwörers von Beschwörungen. ס־ׁש ֵּנ֥ימֹו ְּב ִ ֑פימֹו ִ ֹלהים ֲה ָר ִ֗ ֱ ֽא7 Gott, zerbrich ihre Zähne in ihrem Maul, הוה׃ ֽ ָ ְתץ׀ י ֹ ֣ ְירים נ ֗ ִ ַמ ְל ְּת ֥עֹות ְּ֜כ ִפ das Gebiss der jungen Löwen zerschlage, JHWH! (Ps 58,2–7)
Zunächst wird in direkter Anrede an die Frevler in 2. Person Pl. (V. 2–3) der Vorwurf erhoben,334 im gerichtlichen Kontext dem Recht nicht zum Durchbruch verholfen zu haben (V. 2), mit dem „Herzen“, also willentlich, Unredliches zu tun und mit „Händen“ Gewalt zu begehen (V. 3). Mit dem Merismus von „Herz“ und „Hand“ wird angezeigt, dass die Gesamtheit des menschlichen Handelns als Unrecht bewertet wird.335 Das betende Ich wechselt ab V. 4 in die 3. Person Pl. und beschreibt nun mit Tier- und Jagdmetaphorik das unrechte Tun der „ ְר ָׁשיִ םFrevler“ und ּד ְֹב ֵרי ָכזָ ב „Lügenredner“ (V. 4), deren Gift wie das der Schlange ist (V. 5) und die Pfeile verschießen (V. 8). Der im Bild der tauben Kobra erhobene Vorwurf an die Frevler, dass sie das Ohr verschlössen (V. 5), kann als Hinweis auf den Bundesbruch der Frevler und ihre Abkehr von JHWH verstanden werden, auf dessen Wort sie nicht hören (vgl. Jer 7,23–24; vgl. auch Jer 11,8; 17,23 u. ö.).336 In der zentralen Bitte von V. 7 fordert das betende Ich Elohim auf, Gerechtigkeit herzustellen. Mit der Löwenmetaphorik wird das in jeder Hinsicht unrechte und gewalttätige Handeln des „Frevlers“ zum Ausdruck gebracht. Es zeigt auch die Hilflosigkeit des Ichs bzw. der Opfer derer auf, die das Unrecht verüben. Sie sind der Gewalt und Aggression derer, die sich von JHWH und seinem Willen abwenden, ebenso schutzlos ausgesetzt, wie es der Mensch dem Löwen gegenüber ist.337 334 Entgegen der seit dem 18. Jh. üblichen Konjektur (so auch BHS l frt ) ִלים(י) ֵא, die als Adressaten der Anklage die „Götter“ versteht, kann MT beibehalten werden: „Ist es wirklich so, dass ihr in eurem Reden das Recht zum Verstummen ( ) ֵא ֶלםbringt, anstatt in Geradheit Recht zu verschaffen den Menschenkindern?“ (Ps 58,2). Das in V. 2 angesprochene Kollektiv kann von V. 4 her als „ ְר ָׁשיִ םFrevler“ identifiziert werden (vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 131–136.). 335 Vgl. zu der schwierigen Übersetzung und auch im Folgenden Hossfeld/Zenger 32000, 136–137. 336 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 137. 337 Ähnlich klagt das betende Ich des vorhergehenden Ps 57: י־א ָ ֗דם ָ ֵנַ ְפ ִ ׁ֤שי׀ ְּב ֥תֹוְך ְל ָב ִא ֮ם ֶא ְׁש ְּכ ָ ֪בה ֹ֫ל ֲה ִ ֥טים ְ ּֽבנ ׁשֹונם ֶ ֣ח ֶרב ַח ָ ּֽדה׃ ָ֗ יהם ֲח ִנ֣ית וְ ִח ִ ּ֑צים ּו֜ ְל ֶ ֵ„ ִ ׁ֭שּנMeine Nefeš ist inmitten von Löwen, ich liege nieder unter
Auslegung
193
(4) In Psalm 91 wird die Depotenzierung der feindlichen Mächte im Bild vom Niedertreten der Löwen durch den, den JHWH und seine Boten bewahren, ausgesagt. Wer seine Zuflucht bei JHWH sucht ( ַמ ְח ֶסהin V. 9; vgl. חסה ַּביהוָ הin Ps 34,9), dem kann die Bedrohung durch die Feinde nichts anhaben, so die Zusage an das angesprochene Du: מס ְּכ ִ ֣פיר וְ ַת ִּנֽין׃ ֹ ֖ ל־ׁש ַחל וָ ֶפ ֶ֣תן ִּת ְד ֑ר ְֹך ִּת ְר ֣ ַ „ ַעAuf Löwe und Otter trittst du, du trittst nieder Junglöwe und Schlange.“ (Ps 91,13). Während in den anderen Belegstellen von ְּכ ִפירim Psalter das Löwenbild die Funktion hatte, die Stärke der Feinde und damit das Ausmaß der Bedrohung des Ichs und dessen Angst zum Ausdruck zu bringen, wird in Ps 91 die Unverwundbarkeit des JHWH-Anhängers illustriert. (5) Enge Sach- und Bildparallelen bestehen zwischen Ps 34 und der ersten Rede des Elifas im Ijob-Buch (Ijob 4–5). Nach der Klage des Ijob, in der er den Tag seiner Geburt verwünscht und sich mit dem Mühseligen und den Verbitterten den Tod als Erlösung herbeisehnt (Ijob 3), antwortet ihm als erster der drei Freunde Elifas und erinnert ihn daran, wie er selbst Andere im Leid mit Worten ermutigt habe.338 In die Situation des Leids Ijobs hinein stellt er in Ijob 4 seine Grundüberzeugung, ohne aber speziell auf die von Ijob hervorgebrachten Klagen einzugehen: ֲה ֣ל ֹא ִי ְ֭ר ָא ְתָך ִּכ ְס ָל ֶ ֑תָך6 Ist nicht deine Furcht deine Zuversicht, תם ְּד ָר ֶ ֽכיָך׃ ֹ ֣ ְִּ֜ת ְקוָ ְת ָ֗ך ו die Vollkommenheit deiner Wege deine Hoffnung? ר־נא ָ֗ זְ ָכ7 Denke doch: ִ ֤מי ֣הּוא נ ִ ֣�ָקי ָא ָ ֑בד Wer kommt als Unschuldiger um, ְ ֜ו ֵאי ֗ ֹפה יְ ָׁש ִ ֥רים נִ ְכ ָ ֽחדּו׃ und wo sind Aufrechte vertilgt worden? יתי ִ ׁשר ָ ֭ר ִא ֣ ֶ ַּכ ֲא8 Wie ich es gesehen habe: ֣חֹ ְר ֵׁשי ָ ֑אוֶ ן וְ ז ְֹר ֵ ֖עי ָע ָ ֣מל Die Unheil pflügen und Mühe säen, יִ ְק ְצ ֻ ֽרהּו׃ werden es ernten. אב֑דּו ֵ ֹ ֹוה י ַ ִמּנִ ְׁש ַ ֣מת ֱא ֣ל9 Von dem Atem Gottes werden sie umkommen, ּוח ַא ּ֣פֹו יִ ְכ ֽלּו׃ ַ ּומ ֖ר ֵ und vom Hauch seiner Nase werden sie vergehen. ַׁש ֲא ַג֣ת ַ ֭א ְריֵ ה וְ ֣קֹול ָ ׁ֑ש ַחל10 Das Brüllen des Löwen und die Stimme des jungen Löwen, – ירים נִ ָ ּֽתעּו׃ ֣ ִ וְ ִׁש ֵּנ֖י ְכ ִפ und die Zähne der Junglöwen sind ausgebrochen. י־ט ֶרף ֑ ָ ַ ֭ליִ ׁש א ֵֹב֣ד ִמ ְּב ִל11 Der Löwe vergeht aus Mangel an Beute, ּוב ֵנ֥י ֜ ָל ִ֗ביא יִ ְת ָּפ ָ ֽרדּו׃ ְ und die Kinder der Löwin werden zerstreut. (Ijob 4,6–11)
denen, die Söhne des Menschen verschlingen. Ihre Zähne sind Speere und Pfeile, und ihre Zunge ist ein scharfes Schwert.“ (Ps 57,5). Mit dem Bild und der Gegenwart des Löwen sind auch hier verbale („Zunge“) und körperliche Gewalt („Zähne“) durch die Opponenten des Ichs verknüpft. 338 Es handelt sich um einen textexternen Verweis. In der Ijob-Rahmenerzählung ist davon nicht die Rede.
194
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Die im synonymen Parallelismus formulierte rhetorische Frage zu Beginn sieht „Furcht“ und „Vollkommenheit der Wege“ als Grund von Zuversicht und Hoffnung (V. 6). Sehr deutlich wird hier, dass „ יִ ְר ָאהFurcht“ sich wie die Weg-Metapher auf das ethische Verhalten bezieht: Hat der Mensch sich richtig verhalten, hat er in der Situation des Leids Anlass zu Hoffnung.339 Inhalt dieser Hoffnung ist das Ende des Leids, das in dieser Logik nur vorübergehend sein kann. Dies führt Elifas weiter aus: Der „ נָ ִקיUnschuldige“ und der „ יָ ָׁשרAufrichtige“, die moralisch integer sind, werden nicht vertilgt (V. 7). Deren Schicksal stellt er mit der Metaphorik von Saat und Ernte das Ergehen derer entgegen, die ethisch verwerflich handeln (V. 8). In seiner Argumentation ist es Gott, der den Zusammenhang von Tun und Ergehen aufrechterhält (V. 9). Ebenso wie in Ps 34 wird am Beispiel der Erfolglosigkeit und der Bedürftigkeit der Löwen und Junglöwen gezeigt, dass negatives Verhalten im Ende zu י־ט ֶרף ָ „ ִמ ְּב ִלMangel an Beute“ (Ijob 4,11), „darben“340 und 341 „hungern“ (Ps 34,11) führt. Elifas rät Ijob, Gott zu suchen ( דרׁשin Ijob 5,8). Da Elifas mit seiner Frage „Sollte ein Mensch gerechter sein als Gott oder ein Mann reiner als sein Schöpfer?“ (Ijob 4,17) die Möglichkeit in den Raum stellt, dass Ijob nicht so unschuldig ist, wie er beteuert, kann diese Aufforderung so gelesen werden, dass Ijob Gott befragen soll ( דרׁשin Ijob 5,8), worin sein Vergehen besteht, für das er nun leidet. Da Elifas aber auch die Erhöhung der „ ְׁש ָפ ִליםErniedrigten“ (Ijob 5,11), die Rettung des „ ֶא ְביֹוןArmen“ (Ijob 5,15) und die Hoffnung für den „ ַּדלGeringen“ (Ijob 5,16) als Großtaten Gottes (Ijob 5,9) preist, kann man ( דרׁשIjob 5,8) auch als „bitten“ verstehen: Ijob solle um das Ende seines (unverschuldeten) Leids bitten bzw. „umkehren“ (vgl. דרׁשin Ps 78,34; Dtn 4,29). Im Kontext der Rede von Elifas, der mit der 339 Hesse 1978, 55 versteht bereits den ersten Teil der Rede des Elifas als Vorwurf, dass Ijob die Gottesfurcht als „festes Fundament“ aufgegeben habe. Denn das Leid sei überhaupt nur damit erklärbar, dass Ijob „die Basis des Lebens verlassen“ habe. Daher übersetzt er den Nominalsatz in Ijob 4,6 auch als Imperfekt: „War nicht deine (Gottes)furcht dein Vertrauen, deine Hoffnung die Reinheit deiner Wege?“ Dass jedoch Elifas Ijob zynisch verhöhnt, legt seine weitere Argumentation nicht nahe. Das Leid sei nicht allein Folge von Fehlverhalten, sondern auch Zeichen der Geschöpflichkeit des Menschen (vgl. Ijob 4,17; 5,7; vgl. auch Horst 1969, 69). Die Frage von Elifas (Ijob 4,6) kann man also auch als rhetorische Frage und damit als Ermutigung Ijobs lesen, dass das Leid des Gottesfürchtigen temporär ist (vgl. Ebach 42009, 57). Gleichzeitig hält sie für Elifas, nicht aber den Leser, der um die Unschuld und Erprobung Ijobs weiß, auch offen, dass Ijob doch Schuld auf sich geladen hat. In der Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs wäre das Leiden berechtigt und als „Zurechtweisung“ (מּוסר ַ von יסרin Ijob 5,17) zu verstehen (vgl. Gradl 2001, 80). Die Möglichkeit der „Zurechtweisung“ wird positiv gewertet: Ijob hat andere zurechtgewiesen ( )יסרund damit gestärkt (( )חזקvgl. Ijob 4,3). Gottes „Zurechtweisung“ führt zum Heil: „ ִ ּ֤כי ֣הּוא יַ ְכ ִ ֣איב וְ יֶ ְח ָ ּ֑בׁש ִ֜י ְמ ַ֗חץ וְ יָ ָ ֥דיו ִּת ְר ֶ ּֽפינָ ה׃Denn er verursacht Schmerz, und er verbindet. Er zerschlägt, und seine Hände heilen.“ (Ijob 5,18). 340 Bis auf Spr 13,7 stets als Nomen bzw. Partizip, dann oft in der Gegenüberstellung „ ָרׁשarm“ und „ ָע ִׁשירreich“. 341 Vgl. dazu auch im Zusammenhang mit dem Verhalten von Gerechtem und Frevler: ֽל ֹא־יַ ְר ִ ֣עיב ְי֭הוָ ה „ ֶנ ֶ֣פׁש ַצ ִ ּ֑דיק וְ ַהַּו֖ת ְר ָׁש ִ ֣עים יֶ ְה ּֽד ֹף׃JHWH lässt die Nefeš des Gerechten nicht hungern, aber das Verlangen der Frevler stößt er zurück.“ (Spr 10,3).
Auslegung
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Gerechtigkeit Gottes im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs argumentiert, wäre also die Möglichkeit von Vergebung angedacht. Auch im Kontext von Ps 34 sind die ( ד ְֹר ֵׁשי יְ הוָ הPs 34,11) die, die ihr Verhalten an JHWH ausrichten und auf ihn vertrauen – auch angesichts von Verfehlung (s. o. zu חפרin Ijob 5,6) – und denen es in der Konsequenz an nichts mangelt. Im Vergleich mit der Löwenmetaphorik der genannten Psalmen und des IjobBuches wird deutlich: Mit dem Bild der „ ְּכ ִפ ִיריםJunglöwen“ bringen die Beter jeweils ihre von Angst geprägte Stimmung zum Ausdruck, die Bedrohung durch die Stärkeren und Gewalttätigen, die Unrecht tun, und deren Brutalität und Hinterhältigkeit (vgl. Ps 17; 35). Das Bild von den übermächtigen und bedrohlichen Löwen hat die Funktion, JHWH zum Eingreifen zu bewegen, so dass das betende Ich aus seiner Angst und Bedrohung gerettet wird. Die Überwindung der Bedrohung, ein mögliches Ende der Bedrohung, wird allein von Gott erhofft – aufgrund der göttlichen Gerechtigkeit und als Zeichen für diese (vgl. Ps 58). Göttlicher Schutz und Beistand zeigt sich wiederum darin, dass die Löwen dem Ich trotz ihrer Macht nichts anhaben können (vgl. Ps 91). Das Ende der Löwen bzw. ihr Mangelleiden illustrieren die Überzeugung von einer gerechten Weltordnung, in der im Ende der Ungerechte vergeht, der leidende Unschuldige jedoch zu seinem Recht kommt (Ijob 4). Vor diesem Hintergrund ist auch das metaphorische Sprechen in Ps 34 zu verstehen. In Vers 11 wird im Bild der „ ְּכ ִפ ִיריםJunglöwen“ von den Gewalttätigen und denen, die Unrecht tun, gesagt, sie darbten und seien hungrig, während die, die JHWH suchen, keinen Mangel litten, hier im Vergleich zu Vers 10 ergänzt um den Zusatz „ ָּכל־טֹובan allem Guten“ (Ps 34,11). Da Gott selbst „ טֹובgut“ ist (V. 9a), ist auch „alles Gute“ (V. 11) auf Gott zurückzuführen. Mit der Gegenüberstellung des Ergehens der Junglöwen und der Gottsucher wird die Überzeugung deutlich, dass sich letztlich die von Gott erhoffte Gerechtigkeit einstellt. Ps 34,11 beschwört die Verkehrung der Verhältnisse. So gilt nicht das Prinzip „Wo der Löwe erscheint, wütet der Tod“,342 sondern die Löwen werden erniedrigt, die JHWH-Suchenden und die, die Gerechtigkeit tun, werden erhöht. In den V. 10–11 des Psalms 34 wird ein Zusammenhang von Vertrauen auf JHWH und Wohlergehen konstruiert. Mittels der Löwenmetaphorik wird gleichzeitig eine Verbindung von ( דרׁש יְ הוָ הV. 11) und dem Verhalten des Menschen gezogen: Wer JHWH nicht sucht, sondern sich wie ein Löwe verhält, dem könne das Heil nicht zuteilwerden. 3.4.4.2.4 Der Lehrer spricht – menschliche Unterweisung (V. 12) Nach V. 4a.9a.b.10a richtet sich das betende Ich erneut mit Imperativen an seine Hörer. Der Vers bildet das Zentrum des Akrostichons und nimmt auch inhaltlich eine Sonderstellung ein: Das Ich reflektiert die eigene Rede als Unterweisung in Bezug auf die JHWH-Furcht. Die Bitte um Aufmerksamkeit wird mit zwei direkt
342 Koenen 1995, 190.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
aufeinander folgenden Imperativen ְלכּוund ִׁש ְמעּו, die nur durch den Vokativ ָּבנִ ים unterbrochen sind, unterstrichen. Ausgehend von diesen Lexemen ergeben sich Beobachtungen zum Verständnis von Lehren und Lernen. 1. לכּו ְ – „Kommt!“: Aufforderung zum Lernen Der erste Imperativ ְלכּוhat seine eigentliche semantische Bedeutung fast vollständig verloren und markiert als Funktionsverb die Bedeutung des Folgenden.343 Im Psalter wird ְלכּוmit Verben des Wahrnehmens kombiniert (Imperativ 2. Pl. in Ps 46,9; 66,5.16). Direkt angesprochen werden die „Gottesfürchtigen“ (Ps 66,16); Inhalt der Wahrnehmung sind die mächtigen Taten JHWHs und sein Rettungshandeln (vgl. Ps 46,9; 66,5.16). In Ps 95,1 bekräftigt der Imperativ die Selbstaufforderung zum JHWH-Lob (Kohortativ 1. Pl.). Immer richtet sich also ein Ich an ein Kollektiv, das diesem an Einsicht bezüglich des Wesens und Handelns Gottes überlegen ist und daher eine Führungsrolle als Lehrer übernimmt. Gott zu erkennen ist eine Sache der Wahrnehmung und bedarf der Anleitung. Der Imperativ ְלכּו verweist somit im Psalter als Aufmerksamkeitssignal auf einen Lehr-Lern-Kontext. 2. ָּבנִ ים – „Kinder“: Menschliche Fähigkeit zum Lernen Mit der Anrede „ ָּבנִ יםKinder“, als Vokativ in Ps 34 parallel zu „ ְקד ָֹׁשיוseine Heiligen“ (V. 10b), wird der Kontext von familiärer oder schulischer Unterweisung evoziert. Die Anrede des Schülers als „ ְּבנִ יmein Sohn“ kann auch durch den weisen Lehrer erfolgen, wie die vom Sprecher an den „Sohn“ gerichtete Aufforderung, der Belehrung des Vaters und der Mutter zu folgen, zeigt (vgl. Spr 1,8–9). Dieses weite Verständnis des Lexems ֵּבןzeigt sich auch bei der Rede von „Prophetensöhnen“ (2 Kön 2,15; 4,38 u. ö.). Die direkte Anrede ָּבנִ יםim Plural findet sich auch in Spr 4,1; 5,7; 7,24; 8,32, häufiger im Singular ( ְּבנִ י21mal: Spr 1,8.10.15; 2,1; 3,1.11.21 u. ö.). Sie gilt deshalb als Spezifikum der Weisheitsliteratur. Auf die Unterweisung des Sohnes bzw. der Kinder auf deren Fragen hin wird auch in Ex 12,26; 13,14; Dtn 6,20; Jos 4,6 hingewiesen. In der Forschungsgeschichte wurde Psalm 34 aufgrund dieser Parallelen zur weisheitlichen Unterweisung erstens auf sein weisheitliches „Gattungsschema“ hin befragt. Zweitens sah man ihn als „Fenster“ zur realen Praxis der Unterweisung im kultischen Kontext. Der kulturgeschichtliche Befund zur Unterweisung und zum „Schulwesen“ im Alten Israel und der Vergleich zum Alten Orient bzw. Alten Ägypten vermögen die Grenzen des formgeschichtlichen Zugangs aufzuweisen und gleichzeitig Hinweise für ein angemessenes Verständnis von Ps 34 als inszenierte Unterweisung zu geben. i
343 Bei nur 13 von 63 Belegen führt der Imperativ 2. Pl. ְלכּוein weiteres Satzglied bzw. eine adverbiale Bestimmung mit sich, d. h. er konstituiert eine eigene Aussage (Gen 41,55; Ex 5,4; Num 22,13; Jos 2,16 u. ö.). In allen anderen Fällen folgt ihm direkt ein Imperativ 2. Pl. oder ein Kohortativ, deren Inhalt er bekräftigt.
Auslegung
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In diesem Zusammenhang ergibt sich drittens als weitere Frage, ob die Anrede ָּבנִ יםinklusiv als „Kinder“ und nicht als „Söhne“ verstanden werden kann. Diese lässt sich vor dem Hintergrund des Gebrauchs in weisheitlichen Texten und im Buch Deuteronomium beantworten. (1) Ausgehend vom Gebrauch der Anrede an die „ ָּבנִ יםKinder“ bzw. „ ְּבנִ יmein Kind“, die im Sprüchebuch (z. B. Spr 1,8.10; 2,1; 3,1, 4,1 u. ö.) jeweils zu Beginn eines Mahnwortes oder einer Lehrrede steht, las man V. 12 in Ps 34 als Eröffnung des Lehrvortrags: „In dem in der Weisheitsschule üblichen Lehreröffnungsruf nennt der Lehrer ausdrücklich sein Lernziel.“344 Dies wurde wiederum zur hermeneutischen Brille für die Strukturanalyse des Psalms: „Mit der Lehreröffnung setzt der zweite Teil ein, der sich am weisheitlichen Lehrvortrag orientiert: 12–15 bietet eine klar gegliederte Unterweisung in der Gottesfurcht als Prinzip gelingenden Lebens“345. Allerdings beobachtete bereits Hermann Gunkel auch: „Schon in den letzten Worten 9ff ist der Dichter aus dem Tone des Dankliedes allmählich in den des Lehrgedichtes hinübergeglitten“346. Aufgrund formaler Merkmale ist die Struktur von Ps 34 daher vielmehr als „konzentrisch“347 mit dem zentralen Mittelvers V. 12 zu bestimmen.348 Die gattungskritische Psalmenexegese leitete von der Anrede außerdem „educational tendencies, that is, sapiential influence“349 ab, bestimmte aber als Sitz im Leben nicht die häusliche Erziehung durch den Vater oder eine schulische Unterweisung, sondern die kollektive Belehrung der Gemeinde: „The plural ‚sons‘ with
344 Hossfeld/Zenger 1993, 214. 345 Hossfeld/Zenger 1993, 210. 346 Gunkel 51968, 143. 347 S. o. und vgl. Weber 2001, 166. 348 Auch wenn es irreführend ist, Ps 34 als „Lehrgedicht“ zu lesen, und damit dessen individueller Charakter verkannt wird, ergibt sich doch eine Nähe zu den weisheitlichen Texten, was die Textpragmatik anbelangt. Für „Lehrgedichte“ wurde zwischen den Textfunktionen „Information“ und „Appell“ unterschieden (vgl. Müller 2007 mit Bezug auf Brinker 2005, 113–125). Diese Funktionen finden sich auch in Ps 34: Während vor allem mit V. 9 („JHWH ist gut.“) und V. 16 ff („Die Augen JHWHs sind gerichtet auf Gerechte, / und seine Ohren sind gerichtet auf ihren Hilferuf.“) Auskunft über JHWH gegeben wird, finden sich Appelle u. a. in V. 9 („Versteht und seht!“) und V. 14–15. Wie Lehrgedichte (vgl. Müller 1997) ist Ps 34 eine Rede eines „Lehrers“ an seine „Schüler“. Dies ist mit der Anrede ָבנִ יםexplizit markiert. Mit V. 12 ist eine Aufforderung zum Hören und zur Aufmerksamkeit gegeben, und es finden sich Mahnungen und Handlungsanweisungen. Entscheidend ist: Die Reaktion des Angesprochenen wird nicht berichtet. Insofern fordert der Text den Leser auf, zu den inhaltlichen Aussagen Stellung zu beziehen und sich zu den Aufforderungen zu verhalten. Mit der Anerkenntnis der Güte JHWHs und damit dessen Autorität in Bezug auf die Weltordnung korreliert ein dieser Ordnung entsprechendes Verhalten. Die ethische Bedeutung des Psalms zeigt sich einmal mehr in der Rezeption des Textes durch den Leser. Ähnlich bestimmt Hans F. Fuhs die Funktion des Sprüchebuches: „Das Buch lädt ein zu einem umfassenden Diskurs über die Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Verwirklichung einer solidaren Gesellschaft auf der Grundlage einer Synthese von Lebensweisheit und JHWH-Glauben, vgl. 1,7; 9,10; 15,33 u. ö.“ (Fuhs 2001,12). 349 Gerstenberger 1991, 148.
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out possessive suffix indicates congregational use.“350 Als Zeitpunkt der Belehrung durch den Lehrer dachte man an ein gemeinsam begangenes Fest: „Er beginnt mit einer in der Weisheitsliteratur für die ‚Schüler‘ üblichen Anrede an ‚die Söhne‘, die wir uns hier beim Kultfest anwesend zu denken haben; ihr Thema ist ‚die Gottesfurcht‘.“351 Klaus Seybold rechnet die Akrosticha zwar zu den „Meditations- und Reflexionstexten“, weil es eher unwahrscheinlich sei, dass man diese jemals vorgetragen habe, bringt sie aber auch in Zusammenhang mit Erziehung und Unterricht: „Die alphabetischen Gedichte scheinen auf ähnliche Weise als gelehrte Spruchstudien und Schulversuche in die Sammlung gekommen zu sein.“352 (2) Vor dem Hintergrund der vor allem im Sprüchebuch inszenierten Unterweisung fragte man nach Schulen, seien es Schreiber-, Tempel- oder Weisheitsschulen in Israel.353 Die kulturgeschichtliche Frage nach institutionalisierter Unterweisung in Israel – analog zu Ägypten und Mesopotamien – und danach, welche Rolle dabei eventuell der Tempel spielte, ist berechtigt. In der hebräischen Bibel gibt es jedoch keinen direkten Hinweis auf deren Existenz. Der einzige Beleg findet sich erst spät bei Jesus Sirach: ἐγγίσατε πρός με ἀπαίδευτοι καὶ αὐλίσθητε ἐν οἴκῳ παιδείας „Kommt zu mir, Nicht-Erzogene, und bleibt im Haus der Erziehung!“ (Sir 51,23). Um die Frage nach Erziehung und ethischer Unterweisung im Zusammenhang mit Psalm 34 einordnen zu können, sei ein Blick auf Rekonstruktionen eines „Schulwesens“ in Israel geworfen, um vor diesem Hintergrund die funktionale Bedeutung der Inszenierung als Lehr-Lern-Situation erheben zu können.
Exkurs: Zur Inszenierung als Lehr-Lern-Situation A Vorgehen und Hypothesen zur Rekonstruktionen eines Schulwesens in Israel Die Existenz von Schulen in Israel und deren Charakteristika versuchte man aus indirekten Hinweisen der alttestamentlichen Texte, aus archäologischen und epigraphischen Befunden aus Israel und durch Analogieschlüsse aus der Umwelt Israels aufgrund ägyptischer und mesopotamischer Zeugnisse herzuleiten.354 (1) So wertet André Lemaire den biblischen Befund dahingehend aus: Schulen befanden sich am Tempel (vgl. 1 Sam 1,22–28; 1 Sam 2,11.18–19; 3,19) oder am Königshof (vgl. 1 Kön 11,20); Erziehung oblag auch den Hofpropheten (vgl. 1 Kön 12,24–25) oder dem Priester (vgl. 2 Kön 12,3); Unterweisung erfolgte in der Gruppe mit Gleichaltrigen (vgl. 1 Kön 12,8.10; 2 Chr 22,11); es gab Schulen
350 Gerstenberger 1991, 148. 351 Weiser 61963, 201. 352 Seybold 1986, 77. 353 Vgl. Sæbø 2012, 7. 354 Vgl. dazu vor allem Lang 1975, 30–32; Lemaire 1981, 32–33.41.44–45.46–70; Carr 2005, 111– 173; vgl. auch im Folgenden Krispenz 2007.
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für Propheten (vgl. 2 Kön 6,1; Jes 8,16; 28,7–13); die Schüler wohnten im Haus des Erziehers (vgl. 2 Kön 10,1.5.6).355 (2) Die epigraphischen Belege zeigen für zum Teil auch abgelegene Orte (z. B. Kuntillet ‘Ağrūd und Arad) im Zeitraum der Existenz der altisraelitischen Staaten vom 10.–6. Jh. v. Chr. Schriftlichkeit. Die Funde aus ‘Izbet Ṣarṭa und Arad und auch der Bauernkalender aus Geser könnten als Schreibübungen eingestuft werden. Schulen seien damit nicht nur für urbane Zentren, sondern flächendeckend nachweisbar.356 (3) Der kulturgeschichtliche Vergleich zeigt: Sowohl in Mesopotamien als auch in Ägypten entstand ab 3000 v. Chr. eine hohe Schriftkultur, für die versierte Schreiber benötigt wurden. Für Mesopotamien sind Übungstafeln und Beschreibungen des Unterrichts überliefert. Die Unterweisung eines erheblichen Teils der vor allem männlichen Kinder erfolgte im bīt tuppim „Tafelhaus“ nach einem einheitlichen Lehrplan im ganzen Land und differenziert nach verschiedenen Ausbildungsgängen. In den babylonisch-assyrischen Weisheitsbüchern wird das Gegenüber wie in Ps 34 oder im Sprüchebuch mit „Söhne“ bzw. „mein Sohn“ angeredet, so z. B. in der Lehre des Schuruppak an seinen Sohn Zinsudra (akk. Utnapischtim) oder den „Ratschlägen der Weisheit“ und auch im aramäischen Achikar-Roman.357 In Ägypten war der Unterricht analog zur Ausbildung zu einem Handwerk organisiert; er wurde ab dem Alten Reich stärker zentralisiert und fand dann im „Raum der Lehre“ statt. Das Buch Kemit diente wohl über mehrere Jahrhunderte als Lehrbuch im Elementarunterricht und führte in die Textsorten ein, die ein Schreiber beherrschen musste, lehrte aber auch konkrete Verhaltensformen und ethische Inhalte. Das Bildungswissen der ägyptischen Weisheit setzt in ihren „Lebenslehren“ das Lehrer-Schüler-Verhältnis als Vater-Sohn-Beziehung voraus, ohne selbst die Anrede „mein Sohn“ zu verwenden. Diese Metaphern spiegeln die damalige Realität wider. Für Ägypten weiß man davon, dass ein Vater seinen Sohn oder Adoptivsohn als seinen Nachfolger heranbildete. Vor diesem Hintergrund ging man sehr selbstverständlich davon aus, dass es im Alten Israel Schulen gegeben habe, dass das Sprüchebuch ein „grundlegendes Schulbuch“358 in vorexilischer Zeit gewesen sei, mit seinen Sentenzen Übungsmaterial geboten und Schüler moralisch belehrt habe und dass Ps 34 seinen Sitz im Leben im Zusammenhang der gemeindlichen Unterweisung gehabt habe.
355 Vgl. Lemaire, 1981, 34–41. 356 Vgl. Lemaire 1981, 7–11; Krispenz 2007. 357 Vgl. auch im Folgenden Fuhs 2001, 45; Meinhold 1991, 28. 358 So z. B. Lang 1975, 14: „Unbestritten bleibt, daß das Buch der Sprichwörter in der Schule entstanden ist und dort gelesen wurde.“ Vgl. Lemaire 1981, 42.
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B Einwände gegen die Rekonstruktion eines Schulwesens Auf allen drei Ebenen zur Rekonstruktion eines Schulwesens in Israel, in Bezug auf die Aussagekraft biblischer Texte, die Auswertung archäologischer Befunde und die Möglichkeit von Analogieschlüssen aus Ägypten oder Mesopotamien, werden Einwände erhoben. (1) Die Bedeutung der alttestamentlichen Texte für die Rekonstruktion ist kaum verifizierbar. Nicht zuletzt die Tendenz zur Spätdatierung vieler Texte, so auch der vor allem aus 1 Sam und 1/2 Kön herangezogenen narrativen Traditionen, deren erzählte Zeit die Königszeit ist, stellt die Möglichkeit, Aussagen über ein Schulwesen im staatlichen Israel zu machen, in Frage. Dass das Sprüchebuch ein „grundlegendes Schulbuch“ sei, muss kritisch hinterfragt werden. So verwehrt sich Hans F. Fuhs gegen eine vorschnelle Etikettierung des Sprüchebuches als „Schulbuch für den Unterricht“359. „Es wird Aphorismen- und Sprichwortsammlungen sowie Standesinstruktionen und Lebenslehren gegeben haben, möglicherweise sogar einen regelrechten Schulbetrieb mit dem nötigen Unterrichtsmaterial. Nur: davon ist nichts überliefert.“360 Man sollte zudem „nicht etwa zu anachronistisch oder ‚modern‘ nach ‚Schulwesen‘ oder ‚Schulsystem‘ fragen.“361 So warnt David M. Carr davor, gegenwärtige Vorstellungen von „Schule“ auf die antiken Kulturen zu übertragen, wie es noch Bernhard Lang und André Lemaire getan haben. Erziehung, Bildung und Inkulturation scheint eher „apprenticeship-like“ gewesen zu sein und sich in „family or family-like arrangements“ ereignet haben. Im Zusammenhang seiner These einer fließenden Oralität-Literalität fänden sich aber im Sprüchebuch „mul�tiple exemplars of the sort of materials that were used in this oral-written process of education and enculturation in Israel“362. Zu diesem Material gehört für ihn auch das Psalmenbuch; insbesondere die Existenz der Akrosticha verweise auf Memorieren und Rezitieren: „In sum, despite the probable cultic origins of certain psalms and genres used in the book of Psalms, the Psalter as a whole is now part of a broader educational process, interlaced with scribal superscriptions of the sort we have seen so frequently elsewhere in educational long-duration literature (often including musical notations), shaped through their musical-poetic form (and occasional acrostic form) for educational memorization, often echoing so-called wisdom themes of early teaching texts, mirroring the Torah teaching in structure, and calling at strategic points for constant oral internalization of the Torah.“363 John M. Carr fragt vor allem nach der Art und Weise des Lernens. Die Funktion und Bedeutung des Lernens kommt kaum in den Blick. Schließlich handelt es sich um kein Memorieren um des Memorierens willen; die Inhalte sind nicht 359 Fuhs 2001, 21. 360 Fuhs 2001, 17. 361 Sæbø 2012, 7. Vgl. auch Carr 2005, 113. 362 Carr 2005, 128. 363 Carr 2005, 154.
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bedeutungslos oder austauschbar, sondern was gelernt werden soll, ist eine „ethisch zu qualifizierende Haltung“364. (2) In Bezug auf die Auswertung des archäologischen Befundes ist z. B. David W. Jamieson-Drake sehr zurückhaltend. Sein methodischer Ansatz ist im Hinblick auf die Frage nach Schulen in Israel bzw. im Juda der Königszeit ein anderer als der seiner Vorgänger, die beim biblischen und epigraphischen Textbefund ansetzen. David W. Jamieson-Drake geht vom sozialen Kontext und dessen materiellen Hinterlassenschaften aus. Seine These ist, dass Schriftlichkeit an die sozioökonomischen Verhältnisse gebunden ist. Archäologisches Material wie Siedlungsform und -größe, öffentliche Gebäude und Luxusgegenstände sind für ihn die Indikatoren, die eine entwickelte Administration, die über Schriftlichkeit verfügen muss, plausibel machen.365 Seine Analyse des archäologischen Datenmaterials gleicht er erst in einem zweiten Schritt mit dem biblischen Textmaterial und dem epigraphischen Befund ab und erörtert auch dann erst die Möglichkeit kulturvergleichender Analogieschlüsse. Ergebnis der Auswertung des archäologischen Befundes ist, dass Juda als (kleiner) Staat erst im 8. Jh. v. Chr. entsteht, die Notwendigkeit für Schriftkompetenz früher also nicht gegeben ist, und der Staat Juda mit der Eroberung durch die Babylonier Anfang des 6. Jh. v. Chr. kollabiert. Evidenz für Schriftlichkeit außerhalb von Jerusalem korreliert mit der administrativen Abhängigkeit der Orte dieses Befundes von Jerusalem, ist also kein Hinweis auf „Schulen“ außerhalb von Jerusalem: „The conclusion to which this evidence points is that professional administrators were trained in Jerusalem, and only in Jerusalem.“366 Die als „biblischer Beleg“ für die Existenz von Schulen in Israel und Juda „zur Zeit Salomos“ herangezogenen Texte datiert er ebenfalls in das 8. Jh. v. Chr. oder später. Aber auch diese beweisen nicht, dass es Schulen gegeben haben muss. Wie auch John M. Carr zieht er „the possibility of education by tutoring or apprenticeship“367 in Betracht. „Formal scribal training would, therefore, take place primarily if not exclusively in Jerusalem.“368 (3) Da der Grad der Organisation in Ägypten und Mesopotamien und daher auch die Notwendigkeit von Schriftlichkeit erheblich höher waren als in Israel und Juda sowie außerdem die Schriftsysteme (Hieroglyphen bzw. Keilschrift als komplexe Schriftsysteme im Gegensatz zum relativ simplen Alphabetsystem) zu unterschiedlich, haben in den Augen von David W. Jamieson-Drake Analogieschlüsse geringen Wert. Die Annahme der Existenz von Schulen im staatlichen Juda sei nicht validierbar.369 Noch schwieriger wird dies für die nachstaatliche Zeit. Es ist völlig unklar, welche Infrastruktur für das Studium und die Abfassung
364 Schwienhorst-Schönberger 2005, 70. 365 Zur Methodologie vgl. Jamieson-Drake 22011, 26–47. 366 Jamieson-Drake 22011, 148. 367 Jamieson-Drake 22011, 151. 368 Jamieson-Drake 22011, 151. 369 Jamieson-Drake 22011, 151.
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von Texten unter babylonischer und persischer Herrschaft gegeben war,370 obwohl gerade für die Perserzeit angenommen wird, dass sie die formative Phase für die Entstehung biblischer Literatur gewesen ist.
C Zur Funktionalität der inszenierten Unterweisung Für Höreraufforderung und Anrede wie in Ps 34 gilt, dass sie funktionalen Charakter haben. Auch die Analogien zwischen den ägyptischen Lebenslehren und biblischer Unterweisung lassen nicht auf die gesellschaftliche Realität schließen. Für die ägyptischen weisheitlichen Lebenslehren ist nach Jan Assmann zwischen Ausgangstyp bzw. Inszenierungsform einerseits und Verwendungssituation bzw. Funktionsrahmen andererseits zu unterscheiden. Ihre Funktion ist, die ultimative Situationen der Übergabe des Lebenswissens vom Vater an den Sohn an der Schnittstelle von Testament des Vaters und Initiation des Sohnes in die gesellschaftliche Existenz in Szene setzen.371 Die Form der väterlichen Unterweisung ist Inszenierungsform und literarische Fiktion. Mit ihr erlangen die Worte des Ichs Bedeutung und die Autorität eines Vaters. Im Hinblick auf die ägyptischen Lebenslehren erhalten sie zusätzlich Gewichtigkeit angesichts des Übergangs vom Leben zum Tod. Das Gesagte erhält so normativen Charakter. Die Unterweisung der Söhne durch den Vater kann es lebensweltlich gegeben haben, sie wird aber in diesen Texten nur zitiert. Dementsprechend ist es nicht ausreichend, herauszustellen: „Die Angesprochenen müssen keineswegs leibliche Kinder des Lehrers sein.“372 Die Anrede als solche ist literarisch und einer hypothetisch rekonstruierten ursprünglichen Verwendungssituation enthoben. Mit ihr wird vielmehr deutlich, dass die „Verinnerlichung der Tradition ein wesentlicher Topos der Reflexion auf die Quellen der Erkenntnis“373 ist. So merkt auch Magne Sæbø für die Fragen nach dem Sitz im Leben der Weisheit an: „Es lässt sich zudem noch fragen, ob man in diesem Punkt sorgfältig genug zwischen zwei verschiedenen Seiten der Sache unterschieden hat, und zwar zwischen einerseits den formalen und stilistischen Aspekten der Sprüche und andererseits der sozialen oder institutionsbezogenen Ortung der Weisen, also zwischen den literarischen und den sozialen Aspekten der Weisheit.“374 Ob es Schulen in Israel gegeben habe und wie Unterweisung konkret stattgefunden hat, dürfte wohl „kaum eine konkrete Bedeutung für die konkrete Auslegung der Sprüche ausmachen. Andererseits bleibt es aber höchst beachtens-
370 Vgl. Schniedewind 2017, 20. 371 Vgl. Assmann 2000, 188–189. 372 Oeming 2000, 196. Vgl. Meinhold 1991, 53 zu Spr 1,8. 373 Otto 1999b, 208. 374 Sæbø 2012, 5.
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wert, dass in den Sprüchen und Lehren ein gemeinsames didaktisches Anliegen an die Erziehung der Jungen mehrfach zum Vorschein kommt“375. Die Anrede „ ָּבנִ יםKinder“ markiert die Autorität des Ichs – im Kontext von Ps 34 die Davids – und die Bedeutsamkeit des im Folgenden Gesagten. Mit ihr ist nicht gesagt, dass Ps 34 mit Unterweisung anlässlich eines „Kultfestes“376 in Verbindung zu bringen ist. Die Frage nach dem Sitz im Leben kann die Frage nach der Bedeutung nicht beantworten. Der Plural „ ָּבנִ יםKinder“ verweist auf den Anspruch von Allgemeingültigkeit unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen und hat gemeinschaftskonstituierende Funktion. Evoziert werden aber eine Abfolge der Generationen und damit der überzeitliche Charakter des Redeinhalts, also der ethischen Unterweisungen. Diese sind über den Moment hinaus gültig. In Ps 34 wurzelt die Unterweisung im individuellen Rettungserlebnis des Ichs. Diese Situation der erzählten Vergangenheit wird mit einer Anrede der nachfolgenden Generation überschritten und in die Zukunft überführt. Deutlich wird ein didaktisch-pädagogisches und ethisches Anliegen bezogen auf die kommunikative Gemeinschaft. Die Inszenierung als Unterweisung hat somit ethische Funktion und dient der Verständigung über geteilte Maßstäbe der Orientierung. – Ende des Exkurses – (3) In diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage, ob der Vokativ ָּבנִ יםexklusiv mit „Söhne“ oder inklusiv mit „Kinder“ zu übersetzen ist. Selbst wenn kulturgeschichtlich nur eine Verwendungssituation der Lehre vom Vater zum Sohn bzw. des Lehrers und des männlichen Schülers vorausläge, ist ausschlaggebend, in welchem Funktionsrahmen die Anrede steht. Inszenierungen von Unterweisung finden sich im Sprüchebuch, im Deuteronomium und im Psalmenbuch. Sie dienen als Referenzrahmen für die Frage nach der Funktion der Höreraufforderung in Ps 34. Im weisheitlichen Kontext des Sprüchebuches ist auch von der Belehrung durch die Mutter die Rede (תֹורת ִא ֶּמָך ַ „die Weisung deiner Mutter“ in Spr 1,8 und 6,20; vgl. 31,1377). „Diese Gleichberechtigung der Mutter, hier wie auch sonst im
375 Sæbø 2012, 7. Ilse Müllner spricht daher „von literarisch konstruierten Lernumgebungen, von Modellsettings, deren Relation zur sozialen Wirklichkeit komplex ist. […] Ziel [ihrer] […] Überlegungen ist es, die literarisch dargestellten und evozierten Lernprozesse als mögliche Bedeutungsspektren der Texte“ (Müllner 2006, 125) zu erheben. 376 Weiser 61963, 201. Was Gerlinde Baumann bei ihrer Untersuchung zu Spr 1–9 resümiert: „Deshalb scheint es plausibel zu sein, den Sitz im Leben von Prov 1–9 von einem Sitz im Buch her, nämlich seiner Einleitungsfunktion, zu bestimmen. Prov 1–9 ist dann als literarisches Produkt mit einer literarischen Zielsetzung anzusprechen.“ (Baumann 1996, 264), gilt auch für Ps 34: Entscheidend für die Auslegung ist nicht der hypothetisch rekonstruierte „Sitz im Leben“ des Psalms, sondern sein literarisches Ziel – auf der Ebene des Einzeltextes, aber auch auf der Ebene des Psalmenbuches. So verweist Ps 34 mit seiner didaktischen Intention auf das ethische Anliegen des Psalters als Ganzen. 377 Auch die in MT schwer lesbare Überschrift von Spr 31,1 spricht von der Unterweisung durch die Mutter (Übersetzung entgegen der masoretischen Verseinteilung): מּואל ֶ ֑מ ֶלְך ַ֜מ ָּׂ֗שא ֲ ֽא ֶׁשר־יִ ְּס ַ ֥רּתּו ֣ ֵ ִ ּ֭ד ְב ֵרי ְל
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Spruchbuch (vgl. 4,3; 6,20; 10,1; 15,20; 23,22.25; 31,1–9; 31,10–31), fällt in der Tat auf, zumal Entsprechendes in etwa den ägyptischen Weisheitslehren sich nicht finden lässt.“378 Susanne Gorges-Braunwarth geht in Bezug auf das Sprüchebuch davon aus, dass „alle inklusiv zu verstehenden Ausdrücke in den Reden der Weisheit tatsächlich Männer und Frauen ansprechen“.379 Deuteronomium 31 spricht explizit von der Unterweisung von Männern und Frauen in der Tora:380 ת־ה ָ֗עם ָ ַה ְק ֵ ֣הל ֶא12 Versammle das Volk, ָ ֽה ֲאנָ ִ ׁ֤שים וְ ַהּנָ ִׁש ֙ים וְ ַה ַּ֔טף die Männer und die Frauen, die Kinder ׁשר ִּב ְׁש ָע ֶ ֑ריָך ֣ ֶ וְ גֵ ְרָך֖ ֲא und deinen Schutzbürger, der in deinen Toren ist, ְל ַ֙מ ַען יִ ְׁש ְמ ֜עּו damit sie hören יכם ֶ֔ הו֣ה ֱא ֹֽל ֵה ָ ְאּו ֶאת־י ֙ ּול ַ ֣מ ַען יִ ְל ְמ ֗דּו וְ ָי ְ�ֽר ְ und damit sie lernen und JHWH, euren Gott, fürchten ּתֹורה ַה ּֽז ֹאת׃ ֥ ָ ל־ּד ְב ֵ ֖רי ַה ִ ת־ּכ ָ וְ ָ ֽׁש ְמ ֣רּו ַל ֲע ׂ֔שֹות ֶא und daran festhalten, alle Worte dieser Weisung zu tun. עּו וְ ָל ְ֣מ ֔דּו ֙ ׁשר ֽל ֹא־יָ ְד ֗עּו יִ ְׁש ְמ ֣ ֶ יהם ֲא ֶ֞ ֵּובנ ְ 13 Und ihre Kinder, die nicht wissen, sollen hören und lernen, ֹלה ֶיכ֑ם ֵ הו֣ה ֱא ָ ְְליִ ְר ָ ֖אה ֶאת־י JHWH, euren Gott, zu fürchten ל־ה ֲא ָד ָ֔מה ֣ ָ ל־הּיָ ִ֗מים ֲא ֶׁ֙שר ַא ֶ ּ֤תם ַחּיִ ֙ים ַע ַ ָּכ alle Tage, die ihr auf der Erde lebendig seid, ת־הּיַ ְר ֵ ּ֛דן ָ ׁ֖ש ָּמה ַ ֲא ֶׁ֙שר ַא ֶּ֜תם ע ְֹב ִ ֧רים ֶא zu der ihr über den Jordan hinüberzieht, ְל ִר ְׁש ָ ּֽתּה׃ um sie in Besitz zu nehmen. (Dtn 31,12–13)
„Aus den Bestimmungen Dtn 31,12 f. geht explizit hervor, dass auch die Frauen und Mädchen an dem Lehren in Bezug auf die Tora zu beteiligen sind. […] Fundierende Geschichte (nicht Frühgeschichte oder Weltgeschichte, wie Dtn 32,7
„ ִא ּֽמֹו׃Worte für den Lemuel, den König von Massa, mit denen ihn seine Mutter unterwies.“ LXX korrigiert, nutzt dafür die Verständnismöglichkeiten des Konsonantentextes und salomonisiert ihn auf diese Weise (vgl. Jüngling/von Lips/Scoralick 2011, 1988–1989.1999), behält aber die Tradition der Belehrung durch die Mutter bei: οἱ ἐμοὶ λόγοι εἴρηνται ὑπὸ θεοῦ βασιλέως χρηματισμός ὃν ἐπαίδευσεν ἡ μήτηρ αὐτοῦ. „Meine Worte sind gesagt von Gott. Ein Ausspruch des Königs, den seine Mutter erzog.“ (LXX Spr 31,1). 378 Sæbø 2012, 45. 379 Gorges-Braunwarth 2002, 365. Finsterbusch 2004, 90 resümiert: „Jedenfalls scheint ein Ausschluss der Mütter/Töchter vom weisheitlichen Lehren und Lernen nicht plausibel.“ 380 Zum inklusiven Sprachgebrauch des Deuteronomiums vgl. Otto 2012b, 806. Klassisches Beispiel dafür, dass ָּבנִ יםinklusiv zu verstehen ist, ist die Formulierung: „ ָּכל־זָ ָכר ִּב ְבנֵ י ַא ֲהר ֹןalles Männliche unter den Söhnen Aarons“ (Lev 6,11). Wäre ָּבנִ יםnicht inklusiv zu verstehen, wäre diese Differenzierung unnötig.
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zeigt), JHWH-Furcht und Gesetz, die Söhne und Töchter zu lehren, ist Aufgabe der Väter und Mütter.“381 In den Psalmen richtet sich das betende Ich an alle JHWH-Fürchtigen, an die versammelte Gemeinde und das Volk ( ָק ָהלund ַעםim synonymen Parallelismus in Ps 35,18 und ַע ִּמיin der Anrede von Ps 78,1). Mit Volk wird, wie Dtn 31,12–13 zeigt, auf Frauen und Männer verwiesen. Wenn das ganze Volk für sein Verhalten ins Gericht gerufen wird (vgl. ַעּמֹוin Ps 50,4.7), muss es auch in seiner Gesamtheit Objekt der Unterweisung sein. Mit „ ָּבנִ יםKinder“ wird inklusiv auf die künftige Generation referiert: הו֑ה ָ ְיהם ְל ֥דֹור ַא ֲח ֗רֹון ְֽ ֭מ ַס ְּפ ִרים ְּת ִה ּ֣לֹות י ֶ֗ ֵ„ ֤ל ֹא נְ ַכ ֵ֙חד׀ ִמ ְּבנWir wollen ihren Kindern, dem nachfolgenden Geschlecht, nicht vorenthalten, die Ruhmestaten JHWHs zu erzählen.“ (Ps 78,4). Insofern kann auch die Anrede „ ָּבנִ יםKinder“ in Ps 34,12 inklusiv verstanden werden: Der Mensch an sich wird als belehrbares und lernfähiges Subjekt in den Blick genommen, das JHWH-Furcht lernt. 3. ִׁש ְמעּו – „Hört!“: Eine Aufforderung zu tun Die Aufforderung zu hören ( ) ִׁש ְמעּוist in Ps 34 keine Redeeröffnung, schließlich rechnet das betende Ich schon bei seiner Lobaufforderung (V. 4) mit Publikum. Die Unterweisung hat mit Vers 9 bereits begonnen. Funktion des Imperativs ist, die Bedeutung des Folgenden zu unterstreichen (vgl. Ps 66,16; Spr 4,1; 5,7; 7,24; 8,6; 8,32.33). So richtet sich der Imperativ in Ps 66 ebenfalls an die Gottesfürchtigen und verweist auf die Rettung des Ichs durch Gott: ּו־ׁש ְמ ֣עּו ַ ֭ו ֲא ַס ְּפ ָרה ָּכל־יִ ְר ֵ ֣אי ִ ְל ֽכ ֹלהים ֲא ֶ ׁ֖שר ָע ָ ׂ֣שה ְלנַ ְפ ִ ֽׁשי׃ ֑ ִ „ ֱאKommt, hört, und ich will erzählen, alle, die Gott fürchten, was er an meiner Nefeš getan hat!“ (Ps 66,16). Der Imperativ ִׁש ְמעּוführt in eine Lehr-Lern-Situation, wie sie vergleichbar in weisheitlichen und in prophetischen Schriften und im Deuteronomium inszeniert wird. (1) Sowohl im weisheitlichen als auch im prophetischen Kontext (vgl. Jes 1,2.10; 6,9 u. ö.; Jer 2,4; 5,21 u. ö.; Ez 6,3; 12,2 u. ö.) leitet die Hör-Aufforderung Kritik am Tun der Menschen oder Aufforderungen zu ethisch positiv gewertetem Verhalten mit dem Versprechen von Glück ein: מרּו׃ ֹ ֽ עּו־לי ְ ֜ו ַא ְׁש ֵ ֗רי ְּד ָר ַ ֥כי יִ ְׁש ֑ ִ וְ ַע ָ ּ֣תה ָ ֭בנִ ים ִׁש ְמ „Und jetzt, Kinder, hört auf mich! Glücklich sind die, die meine Wege bewahren.“ (Spr 8,32). „Der Imperativ ‚Höre‘, der als Höraufforderung oder Aufmerksamkeitsruf das Mahnwort einleitet (vgl. [Spr] 4,10; 23,19.22), ist mit ‚Belehrung‘ als Objekt verbunden. Das ‚Höre‘ bedeutet zudem nicht nur ein ‚hinhören‘, sondern schließt auch ein ‚tun‘, ein ‚gehorchen‘ mit ein (vgl. 6,20a; auch Ex 24,7; Dtn 6,4–7; Jak 1,22); es handelt sich also um Gehorsam dem Gesagten der elterlichen Erziehung gegenüber.“382 (2) Im Deuteronomium bezieht sich der Imperativ Sg. ְׁש ַמעals Aufforderung an das Kollektiv Israel sowohl auf das Verhältnis zu JHWH als auch auf das ethische Tun. So wird mit der Höraufforderung die Einzigkeit JHWHs hervorgehoben: הו֥ה׀ ֶא ָ ֽחד׃ ָ ְֹלהינּו י ֖ ֵ הו֥ה ֱא ָ ְ„ ְׁש ַ ֖מע יִ ְׂש ָר ֵ ֑אל יHöre, Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH
381 Finsterbusch 2004, 310. 382 Sæbø 2012, 45.
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ist einer.“ (Dtn 6,4)383 und auf die von Mose vermittelte göttlich gewollte Lebensführung verwiesen: ל־ה ִּמ ְׁש ָּפ ִ֔טים ֲא ֶ ׁ֧שר ָ ֽאנ ִ ֹ֛כי ְמ ַל ֵ ּ֥מד ֶא ְת ֶכ֖ם ַ ל־ה ֻח ִּק ֙ים וְ ֶא ֽ ַ וְ ַע ָ ּ֣תה יִ ְׂש ָר ֵ֗אל ְׁש ַ ֤מע ֶא „ ַל ֲע ׂ֑שֹותUnd jetzt, Israel, höre auf die Bestimmungen und Rechtssätze, die ich euch lehre zu tun.“ (Dtn 4,1; vgl. Dtn 5,1). Sinn der Unterweisung ist nicht die Kenntnis der Bestimmungen an sich, sondern deren praktische Umsetzung: „Auf dem Tun liegt also ein besonderer Ton: Es ist Sinn und Zweck der Lehre des dtn Mose.“384 Das Verhalten muss gelernt werden (vgl. Dtn 5,1) bzw. wird gelehrt (vgl. Dtn 4,1), und es führt zu glückendem Leben: הו֛ה ָ ְת־ה ָ֔א ֶרץ ֲא ֶ ׁ֧שר י ָ את ֙ם ִ ֽו ִיר ְׁש ֶ ּ֣תם ֶא ֶ ּוב ָ ְל ַ ֣מ ַען ִ ּֽת ְחי֗ ּו ֹלהי ֲאב ֵֹת ֶיכ֖ם נ ֵ ֹ֥תן ָל ֶ ֽכם׃ ֥ ֵ „ ֱאdamit ihr lebt und kommt und das Land in Besitz nehmt, das JHWH, der Gott eurer Väter, euch gibt.“ (Dtn 4,1). Die Frage nach dem Verhältnis der deuteronomistischen Lehr-Lern-Konzeption zu der der Psalmen wird forschungsgeschichtlich von Karin Finsterbusch und Beate Ego unterschiedlich beantwortet. Ausgehend von deren Untersuchungen sollen am Beispiel von Ps 119; 25 und 34 spezifische Charakteristika der Vorstellung von Lernen und Lehren im Psalmenbuch benannt werden. (1) Karin Finsterbusch fragt in ihrer Untersuchung „Weisung für Israel“385 nach der deuteronomistischen Konzeption religiösen Lehrens und Lernens. Sie geht von den Belegen der „wichtigsten hebräischen Begriffe in Bezug auf Lehren und Lernen“ aus, insbesondere vom „Leitverb“ למד, und wählt zur Konturierung der deuteronomistischen Konzeption relevante Textstellen bei Jesaja und Jeremia und aus dem Sprüchebuch. Auch wenn 27 der insgesamt 86 Belege für למד im Psalter zu finden sind, wird der Psalter ausgeschlossen, der sich aus inhaltlichen und formalen Gründen mit dem Deuteronomium nicht vergleichen lasse.386 Karin Finsterbusch zufolge weist nur das Deuteronomium eine eigenständige, geschlossene Konzeption von religiösem Lernen und Lehren auf. Diese ist verbunden mit der Person des Mose als dem Lehrer Israels; durch das Lernen und Lehren wird Israel erst zu einer Gemeinschaft. Als diese soll das Volk nach JHWHs Willen leben, insofern es die von Mose gebotenen, jedem einzelnen geltenden Vorschriften zu religiösem Lehren und Lernen verwirklichen soll.387 Lehrendes Subjekt ( למדpi.) ist Mose (vgl. Dtn 4,1.5.14; 6,1), der Gottes Gebote, Satzungen und Rechtssprüche weitergibt (vgl. Dtn 5,31; 6,1). Nur einmal tritt JHWH selbst als göttlicher Lehrer auf, der Gottesfurcht lehrt ( למדpi. in Dtn 4,10), während Israel lernt ( למדq.) (vgl. Dtn 5,1; 14,23; 31,12) und wiederum seine Söhne lehrt ( למדpi.) (vgl. Dtn 11,19). Die besondere Verpflichtung des Königs auf die
383 Zu den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten von Dtn 6,4 und deren religionsgeschichtlichen Implikationen vgl. Otto 2012b, 794–796. 384 Finsterbusch 2005, 33. 385 Finsterbusch 2004. 386 Vgl. Finsterbusch 2004, 13 mit Verweis auf Braulik, Georg: Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zur Verwendung von למד. In: Georg Braulik (Hg.): Studien zum Buch Deuteronomium 1997, 119–146. 387 Vgl. Finsterbusch 2004, 316.
