Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen: Strukturen und Motive 9783110444704, 9783110444001

The contributions to the 7th ECLE Symposium mainly focus on the problem of abstract risk for offenses in commercial crim

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German Pages 243 [244] Year 2015

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Die Autoren und die Herausgeber
Das Wirtschaftsstrafrecht auf dem Wege in die Grenzmoral?
Einleitung
Die invisible hand des Marktes und der lange Arm des GesetzesMedienanalytische Beobachtungen zum Wirtschaftsstrafrecht
Diskussion
Zuschreibungsanteile der Zurechnung
Einleitung
Wie wird in der Rechtsprechung zugerechnet?
Zurechnung und Zuschreibung im Wirtschaftsstrafrecht
Diskussion
Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung – generelle Aspekte
Einleitung
Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung: Wirtschaftskriminologische Überlegungen
Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung (aus Sicht der Praxis)
Diskussion
Opfermitverantwortung am Beispiel der kriminogenen Interdependenzen von Anlegerverhalten und Kapitalmarktpolitik
Einleitung
Was heißt gute Anlageberatung?Bemerkungen aus empirisch ökonomischer Sicht
Grenzen der Schutzbedürftigkeit Betroffener bei Betrug und Marktmanipulation
Diskussion
Abstrakte Gefährdungsdelikte – der zunehmende Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts?
Einleitung
Freiheit, Institutionen, abstrakte Gefährdungsdelikte: Ein neuer Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts?
Die exzessive Risikoübernahme als abstraktes Gefährdungsdelikt in juristischer und ökonomischer Betrachtungsweise
Diskussion
Entmythologisierung des Wirtschaftsstrafrechts?
Einleitung
Der Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen
Diskussion
Die Teilnehmer des 7. ECLE-Symposions am 21./22.11.2014 in Frankfurt am Main
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Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen: Strukturen und Motive
 9783110444704, 9783110444001

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Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen ILFS

Institute for Law and Finance Series

Edited by Theodor Baums Andreas Cahn

Band 18

Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen

Strukturen und Motive

Herausgegeben von Matthias Jahn Eberhard Kempf Klaus Lüderssen Cornelius Prittwitz Reinhard H. Schmidt Klaus Volk

ISBN 978-3-11-044400-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044470-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043631-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Medioimages/Photodisc Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

V

Vorwort Vorwort Vorwort

Vorerst ist mitzuteilen, dass der Herausgeberkreis sich um die Herren Prof. Dr. Matthias Jahn, Prof. Dr. Cornelius Prittwitz und Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard H. Schmidt erweitert hat. Die bisherigen Herausgeber danken diesen Herren erneut herzlich für die Mitarbeit. Nach der allmählich schon die Stufen des Legendären erreichenden Finanzkrise im Jahr 2008 setzen unsere Tagungen pünktlich ein und gewinnen aus dieser kontinuierlichen Perspektive Jahr für Jahr, wie wir in aller Bescheidenheit meinen, neues deutungsschweres Material. Beim dritten Mal sind wir soweit, uns in den ganz großen Rahmen „Ökonomie versus Recht“ zu bewegen, immer in der Erwartung der nachholenden Theorie der gelehrten Ökonomen, die aber nach wie vor nicht so recht zum Vorschein kommen möchte. Kein Wunder, dass sich andere Disziplinen um so mehr darum bemühen, bis tief in die Literatur und Medienwissenschaften hinein. Umso reichhaltiger sind, geht man nur mit der nötigen interdisziplinären Energie daran, die Einsichten in größere und kleinere Details der kapitalistischen Wirtschaft, auch unter dem Aspekt ihrer teils geheimen, impliziten, teils ganz offen ausgesprochenen Gemeinwohlorientierung. So haben wir uns denn auch schließlich bereitgefunden, eine ganze Tagung unter diesen Begriff mittlerer Generalität zu stellen, und vor allem die Situation des Unternehmens daran zu messen. Unternehmensstrafrecht und Unternehmenskultur sind die leitenden Stichworte für die beiden letzten Bücher in der gesamten Reihe der Texte, und nun sind wir bei der siebenten Tagung und bei dem siebenten Band. Immer wieder wird dem Strafrecht von außen eine schwer zu definierende Steuerungsaufgabe zugedacht. Die Strafrechtler sind damit nicht durchgehend einverstanden, viele wehren sich gegen diese Vereinnahmung und beschwören die ultima ratio, also das Strafrecht in seiner machtbegrenzenden, aber nicht gestaltenden Funktion. Andere sehen neue Aufgaben analog zu den Aufgaben, welche die Politik mehr im Krieg als im Frieden für das Strafrecht ersinnt. Es können, so unsere These, immer nur Generalklauseln sein, die hier in Funktion treten. Manchmal wird das auch ganz deutlich gesagt unter Hinweis darauf, dass es so etwas wie politische Straftaten im Wirtschaftsleben gebe. Man kann dazu Stellung nehmen, indem man an traditionelle Prinzipien des Strafrechts erinnert, Rechtsstaat, individualisierendes Schuldprinzip usw. Man kann aber auch an die Grenzen führen, die sich aus dem Stoff, auf den die Versuche gemünzt sind, selbst ergeben. Ambivalenzen des Wertens, sachlogische Vorgaben, emotionale und irrationale Wirkungsfaktoren, im Allgemeinen wie mit Blick auf verschiedene Deliktsgruppen.

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Vorwort

Bei dieser Tagung lag der Fokus auf der Wahrnehmung, dass die Strafgesetzgebung vor allem im Kapitalmarktstrafrecht in Ermangelung legitimer Maßstäbe für die Beurteilung des komplexen wirtschaftlichen Geschehens zu tief in die Versuchung hineingeraten ist, an das wirtschaftliche Handeln in einem Stadium anzuknüpfen, wo die Ergebnisse noch offen sind. Technisch ist das die Kultivierung der abstrakten Gefährdungsdelikte, deren Tradition als Lückenbüßer bekannt ist, beginnend mit dem Rauschdelikt, dann über Subventions- und Submissionsdelikte sich fortsetzend, vorläufig endend bei den Tatbeständen des WpHG. Was wir hier kritisieren ist einmal das fehlende Bewusstsein dafür, ob das überhaupt ein legitimer Weg für das Strafrecht ist, und zum anderen den fehlenden Sinn für die völlige Unübersichtlichkeit der dadurch betroffenen hundertfachen Einzelvorgänge im Kapitalmarktverkehr, allgemein und exemplifiziert am Verhalten der Anleger, deren Soziologie und Psychologie vielleicht die wichtigste Aufgabe der Betriebswirtschaftslehre gegenwärtig darstellt. Am bequemsten ist es, die Schwierigkeiten der Realisierung der Strafzwecke dadurch zu umgehen, dass man dieses Ziel gar nicht anstrebt, sondern jenseits von ultima ratio und Steuerung dem Strafrecht eine weitere Aufgabe zuzuweisen: Die Markierung des äußersten Unwertes. Der Ausdruck dafür ist: Strafwürdigkeit und bezeichnet ein Postulat, auf dessen Ausführbarkeit es gar nicht mehr ankommt. Man sieht das immer, wenn neue Unrechtstypen aus der Gesellschaft hervorwachsen, etwa auf dem Gebiet der Bekämpfung von Ausländerfeindlichkeit. Durch die Schaffung von Straftatbeständen bekennt sich eine höchste Instanz der Gesellschaft zu bestimmten Werturteilen. Ihre Realisierung als logische Folge dieses Typs von Unrechtserklärung ist von sekundärer Bedeutung. Dass sie sich der Argumentation ad absurdum erfolgreich entziehen kann, macht gerade ihre Stärke aus und die Stabilität ihrer Verbindlichkeit. Wenn es allein legitim sein soll, zunächst nach der praktischen Funktion des Strafrechts zu fragen, bringt man sich von vornherein um die Chance, eine neue Wertmarke zu etablieren, beziehungsweise alte zu beseitigen, wie man am Beispiel der Aufrechterhaltung der Inzest-Kriminalisierung gut erkennen kann. Die Strafrechtler müssen sich gründlich überlegen, ob sie diese Rolle der Gesellschaft übernehmen dürfen. Auf gute Tradition zu verweisen, hilft nichts. Natürlich ist es immer so gemacht worden. Zunächst sprach man von der sittenbildenden Aufgabe des Strafrechts, später von symbolischer Strafrechtspolitik. Entscheidend ist unsere gegenwärtige Verfassung, das Grundgesetz. Es muss daraufhin geprüft werden, ob diese Art der Wertkundgebung erlaubt oder sogar geboten ist. Gerade jetzt ist ein Aufschwung der Behandlung der Frage zu beobachten, was die Verfassung für das Strafrecht eigentlich bedeutet, welche Vorgaben sie macht. Insofern ist der Zeitpunkt günstig gewählt, auch – in ihrer zugespitzten

Vorwort

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Formulierung – diese symbolischen Aufgaben in die Problematik rechtzeitig einzubeziehen. Der bisher ernsteste Versuch, die Schwierigkeiten der individualisierenden Zurechnung zu umgehen, ist die Kriminalisierung des Unternehmens selbst als Ganzes, wobei man sich vor allem von dem philosophisch geprägten individualisierenden Strafrecht wenigstens auf diesem Weg ganz lossagen muss. Die Diskussion ist bisher leider nur theoretisch – jetzt aber geht es um die Gesetzesentwürfe, und einer davon steht in diesem Band zur Diskussion. Ob das die bessere Zukunft für die strafrechtliche Bewältigung wirtschaftlicher Probleme ist, bleibt abzuwarten – grundsätzlich wie im Detail, beides übrigens gleichermaßen in wachsender europäischer Imprägnierung, weil sich immer wieder die Schere öffnet: Integrationsinteressen einerseits, Aufrechterhaltung bewährter nationaler Standards andererseits – gleichermaßen bezogen auf materielles Recht und Verfahrensrecht. Das Vertrauen in die Kompetenz der Fachleute, die sich alljährlich im Rahmen von ECLE versammeln, ist offensichtlich im Wachsen begriffen, wie die Reaktionen auf die bisher erschienenen Bände und die Reflektionen der bereits stattgefundenen Diskussionen deutlich machen. Wir sind daher diesmal bei der Publikation etwas weiter gegangen und bringen auch die Diskussionsbeiträge zum Abdruck. Sie zeigen die Vitalität und Spontanität, mit der die Probleme wahrgenommen und streitig behandelt werden. Dem flüchtigen oder mit der Materie noch nicht so vertrauten Lesern sei empfohlen, in die Diskussionen gewissermaßen hinein zu schauen, ehe sie sich den Referaten nähern. Die Teilnehmer der Konferenz aber, die namentlich am Ende des Bandes aufgeführt sind, werden sich, denken wir, wohl beim Lesen dankbar des Gehörten erinnern und es vertiefend reflektieren. Wieder sind etliche Danksagungen fällig. Zunächst danken wir erneut den Herausgebern der Schriftenreihe, in der auch dieser Band erscheint, den Herren Prof. Dr. Dres. h.c. Theodor Baums und Prof. Dr. Andreas Cahn für die Aufnahme. Dr. Sascha Ziemann hat die Zuordnung der Diskussionsbeiträge zu den jeweiligen Referaten besorgt, und auch offensichtliche Versehen, oder technische Mängel bei der Aufnahme des Gesprochenen korrigiert. Er hat im Übrigen die Vorlage des ganzen Textes für den Verlag geliefert. Christina Hagenbring hat in bewährter Weise die Konferenz vorbereitet und hilfreich begleitet, und Dr. Rolf Friedewald ist für die jederzeit spürbare wohlwollende Förderung herzlich zu danken. Frau Dominique Tank und Frau Katja Brockmann (De Gruyter Verlag) danken wir für unermüdliche Geduld und Einfallsreichtum bei der Gestaltung des Textes. Die Herausgeber

VIII

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Vorwort | V Die Autoren und die Herausgeber | XIII

Das Wirtschaftsstrafrecht auf dem Wege in die Grenzmoral? Matthias Jahn Einleitung | 3 Jochen Hörisch Die invisible hand des Marktes und der lange Arm des Gesetzes Medienanalytische Beobachtungen zum Wirtschaftsstrafrecht | 6 Diskussion | 21

Zuschreibungsanteile der Zurechnung Matthias Jahn Einleitung | 35 Thomas-Michael Seibert Wie wird in der Rechtsprechung zugerechnet? | 36 Georg Steinberg Zurechnung und Zuschreibung im Wirtschaftsstrafrecht | 55 Diskussion | 68

Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung – generelle Aspekte Cornelius Prittwitz Einleitung | 77

IX

X

Inhaltsverzeichnis

Ralf Kölbel Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung: Wirtschaftskriminologische Überlegungen | 79 Björn Gercke Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung (aus Sicht der Praxis) | 95 Diskussion | 107

Opfermitverantwortung am Beispiel der kriminogenen Interdependenzen von Anlegerverhalten und Kapitalmarktpolitik Cornelius Prittwitz Einleitung | 119 Andreas Hackethal Was heißt gute Anlageberatung? Bemerkungen aus empirisch ökonomischer Sicht | 120 Eberhard Kempf Grenzen der Schutzbedürftigkeit Betroffener bei Betrug und Marktmanipulation | 136 Diskussion | 146

Abstrakte Gefährdungsdelikte – der zunehmende Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts? Cornelius Prittwitz Einleitung | 157 Michael Kubiciel Freiheit, Institutionen, abstrakte Gefährdungsdelikte: Ein neuer Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts? | 158

Inhaltsverzeichnis

Mark Wahrenburg Die exzessive Risikoübernahme als abstraktes Gefährdungsdelikt in juristischer und ökonomischer Betrachtungsweise | 172 Diskussion | 184

Entmythologisierung des Wirtschaftsstrafrechts? Matthias Jahn Einleitung | 197 Thomas Kutschaty Der Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen | 199 Diskussion | 209

Die Teilnehmer des 7. ECLE-Symposions | 220

XI

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Inhaltsverzeichnis

Die Autoren und die Herausgeber

XIII

Die Autoren und die Herausgeber Die Autoren und die Herausgeber Die Autoren und die Herausgeber

Prof. Dr. Björn Gercke Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Prof. Dr. Björn Gercke, Jahrgang 1973, studierte an den Universitäten in Göttingen, Paris (Panthéon-Assas) und Köln. Bereits während des Studiums war er am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Klaus Bernsmann tätig. Nach dem Abschluss des 1. Staatsexamens war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Straf- und Strafprozessrecht der Universität zu Köln. Er promovierte von 1999 bis 2001 bei Herrn Prof. Dr. Klaus Bernsmann mit einer strafprozessualen Schrift. Seit 2003 ist er Rechtsanwalt; 2006 folgte die Gründung der eigenen Kanzlei Gercke/Wollschläger, Köln. Neben der forensischen Tätigkeit in der strafrechtlichen Verteidigung und präventiven Beratung veröffentlicht Rechtsanwalt Prof. Dr. Gercke regelmäßig Beiträge im Straf-, Strafverfahrens- und Wirtschaftsstrafrecht. Darüber hinaus hält er Vorträge in der anwaltlichen und universitären Fortbildung. Er ist unter anderem Dozent der Deutschen Anwalt Akademie und war mehrere Jahre Lehrbeauftragter der Universitäten Köln und Trier. Er gehört dem Strafrechtsausschuss des Kölner Anwaltvereins sowie dem Beirat der Zeitschrift „Strafverteidiger“ an. Prof. Dr. Andreas Hackethal Andreas Hackethal ist seit 2011 Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Goethe Universität in Frankfurt am Main und seit 2008 Professor für Finanzen am dortigen House of Finance. Nach Promotion und Habilitation in Betriebswirtschaftslehre an der Goethe Universität, folgte er 2005 einem Ruf an die European Business School in Oestrich-Winkel. In der Forschung beschäftigt er sich seither mit Fragen rund um Anlegerverhalten, Anlageberatung und Altersvorsorge. Seit 2009 gehört er dem Fachbeirat der BAFIN und seit 2011 der Börsensachverständigenkommission an. Von der Hochschulzeitschrift unicum wurde er für seinen Einsatz für Studierende zu Deutschlands Professor des Jahres 2010 gewählt. Über seinen Blog „Deutschland lernt sparen“ und Videokurse in Kooperation mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung engagiert er sich für mehr Finanzbildung in der Bevölkerung. Prof. Dr. Jochen Hörisch Jochen Hörisch wurde 1951 in Bad Oldesloe geboren, ist seit 1975 verheiratet und hat drei Kinder (geb. 1980, 1983 und 1987). 1970–76 Studium von Germanistik, Philosophie und Geschichte in Düsseldorf, Paris und Heidelberg (Stipendiat der Studienstiftung). Nach der Promotion 1976–88 Assistent bzw. nach der Habilita-

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Die Autoren und die Herausgeber

tion (1982) Privatdozent und Professor (C 2) an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Ruf an die University of Virginia in Charlottesville (USA) im Jahr 2000 und Ruf auf den Lehrstuhl „Medientheorien“ an der HUB Berlin abgelehnt (2002). Gastprofessuren 1986 an der Universität Klagenfurt, 1993 am CIPH und der ENS in Paris, 1996 in Charlottesville (USA/Virginia), 1999 in Princeton (USA), 2002 in Bloomington(USA/Indiana); 2006 an der EPHE in Paris. Vorträge (häufig auf Einladung des Goethe-Instituts bzw. des DAAD) u.a. in Frankreich (wiederholt ab 1979), Italien (1982, 1984, 2000), Großbritannien (Cambridge 1985, 2005), USA und Kanada (1989, 1991, 1993, 1995, 2000, 2003, 2006), Japan (1994, 1998, 2005), Marokko (1995), Bulgarien (1997), Indien (1998), Spanien (1998), Litauen (1999), Türkei (1999), Dänemark (1994, 2000, 2003, 2005), Österreich (1998, 2000), Israel (2001, 2002,2006), Portugal (2002, 2003, 2005), Brasilien und Argentinien (2003, 2005), Korea (2005), wiederholt in der Schweiz. Mitglied der europäischen Akademie für Wissenschaften und Künste in Salzburg, der Freien Akademie der Künste in Mannheim und der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Preise: Heynen- Preis der Stadt Düsseldorf 1988 (10.000 DM); Reimers-Preis der Aby-Warburg Stiftung Hamburg 1999 (10.000 DM), Stipendium Künstlerhaus Wiepersdorf 2001, Stipendium Pro Geisteswissenschaften (VW-Stiftung) 2006–2008). Veröffentlichungen u.a.: Die fröhliche Wissenschaft der Poesie (über frühromantische Poetologie). Ffm (Suhrkamp) 1976; Materialien zur Sprachlosigkeit des Kaspar Hauser. Ffm (Suhrkamp) 1979; Gott, Geld und Glück (über Bildungsromane). Ffm (Suhrkamp) 1983; Das Tier, das es nicht gibt (über Einhörner). Nördlingen (Greno) 1986; Die Wut des Verstehens – Zur Kritik der Hermeneutik. Ffm (Suhrkamp) 1988; Die andere Goethezeit. München (Fink) 1992; Brot und Wein – Die Poesie des Abendmahls. Ffm (Suhrkamp) 1992; Kopf oder Zahl – Die Poesie des Geldes. Ffm (Suhrkamp) 1996; Das Ende der Vorstellung – Die Poesie der Medien. Ffm (Suhrkamp) 1999; Der Sinn und die Sinne – Eine Geschichte der Medien. Ffm (Eichborn, Andere Bibliothek) 2001; Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen. Ffm (Suhrkamp) 2003; Gott, Geld, Medien. Bedeutsamkeit – Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München (Hanser) 2009, Man muss dran glauben – Die Theologie der Märkte. München (Fink) 2014, Weibes Wonne und Wert – Richard Wagners Theorie-Theater. Berlin (Andere Bibliothek) 2015. Prof. Dr. Matthias Jahn 1968 in Frankfurt am Main geboren 1988–1994 Studium der Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main

Die Autoren und die Herausgeber

1994 1997 1998 1997–2000

1998–2002 2000–2002 1999–2003 2003

2002–2004

2003–2005

2004–2005 2005

2005–2013

2009 2012–2013

Seit 2013

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Erstes Juristisches Staatsexamen Referendariat am Landgericht Frankfurt Promotion „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, Nomos-Verlag Baden-Baden, 1998 Zweites Juristisches Staatsexamen Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt Rechtsanwalt mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Strafverteidigungen Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft Habilitation mit der Schrift „Das Strafrecht des Staatsnotstandes. Die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe und ihr Verhältnis zu Eingriff und Intervention im Verfassungsund Völkerrecht der Gegenwart“, Verlag Vittorio E. Klostermann Frankfurt, 2004 Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt a. M., Abteilung XIII (Organisierte Kriminalität) Privatdozent am Fachbereich Rechtswissenschaften der Goethe-Universität; venia legendi für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie abgeordnet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundesverfassungsgericht im Dezernat Hassemer Ablehnung eines Rufs auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock o. Professor der Friedrich- Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) und Richter im Nebenamt am 2. und 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg Ablehnung eines Rufs auf den Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht der Leibniz-Universität Hannover Stellvertretender Sprecher des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie der Goethe-Uni-

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Seit 2014

Die Autoren und die Herausgeber

versität Frankfurt a.M., Direktor des Instituts für das Gesamte Wirtschaftsstrafrecht (IGW) und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Im zweiten Hauptamt Richter am 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt

Eberhard Kempf Eberhard Kempf, Rechtsanwalt, Jahrgang 1943, geb. in Lahr/Schwarzwald, Studium in Heidelberg, Berlin, Freiburg und Paris. Rechtsanwalt seit 1971, seit 1977 in Frankfurt am Main. Rechtsanwalt Kempf war nach kurzer Tätigkeit als Assistent an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer von Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit an mit zunehmender Spezialisierung im Strafrecht tätig. Die „großen“ Stationen seiner Laufbahn sind: die Verteidigung des Strafverteidigers Klaus Croissant in den 70er, der KOMM-Prozess um die Verhaftung von 165 Jugendlichen 1981 in Nürnberg und der co op-Prozess in den 80er Jahren, die Verteidigung eines Börsenmaklers im sog. DG-BankVerfahren, mehrere Verteidigungen von Bankvorständen in Verfahren um sog. bargeldlose Geldtransfers nach Luxemburg, Liechtenstein und in die Schweiz, die Verteidigung von Nick Leeson von der damaligen Baring’s Bank Singapore in dessen Auslieferungsverfahren in den 90er Jahren, die Vertretung und Verteidigung des Steuerberaters Weyrauch im Verfahren um die sog. Schwarze Kasse der hessischen CDU vor den Untersuchungsausschüssen des Bundestages und des Hessischen Landtags sowie im Verfahren vor dem Landgericht Wiesbaden, Oberlandesgericht Frankfurt am Main und dem Bundesgerichtshof, die Vertretung der Nebenklage der Familie von Metzler im Verfahren um die Ermordung ihres Sohnes, die Verteidigung von Dr. Josef Ackermann im sog. Mannesmann-Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf und dem Bundesgerichtshof, die Verteidigung des CEO der WestL-Bank, Jürgen Sengera, vor dem Landgericht Düsseldorf und dem Bundesgerichtshof, die Verteidigung mehrerer leitender Manager im sog. SIEMENS-Korruptionsverfahren, mehrere Verteidigungen von Managern von Landesbanken in der Finanzkrise von 2008 sowie die Verteidigung Josef Esch im sog. Sal. Oppenheim-Verfahren vor dem LG Köln. Rechtsanwalt Kempf ist seit 1990 bis heute Mitglied und war von 1996 bis 2005 Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins. Er hat eine umfangreiche Veröffentlichungs- und Vortragspraxis und ist mehrfach als Sachverständiger durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages gehört worden.

Die Autoren und die Herausgeber

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Rechtsanwalt Eberhard Kempf war aktiv an der Gründung des Barreau Pénal International/International Criminal Bar (ICB-BPI) beteiligt, einer Vereinigung von Rechtsanwälten am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er war von 2003 bis 2005 Vizepräsident und von 2005 bis 2007 Co-Präsident des ICB-BPI. Seit 2012 ist er Vorsitzender des Disciplinary Board for the International Criminal Court in Den Haag. Prof. Dr. Ralf Kölbel Geboren 1968. Studium (1990–1995), Promotion (3/1997) und Habilitation (11/ 2005) an der Fr.-Schiller-Universität Jena. Lehrstuhlvertretungen an der TU Dresden und der LMU München. Von 6/2008 bis 3/2009 Universitätsprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminalpolitik an der Deutschen Hochschule der Polizei (Münster). Danach von 4/2009 bis 3/2013 Universitätsprofessor für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Universität Bielefeld. An der LMU München seit 4/2013 als Professor für Strafrecht und Kriminologie tätig. Prof. Dr. Michael Kubiciel Michael Kubiciel ist seit Anfang 2014 geschäftsführender Direktor des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht und seit Juli 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafrechtstheorie und Strafrechtsvergleichung der Universität zu Köln. Er habilitierte sich im August 2012 an der Universität Regensburg. Für seine Habilitationsschrift erhielt er den Habilitationspreis der Universität Regensburg, im Jahr 2011 wurde ihm der Preis für gute Lehre des Freistaates Bayern verliehen. In der Vergangenheit beriet er den Europarat und die Vereinten Nationen zu Fragen der Antikorruptionspolitik. Seit 2012 fungiert er als National Research Correspondent der EU-Kommission im Zusammenhang mit der Erarbeitung des EU Anti-Corruption Reports. Das Wirtschaftsstrafrecht, der Besondere Teil des Strafrechts sowie die Strafrechtstheorie bilden seine Forschungsschwerpunkte. Er hat Rechtswissenschaft in Bonn, Granada und Freiburg i. Br. studiert. Während seiner Assistentenzeit am Max-Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht promovierte er zu einem kartellrechtlichen Thema. Nach seinem 2. Examen arbeitete er für eine auf das Wirtschaftsstrafrecht spezialisierte Sozietät. Michael Kubiciel verfasst regelmäßig Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen und Gutachten für die Rechtspraxis. Justizminister Thomas Kutschaty geboren am 12. Juni 1968 in Essen, verheiratet, eine Tochter und zwei Söhne 1987 Abitur am Gymnasium Borbeck 1987–1989 Zivildienst

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1989–1994 1995 1995–1997 1997 1997–2010 Seit 2005 Seit 2010

Die Autoren und die Herausgeber

Jurastudium an der Ruhr-Uni Bochum 1. juristisches Staatsexamen am Oberlandesgericht Düsseldorf Rechtsreferendar beim Landgericht Essen 2. juristisches Staatsexamen Rechtsanwalt, Kanzlei in Essen-Borbeck Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen

Minister Kutschaty wurde nach Abschluss seiner juristischen Ausbildung im Jahr 1997 als Rechtsanwalt tätig. Seit dem 8. Juni 2005 ist er Abgeordneter des Landtags von Nordrhein-Westfalen, wo er in der 14. Wahlperiode als ordentliches Mitglied dem Innenausschuss, dem Rechtsausschuss, dem Wahlprüfungsauschuss und dem Parlamentarischen Kontrollgremium gem. § 23 d. Verfassungsschutzgesetzes NRW angehörte. Außerdem war er in der 14. Wahlperiode stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses I und Vorsitzender des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses II. Am 15. Juli 2010 wurde Thomas Kutschaty als Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen ernannt und gleichzeitig auch stellvertretendes Mitglied des Bundesrates. Minister Kutschaty ist zudem Landesvorsitzender des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge Nordrhein-Westfalen. Prof. Dr. Klaus Lüderssen Professor Dr. Klaus Lüderssen, Jg. 1932, ist seit 1971 ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Johann Wolfgang Goethe- Universität Frankfurt am Main. Mit dem Wirtschaftsstrafrecht beschäftigt sich schon eine frühere Arbeit über kartellrechtliche Probleme. Später folgten Arbeiten über Irrtumsprobleme im Steuerstrafrecht, ferner über Subventions- und Submissionsbetrug, Konkursprobleme im GmbH-Strafrecht, missbräuchliche aktienrechtliche Anfechtungsklagen und Strafrecht, Anti-Korruptionsgesetze und Drittmittelforschung, ökonomische Analyse des Strafrechts, Korruption und strafrechtliche Untreue, gesellschaftsrechtliche Grenzen der strafrechtlichen Haftung des Aufsichtsrats, Aktienrecht und strafrechtliche Untreue und Glücksspielstrafrecht. Einige dieser Abhandlungen sind zusammengefasst in den Bänden „Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts“ I 1998, II 2007 und III 2014. Neuere einschlägige Veröffentlichungen sind die in Anknüpfung an die bisherigen ECLE-Symposien gemeinsam mit Eberhard Kempf und Klaus Volk herausgegebenen Bücher „Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken“ (2009), „Die Finanzkrise, das Wirtschafts-

Die Autoren und die Herausgeber

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strafrecht und die Moral“ (2010) und „Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?“ (2011), sowie die Beiträge in den Festschriften für Knut Amelung, „Systemtheorie und Wirtschaftsstrafrecht“, 2009, S. 67–80, und für Klaus Volk, „Risikomanagement und Risikoerhöhungstheorie“ – auf der Suche nach Alternativen zu § 266 StGB, 2009, S. 345–363. Muss Strafe sein? Das Strafrecht auf dem Weg in die Zivilgesellschaft, in Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, und Strafbefreiender Rücktritt vom fahrlässigen Delikt? in Festschrift für Erich Samson, 2010: Rechtsfreie Räume?, 2012, Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts III, 2014. Mit der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Wolf-Dietrich Schiller und Kollegen in Frankfurt am Main gibt es eine ständige Kooperation. Prof. Dr. Cornelius Prittwitz Jahrgang 1953. Seit 2000 Professor für Strafrecht, Strafprozess, Kriminologie und Rechtsphilosophie an der Goethe- Universität Frankfurt am Main; seit 2009 Mitglied des Senats der Goethe-Universität, von 2011–2013 Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft. Nach der Promotion mit einer strafprozessualen Arbeit zum „Mitbeschuldigten im Strafprozess“ (1984), erwarb er 1985 einen Master of Public Administration an der Harvard University und wurde 1992 in Frankfurt am Main mit einer Untersuchung zu „Strafrecht und Risiko“ habilitiert. Bevor er an die Goethe-Universität Frankfurt berufen wurde, war er von 1993–1998 Professor für Strafrecht, Strafprozess, Kriminologie und Kriminalpolitik an der Universität Rostock und in dieser Zeit Prorektor der Universität Rostock (1994–1996) und Richter im Nebenamt (1994–1998) am OLG Rostock. Von 1998–2000 war er Berater des Justizministeriums der Republik Chile im Rahmen einer umfassenden Strafprozessreform. Schwerpunkt seiner Forschungs- und Vortragstätigkeit (auch im englisch- und spanischsprachigen Raum) sind die Schnittpunkte von Straf- und Strafprozessrechtsdogmatik, Kriminologie und Kriminalpolitik, vor allem die Grundlagenfragen, die das expandierende (Wirtschafts-) Strafrecht aufwirft. Daneben gilt sein Interesse vor allem der Internationalisierung des Strafrechts und den Herausforderungen von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft. Prof. Dr. Thomas-Michael Seibert Seibert, Thomas-Michael, 1975 jur. Promotion in Mainz (Theodor Viehweg, Ottmar Ballweg), 1977–1982 Assistent in einem Forschungsprojekt zur Einbeziehung von Rechtspraxis ins Rechtsstudium, 1982–2011 Richter (1992–1999 Vorsitzender der Umwelt- und Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Frankfurt a.M.), seit 1999 Honorarprofessor am FB Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt für Rechtstheorie und Strafrecht, theoretisch aktiv in

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Die Autoren und die Herausgeber

der Rechtssemiotik (zeitweise als Beirat in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik), Beiträge zur juristischen Argumentation, zum Umweltstrafrecht und zur Rechtssemiotik; Buchveröffentlichungen: Zur Fachsprache in der Juristenausbildung, 1977; Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts, 1996; Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs, 2004; Die Lehre vom Rechtszeichen (demnächst); als Mithrg.: Autor und Täter (zus. m. K. Lüderssen, 1979); Rhetorische Rechtstheorie (zus. m. O. Ballweg, 1982). Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard H. Schmidt Reinhard H. Schmidt ist seit 1991 Finanzprofessor im House of Finance der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Vorher war er Professor in Göttingen, Trier und Washington (DC) sowie Gastprofessor in Stanford, Philadelphia (Wharton), Paris und Mailand (Bocconi). Seit einigen Jahren widmet sich Reinhard H. Schmidt in seinen Forschungsarbeiten vor allem dem Thema der Entwicklung und des Vergleichs von Finanzsystemen in Industrie- und Entwicklungsländern. Publikationen: 20 Bücher als Autor und Herausgeber und über 100 Aufsätze in deutschen und internationalen Fachzeitschriften und Sammelbänden. Prof. Dr. Georg Steinberg Jahrgang 1974 1995–2001 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Genf und München; Erstes Staatsexamen; Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes 2001–2003 Dissertation „Christian Thomasius als Naturrechtslehrer“, Doktorvater: Hinrich Rüping 2004 Promotion an der Universität Halle-Wittenberg 2003–2005 Referendariat im Bezirk des Kammergerichts zu Berlin; Zweites Staatsexamen 2005–2008 Wissenschaftliche Assistenz an der Universität Hannover 2008 Habilitation; Habil.-Vater: Hinrich Rüping; Habil.-Schrift: „Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit. Ein Ansatz zu einer allgemeinen Prozesslehre“; venia für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Rechtsphilosophie; Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2008–2009 Professurvertretungen an den Universitäten Münster und Passau 2009–2012 Professur für Strafrecht an der Universität zu Köln

Die Autoren und die Herausgeber

Seit 2012

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Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht an der EBS – Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden Prodekan Lehre der Juristischen Fakultät der EBS

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Volk Geboren 1944 in Coburg. Er hat von 1963 bis 1968 in München Rechtswissenschaften studiert. Nach dem Ersten Staatsexamen war er wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Paul Bockelmann an der Juristischen Fakultät der Universität München. Nach der Promotion (1970) und dem Zweiten Juristischen Staatsexamen habilitierte er sich dort (1977) für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtstheorie. Nach einer Professur in Erlangen wurde er im gleichen Jahr (1977) Ordinarius in Konstanz. 1980 nahm er den Ruf an die Ludwig-Maximilian-Universität auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an. Am 29.3.2003 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Urbino verliehen. Er ist auch als Strafverteidiger tätig. Prof. Dr. Mark Wahrenburg Mark Wahrenburg ist Inhaber der Professur für Bankbetriebslehre der GoetheUniversität Frankfurt, Gründungsdekan und heute Associate Dean der Goethe Business School und Präsident der Goethe Finance Association. Vorhergehende akademische Stationen umfassten eine Professur an der Universität Witten/ Herdecke, eine Gastprofessur an der Wharton School der University of Pennsylvania sowie ein einjähriger Aufenthalt in Ho-Chi-Minh-City zum Aufbau der Vietnamese German University. Wahrenburg wurde an der Universität Köln promoviert und habilitiert. Er verfügt über langjährige Praxiserfahrung als Unternehmensberater für McKinsey und American Management Systems sowie als Gutachter im Bereich Finanzierung und Risikomanagement.

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Das Wirtschaftsstrafrecht auf dem Wege in die Grenzmoral?

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Einleitung

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Matthias Jahn

Einleitung Matthias Jahn Einleitung „Strukturen und Motive der Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen“ heißt das etwas verschwörerische Thema dieses Bandes1. Das klingt gerade so, als ob es hinter den eigentlichen Motiven der Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen, die man nach der klassischen Lehre vom Strafprozess in der Herbeiführung einer wahren und gerechten Entscheidung des Falles zu sehen haben wird,2 so etwas wie eine hidden agenda gäbe. Ein solches Denken ist heute, wenn man das Zeitgeschehen aufmerksam beobachtet, weder ungewohnt noch auch nur unpopulär. Wir werden zu klären haben, ob diese Perspektive auf das Wirtschaftsstrafrecht lohnend ist – und dazu dient der erste Teil des vorliegenden Bandes, der sich Grundfragen der Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen zuwendet. Die Beantwortung von Grundfragen braucht Grundlagen. Von hier aus ist es nicht weit zum Begriff der Grenzmoral, den wir mit dem ersten Referat des heutigen Vormittags etwas näher in den Blick nehmen wollen. 1920 formuliert der deutsche Nationalökonom Götz Briefs sein bekanntes Theorem. Er fand die Grenzmoral in der am wenigsten durch Hemmungen im Konkurrenzkampf behinderten Sozialschicht vor. Jene Schicht habe aufgrund ihrer Mindestmoral unter gleichen Umständen die stärksten Erfolgsaussichten und zwingt „sohin die übrigen konkurrierenden Gruppen (…), allmählich in Kauf und Verkauf sich dem jeweils tiefsten Stand der Sozialmoral, eben der Grenzmoral anzugleichen.“3 Wenn man diesen Begriffsinhalt mit der heutigen Realität des Wirtschaftsstrafrecht konfrontiert, rückt als zweites ein wiederum den Grundlagen verpflichteter Text in den Blick – jedenfalls in meinen – der doch immerhin auch schon vor vierzig Jahren erschienen ist. Dort heißt es zu den Gründen von Kriminalität im Wirtschaftsleben, es seien manchmal auch realitätsfremde Omnipotenzfantasien. Wörtlich: „Unser ‚normales‘ Geschäftsleben enthält so viele

_____ 1 Aus dem Transskript meiner einführenden Bemerkungen zum ersten Vormittagspanel erstellter Text, der keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, sondern (auch den) NichtExperten auf das Generalthema und den ersten Referenten einstimmten soll. 2 Nachw. bei Jahn Das heutige strafprozessuale Ermittlungsverfahren aus Sicht von Wissenschaft und Justiz: Die Entwicklung in den letzten drei Jahrzehnten und die rechtspolitischen Baustellen, in: Barton/Kölbel/Lindemann (Hrsg.), Wider die wildwüchsige Entwicklung des Ermittlungsverfahrens, 2015 (im Erscheinen). 3 Briefs Untergang des Abendlandes, Freiburg i.Br. 1920, S. 5.

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Matthias Jahn

Usancen, die bei geringer Abwandlung schon in den von der Kriminalisierung erfassten Bereich fallen, dass man strafbar Gewordenen wenig entgegenzusetzen hat, wenn sie Spekulation auf eine künftige Geschäftstätigkeit vortragen, die sich – mit einer zusätzlichen Tendenz ins Unseriöse – im Bereich jener Usancen bewegen.“ Und weiter: „(D)ie Wirtschaftsgesellschaft, in welche die Täter eingegliedert werden sollen, weist für die Geschickteren unter ihnen so viele quasikriminelle Züge auf, daß sie unter der Voraussetzung, sich in Zukunft an die minimalen Spielregeln zu halten, hineinschlüpfen können, ohne ihre Motivation grundsätzlich zu ändern – weder in bezug auf die Ziele noch in bezug auf die Mittel.“ Einem der Beteiligten dürfte dieser Text besonders bekannt vorkommen. Er stammt von Klaus Lüderssen, Kriminologisches Journal im Jahrgang 1974.4 Wohl auch kein Zufall ist, dass sich die Frage, ob sich das Wirtschaftsstrafrecht – also nicht nur der Wirtschaftsstraftäter – auf dem Weg in die Grenzmoral befindet, aus aktuellem Anlass gerade in diesen Tagen mit großer Dringlichkeit gestellt wird. So schreibt Thomas Fischer einen Tag vor dem VII. ECLE-Symposion in der ZEIT in einem fulminanten Text über den Fall Middelhoff unter der für uns einschlägigen Zwischenüberschrift „Moral“5: „Hierzu schweigt des Richters Weisheit. Er selbst ist kein Middelhoff, sondern von einer Sorte, die dieser (Middelhoff – d. Verf.) bislang eher zum Saubermachen benötigte. Ratlos und müde beugt er sich über die Akten. Er fliegt nicht zu den Sternen. Glaubt man den Zeitungen, so stellte der Vorsitzende Richter in der Hauptverhandlung gegen Herrn M. Betrachtungen über die Ehrlichkeit an, die man ihm (!), dem Vorsitzenden, schulde, er gab bekannt, dass er sehr enttäuscht sei von Herrn M., der sich mal anschauen solle. Die Zeitungen schreiben, ‚der Richter‘ habe Herrn M. verurteilt, bevor er ihn verhaftete. Die übrigen vier Richter, die – weil auch in Essen die Strafprozessordnung gilt – dabei gewesen sein müssen, werden in der Presse nicht erwähnt. So wird auch dieses Stück herabgewürdigt zum Zusammenstoß des Schurken mit dem Guten, des Verschwenders mit dem Treuherzigen, des offenkundig Maßlosen mit der Maßlosigkeit des Wohlanständigen“. Offenbar – so schließt Fischer – „braucht die Gesellschaft ihre Demütigungsrituale, als deren Objekt sich Herr M. in ungewöhnlich selbstzerstörerischer Weise anbot.“ Die damit ganz sicher verbundenen Fragen wird das nachfolgend abgedruckte Referat aufgreifen. Herr Hörisch nähert sich ihnen aus der Perspektive

_____ 4 Wieder abgedruckt in Lüderssen Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen. Aufsätze zur Vermittlung von Theorie und Praxis, 1981, S. 228 (233 f.). 5 Th. Fischer Herren fremder Welten, Die Zeit Nr. 48 v. 20.11.2014, S. 25.

Einleitung

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der Kulturwissenschaft, die auch in der Ökonomie zunehmend Beachtung findet. Diese Perspektive lässt sich auf das durch Märkte geprägte wirtschaftliche Geschehen ein und stellt übergreifende Gesichtspunkte zur Diskussion. Jochen Hörisch ist seit einem Vierteljahrhundert Ordinarius für neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Er ist Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaft und Künste in Salzburg und ein hochdekorierter vielfacher Preisträger. Ich zitiere aus seinem umfangreichen Oeuvre nur drei Titel: 1. „Das Tier, das es nicht gibt (Über Einhörner)“, 2. „Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik“, 3. – und damit nähern wir uns schon langsam unseren Gegenständen – „Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes“. Wenn unsere juristischen Monographien ähnlich vielversprechende Titel hätten, würden sie sicher auch eine ähnlich weite Verbreitung finden.

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Jochen Hörisch

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Die invisible hand des Marktes und der lange Arm des Gesetzes Jochen Hörisch Die invisible hand des Marktes und der lange Arm des Gesetzes

Medienanalytische Beobachtungen zum Wirtschaftsstrafrecht Wenn ein von Sachkenntnis ungetrübter Laie sich vor erlesenem und hochkompetentem Publikum über komplizierteste juristische Probleme äußern darf, so ist das Risikopotential einer solchen Konstellation groß. Weniger für mich als Vortragenden, denn ich habe ja in Juridices keinen Ruf, den ich verlieren könnte, als vielmehr für den Einladenden, für Klaus Lüderssen, dem ich umso herzlicher für seine enorme freundschaftliche Risikobereitschaft danke. Klaus Lüderssens Arbeiten nicht nur zu Law and Literature (im Zeichen dieser Konstellation haben wir uns kennengelernt – der elegant schreibende Jurist mit enormen Belletristikkompetenzen, und ich, ein Literatur- und Medienwissenschaftler ohne Rechtsschutzversicherung, der in seinem nicht mehr ganz jungen Leben nie geklagt hat bzw. angeklagt wurde, der es nicht einmal zu einem Scheidungsprozess gebracht hat), sondern auch zur Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts1 habe ich gewissermaßen mit roten Ohren gelesen. Geht es darin doch um den Stoff, aus dem die große Literatur und weite Teile dessen gemacht sind, was zurzeit Medienaufmerksamkeit über enge Fachgrenzen hinaus erregt. Es gibt wissenschaftliche Disziplinen, zu deren Problemen es u.a. gehört, dass alle, auch die von vertiefter Sachkompetenz Ungetrübten, munter mitreden. Die Erziehungswissenschaft gehört dazu, denn wir alle sind schlecht oder recht erzogen worden und mussten weite Strecken unserer Kinder- und Jugendzeit opfern, um der Schulpflicht zu genügen; Kulturwissenschaftler aller Provenienzen wissen ein Lied vom Problem des munteren Mitdiskutierens aller zu singen, denn es gibt schlechterdings niemanden, der sein Tun und Lassen nicht einem erweiterten Kulturbegriff zurechnen lassen kann; Wirtschaftswissenschaftler sind irritiert, wenn Köpfe, die in Mathematik schwach sind, darauf bestehen, dass auch und gerade sie mit Geld umgehen müssen, dass sie tauschen, konsumieren und produzieren, also Vorstellungen darüber haben, wie Wirtschaft funktioniert – und besser = gerechter funktio-

_____ 1 Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts I–III (3 Bände). Baden-Baden 1998– 2014.

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nieren sollte; und Juristen wissen, dass sie sich systematisch mit Parallelwertungen in der Laiensphäre herumschlagen müssen. Physiker, Chemiker, Nanotechnologen und Biogenetiker, um nur sie zu benennen, sind deshalb zu beneiden. Sie bleiben vom noise der Inkompetenz zumeist unberührt. Was nicht ausschließt, dass auch Köpfe (wie der meine), die nicht ansatzweise wissen, wie ein Atomkraftwerk funktioniert, gegen den mit einem Nobelpreis gesegneten Atomphysiker die richtige Intuition hatten, dass GAUs (größte anzunehmende Unfälle) wie die in Tschernobyl oder Fukushima signifikant häufiger sind als es der Schulweisheit alpträumte. Auch die Banken- und Finanzkrise der letzten Jahre hat mich so wenig überrascht wie die triviale Entdeckung, dass Geheimdienste das Internet und den E-Mailverkehr systematisch abtasten. Und ich scheue bei aller Sach-Inkompetenz den Hinweis nicht, dass mich weitere, etwa terroristisch ausgelöste GAUs noch in meiner Lebenszeit nicht überraschen würden – und weitere Mega-Finanz- und Wirtschaftskrisen auch nicht. Ein wenig, aber nicht viel besser als dem munteren Laien, der sich das Recht aufs Dreinreden nicht ausreden lässt, geht es dem Wissenschaftler, der aus anderen, z.T. fernen Disziplinen einen Blick auf die Disziplinen wirft, die er nicht studiert hat. Wenn er die frohgemuten Festreden-Aufforderungen, doch bitte inter-, meta- und transdisziplinär zu arbeiten, allzu ernst nimmt, sind die fremdbeobachteten Disziplinen zumeist not amused – und die direkten Fachkollegen auch nicht. Dennoch möchte ich drei eng miteinander verwandte Aspekte in die Diskussion um die Angemessenheit einer Kriminalisierung bzw. Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts einbringen, die, dem Etikett meines Lehrstuhls entsprechend, aus den medien- bzw. literaturwissenschaftlichen Sphären stammen, in denen ich mich ein wenig auszukennen glaube: erstens geht es um die Effekte der intensivierten Beobachtung der Wirtschaft durch Medien, zweitens um das sog. Adressatenproblem und drittens um eine metaphernanalytische Erörterung der juristischen Belangbarkeit und Zurechnung eines Tuns, das von einer invisible hand gesteuert wird. Der erste medienwissenschaftliche Hinweis streift die Trivialitätsgrenze, ist aber dennoch oder eben deshalb wert, intensiv bedacht zu werden. Die mediale Dauerbeobachtung des wirtschaftlichen Geschehens hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen Intensitätsgrad angenommen, dem zuvor nur die Politik ausgesetzt war und weiterhin ist (wohl ein gewichtiger Grund dafür, dass es eine zunehmende bis dramatische Weigerung der Eliten gibt, politische Karrieren anzustreben). Brechts geflügeltes Wort aus der Dreigroschenoper „man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“ zielte noch gut sozialkritisch auf die Ausblendung des Elends aus der öffentlichen Wahrnehmung.

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Heute lässt es sich auch auf die helle bis grelle Ausleuchtung des Wirtschaftsgeschehens beziehen. Selbst die engagiertesten und enragiertesten Kapitalismuskritiker der 68-er Bewegung wussten nur selten namentlich, wer mit welcher Verantwortung, welchen fixen und variablen Bezügen, welcher Vergangenheit, welcher Adresse und welcher Vorliebe für diese oder jene Urlaubsregion oder Uhren- bzw. Automarke in welchem Vorstand saß. Das hat sich gründlich geändert. Denn Zeitschriften wie Capital und Manager-Magazin, Fortune und Harvard Business sowie zahlreiche TV-Wirtschaftssendungen und Internetblogs sorgen dafür, dass alle auch nur halbwegs Interessierten wissen können, welchen Schätzpreis die gepfändete Uhr von Thomas Middelhoff hatte, welchen Auktionspreis sie erzielte, welche Liquiditätsprobleme der von seiner Frau mit dieser Uhr Beschenkte hat, welche alten Freunde er nicht mehr grüßt und durch welches Fenster der von Medien verfolgte Ex-Spitzenmanager gesprungen ist, um sich Gläubigern, vor allem aber der Medienbeobachtung zu entziehen. An Beispielen für die mediale Dauerbeobachtung des Wirtschaftsgeschehens ist kein Mangel. Es genügt, Fotos zu evozieren, die schnell und gründlich ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Etwa das, auf dem Josef Ackermann am 21. Januar 2004 auf dem Flur des Düsseldorfer Oberlandesgerichts sein Victory-Zeichen macht. Ob Ackermanns PR-Berater eine Konventions-Strafe für die unfassbar dämliche Empfehlung zahlen mussten, sich am Victory-Zeichen des international geächteten Pädophilen Michael Jackson zu orientieren, ist mir nicht bekannt. Nicht minder prominent als dieses Bild sind die Fotos, die die Verhaftung des Vorstandsvorsitzenden Klaus Zumwinkel wegen des berechtigten Verdachts auf Steuerbetrug am Valentinstag 2008 zeigen. Ikonologisch besonders aufschlussreich ist das Foto, das Zumwinkel zusammen mit der Staatsanwältin Margrit Lichtenhagen zeigt, die ihn von oben aus betrachtet und vor sich her treibt. Bekanntlich hat Zumwinkel eine radikale Weise gewählt, sich medialer Aufmerksamkeit zu entziehen: er verschwand buchstäblich von der Bildfläche und verschanzte sich in einer Burg in den Alpen. Erst im Sommer 2014 kehrte er zögernd in die Öffentlichkeit zurück, als er zusammen mit dem berühmten Bergsteiger Reinhold Messner auf einem Symposion über „Leadership im Alpinismus – Leadership in der Wirtschaft“ sprach. Die FAZ vom 6. Juli 2014 und nicht etwa die taz titelte dazu: „Steuerbetrüger Zumwinkel belehrt Manager.“ Der Fall Zumwinkel macht (wie die Fälle Schrempp, Middelhoff, Esch, Oppenheimer, Breuer, Schickedanz, Notheis, Mappus, Nonnenmacher etc.) schlagend deutlich, was mediale Beobachtung der Wirtschaft bedeutet: Personalisierung. Das belegt noch das Foto von einer Protestdemo gegen Zumwinkel, das der Parallelwertung über

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Wirtschaftskriminalität in der Laiensphäre drastisch zum Ausdruck verhilft – und ersichtlich dafür sorgt, dass die Distanz zwischen der laienhaften Parallelwertung und der juridischen Urteilskraft zumindest im Bereich des Wirtschaftsrechts kleiner wird. Medien personalisieren – das wissen nicht nur Erstsemester der Medienwissenschaft. Die proto- und idealtypische Differenz von wirtschaftskritischen Einstellungen und Kommentaren, wie sie vor etwa einem halben Jahrhundert üblich waren und wie sie heute vorgetragen werden, lässt sich unschwer bestimmen. Wirtschafts- und Gesellschaftskritik in den Jahren 1968 ff. galt in aller Regel dem System, dem Kapitalismus, der Entfremdung, der Bürokratie oder der Macht des Geldes. Heute müssen sich medial exponierte und also namentlich bekannte Individuen konkrete Kritik und eben auch juristische Anklagen aller Art gefallen lassen. Interessanter Weise machen auch große Teile der Leitungsebene der Wirtschaft selbst diese Wendung mit. Konkret gesprochen: Leo Kirch prozessiert gegen die Deutsche Bank und genauer gegen Rolf Breuer; er ist mit seiner Klage, wenn auch post mortem, erfolgreich. Und die Deutsche Bank verklagt ihrerseits ihren ehemaligen Chef auf persönliche Haftung, auch wenn sie weiß, dass dessen sicherlich komfortables Privatvermögen nicht ausreichen dürfte, um den entstandenen Prozessschaden in Höhe von einer runden Milliarde Euro auszugleichen. Wirtschaftsjuristen und zumal angesehene Wirtschaftskanzleien haben Konjunktur, sie können klagen und haben deshalb keinen Grund zu klagen. Eine Nebenbemerkung lässt sich in diesen Kontexten kaum unterdrücken. Medien, traditionelle Printmedien wie neue elektronische Medien, machen, wenn auch zeitverzögert, eine strukturell ähnliche Erfahrung. Selbst ihre exponierten Vertreter müssen sich ihrerseits öffentliche und namentlich adressierte Kritik gefallen lassen – gerade auch in Wirtschafts- und Steuerfragen. Auch hier setzt sich eine Tendenz zur personalen Zuspitzung durch. Kritisiert werden nicht mehr so sehr „die bürgerliche Presse“, die manipulierte öffentliche Meinung („enteignet Springer“) oder die Bewusstseinsindustrie, sondern namentlich genannte Medienmacher, die zuvor nicht nur in ihren Kreisen hochangesehen waren. Den langjährigen Chefredakteur der renommiertesten unter den Wochenblättern, Theo Sommer, darf man ungestraft, weil sachlich korrekt, einen hartnäckigen Steuerbetrüger und vorbestraften Wirtschaftskriminellen nennen. Er muss wie die Steuerbetrügerin, Feministin und kritikfreudige Teilnehmerin zahlloser Talkshowrunden Alice Schwarzer mit der unangenehmen Erfahrung umgehen lernen, dass Medienmacher/innen nicht nur austeilen können und dürfen, sondern eben auch einstecken müssen – eine Erfahrung, auf die beide sehr gereizt und eigentümlich hilflos reagiert haben. Die vierte Gewalt wird sich daran gewöhnen müssen, so konkret und das heißt eben auch: so per-

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sönlich kritisiert zu werden wie die Legislative und die Exekutive – auch wenn ein Medienwissenschaftler wie Bernhard Pörksen in der ZEIT vom 23. Oktober 2014 vor den zersetzenden Folgen einer solcher Kritik warnt. Es gehört nicht viel prophetische Kraft dazu, die Prognose zu wagen, dass das noch halbwegs gehegte Tabu der Richterschelte auch bald erodiert. Moderne Medien, das Internet voran, dringen nonchalant auf eine Symmetrisierung der Kritikverhältnisse – und auf die Personalisierung von Kritik. Shitstorm-Kampagnen konnte es vor der Implementierung des Internet so nicht geben. Womit wir beim zweiten Aspekt sind, der mit dem ersten eng verwandt ist: beim Adressatenproblem.2 Der Begriff bezeichnet so etwas wie den zähen Bodensatz alter Kritiküblichkeiten, der auch in Zeiten personalisierter Kritik weiterhin Bestand hat. Kritik braucht Adressaten. Apersonale, ontologische und tiefenstrukturale Mächte kann man anklagen, man muss aber wissen, dass aus dieser Klage nur dann sinnvolle Kritik erwachsen kann, wenn sie sich konkret adressieren lässt. Wer vor einem Seniorenheim gegen Zeit, Krankheit und Tod demonstriert, riskiert, angesichts ernstester Themen zur lächerlichen Figur zu werden. Sein und Zeit taugen einfach nicht als Adressaten von Kritik; sie stehen nicht zur Disposition. Klagen und daraus erwachsende Kritik an Missständen bei der Betreuung von Alten und Kranken sind hingegen hochplausibel. Die Frage, ob Gebete ihren göttlichen Adressaten erreichen, mögen Gläubige und Ungläubige unterschiedlich entscheiden. Einig dürften sie sich aber darin sein, dass der Papst und der Vorsitzende der EKD anders als Gott eine postalisch auffindbare Adresse haben. Seltsam ist es, dass trotz der hohen Evidenz des Adressatenproblems Formen schwerlich zu adressierender Kritik eine kulturkritische Üblichkeit mit langer Tradition sind. Die Zahl derer, die Neuzeit und Moderne, Entfremdung und Bürokratie, Kapitalismus und Technik, Ausbeutung und Globalisierung beklagen und kritisieren, ist recht groß. Ja, man gilt als unsensibel, kalt und herzlos, wenn man in solche Kritik nicht einstimmt. Dabei ist das Problem eines solchen Kritik-Designs unübersehbar: Neuzeit und Moderne, Kapitalismus und Globalisierung haben keine Adresse. Wer mir die Telefonnummer und die Email-Adresse der Globalisierung mitteilen kann, muss zu den besser informierten Kreisen zählen. Zu den Kreisen also, die in der Regel dazu herhalten müssen, für anonyme Kräfte und Mächte haftbar gemacht zu werden. Der Preis für eine solche Adressierung ist allerdings hoch. Denn solche Adressen sind zumeist die der üblichen Verdächtigen. Je nach Sozialisation, Prägung und Pathologie erklärt man dann in riskanter Nähe zu psychotischen Mechanismen,

_____ 2 Zur juristischen Relevanz dieses Problems vgl. Hoerster Das Adressatenproblem im Strafrecht und die Sozialmoral; in: Juristen Zeitung, 44. Jg., 1989, S. 10–12.