Auslegung
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Tora soll in dessen Lernen der Gottesfurcht resultieren (vgl. Dtn 17,19). Es besteht zum einen eine enge Verbindung von Lernen und Tun (vgl. Dtn 4,1.5.14; 5,1.31; 6,1; 17,9; 31,12)388 und zum anderen von Lernen und JHWH-Furcht, die hier sehr deutlich nicht emotional verstanden wird, sondern eine religiöse Haltung meint (vgl. Dtn 4,10; 14,23; 17,19; 31,12.13). Der Untermauerung ihrer These von dem nur dem Deuteronomium eigenen geschlossenen Lehr-Lern-Konzept gilt der Befund, dass sich der Zusammenhang vom Lernen und Tun außerhalb des Deuteronomiums sonst nur in Ps 143 findet: „ ַל ְּמ ֵ ֤דנִ י׀ ַ ֽל ֲע ׂ֣שֹות ְרצֹונֶ ָ֮ךLehre mich, deinen Willen zu tun!“389 (Ps 143,10). (2) Anders als Karin Finsterbusch, die den Psalter ausklammert, schließt Beate Ego das Psalmenbuch in ihre Untersuchung ein und kommt zu dem Ergebnis, dass sich in der Torafrömmigkeit der Psalmen eine Rezeption der deuteronomistischen Lernkonzeption findet.390 Lernen in der Konzeption des Deuteronomiums sei die Erinnerung und Wiederholung der geschichtlichen Zuwendung Gottes zu seinem Volk, die im Bund und in den Geboten zum Ausdruck komme. Es sei eingebunden in konkrete Lebenszusammenhänge. Der Mensch bedürfe der ständigen Ermahnung und Führung zum „Gehen auf dem rechten Weg“, sei aber prinzipiell in der Lage, den Willen Gottes zu tun. Davon grenzt Beate Ego den Umgang der prophetischen Tradition mit der Frage nach menschlichem Lernen und Lehren ab. Während das Deuteronomium von der grundsätzlichen Belehrbarkeit des Menschen ausgehe, betone die prophetische Überlieferung, d. h. vor allem Jeremia und Jesaja, die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis. Als prominentes Beispiel führt sie den Verstockungsauftrag bei Jesaja an. Israel werde mit dem Verstockungsauftrag „indirekt als ein Volk dargestellt, das nicht versteht und nicht erkennt, dessen Ohren schwer und dessen Augen stumpf sind, sodass es weder sehen noch hören kann (Jes 6,9–11).“391
388 Diese Verbindung von למדund עׂשהfindet sich auch – negativ gewendet – bei der Aufforderung, nicht von den Völkern zu lernen und es wie sie zu tun (vgl. Dtn 18,9; 20,18). Von den Völkern zu lernen, wird als Sünde gegen JHWH gewertet (vgl. Dtn 20,18). Eindeutig soll hier Gruppenidentität in Abgrenzung von außen über die Konstruktion eines bestimmten, JHWH-gemäßen Verhaltens geschaffen werden. 389 Vergleichbar sei nur die Formulierung in Esr 7,10: הו֖ה וְ ַל ֲע ׂ֑ש ֹת ָ ְת־ּתֹורת י ַ֥ ִ ּ֤כי ֶעזְ ָר ֙א ֵה ִ ֣כין ְל ָב ֔בֹו ִל ְד ֛רֹוׁש ֶא ּומ ְׁש ָ ּֽפט׃ ִ ּול ַל ֵ ּ֥מד ְּביִ ְׂש ָר ֵ ֖אל ֥חֹק ְ „Denn Esra hatte sein Herz darauf gesetzt, die Weisung JHWHs zu suchen und zu tun und in Israel Satzung und Recht zu lehren.“ (Esr 7,10). Mit der Verwendung des Lexems דרׁשstatt למדwird stärker die verständige Aneignung als bloßes Auswendiglernen in den Vordergrund gerückt. 390 Vgl. Ego 2005, 7. 391 Ego 2005, 4. Hier ist gegen Beate Ego einzuwenden: Zu unterscheiden ist erstens zwischen der Ebene des Textinhalts und der Textpragmatik. So ist die textpragmatische Funktion bei Jesaja, durch die Aussagen über die Unverständigkeit und Verstockung Israels zur Umkehr zu rufen. Ansonsten wäre die Aufforderung יטב ִּד ְר ׁ֥שּו ִמ ְׁש ָ ּ֖פט ַא ְּׁש ֣רּו ָח ֑מֹוץ ִׁש ְפ ֣טּו יָ ֔תֹום ִ ֖ריבּו ַא ְל ָמ ָנֽה׃ ֛ ֵ ִל ְמ ֥דּו ֵה „Lernt Gutes zu tun. Sucht Recht. Tadelt den Unterdrücker. Verschafft Recht der Waise. Führt den Rechtsstreit der Witwe.“ (Jes 1,17) nicht verständlich. Dass Israel fähig ist, sich zu verändern, setzen zweitens die Heilsausblicke voraus: דּו־ל ַקח׃ ֽ ֶ י־ר ַּוח ִּב ָינ֑ה וְ רֹוגְ ִנ֖ים יִ ְל ְמ ֖ ת ֵע ֹ ֽ „ וְ יָ ְד ֥עּוDann werden die
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Die Traditionen der Psalmen hingegen sind nach Beate Ego anders als die prophetischen Vorstellungen durchaus konvergent zur deuteronomistischen Lernkonzeption, wie sie u. a. in Deuteronomium 6 in der Passage des Schma Israel (vgl. Dtn 6,6–9) mit der Aufforderung zum ständigen Wiederholen und zur Weitergabe zum Ausdruck kommt. וְ ָהי֞ ּו ַה ְּד ָב ִ ֣רים ָה ֵ֗א ֶּלה6 Und es sollen sein diese Worte, ל־ל ָב ֶ ֽבָך׃ ְ ֲא ֶׁ֙שר ָאנ ִ ֹ֧כי ְמ ַצּוְ ָך֛ ַהּי֖ ֹום ַע die ich dir heute befehle, auf deinem Herzen. וְ ִׁשּנַ נְ ָ ּ֣תם ְל ָב ֶ֔ניָך7 Und du sollst sie einschärfen deinen Kindern, וְ ִד ַּב ְר ָ ּ֖ת ָ ּ֑בם und du sollst sie sagen ּוב ֶל ְכ ְּתָך֣ ַב ֶ ּ֔ד ֶרְך ְ ית ָ֙ך ֶ֙ ְּב ִׁש ְב ְּתָך֤ ְּב ֵב wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst קּומָך׃ ֽ ֶ ּוב ְ ּ֖וֽ ְב ָׁש ְכ ְּבָך und wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst. ּוק ַׁש ְר ָ ּ֥תם ְל ֖אֹות ַעל־יָ ֶ ֑דָך ְ 8 Und du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden, וְ ָהי֥ ּו ְלט ָֹט ֖ ֹפת ֵ ּ֥בין ֵע ֶינֽיָך׃ und sie sollen als Merkzeichen zwischen deinen Augen sein. ּוב ְׁש ָע ֶ ֽריָך׃ ִ יתָך ֖ ֶ ל־מזּו ֹ֥זת ֵּב ְ ּוכ ַת ְב ָ ּ֛תם ַע ְ 9 Und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und deiner Tore schreiben. (Dtn 6,6–9)
Diese Vorstellungen werden im Psalmenbuch aufgegriffen: Der Seliggepriesene von Ps 1,1–2 entspricht dem „Adressaten der Lernparänese in Dtn 6,6–9 geradezu idealtypisch“392 und murmelt ( )הגהWeisung Tag und Nacht (vgl. Ps 1,2). Der Gerechte murmelt ( )הגהWeisheit, seine Zunge redet ( )דברRecht (vgl. Ps 37,30). Er kommt damit zum einen der Aufforderung nach, ständig von der göttlichen Weisung zu reden ( דברvgl. Dtn 6,7). Außerdem verinnerlicht er zum anderen den göttlichen Willen: ֹלהיו ְּב ִל ּ֑בֹו ֣ ָ ּתֹורת ֱא ֣ ַ „Die Weisung seines Gottes ist in seinem Herzen.“ (Ps 37,31). So verhält er sich entsprechend dem im Deuteronomium formulierten Wunsch: ל־ל ָב ֶ ֽבָך׃ ְ „ וְ ָהי֞ ּו ַה ְּד ָב ִ ֣רים ָה ֵ֗א ֶּלה ֲא ֶׁ֙שר ָאנ ִ ֹ֧כי ְמ ַצּוְ ָך֛ ַהּי֖ ֹום ַעUnd es sollen sein diese Worte, die ich dir heute befehle, auf deinem Herzen.“ (Dtn 6,6). Dasselbe gilt auch für das betende Ich von Ps 40: ֹלהי ָח ָ ֑פ ְצ ִּתי ְ ֜ו ֥ת ָֹור ְת ָ֗ך ְּב ֣תֹוְך ֵמ ָ ֽעי׃ ֣ ַ ֹות־רצֹונְ ָך֣ ֱא ְ ַ ֽל ֲע ֽׂש „Daran, deinen Willen zu tun, mein Gott, habe ich Gefallen; und deine Weisung ist in der Mitte meines Inneren.“ (Ps 40,9). Dass die Weisung Gottes im Inneren des Menschen ist, zeigt dessen Handeln entsprechend des göttlichen Willens.393
an Geist Verwirrten Einsicht erkennen, und Murrende werden Belehrung annehmen.“ (Jes 29,24). Diese werden von Beate Ego jedoch nicht zur „prophetischen Überlieferung“ gezählt, sondern als „eschatologische Tradition“ bezeichnet (vgl. Ego 2005,6). Im Kontext von Jes 1–39 hat es drittens mit Willem A. M. Beuken „nie den Anschein […], Jesaja ginge davon aus, das Volk könne seine Botschaft […] nicht begreifen“ (Beuken 2003, 165). 392 Ego 2005, 7. 393 Die Weisung wird nicht als Einschränkung, sondern als Freude empfunden ( חפץin Ps 40,9). Die Haltung des Menschen steht in Beziehung zum Widerfahrnis der Rettung, nachdem er sich an
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(3) Die Lehr-Lern-Konzeption des Psalters weist noch weitere Berührungspunkte mit der deuteronomistischen Konzeption auf. Überaus deutlich wird dies in Ps 119 und in den beiden Psalmen 25 und 34, die komplementär konzipiert sind. Am Beispiel von Ps 119; 25 und 34 lassen sich aber auch Spezifika des Psalmenbuches aufweisen, so die Belehrung durch JHWH selbst und die Orientierung an der umfassenden an der Gerechtigkeit ausgerichteten Weltordnung. In Ps 34 erfolgt außerdem die Unterweisung durch einen anderen als Mose oder Gott selbst. Das betende Ich von Psalm 119 spricht analog der deuteronomistischen Konzeption davon, es bewahre das göttliche Wort in seinem Herzen ( ְּב ִל ִּביin V. 11; vgl. Dtn 6,6; 30,14). Es beachtet die Satzungen ( ׁשמר ֻח ֶּקיָךin V. 5.8.; vgl. Dtn 4,5– 6.50; 5,1 u. ö.)394 bzw. das Wort ( ָּד ָברin V. 17). Ebenso wie im Deuteronomium wird mit „ ֶד ֶרְךWeg“ die gottgemäße Lebensführung bezeichnet (vgl. Dtn 5,33; 8,6; 10,12; 11,28 u. ö.; vgl. Ps 119,1.3.5.14 u. ö.). Anders als im Deuteronomium ist nicht Mose der Vermittler der Tora, sondern hier tritt durchweg JHWH als göttlicher Lehrer auf.395 Das betende Ich bittet ihn um Belehrung: „ ַל ְּמ ֵדנִ י ֻח ֶּקיָךLehre mich deine Ordnungen!“ (V. 12.26.64.124.135; „ ִמ ְׁש ָּפ ֶטיָךRechtssprüche“ in V. 108); „ טּוב ַט ַעםוָ ַד ַעת ַל ְּמ ֵדנִ יGutes Urteil und Erkenntnis lehre mich.“ (V. 66). Es will die Rechtsprüche der Gerechtigkeit oder Gebote lernen (vgl. V. 7.73) und bezeugt die Belehrung durch Gott: „ ִּכי ְת ַל ְּמ ֵדנִ י ֻח ֶּקיָךDenn Du lehrst mich deine Ordnungen.“ (V. 171). Die Bitte um Belehrung steht im Zusammenhang einer Rettungserfahrung (V. 26) und der individuellen Schöpfung (V. 73). Sie setzt die Güte und Gnade Gottes voraus (V. 64.68.124) und übersteigt alle menschlichen Lehr-Versuche (V. 99). Mit ּתֹורה ָ „Weisung“ und weiteren Begriffen, die das Tora-Verständnis umschreiben, wird „die durch JHWH jeweils aktuell bewirkte Belehrung über den Sinn und die konkrete Bedeutung seiner Willensoffenbarung [bezeichnet]. Tora ist keine statische, abgeschlossene, sondern eine dynamische, offene Größe. […] Fünf der sieben Begriffe, nämlich מׁשפטים, מצות, חקים, עדת/ עדותund דבריםstammen aus den Rechtsüberlieferungen und weisen darauf hin, dass es bei aller Intimität und Individualität der Belehrung durch JHWH nicht um eine ‚private‘ Angelegenheit, sondern um die der Welt von JHWH eingestiftete Lebens- und Heilsordnung geht.“396
Gott gewendet hat (V. 2–4). Lied und Lob machen diese Erfahrung dem Kollektiv zugänglich und führen zu Furcht ( )יראund Vertrauen ( )בטחgegenüber JHWH (V. 4). Die in der Gemeinde verkündete Gerechtigkeit (V. 10) ist mit Bezug auf V. 9 die Weisung JHWHs, die vom Menschen getan wird. Sie ist aber auch die Gerechtigkeit JHWHs (V. 11). 394 Alternativ steht auch ein anderes Wort, das die göttliche Weisung und Willenskundgabe bezeichnet (תֹור ְתָך ָ „Weisung“ in V. 44.55; „ ְד ָב ֶרָךWort“ bzw. „ ְּד ָב ֶריָךWorte“ in V. 17.57.101; „ ִא ְמ ָר ְתָךWort“ in V. 67; ֹותיָך ֶ „ ִמ ְצGebote“ in V. 60; ּקּודיָך ֶ „ ִּפVorschriften“ in V. 63.134.168; „ ֵעדּותZeugnisse“ in V. 88.146.167 oder „ ִמ ְׁש ְּפ ֵטי ִצ ְד ֶקָךRechtssprüche“ in V. 106). 395 למדpi. in V. 12.26.64.66.68.108.124.135.171, und auch ירהhi. in V. 33.102 und ביןin V. 27.34.73.125. 144.169. Vgl. Ego 2005, 6: „Überlieferungen, wie sie sich vor allem in den Psalmen finden, rekurrieren andererseits wiederum vor allem auf die Vorstellung einer göttlichen Belehrung, die den Einzelnen im Lernen der göttlichen Weisung und ihrem Tun unterstützt.“ 396 Zenger 2005, 59–60.
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Nach Erich Zenger entwirft Ps 119 „kein ethisches Modell [im Sinne einer konkreten Handlungsanweisung] und keine Gesetzeskasuistik“397. Es geht um keine gegenständlichen Gebotsbestimmungen, sondern um eine allgemeine Orientierung am göttlichen Willen, um sich so in den „Raum von göttlicher Lebensmacht“398 zu stellen. Mit der Tora begegnet der Mensch Gott selbst.399 Damit kommt Ps 119 als Gebet und Dokument einer Torafrömmigkeit eine ethische Bedeutung zu, so auch Erich Zenger: „Die zusätzliche Kombination von ‚ תורהWeisung, Belehrung‘ mit ‚ דרךWeg‘ bzw. ‚ הלךgehen‘ in V. 1 macht gleich zu Beginn des Psalms deutlich, dass es in Psalm 119 nicht um ‚Theorie‘, sondern um Lebenspraxis geht.“400 Dass die Begegnung mit der göttlichen Weisung relevant für das Handeln ist und eine Möglichkeit gelingenden Lebens eröffnet, zeigt Ps 119,33–37: הֹורנִ י ְי֭הוָ ה ֶ ּ֥ד ֶרְך ֻח ֶ ּ֗קיָך ֣ ֵ 33 Weise mir, JHWH, den Weg deiner Ordnungen, וְ ֶא ְּצ ֶ ֥רּנָ ה ֵ ֽע ֶקב׃ dass ich ihn zum Lohn ( ) ֵע ֶקבbeachte. ֲ֭ה ִבינֵ נִ י וְ ֶא ְּצ ָ ֥רה ֽת ָֹור ֶ֗תָך34 Gib mir Einsicht, dass ich deine Weisung beachte ל־לֽב׃ ֵ וְ ֶא ְׁש ְמ ֶ ֥רּנָ ה ְב ָכ und sie in dem ganzen Herzen bewahre ()ׁשמר. ֹותיָך ֑ ֶ יכנִ י ִּבנְ ִ ֣תיב ִמ ְצ ֵ ַ ֭ה ְד ִר35 Führe mich auf dem Pfad deiner Gebote, י־בֹו ָח ָ ֽפ ְצ ִּתי׃ ֥ ִּכ denn an ihm habe ich Gefallen. ֹותיָך ֶ֗ ל־ע ְד ֵ ט־ל ִּ֭בי ֶא ִ ַה36 Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen ל־ּב ַצע׃ ֽ ָ וְ ַ ֣אל ֶא und nicht zur Gewinnsucht () ֶּב ַצע. ַה ֲע ֵב֣ר ֵ ֭עינַ י ֵמ ְר ֣אֹות ָ ׁ֑שוְ א37 Wende meine Augen davon ab, Nichtiges ( ) ָׁשוְ אzu sehen, ִּב ְד ָר ֶ ֥כָך ַח ֵּיֽנִ י׃ auf deinen Wegen belebe mich. (Ps 119,33–37)
Lernen und Tun erscheinen hier als zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs. Es wird zwar nicht konkretisiert, worin der göttliche Willen im Einzelnen besteht, 397 Vgl. Zenger 2005, 62. 398 Zenger 2005, 63. 399 Vgl. dazu die detaillierte Textuntersuchung von Zenger 2005, 61–63. Mit vielen der in Ps 119 gebrauchten Verben, die in anderen biblischen Texten das Verhältnis von Mensch und Gott bzw. Israel und JHWH beschreiben, wird hier die Beziehung des Ichs zur Tora ausgedrückt: Das betende Ich vertraut ( )בטחauf das Wort (V. 42); es hängt ( )דבקan den Zeugnissen (V. 31; in Ps 63,9 und Dtn 4,4 von Gott); es glaubt ( אמןhi.) an die Gebote (V. 66); es bittet Gott, die Gebote nicht vor ihm zu verbergen ( סתרhi.) (V. 19; in Ps 27,9 vom Angesicht JHWHs); es liebt ( )אהבdie Tora (V. 97). Zwar ist die Tora noch nicht so personifiziert wie in Sir 24 oder Bar 3,9–4,4, auch die geschichtstheologische Dimensionierung der Tora bzw. Weisheit fehlt, aber wenn „das grundlegende Charakteristikum des rabbinischen Judentums in der ‚Beschäftigung mit der Thora‘ als Lebensweg liegt, so können wir den Psalm 119, obwohl er ein Kapitel eines biblischen Buches ist, als ein erstes Zeugnis der rabbinischen Epoche werten“ bzw. als Dokument eines „proto-rabbinischen Judentums“ (Amir 1985, 4–5.1). 400 Hossfeld/Zenger 2008, 353. Vgl. Ego 2005, 8: „Ein integerer Lebenswandel und die ständige Beschäftigung mit der Tora gehören demnach zu den Elementen, die konstitutiv für die Existenz des Gerechten sind.“
Auslegung
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aber er ist heilsrelevant („zum Lohn“ in V. 33) und kann durch ein bestimmtes Verhalten und fehlerhafte Orientierung verfehlt werden („Gewinnsucht“ in V. 36 und „Nichtiges“ in V. 37). Er wird nicht einfach vermittelt, sondern es bedarf der menschlichen Einsicht (V. 34). Diese kann fehlen, wie es bei den Frevlern der Fall ist (V. 53.61.95.110.119.155). „Der Psalm imaginiert eine der Welt des Beters bzw. der Welt überhaupt zugrundeliegende Ordnung. Diese auf der formalen Ebene bewirkte Imagination einer Weltordnung ist insofern textpragmatisch wichtig, weil auf der inhaltlichen Ebene eine vielfach gestörte, bedrohliche und feindliche Welt beklagt wird.“401 So ist charakteristisch für die Lehr-Lern-Konzeption von Ps 119 und die des Psalters, dass gerechte Weltordnung und Weisung in Beziehung zueinander stehen.402 Im Parallelismus membrorum werden beide einander zugeordnet: תֹור ְתָך֥ ֱא ֶ ֽמת׃ ָ עֹול֑ם ְ ֽו ָ „ ִצ ְד ָק ְתָך֣ ֶצ ֶ֣דק ְלDeine Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit in Ewigkeit; und deine Weisung ist Wahrheit.“ (Ps 119,142). So wird deutlich, dass die Weisung nicht um der Weisung willen zu befolgen ist, sondern weil sie der göttlichen Gerechtigkeit entspricht. Dem Menschen ist es aufgegeben, entsprechend dieser zu handeln. Neben Ps 119 ist auch Psalm 25, der die von Ps 25–34 gebildete Psalmengruppe eröffnet, ein Beispiel für das Konzept der göttlichen Unterweisung im Psalmenbuch. Anders als in Ps 34 spricht das betende Ich Gott direkt an und äußert ihm gegenüber sein Vertrauen (V. 1b–3b). Gleichzeitig klingt hier aber auch schon das Thema der „Beschämung“ an, vor der das Ich bewahrt werden will (V. 2b) und die stattdessen die Treulosen treffen soll (V. 3b). Liest man diesen Wunsch im Kontext des gesamten Psalms, mit dem JHWH um Belehrung über den rechten Weg, d. h. das rechte Verhalten gebeten wird, dann kann man die „Beschämung“ als Folge von unrechtem Tun verstehen. Diese erste Bitte von V. 1b–3b ist damit eine Bitte um Vergebung. Die zweite Bitte um Unterweisung beginnt mit V. 4: יענִ י ֑ ֵ הֹוד ִ ְּד ָר ֶכ֣יָך ְי֭הוָ ה4 Deine Wege, JHWH, mache mir bekannt! / חֹותיָך ַל ְּמ ֵ ֽדנִ י׃ ֣ ֶ א ְר ֹ֖ Deine Pfade lehre mich! ַה ְד ִ ֘ר ֵיכ֤נִ י ַב ֲא ִמ ֶּ֙תָך׀ ְ ֽו ַל ְּמ ֵ ֗דנִ י5 Führe mich in Wahrheit und lehre mich, ֹלהי יִ ְׁש ִ ֑עי ֣ ֵ י־א ָּתה ֱא ֭ ַ ִ ּֽכ denn du bist der Gott meiner Rettung! / ל־הּיֽ ֹום׃ ַ יתי ָּכ ִ אֹותָך֥ ִ֜ק ִ ּ֗ו ְ Auf dich hoffe ich den ganzen Tag!
401 Hossfeld/Zenger 2008, 351. 402 Im Deuteronomium hingegen werden nur an einer Stelle göttliches Gebot und Gerechtigkeit in Beziehung gesetzt: ֹלהינּו ַּכ ֲא ֶ ׁ֥שר ֖ ֵ הו֥ה ֱא ָ ְל־ה ִּמ ְצָו֣ה ַה ּ֗ז ֹאת ִל ְפ ֵנ֛י י ַ ת־ּכ ָ ה־ּל֑נּו ִ ּֽכי־נִ ְׁש ֙מ ֹר ַל ֲע ׂ֜שֹות ֶא ָ ֶ�ָקה ִ ּֽת ְהי ֖ ָ ּוצד ְ „ ִצָ ּֽונּו׃Und Gerechtigkeit wird für uns sein, wenn wir daran festhalten, die Gesamtheit dieses Gebotes vor JHWH, unserem Gott, zu tun, wie er uns befohlen hat.“ (Dtn 6,25). Das göttliche Gebot ist für den Menschen Mittel, um Gerechtigkeit zu erlangen. Im Psalmenbuch hingegen ist Gerechtigkeit vornehmlich ein Attribut Gottes, mit dem er dem Menschen begegnet und an dem sich menschliches Handeln orientiert: „ נְ ֵחנִ י ְב ִצ ְד ָק ֶתָךLeite mich in deiner Gerechtigkeit.“ (Ps 5,9; vgl. Ps 72,1; 106,3; Ps 112,3.9 u. ö.).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
ֹר־ר ֲח ֶ ֣מיָך ְי֭הוָ ה וַ ֲח ָס ֶ ֑דיָך ַ זְ כ6 Denke an deine Erbarmungen, JHWH, und deine Gnadenerweise, / עֹול֣ם ֵ ֽה ָּמה׃ ָ ִ ּ֖כי ֵמ denn von Ewigkeit her sind sie. ל־ּתזְ ּ֥כֹר ִ֫ ּופ ָׁש ַ֗עי ַא ְ עּורי׀ ֙ ַ ְ ַח ּ֤ט ֹאות נ7 Der Sünden meiner Jugend und meiner Frevel gedenke nicht! // י־א ָּתה ֑ ַ ר־ל ִ ְּכ ַח ְס ְּדָך֥ זְ ָכ Entsprechend deiner Gnade denke du an mich / הוה׃ ֽ ָ ְטּובָך֣ י ְ ְל ַ ֖מ ַען wegen deiner Güte, JHWH! הו֑ה ָ ְ טֹוב־וְ יָ ָ ׁ֥שר י8 Gut und gerade ist JHWH, / יֹורה ַח ָּט ִ ֣אים ַּב ָ ּֽד ֶרְך׃ ֖ ֶ ל־ּכ֤ן ֵ ַע deshalb unterweist er die Sünder in Bezug auf den Weg. יַ ְד ֵ ֣רְך ֲ֭ענָ וִ ים ַּב ִּמ ְׁש ָ ּ֑פט9 Er führt die Armen in Bezug auf den Rechtsspruch, / ִ ֽו ַיל ֵ ּ֖מד ֲענָ ִו֣ים ַּד ְר ּֽכֹו׃ und er lehrt die Armen seinen Weg. ל־א ְר ֣חֹות ְי֭הוָ ה ֶ ֣ח ֶסד וֶ ֱא ֶ ֑מת ָ ָּכ10 Alle Pfade JHWHs sind Gnade und Wahrheit denen, / יתֹו וְ ֵעד ָ ֹֽתיו׃ ֗ ְלנ ְֹצ ֵ ֥רי ְ֜ב ִר die bewahren seinen Bund und seine Zeugnisse. הו֑ה ָ ְן־ׁש ְמָך֥ י ִ ְל ַ ֽמ ַע11 Um deines Namens Willen, JHWH, / ב־הּוא׃ ֽ ְ ֽו ָס ַל ְח ָ ּ֥ת ֜ ַל ֲע ִֹ֗וני ִ ּ֣כי ַר vergib meine Schuld, denn groß ist sie. (Ps 25,4–11)
Die Bitte um Unterweisung in direkter Anrede an JHWH (V. 4–7) richtet sich auf „Wege“ und „Pfade“. Die „Wege JHWHs“ sind die, zu denen die Frevler und Sünder umkehren sollen (vgl. Ps 51,15). Gegenstand der Lehre ist die rechte Lebenspraxis, die Einfügung in die göttliche Weltordnung bzw. Wahrheit ( ֶא ֶמתin V. 5.10) und das Durchschreiten des göttlichen Lebensraumes (חֹותיָך ֶ א ְֹרin V. 4). Sie gilt als heilvoll, denn in diesem Kontext bezeichnet das betende Ich JHWH als „Gott meiner Rettung“ (V. 5). Dass Gott sich dem Ich zuwendet, ist ein Akt der „Erbarmungen“ und ein „Gnadenerweis“ (V. 6) angesichts der Schuldhaftigkeit des betenden Ichs. Der Mensch wird nicht schuldfrei konzipiert, in der Hinwendung zu Gott wird aber aufgrund der göttlichen Güte die Möglichkeit von Gnade gesehen (V. 7). Die göttliche Unterweisung gründet wiederum in JHWHs Güte, ermöglicht Umkehr und Vergebung (V. 8–11). Weil JHWH gut ist (V. 8), kann er Orientierung in Bezug auf das Gute, das zu tun ist, geben. Seine Güte ist auch Grund für seine Lehre. Er möchte den Menschen in Bezug auf das Gute anleiten. Eng aufeinander bezogen stehen hier „ ַח ָּט ִאיםSünder“ und „ ֲענָ וִ יםArme“ (V. 9), die der Wegweisung durch JHWH bedürfen. Deutlich wird, dass „ ֲענָ וִ יםArme“ weniger als soziale denn als eine religiöse Größe erscheinen, allerdings auch nicht als moralisch überlegene JHWH-Fromme, sondern als die, die der Rechtleitung bedürfen. Zum Kriterium der Rettung wird nicht die Schuldfreiheit, sondern das Verhältnis zur eigenen Schuld. Das betende Ich reiht sich in diese Gruppe ein (vgl. V. 16), indem es JHWH um Vergebung seiner Schuld bittet (V. 11; vgl. auch V. 18.20). Mit der Frage von V. 12 eingeleitet werden die positiven Folgen der Unterweisung bedacht:
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הו֑ה ָ ְי־ז֣ה ָ ֭ה ִאיׁש יְ ֵ ֣רא י ֶ ִמ12 Wer ist der Mann, der JHWH fürchtet? / ֹורּנּו ְּב ֶ ֣ד ֶרְך ְיִב ָ ֽחר׃ ֗ ֶ ֜י Er unterweist ihn in Bezug auf den Weg, den er wählen soll. ַ ֭נ ְפׁשֹו ְּב ֣טֹוב ָּת ִ ֑לין13 Seine Nefeš wird im Guten nächtigen, / ְ ֜וזַ ְר ֗עֹו יִ ַ֣ירׁש ָ ֽא ֶרץ׃ und sein Same wird das Land erben. ֣סֹוד ְי֭הוָ ה ִל ֵיר ָ ֑איו14 Vertrauliche Besprechung JHWHs ist denen, die ihn fürchten, / יעם׃ ֽ ָ הֹוד ִ יתֹו ְל ֗ ּו֜ ְב ִר und sein Bund ist, um sie zu unterweisen. (Ps 25,12–14)
Die Frage (V. 12) stellt den Zusammenhang von JHWH-Furcht, einer vertrauensvollen Hinwendung zu Gott, und der Anleitung zu gelingendem Leben her. Die göttliche Unterweisung wird als Hilfe zum Guten (V. 13), das hier metaphorisch mit Landbesitz umschrieben wird, und als Vertraulichkeit und Nähe (סֹוד in V. 14) verstanden. Dieses Verhältnis wird in die Vorstellung vom „ ְּב ִריתBund“ (V. 10.14) eingereiht. Ps 25 und 34 weisen formale und inhaltliche Konvergenzen auf. Ps 25 ist wie Ps 34 ein Akrostichon, der ו-Vers fehlt bei beiden Psalmen, und der פ-Vers beider Psalmen ist eine Erlösungsbitte für Israel. Beide Psalmen zeigen im Mittelteil eine mit ִמי־ (זֶ ה) ָה ִאיׁשeingeleitete Frage und berühren sich in den Bezeichnungen יִ ֵרא יְ הוָ הund ֲענָ וִ יםfür Gruppen, denen sich das betende Ich zuordnet. Allerdings setzen beide Psalmen unterschiedliche Schwerpunkte. Zwar berührt auch Ps 34 mit der Vorstellung der Beschämung (vgl. Ps 34,6.19) die Reflexion auf menschliches Fehlverhalten, aber in Ps 25 tritt die Frage nach Schuld weit mehr in den Vordergrund. Andererseits ist die Gegenüberstellung von Gerechtem und Frevler in Ps 34 ausgeprägter. Während Ps 34 imperativisch Verhaltensanweisungen gibt (vgl. Ps 34,14–15), umschreibt Ps 25 diese mit den Begriffen „Bund“ und „Zeugnisse“ (Ps 25,10).403 Frappant sind in Bezug auf die Vorstellung vom Lernen und Lehren die sich ergänzenden Konzeptionen der beiden Psalmen. Ps 25 ist in V. 1b–7.11(16–22) Rede an JHWH, mit der JHWH um Unterweisung gebeten wird, während V. 8–10.12– 14(15) als Rede über JHWHs Wesen und Lehre sich an Dritte richtet. Ps 25 konsta403 Hossfeld/Zenger 1993, 162 leiten aus diesen Beobachtungen die Entstehungsgeschichte der Psalmen her: „Auch gegenüber Ps 34 erscheint so Ps 25 als verwandt, aber theologiegeschichtlich später, weil die Themen Sünde, Sündenvergebung durch den gnädigen Gott und Bund stärker in den Gesichtskreis des Beters rücken.“ Der „Einfluss deuteronimistischer Theologie“ an Ps 44,18 f; 78; 103,17 f; 132. Die Rede vom „Bund“ in Ps 25 ist singulär im ersten Davidpsalter. Aufgrund seiner Beziehung zur Tora-Frömmigkeit ergeben sich Übereinstimmungen mit Ps 19 und 119 (u. a. ja auch in Bezug auf die Vorstellung von JHWH als göttlichem Lehrer). In Ps 25 verbinden sich die „klassischen“ Konzepte der Armenfrömmigkeit und Feindthematik mit „typisch weisheitlichen Aspekten wie Wegterminologie und Vergeltungslehre unter Einbindung deuteronomistisch geprägter Theologumena wie Gesetzesgehorsam, Bundestreue und Erinnerungen an Ex 34.“ Daher wird Ps 25 entstehungsgeschichtlich in die nachexilische Zeit eingeordnet (vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 162–163).
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tiert so klar, dass jede Unterweisung zu richtigem Verhalten, das zum Heil führt, letztlich von JHWH als dem Begründer der Weltordnung, der mit Israel einen Bund geschlossen und ihm Gebote und Zeugnisse gegeben hat, ausgeht. Dies liegt im Wesen JHWHs als dem Guten (V. 7) begründet. Ps 34 erweist sich insofern komplementär, als der Psalm reflektiert, wie diese göttliche Unterweisung sich ereignet. Hier erfolgt sie in Form der Rettungserzählung des Ichs, aus der die Belehrung erwächst. Ein menschlicher Lehrer, von V. 1 her ist dies David, tritt hier anders als in der deuteronomistischen Tradition an die Stelle des Mose als Lehrer Israels. Zusammenfassend lässt sich festhalten: In Ps 34,12 wird das Setting einer Unterweisung inszeniert. Dem Vers kommt dabei als eine Art Metareflexion eine Sonderstellung zu, insofern das betende Ich die Bedeutung und Funktion seiner eigenen Rede reflektiert. Die Imperative, die die Aufmerksamkeit der Adressaten lenken, weisen das Ich als Autorität aus. Diese gründet in seiner Rettungserfahrung, die es als Erfahrung Gottes deutet. Mit der Anrede „Kinder“ unterstreicht es die Bedeutung seiner Rede, die so normativen Charakter erhält. Die Anrede ist inklusiv zu verstehen, konstituiert Gemeinschaft und ist generationsübergreifend und damit auf Zukunft ausgerichtet. Höraufforderungen implizieren im Kontext des Psalters, so auch in Ps 34, das Tun des Gehörten, eine gottgemäße Lebensführung entsprechend der von Gott gestifteten gerechten Ordnung der Welt. Anders als in Ps 25, der den göttlichen Ursprung der ethischen Unterweisung hervorhebt, ist es in Ps 34 ein menschlicher Lehrer, der seine Erfahrungen und Erkenntnisse an die nächste Generation weitergibt: „ יִ ְר ַאת יְ הוָ ה ֲא ַל ֶּמ ְד ֶכםJHWH-Furcht will ich euch lehren!“ (Ps 34,12). Im Hinblick auf ihre Lehr-Lern-Konzeption verhalten sich die beiden Psalmen komplementär, insofern als Ps 34 zeigt, wie sich die göttliche Unterweisung ereignet. Was unter „JHWH-Furcht“ zu verstehen ist, erläutert das betende Ich in den folgenden Versen, die ein JHWH-gemäßes Handeln thematisieren.404 3.4.4.2.5 Wer ist der Mensch? (V. 13) Nach der Hör-Aufforderung und Anrede der Adressaten mit der Selbstaufforderung des Ichs zur Belehrung folgt – eingeleitet mit der Frage von V. 13 „Wer ist der Mensch?“ – das Motiv, JHWH-Furcht zu lernen. Dieses ist das menschliche Streben nach gelingendem Leben. Mit V. 14–15 werden Charakteristika des JHWHfürchtigen Verhaltens benannt. Zu klären ist, wie die Frage zu verstehen ist, als echte oder rhetorische Frage. Untersucht werden soll die Semantik der Verben „ הפץbegehren“ und „ אהבlieben“, die des Substantivs „ ַחּיִ יםLeben“ und die syntaktische Struktur der Frage insgesamt. In Bezug auf die Syntax innerhalb des Parallelismus von V. 13 stellt sich die Frage, ob der Infintivus constructus ִל ְראֹותvom Substantiv יָמים ִ oder entweder nur
404 Eine inhaltliche Nähe zu dieser Konzeption der Unterweisung auf dem rechten Weg und zu gelingendem Leben ergibt sich in diesem Fall zu Ps 37 als „gebündelte weisheitliche Lebenslehre“ (Hossfeld/Zenger 1993, 229).
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vom zweiten Partizip א ֵֹהבoder auch vom ersten Partizip bzw. Verbaladjektiv חפץ abhängig ist. Dabei sind sowohl die Semantik als auch die syntaktische Funktion der Verben zu berücksichtigen. Ferner ergeben sich in der Unterweisung Verbindungslinien zum altägyptischen Raum, die von Bedeutung für das Verständnis der Frage von V. 13 sind. 1. Eigenart der Frage Die Frage ist formal an die Hörer bzw. Leser gerichtet. Ähnliche Formulierungen finden sich im Deuteronomium und bei Jeremia und in Ps 25. Mit ihnen werden anthropologische Aussagen getätigt, wie es vergleichbar das Sprüchebuch tut. Als echte Fragen dürfen die Fragen im Zusammenhang der deuteronomischen Kriegsgesetze gewertet werden: „Wer ist der Mann (ת־ח ָד ׁ֙ש ָ ִי־ה ִ֞איׁש ֲא ֶׁ֙שר ָּב ָנ֤ה ַ ֽבי ָ ) ִ ֽמ, der ein neues Haus gebaut und es nicht eingeweiht hat? Er gehe und kehre zurück in sein Haus, damit er nicht im Krieg sterbe und ein anderer Mann es einweihe.“ (Dtn 20,5; vgl. Dtn 20,6.7.8). Mit ihnen sollen vor dem Aufbruch des Heeres in den Krieg diejenigen Männer ausgesondert werden, deren Motivation zum Kampf durch Verpflichtungen zuhause geschmälert sein könnte. Die anderen Fragen wollen Zustimmung zu einem bestimmten Standpunkt erreichen und unterstellen sozial geteilte Ansichten. Der prophetische Sprecher von Jer 9,11 will innerhalb seiner Klage über Israel seine Hörer zu der Einsicht führen, dass die desolate Situation Israels in dessen Fehlverhalten gründet: י־ה ִ ֤איׁש ָ ִ ֽמ ת־ז ֹאת ֔ „ ֶ ֽה ָח ָכ ֙ם וְ ֵיָב֣ן ֶאWer ist der Mann, der weise ist und dies einsieht?“ (Jer 9,11; vgl. Hos 14,10). Erwartet wird die Zustimmung des Hörers bzw. Lesers im Hinblick auf die Berechtigung der prophetischen Kritik. Auch Ps 25 reflektiert wie Ps 34 über gelingendes Leben. In diesem Zusammenhang fragt das betende Ich:
הו֑ה ָ ְי־ז֣ה ָ ֭ה ִאיׁש יְ ֵ ֣רא י ֶ ִמ12 „Wer ist der Mann, der JHWH fürchtet? ֹורּנּו ְּב ֶ ֣ד ֶרְך ְיִב ָ ֽחר׃ ֗ ֶ ֜י Er unterweist ihn in Bezug auf den Weg, den er wählen soll. ַ ֭נ ְפׁשֹו ְּב ֣טֹוב ָּת ִ ֑לין13 Seine Nefeš wird im Guten nächtigen, ְ ֜וזַ ְר ֗עֹו יִ ַ֣ירׁש ָ ֽא ֶרץ׃ und sein Same wird das Land erben.“ (Ps 25,12–13)
Explizit wird der innere Zusammenhang von JHWH-Furcht, gutem Leben und Land. Mit der Frage versichert sich das betende Ich seiner eigenen Überzeugungen und wirbt vor anderen für ein Leben in JHWH-Furcht. Beide Psalmen (Ps 25; 34) gehen mit der inklusiv zu verstehenden Formulierung „ ָה ִאיׁשder Mensch“ von einer allgemein-anthropologischen Verbindung von JHWH-Furcht und gelingendem Leben aus.405
405 Zur „verallgemeinerten Bedeutung“ „Mensch“ vgl. Kühlewein 62004, 133–134. Im Psalter, z. B. in Ps 1,1, in der Gegenüberstellung von Mensch und Tier in Ps 22,7, in Ps 25,12; 31,21; 38,15 u. ö., im
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Diese Konzeption hat Berührungspunkte mit der des Sprüchebuches: „Was schließlich die spezifischen Züge der weisheitlichen Reden und Lehren betrifft, lässt sich zweckmäßig mit der Rede vom Menschen anfangen. Denn im ganzen Spruchbuch steht ja weder das Volk noch der Israelit als Mitglied seines Volkes, sondern der einzelne ‚Mensch‘ (‛ādām und ’îš; vereinzelt noch gäbär ‚Mann‘) im Vordergrund. Sowohl die Form und die Aussagen der Sprüche, die zumeist vom Leben und Geschick des Einzelnen handeln, als auch der zuvor erwähnte Rat der Weisen, der vornehmlich an Einzelne gerichtet ist, entsprechen vollends dieser bemerkenswerten Konzentration im Spruchgut auf das Individuum. Der konkrete Rat und die teils konkreten und teils allgemeinen Mahnworte setzen voraus, dass der Mensch, der sie vernimmt, ihren Zuspruch durch seine Entscheidungsfähigkeit auch befolgen kann. Er ist daher in gewissem Ausmaß ein freier und ‚mündiger Mensch‘.“406 Diese Voraussetzungen macht auch Ps 34. Auch er geht von der Entscheidungsfähigkeit des Menschen aus. Anders als für das Sprüchebuch spielt jedoch die Gemeinschaft in Form der ( יְ ֵר ֵאי יְ הוָ הvgl. V. 8) bzw. ( ְקד ֵֹׁשי יְ הוָ הvgl. V. 10) durchaus eine Rolle. Die Frage von Ps 34,13 ist wie in Jer 9,11 darauf gerichtet, Zustimmung zu den Inhalten der Unterweisung durch das betende Ich zu erreichen. Anders aber als im prophetischen Kontext wird in Ps 34 direkt im Anschluss und explizit mit Imperativem zu positiv gewerteten Handlungen aufgefordert. Das betende Ich fordert seine Hörer innerhalb seiner „Belehrung“ auf, deren Inhalt zu reflektieren, und es wirbt um eine bewusste Zustimmung zu seiner Weltsicht. Dabei darf die „pädagogisch geschickt stilisierte Frage“407 rhetorisch408 verstanden werden, wenn man eine gemeinschaftlich geteilte Anthropologie annimmt, in Bezug auf die soziale Übereinstimmung herrscht: Das betende Ich setzt als anthropologische Grundbestimmung voraus, dass der Mensch nach dem Guten strebt. Dieses Menschenbild erwartet es auch bei seinen Zuhörern, so dass seine Frage nur damit beantwortet werden kann, dass jeder Mensch nach dem Guten verlangt. In dieser Argumentation werden die JHWH-Furcht (V. 12) und die folgende Unterweisung (V. 14–15) zum Mittel und Weg zum Guten. Dieser Zusammenhang wird nicht explizit formuliert, sondern muss vom Hörer bzw. Leser aktiv hergestellt werden. 2. חפץ – „begehren“: Ausdruck menschlicher Freiheit Als Grundbedeutung von חפץkann „sich kümmern um“, „begehren“ und „Wohlgefallen/Lust haben“ gelten. Ausgedrückt werden ein positiv gewertetes Streben
Hinblick auf ethische Fragen z. B. auch in Ps 37,7.37; eindeutig ist die universale Bedeutung auch im Parallelismus mit ָא ָדםin Ps 62,10. 406 Sæbø 2012, 26. 407 Weiser 61963, 200. 408 Vgl. Gerstenberger 1991, 148.
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nach etwas, das gegenwärtig nicht verfügbar ist, emotionale Zuneigung, aber auch eine existentielle Grundausrichtung.409 In Kombination mit anderen Verben wird die Bedeutung abgeschwächt zu der des Auxiliarverbs „wollen“.410 Die LXX bringt folgerichtig θέλειν (vor allem für das göttliche, bestimmte und souveräne Handeln), βούλεσθαι (in der Regel für das entschlossene Nichtwollen) und ἐυδοκεῖν.411 Auch wenn חפץals Hilfsverb gebraucht wird, bleiben das intentionale Moment, die innere Zuneigung, das freudige Empfinden und die bewusste Hinwendung und Entscheidung für eine bestimmte Handlung erhalten. Der Gebrauch von חפץim Psalter mit menschlichem Subjekt zeigt, dass mit diesem Verb zum einen die Orientierung am göttlichen Willen und zum anderen die Möglichkeit menschlicher Freiheit zum Ausdruck gebracht wird. (1) Der Seliggepriesene in Ps 1 hat Gefallen „an der Tora JHWHs“ (Ps 1,2) und das betende Ich von Ps 40 daran, den göttlichen Willen zu tun ( ְרצֹונְ ָך עׂשהin Ps 40,9). Die Nähe zu Gott wird als der alleinige Maßstab für das eigene Glücksempfinden gesehen: א־ח ַ ֥פ ְצ ִּתי ָב ָ ֽא ֶרץ׃ ָ ֹ „ ְ ֜ו ִע ְּמ ָ֗ך לAußer dir begehre ich nichts auf der Erde.“ (Ps 73,25). Das Heilshandeln Gottes in der Geschichte ist Grund für den Lobpreis des Ichs (vgl. Ps 111,1): יהם׃ ֽ ֶ ל־ח ְפ ֵצ ֶ רּוׁשים ְל ָכ ִ֗ הו֑ה ְ ּ֜ד ָ ְׂשי י ֣ ֵ „ ְ ּ֭גד ִֹלים ַמ ֲעGroß sind die Taten JHWHs, zu erforschen von allen, die an ihnen Gefallen haben.“ (Ps 111,2). Diese Dankbarkeit führt im Zwillingspsalm Ps 112 zur Verbindung von JHWH-Furcht und Orientierung an den Geboten: אד׃ ֹ ֽ ֹותיו ָח ֵ ֥פץ ְמ ָ֗ הו֑ה ְּ֜ב ִמ ְצ ָ ְי־איׁש יָ ֵ ֣רא ֶאת־י ֭ ִ „ ַא ְׁש ֵרGlücklich ein Mann, der JHWH fürchtet, der großen Gefallen an seinen Anordnungen hat.“ (Ps 112,1; vgl. 119,35). Mit חפץwird ebenfalls das Begehren der Menschen nach Gerechtigkeit (ֶצ ֶדק in Ps 35,27), d. h. der Rettung des Bedrängten, die mit dem göttlichen Willen und der Weltordnung übereinstimmt, bezeichnet. Das betende Ich hofft, dass andere Menschen wünschen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt („ ֲח ֵפ ֵצי ִצ ְד ִקיdie Wünsche meiner Gerechtigkeit“ in Ps 35,27). Dieser menschliche Wunsch nach Gerechtigkeit des Unterdrückten korrespondiert mit dem göttlichen Wunsch für den Verfolgten: הו֑ה ֶ֜ה ָח ֗ ֵפץ ְׁשל֣ ֹום ַע ְב ּֽדֹו׃ ָ ְ„ יJHWH, der Šalom seines Knechts begehrt.“ (Ps 35,27). Insofern begehren die, die dem Ich Gerechtigkeit wünschen, den göttlichen Willen. (2) In der Negation kommt die Möglichkeit der Abwendung von Gott, die in der Freiheit des Menschen begründet liegt, zum Ausdruck. Der Verfolger der Armen übt keine Gnade und widmet sein Leben dem „Fluch“, statt sich am Göttlichen zu orientieren: א־ח ֵפץ ִּב ְב ָר ָכה ָ ֹ „ וְ לUnd den Segen begehrte er nicht.“ (Ps 109,17).
409 Botterweck 1982, 102–106; Ges18, 380. Ist das Objekt der Zuneigung eine Person, wird der Bezug auf diese immer mit der Präposition ְּבhergestellt; begehrte Objekte werden mit der Präposition ְּבoder mit nota obiecti eingeführt. 410 „Nicht selten wird ḥpṣ von einem Inf. begleitet und somit als bloßes Hilfsverbum gebraucht (Dtn 25,8; Ri 13,23; 1 Sam 2,25).“ (Gerlemann 62004, 625). 411 Botterweck 1982, 103.
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Das betende Ich wünscht die Beschämung der Frevler, die sein Unglück begehren: ( ֲח ֵפ ֵצי ָר ָע ִתיPs 40,15; vgl. 70,3); die Völker begehren den Krieg (vgl. Ps 68,31). Dem Menschen ist also die Möglichkeit gegeben, das Gute oder Böse zu begehren. Begehrt er das Gute, steht dies in Einklang mit der göttlichen Weltordnung. In allen Fällen handelt es sich um vom Menschen verantwortete Handlungen, für die er auch zur Rechenschaft gezogen werden kann und soll. Als Objekt von חפץerscheinen generell Menschen, denen gegenüber Zuneigung bekundet oder denen Gunst erwiesen wird, und Sachen, darunter sowohl Konkreta als auch Abstrakta. Insofern kann man in Ps 34,13 „ ַחיִ יםLeben“ als Objekt des Begehrens verstehen. Für John Goldingay besteht ein Gegensatz zwischen dem Begehren, das auf JHWH gerichtet ist, und dem Begehren des Lebens: „Only here does the OT talk about delighting in life, usually it rather emphasizes delighting in Yhwh or in Yhwh’s word or in obedience to Yhwh (1:2; 40:8[9]; 73:25; 119:35).“412 Zu fragen ist daher nach der Bedeutung des Substantives „ ַחיִ יםLeben“ und ob חיִ ים ַ ( חפץPs 34,13) und תֹורת יְ הוָ ה ַ ( חפץ ְּבPs 1,2) nicht eher als komplementär zu verstehen sind. 3. ַחיִ ים – „Leben“: Gabe Gottes Das plurale tantum ַחיִ יםist ein Abstraktplural, der Dauer ausdrückt. Zum Leben gehört Zeit als Möglichkeit einer Zukunft. Die Verwendung des Verbes חיהzeigt, dass „Leben“ nicht das bloße physische Lebendigsein, sondern das heile und erfüllte Leben meint.413 „Das Sein ist hier nie zum Gegenstand besonderen Nachdenkens und besonderer Würdigung, geschweige denn zum höchsten Gut und Inbegriff des Lebens geworden. Haben doch sogar die Toten Sein und Existenz, ohne daß ihnen deswegen auch nur ein Minimum an Lebendigkeit zukäme! Bloßes Dasein involviert noch kein Leben. […] Die Bewegung, ohne die es kein Leben gibt, steht im Zeichen des Heils. […] Zu den bisher festgestellten Wesensmerkmalen des Lebens kommt noch eine Gruppe von unter sich verwandten Zügen, deren Wesentlichkeit für den Lebensbegriff viel deutlicher hervortritt als die ersteren. Es sind diejenigen Züge, die das Leben als eine positiv qualifizierte Existenz auszeichnen, nämlich Kraft, Festigkeit, Sicherheit, Gesundheit, Segen, Heil, Glück und Freude.“414 ַחיִ יםgilt als Gabe Gottes, nicht als Besitz des Menschen (vgl. Dtn 30,15.19; Mal 2,5; Ijob 3,20). ַחיִ יםist gleichbedeutend mit dem göttlichen Segen (vgl. Ps 133,3) und fordert menschliche Verantwortung. So ist ַחיִ יםgöttliche Zueignung an den König, der die Welt- und Lebensordnung aufrechterhält (vgl. Ps 21,5). Berührungspunkte ergeben sich von Ps 34 her vor allem mit deuteronomistischen Vorstellungen und Konzepten im Sprüche- und im Psalmenbuch.
412 Goldingay 2006, 482. 413 Vgl. Gerlemann 62004, 551. 414 Barth 21987, 23–28.
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(1) In Deuteronomium 30 zeigt sich die Überzeugung, dass „Leben“ und damit „Heil“ auch in der freien Entscheidung des Menschen gründen. Im Rahmen der Rede des Mose, mit der durch den Sprechakt selbst der Moab-Bund geschlossen wird (vgl. Dtn 29,1–30,20),415 wird die Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen, den Gotteswillen ( ַה ִּמ ְצוָ הin V. 11 und ַה ָּד ָברin V. 14) zu erfüllen, betont: ִ ּ֚כי ַה ִּמ ְצָו֣ה ַה ּ֔ז ֹאת ֲא ֶ ׁ֛שר ָאנ ִ ֹ֥כי ְמ ַצּוְ ָך֖ ַהּי֑ ֹום11 Fürwahr, dieses Gebot, das ich dir heute befehle, וא ִמ ְּמ ָ֔ך וְ ֥ל ֹא ְרח ָ ֹ֖קה ִ ֽהוא׃ ֙ ֽל ֹא־נִ ְפ ֵ ֥לאת ִה es ist nicht zu wunderbar für dich und nicht zu fern. מר ֹ ֗ ֥ל ֹא ַב ָּׁש ַ ֖מיִ ם ִ ֑הוא ֵלא12 Es ist nicht im Himmel, dass man sagen müsste: ה־ּל֤נּו ַה ָּׁש ַ֙מיְ ָמ ֙ה ָ ִ ֣מי יַ ֲע ֶל Wer kann für uns zum Himmel hinaufgehen וְ יִ ָּק ֶ ֣ח ָה ֔ ָּלנּו וְ יַ ְׁש ִמ ֵ ֥ענּו א ָ ֹ֖תּה und es für uns nehmen und es uns hören lassen, וְ נַ ֲע ֶ ֽׂשּנָ ה׃ so dass wir es tun können? מר ֹ ֗ א־מ ֵ ֥ע ֶבר ַל ָּי֖ם ִ ֑הוא ֵלא ֵ ֹ וְ ֽל13 Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass man sagen müsste: ל־ע ֶבר ַהּיָ ֙ם ֤ ֵ ר־לנּו ֶא ָ ֜ ִ ֣מי יַ ֲע ָב Wer kann für uns auf die andere Seite des Meeres hinübergehen וְ יִ ָּק ֶ ֣ח ָה ֔ ָּלנּו וְ יַ ְׁש ִמ ֵ ֥ענּו א ָ ֹ֖תּה und es für uns nehmen und es uns hören lassen, וְ נַ ֲע ֶ ֽׂשּנָ ה׃ so dass wir es tun können? אד ֹ ֑ י־ק ֥רֹוב ֵא ֶל֛יָך ַה ָּד ָ ֖בר ְמ ָ ִ ּֽכ14 Sondern das Wort ist sehr nahe bei dir, ּוב ְל ָב ְבָך֖ ַל ֲעׂש ֹֽתֹו׃ ס ֽ ִ ְּב ִ ֥פיָך in deinem Mund und in deinem Herzen, so dass man es tun kann. ת־ה ּ֑טֹוב ַ ת־ה ַח ִּי֖ים וְ ֶא ֽ ַ ְר ֵ֙אה נָ ַ ֤ת ִּתי ְל ָפנֶ֙ ֙יָך ַהּי֔ ֹום ֶא15 Siehe, hiermit gebe ich heute das Leben und das Gute vor dich ת־ה ָ ֽרע׃ ָ ת־ה ָ ּ֖מוֶ ת וְ ֶא ַ וְ ֶא und den Tod und das Böse. ם ֒ ֲא ֶׁ֙שר ָאנ ִ ֹ֣כי ְמ ַצּוְ ָ֮ך ַהּיֹו16 Was ich dir heute befehle, ֹלה ֙יָך ֶ֙ הו֤ה ֱא ָ ְְל ַא ֲה ָ֞בה ֶאת־י ist zu lieben JHWH, deinen Gott, ָל ֶל ֶ֣כת ִּב ְד ָר ָ֔כיו indem du auf seinen Wegen gehst ּומ ְׁש ָּפ ָ ֑טיו ִ ֹותיו וְ ֻחּק ָ ֹ֖תיו ֥ ָ מר ִמ ְצ ֹ ֛ וְ ִל ְׁש und indem du seine Gebote und Satzungen und Rechtssprüche bewahrst, ֹלהיָך ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְּוב ַר ְכ ָ֙ך י ֽ ֵ ית ָ ֣ית וְ ָר ִ֔ב ָ ִוְ ָחי so dass du lebst und zahlreich wirst und JHWH, dein Gott, dich segnet א־ׁש ָּמה ְל ִר ְׁש ָ ּֽתּה׃ ֖ ָ ר־א ָ ּ֥תה ָב ַ ָּב ָ֕א ֶרץ ֲא ֶׁש in dem Land, wohin du kommst, um es in Besitz zu nehmen. 415 Vgl. Finsterbusch 2012, 172–181; Braulik 1992, 219–220.
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וְ ִאם־יִ ְפ ֶנ֥ה ְל ָב ְבָך֖ וְ ֣ל ֹא ִת ְׁש ָ ֑מע17 Wenn sich aber dein Herz abwendet und du nicht hörst וְ נִ ַּד ְח ָּ֗ת und du dich verführen lässt אֹלהים ֲא ֵח ִ ֖רים וַ ֲע ַב ְד ָ ּֽתם׃ ֥ ִ ית ֵל ָ וְ ִ ֽה ְׁש ַּת ֲחִ ֛ו18 und dich niederwirfst vor anderen Göttern und ihnen dienst, ִה ַּג ְ�֤ד ִּתי ָל ֶכ ֙ם ַהּי֔ ֹום dann verkündige ich euch heute, אב ֑דּון ֵ ֹ ִ ּ֥כי ָא ֖בֹד ּת dass ihr gewiss umkommen werdet ל־ה ֲא ָד ָ֔מה ֣ ָ יָמ ֙ים ַע ִ א־ת ֲא ִר ֻיכ֤ן ַ ֹל und ihr die Tage in dem Land nicht verlängert, ת־הּיַ ְר ֵ ּ֔דן ַ ֲא ֶׁ֙שר ַא ָ ּ֤תה ע ֵֹב ֙ר ֶא in das du über den Jordan hinüberziehst, ָל ֥ב ֹא ָ ׁ֖ש ָּמה ְל ִר ְׁש ָ ּֽתּה׃ um dorthin zu gehen und es in Besitz zu nehmen. ֒ת־ה ָא ֶרץ ָ ת־ה ָּׁש ַ ֣מיִ ם וְ ֶא ַ ּיֹום ֶא ֮ ַה ִע ֙יד ֹ ִתי ָב ֶכ֣ם ַה19 Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch: ַה ַח ִּי֤ים וְ ַה ָּ֙מוֶ ֙ת נָ ַ ֣ת ִּתי ְל ָפ ֶ֔ניָך ַה ְּב ָר ָ ֖כה וְ ַה ְּק ָל ָל֑ה Das Leben und den Tod gebe ich vor euch, den Segen und den Fluch, ּוב ַח ְר ָּ֙ת ַ ּֽב ַח ִּ֔יים ָֽ so dass du das Leben wählst, ְל ַ ֥מ ַען ִּת ְח ֶי֖ה ַא ָ ּ֥תה וְ זַ ְר ֶ ֽעָך׃ damit du lebst, du und deine Nachkommen, ֹלהיָך ֶ֔ הו֣ה ֱא ָ ְ ְל ַ ֽא ֲה ָב ֙ה ֶאת־י20 indem du JHWH, deinen Gott, liebst, מ ַע ְּבק ֹ֖לֹו ֹ ֥ ִל ְׁש indem du auf seine Stimme hörst, ה־בֹו ֑ ּול ָד ְב ָק ְ und an ihm hängst. יָמיָך ֶ֔ א ֶרְך ֹ ֣ ְח ֙יָך ו ִֶ֙ ּ֣כי ֤הּוא ַ ּי Denn er ist dein Leben und die Länge deiner Tage, ל־ה ֲא ָד ָ֗מה ָ ׁש ֶבת ַע ֣ ֶ ָל damit du in dem Land wohnst, הו֧ה ַל ֲאב ֶ ֹ֛תיָך ָ ְֲא ֶׁשר֩ נִ ְׁש ַּ֙בע י das JHWH deinen Vätern zugeschworen hat, ְל ַא ְב ָר ָ ֛הם ְליִ ְצ ָ ֥חק ּוֽ ְליַ ֲע ֖קֹב ָל ֵ ֥תת ָל ֶ ֽהם׃ Abraham und Isaak und Jakob, um es ihnen zu geben. (Dtn 30,11–20).
Mit Rückbezug auf die „ ַהּיֹוםheute“ (V. 11) vorgelegten Weisungen wird performativ die Wahl zwischen dem „Leben“ als das Glück und Heilvolle und dem „Tod“ als das Verderben und Lebensabträgliche zur Entscheidung gegeben (vgl. Dtn 30,15; vgl. Jer 21,8). Liebe ( )אהבzu Gott korreliert dieser Vorstellung zufolge mit sittlichem Handeln ()הלך ִּב ְד ָר ָכיו, Leben ( )חיהund Segen (( )ברךvgl. Dtn 30,16).416 „Vor die Entscheidung zwischen Leben und Tod gestellt können die Adressaten das Leben wählen, da die Tora, wie Dtn 30,14 sagt, ihrem Herzen nahe ist. In Dtn 30,16 ist das Gute, das das Leben bedeutet, die Liebe zu JHWH. In Dtn 30,6 folgt die Liebe zu
416 Diese Verknüpfung von Gebot und Leben findet sich auch sonst im Deuteronomium (vgl. Dtn 4,1; 5,33; 8,1; 11,8–9; 16,20; 22,7; 25,15).
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JHWH der Herzensbeschneidung, in Dtn 30,16 ist sie in einem Ineinander göttlichen und menschlichen Handelns Thema der Wahlentscheidung für das Leben.“417 In deuteronomistischer Perspektive sind Leben und Gebotsgehorsam identisch. Dem Menschen ist jedoch auch die Möglichkeit gegeben, sich in seinem Handeln gegen das Leben und das Heil zu stellen. Ganz klar wird hier von der Freiheit und ethischen Verantwortlichkeit des Menschen ausgegangen. (2) Diese Vorstellung eines Zusammenhangs von Leben und Heil als Tun des Menschen und Gabe Gottes, als ein Ergehen, entspricht der weisheitlichen Konzeption des Sprüchebuches: �ָקה ַח ִּי֑ים ֥ ָ ח־צד ְ א ַר ֹ ֽ „ ְּבAuf dem Pfad der Gerechtigkeit ist Leben.“ (Spr 12,28; vgl. 11,30; 13,14). Die Verbindung von Gottesfurcht und gelingendem Leben findet sich auch in Spr 14: ּמ ְק ֵׁשי ָ ֽמוֶ ת׃ ֹ ֥ יִ ְר ַ ֣את ְי֭הוָ ה ְמ ֣קֹור ַח ִּי֑ים ֜ ָל ֗סּור ִמ „Die Furcht JHWHs ist Quelle des Lebens, um die Fallen des Todes zu meiden.“ (Spr 14,27; vgl. 19,23). Im Kontext des vorhergehenden Verses wird deutlich, dass unter JHWH-Furcht aber nicht ein zu befolgendes Regelkompendium zu verstehen ist, so dass Glück und gelingendes Leben machbar wären. JHWH-Furcht bezeichnet immer auch eine vertrauensvolle Übereignung an JHWH: ְּביִ ְר ַ ֣את ְי֭הוָ ה „ ִמ ְב ַטח־ ֑עֹז ּו֜ ְל ָב ָ֗ניו יִ ְה ֶי֥ה ַמ ְח ֶ ֽסה׃In der Furcht JHWHs ist starkes Vertrauen; und für seine Kinder wird eine Zuflucht sein.“ (Spr 14,26). Von Bedeutung sind auch menschliche Belehrung und Unterweisung in Bezug auf den rechten Lebenswandel. Die Worte der Weisen sind Leben und Heilung ( ַחּיִ יםund ; ַמ ְר ֵּפאvgl. Spr 4,22).418 In der Rede der Weisheit wird Leben mit ihr selbst identifiziert: ַח ִּי֑ים419מ ְצ ִאי ָמ ָצ֣א ֹ ֭ „ ִ ּ֣כיDenn wer mich findet, hat Leben gefunden.“ (Spr 8,35). „ ַחּיִ יםLeben“ erweist sich somit als ein Qualitätsbegriff. Ein heilvolles Leben ist gleichermaßen Gabe Gottes als auch Tun des Menschen, der sich Gott zuwendet. (3) Den Psalmen zufolge wird Leben an die Gegenwart Gottes im Tempel geknüpft. Göttliche Präsenz, Leben und Heil können im Tempel bzw. im Kult erlebt werden; so ist der Tempel „ ְמקֹור ַחּיִ יםdie Quelle des Lebens“ (Ps 36,10).420 Das Gute und damit die Nähe Gottes erfährt der Mensch – in Übereinstimmung mit der Konzeption des Deuteronomiums – aber nicht nur im Tempel, sondern auch in seinem eigenen ethischen Handeln, das sich am Wort Gottes orientiert. Eine Verbindungslinie vom Handeln des Menschen und dem Leben als heilvolle Existenz bzw. der „rettenden Gerechtigkeit Gottes“421 zieht z. B. auch Psalm 69. Das betende Ich wünscht, dass seine Bedränger aus dem „ ֵס ֶפר ַחּיִ יםBuch des Lebens“ (Ps 69,29) ausgelöscht werden und nicht mit den Gerechten eingeschrieben werden (vgl. Ps 69,29). Es vertraut darauf, dass ihm als „Armer“ ( ָענִ יin V. 30) durch Gott Gerechtigkeit widerfährt und somit ihm und nicht dem, der Unrecht tut, letztlich glückendes Leben zuteilwird. Ähnlich formuliert das Ich, das auf seinen 417 Otto 2017, 2073–2074. 418 Vgl. Sæbø 2012, 75. 419 Qere. 420 Vgl. Barth 21987, 49. 421 Hossfeld/Zenger 32000, 278.
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tadellosen Lebenswandel verweist, in Ps 26,9 die Bitte, dass sein Leben nicht wie das der Sünder hinweggenommen werde.422 Ps 34 versteht ַחּיִ יםnicht tempeltheologisch. חיִ ים ַ חפץsteht nicht im Gegensatz zu dem Begehren, das sich auf JHWH oder seine Weisung bezieht, sondern betont gerade den Aspekt der verantworteten Lebensgestaltung, die auf Glück und Nähe zu Gott und eine heilvolle Existenz ausgerichtet ist. ַחיִ יםbezieht sich anders als נֶ ֶפׁש nicht auf die Lebendigkeit, sondern die Lebenszeit, das Leben in seiner Dauer, das von Entscheidungen geprägt ist. Analog der Konzeption des Deuteronomiums ist Leben wählbar und impliziert so ethisches Verhalten. 4. אהב – „lieben“ und יָמים ִ – „Tage“: Das Streben nach qualitativer Lebenszeit Das im zweiten Teil des synonymen Parallelismus von V. 13 in Ps 34 gebrauchte Verb אהבund das Substantiv יָמים ִ entsprechen dem Verb חפץund dem Substantiv ַחּיִ ים. Während mit dem Verb חפץdas Begehren und das intentionale Streben nach dem noch nicht Erlangten in den Vordergrund gerückt werden, werden diese mit dem Parallel- bzw. Komplementärbegriff אהבum positive Emotionalität und Glücksempfinden ergänzt.423 Mit dem Plural יָמים ִ wird wie mit ַחּיִ יםein Zeitraum bzw. Dauer oder auch „Lebenszeit“ benannt.424 Anders als das Substantiv ַחּיִ ים, das auch die Qualität der Lebenszeit benennt, lenkt das Lexem יָמים ִ stärker den Blick darauf, dass Zeiträume von verschiedenen Einheiten konstituiert werden, sich das Gute und Glück auch auf Einzelereignisse beziehen bzw. in einzelnen Begebenheiten erlebt wird. 5. Die Infinitivkonstruktion ִל ְראֹות טֹוב Der nachfolgende Infinitiv ִל ְראֹות טֹובkann aufgrund der positionellen Nähe auf das zweite Glied des Parallelismus bezogen werden. Die Fügung des Infinitivus constructus mit ְלist hier nicht final zu verstehen, sondern attributiv,425 wie z. B. in Ps 119,126: יהו֑ה ָ „ ֵ ֭עת ַל ֲע ׂ֣שֹות ַלEs ist Zeit zu handeln für JHWH.“ oder in der Reihung von Koh 3,2–8: „ ֵ ֥עת ָל ֶל ֶ֖דת וְ ֵע֣ת ָל ֑מּותEine Zeit zu gebären und eine Zeit zu sterben.“ Ähnlich ergibt sich für Ps 34,13 die Übersetzungsmöglichkeit „Wer ist der Mensch, der begehrend ist Leben, liebend Tage, um zu sehen Gutes / in denen / während derer er Gutes sieht.“ Qualifiziert werden ָחּיִ יםund יָמים ִ , die als Synonyme im Parallelismus membrorum verstanden werden können. Syntaktisch ist 422 Zum Bedeutungsspektrum der hier nicht berücksichtigten Wendung „Weg des Lebens“ vgl. Liess 2004, 223–248. 423 „Stärker als ḥpṣ und rṣh ‚gern haben, Gefallen haben‘ behält ’hb einen leidenschaftlichen Klang.“ (Jenni 62004, 67). Benannt wird mit אהבneben der Bindung an Personen auch die emotionale Hinwendung zu abstrakten Konzepten, wie z. B. negativ im Vorwurf „ אהב ַרעdas Böse lieben“ (Mi 3,2); „ אהב ִריקNichtiges lieben“ (Ps 4,3); „ אהב ָח ָמסGewalttat lieben“ (Ps 11,5) oder positiv als Forderung an den Menschen „ אהב ֶח ֶסדGnade lieben“ (Mi 6,8) und als Lob „ אהב ֶצ ֶדקGerechtigkeit lieben“ (Ps 45,8). Dabei wird mit אהבhäufiger ein Fehlverhalten kritisiert. Das mit אהבbezeichnete Verhalten ist also nicht automatisch sittlich positiv gewertet. 424 Vgl. Westermann 62004a, 717–718. 425 Vgl. Ges18, 586.