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Verantwortung und Schuld an den Kalamitäten der Neuzeit und Moderne, der Entfremdung und der Globalisierung trügen die Protestanten oder die Jesuiten, die Wallstreet oder die Bolschewiken, die Freimaurer oder (ein besonders beliebtes und gespenstisches Beispiel) die Juden, das Patriarchat oder die Techniker. NB: dass es sich in Neuzeit und Moderne nicht nur materiell, sondern auch emotional gründlich besser, individueller und romantischer leben lässt als in den gar nicht so guten alten Zeiten, gerät dann schnell aus dem Blickfeld. Der Bezug dieser Überlegung zu wirtschaftsrechtlichen Problemen liegt auf der Hand. Man kann etwa angesichts der Banken- und Finanzkrise in Folge der Lehman Brothers-Pleite alle Banker zu Bankstern erklären und damit altneue übliche Verdächtige benennen. Und man kann alternativ dazu entweder mit dem Hinweis auf allzu hohe Funktionskomplexität so gut wie alle Beteiligten exkulpieren und weitgehend anonymisieren oder aber Zurechnungen für evidente Fehlentwicklungen individualisieren. Das Medien- und mit ihm das (deutsche, viel stärker noch das US-) Justizsystem hat sich in den letzten Jahren offenbar für die letztgenannte Option entschieden. Besonders deutlich (jedenfalls für Laien wie mich) wird dieser Paradigmenwechsel bei der Ahndung von Steuerhinterziehung. Man macht wohl keinen Fehler, wenn man so pointiert: an die Stelle eines bis vor wenigen Jahren gültigen weitgehenden Amnestieangebots und – was mindestens ebenso wichtig ist – eines Amnesie- und Anonymisierungsangebots beim Eingeständnis von Steuerdelikten ist die verschärfte und öffentlich personalisierte Verfolgung von Steuerhinterziehung getreten. Unabhängig davon, wie man diese Entwicklung bewertet – es gibt sie in aller Deutlichkeit, sie scheint zumindest auf mittlere Frist unumkehrbar. Nicht nur Uli Hoeneß weiß ein Lied davon zu singen. Auch in dieser Hinsicht bewährt sich Georg Jellineks Formel von der normativen Kraft des Faktischen. Die öffentlich wie binnenjuristisch vieldiskutierte Frage, ob der Staat Sammlungen mit Steuerhinterziehungsdaten ankaufen und auswerten dürfe, ist entschieden. Vox populi und höchste Bundesverfassungsgerichtsentscheidung korrelieren in diesem Fall. Am 9.11.2010, ausgerechnet an einem 9. November, also am Tag der Novemberrevolution von 1919, des Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923, der sog. Reichskristallnacht von 1938 und des Falls der Berliner Mauer 1989, am 9.11.2010 billigte das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 2101/09) den Ankauf und die Auswertung von Steuersünderdaten durch deutsche Behörden. Bekanntlich eine unter Juristen (und unter Steuersündern sowieso) heftig umstrittene Entscheidung, die aber von der öffentlichen Meinung weitgehend mitgetragen wurde. Das von mir in Laiensprache übersetzte Argument hat auch eine schwer auszuhebelnde Überzeugungskraft: der Staat erwirbt mit den Steuersünder-CDs ja Daten, die ihm zustehen, ihm aber vorenthalten wurden. Er treibt mit unan-

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genehmen, stilistisch wie menschlich nicht unproblematischen Mitteln seine Forderungen ein, so wie dies ein Gerichtsvollzieher tut. Womit wir beim dritten, beim metaphernanalytischen Aspekt wirtschaftsrechtlicher Überlegungen sind. Sie kreisen um die starke Metapher der Hand,3 so wie die bislang vorgetragenen Überlegungen um die nicht minder wirkungsmächtige Metapher vom Auge des Gesetzes kreisten. 4 Die öffentliche Hand und die vielen privaten Hände liegen vielfach im Widerstreit, können aber auch kooperieren. Die invisible hand des Marktes ist in der Wirtschaftssphäre der dritte starke Mitspieler. In Ackermanns fatalem Handzeichen inkarniert sich diese Konstellation. Sein Grundargument war ja: die Bonizahlungen waren rechtmäßig, weil die unsichtbare Hand des Marktes marktgerechte Honorierung von Spitzenmanagern verlangt, ja geradezu vorschreibt. Es ist auffällig und wird doch nur selten thematisiert, dass sich im Kern wirtschaftsliberaler Theoriebildung ein Paradox einstellt, das engstens mit der Fragestellung unseres Symposions zu tun hat. Der Liberalismus ist dort am überzeugendsten und wirkungsmächtigsten, wo er emphatisch die Freiheit und Eigenverantwortung der Akteure behauptet und will. Er misstraut voraufklärerischen Berufungen auf die allmächtige Hand Gottes ebenso wie einer zentralstaatlich gelenkten öffentlichen Hand, die alles richten soll. Sein wunderbar nüchternes Pathos ist das Pathos der Verantwortung aus Freiheit – du kannst etwas so oder anders entscheiden, vereinbaren und machen, du hast es in der Hand, etwas so oder anders zu gestalten. Die institutionellen, vor allem rechtlichen Umstände sollen dabei so sein, dass wir uns jeweils frei entscheiden und entfalten können. Vertragsfreiheit gehört deshalb zu den essentiellen Forderungen liberalen Wirtschaftens und Handelns. Zugleich aber und wie ein gespenstischer Komplementärbegleiter hält der ökonomische Liberalismus eine sehr starke Metapher waltender Unfreiheit bereit: die Metapher von der unsichtbaren Hand des Marktes. Sie pflegt eine irritierende Nähe zur Hand Gottes. Wer fromm ist, glaubt zu wissen, dass wir alle in Gottes Hand sind. Auch wenn wir kleinen Erdenmenschen Gottes Willen nicht immer nachvollziehen können und uns fragen, warum es Krankheit, Gewalt, Krieg und das Erdbeben von Lissabon oder das Beben an den Finanzmärkten gibt, müssen wir doch akzeptieren, dass Gott uns herrlich regiert. Parallele Theoreme, die ersichtlich nicht liberal-pragmatisch, sondern metaphysisch aufgeladen sind, hält auch die neoklassisch liberale Lehre bereit. Mit der unsichtbaren Hand des Marktes sollte man sich nicht anlegen. Der Markt weiß alles,

_____ 3 Vgl. dazu Hörisch Man muss dran glauben – Die Theologie der Märkte. München 2013. 4 Vgl. dazu Stolleis Das Auge des Gesetzes: Geschichte einer Metapher. München 2004.

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kleine individuelle Intelligenzen, ja selbst Supercomputer können nie sein Wissens-Niveau erreichen. Dem Philologen fällt auf, dass der Markt von den meisten liberalen Marktteilnehmern als eine Art Supersubjekt konzipiert wird. Das wird schon an den gängigen Redewendungen deutlich, die den Markt eben nicht anthropomorphisieren, sondern deifizieren. Der Markt will dies oder jenes: die Parität von Dollar und Euro, niedrige Lohnabschlüsse, sinkende Zinsen, Gratifikationen für erfolgreiche Manager, Privatisierung von Infrastruktur, Vergebung von Steuersünden und dergleichen mehr. Gegen Gottes Willen und den Willen des Marktes sollte man nicht rebellieren. Beide Theoreme, das von der Macht des eigenverantwortlichen Individuums, das seine Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt, und das von der übermächtigen unsichtbaren Hand des Marktes, lassen sich nicht recht zur Deckung bringen. Beide aber lassen sich leicht juristisch funktionalisieren. Es leuchtet sofort ein, dass viele Spitzenmanager ökonomische Erfolge sich selbst zurechnen – ihrem Weitblick, ihrer Entscheidungskraft, ihrem Durchsetzungsvermögen, ihrer Risikobereitschaft etc. Dass sie dafür gut bis glänzend bezahlt und mit Boni eingedeckt werden wollen, ist gleichermaßen nachvollziehbar. Psychologisch verständlich bis trivial ist es auch, dass die Neigung weniger ausgeprägt ist, Fehlentwicklungen und Verluste ebenso den eigenen Entscheidungen zuzurechnen. Dafür wird dann ein nicht-vorhersehbares Marktgeschehen verantwortlich gemacht. Je nach Lage der Dinge stilisiert man sich als Master of the Universe oder aber als tragisches Opfer überkomplexer Funktionsketten. Im zweiten Fall wäre es dann nach Einschätzung der Betroffenen absurd, für unerfreuliche Entwicklungen persönlich verantwortlich gemacht zu werden. Bleibt ein wahrscheinlich laienhafter bis naiver Vorschlag zur Güte. Es ließen sich Musterverträge für Verantwortungsträger in der Wirtschaft ausarbeiten, die auf je eines der beiden einander widerstreitenden wirtschaftsliberalen Grundmodelle abstellen. Entweder bekennen sich die Firma und ihre Spitzenmanager zum Modell der persönlichen Verantwortung und Zurechenbarkeit sowohl positiver wie negativer Entwicklungen und vereinbaren demgemäß die Möglichkeit von Boni-, aber eben auch von Mali-Zahlungen bis zum Durchgriff auf Teile des Privatvermögens. Oder beide Seiten verzichten unter Verweis auf die Unvorhersehbarkeit und Überkomplexität des Marktgeschehens auf solche Vereinbarungen und einigen sich auf vergleichsweise moderate Bezüge ohne Bonus- und Malus-Zahlungen bei Verzicht auf Klärung persönlicher Verantwortlichkeiten für Gewinn wie Verlust. Der Informationswert eines solchen Arrangements wäre hoch. Man wüsste, welche Firma und welche Spitzenkräfte an die unsichtbare Hand und ihr undurchsichtiges Wirken glauben (also eher risikoavers sind) und welche glauben, die Dinge in

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ihrer Hand zu haben (also risikoaffin sind). Unberührt von einer solchen Regelung bleibt es dabei, dass Steuerhinterziehung und Manipulation von Libor-Sätzen, Bilanzfälschung und Bestechung, Betrug und Erpressung verboten sind – und dass hinter juristischen Personen natürliche Personen stehen.

Materialien Überraschendes Urteil im Prozess gegen sechs ehemalige Vorstandsmitglieder der HSH Nordbank: Der frühere Finanzchef Dirk Jens Nonnenmacher – Spitzname „Dr. No“ – und fünf seiner Kollegen wurden vom Vorwurf der Untreue und Bilanzfälschung freigesprochen. Fehlentscheidungen der Angeklagten hätten nicht die „Grauzone in Richtung Strafbarkeit“ überschritten, erklärte der Vorsitzende Richter Marc Tully. Nach den Freisprüchen will die Staatsanwaltschaft prüfen, ob sie in Revision geht. Dann würde der Fall beim Bundesgerichtshof landen, schreibt das Handelsblatt. Der enttäuschende Freispruch für die Pleitebanker der HSH Nordbank zeigt: Unfähigkeit ist zwar teuer – aber nicht strafbar, kommentiert die Wirtschaftswoche. Das Signal an Banker und Bankeigentümer ist klar: Fehlentscheidungen im Top-Management kommen vor, auch und gerade Bankvorstände sind nicht unfehlbar. Wenn das passiert, ist es aber nicht in erster Linie die Aufgabe von Gerichten, für die nötigen Konsequenzen zu sorgen. Der Versuch, am Geschäft „Omega 55“ ein Exempel zu statuieren, musste scheitern, findet das Manager Magazin. Mit den Mitteln der Justiz sei die Finanzkrise nicht aufzuarbeiten. Auch der Spiegel meint: Das Urteil zeige: Die Verfehlungen der Finanzbranche lassen sich strafrechtlich kaum ahnden – im Zweifel für die Geldverbrenner. Unternehmerisches Versagen sei kein Fall für den Staatsanwalt, sondern für den Insolvenzverwalter, kommentiert die Welt und fordert: Banken müssen endlich pleitegehen können. Werden die Verluste nicht mehr auf die Allgemeinheit abgewälzt, bedarf es keiner Schauprozesse wie in Hamburg mehr, um das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung wiederherzustellen. Die HSH Nordbank will trotz der Freisprüche nicht aufgeben: Sie will weiterhin Schadenersatz von drei Ex-Vorstandsmitgliedern erstreiten, meldet das Hamburger Abendblatt. Der Hirnforscher Wolf Singer im Spiegel-Interview 29/2014 vom 14.7.2014, S. 40: „Natürlich ist das Wirtschafts- und Finanzsystem um ein Vielfaches komplizierter (als ein Bienenstaat, d. Verf.), weil Menschen über weit mehr Freiheitsgrade verfügen. Menschen sind janusgesichtig, können altruistisch, friedfertig und ehrlich sein, aber auch selbstsüchtig, neidisch und raffgierig –

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und sie können täuschen. Diese negativen Verhaltensdispositionen sind natürlich Gift für Systeme, die sich über Kooperativität und Selbstorganisation stabilisieren sollen. Ich vermute, dass die Finanzkrise unter anderem die Folge von fehlerhafter Systemarchitektur ist, die Verantwortlichkeiten verwischt, unkooperatives Verhalten belohnt, anstatt zu bestrafen, und wenigen zu viele Einflussmöglichkeiten gibt, ohne dass diese durch entsprechende Kompetenz abgedeckt sind. Letzteres ist auch der Grund, warum Diktaturen instabil sind.“ Der Mannesmann-Prozess war ein aufsehenerregendes deutsches Wirtschaftsstrafverfahren in den Jahren 2004 bis 2006 vor dem Landgericht Düsseldorf. Gegenstand des Verfahrens waren Prämienzahlungen im Zusammenhang mit der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone im Jahre 2000. Insbesondere die Höhe der gezahlten Prämien, die Prominenz einiger Angeklagter und die zu entscheidende, damals ungeklärte, Rechtsfrage, ob es zulässig ist, Angestellten Prämien zu gewähren, auf die sie nach ihrem Dienstvertrag keinen Anspruch haben, verschafften dem Prozess große Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit.

Tatvorwurf Den Angeklagten Joachim Funk (ehemals Vorstandsvorsitzender und Aufsichtsratschef der Mannesmann AG), Josef Ackermann (ehemals Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Bank), Klaus Zwickel (ehemals Vorsitzender der IG Metall) und Jürgen Ladberg (ehemals Betriebsratsvorsitzender der Mannesmann AG) wurde vorgeworfen, als Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der früheren Mannesmann AG im engen zeitlichen Zusammenhang mit dessen Übernahme durch das britische Telekommunikationsunternehmen Vodafone Airtouch plc durch Zuerkennung freiwilliger Sonderzahlungen und Abgeltung von Pensionsansprüchen Untreue im Sinne des § 266 StGB zum Nachteil der Mannesmann AG begangen zu haben. Die Angeklagten Klaus Esser (damals Vorstandsvorsitzender der Mannesmann AG) und Dietmar Droste (damals Leiter der für die Betreuung der aktiven Vorstandsmitglieder zuständigen Abteilung) sollen mehrere Taten durch die Vorbereitung von Beschlüssen und deren Umsetzung unterstützt haben (Beihilfe zur Untreue gemäß § 27 StGB). Den an den Entscheidungen beteiligten Präsidiumsmitgliedern soll bewusst gewesen sein, dass die Sonderzahlungen, die als Anerkennungsprämien für die in der Vergangenheit erbrachten besonderen Leistungen bezeichnet wurden, tatsächlich für die Mannesmann AG nutzlos waren und die Empfänger unrechtmäßig bereicherten.

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Chronologie – – –

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28. Mai 1999: Klaus Esser wird Vorstandsvorsitzender bei Mannesmann 23. Dezember 1999: Feindliches Übernahmeangebot 1999–2000: Die Übernahmeschlacht zwischen Vodafone und Mannesmann begann Ende Oktober 1999 und endete Anfang Februar 2000 mit der feindlichen Übernahme des Düsseldorfer Traditionsunternehmens 7. März 2000: Anzeige gegen Esser 12. März 2001: Neues Ermittlungsverfahren 20. August 2001 Ermittlungen gegen Klaus Zwickel und Josef Ackermann Am 19. September 2003 lässt das Landgericht Düsseldorf die Anklage gegen die oben genannten Personen zu

Erster Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf Im Laufe des Verfahrens wurden zahlreiche prominente Zeugen vernommen, unter anderem Chris Gent (Ex-CEO Vodafone), Julian Horn-Smith (COO Vodafone), Canning Fok (Managing Director Hutchison Whampoa), Alexander Dibelius (Deutschlandchef Goldman Sachs) und Henning Schulte-Noelle (Aufsichtsratschef Allianz). Am 23. Juni 2004 beantragte die Staatsanwaltschaft für Joachim Funk eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und für Klaus Esser eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Josef Ackermann sollte wegen Untreue in einem besonders schweren Fall eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, Klaus Zwickel eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten bekommen. Ebenfalls eine Freiheitsstrafe wurde für Jürgen Ladberg gefordert. Der MannesmannMitarbeiter Dietmar Droste sollte eine Freiheitsstrafe von einem Jahr erhalten. Bei den Angeklagten Ackermann, Zwickel, Ladberg und Droste sollte die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Am 22. Juli 2004 ging der Prozess nach 24 Wochen, 37 Verhandlungstagen und 55 Zeugenvernehmungen zu Ende. Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Das Landgericht stellte fest, dass bei der Gewährung der Anerkennungsprämie für den Vorstandsvorsitzenden Esser und vier weitere Vorstandsmitglieder die Angeklagten Funk, Ackermann und Zwickel aktienrechtlich pflichtwidrig gehandelt und ihre gegenüber der Mannesmann AG obliegende Vermögensbetreuungspflicht verletzt hätten. Jedoch sei bei risikoreichen unternehmerischen Entscheidungen Voraussetzung für die Strafbarkeit wegen Untreue eine „gravierende“ Pflichtverletzung, die bei den Angeklagten zu verneinen sei.

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Deshalb hätten die Angeklagten Esser und Droste hierzu auch nicht Beihilfe leisten können. Hinsichtlich der Gewährung einer Anerkennungsprämie für den Angeklagten Funk hätten die Angeklagten Ackermann und Zwickel zwar den Tatbestand der Untreue erfüllt, da hier eine gravierende Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht vorliege. Jedoch hätten sie sich insoweit in einem schuldausschließenden unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) befunden. (AZ: XIV 5/03 – Urteil vom 22. Juli 2004 – Landgericht Düsseldorf – NJW 2004, 3275). Im Rahmen der Urteilsverkündung sparte die Vorsitzende auch nicht mit Kritik an der Öffentlichkeit: Insbesondere Politiker hätten versucht, sie zu beeinflussen und eine Verurteilung zu erreichen. Die Staatsanwälte hätten die Presse instrumentalisiert; Diskussionen seien oft auf Stammtisch-Niveau geführt worden.

Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf legte gegen das freisprechende Urteil des Landgerichts Revision ein. Die Revision wurde von dem Generalbundesanwalt vertreten. Am 20. und 21. Oktober 2005 fand vor dem Bundesgerichtshof eine mündliche Verhandlung statt. Mit Urteil vom 21. Dezember 2005 stellte der Bundesgerichtshof (BGH) das Verfahren hinsichtlich eines Anklagepunktes ein, da es insoweit an der Verfahrensvoraussetzung einer zugelassenen Anklage fehle. Im Übrigen hob der BGH das Urteil des Landgerichts Düsseldorf mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurück. (AZ: 3 StR 470/ 04) Der BGH entschied, dass sich die Angeklagten nach den Feststellungen des Landgerichts der Untreue bzw. der Beihilfe hierzu schuldig gemacht haben und dass das Landgericht keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen habe, dass sich die Angeklagten in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden hätten. Der BGH fasste die maßgeblichen, auch über den konkreten Fall hinaus bedeutsamen Aussagen des Urteils in folgenden Leitsätzen zusammen: 1. Bewilligt der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft für eine erbrachte dienstvertraglich geschuldete Leistung einem Vorstandsmitglied nachträglich eine zuvor im Dienstvertrag nicht vorgesehene Sonderzahlung, die ausschließlich belohnenden Charakter hat und dem Unternehmen keinen zukunftsbezogenen Nutzen bringt (kompensationslose Anerkennungsprämie),

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liegt hierin eine treupflichtwidrige Schädigung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens. Die zur Erfüllung des Tatbestandes der Untreue erforderliche Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht muss auch bei unternehmerischen Entscheidungen eines Gesellschaftsorgans nicht zusätzlich „gravierend“ sein.

Zweiter Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf Am 26. Oktober 2006 begann die erneute Verhandlung vor der X. großen Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts unter dem Vorsitz des Richters Stefan Drees. Ursprünglich waren zunächst 25 Verhandlungstage bis Ende Februar angesetzt. Am 24. November 2006 wurde nun die Möglichkeit einer Einstellung des Mannesmann-Prozesses bekannt gegeben. Bei dem Prozess ging es ursprünglich um einen Schaden von 58 Millionen Euro. Ackermann gab zum Prozessauftakt Ende Oktober bekannt, dass er jährlich 15 bis 20 Millionen Euro brutto verdient. Das Verfahren wurde am 29. November 2006 gegen eine Geldauflage (§ 153a Abs. 2 StPO) in Höhe von 5,8 Millionen Euro auf Grund eines Antrags der Verteidiger, dem die Staatsanwaltschaft zustimmte, vorläufig eingestellt.Dabei soll Ackermann 3,2 und Esser 1,5 Millionen Euro zahlen. Der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Joachim Funk soll eine Million Euro und Ex-IG-Metall-Chef Klaus Zwickel 60.000 € zahlen. Für Betriebsratschef Jürgen Ladberg legte das Gericht eine Geldauflage in Höhe von 12.500 € und für den Manager Dietmar Droste 30.000 € fest. Nach Erfüllung der Auflagen wurde das Verfahren durch die Strafkammer mit Beschluss vom 5. Februar 2007 endgültig gemäß § 153a StPO eingestellt. Gleichzeitig wurden 40% der Auflagen – insgesamt 2.321.000 € – an über 350 gemeinnützige Einrichtungen verteilt. Die restlichen 60% wurden der Staatskasse zugewiesen. Die Angeklagten sind mit der Einstellung des Verfahrens nicht vorbestraft. Josef Ackermann bleibt DeutscheBank-Manager.

Reaktionen auf die Einstellung des Verfahrens Im Zusammenhang mit dieser Verfahrenseinstellung wurde von Klassenjustiz gesprochen. Der rechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Jerzy Montag, sagte, jeder Otto-Normalbürger bekomme bei Straftaten mit einigen Tausend Euro Schaden die volle Härte des Gesetzes zu spüren. „Nicht so aber Ackermann & Co. Das öffentliche Interesse an der Aufklärung dieses bislang größten deutschen Wirtschaftsstrafverfahrens mit einem Schaden von über 60 Millionen

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Euro ist immens und nicht wegzudiskutieren. Es ist ein Skandal, dass sich die Staatsanwaltschaft dieses öffentliche Interesse gegen Zahlung von weniger als drei Monatsgehältern, zahlbar also aus der Portokasse, hat abkaufen lassen“. Demgegenüber wies das Landgericht Düsseldorf darauf hin, dass im Jahr 2003 von deutschen Gerichten insgesamt 126.174 Verfahren gemäß § 153a StPO gegen Auflagen eingestellt worden sind, wobei die in diesen Fällen Angeklagten ganz überwiegend nicht über besonders hohe Einkünfte oder Vermögen verfügten.

SPON vom 9.7.2014

Kommentar zu Nordbank-Prozess: Fairness für Dr. No Ein Kommentar von Stefan Kaiser Das Landgericht Hamburg urteilt über Dirk Jens Nonnenmacher und weitere ExVorstände der HSH-Nordbank. Ein harter Schuldspruch würde Rachegelüste befriedigen. Doch das Verfahren hat gezeigt, wie dünn die Vorwürfe sind.

Ex-HSH-Vorstand Nonnenmacher: Die Ankläger wollen ein Exempel statuieren Muss man Mitgefühl haben mit jemandem wie Dirk Jens Nonnenmacher? Das hagere, fahle Gesicht des ehemaligen HSH-Nordbank-Vorstands gilt vielen Menschen als Deutschlands böse Fratze des Finanzkapitalismus. Eiskalt und arrogant. Die streng zurückgekämmten Haare tun ein Übriges. Für alle jene, die Nonnenmacher aus der Ferne hassen, könnte dieser Mittwoch Genugtuung bringen. Seit fast einem Jahr stand der Banker zusammen mit fünf ehemaligen Vorstandskollegen vor dem Hamburger Landgericht. Nun werden die Richter voraussichtlich ihr Urteil fällen. Im schlimmsten Fall müssen Dr. No und Kollegen dorthin, wo viele Bürger sie gerne sähen: ins Gefängnis. Doch wäre das gerechtfertigt? Der Prozess gegen die ehemaligen HSHVorstände zeigt, wie schwer es ist, die Schuld der Banker an der Finanzkrise juristisch aufzuarbeiten. Denn vieles, was uns heute empört, war damals in der Finanzbranche nicht nur üblich, sondern auch legal. Das trifft im Kern auch auf das Geschäft zu, das sich die Hamburger Staatsanwaltschaft rausgesucht hat, um daran eine Art Exempel zu statuieren: Omega55. Dabei ging es um einen Doppel-Deal mit der französischen Großbank BNP Paribas, der die Bilanz der HSH entlasten sollte – im Rückblick ein extrem schlechtes Geschäft für die Landesbank. Doch hätten die Vorstände das schon vorher wissen können? Oder sogar wissen müssen?

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Selbst die Staatsanwälte fordern nur noch Bewährungsstrafen Genau darum drehte sich das Verfahren. An mehr als 60 Verhandlungstagen wurde jedes Detail des Geschäfts mit Zeugen durchgekaut. Dabei kam viel Fürchterliches zu Tage: Die Kontrollstrukturen in der Bank waren katastrophal, das fragliche Geschäft schlampig vorbereitet und nur für wenige Experten überhaupt durchschaubar. Die Vorstände, so scheint es, wollten den Deal unbedingt schnell durchziehen. Und trotzdem bleibt die entscheidende Frage unbeantwortet: Haben sie ihre Pflichten verletzt und vorsätzlich nicht genauer hingesehen, welchen Mist ihre Mitarbeiter ihnen da vorlegten? Nur dann könnten sie nämlich verurteilt werden. Nur dann wäre ihnen Untreue nachzuweisen. Und da wird auch die Argumentation der Staatsanwälte zumindest wackelig. Das haben sie offenbar selbst gemerkt. So geriet ihr Schlussplädoyer deutlich zahmer als die Anklageschrift. Die Schadenssumme wurde gewaltig nach unten korrigiert, eine persönliche Bereicherung der Vorstände konnten die Ankläger nicht feststellen. Und überraschend forderten sie nur Bewährungsstrafen. Das Omega-Geschäft der HSH-Nordbank war eine schlechte Entscheidung des Vorstands und wohl auch eine zu leichtfertig getroffene. Sie trug dazu bei, dass die Steuerzahler in Hamburg und Schleswig-Holstein das ländereigene Institut mit mehreren Milliarden Euro retten mussten. Doch wenn alle Banker hinter Gitter müssten, die ihren Unternehmen mit waghalsigen Deals geschadet haben, wären viele Vorstandsetagen leergefegt. Man mag die diffuse Wut der Steuerzahler auf diejenigen verstehen, die ihnen Milliarden-Kosten eingebrockt und dennoch selbst Millionen-Abfindungen eingestrichen haben. Aber eine unsymphatische Erscheinung und schlechte Geschäfte alleine dürfen nicht ausreichen, um einen Menschen ins Gefängnis zu bringen.

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Diskussion Diskussion Diskussion Matthias Jahn Ich habe als Moderator das Privileg einer legitimen Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder eine Zusammenfassung des gerade Gehörten – doch das wäre chancenlos, weil die vielen Gesichtspunkte, die Sie aufgerufen haben, nicht so ohne Weiteres auf einen schlagkräftigen Nenner gebracht werden können. Oder – und deshalb nutze ich die zweite Option – das Privileg der ersten Nachfrage. Wenn Sie mir dieses mittlerweile berühmte ddp-Bild noch einmal näher aus Sicht der Kulturwissenschaft erklären würden, das Sie während Ihres Referates mit dem Beamer projiziert haben: Wenn man im Hamlet in der Schlegel/Tieck‘schen Übersetzung nachliest – was ich, vermutlich anders als Sie, nicht auswendig kann, sondern schnell nachgeschlagen habe – dann findet man im vierten Akt in der fünften Szene als möglichen Subtext dieses Bildes folgendes: „Auf morgen ist Sankt Valentins Tag [14.2.2008], Wohl an der Zeit noch früh [gegen sieben Uhr vor der Kölner Villa des Beschuldigten Zumwinkel], Und ich, ’ne Maid, am Fensterschlag [Frau Lichtinghagen, die damalige Dezernentin der ermittlungsführenden Bochumer Staatsanwaltschaft], Will sein eu’r Valentin.“

Nun ist Shakespeare selbst ja einigermaßen unverdächtig, an dem Setting des emblematischen Fotos beteiligt gewesen zu sein, schon aufgrund der zeitlichen Zusammenhänge. Mich würde interessieren, wenn ich den Medienwissenschaftler frage, ist das ein ganz naiver Glaube, wenn ich sagen würde, diese Koinzidenzen sind Zufall? – oder ändern sich unter der Hand nur die Begriffe, um die es hier geht? Man hätte früher gesagt „Durchsuchung“. So steht es auch in der Strafprozessordnung. In der medialen Verwertung heißt das dann „Zugriff“. Man hätte ja früher auch gesagt „Auskunftsanspruch nach dem Landespressegesetz“, heute heißt das Phänomen „aktive Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft“, die dann auch im Gefolge der Ereignisse des 14.2.2008 hoch gelobt worden ist, in einem Beitrag, den viele gelesen haben werden, von Herrn Frank und Frau Tietz (Anm.: ZRP 2008, 127). Dort wird das nach-Außen-Gehen der Staatsanwaltschaft in Bochum mit diesen Vorfällen in einem sehr freundlichen Licht betrachtet. Sind das alles nur Zufälle und Produkte meiner vielleicht zu intensiven Beschäftigung mit diesen Bildern – oder steckt da mehr dahinter?