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es möglich, den Infinitivus constructus als Näherbestimmung beider Substantive zu verstehen.426 Insofern wird auch auf diese Weise das Verständnis von ַחּיִ יםund יָמים ִ als Qualitätsbegriffe bestätigt: Gemeint ist nicht das Leben als physische Existenz, sondern ein gutes, gelingendes Leben. Das Streben des Menschen ist darauf ausgerichtet, Gutes zu sehen. Nach Psalm 4 ist der Ursprung und Grund des Guten, das der Mensch in seinem Leben erfährt, Gott selbst. Das Ich zitiert die „vielen“, die angesichts ihres Leids fragen: „ ִ ֽמי־יַ ְר ֵ ֪אנ֫ ּו ֥טֹובWer wird uns Gutes schauen lassen?“ (Ps 4,7). Während sie in ihrem Leben das Gute nicht erfahren, setzt das betende Ich ihren Zweifeln das Bekenntnis entgegen, dass die Freude ( ִׂש ְמ ָחהin Ps 4,8), die ihm widerfährt, auf JHWH zurückzuführen ist. Diese sei größer als die zur Zeit der Ernte von Korn und Most (vgl. Ps 4,8). Das Gute, das auf JHWH zurückgeführt wird, erschöpft sich also nicht in einem materiellen Wohlergehen, sondern geht darüber hinaus. Das Ich setzt dies mit der Gabe von ( ָׁשלֹוםPs 4,9) in Verbindung. Auch Ijob geht – wie die „vielen“ in Ps 4,7 – in seiner Anklage davon aus, dass ihm in seinem Leben nichts Gutes mehr widerfahren werde: א־ת ׁ֥שּוב ֜ ֵע ִ֗יני ִל ְר ֥אֹות ֽטֹוב׃ ָ ֹ „ לMein Auge wird nichts Gutes mehr sehen.“ (Ijob 7,7; vgl. Ijob 9,25) und führt dies auf Gott zurück. Im Buch Kohelet bezeichnet „ טֹובdas ‚physisch‘ Gute (bonum physicum)“427. Es wird auf Gott zurückgeführt: אכ֣ל וְ ָׁש ָ֔תה וְ ֶה ְר ָ ֧אה ֶאת־נַ ְפ ׁ֛שֹו ֖טֹוב ַ ֹ ין־טֹוב ָּב ָא ָד ֙ם ֶׁשּי ֤ ֵ ֽא ֹלהים ִ ֽהיא׃ ֖ ִ יתי ָ֔אנִ י ִ ּ֛כי ִמ ַּי֥ד ָה ֱא ִ „ ַּב ֲע ָמ ֑לֹו ּגַ ם־ז ֹ֙ה ָר ִ ֣אNicht im Menschen gründet das Gute, wenn er isst und trinkt und seine Seele Gutes sehen lässt bei seiner Arbeit. Vielmehr habe ich selbst gesehen, dass dies aus der Hand Gottes stammt.“ (Koh 2,24; vgl. Koh 3,12–13). Inhaltlich wird das Gute „als eine spezifische Form des Genusses bestimmt“428. Jedoch zeigt Koh 7,15–20, dass Kohelet auch über die Bestimmung des sittlich Guten und Gerechtigkeit reflektiert. Das Streben des Individuums und der Gemeinschaft nach Wohlergehen und das Bemühen um eine sittliche Lebensführung gehören dabei zusammen.429 Auch für Ps 34 bildet die Ausrichtung auf das Gute im Sinne von Wohlergehen (V. 13) die anthropologische Grundlage für das ethische Tun bzw. die Aufforderungen, mit denen JHWH-Furcht konkretisiert wird (V. 15). Wohlergehen und JHWH-Furcht werden so miteinander verbunden, und JHWH selbst gilt als Grund des Guten (V. 9). 6. Verbindungslinien zum altägyptischen Raum Die literarische Abhängigkeit des Verses 13 von einem ägyptischen „Original“ will B. Couroyer nachweisen: „On a rapproché les images, les sentiments qu’ils expriment, mais jamais, à notre connaissance, on n’a pu mettre en face d’un seul 426 Alternativ kann man sowohl חפץals auch אהבals Funktionsverben mit auxiliarem Charakter verstehen (vgl. Ges18, 586 zu den Fügungen der beiden Verben mit ְל+ Inf), dann ist zu übersetzen: „Wer ist der Mensch, der im Leben, während seiner Lebenszeit, Gutes sehen will?“ 427 Schwienhorst-Schönberger 22011, 200. 428 Schwienhorst-Schönberger 22011, 243. 429 Vgl. Schwienhorst-Schönberger 22011, 270.
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verset de Psaume son correspondant égyptien.“430 Er verweist auf die Vielzahl ägyptischer Texte, die die Liebe zum Leben betonen und dieser die Abscheu vor dem Tod gegenüberstellen. Er sieht eine explizite Parallele in einer Inschrift aus dem Grab des Eje in Amarna: ֽטֹוב׃
ִל ְר ֥אֹות
ָ֜י ִ֗מים
א ֵ ֹ֥הב
ַח ִּי֑ים
ֶה ָח ֵפ֣ץ
י־ה ִאיׁש ֭ ָ ִ ֽמ
nfr ʿḥʿw bi ʿnḫ mr nb wʿ „O jeder einzelne, der das Leben liebt und der (sich) eine glückliche Lebenszeit wünscht.“431 Dass Ps 34,13 als Frage formuliert ist und der ägyptische Text als Anrede, erklärt B. Couroyer mit Formzwang: Innerhalb des Akrostichons fordere V. 13 ein מals ersten Buchstaben. Ansonsten zeigten beide Verse nur Übereinstimmungen: mr entspreche Hebräisch חפץund bi ;אהבbeide Verben seien jeweils Synonyme. Die beiden Substantive ʿnḫ und ַחּיִ ים, ʿḥʿw und יָמים ִ mit der Bedeutung „Leben“ und „Tage“ bzw. „Lebenszeit“ entsprächen einander, ebenso nfr und טֹוב. Die abweichende Konstruktion mit Infinitivus constructus und substantiviertem Adjektiv טֹוב im Hebräischen sei damit erklärbar, dass der Übersetzer die hebräische Wendung יֹום טֹובbzw. טֹובים ִ יָמים ִ habe vermeiden wollen, da diese bereits in der Bedeutung „Feiertag“ lexikalisiert gewesen sei.432 Den Inf. cs. ִל ְראֹות ֹטובliest B. Couroyer nicht final oder attributiv, sondern als feststehende Formulierung mit der Bedeutung „glücklich sein.“ Im Falle von Ps 34 und der Inschrift aus dem Grab des Eje eine literarische Abhängigkeit zu postulieren, mag zu weit gehen. Wertvoll jedoch ist der Hinweis auf traditionsgeschichtliche Entsprechungen: Die Suche nach dem gelingenden Leben im Kontext der Gottesbeziehung, in Bezug auf die ägyptische Tradition auch über den Tod hinaus – wie der Grabkontext zeigt –, wird als als anthropologisches Signum bestimmt. Parallelen in Bezug auf die Inszenierung als Unterweisung ergeben sich zudem zu den ägyptischen Lebenslehren, die auf den „Weg des Lebens“ hinweisen: Der Weisheitslehrer (in der literarischen Fiktion der Vater bzw. ein Lehrer) unterrichtet den Sohn bzw. Schüler. Als ältester Beleg für die Wendung „Weg des Lebens“ gilt die Lehre des Cheti aus dem Mittleren Reich, die schriftlich allerdings erst seit der 18. Dynastie belegt 430 Couroyer 1950, 174–179. 431 Deutsche Übersetzung von Sperveslage, Gunnar: Amarna-Periode, Privatgräber, Nr. 25: Eje, Pfeilerhalle, Südwand, rechter Türpfosten, Biographische Texte. Thesaurus Linguae Aegyptiae 03/2020. Unter http://aaew.bbaw.de/tla/index.html: „O jeder einzelne, der das Leben liebt und der (sich) eine schöne Lebenszeit wünscht.“, Zugriff am 15.01.2021. Vgl. „O tout (homme) aimant la vie, désirant une existence heureuse.“ (Couroyer 1950, 176 nach Sandman 1938, 99/16). 432 Auch die LXX hat Probleme mit der hebräischen Konstruktion. Sie bringt τίς ἐστιν ἄνθρωπος ὁ θέλων ζωὴν ἀγαπῶν ἡμέρας ἰδεῖν ἀγαθάς „Wer ist der Mensch, der Leben will, liebend gute Tage zu sehen?“, so auch Vg, Psalmi iuxta LXX: quis est homo qui vult vitam cupit videre dies bonos und auch Vg, Psalmi iuxta Hebr.: quis est vir qui velit vitam diligens dies videre bonos.
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ist.433 Cheti will seinen Sohn für den Beruf des Schreibers gewinnen. Anvisiert sind auf dem „Weg des Lebens“ materielles Wohlergehen (11,3) und beruflicher Erfolg (11,4). Der „Weg des Lebens“ wird dabei mit dem „Weg Gottes“ parallelisiert, d. h. anvisiert wird eine Gott entsprechende Lebensführung, die zu glückendem Leben führt.434 Während einige Lebenslehren materielle Sicherheit, Erfolg und Ansehen in den Vordergrund stellen (z. B. auch der Aufruf an die Lebenden durch den Grabherrn, der sich ebenfalls im Grab des Eje in Amarna findet),435 rücken andere ethische Maximen in den Vordergrund, wie entsprechend der Maat zu handeln und bedürftige Mitmenschen zu unterstützen (z. B. Lehre des P. Chester Beatty 4).436 „Ist der älteren Auffassung der Begriff des frommen Handelns fremd, so ist Frömmigkeit das zentrale Thema der weisheitlichen Unterweisung im Neuen Reich (1552–1070 v. Chr.). Die Maat ist zwar weiter ethische Richtschnur, sie verschwindet aber als Mittler zwischen Gott und dem Menschen, und die Konzeption eines personalen Gottes – einhergehend mit der Strömung der ‚Persönlichen Frömmigkeit‘ in dieser Zeit – tritt in den Vordergrund.“437 Zum Beispiel erteilt die Lehre des Amenemope aus der 20. Dynastie dem Erfolgsstreben eine Absage, während private Themen und eine verinnerlichte Haltung in den Vordergrund rücken.438 Bereits in der Präambel werden „Leben“ (ʿnḫ) und „Heilsein“ (wd ) parallelisiert, und als Ziel der Unterweisung wird neben dem Eintritt in die Beamtenschaft genannt, „um einen recht zu leiten auf dem Weg des Lebens, um ihn heil sein zu lassen auf Erden“439. Als ein Beispiel erstrebenswerten Verhaltens erfolgt die Anweisung: „Wenn du einen großen Rückstand bei einem Armen findest, so mache drei Teile daraus. Verwirf zwei / lasse einen stehen; du wirst es wie den Weg des Lebens finden.“440 Der Weg des Lebens ist also der „Weg zu Glück und Wohlergehen“441. Die traditionsgeschichtliche Verortung bestätigt, dass Leben als Qualitätsbegriff zu verstehen und im Kontext der Lebensführung anzusiedeln ist. Auch die Frage von Ps 34 „Wer ist der Mensch, der am Leben Wohlgefallen haben ist, liebend Tage, um zu sehen Gutes?“ gehört in den Zusammenhang des Strebens nach einem glückenden Leben, das wesentlich mit dem eigenen Handeln in Verbindung gebracht wird.
433 Vgl. Vittmann 1999, 31. 434 Vgl. Brunner 1988, 156–157; Liess 2004, 224. 435 Urk IV 1998, 4–10 bei Vittmann 1999, 32–33: „Ich will euch den Weg des Lebens sagen und euch Gunsterweise lehren.“. 436 Vgl. Vittmann 1999, 34: „Handle der Maat gemäß / Sei gerade, handle nicht krumm.“ [I,8] und „Ich breite dir eine Lehre aus vor dir und unterweise [dich] (über den) Weg des Lebens.“ [VI,3]. (Vgl. Brunner 1988, 218–230). 437 Sternberg-el Hotabi TUAT III/2 (1991), 192–193. 438 Vgl. Sternberg-el Hotabi TUAT III/2 (1991), 193, vgl. Shirun-Grumbach, TUAT III/2, 223. 439 Sternberg-el Hotabi TUAT III/2 (1991), 225. 440 Shirun-Grumbach, TUAT III/2, 239. 441 Vittmann 1991, 147.
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3.4.4.2.6 Selbstverantwortung, das Böse zu meiden (V. 14) Nachdem das betende Ich die Belehrung mit JHWH-Furcht angekündigt hat (V. 12b) und das Streben nach dieser mit dem allgemein menschlichen Wunsch, ein erfülltes Leben zu leben, begründet hat (V. 13), erfolgt ab V. 14 – zumindest formal – die Konkretisierung der Hinwendung zu JHWH und eine Exemplifizierung mit Imperativen (V. 14–15). Jedoch handelt es sich bei näherer Betrachtung gerade nicht um konkrete Verhaltensanweisungen, sondern um sehr allgemeine Vorschriften. In Bezug auf den ersten Vers „Bewahre deine Zunge vor Bösem und Deine Lippen davor, Trügerisches zu reden.“ ist zu klären, welche Bedeutung und Funktion die Rede von den beiden Körperteilen „ ָלׁשֹוןZunge“ und „ ְׂש ָפ ַתיִ םLippen“ im Kontext des Parallelismus membrorum hat und wovor gewarnt wird („ ַרעBöses“ und „ דבר ִמ ְר ָמהTrügerisches reden“). 1. Das Bedeutungsspektrum der Rede von Körperteilen Um das Bedeutungsspektrum der Rede von Körperteilen auszuloten, muss die Eigenart des synthetischen Denkens im Hebräischen und der Zusammenhang von Körperbild und Sozialstruktur beachtet werden. (1) 1973 prägte Hans W. Wolff in den Vorbemerkungen der „anthropologischen Sprachlehre“ seiner „Anthropologie des Alten Testaments“442 den Begriff des „synthetische[n] Denken[s], das mit der Nennung eines Körperteils dessen Funktion meint“443. Das Körperglied und sein wirksames Handeln, seine Funktion, die Möglichkeiten, Tätigkeiten, Eigenarten oder Widerfahrnisse werden zusammen gesehen. Diese Zusammenschau in der Benennung eines Körperteils wird als „synthetisch“ bezeichnet. Anders als die deutsche Sprache ist das Hebräische also nicht analytisch-differenzierend zwischen Gegenstand und Funktion, sondern Sache und wirksames Handeln werden mit einem Lexem bezeichnet.444
442 Vgl. Wolff, Hans W.: Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski. Gütersloh 2010. Zu einem Forschungsüberblick zu Körperbildern seit dem „System der biblischen Psychologie“ von Franz Delitzsch aus dem Jahr 1855 vgl. Bester 2007, 6–41: Als Ergebnisse von hundertfünfzig Jahren Forschungsgeschichte sind zu nennen: 1. das Bewusstsein der historischen Bedingtheit von Körperbildern; 2. das Phänomen der Synekdoche von Körperteilen für den ganzen Menschen und die Stereometrie des Denkens; 3. die Einheit des Menschen als psychophysischer Organismus, damit die Zurückweisung von dichotomischen bzw. trichotomischen Erklärungen für die alttestamentliche Rede vom Menschen; 4. die Ganzheit des Menschen auf vitaler, personaler, sozialer und transzendentaler Ebene als Ineinander von Leib- und Sozialsphäre. 443 Wolff 2010, 30. 444 Dieser Zugang von Hans W. Wolff wird u. a. in den Arbeiten von Othmar Keel (Keel, Othmar: Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes. Stuttgart (SBS 114/115) 1984; Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen. Göttingen 51996), Bernd Janowski (Janowski, Bernd: Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. Neukirchen-Vlyn 42013) und Silvia Schroer/Thomas Staubli (Schroer, Silvia/Staubli, Thomas: Die Körpersymbolik der Bibel. Darmstadt 22005) aufgenommen. Andreas Wagner lotet in einem Aufsatz das synthetische Bedeutungsspektrum hebräischer
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Im Parallelismus membrorum werde deutlich, dass die Köperteile „fast wie Pronomina für den ganzen Menschen stehen“445. Allerdings hält Hans W. Wolff auch fest, dass die Varianten des Parallelismus zwar „zuweilen kaum noch erkennbar[…]“446 sind, aber doch „verschiedene Aspekte des einen Subjektes“447 andeuten. Er greift in diesem Zusammenhang die Rede von der „Stereometrie des Gedankenausdrucks“448 von Bruno Landsberger und Gerhard von Rad auf. Geprägt wurde dieser Begriff 1926 von Bruno Landsberger, der damit die sprachlichpoetische Eigenart des Akkadischen bezeichnet, im Parallelismus membrorum ein Phänomen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und so eine plastische Prägnanz des Gedankenausdrucks zu erreichen. Auch Gerhard von Rad macht deutlich, dass damit nicht ein Verlust an begrifflicher Präzision gegeben sei, sondern gerade eine Schärfe der Nachzeichnung der Sache in ihrer Breite möglich werde.449 Der Parallelismus stecke nach Hans W. Wolff mit der Nennung charakteristischer Organe den Lebensraum des Menschen ab und umschreibe ihn als Ganzen.450 Ganz allgemein gilt: „Es wird Ordnung abgebildet, indem die Symmetrie aufgezeigt wird. Der antithetische Parallelismus bringt das Ganze von den gegensätzlichen Aspekten her zum Ausdruck, der synonyme wiederholt nicht dasselbe mit anderen Worten, sondern ergänzt das Gesagte, es zum Vollen und Ganzen erst steigernd, der explizierend-synthetische baut die ganze Aussage aus ihren Teilen auf.“451 Ein Sachverhalt wird durch zwei oder drei parallele Aspekte additiv beschrieben, so dass eine produktive Unschärfe und Plastizität der Aussage entsteht: Mit dieser Vieldimensionalität des Sinns und seiner Multiperspektivtität entsteht ein Raum, in dem sich das Verstehen dynamisch hin und her bewegen kann.452 (2) In Bezug auf den Körper zeigt dieses sprachliche Phänomen Parallelen zur ägyptischen Sicht des menschlichen Körpers, die nach Emma Brunner-Traut auch als „Aspektive“ verstanden wird: „Der Körper wird […] nicht etwa als Organismus verstanden, selbst wenn das Herz vielfach als eine Art Zentrum gesehen worden ist […]. Der Körper wird aus einer Anzahl von Teilstücken zusammengesetzt, ‚verknotet, zusammengeknüpft‘, er ist etwa das, was wir eine ‚Gliederpuppe‘ Körperteilbezeichnungen aus und differenziert zwischen der körperhaft-konkreten, der gestischen und der funktionalen Bedeutung innerhalb eines synthetischen Bedeutungsspektrums (vgl. Wagner 2007b, 257–265.). 445 Wolff 2010, 29 mit Verweis auf Ps 84,3. Dieses Phänomen wird auch als „Synekdoche“ bezeichnet, vgl. Bester 2007, 9–10. 446 Wolff 2010, 29. 447 Wolff 2010, 29. 448 Vgl. Landsberger, Benno: Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt (zuerst 1926). In: Benno Landsberger/Wolfram von Soden: Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt. Leistung und Grenze sumerischer und babylonischer Wissenschaft. Darmstadt 1965; auch Rad, Gerhard von: Weisheit in Israel. Neukirchen-Vlyn 1970, 43 rezipiert den Begriff der Stereometrie für den Parallelismus memborum; vgl. Wagner 2007a, 10–13. 449 Vgl. von Rad 1970, 43. 450 Vgl. Wolff 2010, 30. 451 Gese 31989, 160–161. 452 Vgl. Janowski 42013, 17–18.
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nennen“453. Jan Assmann ergänzt, dass es zwar richtig sei, dass die Ägypter einen zergliedernden Blick auf die Welt würfen. Zugleich gehe es ihnen aber immer um die Frage nach den konnektiven Prinzipien. Das konnektive Denken trete auf zwei Ebenen hervor: Auf der Ebene des ägyptischen Körperbildes sowie auf der des ägyptischen Bildes der Sozialstruktur. Für den Körper sei das verbindende Medium das Blut; auf der Ebene der Sozialstruktur werde der Einzelne durch eine Art konnektiver Ethik in das Gebäude des Staates eingebunden. Somit entsprechen sich auch für das Alte Ägypten Körperbild und Sozialstruktur.454 Dies lassen in ähnlicher Weise auch die alttestamentlichen Texte erkennen. Die Korrelation von Körperbild und Sozialstruktur zeigt sich an Krankheit und Gesundheit, Tod und Leben. So gehören Unversehrtheit und Gesundheit zur Leibsphäre und auch Integrität und Lebendigkeit zur Sozialsphäre.455 Leben und Tod stehen in Zusammenhang zu Leib- und Sozialsphäre. Der Körper wird auf diese Weise immer auch in Beziehung zur mitmenschlich-sozialen Welt gesetzt. Im Hinblick auf die Körperbilder des Alten Testaments gehören also sprachlicher Ausdruck im Parallelismus membrorum, synthetisches Denken und Stereometrie sowie die Verbindung von Leibsphäre und Sozialsphäre eng zusammen. 2. ָלׁשֹון – „Zunge“ und ְׂש ָפ ַתיִ ם – „Lippen“: Kommunikation und Lebensführung In Ps 34,14 werden mit „ ָלׁשֹוןZunge“ und „ ְׂש ָפ ַתיִ םLippen“ zwei Körperteile genannt. Mit Bezug auf den Kontext im Psalm schreibt Erich Zenger: „Jenseits privatistischer Moral wird hier das Feld der sozialen und politischen Ethik, insbesondere auf der Ebene der Rechtsverfahren (14: falsche Anklage bei Gericht, Meineid vgl. Ps 15,3; 39,2; 141,3; Spr 3,7; 4,24; 13,3) und des gesellschaftlichen Zusammenlebens (15a: wortgleich in Ps 37,27a, als Weisung für ein erfülltes Leben auch in Am 5,14f; 15b fordert den unermüdlichen, stürmischen Einsatz für das bonum commune: vgl. Mi 6,8; Jes 51,1), zum Ort, an dem sich die Gottesfurcht als Prinzip der Weisheit, die das Leben mehrt, erlernen läßt und bewähren muß.“456 Dass sich die Mahnung von V. 14 auf die soziale und politische Ethik bezieht, ist gut begründbar. Jedoch sollte die Bedeutung nicht auf die falsche Anklage bei Gericht bzw. Meineid eingeengt und die mit „ ָלׁשֹוןZunge“ und „ ְׂש ָפ ַתיִ םLippen“ verbundenen Vorstellungen genauer untersucht werden. Zunge und Lippe des Menschen sind die Körperteile, die neben der Nahrungsaufnahme vor allem für die Spracherzeugung gebraucht werden. Mit ָלׁשֹוןund ְׂש ָפ ַתיִ םkönnen der Sprechakt, Worte in einem bestimmten Zusammenhang oder auch die Sprache an sich bezeichnet werden. „Die ständige Art und Weise des Redens eines Menschen sind Ausdruck seiner Charaktereigenschaften oder werden in antiker Sicht geradezu mit ihnen identifiziert. Hier wirkt das ‚synthetische
453 Brunner-Traut 1992, 72. 454 Vgl. Assmann 2010, 35–36. 455 Vgl. Janowski 42013, 44. 456 Hossfeld/Zenger 1993, 214.
Auslegung
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Denken‘ […]. So wird lāšôn mit entsprechenden Qualifikationen zusammengestellt und bezeichnet dann die durch eine Redeweise bestimmte Lebenshaltung.“457 Die Wertung transportiert das hinzugesetzte Wort bzw. impliziert das positiv oder negativ gewertete Verhalten: „ ָלׁשֹון ְר ִמּיָ הZunge des Trugs“ (Ps 120,2) und ְלׁשֹון „ ֶׁש ֶקרZunge der Lüge“ (Spr 21,6) sind charakteristisch für betrügerisches Handeln, während „ ְלׁשֹון ַצ ִּדיקdie Zunge des Gerechten“ (Spr 10,20) dessen Zuverlässigkeit bezeichnet. Die Macht der Rede kann zum Guten und zum Schlechten genutzt werden: ד־ל ׁ֑שֹון ָ ַ„ ָ ֣מוֶ ת ְו ַ֭חּיִ ים ְּביTod und Leben sind in der Hand der Zunge.“ (Spr 18,21). Ähnliches gilt für die Verwendung des Lexems ְׂש ָפ ַתיִ ם, das mit Adjektiven oder Substantiven kombiniert wird: י־ד ַעת ָ „ ִׂש ְפ ֵתLippen der Erkenntnis“ (Spr 14,7) indizieren positiv gewertetes Verhalten, ת־ׁש ֶקר ֶ „ ְׂש ַפLippe der Lüge“ (Ps 120,2) und „ ִׂש ְפ ֵתי ְכ ִסילLippen des Toren“ (Spr 18,6) verweisen auf sein fehlerhaftes Handeln. Die Lippen sind dabei die „letzte Station“458 beim Hervorbringen der Worte und somit an der Grenze von außen und innen die realisierte Möglichkeit des Sprechers, Gedanken in Kommunikation mit seinem Gegenüber zu verwandeln. Indem sie sich auf Kommunikation beziehen, haben beide Körperteile eine soziale Bedeutung. Sie sind auch Medium der Kommunikation und Beziehung zu Gott. Dabei wird Gott als der gesehen, der diese ermöglicht: ֲ֭אד ֹנָ י ְׂש ָפ ַ ֣תי ִּת ְפ ָ ּ֑תח ּו֜ ֗ ִפי יַ ִּג֥יד „ ְּת ִה ָּל ֶ ֽתָך׃Adonai, öffne meine Lippen, und mein Mund wird dein Lob verkünden.“ (Ps 51,17). Während also das Falschaussage-Verbot des Dekalogs auf das Gerichtsverfahren verweist, ist der Gegenstandsbereich von Ps 34,14 umfangreicher. Das Verbot א־ת ֲע ֶנ֥ה ְב ֵר ֲעָך֖ ֵ ֥עד ָ ֽׁש ֶקר׃ ַ ֹ „ ֽלDu solltst nicht als Lügenzeuge gegen deinen Nächsten aussagen!“ (Ex 20,16) bezieht sich auf strafrechtliche Verfahren (vgl. Ex 23,1–2.7). Mit „ ֶׁש ֶקרLüge“ wird dabei nicht auf die Diskrepanz von Aussage und Sachverhalt verwiesen oder auf die Wahrheitsliebe als Tugend eines Einzelnen, sondern auf die gemeinschaftsschädigende Wirkung des Falschzeugnisses v. a. im öffentlichen Bereich, die im schlimmsten Fall bis zur unberechtigten Todesstrafe führen kann.459 Mit „ ָלׁשֹוןZunge“ und „ ְׂש ָפ ַתיִ םLippen“ wird hingegen auf die Lebensführung eines Menschen insgesamt verwiesen, da die Weise des Redens eines Menschen auch als Hinweis auf seinen Charakter verstanden werden kann.460 „Bei diesen und ähnlichen Versen geht aus dem Textzusammenhang deutlich hervor, daß lāšôn nicht einen einmaligen Aussageakt darstellt, sondern eine, allerdings sich in der Rede realisierende, Wesensart.“461 Insofern sind zum Verständnis von V. 14 auch die Bedeutung der Lexeme ַרע „Böses“ und „ דבר ִמ ְר ָמהTrügerisches reden“ und die syntaktische Struktur der Konstruktion mit „ נצרbewahren/behüten“ zu beachten.
457 Kedar-Kopfstein 1984, 601. 458 Kedar-Kopfstein 1993, 843. 459 Vgl. Köckert 2007, 81–82. 460 Vgl. Müller 2013a; Müller 2013b. 461 Kedar-Kopfstein 1984, 601.
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3. רע – ַ „Böses“ und דבר ִמ ְר ָמה – „Trügerisches reden“: Gegen ein gottloses Verhalten Das substantivierte Adjektiv „ ַרעBöses“ kann sich auf sittlich schlechtes Verhalten beziehen. Insbesondere in der Gegenüberstellung – ַרע טֹובist das semantische Bedeutungsspektrum weit. Bezeichnet werden kann das dem Leben Zu- oder Abträgliche; im Kontext ethischen Handelns wird damit das Urteils- und Entscheidungsvermögen zwischen Recht und Unrecht angesprochen.462 Während Gott selbst als gut qualifiziert worden ist (V. 13), wird nun vom Menschen gefordert, seine Zunge vor Bösem zu hüten (V. 14), was V. 15 schließlich in der Forderung expliziert, Gutes zu tun und Böses zu meiden. Mit der Wendung „ דבר ִמ ְר ָמהTrügerisches reden“ wird die Intentionalität der schlechten Handlungen hervorgehoben: „Es handelt sich um Vorgänge aus dem zwischenmenschlichen Bereich, in denen jemand bewußt und gezielt handelt und/oder redet, um bestimmte Verhältnisse zu verheimlichen oder zuzudecken.“463 In den Psalmen wird mit der Wortfamilie von רמהdas Tun der Feinde und der Frevler charakterisiert. In Ps 10 zeichnet sich der Frevler ( ָר ָׁשעin Ps 10,4) unter anderem dadurch aus, dass sein Mund voll von „ ִמ ְרמֹותHinterlist“ (Ps 10,7) sei. Das betende Ich von Ps 109 klagt: י־מ ְר ָמה ָע ַל֣י ָּפ ָ ֑תחּו ִּד ְּב ֥רּו ִ֜א ִּ֗תי ְל ׁ֣שֹון ָ ֽׁש ֶקר׃ ֭ ִ ִ ּ֤כי ִ ֪פי ָר ָׁ֡שע ּוֽ ִפ „Denn der Mund des Frevlers und der Mund des Betrugs sind gegen mich geöffnet. Sie haben mit der Zunge der Lüge gegen mich geredet.“ (Ps 109,2). Das Ich sieht sich durch das feindliche Vorgehen des Frevlers, der betrügerisch handelt, bedroht, so auch in der Rettungsbitte: ת־ׁש ֶקר ִמ ָּל ׁ֥שֹון ְר ִמ ָּיֽה׃ ֑ ֶ ֽהוה ַה ִ ּ֣צ ָילה ַ ֭נ ְפ ִׁשי ִמ ְּׂש ַפ ֗ ָ ְ„ יJHWH, rette meine Nefeš von der Lippe der Lüge und der Zunge des Trugs.“ (Ps 120,2). Der Gerechte464 hingegen, der Zugang zum Heiligtum hat, wird ex negativo über das Verhalten, das er unterlässt, bestimmt. Das Heiligtum betritt: א־רגַ֙ ל׀ ַעל־ ָ ֹ ֽל ל־ק ֽר ֹבֹו׃ ְ א־ע ָ ׂ֣שה ְל ֵר ֵע֣הּו ָר ָ ֑עה ְ ֜ו ֶח ְר ֗ ָּפה לֹא־נָ ָ ׂ֥שא ַע ָ ֹ „ ְלׁש ֹנ֗ ֹו לwer nicht mit seiner Zunge verleumdet und seinem Nächsten nicht Böses getan hat und keinen Spott auf seinen Nahestehenden legte.“ (Ps 15,3; vgl. Ps 24,4). Das betende Ich beteuert wiederum vor Gott: „ ַה ֲא ִ ֥זינָ ה ְת ִפ ָּל ִ ֑תי ְּ֜ב ֗ל ֹא ִׂש ְפ ֵ ֥תי ִמ ְר ָ ֽמה׃Höre mein Gebet ohne Lippen von Betrügerischem!“ (Ps 17,1). Bedingung für die Kommunikation mit Gott ist die Abwesenheit von schlechter Rede und ethisch fragwürdigem Verhalten. Beide Lexeme bzw. Wortgruppen verweisen in den Bereich ethisch negativen Verhaltens. Mit ihnen wird ein Handeln charakterisiert, das Gott nicht entspricht, den Frevler auszeichnet und den Gerechten bedroht.
462 Vgl. Dohmen 1993, 585–587. Die Frage nach gut und böse und damit das ethische Interesse des Psalmenbuches lässt sich auch statistisch erheben: 80 der insgesamt 780 Belege mit der Basis רעע begegnen im Psalmenbuch. Nur das Buch Jeremia zeigt mehr Belege. Auch der ethisch-funktionale Gebrauch von „Lippen“ und „Zunge“ lässt sich in diese Statistik einordnen: Die knappe Hälfte der Belege für das Lexem „Lippen“ und mehr als die Hälfte von „Zunge“ begegnet in den Psalmen und den Weisheitsbüchern. Für das Psalmenbuch nennt Gillmayr-Bucher 2004, 325 35 Belege für ָלׁשֹוןund 28 für ָׁש ָפה. 463 Kartveit 1993, 524. 464 In der positiven Beschreibung: הֹולְ֣ך ָ ּ֭ת ִמים ּופ ֵ ֹ֥על ֶצ ֶ֑דק וְ ד ֵ ֹ֥בר ֱ֜א ֶ֗מת ִּב ְל ָב ֽבֹו׃ ֵ „Wer untadelig geht und Gerechtigkeit tut und wer Wahrheit in seinem Herzen redet.“ (Ps 15,2).
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Auslegung
4. נצר – „bewahren/behüten“: Appell an ethische Verantwortung Anders als in den genannten Beispielen mit ָלׁשֹוןund ְׂש ָפ ַתיִ םstehen die Lexeme in Ps 34,14 nicht innerhalb einer Constructus-Verbindung oder mit Adjektivattribut, die die Wertung der mit den Körperteilen verbundenen Funktion bzw. Handlung zum Ausdruck bringen. Dies liegt an den syntaktisch möglichen Fügungen des Prädikats „ נצרbewahren/behüten“. Das Verb נצרwird in der Regel mit direktem Objekt gefügt. Dieses bezeichnet das Gut, das bewahrt oder behütet werden soll. So ermahnt der Vater in der Unterweisungsfiktion des Sprüchebuches den Sohn: ְ ּ֭בנִ י ַאל־יָ ֻל֣זּו ֵמ ֵע ֶינ֑יָך נְ ֥צֹר ֻּ֜ת ִׁש ָּ֗יה ּומזִ ָ ּֽמה׃ ְ „Mein Sohn, nicht sollen sie [im Kontext: Weisheit und Einsicht] aus deinen Augen weichen, bewahre Umsicht und Besonnenheit!“ (Spr 3,21). Hier werden also Abstrakta genannt, auf die zu achten ist. Das zu bewahrende Objekt kann auch ein Körperteil sein, der Mund (ה־לֹו׃ ֽ נ ֵֹצ֣ר ִ ּ֭פיו ׁש ֵ ֹ֣מר נַ ְפ ׁ֑שֹו ּפ ֵ ֹׂ֥שק ְׂ֜ש ָפ ָ֗תיו ְמ ִח ָּת „Der, der seinen Mund behütet, bewahrt seine Nefeš; der, der seine Lippen aufreißt, Verderben ist für ihn.“ (Spr 13,3)) oder das Herz (י־מ ֶּ֗מּנּו ִ֜ ל־מ ְׁש ָמר נְ ֣צֹר ִל ֶּבָ֑ך ִ ּֽכ ֭ ִ ִ ֽמ ָּכ ּתֹוצ ֥אֹות ַח ִּיֽים׃ ְ „Mehr als alles, was man bewahrt, bewahre dein Herz. Denn aus ihm geht das Leben hervor.“ (Spr 4,23)). Mit Mund und Herz wird „synthetisch“ auf das richtige Verhalten verwiesen, das zu „ ַחּייִ םLeben“ als Qualitätsbegriff führt. In der Konstruktion mit ִמןwird zusätzlich noch die Größe benannt, vor der das Objekt von נצרbewahrt werden soll: Der Benachteiligte soll ן־הּדֹור ַ „ ִמvor dem Geschlecht“ der Frevler (Ps 12,8) geschützt werden, das Leben des Ichs ִמ ַּפ ַחד אֹויֵב „vor dem Schrecken des Feindes“ (Ps 64,2) und das betende Ich „ ִמ ַּצרvor Bedrängnis“ (Ps 32,7) oder „ ֵמ ִאיׁש ֲח ָמ ִסיםvor dem Mann der Gewalttaten“ (Ps 140,2.5). Stets ist es direkt oder indirekt eine negative Handlung eines Anderen, vor der jemand geschützt werden soll. Im Parallelismus membrorum von Ps 34,14 entsprechen sich „Zunge“ und „Lippen“; „Böses“ und „Trügerisches zu reden“. Im zweiten Versteil ist das Verb an der Oberfläche ausgespart und vom Kolon her zu ergänzen. Der Parallelismus von Ps 34,14 stellt sich folgendermaßen dar:
V. 14
Imperativ von נצר
Kolon 1 Bewahre נְ צֹר
Objekt (hier: Körperteil), Größe, vor der ( ) ִמןdas das bewahrt werden soll Objekt bewahrt werden soll deine Zunge ְלׁשֹונְ ָך
vor Bösem ֵמ ָרע
Kolon 2 (Bewahre )נְ צֹרund deine Lippen ּוׂש ָפ ֶתיָך davor, Trügerisches zu ְ reden. ִמ ַּד ֵּבר ִמ ְר ָמה Festhalten lässt sich: In Ps 34 wird der Angesprochene dazu aufgefordert, seine Lippen und seine Zunge selbst zu bewahren, also Verantwortung für die eigene ethische Integrität zu übernehmen. Es geht nicht darum, einen anderen vor jemandem zu beschützen, sondern vielmehr ist das ethische Subjekt verpflichtet, sich vor den eigenen negativ gewerteten Handlungen, die das soziale Miteinander gefährden, zu bewahren. Der Adressat wird sich seiner selbst bewusst, indem auf die eigenen
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Körperteile als Träger der Handlungen verwiesen wird und so eine Distanzierung stattfindet.465 Ethische Anweisungen werden mit Hilfe des Körpers zum Ausdruck gebracht. So wird zudem deutlich, dass die ganze Person angesprochen ist. Die Konkretisierung von ( יִ ְר ַאת יְ הוָ הV. 12) als ethische Größe bleibt sehr allgemein. Es wird deutlich gemacht, dass Sprache und Kommunikation immer soziale Größen und Handlungen sind und daher ebenfalls der Forderung nach ethischer Verantwortung genügen müssen. Hierbei wird diese Verantwortung dem angesprochenen Subjekt selbst zugeschrieben, das für „seine Zunge“ und „seine Lippen“, also seine Handlungen, zur Rechenschaft gezogen werden kann. 3.4.4.2.7 Das unbedingte Streben nach dem Guten und nach Šalom (V. 15) In der Unterweisung lag bislang der Fokus auf die Suche nach dem Guten, das JHWH selbst ist (V. 9a), das diejenigen erfahren, die JHWH suchen (V. 11b) bzw. fürchten (V. 12b), und das vom Menschen angestrebt wird (V. 13ab). Mit V. 14 wurde unter Verwendung von Körperteilmetaphorik die Abkehr vom Bösen, von ethisch negativer Kommunikation und sozialem Verhalten in den Fokus gerückt. Mit den Imperativen von V. 15 wird diese Abwendung vom Bösen aufgegriffen und ins Positive gewendet. Nach der kommunikativen Metaphorik von V. 14 wird nun auch explizit das Handeln in den Fokus gestellt. Mit dem Streben nach Šalom (V. 15) wird die Suche nach dem Guten (V. 13) weitergeführt. Im Folgenden soll nach der Doppelformel „Weiche von Bösem und tue Gutes“ (V. 15a) und dem Bedeutungsspektrum von Šalom (V. 15b) unter Berücksichtigung der Jagdmetaphorik gefragt werden. 1. Die Doppelformel סּור ֵמ ָרע וַ ֲע ֵׂשה־טֹוב – „Weiche von Bösem und tue Gutes.“ Die direkte Verbindung der beiden gegensätzlichen Adjektive ֹטובund ַרעbegegnet häufig.466 Prominent ist Gen 2–3 mit seiner Rede von der Erkenntnis des Guten und Bösen. Mit der Unterscheidung von Gutem und Schlechtem ist dort die Fähigkeit gemeint, „das Richtige und das Falsche, das dem Menschen Förderliche und ihm Abträgliche“467, also ein Handeln im Sinne von „Weisheit“. In der Regel hat die Wendung ethische Bedeutung.468 Nach Christoph Dohmen ist die „Wendung ṭôb wārā‛ […] jedoch nicht auf den Bereich des Moralischen zu 465 Vgl. Gillmayr-Bucher 2004, 308: „The self-awareness of the lyrical subject as well as the perception of others is inseparably connected with the awareness of the body.“ 466 Vgl. Höver-Johag 1983, 329 nennt 79 Belege. 467 Albertz 1992, 15. 468 Höver-Johag 1983, 329 verweist auf Gen 3,6 und 2 Sam 19,36 als Beispiele dafür, dass diese Wendung kein ethisch-theologisches Moment beinhalte, sondern „gut“ und „schlecht“ im Hinblick auf Geschmack und Sinnesempfindung bezeichne. In Gen 3,6 werden zwar die Früchte des Baumes als „gut“ zu essen qualifiziert. Hier fehlt jedoch das Antonym „böse“. In 2 Sam 19,36 wird zwar im Folgenden auf die schwindende Sinneskraft des 80-jährigen Barsillai verwiesen, der nicht mehr gut schmecken und hören könne. Dass damit aber seine Frage ין־טֹוב ְל ָ ֗רע ֣ „ ַה ֵא ַ ֣דע׀ ֵּבKann ich unterscheiden zwischen gut und böse?“ (2 Sam 19,36) allein auf Geschmack und Sinnesempfindung beziehe,
Auslegung
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beschränken, sondern dieser ergibt sich vielmehr in Konsequenz eines weiteren und grundlegenderen Verständnisses der Wendung. Primär erfaßt die Wendung all das, was lebensförderlich bzw. dem Leben hinderlich oder gar es zerstörend wirkt. Erst von hierher ergibt sich das spezifischere ethische Verständnis der Wendung.“469 Hier ist erstens zu fragen, ob diese Differenzierung den Texten entspricht. Zweitens stellt sich die Frage, wie das Tun des Guten oder Bösen in der weisheitlichen Pädagogik zur Typisierung des Weisen und des Toren dient und in welchem Zusammenhang die Aufforderung drittens zum Konzept der JHWH-Furcht steht. Forschungsgeschichtlich wird auch angeführt, dass die Unterscheidung von Gut und Böse dem Bereich der Rechtsprechung entstamme. Diesem Hinweis soll viertens nachgegangen werden. Schließlich soll fünftens ein Blick auf den einzigen weiteren Beleg der Doppelformel in Ps 37 folgen. (1) Im Blick auf die alttestamentlichen Texte fällt es schwer, zwischen einem Verständnis von richtig und falsch, das allein auf Wohlergehen gerichtet ist, und einem Verständnis von gut und böse, das sich auf die sittliche Wertigkeit der Handlung bezieht, zu unterscheiden. Dieser Vorstellung einer Entwicklung von einem Verständnis von gut und böse, das sich zunächst nur auf das individuelle Wohlergehen und schließlich auf ein prinzipielles und ethisches Verständnis bezieht, scheint auf überholten Vorstellungen vom Tun-Ergehen-Zusammenhang und der „schicksalwirkenden Tatsphäre“, die gleichsam naturgesetzartig wirke, zu fußen.470 Demzufolge wäre gutes Handeln zunächst nur deshalb erstrebenswert gewesen, weil Strafe vermieden und ein gutes Leben im Sinne einer Belohnung erreicht werden sollte. Erst später habe man Einsicht in den sittlichen Wert einer ethisch guten Handlung unabhängig von Belohnung gefunden. Neuere Arbeiten sehen jedoch den Tun-Ergehen-Zusammenhang als Kategorie der sozialen Interaktion.471 Er sei kein selbstwirksames Regulativ, sondern eine Form reziproker Solidarität im Sinne der konnektiven Gerechtigkeit Ägyptens.472 Insofern also ist die Frage nach dem Wohlergehen auch eine soziale und kollektive, die nach dem ethischen Wert einer Handlung fragt. Die Suche nach gelingendem Leben und die Frage nach dem Tun des Guten sind, wie Ps 34 zeigt, aufs engste miteinander verbunden. Ziel der Unterweisung ist, „ חפץ ַחּיִ יםWohlgefallen am Leben zu haben“ und „ ראה טֹובGutes zu sehen“ (V. 13). So ist auch die Wendung ( י ְֹד ֵעי טֹוב וָ ָרעGen 3,5) nicht auf die Fähigkeit zu einem moralischen Urteil zu beschränken, sondern meint „die Fähigkeit zur klugen, zwischen Nützlichem und Schädlichem abwägende[…] Daseinsgestaltung“473. Erkennen und Tun des Guten gehören wiederum zusammen. So zeichnet sich
ist damit nicht gesagt. Eher spielt Barsillai damit auf den Verlust an geistiger Wachheit im Alter an, der sich aber durchaus auch auf die Urteilskompetenz in ethischen Fragen beziehen kann. 469 Dohmen 1993, 606. 470 Vgl. Koch 1991, 65–103. 471 Vgl. Janowski 1994, 247–271. 472 Vgl. Assmann 1990. 473 Albertz 1992, 15–16; vgl. Konkel 2015, 268.
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der Frevler dadurch aus, dass er beides nicht tut: ּומ ְר ָ ֑מה ָח ַ ֖דל ְל ַה ְׂש ִ ּ֣כיל ִ י־פיו ָ ֣אוֶ ן ֭ ִ ִּד ְב ֵר יטיב׃ ֽ ִ „ ְל ֵהWorte seines Mundes sind Lüge und Betrug; aufgehört hat er, einsichtig zu sein und gut zu tun.“ (Ps 36,4). Den sittlichen Wert einer Handlung zu erkennen, gilt als Bedingung, um Gutes zu tun. Insofern ist auch das Tun des Bösen ein planvolles Vorgehen, bei dem der Handelnde das Schlechte intendiert oder zumindest in Kauf nimmt. (2) Weise und Toren werden in weisheitlichen Texten über das Tun bzw. Unterlassen des Guten oder Schlechten charakterisiert. „ ְּכ ִס ִיליםToren“ weichen nicht von Bösem: תֹוע ַ ֥בת ְּ֜כ ִס ֗ ִילים ֣סּור ֵמ ָ ֽרע׃ ֲ ְ„ ַּת ֲאָו֣ה ִנ ְ֭היָ ה ֶּת ֱע ַ ֣רב ְל ָנ ֶ֑פׁש וEin erfüllter Wunsch ist angenehm für die Nefeš; aber ein Gräuel ist es für die Toren, von Bösem zu weichen.“ (Spr 13,19), „ יְ ָׁש ִריםAufrichtige“ hingegen meiden das Böse, was zu gelingendem Leben führt: „ ְמ ִס ַּל֣ת ְי ָׁ֭ש ִרים ֣סּור ֵמ ָ ֑רע ׁש ֵ ֹ֥מר ַ֜נ ְפ ׁ֗שֹו נ ֵ ֹ֥צר ַּד ְר ּֽכֹו׃Bahn der Aufrichtigen ist, von Bösem zu weichen. Der bewahrt seine Nefeš, der auf seinen Weg achtet.“ (Spr 16,17). Die desolaten Zustände der Gesellschaft zeigen sich darin, dass keiner Gutes tut: ה־טֹוב׃ ֽ ֹלהים ִ ֽה ְׁש ִ֗חיתּו ִ ֽה ְת ִ ֥עיבּו ֲע ִל ֗ ָילה ֵ ֣אין ֽעֹ ֵׂש ֑ ִ ָ֨א ַ ֤מר נָ ָב֣ל ְ ּ֭ב ִלּבֹו ֵ ֣אין ֱא „Der Schändliche spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott. Sie haben Verderben angerichtet; sie tun gräuliche Taten. Keiner ist da, der Gutes tut.“ (Ps 14,1; vgl. 14,3; 53,2.4). Der Gottlose orientiert sich nicht am Guten; er handelt so, als gäbe es keinen Gott.474 (3) Vor allem im Sprüchebuch und auch bei Ijob wird wie in Ps 34 JHWHFurcht über das ethische Handeln, das Meiden des Bösen und Tun des Guten, bestimmt. So sollen Handlungen nicht individuellem Gutdünken folgen, sondern JHWH ist Maßstab des Handelns: הוה וְ ֣סּור ֵמ ָ ֽרע׃ ֗ ָ ת־י ְ֜ ל־ּת ִ ֣הי ָח ָכ֣ם ְּב ֵע ֶינ֑יָך יְ ָ ֥רא ֶא ְ „ ַאSei nicht weise in deinen Augen; fürchte JHWH und weiche von Bösem!“ (Spr 3,7). In der Gegenüberstellung des Parallelismus membrorum von Spr 16,6 sind JHWH-Furcht und damit das Meiden des Bösen Prävention von Schuld, die durch JHWHs Güte und Treue475 gesühnt wird: הוה ֣סּור ֵמ ָ ֽרע׃ ֗ ָ ּוביִ ְר ַ ֥את ְ֜י ְ „ ְּב ֶ ֣ח ֶסד ֶ֭ו ֱא ֶמת יְ ֻכ ַ ּ֣פר ָעֹו֑ ןDurch Güte und Treue wird Schuld gesühnt, und durch JHWH-Furcht weicht man von Bösem.“ (Spr 16,6).476 Auch zur Charakterisierung von Ijob gehören Gottesfurcht und das Meiden des Bösen: ֹלהים וְ ָ ֥סר ֵמ ָ ֽרע׃ ֖ ִ ירא ֱא ֥ ֵ ִץ־עּוץ ִאּי֣ ֹוב ְׁש ֑מֹו וְ ָה ָי֣ה׀ ָה ִ ֣איׁש ַה ֗הּוא ָ ּ֧תם וְ יָ ָ ׁ֛שר ו ֖ ִ ֛איׁש ָה ָי֥ה ְב ֶ ֽא ֶר „Ein Mann war im Land Uz; Ijob war sein Name. Und dieser Mann war untadelig und gerade und fürchte Gott und wich von Bösem.“ (Ijob 1,1; vgl. Ijob 1,8; 2,3). 474 Vgl. auch den Vorwurf: ת־ה ִּמ ְׁש ָ ּֽפט׃ ַ א ֲה ֵבי ָ ֑רע ֲה ֣לֹוא ָל ֶ֔כם ָל ַ ֖ד ַעת ֶא ֹ ֣ ְ„ ׂ֥ש ֹנְ ֵאי ֖טֹוב וIst es nicht an euch, das Recht zu kennen, die ihr Gutes hasst und Böses liebt?“ (Mi 3,1–2). 475 Die kurze Sentenz lässt offen, ob „ ֶח ֶסד וֶ ֱא ֶמתGüte und Treue“ auf Gott oder den Menschen zu beziehen sind. Dafür, dass Güte und Treue Gottes und nicht des Menschen gemeint sind, spricht zum einen der unmittelbare Kontext (vgl. Spr 16,5), wo von der Strafe Gottes gegenüber dem Hochmütigen die Rede ist, zum anderen, dass „Güte und Treue“ alttestamentlich Attribute Gottes sind (vgl. Gen 24,27; 32,11; Ex 34,6; 2 Sam 2,6; 15,20; Ps 25,10; 86,15; vgl. SÆbø 2012, 227). 476 Mit direkter Gegenüberstellung von Weisem und Tor, allerdings ohne Nennung des Objektes von ירא: ּובֹוט ַח׃ ֵֽ „ ָח ָכ֣ם ָי ֵ֭רא וְ ָ ֣סר ֵמ ָ ֑רע ּו֜ ְכ ִ֗סיל ִמ ְת ַע ֵ ּ֥ברDer Weise fürchtet sich und weicht von Bösem; der Tor aber braust auf und ist sorglos.“ (Spr 14,16). i
Auslegung
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Das Lied über die Weisheit in Ijob 28, die ebenso wie das Wissen um Gut und Böse für den Menschen letztlich unauffindbar ist (vgl. Ijob 28,12–19) und die nur Gott zugänglich ist (vgl. Ijob 28,20–28), endet mit der Gleichung von Gottesfurcht und Weisheit: אמר׀ ָ ֽל ָא ָ ֗דם ֵ ֤הן יִ ְר ַ ֣את ֲ֭אד ֹנָ י ִ ֣היא ָח ְכ ָ ֑מה וְ ֖סּור ֵמ ָ ֣רע ִּב ָינֽה׃ ֶ ֹ „ וַ ּ֤יUnd er sprach zu dem Menschen: Siehe, die Furcht Adonais, sie ist Weisheit; zu weichen von Bösem ist Einsicht.“ (Ijob 8,28).477 Auch wenn der Mensch die Weisheit nicht finden kann, kann er sich ihr entsprechend verhalten, wenn er Gott fürchtet. Zugänglich wird Weisheit letztlich durch Gott. Hier zeigt sich also eine Theologisierung der Weisheit. Im Parallelismus von Ijob 8,28 entsprechen sich „ ָח ְכ ָמהWeisheit“ und ִּבינָ ה „Einsicht“. So wie Gottesfurcht ein Leben in Weisheit ermöglicht, ist die Abkehr vom Bösen das Verhalten des Menschen, der Einsicht hat, die göttliche Ordnung erkennt und entsprechend handelt. In Psalm 37 ist nicht von der JHWH-Furcht die Rede ist, sondern es wird mit dem Verb בטחzu Vertrauen an JHWH aufgerufen: ן־א ֶרץ ֜ ֶ֗ ה־טֹוב ְׁש ָכ ֑ ְּב ַ ֣טח ַֽ ּ֭ביהוָ ה וַ ֲע ֵׂש מּונֽה׃ ָ „ ְּור ֵ ֥עה ֱאVertraue auf JHWH und tue Gutes. Wohne im Land und hüte Treue.“ (Ps 37,3). Da aber sowohl mit dem Verb בטחals auch mit יראauf die vertrauensvolle Ausrichtung auf JHWH verwiesen werden kann, ist auch Ps 37 ein Beispiel dafür, dass Vertrauen zu JHWH und Tun des Guten unlösbar miteinander verbunden sind. (4) Ein Zusammenhang von ethischem Handeln und Rechtsprechung wird forschungsgeschichtlich sowohl für 1 Kön 3 als auch die Psalmen gesehen.478 Auch zu Am 5 sind Entsprechungen zu beobachten. In 1 Kön 3 erscheint JHWH Salomo im Traum und gewährt ihm eine Bitte. Nach einer Demutsbekundung bittet Salomo um „ ֵלב ׁש ֵֹמ ַעein hörendes Herz“ mit dem Ziel ין־טֹוב ְל ָ ֑רע ֣ ת־ע ְּמ ָ֔ך ְל ָה ִ ֖בין ֵ ּֽב ַ „ ִל ְׁש ֣ ֹּפט ֶ ֽאdeinem Volk Recht zu sprechen, indem er zwischen Gut und Böse unterscheiden (kann).“ (1 Kön 3,9).479 Die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, wird hier mit dem Richten des Volkes gleichgesetzt. Auch wenn ׁשפטin der Regel als Terminus für Herrschaftsausübung allgemein verstanden werden muss, ist doch mit der Analogiesetzung zu ִּבין ֵּבין deutlich, dass im Zusammenhang von 1 Kön 3 eine juridische Komponente enthalten ist. Die Fähigkeit zur Einsicht in Gut und Böse, die Salomo erbittet, ist allerdings nicht allein an den Verstand gebunden, sondern vielmehr auf Gott bezogen bzw. auf die Gabe Gottes. Salomo begründet seine Bitte mit dem Nachsatz: ִ ּ֣כי ִ ֤מי ת־ע ְּמָך֥ ַה ָּכ ֵ ֖בד ַה ֶּזֽה׃ ַ יּוכל֙ ִל ְׁש ֔ ֹּפט ֶא ַ „Denn wer könnte diesem deinem gewaltigen Volk Recht sprechen?“ (1 Kön 3,9). Damit wird deutlich, dass die Bitte um „ ֵלב ׁש ֵֹמ ַעein hörendes Herz“ sich auf ein Herz bezieht, das auf Gott hört ()ׁשמע: „‚Wer könnte 477 Wegen des Narrativs, mit dem V. 28 eingeleitet wird, und der Wendung „Furcht Adonais“, nicht „Furcht JHWHs“, wird der Vers häufig als spätere Fortschreibung betrachtet (vgl. Strauss 2000, 155), wie auch das gesamte Kapitel als fortschreibende Bearbeitung der Ijobdichtung und sekundärer Einschub (vgl. Leuenberger 2008b, 368–372) angesehen wird. 478 Vgl. Höver-Johag 1982, 330. Vgl. auch Knauff 2016, 155: „ ׁשפטheißt in diesem Kontext ‚richten‘, nicht mehr ‚regieren‘“. 479 Übersetzung von Knauff 2016, 152.
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deinem Volk Recht sprechen‘ enthält die implizite Rahmenbedingung ‚ohne göttlichen Beistand‘.“480 Die Rede von der Vergeltung von Gutem mit Bösem (vgl. טֹובה ָ ׁשלם ָר ָעה ַּת ַחת pi. in Ps 35,12; 38,21; טֹובה ָ ׂשים ָר ָעה ַּת ַחתin Ps 109,5; טֹובה ָ ׂשוב ָר ָעה ַּת ַחתhi. in Spr 17,13) gehört gleichermaßen in den „Bereich des Rechtsstreites als Anklage oder Unschuldsbeteuerung“481. Zwar ist Vorsicht gegenüber gattungskritischen Zugängen geboten, die vorschnell von literarischen Wendungen auf realhistorische Rechtsverfahren schließen. Jedoch ist offensichtlich, dass im Kontext der Vorstellung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang, der als konnektive Gerechtigkeit verstanden werden muss,482 ein Verhalten, das ethisch gutes Handeln nicht als solches honoriert, sondern ihm sogar entgegenwirkt, als Widersinnigkeit und seinerseits großes Vergehen verstanden werden muss. Eine Beziehung zwischen dem Tun des Guten, gelingendem Leben und der Rechtsprechung stellt auch Amos 5 her, von wo aus ebenfalls Verbindungen zu Ps 34,5 bestehen: ל־רע ְל ַ ֣מ ַען ִ ּֽת ְחי֑ ּו ֖ ָ ׁשּו־טֹוב וְ ַא ֥ ִּד ְר14 Sucht das Gute und nicht das Böse, damit ihr lebt י־צ ָב ֛אֹות ִא ְּת ֶכ֖ם ְ ֹלה ֽ ֵ הו֧ה ֱא ָ ְי־כן י ֵ֞ יה ִ ִו und damit JHWH, der Gott der Herrscharen, mit Euch ist, ַּכ ֲא ֶ ׁ֥שר ֲא ַמ ְר ֶ ּֽתם׃ wie ihr sagt! אּו־ר ֙ע וְ ֶ ֣א ֱהבּו ֔טֹוב וְ ַה ִ ּ֥ציגּו ָ ְ ִׂשנ15 Hasst das Böse und liebt das Gute und richtet ַב ַ ּׁ֖ש ַער ִמ ְׁש ָ ּ֑פט im Tor das Recht auf! הו֥ה ָ ְאּולי ֶי ֱֽח ַנ�֛ן י ַ֗ Vielleicht wird JHWH, der Gott der Heerיֹוסף׃ ֽ ֵ י־צ ָב ֖אֹות ְׁש ֵא ִ ֥רית ְ ֹלה ֽ ֵ ֱא scharen, mit dem Rest Josefs gnädig sein. (Am 5,14–15)
Leben wird an das Tun des Guten geknüpft. „Die bedingte Heilszusage lema῾an tiḥjû (v. 14) ’ûlaj jæḥænan (v. 15) ist die direkte Folge von diršû-ṭôb we’al-rā῾, das identisch ist mit diršûnî wiḥejû (v. 4) und diršû æṯ-JHWH wiḥejû (v. 6), so daß JHWH und ṭôb als synonym erscheinen. Das ‚Gute‘, um das es Amos geht, liegt nicht im Kultbereich (v. 5), sondern in der Rückkehr zur allzeit gültigen Ordnung JHWHs, in der Wahrung des Rechtes und der Verachtung falscher Aussage, Bosheit, abgestumpfter Kultpraxis (v. 15; vgl. Ps 34,11.14 f.; 36,4; 37,3; Spr 11,27; Mi 3,2 u. ö.).“483 Während in Am 5,14 die Orientierung am Guten eingefordert und in Bezug auf das Böse nur gefordert wird, es nicht aktiv anzustreben, geht Ps 34 weiter. Er verlangt, das Böse intentional zu meiden. Am 5,15 verstärkt diese Forderung noch durch die emotionalen Untertöne der Oppositionspaare „ אהבlieben“
480 Vgl. Knauff 2016, 170. 481 Höver-Johag 1982, 330. 482 S. o., vgl. Janowski 1994, 247–271. 483 Höver-Johag 1982, 331.
Auslegung
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und „ ׂשנאhassen“. Mit der sich anschließenden Aufforderung, das Recht aufzurichten (vgl. ב ַּׁש ַער ִמ ְׁש ָּפטַ יצגhi. in Am 5,15), wird die ethische Maxime explizit in den Kontext der Rechtsprechung überführt (vgl. Mi 6,8).484 (5) Die Doppelformel „ סּור ֵמ ָרע וַ ֲע ֵׂשה־טֹובWeiche von Bösem und tue Gutes“ begegnet sonst nur in Psalm 37, zu dem formal und inhaltlich viele Bezüge bestehen. Wie Ps 34 ist er ein Akrostichon. Er fordert – hier in der Formulierung ְּב ַטח ַּביהוָ ה (vgl. Ps 37,3.5) – zu Vertrauen in JHWH auf und dazu, den Weg an JHWH auszurichten (vgl. Ps 37,5.23.34). Er wendet sich der Gruppe der „Armen“ zu ( ֲענָ וִ יםin V. 11; ָענִ י וְ ֶא ְביֹוןin V. 14) und beschwört mit der Hoffnung, dass sich letztlich ֶצ ֶד ָקה und ( ִמ ְׁש ָּפטV. 6) durchsetzen werden, und dem gegensätzlichen Schicksal von „Gerechtem“ ַצ ִּדיקbzw. ( ַצ ִּד ִקיםvgl. Ps 37,12.16.17 u. ö.) und ָר ָׁשעbzw. „ ְר ָׁש ִעיםFrevler“ (vgl. Ps 37,12.14.16 u. ö.) den Tun-Ergehen-Zusammenhang. Anders als Ps 34 verbindet Ps 37 Wohlergehen und ( ָׁשלֹוםvgl. Ps 37,11.37) konkret mit dem Bewohnen des Landes (vgl. Ps 37,3.9.11 u. ö.). Im ersten Appell wird die Aufforderung, auf JHWH zu vertrauen, also sich an Gott zu orientieren, mit dem Tun des Guten in Beziehung gesetzt. Er steht in Zusammenhang mit dem Wohnen im Land: ְּב ַ ֣טח מּונֽה׃ ָ ן־א ֶרץ ְּור ֵ ֥עה ֱא ֜ ֶ֗ ה־טֹוב ְׁש ָכ ֑ „ ַֽ ּ֭ביהוָ ה וַ ֲע ֵׂשVertraue auf JHWH und tue Gutes. Wohne im Land und hüte Treue.“ (Ps 37,3). Auch die Doppelformel wird mit dem Versprechen von Landbesitz verbunden: עֹולם׃ ֽ ָ ּוׁש ֥כֹן ְל ְ ה־טֹוב ֗ „ ֣סּור ֵ ֭מ ָרע וַ ֲע ֵׂשWeiche von Bösem und tue Gutes und wohne für immer!“ (Ps 37,27). Mit der Verheißung des Landes wird das Wohlergehen des Gerechten anders als in Ps 34 konkretisiert.485 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Aufforderung, Böses zu meiden und Gutes zu tun, in Ps 34 und im Kontext der hebräischen Bibel, vor allem im Psalmenbuch und in weisheitlichen Texten, das Tun des Gerechten bzw. Weisen charakterisiert und diesen vom Frevler bzw. Toren unterscheidet. Das ethi484 Die Verbindung von Ps 34,15 zu Mi 6,8 ם־ע ׂ֤שֹות ֲ ּדֹורׁש ִמ ְּמ ָ֗ך ִ ּ֣כי ִא ֣ ֵ הוה ֞ ָ ְּומה־י ֽ ָ ה־ּטֹוב ֑ ִה ִּג֥יד ְלָך֛ ָא ָ ֖דם ַמ ֹלהיָך׃ ֽ ֶ ם־א ֱ „ ִמ ְׁש ָּפ ֙ט וְ ַ ֣א ֲה ַבת ֶ֔ח ֶסד וְ ַה ְצ ֵנ ַ֥ע ֶל ֶ֖כת ִעEr hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was JHWH von dir erfragt. Nichts, als Recht zu tun und Güte zu lieben und besonnen mit deinem Gott zu gehen.“ (Mi 6,8) zieht Hossfeld/Zenger 1993, 214. Im Rahmen des inszenierten Rechtsstreites JHWHs mit seinem Volk (vgl. Mi 6,1–5) stellt ein Ich die Frage, wie angemessen auf die Heilstaten JHWHs in der Geschichte zu reagieren ist, und karikiert dabei die Möglichkeiten, die das Opfer bietet (vgl. Mi 6,6–7). V. 8 gibt nun die Antwort, indem darauf verwiesen wird, dass dem Menschen (und nicht nur Israel) mit der ergangenen Offenbarung bereits gesagt ist, was gut ist. Was unter „gut“ zu verstehen ist, ist identisch mit dem, was Gott vom Menschen erfragt. „Dabei meint [also] ‚gut‘ nicht, daß das geforderte Verhalten an einem ethischen Ideal des Guten gemessen und dann für gut befunden würde. ‚Gut‘ meint vielmehr das, was für den Menschen gut ist, was ihm, seinem mitmenschlichen Zusammenleben und seinem Verhältnis zu Gott förderlich ist.“ (Kessler 2 2000, 269). Die geforderte Orientierung am Guten, damit an Gottes Willen, wird im Folgenden mit drei Infinitiven näher bestimmt: 1. Recht zu tun, sich also „so zu verhalten, daß eine gerechte Ordnung des Gemeinwesens möglich ist, eine Ordnung, die sozialen Ausgleich befördert und allen das Leben ermöglicht“ (Kessler 22000, 270); 2. Güte zu lieben, also Solidarität zu üben, die über das hinausgeht, was das Recht fordert (vgl. Kessler 22000, 271); 3. besonnen mit Gott zu gehen, also den Lebensweg und damit das ethische Handeln generell an Gott zu orientieren. 485 Vgl. Saur 2016, 382: „Dieser Gedanke des Landbesitzes, der den Psalm insgesamt prägt, lässt ein Konkretionsniveau erkennen, das den Text in einen gewissen Abstand zu weisheitlichen Meta reflexionen bringt“.