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Jochen Hörisch Ich hoffe, einigermaßen selbstkritisch mit meinem Metier umgehen zu können. Kulturwissenschaftler neigen ja dazu und werden dafür auch bezahlt, dass sie in der Regel überinterpretieren und Beziehungen zwischen Dingen sehen, wo intentional keine Beziehungen sind. Ich will dazu keinen zweiten Vortrag androhen, aber das Foto, auf dem die Staatsanwältin den Angeklagten Zumwinkel der wartenden Presse vorführt, ist natürlich wahnsinnig spannend. Reden wir Klartext – was so einfach nicht ist in gendergerechten Zeiten. Es ist und bleibt jedenfalls für die älteren Semester unter uns bemerkenswert, wie das Gender-Setting bei diesem Bild ist. Wir sehen eine mächtige Frau, die einen mächtigen Mann vor sich her treibt. Ich denke, wenn Sie das zurückprojizieren auf die Zeit vor ca. 30 Jahren, so wäre allein ein solches Gender-Setting kaum denkbar gewesen. Der Demütigungsaspekt ist ja sehr deutlich, das Timing „Valentinstag“ – geniales Shakespeare-Zitat, das Sie gefunden haben, mein Kompliment [Zuruf Prof. Jahn, Frankfurt am Main: „iPad“] – ist natürlich, ob bewusst geplant oder nicht, eine Gemeinheit sondergleichen. Am Valentinstag schenkt man bekanntlich einander Rosen und gesteht sich seine wechselseitige unverbrüchliche Liebe ein. Eine Liebeserklärung aber war das nicht, was die Beiden da ausgetauscht haben. Der Valentinstag sollte auch intim sein. Dieser Fall aber sehr öffentlich – da standen ja die Übertragungswagen. Wenn Frau Lichtenhagen sich geistreich gesagt hat, das ist der richtige Termin – Valentinstag – dann würde das zu einer Strategie der Demütigungen gehören, die wirklich bemerkenswert ist. Ich überinterpretiere völlig, ja hemmungslos, wenn ich mir den Schal angucke und feststelle, dass Textilien und Texte nächstverwandt sind. Wer kann sich durch korrekte Kleidung, wer kann sich durch die Art und Weise seines Outfits und Designs welchen Text weben? Was ist der Stoff, aus dem diese Geschichte gewebt ist? Die Dichter spinnen und weben. Aber die Botschaft ist sehr deutlich, dass die Jurisdiktion, die Justitia sagt: „Ich bin Autorin, ich schreibe das Drehbuch – und Du hast erst einmal ausgesprochen“. Mark Wahrenburg Mein Name ist Mark Wahrenburg, Professor für Bankbetriebslehre hier an der Goethe-Universität. Ich fand Ihre Ausführung zur persönlichen Verantwortung sehr nett. Ich glaube, es ist sehr plausibel, dass ein Mensch wie Herr Middelhoff nur dann erfolgreich ist, wenn er in der heutigen Medienwirtschaft erfolgreich und authentisch signalisieren kann, dass er für Erfolge zuständig, für Misserfolge aber nicht zuständig ist und ich frage mich, ob nicht auch innerhalb der Großunternehmen im Grunde die gleiche Medienwirtschaft die guten von den schlechten Führungskräften trennt, denn in einem Großunternehmen mit

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100.000 Mitarbeitern kann nur der Karriere machen, an dessen Lebenslauf sozusagen kein Dreck steckt und dann greifen, glaube ich, die gleichen Mechanismen und am Ende könnte das meiner Ansicht nach dazu führen, dass tatsächlich Persönlichkeiten, die nicht kritikfähig sind bzw. bei denen das wirklich an ihnen abperlt, das genau die sind, die später vor Gericht landen, die Führungskräfte werden und dann ist wirklich die klare Frage: Ist die Einsichtsfähigkeit von solchen Führungskräfte, wenn sie vor Strafrichtern stehen, tatsächlich anders als die eines normalen Bürgers, den wir uns so vorstellen, von dem wir erwarten, dass er eben auch Verantwortung für sein Scheitern übernehmen kann? Jochen Hörisch Ich bin sehr dankbar für die Frage. Ich würde das noch zuspitzen und sagen: Wie viel Schizophrenie lässt man durchgehen? Das man sagt: Klasse gemacht, der AOL-Verkauf hat, glaube ich, Bertelsmann fast eine Milliarde eingebracht und Middelhoff dafür … warum nicht? Wenn man eine Milliarde Gewinn macht mit einem wirklich großen Coup – hat er glaube ich, eine 40 Millionen Prämie bekommen. Mir ist nicht ganz nachvollziehbar, wie man in so kurzer Zeit … – aber das ist ein anderes Problem. Ich sagte ja, meine Finance-Kapazität reicht bis zur Abbezahlung einer Doppelhaushälfte in einem belanglosen OdenwaldDorf. Es ist eine andere Frage. Mir ist aber auch nicht plausibel, als einer der die Uni-Sphäre ein bisschen kennt, wie eine Festschrift 180.000 € kosten kann. Ich wüsste preiswertere Verlage und halte es für schlechterdings unnachvollziehbar, das ist auch eine Ungeschicklichkeit, man kommt da an Kommunikationsgrenzen, die man nicht überwinden kann. Warum soll eine Firma für den Vorstandsvorsitzenden, der nicht mehr aktiv ist, einer anderen Firma eine 180.000 € … – sehen Sie eine Möglichkeit, das juristisch zu begründen? Ich wäre erstaunt. Mich wundert die massive Ungeschicklichkeit, die ja ganz offenbar auf kognitiven Dissonanzen beruht. Und deshalb eben mein operativer Vorschlag, zu sagen: Ich möchte so oder so wahrgenommen werden, keiner bekommt das oktroyiert, sondern jeder hat die Optionsmöglichkeit. Ich weiß, dass man nicht mit simplen Grundverträgen in der Spitzenetage der deutschen Wirtschaft durchkommen kann, man wird da viele Modifikationen einbauen müssen. Aber das man gewissermaßen ein Optionsmodell hat und sagt: Leute, ihr wollt im Guten wie im Schlechten ernst genommen werden oder ihr akzeptiert, dass ihr Spiele eines tiefenstrukturell undurchschaubaren Marktgeschehens seid mit unglaublichen Imponderabilien – wer weiß, wie es weltpolitisch weitergeht und dergleichen mehr. Ich verzichte auf eine bestimmte Gehaltshöhe, auf eine bestimmte Prämienhöhe, dafür könnt ihr mich auch nicht juristisch belangen. Oder ist das eine völlig naive Vorstellung eines

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alten Literatur- und Medienwissenschaftlers, der von Jurisprudenz …: Ist so etwas machbar oder nicht? Denkbar oder nicht denkbar? Ich frage Sie gewissermaßen zurück. Cornelius Prittwitz Jochen Hörisch, ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich möchte aber einen ganz kurzen Kommentar zu Ihrer Frage abgeben, Herr Wahrenburg: Die empirische Risikoforschung weiß seit langem, dass nicht nur Spitzenmanager, sondern wir alle dazu neigen, Erfolge uns zuzuschreiben und Misserfolge den Umständen. Und eine vermutlich wichtige Funktion des Rechtssystems ist es, diese Tendenz, uns selbst gegenüber freundlich zu sein, zu korrigieren, was eben manchmal besser und manchmal schlechter gelingt. Ich habe aber eine echte Frage an Dich, Jochen [Hörisch]: Stichwort Grenzmoral und intensive Beobachtung der Medien. Die Personalisierung, die mit der Medienbeobachtung zusammenhängt, die einhergeht und die ja jedem spätestens plausibel ist, seitdem sogar die FAZ auf der ersten Seite jetzt bunte Bilder präsentiert: müsste diese Personalisierung nicht auch dazu führen, dass eine – sei es eine willkommene, sei es eine unwillkommene – Ethisierung stattfindet, weil Personen weit mehr als Probleme ethische Fragen nahelegen? Jochen Hörisch Cornelius [Prittwitz], das ist eine sehr weitreichende Frage und I’ll do my very best sie zu beantworten. Aber da muss ich denn doch ausholen. Ethik begreife ich als das Selbstreflexionssystem der Moral, sowie Theologie das Selbstreflexionssystem der Religionen ist oder wie Ästhetik das Selbstreflexionssystem der Kunst ist. Ich glaube, da können wir uns schnell verständigen. Wenn wir also Ethik als Reflexionssystem von Problemen der Moral und der Grenzmoral begreifen, dann ist es natürlich historisch gesehen aufregend, zu sehen, dass – im Luhmann-Slang – eines und nur eines der gesellschaftlichen Subsysteme sich offensiv von moralischen Argumenten abgekoppelt hat – und das mit einer ethischen Begründung. Ich spreche von der Wirtschaft, konkreter von Mandevilles „Fable of the bees“ und von Adams Smith 1774 erschienenem Buch „Wealth of Nations“. Wir alle kennen die starke ethische und zugleich amoralische These dieser Texte: Private vices sind legitim, denn es kommt etwas Gescheites dabei raus. Ihr dürft egoistisch sein, ihr dürft ausbeuten, ihr dürft andere über den Tisch ziehen und dergleichen mehr, denn der gesamtgesellschaftliche Output ist größer, das kennen Sie ja alle. Der Bäcker backt nicht, um mir eine Freude zu machen, der Maurer mauert nicht aus Nächstenliebe und so weiter … Das ist eine glänzende Argumentation. Das ist für mich der wirklich sensationelle Fall, dass man im Namen von Ethik moralische Standardanforderungen, ich sage

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mal, einklammert – zur Disposition stellt. Das macht selbst der durchgeknallteste Künstler nicht, mit ganz wenigen Ausnahmen wie Sympathy for the devilKunst oder schwarze Romantik oder Heavy Metal oder so. Das käme keinem Theologen, keinem Künstler, keinem Wissenschaftler in den Sinn. Ein Wissenschaftler würde nicht sagen: „Ist doch klar, ich bin Atomphysiker, weil ich die Menschheit ausrotten will und Atombomben bauen und werfen will.“ Man muss zur Kenntnis nehmen, dass interessanterweise – und bitte begreifen Sie, meine Damen und Herren aus der Wirtschaft, dies als Kompliment – die Wirtschaft und nur die Wirtschaft auf dem Niveau der schwarzen Romantik und auf dem Niveau von Mephisto ist, der ja von sich sagt: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Private vices, public benefits. Weil Sie Shakespare nannten, muss ich als Germanist ja mit Goethe kontern, lieber Herr Jahn: Mephisto ist Adam Smith. Goethe hat 1775 die deutsche Übersetzung von Wealth of Nations durch seinen Schwager Schlosser aufmerksamst gelesen. Goethe war einer der ersten deutschen Adam Smith-Leser. Mephisto ist auf Adam Smith-Niveau. Ausdrücklich sagt er, man könne ihn auch „Old Iniquity“ und einen bekennenden „Egoisten“ nennen – „Der Teufel ist ein Egoist“, wie die ihren Eigennutzen maximierenden Wirtschaftssubjekte. Cornelius [Prittwitz], ich glaube, das ist der dramatische Hintergrund unseres Konferenz-Themas: dass die Wirtschaft im Namen von Ethik bestimmte moralische Standards einklammert. Natürlich will ich besser sein, will ich reicher sein und so weiter als der Rest der Welt. Ich bin überhaupt dafür, viele Konflikte zu entmoralisieren. Die alte Luhmann-Frage nach dem re-entry spielt hier herein. Ist die Unterscheidung von Gut und Böse eine gute oder eine böse Unterscheidung? Man kommt sehr schnell in Teufels Küche, wenn man dieser Frage nachgeht. „Laßt uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland,“ heißt es in der DDR-Hymne. Und die fährt dann fort: „Vereint schlagen wir des Volkes Feind.“ Da merkt man, wie schnell Moralisierung von Konflikten zur Eskalierung von Konflikten führt, also das offensive Setzen auf das Gute böse Konsequenzen haben kann. Nun ist die Antwort, der Antwortversuch, auf Deine Frage ein bisschen lang geworden. Da bist Du Schuld, lieber Cornelius [Prittwitz]. Deine Frage war sehr komplex, ich wasche meine Hände in Unschuld. Rainer Hamm Ich hätte mich dazu nicht gemeldet, aber nachdem Sie mich ausdrücklich gebeten haben, eine ergänzende, um nicht zu sagen korrigierende Bemerkung zur allfälligen Ausdeutung dieses Bildes vom V-Zeichen Ackermanns zu machen, will ich das gerne tun. Es betrifft die Entstehungsgeschichte. Dabei ist es schade, dass die damalige Vorsitzende, Frau Koppenhöfer, heute zum ersten Mal bei dieser Tagung

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nicht dabei ist. Sie war sonst nach meiner Beobachtung immer dabei. Und beim letzten Mal haben wir uns darüber auch nochmal ausführlich unterhalten. Die Entstehungsgeschichte des Bildes habe ich einmal in einem kleinen ZEITInterview zurechtgerückt, weil bis dahin derselbe Eindruck verbreitet war, der sich auch bei Ihnen, Herr Hörisch, bis heute festgesetzt hat: Herr Ackermann habe sozusagen auf dem Weg zu seinen Richtern, auf dem Flur diese Geste gezeigt, um seine Macht und Überlegenheit und vielleicht sogar seine Verachtung gegenüber dem Gericht zum Ausdruck zu bringen. Damit hätte er sich als den Kapitalisten, wie man sich ihn bilderbuchartig vorstellt, präsentiert. In Wahrheit war es so: Das Bild ist nicht auf dem Flur, sondern im Gerichtssaal entstanden, das Gericht hatte uns Verteidiger dazu verpflichtet, ganz pünktlich um fünf vor 9 da zu sein, damit um 9 die Hauptverhandlung beginnen kann. Die Angeklagten sollten erst zwei Minuten vor 9 im Gerichtssaal erscheinen, sodass um 9 Uhr die Fotografen und Fernsehkameras herausgeschickt werden und dann die Hauptverhandlung pünktlich beginnen könne. Es wurde aber 20 nach 9 und die Angeklagten mit ihren Verteidigern – Eberhard Kempf war in seiner Funktion als Verteidiger von Herrn Ackermann dabei und wird dies sicher bestätigen – waren munter durchmischt von einer völlig undisziplinierten Schar von Journalisten, die sich vorne in unsere Reihen gedrängelt haben. Wir wussten nicht, woran es lag, dass die Hauptverhandlung nicht endlich begann. 20 nach 9 habe ich mich dann rumgedreht und einen Scherz gemacht: „Das Gericht ist jetzt 20 Minuten verspätet. Vor einer Woche hat Michael Jackson für eine Verspätung von einer Viertelstunde von seinem amerikanischen Gericht eine Ordnungsstrafe bekommen.“ Daraufhin sagte Ackermann: „Und der hat auch noch so gemacht“ („so“ war das Victory-Zeichen). Klick machte der Fotograf, dem auf diese Weise das Bild seines Lebens gelungen war, weil es für sich betrachtet genau jene Fehldeutung nahelegte, die Sie ebenso wie die meisten Betrachter auch heute noch im Kopf haben. Nicht wissend, dass die eigentliche Aussage genau das Gegenteil dessen sein sollte, wie es gedeutet wird. Aber weil das so eine schöne Deutung ist, ist keine Richtigstellung – und es ist mehrfach in der Öffentlichkeit versucht worden – geeignet gewesen, diese wunderbare, ins Klischee passende, Deutung zu korrigieren. So zeigt sich auch an diesem Beispiel, wie eine von den Medien transportierte Personalisierung und Bildhaftigkeit wie richtigen Ikonen sich mit einer Ausdeutung verselbständigt, die nichts mehr mit dem zu tun hat, was wirklich abgebildet wurde. Ich wäre unfair, wenn ich nicht dazu sagen würde, dass Frau Koppenhöfer mir im letzten Jahr gesagt, der Fotograf, der das Bild gemacht hat, habe ihr die Meta-Daten der Aufnahme gezeigt und daraus ergäbe sich, dass es schon früher als 20 nach 9 entstanden sei. Das kann auch an der Zeiteinstellung der Kamera

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liegen und ändert jedenfalls nichts daran, dass wir uns auch 3 Minuten nach 9 schon gewundert haben, dass das Gericht nicht kam und die wahre Bedeutung dieser Geste ein kritisches Nachäffen des Verhaltens eines seinem Gericht respektlos gegenübertretenden amerikanischen Angeklagten war, also genau das Gegenteil dessen, was gerne hineininterpretiert wird. Wie gesagt, ich habe es hier noch einmal richtig gestellt, da Herr Jahn mich gebeten hat. Jochen Hörisch Sehr vielen Dank. Ich habe das damals auch gelesen und ich freue mich, Sie jetzt mal persönlich treffen zu können. Sie haben es ja eindringlich dargestellt. Alle ihre Argumente sind überzeugend und sie machen die schreckliche Erfahrung, es ist zu komplex, sie kriegen es nicht bündig und pointiert medial übermittelt. Das ist im kollektiven Gedächtnis jetzt tief eingespeichert das Foto und keine noch so subtile Schilderung der Kontexte wird das sozusagen als PathosFormel im Warburgschen-Sinne wieder wegkriegen können. Sie werden an der Deutung nichts mehr ändern können. Schlau wie Sie sind, sage ich Ihnen damit nichts Neues, auch wenn Sie in der Sache absolut Recht haben. Ich denke, dass das wirklich der Punkt ist, der mich auch bei meiner oberflächlichen und laienhaften Beschäftigung mit Jurisprudenz-Problemen immer wieder umtreibt: Wie stark Jurisprudenz, ja nicht als Getriebene, sie muss ja darauf reagieren, den jeweiligen Stand der Medientechnik reflektiert. Ganz banales Beispiel wäre: das BGB ohne Alphabetisierung, ohne preiswerten Buchdruck hätte nicht geklappt. Es hätte kein BGB geben können im Jahre 1600 und im Jahre 1300 sowieso nicht. Also das hätte anders ausgesehen, inhaltlich, das ist mir schon klar, aber es ist eine Manifestation der reifen Gutenberg-Galaxis. Mit der Medialisierung heute, mit Internet oder mit der Verbreitung solcher Fotos kann das Justizsystem auch gar nicht anders als sich auf neue Mediengegebenheiten einzustellen. Man kann das bedauern oder nicht. Das ist wie Kulturkonservative, zu denen ich mich bedingt auch zähle. Bedauern mögen, dass jetzt diese ganz läppischen E-Books kommen und Pixel jetzt an die Stelle von festen Buchstaben treten. Das ist so. Da lässt sich jetzt nichts dran ändern. Also das sind tiefenstrukturelle Verschiebungen. Die Frage ist, wie das Justizsystem insgesamt darauf reagiert und wie einzelnen Agenden, Richter, Staatsanwälte, Verteidiger usw. sich auf diese neuen Mediengegebenheiten einstellen. Aber meine Prognose wäre wirklich zu sagen, die Verschiebung, die wir ersichtlich haben, bis hin zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts bei der CDAnkaufsfrage oder so sind überhaupt nur denkbar und erklärbar durch den Stand (…) Wenn es keine CD gegeben hätte, wäre das medial vermittelbar gewesen wäre, wenn da drei Lastenwagen vorgefahren wären und hätten die Ak-

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tenordner rausgeholt. Nehmen Sie das einfach mal als ein Denkmodell, ob dann der ganze CD-Fall, kann eigentlich nur als CD-Fall, den man scannen kann und durchdeklinieren kann usw. laufen. Das wäre mein kleiner Versuch einer Antwort. Ansonsten bin ich Ihnen sehr dankbar für ein detaillierteres Wissen, über das ich jetzt verfüge. Thomas Böckenförde Kurze Ergänzung noch zu dem erwähnten Mephisto als Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft und der unsichtbaren Hand des Marktes, bei Adam Smith, die subjektive Egoismen auf ein Gemeinwohl hin ausrichtet: Ähnliches findet sich meiner Meinung nach, wenn ich mich recht erinnere, auch in Hegels Theorie der Geschichte: Dort gibt es die List der Vernunft, die vermeintlich freie Entscheidungen subjektiver Akteure als Werkzeug hin auf den objektiven Zweck der Welt hin ausnützt. Da will jemand die Geschicke der Welt in die eine Richtung hin beeinflussen, und dann führt die List der Vernunft zu Entwicklungen in genau die andere Richtung. Ein Denken in solch, wenn man so will, dialektischen Konstellationen, wo subjektive Handlungen, durch eine Kraft, unsichtbare Hand oder List auf einen entgegengesetzten, übergeordneten Zweck hin ausgerichtet werden, die scheint mir in dieser Zeit des späteren 18. Jahrhunderts verankert zu sein. Noch einen anderen Aspekt, anknüpfend an die Frage des Referats, ob das Wirtschaftsstrafrecht auf dem Wege in die Grenzmoral sei. Statt Grenzmoral würde ich hier einmal Metaphysik einsetzen und dies anlässlich der jüngst ergangenen Verurteilung von Thomas Middelhoff illustrieren wollen: Mir scheint dieses Urteil ein weiterer Beleg dafür zu sein, dass jedes Bemühen um Zweckrationalisierung der Strafe aus spezial- oder generalpräventiven Gründen zu kurz greift. Ich kenne den Untreueprozess und dann die Urteilsgründe nur aus den Medien. Demnach scheint ein Hauptgrund für ein Strafmaß jenseits der Bewährungsgrenze von zwei Jahren doch der zu sein, dass Herr Middelhoff keine Reue zeigte, sich seiner Schuld nicht bewusst war, kurzum, nicht bereit war, ein Büßerhemd überzustreifen. Bekenne Dich schuldig, und Dir kann vergeben werden. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die offenbar nicht vorhandene Einsichtsfähigkeit in die Unrechtmäßigkeit der Flüge bei Herrn Middelhoff während des Prozesses einmal die Frage nach dem Vorliegen eines Verbotsirrtums hat aufkommen lassen. Wurde das von der Verteidigung mal so angedacht? Hanno Durth Da würde ich gerne daran anschließen und vielleicht nochmal Dostojewski ins Spiel bringen, die Gebrüder Karamasow, die Geschichte vom Großinquisitor, wo

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der Großinquisitor mit dem Delinquenten Jesus personell verknüpft wird und das führt mich zu dem Unbehagen, das wir Juristen vielleicht auch damit verbinden. Dass die Personalisierung, die angesprochen worden ist, strukturell dazu führt, dass wir den Vorwurf, den moralischen Vorwurf, in den Medien eher auf der Beziehungsebene sehen, als auf das man sich mit den typischen Problemlagen, die wir dann als Juristen haben, beschäftigt und dadurch dieses Missverständnis zustande kommt, eine Verurteilung, die aber nicht nach unseren juristisch, rationalen Kriterien erfolgt und ob das strukturell so vorgegeben ist. Franz Salditt Ein Aspekt, der mir Schwierigkeiten bereitet, betrifft die Grenzmoral und die unsichtbare Hand. Müssen wir uns heute nicht die unsichtbare Hand als die Hand eines Wesens vorstellen, das nicht mehr nur wirtschaftlich lenkt, sondern moralisierend wirksam wird? Musste nicht Siemens als Juristische Person und Konzern nach dem Selbstverständnis der neuen Führung aus einem Zustand der Demoralisierung erweckt werden durch Herr Löcher, der geltend machte, das Unternehmen in einen Zustand der Remoralisierung zurückzuführen und auf diese Weise marktfähig zu machen? Verhält es sich nicht so, dass zum Beispiel legale Waffengeschäfte aus moralischen Gründen längst nicht mehr marktfähig sind, weil unternehmerische Gründe allein solche gewerblichen Aktivitäten nicht mehr tragen? Und muss sich ein deutsches Unternehmen, das legale internationale Schlupflöcher ausnutzt, um Steuern zu sparen, inzwischen auf den Märkten nicht moralisch verantworten, weil die Gesellschaft das so nicht weiter hinnehmen will? Ich denke, dass das Bild von Adam Smith neu erfunden werden muss, wenn es die Strömungen in unserer Gesellschaft widerspiegeln soll, die jetzt auf den Märkten, und zwar außerhalb von ökonomischen Erwägungen, eine immer stärkere Kraft entfalten. Dazu ein letzter Punkt: Juristische Personen sind als solche Unternehmen ohne eigene Moral. Die rechtspolitische Diskussion beseelt sie mit Moral, indem gefordert wird, ihnen Strafmündigkeit zuzusprechen, weil sie sich selbst als Wesen mit Corporate Social Responsibility verstehen wollen. Corporate Social Responsibility wird damit zur Grundbedingung der Teilnahme am Wirtschaftsleben, einer Teilnahme, die auf das Marktgeschehen eben auch moralisch reagiert. Was das wirtschaftlich und übrigens auch rechtlich bedeutet, ist derzeit unübersehbar. Jochen Hörisch Nun, das waren jetzt drei sehr weitreichende Fragen, ich will versuchen, sie halbwegs gemeinsam zu beantworten. Im Hintergrund steht ja immer – bei Dostojewskis Großinquisitor, oder bei Ihrer Frage juristische Personen/individuelle

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Personen – die Frage der Körperschaft und es ist ja sehr schwer eine Körperschaft nicht als Körper zu denken. Nehmen Sie Hobbes‘ berühmtes Leviathan, Emblem am Anfang, der große gemeinsame Körper, Corporation, die Körperschaft, die öffentliche Hand, die aus tausenden von Einzelkörpern zusammengesetzt ist. Man muss dann immer die Frage stellen, Lichtenhagen wiederum, bei Körpern fragen wir geradezu reflexartig, was für ein Geschlecht hat dieser Körper? In der Regel übrigens, aber da würde ich mich jetzt verlieren, hat die Körperschaft ja weibliches Geschlecht. Die Alma Mater ist eine Frau, die Kirche ist eine Alma Mater, die Mutter Kirche, die Mutter von der Kompanie, Justitia, Germania, Marianne usw. Also es scheint eine Eigentümlichkeit zu sein. Warum komme ich darauf? Weil die Frage wie stark soll man moralisieren oder nicht in aller Ernsthaftigkeit, denke ich, auch für den Medienbeobachter damit zusammenhängt, wie stark sich Diskussionszusammenhänge – möglicherweise rede ich mich jetzt um Kopf um Kragen, ich zögere – feminisieren, verweiblichen. „Und das ist auch gut so“, würde ich dann eines der großen politischen Wörter, das ja sehr populär geworden ist, betonen. Verweiblichen heißt Moralisierung als einen Super-Code einführen und wieder in den Luhmann-Slang zu verfallen. Jedes einzelne Teilsystem hat seine Unterscheidung – Recht/Unrecht für das Justizsystem, Wahr/Falsch für das Wissenschaftssystem, Kohärent/Inkohärent für das Musiksystem, und dergleichen also für das Kunstsystem insgesamt und dergleichen mehr. Die Gut/Böse-Unterscheidung, Gut/Schlecht-Unterscheidung, diese läuft als Super-Codierung in allen Teilsystemen mit und da würde ich sagen, wir haben die öffentliche Sphäre inklusive der Jurisdiktion moralisiert – in einer kulturanalytischen Perspektive verweiblicht und „wir“ heißt in unserer grosso modo wesentlichen Sphäre. Dass das in anderen Weltbereichen ganz anders aussieht, ist klar. Auch eine Frage, würde ich gerne mit Ihnen noch vertiefen, bei der Dostojewski-Frage. Es ist erstaunlich, wie stark Dostojewski das Problem … warum läuft der Großinquisitor so rum wie eine Frau. Er ist so hart, aber wie ist er gekleidet und wie tritt er auf und so was, kämen wir in ähnliche Abgründigkeiten. Eine ganz kurze Bemerkung noch, Herr Böckenförde, zu Ihrem Hinweis, wie kann man damit umgehen, wenn jemand ganz offenbar mit moralischen Argumenten Schuldbewusstsein – MiddelhoffFall – nicht erreichbar ist. Ich will einfach nur darauf aufmerksam machen und wiederum rede ich als zynischer Medienwissenschaftler, in welchen Konstellationen so eine bestimmte Form von Abkoppelung, von moralischen, übrigens auch juridischen Aspekten erfolgreich gelaufen ist. Für mich ist der legendäre Fall, die Pressekonferenz, die Mitterrand gegeben hat. Da war aufgeflogen, dass er eine Zweit-Familie hatte und die wurde staatlich alimentiert, in einer 250 qm Wohnung und und und … Da stand der Mitterrand da und die ganzen Medienvertreter da, und sagten „Du hast, Du hast, Du hast …“ Und er sagte: „Übrigens,

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meine Herren Journalisten – obwohl da auch Damen in erheblicher Zahl anwesend waren – Messieurs les journalistes, vous avez absolument raison – was Sie herausgefunden haben, ich gratulieren ihnen. Ein bisschen problematisch ist, das hätten Sie eigentlich schon früher bemerken müssen – so feine Zynismen eingebaut – übrigens war das alles noch viel schlimmer. Die Geschichte ist viel älter und so. Schauen Sie mal, alles stimmt, was Sie sagen, aber schauen Sie mal, so ein hässlicher, alter Mann wie ich und diese wunderschöne Tochter, und die Frau dazu, natürlich habe ich auch andere Frauen gehabt.“ Was sollten die Medien machen danach? Er sozusagen der alternde Charmeur und kam aus der Geschichte mit Applaus raus. Übrigens auch bei der zweiten Konferenz, als deutlich wurde, was für eine rechtsradikale Vergangenheit der junge Mitterrand hatte. Auch da dasselbe Schema: „Natürlich haben Sie vollkommen recht. Ich war ein grauenhaft, rechtsradikaler Mensch. Viel schlimmer noch, als das, was Sie rausbekommen haben. Ich könnte Ihnen noch ganz andere Geschichten erzählen. Ich war verabscheuungswürdiger, militanter Anhänger der Rechten. Aber inzwischen habe ich mich da und da hin entwickelt.“ Wie wollen Sie weitermachen? Wenn wir mal den Middelhoff-Fall … Wenn der gekommen wäre und hätte gesagt: Leute, ich bin jetzt 61 und wenn ich überlege als meine Karriere gestartet ist. Alles was Sie rauskriegen über Wirtschaftsskandale stimmt. Das ist alles noch viel schlimmer. Es war vollkommen selbstverständlich, dass der Chauffeur den Garten meines Privathauses gepflegt hat, wenn er gerade mich nicht fahren musste und so. Das waren doch schlechterdings die Üblichkeiten. Sie sind viel zu harmlos, Sie hätten uns viel strenger kritisieren müssen. Wie wäre der Middelhoff-Fall, wie wären andere Fälle gelaufen? Karten auf den Tisch, gerade unter Medienbeobachtungen, darüber wundere ich mich, also ich mache keine PR-Agentur auf, die alten Tage, aber hätte ich eine, würde ich in solchen Fälle immer die Mitterrand-Strategie empfehlen. Jetzt bin ich gar nicht in metaphysischen Bereichen und gar nicht in ethischen Bereichen, sondern auf der Ebene einer sehr, sehr handfesten Psychologie. Da wundere ich mich als Laienbeobachter über die Verteidigungsstrategien.

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Zuschreibungsanteile der Zurechnung

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Einleitung

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Matthias Jahn

Einleitung Matthias Jahn Einleitung Aus einer Rezension: „Auffällig ist, dass von strafrechtswissenschaftlicher Seite (fast) durchgehend vor der Überschätzung des Strafrechts gewarnt wird: Seine Steuerungsfunktion sei praktisch begrenzt und theoretisch problematisch, es könne die Dichotomie des ‚schuldig‘, ‚nicht schuldig‘ der Komplexität des Gegenstandes Wirtschaftsstrafrecht schwerlich gerecht werden.“ Wer hier schreibt, ist unser nächster Referent, Georg Steinberg, im aktuellen Jahrgang der NJW, in einer Sammelrezension der ECLE-Bände I-V.1 In der Tat, die termini technici Zuschreibung und Zurechnung scheinen in der Diskussion des Öfteren durcheinander zu geraten. Wie das strafrechtlich und kriminologisch zu bewerten ist, das ist das zweite Thema am heutigen Vormittag. Herr Steinberg agiert nach einer kurzen Zwischenstation in Köln mittlerweile räumlich ganz in der Nähe, nämlich in Wiesbaden, an der dortigen European Business School als Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht. Ihm zur Seite stellt sich ein aus Frankfurter Sicht alter Bekannter – und zwar sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Herr Seibert ist an unserem Fachbereich Rechtswissenschaft seit 1999 Honorarprofessor und neben seinen wissenschaftlichen Interessen, die sich vor allem mit dem Begriff der Semiotik verbinden, ein besonders ausgewiesener Praktiker. In den 1990er Jahren war er in medial intensiv begleiteten Verfahren aus dem Wirtschafts- und Umweltstrafrecht als Vorsitzender einer mit der entsprechenden Zuständigkeit ausgestatteten Strafkammer am Landgericht in Frankfurt am Main. Wer sich für den Begriff Rechtssemiotik genauer interessiert, dem sei die liebevoll gemachte Homepage „www.rechtssemiotik.de“ ans Herz gelegt, wo Herr Seibert seinen Gegenstand erklärt. Und ich greife drei Stichworte heraus. Ein Begriff ist beispielsweise „Gespenster“, ein zweiter „Justizapparat“ und ein dritter „Raskolnikow“. Alles hängt offenbar mit Dostojewski zusammen. Das ist ein wunderbarer Ausflug in Gefilde, die sich uns normalerweise nicht so ohne Weiteres erschließen.

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_____ 1 Steinberg NJW 2014, 282.

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Thomas-Michael Seibert

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Wie wird in der Rechtsprechung zugerechnet? Thomas-Michael Seibert Wie wird in der Rechtsprechung zugerechnet? Für Straftaten können nach hergebrachtem Verständnis nur Personen verantwortlich gemacht werden. Die Zurechnung von Erfolgen auf Handlungen sowie von Handlungen auf Täter (oder eben Handelnde) ist eine normative Operation, die am Straftatbestand ansetzt. Das „Wer“ eines jeden Tatbestands verlangt nach der Konkretisierung auf eine Person, und operativ möchte man dabei der Subsumtionslogik folgen. Aber es gibt erst einmal nichts zu subsumieren, wenn der Angeklagte dem Ankläger nicht den Gefallen tut, ein Schuldeingeständnis zu liefern. Angeklagte müssen sich zur Anklage nicht äußern, sie dürfen schweigen, sie können aber auch das Gegenteil behaupten. Angeklagte haben etwas zu sagen, sie sehen die Sache anders. Gerade in Wirtschaftsstrafsachen sehen sie manchmal die Dinge grundsätzlich anders. Was sie sagen, kann ein Gericht als Perspektive natürlich nicht einfach übernehmen. Andererseits darf es auch nicht übergangen, es muss „gewürdigt“ werden. Methodisch heißt das dann: Die Einlassung verlangt externe Zuschreibung. Die Tat hat noch etwas anderes als das vom Täter Berichtete, und dieses Andere darf und muss vom Publikum erschlossen werden, so wie auch das Gericht selbst sie erschließen muss. In der Folge sollen zunächst allgemein das Konzept der Zuschreibung (I.) und danach Beispiele dazu aus der Rechtsprechung vorgestellt werden (II.) Sie zeigen ein methodologisches Dilemma.

I. Das Gesetz enthält eine Reihe anerkannter und nicht ernsthaft zu bezweifelnder Zurechnungsregeln, die den Hintergrund für die Zweifel bilden, die jede Zuschreibung begleiten. Mit dem Gesetz lässt sich zurechnen, dass nicht nur einer, sondern mehrere (§ 25 Abs. 2 StGB) handeln, dass einzelne unter ihnen nicht Täter, sondern Anstifter (§ 26) oder Gehilfen (§ 27) sind. Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe sind alte und anerkannte Institute der Strafrechtsdogmatik und beruhen auf differenzierten Anforderungen zum objektiven wie subjektiven Tatbestand. Jedenfalls bauen die strafrechtlichen Zurechnungsregeln auf Verabredungen, Absichten und Plänen auf, die für die Tatbeteiligten je nach einschlägigem Sachverhalt festgestellt werden sollen. Schwierig und mit den Mitteln der Subsumtionslogik nicht mehr lösbar sind allerdings Verläufe, in denen sich der Plan nicht ohne Weiteres nachweisen lässt, das Handeln aber – nach

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außen oder von außen beobachtet – den Eindruck erweckt, es würden gemeinsam und abgestimmt von mehreren Straftaten begangen. Ein klassischer Zurechnungsfall betrifft inzwischen die Beschlussfassung in Gremien bei Krisensituationen. Die Zurechnung kann man in solchen Fällen nur rechtfertigen, wenn ein Täter, der die Tathandlung nicht ausführt, sie mit geplant oder – wenn er sie auch nicht geplant hat – den Plänen anderer zugestimmt hat. Planung, Absicht und Beschlussfassung bleiben die Zurechnungsformen für eine am Straftatbestand orientierte Justiz, die den Inhalt am Sachverhalt feststellen soll. Damit beginnt das Dilemma. Für jede am Sachverhalt gebildete Zurechnungsnorm muss am Ende jemand (und das sind keineswegs immer Richter) sagen, dass sie vorliege bzw. dass die Zurechnung „zu Recht“ erfolge. Normen werden auf Normen, und nicht einfach auf Handlungen zugerechnet. Das ist einfach, wenn die Person, die von der Norm betroffen ist, der Zurechnung zustimmt und in dieser Einfachheit liegt der Reiz eines ausgehandelten Verfahrens. Im antagonistischen Strafverfahren ist mit einer Zustimmung aber eigentlich nicht zu rechnen, sie soll verfahrensmäßig geradezu verhindert werden, etwa indem der schwerer Straftaten Angeschuldigte von Amts wegen einen Verteidiger beigeordnet bekommt, der der Anklage tendenziell entgegentritt. Es muss also ein Drittes geben, das jenseits von Anklage und Verteidigung eine Entscheidung trägt.1 Insofern scheint es also nur so, als ob die Zurechnung auf Verhalten und Absichten derjenigen angewiesen sei, denen Handlungen zugerechnet werden. Zwar wird im Recht tatbestandlich darauf abgestellt, dass es um die Ergründung und Vergegenständlichung fremden Verhaltens gehe (wenn es um Zueignungs-, Bereicherungs-, Ausnutzungsabsichten o.ä. geht). Mit den Feststellungen erklärt ein Gericht, wovon es ausgeht, es präpariert die Sache, um die gestritten wird.2 Feststellungen bestimmen die prozessuale Wahrheit. Den Willen zur Wahrheit tragen heute alle vor sich her, ihn zu praktizieren ist aber viel schwieriger als das Lippenbekenntnis dazu. Was die Gegenseite vorbringt, hält man schnell für Lüge und übersieht, dass es für die Feststellung von Lügen ein Programm von Indizien gibt. Lügen muss man an Zeichen erkennen. Indiz mag die Art und Weise sein, in der jemand etwas sagt, Indiz mag sein, dass ein Motiv vorhanden ist oder fehlt, dass ein Widerspruch besteht oder nicht. Jedenfalls ist dies alles nicht auf den ersten Blick festzustellen. Zunächst einmal glaubt man – auch bei Gericht –

_____ 1 Hassemer Person, Welt und Verantwortlichkeit. Prolegomena einer Lehre von der Zurechnung im Strafrecht, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. I: Legitimationen, Baden-Baden 1998, 350–372 (371). 2 Seibert Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts, Berlin 1996, S. 86f.

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dem Erzählten, und dementsprechend sollen die Beteiligten zunächst einmal nur sagen, worum es sich handelt und was sie selbst für wahr halten. Wir werden sowieso – weil die Wahrheit selbst eine Institution ist – gezwungen, rückhaltlos und jederzeit die Wahrheit zu sagen.3 Wahrheit ist dann eine Eigenschaft der Rede, die sich aus Person und Haltung des Redenden ergibt und eben deshalb eine theatrale Seite hat. Die Wahrheit wird in Szene gesetzt, sie braucht Angeklagte, die sie bekennen, sie verträgt aber auch Lügen und Verschweigen, weil es Beweismittel gibt, die anstelle des Angeklagten sprechen. Zwar werden Opfer wie Täter gehört, aber das moderne Gericht ist nicht gehalten, deren Rede und Zeugnis zu folgen. Es ist in der Beweiswürdigung frei und legt den Inhalt dafür selbst fest. Will es der Rede des Angeklagten nicht folgen, spricht man von einer „Einlassung“. Einlassungen stehen in einer sprachlichen Serie des Lassens: Einlassen, Auslassen, Zulassen, Vorlassen, Nachlassen – die Kontexte dazu changieren von salopper Alltäglichkeit über üblichen Justizjargon zu förmlicher Bezeichnung. Einlassungen sind alles dies: alltäglich, jargonhaft und förmlich. Wer von „Einlassungen“ spricht, gibt sich als Richter zu erkennen. Die Sozialwissenschaftlerin bleibt wesentlich zurückhaltender, entscheidet zwar nichts, hält aber die „geradezu inflationär eigensetzten Forderungen nach Eigenverantwortung“ mit den „Selbstkonzepten von Gesellschaftsmitgliedern“ für noch vereinbar.4 Der Antrieb, Absichten, Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu ergründen und zuzurechnen, liegt ersichtlich nicht bei denen, die handeln, sondern bei denen die zurechnen (wollen). Um nicht an interne Maßstäbe gebunden zu sein, werden zum Zweck einer Zurechnung vorzugsweise objektivierbare Merkmale benutzt. Der Tatplan, der Merkmal einer Mittäterschaft sein soll, ist dabei ein merkwürdiger Zwitter. Man könnte ihn sich als Ergebnis eines Ratschlags bei der Wilden Dreizehn vorstellen, aber normalerweise findet niemand das Dokument der geplanten gemeinsamen Straftaten. Nur ganz wenige bürokratisch strukturierte Verbrecherorgansationen bringen es tatsächlich fertig, den Plan des Massenmordes so kurz und bündig zu protokollieren, wie das Adolf Eichmann auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1941 erledigte. Seitdem sucht die Justiz allerorten verbrecherische Pläne zu entdecken oder – wenn man sie denn in Dokumentform nicht erwarten darf – von Beteiligten bezeugt zu hören oder – wenn weder Dokumente noch Zeugen Pläne verraten – solche Pläne aufgrund gewisser

_____ 3 Foucault Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I (Orig.: Paris 1976), Frankfurt a.M. 1983, S. 79. 4 Heitzmann Alleine schuld? Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung im LaienRechtsverständnis, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), 205–234 (232).

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Umstände zuzuschreiben. Das allseits bekannte Revisionsurteil im PolitbüroProzess gehört in den methodischen Kontext solcher Zuschreibungen durch „Organisationsstrukturen“.5 Zuschreibung ist kein Ausdruck im Gesetzbuch und ist doch für jede Form der Zurechnung unentbehrlich. Wenn man Sprechweisen unterscheiden will, gehört der Ausdruck „Zuschreibung“ in das Vokabular der Soziologie, und zwar heute vorzugsweise einer anklägerisch etikettierenden Sozialforschung. Allerdings findet man in den Arbeiten von Forschern wie Aaron Cicourel oder Peter McHugh viel weniger Anklage, als die rezipierenden Juristen es unter dem Namen eines labeling approach wahrnehmen. Zuschreibungen sind in Kulturtheorien oder ethnomethodologisch Teil einer notwendigen Situationsdeutung. Man muss den Zusammenhang verstehen, in dem andere handeln – und kann sich dabei täuschen. Aber auch die Täuschung ist ein Aspekt der Zweitheit des Zeichens, so dass die Annahme, etwas sei real, mindestens zu realen Folgen führt.6 Die Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von Situationsdefinitionen, und die Gerichtsbeobachtung von Aaron Cicourel konzentriert sich auf genau diesen Effekt, also auf die Annahme von Juristen und Gerichten, etwas sei so und müsse eben deshalb normbestimmte Konsequenzen haben.7 Das gesamte sprachliche Handeln erscheint grundlagentheoretisch auf „Situationsdefinitionen des Sprechers und den Situationsinterpretationen des Hörers“ zu beruhen. Fritz Schütze hat das in einer umfänglichen theoretischen Arbeit ausgeführt und seine eigene Berichtsbeobachtung auf Situationsdefinitionen etwa im heute historisch gewordenen Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer konkretisiert.8 Die situationsdefinierende Zuschreibung gehört damit zwar zur Grundausstattung im Zeichenprozess, ist aber normativ nicht ohne Weiteres gerechtfertigt. Schütze hat am früheren KdV-Verfahren die schnellen, schematisierten Definitionsprozesse beanstandet, mit denen die vielfältigen Sachverhaltserzählungen der Antragsteller ihres Gewissensgehalts beraubt wurden. Die Art und

_____ 5 BGHSt 45, 270 (NJW 2000, 443) Urt. v. 8.11.1999 – 5 StR 632/98. 6 Mc Hugh Defining the Situation. The Organization of Meaning in Social Interaction, Indianapolis und New York 1968, 8. 7 Cicourel The Social Organization of Juvenile Justice, New Brunswick und London 1967, 112–123. 8 Schütze Sprache – soziologisch gesehen, München 1975, 511 f. und ders. „Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht – eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer”, in: Wolfgang HoffmannRiem, Hubert Rottleuthner, Fritz Schütze und Andreas Zielcke (Hrsg.), Interaktion vor Gericht. Baden-Baden 1978, 19–100.

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Weise der Zuschreibung steht in jedem konkreten Verfahren in Frage. Es kommt darauf an, mit welchem Toleranzrahmen zugeschrieben wird, d.h. in welchem Umfang Zuschreibungen selbst Gegenstand des Diskurses sind und revidiert werden. In der juristischen Verfahrenspraxis sind Zuschreibungen nicht selten das eigentlich Endgültige, das der Revision besser widersteht als jedes Entscheidungsergebnis. Die Mitglieder des Rechtsstabs befassen sich danach gar nicht mit den Einzelheiten einer angeklagten Tat, sie suchen gar nicht die Wahrheit bestrittener Umstände, sondern verfügen eben durch Zuschreibung der entscheidenden Merkmale darüber, dass etwas wirklich so sei, wie man es sage oder genauer: aufgeschrieben, ins Urteil hineingeschrieben habe. „Zuschreibung“ ist insofern ein negatives Wertprädikat und wird unterschieden von Feststellungen, die sich auf Tatsachen und rationale Beweisergebnisse beziehen. Zuschreibung gilt unter Juristen als willkürliche Attribution. Der kulturellen Praxis wird das allerdings nicht gerecht. Insgesamt kommt der Zuschreibung grundlegende kulturwissenschaftliche Bedeutung zu. Ralph Linton hat zuerst 1936 hervorgehoben, dass es erworbene und zugeschriebene Rollenmerkmale gebe, die menschliches Handeln bestimmten (ascribed and achieved status9). Die zugeschriebenen Merkmale sind diejenigen Handlungseigenschaften, die Dritte dem Handelnden beilegen und damit gewissermaßen dessen Sein bestimmen. Im Schema von ascription vs. achievement hat einst Talcott Parsons das Handlungsschema konzipiert und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft auf Eigenschaften der Person anders als auf deren Handlungen reagieren.10 Bis zum heutigen Tage legt die Askription in einem kulturwissenschaftlichen Verständnis Statuseigenschaften extern fest. Forscher der Stanford University haben dazu den Merksatz formuliert: „Ascription means that status is attributed to you by things like birth, kinship, gender, age, interpersonal connections, or educational record.“11 Das muss man für den Rechtsgebrauch in Verfahren übersetzen, also – wie Niklas Luhmann hervorgehoben hat12 – die vermeintlichen Seinseigenschaften in ein Zeitschema übersetzen, in dem zugeschriebene Merkmale vergangene Festlegungen betreffen und zur Zukunft hin offen sind. Die rechtliche Zukunft ist die des Verfahrens. Zuschreibungen finden hier Eingang in dem Maße, in

_____ 9 Linton The Study of Man, New York 1936. 10 Parsons/Shils Toward a General Theory of Action: Theoretical Foundations for the Social Sciences (1951), abridged ed. New Brunswick 2001, 83. 11 http://www.stanford.edu/group/scie/Career/Wisdom/ach_ascr.htm, gesehen am 6.5.2014. 12 Luhmann Schematismen der Interaktion, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, 83.

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dem Verfahren erweitert oder abgekürzt werden. Zum Verfahren gehört dabei, dass zunächst einer darlegen kann, was sich in der Welt ereignet habe, und darauf warten darf, ob und inwieweit diese Darlegung im Verfahren Widerspruch findet – entweder weil ein Gegner die Darstellung bestreitet oder weil die maßgeblichen Amtsträger ihr nicht glauben. Wenn das nicht der Fall ist, werden Eigenschaften ohne Weiteres zugeschrieben, ohne dass man Beweismittel braucht. Nur dann wenn Tatsachen als „streitig“ erscheinen, tritt man in ein durch Beweismittel streng geregeltes oder auch durch Mittel der Glaubhaftmachung frei ablaufendes Beweisverfahren ein, an dessen Ende freilich auch wieder die justizielle Feststellung steht, dies oder jenes sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als wahr anzusehen. Auch an dieser Stelle muss zugeschrieben werden, so dass es im Rechtsverfahren unterschiedliche Formen der Zuschreibung gibt: je nach Länge des Verfahrens umstandslos sofortige, unterbrochen aufgeschobene bis zu späten. umkämpften Zuschreibungen. Immer beruhen sie auf justizeigenen, abschließenden Zeichenverwendungen. Die kulturelle Praxis der Zuschreibung ist nur lose mit der Diskussion über den sog. labeling approach verbunden, wie sie Eingang in die Kriminologie gefunden hat. Dort war es Howard S. Beckers Studie über „Außenseiter“, die den Blickwinkel für eine ganze Generation soziologischer Beobachter der strafrechtlichen Praktiken verändert hat. Verabschiedet wurde der kriminalistische Blick auf Vorkommen, Anlass und Verbreitung kriminellen Verhaltens, eingeführt wurde die These, die Reaktionen auf ein Verhalten, die Regeln seiner Verfolgung und deren Wirkung auf die Verfolgten erklärten ein Verhalten, das eben vorkomme, zu einer Abweichung und erzeugten in einem sekundären Prozess der Reaktion auf diese Zuschreibung weitere Abweichungen, d.h. Straftaten. Zuschreibung im Sinne Howard Beckers schafft Kriminalität geradezu zielgerichtet, indem herrschende gesellschaftliche Gruppen Regeln aufstellen, deren Verletzung dann als abweichendes Verhalten bestraft wird.13 In der deutschen Kriminologie gilt Fritz Sack als der entschiedenste Vertreter dieser Sichtweise, nach der es sog. „primäre Devianz“ gar nicht gibt und sich das wissenschaftliche Interesse allein den Reaktionen des strafrechtlichen Stabes richtet.14 Der These, es seien Definitions- und Zuschreibungsprozesse, die darüber entschieden, ob ein Verhalten als kriminell erachtet werde oder nicht,15 kann für sich

_____ 13 Becker Außenseiter, Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt a.M. 1973, 8. 14 Sack Kritische Kriminologie, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./ Schellhoss, H. (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 1993, 277–286. 15 Neubacher Kriminologie, 2. Aufl. Baden-Baden 2014, 107 (Rz. 10.5).

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genommen gar nicht widersprochen werden, sie ist aber auch banal. Kriminalsoziologisch brisant wird diese These nur dadurch, dass mit ihr tatsächliche oder vermutete Aussagen über die rechtliche Zweitheit verbunden werden der Art nämlich, dass die Regeln für die Zuschreibung des Verbrechens schichtenspezifisch selektiv ausfielen, Mitglieder der Unterschichten, Angehöriger anderer Hautfarbe, Frauen oder – wie es Neubacher in Anlehnung an ein Lied von Franz-Josef Degenhardt plastisch sagt – „Schmuddelkinder“ verhaftet, inhaftiert, bestraft und weggesperrt würden, während andere – weiße, wohlhabende Männer – gar nicht belangt würden oder jedenfalls besser davonkämen. Das Konzept betrifft Makrostrukturen der Gesellschaft, für die es einzelne Belege gibt, die aber in der Breite schwierig zu beurteilen und mit den qualitativen, an Mikroprozessen orientierten Methoden in der Nachfolge von Fritz Sack auch nicht zu erfassen sind. Es ist nicht ohne Ironie zu beobachten, dass in Wirtschaftsstrafverfahren Angeklagte aus der oberen Mittelschicht ein Konzept zum eigenen Vorteil benutzen, das Sack gegen die Schlechtbehandlung von Unterschichtsangehörigen ins Feld geführt hat. Allein eine bestimmte Zuschreibung – man sagt geläufig „Vorverurteilung“ – hat in der Perspektive nicht weniger Wirtschaftsstraftäter das Verfahren insgesamt bestimmt, den polizeilichen Zugriff im einzelnen veranlasst, hat sich in wiederholten Pressedarstellungen manifestiert, und schließlich und vor allem beklagen Angeklagte wie Verteidiger die gerichtliche Sachverhaltsfeststellung in Wirtschaftsstrafsachen. Sie beruhe auf der Zuschreibung einzelner Tatbestandsmerkmale und lasse wahre Feststellungen vermissen. Dabei kommt ein anderer Ton in die Rede über Zuschreibungen. Aus Sicht der Verteidigung existieren sie neben Feststellungen. Zugeschrieben werden Einstellungen und Begehungsweisen, für die es nach Ansicht einer Verteidigung keine Beweismittel gibt, festgestellt werden wahre Merkmale, die freilich umso besser festgestellt werden können, desto mehr sie vom Anklagevorwurf entlasten. Das entspricht nur noch im Ansatz dem kritischen Gestus der Kriminologie, der es um ein Abschaffen des Strafens gegangen ist. Nun tragen mächtige Angeklagte einem mittelmäßigen Gericht vor, dass es seine Aufgabe der Feststellung nicht erledige, sondern durch Zuschreibung ersetze. Fritz Sack hat darauf mit dem von Klaus Lüderssen früher berichteten Affekt reagiert, es gebe auch „notwendige Zuschreibungen“.16 Überfallen hat Sack dieses Gefühl, weil beispielsweise Polizeibeamte, die im Dienst gewalttätig würden, bestraft gehörten, es aber nicht würden. Weiter ist

_____ 16 Lüderssen Gebotene Zuschreibung?, in: ders. (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. I: Legitimationen, Baden-Baden 1998, 307–318 (310).

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dieses Gefühl nicht ausgeführt worden – natürlich nicht, könnte man ergänzen. Jede Ausführung dazu könnte einem Etikettierungsansatz als Allbegründung den Boden entziehen. So ist es Lüderssen selbst vorbehalten geblieben, die unausgeführte These mit einer Skizze über „gebotene“ Zuschreibungen zu ergänzen. Das ist eine Skizze für Diskurse, in der – so Lüderssen – am Anfang die Frage stehe, „was man eigentlich als geschehen zu betrachten hätte“.17 Damit reichen Zuschreibungsanteile in jede Tatsachenfeststellung hinein, sie bestimmen noch die Antwort auf die Frage, was denn „ein Schlag“ sei, wenn ein Polizist einen Festgenommenen geschlagen haben solle, und sie münden in – Evidenz. „An irgendeiner Stelle möchte man registrieren: das ist geschehen.“ Als Grundlage der Evidenz sieht Lüderssen „die Allgemeinheit des Konsenses“, wobei sich noch darüber streiten lässt, ob dem Gebot der Zuschreibung ein Wahrheitsanspruch unterlegt ist. Klaus Günther hat das in Ergänzung wie Opposition zu Lüderssen so gesehen.18 Lüderssen nimmt ein Verständnis von Zuschreibungen auf, wie es H.L.A. Hart einst in Kontakt mit dem jüngeren Austin über „The Ascription of Responsibility and Rights“ herausgearbeitet hat.19 Danach erfassen Zuschreibungen die spezifisch richterliche Aufgabe, das Vorliegen eines Begriffs oder Tatbestands anzunehmen, und kommen in dieser Funktion auch alltäglich vor, weil eine Aussage wie „This is his“ nicht nur hinweisend ist. Auch wenn eine Beweisaufnahme nicht stattfindet, liegt in der gerichtlichen Aussage, von einer Behauptung sei auszugehen, die Feststellung, sie sei glaubhaft, weil man andernfalls auf eine Beweisaufnahme hätte hinwirken müssen, sich also nicht einfach mit irgendeiner hanebüchenen Scheintatsache begnügen darf. Eben das ist eine Zuschreibung. Sie setzt einen Schlusspunkt unter einen prinzipiell und möglicherweise unendlichen Zeichenprozess. Hart hebt hervor, dass Zuschreibungen auf einem widerlegbaren (defeasible) Verfahren beruhten und Einwände wie Gegeneinwände im gleichen Akt verarbeiteten bzw. zurückwiesen.20 Sie stellen insoweit eine besondere Klasse im System der Sprechakte dar, weil sie Wahrheit zuschrieben, aber selbst nicht in einem logischen Sinne wahr oder falsch sein könnten. Die Askription sei keine Deskription und nicht in gleicher Weise

_____ 17 Ebd., 316f. 18 Günther Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage des Verstehens, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik, 319–349. 19 Hart The Ascription of Responsibility and Rights, in: Antony G.N. Flew (Hrsg.), Logic and Language, Oxford 1951, 145–166. 20 Ebd., 152.

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wahrheitsfähig. Sie setze stattdessen eine Behauptung in Kraft oder markiere eine Situation, so dass im Sinne von Hart schon allein der Satz: This is mine zuschreibend wirken muss,21 weil er die Eigentums- oder Besitzbehauptung in einem Kontext verankert, der rechtlich voll komplizierter Voraussetzungen, Regeln und Ausnahmen sein kann – oder auch ist, je nach Aktivität des Zuschreibenden. Man kann möglichen Ausnahmen nachgehen oder einfach behaupten: Das ist meins und das deins. Insofern ist eine Zuschreibung linguistisch nichts anderes als eine prädizierende exklusive Bezugnahme. Man hat ein Objekt im Sinne und behauptet ein Zeichen exklusiv dafür. Diese von Hart hervorgehobene Besonderheit steht auf der Stufe, auf der Kant in der Metaphysik der Rechtslehre praktische Urteilskraft verlangt hat. Irgendwann muss man im System mehr oder weniger leerer Allgemeinbegriffe zum anwendenden Ergebnis kommen und sagen, worum es geht. Dafür ist im Rechtssystem, im strafrechtlichen insbesondere, noch eine Zusatzbedingung zu beachten. Zuschreibung ist hier auch notwendig, weil Angeklagte sich nicht selbst belasten müssen. Sie sind nicht gehalten, im Rahmen eines Geständnisses die Wahrheit der Anklage zuzugestehen. Selbst wenn sie es tun (etwa weil sie es aus dem angloamerikanischen Strafverfahren so gewohnt sind), ist der von Amts wegen ermittelnde Strafrichter gehalten zu überprüfen, ob das Geständnis wahr, ausreichend detailliert und insgesamt glaubwürdig ist. Umgekehrt muss in irgendeiner Sprachform die unglaubhafte Einlassung des leugnenden Angeklagten zurückgewiesen und an seiner Stelle die Kenntnis der gesetzlichen Tatmerkmale „festgestellt“ werden, wie es in der amtlichen Ausdrucksweise des Justizdispositivs heißt. Das ist eine Aufgabe des Tatrichters mit der Folge, dass Zuschreibungen überhaupt eine Sache des tatrichterlichen Urteils sind und in der Revision (und damit auch in der veröffentlichten Rechtsliteratur) nur insoweit auftauchen, wie man mit ihnen nicht einverstanden ist. Im Ganzen kann man zusammenfassen: Die Feststellung normativer Tatsachen setzt ein gestuftes Verfahren voraus, in dem es Stationen, Rollen und Begründungen gibt, wobei früher oder später ein Sprechakt des Zuschreibenden notwendig wird, der eben hinschreibt, etwas sei so, wie man es im Urteil lesen könne. Es ist deshalb notwendig, an einzelnen Beispielen und Einzelfällen zu überprüfen, wie und mit welchen Mitteln zugeschrieben wird. Nur dann lässt sich die Legitimität einer Praxis beurteilen, deren wiederkehrende Merkmale in den Sozialwissenschaften nachzulesen sind.