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sche Handeln steht dabei sowohl im Zusammenhang der Suche nach gelingendem Leben und dem Streben nach Wohlergehen als auch der Überzeugung, dass der Mensch sich an der gerechten göttlichen Weltordnung zu orientieren, also JHWH zu fürchten hat. Diese allgemeine Grundüberzeugung bildet auch den Hintergrund für positives Recht und Rechtsprechung. Ps 34 verknüpft das Sehen des Guten (V. 13) aufs engste mit der Belehrung in JHWH-Furcht (V. 12), die inhaltlich als Meiden des Bösen und Tun des Guten bestimmt wird (V. 15). Diese Aufforderung wird nicht rückgebunden an die Tora oder göttliche Offenbarung. Dem Menschen selbst wird vielmehr die Fähigkeit zur Unterscheidung von Bösem und Guten zugeschrieben wie auch die zur Erkenntnis der Güte JHWHs (V. 9). 2. ָׁשלֹום – Šalom: Gabe Gottes und Auftrag des Menschen Die Imperative zur „Explizierung“ der JHWH-Furcht von V. 14 und V. 15a werden in V. 15b weitergeführt, und „15b fordert den unermüdlichen, stürmischen Einsatz für das bonum commune“486. Angesichts der „komplex-semantischen Fülle“487 von „ ָׁשלֹוםŠalom“ ist zu fragen, welche Konnotationen mit dem Begriff im Alten Orient verbunden sind. Für die Frage nach seiner Verwendung in Ps 34 wird spezifisch das Bedeutungsspektrum im Psalter488 untersucht. Näher in den 486 Hossfeld/Zenger 1993, 214. 487 Liwak 2011. Demgegenüber versuchen ältere Arbeiten wie die von Eisenbeis 1969 eine „Grundbedeutung“ zu erheben, die Eisenbeis mit „Ganzheit“ und „Unversehrtheit“ bestimmt (Eisenbeis 1969, 353). Walter Eisenbeis untersucht nach Textgattungen getrennt und unter der Voraussetzung entstehungsgeschichtlicher Hypothesen die Belegstellen der Wurzel ׁשלםund ihrer Derivate. Seine präzise Textarbeit ist hervorzuheben, jedoch zeigt sich in seinen Ausführungen zum Gebrauch des Nomens ָׁשלֹוםin der Poesie, dass er neben dem Postulat der einen Grundbedeutung weitere Vorannahmen hat, die den Texten aus der Perspektive gegenwärtiger Forschung nicht gerecht werden. So spricht er von der „Vergeltungstendenz“ der Psalmen (Eisenbeis 1969, 192), unterscheidet zwischen der „säkularen“ und der „religiösen“ Bedeutung und stellt „materiellen Segen“ einem „inneren Frieden“ gegenüber. Zudem lässt er sich von Wertannahmen leiten: „Nirgends in der poetischen Literatur kommt in der Verwendung von ָׁשלֹוםeine theologische Tiefe zum Ausdruck, die mit derjenigen vergleichbar wäre, die sich aus der Verkündigung bei einigen klassischen Propheten erschließen läßt.“ (Eisenbeis 1969, 190). Zwar spricht er von einer „ethischen“ Bedeutung der Verwendung von ָׁשלֹום, schätzt diese aber gering: „Selbst an Stellen, in denen eine Aussage über das Heil Gottes ersichtlich ist, bleibt das Heilsverständnis hauptsächlich auf den ethischen Bereich beschränkt.“ (Eisenbeis 1969, 190). Die ethische Bedeutung von ָׁשלֹוםsieht er auch in Ps 34 gegeben, erweitert diese jedoch um eine „tiefer schürfende Aussage“ (Eisenbeis 1969, 193), da es eine Verbindung zur „Ehrfurcht“ Gott gegenüber und der Nähe Gottes bei den Benachteiligten (mit Verweis auf V. 19) gebe. „In diesem Zusammenhang wird man wohl ָׁשלֹום als das Gute zu verstehen haben, welches sich stets dann für den Menschen ereignet, wenn er Gott als den Urheber des Guten erkannt hat.“ (Eisenbeis 1969, 193). 488 Für die Fragestellung von untergeordneter Bedeutung sind die Belege von „ ָׁשלֹוםŠalom“ im Psalter, die sich auf körperliche Gesundheit beziehen (Ps 38,4), als Gegenbegriff zu „ ִמ ְל ָח ָמהKrieg“ erscheinen (Ps 120,7) oder durch die volksetymologische Ableitung des Ortsnamens ִרּוׁש ָלם ָ ְ יvon „ ָׁשלֹוםŠalom“ bedingt sind. Letzteres ist der Fall in Ps 122, wo „ ָׁשלֹוםŠalom“ zum einen als Frieden „in seiner individuellen und sozialen Dimension als friedliches Zusammenleben (vgl. dazu Ps 133) und zum anderen als Glück verstanden [wird], das auch dem Tempel zugutekommt“ (vgl. Hoss-
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Fokus treten dabei Ps 72; 85; 119; 37 mit ihrer Rede von „ ָׁשלֹוםŠalom“. Schließlich soll danach gefragt werden, wie sich dieser Begriff im Zusammenhang einer ethischen Lektüre von Psalm 34 verstehen lässt.489 (1) Das auch in der altorientalischen Welt gut belegte Lexem ָׁשלֹוםzeigt eine große Bedeutungsbreite.490 Im Ägyptischen wird damit Zufriedenheit und Glück zum Ausdruck gebracht und ein innenpolitischer Zustand bezeichnet, der in der kosmischen Ordnung gründet und vom König in Natur und Gesellschaft hergestellt werden muss. Außenpolitik kommt dabei selten in den Blick, und wenn, dann im Sinne der Unterwerfung der Feinde und nicht als Einvernehmen zweier Staaten. In Mesopotamien ist „Friede“ ebenfalls eine „Ordnungsgestalt im kosmischen und gesellschaftlichen Zusammenhang, die vom König und Tempel garantiert und aufrechterhalten wird“491. Auch das hebräische Wort bezieht sich entsprechend auf personelle und sachliche Integrität, die materielle und soziale Aspekte umfasst, auf Unversehrtheit, Ganzheit, Heilsein von Welt und Mensch und eine „lebensförderliche Geordnetheit der Welt“492 im politischen, rechtlichen, kultischen, sozialen und kreatürlichen Kontext. Es kann als Inbegriff des Segens verstanden werden. Eine Grundbedeutung kann schwer ausgemacht werden. Je nach Kontext und Gebrauch sind spezifische Bedeutungen zu ermitteln. (2) Im Psalter erscheint „ ָׁשלֹוםŠalom“ als Gabe Gottes mit dem Parallelbegriff „ ָל ֶב ַטחin Sicherheit“ (Ps 4,9) und als Ausdruck des Segens JHWHs für sein Volk mit dem Parallelbegriff „ עֹזKraft“ (Ps 29,11). „ ָׁשלֹוםŠalom“ ist von Gott gewollt ( )חפץinnerhalb der Beziehung zu „ ַע ְבּדֹוseinem Knecht“ (Ps 35,27) und bezogen auf die Gabe des Landes für „ ֲענָ וִ םdie Armen“ (37,11). Als Gabe bzw. Handeln Gottes ist auch die Erlösung von den Feinden zu verstehen: „ ֘ ָּפ ָ ֤דה ְב ָׁש ֣לֹום ַ ֭נ ְפ ִׁשיEr hat erlöst in Šalom meine Nefeš“ (Ps 55,19). (3) Im Zusammenhang der Königsideologie stehen die Belege für „ ָׁשלֹוםŠalom“ in Psalm 72, der den komplementären Zusammenhang von königlichem Rechts-
feld/Zenger 2008, 462). Ebenfalls zionstheologisch ist die wohl redaktionelle „Schlussformel“ „ ָׁשלֹום ַעל־יִ ְׂש ָר ֵאלŠalom über Israel“ (Ps 125,5; 128,6), die die Psalmengruppe 126–128 konstituiert, die den vom Zion ausgehenden Segen für den Einzelnen und Israel entfaltet (vgl. Hossfeld/Zenger 2008, 492). Auch die Belege, wo „ ָׁשלֹוםŠalom“ zur Kennzeichnung des Verhaltens der Feinde (z. B. die Charakterisierung der Feinde als „ ּד ְֹב ֵרי ָׁשלֹוםdie, die Šalom reden“, obwohl sie niederträchtig handeln, in Ps 28,3; vgl. auch 35,20; 41,10) dient, können vernachlässigt werden. Der Erfolg der Frevler, der der Annahme eine gerechten Weltordnung zu widersprechen scheint, wird in Ps 73,3 mit ָׁשלֹום „Šalom“ bezeichnet. 489 Auch Thiel 2005, 112 sieht eine ethische Bedeutung bzw. soziale Dimension des Begriffs: „Durch Üben von Recht und gemeinschaftsgemäßes Handeln sollen Bedrückung und Benachteiligung, kurz: das Entstehen sozialer Zwänge, ausgeschlossen werden.“ 490 Vgl. im Folgenden Liwak 2001; Stendebach 1995, 12–46. 491 Liwak 2001 mit Verweis auf Schmid, Hans H.: šalôm. „Frieden“ im Alten Orient und im Alten Testament. Stuttgart (SBS 51) 1971, 27–44. 492 Steck 1972, 29.
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handeln und den Segenswirkungen seines Amtes beschreibt.493 Der Psalm beginnt mit der Fürbitte an den göttlichen Gesetzgeber, dem König „ ִמ ְׁש ָּפ ִטיםRechtsvorschriften“ und „ ְצ ָד ָקהden Erweis der Gerechtigkeit“ zu übergeben (vgl. Ps 72,1). Dies ermöglicht dem König, Gerechtigkeit durchzusetzen, was seinerseits ָׁשלֹום „Šalom“ bedeutet: יָ ִ ֣דין ַע ְּמָך֣ ְב ֶצ ֶ֑דק וַ ֲענִ ֶּי֥יָך ְב ִמ ְׁש ָ ּֽפט׃2 Er richte dein Volk in Gerechtigkeit / und deine Armen mit Recht. יִ ְׂש ֤אּו ָה ִ ֓רים ָׁ֘ש ֥לֹום ָל ָ ֑עם3 Die Berge sollen Šalom für das Volk tragen / �ָקה׃ ֽ ָ ּו֜ גְ ָב ֗עֹות ִּב ְצד und die Hügel – durch Erweis von Gerechtigkeit! יע ִל ְב ֵנ֣י ֶא ְבי֑ ֹון ַ ֹוׁש ִ ֭ י־עם י ָ֗ ֵ יִ ְׁש ֤ ֹּפט׀ ֲ ֽענִ ּי4 Er verschaffe Recht den Armen des Volkes, / עֹוׁשק׃ ֽ ֵ ִ ֽו ַיד ֵּכ֣א er rette die Kinder der Besitzlosen, / er zerschlage den Unterdrücker. (Ps 72,2–4)
Das Gerechtigkeit herstellende Handeln des Königs erfolgt insbesondere zugunsten der „ ֲענִ ּיִ יםBenachteiligten“, denen es an Gerechtigkeit mangelt. Diese Gerechtigkeit führt zu „ ָׁשלֹוםŠalom“, der sich kosmisch zeigt, denn Berge und Hügel tragen „ ָׁשלֹוםŠalom“, wie im Folgenden entfaltet wird: Die fruchtbare Landschaft, der Regen, der Felder zur Reife bringt, sind „Realsymbole der ‚Gerechtigkeit‘“494: ם־ׁש ֶמׁש ֑ ָ ִע495 יִ ָֽיר ֥אּוָך5 Und er lebe lange vor der Sonne / ּדֹורים׃ ֽ ִ וְ ִל ְפ ֵנ֥י ָ֜י ֵ ֗ר ַח ּ֣דֹור und vor dem Mond von Geschlecht zu Geschlecht. ל־ּג֑ז ֵ ֵי ֵ֭רד ְּכ ָמ ָ ֣טר ַע6 Er komme herab wie Regen auf die Mahd, / ִּ֜כ ְר ִב ִ֗יבים זַ ְר ִ ֥זיף ָ ֽא ֶרץ׃ wie Regenschauer, die besprengen das Land. יָמיו ַצ ִ ּ֑דיק ֥ ָ ח־ּב ְ יִ ְֽפ ַר7 Die Gerechtigkeit sprosse in seinen Tagen, / ד־ּב ִ ֥לי יָ ֵ ֽר ַח׃ ְ וְ ֥ר ֹב ָׁ֜ש ֗לֹום ַע und es sei Fülle des Šalom, bis kein Mond mehr ist.496 (Ps 72,5–7) „ ָׁשלֹוםŠalom“ hat in Ps 72 also durchaus eine ethische Bedeutung, insofern als er mit dem insbesondere für die Armen rettenden Rechtshandeln des Königs einhergeht und die in Zusammenhang mit der gerechten Weltordnung stehenden 493 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 302–330. Siehe dort auch zu Entsprechungen und Unterschieden im Vergleich zur altägyptischen und altorientalischen Königsideologie: Während dieser entsprechend der König als Stellvertreter des Schöpfer- und Sonnengottes die der Welt von den Göttern eingestiftete Ordnung durch eigene Gesetzgebung sicherstellen soll, ist es nach Jan Assmann ein Spezifikum der biblischen Texte, dass es zu einer „Verschiebung der soziopolitischen Handlungssphäre Recht und Gerechtigkeit in die theopolitische Sphäre“ (Assmann 1992, 65) kommt, so dass Gott selbst als Gesetzgeber gilt (vgl. Exkurs: Aussagen zu den „ ֲענָ וִ יםArmen“). 494 Hossfeld/Zenger 32000, 322. 495 In Anschluss an LXX συμπαραμενεῖ wird geändert in „ וְ יַ ֲא ִריכּוund sie (seine Tage) sollen lang sein“ (vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 305). 496 Zur Übersetzung vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 305–306.
Auslegung
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konkreten Segenshandlungen für den Kosmos – hier die Fruchtbarkeit des Landes – und den Menschen umschreibt. Die Orientierung an „ ְצ ָד ָקהGerechtigkeit“ bedeutet also „ ָׁשלֹוםŠalom“. (4) Locus classicus für den Zusammenhang von Gerechtigkeit und ָׁשלֹום „Šalom“ ist Psalm 85. Der Psalm bietet als „betende Vergewisserung der großen Heilszusagen“497 zunächst im prophetischen Perfekt498 als Prolepse einen Ausblick auf die erhoffte Wiederherstellung Israels durch die göttliche Vergebung seiner Schuld (vgl. Ps 85,2–4). Daran schließt sich die Bitte um eben diese Wiederherstellung Israels, um das Ende des göttlichen Zorns und um „ ֶח ֶסדGüte“ und „ יֵ ַׁשעHeil“ (vgl. Ps 85,5–8) an. Es erfolgt dann ein Wechsel von der Rede an JHWH (vgl. 85,2–4.5–8) zur Rede über JHWH und der Beschreibung des Heils (vgl. Ps 85,9–10.11–14).499 „ ָׁשלֹוםŠalom“ ist eine Gabe Gottes, der von seinem Zorn ablässt und sich wieder seinem Volk zuwendet. Diese göttliche Gabe findet eine Entsprechung im menschlichen Verhalten. Die Getreuen JHWHs sollen sich abwenden von „ ְּכ ִס ָילהTorheit“ (Ps 85,10), nicht zurückkehren zu „ ָעֹוןSchuld“ und „ ַח ָטאתSünde“ (vgl. Ps 85,3). Im Kontext des Psalms wird unter „Sünde“ der Bundesbruch des Volkes verstanden, der als Ursache des Exils angesehen wird. Das Tun des Menschen wird hier vor allem unter dem Aspekt der Beziehung zu Gott in den Blick genommen. Diese kommt auch in der Bezeichnung „ ִל ֵיר ָאיוdie ihn Fürchtenden“ (Ps 85,10) zum Ausdruck und impliziert das an Gott ausgerichtete Handeln der Menschen. Die göttliche Gabe des „ ָׁשלֹוםŠalom“ wird ergänzt um die des „Heils“ und der Gegenwart der „Herrlichkeit“ ( יֵ ַׁשעund ָּכבֹודin Ps 85,10) im Land: ֶא ְׁש ְמ ָ֗עה ַמה־יְ ַד ֵּב ֮ר ָה ֵ ֪אל׀9 Ich will hören, was der Gott redet. / ל־ע ּ֥מֹו ַ יְ ֫הָו֥ה ִ ּ֤כי׀ יְ ַד ֵּ֬בר ָׁש ֗לֹום ֶא JHWH, fürwahr, er redet Šalom zu seinem ידיו ֑ ָ ל־ח ִס ֲ וְ ֶא Volk und zu seinen Getreuen. / ְ ֽו ַאל־יָ ׁ֥שּובּו ְל ִכ ְס ָ ֽלה׃ Aber sie sollen nicht zur Torheit zurückkehren. ַ ֤אְך׀ ָק ֣רֹוב ִל ֵיר ָ ֣איו יִ ְׁש ֑עֹו10 Fürwahr, nah ist denen, die ihn fürchten, sein Heil, / ִל ְׁש ּ֖כֹן ָּכ ֣בֹוד ְּב ַא ְר ֵ ֽצנּו׃ so dass die Herrlichkeit in unserem Land wohne. (Ps 85,9–10)
497 Hossfeld/Zenger 32000, 528. 498 So schon Gunkel 51968, 373: Es „ist ja den Propheten eigen, daß sie nicht wie andere Sterbliche das Kommende als zukünftig vor sich, sondern als bereits vollzogen hinter sich schauen“. 499 Zur Übersetzung vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 523–526, dort insbesondere zur Problematik der Verbform נָ ָׁשקּוin Ps 85,11b. Da das Verb nicht reflexiv ist, es also zumindest einer Umvokalisierung bedürfte, schlägt Jürgen Ebach – in Anschluss an die Rabbinen in Bereshit Rabba – vor, eine Ableitung nicht von נׁשקI „küssen“, sondern von נׁשקII „kämpfen“ in Betracht zu ziehen (vgl. Ebach 2016, 1996, 47), bzw. er plädiert für das Offenhalten der beiden Alterativen und die vielfältigen Sinnpotentiale des Textes: Von Ps 85 geht so die Frage aus, in welchem Verhältnis Gerechtigkeit und Frieden stehen, ob Frieden nicht nur um den Preis der Gerechtigkeit möglich ist oder wie Gerechtigkeit und Frieden sein können. Mit dem Kuss von Gerechtigkeit und Frieden hingegen wäre die Utopie des Gottes-Heiles an ihrem Ziel (vgl. Ebach 1996, 46).
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Die umfassende Ordnung der Welt im „ ָׁשלֹוםŠalom“ Gottes zeigt sich im „geradezu gestalthafte[n] Kommen der Gaben und Wirkweisen Gottes bzw. Gottes selbst“500 (vgl. Ps 85,11.14) und konkret in der Fruchtbarkeit des Landes (vgl. Ps 85,12–13). Wie auch in Ps 72 erscheint „ ָׁשלֹוםŠalom“ zusammen mit צ ָד ָקה/ק ְ „ ֶצ ֶדGerechtigkeit“:501 ֶ ֽח ֶסד־וֶ ֱא ֶ ֥מת נִ ְפ ָּגׁ֑שּו11 Güte und Treue sind sich begegnet. / ֶצ ֶ֖דק וְ ָׁש ֣לֹום נָ ָ ֽׁשקּו׃ Und Gerechtigkeit und Šalom haben sich geküsst. ֭ ֱא ֶמת ֵמ ֶ ֣א ֶרץ ִּת ְצ ָ ֑מח12 Treue, aus der Erde sprosst sie hervor, / �ְקף׃ ֽ ָ ְ ֜ו ֶ֗צ ֶדק ִמ ָּׁש ַ ֥מיִ ם נִ ׁש und Gerechtigkeit, aus dem Himmel schaut sie hernieder. ם־י֭הוָ ה יִ ֵ ּ֣תן ַה ּ֑טֹוב ְ ַ ּג13 Ja, JHWH gibt Gutes, / יְבּולּה׃ ֽ ָ ְ ֜ו ַא ְר ֵ֗צנּו ִּת ֵ ּ֥תן und unser Land gibt seinen Ertrag. ֶ֭צ ֶדק ְל ָפ ָנ֣יו יְ ַה ֵּלְ֑ך14 Gerechtigkeit, vor seinem Antlitz geht sie her, / וְ יָ ֵ ׂ֖שם ְל ֶ ֣ד ֶרְך ְּפ ָע ָ ֽמיו׃ und sie bestimmt den Weg seiner Schritte. (Ps 85,11–14)
Deutlich wird, dass „ ָׁשלֹוםŠalom“ hier als Größe des göttlichen Heils in sozialer und kosmisch-materieller Hinsicht verstanden wird, was gleichzeitig Implikationen für das Tun der Menschen hat. (5) Eine explizite Verbindung von göttlicher Willensoffenbarung und ָׁשלֹום „Šalom“ zieht Psalm 119. In der ש-Strophe erfolgt eine Bewegung von der Verfolgung durch sozial überlegene Feinde (vgl. Ps 119,161) zu „ ָׁשלֹוםŠalom“. Auch wenn ihm die Feinde nachstellen, hält das betende Ich an seiner Liebe zum Wort Gottes, an der Liebe zur göttlichen Willensoffenbarung in ּתֹורה ָ „Tora“ und ִמ ְצֹות „Rechtssprüchen“ fest. Den Grund dafür universalisiert es: תֹור ֶ ֑תָך ָ ָׁש ֣לֹום ָ ֭רב ְלא ֲֹה ֵב֣י ין־ל֥מֹו ִמ ְכ ֽׁשֹול׃ ָ „ וְ ֵ ֽאGroßer Šalom ist für die, die deine Tora lieben; und sie straucheln nicht.“ (Ps 119,165). Wer den Willen Gottes tut, der strauchelt nicht wie die Feinde ( כׁשלin Ps 9,4; 27,2), deren ethisches Handeln verwerflich ist, sondern der Wille Gottes ist und ermöglicht „ ָׁשלֹוםŠalom“ als „Frucht der Gerechtigkeit“502 und ׁשּועה ָ ְ„ יRettung“ (Ps 119,166), wie auch die Gebote „ ִמ ְׁש ְּפ ֵטי ִצ ְד ֶקָךRechtssprüche der Gerechtigkeit“ (Ps 119,165) sind. (6) Das auch materielle Wohlergehen nimmt Psalm 37 im Zusammenhang des verheißenen Landbesitzes und dessen Fruchtbarkeit mit Bezug auf „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ in den Blick: ׁשּו־א ֶרץ ְ ֜ו ִה ְת ַעּנְ ֗גּו ַעל־ ֥ר ֹב ָׁש ֽלֹום׃ ֑ ָ „ וַ ֲענָ וִ ים יִ ְֽירAber auch die Armen
500 Hossfeld/Zenger 32000, 533. 501 Für Stendebach 1995, 39 sind „sie allesamt Relationsbegriffe und [beschreiben] das rechte Verhalten unter den Menschen […], das den heilvollen Zustand aus sich entläßt“. Richtig ist, dass die vier Größen nicht ohne Bezug auf menschliches Handeln zu denken sind, jedoch ist fraglich, ob dieses „den heilvollen Zustand“ Šalom bewirken kann. Dieser ist eine göttliche Größe und – im Kontext des Psalms – göttliche Gabe. Die Menschen sind aufgerufen, ihr Handeln daran zu orientieren und eben nicht an der Torheit. 502 Hossfeld/Zenger 2008, 387.
Auslegung
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werden das Land besitzen; und sie werden an der Fülle von Šalom ihre Lust haben.“ (Ps 37,11; vgl. auch Ps 147,14503). Explizit wird die Verheißung von Šalom im letzten Abschnitt des Psalms zum ethischen Tun in Beziehung gesetzt: ר־ּתם ְּור ֵ ֣אה יָ ָ ׁ֑שר ֭ ָ ְׁש ָמ37 Achte auf den Tadellosen und schaue auf den Aufrechten. י־א ֲח ִ ֖רית ְל ִ ֣איׁש ָׁש ֽלֹום׃ ַ ִ ּֽכ Denn das Zukünftige ist für den Mann des Šalom. ּֽ֭ופ ְֹׁש ִעים נִ ְׁש ְמ ֣דּו יַ ְח ָ ּ֑דו38 Die Sünder504 aber sind zusammen vertilgt. ַא ֲח ִ ֖רית ְר ָׁש ִ ֣עים נִ ְכ ָ ֽר ָתה׃ Das Zukünftige der Frevler ist ausgerottet worden. (Ps 37,37–38)
Während der Mann des Šalom eine Zukunft haben wird, gilt dies nicht für die Frevler und die Sünder. Im Zusammenhang von V. 37 gehört der Mann des Šalom zu denen, die „ ָּתםtadellos“ handeln und als „ יָ ָׁשרaufrecht“ zu bewerten sind. Daraus ergibt sich: Die Aussage „im Rahmen der Vorstellung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang ist hier ausgesagt, daß das Tun des Guten das Wohlergehen des Gerechten bewirkt“505 ist im Hinblick auf Ps 34 nicht umfassend genug. ָׁשלֹום „Šalom“ ist eine ethische Größe, die im Zusammenhang der von Gott etablierten Weltordnung steht, aber er ist nicht vom Menschen machbar.506 „ ָׁשלֹוםŠalom“ ist in enger Beziehung zu „ ְצ ָד ָקהGerechtigkeit“ zu verstehen. Ps 72 sieht es als vornehmliche Aufgabe des Königs, die von Gott gewollte Ordnung durchzusetzen, die in „ ָׁשלֹוםŠalom“ resultiert. Nach Ps 34 ist es die Aufgabe jedes Menschen, nach „ ָׁשלֹוםŠalom“ zu streben. Das sozial verantwortliche Handeln und der göttliche Segen sind komplementär zueinander. Es wird eine innere Entsprechung von der Orientierung an „ ָׁשלֹוםŠalom“ und dem Widerfahrnis von „ ָׁשלֹוםŠalom“ gesehen. 3. Die Jagdmetaphorik Im Zusammenhang des Versteils „ ַּב ֵּקׁש ָׁשלֹום וְ ָר ְד ֵפהּוStrebe nach Šalom und jage ihm nach.“ entsprechen sich die beiden Verben בקׁשund רדף: Das Erstrebte ist auch Gegenstand des Nachjagens. Das Verb בקׁשbeschreibt ein Suchen als ein zielgerichtetes Tun, auf das zum Teil viel Mühe verwendet wird (vgl. Spr 2,4).507 Gegenstand der Suche können
503 In Ps 147 kommen mit der partizipialen Aussage über JHWH בּולְך ָׁשלֹום ֵ ְ„ ַה ָּׂשם־ּגEr schafft Šalom in deinen Grenzen“ (Ps 147,14) mehrere Aspekte des Begriffs „ ָׁשלֹוםŠalom“ in den Blick: Im Kontext des vorangehenden Verses geht es um militärische Sicherheit und um Segen der Bewohner Jerusalems (vgl. Ps 147,13), um die Fruchtbarkeit des Landes und materielles Wohlergehen (vgl. Ps 147,14) sowie um Gottes kreatives und ordnendes Wort (vgl. Ps 147,15–20). 504 Mit LXX οἱ δὲ παράνομοι. 505 Stendebach 1995, 38. 506 Vgl. Thiel 2005, 119: „Ein breiter Strom der Sehnsucht nach Frieden und heiler Gemeinschaft durchzieht das Alte Testament. An keiner Stelle wird daran gedacht, daß dieses Ziel allein durch menschliche Aktivität erreicht werden könnte. Aber die Erwartungen verdichten sich zu Zukunftsvisionen, denen durchaus Modellcharakter für menschliches Handeln eignet.“ 507 Vgl. auch im Folgenden Wagner 1973, 754–769; Gerlemann 62004, 333–336.
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Personen und Sachen sein, aber auch Abstrakta, im ethisch positiven Sinn טֹובה ָ „Gutes“ (Neh 2,10), „ ֱאמּונָ הTreue“ (Jer 5,1), „ ָח ְכ ָמהWeisheit“ (Spr 14,6), „ ִּבינָ הEinsicht“ (Dan 8,15) oder „ נֶ ֶפׁשLeben“ (Spr 29,10), im negativen Sinn „ ָּכזָ בLüge“ (Ps 4,3) oder „ ָר ָעהBöses“ (1 Kön 20,7). Wie das Beispiel zeigt: ם־ּת ְמ ְצ ֣אּו ִ֔איׁש ִאם־ ִ ִא מּונ֑ה ָ „ ֵיׁ֛ש ע ֶ ֹׂ֥שה ִמ ְׁש ָ ּ֖פט ְמ ַב ֵ ּ֣קׁש ֱאob ihr jemanden findet, der Recht tut und nach Treue strebt“ (Jer 5,1), impliziert das Verb nicht allein ein Suchen und (zufälliges) Finden, sondern eine Tätigkeit, die bewusst ausgeführt wird. Etwas wird herbeigewünscht, an dessen Verwirklichung gleichzeitig gearbeitet wird. Insofern hat das Verb auch eine emotionale Bedeutung, da die ganze Person auf etwas hinarbeitet. Das Verb רדףdient im Psalter erstens zur Charakterisierung der Feinde, die Unschuldige wie Tiere jagen. Zweitens erscheint es positiv im Zusammenhang der göttlichen Heilsgaben, und drittens umschreibt es das ethische Verhalten des Ichs, das nach dem Bösen oder Guten strebt. (1) Das Verb „ רדףnachjagen“ wird in der Mehrzahl der Fälle konkret verwendet und bezieht sich auf die Verfolgung der Feinde oder das Verfolgtwerden durch Feinde. Auch im Psalter beschreibt es oftmals das Verhalten der Feinde gegenüber dem Ich, die ihm nachjagen und es bedrohen, so z. B. in der Bitte an Gott: ילנִ י׃ ֽ ֵ יענִ י ִמ ָּכל־ ֜ר ֹ ְד ֗ ַפי וְ ַה ִּצ ֥ ֵ הֹוׁש ִ „Errette mich vor allen, die mir nachjagen, und rette mich.“ (Ps 7,2; vgl. 31,16; 69,27; 119,150.157.161 u. ö.). In der Folge bittet auch das betende Ich darum, dass es seinen Feinden ebenso ergehe. So wie sie ihm nachjagen, so sollen auch sie gejagt werden (vgl. 35,3.6 u. ö. in anderer Terminologie).508 (2) In einem positiven Sinn drückt das Ich in Ps 23 die erhoffte Gegenwart Gottes mit dem paradoxen Bild der Jagd aus: „ ַ ֤אְך׀ ֤טֹוב וָ ֶ ֣ח ֶסד ִי ְ֭ר ְּדפּונִ י ָּכל־יְ ֵ ֣מי ַח ָּי֑יNur Gutes und Gnade werden mir alle Tage meines Lebens nachjagen.“ (Ps 23,6). Zwar bedroht die Jagd das betende Ich und verweist es in die Passivität der Flucht. Aber ebenso passiv ist der Mensch in Bezug auf die Heilsgaben Gottes, denen er nicht entrinnen kann. (3) Wenn „ רדףnachjagen“ mit nicht-personalem Objekt erscheint, sind die Belege „ethisch eingefärbt und zielen nicht punktuell auf eine Aktion, sondern beschreiben ein immer wiederkehrendes oder duratives Nachjagen“509. Dabei kann sowohl ein negativ als auch ein positiv gewertetes Verhalten mit Jagdmetaphorik beschrieben werden. Verurteilt wird das Jagen nach negativ konnotierten Objekten: Die Jagd nach Bösem führt zum Tod ( ָר ָעהin Spr 11,19); wer nach יקים ִ „ ֵרNichtigem“ jagt, ist 508 Zur statistischen Verteilung des Lexems רדף: Zu beobachten ist eine Konzentration auf die Bücher Jos bis 2 Sam (39-mal) und die Ps (20-mal). Im ersten Bereich handelt es sich oft um militärische Verfolgung, im Psalmenbuch steht die Jagd „häufig metaphorisch [für] das aus der konkreten Situation übertragene materielle Verfolgtsein eines Einzelsubjektes“ (Frevel 1993, 363). Vgl. Riede 2000, 339–376 zur Jagdmetaphorik in den Individualpsalmen und den verschiedenen Bildern: „ רדףkann bezogen sein auf den Feind, der den Beter verfolgt (reale Ebene). Auf der Ebene der Bildsprache kann es sich beziehen auf den Löwen, der ein Beutetier verfolgt, um des niederzureißen (Ps 7,3), die Kriegsschar, die Flüchtlinge verfolgt, oder auf den Jäger, der dem Wild nachstellt.“ (Riede 2000, 388). 509 Frevel 1993, 365.
Auslegung
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ohne „ ֵלבHerz“ bzw. „Verstand“ (Spr 12,11) und ihn ereilt Armut (vgl. Spr 28,19). Angeprangert werden Bestechlichkeit und das Jagen nach „ ַׁש ְלמֹנִ יםGeschenken“, statt Waisen und Witwen ihr Recht zu verschaffen (vgl. Jes 1,23), ebenso wie die Jagd nach Alkohol (vgl. Jes 5,11). Positiv konnotiert ist die Jagd danach, „JHWH zu erkennen“ ( ידע ֶאּת־יְ הוָ הin Hos 6,3), nach Gutem ( טֹובin Ps 38,21) und nach Gerechtigkeit ( ְצ ָד ָקהin Spr 15,9; 21,21; Jes 51,5; Dtn 16,20). Wer Gerechtigkeit nachjagt, den liebt Gott (Spr 15,9). Die Jagd nach Gerechtigkeit führt zu „ ַחּיִ ים ְצ ָד ָקה וְ ָכבֹודLeben, Gerechtigkeit und Ansehen“ (Spr 21,21). In deuteronomistischer Konzeption werden als Ziel der Jagd nach Gerechtigkeit das Leben und die Gabe des Landes genannt: ֶ ֥צ ֶדק ֶצ ֶ֖דק ִּת ְר ּ֑ד ֹף ֹלהיָך נ ֵ ֹ֥תן ָ ֽלְך׃ ֖ ֶ הו֥ה ֱא ָ ְת־ה ָ֔א ֶרץ ֲא ֶׁשר־י ָ „ ְל ַ ֤מ ַען ִ ּֽת ְחיֶ ֙ה וְ יָ ַר ְׁש ָ ּ֣ת ֶאGerechtigkeit, Gerechtigkeit sollt ihr nachjagen, damit ihr lebt und das Land in Besitz nehmt, das JHWH, euer Gott, euch gibt.“ (Dtn 16,20). Wie in Ps 34 ist in Jes 51,1 die Suche nach JHWH die Jagd nach Gerechtigkeit: הו֑ה ָ ְׁשי י ֣ ֵ „ ִׁש ְמ ֥עּו ֵא ַל֛י ֥ר ֹ ְד ֵפי ֶצ ֶ֖דק ְמ ַב ְקHört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr nach JHWH sucht.“ (Jes 51,1). Deutlich erkennbar ist, dass Jagdmetaphorik im ethischen Kontext intentionales und willentliches Handeln beschreibt, das eine bewusste Entscheidung voraussetzt. Es steht nicht isoliert für sich, sondern in größeren Zusammenhängen, so dass soziale Wechselwirkungen und Konsequenzen zu erwarten sind. Der Mensch kann sich entscheiden, wonach er sein Streben richtet. Konzeptionell wird die Jagd nach dem Guten und nach Gerechtigkeit als Wille JHWHs und innerhalb der Beziehung von Gott und Mensch gesehen: Gott liebt den Menschen, der der Gerechtigkeit nachjagt (vgl. Spr 15,9). Das Streben nach Gerechtigkeit führt zu Leben im qualitativen Sinn (vgl. Dtn 16,20). Auch in Ps 34 wird mit „der schönen Wendung baqqeš šālôm werŏd pehû, in der – fast wie in den Kriegsschilderungen – durch die zwei Verben eine besondere Dynamik ausgedrückt […]. Nach dem Aufspüren, das in bqš impliziert ist, soll ein intensiver Akt der Bewegung folgen. Der šālôm ist als nie in seiner Fülle erreichter vorgestellt“510 bzw. ist eine ethische Größe, die der Orientierung und der Ausrichtung des Handelns dient. Das Streben ( )בקׁשnach Šalom ist ein aktives Tun des Menschen, der durch sein Verhalten an Šālom mitwirkt. Anders als im altorientalischen Kontext, wo die Jagdmetaphorik vor allem im Zusammenhang der Königsideologie die Aufgabe des Königs, das Böse abzuwehren, beschreibt und damit den möglichen Sieg des Guten über das Böse, die Abwendung des Chaos und die Herstellung der Ordnung, die heilvolles Leben ermöglicht,511 erscheint in Ps 34 die Jagd als allgemein menschliche Aufgabe und wird dort positiv umschrieben als Jagd nach Šalom. Heilvolles Leben zu ermöglichen und die Ordnung der Welt zu garantieren ist insofern allen Menschen aufgegeben.
510 Frevel 1993, 369. 511 Vgl. Koenen 2005.
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3.4.4.3 Ertrag für die Fragestellung Der Abschnitt V. 9–15 greift Aspekte der vorhergehenden Abschnitte auf, so das Konzept der יִ ְר ַאת יְ הוָ הals vertrauensvolle Ausrichtung des Lebens auf JHWH, die damit verbundene gemeinschaftskonstituiernde Dimension dieser Hinwendung zu JHWH und ein umfassendes Verständnis von Rettung und Heil. In den Vordergrund treten in diesem Abschnitt das menschliche Streben nach gelingendem Leben, die Vieldimensionalität von Gotteserfahrungen und Lebensfülle, das freiheitliche Moment des menschlichen Strebens und die Inszenierung als LehrLern-Situation. 3.4.4.3.1 Die Suche nach gelingendem Leben als anthropologisches Signum Die Seligpreisung zu Beginn des Abschnittes in V. 9b stellt die menschliche Suche nach gelingendem Leben, nach Glück und Segen als anthropologisches Signum ( ַהּגֶ ֶברin V. 9b) in den Vordergrund. Diese ist ausgehend von Psalm 34 nicht anders zu denken als im Rahmen der Gottesbeziehung, denn als umfassendes Gut wird JHWH selbst bestimmt (vgl. V. 9a). Insofern kann nur der glücklich gepriesen werden, der bei JHWH Zuflucht sucht und sich an ihm orientiert. Die Seligpreisung hat direktive Funktion und soziale Bedeutung: Sie lädt ein, das eigene Leben an JHWH auszurichten und sich der Gemeinschaft der JHWH-Verehrer anzuschließen, und sie verspricht Segen. Diese Segenszusage wird im Folgenden entfaltet: Wer sich JHWH anschließt, der werde keinen Mangel leiden (vgl. V. 10). ַמ ְחסֹורmeint dabei sowohl materielle Entbehrungen als auch praktische Orientierungslosigkeit. In Bezug auf das Darben und Hungern der Junglöwen (V. 11a), denen es an der Lebensgrundlage fehlt, ist ַמ ְחסֹורmateriell zu verstehen. Keinen Mangel zu haben, bedeutet dann abgesichert leben zu können. Segen bedeutet physisches Wohlergehen. Gleichzeitig verweist das Löwenbild auch auf die ethische Dimension von Mangel und Wohlergehen. Die herkömmliche metaphorische Verwendung ist hier in ihr Gegenteil verkehrt: Während sonst vor allem das frevlerische Verhalten der Feinde mit dem Bild des raubenden Löwen charakterisiert wird, zeigt das Löwenbild von Ps 34, wie sich schlussendlich Gerechtigkeit durchsetzt. JHWH-Treue führt zu gelingendem Leben, ethisch negativ zu qualifizierendes Verhalten wie das der Löwen läuft jedoch ins Leere. Die Hinwendung zu JHWH, der gut ist, bedeutet somit, dass kein Mangel im Hinblick auf göttliche Zuwendung und Rettung oder in Fragen ethischer Ausrichtung besteht. Wer JHWH sucht und sein Leben nach ihm ausrichtet, der entbehrt nicht des Guten (vgl. V. 11b.13b) und hat Leben (vgl. V. 13a) als heilvolles und erfülltes Leben. Leben gelingt so auch in ethischer Hinsicht, und der Mensch erfährt göttlichen Segen und Heil. Leben kann nur in der Beziehung zu JHWH glücken. Die Aussage, dass JHWH-Anhänger keinen Mangel leiden, hat durchaus auch appellativen Charakter: Dass kein Mangel besteht, ist Aufgabe der Menschen, die als JHWH-Fürchtige miteinander verbunden sind und in der Pflicht stehen, füreinander zu sorgen.
Auslegung
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3.4.4.3.2 Die Vieldimensionalität von Gotteserfahrungen und Lebensfülle Sowohl Gotteserfahrungen und Zugänge zum Göttlichen als auch gelingendes Leben und Lebensfülle sind nach Psalm 34 vielfältig zu bestimmen. Die Aufforderung ( ַט ֲעמּו ְּוראּוV. 9a) ist weder auf ein rein intellektuelles Erkennen noch auf eine reine Sinneserfahrung Gottes und seiner Güte zu verengen. Mit Hans W. Wolff kann nicht nur im Hinblick auf die Körper(teil)symbolik, sondern auch im Hinblick auf verbale Ausdrücke von „synthetischem Denken“ gesprochen werden. Die Bedeutung des Verbs טעםsollte nicht auf die sinnhafte Bedeutung „schmecken“ reduziert werden, sondern umgreift auch ein intellektuelles Erkennen und Verstehen. In dieser abstrakten Bedeutung bezieht sich ַט ֲעמּו ְּוראּו ִּכי־טֹוב יְ הוָ ה darauf, die in V. 5–8 angesprochenen Erfahrungen von Rettung und Heil als Gotteserfahrung zu verstehen. Die konkrete Bedeutung von טעםschließt an das Bild der Gottsuchenden an, denen es anders als den hungernden Löwen an nichts mangelt und die Gott schmecken. Die Güte Gottes zu verspüren ist auch eine sinnliche Erfahrung, insofern Lebensfülle auch konkret-materielles Wohlbefinden meint. Analog wird auch das menschliche Streben nach gelingendem Leben mit Lexemen bezeichnet, die vieldimensional sind. Nach Ps 34 strebt der Mensch nach ( ַחיִ יםV. 13a), ( טֹובV. 15a) und ( ָׁשלֹוםV. 15). ַחּיִ יםist mehr als physische Existenz; es ist göttliche Gabe und göttlicher Segen.512 Dass das Gelingen des Lebens auch in der menschlichen Verantwortung liegt, zeigen das weisheitliche Werben, das zu Leben „auf dem Pfad der Gerechtigkeit“ (Spr 12,28 u. ö.) aufruft, und die Rede vom „Weg des Lebens“ im altägyptischen Kontext. Mit ַחּיִ יםkönnen sowohl materielles Wohlergeben als auch die Lebensführung insgesamt gemeint sein. Die Rede von ַחּיִ יםin Ps 34 knüpft an dieses Verständnis von „Leben“ an, wenn der Psalm an die rhetorische Frage von V. 13 nach dem gelingenden Leben ethische Weisungen anschließt. Im Parallelismus entspricht die Suche nach gelingendem Leben dem Sehen des Guten ( ראה ֹטובin V. 13). Grund und Ursprung des Guten ist Gott selbst (V. 9). Das Gute erschöpft sich nicht in konkretem Wohlstand, sondern geht darüber hinaus. Der Wunsch, Gutes zu sehen, und die Aufforderung, vom Bösen zu weichen und das Gute zu tun (vgl. V. 15), entsprechen sich. Sie zielt nicht allein auf materielles Wohlergehen als Folge der guten Tat, sondern bezieht sich auch auf den ethischen Wert der Handlung selbst. Die Ausrichtung auf das Gute bildet somit die anthropologische Grundlage für das ethische Tun des Menschen. Die folgenden 512 „In ihrer ‚Lehre von den Gütern‘ ist diese Ethik tatsächlich erstaunlich realistisch. Sie stellt das Streben des Menschen nach Glück und Erfüllung nirgends unter Kritik, es sei denn in seinen Auswüchsen. Sie setzt es einfach als gegeben voraus. Dieses Verlangen nach Glück – aber wir sollten wohl zurückhaltender sagen: dieses Verlangen, zu überstehen und nicht zu scheitern und das Leben in einer heilsamen Ordnung geborgen zu wissen – ist den Menschen tief eingepflanzt und wird ohne weiteres bejaht. Ja, die Lehrer unterstützen es selbst, indem sie die Wege, die dahin führen, zeigen. […] Die Lehrer leiten den Menschen an, das zu gewinnen oder zu erhalten und nicht zu verspielen, was sie gern ‚das Leben‘ nennen, und das ist eben das Ganze aller Erfüllungen und Güter, die einem Menschen zuteil werden können.“ (Von Rad 2013, 86 mit Verweis auf Ps 34,13–14).
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Weisungen, die dazu dienen, das Gute zu erreichen, konkretisieren dabei, worin JHWH-Furcht besteht. Mit ( ָׁשלֹוםV. 15) fällt ein Schlüsselbegriff zum Verständnis des Psalms und seiner ethischen Intention. Er gehört in den Kontext der Vorstellung von einer von Gott der Welt eingestifteten gerechten Ordnung. ָׁשלֹוםist gleichzeitig göttliche Gabe und Inbegriff des Segens – auch in konkret-materieller Hinsicht (vgl. Ps 72,6–7). ָׁשלֹוםist nicht zu denken ohne ( ְצ ָד ָקהvgl. Ps 85,12) und resultiert aus gerechtem Handeln. Anders aber als in Ps 119 wird ָׁשלֹוםnicht an die göttliche Willensoffenbarung in der Tora geknüpft. Vielmehr wird der Mensch in Ps 34 zur Unterscheidung von Gut und Böse und damit auch zur Verwirklichung von ָׁשלֹוםaufgefordert (V. 15). Es ist Aufgabe des Menschen, ָׁשלֹוםzu suchen. Menschliches Handeln und göttlicher Segen entsprechen einander. 3.4.4.3.3 Menschliches Streben und Handeln in Freiheit und Verantwortung Im Abschnitt V. 9–15 wird mehrfach auf das intentionale Streben des Menschen verwiesen. Damit kommt er als freiheitliches Wesen in den Blick, das Verantwortung für sein Tun zu übernehmen hat und damit auch der Möglichkeit von Scheitern und Schuld ausgesetzt ist. Das betende Ich richtet sich mit Imperativen an sein Publikum. Es versucht auf diese Weise, Erkenntnis hervorzurufen (V. 9a), und wirbt für die Entscheidung, ein Leben in יִ ְר ַאת יְ הוָ הzu führen (V. 10a.12a). Diese Entscheidung kann nur vom Adressaten selbst in Freiheit gefällt werden. Die Angesprochenen sollen ihre Zunge und ihre Lippen hüten ( נצרin V. 14ab), haben also Verantwortung für ihre eigene ethische Integrität zu übernehmen. Der Aufruf, JHWH zu fürchten (V. 10a), wird mit der Anrede ְקד ָֹׁשיוzum Appell, an der Heiligkeit Gottes zu partizipieren bzw. ihr in den eigenen Handlungen gemäß des Konzeptes der imitatio dei zu entsprechen. Mit den Verben ( חפץV. 13a), בקׁשund ( רדףV. 15b) wird ganz grundsätzlich auf menschliches Begehren und Streben, auf die Gerichtetheit menschlichen Tuns referiert. Hierbei liegt in der menschlichen Entscheidung und damit Freiheit begründet, ob der Mensch wie die Frevler das Unglück anderer begehrt (vgl. חפץin Ps 40,15) oder ob er intendiert, den göttlichen Willen zu tun (vgl. חפץ in Ps 40,9), ob er dem Bösen (vgl. ָר ָעהin Spr 11,19) oder der Gerechtigkeit (vgl. רדף in Spr 15,9) nachjagt. Psalm 34 lehrt die Ausrichtung an JHWH (V. 13a) und das Streben nach ( ָׁשלֹוםV. 15b). Die Zugehörigkeit zu JHWH impliziert die Mitarbeit an der Verwirklichung von ָׁשלֹום. Für beides muss der Mensch sich entscheiden und mit Entschiedenheit einstehen. Die Warnung vor dem Bösen (V. 14a.15a) verweist auf die Tatsache, dass Menschen sich anders entscheiden, und damit auf menschliches Fehlverhalten.
Auslegung
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3.4.4.3.4 Ethisches Lernen und Lehren in seiner gemeinschaftlichen Dimension Zentral für Psalm 34 insgesamt ist die literarische Inszenierung eines Lehr-LernProzesses. Anders als in der Konzeption des Deuteronomiums, das Mose als den Lehrer Israels präsentiert, oder in anderen Psalmen, in denen JHWH selbst als göttlicher Lehrer agiert (z. B. Ps 25; Ps 119), belehrt in Ps 34 ein Mensch – von V. 1 her ist es David – die Gemeinde. Mit der Anrede ָּבנִ יםreklamiert er für sich Autorität; diese liegt in seiner eigenen Rettungserfahrung (V. 5) begründet. Hierbei wird deutlich, dass es nicht um eine theoretische Reflexion, sondern um lebenspraktische Unterweisung geht. Dabei können von Höreraufforderungen und Anrede, also der literarischen Inszenierung, keine geradlinigen Rückschlüsse auf die Verwendungssituation gezogen werden. Den Appellen des Sprechers wird durch die Inszenierung als Unterweisung und den Verweis auf den göttlichen Beistand, von dem er erzählt, Gewicht gegeben. Auf diese Weise wird die Frage nach dem richtigen Tun zu einer generationsübergreifenden und kollektiven Frage zur Verständigung über geteilte ethische Maßstäbe. Auch wenn also Gott als Letztinstanz des Handelns gesehen wird, muss diese Überzeugung zwischenmenschlich vermittelt werden. Menschliche Kommunikation und Verständigung sind konstitutiv für die ethische Orientierung. 3.4.4.3.5 Die ethische Relevanz für den Leser Die Welt des Textes von Psalm 34 nimmt den Leser bzw. Beter mit auf die Suche nach einem gelingenden Leben. Er wird hineingenommen in die rhetorische Frage, welcher Mensch Gutes sehen will, und ist so aufgefordert, die Verbindung von Glückssuche und der Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln zu reflektieren. Das betende Ich von Ps 34 bezeugt die Verbindung von gelingendem Leben und Gottesbeziehung. Für dieses ist das umfassende Gut Gott selbst. Mit der Lektüre von Ps 34 übernimmt der Leser diese Sicht auf die Welt und ist herausgefordert, ihr zuzustimmen. In biblischer Perspektive ist die Aufforderung, JHWH zu fürchten und so keinen Mangel zu leiden, auch appellativ zu verstehen. Mit der vertrauensvollen Übereignung an Gott geht auch eine ethische Verantwortung einher, zu der sich der Leser zu positionieren hat. Mit den Begriffen von JHWH-Furcht, ַחּיִ יםund ָׁשלֹוםwerden umfassende ethische Konzepte eingespielt, die sich in ihrer Komplexität nur einem Leser erschließen, der sie vor ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund zu verstehen sucht. Er steht vor der Herausforderung, sie mit eigenen ethischen Konzepten zu korrelieren. Dabei kennt die Welt des Textes auch Vorstellungen menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit, die mit gegenwärtigen Reflexionen zum ethischen Subjekt konvergieren. So setzen die Aufforderungen, vom Bösen zu weichen, das Gute zu tun und nach ָׁשלֹוםzu streben, die bewusste und freiheitliche Entscheidung für das Gute voraus. Das Gute zu sehen (V. 13) wird in Zusammenhang mit dem eigenen Tun gesehen und damit auch mit der menschlichen Verantwortung. Ps 34 verweist den Leser mit der Inszenierung als weisheitliche Unterweisung
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
auch auf die Bedeutung sozialer Räume und generationsübergreifender Settings für das ethische Lernen.
3.4.5 Zusammenhang von menschlichem Verhalten und Gottesnähe (Vers 16–23) 3.4.5.1 Vers 16–23: Auslegung auf der Ebene des Einzelpsalms ל־צ ִּד� ִ ֑יקים ַ ֵע ֵינ֣י ְי֭הוָ ה ֶא16a ע
Die Augen JHWHs (sind gerichtet) auf Gerechte, / ל־ׁשוְ ָע ָ ֽתם׃ ַ ְ ֜ו ָאזְ ָ֗ניו ֶא b und seine Ohren (sind gerichtet) auf ihren Hilferuf. ְּפ ֵנ֣י ְי֭הוָ ה ְּב ֣עֹ ֵׂשי ָ ֑רע17a פDas Angesicht JHWHs (ist gerichtet) gegen die, die Böses tun, / ְל ַה ְכ ִ ֖רית ֵמ ֶ ֣א ֶרץ זִ ְכ ָ ֽרם׃ b um ihr Gedenken von der Erde auszurotten. יהו֣ה ָׁש ֵ ֑מ ַע ָ ַו ָצ ֲע ֣קּו18a צSie haben geschrien, und JHWH hat sie gehört, / ילם׃ ֽ ָ רֹותם ִה ִּצ ָ֗ ל־צ ָ֜ ּומ ָּכ ִ b und aus all ihren Bedrängnissen hat er sie gerettet. י־ל֑ב ֵ ָק ֣רֹוב ְי֭הוָ ה ְלנִ ְׁש ְּב ֵר19a קNah ist JHWH den zerbrochenen Herzen, / יע׃ ַ יֹוׁש ֽ ִ ּוח ַ י־ר ֥ ת־ּד ְּכ ֵא ַ ְ ֽו ֶא b und die verzagten Geistes befreit er. ַ ֭רּבֹות ָר ֣עֹות ַצ ִ ּ֑דיק20a רMengen an Bösem (sind) einem Gerechten, / הוה׃ ֽ ָ ְילּנּו י ֥ ֶ ּו֜ ִמ ֻּכ ֗ ָּלם יַ ִּצ b aber JHWH rettet ihn aus ihnen allen. מֹותיו ֑ ָ ל־ע ְצ ַ ׁש ֵ ֹ֥מר ָּכ21a שEr bewahrt alle seine Knochen, / ַא ַ ֥חת ֵ֜מ ֵ֗הּנָ ה ֣ל ֹא נִ ְׁש ָ ּֽב ָרה׃ b nicht einer von ihnen soll zerbrochen werden. מֹותת ָר ָ ׁ֣שע ָר ָ ֑עה ֣ ֵ ְּת22a תDen Frevler tötet das Böse, / וְ ׂש ֹנְ ֵ ֖אי ַצ ִ ּ֣דיק יֶ ְא ָ ֽׁשמּו׃ b und die einen Gerechten hassen sind schuldig. ּפֹודה ְי֭הוָ ה ֶנ ֶ֣פׁש ֲע ָב ָ ֑דיו ֣ ֶ 23 a JHWH erlöst die Nefeš seiner Diener, / ל־הח ִ ֹ֥סים ּֽבֹו׃ ַ וְ ֥ל ֹא ֶ֜י ְא ְׁש ֗מּו ָ ּֽכ b und alle, die bei ihm Zuflucht suchen, sind nicht schuldig. Nach der Belehrung durch den Sprecher, der sich direkt an seine Adressaten richtet (V. 9–15), greift dieser nun zurück auf die Rettungsaussagen des zweiten Psalmteils (V. 5–8), fokussiert allerdings stärker auf die Frage nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen. Dabei problematisiert er diesen Zusammenhang insofern, als die Erfahrungen von bedrängten Gerechten in den Vordergrund gerückt werden (V. 16–23). Nach Manfred Oeming „begründen [die Verse], warum man sich um diese weisheitliche Ethik bemühen soll. Die Stimmung der Verse ist eine Mischung aus verhaltenem Optimismus, der damit rechnet, daß letztlich der Schrei
Auslegung
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nach Gerechtigkeit von Gott erhört und in die Wirklichkeit umgesetzt werden wird, und einem eher pessimistischen Realismus, der darum weiß, daß auch der Gerechte viel leiden muß.“513 Dieser Abschnitt ist durch Lexemwiederaufnahme eng mit V. 5–8 verknüpft. Erzählt wird von der Rettung und Befreiung der Gerechten aus Bedrängnissen (vgl. נצלhi. in V. 5b und V. 18b.20b; ישעhi. in V. 7b und 19b; רֹותם ָ ל־צ ָ ּומ ָּכ ִ in V. 7b.18b) und davon, dass JHWH auf ihren Hilferuf hört ( ׁשמעin V. 7a und V. 18a). Im Unterschied zum Rest des Psalms sind die V. 16a–17a vom Bild des göttlichen Körpers geprägt: Augen und Ohren JHWHs ( ֵעינֵ י יְ הוָ הin V. 16a; ָאזְ נָ יוin V. 16b) sind auf der Seite des Gerechten; sein Angesicht ist gegen den gerichtet, der Böses tut ( ָּפנִ יםin V. 17a). Die Constructus-Verbindungen mit JHWH als Nomen rectum sind jeweils 1. Syntagma der Nominalsätze. Insgesamt viermal ist JHWH auch an der Oberfläche realisiertes Subjekt (V. 18a.19a.20b.23a); mit grammatischem Morphem wird viermal auf ihn verwiesen, bzw. JHWH ist logisches Subjekt (V. 17a.18b.19b.21a).514 Nach der Unterweisung durch den Sprecher (V. 9–15) tritt nun also JHWH als Akteur in den Vordergrund, oder es werden Aussagen über „JHWH, seine Eigenschaften, sein Verhalten, sein ‚Charakter‘ als Person“515 gemacht. Der göttliche Blick auf Gerechte (V. 16a) entspricht dabei dem Schauen der Bedrängten auf JHWH (V. 6a). Die Erhörung der Hilferufe durch JHWH (V. 18a) ist wegen des Fehlens des Subjektes an der Satzoberfläche in der Fassung des MT nicht eindeutig auf die Rettung der Gerechten (V. 16a) zu beziehen.516 Letztgenanntes menschliches Agens sind „die, die Böses tun“ (V. 17a). Offen bleibt also, ob sich nicht auch Übeltäter an JHWH wenden und gerettet werden können. V. 20a hingegen expliziert in die eine Richtung: Die vom Bösen bedrohten Gerechten werden von JHWH gerettet. V. 23b lässt wieder beide Möglichkeiten offen: Alle bei JHWH Zufluchtsuchenden sind bei ihm nicht schuldig. Dieser Abschnitt wird dominiert von der Gegenüberstellung von Gerechten und Frevlern, die mit vielfältigen Begriffen bezeichnet werden („ ַצ ִּדקיִ םGerechte“; י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochene Herzen“ in V. 19a; י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאdie verzagten Geistes“ in V. 19b und „ ֲע ָב ִדיםDiener“ in V. 23a in Gegenüberstellung zu „ ע ֵֹׂשי ָרעBöses Tuenden“ in V. 17a; „ ָר ָׁשעFrevler“ in V. 22a und „ ׂש ֹנְ ֵאי ַצ ִּדקeinen Gerechten Hassende“ in V. 22b). Die letztgenannte Constructus-Verbindung ׂש ֹנְ ֵאי ַצ ִּדקverdeutlicht mit dem 513 Oeming 2000, 198. 514 Im Vergleich dazu: Im dritten und vierten Abschnitt des Psalms (V. 5–8.9–15) ist JHWH nur jeweils einmal realisiertes Subjekt; im dritten Abschnitt (V. 5–8) wird dreimal mit grammatischem Morphem auf ihn verwiesen; einmal ist der Bote JHWHs Agens. 515 Seybold 1996, 142. 516 Vgl. Craigie 1983, 277.281: „The syntax is ambivalent with respect to the subject of the verb. G, S, and Tg add the equivalent of ‚ צדיקיםrighteous ones‘ (cf. v 16), which is certainly correct in terms of sense, but probably an unnecessary addition to MT. It is possible that vv 16 and 17 have been inverted, thus creating the syntactical ambiguity. […] It is possible, however, that the antecedent is the evildoers of v 17, who are here depicted as repenting and receiving deliverance from God in time of trouble.“
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Partizip von „ ׂשנאhassen“, dass die die Frevler den Gerechten feindlich gegenüberstehen. Mit dem Blick auf י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרdie zerbrochene Herzen“ (V. 19a) und י־רּוה ַ „ ַּד ְּכ ֵאVerzagte an Geist“ (V. 19b) ist ein Rückverweis auf das Wortfeld ֲענָ וִ ים „Arme“ (V. 3b; 7a) gegeben. Mit den Lexemen ( ֵלבV. 19a) und רּוח ַ (V. 19b) kommt mittels Körperteilsymbolik die umfassende Beeinträchtigung der Menschen zur Sprache. Bei der Gegenüberstellung der beiden Gruppen entfalten die V. 18–21 die erste Aussage von V. 16. Die Verse 22–23 stellen abschließend das Schicksal von Frevler und Gerechten, Schuld und Nichtschuld ( אׁשםin V. 22b; לֹא אׁשםin V. 23b) in umgekehrter Reihenfolge zu V. 16–17 gegenüber, so dass der Psalm mit einem positiven Ausblick auf Erlösung endet. Im Fokus dieser Gegenüberstellung zweier ethisch bewerteter Gruppen steht das Böse ( ָרעin V. 17a.20a.22a) in seinem Verhältnis zum Gerechten und zum Frevler: Die einen tun das Böse ( ע ֵֹׂשי ָרעin V. 17a); die Gerechten und die Frevler werden von ihm bedroht (im Wortspiel ַרּבֹות ָרעֹותV. 20a und ָר ָעהin V. 22a). JHWH rettet die Gerechten aus Mengen an Bösem ( ִמ ֻּכ ָלםin V. 20a); die Frevler hingegen werden vom Bösen (Sg.) getötet (מֹותת ָר ָעה ֵ ְּתin V. 22a).517 Während JHWH denen nah ist, die zerbrochenen Herzens sind ( ׁשברin V. 19a), sollen die Knochen der Gerechten nicht zerbrochen werden ( ׁשברin V. 22a). Mit dieser scharfen Kontrastierung in pädagogischer Absicht wird die Handlungsaufforderung, das Böse zu meiden (V. 14a.15a), weitergeführt, und es werden die Wirkungen des Bösen beschrieben. Zu untersuchen ist, welche Bedeutung die Rede vom göttlichen Körper in diesem Zusammenhang hat, in welchem Verhältnis die genannten Gruppen zueinander und zu Gott stehen, welche Implikationen und semantischen Inhalte mit den jeweiligen Bezeichnungen verbunden sind und wie sich diese in die Vorstellung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang fügen. Zu fragen ist u. a. nach der Bedeutung des Verbs ( אׁשםV. 22b.23b). Insbesondere V. 23, der nach Klaus Seybold „den Gedanken nach[trägt], daß jenes in 22 ausgesprochene Strafgericht für die Gläubigen nicht gilt, auch wenn es so scheinen sollte (vgl. 20). Sie dürfen auf Auslösung und Befreiung ihres Lebens hoffen.“518, entzieht sich einer einfachen Interpretation. Daher bedürfen die indirekte Problematisierung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs durch Ps 34 und die Frage des Verhältnisses des Frevlers zu Gott weiterer Untersuchung.
517 Nach Seybold 1996, 142–143 handelt es sich hierbei um Zukunftsaussagen und eine Zukunftshoffnung. Mit Hossfeld/Zenger 1993, 214 ist jedoch eher an die Darstellung der „grundlegende[n] Geschichts- und Weltordnung“ zu denken. Dass eine eschatologische Lektüre jedoch im Psalm angelegt ist, zeigt die Version der LXX: In V. 19–23 werden die jiqtol-Formen (V. 19b.20b.22b), eine qatal-Form (V. 21b) und ein Partizip (V. 23a) des hebräischen Textes im Griechischen mit Ind. Futur bzw. Konj. Aorist (V. 23b) wiedergegeben. 518 Seybold 1996, 143.
Auslegung
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3.4.5.2 Vers 16–23: Literarische Kontexte 3.4.5.2.1 JHWHs Körper (V. 16–17): Spiegel des ethischen Tuns des Menschen Nach den ethischen Forderungen durch das betende Ich und seiner Unterweisung wird im letzten großen Abschnitt von Ps 34 (V. 16–23) der Blick auf JHWH und sein Handeln am Menschen gerichtet. Während bislang Körperteilsymbolik in Bezug auf den Menschen und sein Handeln (V. 14) gebraucht wurde, wird diese nun für JHWH verwendet. Auch bislang fanden sich anthropomorphe Aussagen über JHWH: Er hat dem Ich geantwortet ( ענהin V. 5a); er hat gehört ( ׁשמעin V. 7a), hat also Stimme und Ohren. Abstrakter, aber trotzdem noch anthropomorph war von der Rettung und Befreiung durch JHWH die Rede (räumlich-metaphorisch נצלhi. „herausreißen“ in V. 5b; abstrakter יׁשעhi. „retten/helfen“ in V. 7b). In V. 16 und 17 wird auf Augen () ַעיִ ן, Ohren ( )אֹזֶ ןund Angesicht ( ) ָּפנִ יםJHWHs rekurriert. Im Folgenden soll der Forschungsstand zu Anthropomorphismen in Bezug auf die Gottesvorstellung kurz referiert werden, bevor Gebrauch und Funktion der Anthropomorphismen in Ps 34 untersucht werden. Dies erfolgt auch im Zusammenhang der Frage nach dem Gottesverhältnis der beiden Gruppen von Gerechten und Frevlern. 1. Anthropomorphismen in Bezug auf die Gottesvorstellung JHWH erscheint in biblischen Texten personal und gestalthaft. In den letzten Jahren wurde vermehrt darauf verwiesen,519 dass sich Vorstellungen vom Menschen und vom Körper, also Körperkonzepte, diachron und synchron kulturbedingt unterscheiden und verändern und dass in Bezug auf das Bildverständnis auch den sich unterscheidenden Vorstellungen vom Sehen Rechnung getragen werden muss. Dementsprechend müssen auch biblische Anthropomorphismen in Bezug auf die Gottesvorstellung von ihrem Entstehungskontext her verstanden werden.520 „Anthropomorphismus ist im Alten Orient funktional. Er gehört zum Zeichensystem, das vom kulturellen Verständnis geprägt ist. Anthropomorphismus ist eine Strategie der Interaktion zwischen Gott und Mensch. Er garantiert die Handlungsfähigkeit der Götter“521. Gottes Weltverhältnis wird also mit Anthropomorphismen zur Sprache gebracht. Sie sind relational und funktional zu ver-
519 Vgl. Janowski 42013, 2–6; Wagner 2010, 16–19, jeweils mit Literatur. 520 Nachbiblisch werden diese Anthropomorphismen zum theologischen Problem. Betont wird die Gefahr, die Rede von der Menschengestaltigkeit Gottes bedrohe seine Aseität (einen knappen Überblick bietet Wagner 2010, 41–51). So galten die anthropormorphistischen Anschauungen auch bei Exegeten lange Zeit als naiv und primitiv, als religionsgeschichtlich zu überwindendes Phänomen (vgl. Wagner 2010, 46 mit Bezug auf Friedrich Delitzsch, Ernst Sellin, Walther Eichrodt). 521 Nunn 2014, 59.
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stehen.522 Insbesondere „durch die Übernahme zweier signifikanter personanzeigender ‚Chiffren‘ in die Offenbarungssprache: Jahwe hat ein ‚Angesicht‘ und ein ‚Herz‘“523 wird die Vorstellung der Personalität Gottes zum Ausdruck gebracht, die Grundlage für jede Beziehung von Gott, Welt und Mensch ist. In Bezug auf den „Körper Gottes“ werden biblisch „vorzugsweise Gottes Gesicht und die zu diesem gehörigen Körperteile: ( ָּפנִ ים, 598 Belege), Nase ( ַאף, 162 Belege), Auge ( ַעיִ ן, 123 Belege), Mund ( ֶּפה, 57 Belege) und Ohr (אֹזֶ ן, 28 Belege); außerdem Gottes Hand (יָ ד, 218 Belege), Arm (רֹוע ַ ְז, 42 Belege und rechte Hand (יָמין ִ , 34 Belege)“524 erwähnt. „Bei den am häufigsten im anthropomorphen Sprachbild verwendeten Körperteilen Gottes handelt es sich […] um diejenigen Körperteile, die auf dem Hintergrund der synthetischen Körperteilauffassung des AT dem Ausdruck der Kommunikation (Gott steht in enger Verbindung mit uns, kann mit uns in Verbindung treten wie wir mit ihm) und der Handlung (Gott handelt an und für uns) dienen. […] Gott ist gegenüber dem Menschen ein Macht ausübender und ein (in der Welt) handelnder Gott, ein Gott, der kommunikationsfähig ist wie ein Mensch, der daher als ‚Kommunikationspartner‘ des Menschen erscheint. Beide Charakteristika zeigen: der alttestamentliche Gott ist kein ferner, weltabgewandter Gott, sondern ein mit dem Menschen kommunizierender und in der Welt handelnder Gott.“525 2. „ ֵעינַ יִ םAugen“, „ ָאזְ נַ יִ םOhren“ und „ ָּפנִ יםAngesicht“ JHWHs: Anthropomorphismen in Ps 34
Für Ps 34 bleibt also zu fragen, welche Aussagen im Zusammenhang einer synthetischen Körperteilauffassung über das Gott-Mensch-Verhältnis im Kontext ethischer Fragestellungen zum Ausdruck kommen. Alle drei Aussagen (V. 16a.b; 17a) sind als Nominalsätze formuliert. Das determinierte Satzglied besteht jeweils entweder aus einer CsV mit einem Körperteil als Nomen regens und JHWH als Nomen rectum ( ֵעינֵ י יְ הוָ הund ְּפנֵ י יְ הוָ הin V. 16a.17a), oder das Körperteil wird mit ePP JHWH zugeordnet ( ָאזְ נָ יוin V. 16b). Substantiv der Präpositionalverbindung, die das zweite Satzglied der Nominalsätze in V. 16a bildet, ist das Substantiv יקים ִ „ ַצ ִּדGerechte“ (V. 16a). Mit ePP wird im folgenden Halbvers auf יקים ִ „ ַצ ִּדGerechte“ Bezug genommen (V. 16b). In V. 17a besteht die Präpositionalverbindung aus einem substantivierten Partizip als Nomen regens und einem substantivierten Adjektiv als Nomen rectum der CsV. Gegenläufige Wertungen entstehen durch die Semantik des Substantives יקים ִ „ ַצ ִּדGerechte“ und 522 Vgl. Kaiser 1998, 313–316. 523 Deissler 2006, 58. 524 Maier 2014, 174. 525 Wagner 2010, 156. Wagner ordnet die Körperteile des Gesichtes (Auge, Ohr, Nase, Mund) der „Kommunikation“ zu; Kopf und Kehle gelten ihm als „Kommunikationsvoraussetzungen“; Arm, Hand, Rechte, Fuß bringen den Aspekt von „Macht“ und „Handlung“ zum Ausdruck (vgl. Wagner 2010, 154–155).
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Auslegung
der CsV „ ע ֵֹׂשי ָרעBöses Tuende“. Die Haltung JHWHs gegenüber diesen beiden Gruppen wird mit den Präpositionen ֶאלund ְּבausgedrückt. Die Übersicht zeigt die grammatische Struktur: Präpositional verbindung ( ֶאל+ Gerechte bzw. Verweis mit ePP) 16a
יקים ִ ל־צ ִּד ַ ֶא
16b
ל־ׁשוְ ָע ָתם ַ ֶא
determiniertes Satzglied (CsV mit JHWH als Nomen rectum bzw. Verweis mit ePP)
Präpositionalverbindung ( ְּב+ Böses Tuende)
ֵעינֵ י יְ הוָ ה17a
positiv gewertete göttliche Hin wendung
ְּבע ֵֹׂשי ָרע
determiniertes Satzglied (CsV mit JHWH als Nomen rectum) ְּפנֵ י יְ הוָ ה
וְ ָאזְ נָ יו
strafende göttliche Hinwendung
Im Folgenden soll die Semantik der drei Substantive, die die Körperteile JHWHs benennen, im Kontext anderer Psalmen und weisheitlicher Texte untersucht und nach deren Implikation für ethische Zusammenhänge gefragt werden. (1) „ ֵעינַ יִ םAugen“ sind Organe der Wahrnehmung und der Erkenntnis, ermöglichen Beziehung und dienen der Kommunikation. Die „Augen JHWHs“ erscheinen im Psalter vor allem in der Funktion, ethisches Verhalten zu prüfen. So wird zwar in Psalm 11 den Augen neutral „ חזהschauen“ zugeordnet, aber parallel erscheinen „ ַע ְפ ַע ַּפיִ םWimpern“526, die „ בחןprüfen“: הו֤ה׀ ְ ּֽב ֵ֘ה ַיכ֤ל ָק ְד ׁ֗שֹו ָ ְ י4 JHWH ist im Tempel seiner Heiligkeit; יְ הוָ ֮ה ַּב ָּׁש ַ ֪מיִ ם ִּ֫כ ְס ֥אֹו ֵע ָינ֥יו יֶ ֱחז֑ ּו JHWH, in den Himmeln ist sein Thron. ַע ְפ ַע ָ ּ֥פיו ִי ְ֜ב ֲחנ֗ ּו ְּב ֵנ֣י ָא ָ ֽדם׃ Seine Augen schauen, seine Wimpern prüfen die Kinder des Menschen. יְ הוָ ֮ה ַצ ִ ּ֪דיק ִי ְ֫ב ָ ֥חן ְו ָ֭ר ָׁשע וְ א ֵ ֹ֣הב ָח ָ ֑מס5 JHWH, den Gerechten prüft er; ָ ֽׂשנְ ָ ֥אה נַ ְפ ֽׁשֹו׃ aber den Frevler und den, der Gewalt liebt, hasst seine Nefeš. (Ps 11,4–5)
Der prüfende Blick führt zu einem unterschiedlichen Verhalten JHWHs gegenüber dem Gerechten und dem Frevler. Beide Gruppen unterscheiden sich also nicht nur in ihrem ethischen Tun, sondern auch in der Beziehung, die JHWH zu ihnen unterhält. Die Art der göttlichen Beziehung liegt wiederum im menschlichen Handeln begründet. Auch in Ps 18 gilt das ethische Tun des Ichs „ ְלנֶ גֶ ד ֵעינָ יוvor seinen Augen“ als Grundlage für JHWHs Handeln am betenden Ich: �ְקי ְּכ ֥בֹר ָ֜י ַ ֗די ְל ֶנ�֣גֶ ד ֑ ִ הו֣ה ִ ֣לי ְכ ִצד ָ ְוַ ָּי ֶֽׁשב־י „ ֵע ָינֽיו׃Und JHWH vergolt mir entsprechend meiner Gerechtigkeit; entsprechend 526 Die Bedeutung ist nicht gesichert, vgl. Ges18, 995.
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der Reinheit meiner Hände vor seinen Augen.“ (Ps 18,25). Im Sprüchebuch wird das Ziel des prüfenden Schauens JHWHs mit dem Merismus Böses und Gutes beschrieben: וטֹובים׃ ִֽ הו֑ה ֜צֹ ֗פֹות ָר ִ ֥עים ָ ְל־מקֹום ֵע ֵינ֣י י ֭ ָ „ ְ ּֽב ָכAn jedem Ort sind die Augen JHWHs, sie spähen nach Bösem und Gutem.“ (Spr 15,3). Alle ethischen Handlungen des Menschen werden von Gott beobachtet. In der Regel wird nur bei menschlichem Agens die Blickrichtung mit ֶאל benannt. Die Augen des Ichs sind auf JHWH gerichtet, z. B. im ersten Versteil von Ps 25,15: הו֑ה ָ ְ„ ֵע ַינ֣י ָ ּ֭ת ִמיד ֶאל־יMeine Augen sind beständig auf JHWH gerichtet.“ (Ps 25,15; vgl. auch Ps 123,1.2.; 141,8; 145,15). Dadurch kommt dessen Hoffnung auf göttliche Hilfe, Orientierung oder Versorgung zum Ausdruck, so im zweiten Teil des Verses: ּוא־יֹוציא ֵמ ֶ ֣ר ֶׁשת ַרגְ ָ ֽלי׃ ִ֖ „ ִ ּ֤כי ֽהDenn er wird meine Füße aus dem Netz herausführen.“ (Ps 25,15). Nur einmal wird in Psalm 33 in der syntaktischen Konstruktion mit ֶאלdie Blickrichtung JHWHs angezeigt, der sich den Menschen zuwendet. Die Intention seines Blicks auf die, die sich an ihm orientieren und auf ihn hoffen, ist deren Schutz und Rettung. Notlage und JHWH-Furcht werden mit dem Auge wahrgenommen. Die Wahrnehmung führt zur Handlung Gottes zugunsten der von ihm Gesehenen: ִה ֵּנ֤ה ֵע֣ין ְי֭הוָ ה ֶאל־יְ ֵר ָ ֑איו18 Siehe, das Auge JHWHs ist auf die gerichtet, die ihn fürchten, ַ ֽל ְמיַ ֲח ִ ֥לים ְל ַח ְס ּֽדֹו׃ auf die, die auf seine Gnade harren, ְל ַה ִ ּ֣ציל ִמ ָ ּ֣מוֶ ת נַ ְפ ָ ׁ֑שם19 um ihre Nefeš aus dem Tod zu retten ּיֹותם ָּב ָר ָ ֽעב׃ ָ֗ ּו֜ ְל ַח und um sie in der Hungersnot am Leben zu erhalten. (Ps 33,18–19)
Auch Elihu formuliert in Ijob 36 die Überzeugung, dass der göttliche Blick auf den Gerechten ruht, der zu ihrer Erhöhung führt, während die Frevler nicht von Gott unterstützt werden: ן־אל ַ ּ֭כ ִּביר וְ ֣ל ֹא יִ ְמ ָ ֑אס ֣ ֵ ֶה5 Siehe, Gott ist gewaltig, aber er verwirft nicht, ַּ֜כ ִּ֗ביר ּ֣כֹ ַ ֽח ֵלֽב׃ (er ist) gewaltig an Kraft des Herzens. לֹא־יְ ַח ֶּי֥ה ָר ָ ׁ֑שע6 Den Frevler erhält er nicht am Leben, ּומ ְׁש ַ ּ֖פט ֲענִ ִּי֣ים יִ ֵ ּֽתן׃ ִ aber er gibt Recht für Arme. ֽל ֹא־יִ גְ ַ ֥רע ִמ ַּצ ִ ּ֗דיק ֵ֫ע ָינ֥יו7 Vom Gerechten wendet er nicht seine Augen, ת־מ ָל ִ ֥כים ַל ִּכ ֵ ּ֑סא ְ וְ ֶא und mit Königen auf dem Thron, יבם ֜ ָל ֶ֗נ ַצח וַ ּיִ גְ ָ ּֽבהּו׃ ֥ ֵ וַ ּי ִֹׁש da lässt er sie sitzen ewiglich, und sie sind erhaben. (Ijob 36,5–7)
Diese Aspekte, Wahrnehmung und Prüfen der ethischen Integrität derer, auf die das Auge JHWHs gerichtet ist, mit dem Ziel, rettend für sie einzuschreiten, stehen auch im Hintergrund der Formulierung von Ps 34. Auch hier sind die Augen JHWHs auf Gerechte gerichtet. Die Kontaktaufnahme, die Kommunikation von Gott und Mensch, steht im Kontext der Frage danach, wie Menschen handeln.
Auslegung
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Ihre Orientierung an Gerechtigkeit führt zur Hinwendung Gottes zu ihnen, die ein rettendes Eingreifen erwarten lässt. (2) Dass dieses notwendig ist, entfaltet der zweite Versteil: JHWHs „ ָאזְ נַ יִ םOhren“ sind gerichtet auf den Hilferuf der Gerechten, auf die mit ePP verwiesen wird. Immer wieder findet sich in den Psalmen die Bitte an JHWH, sein Ohr zu neigen: ט־אזְ נְ ָך ִלי ָ „ ַהNeige dein Ohr zu mir!“ (Ps 17,6; vgl. Ps 31,3; 71,2; 86,1; 88,3; vgl. auch im Rückblick Ps 130,2 und öfter in verbaler Formulierung, z. B. ַה ֲאזִ ינָ ה in Ps 5,2 u. ö.). Mit der Präposition ֶאלwird in Ps 31,3 die Ausrichtung der göttlichen Ohren zum Ich bezeichnet (vgl. auch Ps 71,2; 102,3). Sehr häufig erscheint die Bitte im Kontext der Bitte um Rettung. Auch ist die Rede davon, dass Hilferufe des Bedrängten an JHWHs Ohren dringen und schließlich Rettung bringen (vgl. Ps 18,7.18). In Psalm 10 wird hervorgehoben, dass JHWH die Bedrängten hört, und darum gebeten, dass er sein Ohr aufmerken lässt, was als Bedingung für sein rettendes und Recht und Gerechtigkeit schaffendes Handeln gilt. הו֑ה ָ ְ ַּת ֲא ַ ֬ות ֲענָ ִו֣ים ָׁש ַ ֣מ ְע ָּת י17 Das Begehren der Armen hast Du gehört, JHWH. ָּת ִ ֥כין ֜ ִל ָּ֗בם ַּת ְק ִ ׁ֥שיב ָאזְ ֶנ�ָֽך׃ Du machst ihr Herz fest, und Du neigst dein Ohr, יָתֹום ָ ֫ו ָ ֥דְך ֗ ִל ְׁש ֥ ֹּפט18 um dem Waisen und dem Bedrückten Recht zu schaffen, ל־יֹוסיף ֑עֹוד ֥ ִ ַּב dass kein Mensch ן־ה ָ ֽא ֶרץ׃ ָ ַל ֲע ֥ר ֹץ ֱ֜אנ֗ ֹוׁש ִמ von der Erde sich mehr fürchtet.527 (Ps 10,17–18)
Das betende Ich bittet für die Armen, die Waise und den Unterdrückten. Die Zuwendung des Ohres dient der Herstellung von Gerechtigkeit, die die sozial niedrig gestellten Gruppen nicht erfahren, denen aber gleichzeitig ethische Integrität zugeschrieben wird. Die Rede vom Ohr bzw. den Ohren JHWHs erscheint also immer im Zusammenhang der Rettungsbedürftigkeit des Menschen. Diese wird von Gott wahrgenommen. Sein rettendes Handeln am Menschen in dessen Notsituation wird als göttliche Reaktion verkündet und bezeugt. (3) Nach Ps 34 sind Augen und Ohren JHWHs auf Gerechte gerichtet, das ָּפנִ ים „Angesicht“ jedoch gegen die, die ethisch verwerflich handeln. Während es also einzelne Organe sind, an denen die Aufmerksamkeit und die Beziehungsaufnahme JHWHs und damit Hilfe und Rettung auf der einen Seite erkennbar ist, drückt die prüfende Zuwendung des Angesichts, das „Kommunikationsvoraussetzung“528 ist, die umfassende Prüfung der Übeltäter aus.
527 Entweder „dass kein Mensch von der Erde mehr Schrecken verbreitet“ oder „dass kein Mensch von der Erde sich mehr fürchtet“ (vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 85). Der Zusammenhang des Psalms legt die zweite Übersetzung nahe. 528 Wagner 2010, 154.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Das Bedeutungsspektrum von ָּפנִ יםist groß und reicht von „Gesicht, Antlitz“ über „Vorderseite“, „Gegenwart“, „Aussehen“ bis zu den Belegen, wo das Substantiv so weit desemantisiert ist, dass es wie eine Präposition räumliche oder zeitliche Verhältnisse bestimmt.529 „Im ‚Angesicht‘ als den pānîm, den ‚Hinwendungen‘ des Menschen sind seine Kommunikationsorgane versammelt, unter denen Augen, Mund und Ohren die wichtigsten sind“530. Angesicht erscheint „immer pluralisch pānîm […] [und erinnert] damit an die vielfältige Zuwendung (pnh) des Menschen zu seinem Gegenüber“531. Analoges gilt für das Angesicht Gottes. Gott wendet dem Menschen sein Angesicht zu, um ihn zu prüfen. Diese prüfende Hinwendung hat für Gerechte und Frevler unterschiedliche Folgen: Die Rede von „Gottes Angesicht“ kann entweder „die gnadenvolle göttliche Zuwendung“532 zum Ausdruck bringen, oder „der zornige Blick der Gottheit [führt] zum Verderben“533. Wie Gott auf den Menschen blickt, ist also Ausdruck seiner Gerechtigkeit. Exemplarisch für die positiven Folgen sei hier der Ausdruck את ֶ /על ַ / אֹור ָּפנִ ים ֶאלhi. „das Angesicht leuchten lassen über“ (z. B. Num 6,25; Ps 31,17; 67,2 u. ö.) genannt, der auch „in unmittelbarer Verbindung mit Befreien und Retten (nṣl/jšʿ)“534 steht. An negativen Formulierungen findet sich סתר ָּפנִ יםhi. „das Angesicht verbergen“ (Ps 10,11; 13,2; 22,25; 27,9 u. ö.), womit der radikale Beziehungsabbruch von Gott und Mensch zum Ausdruck gebracht wird, „ נתן ָּפנִ ים ְּבdas Gesicht gegen jd. richten“ (z. B. Lev 17,10; 20,3.6) oder synonym ( ׂשים ָּפנִ ים ְּבz. B. Lev 20,5; Ez 15,7), was besagt, „daß JHWH den Entschluß gefaßt hat, zu bestrafen“535. Dass in diesen Fällen die Handlung Gottes gegen das Gegenüber und zu dessen Nachteil gerichtet ist, liegt in der Semantik der Präposition ְּבbegründet536. Das Beispiel des Nominalsatzes mit ָּפנִ יםvon Ps 34,17a ist syntaktisch einzigartig. 529 Vgl. Ges18, 1060–1063. Adam S. van der Woude zählt 400 Belege in „ursprünglicher Bedeutung“, davon knapp die Hälfte in Zusammenhang mit Menschen (und Tieren) und drei Zehntel in Bezug auf Gott (vgl. Van der Woude 62004, 435). 530 Wolff 2010, 122. 531 Wolff 2010, 122. 532 Van der Woude 62004, 449. 533 Van der Woude 62004, 450. 534 Simian-Yofre 1989, 640. 535 Simian-Yofre 1989, 644. Die negativen Folgen für den, gegen den das Gesicht JHWHs gerichtet ist, werden explizit bei Jeremia genannt, wenn JHWH die Vernichtung Jerusalems durch die Babylonier ankündigt: טֹובה ֖ ָ „ ִ ּ֣כי ַ ׂ֣ש ְמ ִּתי ֠ ָפנַ י ָּב ֙ ִעיר ַה ּ֧ז ֹאת ְל ָר ָ ֛עה וְ ֥ל ֹא ְלDenn ich habe gerichtet mein Angesicht gegen diese Stadt zum Bösen und nicht zum Guten.“ (Jer 21,10). 536 Jenni 1992, 248 ordnet die Wendung dem „geistigen Kontakt“, genauer der „interessierten Wahrnehmung“ zu. Dass die Präposition ְבhier eine negative Einstellung zu etwas ausdrückt, berücksichtigt er nicht weiter. Friedrich Nötscher unterscheidet in seiner Untersuchung „Das Angesicht Gottes schauen“ 1969 zwischen dem gnädigen und dem Zornesblick Gottes. Er führt Ps 34,16–17 als Beispiel für die „hilfreiche Gnade“ (Nötscher 1969, 127), die der Blick Gottes bezeichnet, an. Die positive Hinwendung werde mit ֶאלkonstruiert, der feindliche bzw. Zornesblick Gottes stehe mit der Präposition ְב. Dieser syntaktischen Beobachtung ist durchaus zuzustimmen. Allerdings ist der Unterschied der Gesinnung, die mit beiden Wendungen zum Ausdruck gebracht wird, mit „Gnade“ ( ) ֶאלund „Zorn“ ( ) ְבGottes unzureichend bestimmt. Die Eigenart des göttlichen Blickes gründet in der göttlichen Gerechtigkeit gegenüber dem menschlichen Handeln.
Auslegung
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Vergleichbar ist nur eine Konstruktion mit ַעיִ ןin einer Rede Ijobs in Ijob 7 zu nennen. Sie steht im Kontext der Klage Ijobs über Elend und Mühe des menschlichen Lebens (vgl. Ijob 7,1–6). Ab V. 7 ändert sich die Sprechrichtung: ּוח ַח ָּי֑י ַ י־ר ֣ ְ ֭זכֹר ִּכ7 Bedenke, dass mein Leben ein Hauch ist. א־ת ׁ֥שּוב ֵ֜ע ִ֗יני ִל ְר ֥אֹות ֽטֹוב׃ ָ ֹל Mein Auge wird nichts Gutes mehr sehen. ׁשּורנִ י ֵע֣ין ֑ר ֹ ִאי ֵ א־ת ֭ ְ ֹ ֽל8 Das Auge dessen, der mich sieht, nimmt mich nicht wahr; ֵע ֶינ֖יָך ִ ּ֣בי וְ ֵא ֶינּֽנִ י׃ sind deine Augen gegen mich, bin ich nicht. (Ijob 7,7–8)
Der Adressat wird nicht explizit genannt; vom Kontext her legt sich eine Anrede Gottes nahe.537 Beide Verse werden dominiert vom Motiv des „Sehens“ und des „Auges“. Während der erste Vers die Flüchtigkeit und Trostlosigkeit des Lebens beschreibt, kommen im zweiten Vers Beziehungslosigkeit, Einsamkeit und Kommunikationsabbruch zum Ausdruck. Dies erfährt im zweiten Versteil noch eine Steigerung: Ist der Blick Gottes gegen den Menschen gerichtet, bedeutet dies das Ende seiner Existenz. Die Abwendung Gottes wird wie in Ps 34,17 mit der Fügung von der Präposition ְּבmit ePP ausgedrückt. In Ps 34 stehen diese Aussagen nicht wie bei Ijob im Kontext einer allgemeinen Vergänglichkeitsklage, sondern im Zusammenhang von ethischem Tun und Ergehen des Menschen. Mit dem Nominalsatz in Ps 34,17 wird die Frontstellung JHWHs gegen den ethisch verwerflich Handelnden im Unterschied zu seiner Haltung den Gerechten gegenüber ausgesagt. Die Folgen für die Übeltäter werden mit dem angeschlossenen Inf. cs. benannt: „ ְל ַה ְכ ִרית ֵמ ֶא ֶרץ זִ ְכ ָרםum auszurotten von der Erde ihr Gedenken“. Von der Überlegung, eine „Übersetzung wie ‚Zorn‘ für Texte wie Ps 9,4; 34,17; 80,17; Koh 8,1; Klgl 4,16 und den erwähnten Ps 21,10 […] kann in einem konkreten Fall angebracht sein“538, ist Abstand zu nehmen. Eine Übersetzung von ָּפנִ ים mit „Zorn“ würde einseitig die (irrationale) emotionale Gestimmtheit Gottes hervorheben und verdecken, dass die göttliche Reaktion begründete Konsequenz des ethischen Tuns des Menschen ist. Die räumliche Entfremdung und der relationale Aspekt, der gerade durch die anthropomorphe Redeweise deutlich wird, gingen verloren. Auch die Gegenüberstellung des Verhältnisses von Gott und Gerechten bzw. Gott und Übeltätern, die jeweils durch Körperteilsymbolik vorgenommen wird, würde verdeckt. Abschließend lässt sich festhalten: Die Anthropomorphismen in Ps 34 dienen dazu, die Beziehung von Gott und Mensch zu beschreiben. Die Personalität Gottes, seine Kommunikation mit dem Menschen und sein Handeln an ihm kommen
537 Vgl. Gradl 2001, 104. 538 Simian-Yofre 1989, 650.
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zum Ausdruck.539 Mit der anthropomorphen Redeweise und über die synthetische Bedeutung der Körperteile wird ihm Macht zugeschrieben, in der Welt zu handeln. Die Art seiner Handlung am Menschen liegt wiederum in dessen ethischem Tun begründet. Gott handelt nicht willkürlich am Menschen, sondern der Mensch zeichnet verantwortlich für die Folgen seines Tuns. Insofern unterscheidet sich die Art der Beziehung Gottes zu Gerechten und Frevlern. 3.4.5.2.2 Die Folgen für die Übeltäter (V. 17) Während mit der Aussage, die Ohren JHWHs seien auf den Hilferuf der Gerechten gerichtet (V. 17b), deren Rettung impliziert wird, benennt V. 17b mit einem finalen Inf. cs. die Konsequenzen für die Böses Tuenden: Ihr Gedenken ()זִ ְכ ָרם soll von der Erde ausgerottet werden ( כרתhi.). Nach den konzeptionellen Implikationen und semantischen Zusammenhängen der Formulierung soll im Folgenden gefragt werden. 1. Das zugrundeliegende Konzept: Vergeltung oder Gerechtigkeit Gottes? Das Verbum כרתbegegnet im Psalmenbuch viermal im G-Stamm und je fünfmal im N- und H-Stamm.540 Alle fünf Belege für כרתni. finden sich in Ps 37. 539 Nach Hartenstein 2008, 260 ist auch Ps 34,17 Beleg für die Rede vom Angesicht JHWHs im Kontext der höfisch-kultischen Audienzvorstellung. Seinem Audienz-Schema (1. Zulassung zur Audienz; 2. Huldigung/Proskynese; 3. Bitte um Annahme und Errettung; 4. Gewährte Audienz I: Schutz und Rettung, Leben und Dienst vor dem Königsgott; 5. Gewährte Audienz II: Gottes theophanes Eingreifen als königlicher Retter und Richter; Ablehung (in) der Audienz: verweigerte Gottesnähe) folgend gehört Ps 34,17 zu den Folgen der gewährten Audienz, die im Eingreifen Gottes als Retter und Richter bestehen. In diesen Kontext gehören auch Ps 9,4.20; 68,2.3; 80,17, die jeweils vom Ende der Feinde und Frevler vor dem Angesicht JHWHs reden. Grundthese von Friedhelm Hartenstein ist, dass die Rede vom „Angesicht“ Gottes keine bloße „Redeweise“ sei, sondern – zumal in den Psalmen – in Zusammenhang mit der Vorstellung vom Königtum Gottes stehe. Dass die Gottheit menschengestaltig sei, bilde im Alten Orient und Israel die unhinterfragte Voraussetzung der Gotteskonzepte; eine Unterscheidung von „materiell“ und „geistig“ entspreche den Texten nicht. „Das Konzept des göttlichen ‚Körpers‘ erscheint als logisches Implikat personaler Gottesvorstellungen. Die Handlungsfähigkeit und spezifische Besonderheit eines Gottes oder einer Göttin leitete sich aus deren Eingebundenheit in eine die menschliche und die göttliche Sphäre gleichermaßen umfassende sozial lesbare Welt ab. Der göttliche ‚Körper‘ ist nicht Ausdruck einer individuellen Götterpersönlichkeit, sondern Signum eines sozialen Status in der Hierarchie der Verwandtschafts- und Herrschaftsordnung. […] Denn die penē JHWH verweisen an fast allen Belegstellen auf einen königlichen Gott und die mit ihm verbundenen Handlungsrollen (thronender Herrscher und Richter, kämpfender Retter und Krieger).“ (Hartenstein 2008, 285). Mit der Vorstellung vom „Angesicht“ Gottes ist also zugleich die Vorstellung vom Gerechtigkeit schaffenden König bzw. Richter gegeben. Wenn also Ps 34 davon spricht, dass Augen und Ohren JHWHs den Gerechten zugewandt sind, sein Angesicht gegen die, die Böses tun, gerichtet ist, dann gehört diese Vorstellung in den Zusammenhang des Gerechtigkeit garantierenden Gottes. Im Blick auf den Menschen und sein Tun wird also ein an der Gerechtigkeit Gottes orientiertes Verhalten eingefordert und angemahnt. 540 Vgl. Hasel 1984, 358.
Auslegung
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Claudia Sticher541 stellt ausgehend von Ps 37 die These auf, Denkmuster des Psalters sei, dass die Guten durch Gott gerettet werden, die Bösen sich jedoch selbst zerstörten. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist die grammatische Beobachtung, dass mit dem N-Stamm kein bestimmtes Agens identifiziert wird und dass „in keinem einzigen Vers das Ende der Schlechten in einen ausdrücklichen Kausalzusammenhang mit göttlichem Handeln gebracht wird“542. In Abgrenzung zu älteren Konzepten von Vergeltung, Tun-Ergehen-Zusammenhang bzw. schicksalwirkender Tatsphäre und konnektiver Gerechtigkeit spricht sie von der „salvifikativen Gerechtigkeit“. Insgesamt können also vier verschiedene Vorstellungen unterschieden werden: (1) Das Konzept der „Vergeltung“ dominierte die exegetische Forschung bis in die 1950er Jahre. So formuliert Hermann Gunkel prominent im Jahr 1931: „Die israelitische Religion hat den Vergeltungsglauben von Anfang an besessen.“543 (2) Diese Vorstellung hinterfragte 1955 Kurt Koch mit seinem Aufsatz „Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?“544 und setzte ihr die des TunErgehen-Zusammenhangs bzw. der schicksalwirkenden Tatsphäre entgegen. Einen juridischen Begriff von „Vergeltung“ im Sinne einer iustitia distributiva kenne das Alte Testament nicht. Vielmehr entsprächen sich Tun und Ergehen in einer naturgesetzartigen Notwendigkeit. Die Tat schaffe eine Sphäre, in der der Täter sich im Weiteren bewege. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen sei durch JHWH in Kraft gesetzt. (3) Auch die Position Kurt Kochs blieb nicht unwidersprochen. Angeregt durch Forschungen in der Ägyptologie zum Konzept der Maʿat und dem Prinzip der konnektiven Gerechtigkeit545 versteht Bernd Janowski Gerechtigkeit als eine Form der sozialen Interaktion, die „auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit [beruht] und […] nicht die ‚natürliche Folge‘ der guten Tat [ist], sondern eine Funktion gesellschaftlichen Handelns.“546 (4) Claudia Sticher prägt nun den Begriff der „salvifikativen Gerechtigkeit“, um ihr aus den Psalmen gewonnenes Verständnis zu erklären: „Auf der Seite der Gerechtigkeitsordnung herrscht so etwas wie Autodestruktivität im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Dagegen stellt Gott (in den einschlägigen Texten) dann die Gerechtigkeit wieder her, indem er aus dieser an sich selbst untergehenden Welt diejenigen herausrettet, die sich von ihm retten lassen wollen.“547 Den
541 Vgl. Sticher 2002. 542 Sticher 2002, 54; vgl. auch Brueggemann 1995, 238: „In all five uses of krt, the verb is passive, thus refusing to identify an active agent auf ‚cutting off ‘.“ 543 Gunkel 1972, 1 (Erstveröffentlichung: Gunkel, Hermann: Art. Vergeltung im Alten Testament. In: 2RGG V (1931), 1529–1533). 544 Neuveröffentlicht 1991 in seiner Aufsatzsammlung „Spuren des hebräischen Denkens“: Koch 1991, 65–103. 545 Vgl. Assmann 1990. 546 Janowski 1994, 261. 547 Sticher 2002, 31.
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von Bernd Janowski geprägten Begriff der „rettenden Gerechtigkeit“ lehnt sie ab, da mit ihm „der Aspekt eines Strafhandelns Gottes nicht ausgeschlossen wird“548. Der Begriff der „salvifikativen Gerechtigkeit“ wurde nicht rezipiert, und gegen Claudia Sticher ist einzuwenden, dass ihre Interpretation der Belege für כרתni. und andere unpersönliche Wendungen ein Strafhandeln Gottes doch zu kategorisch ausschließen.549 Von der Grammatik her ist für die passive Bedeutung von כרתni. auch die Annahme möglich, Gott sei Agens. Inhaltlich ist einzuwenden, dass in Ps 37 zum Beispiel die Rede vom göttlichen Lachen auch als triumphierendes Lachen eines Strafgerichtes (vgl. Ps 2,4) verstanden werden kann: „Mein Herr lacht über ihn [den Frevler], denn er sieht, dass sein Tag kommen wird.“ (Ps 37,13). Insofern kann Gott für כרתni. mögliches Subjekt der Handlung sein. Dahingegen ist die Rede von der konnektiven Gerechtigkeit für Texte des Psalters weiterführend. Sie lässt sich gut im kulturgeschichtlichen Kontext Israels verankern und trifft Beobachtungen zu den Texten, die einerseits den Menschen auffordern, für die Durchsetzung von Gerechtigkeit im Sinne des Tun-ErgehenZusammenhangs zu sorgen, und andererseits – theologisch formuliert – die Durchsetzung dieser Gerechtigkeit von Gott erwarten. In diesem Zusammenhang ist auch der Gebrauch des Verbums כרתhi. „ausrotten“ zu verstehen. 2. כרתhi. – „ausrotten“: Das Ende des Frevlers Im Psalmenbuch finden sich wie in Ps 34,17 einige Belege für כרתhi., die es zu untersuchen gilt. Mit explizitem göttlichem Subjekt erscheint כרתhi. in Ps 12,4; 109,14 (vgl. auch Jes 14,22: Ankündigung der Ausrottung Babels), als Inf. cs. in Ps 101,8; 109,13. Mit ähnlicher Metaphorik wie in Ps 34 bittet das betende Ich von Psalm 12 JHWH, „ ִׁש ְפ ֵתי ֲח ָלקֹוםglatte Lippen“ auszurotten ( כרתhi. in Ps 12,4). In einer JHWH-Rede wird angekündigt, dass JHWH sich für „ ֲענִ יִ יםArme“ und ֶא ְביֹונִ ים „Bedürftige“ (Ps 12,6; vgl. Ps 34,7) erhebt, was man als Zusage, „glatte Lippen“ auszurotten, verstehen kann. Auch Psalm 109 spricht von der Ausrottung der Nachkommen ( דֹור ַא ֵחרin Ps 109,13), und in derselben Formulierung wie Ps 34,17 wünscht das betende Ich in Bezug auf JHWH: „ וְ ְיַכ ֵ ֖רת ֵמ ֶ ֣א ֶרץ זִ ְכ ָ ֽרם׃Er möge ihre Erinnerung von der Erde ausrotten.“ (Ps 109,15). In Bezug auf Ps 109 ist offen, ob der Sprecher von Ps 109,6–19 das angefeindete Ich ist, das sich die Vernichtung seiner Feinde wünscht, oder ob es sich um ein Feind-Zitat handelt.550 In jedem Fall findet sich aber die Vorstellung der göttlichen Vernichtung der Frevler. In Psalm 101 ist es ein menschlicher Sprecher, der die Frevler stumm machen will. Ziel ist die Vernichtung der Bösen: הוה ָּכל־ ֥ ֹּפ ֲע ֵלי ָ ֽאוֶ ן׃ ֗ ָ יר־י ְ֜ ְל ַה ְכ ִ ֥רית ֵ ֽמ ִע, „um alle 548 Sticher 2002, 30. 549 An anderer Stelle räumt sie ein: „Ein Gott, der strafend den Feinden vergilt, gehört also durchaus zum Repertoire der biblischen Beter. Feindschädigungsbitten können an Gott als den mächtig Handelnden gerichtet werden.“ (Sticher 2002, 341). 550 So Hossfeld/Zenger 2008, 179.181–184.
Auslegung
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Übeltäter aus der Stadt JHWHs auszurotten.“ (Ps 101,8). Nach Frank-Lothar Hossfeld ist der Sprecher der König: „Eigentlich ist es eine Tätigkeit JHWHs nach Ps 12,4 und 34,17 (vgl. 109,15). Hier kommt sie dem Beter zu. Die Reichweite des Richtens erstreckt sich auf alle Sünder und Übeltäter des Landes und beginnt wohl mit der ‚Stadt JHWHs‘ wie sie in den alten Zionstraditionen von Ps (46,5); 48,2.9; 87,3; Jes 60,14 genannt wird.“551 Es zeigt sich: Zum einen findet sich der Gedanke, dass entweder der König als Führer der sozialen Gemeinschaft oder jeder einzelne, der sich gläubig an JHWH wendet, für die Durchsetzung von Gerechtigkeit verantwortlich ist. Zum anderen ist aber auch JHWH Subjekt von כרתhi. In Ps 34,17 ergibt der Rückbezug auf das Nomen rectum der CsV ְּפנֵ י יְ הוָ ה, dass JHWH mögliches Agens von כרתhi. ist. Die V. 16–17 stellen zwei verschiedene Formen der Aufmerksamkeit Gottes einander gegenüber, die im Tun des Menschen begründet liegen. Während Gott sich den Gerechten positiv zuwendet und ihren Hilferuf hört, sie also rettet (V. 16), halten die, die Böses tun, seinem prüfenden Blick nicht stand: In der Konsequenz rottet Gott ihr Gedenken aus (V. 17). Dies ist Ausdruck seiner Gerechtigkeit. Damit wird deutlich, wie entscheidend das Tun des Menschen für seine Gottesbeziehung ist. 3. זִ ְכ ָרם – „ihr Gedenken“: Abhängigkeit des Gedenkens vom ethischen Tun Nach Ps 34 vernichtet JHWH nicht die Übeltäter selbst, sondern deren Gedenken ( זִ ְכ ָרםin V. 17). Die Vorstellung, dass Name oder Gedenken der Übeltäter ausgerottet werden, das Andenken des Gerechten jedoch ewig währt, begegnet öfter. Ps 9 spricht in der Vergangenheit über das Ende des Feindes und auch der Erinnerung an ihn. Ihn ereilt damit dasselbe Schicksal wie zerstörte Städte, an die sich niemand mehr erinnert: ֵ ֽה ָּמה׃552 „ ָ ֽהאֹויֵ֙ ב׀ ַ ּ֥תּמּו ֳח ָר ֗בֹות ֫ ָל ֶנ ַ֥צח וְ ָע ִ ֥רים נָ ַ ֑ת ְׁש ָּת ָא ַ ֖בד זִ ְכ ָ ֣רםDer Feind – sie haben ein Ende gefunden, Ruinen auf Dauer, und Städte hast du ausgerissen, zugrunde gegangen ist ihr Andenken.“ (Ps 9,7). Ps 109 formuliert – im Kontext ist nur der Bezug auf „Väter“ und „Mutter“ des Übeltäters möglich – den Wunsch, ihr Gedenken möge ausgerottet werden von der Erde (vgl. Ps 109,15). Positiv steht dem in Psalm 112, der mit Ps 111 ebenfalls ein Akrostichon bildet, entgegen, dass das Andenken des Gerechten ewig sein werde:
ּומ ְלֶו֑ה ַ חֹונ�֣ן ֵ ֹוב־איׁש ֭ ִ ֽט5 יְ ַכ ְל ֵּכ֖ל ְּד ָב ָ ֣ריו ְּב ִמ ְׁש ָ ּֽפט׃ עֹולם לֹא־יִ ּ֑מֹוט ֥ ָ י־ל ְ ִ ּֽכ6 ֹולם יִ ְה ֶי֥ה ַצ ִ ּֽדיק׃ ָ ֗ ְל ֵז ֶ֥כר ֜ע
טGut einem Mann, der gnädig und leihend ist, יder seine Angelegenheiten nach der Ordnung durchführt. כFürwahr, in Ewigkeit wird er nicht wanken, לzu einem Gedenken in Ewigkeit wird der Gerechte sein. (Ps 112,5–6)
551 Hossfeld/Zenger 2008, 35. 552 Die Übersetzung ist hier schwierig. Möglich ist die Rekonstruktion einer ה-Strophe, so dass ֵה ָּמה zum folgenden Vers gehören würde (vgl. Weber 2001, 75).
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Wer sich entsprechend der Ordnung ( ) ִמ ְׁש ָּפטverhält, der wird nicht wanken (vgl. Ps 15,5; 16,8; 17,5 u. ö.) wie auch die Grundfesten der Erde nicht wanken (vgl. Ps 82,5; 93,1; 96,10 u. ö.), denn er fügt sich ein in die Grundordnung der Welt. Daher wird seiner ewig gedacht werden.553 Claudia Sticher ist in Bezug auf die Sprechabsicht der Psalmen zuzustimmen, „daß die Texte keine theoretischen Aussagen über die Schlechten bieten wollen, sondern Hoffnungsaussagen für die Guten“554, nämlich die „die Hoffnungsperspektive der jeweils Unterdrückten, nicht etwa […] triumphalistische Aussagen aus einer falschen Heilsgewißheit heraus“555. Sie führt dies auf die Gattung Gebetsliteratur zurück: „Das Bitten um die eigene Rettung angesichts verschiedener Bedrohungen ist der eigentliche Inhalt des Gebets. Was mit den Feinden geschieht, interessiert bestenfalls nachrangig.“556 Mit Blick auf die ethischen Konzepte der Texte muss aber ergänzt werden: Im Rahmen der weisheitlichen Unterweisung ist es zwingend, dass die Erinnerung an den Übeltäter vernichtet wird, damit eine Nachahmung des schlechten Verhaltens nicht möglich ist. Der Gerechte hingegen soll ewiges ethisches Vorbild sein. Diese Pädagogik gründet in JHWH selbst, der das Gedenken an den, der Böses tut, auslöscht (vgl. Ps 34,17). Insofern ist Ziel der Rede von der Auslöschung der Übeltäter, dass primär das böse Verhalten verhindert werden soll.557 Dass Gottes Gerechtigkeit neben seiner Barmherzigkeit auch seine Strafgerechtigkeit meint und dass Gott rettet, indem er richtet und so den Bedrängten und sozial Schwachen gegen ihre Unterdrücker zu ihrem Recht verhilft,558 kann als Antwort auf „die Frage nach der letztinstanzlichen, alle gesellschaftliche Realität transzendierende Grundlage des Lebens“559 verstanden werden. Die Vorstellung von der Vernichtung der Erinnerung an die Übeltäter dient also der ethischen Orientierung und steht in Zusammenhang mit der Vorstellung der konnektiven Gerechtigkeit.
553 Ein weiterer Aspekt ist nach Hermann Eising, dass damit auch ein Sein bzw. Nicht-Sein vor Gott verbunden ist: „Mit der Verneinung des Gedenkens über den physischen Tod hinaus wird dem Frevler auch jeder Nachruhm abgesprochen. Daß er vergeht, als wäre er nie gewesen, wird auf Gott zurückgeführt. Demgegenüber darf erschlossen werden, daß Gedenken nicht nur Namensnennung und Anerkennung bedeutet, sondern irgendwie mit dem Sein vor Gott und durch Gott identisch gesehen wird.“ (Eising 1977, 585–586). 554 Sticher 2002, 340. 555 Sticher 2002, 341. 556 Sticher 2002, 341. 557 Mit Akzentuierung auf dem Streben der Übeltäter, das zunichte gemacht wird, vgl.: „The divine opposition quells not only the evil of wicked persons, but also eliminates the memory of them from the earth, thereby nullifying the amibitions of those whose evil deeds have goals of personal greatness outlasting even the limits of their mortality. “ (Craigie 1983, 281). 558 Vgl. Janowski 2000, 43. 559 Janowski 2000, 58.
Auslegung
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3.4.5.2.3 Die Rettung der Bedrängten (V. 18–19) Die folgenden Verse bekennen das Rettungshandeln JHWHs. Wer sich an JHWH wendet und zu ihm schreit ( צעקin V. 18a), wird gehört ( ׁשמעin V. 18a) und aus den Bedrängnissen gerettet ( ָצרֹותund נצלhi. in V. 19b). Ein enger Zusammenhang zur Erzählung von der eigenen Rettungserfahrung (V. 5) und zur Rettungserzählung des ( ָענִ יV. 7) ist über Lexemwiederaufnahme gegeben. Uneindeutig ist, wer Objekt des göttlichen Rettungshandelns ist, ob allein die Gerechten oder auch die reumütigen Frevler, und zu fragen ist auch, ob die י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochenen Herzen“ und diejenigen י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאverzagten Geistes“ exklusiv einer dieser beiden Gruppen zugeordnet werden können. 1. Rettung auch für die Bösen? Angesichts des vorhergehenden Bekenntnisses, dass die Augen JHWHs auf Gerechte gerichtet sind und seine Ohren auf deren Hilferuf (V. 16), ist es vom Kontext her naheliegend, dass in den bedrängten Gerechten auch das an der Oberfläche nicht genannte Subjekt von V. 18a zu sehen ist. So vereindeutigen auch LXX und in Entsprechung Peschitta und Targumim durch die Hinzufügung von οἵ δίκαιοι als Subjekt des Satzes, „um das Mißverständnis auszuschließen, die in 17 genannten ‚Bösen‘ seien Subjekt“560. Gerade aber, dass die antiken Varianten vereindeutigen, zeigt, dass der hebräische Text durchaus auch die Möglichkeit offenlässt, V. 18 als universal gültige Aussage zu verstehen, die auch für Übeltäter eine Umkehr zu JHWH für möglich hält. Diese Vorstellung findet sich im Kontext des Psalmenbuches durchaus. So wendet sich in Ps 32 ein reuiges Subjekt an JHWH: יתי ִ א־כ ִּ֗ס ִ ֹ יע ָ֡ך וַ ֲע ֹ֘ו ִנ֤י ֽל ֲ אֹוד ֪ ִ אתי ִ֙ ַח ָּט אתי ֶ ֽס ָלה׃ ֣ ִ את ֲעֹו֖ ן ַח ָּט ָ יהו֑ה וְ ַא ָּ֙תה ֘ ָנ ָ ׂ֤ש ָ אֹודה ֲע ֵל֣י ְ ֭פ ָׁש ַעי ַל ֤ ֶ „ ָא ַ֗מ ְר ִּתיMeine Sünde machte ich bekannt, und meine Schuld bedeckte ich nicht. Ich sagte: Ich will meine Frevel JHWH bekannt machen. Und du, du hast aufgehoben die Schuld meiner Sünde. Sela.“ (Ps 32,5). Von der Möglichkeit der Vergebung des Sünders spricht auch Psalm 130:
ר־יּ֑ה ָ ם־עֹונ֥ ֹות ִּת ְׁש ָמ ֲ ִא3 Wenn du Sünden bewahrtest, JH, מד׃ ֹ ֽ ֲ֜אד ָֹ֗ני ִ ֣מי יַ ֲע mein Adonaj, wer würde bestehen? יחה ֑ ָ י־ע ְּמָך֥ ַה ְּס ִל ִ ִ ּֽכ4 Doch bei dir ist Vergebung, ֜ ְל ַ֗מ ַען ִּתּוָ ֵ ֽרא׃ so dass du gefürchtet wirst. (Ps 130,3–4)
Die rhetorische Frage (V. 3) bestimmt menschliche Existenz von Grund auf als fehlbar und sündhaft. Der Gegensatz von Gerechtem und Frevler ist aufgebrochen, vielmehr wird die eigene Sündhaftigkeit anerkannt. Jeder Mensch bedarf der göttlichen Vergebung. Die Parallelen zeigen, dass die LXX mit ihrer Ergänzung „die Gerechten“ in V. 18 nicht ein Missverständnis beseitigt, dass Übeltäter zu Gott rufen können, 560 Hossfeld/Zenger 1993, 212. Siehe oben Anmerkungen zu Text und Übersetzung.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
sondern eine bestimmte Lektüre ausschließt. Einer Lektüre, die das offene Subjekt von V. 18 von V. 17 her füllt und bei der es in V. 18 um die Rettung der reuigen Sünder geht, steht jedoch nichts entgegen. Dem, der fragwürdig handelt, ist mit Ps 34 die Möglichkeit gegeben, sich an JHWH zu wenden und Vergebung und Rettung zu erfahren. 2. י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרdie zerbrochene Herzen“ und י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאdie verzagten Geistes“ und die Frage nach ihrer ethischen Integrität
Forschungsgeschichtlich lassen sich zwei Positionen unterscheiden, wie die Frage nach der ethischen Integrität der י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochenen Herzen“ (V. 19a) und der י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאverzagten Geistes“ (V. 19b) zu beantworten ist. So identifiziert Manfred Oeming die Gerechten mit denen, die „durch Anfeindungen ‚zerbrochene Herzen‘“561 haben. Auch für Klaus Seybold sind es „die Frommen […], die rufen und schreien in ihrer Not […] [und] deren Herz und Sinn gebrochen und gestoßen wurde“562. Anders jedoch versteht Franz Delitzsch die Verbindungen י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרdie zerbrochene Herzen“ (V. 19a) und י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאdie verzagten Geistes“ (V. 19b): „‚Zerbrochene am Herzen‘ heißen diejenigen, welchen das selbstische d. i. selbstsüchtige, um das eigne Ich kreisende Leben in der Wurzel geknickt ist, und ‚Zermalmte ( ַּד ְּד ֵאיV. ַּד ָּכאn.d.F. ַקּנָ אmit Rückgang des langen ā in ursprüngliches kurzes nach Stade § 217a) am Geiste‘ die, welche zur Buße leitende schwere Erlebnisse von der falschen Höhe stolzen Selbstbewußtseins heruntergebracht und gründlich gedemütigt haben. Solchen ist J[HWH] nahe, er bewahrt sie vor Verzweiflung, er ist bereit, ein neues Leben auf den Trümmern des alten in ihnen aufzurichten und ihr unendliches Deficit zu decken, er macht sie, die Heilsempfänglichen und Heilsbegierigen, seines Heils teilhaftig.“563 Auch Hossfeld/Zenger sehen im Rahmen ihrer redaktionskritischen Untersuchungen zur Psalmengruppe 25–34 einen Bezug von Ps 34 zu Ps 32, auf den er vor dem Einschub von Ps 33 unmittelbar gefolgt sei: „Das Wissen um die eigene Sünde aus Ps 32 klingt in Ps 34,19 verhalten an, wenn vom zerbrochenen Herzen und zerknirschten Geist die Rede ist. Während Ps 32 das punktuelle Ereignis der Sünde, des Sündenbekenntnisses und der Vergebung mit göttlicher Zusage der Lebensberatung im Auge hat und daraus seine Schlüsse zieht, erwägt Ps 34 das gesamte Leben.“564 Das Verständnis von י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochene Herzen“ (V. 19a) und י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאdie verzagten Geistes“ (V. 19b) ist auch im Hinblick auf ähnliche Konstruktionen in der hebräischen Bibel nicht eindeutig.
561 Oeming 2000, 198–199. 562 Seybold 1996, 142. Vgl. zu dieser Position auch Craigie 1983, 281; Weiser 1963, 201. 563 Delitzsch 1984, 274–275. 564 Hossfeld/Zenger 1994, 385.
Auslegung
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Dieselbe Annexionsverbindung י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochene Herzen“ begegnet in Jesaja 61: הוה ָע ָל֑י ֖ ִ ְּוח ֲאד ָֹנ֥י י ַ ֛ר הוה א ִֹ֜תי ָ ֙ ְַ֡י ַען ָמ ַׁש ֩ח י ּׂשר ֲענָ ִ ֗וים ְׁש ָל ַ֙חנִ ֙י ֣ ֵ ְל ַב י־לב ֵ ֔ ַל ֲח ֣בֹׁש ְלנִ ְׁש ְּב ֵר ִל ְק ֤ר ֹא ִל ְׁשבּויִ ֙ם ְּד ֔רֹור ֹוח׃ ַ ח־ק ֽ סּורים ְּפ ַק ֖ ִ וְ ַל ֲא
Der Geist meines Herrn, JHWHs, ist auf mir. Denn gesalbt hat mich JHWH. Um den Elenden frohe Botschaft zu bringen hat er mich gesandt. Um die, die gebrochenen Herzens sind, zu verbinden. Um den Gefangenen Freilassung zuzurufen und den Gebundenen Entfesselung. (Jes 61,1)
Eine prophetische Gestalt erzählt von der Gabe des Geistes und der Salbung durch JHWH selbst. Züge des Gottesknechtes werden auf sie übertragen, so die prophetische Geistbegabung (vgl. Jes 42,1) und seine königliche Aufgabe, das Recht hinauszubringen (vgl. Jes 42,3). In der Zielbestimmung der Sendung des Ich werden parallel vier Gruppen Deprivierter genannt: „ ֲענָ וִ יםElende“, י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochene Herzen“, „ ְׁשבּויִ םGefangene“ und סּורים ִ „ ָאGebundene“. Selbst wenn man davon ausginge, dass es sich bei den beiden letztgenannten um Straftäter handelt, die begnadigt werden, legt die unmittelbare Parallelsetzung zu „ ֲענָ וִ יםElende“ doch nahe, dass die „zerbrochenen Herzen“ Menschen sind, die schuldlos in eine missliche Lage geraten sind. Mit Partizipialkonstruktionen werden in Ps 147 Wesensaussagen über JHWH gemacht. Er ist „der, der die heilt, die zerbrochenen Herzens sind“, so die Annexionsverbindung בּורי ֵלב ֵ ָהר ֵֹפא ִל ְׁשin Ps 147,3. Ebenso hilft er den Elenden: עֹודד ֣ ֵ ְמ י־א ֶרץ׃ ֽ ָ הו֑ה ַמ ְׁש ִ ּ֖פיל ְר ָׁש ִ ֣עים ֲע ֵד ָ ְ„ ֲענָ ִו֣ים יJHWH hilft den Armen, die Frevler erniedrigt er zur Erde.“ (Ps 147,6). Die göttliche Zuwendung gilt gleichermaßen den ֲענָ וִ ים wie denen, die zerbrochenen Herzens sind. Ihnen gemeinsam ist ihre Notlage. In Ps 69 klagt das betende Ich mit einer aktiven verbalen Formulierung über die Nachstellungen der Feinde: „ ֶח ְר ָּפה ָ ֽׁש ְב ָרה ִל ִּ֗ביSchmach hat mein Herz zerbrochen.“ (Ps 69,21). Im unmittelbaren Kontext sind es die Bedränger des Ichs, die zu seiner desolaten Situation führen (vgl. Ps 69,20). Im Kontext des ganzen Psalms bekennt sich das Ich jedoch auch zu seiner Torheit und seinen Verschuldungen (מֹותי ַ ִאּוַ ְל ִּתי וְ ַא ְׁשin Ps 69,6), so dass es auch das Fehlverhalten des Ichs ist, auf das das zerbrochene Herz zurückgeführt werden kann. Eine ähnliche, aber passivische Aussage findet sich bei Jeremia: נִ ְׁש ַּבר ִל ִּבי ְב ִק ְר ִּבי „Zerbrochen ist mein Herz in meinem Inneren.“ (Jer 23,9). Hierbei handelt es sich nicht um die Beschreibung einer Personengruppe, deren Mitglieder zerbrochene Herzen haben (vgl. Ps 147), sondern um eine Illustration der momentanen inneren Verfasstheit des wohl prophetischen Sprechers und seine „tiefgreifende, den ganzen Menschen erfassende Erschütterung“565. Er ist destabilisiert und ְּכ ִאיׁש 565 Fischer 2005, 690.
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„ ִׁשּכֹורwie ein Betrunkener“ (Jer 23,9), der die Beherrschung verliert angesichts der niederschmetternden Kritik, die JHWH an der ethischen Integrität von Landesbewohnern, Propheten und Priestern übt (vgl. Jer 23,10–12). Er ist nicht direktes Opfer ihrer Taten, wohl aber verzweifelt angesichts seiner Hilflosigkeit in Bezug auf die Situation im Land. Die Rede vom zerbrochenen Herzen in Psalm 51 bezieht sich – auf einer Linie mit der Interpretation von Ps 34,19 durch Franz Delitzsch und Erich Zenger – eindeutig darauf, dass das betende Ich wegen seiner Schuld niedergeschlagen ist. Mit diesem Psalm bittet das seine Sünden bekennende Ich um Vergebung und gnädige Zuwendung. Leitwörter sind dabei Herz und Geist. So wendet sich das Ich an Gott: ֹלהים וְ ֥ר ַּוח ָ֜נ ֗כֹון ַח ֵ ּ֥דׁש ְּב ִק ְר ִ ּֽבי׃ ֑ ִ א־לי ֱא ֣ ִ „ ֵל֣ב ָ ֭טהֹור ְּב ָרEin reines Herz erschaffe mir, Gott, und einen beständigen Geist mache neu in meinem Inneren.“ (Ps 51,12). Angesichts seiner in Sünde und Schuld verstrickten Existenz ist das betende Ich bereit, sich selbst als Opfergabe darzubringen:566
א־ת ְח ֣ ֹּפץ ֶז ַ֣בח ַ ֹ ִ ּ֤כי׀ ל18 Fürwahr, du hast nicht Gefallen an einem Schlachtopfer, וְ ֶא ֵ ּ֑תנָ ה ich gäbe es, ֹולה ֣ל ֹא ִת ְר ֶ ֽצה׃ ָ ֗ ֜ע ein Brandopfer, (daran) hast du keinen Wohl gefallen. ּוח נִ ְׁש ָּ֫ב ָ ֥רה ַ ים ֪ר ֮ ֹלה ִ ִ ֽז ְב ֵ ֣חי ֱא19 Schlachtopfer Gottes sind ein zerbrochener Geist, ֵלב־נִ ְׁש ָ ּ֥בר וְ נִ ְד ֶּכ֑ה ein zerbrochenes und ein zerschlagenes Herz. ֹלהים ֣ל ֹא ִת ְב ֶזֽה׃ ִ֗ ֱ֜א Gott, du verachtest (sie) nicht! (Ps 51,18–19)
Hier also ist das zerbrochene Herz – allerdings in einer Attributverbindung – in der Tat Zeichen für die ethische Unzulänglichkeit menschlichen Handelns. Rettung und Heilung kann der Mensch nur bei Gott erfahren. Mit Bezug auf Ps 34 schreibt Erich Zenger zu Ps 51: „Das ist das Opfer, das Gott als den Schöpfer und Retter verkündet und an dem Gott Wohlgefallen hat: Daß der selbstgefällige, hartherzige und hochmütige Sünder sich von ihm ‚zerbrechen‘ läßt und vor ihm ‚klein und arm‘ wird (zu diesem Verständnis von V. 19 vgl. besonders Ez 6,9; Ps 34,19).“567 In Ps 34 steht י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochene Herzen“ im Parallelismus mit י־רּוח ַ ַּד ְּכ ֵא „die verzagten Geistes“ (V. 19). Eine ähnliche Formulierung bringt Jesaja 57: ִּכי֩ ֙כ ֹה ָא ַ֜מר ָ ֣רם וְ נִ ָּׂ֗שא ׁש ֵ ֹ֥כן ַע ֙ד וְ ָק ֣דֹוׁש ְׁש ֔מֹו ָמ ֥רֹום וְ ָק ֖דֹוׁש ֶא ְׁש ּ֑כֹון
566 Vgl. Hossfeld/Zenger 2003, 53. 567 Hossfeld/Zenger 2003, 55.
Denn so spricht der Hohe und der Erhöhte, der fortwährend wohnt, und heilig ist sein Name: „In Höhe und im Heiligen wohne ich
Auslegung
ּוח ַ ל־ר ֔ ּוׁש ַפ ְ ת־ּד ָּכ ֙א ַ וְ ֶא ּוח ְׁש ָפ ֔ ִלים ַ יֹות ֣ר ֙ ְל ַה ֲח ּוֽ ְל ַה ֲחי֖ ֹות ֵל֥ב נִ ְד ָּכ ִ ֽאים׃
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und bei dem, der verzagten und nieder geschlagenen Geistes ist, um den Geist der Erniedrigten lebendig zu machen und um das Herz der Zerschlagenen zu beleben.“ (Jes 57,15)
In prophetischer Rede wird zunächst JHWH als der Hohe und Heilige vorgestellt, was dieser in seiner Selbstvorstellung aufgreift: Seinen Wohnort bestimmt er in der Höhe und ל־רּוח ַ ּוׁש ַפ ְ ת־ּד ָּכא ַ „ וְ ֶאbei dem, der verzagten und niedergeschlagenen Geistes ist“ (Jes 57,15), dem er also wie in Ps 34 „ ָקֹרובnahe“ (Ps 34,19) ist. Mit der göttlichen Nähe geht das Ziel der Belebung des Geistes des Erniedrigten ( ְׁש ָפ ִליםin Jes 57,15) und des Herzens der Zerschlagenen ( נִ ְד ָּכ ִאיםin Jes 57,15) einher. Diese Zusage erfolgt im Zusammenhang der Ankündigung Gottes, dass er seinen Zorn, der in der Sünde Israels gründet (vgl. Jes 57,17), zurücknimmt: וְ לֹא „ ָלנֶ ַצח ֶא ְּקצֹוףNicht für immer zürne ich.“ (Jes 57,16). Insofern legt sich hier nahe, dass die Verzagtheit und Niedergeschlagenheit auf die Schuld Israels zurückzuführen ist, das diese erkennt und bereut. Zusammenfassen lässt sich: Die V. 18–19 lassen sich nicht nur auf die bedrängten Gerechten beziehen. Vielmehr gibt V. 17 mit den Übeltätern das Subjekt von V. 18a vor. Auch sie können zu Gott schreien und erhört werden. Mit der Nennung der „zerbrochenen Herzen“ und der „verzagten Geistes“ (V. 19ab) wird die Aussage von V. 18 generalisiert und auch auf die Unschuldigen bezogen. Die „zerbrochenen Herzens“ und die „verzagten Geistes“ sind Opfer der Nachstellungen anderer (vgl. Ps 69), also der Frevler. Dies legen die syntaktisch identischen Annexionsverbindungen י־לב ֵ נִ ְׁש ְּב ֵרin Jes 61,1 und Ps 147 nahe, deren Parallele jeweils „ ֲענָ וִ יםArme“ sind. Gleichwohl ist die Bedeutung von „ ֲענָ וִ יםElende“ so weit, dass deren Elendigkeit auch auf eigenes ethisches Versagen und daraus resultierende Schuld zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus drückt die Reue über eigene Missetaten (vgl. Ps 51; Jes 57) den Menschen nieder, so dass die gebrochenen Herzen und der verzagte Geist in Ps 34,19 sowohl Ergebnis von erlittener Demütigung sein als auch aus eigener Schuld resultieren können. Auch Sünder können sich an Gott wenden und gerettet werden, weil Gott den zerbrochenen Herzen nahe ist. Erst Ps 34,20–21 ist dahingehend eindeutig, dass negative Widerfahrnisse des Gerechten und dessen Hoffnung auf Rettung zum Thema gemacht werden. 3.4.5.2.4 Das Leid des Gerechten (V. 20–21) Im Hintergrund des Bekenntnisses des Ichs von Ps 34 steht zum einen die der Vorstellung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang konträre Tatsache, dass auch dem Gerechten Böses widerfahren kann: Ihm sind „ ַרּבֹות ָרעֹותMengen an Bösem“ (V. 20a). Hier ist nicht direkt von der Opposition von Gerechtem und Frevler die Rede oder davon, dass der Frevler den Gerechten verfolgt (vgl. Ps 7,2; 17,9; 35,3), sondern von der unpersönlichen Macht des Bösen, die in vielerlei Formen auftritt.