_____ 21 Ebd., 158f.

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II. Alle Beispiele stammen aus Fällen und Kontexten, die im Wirtschaftsstrafrecht gut bekannt sind. Das sollte es erübrigen, lange in die Problematik eines Einzelfalls einzuführen. Man erinnert sich also in Kürze: Der ehemalige CDUGeschäftsführer Manfred Kanther hatte zusammen mit seinem Finanzberater Gelder ungeklärter Herkunft, die jedenfalls dem hessischen Landesverband zustanden, über viele Jahre in Lichtenstein anlegen lassen und in den jährlichen Rechenschaftsberichten seiner Partei nicht erwähnt. Dieses Unterlassen führte später, nämlich im Jahre 2000, zu Nachforderungen des Präsidenten des Bundestages in Höhe von über 35 Mio. DM. Der Tatrichter hat den Angeklagten einen gefährdungsgleichen Schaden mit den folgenden, vom Bundesgerichtshof berichteten drei Feststellungssätzen zugeschrieben, die lauten:22 (1)

Dabei war dem Angeklagten K. bewusst, dass nach den zur Tatzeit geltenden Regelungen des PartG 1994 ein Anspruch der Bundespartei entfiel, wenn nicht ein den Anforderungen des 5. Abschnitts des PartG genügender Rechenschaftsbericht bis zum Ablauf des jeweils folgenden Jahres vorgelegt wurde. Er hielt es zumindest für möglich, dass diese Regelung nicht allein die Vorlage eines formell ordnungsgemäßen, sondern eines im Wesentlichen inhaltlich richtigen Rechenschaftsberichts verlangte, dass eine spätere Aufdeckung der Unrichtigkeiten die Rückforderung von Zuwendungen gegenüber der Bundespartei zur Folge haben könnte und dass sich der Landesverband Hessen in diesem Fall Regressforderungen der Bundespartei ausgesetzt sehen könnte. Diese Gefahren nahm der Angeklagte K. nach den Feststellungen des Landgerichts billigend in Kauf.

Die Sätze veranschaulichen, wie üblicherweise Vorsatz gegen jede andere Einlassung zugeschrieben wird. Was man billigend in Kauf nimmt, ist zwar nicht juristischer Lehrstoff, aber die Sprachformel gehört zum Kern der juristischen Sprachdressur. Der Bundesgerichtshof lässt das Sprachspiel in der Revision unangetastet, fügt ihm aber eine Variante rechtlicher Differenzierung hinzu, von der man vielleicht sagen kann, sie würde noch ungefähr aufnehmen, was die Angeklagten gegen die Zuschreibung eingewandt haben. In den tatrichterlichen Feststellungen war auch die Einlassung enthalten, dass die Angeklagten davon ausgegangen waren, es müsse nur überhaupt ein Rechenschaftsbericht vorgelegt werden, ohne dass es auf dessen Richtigkeit ankomme, um den Anforde-

_____ 22 BGHSt 51, 100 (NJW 2007, 1760), Urt. v. 18.10.2006 – 2 StR 499/05 – Rz. 23.

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rungen des Parteiengesetzes zu genügen. Das billigende In-Kauf-Nehmen erfährt nun eine Ergänzung der Art:23 (2)

Nach Ansicht des Senats ist der Tatbestand der Untreue in Fällen der vorliegenden Art im subjektiven Bereich dahingehend zu begrenzen, dass der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolgs abfindet. Nur unter dieser Voraussetzung erscheint in enger als bisher begrenzten Fallgruppen die Annahme der Tatvollendung schon bei Eintritt einer konkreten Gefahr des Vermögensverlustes als rechtsstaatlich unbedenkliche Vorverlagerung der Strafbarkeit wegen Untreue.

Was dabei geschieht, mag dem Fall angemessen gewesen sein, dogmatisch lehrbar oder praktisch vorhersehbar ist es nicht. Die Gleichstellung von Schaden und Gefährdung (die man bezweifeln kann) wird aufrechterhalten, dafür aber ein weiteres subjektives Element fallbezogen in die Formel vom billigenden In-Kauf-Nehmen aufgenommen: das In-Kauf-Nehmen oder Sich-Abfinden mit dem Erfolg, das dann doch die Gleichstellung von Schaden und Gefährdung unmöglich macht, weil es nicht mehr durch Zuschreibung ohne Weiteres möglich ist, dem Präsidenten des Bundestages im Jahr 1990 eine Praxis anzusinnen, die er im Jahr 2000 geübt hat. Was die Angeklagten in den achtziger und neunziger Jahren nun eigentlich wussten, hat dann – wie bei geschickter Verfahrensgestaltung üblich – niemand mehr wirklich festgestellt. Das Strafverfahren endete mit einer Geldstrafe, die ministerielle Pensionsansprüche noch gerade unberührt lässt, durch einen Vergleich zwischen den Verfahrensbeteiligten, den es in Strafsachen nur praktisch, aber nicht dogmatisch gibt. Im Ergebnis ähnlich, hier allerdings sogar nur mit einer Geldauflage, endete das MannesmannStrafverfahren, in dem der Vorwurf nicht dahin ging, dass Gelder heimlich verwahrt, sondern dass sie freizügig ausgegeben worden sind – wegen Firmenauflösung. Aus diesem Strafverfahren will ich nur ein Detail aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs zitieren, das zeigt, wie man eine Zuschreibung gegen tatsächliche Einwände so immunisieren kann, dass sie nicht mehr widerlegbar ist. Die zuvor mit einer Mehrzahl aufwändiger Rechtsgutachten bestrittene Frage, ob ein Aufsichtsrat nach freiem Ermessen zu jedem Zeitpunkt Gelder an Vor-

_____ 23 Ebd., Rdz. 70.

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standmitglieder bewilligen kann, gerinnt im Revisionsurteil zu der folgenden Zuschreibung:24 (3) Unter den gegebenen Umständen, vor allem angesichts der offensichtlichen Pflichtwidrigkeit einer willkürlichen Zuwendung, hätten die Angeklagten Dr. Ackermann und Zwickel bei Anlegung der an die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums zu stellenden Anforderungen (vgl. BGHSt 3,357, 366; 4, 1, 5 und 237, 242 f.) nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen einen eventuell gegebenen Irrtum vermeiden können. Dazu hätte es nicht einmal eines Rechtsrats bedurft. Bei Einholung von Rechtsrat durch eine sachkundige, neutrale Person hätte richtigerweise die Frage gestellt werden müssen, ob eine ausschließlich durch den Wunsch des Begünstigten motivierte, dem Unternehmen keinen Vorteil bringende Prämiengewährung rechtlich zulässig ist. Dies wäre mit Sicherheit verneint worden.

Abgewehrt wird damit zwar nur eine durchaus spezielle Einwendung, nämlich die Möglichkeit eines Verbotsirrtums (und wir haben natürlich gelernt: Den gibt es nur in Büchern …), aber die Technik der Begründung weist über den Fall hinaus. So wie (2) vorführt, wie man durch die Einführung einer zusätzlichen rechtlichen Anforderung eine nicht mehr überwindbare Hürde für eine Zuschreibung aufbauen kann, so zeigt (3), dass man umgekehrt auch eine nicht mehr überwindbare Hürde für alle tatsächlichen Einwände errichten kann, wenn man die subjektive Seite entsprechend einschränkt. Zahlt jemand viel Geld für nichts? Natürlich nicht. Kann man viel Geld wegschließen, ohne dass das nachteilige Folgen hat? Kaum jemals, auch wenn es diejenigen, die das Geld wegschließen, oft meinen. Die argumentativen Möglichkeiten schließen also eine Erweiterung des festzustellenden Sachverhalts – hin zu einer subjektiven Seite in der Vergangenheit – ebenso ein wie eine Reduktion der gleichen methodischen Frage durch Verengung der Fragestellung. Das kann man ein „methodologisches Dilemma“ nennen. In jedem Fall ist ein praktisches Dilemma. Jeder kann zwar Tipps abgeben, wie in einer Sache die mögliche Abwehr oder Zulassung einer Zuschreibung in der Revision ausfallen wird, aber wissen kann man das nicht. Mit Zuschreibungen wird ein juristischer Spielraum eröffnet, in dem jeder so operiert, als wäre er ein Gericht.25 Trotz des Dilemmas ist der Spielraum nicht vermeidbar, weil auch im Alltag zugeschrieben werden muss, was jemand gemeint haben könnte. Das ist der unter I mit Hinweis auf Hart ausgeführte Einsatz. Noch etwas charakterisiert diesen Einsatz. Zuschreibungen können nicht auf jeder beliebigen Stufe der normativen Konkretisierung vorgenommen wer-

_____ 24 BGHSt 50, 331 (StV 2006, 301) Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 – Rdz. 59. 25 Hart The Ascription of Responsibility and Rights, 157.

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den. Es lässt sich beispielsweise nicht schlechthin und ohne Absicherung in Umständen zuschreiben, dass der Angeklagte etwas billigend in Kauf genommen habe. Für jede Situation gibt es anerkannte Ausnahmen, Einschränkungen, in der Argumentationslogik heute defeaters genannt.26 Denen muss begegnet werden. Wenn also gestritten wird und die Zuschreibung im Urteil erfolgt, benötigt sie eine Vorbereitung und Absicherung, die sie von alltäglichen Behauptungen, wie Hart sie zitiert, unterscheidet. Es geht dann nicht mehr darum, einfach zu setzen This is yours oder This is his, sondern es werden anfechtbare Umstände mobilisiert, die eine Begründung abarbeiten muss. Das tut sie nicht immer. Erscheint es so, als ob nicht Handlungen festgestellt, sondern nur Einstellungen ohne festgestellte Tatsachenwahrheit zugeschrieben werden, so hat auch ein Freispruch wie der des Landgerichts Düsseldorf keinen Bestand. Zur Absicherung hat der Bundesgerichtshof die folgenden Umstände nur aufgezählt und den Schluss daraus dem juristischen Publikum überlassen:27 (4) Die Beschlussfassungen vom 4. Februar 2000 erfolgten innerhalb kürzester Zeit in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur beschlossenen freundlichen Übernahme. Der Angeklagte Zwickel nahm an den Abstimmungen telefonisch nach einer nur kurzen mündlichen Information durch Prof. Dr. Funk teil, obwohl keine Eilbedürftigkeit vorlag. Die Höhe der Sonderzahlung für den Angeklagten Dr. Esser, die für den Wirtschaftsstandort Deutschland außergewöhnlich war, wurde von den Präsidiumsmitgliedern weder näher diskutiert noch begründet, vielmehr folgten diese dem mit der Übernehmerin Vodafone abgestimmten Vorschlag der Großaktionärin Hutchison Whampoa Ltd, deren Interessen offensichtlich nicht mit denen der Mannesmann AG übereinstimmten. Sie nahmen keinen Anstoß an der von ihnen erkannten Selbstbegünstigung des Angeklagten Prof. Dr. Funk mit Beschluss vom 4. Februar 2000, dem eine – letztendlich nicht ausbezahlte – Prämie von ca. 4,8 Mio. € zuerkannt wurde. Bei der am 17. April 2000 beschlossenen und später ausbezahlten Anerkennungsprämie von ca. 3 Mio. € handelten die Angeklagten Dr. Ackermann und Zwickel mit der sachwidrigen Motivation, dem Wunsch des Prof. Dr. Funk nachzukommen, eine sachlich nicht gerechtfertigte Sonderzahlung zu erhalten (vgl. B. I.). Der Angeklagte Dr. Ackermann befürwortete diese Prämie, obwohl er zuvor von den mündlich und schriftlich geäußerten Bedenken der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zu den Sonderzahlungen für die aktiven Vorstandsmitglieder hinsichtlich Vertragsgrundlage, Veranlassung und Größenordnung Kenntnis erhalten hatte.

Es sind dies nach Würdigung des Senats Umstände, die gegen die Beweiswürdigung des Tatrichters sprachen und die in dessen Begründung keinen Eingang

_____ 26 Finocchiaro Arguments about Arguments: Systematic, Critical, and Historical Essays In Logical Theory, Cambridge u.a. 2003, 303. 27 BGHSt 50, 331 Rdz. 44.

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gefunden haben. Sie hätten – meint das Revisionsurteil – „zumindest in ihrer Gesamtheit – Zweifel an einem Irrtum aufkommen lassen und darauf hindeuten, dass ihnen [d.h. den Angeklagten] die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht bewusst, jedenfalls die Rechtmäßigkeit ihres Handelns gleichgültig war“. Die Grenze für Zuschreibungen liegt danach in der Argumentation. Rechtsregeln für sich genommen sind weder für das eine noch für das andere Ergebnis ausreichend. Die Geltung einer Norm wird unter diesen Umständen im Streitfall vom Gericht und dessen Urteilsgründen in Kraft gesetzt. Das ist eine weitere Konsequenz des methodologischen Dilemmas. Rechtsgeltung wird durch Zuschreibungsprozesse im Verfahren hergestellt. Diese abstrakte Einsicht wird bei der Auslegung von Äußerungen deutlicher als in anderen Fällen, in denen die Zuschreibung in die Gutachten von Sachverständigen verlagert wird (was im Normalfall stillschweigend konsentiert wird und im Ausnahmefall zur Unentscheidbarkeit führt). Für Äußerungen werden keine Sprachsachverständigen benötigt. Bis zum heutigen Tage bestimmen die Gerichte selbst, wie man eine Äußerung zu verstehen hat. Gerechtfertigt wird das mit dem aus einer Wirtschaftsstrafsache stammenden Grundsatz:28 (5) Liegen keine Besonderheiten vor, kann der Tatrichter regelmäßig von allgemein verbreiteten, durch die Verkehrsanschauung und den rechtlichen Rahmen bestimmten Erwartungen auf den tatsächlichen Inhalt konkludenter Kommunikation schließen. Ein derartiger Schluss des Tatrichters von den Gesamtumständen eines Geschehens, die auch von normativen Erwartungen geprägt sind, auf einen bestimmten Kommunikationsinhalt führt nicht zur „Fiktion“ einer Erklärung.

Das ist die methodische Rechtfertigung für Zuschreibungen, wobei das Problem des mangelnden Beweisverfahrens weder diskutiert noch überhaupt gesehen wird. Die Sätze in (5) stammen aus einer im Verfahrensgang überraschenden Entscheidung über den betrügerischen Charakter manipulierter Fußballwetten (damaliger „Fall Hoyzer“: Die Angeklagten hatten einen Schiedsrichter bestochen, damit er – meist unterklassige – Fußballspiele so leitet, dass die von ihnen vorhergesagte Mannschaft gewinnt). Dabei hätte man nicht darüber gestritten, dass es anstößig und strafbar sei, den Schiedsrichter mit dem Ziel zu bestechen, eine bestimmte Mannschaft in einem Spiel siegen zu lassen, durchaus fraglich war aber, ob der Inhaber eines Wettscheins mit dessen Abgabe erklärt, er werde sich normgerecht verhalten. Eben eine solche „Erklärung der Manipulationsfreiheit“ schreibt der Bundesgerichtshof dem Wettteilnehmer zu

_____ 28 BGHSt 51, 165, Rdz. 22.

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und gewinnt damit einen Strafbarkeitsraum, den die Bundesanwaltschaft im gleichen Verfahren zugunsten der Angeklagten noch verneint hatte. Beim Wettbetrug werde – so lautet die Zuschreibung hier – durch Manipulation die Quote des Anbieters täuschend verändert.29 Das Ergebnis entspricht einem Rechtsgefühl, wonach es eben nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn man auf den Verlauf eines Geschehens Einfluss nimmt, das man sich als „von selbst“ ablaufend denkt. Juristisch methodisch erweitert (5) die Begründungstechnik, die (3) durch Reduktion schon hat deutlich werden lassen. Es wird nicht einfach eine Einstellung zugeschrieben mit der Behauptung: Der Angeklagte wollte täuschen (obwohl er das abstreitet). Dann stünden einfach Behauptungen gegeneinander. Stattdessen werden kleinteilige tatsächliche Umstände benannt, für die man entweder andere Beweismittel als die Einlassung des Angeklagten mobilisiert oder auf nicht streitige bzw. scheinbar allgemein anerkannte Faktoren zurückgreifen kann. So geschieht es hier. Blass und wenig greifbar sind die „allgemein verbreiteten, durch die Verkehrsanschauung und den rechtlichen Rahmen bestimmten Erwartungen,“ die der BGH zitiert. In sie wird nun die Zuschreibung hinein verlegt. Zwar wird man sagen können, dass in Vertragsverhältnissen die Erwartung besteht, dass sie sich nach Recht und Gesetz abwickelten, aber so allgemein wäre die Erwartung nur tautologisch und würde gerade nicht die feststellungsbedürftige Einzelheit aussagen, dass man nicht manipuliert wie die Wettangeklagten es getan haben, sich also überhaupt immer ordnungsgemäß verhält. Das muss konkretisiert werden und fällt mit der folgenden Begründung an der Oberfläche auch nicht mehr auf:30 (6) Zwar reicht die allgemeine Erwartung, der andere werde sich redlich verhalten, für die Annahme entsprechender konkludenter Erklärungen nicht aus. Abgesehen davon, dass die Vertragspartner aber ein Minimum an Redlichkeit im Rechtsverkehr, das auch verbürgt bleiben muss, voraussetzen dürfen (vgl. Cramer/Perron aaO § 263 Rn. 14/15), ist die Erwartung, dass keine vorsätzliche sittenwidrige Manipulation des Vertragsgegenstandes durch einen Vertragspartner in Rede steht, unverzichtbare Grundlage jeden Geschäftsverkehrs und deshalb zugleich miterklärter Inhalt entsprechender rechtsgeschäftlicher Erklärungen. Dem Angebot auf Abschluss eines Vertrages ist demnach in aller Regel die konkludente Erklärung zu entnehmen, dass der in Bezug genommene Vertragsgegenstand nicht vorsätzlich zum eigenen Vorteil manipuliert wird.

_____ 29 Brauneisen Das deutsche Recht des Sportwettenbetrugs de lege late und de lege ferenda, in: Württembergischer Fußballverband (Hrsg.), Das Recht der Sportwette und des Wettbetruges, Baden-Baden 2013, 43–68 (53). 30 BGHSt 51, 165, Rdz. 23 (Urt. v. 15.12.2006).

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Die subjektive Seite, die in wirtschaftlich komplexen Fällen schwierig darzustellen ist, vereinfacht man, indem Tatsachen eingeführt und festgestellt werden, die zu begreifen ganz einfach erscheint. Im Sportwettenfall wird auf diese Weise eine Erklärungsfiktion unterstellt, von der es heißt, es handele sich um eine stillschweigende Selbstverständlichkeit. Tatsächlich wirkt es selbstverständlich, dass man einen Vertragsgegenstand nicht vorsätzlich zum eigenen Vorteil manipulieren darf. Durchaus nicht selbstverständlich ist die gleichzeitige Annahme, das werde auch erklärt. Damit wird Subjektives verobjektiviert. Die Auffassung, beim Abschluss einer Sportwette erkläre der Wetter zugleich die Nichtmanipulation des sportlichen Ereignisses, wird in der Entscheidung zu einer eigenen Tatsache gemacht, an die sich dann alles andere reibungslos anschließen kann. Normativ bedeutsam ist dabei, dass und wie der Fallbereich der Norm durch Zuschreibung erweitert wird. Wenn man näher hinsieht, bemerkt man, dass die Zuschreibung subjektiver Tatmerkmale weniger durch problematische Wissensbehauptungen erfolgt, sondern eher durch die Kleinarbeitung objektiver Umstände, die dann ins Wissen des Angeklagten verschoben werden können. Das Wirtschaftsstrafrecht bietet für diese Methode vielfältige Belege. Dafür will ich abschließend Beispiele aus einem Wirtschaftsstrafverfahren vorstellen, über dessen Ergebnis – anders als im Sportwetten- oder im Mannesmannfall – im juristischen Publikum nicht gestritten worden ist. Denn man kann im tatrichterlichen Urteil nachlesen, wie erfolgreich zugeschrieben wird. Verurteilt wurde in einer Steuerstrafsache. Es gab einmal Überlegungen zur Filmförderung mit entsprechenden anlagebegünstigenden Steuervorteilen. Der deutsche Film sollte durch privates Kapital Mittel erhalten, und die Privatleute wollte man motivieren, dies zu tun, indem sie Verluste, die bei der Filmproduktion entstehen, steuermindernd geltend machen konnten. Das führte dazu, dass viele Gelder in Fonds eingezahlt worden sind, auf deren Gewinne man gar nicht hoffen musste, weil es ausgereicht hätte, eigene andere Gewinne nicht versteuern zu müssen. Der Vorteil des Fondsanlegers bestand also in erster Linie nicht in einem mehr oder weniger großen Erfolg des Fonds, sondern in der Steuerersparnis, die im Übrigen umso größer ausfällt, je weniger Erfolg der Fonds hat. Das ist aber nicht ohne weiteres rechtswidrig. Vielmehr machen solche Fondslösungen im Ansatz nur Gebrauch von der allgemein verbreiteten politischen Unfähigkeit, Geld verteilen, streuen oder gar sinnvoll verwalten zu können. Eine Subvention kann viele Wirkungen haben, nur eine ist immer gewiss: Dass auch diejenigen von ihr Gebrauch machen, die sie eigentlich nach Ansicht der Geld verteilenden Politiker nicht hätten bekommen sollen. Die große Koalition in Deutschland nach 2005 hat die steuerliche Filmförderung zwar anstößig gefunden, aber nicht ändern wollen. Statt dessen ließ man die Finanzverwaltung herausfinden, dass

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verschiedene der steuerlich anerkannten Filmfonds gar keine gewesen seien (sondern stattdessen Geldmarktfonds). So wurde es jedenfalls im Nachhinein zugeschrieben, weil das eingezahlte Geld zum überwiegenden Teil durch die Fonds geldmarktähnlich verwahrt und nur zu einem kleinen Teil, einem Fünftel der eingezahlten Summen, für Filmproduktionen verwendet worden ist. Dass man das nicht habe tun dürfen, war nicht offensichtlich. Es wird erst offensichtlich, wenn man den Investitionsvorgang darstellt wie in einem Urteil des Landgerichts München, das Freiheitsstrafen von 2 und 6 Jahren verhängte:31 (7) Der tatsächliche Geldfluss wurde so organisiert, dass der Fonds 100% der budgetierten Produktionskosten „zur Zahlung der Produktionskosten“ auf ein Konto überwies, das auf den Namen des Produktionsdienstleisters bei der schuldübernehmenden Dresdner Bank errichtet worden war. Von dort wurde durch den PDL vereinbarungsgemäß die bei der Bank anzulegende Summe (gesondert oder mit anderen Beträgen) weiter auf ein Konto überwiesen, das ebenfalls bei der schuldübernehmenden Dresdner Bank, aber auf den Namen des Lizenznehmers errichtet worden war. Als Verwendungszweck wurde „Darlehen“ bzw. „inter company loan“ angegeben, um darzustellen, dass Zahlungsgrund ein Darlehen (Inter Company Loan) zwischen PDL und LN, die jeweils zur gleichen Firmengruppe gehörten, sei. Dieses Darlehen war zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gewollt und wurde auch nicht praktiziert, was die Angeklagten auch wussten.

Auf den letzten Satz kommt es an. Er ist Kern wie Ergebnis einer Tatsachendarstellung, die den Geldverkehr zwischen unterschiedlichen Firmen als Verschiebebahnhof ein und derselben Firma unter der Verantwortung ein und derselben Angeklagten erscheinen lassen soll. Zugeschrieben wird das Fehlen ernsthaften Willens. Dem dienen die Prädikationen: „als Verwendungszweck angeben“, „vereinbarungsgemäß weiter überweisen“ wie auch: „den Geldfluss organisieren“, und dem dienen auch die beim unbefangenen Lesen nicht selbstverständlichen Abkürzungen wie PDL und LN, die indizieren, dass „Produktionsdienstleister“ wie „Leasingnehmer“ nicht selbsttätige gewerbliche Akteure, sondern nur gleichförmig abzukürzende Adressen sind. Die dabei angewendete Technik der Zuschreibung ist komplex. Zwar steht am Ende der aus der mündlichen Urteilsbegründung zitierte ebenso simple wie übliche Satz: „Beide Angeklagten wussten, dass die Angaben in den Steuererklärungen falsch waren“,32 aber dieses Wissen wird nicht einfach etwa unmittelbar behauptet. Die Begründung für Zuschreibungen, die erfolgreich sind, erfolgt mittelbar, und der Akt der Zu-

_____ 31 LG München 4 Kls 313 Js 38077/05, 13. 32 FAZ v. 13.11.2007.

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schreibung wird durch Zweitheit, d.h. durch die Einführung äußerer Umstände vorbereitet. Die Organisation des Geldflusses, mit der die Satzreihe in (4) beginnt, ist dabei wichtig, weil sie als ein System unechter Zahlungen beschrieben werden soll. Wenn das gelingt, kann die innere Tatsachenwahrheit verhältnismäßig knapp behandelt werden. Dabei wird die Kenntnis auf Augenschein reduziert, nämlich auf das Ansehen von Überweisungsträgern:33 (8) Die Einlassung des Angeklagten A, den Geldfluss vorab nicht gekannt zu haben, wird widerlegt durch die Aussage der Zeugin B, die die Fund Flow Memos vorbereitet, verschickt und gesammelt hat. Die Zeugin B gab nämlich weiter an, dass die einzutragenden Zahlen jeweils mit dem Angeklagten A und den Rechtsanwälten abgestimmt worden seien. Der Angeklagte A habe jeweils die komplette Überweisung gesehen, so habe er auch die Überweisung vom Fonds an den PDL unterschrieben. Bei VIP 3 sei das Geld für die Schuldübernahme immer aus Mitteln des PDL gekommen, der LN habe nie direkt das Geld für die Schuldübernahme bezahlt.

Die Zuschreibung wird erleichtert durch eine hauptverhandlungstypische Einlassung der Art: Ich weiß von allem nichts. Dagegen lassen sich eigentlich immer viele Einzelheiten aufbieten, die zumindest eine gewisse Kenntnis nahelegen. Hier geht die zugeschriebene Kenntnis weiter, und das Gericht benutzt das beliebteste aller strafprozessualen Beweismittel, die Zeugenaussage. Eine Zeugin habe „angegeben“, dass die Zahlen mit dem Angeklagten und den Rechtsanwälten abgestimmt worden seien. In vier Sätzen kann eine Einlassung zurückgewiesen werden, die darauf besteht, dass Geld zwischen drei unterschiedlichen Firmen transferiert worden ist, und das Ergebnis lässt sich in einen einzigen Satz fassen, der lautet:34 (9) Nach alledem ist die Kammer davon überzeugt, dass die Verantwortlichen des Fonds, d.h. die beiden Angeklagten die Zahlungsreihenfolge und den Geldfluss festgelegt haben und dies in den Vertragsverhandlungen auch nicht zur Disposition der Beteiligten stellten.

Damit wird die Schlussfolgerung aus einer insgesamt über 15 Seiten reichenden Beweiswürdigung zusammengefasst. Sie unterscheidet sich nicht mehr von jedem anderen Beweisergebnis, das äußere Tatsachen beträfe; die innere kann wie eine äußere Tatsache behandelt werden. Das Ergebnis lässt sich dann rechtlich als begriffliche Subsumtion darstellen:35

_____ 33 LG München 4 Kls 313 Js 38077/05, 33. 34 LG München 4 Kls 313 Js 38077/05, 35. 35 LG München 4 Kls 313 Js 38077/05, 71.

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(10) Steuerlich sind diese 80% kein „Aufwand“. Denn sobald die 80% bei der Bank eingehen, sind sie zugunsten des Fonds zu verzinsen und bilden dessen Guthaben, weil einzig der Fonds am Ende der Laufzeit berechtigt war, die Auszahlung zu verlangen. Eine solche Hingabe von Geld an die Bank zum Zwecke der Kapitalanlage ist keine Betriebsausgabe, weil sie schon keine „AUSGABE“ ist. Auf eine betriebliche Veranlassung kommt es daher nicht an.

Den scheinbar rein begrifflichen Charakter der „AUSGABE“ erkennt man an den Großbuchstaben. Der Tatrichter präsentiert die Feststellung in der schlichtesten Form wörtlicher Subsumtion, die nicht mehr ausgeführt werden muss: Wenn jemand Geld ausgibt, muss er es an jemand anderen weggeben. Wenn er es behält, gibt er es eben nicht aus. Das methodologische Dilemma verschwindet, es existiert gar nicht mehr und an seine Stelle scheint alternativlose Subsumtion zu treten: Wer Geld behält, gibt es nicht aus. Wenn man sich den Blick für Unterscheidungen bewahrt hat, dann fällt auf, dass eine solche Maxime nur gebildet und angewandt werden kann, wenn man sich eine Sache entsprechend zurecht schreibt. Die Rede vom konstruierten Sachverhalt, die manche für nur theoretisch halten, tritt bei diesem Schreiben oder Beschreiben eines Sachverhalts ins Zentrum der Entscheidungspraxis. Das fällt nur dann auf, wenn es am Konsens fehlt. Dennoch bleibt das Verfahren methodisch in einem Dilemma stecken, das auffällt, wenn man die Begründung aus dem Schema der eineindeutigen Subsumtion herauslöst. Eben deshalb muss man die Methode „Zuschreibung“ nennen. Zuschreibungen ersetzen Beweisverfahren durch begrifflich-subsumtive Operationen. Das geht nicht anders, wenn man durch Gerichte nach der Überzeugung des Tatrichters entscheiden lassen will. Weil das so ist, sieht sich auch jede Beweiswürdigung einer Kritik ausgesetzt, die methodisch ebenso unabweisbar ist. Diese Kritik ist ein Ansatzpunkt für eine mögliche Strafverteidigung.

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Georg Steinberg

Zurechnung und Zuschreibung im Wirtschaftsstrafrecht

Georg Steinberg Zurechnung und Zuschreibung im Wirtschaftsstrafrecht

I. Einleitung

Dürfen Gesetzgeber und Strafverfolgungsorgane Handlungen und durch sie verwirklichte Straftaten dem Einzelnen „zuschreiben“? Ist Zuschreibung per se ein illegitimer staatlicher Übergriff oder gibt es auch legitime Zuschreibung? Um die Fragen zu beantworten, werden die Begriffe Zurechnung und Zuschreibung konturiert und miteinander in Bezug gesetzt. Sodann werden anhand von Beispielen, die spezifisch wirtschaftsstrafrechtliche Problemfelder illustrieren, die Kritikpotentiale des Zuschreibungsbegriffs für dieses Rechtsgebiet herausgearbeitet.