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Zum anderen hält das betende Ich gerade im Angesicht dieser Tatsache an der Realität des göttlichen Rettungshandelns und des Schutzes der Gerechten fest (V. 20b) und bezeugt diese. Dieses Bekenntnis zu Gott als dem Beschützer der Bedrängten kleidet das betende Ich wieder in Körperteilmetaphorik: Kein Knochen des Gerechten soll zerbrochen werden (V. 21). Die Erfahrung des Leids des Gerechten ist im ganzen Psalm präsent. So wird das Leid abstrakt als „ ְמגּורֹותÄngste“ (V. 5b) oder „ ָצרֹותBedrängnisse“ (V. 7b, vgl. 18b) benannt. Indirekt spiegeln sich die Negativerfahrungen auch in den Bezeichnungen „ ֲענָ וִ יםArme“ (V. 3b), „ ָענִ יArmer“ (V. 7a) und unmittelbar vorausgehend י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochene Herzen“ (V. 19a) und י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאdie verzagten Geistes“ (V. 19b) wider. Während sich mit diesen Bezeichnungen vor allem im ersten Teil des Psalms (V. 2–8) die Notlage ausdrückt, rücken die Gerechten als Opfer der Not erst im letzten Teil (V. 16–23) in den Blick. Auch wenn die Identifizierung der beiden Kollektive nirgends explizit vorgenommen wird, wurde schon mit Blick auf V. 2–8 deutlich, dass „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ als ethische Größe gelten können, während umgekehrt die Notlage charakteristisch für den Gerechten ist (vgl. V. 16.20). Dass das Leid des Gerechten nicht nur abstrakt im Bösen, sondern auch in der Verfolgung durch den Frevler begründet liegt, zeigt nur der Parallelismus von V. 22: Einander zugeordnet werden „ ָר ָׁשעFrevler“ (V. 22a) und „ ׂש ֹנְ ֵאי ָצ ִּדיקdie einen Gerechten Hassenden“ (V. 22b). Durch die Parallelführungen entsteht im Gesamtkontext des Psalms der Eindruck, dass der Gerechte immer auch der Bedrängte ist, so dass der Hilferuf (vgl. V. 16b) charakteristisch für ihn ist. Im Folgenden sollen intertextuelle Bezüge und konzeptionelle Hintergründe dieser Vorstellungen beleuchtet werden. 1. Fragwürdigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs Deutlich wird, dass der Psalm um die Fragwürdigkeit des sog. Tun-ErgehenZusammenhangs weiß, der alles andere als ein Automatismus ist, dem im Gegenteil die menschliche Erfahrung widerspricht. Diese Diskrepanz zwischen der Überzeugung von einer gerechten Weltordnung und der ihr widersprechenden Erfahrung kann im Psalter mit verschiedenen Sprechhandlungen zum Ausdruck gebracht werden. (1) Ein prominentes Beispiel für eine „Gerichtsappellation“568 ist Psalm 7. Das betende Ich bittet JHWH in einer konkreten Verfolgungssituation um Hilfe (V. 2–3). Es beteuert in einem sog. Reinigungseid bzw. einer bedingten Selbstverfluchung seine Unschuld (V. 4–6). Vorausgesetzt wird die Vorstellung von Gerechtigkeit im Kontext des Tun-Ergehen-Zusammenhangs: Strafe bzw. Leid wegen begangener Vergehen wäre gerecht; Leiden ist jedoch dann nicht gerecht, wenn der Mensch ethisch gut gehandelt hat. Weil das betende Ich von der göttlichen Gerechtigkeit überzeugt ist und in ihm den Garanten der Weltordnung sieht, richtet es an ihn seinen Appell, aufzustehen und einzugreifen (V. 7–10), der auf
568 Janowski 2009, 371; vgl. Janowski 1999a, 65.
Auslegung
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die Forderung nach einem unterschiedlichen Geschick von Frevler und Gerechten hinausläuft: ֹלהים ַצ ִ ּֽדיק׃ ֥ ִ ּוכ ָלי֗ ֹות ֱא ְ כֹונ�֪ן ַ֫צ ִ ּ֥דיק ּוב ֵ ֹ֣חן ִל ּ֭֗בֹות ֵ ּות ְ ים ֮ ר־נא ַ ֙רע׀ ְר ָׁש ִע ָ֬ „ יִ גְ ָמDas Böse der Frevler ende doch, aber richte den Gerechten auf, (du), der du Herzen und Nieren prüfst, gerechter Gott!“ (Ps 7,10). Genau genommen wünscht das betende Ich nicht das Ende des Frevlers, sondern des Bösen, das Ende dessen, wovon es bedroht wird.569 Dem Gerechten hingegen soll es gut ergehen. Grund dieser Hoffnung ist für das betende Ich die Gerechtigkeit Gottes, der als Richter die Unschuldigen rettet, die Schuldigen straft: ֹלהים ֑ ִ ל־א ֱ ָ ֽמגִ ִּנ֥י ַע11 Mein Schild ist bei Gott, י־לֽב׃ ֵ יע יִ ְׁש ֵר ַ ֹוׁש ִ֗ ֜מ einem Retter der aufrechten Herzen. ׁשֹופ֣ט ַצ ִ ּ֑דיק ֵ ֹלהים ִ ֭ ֱא12 Gott ist ein gerechter Richter, ְ ֜ו ֵ֗אל ז ֵ ֹ֥עם ְּב ָכל־יֽ ֹום׃ eine Gottheit, die an jedem Tag straft. (Ps 7,11–12)
Das betende Ich bittet Gott, dass er „die Gerechtigkeit des Gerechten gegen alle Infragestellungen und Anfechtungen ans Licht bringt“570. Das verwerfliche Handeln des Frevlers ist es, mit dem dieser sein eigenes Urteil spricht; seine Gewalt fällt auf ihn zurück, so die Überzeugung des Ichs (V. 15–17). Daher endet er im Lobpreis (V. 18). (2) Ebenso prominent wie Ps 7 ist die Klage von Psalm 22 vor allem, weil Mk 15,34; Mt 27,46 die Anfangsworte „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ als Worte Jesu am Kreuz zitieren: Mit seiner Wozu-Frage und mit den Vorhaltungen angesichts des Leides begehrt das betende Ich gegen Gott auf. So beginnt der Psalm mit anklagenden Fragen (V. 2–3), die nach einem Vertrauensbekenntnis (V. 4–6.10–11) inhaltlich begründet werden: Das betende Ich wird verspottet, verachtet und verfolgt (V. 7–9.13–19). Dazwischen schieben sich Bitten (V. 12.20–22). Die gewendete Not führt zu einem Lobvorsatz (V. 23) und einer Aufforderung, JHWH zu lobpreisen, weil er sich den Armen zuwendet (V. 24–27) und als universaler König herrscht (V. 28–32). Zwar beteuert das betende Ich nicht explizit seine Unschuld oder hebt seine eigene Gerechtigkeit hervor. Da es aber die Heiligkeit Gottes hervorhebt (V. 4), die existentielle Bindung an Gott von Mutterleib an betont (V. 11), in der Gemeinde Gott preisen will (V. 23) und sich in die Nähe der JHWH-Fürchtigen ( יִ ְר ֵאי יְ הוָ הin V. 24) und Armen ( ָענִ יin V. 25; ֲענָ וִ ים in V. 27) setzt, wird indirekt deutlich, dass es sich als grundlos verfolgt ansieht. Um die Funktion der Klage zu verstehen, ist auf ihren profanen, juristischen Hintergrund zu verweisen.571 Der Kläger, dem Unrecht widerfahren ist, wendet sich – auch unter Beteuerung seiner Unschuld – an eine ihm übergeordnete Ins569 Im Buch Ezechiel wird dieser Gedanke weiter ausgebaut und theologisch formuliert: Gott wünscht nicht den Tod des Schuldigen (vgl. Ez 18,30), sondern die Ankündigung des Gerichts zielt auf Umkehr. 570 Kraus 51978, 198. 571 Vgl. auch im Folgenden Dohmen 1998, 316–317.
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tanz, eine Autorität, die gewillt ist und die Macht hat, Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Im religiösen Kontext des Klagegebets ist dies Gott. Ziel der Klage ist also nicht nur, Zweifel an und Verzweiflung über Gott auszudrücken, sondern auch die begründete Hoffnung, dass er Gerechtigkeit wiederherstellt. „Indem nun die Klage sich gegen jedes Suchen nach dem Grund des Leidens stellt, erteilt sie auch dem Blick zurück in die Vergangenheit eine Absage und schaut stattdessen nach vorne. Dies zeigt sich sprachlich auch schon darin, daß alle derartigen Fragen in den Klagegebeten des Psalters mit ‚wozu‘ und nicht mit ‚warum‘ formuliert sind.“572 Leid und Ungerechtigkeit werden nicht angenommen oder begründet, sondern im Modus der Klage wird der Hoffnung auf Gerechtigkeit Ausdruck verliehen, die Gott wiederherstellen soll. (3) Neben Appell und Klage finden sich auch verhaltenere Reflexionen über die Ungerechtigkeit in der Welt. In den drei weisheitlich imprägnierten Psalmen Ps 37; 49 und 73573 erfolgt ein Aufbegehren angesichts des Erfolgs des Frevlers bzw. des Reichen und der Rückschläge, die dem Gerechten widerfahren, also angesichts einer gestörten Weltordnung.574 Psalm 37 richtet sich an einen Gerechten, der angesichts des Erfolgs des Frevlers versucht ist, sich wegen der Übeltäter zu ereifern (vgl. קנאpi. in Ps 37,1). Er wird bestärkt, am Vertrauen in Gott und am Tun des Guten festzuhalten (vgl. Ps 37,3). „Die wichtigste Mitteilung ist der Inhalt einer Erwartung: Trotz aller Negativerfahrung in der Gegenwart bleibt die Tun-Ergehen-Ordnung in Kraft. Sie wird ihre Gültigkeit in Zukunft erweisen. […] Alles Gewicht liegt auf der Wirkfunktion des Psalms in ihren zwei wesentlichen Aspekten: zum einen geht es um die Beruhigung des von Zorn und Eifersucht erregten Adressaten. […] Der zweite wesentliche Aspekt der Wirkintention im Psalm ist die Hinführung zum neuen Vertrauen auf Jahwe (V. 3–5) als dem gerechten und treuen Gott, der seine Frommen nicht verläßt (V. 28).“575
572 Dohmen 1998, 316; vgl. auch Michel 1988, 13–34. 573 „Ps 37, 49, and 73 – all belong to the category of wisdom psalms in the eye of an opinio communis“ (Saur 2015, 187; vgl. Weber 2012, 289–306). 574 Nach Hubert Irsigler 1997, 71–72 stimmen die drei Psalmen im Hinblick auf drei geprägte Motive überein: erstens die schroffe Antithese von „Frevlern“ unnd „Gerechten“, zweitens die Anfechtung und Krise des Angesprochenen oder des Sprechers aufgrund aktueller Erfahrungen, die der Vorstellung vom Zusammenhang von Tun und Ergehen zuwiderlaufen, und drittens der Versuch, die Krise zu lösen, indem der Blick auf das Endgeschick bzw. die Zukunft gewendet werde. So sei der Weg aus der Krise den drei Psalmen zufolge das Streben nach Gerechigkeit als ein Streben nach der guten Ordnung Gottes. Ein Grund für die in vielerlei Hinsicht übereinstimmenden Fragestellungen, Konzepte und Überzeugungen, dem gemeinsamen theologiegeschichtlichen Ort und den übereinstimmenden sozialgeschichtlichen Voraussetzungen liege im entstehungsgeschichtlichen Hintergrund der „schweren sozialen Krise des 5. Jh. v. Chr.“ (Irsigler 1997, 72–73). Hier sind weitere Differenzierungen nötig: So sind Thema von Ps 49 die Verlockungen des Reichtums und von Ps 73 gerade die Attraktivität des Lebensentwurfs der Frevler (vgl. Schnocks 2014, 22– 27.145–151). 575 Irsigler 1997, 79–80. Vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 234: JHWH ist es, der „das Vertrauen auf JHWH als die eigentlich vom Menschen geforderte ‚Gerechtigkeit‘ offenbar machen wird“.
Auslegung
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Psalm 49 reflektiert mit dem Anspruch, universal zu belehren (V. 2–5), über den Wert des Vermögens des Reichen, dessen er sich rühmt (V. 7). Der Macht der Reichen setzt das betende Ich den Versuch einer Selbstermutigung in Form einer Frage (V. 6)576 entgegen und schließt eine „appellativische[…] weisheitliche[…] Lehrrede“577 an: Angesichts des identischen Ergehens von Weisen ( ֲח ָכ ִמיםin Ps 49,11) einerseits und Törichten und Dummen ( ְּכ ִסיל וָ ַב ַערin Ps 49,11) andererseits gilt auch für den Reichen: Unabhängig von Besitz und ihrem ethischen Tun sterben alle. Dieses Faktum ist nicht trivial, „sondern schlägt der Dogmatik der Vergeltung, d. h. den Gesetzen des Tun-Ergehen-Zusammenhanges ins Gesicht“578. Wer Gutes oder Böses getan hat, stirbt denselben Tod. Auch der Reiche kann sich nicht vom Tod loslaufen (V. 8–10, vgl. פדהin Ps 49,8), der Tod macht alle gleich (V. 11–13), aber, so der Ausweg aus der Krise, es gibt einen Unterschied; das betende Ich vertraut auf seinen Loskauf durch Gott: ד־ׁש ֑אֹול ִ ּ֖כי יִ ָּק ֵ ֣חנִ י ֶ ֽס ָלה׃ ְ ַֹלהים יִ ְפ ֶ ּ֣דה ַ ֭נ ְפ ִׁשי ִ ֽמּי ִ֗ ְך־א ֱ ַא „Aber Gott wird meine Nefeš aus der Hand der Scheol loskaufen, denn er wird mich nehmen. Sela.“ (Ps 49,16). Auf diese Weise „findet die erdrückende Ungerechtigkeit in der gesellschaftlichen Situation der Adressaten, die zur Frage an Gott wird, eine Antwort von grundsätzlicher Gültigkeit“579. Wenn das Ich auffordert: יתֹו׃ ֽ י־י ְר ֶּבה ְּכ ֣בֹוד ֵּב ִ֜ ל־ּת ָירא ִ ּֽכי־יַ ֲע ִ ׁ֣שר ִ ֑איׁש ִ ּֽכ ֭ ִ „ ַאFürchte dich nicht, wenn ein Mann reich wird, wenn er vergrößert den Besitz seines Hauses!“ (Ps 49,17), dann ermutigt er nicht nur andere innerhalb der eigenen Gruppe, an der ungleichen sozialen Situation nicht zu verzweifeln.580 Das Ich warnt davor, sein Leben am Reichtum auszurichten. Nicht auf den Wohlstand kann man vertrauen ( יראin Ps 49,17), sondern auf Gott, der aus dem Machtbereich des Todes auslösen kann. Das betende Ich von Psalm 73 blickt darauf zurück, wovor Ps 37 warnt, dass es sich nämlich angesichts des Wohlergehens der Frevler ereifert hat (vgl. קנא pi. in Ps 73,3). Dieses lässt den Zusammenhang von Tun und Ergehen fragwürdig erscheinen, stürzt das betende Ich in eine tiefe „Lebens- bzw. Gotteskrise“581 und verleitet das Ich zur Schlussfolgerung, dass es sich „ ִריקumsonst“ (Ps 73,13) um ethisch richtiges Handeln bemüht habe. Es leidet an der „Vergeblichkeit des
576 Anders Hossfeld/Zenger 1993, 304, für die V. 6 ein Zitat der in V. 7 genannten Reichen ist. Da der Sprecher von V. 7 aber von Sünde, die ihn umgibt, spricht, ist wenig wahrscheinlich, dass die Reichen sich wegen der Sünde anderer Mut zusprechen. Da im Psalmenkontext eher Reiche (V. 7) und Törichte bzw. Dumme (V. 11) in Beziehung gesetzt werden, erscheint es logischer, dass in V. 7 auf die Sünde der Reichen angespielt wird, der Sprecher von V. 7 also auf der Seite der Armen und Gerechten steht. 577 Irsigler 1997, 93. 578 Hossfeld/Zenger 1993, 305. 579 Irsigler 1997, 94. Frank-Lothar Hossfeld sieht hinter dem Sprecher „die Gruppe der Armen (V. 3.17), die sich zu Gottes Treue über den Tod hinaus bekennt (V. 16) und darin gerade ihre Zukunft vom Todeslos der Reichen unterscheidet“ (Hossfeld/Zenger 1993, 300) und die einen Grundpsalm, der Kohelet nahestehe, in V. 2–10.16–20 nachexilisch umfassend armentheologisch überarbeitet habe. 580 Vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 307. 581 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 334.
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Guten“582. Die Krise wird in direkter Anrede Gottes in der 2. Person vor einem nicht explizit benannten Auditorium, zu dem das Ich über JHWH in der 3. Person spricht, mit der Erkenntnis überwunden, dass die Frevler der endgültige Tod ereilen wird (vgl. Ps 73,18–20), der Gerechte jedoch „ ַא ַחרam Ende“ in die ewige Gottesgemeinschaft aufgenommen wird (vgl. Ps 73,23–28). Diese Erkenntnis ist nicht Ergebnis weisheitlicher Reflexion, sondern Gabe und Offenbarung (vgl. Ps 73,17). „Hauptfunktion des Psalms ist die Bekenntnisverkündigung auf der Basis der vom Sprecher neu gewonnenen Glaubensgewißheit. Die Bekenntnisverkündigung aber zielt auf Vertrauenswerbung bei gefährdeten Mitgliedern des ‚Kreises der Gottessöhne‘.“583 Dabei reflektiert das betende Ich darüber, dass es treulos geworden wäre, sich an Gott vergangen hätte, hätte es dem Geschlecht seiner Kinder (דֹור ָּבנֶ יָךin Ps 73,15) seine Skepsis gegenüber dem Ideal der Gerechtigkeit verkündet ( ספרin Ps 73,15). „V. 15 fungiert textpragmatisch als eindringliche indirekte Warnung vor dem Verrat an der Gottesgemeinde“584 und bezeugt „mit Formelementen des Dankpsalms (Notschilderung, Rettungserzählung, Bezeugung der gemachten Erfahrung, hoffnungsvoller Ausblick) den von diesem Beter gegangenen Weg aus der Krise […], um so zum ‚Nachgehen‘ eben dieses Weges einzuladen“585. Auch wenn Ps 34 nicht explizit von der Anfechtung des Ichs in der Krise erzählt, so steht doch die Erfahrung der Fragwürdigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs im Hintergrund. Im Unterschied zu den Psalmen, die sich direkt an Gott richten, wird er weder angeklagt, noch wird sein Einschreiten gefordert, was der Eigenart von Ps 34 als menschliche Unterweisung geschuldet ist. Das betende Ich versucht, die Brüchigkeiten des Weltbildes durch sein Bekenntnis zu überwinden und dieses mit der ethischen Lehre konzeptionell zu stützen und für ein Handeln entsprechend dieser Weltordnung zu werben. 2. נצלhi. – „retten“: Bekenntnis zur rettenden Gerechtigkeit Gottes In Ps 34 ist die Antithese von „Frevlern“ und „Gerechten“ präsent. Eine Krise des Ichs entweder wegen der Nachstellungen der Feinde oder dem Erfolg der Frevler wird nicht ausführlich beschrieben, doch ist sie Ausgangspunkt, JHWH zu suchen und ihn zu rufen (V. 5a.7a.9b), und damit Anlass für sein Rettungshandeln (V. 5b.7b). Dass ausgerechnet der Gerechte in Bedrängnis gerät, steht im Hintergrund von V. 16.18; explizit bringt dies V. 20 zur Sprache. Dem wird das Bekenntnis des betenden Ichs vor seinem Auditorium entgegengesetzt: JHWH rettet den Gerechten aus dem Bösen (V. 20), und diese Rettung ist für das Ich ebenso reale Erfahrung (V. 5) wie das Leiden des Gerechten. Das betende Ich von Ps 34 hat die Erwartung, dass aller Negativerfahrung zum Trotz der Tun-Ergehen-Zusammenhang gültig ist und dass dieser von Gott
582 Marböck 1983, 198. 583 Irsigler 1997, 88–89. 584 Irsigler 1997, 89. 585 Hossfeld/Zenger 32000, 334.
Auslegung
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in seiner Gerechtigkeit garantiert wird. Es stellt nicht die Frage nach dem Grund von Leid und Verfolgung, sondern bringt im Modus der Unterweisung seine Hoffnung zum Ausdruck, die es als in der Vergangenheit realisiert bezeugt. Es klagt nicht gegen Gott, sondern belehrt andere. Sein Bekenntnis und seine Unterweisung zielen in der sozialen Gruppe auf ethisch gutes Handeln, das im Vertrauen auf JHWH als guten Gott gründet, der den JHWH-Fürchtigen nahe ist. Das göttliche Handeln für den Gerechten wird zweifach beschrieben: Er rettet ( נצלhi.) zum einen aus allem Bösen (vgl. Ps 34,21b), wie auch das betende Ich von seiner Rettung aus Ängsten erzählt (V. 5b). In einer partizipialen Wesensaussage wird Gott zum anderen als derjenige gepriesen, der die Knochen des Gerechten bewahrt (מֹותיו ָ ל־ע ְצ ַ ׁש ֵֹמר ַּכin V. 22a), so dass keiner zerbrochen wird (לֹא נִ ְׁש ָּב ָרה in V. 22b). 3. „ ַע ְצמֹותKnochen, Gebeine“: Die Unversehrtheit der Gerechten In seiner Grundbedeutung bezeichnet ֶע ֶצםbzw. „ ַע ְצמֹותKnochen, Gebeine“. Sie sind damit „das Dauerhafteste und sozusagen […] Kern des Menschen“586. Dies zeigt sich insbesondere im Parallelismus membrorum, wenn sie parallel zu ּכ ַֹח „(Lebens-)Kraft“ (Ps 31,11), zu נֶ ֶפׁשNefeš (Ps 6,3–4; 35,9–10) oder dem Personalpronomen (vgl. Ps 51,10; 53,6) stehen. Die Beschaffenheit der „ ַע ְצמֹותKnochen, Gebeine“ spiegelt im Kontext des Psalters die Beziehung von Gott und Mensch wider. Diese kann entweder gestört oder intakt sein. In Ps 34 wird das positive Handeln Gottes aus zwei Perspektiven beleuchtet, die untersucht werden sollen. (1) Im Psalmenbuch insgesamt signalisiert der „desolate Zustand [der Gebeine] […] den körperlichen und psychischen Zusammenbruch“587, der der Gnade und Heilung von Seiten JHWHs bedarf: הו֑ה ִ ּ֖כי נִ ְב ֲה ֣לּו ֲע ָצ ָ ֽמי׃ ָ ְָח ֵּנ֥נִ י יְ הוָ ֮ה ִ ּ֤כי ֻא ְמ ֫ ַלל ָ ֥אנִ י ְר ָפ ֵ ֥אנִ י י „Sei mir gnädig, JHWH, denn schwach bin ich. Heile mich, JHWH, denn meine Gebeine sind bestürzt.“ (Ps 6,3). Die Gebeine haben sich getrennt ( פררhit. in Ps 22,15), verfallen ( עׁשׁשin Ps 31,11) oder zerfallen ( בלהin Ps 32,3). Mit dem Zerfall der Gebeine wird auf die Sterblichkeit des Menschen rekurriert (vgl. Ps 141,7), damit auch auf Erfahrungen des „Todes mitten im Leben“588. Insbesondere Ps 38 und 51 zeigen den Zusammenhang von körperlichem Verfall und gestörter Gottesbeziehung. Das betende Ich von Psalm 38 bittet JHWH, von seinem Zorn abzulassen, der zur Folge hat, dass nichts Heiles in seinen Gebeinen ist (ין־ׁשלֹום ַּב ֲע ָצ ַמי ָ ֵאin Ps 38,4). Den Grund für den göttlichen Zorn und damit den Unheilszustand der Gebeine führt es auf seine Sünden (אתי ִ ִמ ְּפנֵ י ַח ָּטin Ps 38,4) zurück. Moralisches Versagen und ethisch fragwürdiges Handeln betrifft folglich den ganzen Menschen, was hier in das Bild der körperlichen Auswirkungen gekleidet wird.
586 Keel 51996, 57. 587 Beyse 1989, 331. 588 Janowski 42013, 252–254.
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Explizit führt Psalm 51 diesen Zustand auf Gott zurück: יענִ י ָׂש ׂ֣שֹון וְ ִׂש ְמ ָ ֑חה ֵ ַ ּ֭ת ְׁש ִמ ית׃ ָ „ ָּ֜ת ֗ ֵג ְלנָ ה ֲע ָצ ֥מֹות ִּד ִ ּֽכLass mich hören Fröhlichkeit und Freude. Lass frohlocken meine Gebeine, die du zerschlagen hast.“ (Ps 51,10).589 Der dahinterliegende Grund sind auch in Ps 51 die vom Ich begangenen Sünden und seine Schuld. Das Fehlverhalten des Menschen kann dabei einem anderen Menschen gelten. Der Mensch muss sich vor Gott für sein Tun verantworten, hofft aber auch, dass die von Gott zerschlagenen Gebeine „wieder mit kraftvollem Leben erfüllt werden und in einen Freudentanz ausbrechen“590. (2) Umgekehrt sind gestärkte „ ַע ְצמֹותKnochen, Gebeine“ positives Indiz für ein gutes bzw. wieder hergestelltes Verhältnis von Gott und Mensch. Gott allein kann die Schuld vergeben, die zum Zerfall geführt hat, und kann somit die Gebeine wieder frohlocken lassen. Jesaja 58 spricht vom göttlichen Rettungshandeln in Bezug auf den ganzen Menschen von Nefeš und „ ַע ְצמֹותKnochen, Gebeine“. Kontext ist das scheinheilige Fasten der Menschen, während Gott Gerechtigkeit vom Menschen fordert (vgl. Jes 58,1–7). Wird diese umgesetzt, kommt es zur Heilung des Menschen (vgl. Jes 58,8). Zu dieser anbrechenden Heilszeit gehören auch Führung durch JHWH und Stärkung der Gebeine: מ־ ֹ חֹות נַ ְפ ֶׁ֔שָך וְ ַע ְצ ֙ וְ נָ ֲחָך֣ יְ הוָ ֮ה ָּת ִמיד֒ וְ ִה ְׂש ִ ּ֤ב ַיע ְּב ַצ ְח ָצ „ ֶ ֖תיָך יַ ֲח ִ ֑ליץUnd JHWH wird dich immer leiten, und er wird deine Nefeš in dürren Orten sättigen, und deine Gebeine wird er stärken.“ (Jes 58,11; vgl. Jes 66,14). Auch in Ps 34 ist von einem positiven göttlichen Handeln an den Gebeinen der Gerechten die Rede. Der göttliche Schutz wird aus zwei Perspektiven benannt: Gott ist zum einen ל־ע ְצמֹות ַ „ ׁש ֵֹמר ָּכBewahrer aller Knochen“ des Gerechten (V. 21a); zum anderen soll keiner zerbrechen ( ׁשברin V. 21b). (1) JHWH ist ל־ע ְצמֹות ַ „ ׁש ֵֹמר ָּכBewahrer aller Knochen“ (Ps 34,21a), wie er „Bewahrer der Einfältigen“ ( ׁש ֵֹמר ְּפ ָתאיִ םin Ps 116,6), „Bewahrer Israels“ (ׁשֹומר ֵ יִ ְׂש ָר ֵאלin Ps 121,4), „aller, die ihn lieben“ (ת־ּכל־א ֲֹה ָביו ָ ֶאin Ps 145,20), „von Treue“ ( ֶא ֶמתin Ps 146,6) und „der Fremden, Waisen“ ( ֶאת־ּגֵ ִרים יָ תֹוםin Ps 146,9) ist. Er steht auf der Seite derer, die in Not sind und die sich zu ihm bekennen. Dies zeigt sich in der Perspektive des Ichs von Ps 34 darin, dass er die Gerechten vor körperlicher und psychischer Beeinträchtigung schützt, vor „ ַרּבֹות ָרעֹותMengen an Bösem“ (Ps 34,20), die den Gerechten bedrohen. (2) Der göttliche Schutz und Beistand, den das betende Ich bekennt und für alle Gerechten erhofft (vgl. Ps 34,21a), wird mit der Zusage gesteigert, dass nicht einer der Knochen zerbrechen soll ( ׁשברin Ps 34,21b). Eine enge Parallele in der
589 Ganz analog führt auch der König Hiskia als Repräsentant und Vorbild Israels (vgl. Beuken 2010, 441) seine Krankheit auf JHWH zurück und klagt diesen als Verursacher des körperlichen Verfalls an: „Wie ein Löwe, so bricht er mir alle Knochen.“ (Jes 38,13). „Mit seinem Angriff auf die ‚Knochen‘ des Beters […] trifft er diesen in seiner Körperkraft und Persönlichkeitsstärke.“ (Beuken 2010, 433). 590 Hossfeld/Zenger 32007, 52. Da sich im weiteren Verlauf von Ps 51 sicher eine Anspielung auf Ez 36,26–28 findet, ist davon auszugehen, dass auch V. 10 an die Vision Ez 37, 1–14 von der Erweckung der toten Gebeine Israels anspielt.
Auslegung
277
Formulierung findet sich im kultischen Zusammenhang: Die Knochen des Pessach-Lammes sollen nicht zerbrochen werden (vgl. Ex 12,46; Num 9,12).591 Vom Zerbrechen ( )ׁשברder Knochen ist sonst nur im Gebet des Hiskia (vgl. Jes 38,13) die Rede. Dieser klagt JHWH an, seine Knochen zerbrochen zu haben. Ps 34 schreibt JHWH zu, dass er nicht zulasse, dass einer der Knochen zerbrochen wird. Hier sind es die Feinde des Gerechten, die potentiell Knochen des Gerechten zerbrechen könnten. Betont wird jedoch, dass JHWH für die vollkommene psychische und körperliche Integrität der verfolgten Gerechten sorgt. Ethisch vorbildliches Handeln werde sich also letztlich auszahlen. 3.4.5.2.5 Das Schicksal der Frevler (V. 22) Mit V. 22 wird die Gegenüberstellung von Gerechtem und Frevler fort- und damit die Frage nach dem Verhältnis von ihrem Tun und Ergehen, die mit V. 16 einsetzte, weitergeführt. Im Hinblick auf das Ergehen des „ ָר ָׁשעFrevlers“ wird ultimativ – „an extravagant claim“592 – von dessen Tod gesprochen. Es sei „ ָר ָעהBöses“, das ihn töte. Mit einer Verbalaussage im Hebräischen wird dem, der den Gerechten hasst, attestiert, dass er schuldig sei bzw. büße593 ( אׁשםin V. 22b). Im Folgenden wird also zu untersuchen sein, mit welchen Konnotationen die Rede vom ָר ָׁשע „Frevler“ verknüpft ist und welches Tun oder welcher Zustand mit dem Verb אׁשםbezeichnet wird. 1. ָר ָׁשע – „der Frevler“: Das Böse tötet ihn Ps 34 spricht zunächst vor allem aus der Perspektive des Bedrängten, der von seiner Rettung erzählt und aus dieser eine allgemeine Unterweisung ableitet. Ab V. 16 stellt das betende Ich zwei Gruppen gegenüber, die Gerechten und die Übeltäter, die nicht weiter charakterisiert werden. Erstmals wird dem Gerechten explizit „ ָר ָׁשעder Frevler“ (V. 22a) gegenübergestellt, und im Parallelismus membrorum wiederum der Frevler in Beziehung 591 Beyse versteht dies als Hinweis auf die ungeteilte Gemeinschaft der Israeliten, die durch das ungeteilte Tier zum Ausdruck kommt (vgl. Beyse 1989, 330). 592 Goldingay 2006, 485. 593 So die Übersetzung von Weber 2001, 165, der אׁשםmit „sich verschulden, Schuld büßen“ wiedergibt (vgl. auch Seybold 1996, 140). Goldingay 2006, 475 dazu: „The verb ’āšam covers the range of ‚commit an offense‘, ‚be guilty‘, and ‚pay the penalty‘“. Er übersetzt: „those who are against the faithful will suffer punishment.“ Hier stellt sich die Frage, wer der Urheber der Strafe ist: Gott? Der Mensch? Für Klaus Seybold ist klar: „Dies ist das Werk des Beschützers der Gerechten (vgl. 16) und des Richters der Frevler (vgl. 1).“ (Seybold 1996, 143). Peter C. Craigie spricht differenzierter vom „boomerang effect of wickedness“, bringt diesen aber gleichwohl in Zusammenhang mit göttlicher Verfügungsgewalt: „The judgment is thus a kind of divinely ordained freedom to remain within the terrible horizons of life – desolation and evil – which wicked persons have freely established for themselves.“ (Craigie 1983, 281). Es handelt sich also weniger um ein göttliches Strafhandeln, sondern insofern als Gott den Menschen in Freiheit entlässt, der das Gute oder Böse frei wählen kann, verhilft er der Ordnung zum Durchbruch, wonach das Tun des Bösen die Zerstörung desjenigen, der böse handelt, nach sich zieht.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
zu dem gesetzt, der den Gerechten hasst ( ׂש ֹנְ ֵאי ַצ ִּדיקin V. 22b). Damit wird insinuiert, dass die Gottlosigkeit des Frevlers in dessen Fehlverhalten dem Gerechten gegenüber besteht: Sein gottloses Tun stellt eine Bedrohung für den Gerechten dar. Im Zusammenhang mit dem Schlussvers wird deutlich, dass der „Frevler“ nicht zu den Dienern JHWHs ( ֲע ָב ָדיוin V. 23a) gehört. Der ָר ָׁשעist also ein „Frevler“ in dem Sinn, dass er ein Mensch ist, der sich von Gott abgewandt hat und sein Handeln nicht an der göttlichen Weltordnung orientiert. Weitere Konnotationen und Vorstellungen, die mit dem Lexem ָר ָׁשעverbunden sind, können intertextuell erhoben werden. (1) Von der Grundbedeutung her bezeichnet die Wurzel רׁשעden Zustand „frevelhaft, schuldig sein“594, steht also von der Bedeutung her der Wurzel אׁשם „schuldig sein, büßen“ nahe, die im Parallelismus membrorum von V. 22 begegnet. Das Substantiv ָר ָׁשעbzw. ְר ָׁש ִעיםerscheint gehäuft in der weisheitlichen Literatur, im Psalter, bei Ijob, im Sprüchebuch, aber auch bei Ezechiel. Prominent ist die Gegenüberstellung vom Schicksal der Frommen und der Frevler im Lied der Hanna (vgl. 2 Sam 2,9), das der Hoffnung auf eine Verkehrung der Verhältnisse und auf göttliche Gerechtigkeit Ausdruck verleiht. Im Psalter stehen ָר ָׁשעbzw. ְר ָׁש ִעים im Parallelismus membrorum mit den Feinden ( א ִֹיְביםin Ps 3,8; 17,9; 55,4), den Übeltätern ( ּפ ֲֹע ֵלי ָאוֶ ןin Ps 28,3; 92,8; 101,8; 141,9–10), den Bösen ( ְמ ֵר ִעיםin Ps 26,5; 37,9–10), dem Gewalttäter (חֹומץ ֵ in Ps 71,4; vgl. Ps 11,5; 140,5), den Abtrünnigen ( ּפ ְֹׁש ִעיםin Ps 37,38) und den Lügnern ( ּד ְֹב ֵרי ָכזָ בin Ps 58,4; vgl. Ps 109,2)595. Das Substantiv ָר ָׁשעist das „wichtigste[…] Oppositum zu ṣdq […] [und] Ausdruck für das negative Verhalten, für üble Gedanken, Worte und Werke, ein gemeinschaftswidriges Benehmen“596 und umgreift so die negativ qualifizierte ethische Tat, die damit verbundene Schuld des Handelnden und auch die Sanktionierung der Tat. „Der ]…[ ָר ָׁשעbezeichnet eine verfehlte Möglichkeit der eigenen Lebensgestaltung.“597 (2) Von den 82 Belegen im Psalter entfallen acht auf die Akrosticha Ps 9/10 und sechs auf Ps 37. Prominent sind die vier Belege im eröffnenden Psalm (vgl. Ps 1,1.4.5.6). Mit der Gegenüberstellung von Gerechtem und Frevler in Ps 1 wird deutlich, dass „der Psalter insgesamt Wegweisung für ein Leben aus und mit der Tora ist (Ps 1)[;] […] Ps 1 [gibt] der Hoffnung Ausdruck, dass dem Gerechten trotz aller Anfechtungen, wie sie der erste Davidpsalter (Ps 3–41) mit den Klagethemen ‚Feindbedrängnis‘, ‚Krankheit‘ und ‚Rechtsnot‘ beispielhaft vor Augen führt, das bleibende Glück der Gottesnähe zuteil wird“598. Ps 34 ist – wie auch die anderen Akrosticha – einer der Psalmen, der wesentlich dieser programmatischen Linie folgt. Im Folgenden sollen die Psalmen 1; 9/10; 37 und 73 (wegen seiner inhaltlichen Nähe zu Ps 1; 9/10 und 37) befragt werden, welches Bild vom Frevler sie zeichnen. 594 Van Leeuwen 62004, 813. Vgl. dort auch im Folgenden. 595 Ähnlich auch in Ps 34,14 die Aufforderung, sich von Lüge fernzuhalten. 596 Von Leeuwen 62004, 814. 597 Schnocks 2018, 273. 598 Hartenstein/Janowski 2012, 4–5.
Auslegung
279
In Psalm 1 werden Frevler, Sünder und Spötter (vgl. ַח ָּט ִאיםund ֵל ִציםin V. 1) parallelisiert. Während der Seliggepriesene sich an der Tora JHWHs orientiert (V. 2), tut dies der Frevler im Umkehrschluss nicht. Seine Gottlosigkeit besteht also darin, dass er sich in seinem Handeln nicht an der göttlichen Weisung und am göttlichen Willen orientiert. Ps 1 bekräftigt dabei „die Korrelation von Tun und Ergehen“599: Der Lebenswandel des Frevlers ist fruchtlos (V. 4–5), die Existenz des Gerechten blühend (V. 3). Mit dem Rekurs auf Gerechten und Frevler werden „nicht konkrete Einzeltaten, sondern ein ‚Lebensmodell‘ vor Augen“600 gestellt. Nicht die einzelne Tat ist per se als ethisch fragwürdig oder gut zu qualifizieren, sondern die Grundorientierung an der göttlichen Ordnung. Neben diese grundlegende Einordnung der ְר ָׁש ִעיםtritt in Psalm 9/10 eine konkretere, exemplarische Qualifizierung und Charakterisierung des ָר ָׁשע. Der ָר ָׁשע „Frevler“ stellt sich gegen „ ָענִ יden Armen“ (Ps 10,2.9), der explizit als „ נָ ִקיunschuldig“ (Ps 10,8) bezeichnet wird, obwohl diesem doch gerade die Sorge Gottes gilt. Daran wird die Gottlosigkeit des Frevlers offensichtlich. Er zeichnet sich aus durch „ ּגַ ֲאוָ הHochmut“ (Ps 10,2) (vgl. „ ְּכג ַֹבּה ַאּפֹוseine Hochnäsigkeit“ in Ps 10,4), was sich konkret in „ ָא ָלהFluch“ und ּומ ְרמֹות וָ תְֹך ִ „Betrug und Unterdrückung“ zeigt, die für die Unterdrückten „ ָע ָמל וָ ָאוֶ ןMühsal und Sorge“ (Ps 10,7) bedeuten. Im Tiervergleich wird sein hinterhältiges Verhalten verdeutlicht: Er sitzt im Hinterhalt und in Verstecken, späht und lauert wie ein Löwe auf seine Beute (Ps 10,8–9). Dabei ist entscheidend, dass er sich so verhält, als gäbe es keine göttliche Ordnung und vor allem keine göttliche Gerechtigkeit. Er behauptet und verhält sich, als würde Gott sich nicht für die Benachteiligten einsetzen (Ps 10,4.11). An der Ausrichtung auf diese Ordnung festzuhalten, auf Gott zu vertrauen auch angesichts des Erfolgs des Frevlers, ist Ziel von Psalm 37: ל־ּת ְת ַחר ַּב ְּמ ֵר ִעים ִ „ ַאNicht erzürne wegen denen, die tun!“ (Ps 37,1). Mit insgesamt 13 Belegen ist Ps 37 der Text mit den meisten Belegen für das Substantiv ָר ָׁשע. Immer wieder betont das betende Ich das Ende der Frevler; ihre Charakterisierung erfolgt weniger ausführlich. Entscheidend ist ihre Opposition dem Gerechten gegenüber ( ַצ ִּדיקin V. 12.32), dass sie sich primär Demütige und Arme (ָענִ י וְ ֶא ְביֹון in V. 14) und die Aufrechten Weges (ּד ֶרְךֶ י ְׁש ֵרי־ִ in V. 14) als Opfer suchen. Sie handeln nach bösen Plänen ( ע ֶֹׂשה ְמזִ ּמֹותin V. 7), sind gewalttätig ( ָע ִריץin V. 35) und hochmütig (ּומ ְת ָע ֶרה ְּכ ֶאזְ ָרח ַר ֲענָ ן ִ „sich spreizend wie eine üppige Zeder“ in V. 35). Ihr Tun scheint Erfolg zu haben, denn sie leben im Überfluss ( ָהמֹוןin V. 16). Dem gegenüber hält das betende Ich daran fest, dass Gott letztlich Gerechtigkeit für die bedrohten Gerechten herstellen wird.
599 Hartenstein/Janowski 2012, 14. 600 Hartenstein/Janowski 2012, 21.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Das scheinbare Wohlergehen der Frevler ist auch Stein des Anstoßes601 für das betende Ich von Psalm 73: אּולם׃ ֽ ָ ּוב ִ ֥ריא ָ מֹותם ָ֗ „ ִ ּ֤כי ֵ ֖אין ַח ְר ֻצ ּ֥בֹות ְלDenn für sie gibt es keine Qualen bis zu ihrem Tod, und wohlgenährt ist ihr Leib.“ (Ps 73,4). Wie auch in Ps 10 ist aus der Perspektive des Ichs602 der Hochmut ( ּגַ ֲאוָ הin V. 6) das Charakteristikum der Frevler; sie zeichnen sich aus durch Gewalt ( ָה ָמסin V. 6) und glauben sich vor dem göttlichen Gericht sicher: ע־אל וְ ֵיׁ֖ש ֵּד ָ ֣עה ְב ֶע ְליֽ ֹון׃ ֑ ֵ יכה יָ ַ ֽד ֥ ָ ֵא „Wie sollte Gott (es) erkennen? Gibt es Wissen bei dem Höchsten?“ (Ps 73,11). Im Gegensatz dazu steht die Erkenntnis des Ichs, die Offenbarung, die ihm zuteilwird: „ ַּב ֲע ָצ ְתָך ַתנְ ֵחנִ יIn deinem Rat wirst du mich führen.“ (V. 24). Gelingendes Leben ist nur möglich in der Orientierung am göttlichen Rat.603 (3) Mit der Rede vom Frevler in Ps 34 ist das Bild vom Frevler und die pädagogische Funktion der Rede von ihm, die sich in den genannten Psalmen abzeichnen, assoziiert. Der Frevler orientiert sich nicht an der göttlichen Ordnung. Er verkörpert ein bestimmtes Lebensmodell und eine bestimmet Haltung. Sein „Hochmut“ ist als ein sich Hinwegsetzen über die soziale und damit immer auch religiöse Ordnung zu verstehen. Damit ist er das Gegenbild zum Gerechten. Insofern er sich nicht an der göttlichen Ordnung orientiert, sind für ihn auch Mitleid und Schutz der Armen keine Größe. Für den Gerechten stellt er mit seinen Worten und Taten den Tun-ErgehenZusammenhang, ein göttliches Ordnen und eine göttliche Ordnung in Frage. Da Gott in der Vorstellungswelt der Psalmen Letztbegründung ethischen Handelns ist, gilt: Ohne Gott bzw. göttliches Eingreifen gibt es keinen Grund, ethisch gut zu handeln – so die Perspektive des Frevlers. Für die, die sich am göttlichen Willen orientieren wollen, ist der Frevler negatives role model. Sein Verhalten, nämlich sich nicht an der göttlichen Ordnung zu orientieren und gegen den Schwächeren zu agieren, wird abgelehnt. Indirekt wird damit das ethische Tun des Gerechten propagiert, der entsprechend der Ordnung Gottes handelt und den Armen unterstützt. Die pädagogische Aufgabe der Rede vom Frevler ist, die eigene Weltsicht durch Abgrenzung zu bestätigen. Die Opposition Gerechte – Frevler wirbt für das Lebensmodell der Gerechten. Diese Funktion hat die Rede vom Frevler auch in Ps 34, indem die Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bekräftigt wird: ָר ָׁשע ָר ָעה604מֹותת ֵ „ ְּתDen 601 Während im Psalter häufig im Modus der Klage oder Bitte von der Erfahrung ausgegangen wird, dass der Gerechte keinen Erfolg hat, der Frevler hingegen schon, bemüht sich das Sprüchebuch in der Gegenüberstellung von Gerechtem und Frevler um den Nachweis des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Der Frevler selbst bzw. sein Tun wird kaum näher charakterisiert, häufiger ist von den Folgen seiner Tat die Rede: Die Frevler sterben (Spr 10,25), ihre Jahre sind kurz (Spr 10,27), ihnen wird vergolten (Spr 11,31) (vgl. Ringgren 1993, 681). 602 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 339. 603 „Daß tatsächlich der ganze Lebensweg im Blick ist, wird in der Abfolge der Zeitstufen sichtbar: V 23 ist Vergangenheit, V 24a ist Gegenwart und V 24b Futur.“ (Hossfeld/Zenger 32000, 350). 604 Die seltene Form des Polel hat die Bedeutung des Intensiv oder Kausativ (vgl. BHG II § 20d und 28r) bzw. vertritt bei den Verba Mediae vocalis das Piel (GesK § 55c und 72p). KAHAL 287
Auslegung
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Frevler tötet das Böse.“ (V. 22a). Allerdings wird auch hier vermieden, von Gott als dem Verursacher seines Todes zu sprechen. Vielmehr ist es das vom Frevler verübte Übel, das seinen Tod verursacht. Letztlich ist er selbst also der, der seinen Tod herbeiführt (s. o. zu V. 17). 2. אׁשם – „schuldig sein“: Bleibende Konsequenz und Aufgabe für den Frevler Im Parallelismus membrorum von V. 22 entsprechen sich „ ָר ָׁשעFrevler“ und ׂש ֹנְ ֵאי „ ַצ ִּדיקdie einen Gerechten Hassenden“, die schuldig sind ( אׁשםin V. 22). (1) Auch wenn bislang in Ps 34 noch nicht davon die Rede war, dass es der Frevler ist, der das betende Ich bzw. die Armen bedrängt, so fügt sich doch insgesamt diese Gegenüberstellung in das Bedrängnis-Szenario des gesamten Psalms. Die Bedrängnis wird nun personalisiert und auf das ethische Versagen anderer zurückgeführt. Gleichzeitig werden der Bedrängte und die Armen zu den Gerechten. Die Stärke der Gegenüberstellung liegt in der Semantik der Wurzel ׂשנאbegründet, die „einen emotionalen Zustand der Aversion, der Abneigung“605 bezeichnet. Diese ist für den Psalter nicht ungewöhnlich. Immer wieder ist von der Bedrohung durch „Hassende“ die Rede, in der Regel jedoch in der 1. Person Sg.: הוה ְר ֵ ֣אה ֗ ָ ְָ ֽחנְ ֵ֬ננִ י י „ ָ ֭ענְ יִ י ִמּׂש ֹנְ ָ ֑איSiehe mich, JHWH, sieh auf mein Elend von Seiten meiner Hasser!“ (Ps 9,14; vgl. 18,18.41; 35,19; 38,20 u. ö.). Das betende Ich erfleht von JHWH die Rettung vor seinen Feinden. Ist der Gerechte Objekt des Hasses wie in Ps 34,22, so wird damit „eine moralisch negative Haltung angezeigt“606, indem nicht nur der Gerechte, sondern die Gerechtigkeit selbst verabscheut wird. ׂשנאbezeichnet also ein Tun und die Haltung: Der ׂש ֹנֵ אhasst den Gerechten, die Gerechtigkeit und Gott, der sie fordert. (2) Während im ersten Teil des Parallelismus membrorum von V. 22a vom Tod der Frevler die Rede ist, wird den Hassenden in V. 22b mit dem Verb אׁשםein Zustand zugeschrieben, dessen Bedeutungsspektrum zu erheben ist.607 Die meisten der 103 Belege für die Wurzel אׁשםgehören in den kultischen Bereich, z. B. im Buch Levitikus und Numeri; es handelt sich mit nur insgesamt sechs Belegen im Psalter und im Sprüchebuch um kein spezifisch weisheitliches Vokabular. Verwendet wird die Wurzel, um einerseits eine Situation der Schuldverpflichtung zum Ausdruck zu bringen, dass jemand jemandem etwas schuldig ist, andererseits, um eine Situation zu bezeichnen, in der jemand zur Schuld ableistung verpflichtet ist, also eine Schuld ableisten muss. Bezeichnet wird also nicht das Vergehen selbst oder eine bestimmte Art der Strafleistung, sondern die Konsequenz, die Verpflichtung, die aus der negativ gewerteten Tat erwächst. Die Konsequenz des Vergehens, die Verpflichtung, besteht darin, die gestörte Ordnung nennt als Bedeutung „umbringen“. Für Ps 34,22 ist diese Übersetzung insofern sehr angemessen, als im Deutschen Subjekt von „umbringen“ nicht zwangsläufig eine Person sein muss, sondern auch ein unpersönliches Agens sein kann. 605 Lipinski 1993, 829. 606 Lipinski 1993, 833. 607 Vgl. auch im Folgenden Knierim 62004, 251–257.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
wieder herzustellen: „Dabei zielt ‚Verpflichtung‘ immer auf die Ableistung“608. Die Bedeutung der Wurzel lässt also keinen Unterschied zwischen Schuld und Sühne oder Buße zu. Letztlich wird mit ihr die Verpflichtung des Menschen Gott gegenüber zum Ausdruck gebracht. Offensichtlich ist dies im kultischen Bereich. Aber auch im ethischen Bereich gilt: Mit schädigendem Handeln wird die gottgegebene Ordnung verletzt: „Theologischen Charakter hat das Wort insofern, als des Menschen Haftbarkeit Ausdruck, Ursache oder Folge göttlichen Urteilens und Handelns ist und als menschliche Situation oder Ableistung darauf bezogen ist. […] Der Grund für diese theologische Qualität von ’šm liegt in der Ansicht, daß menschliche Schuldverpflichtung grundsätzlich und in allem mit Gott zu tun hat. Folglich bedeutet jede Schuldableistung zugleich eine Haftpflichtverwirklichung gegenüber Gott. […] Dementsprechend wir ’šm von Gott erbeten oder angekündigt wegen der Unterdrückung des Gerechten (Ps 5,11; 34,22 f.)“.609 Weitere Dimension von אׁשם ist, dass es sich um eine „bewusst gewordene Schuld“610 handelt, die „das Verhältnis der Menschen untereinander wie die Beziehung zu Gott erheblich stört und die Kommunikation beeinträchtigt oder unmöglich macht“611. Die beiden Belegstellen von אׁשםim Psalter in Ps 5 als Verb und in Ps 68 als Substantiv sollen hier zunächst untersucht werden. Psalm 5 wird als Bitte eines Einzelnen mit Elementen von Klage charakterisiert.612 Nach der Bitte um Aufmerksamkeit an JHWH (V. 2–3) bekundet das betende Ich seine Bereitschaft zum Opfer am Morgen (V. 4). Dies wurde forschungsgeschichtlich als Hinweis auf ein Morgenopfer im Tempel verstanden. Die Rede vom Opfer am Morgen ist aber allgemeiner als Bitte an die Gottheit zu verstehen, sich des Ichs anzunehmen. Das Morgenmotiv hat – hergeleitet von der Vorstellung des morgendlich erscheinenden richtenden Sonnengottes – rechtlichsoziale Bedeutung. Insgesamt greift der Psalm kultische Motive und weisheitliche Vorstellungen auf, so die, dass Frevler nicht bei JHWH weilen dürfen, das betende Ich jedoch in den heiligen Tempel einziehen darf (V. 5–8; vgl. Ps 15 und 24). An die Bitte um Rechtleitung (V. 9) schließen sich eine Charakterisierung der Feinde (V. 9–10) und die Bitte nach dem unterschiedlichen Ergehen von Frevlern und JHWH-Treuen (V. 11–12) an: ׁשֹור ָ ֑רי ְ הו֤ה׀ נְ ֵ֬חנִ י ְב ִצ ְד ָק ֶ֗תָך ְל ַ ֥מ ַען ָ ְ י9 JHWH, leite mich in deiner Gerechtigkeit wegen meiner Feinde, ַהיְ ַ ׁ֖שר ְל ָפ ַנ֣י ַּד ְר ֶ ּֽכָך׃ mache deinen Weg vor mir gerade. ִ ּ֤כי ֵ ֪אין ְּב ֡ ִפיהּו נְ כֹונָ ֮ה10 Denn in seinem Mund ist nichts Verlässliches; ִק ְר ָ ּ֪בם ַ֫הּו֥ ֹות in ihrem Inneren ist Begehren. 608 Knierim 62004, 254. 609 Knierim 62004, 256. 610 Hieke 2014a, 235. 611 Hieke 2014a, 235. 612 Vgl. auch im Folgenden Hossfeld/Zenger 1993, 63–64.
Auslegung
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רֹונ֑ם ָ ְּוח ּג ַ ר־ּפ ֥ת ָ ֶ ֽק ֶב Ein offenes Grab ist ihre Kehle; ׁשֹונם יַ ֲח ִ ֽליקּון׃ ָ֗ ֜ ְל ihre Zunge machen sie glatt. ֹלהים ִ֗ ימם׀ ֱ ֽא ֵ֙ ַ ֽה ֲא ִׁש11 Lass sie schuldig sein, Gott; יהם ֥ ֶ ֹות ֵ֫ יִ ְּפ ֮לּו ִ ֽמּמ ֲֹע ֪צ sie mögen wegen ihrer Pläne fallen. יחמֹו ֑ ֵ יהם ַה ִּד ֶ ְּב ֣ר ֹב ִ ּ֭פ ְׁש ֵע Wegen der Menge ihrer Vergehen verstoße ihn, י־מרּו ָ ֽבְך׃ ֥ ָ ִּכ denn sie sind gegen dich widerspenstig gewesen. ֹוסי ָ֡בְך ֵ ל־ח ֪ וְ יִ ְׂש ְמ ֙חּו ָכ12 Alle, die auf Dich vertrauen, mögen sich freuen, עֹול֣ם ְי ַ֭רּנֵ נּו ָ ְל für die Ewigkeit sollen sie jubeln. וְ ָת ֵ ֣סְך ָע ֵל֑ימֹו Und beschirme sie, ְ �וֽיַ ְע ְל ֥צּו ְ֜ב ָ֗ך א ֲֹה ֵ ֥בי ְׁש ֶ ֽמָך׃ so dass wegen dir die, die deinen Namen lieben, frohlocken. (Ps 5,9–12)
In diesem Zusammenhang erscheint das Verb אׁשםhi. als erstes in der dreigliedrigen Bitte von V. 11 mit abschließender Begründung. Das betende Ich fordert Gott auf, seine von ihm beschriebenen Feinde schuldig sein zu lassen ( אׁשםhi. in V. 11a), sie fallen zu lassen ( נפלin V. 11b), und sie bzw. ihn, den Feind, wegzustoßen (נדח hi. in V. 11c). Als Gründe werden ihre niederträchtigen Pläne (V. 11b) und ihre Vergehen (V. 11c), die sich – im Kontext – auch gegen das betende Ich gerichtet haben, genannt. Diese Vergehen im sozialen Kontext werden schließlich als Aufbegehren gegen Gott gedeutet (V. 11d), so dass deutlich wird, dass jeder Verstoß gegen die soziale Ordnung immer auch Verstoß gegen die von Gott gewollte Ordnung der Gerechtigkeit ist. Psalm 68 stellt nicht zuletzt wegen der textkritischen Schwierigkeiten vor Herausforderungen. Das Spektrum, wie er verstanden wird, ist breit. Es reicht von Stimmen, die ihn einerseits als locker gereihte Anthologie verstehen, bis zu einem Verständnis als durchkomponierte Einheit andererseits.613 Für die ethische Fragestellung von Relevanz sind folgende Aspekte: Zunächst wird ein Gerichtsszenario evoziert, das der Gegenüberstellung von Frevler und Gerechtem entspricht. Gott erhebt sich gegen seine Feinde, d. h. der Frevler ist ein Feind Gottes. Die Feinde vergehen, die Gerechten hingegen haben Anlass zu Jubel. Das göttliche Gerichtshandeln stellt also Gerechtigkeit her (V. 2–4). Gott wird charakterisiert als תֹומים וְ ַדּיַ ן ַא ְל ָמנֹות ִ ְ„ ֲא ִבי יVater der Waisen und Anwalt der Witwen“ (Ps 68,6; vgl. Ps 146,9), der entsprechend handelt und sich den „Alleinstehenden“ ( יְ ִח ִידיםin V. 7; vgl. Ps 25,16) zuwendet und „Gefangene“ (ֲא ִס ִירים in V. 7; vgl. Ps 69,34) in die Freiheit führt. Die göttliche Gerechtigkeit ist auf der Seite der innerweltlich Benachteiligten, was Grund des Lobaufrufes ist (V. 4–7). Die Theophanie Gottes hat kosmische und soziale Auswirkungen. In Anspielung auf die narrative Tradition von Exodus und Landgabe durch „ זֶ ה ִסינַ יden von Sinai“ (V. 9) und in Anklängen an ugaritische Baal-Hymnen wird Gott in Gewitter und Erdbeben als Spender des Regens gepriesen, mit dem das dem Volk Israel 613 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 246.
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gegebene Erbland fruchtbar gemacht wird. Dies ermöglicht es den Geschöpfen Gottes ( ַחּיָ ְתָךin V. 11), dort zu wohnen. Dabei versorgt Gott in seiner Güte (טֹוב ְתָך ָ ְּב in V. 11) selbst den Armen ( ָענִ יin V. 11). Gerechtigkeit und Güte Gottes werden hier miteinander verbunden und schöpfungstheologisch grundgelegt. Die Präsenz Gottes in der Welt wird umfassend als Ursache für kosmisches und soziales Wohlergehen gesehen. Er ist Initiator der gerechten Weltordnung und sorgt gegen menschliches Fehlverhalten für Gerechtigkeit (V. 8–11). Nach Abschnitten, die die Gottesberg- und Heiligkeitstradition zum Thema haben (V. 12–15.16–19), wird im Kontext eines Lobpreises das unterschiedliche Handeln Gottes an der Wir-Gruppe und an seinen Feinden beschrieben (V. 20–24): 20 Gepriesen sei Adonaj Tag für Tag, der uns trägt, der Gott unserer Hilfe. Sela. 21 Der Gott für uns, ein Gott für Hilfen, und von JHWH, Adonaj, sind die Auswege aus dem Tod. 22 Gewiss, Gott zerschlägt das Haupt seiner Feinde, den Scheitel des Haares dessen, der in seiner Schuld wandelt. 23 Gesprochen hat Adonaj: „Von Baschan lasse ich umkehren. ָ֜א ִׁ֗שיב ִ ֽמ ְּמ ֻצ ֥לֹות ָיֽם׃ Ich lasse umkehren aus den Tiefen des Meeres, ְל ַ ֤מ ַען׀ ִ ּֽת ְמ ַ ֥חץ ַרגְ ְל ָ֗ך ְּ֫ב ָ ֥דם24 damit du deinen Fuß im Blut badest,614 ֹיְבים ִמ ֵּנֽהּו׃ ֥ ִ ְל ׁ֥שֹון ְּכ ָל ֶ ֑ביָך ֵמא (damit) die Zunge deiner Hunde an den Feinden ihren Anteil habe.“615 (Ps 68,20–24)615
ָ ּ֤ב ֣רּוְך ֲאד ֹנָ ֮י י֤ ֹום׀ י֥ ֹום ֽׁשּוע ֵ֬תנּו ֶ ֽס ָלה׃ ָ ְס־לנּו ָ֘ה ֵ ֤אל י ָ ֗ ַי ֲֽע ָמ מֹוׁש ֥עֹות ָ֫ ָ ֤ה ֵ ֣אל׀ ָל ֮נּו ֵ ֤אל ְ ֽל יהוה ֲאד ָֹנ֑י ֥ ִ וְ ֵל ּתֹוצ ֽאֹות׃ ָ ֜ ַל ָּ֗מוֶ ת ֹלהים יִ ְמ ַח ֮ץ ֤ר ֹאׁש ִ֗ ְך־א ֱ ַא יְביו ָק ְד ֥קֹד ֵׂש ָ ֑ער ָ֥ א ֹ֫ ִ֜מ ְת ַה ֗ ֵּלְך ַּב ֲא ָׁש ָ ֽמיו׃ ָא ַ ֣מר ֲ֭אד ֹנָ י ִמ ָּב ָ ׁ֣שן ָא ִ ׁ֑שיב
Während Gott sich der Wir-Gruppe helfend zuwendet, zerschlägt er das Haupt seiner Feinde. Im Parallelismus membrorum werden die Feinde dem zugeordnet, „der in seiner Schuld616 wandelt“ ( ִמ ְת ַה ֵּלְך ַּב ֲא ָׁש ָמיוin V. 22). Mit dem Dt-Stamm von הלךwird der dauerhaft ethisch negativ zu wertende Lebenswandel beschrieben617, in dem die Feinde verharren. Sie verletzen damit bewusst – so die Dimension von אׁשם – die gottgegebene Ordnung, die von Gott selbst wiederhergestellt wird. Aus der Perspektive der Wir-Gruppe, die Gott als „Gott für uns“ ( ָה ֵאל ָלנּוin V. 21) reklamiert, muss vor dem Hintergrund einer schöpfungstheologisch grundgelegten göttlichen Gerechtigkeitsordnung die Schuld der Feinde Gottes, die ihrer
614 Mit Hossfeld/Zenger 32000, 245: „ תמהץdu zerschlägst“ ist eine Verlesung von „ תרחץdu badest“ (vgl. Ps 58,11). 615 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 245: „Das schwierige מנהוwird üblicherweise mit dem Nomen מהת/‚ מנהAnteil‘ in Verbindung gebracht.“ 616 Der „Plural bei Schuld zeigt die vielen Sündentaten an“ (Hossfeld/Zenger 32000, 254), aber auch das Verharren in der Schuld. 617 So vor allem in der Wendung הלך ִל ְפנֵ י יְ הוָ ה, vgl. Helfmeyer 1977, 422.
Auslegung
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Schuldverpflichtung nicht entsprechen, zu göttlichem Eingreifen führen. Dies ist die einzige Möglichkeit, die wieder zu Gerechtigkeit führt, wenn der Schuldverpflichtete nicht zur Einsicht kommt. Griffe Gott nicht ein, wären damit seine Güte und Gerechtigkeit in Frage gestellt. Die Vorstellung, dass Gott Initiator und Garant der gerechten Ordnung ist, steht auch im Hintergrund von Ps 34,22: Schuldhaftes Handeln führt zu Schuld, so dass der Handelnde schuldverpflichtet ist, zur Verantwortung gezogen werden kann und sein Handeln bestimmte Konsequenzen nach sich zieht. Wer einen Gerechten hasst, der nimmt Schuld bewusst in Kauf und ist sich dieser Schuld bewusst. Allerdings vermeidet der Psalm an dieser Stelle, von einem direkten Eingreifen Gottes oder einem göttlichen Strafhandeln zu sprechen. So ist es das Böse, das tötet (V. 22). Die Tatsache des „Schuldigseins“ ( אׁשםin V. 22) liegt in der Tat selbst begründet. Bei dieser Überlegung bleibt Ps 34 jedoch nicht stehen, sondern schließt mit der Rede von „Erlösung“ ( פדהin V. 23). 3.4.5.2.6 Erlösung bei JHWH (V. 23) V. 23 gilt als literarisch sekundär618 bzw. wird auf eine nachexilische Redaktion zurückgeführt.619 Für seine spätere Hinzufügung spricht formal, dass er als פ-Vers wie der letzte פ-Vers von Ps 25 den akrostischen Versen von אbis תfolgt. Zwar ist der Vers sprachlich an den Alphabet-Teil rückgebunden ( חסהauch in V. 9; אשםauch in V. 22), geht aber auch mit dem neu eingeführten Lexem ( פדהV. 23) und dem erstmaligen Rekurs auf „ ֲע ָב ָדיוseine Diener“ (V. 23) über ihn hinaus. Inhaltlich machen Ps 34,16–22 das Tun des Menschen zum Thema, das zu einer unterschiedlichen göttlichen Reaktion führt. V. 16–17 beschreiben die göttliche Zuwendung dem Gerechten gegenüber als Rettung, während das Gedenken der Böses Tuenden ausgerottet wird. V. 18–21 zeigen, dass auch für die Übeltäter die Möglichkeit der Rettung besteht, weil Gott den zerbrochenen Herzen nahe ist. Dass auch den Gerechten Böses widerfährt, ist kein Grund, an der göttlichen Fürsorge zu zweifeln. V. 22 beendet diesen Gedankengang, indem er betont, dass jedoch derjenige auf der Seite des Todes stehe, der den Gerechten hasst, also bewusst Schuld auf sich nimmt. Insofern also kann V. 22 der ursprüngliche Schluss von Ps 34 gewesen sein. Daher erscheint die Annahme, dass eine nachexilische Redaktion bewusst eine Teilkomposition Ps 25–34 mit den Eckpsalmen Ps 25 und 34 geschaffen habe, plausibel. Auf diese Weise entsteht ein Spannungsbogen Bitte (Ps 25) – Dank (Ps 34).
618 So schon Gunkel 51968, 14: „Die letzte Zeile (Achter) ist wie Ps 25,22 Zusatz: eine weicher empfindende Zeit wollte das trostreiche Gedicht mit einem bösen Wort über den Gottlosen, sondern mit einem Trostgedanken schließen“. 619 Vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 211.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Diese Redaktion fügte dann auch die beiden Schlussverse ein, um so den Bezug zu unterstreichen.620 Für das Verständnis des ganzen Psalms ist zunächst die Semantik der Wurzel פדהund des Lexems ֲע ָב ִדיםbzw. die Zuordnung „seine Diener“ ֲע ָב ָדיוzu klären. 1. פדה – „erlösen“: JHWH als Erlöser Mit der Partizipialaussage ּפֹודה יְ הוָ ה נֶ ֶפׁש ֲע ָב ָדיו ֶ „Lösend (ist) JHWH die Nefeš seiner Diener“ (Ps 34,23) wird zugleich eine Aussage über das Wesen JHWHs und sein erlösendes Handeln an Menschen gemacht. Die Wurzel פדהwird gehäuft in legislativen Kontexten der Bücher Exodus, Numeri und Deuteronomium gebraucht.621 Geregelt werden ehe- bzw. sklavenrechtliche oder kultische Angelegenheiten, so der Loskauf einer Sklavin bzw. die Auslösung der Erstgeburt. Subjekte des Loskaufs bzw. der Auslösung sind Menschen; stets wird eine Gegenleistung nötig. Es gilt erstens, den Gebrauch von פדהin den Psalmen allgemein zu untersuchen. Exemplarisch sollen zweitens Ps 130, 26 und 49 näher auf ihre Vorstellungen im Kontext von „Erlösung“ untersucht werden, um so drittens die Bedeutung in Ps 34 zu erheben. (1) Von dem legislativen Gebrauch des Verbs unterscheidet sich die Verwendung von פדהin den Psalmen. פדהwird in der Regel mit göttlichem Subjekt kon struiert, und eine Gegenleistung wird nicht genannt: „Dadurch tritt der spezifisch rechtliche Gehalt zurück und der befreiend-rettende in den Vordergrund.“622 Als Parallelbegriffe werden „ עזרhelfen“ (Ps 44,27), „ גאלerlösen“ (Ps 69,10) und קרב „sich nähern“ (Ps 69,19) gebraucht. Im Kontext werden Aussagen über Wesen und Handeln Gottes gemacht: Er ist gnädig ( חנןin Ps 26,11); der Grund für sein erlösendes Handeln wird in seiner Treue ( ֶא ֶמתin Ps 31,6) und Gnade ( ֶח ֶסדin Ps 44,27) gesehen. Objekt der Erlösung kann ein Individuum (Ps 26,11; 31,6; 49,16; 55,19; 69,19; 71,23; 119,34) oder seltener ein Kollektiv (Ps 25, 22, 44,27; 78,42) sein. Dass dabei an umfassende Erlösung gedacht ist, zeigt die Verwendung der Lexeme נֶ ֶפׁש (Ps 49,16; 55,19; 69,19; 71,23) und רּוח ַ (Ps 31,6) und die Umschreibung des Zustands des Erlöstseins mit ( ָׁשלֹוםPs 55,19).
620 Vgl. Hossfeld/Zenger 1993, 211 und ausführlicher zu den Bezügen von Ps 25 und 34 Hossfeld/Zenger 1994, 375–388, damals mit der These, dass Ps 34 zunächst an Ps 26–32 anschloss und erst nach der Rahmung der Gruppe durch Ps 25 und 34 der Psalm 33 eingefügt worden sei, allerdings ohne Aussagen darüber, ob die abschließenden פ-Verse der Ps 25 und 34 vor oder nach der Einfügung von Ps 33 angehängt worden seien. 621 Vgl. auch im Folgenden Stamm 62004, 387–406. 622 Stamm 62004, 396. Mit göttlichem Subjekt wird das Verb פדהauch gebraucht, um das Befreiungshandeln JHWHs am Kollektiv Israel beim Auszug aus Ägypten zu beschreiben: „Und ich betete zu JHWH, und ich sagte: Adonaj, JHWH, vernichte dein Volk und dein Erbteil nicht, das du mit deiner Größe erlöst hast ()פדה, das du aus Ägypten mit starker Hand herausgeführt hast!“ (Dtn 9,26; vgl. Dtn 7,8; 13,6; 15,15; 21,8; 24,18). Rettungsaussagen mit dem Verb פדהscheinen in dieser Exodusterminologie zu gründen.
Auslegung
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Das erlösende Handeln Gottes wird als Befreiung „aus allen Bedrängnissen“ (רֹותיו ָ ָצin Ps 25,22), als Rettung „vor dem Bedränger“ (י־צר ַ ִ ִמּנin Ps 78,42) bzw. „wegen meiner Feinde“ ( ְל ַמ ַען א ַֹיְביin Ps 69,19) oder aus der „Bedrückung von Menschen“ ( ֵמע ֶֹׁשק ָא ָדםin Ps 119,134), aber auch als Befreiung „von allen seinen Sünden“ ( ִמּכֹל ֲעֹונ ָֹתיוin Ps 130,8) verstanden. Während also in den meisten Fällen konkrete soziale und persönliche Notsituationen gemeint sind, greift Ps 49 mit der Rettung „aus der Hand der Scheol“ (ד־ׁשאֹול ְ ַ ִמּיin Ps 49,16) darüber hinaus, da im Kontext des Psalms nicht nur an eine Rettung aus Todessituationen „mitten im Leben“, sondern auch über den Tod hinaus gemeint sein könnte.623 (2) Ethische Gesichtspunkte berührt der Gebrauch der Wurzel פדהin Ps 130 und 26. In Psalm 130 wird die Frage nach Schuld und Vergebung gestellt: ִ ׁ֥שיר ַ ֽה ַּמ ֲע ֑לֹות הוה׃ ֽ ָ ְאתיָך י ֣ ִ ִמ ַּמ ֲע ַמ ִ ּ֖קים ְק ָר ֹולי ֥ ִ ֲאד ֹנָ ֮י ִׁש ְמ ָ ֪עה ְב ֫ק ִּת ְה ֶי ֣ינָ ה ָ ֭אזְ נֶ יָך ַק ֻּׁש ֑בֹות נּונֽי׃ ָ ֜ ְל ֗קֹול ַּת ֲח ר־יּ֑ה ָ ם־עֹונ֥ ֹות ִּת ְׁש ָמ ֲ ִא מד׃ ֹ ֽ ֲ֜אד ָֹ֗ני ִ ֣מי יַ ֲע יחה ֑ ָ י־ע ְּמָך֥ ַה ְּס ִל ִ ִ ּֽכ ֜ ְל ַ֗מ ַען ִּתּוָ ֵ ֽרא׃ ֣יתי ְי֭הוָ ה ִקּוְ ָ ֣תה נַ ְפ ִ ׁ֑שי ִ ִקִּו הֹוח ְל ִּתי׃ ֽ ָ ְ ֽו ִל ְד ָב ֥רֹו נַ ְפ ִ ׁ֥שי ַ ֽלאד ָֹנ֑י ִמּׁש ְֹמ ִ ֥רים ֜ ַל ּ֗בֹ ֶקר ׁש ְֹמ ִ ֥רים ַל ּֽבֹ ֶקר׃ יַ ֵ ֥חל יִ ְׂש ָר ֵ֗אל ֶאל־יְ ֫הוָ ה הו֥ה ַה ֶ ֑ח ֶסד ָ ְי־עם־י ִ ִ ּֽכ וְ ַה ְר ֵ ּ֖בה ִע ּ֣מֹו ְפ ֽדּות׃ ְו֭הּוא יִ ְפ ֶ ּ֣דה ֶאת־יִ ְׂש ָר ֵ ֑אל ִ֜מ ּ֗כֹל ֲעֹונ ָ ֹֽתיו׃
1 Ein Stufenlied. Aus den Tiefen rufe ich Dich, JHWH. 2 Adonaj, höre meine Stimme, lass deine Ohren aufmerksam sein auf die Stimme meines Flehens. 3 Wenn du Sünden bewahrtest, JH, mein Adonaj, wer würde bestehen? 4 Doch bei dir ist Vergebung, so dass du gefürchtet wirst. 5 Ich hoffe auf dich, JHWH; es hofft meine Nefeš, und auf sein Wort harre ich. 6 Meine Nefeš (wartet) auf Adonaj, mehr als Wächter auf den Morgen, Wächter auf den Morgen. 7 Harre, Israel, auf JHWH, denn bei JHWH ist die Gnade, und Erlösung in Fülle ist bei ihm. 8 Und er, er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden. (Ps 130,1–8)
Schuld und Sünde werden als anthropologische Gegebenheit gesehen, wie die rhetorische Frage in V. 3 zum Ausdruck bringt. Bestehen kann der Mensch vor Gott nur aufgrund der göttlichen Vergebung (vgl. V. 4). Die Vergebungsbereitschaft Gottes führt beim Menschen zu Vertrauen, Hoffnung und Hinwendung (V. 4–6). 623 Vgl. den Forschungsüberblick und die Diskussion bei Liess 2004, 373–384, die sich für Letzteres ausspricht: „Indem Ps 49,16 die traditionelle Rettungssemantik der Klage- und Dankpsalmen in den neuen Kontext weisheitlicher Reflexion über das allgemeine Todesgeschick der Menschen stellt, erhält die Rettungsaussage eine neue, vertiefte Bedeutung: Sie gilt auch angesichts des Todes als letzte Grenze des Lebens.“ (Liess 2004, 381).
288
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Das individuelle Bekenntnis zur Hoffnung auf göttliche Vergebung (V. 4–6) wird zu einer kollektiven Aufforderung an Israel, auf Gott zu hoffen (V. 7–8). Begründet wird sie mit der bei Gott zu findenden Gnade ( ֶח ֶסדin V. 7) und Erlösung (ְפדּות in V. 7). Der Psalm schließt mit dem auf die Zukunft ausgreifenden Bekenntnis, dass Gott Israel von seinen Sünden erlösen werde (V. 8). ְּפדּותbzw. פדהbeziehen sich hier nicht nur auf eine Rettung aus allen Gefahren oder vor allen Bedrängern, sondern sind ethisch als umfassende Vergebung von Schuld zu verstehen, die die Vorstellung von einem Zusammenhang von Tun und Ergehen überschreitet: „Die besondere Pointe von V 7–8 liegt darin, dass JHWH ‚aus Liebe‘ Israel von seiner Selbstversklavung in Sünde und aus dessen selbstverschuldeter Todesverfallenheit befreit.“624 Ein ethischer Bezug ist auch mit Psalm 26 gegeben. Anders als für die Sünder und Blutmenschen ( ַח ָּט ִאיםund ַאנְ ֵׁשי ָד ִמיםin Ps 26,9) reklamiert das betende Ich für sich: „ ַ ֭ו ֲאנִ י ְּב ֻת ִ ּ֥מי ֵא ֗ ֵלְך ְּפ ֵ ֣דנִ י וְ ָח ֵּנֽנִ י׃Ich aber, in Tadellosigkeit gehe ich; erlöse mich und sei mir gnädig!“ (Ps 26,11). Mit dem Verbum הלךwird hier auf Lebenswandel und Lebensführung rekurriert, in Bezug auf die das betende Ich für sich ethische Integrität ( ּתֹםin Ps 26,11) reklamiert. Das Individuum in Psalm 49 reflektiert über die Unausweichlichkeit des Todes, angesichts dessen auch der Reichtum der Reichen keinen Vorteil bringt: ָ֗אח לֹא־ אֹלהים ָּכ ְפ ֽרֹו׃ ֣ ִ „ ָפ ֣ד ֹה יִ ְפ ֶ ּ֣דה ִ ֑איׁש לֹא־יִ ֵ ּ֖תן ֵלWehe, ein Mann kann gewiss nicht loskaufen, er kann Gott nicht sein Lösegeld geben.“ (Ps 49,7). Das betende Ich ist sich jedoch gewiss, dass Gott selbst es aus dem Tod retten kann: ד־ׁש ֑אֹול ְ ַֹלהים יִ ְפ ֶ ּ֣דה ַ ֭נ ְפ ִׁשי ִ ֽמּי ִ֗ ְך־א ֱ ַא „Aber Gott wird meine Nefeš aus der Hand der Scheol loskaufen.“ (Ps 49,16). Mit פדהwird hier also die Hoffnung auf Errettung aus dem Tod ausgedrückt. (3) Im Kontext der Rede von der Verpflichtung des Menschen durch seine Schuld ( אׁשםin V. 22.23) ist in Ps 34 für den Gebrauch des Verbs auch von einer ethischen Bedeutung auszugehen. Während in Ps 26 die Bitte um Erlösung gerade vor dem Hintergrund der beteuerten Tadellosigkeit des Lebenswandels folgt, sich also eher auf eine Rettung aus einer Notsituation bezieht, ist für Ps 34 im Kontext des Psalms und mit Ps 130 auch an eine Erlösung aus Schuld zu denken. Dass damit wie in Ps 49 auch an eine Rettung aus dem Tod zu denken ist, ist für Ps 34 nicht zu erkennen. Das erlösende Handeln JHWHs, das ihm als Wesenszug zugeschrieben wird (Partizip ּפ ֶֹדהin V. 23) und das sich an „die Nefeš seiner Diener“ richtet (V. 23), kann besser als Rettung aus einer Notlage verstanden werden, wie sie im ersten Teil des Psalms (V. 5–8) beschrieben wird. Es kann aber auch generell auf die bezogen werden, die sich JHWH zuwenden (V. 5a.6a.7a.8a.18a), wie auch der zweite Versteil davon spricht, dass die nicht schuldig sind, die bei JHWH Zuflucht suchen (V. 23b). In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, worauf sich die Wendung „Nefeš seiner Diener“ (V. 23) bezieht.
624 Hossfeld/Zenger 2008, 589.
Auslegung
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2. ֶע ֶבד – „Diener“: Übereignung an JHWH und Tun des Guten Das Substantiv ֶע ֶבדbezeichnet grundsätzlich jemanden, der einem anderen untergeordnet ist – als Sklave, Diener, Untertan, Beamter, Vasall oder als Verehrer eines Gottes.625 Im Folgenden soll die Funktion der Rede von ֶע ֶבדbzw. ֲע ָב ִדיםspeziell im Psalmenbuch in den Blick genommen werden, eine damit verbundene redaktionsgeschichtliche These vorgestellt und der Blick auf die ֲע ָב ִדיםals ethische Größe gelenkt werden. Auch die Nähe von Ps 34 zu Ps 25 soll bei der Frage nach dem Bedeutungsspektrum von ֲע ָב ִדיםberücksichtigt werden. (1) Als Selbstbezeichnung oder als Gruppenbezeichnung begegnet das Sub stantiv ֶע ֶבדbzw. ֲע ָב ִדיםvor allem im Psalter und bezeichnet dann zum einen, dass das betende Ich oder das Kollektiv sich bewusst JHWH zuordnet und zu ihm bekennt, zum anderen erscheint es im Rahmen der Bitte des Ichs um Zuwendung und Hilfe Gottes: Das betende Ich will sich mit der Selbstbezeichnung „Diener“ „als einen auf die Güte JHWHs angewiesenen Menschen darstellen […], vielleicht auch sein ‛æbæd-Sein als Grund für Gottes Eingreifen anführen (vgl. das kî in Ps 143,12 ‚denn ich bin dein Knecht‘ und wohl auch in Ps 116,16)“626. Während in menschlichen Herr-Knecht-Verhältnissen das Moment der Ausbeutung des Knechtes durch den Herrn überwiegen kann, ist für das Herr-Knecht-Verhältnis von Gott und Mensch allein der Fürsorge-Aspekt entscheidend. Neben den Stellen im Psalter, die eine Figur als – exemplarischen – „Diener JHWHs“ bezeichnen (David in Ps 18,1; 36,1; 78,70; 89,4.40; 132,10; 144,10; Mose in Ps 105,26; Abraham in Ps 105,6.42), bekennt sich auch das betende Ich selbst als „Diener JHWHs“ (mit ePP der 2. Sg. oder 3. Sg. in Ps 19,12.14; 27,9; 31,17; 35,27; 69,18; 86,2.4.16; 109,28; 116,16; 14 Belege in Ps 119; 136,22; 143,2.12). In der Regel wendet sich das betende Ich mit einer Bitte an JHWH und bringt seine Angewiesenheit auf göttliche Hilfe zum Ausdruck, so z. B.: ט־ּב ַ֗אף ְ ל־ּת ַ ל־ּת ְס ֵּ֬תר ָּפנֶ֙ יָך׀ ִמ ֶּמּנִ ֮י ַ ֽא ַ ַא ֹלהי יִ ְׁש ִ ֽעי׃ ֥ ֵ ל־ּת ַעזְ ֵ֗בנִ י ֱא ֽ ֜ ַ ל־ּת ְּט ֵ ׁ֥שנִ י וְ ַא ִ ֑ית ַ ֽא ָ ִ„ ֫ ַע ְב ֶ ּ֥דָך ֶעזְ ָר ִ ֥תי ָהיVerbirg dein Angesicht nicht vor mir; weise deinen Diener nicht ab in Zorn! Meine Hilfe bist du gewesen. Verstoß mich nicht und verlass mich nicht, Gott meiner Rettung!“ (Ps 27,9). In Ps 119 zeichnet sich das Diener-Sein vor allem durch die Orientierung am göttlichen Willen aus: „ ַּג֤ם ָי ְֽׁש ֣בּו ָ ׂ֭ש ִרים ִ ּ֣בי נִ ְד ָ ּ֑ברּו ֜ ַע ְב ְּד ָ֗ך יָ ִ ׂ֥ש ַיח ְּב ֻח ֶ ּֽקיָך׃Auch wenn Oberste gegen mich sitzen und verhandeln: Dein Diener sinnt nach über deine Satzungen.“ (Ps 119,23). Ein Kollektiv der „Diener JHWHs“ findet sich entweder als CsV mit Nomen rectum JHWH oder mit Rekurs auf JHWH mit ePP der 2. Sg. oder 3. Sg. in Ps 34,23; 69,37; 79,2.10; 89,51; 90,13.16; 102,15.29; 105,25; 113,1; 123,2; 134,1; 135,1.9.14. (2) Während die Frage nach dem ֶע ֶבדbei Deuterojesaja breit bearbeitet wurde, wurde bislang kaum nach dem ֶע ֶבדbzw. den ֲע ָב ִדיםim Psalmenbuch gefragt. Aus-
625 Vgl. auch im Folgenden Ringgren/Rüterswörden/Simian-Yofre 1986, 994.1000; Westermann 62004b, 182–200. 626 Ringgren/Rüterswörden/Simian-Yofre 1986, 1000.
290
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
nahme ist ein Aufsatz von Ulrich Berges,627 der im Zusammenhang der Frage nach redaktionellen Bearbeitungen und Trägergruppen in Bezug auf das Jesajabuch und den Psalter die Verwendung von ֶע ֶבדbzw. ֲע ָב ִדיםuntersucht. Für Ulrich Berges ist das Kollektiv der „Diener JHWHs“ bzw. der „Knechte“ im Psalter eine Gruppierung im nachexilischen Israel.628 Für seine Argumentation schließt er an die breit rezipierte These von Reinhard Gregor Kratz an, dass die fünf Psalmenbücher vor allem mit ihren Schlusspsalmen Phasen der Geschichte Israels abschreiten.629 Daraus ergibt sich seine Hauptthese, dass der Untergang des davidischen Königtums im Psalmenbuch wie bei Jesaja zu einer Demokratisierung der Königsvorstellung geführt habe und Anawim und Chasidim an die Stelle der davidischen Dynastie träten, die aber nicht identisch mit ganz Israel seien. Die Knechte erhofften die Restauration Zions; ihre Gruppe sei gleichzeitig auch offen für die Völker. Besonders in Ps 34 zeige sich das Selbstverständnis der Knechte als Arme: „Der armentheologische Begriff des ‚sich Bergens‘ ( ;חסהvgl. V. 9) zeichnet die Knechte als die aus, die allein JHWH Schutz und Hilfe erwarten. Mit dieser Unterschrift unter Ps 34 [gemeint ist V. 23] verstehen sich die Knechte als die Armen, von denen 34,3 und 34,7 ( )עניspricht.“630 Für die Rede von den „Knechten JHWHs“ im dritten bis fünften Psalmenbuch gelte, dass sie – zumal bei einer geschichtstheologischen Lektüre – ein Kollektiv bezeichne, dass in der Selbstreflexion die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die Ereignisse und Widerfahrnisse des Exils aufzuarbeiten sucht (vgl. Ps 79; 89; 90). Dabei ist nicht immer eindeutig, ob mit dieser Selbstbezeichnung allein die bewusste Hinwendung zu JHWH zum Ausdruck kommt, wie die Parallelisierung mit „ ֲח ִס ֶידיָךdeine Frommen“ (Ps 79,2) nahelegt. Dann könnte auch eine Teilgruppe Israels gemeint sein.631 An anderer Stelle liegt jedoch näher, dass „deine Knechte“ synonym für Israel steht (vgl. die Rede von Jakob in Ps 79,7 und „dein Volk“ in Ps 79,13; ַעםim Parallelismus membrorum in Ps 105,25). (3) Für die Frage nach den ֲע ָב ִדיםals ethische Größe gilt: Die Psalmen in den Psalmenbüchern III–V (vor allem Ps 79; 89; 90; 105) fragen mit ihren Geschichtsreflexionen nach der Ursache der Katastrophe des Exils und berühren damit auch
627 Vgl. Berges 2000, 153–178; vgl. auch Berges 2017, 11–33: Hier betont Ulrich Berges vor allem Übereinstimmungen von Jesaja und Psalmenbuch, die auf eine große Nähe der Tradenten beider Textkorpora schließen lassen. Zu denken sei an levitische Sängerkreise. 628 Vgl. Berges 2000, 154–155. 629 Vgl. Kratz 1996, 1–34. 630 Berges 2000, 173. 631 So die These von Berges 2000, 164, der auch argumentiert, dass im Rahmen der Aufforderung zum universalen Gotteslob ab Buch IV die Gruppe der Knechte „völkeroffen“ sei. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Ps 105,1 eine universale Perspektive hat. Ob allerdings eine textkritische Änderung von V. 6 gerechtfertigt ist, so dass mit 11QPs und LXX „Nachkommenschaft Abrahams, seine Knechte“ zu lesen sei und damit eine Entgrenzung der Israel-Perspektive vorgenommen werde (vgl. Berges 2000, 168), ist m. E. fraglich. So ist zumindest in V. 25 „Knechte“ Synonym für „Israel“.
Auslegung
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ethische Fragestellungen, wenn der Grund für Zerstörung und Exil im – wegen der Sünden Israels berechtigten – Zorn JHWHs gesehen wird: ֲעֹונ ֵ ֹ֣תינּו ְלנֶ גְ ֶ ּ֑דָך632ַׁש ָ ּ֣תה „ ֜ ֲע ֻל ֵ֗מנּו ִל ְמ ֥אֹור ָּפ ֶנֽיָך׃Du stelltest unsere Sünden vor dich hin, unser Verborgenes vor das Licht deines Angesichts.“ (Ps 90,8). Im Kontext der Rede von den „ ֲע ָב ִדיםKnechten“ findet sich vorwiegend die Bitte um Erbarmen (ראד ֹנָ י ֶח ְר ַ ּ֣פת ֲע ָב ֶ ֑דיָך ֲ֭ ֹ„ זְ ֣כDenke, Adonaj, an die Schmach deiner Knechte!“ in Ps 89,51; ל־ע ָב ֶ ֽדיָך׃ ֲ „ ְ ֜ו ִהּנָ ֵ֗חם ַעUnd erbarme dich über deine Knechte“ in Ps 90,13), so dass mit der Selbstbezeichnung „Knechte“ vor allem Zugehörigkeit zu und das Festhalten an JHWH im Vordergrund stehen. In Ps 105 bezeichnet „Knechte“ Israel als Volk JHWHs im Gegensatz zu den Ägyptern (vgl. Ps 105,25). Von diesem Gebrauch unterscheiden sich die beiden einzigen Belege für die Rede von den „Knechten“ in Ps 34 und 69 in den ersten beiden Psalmenbüchern. Beide Psalmen reflektieren als Ganze eher individualethische Fragestellungen bzw. thematisieren wie Ps 113 im fünften Psalmenbuch, der sich ebenfalls an die „Knechte JHWHs“ richtet, das Schicksal der Armen. Allerdings ist auch in Psalm 69, der zunächst nur aus einer individuellen Per spektive spricht, später von den „Knechten“ eher in einem universalen schöpfungsbzw. zionstheologischen Kontext die Rede: ְֽ ֭י ַה ְללּוהּו ָׁש ַ ֣מיִ ם וָ ָ ֑א ֶרץ35 Himmel und Erde sollen ihn loben, ַ֜י ִּ֗מים ְ ֽו ָכל־ר ֵ ֹ֥מׂש ָ ּֽבם׃ die Meere und alles, was in ihnen wimmelt. יע ִצּי֗ ֹון ַ ֹוׁש ֤ ִ ֹ֘להים׀ י ִ֙ ִ ּ֤כי ֱא36 Denn Gott wird Zion retten, הּודה ֑ ָ ְ֭יִבנֶ ה ָע ֵ ֣רי י ְ ְו und er wird die Städte Judas erbauen, ּוה׃ ָ וְ ָי ְׁ֥שבּו ֜ ֗ ָׁשם וִ ֵיר ֽׁש so dass sie dort wohnen und es in Besitz nehmen werden. ּוה ָ וְ ֶז ַ�֣רע ֲ֭ע ָב ָדיו יִ נְ ָח ֑ל37 Und der Same seiner Knechte wird es erben, נּו־בּה׃ ֽ ָ וְ א ֲֹה ֵ ֥בי ְׁ֜ש ֗מֹו יִ ְׁש ְּכ und die, die seinen Namen lieben, werden in ihm wohnen. (Ps 69,35–37)
Die ursprüngliche Zugehörigkeit von V. 35–37 wird bezweifelt.633 Hossfeld/Zenger schließen sich dem dreistufigen Entstehungsmodell von Norbert Tillmann an: V. 35–37 gehörten zur zweiten Fortschreibung, mit der der Lobpreis universalisiert, kollektiviert und eschatologisiert werde. Da die Verse eine große Nähe zu Ps 51,20–21 und Ps 102,14–21.29 aufweisen, könnten sie einer übergreifenden Redaktion zugeordnet werden, die starke Verbindungen zur Formation des Jesaja buches habe.634 Im Gesamtkontext des Psalms ergeben sich auch Verbindungslinien von den „Knechten“ zu dem bedrängten und armen Ich (V. 2–5.14–19), das sich als „Knecht“ bezeichnet ( ַע ְב ֶּדָךin V. 18) und den Loskauf durch JHWH erbittet ( פדהin V. 19), 632 Qere. 633 Vgl. Seybold 1996, 270. 634 Vgl. Hossfeld/Zenger 32000, 266.268–269 mit Bezug auf Tillmann 1993, 135 und Berges 2000, 153–178.
292
Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
zu den Demütigen, Armen und Gefangenen ( ֶא ְביֹונִ ים, ֲענָ וִ יםund ֲא ִס ָיריוin V. 33–34) und zur ethischen Frage nach Sünde und Schuld ( ִאּוַ ְל ִּתיund מֹותי ַ ַא ְׁשV. 6–7). Die V. 35–37 können somit als universalisierende Fortführung der individualethischen Fragestellung verstanden werden.635 Auf Endtextebene erhält so auch die Rede von den „Knechten“ in zionstheologischer Perspektive die vorher mit der Selbstbezeichnung des Ichs als „Knecht“ verbundenen Konnotationen: Ein Knecht, damit auch die Knechte zählen sich zu bzw. solidarisieren sich mit den Demütigen, Armen und Gefangen und orientieren sich damit an der von Gott vorgegebenen Ordnung, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Gleichzeitig bekennen sie sich zu ihrem eigenen ethischen Versagen angesichts dieser göttlichen Ordnung. Insofern also ist „Knechte“ im Gesamtkontext des Psalms auch ein ethischer Begriff. Dem steht der Hymnus Psalm 113 nahe. Die „Knechte JHWHs“ (V. 1) werden zum Lob Gottes aufgefordert. Da „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang“ (V. 3), so die Formulierung des Merismus, der Name JHWHs gepriesen werden soll, können die „Knechte“ hier als universale Kategorie verstanden werden. Als Begründung für das Gotteslob werden im Folgenden mit Partizipien die Größe und das Wesen JHWHs beschrieben (V. 4–6.7–9). Dabei wird das in seinem Wesen begründete Handeln JHWHs am Geringen ( ָּדלin V. 7), am Armen ( ֶא ְביֹוןin V. 7) und an der Unfruchtbaren ( ֲע ֶק ֶרתin V. 9) beschrieben. „Knechte“ und „Arme“ werden also nicht direkt in Verbindung gesetzt. Die Frage nach dem ethischen Handeln der Knechte kann von Ps 113 her nicht sofort beantwortet werden. Nur in einem sehr allgemeinen Sinn kann vom Kontext des Psalters (und Ps 34) her gesagt werden, dass mit dem Handeln JHWHs an Armen und Geringen indirekt auch seine „Knechte“ in der ethischen Verantwortung diesen Gruppen gegenüberstehen. In Ps 34 stehen die „Knechte“ oder „Diener“ im Parallelismus membrorum zu denen, die Zuflucht bei JHWH suchen ( ַהח ִֹסיםin V. 23b). Damit wird ein Grundthema des Psalms aufgegriffen: die Suche nach JHWH (vgl. V. 5a), das Schauen auf ihn (vgl. V. 6a), das Rufen nach ihm (vgl. V. 7a), das Vertrauen auf ihn (vgl. V. 8a), worauf JHWH mit seinem rettenden Handeln reagiert (vgl. V. 5a.6b.7b.8b). Explizit erscheint das Lexem חסהin der Seligpreisung von V. 9. Mit dem Plural ֲע ָב ָדיו wird hier also – wie für die singularische Verwendung bereits konstatiert – vor allem die vertrauensvolle Übereignung an JHWH zum Ausdruck gebracht, die die eigene Angewiesenheit auf göttliche Hilfe zum Ausdruck bringt und Gott an sein Fürsorgeverhältnis diesen Menschen gegenüber erinnert. Der Plural ֲע ָב ָדיוist
635 Entstehungsgeschichtlich ordnen Hossfeld/Zenger 32000, 268 diese Beobachtungen verschiedenen Fortschreibungen zu: Der Primärpsalm liege in V. 2–5.14cd–19.31 vor, d. h. ursprünglich wäre dieser Hypothese zufolge die Selbstbezeichnung des Ichs als „Knecht“ (V. 18). Die V. 6–14ab.20– 30.32–34 seien auf eine stark am Jeremiabuch orientierte und armentheologisch ausgerichtete Fortschreibung zurückzuführen, die identisch mit der Redaktion sei, die Ps 69–72 als Abschluss des zweiten Davidpsalters zusammengestellt habe (da auch die Ps 70–72 armentheologisch geprägt sind). Zudem sei diese Redaktion sündentheologisch imprägniert gewesen und habe den Bogen zu Ps 51, dem Eröffnungspsalm des zweiten Davidpsalters, geschlagen.
Auslegung
293
dem verallgemeinernden Lehr-Lern-Kontext geschuldet. Im Zusammenhang des Psalms sind die ֲע ָב ָדיוauch die, die sich entsprechend der Unterweisung des Sprechers verhalten: Der JHWH-Furcht entspricht das Tun des Guten und das Streben nach Šalom (vgl. V. 15). Zudem klingt auch die Hoffnung auf die Möglichkeit der Zuflucht bei JHWH im Fall von eigener Schuld an. Wer einen Gerechten hasst, nimmt Schuld bewusst in Kauf ( אׁשםin V. 22b). Wer jedoch bei JHWH Zuflucht sucht, ist nicht schuldig ( אׁשםin V. 23b). Als Bedingung für die Errettung wird also nicht ethische Integrität genannt, sondern die Hinwendung zu Gott. (4) Auch wenn Psalm 25 nicht von den „Knechten“ spricht, wurde er in der Vergangenheit herangezogen, um die Bedeutung der Rede von den ֲע ָב ָדיוin Ps 34 zu erheben. Auffällig ist die Tatsache, dass beide Akrosticha Ps 25 und 34 einen zusätzlichen פ-Vers aufweisen: Erlöse, Gott, Israel aus allen seinen Bedrängnissen! (Ps 25,22) רֹותיו׃ ָ ֹלהים ֶאת־יִ ְׂש ָר ֵ ֑אל ִ֜מ ּ֗כֹל ָ ֽצ ִ ְּפ ֵ ֣דה ֭ ֱא
JHWH erlöst die Nefeš seiner Diener, und alle, die bei ihm Zuflucht suchen, sind nicht schuldig. (Ps 34,23) ל־הח ִ ֹ֥סים ּֽבֹו׃ ַ ּפֹודה ְי֭הוָ ה ֶנ ֶ֣פׁש ֲע ָב ָ ֑דיו וְ ֥ל ֹא ֶ֜י ְא ְׁש ֗מּו ָ ּֽכ ֶ֣
So nennt Erich Zenger als Beispiel für die Verwandtschaft von Ps 25 und 34 den folgenden Punkt: „Beide Psalmen schließen mit einem Bikolon, das gegenüber der Alphabetabfolge überschüssig ist. Hier wird die Redaktion greifbar (Perspektive: ‚Israel und die Völker‘).“636 Anders als Ps 25, der Israel als Objekt göttlichen Erlösungshandelns im Blick habe, habe Ps 34 eine universale Perspektive. Einige Jahre früher hatte er in Bezug auf Ps 34,22–23 noch argumentiert: „Während der Frevler in seiner menschen- und gottverachtenden Bosheit seine Menschenwürde, ja sich selbst zerstört 22 […], gilt denen, die in ihrem Leid sich als ‚die Knechte Gottes‘ begreifen und am Weg der Gerechtigkeit festhalten, die Verheißung, daß JHWH sie erlösen wird 23 […]. Das ist die Sendung der Armen in Israel bzw. des armen Israel inmitten einer feindlichen Welt.“637 Hier werden die ֲע ָב ָדיוalso mit Israel bzw. einer Teilgruppe in Israel identifiziert. Bei aller formalen und inhaltlichen Nähe von Ps 25 und 34 unterscheiden sich beide doch auch in Bezug auf das Subjekt der Unterweisung (Ps 25: JHWH selbst; Ps 34: ein menschliches Ich), den Stellenwert, den das Faktum menschlicher Schuld einnimmt (Ps 25: explizit; Ps 34: implizit), und die Sprechhaltung (Ps 25: Bitte; Ps 34: Dank). Von einer vorschnellen Gleichung der Schlussverse der Art, dass Israel identisch mit den „Knechten“ sei, denen die feindliche Welt gegenüberstehe, ist abzusehen. Ordnet man beide Schlussverse einer gemeinsamen Redaktion zu, ist die Annahme, dass mit den „Knechten“ eine universale Perspektive eröffnet wird, möglich. Sie zeigt sich auch in Ps 113,1. Aufgrund der universal-ethischen Ausrich-
636 Zenger 1998, 21. 637 Zenger 1993, 214.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
tung von Ps 34 ist sehr plausibel, dass mit „seinen Knechten“ nicht auf Israel allein Bezug genommen wird, sondern auf alle Menschen, die sich JHWH zuwenden. Neben Hypothesen zu möglichen Trägergruppen der Redaktionen des Psalters ist für die Rede von den Knechten in Ps 34 also festzuhalten, dass sie sich als Größe dadurch auszeichnen, dass sie – anders als der Frevler – ihre eigene Angewiesenheit auf JHWH anerkennen. Grund für die Hinwendung zu JHWH sind Notsituationen und auch das Wissen um Schuld. Damit verbunden ist das Bestreben, sich am göttlichen Willen zu orientieren, was sich im Streben nach dem Guten und konkret in der Solidarisierung mit den Demütigen und Armen zeigt.
3.4.5.3 Ertrag für die Fragestellung Nach der Aufforderung zum Lobpreis (V. 2–4), den exemplarischen Rettungserzählungen (V. 5–8) und der Unterweisung in JHWH-Furcht (V. 9–15) ändern sich mit V. 16–23 Perspektive und Inhalt. Das Handeln JHWHs rückt in den Vordergrund. Der Problematisierungsgrad ist höher, wenn neben die Hoffnung auf göttliche Hilfe auch die Erfahrungen des Leids der Gerechten treten und ganz grundsätzlich die Brüchigkeit der Überzeugung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang zutage tritt. Indem der Psalm daran festhält, dass am Ende die göttliche Erlösung stehen wird, lässt sich der letzte Absatz V. 16–23 auch als Motivation für die Umsetzung der ethischen Ratschläge (vgl. V. 9–15) verstehen: Das ethische Tun des Menschen hat Konsequenzen für sein Verhältnis zu Gott und sein Ergehen. 3.4.5.3.1 Ethisches Tun und Gottes-Verhältnis Ab V. 16 wird die Beziehung JHWHs zum Menschen und sein Handeln an ihm in den Blick genommen. Mit Anthropomorphismen wird Gottes Weltverhältnis zum Ausdruck gebracht. Dabei ist die Vorstellung von der Personalität Gottes die Grundlage für Gottes Sein in der Welt und jede Relation zu ihr und dem Menschen. Vor dem Hintergrund der alttestamentlichen synthetischen Körperteilauffassung ist die Rede vom Körper Gottes Möglichkeit und Bedingung, Gottes Kommunikation und Handeln zur Sprache zu bringen. Dieses steht in Verbindung mit dem ethischen Tun des Menschen. So fungieren in Psalm 34 die göttlichen Augen ( ֵעינַ יִ םin V. 16) als Medium der Kommunikation. Im intertextuellen Raum des Psalters wird deutlich, dass mit ihrer Hilfe das ethische Tun des Menschen geprüft wird (vgl. Ps 11,4–5) und Gott entsprechend am Menschen handelt. Daher können der Gerechte und der Gottesfürchtige, der sein Handeln an der göttlichen Ordnung orientiert, auf Gottes Schutz und Rettung hoffen (vgl. Ps 18,25; 33,18–19; Ijob 36,5–7). Im Unterschied zum prüfenden Auge, das Rechenschaft fordert, zielt das Bild vom göttlichen Ohr auf das rettende und Gerechtigkeit herstellende Handeln Gottes. Das Ohr ( ָאזְ נַ יִ םin V. 16) nimmt die vormalige menschliche Kontaktaufnahme wahr, die meist aus einer Notlage resultiert und in der ein Mensch Gott um Hilfe bittet
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(vgl. Ps 10,17–18). Noch grundsätzlicher wird die Beziehung von Gott und Mensch mit der Rede vom Angesicht Gottes ( ָּפנִ יםin V. 16) zum Thema. Das Tun des Menschen führt zu zwei verschiedenen Formen der göttlichen Hinwendung. Mit dem göttlichen Angesicht werden radikal zwei Möglichkeiten der Gottes-Beziehung unterschieden: Die mögliche Rettung für den Gerechten (V. 16) und die Ausrottung dessen, der Böses tut (V. 17). 3.4.5.3.2 Konsequenzen aus dem Tun des Menschen Der alttestamentlichen Vorstellung zufolge ist Gott ein personaler Gott, der kommuniziert und handelt. Wie Gott am Menschen handelt, wird dabei in Abhängigkeit von dessen ethischem Tun gesehen. Während das Bild vom vergeltenden oder sogar rachsüchtigen Gott lange die Forschung bestimmte, rückt die Vorstellung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang die Selbstwirksamkeit der Tat in den Vordergrund, wobei Gott als Garant und Initiator des Zusammenhangs von Tun und Ergehen gesehen wird. Insgesamt ist eine Scheu der alttestamentlichen Texte zu beobachten, Gott und Strafhandeln in Verbindung zu bringen. So richtig diese Beobachtung ist, dass die Texte sehr zurückhaltend sind, Strafe und Tod auf Gott zurückzuführen, sondern oft unpersönlich vom Tod des Frevlers sprechen bzw. Gott nicht explizit als Subjekt des Strafhandelns benennen, gibt es auch die Vorstellung bzw. den Wunsch, dass JHWH sich gegen seine Gegner wendet (vgl. כרתhi. in Ps 12,4; 109,13). Zwar wird mit der Konstruktion mit Inf. cs. von כרתhi. in V. 17b Gott nicht explizit als Subjekt genannt. Nicht die Übeltäter selbst, sondern das Gedenken an sie ( זִ ְכ ָרםin V. 17b) soll vernichtet werden, so dass eine Nachahmung ihres Verhaltens unmöglich wird. Im Kontext von Ps 34 zeigt die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zuwendung Gottes gegenüber dem Gerechten und dem, der Böses tut, dass es Gott ist, der das Gedenken der Übeltäter ausrottet. Dies ist auf ihr Tun des Bösen zurückzuführen, denn nach V. 20a ist es „ ָר ָעהBöses“, das tötet ( מותpol in V. 20a). Wie Bernd Janowski gezeigt hat, lassen sich Vorstellungen zum Zusammenhang von Tun und Ergehen am besten mit der analog im Alten Ägypten anzutreffenden Idee der „konnektiven Gerechtigkeit“ beschreiben. Ihr zufolge ist Gerechtigkeit eine Kategorie der sozialen Interaktion und Aufgabe der menschlichen Gemeinschaft. Die Zurückhaltung, JHWH direkt ein eingreifendes Strafhandeln zuzuschreiben, kann darauf zurückzuführen sein, dass er primär als guter und barmherziger Gott verstanden wird. Es mag jedoch auch in dem Wissen begründet liegen, dass es zu kurz greift, von JHWH allein Gerechtigkeit zu erwarten, sondern dass deren Durchsetzung auch Ziel des Menschen sein muss. So ist in identischen Formulierungen auch der Mensch Subjekt des Gerechtigkeit schaffenden Handelns (vgl. Ps 101,8). Dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang kein Automatismus ist und Gerechtigkeit ein Anspruch an den Menschen ist, zeigt die Erfahrung des leidenden Gerech-
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ten. Zwar äußert sich Ps 34 weder im Modus der Gerichtsappellation (vgl. Ps 7) noch der Klage (vgl. Ps 22) oder der weisheitlichen Reflexion (Ps 37; 49; 73) darüber; die Realität des Leids auch des Gerechten ist jedoch auch in diesem Psalm im Rahmen der Unterweisung präsent. Wenn der Gerechte um Hilfe ruft (vgl. V. 16) und ihm Mengen an Bösem sind ( ַרּבֹות ָרעֹותin V. 20), dann zeigt dies die Brüchigkeit der Vorstellung einer Korrespondenz von Tun und Ergehen. Dass dem Gerechten Böses widerfährt, ist nach Ps 34 jedoch kein Grund, an Gottes Fürsorge und Gerechtigkeit zu zweifeln. Dies wird mit dem Bekenntnis des Ichs zur göttlichen Gerechtigkeit deutlich (V. 21.23): JHWH sorgt dafür, dass kein Knochen des Gerechten zerbrochen ist, entsprechend der synthetischen Körperteilauffassung also für physische und psychische Integrität. 3.4.5.3.3 Das Schicksal des Frevlers und des Gerechten Auf den ersten Blick stellt Ps 34 „klassisch“ Tun und Ergehen von Böses Tuenden ( ע ֵֹׂשי ָרעin V. 17a) bzw. dem Frevler ( ָר ָׁשעin V. 22a) und dem Gerechten (ַצ ִּדיק in V. 16a.20a) gegenüber. Während Auge und Ohr JHWHs beim Gerechten sind (vgl. V. 16), ist sein Angesicht gegen den Übeltäter gerichtet, was zur Auslöschung seiner Erinnerung führt (vgl. V. 17). Den Gerechten hört ( ׁשמעin V. 18) und rettet ( נצלhi. in V. 18) JHWH, ihm ist er nahe ( ַקרֹובin V. 19) und ihn bewahrt er ( ׁשמרin V. 21); der Frevler hingegen wird getötet ( מּותpol. in V. 20a); die, die den Gerechten hassen, sind schuldig ( אׁשםin V. 22). Jedoch zeigen genaue Textbeobachtungen und intertextuelle Vergleiche, dass Psalm 34 bei weitem nicht so eindeutig ist. Auf syntaktischer Ebene lässt sich festhalten, dass der masoretische Text anders als die antiken Versionen das Subjekt von V. 18, das sich mit der Bitte um Rettung an JHWH wendet, nicht explizit nennt. Die LXX lässt mit dem Textplus „die Gerechten“ nur eine Lesung zu. Der Rückbezug zum letztgenannten Böses Tuenden im hebräischen Text (vgl. V. 17) liegt jedoch näher als der auf die Gerechten (vgl. V. 16). Die Sündlosigkeit ist nach Ps 34 also keine Bedingung für die Rettung des Menschen, sondern auch Sünder können zu Gott schreien. Wenn JHWH י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרden zerbrochenen Herzen“ und י־רּוח ַ „ ַּד ְּכ ֵאdenen verzagten Geistes“ nah ist (V. 19), ist damit noch nicht gesagt, dass diese der Nähe Gottes bedürfen, weil sie schuldlos in Not sind. Das Psalmenbuch kennt zwar die Vorstellung, dass es Menschen sind, die das Herz anderer Menschen „zerbrechen“ (vgl. Ps 69,21). Es findet sich aber genauso die Vorstellung, dass das Herz des Sünders wegen seines Fehlverhaltens zerbrochen ist (vgl. Ps 51,18–19). Da V. 17 das Subjekt für V. 18 vorgibt, ist nach Ps 34 auch denen, die Böses tun, die Möglichkeit gegeben, sich an Gott zu wenden und um Rettung zu bitten. V. 19 liefert die Begründung: Gott ist den zerbrochenen Herzen nahe. Auch die Bedeutung des Verbs ( אׁשםV. 22) lässt sich nicht auf „büßen“ festlegen. Es bezeichnet weder ein bestimmtes Vergehen noch eine Strafleistung. Im Bedeutungsspektrum liegen die Schuldverpflichtung, die aus einer Tat erwächst, und die Situation der Schuldableistung. Mit dem Verb אׁשםwird vielmehr ein
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Handeln bezeichnet, das Schuld bewusst in Kauf nimmt. Für diese müssen sich die Menschen verantworten. Die Schuld verpflichtet vor Gott und den Menschen. Hier zeigt Ps 34 also die ethisch spannungsreiche Sicht, dass auch Übeltäter zu Gott rufen und von ihm gerettet werden können (V. 18), was weder Gottes Fürsorge für die Armen und Gerechten in Frage stellt (V. 20–22) noch ausschließt, dass der, der sich bewusst gegen den Gerechten und damit die göttliche Gerechtigkeit und Gott selbst stellt, durch das Böse, das er tut, getötet wird (V. 22). Dass die, die bei JHWH Zuflucht suchen, nicht schuldig sind, verweist schließlich auf die Möglichkeit von Umkehr und göttlicher Vergebung. 3.4.5.3.4 Erlösung als universales Angebot? Wenn Psalm 34 von göttlicher Erlösung spricht, ist dabei also sowohl an Erlösung des Armen oder Gerechten aus Bedrängnis (vgl. V. 5–8) und vor der Nachstellung durch Frevler (vgl. V. 22) zu denken als auch an Vergebung von schuldhaftem Verhalten derer, die bei JHWH Zuflucht suchen (vgl. V. 23). Mit der Wurzel פדהwird im Psalmenbuch ein nur Gott mögliches Handeln am Menschen bezeichnet, das keiner Gegenleistung bedarf. Dieses Handeln Gottes entspricht seinem Wesen und wurzelt in seiner Gnade (vgl. Ps 26,11; Ps 44,27) und seiner Treue (vgl. Ps 31,6). Erlösung ist ein umfassender Begriff, der sich sowohl auf Individuen als auch auf Kollektive bezieht und aus vielfältigen Formen von Not erwachsen kann. Mit Ps 130 ist dabei auch Erlösung aus Schuld und damit göttliche Vergebung gemeint: „ ְו֭הּוא יִ ְפ ֶ ּ֣דה ֶאת־יִ ְׂש ָר ֵ ֑אל ִ֜מ ּ֗כֹל ֲעֹונ ָ ֹֽתיו׃Und er, er wird erlösen Israel von allen seinen Sünden.“ (Ps 130,8). Anhaltspunkte, dass Verständnis von פדהwie in Ps 49 auf die Errettung aus dem Tod zu beziehen, liefert Ps 34 nicht. Im Parallelismus membrorum werden die, die bei JHWH Zuflucht suchen und bei ihm Erlösung finden, als „seine Diener“ (V. 23) bezeichnet. Die Rede vom Kollektiv der „Diener JHWHs“ im Psalmenbuch mag Rückschlüsse auf Trägergruppen erlauben, so Ulrich Berges. Mit der Selbstbezeichnung als „Diener JHWHs“ kommt in erster Linie die Angewiesenheit des Ichs auf göttliche Hilfe zum Ausdruck, das von JHWH Fürsorge und Rettung erhofft. Während an manchen Stellen eine Beschränkung auf Israel gegeben zu sein scheint (vgl. Ps 79,7.13; 105,25), stellen andere primär die bewusste Hinwendung des Menschen zu JHWH in den Vordergrund (vgl. Ps 79,2; 113; im schöpfungstheologischen Kontext Ps 69,37). Im Hinblick auf die Frage, auf wen die Rede von den Dienern JHWHs in Ps 34 zu beziehen ist, ist der Blick auf die Psalmengruppe Ps 25–34 aufschlussreich. Ps 25, der erste Eckpsalm, spricht in seinem Schlussvers, der ebenfalls ein an das Akrostichon angeschlossener פ-Vers ist, von der Erlösung allein Israels. Ps 34 lässt als Ganzer mit seiner Unterweisung in ethischem Verhalten keinen Israel-Bezug erkennen. Er plädiert für eine am Guten und der göttlichen Gerechtigkeit orientierte Lebensführung und ist mit seiner Glücklichpreisung des Menschen ( ַהּגֶ ֶברin V. 9) und der Anrede ( ָּבנִ יםV. 12) universal ausgerichtet. Ps 34 weitet also als zweiter Eckpsalm mit seinem פ-Vers die Möglichkeit der Rettung auf alle Menschen aus. Dies deutet darauf hin, dass auf Redaktionsebene beide Verse als bewusste
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Gegenüberstellung gestaltet wurden. Insofern ist der Schlussvers von Ps 34 mit seiner Rede von den „Dienern JHWHs“ universal zu verstehen. 3.4.5.3.5 Die ethische Relevanz für den Leser Im letzten Abschnitt des Psalms konfrontiert die Welt des Textes den Leser radikal mit den Konsequenzen des ethischen Tuns, die sich zwischen dem vollkommenen Kommunikationsabbruch und der heilvollen Gottesnähe bewegen. Er ist herausgefordert, sein eigenes Tun daraufhin zu überprüfen, ob er auf der Seite des Gerechten oder des Frevlers steht, bzw. sich überhaupt zur Vorstellung der menschlichen Verantwortlichkeit vor Gott zu verhalten. Der Psalm macht dabei deutlich, dass jedes ethische Handeln im Zusammenhang mit der Beziehung zu Gott steht. Dabei wird dem Leser als eine Option die Vorstellung der göttlichen Vergebung angeboten, die er probeweise übernehmen kann. Das betende Ich bezeugt die Nähe Gottes zu den Gerechten in ihrer Bedrängnis und die Überzeugung, dass diese nur vorübergehend sei. Es steht dafür mit seiner Existenz ein, insofern es von seiner eigenen Rettung spricht. Der Psalm zeigt, dass dem, der bei JHWH Zuflucht sucht, die Möglichkeit von Vergebung auch angesichts des eigenen ethischen Versagens offensteht. Der Leser kann sich mit dem Psalm als Gebet in diese Deutung von Welt hineinnehmen lassen. Sie wird ihm als Deutungsmöglichkeit seines eigenen Lebens angeboten.
3.5 Ps 34 im Gespräch mit Ps 25: Ethische Lektüre im Kontext der Psalterexegese „Da Psalmen Poesie sind und da sie bereits von ihren Verfassern als Wiedergebrauchstexte geschaffen wurden, erschöpft sich ihr Sinnpotenzial nicht in dem historisch erschließbaren Erstsinn. Sie haben vielmehr ein vielfältiges Bedeutungsund Sinnpotenzial. Dies zeigt sich bereits im Psalter selbst, wo die Einzelpsalmen durch ihre Einbindung in Psalmengruppen, in Teilpsalter und in den Gesamtpsalter zusätzliche Sinnhorizonte erhalten.“638 Ausgehend von dieser Grundthese der Psalterexegese lassen sich auch im Zusammenhang einer ethischen Lektüre der Psalmen neue Sinnhorizonte aufzeigen, wenn Psalmen in ein kanonisches Gespräch miteinander gebracht werden, das kompositionelle Beobachtungen berücksichtigt, die ihrerseits zu redaktionsgeschichtlichen Thesen führen. Formal entsprechen sich Ps 25 und 34 darin, dass es sich bei ihnen um ein einzeiliges Akrostichon handelt, bei dem der ו-Vers fehlt und ein zusätzlicher פ-Vers angefügt wurde. Der מ-, ׁש- פ,-ע-Vers und die Schlusszeile beginnen jeweils mit 638 Zenger 2009, 31.
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demselben Lexem. Inhaltlich berühren sich die beiden Psalmen in ihrem weisheitlichen Charakter. Für beide Psalmen ist die Bezugnahme auf „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ (Ps 25,9ab.16.18 und Ps 34,3.7) und die JHWH-Furcht (Ps 25,12.14 und Ps 34,8.10.12) zentral. In beiden Psalmen ist JHWH Befreier ( יׁשעhi. in Ps 25,5 und Ps 34,7.19), Retter ( נצלhi. in Ps 25,20 und Ps 34,18.20) und Bewahrer ( ׁשמרin Ps 25,20 und Ps 34,21). Beide Psalmen setzen die Vorstellung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang voraus und machen die Unterweisung in Fragen der Lebensführung zum Thema. Sie sind komplimentär im Hinblick auf die Bitte um Unterweisung in Ps 25 und den Dank für die erfolgte Rettung in Ps 34, aus der heraus die Unterweisung erfolgt. Die Ps 26–32 sind inhaltlich von der Jerusalemer Tempeltheologie geprägt und gruppieren sich um den zentralen Mittelpsalm Ps 29, der als Hymnus JHWH als Götter- und Weltenkönig besingt. Dabei markiert Ps 29 eine Zäsur bzw. Wende von der Bitte zum Dank. Das betende Ich von Ps 26 beteuert seine ethische Integrität und bittet JHWH um Hilfe und Erlösung. Angesichts von Verfolgung durch seine Feinde und Verleumdung durch falsche Zeugen bittet das betende Ich von Ps 27 Gott um seinen Beistand und seine Gnade. Ps 28 ist das Gebet eines Menschen, der um ausgleichende Gerechtigkeit bittet. Mit Ps 29 wird aus der Bitte Dank: So dankt das betende Ich von Ps 30 für seine Heilung und Rettung. In Ps 31 wird für die Rettung aus der Hand der Feinde gedankt. Und Ps 32 dankt für Vergebung von Schuld. Die Zusammenstellung von Ps 26–32 ist nach Hossfeld/Zenger von der spätexilischen Armenredaktion vorgenommen worden. Die Psalmengruppe als Ganze sei von der nachexilischen Armenredaktion mit den Ps 25 und 34 durch „grundsätzliche Lebensentwürfe des Armen“639 gerahmt worden. Ps 33 sei dann noch später eingefügt worden. Aus inhaltlichen Gründen, nämlich aufgrund der Themen Bund und Sündenvergebung, sei Ps 25 später als Ps 34 anzusetzen. Ps 25 und 34 können als Eckpsalmen der Komposition als Anfangs- und Endpunkt der inneren Entwicklung des Ichs in Bezug auf Fragen des menschlichen Tuns, nach Schuld und Vergebung, nach Unterweisung und Orientierung im Handeln gelesen werden. In Ps 25 klagt ein Beter-Ich, von V. 1 her kann es mit David identifiziert werden, über die Bedrohung durch Feinde und eigene Schuld und bittet JHWH um Rettung, Unterweisung und Rechtleitung.640 Das betende Ich beteuert sein Vertrauen zu JHWH angesichts seiner Feinde und appelliert an JHWH, seinen persönlichen Gott, es vor diesen zu retten (V. 1b–2). Es wünscht sich ausgleichende Gerechtigkeit, der folgend sich das Schicksal der auf JHWH Hoffenden und der treulos Handelnden entsprechend des TunErgehen-Zusammenhangs gestaltet (V. 3). Der Hauptteil des Psalms (V. 4–11) wird von der Bitte um göttliche Unterweisung einerseits und der um Gnade und Erbarmen andererseits bestimmt. Das Ich
639 Hossfeld/Zenger 1994, 386. 640 Vgl. Gies 2018.
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bittet um Unterweisung und Führung auf dem Lebensweg in einer Situation, die der Hilfe durch ֹלהי יִ ְׁש ִעי ֵ „ ֱאden Gott meiner Rettung“ (V. 5) bedarf. Komplementär steht dem der Appell an Gott gegenüber, an das betende Ich entsprechend seiner Gnade und Güte zu denken (V. 6). Erst jetzt bekundet das betende Ich explizit den Grund seiner Angewiesenheit auf göttliche Gnade und Güte: Es ist die eigene Sündhaftigkeit (V. 7). Von der Bitte an Gott um Erbarmen wechselt das betende Ich nun zu einer Reflexion über das Wesen Gottes. Dabei stehen die Güte Gottes und seine Unterweisung der Sünder in Beziehung zueinander (V. 8–10). Daraus resultiert wiederum die Bitte des Ichs um Vergebung seiner Schuld (V. 11). Eingeleitet mit der Frage nach dem JHWH-Fürchtigen bezeugt das betende Ich die positiven Konsequenzen von JHWH-Furcht und vertrauensvoller Orientierung des Lebensweges an Gott, was metaphorisch in der Gabe des Landes konkretisiert wird (V. 12–14). Mit V. 15 greift das betende Ich die Vertrauensaussagen und die Bitte um Überwindung der äußeren Feinde von V. 7 wieder auf (V. 15–22). In der ר-Strophe, der einzigen mit zwei Versen, werden die äußere Bedrohung und die innere Schuld miteinander verbunden (V. 18–19), so dass das betende Ich die Hoffnung darauf äußert, dass seine Orientierung an JHWH es letztlich retten wird (V. 20–21). Mit V. 22 wird der Blick auf ganz Israel geweitet, um dessen Erlösung das betende Ich bittet. Ausgehend von der zentralen Bitte im ל-Vers הו֑ה ְ ֽו ָס ַל ְח ָ ּ֥ת ֜ ַל ֲע ִֹ֗וני ִ ּ֣כי ָ ְן־ׁש ְמָך֥ י ִ ְל ַ ֽמ ַע ב־הּוא׃ ֽ „ ַרUm deines Namens Willen, JHWH, vergib meine Schuld, denn groß ist sie.“ (Ps 25,11) zeigt sich als das Problem, das Psalm 25 bearbeitet, die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Fehlerhaftigkeit. Das betende Ich leidet unter ihr. Der einzige Ausweg, den das betende Ich sieht, ist, sich vertrauensvoll an JHWH zu wenden, dem allein es möglich ist, es von עּורי ַ ְ„ ַחּטֹאות נden Sünden meiner Jugend“ und „ ְּפ ָׁש ַעיmeinen Freveln“ (V. 7) zu befreien und ihm Rettung zu bringen. Menschliches Fehlverhalten und Schuld und damit Erlösungsbedürftigkeit erscheinen hier als anthropologische Grundkonstanten. Die Feinde, die das betende Ich bedrängen, können gleichermaßen als personifizierte Schuld und im Rahmen der Vorstellung von Tun und Ergehen auch als Konsequenz der eigenen Sünde verstanden werden. Wenn das betende Ich sich als „ יָ ִחיד וְ ָענִ יeinsam und elend“ (V. 16) bezeichnet und von „ ָענְ יִ י וַ ֲע ַָמ ִליmeinem Elend und meiner Mühe“ (V. 18) spricht, dann kann man dies im Kontext des Psalms als metaphorische Umschreibung der Folgen seiner Sünde, der andauernden Schuld, der Hilfsbedürftigkeit, weil sich das Ich nicht selbst von der eigenen Schuld und ihren Folgen befreien kann, oder als konkrete Armut verstehen, die Folge der Sünde ist. Das betende Ich möchte nicht beschämt sein ( בוׁשin V. 2.20), sondern wünscht sich vielmehr die Scham der treulos Handelnden (V. 3). Scham soll als Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit Folge eines negativ zu bewertenden Verhaltens sein. Wenn das betende Ich sich wünscht, sich selbst nicht schämen zu müssen, kann dies zweierlei bedeuten: Entweder möchte es nicht zu Unrecht
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beschämt werden, z. B. durch Verleumdungen der äußeren Gegner, oder es klingt in V. 2 bereits an, was im Folgenden entfaltet wird: Die eigene Schuld, sozusagen der innere Feind, führt zur Selbstbeschämung des Ich. Das betende Ich will sich nicht schämen, sondern JHWH solle sich ihm in Gnade und Vergebung zuwenden (V. 6), und Tadellosigkeit und Geradheit, also ethisch einwandfreies Verhalten entsprechend der Geradheit JHWHs („ טֹוב־וְ יָ ָׁשר יְ הוָ הGut und gerade ist JHWH.“ in V. 8), sollen es vor Scham bewahren. Das betende Ich erhofft von JHWH zum einen Gnade („ ָר ֲח ֶמיָךdeine Erbarmungen“ in V. 6; „ וַ ֲח ָס ֶדיָךdeine Gnadenerweise“ in V. 6; „ ַה ְס ְּדָךdeine Gnade“ in V. 7) bzw. bittet ihn, gnädig zu sein ( וְ ָחּנֵ נִ יin V. 16), zum anderen aber auch Unterweisung und Belehrung. Von ungefähr 50 Versen im Psalmenbuch, in denen Gott Subjekt eines Verbs der Belehrung ist, begegnen sechs in Ps 25 (vgl. ידעhi. in V. 4.14; למדpi. in V. 4.5; ירהhi. in V. 8.12). Außerdem ist von göttlicher Führung (vgl. דרךhi. V. 5.9) die Rede. In diesem Zusammenhang dominiert auch die Wegmetaphorik (vgl. ֶד ֶרְךin V. 4.8.9.12; א ַֹרחin V. 4.10). Gnade und Orientierung in ethischen Fragen gehören diesem Verständnis zufolge zusammen. JHWH vergibt die Schuld der Sünde und ermöglicht mit seiner Unterweisung in Fragen der Lebensführung die Neuausrichtung des eigenen Verhaltens, die letztlich zu Wohlergehen führt (vgl. V. 13). Die Unterweisung im ֶד ֶרְךführt auch gleichermaßen „eine vollmächtige Klärung in ethischen Fragen [herbei] oder [eröffnet] in großer Not eine neue Existenzmöglichkeit“641. Dass JHWH Orientierung gibt, ist Teil seines Gnadenhandelns. Die Güte JHWHs (V. 7.8) besteht in seiner Unterweisung: יֹורה ַח ָּט ִ ֣אים ֖ ֶ ל־ּכ֤ן ֵ הו֑ה ַע ָ ְטֹוב־וְ יָ ָ ׁ֥שר י „ ַּב ָ ּֽד ֶרְך׃Gut und gerade ist JHWH, deshalb unterweist er die Sünder in Bezug auf den Weg.“ (Ps 25,8). Belehrt werden die Sünder, nicht die Gerechten. JHWHFurcht zeigt sich darin, sich von JHWH unterweisen zu lassen (V. 12). Die Orientierungslosigkeit des Ichs wird durch den Blick auf JHWH (V. 15) beendet. Die Rettung, die das betende Ich von JHWH erbittet, besteht in der Sündenvergebung (אותי׃ ֽ ָ ֹ ל־חּט ַ „ ְ ֜ו ָׂ֗שא ְל ָכUnd hebe auf alle meine Sünden.“ in Ps 25,18). Die göttliche Unterweisung steht dabei in Zusammenhang mit dem Bund und der Gabe der Tora ( ְּב ִריתֹו וְ ֵעד ָֹתיוin V. 10). Der Bundesschluss impliziert eine an Gott ausgerichtete Lebensführung des Menschen und göttliche Gnade und Treue. JHWH-Furcht, die in diesem Zusammenhang Orientierung an der göttlichen Unterweisung bedeutet, ist dieser Konzeption zufolge einerseits Bedingung für die Gottesnähe, andereseits Bundesverpflichtung. Der Zweck des Bundes besteht in der Unterweisung in einer Lebensführung, die den Menschen zu Gott führt (vgl. V. 14). Auch wenn der Psalm zwischen dem Ich und seinen Feinden ( א ַֹיְביin V. 2.19) bzw. den es mit Hass der Gewalt Hassenden ( ִׂשנְ ַאת ָח ָמסin V. 19), den auf JHWH Hoffenden ( קֹוֶ יָךin V. 3) und denen, die treulos handeln ( ַהּבֹוגְ ִדיםin V. 3), יִ ְׂש ָר ֵאל (V. 22) und seinen Bedrängern (רֹותיו ָ ָצin V. 22b) unterscheidet, verlaufen die Grenzen nicht so klar, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die, die auf JHWH hof641 Kraus 1978, 352.
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fen, sind gerade nicht die Gerechten. Dass die Feinde das betende Ich bedrängen, wäre der Vorstellung vom Zusammenhang von Tun und Ergehen folgend nur folgerichtig, schließlich ist das betende Ich ein Sünder. Wenn in den V. 8–9 dreimal parallel von der Unterweisung und Lehre durch JHWH die Rede ist, dann gehören „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ (V. 9) genauso wie „ ַח ָּט ִאיםdie Sünder“ (V. 8) zu den von JHWH Belehrten und Belehrungsbedürftigen. „ ֲענָ וִ יםdie Armen“ zeichnen sich demzufolge also nicht durch ihren tadellosen Lebenswandel aus, sondern durch ihre Ausrichtung auf JHWH, was gleichermaßen für die Gottesfürchtigen gilt. Die Bitte des Ichs um und seine Hoffnung auf Gnade bleibt bis zuletzt unerfüllt. Die jiqtol-Formen in V. 13 sind futurisch zu verstehen: Das Gute und die Gabe des Landes stehen noch aus. Imperative (V. 16a.17b.18a.b.19a.20a.22a) und Wünsche (V. 17a.b.20b.21a) bestimmen den letzten Abschnitt des Psalms. Für das betende Ich steht die erhoffte Vergebung noch aus. Beide Psalmen, Ps 25 und 34, haben – obwohl sie inhaltlich und formal eng miteinander verbunden sind – ein je eigenes Profil und akzentuieren verschiedene ethische Fragestellungen. Ps 25 ist ein individuelles Bittgebet eines Menschen – von V. 1 her ist es David, der hier nicht in seiner königlichen Rolle, sondern als „every man“642 und als Sünder spricht –, der Auswege aus der Realität der eigenen Schuld sucht und dabei um göttliche Vergebung und Unterweisung bittet. Seine Bitte wurzelt in der Überzeugung, dass Gott sowohl gut und gnädig als auch ethische Instanz für menschliches Verhalten ist. Ps 34 hingegen ist Lobpreis eines Menschen – von V. 1 her ist es David, der einer Bedrohung ausgesetzt gewesen ist –, der aus der eigenen Rettungserfahrung heraus die göttliche Hilfe und Rettung bezeugt und diese in eine ethische Unterweisung seiner Zuhörer überführt. Als Eckpsalmen einer Psalmengruppe erhalten beide Psalmen jeweils einen zusätzlichen Sinnhorizont. In der kanonischen Abfolge gelesen spricht auch in Ps 34 das betende Ich von Ps 25, das mit der eigenen Sünde und Schuld konfrontiert ist. Während es in Ps 25 mit seiner eindringlichen Bitte: הו֑ה ְ ֽו ָס ַל ְח ָ ּ֥ת ָ ְן־ׁש ְמָך֥ י ִ ְל ַ ֽמ ַע ב־הּוא׃ ֽ „ ֜ ַל ֲע ִֹ֗וני ִ ּ֣כי ַרUm deines Namens Willen, JHWH, vergib meine Schuld, denn sie ist groß.“ (Ps 25,11) an Gott appelliert und seiner Hoffnung auf die Vergebungsbereitschaft und Güte Gottes Ausdruck verleiht, ist ihm in Ps 34 die Schuld vergeben, und es bezeugt die göttliche Rettung: גּורֹותי ִה ִּצי־ ַ֗ ל־מ ְ֜ ּומ ָּכ ִ הו֣ה וְ ָע ָנ֑נִ י ָ ְָּד ַ ֣ר ְׁש ִּתי ֶאת־י „ ָ ֽלנִ י׃Ich habe JHWH gesucht, und er hat mir geantwortet, und aus allen meinen Ängsten hat er mich gerettet.“ (Ps 34,5). Von Ps 25 her gelesen bestätigt sich, die Rettung aus Ängsten nicht allein auf eine äußere Bedrohung, sondern auch auf innere Schuld zu beziehen. Gleichermaßen wird in der Zusammenschau deutlich, dass die JHWH-Suche die Suche nach göttlicher Rechtleitung ist, um die das betende Ich von Ps 25 bittet: חֹותיָך ַל ְּמ ֵ ֽדנִ י׃ ֣ ֶ א ְר ֹ ֖ יענִ י ֑ ֵ הֹוד ִ „ ְּד ָר ֶכ֣יָך ְי֭הוָ הDeine Pfade lehre mich!“ (Ps 25,4). Während das betende Ich von Ps 25 wünscht, dass die, die auf JHWH hoffen, sich nicht schämen müssen ( בוׁשin Ps 25,3; als Wunsch für sich 642 Wilson 1985, 173; Zenger 1998, 40–41.