II. Tradition und heutiges Konzept strafrechtlicher Zurechnung Samuel Pufendorf (1632–1694) ist es, der in seinen Acht Büchern des Natur- und Völkerrechts das damalige ideengeschichtliche Erbe des Zurechnungsgedankens aufgreift und fortentwickelt und dadurch eine der Neuzeit gemäße und bis in die heutigen Diskussionen hineinreichende Denktradition initiiert. Sein Ausgangspunkt ist, dass es neben dem physischen Sein moralische Seinsweisen gibt, entia moralia, dass das Physische durch das Kausalgesetz determiniert ist, der freie Wille des Menschen diesem aber moralisches Handeln möglich macht. Die freie Handlung des Menschen gehört beiden Kategorien an, sie wirkt physisch, ist aber dem frei Handelnden auch in besonderem Maß zugehörig, in vollem Sinn seine „eigene“, ihm zurechenbar, wobei Pufendorf auf den von Aristoteles (384–322 v. Chr.) in der Nikomachischen Ethik eingeführten Gedanken der imputativitas, Zurechenbarkeit, rekurriert. Wirkliche Freiheit entsteht dabei erst in Bezug auf ein Gesetz, insofern sich der Mensch frei für oder gegen normkonformes Verhalten entscheidet; auch ihren moralischen Eigenwert, ihre Qualität als entia moralia erhalten Handlungen erst durch ihr Verhältnis zu einem Gesetz (vgl. auch Paulus: „Denn die Sünde war wohl in der Welt, ehe das Gesetz kam; aber wo kein Gesetz ist, da wird Sünde nicht zugerechnet.“, Römer 5, 13).1 Ins Strafrechtliche gewendet,

_____ 1 Pufendorf De Jure Naturae et Gentium libri octo, 1672, I.; hierzu Welzel Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, 1958,

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wird diese Lehre zur Basis für die strafrichterliche Zurechnung (imputatio) und die Entfaltung eines strafrechtlichen Handlungsbegriffs, einer Lehre vom Vorsatz und verschiedener Irrtumstypen, einer Rechtfertigungs-, Teilnahme- und einer – übrigens relativen, nämlich staatsutilitaristischen – Strafzwecklehre.2 Für das aktuelle Konzept strafrechtlicher Zurechnung sei Hassemer zitiert: Diese stützt sich (im Gegensatz zum Konzept Welzels) nicht auf „sachlogische Strukturen“ im Sinne „naturrechtlicher Gewissheiten“, also von Gegebenheiten, die jeder strafrechtlichen Lehre „vorausliegen“, sondern Zurechnung ist – abhängig von und in Übereinstimmung mit der jeweiligen Rechtskultur – zu „vereinbaren“. Sie muss – als empirische Rückbindung – mit dem in hinreichendem Zusammenhang stehen, was „unter ,Zurechnung‘ alltäglich gelebt wird“, und muss diesen sozialen Zurechnungsbegriff zugleich in einen rationalisierten – normativen – Kontext einordnen. Nach der „Kultur der westlichen Moderne“ stützt sich das Verständnis von Zurechnung dabei darauf, dass der Mensch allgemein seine Handlungen beherrschen kann und dass er allgemein als handelndes Subjekt begriffen wird, also für sein konkretes Handeln in einem anspruchsvollen Sinn verantwortlich ist, also auch gemacht werden kann.3 So wie von Pufendorf vorgezeichnet, reicht das Spektrum dieser Zurechnung dogmatisch vom Begriff der Handlung und den weiteren objektiven Tatbestandselementen über den Vorsatz zu Unrecht und Schuld und schließt die strafprozessuale Manifestierung der Zurechnung (insbesondere das Beweisrecht) und auch die Strafzweckdiskussion ein.4

_____ S. 19–25, 84–86; Kobusch Pufendorfs Lehre vom moralischen Sein, in: Palladini/Hartung (Hg.), Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694–1994), 1996, S. 63 ff.; Lutterbeck Pufendorfs Unterscheidung von physischem und moralischem Sein und seine politische Theorie, in: Hüning (Hg.), Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf, 2009, S. 19 ff.; zur aristotelischen Zurechnungslehre Loening Die Zurechnungslehre des Aristoteles, 1903, zu Pufendorfs Rezeption dort S. X f. 2 Pufendorf (Fn. 1), I. 3, 5, II. 5, 6, VIII. 3; hierzu Welzel (Fn. 1), S. 84–97; Hartung Von Grotius zu Pufendorf. Die Herkunft des säkularisierten Strafrechts aus dem Kriegsrecht der Frühen Neuzeit, in: Palladini/Hartung (Fn. 1), S. 123 ff. 3 Hassemer Person, Welt und Verantwortung. Prolegomena einer Lehre von der Zurechnung im Strafrecht, in: Lüderssen (Hg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Band I: Legitimationen, 1998, S. 350 ff., 350–355. 4 Vgl. Hassemer (Fn. 3), S. 364 f.; Hruschka Verhaltensregeln und Zurechnungsregeln, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 449 ff.

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III. Einzelne strafrechtsdogmatische Zurechnungsmechanismen 1. Der personale Handlungsbegriff In seinem Lehrbuch stellt Kühl fest, dass die praktische Bedeutung des „Handlungsbegriffs als strafrechtlicher Grundkategorie“ seit den 1960er stark abgenommen hat, und beschränkt seine Erörterungen auf den Ausschluss bestimmter Fallgruppen von „Nicht-Handlungen“.5 Im hiesigen Kontext lohnen sich, da für den aktuellen Zurechnungsmechanismus und die Diskussion um die Verbandsstrafe (unten 4.) erhellend, gleichwohl die folgenden Klärungen. Hegel, der als „Vater des strafrechtlichen Handlungsbegriffs“ bezeichnet worden ist,6 formuliert: „Das Recht des Willens aber ist, in seiner Tat nur dies als seine Handlung anzuerkennen und nur an dem schuld zu haben, was […] davon in seinem Vorsatze lag. – Die Tat kann nur als Schuld des Willens zugerechnet werden“.7 Traditionsbildend ist hier, die strafrechtsdogmatische Handlungsqualität, also die Zurechenbarkeit, vom Bezug zum willentlichen Handeln abhängig zu machen (wobei historisch der auf den Erfolg gerichtete Wille, also der Vorsatz, entbehrlich wird).8 Wirkungsgeschichtlich folgen die Diskussionen um einen naturalistischen, einen finalistischen und einen sozialen Handlungsbegriff.9 Diese greift Roxin an und stellt ihnen einen „personalen“ Handlungsbegriff gegenüber: „Funktionsgerecht“ ist es, die Handlung als „Persönlichkeitsäußerung“ zu verstehen, wobei „die Erscheinungsformen der Persönlichkeitsäußerung […] ihre Gemeinsamkeit nur darin [finden], dass sie sich der seelisch-geistigen Sphäre des Menschen, seiner Persönlichkeit zurechnen lassen.“ Methodisch wird dieser Begriff generiert, indem an ein „vorstrafrechtliches Verständnis“ des Handlungsbegriffs angeknüpft wird (wodurch der Bezug zur „gewöhnlichen Lebensauffassung“ gewahrt ist), aber zugleich der „für eine erste rechtliche Vorwertung relevante Wirklichkeitsausschnitt anschaulich erfasst“ wird.10 Bezogen auf das Unterlassen, an dem sich die Tauglichkeit des Handlungsbegriffs insbesondere erweisen muss, kann Roxin konkretisieren, dass ein bestimmtes Nicht-Tun dann eine Persönlichkeitsäußerung ist, also Handlungs-

_____ 5 Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Auflage 2012, § 2, Zitat Rn. 1. 6 Radbruch Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, S. 101. 7 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 117, Hervorhebungen dort. 8 Zum Kontext Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil. Band 1, 4. Auflage 2006, § 8 Rn. 7–9. 9 Intensive Würdigung bei Roxin (Fn. 8), § 8 Rn. 10–43. 10 Roxin (Fn. 8), § 8 Rn. 44, 74, 54.

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qualität im Sinne eines strafrechtlich relevanten Unterlassens hat, wenn es einer sozialen Erwartungshaltung (zum Beispiel: bei einem Unglücksfall Hilfe zu leisten, vgl. § 323c StGB) zuwiderläuft. Roxin fährt fort: „Es gibt aber auch Fälle, vor allem im Nebenstrafrecht, in denen eine Handlungserwartung überhaupt erst durch die Rechtsvorschrift begründet wird. Wenn der Gesetzgeber (im Bereich von Wirtschaft, Handel und Gewerbe) bestimmte Melde- und Ablieferungspflichten aufstellt und den Verstoß gegen sie mit Strafe bedroht, macht erst die Statuierung des Tatbestandes das Nichtstun zu einer Unterlassung. […] Es gibt hier vor dem Tatbestand keine Handlung, vielmehr ist der Tatbestand deren Voraussetzung. […] Es entspricht der Realität menschlicher Existenz, dass Persönlichkeitsäußerungen nicht allein durch körperliche und psychische Elemente, sondern ebenso durch mannigfache Bewertungskategorien, private, soziale, ethische, aber auch rechtliche, in ihrem Sein mitbestimmt und bisweilen erst konstruiert werden. […]. Man kann von einem Handlungsbegriff nicht mehr verlangen, als dass er dies deutlich macht“,11 dass er nämlich (wie jeder andere strafrechtsdogmatische Begriff auch) einen Zurechnungsmechanismus impliziert. Hier also, im Bereich der Unterlassungsdelikte, stellt sich ein erster spezifischer Bezug zum – insoweit besonders normgeprägten – Wirtschaftsstrafrecht her. Aber auch für das aktive Tun besteht in diesem Rechtsgebiet das spezifische Charakteristikum, dass die Zurechenbarkeit im Sinne strafrechtlicher Vorwerfbarkeit erst aus dem staatlicherseits kreierten Normengeflecht resultiert. Nicht nur die Straftatqualität der Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO), sondern auch diejenige durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) kreiert der Gesetzgeber ohne zwingende soziale Erwartungshaltung. Ganz im Gegenteil legt es der zumindest ambivalente jüngste Umgang der Medien mit prominenten Steuerhinterziehern nahe, dass andere Sanktionsmechanismen (etwa nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht) dem sozialen Zurechnungsverständnis eher entsprechen würden.

2. Vorsatz und Irrtum nach materiellem Recht Auch der Vorsatz als strafrechtsdogmatische Größe fußt konstruktiv auf der psychischen Realität eines Wissens und Wollens, ist aber zugleich Resultat eines Zurechnungsprozesses, das heißt eines produktiven Inbezugsetzens von

_____ 11 Roxin (Fn. 8), § 8 Rn. 55 f.

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sozialer Realität und Norm. Nur dann kann er „funktionsgerecht“ im Roxinschen Sinn sein. Für die normative Überformung des Vorsatzbegriffs sei bezogen auf das Wissenselement etwa daran erinnert, dass in bestimmten Fällen faktischen „Nichtdarandenkens“ nach der Figur des sachgedanklichen Mitbewusstseins Vorsatz festgestellt wird.12 Das Willenselement unterliegt, bei allem Streben, die psychologische Anbindung aufrechtzuerhalten, einer noch viel stärkeren dogmatischen Überformung, wenn etwa das „Sich Abfinden“ als Wollen begriffen wird.13 Im Grenzbereich liegt wiederum eine spezifisch wirtschaftsstrafrechtliche Konstellation, nämlich der Irrtum über rechtsnormative Tatbestandsmerkmale.14 Das meint, dass sich der Täter aufgrund der Verkennung der außerstraftatbestandlichen Rechtslage über die Straftatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens irrt, dass er also beispielsweise aufgrund der Unkenntnis oder Fehlinterpretation eines Steuergesetzes den gegen ihn bestehenden Steueranspruch verkennt und demzufolge auch verkennt, dass er sich wegen Steuerhinterziehung strafbar macht. Ob dies ein vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum im Sinne von § 16 Abs. 1 StGB ist (so seit den 1950er Jahren und bis heute der BGH15) oder ein Irrtum im Sinne von § 17 StGB (so jüngste Erwägungen des BGH im Rahmen eines obiter dictum16), kann man als Zurechnungsproblem auffassen: Soll man die Strafvorschriften so interpretieren, dass bei betreffendem fahrlässigen aber vermeidbaren Irrtum dem Normadressaten das Machen falscher oder unvollständiger oder das Unterlassen von Angaben als strafbare Handlung zugerechnet wird?

3. Prozessualer Nachweis des Vorsatzes Die bisher skizzierten Zurechnungsmechanismen beziehen sich auf das materielle Strafrecht. Im Strafprozess treten zu diesen die prozessualen Zurechnungsvorgänge hinzu, indem sich das Gericht von der Verwirklichung der

_____ 12 Nur Lackner/Kühl Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Auflage 2014, § 15 Rn. 9. 13 Nur Lackner/Kühl (Fn. 12), § 15 Rn. 24 f. 14 Allgemeiner Überblick etwa bei Matt/Renzikowski/Gaede Strafgesetzbuch Kommentar, 2013, § 16 Rn. 4–16. 15 Kakaobutter-Entscheidung, BGH, 13.11.1953, 5 StR 342/53 = BGHSt 5, 90 ff., 92. 16 Winzer-Entscheidung, BGH, 8.9.2011, 1 StR 38/11, Rn. 22–24 = NZWiSt 2012, 71 ff. = wistra 2011, 465 ff. = NStZ 2012, 160 ff.; Interpretation bei Steinberg, Irrtümliche Steuerhinterziehung, in: EBS Universität für Wirtschaft und Recht (Hg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts. Symposion der EBS Law Schol am 8.12.2012, 2013, S. 79 ff.

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Strafbarkeitsvoraussetzungen durch den Angeklagten überzeugt im Sinne des § 261 StPO. Im Schuldspruch erlangt die Zurechnung ihre massivste und konkreteste Form. Komplex und daher lehrreich ist hier wiederum die Zurechnung innerer Tatsachen, vor allem die Vorsatzfeststellung. Bezogen etwa auf den Tötungsvorsatz kann man aus der Rechtsprechung eine mit ihrem materiellen Vorsatzverständnis korrelierende Vorsatzindizienlehre rekonstruieren, nach der der Vorgang der Überzeugungsbildung in begrüßenswerter Weise – partiell – rationalisiert und dadurch insoweit auch der Überprüfung in der Revision zugänglich wird.17 Der besonderen Konstellation des vorsatzausschließenden Rechtsumstandsirrtums entspricht ein spezifisches Indiziengefüge, beispielsweise zur Überzeugungsbildung hinsichtlich des Steueranspruchsvorsatzes. Die nähere Untersuchung der betreffenden Rechtsprechung zeigt, dass die Obergerichte zwar kein geschlossenes Indizienkonzept entwickelt haben (was nicht ihre Aufgabe ist), sich aber bestimmte Vorsatzindikatoren als praxisleitend herausschälen, wie etwa die Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit der Beschuldigtenaussagen, allgemeine steuerrechtliche Kenntnisse des Angeklagten, die Delegation an einen Fachmann als Gegenindiz, der allgemeine Bekanntheitsgrad der einschlägigen Regelung sowie, ob das Geschäftsgebaren des Angeklagten üblich oder ungewöhnlich, insbesondere verschleiernd ist. In Entscheidungen von Untergerichten finden sich hier mitunter inakzeptable Zurechnungsmechanismen: Wenn beispielsweise das Finanzgericht München erklärt, das Wissenselement des Steuerhinterziehungsvorsatzes sei bereits dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige „das Bewusstsein steuerlicher Relevanz der Einnahmen […] auf Grund seiner individuellen Fähigkeiten und Vorbildung entwickeln konnte,“18 so widerspricht das dem – formal auch seitens dieses Gerichts zugrundegelegten – herrschenden materiellen Vorsatzbegriff. Die Obergerichte agieren indes zuallermeist sachgerecht, indem einerseits Schutzbehauptungen des Angeklagten keine faktische Bindung erzeugen, andererseits hohe Anforderungen an den

_____ 17 Kritisch Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Puppe Nomos Kommentar Strafgesetzbuch Band 1, 4. Auflage 2013, § 15 Rn. 88–99; die hiesige These stützend Steinberg Indizwert einer höchst lebensgefährlichen Tathandlung für den Tötungsvorsatz, JZ 2010, S. 712 ff.; Steinberg/ Stam Der Tötungsvorsatz in der Revision des BGH, NStZ 2011, S. 177 ff. Gerade die (dort so genannte) „Konstruktion“ des Tötungsvorsatzes erscheint (um hier vorzugreifen) aus kriminologischer Sicht anstößig, vgl. nur Neubacher Kriminologie, 2. Auflage 2014, S. 107 f., mit Hinweis auf Untersuchungen. 18 FG München, 6.9.2006, 1 K 55/06 = EFG 2007, 161 ff., 162, Hervorhebung nur hier.

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Vorsatznachweis gestellt werden und bei alledem auch die reduzierte Prüfungsintensität der Revision beachtet wird.19

4. Verbandsstrafe Ein weiteres wirtschaftsstrafrechtliches Sonderproblem ist die Verbandsstrafe. Wer sie einführen will, muss klären, wie das Unternehmen – strafrechtsdogmatisch – handelt, schuldig wird und zu bestrafen ist. Zum Handlungsbegriff erklärt Neumann, dass, wenn man diesen normativ versteht, auch juristische Personen handeln können, da die Handlungsfähigkeit juristischer Personen „nicht im Sinne einer faktischen Disposition, sondern als Resultat normativer Zuschreibungen“ zu verstehen ist. „Eine Rechtsordnung, die die juristische Person mit Kriminalstrafe bedroht, erkennt ihr damit die Handlungsfähigkeit zu.“ Auch bezogen auf natürliche Personen ist „aus rechtlicher Sicht eine Handlung keine natürliche, sondern eine durch rechtliche und soziale Deutungsmuster konstituierte Tatsache.“ 20 Konkret wird die Handlungsfähigkeit der juristischen Person konstruiert, indem ihr das Handeln natürlicher Personen zugerechnet wird. Schuldhaft handeln kann eine juristische Person nach dem tradierten Schuldbegriff nicht; auch kann die Schuld eines anderen, als persönliche Vorwerfbarkeit, nicht zugerechnet werden. Es bedarf für die Einführung der Verbandsstrafe demnach eines modifizierten Schuldbegriffs, der ihn aus dem Kontext persönlicher, auch ethischer Vorwerfbarkeit herauslöst und die Zurechnung des realisierten Unrechts als strafrechtliche Schuld ausschließlich auf die Sozialschädlichkeit des Handelns der wirtschaftlichen Einheit stützt. Die Strafe verliert mithin ihren Charakter der Reaktion auf persönliche Schuld und wird ganz zu einem Mittel präventiver Steuerung.21 Wer Strafrechtsdogmatik als Korrelat kriminalpolitischer Zwecksetzungen begreift, die vor dem Hintergrund bestimmter anthropologischer und staatstheoretischer Konzepte sowie sozialer Realitäten formuliert werden, der kann die Verbandsstrafe für rechtspolitisch

_____ 19 Allgemein zum Problem nur Rolletschke Steuerstrafrecht, 4. Auflage 2012, Rn. 118–121; die hiesige These stützend Steinberg Der Vorsatz zur Steuerhinterziehung und sein Beweis, in: EBS Universität für Wirtschaft und Recht (Hg.), Perspektiven des Wirtschaftsrechts 2014, 2014, S. 167 ff., zum Urteil des FG München dort S. 173–177. 20 Neumann Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden – rechtstheoretische Prolegomena, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hg.), Unternehmensstrafrecht, 2012, S. 13 ff., hier S. 15–17. 21 Neumann (Fn. 20), S. 17–20.

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verfehlt, aber kaum für strukturell unimplementierbar halten. Dass es für eine geglückte Implementierung neben den genannten materiellrechtlichen Aspekten auch spezifischer strafprozessualer Zurechnungsmechanismen bedarf, schließt dies nicht aus.22

IV. „Kritische Kriminologie“ und „Zuschreibung“ Wenn die „Kritische Kriminologie“ sich traditionellerweise gegen die Privilegierung des typischen Straftäters aus der Oberschicht, also gegen die vergleichsweise zurückhaltende Verfolgung des white collar crime wendet und zugleich hervorhebt, dass Kriminalität Kriminalisierung voraussetzt, welch letztere nicht a priori nur der Kriminalitätsbekämpfung, sondern auch anderen gesellschaftlichen Zielen dienen kann, so wird es zur Aufgabe der Kriminologie, diese Mechanismen gesellschaftskritisch aufzudecken: Im Sinne des labeling approach ist eine Handlung nicht kriminell im Sinne einer immanenten Qualität der Handlung, sondern sie wird durch einen sozialen Prozess als kriminell definiert. „Die Frage nach dem Warum kriminellen Verhaltens greift folglich nicht nur zu kurz, sie enthält auch einen naturalistischen Fehlschluss […]. Das Gewordensein kriminellen Verhaltens wird allein auf der Verhaltensebene, nicht aber auf der Ebene der Zuschreibung […] zurückverfolgt […]. Dadurch erweckt die traditionelle Kriminologie den falschen Anschein, das Endprodukt des Zuschreibungsprozesses sei objektiv vorhanden.“23 Sowohl der Erlass von Strafnormen als auch deren fallbezogene Anwendung seitens der Strafverfolgungsbehörden

_____ 22 Dazu etwa Theile Das Verhältnis zwischen Zuschreibung und Fakten in einem Unternehmensstrafrecht, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Fn. 20), S. 175 ff., dessen These, dass hier theoretisch-charakteristischerweise die Entscheidung „im Wege ausgehandelter Zuschreibung“ (S. 190) erfolgt, man allerdings anzweifeln kann. Zum prozessualen Problemausschnitt und zum Unternehmensstrafrecht im Ganzen siehe die weiteren Beiträge des genannten Tagungsbandes, im Übrigen etwa überblicksartig Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht. Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Auflage 2014, Rn. 368–380. 23 Kunz Kriminologie, 6. Auflage 2011, § 15 Rn. 6–24, Zitat Rn. 17, Hervorhebung nur hier, Bezugnahme etwa auf Sack Definition von Kriminalität als politisches Handeln: der labeling approach, KrimJ 1972, S. 3 ff.; gegen den Alleingültigkeitsanspruch des labeling approach im Verhältnis zur „Ätiologie“ etwa Schneider Schöpfung aus dem Nichts. Mißverständnisse in der deutschen Rezeption des Labeling Approach und ihre Folgen im Jugendstrafrecht, MSchrKrim 1999, S. 202 ff.; Bock Gesellschaftsbezogene Theorien und Ansätze, in: Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage 2008, S. 140 ff., § 10 Rn. 65–70.

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und -gerichte ist demnach „Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses“,24 wobei das Medium dieses Prozesses die Sprache ist, Zuschreibung, sprachtheoretisch gewendet, Askription ist, wie es H. L. A. Hart formuliert: „sentences of the form ,He did it‘ have been traditionally regarded as primarily descriptive whereas their principal function is what I venture to call ascriptive, being quite litterally to ascribe responsibility for actions“; „these appear in practice and procedure of the law“.25 Wer von hier aus Fundamentalkritik an der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung und dem diese stützenden Sanktionsinstrument Strafrecht übt, wird demnach den Begriff Zuschreibung per se negativ konnotieren – und, als Alternative, womöglich „den Weg in eine neue intersubjektive Theorie der Legitimation von Entscheidungen“ suchen,26 mit der man, justiziell, das Verständigungsverfahren (§ 257c StPO) assoziieren könnte.27 Unabhängig von der theoretischen Fundamentalkritik gegen dieses Verfahren28 liegt aber außerhalb der Diskussion, dass es das herkömmliche Richten im Sinne autoritären Entscheidens ganz ersetzen könnte. Autoritäre Zuschreibung strafbaren Verhaltens seitens des Strafgesetzgebers und der Strafverfolgungsorgane als (demokratisch legitimierten) staatlichen Stellen ist, solange es überhaupt staatliches Strafen gibt, unvermeidlich. Wer dies und das Phänomen staatlichen Strafens akzeptiert und demnach – lediglich im Sinne liberal-rechtsstaatlicher Kritik – die Beseitigung nicht systembedingter Defizite fordert, der wird Zuschreibung nicht als solche negativ bewerten, sondern (nicht ontologisch, sondern strafrechtsdogmatisch oder -politisch) „falsche“ im Gegensatz zu „richtigen“ Zuschreibungsprozessen aufdecken wollen, also die Frage in den Blick nehmen, was die

_____ 24 Kunz (Fn. 23), § 15 Rn. 13–15. 25 Hart The Ascription of Responsibility and Rights, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series 49 (1948–1949), S. 171 ff., 171 f., Hervorhebung dort; zur kriminologischen Interpretation Sack Neue Perspektiven der Kriminologie, in: Dollinger/Fuchs/Klimke/Kretschmann/Legnaro (Hg.), Sack Kriminologie als Gesellschaftswissenschaft. Ausgewählte Texte, 2014, S. 164 ff., 198–201 (erstveröffentlicht 1968). 26 Vgl. Lüderssen Gebotene Zuschreibung?, in: ders. (Fn. 3), S. 307 ff., 308 f., vgl. auch S. 313–318. 27 Kritisch zu Absprachen als Basis eines neuen Zurechnungsverständnisses etwa Hassemer (Fn. 3), S. 365 f. 28 Nur Schünemann Die Absprachen im Strafverfahren. Von ihrer Gesetz- und Verfassungswidrigkeit, von der ihren Versuchungen erliegenden Praxis und vom dogmatisch gescheiterten Versuch des 4. Strafsenats des BGH, sie im geltenden Strafprozessrecht zu verankern, in: Hanack/Hilger/Mehle/Widmaier (Hg.), Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002, 2002, S. 525 ff.

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Charakteristika „richtiger“, ja „gebotener“ Zuschreibung sind.29 Der kriminologische Begriff der Zuschreibung ist demnach ebenso wertneutral wie der der Zurechnung als sein strafrechtsdogmatisches Korrelat:30 Zu fragen ist nicht, „ob in unserem Strafrecht zugerechnet werden darf oder nicht,“ sondern „wie Verfahren der Zuordnung im Strafrecht rational und gerecht organisiert werden können.“31

V. Kritikpotentiale des Zuschreibungsbegriffs Das kritische Potential des Zuschreibungsbegriffs entfaltet sich danach in drei unterschiedlichen Problemzusammenhängen, zunächst in dem der handwerklich fehlerhaften Rechtsanwendung. Falsch zugeschrieben wird, wo „eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet wird“ (vgl. § 337 Abs. 2 StPO und exemplarisch bezogen auf § 261 StPO das Urteil des FG München, oben III. 3.); richtige Zuschreibung erfordert die richtige Anwendung des materiellen und des Prozessrechts. In einem zweiten Problemzusammenhang entfaltet sich das kritische Potential bezogen auf die Frage, welche von mehreren rechtlich möglichen legislativen Weichenstellungen oder juristisch korrekten Einzelentscheidungen der Strafverfolgungsorgane rechtspolitisch eine falsche oder richtige Zuschreibung implizieren. Lüderssen weist darauf hin, dass die Bestimmung richtigen Zuschreibens in diesem Sinn unweigerlich auf „das ganze Arsenal der Strafzwecke“ zurückführt,32 wonach also vor allem der Rechtsgutsbezug und die generalpräventive Notwendigkeit und Tauglichkeit Charakteristika richtiger Zuschreibung sind.33 Fokussiert sei hier der dritte Problemzusammenhang, den Hassemer mittelbar adressiert: Im Gegensatz zu den Prozessen „alltäglicher Zurechnung“ zeich-

_____ 29 Lüderssen (Fn. 26), S. 307 f.; so auch Günther Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf der Grundlage des Verstehens, in: Lüderssen (Fn. 3), S. 319 ff., insbesondere S. 342 f.; Hassemer (Fn. 3), S. 362 f. 30 So die Begriffsverwendung insbesondere auch bei Hassemer (Fn. 3), S. 362–364. 31 Hassemer (Fn. 3), S. 369 f. 32 Lüderssen (Fn. 26), S. 309. 33 Dazu Lüderssen Präventionsorientierte Zurechnung – aktuelle Programme für die Strafverteidigung?, StV 2011, S. 377 ff.; ders., Einführung zum StV-Ringpublikationsprojekt „Prävention und Zurechnung – Präventionsorientierte Zurechnung?“, StV 2014, S. 247 ff.; und etwa Kaspar Verhältnismäßige Generalprävention und Zurechnung, StV 2014, S. 250 ff.; kritisch Hassemer (Fn. 3), S. 357.