Ps 34 im Gespräch mit Ps 25
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selbst in Ps 25,20), ist dieser Wunsch in der Vergangenheit von Ps 34 bereits realisiert ( חפרin Ps 34,6). Ps 25 beschreibt ausführlich, dass JHWH ein gnädiger und barmherziger Gott (Ps 25,6.7.16), gut und gerade ist (Ps 25,7.8) und Schuld vergibt (Ps 25,11.18). Wenn also Ps 34 JHWH als gut charakterisiert wird (Ps 34,9), dann umfasst diese Wesensbeschreibung bei der fortlaufenden Lektüre innerhalb der Psalmengruppe auch die in Ps 25 genannten Wesensmerkmale JHWHs. Das betende Ich von Ps 25 ruft JHWH wegen seiner Güte als Lehrer an und bittet um göttliche Unterweisung in Fragen der Lebensführung. Rettung und Rechtleitung sind für es identisch. Aus seiner eigenen Rettungserfahrung heraus kann das betende Ich von Ps 34 wiederum andere in JHWH-Furcht belehren. JHWH-Furcht wird so konturiert als Ausrichtung auf JHWH, die der Vergebung von Schuld entspricht und ein Leben dem göttlichen Willen entsprechend ermöglicht. Weil JHWH „gut und gerade“ (Ps 25,8) ist, unterweist er den Menschen. Weil er selbst in ethischer Hinsicht vollkommen ist, kann er Orientierung geben. Die ethischen Fragen sind Teil der Beziehung von Mensch und Gott. Wie das betende Ich von Ps 25 seine Augen beständig auf JHWH richtet (Ps 25,15), so richtet JHWH seine Augen auf den Gerechten (Ps 34,16). Aus der Erfahrung der eigenen Schuld heraus stellen sich dem betenden Ich ethische Fragen. Seine Reflexion gibt es an andere weiter. Die eigene Erfahrung bedingt die Authentizität der Lehre. Von Ps 25 her gelesen ist die Motivation für das ethische Handeln nicht göttliche Belohnung oder Angst vor äußerer Strafe, sondern das eigene Interesse, Schuld und damit das Leiden an der eigenen Schuld zu vermeiden. Wie Hossfeld/Zenger beschreiben, laufen innerhalb der Psalmengruppe Ps 25–34 die drei Bittgebete Ps 26–28 auf Ps 29 zu, von dem her wiederum drei Danksagungen Ps 30–32 kommen. Den Wendepunkt markiert der Hymnus von Ps 29 mit dem himmlischen und irdischen Lob für den erscheinenden Götterund Weltenkönig JHWH.643 Die Erscheinung JHWHs ist als Gewittertheophanie ausgestaltet. Im Kontext der Psalmengrupe 25–34, die von ihren Eckpsalmen her ethische Fragestellungen bearbeitet, lässt sich die Bitte הוה׀ ֓ ָ ְֽהוה ֹ֭עז ְל ַע ּ֣מֹו יִ ֵ ּ֑תן י ֗ ָ ְי ת־ע ּ֣מֹו ַב ָּׁש ֽלֹום׃ ַ „ ָיְב ֵ ֖רְך ֶאJHWH möge seinem Volk Kraft geben; JHWH möge mit Šalom sein Volk segnen.“ (Ps 29,11) auch als Wunsch nach ethisch gutem Handeln und umfassendem Wohlergehen lesen, das in der Gottesbegegnung wurzelt. Im Zusammenhang der Komposition Ps 25–34 ist es die von Ps 29 besungene göttliche Gegenwart, die den Menschen von Schuld befreit und ihm Orientierung im Handeln ermöglicht. Es ist in ethischer Hinsicht also das Erscheinen Gottes, das dessen Vergebung bedeutet und Ausgangspunkt für die Belehrung in Fragen der Lebensführung ist. Die Aufforderung zum JHWH-Lob in Ps 34,2–4 ist dann zu lesen als Fortführung der Ehrerbietung JHWHs, die Ps 29 zum Ausdruck bringt.
643 Vgl. Hossfeld/Zenger 1994, 378. Vgl. auch im Folgenden Hossfeld/Zenger 1993, 181.
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Biblisch-ethische Lektüre von Psalm 34
Hossfeld/Zenger halten als Anliegen der spätexilischen Redaktion, auf die die Psalmengruppe 26–32 zurückgeht, fest: „Sie knüpft an die Aussage von Ps 24,1– 5.7–10, der Begegnung zwischen dem einlaßberechtigten Gerechten und JHWH der Heerscharen, dem König der Herrlichkeit, im Jerusalemer Tempel an und konkretisiert diese Begegnung in den folgenden sieben Psalmen [i. e. Ps 26–32]. Der Tempel ist dabei der Ort der erbetenen bzw. erfahrenen Rettung, weil der Götterund Weltenkönig JHWH an ihm präsent ist (Ps 29).“644 Ps 24 beschreibt ein Modell ethischen Handelns, das die Gottesnähe vermittelt, die sonst vom Tempel erwartet wird. Er tut dies im Bild der Einlassliturgie. Ps 25 und 34 thematisieren mit ihren „grundsätzliche[n] Lebensentwürfe[n] des Armen“645 ethische Fragen ganz ohne expliziten Tempelbezug. Durch die Rahmung mit Ps 25 und 34 werden auch die inneren Psalmen Ps 26–32 zu Texten, die ethisch gelesen werden können. Ihre tempeltheologische Ausrichtung schließt – in Fortführung von Ps 24 – eine ethische Ausrichtung nicht aus, sondern gerade ein. Mit dem Bild von der rettenden Gegenwart Gottes im Tempel sind dann auch die göttliche Rettung im Zusammenhang von Sünde und Schuld und die Nähe zu Gott im Tun des Guten gemeint. Die Psalmengruppe als Ganze zeichnet sich so durch ihre ethischen Reflexionen aus.
644 Hossfeld/Zenger 1994, 383. 645 Hossfeld/Zenger 1994, 386.
4. Ergebnisse
Die Ergebnisse der Untersuchung sollen auf drei Ebenen festgehalten werden. Inhaltlich erweist sich Psalm 34 als ein Kompendium ethischer Schlüsselbegriffe, deren Bedeutungen durch den Kontext des Psalmenbuches und der hebräischen Bibel angereichert werden. Aufgezeigt werden soll weiter, wie der Psalm den Leser in seine Textwelt involviert, so in seine ethischen Vorstellungen verstrickt und ihm ethische Optionen anbietet. Schließlich soll das hier entwickelte Programm einer ethischen Lektüre biblischer Texte ausgewertet werden.
4.1 Psalm 34 – ein Kompendium ethischer Schlüsselbegriffe Als Lebenslehre eines Geretteten und Unterweisung in Gottesfurcht, die – „im Streben nach Šalom“ – zu glückendem Leben führen soll, ist Psalm 34 ein Kompendium ethisch relevanter Schlüsselbegriffe und Konzeptionen der Bibel. Der Psalm sammelt in sich ethische Zentralbegriffe und Überzeugungen, die vom Kontext des Psalmenbuches und der gesamten Bibel her verstanden, entfaltet und diskutiert werden können. Dabei vereinigt Ps 34 nicht nur typisch weisheitliche Konzeptionen in sich, sondern bezieht sich auch auf Vorstellungen der Tora und der Prophetie. Der Psalm kombiniert dabei weit verbreitete Schlüsselbegriffe mit selteneren Vorstellungen, so dass diese ein besonderes Gewicht erhalten. Die Verbindungslinien von Ps 34 reichen über die alttestamentlichen Schriften hinaus bis ins Neue Testament hinein. Nach der Überschrift entfaltet Ps 34 seine ethischen Konzeptionen in vier Teilen: Das betende Ich kündigt seinen Lobpreis an, der für die Armen Grund zur Freude sein soll (V. 2–4). Der Lobpreis hat seinen Grund darin, dass das Ich JHWH gesucht und dieser es gerettet hat (V. 5–8). Diese kurze Rettungserzählung wird auch zum Ausgangspunkt für den folgenden Abschnitt (V. 9–15), eine Belehrung über die Güte JHWHs, mit der das Ich seine Zuhörer, die es als Heilige JHWHs anspricht, unterweist. Das Ich wirbt für JHWH-Furcht als Weg zum Guten und setzt dabei voraus, dass alle Menschen nach glückendem Leben stre-
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Ergebnisse
ben. Veranschaulicht wird die Gottesfurcht, die ein Tun ist, das zu gelingendem Leben und zum Guten führt, in exemplarischen Handlungsmaximen. Während die ersten beiden Maximen, Zunge und Lippen vor Bösem zu hüten, auf den ersten Blick konkret zu sein scheinen und in den sozialen bzw. juridischen Bereich führen, sind die folgenden Anweisungen rein formale: „Weiche von Bösem und tue Gutes. Strebe nach Šalom und jage ihm nach.“ Allem Anschein und der Erfahrung von Leid zum Trotz bezeugt das betende Ich den Zusammenhang von menschlichem Verhalten und Gottesnähe. Letztlich werden die bestehenden Verhältnisse umgekehrt: Der bedrohte Gerechte wird gerettet; der Frevler wird vergehen. So steht JHWH auf Seiten der Gerechtigkeit und ist in besonderer Weise gerade den Leidenden nahe, die sich ihm zuwenden. Allerdings darf auch der, der Böses getan hat und sich an Gott wendet, auf Rettung hoffen. Erlösung wird allen verheißen, die sich Gott zuwenden (V. 16–23). Bei der semantischen Analyse wurde deutlich, dass einige Worte des Psalms nicht nur Schlüsselbegriffe für das Verständnis des Textes selbst sind, sondern dass ihnen vom Kontext des Psalmenbuches und der hebräischen Bibel weitere Sinndimensionen zuwachsen. Dabei ist das Verständnis eines Begriffes nie eindimensional, sondern die jeweiligen Konzepte sind stets facettenreich, werden diskursiv verhandelt und können zueinander in Konkurrenz stehen. Psalm 34 erweist sich so als Kristallisationspunkt ethischer Fragestellungen und biblischer Schlüsselbegriffe, die auch im Neuen Testament aufgegriffen und wieder neu mit Bedeutungen gefüllt werden. 1. Ausgangspunkt der ethischen Unterweisung sind die menschlichen Rettungserfahrungen, die das betende Ich als Grund für seinen Lobpreis nachliefert. Weil es von Gott gerettet ist, ruft das Ich zu Gottesfurcht und einem dieser gemäßen Verhalten auf. Dies entspricht der grundlegenden Denkfigur der Gründungserzählung Israels: Gott rettet und befreit sein Volk aus Ägypten. Mit dem Verb „ נצלherausreißen“ wird in Ps 34 ein Stichwort für das göttliche Rettungshandeln geboten, dass sich prominent auch in Ex 3,8 in der Ankündigung der Rettung Israels aus Ägypten findet (vgl. Ex 6,6; 12,27 u.ö.). Dort ist die Rettung Ausgangspunkt und Grundlage für die Bindung an die Tora und die Ausrichtung des Lebens nach der göttlichen Weisung. Ps 34 kennt diese Selbstverpflichtung auf Dekalog oder Tora jedoch nicht. Aus der persönlichen Erfahrung der Befreiung und Rettung heraus bindet sich das Ich in seinem Tun an Gott und damit an das Gute. 2. Mit dem Verweis auf die Rettung der „ ֲענָ וִ יםArmen“ wird ein ethisch entscheidendes Konzept eingespielt, das im Hinblick auf Theologie, Anthropologie und Ethik von Relevanz ist und religionsgeschichtlicher Einordnung bedarf. Der altorientalischen Konzeption entsprechend überträgt der Sonnengott dem König die Aufgabe, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen, wozu maßgebend die Fürsorge für die Schwachen gehört. Biblisch wird die altorientalische Königsideologie auf JHWH übertragen, der das Recht zugunsten der Armen durchsetzt. Mit der Theologisierung des Rechts geht mit dem Ende des Königtums eine Demokratisierung der Fürsorge für die Armen einher. Wird nun der Mensch zur Sorge
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für die Schwachen aufgefordert, so wird dies im Bundesbuch mit der Barmherzigkeit Gottes begründet (vgl. Ex 22,20–26). Ps 34 verweist mit dem Rekurs auf die Armen auf eine der zentralen ethischen Konzeptionen, die im gesamten Kanon entfaltet wird. So wird in den Rechtskorpora zur Solidarität mit den Armen aufgerufen (vgl. Lev 19,9–10; Dtn 15,11; 24,14–22 u.ö.), in den Büchern der Weisheit ist die Unterstützung der Armen Kriterium für ethische Integrität (vgl. Ijob 19,12), und die Prophetie expliziert, dass das Verhältnis zu den Armen unbedingte Konsequenzen für die Gottesbeziehung hat (z. B. Am 2,6–8; 5,11–13). Entsprechend bekennt das Psalmenbuch, dass sich Gott in besonderer Weise den Armen zuwendet (vgl. Ps 10,17–18; 22,27; 37,11; 68,11; 147,6; 149,4), und verankert die Armenfürsorge im Wesen Gottes: עֹודד ֲענָ וִ ים יְ הוָ ה ֵ „ ְמEin die Armen Aufrichtender ist JHWH.“ (Ps 147,6; vgl. 35,10). Die Selbstbezeichnung des Menschen als „arm“ impliziert einen besonders hohen Anspruch an das eigene ethische Handeln, um sich von den Frevlern abzugrenzen. Dafür bedarf es der göttlichen Unterweisung (vgl. Ps 25,9). Wie das betende Ich von Ps 34 solidarisiert sich das Ich auch in anderen Psalmen mit den Armen und fordert Gott zum Einschreiten heraus (vgl. Ps 12,8; 14,1.6; 18; 35,13; 37,7–11 u.ö.). Die Seligpreisung von Ps 41 empfiehlt die Beachtung des Armen, da an ihm das göttliche Rettungshandeln und Heil offenbar werden. Diese Einsicht ist keine theoretische, sondern eine lebenspraktische, die zur Parteilichkeit für den Armen führt (vgl. Ps 112,9). Armut ist dabei kein Ideal, sondern zeigt Gott als den, der Gerechtigkeit will. Theologie und Ethik sind hier untrennbar verbunden. Über das Stichwort des Armen spannt sich der Bogen von Ps 34 zu den Seligpreisungen der Bergpredigt. Diese verknüpft wiederum den ethischen Anspruch mit eschatologischen Hoffnungen. Dabei zeigt die Gegenüberstellung der matthäischen und lukanischen Fassung, dass der Armutsbegriff und damit die Frage, inwieweit mit ihm Zuspruch und ethischer Anspruch verbunden sind, weiter diskursiv verhandelt werden. 3. Mit „ יִ ְר ַאת יְ הוָ הGottesfurcht“ wird in Ps 34 ein weiterer praktisch-ethischer Schlüsselbegriff des Alten Testaments genannt. Was inhaltlich mit diesem Begriff verbunden wird, ist wiederum vielfältig. Wie die Heiligkeit Gottes den Menschen erschüttert (Jes 6), so gründet auch die Gottesfurcht in der Heiligkeit Gottes, bezeichnet jedoch nicht Angst, sondern eine Haltung des Menschen Gott gegenüber. Durch die Bindung an Gott gewinnt der Mensch Orientierung für seinen Lebensweg. Dtn 10,12–11,32 folgend entsprechen sich Gottesliebe und Gottesfurcht und zielen auf die Verinnerlichung des Gesetzes und die Lehre der kommenden Generation, an die wiederum Segen und Fluch im verheißenen Land gebunden sind. Inhaltlich zentral sind hierbei die Sorge für die Armen und die Liebe des Fremden. Gottesfurcht als lebenspraktischer Begriff wird als Anfang bzw. Grundlage von Weisheit verstanden (Spr 1,7; Ps 111,10). Die Erfahrung der Brüchigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ist Grund für das pädagogische Werben um Gottesfurcht, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Das Spektrum der als Gottesfurcht bezeichneten Konzepte reicht dabei vom abso-
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Ergebnisse
luten Vertrauen, mit dem Abraham seinen einzigen Sohn zum Opfer bereitstellt (Gen 22), bis zur Freude des Opferfestes, das Gottesnähe konkret erlebbar macht (Dtn 14). Die Vorstellung, dass sich Gottesfurcht im Tun des Willens Gottes zeigt, kann auch in den Tun-Ergehen-Zusammenhang eingefügt werden: Dem Gottesfürchtigen wird Lohn (Ps 128,4; Joh 9,31) verheißen; das Missachten der Gebote zieht Strafe nach sich (Spr 13,13). Wenn nun Ps 34 auf den Begriff der JHWH-Furcht rekurriert, dann werden diese vielfältigen Vorstellungen aufgerufen und individuell akzentuiert. Die eigene Rettungserfahrung ist für das betende Ich von Ps 34 Anlass für Lobpreis und Freude einerseits, für die Belehrung mit Gottesfurcht andererseits. Gottesfurcht gründet hier in der Erfahrung der göttlichen Zuwendung und Güte. Sie besteht in der Ausrichtung der eigenen Existenz auf JHWH, die auf seine Hilfe vertraut und auf das Gute, das glückende Leben, zielt. Ps 34 kennt dabei keine Bindung von JHWH-Furcht an die Tora. Was unter Gottesfurcht zu verstehen ist, entfalten die V. 14–15: Wahrhaftigkeit, die Ausrichtung des eigenen Handelns am Guten und das Streben nach Šalom, also ein Handeln entsprechend einer an Gerechtigkeit orientierten Weltordnung. Mit dem Aufruf zur Solidarisierung mit den Armen wird im Kontext des Psalms wiederum ein Hinweis gegeben, was gutes Handeln konkret bedeutet und wie die Suche nach Šalom zu glückendem Leben führt. 4. Ps 34 verknüpft den Aufruf zu Gottesfurcht durch die Anrede der Adressaten mit „ ְקד ָֹׁשיוseine Heilige“ mit dem Konzept der Heiligkeit. Die Frage, wem Heiligkeit zugesprochen wird, kann unterschiedlich beantwortet werden. Heiligkeit kommt in erster Linie JHWH zu. Dem Heiligen zugeordnet werden bestimmte Personengruppen wie die Nasiräer (Num 6) und die Priester (Lev 21). Im Zusammenhang kultischer Vorschriften sollen sich auch nichtpriesterliche Menschen für JHWH heiligen (Lev 11), und im Rahmen der Theophanie am Sinai wird Israel als Ganzes als „Reich von Priestern und heiliges Volk“ (Ex 19,6) zum Eigentum JHWHs erklärt. Nicht nur kultisch, sondern auch ethisch zu verstehen ist die Rede von der Heiligkeit Israels in Lev 19. Als Mitte der Tora ist Lev 19 damit primärer Referenzpunkt von Ps 34. Begründet wird die Heiligung Israels mit der Heiligkeit JHWHs: „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, JHWH, euer Gott.“ (Lev 19,2; vgl. Mt 5,48). Die Heiligkeit ist Auftrag an Israel und realisiert sich nicht nur im Kult, sondern im Alltag als imitatio dei im Tun der religiösen und sozialen Gebote. Rezeptionsgeschichtlich zentraler Anspruch ist dabei das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18; vgl. Mt 22,39 u.ö.). Im Psalmenbuch zeigt sich die Verbindung von göttlicher Heiligkeit und damit verbundenem Aufruf zum Tun des Guten am deutlichsten in Ps 24: Zutritt zum Tempel als Ort der göttlichen Heiligkeit hat allein der, dessen ethisches Verhalten der Heiligkeit Gottes entspricht, bzw. das ethische Verhalten wird zum Medium der außerkultischen Gottesbegegnung. Ps 34 greift das Konzept von Heiligkeit aus Lev 19 auf, unterscheidet sich aber dahingehend, dass der Bezug auf den Kult bzw. Tempel fehlt und sich die exemplarischen Maximen in V. 14–15 allein auf den sozialen Bereich beziehen. Verbunden werden ferner die Heiligen mit den Knechten JHWHs in V. 23. Während Ps 25
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um die Erlösung Israels bittet, spricht Ps 34 die göttliche Erlösung „ ֲע ָב ָדיוseinen Knechten“ zu und ermöglicht damit, die Beschränkung der Heiligkeit auf Israel aufzuheben. Die Möglichkeit der Heiligung im ethischen Handeln steht damit allen Menschen offen, was die Perspektive deutlich universalisiert. 5. Die mit einer rhetorischen Frage eingeleitete Unterweisung in JHWH-Furcht (V. 13–15) von Ps 34 bringt gleich mehrere ethische Grundbegriffe. Als anthropologisches Signum wird die Suche nach „ ַחּיִ יםLeben“ vorausgesetzt. In der Konzeption des Deuteronomiums sind Leben und Gebotsgehorsam identisch (Dtn 30,14–16). Leben und Heil sind zwar Gabe Gottes, gründen aber auch in der freien Entscheidung des Menschen. Während Ps 36 Leben an die Gegenwart Gottes im Tempel knüpft, betont Ps 34, dass Leben in qualitativer Hinsicht in menschlicher Verantwortung liegt, wenn das betende Ich Maximen nennt, mit denen Leben und Gutes zu erreichen sind. Die augenscheinlich konkreten Aufforderungen zur Wahrheitsverpflichtung von V. 14 bewegen sich im sozialen und politisch-rechtlichen Bereich, können aber auch auf ethische Integrität überhaupt bezogen werden. Im Gegensatz dazu scheint das Handeln Davids, auf das V. 1 anspielt, zu stehen, der sich durch vorgetäuschten Irrsinn vor Achisch rettet (1 Sam 21), was wiederum im Psalm als göttliche Rettung verstanden wird. V. 18 eröffnet ferner auch denen, die Böses tun, die Möglichkeit der Umkehr und Rettung. David steht damit exemplarisch für den, der der Wahrheitsverpflichtung von V. 14 nicht nachkommt, der sich aber in seiner Not an JHWH wendet und gerettet wird. Kanontheologisch primärer Bezugstext des zweiten Appells, „ ַרעBöses“ zu meiden und „ טֹובGutes“ zu tun (V. 15), ist Gen 2–3. Der Gebrauch des Wortpaares für das Lebensförderliche bzw. -abträgliche zeigt, dass die beiden ethischen Schlüsselbegriffe „gut“ und „böse“ nicht auf abstrakte Prinzipien verweisen, sondern eine praktisch-ethische Urteilsfähigkeit meinen, die sich mit „richtig“ und „falsch“ auf das Wohlergehen des Menschen bezieht. Für Am 5,14–15 ist die Suche nach dem Guten identisch mit der Suche nach Gott. Nähe Gottes ist im Tun des Guten gegeben, das sich in der sozialen Verantwortlichkeit und der Umsetzung im Recht zeigt. Auch Ps 34 verdeutlicht, dass die Suche nach dem Guten und Lebensförderlichen nicht die Sicherung des eigenen Vorteils meint, sondern mit dem Verweis auf die Armen soziale Verantwortlichkeit und die Orientierung an Gerechtigkeit impliziert. Den Gerechten und damit die Gerechtigkeit zu hassen sowie Schuld bewusst in Kauf zu nehmen, hat jedoch unbedingte Konsequenzen: Das Böse tötet (V. 22). Auf Orientierung an Gerechtigkeit wird vor allem mit dem Begriff ָׁשלֹוםŠalom verwiesen. Als Gabe Gottes ist Šalom eine Größe des göttlichen Heils in sozialer und kosmisch-materieller Hinsicht, wie Ps 85 eschatologisch entfaltet. Šalom ist aber auch Folge der Gerechtigkeit des Menschen und kann mit der Liebe zur Tora verbunden werden (Ps 119). Der altorientalischen Königsideologie entsprechend ist es vornehmliche Aufgabe des Königs, die gottgewollte Ordnung durchzusetzen, die zu Šalom führt (vgl. Ps 72). Das Bild der Jagd beschreibt dabei die Aufgabe des Königs, das Böse und das Chaos abzuwehren und damit den Sieg des Guten und der Ordnung, die heilvolles Leben ermöglicht, herbeizuführen. Ps 34 greift diese
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Ergebnisse
Vorstellungen auf, bezieht sie jedoch nicht auf die Tora und transformiert die Verantwortung für Šalom zur Aufgabe aller Menschen. Mit der Rede von Šalom als Größe des göttlichen Heils verweist Ps 34 voraus auf die jesuanische Verheißung vom Leben in Fülle (Joh 10,10) und fragt nach deren ethischen Implikationen. 6. Ps 34 kennt die weisheitliche Typisierung und Gegenüberstellung von ַצ ִּדיק „Gerechtem“ und „ ָר ָׁשעFrevler“ in pädagogischer Absicht. Die Frevler leugnen die Existenz Gottes, und ihr Tun ist Ausdruck ihrer Gottlosigkeit (vgl. Ps 10; 14). Der Gottesfürchtige hingegen orientiert sich an Gott und dem Guten. Jedoch stellt sich nicht die Erfahrung von Lohn und Strafe ein, die der Tun-ErgehenZusammenhang postuliert. Die Gerechten sind vom Bösen bedroht und benötigen göttliche Hilfe. Damit verweist Ps 34 auf die Texte der hebräischen Bibel, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang problematisieren. Mit der Hoffnung auf die Wirkmächtigkeit JHWHs, der das Schicksal der Gerechten zum Besseren wenden wird, und auf die Vernichtung der Frevler wird ein weiterer biblischer Topos eingespielt: die Umkehrung der Verhältnisse (1 Sam 2,1–10; Lk 1,49–55). In ethischer Hinsicht handelt es sich dabei um einen Appell, an der Ausrichtung an JHWH und der Orientierung des Tuns an der göttlichen Güte festzuhalten. Insofern ist auch der Tun-Ergehen-Zusammenhang eine Kategorie der sozialen Interaktion: Gerechtigkeit wird von JHWH erhofft, muss aber im gesellschaftlichen Handeln hergestellt werden. Wo Gottesfurcht das Handeln bestimmt, werden sich die Verhältnisse zum Besseren wenden. Auch wenn das Beter-Ich von Ps 34 die Opposition von Gerechtem und Frevler nutzt, um zu ethischem Handeln zu motivieren, dekonstruiert es diese gleichzeitig: Rettung und Erlösung sind auch für den Böses Tuenden möglich, der sich an JHWH wendet (V. 18). Die Rede von den י־לב ֵ „ נִ ְׁש ְּב ֵרzerbrochenen Herzen“ erweist sich als ein weiterer ethischer Schlüsselbegriff, mit dem die Reue und das Leiden an der eigenen Sünde und Schuld zum Ausdruck gebracht werden (Ps 51). Mit פדה „erlösen“ spielt Ps 34 einen weitreichenden Begriff ein, dessen Bedeutungsspektrum von Rettung aus konkreter Not, auch im juristischen Sinn, oder Sündenvergebung (Ps 130) bis hin zur eschatologischen Erlösung reicht. Gleichzeitig wird damit auch ein Bogen in das Neue Testament gespannt, das die Möglichkeit der Sündenvergebung diskutiert und vom Menschen einfordert (Mk 1,4; Mt 18,21–25) und die Verheißung der Erlösung als in Jesus Christus erfüllt sieht (1 Kor 1,30). Ps 34 verweist mit den genannten ethischen Schlüsselbegriffen über sich hinaus. In der Kombination von ethischen Konzepten aller alttestamentlichen Kanonteile, die zum Teil breit gestreut sind, wie die Rede vom Gerechten und Frevler, zum Teil jedoch auch sehr speziell sind, wie die Vorstellung von menschlicher Heiligkeit, entwirft er ein ganz eigenes Verständnis von Gottesfurcht als ethischem Begriff, das aus dem Zeugnis von erfahrener Rettung erwächst, sich in der Ausrichtung der eigenen Existenz auf JHWH im sozialen Tun als Streben nach Šalom zeigt und zu einem gelingenden Leben führt. Ps 34 greift dabei nicht auf Kategorien wie Tempel und Kult, Tora oder Gebote zurück. Gottesfurcht ist hier nicht identisch mit Toragehorsam und wird auch nicht auf das Volk Israel beschränkt. Vielmehr wird eine universale Perspektive auf das Heil eröffnet: Der Weg zum Glück, zum Guten
Psalm 34 als Zeugnis – ethische Optionen für den Leser
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und Šalom führt über die Gottesfurcht, die in den Handlungsmaximen, das Gute zu tun und das Böse zu lassen, konkretisiert wird. Seine Stellung als Schlusspsalm der Psalmengruppe 25–34 weist Ps 34 als Text aus, der bewusst an das Ende gesetzt wurde und so in ein Gespräch mit den Psalmen dieser Gruppe führt. Als spät anzusetzender Text greift er dabei ihm vorgegebene Konzepte der deuteronomistischen und weisheitlichen Tradition und auch der Tora und Prophetie auf und transformiert diese in der ihm eigenen Zusammenstellung. Gesamtbiblisch wird er dadurch zu einem Schlüsseltext, von dem aus die vielfältigen ethischen Konzeptionen der Bibel zu entdecken sind.
4.2 Psalm 34 als Zeugnis – ethische Optionen für den Leser Über die reine Beschreibung ethischer Vorstellungen hinaus soll gezeigt werden, wie Psalm 34 für den Leser ethisch bedeutsam werden kann. Hier gilt es, gleichermaßen der Autorität des kanonischen Textes als auch der freiheitlichen Selbstbestimmtheit des Lesers Rechnung zu tragen. Der Psalm bietet mit seiner Welt des Textes Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins. Dem Leser werden Räume des Denkens und Handelns eröffnet, die fremde und alternative Deutungen der Welt zur Sprache bringen. Der Leser kann „sich dem Text aussetzen und von ihm ein erweitertes Selbst gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfes“1. Er kann den Psalm begreifen als Zeugnis für Gottes Handeln in der Geschichte. Gerade den Psalmen kommt dabei als Gebet des Einzelnen, im Stundengebet und als Gebet der Kirche prominente ethische Bedeutung zu, insofern das Ich der Psalmen nicht nur eine Instanz des Textes ist, sondern in der betenden Aneignung des Psalms zum Ich des gegenwärtigen Beters wird. Dem Leser bzw. Beter von Ps 34 bieten sich vielfältige Möglichkeiten der Identifikation mit Figuren des Textes. Mit V. 1 wird im narrativen Setting die Identifikation mit David – „As David, so every man.“2 – möglich; im weiteren Verlauf kann der Leser zwischen den Rollen des betenden Ichs, des angesprochenen Auditoriums, der Armen und Gottesfürchtigen hin- und herwechseln. So bezeugt das betende Ich mit seiner Person das heilvolle Handeln Gottes an der Welt und den Menschen und die göttliche Ordnung der Welt, die auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Es deutet sein eigenes Leben als Suche nach JHWH und beglaubigt ein rettendes Handeln an den Tiefpunkten seines Lebens. Dem Leser bzw. Beter wird mit dem Psalm die Möglichkeit geboten, diese Deutung der Welt probeweise zu übernehmen und sich auf Gottsuche in seinem eigenen Leben zu begeben. Auf diesem Weg kann der Leser ein erweitertes Konzept von seinem Selbst erwerben.
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Ricœur 1974a, 33. Wilson 1981, 173; Zenger 1998, 40–41.
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Ergebnisse
Auch der Aufruf des Ichs zur Solidarisierung mit den Benachteiligten ist eine ethische Option, die dem Leser angeboten wird. Er wird vor die Entscheidung gestellt, ob die Sorge für die Armen auch seine Handlungen prägen soll. So erweitert er die Vorstellungen von sich selbst und kann diese in sein Selbst-Bild integrieren. In die Frage des betenden Ichs, welcher Mensch „Gutes sehen“ will, wird auch der Leser miteinbezogen. Kann er sich dieser Zielrichtung für sein Leben anschließen, gelten die folgenden Handlungsaufforderungen des betenden Ichs bzw. Lehrers auch ihm. Jedoch sind die exemplarisch-sentenzartig formulierten Aufforderungen, vor dem Bösen zu weichen und Gutes zu tun, wenig konkret und gestatten keine unmittelbare Applikation auf die Gegenwart. Gerade die Offenheit der Formulierungen zeigt, dass das Gute und Lebensförderliche je neu zu bestimmen ist und vernünftig aufgefunden werden muss. Damit wird deutlich, dass der Psalm anschlussfähig ist für das Konzept einer situativen Ethik. Was das Gute ist, kann nicht abstrakt-reflexiv beantwortet werden, sondern diese Frage stellt sich in jeder Situation erneut. Indem das betende Ich von seinen eigenen Bedrängnissen und denen der Gerechten erzählt, stellt sich auch an den Leser die Frage, wie er mit eigenen Erfahrungen von Not und Leid umgehen möchte. Das Ich des Beters von Ps 34 bürgt dafür, auch angesichts der Erfahrung von Benachteiligung an der Orientierung am Guten festzuhalten. Der Psalm eröffnet auch für die Frevler, die sich an JHWH wenden, die Möglichkeit der Rettung. Hier wird der Leser herausgefordert, eine eigene Haltung dazu zu entwickeln, wie mit schuldhaftem Verhalten anderer umzugehen ist und ob Vergebung eine Handlungsoption für ihn ist. Der Leser erweitert somit den Entwurf seines Selbst. Die Leser und Beter von Ps 34 werden zum Lehrenden und Lernenden und damit sensibilisiert für die Bedeutung ethischen Lernens in sozialen Räumen. Ihnen stellt sich die Frage, welche Rolle dabei religiöse Gemeinschaften spielen können und sollen. Ps 34 spielt auf eine Reihe von Konzepten und Vorstellungen an, die dem gegenwärtigen Leser fremd sein dürften. An dieser Stelle wird deutlich, dass das Wissen um die soziokulturellen und religionsgeschichtlichen Kontexte in ethischer Hinsicht von Bedeutung ist, um die Welt des Textes zu erschließen. So sind die Vorstellung einer göttlichen Weltordnung, das umfassende Verständnis von Šalom und auch die Vorstellung der Gottesfurcht dem gegenwärtigen Leser erklärungsbedürftig. Von Ps 34 und dem Konzept der JHWH-Furcht her wird deutlich, dass ethische Bedeutung nicht in einem Gebotsgehorsam dem göttlichen Willen gegenüber entsteht, sondern dadurch, ethische Fragen im Kontext der Beziehung von Gott und Mensch zu stellen. Diese Beziehung umfasst auch die Ränder des Ethischen: die Erfahrung menschlicher Schuld sowie die Hoffnung auf Vergebung und Heil. Die Welt des Textes stellt an den Leser die Frage, ob und wie er diese in seine Konzeption der Welt und seiner selbst integrieren kann. Der Psalm kennt auch durchaus mit modernen Konzeptionen konvergierende Vorstellungen wie diejenige, dass ethische Entscheidungen freiheitlich verantwortet werden müssen. Wenn der Sprecher seine Adressaten auffordert, vor dem
Das Programm einer ethischen Bibellektüre – Rückblick
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Bösen zu weichen, Gutes zu tun und nach Šalom zu streben, impliziert die Wahl der Verben – wie die semantische Analyse gezeigt hat –, dass das angesprochene Subjekt sich frei dazu entschließen kann und seine Taten verantworten muss. Auch für diese Vorstellungen gilt, dass sie der Zustimmung des Lesers bedürfen, der die Frage nach der Freiheit für sich beantworten muss. Insofern kann man das ethische Potential von Ps 34 darin sehen, dass er eine bestimmte Deutung der Welt und des Menschen in der Beziehung zu Gott bezeugt. Diese legt den Menschen nicht fest, vor allem nicht auf seine Schuld, sondern mutet ihm immer neu Freiheit und die Orientierung am Guten zu.3 Ps 34 setzt den Menschen als ethisches Subjekt in Szene, das lernen kann und zur ethischen Reflexion aufgefordert wird, um sich selbst zu verstehen. Seine Autorität gründet nicht darin, autoritativ ein bestimmtes Verhalten als gottesfürchtig einzufordern, sondern darin, dass er ethisches Handeln coram Deo bezeugt.
4.3 Das Programm einer ethischen Bibellektüre – Rückblick Die Auslegung von Ps 34 verfolgte das Ziel, das Programm einer ethischen Bibellektüre an einem konkreten Einzeltext zu erproben. 1. Es zeigte sich, dass sich zwar erwartungsgemäß in den biblischen Texten keine Ethik im Sinne einer argumentativen Darstellung ethischer Reflexionen, die Prinzipien des Handelns erörtern, findet, dass deren Thema aber dennoch ethische Fragestellungen sind. Biblische Ethik ist als Ethik des guten Lebens zu verstehen. Deutlich wurde, dass nicht nur unmittelbar explizit-normative Texte von ethischer Bedeutung, sondern auch Texte, die bislang nicht im Fokus ethischer Fragestellungen waren, ethisch gelesen werden können, weil ihre Welt des Textes ethische Konzepte zur Sprache bringt und Möglichkeitsräume des Handelns eröffnet. In ihrer Eigenart als kanonische Texte und als Zeugnis im Sinne Paul Ricœurs kommt allen biblischen Texten unabhängig von ihrer Gattung ethische Relevanz zu. Eine Beschränkung auf normative Texte ist für das Projekt einer alttestamentlichen Ethik also nicht ausreichend. Genauso wenig reicht es aber aus, allgemeine kanonische Grundlinien bestimmen zu wollen. 2. Mit der semantischen Analyse im Kontext des Einzeltextes und der hebräischen Bibel bestätigt sich, dass zum einen biblisch-ethische Konzepte entfaltet und
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„Moralische Sensibilität kann zu einer Lektüre der biblischen Texte führen, die in der Schrift nicht Gebote sucht, sondern die Hoffnung auf die alles Menschliche übersteigenden Möglichkeiten Gottes.“ (Goertz 2015, 412); und an anderer Stelle: „Dass sich menschlich erwachsenes Leben seiner Endlichkeit und Schuldgeschichte bewusst ist, bezeugen die biblischen Erzählungen immer wieder. Die Gottesfrage bricht eben durch solche Erfahrungen in das menschliche Selbstbewusstsein hinein. Wir können zwar erkennen, wie wir uns gegenüber uns selbst und den anderen zu verhalten haben, aber nur Gott weiß, wie Rettung und Trost im Angesicht von Leid und Tod aussehen werden.“ (Goertz 2014, 118).
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Ergebnisse
Schlüsselbegriffe einer biblischen Ethik eruiert werden können, zum anderen aber auch im Horizont des Alten Testaments mit einer „polyphonen Sprache“4 in ethischer Hinsicht zu rechnen ist. Der Bibel können keine allgemeinen und keine allgemeingültigen Grundaussagen zu ethischen Fragestellungen entnommen werden. Ethische Vorstellungen werden jeweils durch einzelne Texte konstituiert, die auf der Ebene des Einzeltextes zu ihren ethischen Konzepten befragt werden können. Die Vorstellungen in Bezug auf ethische Fragen treten durch die Lektüre des Einzeltextes in seinem Umfeld deutlicher zutage. Über semantische Bezüge können Begriffe und damit Konzepte in ihrer Tiefe erfasst werden. Genauso möglich ist aber auch, dass die Untersuchung von Konzepten und Schlüsselbegriffen im biblischen Gesamtraum gerade disparate, zum Teil widersprüchliche Auffassungen zu ethischen Sachverhalten oder ein anders nuanciertes Verständnis identischer Begriffe hervortreten lässt. Den einen biblischen Standpunkt zu ethischen Fragen gibt es nicht, vielmehr ist die Bibel in ethischer Hinsicht diskursiv, so dass die Texte auf sich je neu stellende Problemhorizonte reagieren. In diesen Diskurs wird der Leser bei der Lektüre hineingenommen. 3. Eine Trennung in zeitlose, universal gültige und zeitverhaftete Vorstellungen, die von keiner Relevanz für die Gegenwart seien, ist im Hinblick auf eine biblische Ethik nicht möglich. Versteht man die biblischen Texte als Zeugnis im Sinne von Paul Ricœur, sind gerade Vermittlung und der Bezug auf den konkreten Kontext konstitutiv für die Bestimmung ihrer ethischen Bedeutung. Wie sich zeigte, sind die Erschließung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes und die Verortung der ethischen Konzepte in der Vorstellungswelt der Bibel und des Alten Orients notwendig, um die Welt des Textes auszuloten und damit im Lektüreprozess die Möglichkeitsräume des Handelns zu konstituieren. 4. Die Lektüre eines Einzeltextes in seinem kanonischen Kontext fügt diesen in einen Deutehorizont ein, der insbesondere das Verständnis ethischer Konzeptionen und Schlüsselbegriffe anreichert. Dabei zeichnet sich dieser Deutehorizont gleichwohl gerade durch seine Diskursivität aus und lässt sich nicht auf wenige Sinnlinien wie die vorgängige göttliche Zuwendung zum Menschen reduzieren, denen gegenüber der material-ethische Gehalt irrelevant wäre. Die alttestamentlichen Texte sprechen natürlich auch vom Heilshandeln Gottes, gleichwohl sind sie wesentlich komplexer und differenzierter, was die Interaktion von Gott und Mensch, das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlichem Tun anbelangt. Mit ihren ethischen Konzepten und Modellen ethischen Handelns haben sie auch eine material-ethische Seite, die sich dem Leser in der Welt des Textes entfaltet. Sie bieten Handlungsoptionen, die der Leser probeweise übernehmen kann. Diese bleiben selbstredend zustimmungspflichtig. 5. Eine ethische Lektüre eines biblischen Textes kann ethische Konzepte und Vorstellungen, die der Einzeltext in seinem kanonischen Kontext entwirft, in ihrer Vernetztheit – teils auch Widersprüchlichkeit – entfalten. In der Lektüre wird das 4
Ricœur 1974a, 39.
Das Programm einer ethischen Bibellektüre – Rückblick
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Selbst des Lesers konstituiert, der sich vor dem Text verstehen kann. Der Leser lernt in den Texten mit ihrer Welt des Textes Möglichkeiten des Handelns, Urteilens und Bewertens kennen, erforscht damit „das Reich des Guten und des Bösen“5. Die Handlungsmöglichkeiten, die der Text bereithält, fördern die Herausbildung einer ethischen Identität, die ermöglicht, in der realen Gegenwart zu agieren. Als Zeugnis drängen die biblischen Texte auf ein Urteil des Lesers in ethischer Hinsicht. Eine biblisch-ethische Lektüre erschließt dem Leser die ethischen Konzepte und Schlüsselbegriffe und die Handlungsoptionen, die ein Text bietet. Sie beurteilt nicht, kann aber die Relevanz des Textes in ethischer Hinsicht für den Leser aufzeigen, indem sie anreißt, welche Möglichkeiten des Handelns dem Leser eröffnet bzw. welche Urteile ihm abverlangt werden. 6. In methodischer Hinsicht zeigte sich, dass klassische exegetische Verfahren ihren Platz auch im Rahmen einer ethischen Lektüre der Texte haben bzw. für diese unerlässlich sind. Für die Erschließung des Textes als „strukturiertes Ganzes“6 ist die Arbeit mit dem hebräischen Originaltext eine Selbstverständlichkeit und die Analyse der Struktur die Bedingung, um den Argumentationsgang nachzuvollziehen und die Welt des Textes, die der Text vor sich entwirft, zu erfassen. Mit einer genauen semantischen Analyse des Textes treten die ethischen Konzepte und Vorstellungen in ihrer Diversität zutage. 7. Für das Selbstverständnis der Exegese bedeutet dies, dass sie biblische Vorstellungswelten im Hinblick auf ethische Fragen deskriptiv erfasst, sich aber darin nicht erschöpft. Sie kann aufzeigen, wie dem Leser in der Lektüre der Texte ethische Optionen angeboten werden und er in seinem ethischen Urteil herausgefordert wird. So kann sie auch selbstverständlich von der Autonomie des Subjektes in ethischer Hinsicht ausgehen. Der Geltungsgrund ethischer Konzepte liegt schließlich nicht in ihrer Präsentation als Wort bzw. Wille Gottes, sondern in der vernünftig verantworteten Lektüre des Lesers. Anliegen der Exegese ist, mit einer vernünftigen Auslegung die biblischen Möglichkeitsräume des Handelns zu erkunden und so eine verantwortete Entscheidung über die Relevanz ethischer Konzepte und Vorstellungen zu ermöglichen.
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Ricœur 1996, 201. Ricœur 1974a, 29.
5. Schluss
Das Psalmenbuch fragt nach Orientierung für ein glückendes Leben und kann einen Beitrag zu einer biblischen Ethik leisten. Diese Annahmen waren der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Immer wieder stellt das betende Ich der Psalmen die Frage, was zu tun ist, damit es sein kann „ ְּכ ֵע ֘ץ […] ִּפ ְר֙יֹו׀ יִ ֵּ֬תן ְּב ִע ּ֗תֹוwie ein Baum […], der seine Frucht bringt zu seiner Zeit.“ (Ps 1,3). Das betende Ich fordert Gerechtigkeit, wenn es seine Unschuld beteuert, den Erfolg des Frevlers beklagt und JHWH zum Einschreiten aufruft. Es fragt nach der Ursache von und dem Umgang mit Gewalt und Leid, nach individuellem und kollektivem Versagen, nach Versöhnung mit den Menschen und Umkehr zu Gott und nach der Bedeutung von Kult und ethischem Handeln, um Gottes Nähe zu erfahren. Von der Weisung Gottes wird Orientierung erhofft. In einem Handeln entsprechend dem göttlichen Willen und der Güte Gottes wird der Weg zu glückendem Leben gesehen. Die jüngere Psalmenexegese arbeitete in den letzten Jahren verstärkt an einer Anthropologie der Psalmen und untersuchte, welche Vorstellungen vom Menschsein und welche anthropologischen Grundfragen in den Psalmen zur Sprache kommen. Der Zusammenhang mit ethischen Fragen und Vorstellungen war dabei kaum im Blick. Die Bedeutung des Psalmenbuches für eine alttestamentliche Ethik wurde in der Vergangenheit vernachlässigt, da als deren Grundlage die expliziten Normensysteme und das rein präskriptive Material im Bundesbuch, im Heiligkeitsgesetz, im Deuteronomium und in der weisheitlichen Tradition galten. Zugleich beschränkte sich die alttestamentliche Exegese auf die Deskription alttestament licher Normen und die historische Rekonstruktion ihrer Genese. Denn eine direkte Applikation verbietet der historische Abstand der Texte einerseits; andererseits ist eine äußere, göttliche Moralinstanz nicht mit der Vernunftbestimmtheit des Subjektes vereinbar. Diese Positionen müssen heute weiterentwickelt werden. In den biblischen Texten finden sich selbstverständlich keine ethischen Reflexionen in systematisierender Form. Zu berücksichtigen ist aber, dass sich antike Ethikvorstellungen von gegenwärtigen unterscheiden. Antike Texte insgesamt fragen nach der Kunst des Lebens. In allen Textgattungen sind ethische Themen präsent, insofern als anhand
Schluss
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bestimmter Konfliktsituationen und in Gestalt der Protagonisten ethische Probleme diskutiert werden und nach dem Tun des Guten, das zu glückendem Leben führt, gefragt wird. Diese Fragen stehen dabei immer in Zusammenhang mit Vorstellungen über das Wesen des Menschen und über die Gemeinschaft sowie über die Beziehung sowohl des Einzelnen als auch des Kollektivs zu Gott bzw. den Göttern. So erheben nicht nur die explizit-normativen Texte der Bibel den Anspruch, Weisung zu sein, sondern alle biblischen Texte fordern, zumal als kanonische Texte, den Leser auf, sich kritisch mit den in ihnen zur Sprache kommenden ethischen Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten auseinanderzusetzten. Dies trifft auch und vor allem auf das Buch der Psalmen zu. Wie die anthropologischen Arbeiten zu den Psalmen gezeigt haben, ist die Frage nach dem Menschen nicht von der nach Gott zu trennen, da der Mensch sich in seiner Existenz als Geschöpf vor seinem Schöpfer begreift. Mit der Frage nach der Gegenwart Gottes sind wiederum die Fragen nach Vergänglichkeit und Leben, damit auch nach der Lebensgestaltung, nach dem Umgang mit Schuld und nach der Hoffnung auf Vergebung verbunden. Psalmen beschreiben Konfliktsituationen und wollen diese vor und mit Gott lösen. In der Konstellation von betendem Ich, Feind und Gott werden dabei ethische Fragen diskutiert. Damit ziehen die Psalmen ihre Leser bzw. aktuellen Beter in diese Fragen hinein. Angesichts des ethischen Anspruchs der biblischen Texte selbst sollte sich die Exegese nicht auf eine reine Deskription eines alttestamentlichen Ethos beschränken bzw. beschränken lassen. Sie berücksichtigt in ihrer Reflexion zum einen, dass historische Zugänge nicht allein auf die Rekonstruktion von Vergangenheit ausgerichtet sind, sondern aus gegenwärtigen Fragestellungen erwachsen, und dass deren Erkenntnisinteresse immer auch ist, Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Zum anderen ist der Ausgangspunkt der hermeneutischen Überlegungen der Exegese die Eigenständigkeit des vernünftigen Subjektes, dessen Freiheit mit dem biblischkanonischen Geltungsanspruch zusammengedacht werden muss, ohne die Freiheit des Subjektes zu beschränken und den Texten ihre Bedeutung abzusprechen. Vor diesem Hintergrund wurde in dieser Arbeit das Programm einer ethischen Bibellektüre entwickelt und an der Exegese eines konkreten Psalms erprobt. Im gegenwärtigen Diskurs wird von der ethischen Bedeutung biblischer Texte vor allem in dem Sinn gesprochen, dass sie in ihrer Fremdheit, die historisch bzw. kulturell verstanden wird, ein Gesprächspartner sein können, mit dem der gegenwärtige Leser in den Dialog tritt, der Anregungen gibt bzw. als Spiegel die eigene, gegenwärtige Situation verfremdet. Man sieht in den biblischen Texten die Möglichkeit, die eigenen Problemkonstellationen und Handlungsmöglichkeiten aus einer anderen Perspektive zu betrachten – mit dem Ziel, wieder handlungsfähig zu werden. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Kontextgebundenheit der biblischen Texte berücksichtigt wird. Wenn die ethische Reflexion vernunftgeleitet sein soll, gehört dazu auch die historische Rekontextualisierung der Texte in ihrem Entstehungshintergrund. Das hier vorgestellte Modell einer ethischen Bibellektüre geht insofern über diese Annahmen hinaus, als es die ethische Relevanz biblischer Texte nicht allein
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Schluss
darin sieht, dass sie einen historischen und kulturellen Abstand ermöglichen, sondern ihre Fremdheit als eine viel grundsätzlichere begreift. Die biblischen Texte sind nicht nur fremd, weil sie vor langer Zeit entstanden sind. Vielmehr ist der Ausgangspunkt der hermeneutischen Reflexion die Literarizität der biblischen Texte, die als Literatur in fremde Textwelten führen. Texte sind als Texte fremd und eröffnen mit ihrer Welt des Textes neue Handlungsoptionen. Sie ermöglichen eine Distanzierung des Lesers von sich selbst, fragen ihn an und tragen damit zu seiner Selbst-Werdung bei. Für das Programm einer ethischen Bibellektüre wurde auf die Texthermeneutik Paul Ricœurs und seinen Begriff des Zeugnisses zurückgegriffen. Es ist die Welt des Textes, die die Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins eröffnet, in denen sich das Selbst bildet. Mit dieser Hermeneutik gelingt es, die biblische Vielfalt als Wert in sich zu berücksichtigen, ohne ethische Grundaussagen postulieren zu müssen. Die polyphonen, teils widersprüchlichen Stimmen des Alten Testaments und die unterschiedlichen Vorstellungen, die mit demselben ethischen Schlüsselbegriff verbunden werden können, fordern den Leser heraus. Die ethischen Vorstellungen der Welt des Textes verlangen eine profunde Kenntnis antiker Konzepte und eine Positionierung des Lesers, die er vernünftig reflektieren und verantworten muss. Insofern eröffnen die biblischen Texte einen Deutehorizont für die Existenz des Einzelnen, der sich von der Beziehung zu Gott her verstehen und sich in der Verantwortung vor diesem und in der Hoffnung auf göttliche Vergebung konzipieren kann. Jedoch sind die biblischen Texte mehr als eine Motivation ethischen Handelns. Die von ihnen entfalteten ethischen Konzepte können durchaus auch materiale Möglichkeiten des ethischen Handelns eröffnen. Sie bedürfen dabei der Zustimmung durch den Leser, der sie kritisch prüft, und sie leiten auf diese Weise dazu an, selbst zu denken. Als Zeugnis sind die biblischen Texte quasi-empirisch, quasi-juridisch und untrennbar mit der Person des Zeugen verbunden, der für ihre Wahrheit bürgt. Das Zeugnis ist auf Wirklichkeit bezogen und drängt zur Urteilsfindung. So sind auch die biblischen Texte als Zeugnis auf ihren Entstehungskontext bezogen und bezeugen die Offenbarung Gottes in der Geschichte. Wird Offenbarung nicht instruktionstheoretisch verstanden, sondern als kommunikatives Beziehungsgeschehen, können biblische Texte nicht als heteronom begründete Instruktionen gelesen werden. Wenn Ethik ein sittliches Subjekt voraussetzt, das freiheitlich verantwortete Entscheidungen trifft, die unveräußerlich sind, dann muss der Leser seine Lektüren verantworten. Mit ihren ethischen Vorstellungen drängen die biblischen Texte den Leser zu einer Urteilsbildung über die in ihnen aufgezeigten Möglichkeiten des Handelns. Je mehr Wissen der Leser zur antiken Vorstellungswelt und zu den vom Einzeltext eröffneten innerbiblischen Bezügen hat, desto fundierter wird sein Urteil ausfallen können. Mit diesen hermeneutischen Grundannahmen ist es möglich, den biblisch-kanonischen Anspruch der Texte ernst zu nehmen und gleichzeitig der Eigenständigkeit des vernünftigen Subjektes Rechnung zu tragen. Durch die ethische Lektüre von Ps 34 wurde deutlich, dass die ethische Relevanz biblischer Texte nicht auf eine bestimmte Textgattung zu beschränken ist.
Schluss
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Die Gattungsforschung stufte Ps 34 als wenig bedeutsam ein. So urteilte Hermann Gunkel: „Von einem alphabetischen Psalm kann man bei den großen formellen Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat, keine allzustraffe [sic!] Gedankenordnung verlangen.“7 Jedoch erwies sich Ps 34 in dieser Untersuchung als ethisch überaus bedeutsamer Text. Als eine Art Kompendium ethischer Schlüsselbegriffe verweist er auf eine Vielzahl anderer biblischer Texte, unter denen sich sowohl explizit-normative Texte als auch narrative, prophetische und weisheitliche Texte finden. Gleichermaßen wurde deutlich, dass es zwar Grundfragen gibt, die immer wieder aufgegriffen werden, wie auch zum Teil weit verbreitete Schlüsselbegriffe, dass es jedoch nicht möglich ist, allgemeine ethische Grundaussagen zu erheben, sondern dass die Konzepte zum Teil sehr voneinander divergieren. Biblische Ethik ist insofern diskursiv angelegt, und die biblischen Texte involvieren den Leser in diesen Diskurs. Ethische Konzepte der biblischen Texte unterscheiden sich zum Teil erheblich von gegenwärtigen Vorstellungen, und die Schlüsselbegriffe sind erklärungsbedürftig. Trotzdem ist es gerade nicht möglich, zwischen zeitverhafteten Vorstellungen und zeitlosen zu unterscheiden. Vielmehr wollen gerade die fremden Konzeptionen vor ihrem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund verstanden werden. Dazu gehören komplexe Begriffe wie Gottesfurcht oder Šalom. Mit der Unterweisung in Gottesfurcht, auf der Jagd nach Šalom, führt Ps 34 den Leser hinein in die biblische Vorstellungswelt. Er fordert ihn auf, das Bedeutungsspektrum der Begriffe zu erkunden und deren Relevanz zu reflektieren. Zur Frage steht, wie Wohlergehen und glückendes Leben nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich und in Bezug auf die Schöpfung zu denken sind, wie Recht und Gerechtigkeit umgesetzt und wirtschaftlicher Ertrag in Bezug auf Natur und Technik global gewährleistet werden können. Mit dem Hinweis auf die Armen gibt der Psalm eine inhaltliche Linie vor. Gerade dadurch aber, dass der Psalm nicht konkreter wird, verweist er auf eine Grundüberzeugung, die die Bedingung für die Relevanz biblischer Texte ist: Sie setzen die Freiheit des Subjektes voraus.
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Gunkel 51968, 142.
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Register*
Gen 1,10 Gen 3,5 Gen 32,8 Gen 32,12
165 233 141 141
Ex 16,4 Ex 16,18 Ex 19 Ex 19,4 Ex 19,5–6 Ex 19,8
181 181 184 f. 186 185 f. 185
Lev 6,11 Lev 11; 19 Lev 11,44 Lev 19,2 Lev 19,27–28
204 187 187 187; 308 184
Dtn 1,29 Dtn 2,7 Dtn 4,1 Dtn 6 Dtn 6,4 Dtn 6,6 Dtn 6,6–9 Dtn 6,25 Dtn 7 Dtn 7,8 Dtn 7,9 Dtn 7,12 Dtn 8,9
141 182 170; 206 208 145; 177; 205 f. 208 208 211 186 186 186 186 182 f.
*
Dtn 10 Dtn 10,12–13 Dtn 10,14–20 Dtn 15 Dtn 15,7–8 Dtn 15,11 Dtn 16,20 Dtn 20,5 Dtn 30 Dtn 30,11–20 Dtn 31 Dtn 31,12–13
145 145; 147; 307 146 182 182 108 245 215 219 f. 220 204 f. 204 f.
Jos 1,8
175
1 Sam 21,11–16 1 Sam 21—26 1 Sam 25,33 1 Sam 26,24 2 Sam 19,36
86 87 164 87 232
1 Kön 3 1 Kön 3,9
235 235
Esr 7,10
207
Ijob 1,1 Ijob 4 Ijob 4,6 Ijob 5,18 Ijob 7
234 193 f. 193 f. 194 259
Aufgeführt sind die Stellen, bei denen es sich um keine reinen Verweise handelt, sondern zitierte Einzelverse. Kursiv gedruckte Angaben beziehen sich auf längere Auslegungen der Textstellen, die im Haupttext ebenfalls kursiv gedruckt sind.
340
Register
Ijob 7,7 Ijob 7,7–8 Ijob 8,28 Ijob 19,12 Ijob 28 Ijob 36 Ijob 36,5–7
223 259 235 108; 307 235 256 256; 294
Ps 1 Ps 1,1–2 Ps 2,12 Ps 4 Ps 4,7 Ps 5 Ps 5,9 Ps 5,9–12 Ps 6,3 Ps 7 Ps 7,2 Ps 7,2–3 Ps 7,10 Ps 7,11–12 Ps 9/10 Ps 9,7 Ps 9,11 Ps 9,14 Ps 10 Ps 10,4 Ps 10,8–10 Ps 10,11 Ps 10,12 Ps 10,17–18 Ps 11 Ps 11,4–5 Ps 13,4 Ps 14 Ps 14,1 Ps 14,1–2 Ps 15 Ps 15,2 Ps 15,2–5 Ps 15,3 Ps 16,2 Ps 17
279 175; 208 172 223 223 282 f. 211 283 275 270 f. 244 129 271 271 279 263 120 281 134 f.; 257 135; 230; 279 134; 279 135 135 257; 295; 307 255 255 127 122 f. 234 122 f. 124 230 124; 159 230 167 191
Ps 17,1 Ps 17,6 Ps 17,12 Ps 18,1 Ps 18,28 Ps 18,41 Ps 22 Ps 22,24–27 Ps 23 Ps 23,1 Ps 23,6 Ps 24 Ps 24,3 Ps 24,3–6 Ps 24,4 Ps 25 Ps 25,1–2 Ps 25,2 Ps 25,4 Ps 25,4–11 Ps 25,7 Ps 25,8 Ps 25,11 Ps 25,12 Ps 25,12–13 Ps 25,12–14 Ps 25,15 Ps 25,18 Ps 25,22 Ps 26 Ps 26,11 Ps 27,7 Ps 27,9 Ps 29,11 Ps 31,20 Ps 31,20–21 Ps 32 Ps 32,1 Ps 32,1–2 Ps 32,1–5 Ps 32,5 Ps 33 Ps 33,16–19 Ps 33,18
230 257 191 256 105 105 121; 271 121 181 181 181; 244 123; 188 f. 188 f. 123 124; 189 108; 133; 150; 211 f.; 293 124 133 302 212 133; 167 108; 168; 301 300; 302 140; 150 215 213 256 133; 301 293 288 288 127 289 303 152; 167 168 177 172 173 177 65; 265 128; 256 128 129; 152
341
Register
Ps 33,18–19 Ps 35 Ps 35,10 Ps 35,17 Ps 35,27 Ps 36,4 Ps 36,10 Ps 37 Ps 37,1 Ps 37,3 Ps 37,27 Ps 37,31 Ps 37,37–38 Ps 38 Ps 40,9 Ps 41 Ps 41,2 Ps 49 Ps 49,16 Ps 49,17 Ps 50 Ps 50,21–23 Ps 51 Ps 51,10 Ps 51,12 Ps 51,14 Ps 51,16 Ps 51,17 Ps 51,18–19 Ps 55,19 Ps 55,20 Ps 56 Ps 56,1 Ps 56,14 Ps 57,5 Ps 58 Ps 58,2–7 Ps 60,6 Ps 60,13 Ps 64 Ps 64,10 Ps 65,5 Ps 65,6 Ps 65,9
256 128 f.; 256 130; 139 191 217 234 221 235; 237; 242 f.; 272; 279 279 235; 237 237 208 243 275 208 109 109; 172; 176 273; 288 273; 288 273 130 130 137; 268; 276 276 268 137 137 229 268 239 154 85 85 129 f. 192 f. 191 f. 191 f. 152 136 151 151 172 127 152
Ps 66,16 Ps 68 Ps 68,6 Ps 68,20–24 Ps 69 Ps 69,17 Ps 69,21 Ps 69,29 Ps 69,35–37 Ps 71 Ps 71,10–11 Ps 71,20 Ps 71,24 Ps 72 Ps 72,1–4 Ps 72,2–4 Ps 72,5–7 Ps 72,12–14 Ps 73 Ps 73,1 Ps 73,4 Ps 73,11 Ps 73,25 Ps 77,3 Ps 78,4 Ps 78,34 Ps 78,49 Ps 82 Ps 82,1–4 Ps 84,5 Ps 85 Ps 85,9–10 Ps 85,11–14 Ps 86,5 Ps 86,13 Ps 90,8 Ps 90,13 Ps 91 Ps 91,11 Ps 91,13 Ps 96,12–13 Ps 99,4 Ps 99,7 Ps 99,8
155; 205 283 f. 283 284 221; 291 171 267 221 291 129 129 136 132 104 f.; 239 f. 104 240 240 105 166; 273; 280 166 280 280 217 121 205 120 139 106 106 172 f. 241 f. 241 242 167 130 291 291 193 139 193 142 188 189 127; 189
342 Ps 101 Ps 101,8 Ps 106,1 Ps 106,3 Ps 109 Ps 109,2 Ps 109,15 Ps 109,17 Ps 110,10 Ps 111,2 Ps 112 Ps 112,1 Ps 112,1–3 Ps 112,5–6 Ps 112,9 Ps 113 Ps 119 Ps 119,1 Ps 119,2 Ps 119,23 Ps 119,33–37 Ps 119,39 Ps 119,66 Ps 119,67 Ps 119,126 Ps 119,142 Ps 119,165 Ps 120,2 Ps 125,4 Ps 125,5 Ps 128,1 Ps 128,2 Ps 128,4 Ps 130 Ps 130,1–8 Ps 130,3–4 Ps 130,4 Ps 130,8 Ps 135,3 Ps 143,10 Ps 145 Ps 145,1–2 Ps 145,8–9 Ps 145,9
Register
262 f. 262 f. 168 172 f.; 176 262 230 262 217 148 217 109; 263 153 109 263 110; 153 292 151; 209 f.; 242 173 173 289 210 169 164 164 222 211 242 229 f. 168 239 173 172 153 153; 287 287 64; 265 153 297 162 207 106 f. 97 107 166
Ps 145,14 Ps 145,19 Ps 146 Ps 146,3 Ps 146,5 Ps 146,5–9 Ps 147,3 Ps 147,6 Ps 147,14
107 152 107 136 172 107 267 11; 267; 307 243
Spr 1,7 Spr 3,7 Spr 3,21 Spr 4,23 Spr 8,32 Spr 8,35 Spr 10,3 Spr 10,27 Spr 11,22 Spr 12,28 Spr 13,3 Spr 13,19 Spr 14,16 Spr 14,21 Spr 14,26 Spr 14,27 Spr 14,31 Spr 15,3 Spr 15,33 Spr 16,6 Spr 16,17 Spr 16,20 Spr 18,21 Spr 31,1 Spr 31,9 Spr 31,18
148 234 231 231 173; 205 221 194 149 164 221 231 234 234 172 148; 221 221 108 256 148 149; 234 234 172 229 203 f. 108 164
Koh 223 Koh 2,24 223 Koh 3,2–8 222 Koh 4,8 181 Koh 12,13 151 Sir 51,23
198
343
Register
Jes 1,17 Jes 5 Jes 5,16 Jes 6 Jes 6,5 Jes 6,7 Jes 29,24 Jes 30,18 Jes 32,20 Jes 38,13 Jes 51,1 Jes 57 Jes 57,15 Jes 57,16 Jes 58 Jes 58,11 Jes 60,5 Jes 61 Jes 61,1
207 188 188 188 188 188 207 f. 173 173 276 245 268 f. 268 f. 269 276 276 131 267 267
Jer 5,1 Jer 9,11 Jer 21,10 Jer 23,9 Jer 31,12
244 63; 215 258 267 132
Am 5 Am 5,6 Am 5,14–15
125; 169 f.; 236 125; 170 125; 170; 236
Mi 3,1–2 Mi 6,8
234 145; 237
Sach 1,9 Sach 9,8
138 140
Mal 3,18
154