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nen sich diejenige der Strafrechtspraxis idealerweise dadurch aus, dass sie den betroffenen Menschen rechtlichen Schutz geben können: „In diesen Formalisierungsleistungen sehe ich die Rechtfertigung von Zurechnungsverfahren im Strafrecht.“ Durch sie können die Verfahrensergebnisse „beobachtet, bewertet, kontrolliert, revidiert“ werden. „Es geht um Klarheit, Voraussehbarkeit und Korrigierbarkeit und […] Prinzipientreue“.34 Ein Zurechnungsprozess ist demnach – trotz rechtlich richtigen und rechtspolitisch nachvollziehbaren Ergebnisses – angreifbar, wenn die genannten Attribute fehlen, was sich speziell für das Wirtschaftsstrafrecht in drei Komplexe auffächern lässt. Zunächst ist die Gefahr zu nennen, dass die von den Strafnormen in Bezug genommene Regelungsmaterie überkomplex ist, so dass die Strafnormauslegung nicht mehr konsistent und bezogen auf den Einzelfall vorhersehbar gestaltbar ist; das gilt evidentermaßen für das – auch für den Fachmann im Detail nicht mehr zu überblickende – Steuerrecht und die §§ 370 f. AO, und etwa auch der Untreuetatbestand, § 266 StGB, der zentralerweise „umgekehrtes Klassenstrafrecht“ verwirklicht, sieht sich diesem Vorwurf ausgesetzt.35 Ebenso kann man beispielsweise für das Insolvenzstrafrecht eine in diesem Sinn „kriminogene Normgebung“ ausmachen.36 Das – allerdings kriminalpolitisch kaum salonfähige – kriminologische Gegenprogramm wäre die „Feststellung des Entkriminalisierungsbedarfs“ dort, wo das Strafrecht als Steuerungsmittel ungeeignet ist.37 Ein Zuschreibungsprozess ist des Weiteren angreifbar, wenn die zugrundeliegende legislative Entscheidung zu massiven Verschiebungen in der tradierten Strafrechtsdogmatik führt, der Gesetzgeber es aber versäumt, in der notwendigen Intensität die prinzipiellen Implikationen zu reflektieren, so dass im schlechtesten Fall dem Normanwender die Möglichkeit genommen ist, die Neuregelung konsistent in den Bestand zu integrieren und anzuwenden. Dieser Vorwurf ist dem Gesetzgeber etwa bezogen auf die gesetzliche Implementierung der – insbesondere in wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren geübten – Abspra-

_____ 34 Hassemer (Fn. 3), S. 370–372, Zitate S. 371. 35 Zur Diskussion nur Satzger/Schluckebier/Widmaier/Saliger Strafgesetzbuch Kommentar, 2. Auflage 2014, § 266 Rn. 25, Zitat Rn. 3. 36 Schneider Wirtschaftskriminalität, in: Göppinger (Fn. 23), S. 418 ff., § 25 Rn. 32. 37 Schneider Wirtschaftskriminalität, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminologie. Über die Erstarrung der deutschen Kriminologie zwischen atypischem Moralunternehmertum und Bedarfswissenschaft, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 61 ff., 72–74.

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chepraxis, also bezogen auf § 257c StPO zu machen. 38 Auch mit Blick auf die aktuelle legislative Diskussion um die Verbandsstrafe ist dies zu befürchten. Man kann sie einführen oder nicht; legitime Zuschreibungsprozesse können aber nur erzeugt werden in einem hinreichend durchdachten Strafrechtssystem. Ein Zuschreibungsprozess ist schließlich auch dann angreifbar, wenn der Staat die ihn motivierenden Motive verschleiert, wobei, gegensätzlich zur ursprünglichen Kritik an der Privilegierung Bessergestellter, aufgrund der besonderen Normgeprägtheit des Rechtsgebiets gerade die Kriminalisierung wirtschaftlichen Fehlverhaltens problematisch ist. Das gilt beispielsweise für die sukzessive Modifizierung der steuerstrafrechtlichen Selbstanzeige, § 371 AO, wo der Gesetzgeber (im Gefolge des BGH) die Erhöhung der Anforderungen auf das Argument gestützt hat, dass erst die – moralische – Rückkehr des Steuerhinterziehers zur Steuerehrlichkeit seine Privilegierung rechtfertige, aber zugleich, nach der seit 1.1.2015 geltenden Fassung, die Straffreiheit bei höheren Hinterziehungssummen an die um einen sehr erheblichen Prozentsatz erhöhte Rückzahlung koppelt (über 25.000.– € bis 100.000.– €: 10%; bis 1.000.000.– €: 15%; darüber: 20%, vgl. §§ 371 Abs. 2 Nr. 3, 398a Abs. 1 Nr. 2 AO), demnach also de facto die Abschöpfung als zentrales Ziel des Instituts begreift und dem Unvermögenden die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit faktisch verwehrt.39 Jenseits der diskutablen Strafbarkeit der Steuerhinterziehung und der diskutablen Strafbefreiung durch Selbstanzeige macht die inkonsistente Begründung der legislativen Entscheidung die resultierende Zuschreibung zu einer „falschen“. Allgemein büßen im Wirtschaftsstrafrecht Zuschreibungsmechanismen gerade durch die fehlgehende Moralisierung des Rechtsgebiets an Akzeptanz ein,40 stattdessen werden Neutralisierungsmechanismen gefördert, also die – moralische –

_____ 38 Zur besonderen wirtschaftsstrafrechtlichen Relevanz nur Neubacher (Fn. 17), S. 167 f., mit Nachweisen. 39 Zur Diskussion vor 2010 nur Franzen/Gast/Joecks Steuerstrafrecht mit Zoll- und Verbrauchsteuerstrafrecht, 7. Auflage 2009, § 371 Rn. 18–31; zu BGH, 20.5.2010, 1 StR 577/09, Auslöser der verschärfenden Gesetzesänderung zum 1.5.2011, nur die treffende kritische Anmerkung von Rüping JZ 2010, S. 1075 f.; kritisch zu den seit 1.1.2015 normierten Zuzahlungspflichten Rübenstahl, Selbstanzeige 3.0? – Der Entwurf des BMF eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung vom 27.8.2014 und der Regierungsentwurf vom 24.9.2014, WiJ 2014, S. 190 ff., 206–211, 214 („drakonisch“); zur seit 1.1.2015 geltenden Normfassung etwa auch Madauß Gesetzliche Klarstellungen, fortbestehende und neue Probleme der Selbstanzeige iSd § 371 AO nF – der Versuch einer Bestandsaufnahme, NZWiSt 2015, S. 41 ff. 40 Dazu etwa die Beiträge im Tagungsband Kempf/Lüderssen/Volk (Hg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral, 2010.

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Rechtfertigung des deliktischen Verhaltens durch den Täter selbst.41 Auch argumentative Redlichkeit ist also ein Charakteristikum legitimer Zuschreibung.

VI. Schluss Wenn nach Lüderssen „die sich wiederholenden negativen Klischees […] eine gewisse Plausibilität“ haben, sich aber im Ganzen zeigt, „wie dürftig-schematisch die Zuschreibungskritik verfährt“,42 so dürfte ein Grund hierfür sein, dass Zuschreibung unzutreffender Weise auch dann als ein per se kritischer Begriff verstanden wird, wenn damit keine gesellschaftliche Fundamentalkritik verbunden wird. Kriminologisch ist aber, wenn man die Idee staatlichen Strafens, realisiert durch demokratisch legitimierte Hoheitsträger, nicht im Ganzen ablehnt, Zuschreibung ein neutraler Begriff, der genau das bedeutet, was strafrechtsdogmatisch Zurechnung ist. Es ist, mit anderen Worten, wissenschaftsterminologisch unzutreffend, wenn, im juristisch-forensischen Umgangston, das Zuschreiben an sich kritisch konnotiert, nämlich als eine „falsche“ Rechtsanwendung begriffen wird. Die letztere Begriffsverwendung emotionalisiert die Kritik, anstatt sie zu rationalisieren, wie es die Differenzierung richtiger und falscher Zuschreibung leistet: Richtige Zuschreibung erfordert die handwerkliche Korrektheit des straf- und strafprozessrechtlichen Zuschreibungsprozesses auf der Basis rechtspolitisch akzeptabler und dabei dogmatisch tauglicher und transparent begründeter Normen.

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_____ 41 Vgl. nur Schneider (Fn. 36), § 25 Rn. 24, 31. 42 Lüderssen (Fn. 26), S. 307 ff., 309.

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Diskussion

Diskussion Diskussion Diskussion Cornelius Prittwitz Mir fällt meine Frage nicht leicht, weil ich einerseits sowohl Herrn Steinberg als auch Herrn Seibert zustimme, anderseits doch an einem gewissermaßen naiven Wunsch festhalten will, zwischen Zurechnung und Zuschreibung zu unterscheiden – und zwar aus ganz pragmatischen Gründen. Ich glaube, man kann kriminologisch unterscheiden zwischen Zurechnung einerseits, als dem klassischen Geschäft „gerechter“ Zurechnung durch Juristen, und Zuschreibung andererseits, womit ungerechtfertigte Zurechnung bezeichnet wird – wissend oder nicht wissend, dass das wissenschaftlich nicht koscher ist. Die negative Wertung, die Sie, Herr Steinberg, nicht vornehmen wollen, ist also in der Diskussion oft gerade gemeint und dies vielleicht auch vollkommen zu Recht. Ich frage mich, inwieweit die Überlegungen, die beide Redner vorgetragen haben, tatsächlich geeignet sind, diesen pragmatischen Umgang mit den Begriffen Zurechnung und Zuschreibung zu erschüttern. Jenseits der Erkenntnis, dass es diesen Unterschied eigentlich nicht gibt oder dass Gerichte nicht tätig werden können ohne zuzuschreiben, gibt es eine sinnvolle Unterscheidung zwischen „Zurechnung“ und „Zuschreibung“, weil es ja gesellschaftliche, auch juristische Interessen bei den Beteiligten gibt, zu unterscheiden zwischen dem, was sie akzeptieren können oder müssen – was ich in diesem naiven Sinne als Zurechnung beschreiben würde – und dem, was sie weder akzeptieren wollen, noch akzeptieren müssen – was ich naiv gesprochen als Zuschreibung, als illegitime Zuschreibung, bezeichnen möchte. Ich würde gerne beide Redner bitten, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Georg Steinberg Unbefriedigend ist es natürlich, wenn man Zuschreibung und Zurechnung gleichsetzt und dadurch das kritische Moment, den Hebelpunkt verliert. Meine Idee der Gleichsetzung soll aber dazu führen, dass man umso kritischer sein kann, weil man nicht einen emotionalen Begriff anwendet und sagt: „Ihr schreibt ja zu“, sondern indem man sagt: „Sicherlich schreibt ihr zu, das ist euer Geschäft, aber ihr schreibt eben falsch zu“ und dann ist der Weg frei um zu fragen: „Warum tut ihr das?“, und dann kann man sich auf die technischen Fragen konzentrieren, auf die verschiedenen Ebenen der Zurechnung und Zuschreibung, und kann dann konkreter einhaken, beispielsweise indem man dann eine Urteilsbegründung analysiert und genau erklärt, an welchem Punkt eine Indizienauswertung inakzeptabel ist.

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Thomas-Michael Seibert Jetzt treten wir nacheinander vor, um diesen Angriff gegen das Thema – das möglicherweise anders gemeint war – zu rechtfertigen. Ich wiederhole: Zuschreibung ist die Beobachterperspektive juristischer und soziologischer Analytiker. Justizjuristen sprechen durchweg von Feststellungen und viele Tatrichter pflegen zu sagen: „… und er wusste es doch“, „ich weiß, dass er es weiß“, aber das ist dann eine Frage, dass die angebotenen Beweismittel ausgeschöpft werden sollen, wobei die – und da kommt man nur mit Hart drüber hinweg –, alltagssprachlich nie ausgeschöpft werden. „Das ist deins“ heißt eben „Davon gehe ich mal aus“, „Das warst Du“ oder so was. Und da frage ich nicht vorher und ich erhebe normalerweise auch keinen Beweis. Zwar kann alltäglich jemand sagen „Nein, keineswegs“ und das ginge in eine ganze andere Richtung. Aber es wird ein Schlusspunkt an einer Stelle gesetzt, an der derjenige, der ihn setzt, das für vernünftig hält. Hart sagt dazu: „Alltäglich ist das immer so“. In der Justiz nun kann man nie sagen, dass eine Sache ausreichend ermittelt ist, da es immer noch weitere Beweismittel. Und an dieser Stelle streiten sich die Gericht und Verteidigung in jedem Einzelfall über die Frage, ob es illegitim war, das festzustellen bzw. die Beweisaufnahme abzubrechen. Das könnte eine nicht-gebotene Zuschreibung sein; methodisch kann man das sagen. Hierzu müsste man sich die Einzelheiten des Urteils anschauen und in eine Urteilsanalyse einsteigen. Leider tut das ja die Kriminalsoziologie gar nicht, darf ich mal sagen, oder ich kenne diese wesentlichen Untersuchungen nicht. Es ist nicht mal in den Drittmitteln finanzierten Vorhaben drin, man hat lieber größere Perspektiven. Die Strafverteidiger, die das vielleicht tun können, machen es auch nicht, weil dafür die Zeit fehlt. Also bleiben uns nur ein kleine Randbeobachtung dazu, wie Zuschreibungen geschehen. Sie geschehen nicht mehr dadurch, dass das Gericht sagt: „Du hattest die Absicht Steuern zu hinterziehen“ Das wäre schlecht. Das macht man nicht mehr. So jedenfalls nicht mehr. Lorenz Schulz Alle beiden Referenten sind ja meines Erachtens auf den Knackpunkt eingegangen, den Vorsatz. Ich finde, da spielt es eine Rolle, ob man von Zurechnung oder von Feststellung spricht – obwohl man über die Terminologie sich natürlich einigen könnte, aber das hat ja in der Strafrechtswissenschaft einen Strafrechtswissenschaftler gegeben, der es mit Hart versucht hat, nämlich Joachim Hruschka; der gesagt hat, wir sprechen von Askription. Der Vorschlag wurde ganz überwiegend zurückgewiesen. In gewisser Hinsicht auch mit Recht. Denn wenn wir beim Vorsatz von Zuschreibung und nicht von Feststellung sprechen, dann wird der Irrtum so handhabbar, wie es für die Rechtsprechung charakte-

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ristisch ist. Der Bundesgerichtshof sagt im Allgemeinen, jedenfalls im Wirtschaftsstrafrecht, der Vorsatz bezieht sich nur auf die Faktizität, die tatsächlichen Umstände. Sobald die Normativität beginnt, wird das ein § 17 StGB oder ein Subsumtionsirrtum, so dass man forensisch mit dem Vorsatz nie was Entscheidendes erreichen kann. In der Sache ist das allerdings natürlich, finde ich, relativ hanebüchen, weil der Vorsatz der letzte Ort ist, wo es noch um Feststellung geht. Und man muss – und das wird jetzt interessant – dem BGH oder der Rechtsprechung wirklich in die Presche fahren und sagen, die Feststellung bezieht sich eben auch auf Normativität. Also bei normativen Tatbestandsmerkmalen kann man beides nicht wirklich unterscheiden. Wenn man den Akteur vor Augen hat, sprich uns, kann er zwischen dem rein faktischen Anteil und dem normativen Schluss, dass z.B. jemand Arbeitgeber ist (und damit eben § 266a StGB vorliegt)kaum unterscheiden. Das ist sehr komplex, aber man muss es dem Akteur zu Gute halten, dass er in einer komplexen Welt einfach davon ausgeht, er sei Arbeitgeber oder eben nicht und der andere Arbeitnehmer oder oben freier Mitarbeiter. Sprich: Es ist, finde ich, ein großes Defizit der Justiz, dass hier einfach der Irrtum bei § 17 StGB verortet wird, um sozusagen mit der Schutzbehauptungen kurzen Prozess machen zu können. Also insofern mein Plädoyer wirklich an der Feststellung als Begriff festzuhalten und nicht alles zur Zuschreibung zu erklären. Bernd Müssig Ich möchte den Vorschlag von Ihnen, Herr Prittwitz, aufgreifen. Man kann meines Erachtens nach zwischen Zurechnung und Zuschreibung unterscheiden, nämlich indem man den Zuschreibungsbegriff als einen kritischen und polemischen Begriff betrachtet. Zurechnung und Zuschreibung sind beides Konstruktionen, beschreiben beides Konstruktionen, gesellschaftliche Konstruktionen, ebenso wie auch Urteile gesellschaftliche Konstruktionen sind und da widerspreche ich Dir, lieber Lorenz, auch gerichtliche Feststellungen sind Konstruktionen – nach bestimmten Regeln, nach bestimmten Mustern. Bei der Zurechnung, behaupten wir, wir legen normativ abgesicherte Zurechnungsmuster zu Grunde und bei der Zuschreibung würden wir sagen und deswegen polemisch und kritisch, da werden diese normativ abgesicherten Zurechnungsmuster unterlaufen durch andere Zurechnungsmuster und dann könnte man diesen Zuschreibungsbegriff als kritischen Begriff werten oder eben als polemischen Begriff. Mehr wollte ich nicht sagen. Rainer Hamm Herr Seibert, ich habe mich gemeldet als Sie in Ihrer Erwiderung auf Cornelius Prittwitz zum ersten Mal das Wort „beweisen“ verwendet haben, das nach mei-

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ner Wahrnehmung in beiden Referaten erstaunlicherweise nicht vorkam, aber als bekannt vorausgesetzt wurde. Mir geht es ähnlich wie Cornelius Prittwitz, dass ich eigentlich daran festhalten möchte, das Wort Zuschreibung einem Richter als Schimpfwort nachsagen zu dürfen, zu können, weil ich ihm anlasten möchte, im Einzelfall, dass er die Beweisanforderung an das, was das Gesetz als Tatbestandsmerkmal verlangt, nicht erfüllt hat, nicht ausgeschöpft hat, und sich damit beruhigt hat, es ist ja sowieso alles nur Zuschreibung, denn das könne man bei Herrn Seibert nachlesen, auf seiner Homepage. Sie meinen das sicher nicht so. Ich habe nur die Sorge, dass es bei den Richtern so ankommt als sei die Feststellung Zuschreibungen, Zurechnungen seien praktisch identisch ein billiger Trost, der wissenschaftlich schöner klingt als der Satz „Richten ist sowieso nur menschlich und Fehler machen alle, also kommt es im Einzelnen nicht darauf an“. Wir hatten ja mal einen gemeinsamen Fall, in dem wir uns nach Herzenslust darüber gestritten haben, welche Beweisanforderung zu stellen sind, an den Nachweis, oder die Feststellung einer Kausalität. Das war der berühmte Holzschutzmittel-Fall und ich mache inzwischen die Beobachtung, dass sowohl die Rechtspolitik in der Gesetzgebung, als auch die Rechtsprechung bei vergleichbarem – erschrecken Sie nicht, wenn ich es für vergleichbar halte – Sachverhalt sagt, der Nachweis der Kausalität ist ein bisschen schwierig, ich weiche einfach aus auf den Versuchstatbestand. Das was der Bundesgerichtshof in diesem Jahr im Falle der sog. „Abo-Fallen“ entschieden hat, bei dem er es für unbedenklich gehalten hat, dass das massenhafte Anbieten über das Internet von Leistungen, bei denen man darüber streiten kann, ob sie was wert waren, ob sie die 9,99 € wert waren, die jemand dann in Rechnung gestellt bekommen hat, nachdem er angeklickt hat, er wolle das abonnieren und möglicherweise nicht gemerkt hat, dass er was abonniert hat, was Geld kostet, einen Routenplaner, sondern es darum ging, sondern er vielleicht geglaubt hat, das sei kostenlos – und viele werden das in der Tat geglaubt haben. Das Landgericht Frankfurt war der Meinung ist es viel zu aufwendig jetzt Millionen von Internetusern zu vernehmen über die Frage, ob eine Täuschungshandlung bei Ihnen zu einem Irrtum und letztlich zu einem Vermögensschaden geführt hat, also hat man sich diese Mühe gar nicht gemacht und hat schlicht wegen Versuch bestraft. Der Holzschutzmittel-Fall würde vermutlich heute angeklagt werden wegen versuchter Körperverletzung an NN und diesen NN-Fälle, Ulrich Schroth hat das neulich die Opfer-Wahlfeststellung genannt, diese Erfolgsdelikte an NN, bei denen nie herauskommt wen es getroffen hat und wer vielleicht nicht gemerkt hat, dass er ein kostenpflichtiges Abonnement bestellt hat – wir finden die Opfer gar nicht, wir stellen auch die Kausalität nicht fest, sondern wir sagen, das Ganze war darauf angelegt, dass ein kleiner Prozentsatz – schade, dass Herr Fischer noch nicht da ist, er hat die Entschei-

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dung gemacht – bei einem gewissen Prozentsatz, den wir auch schützen müssen, im Sinne des Verbraucherschutzes über den Betrugstatbestand, bei einem gewissen Prozentsatz wird das schon dazu geführt haben und sollte dazu führen und das es dann nicht dazu gekommen ist, ist nicht die Feststellung, sondern die Feststellung ist die, es lohnt prozess-ökonomisch nicht und es ist völlig aussichtlos die Erfolgsfälle überhaupt dazuweisen. Was will ich damit sagen? Es gibt völlig neue Formen von – und da nenne ich jetzt wieder das Wort Zuschreibung – eines Betrugsvorsatzes und einer potentiellen Schädigung, die jetzt schon ausreicht solche Fälle unter den versuchten Betrug zu subsumieren. Was man der Sache nach damit geschaffen hat, ist ein durch Rechtsbeugung erzeugtes abstraktes Gefährdungsdelikt, das man, wenn es der Gesetzgeber ins Gesetz geschrieben hätte überschreiben müsste „Versuch eines Betruges durch irreführende Anpreisungen im Internet“. Aber ich meine, wir sollten den Versuch unternehmen, zwischen der legitimen Zuschreibung gleich Zurechnung und eindeutigem Nachweis einerseits und der illegitimen Zuschreibung per Tröste-mich-darüber-dass-Irren-halt-menschlich-ist und richterliches Irren halt hingenommen werden muss dazwischen zu unterscheiden. Matthias Jahn Ich sehe im Moment keine weiteren Meldungen und würde deshalb mit Blick auf die Frage von Cornelius Prittwitz vorschlagen, diese Meldung einholen, dann den beiden Referenten die Gelegenheit geben, auf die drei vorherigen Wortmeldungen zu replizieren und mit Blick auf das bereitstehende Essen dieses Podium des Vormittags zu schließen. Cornelius Prittwitz Ich werde mich wirklich ganz kurz fassen. Im Anschluss an Rainer Hamm und Herrn Müssig: Wenn man sich diese drei Begriffe „Feststellung“, „Zurechnung“ und „Zuschreibung“ anschaut, dann merkt man sehr schnell, wer mit welchen Gewissheitsverlusten wie umgehen kann. Mit Gewissheitsverlusten, die dadurch entstehen, dass Feststellung teilersetzt wird durch Zurechnung, und Zurechnung teilersetzt wird durch Zuschreibung. Das nichtjuristische Publikum (und nicht wenige Juristen) ist schon überfordert von den Gewissheitsverlusten, die damit verbunden sind, anzuerkennen, dass was jeder von uns Feststellung nennt, eigentlich Zurechnung ist. Aber wenn jetzt den Juristen noch gesagt wird, dass Zuschreibung nichts Unanständiges ist, dann werden auch die Gewissheitsverluste für Juristen entweder unerträglich oder, was schlimmer wäre, und worauf Du hingewiesen hast, Rainer [Hamm], dass man sagt: so ist es eben, wir können nicht anders, wir können es nicht besser.

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Thomas-Michael Seibert Ich muss mich kurz fassen, und ich habe es nach Möglichkeit immer vermieden auf Angelegenheiten einzugehen, an denen ich als Akteur beteiligt war. Methodisch lautet meine These in einem Satz: Zurechnung, Zuschreibung, Feststellungen sind unterschiedliche Ansichten desselben Schuhs. Und nun kann man zum Unternehmen der Rechtssemiotik, zu der die Rechtsrhetorik gehört, weil sie die sedimentierte, historische Pragmatik ist, natürlich kritisch stehen. Es gibt unter den Kollegen in der Strafrechtsprechung die Vorstellung eines juristischen Beweises, die so geht, als sei er ein naturwissenschaftlicher. Das, denke ich, ist in keinem Fall methodisch aufzuweisen. Der Beweis, Herr Hamm, fragt an dieser Stelle: bin ich als Richter bereit, willens und in der Lage zu sagen „diese Sache ist seine“. Und das Beweisverfahren ist eine Prozedur, die es ermöglicht, diese Frage zu beantworten. Im Alltag gibt es so etwas nicht. Das ist eine Leistung des Justizdispositives, die im Übrigen nicht verschließen sollte, dass es gerechtfertigte und ungerechtfertigte Endpunkte solcher Beweisaufnahmen, Feststellungen und Verfahren gibt. Wenn man das jetzt kritisch anmerkt, kann man sagen, dass das keiner von uns gesagt hat. Ich würde es weiter reichen und sagen: „Ich sehe es bei niemanden in irgendeiner methodisch brauchbaren Weise dargelegt“. Wir diskutieren über Einzelfälle ich versuche, diese Einzelfälle jeweils ernst zu nehmen. Ich denke, dass man den Verteidiger eines Angeklagten, der den Tatnachweis nicht akzeptiert, nicht davon überzeugen wird, dass es doch einer war. Diese Idee der Überzeugung – ach ja, dann sehe ich, es ist doch anders – die entstammt überhaupt einer idealistischen Diskurs-Philosophie, die man in den Justiz nicht aufrechterhalten kann. Das ist ein Stück, an dem man sich in jeder Einzelphase fragen muss, ob es gerechtfertigt ist abzubrechen oder nicht. Manche hören damit ein bisschen früh auf – das sehe ich auch so. Ich nehme auch keinen Anstoß an der Reservierung des Begriffs Feststellung – oder wie meine – Zuschreibung. Im Zweifelsfall haben Sie immer recht. Über den Abo-Fall unterhalten wir uns vielleicht beim Mittagessen, da sage ich jetzt nichts mehr dazu. Ich wiederhole nochmal: Wir haben kein Schlusswort anzubieten, das führt in das Zentrum einer Diskussion, die vielleicht noch geführt wird. Mal sehen. Georg Steinberg Die Diskussionsbeiträge waren für mich besonders lehrreich – herzlichen Dank dafür –, weil sie sämtlich an der negativen Konnotation des Begriffs „Zuschreibung“ festhalten wollen. Das zeigt zunächst, wie sehr dieser Begriff überhaupt präsent ist in der kritischen Reflexion gerichtlicher Praktiken und wie sehr er – offenbar allgemein – als kritischer Begriff verstanden wird. Ich möchte trotzdem an meiner Position festhalten und mit dem folgenden Argument noch einmal

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für sie werben: Wissenschaftstheoretisch kennzeichnet sich die Kriminologie dadurch, dass sie nicht „erklärt“ im Sinne der Aufdeckung objektiver Gegebenheiten, sondern dass sie zu „verstehen“ versucht. Denn ihr Objekt ist das menschliche Handeln, das sich konstituiert aus einer bestimmten Sinnhaftigkeit, was dann auch für die sozialen Zusammenhänge als Ganzes gilt. Diese Sinnhaftigkeit trägt aber der Betrachter in den Gegenstand hinein. Das heißt: Der Betrachter rekonstruiert Wirklichkeit, der Kriminologie rekonstruiert Kriminalität. Und zwar rekonstruiert er die beiden Elemente, die Kriminalität bewirken, nämlich eine spezifische Handlung und diejenigen Zuschreibungsprozesse (seitens Strafgesetzgeber und Strafverfolgungsorganen), nach denen diese Handlung als kriminell bezeichnet wird. Kriminologisch gesehen ist also alles Handeln auch des Richters Zuschreibung. Nun entgegnen Sie, dass diese wissenschaftliche Terminologie nicht in die pragmatisch-praktische Diskussion um richterliche Fehlurteile übertragen werden muss und auch nicht sollte, insbesondere, ich knüpfe hier an Ihren Redebeitrag an, lieber Herr Prittwitz, weil die implizierten Gewissheitsverluste Unsicherheiten oder auch Fehlrechtfertigungen erzeugen könnten. Ich möchte dem entgegenhalten, dass die Selbstsicherheit, mit der ein Richter sagt: „Ich habe dies oder jenes festgestellt“, in der sozialen Wahrnehmung schädlicher sein dürfte als seine Feststellung: „Aufgrund der bestehenden Indizienlage gehe ich (subjektiv) von folgendem aus: „… Denn es ist mein Geschäft, solche Zuschreibungsvorgänge vorzunehmen.“ In diesem Zusammenhang noch eine kurze Bemerkung zur Vorsatzfeststellung. In kriminologischen Lehrbüchern wird sie oftmals bemüht als Beispiel zu zeigen, was Zuschreibung ist. Ich halte das für irreführend, da es sich um einen Sonderfall der Zuschreibung handelt: Alles wird vor Gericht zugeschrieben; auch die Interpretation eines Messers als „gefährliches Werkzeug“ ist eine Zuschreibung, keine Feststellung (was das schlechtgewählte Beispiel suggeriert). Der Vorsatz ist nur besonders schwierig zuzuschreiben. Ich bleibe dabei: Der Vorwurf, „Sie schreiben zu“ emotionalisiert die Diskussion. Stattdessen sollte sich die Kritik darauf konzentrieren zu begründen, warum „falsch“ oder „richtig“ zugeschrieben wird.

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Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung – generelle Aspekte

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Einleitung

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Einleitung Cornelius Prittwitz Einleitung Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine wichtige Person fehlt noch und deswegen fange ich anders an, als ich anfangen wollte. Ich habe ja heute Vormittag mein Redekontingent schon weidlich genutzt, muss mich also deswegen kurz halten und werde mich auch kurz halten. Ich werde auch ganz darauf verzichten, unsere Redner des Nachmittags vorzustellen – so schön diese Tradition auch ist – weil ich der Überzeugung anhänge, dass Redner sich durch ihre Rede vorstellen, was für sie natürlich eine erhöhte Verantwortung bedeutet. Ich will also ganz kurz etwas zum Thema sagen und dann in der Hoffnung, dass Klaus Lüderssen gleich kommt, ein Wort zu eben jenem. Zum Strafrecht gehören Täter und Opfer – oder wie Matthias Jahn zu Recht besser sagt, Täter und Verletzte einer Straftat. Im Strafprozess sind das mögliche Täter – genannt Beschuldigte – und manchmal sichere, manchmal auch nur möglicherweise Tatverletzte. Es gibt ja Delikte, bei denen erst am Ende der Verhandlung feststeht, wer der Täter und wer der Verletzte ist, oder ob nicht beide Täter sind. Das ist schon im allgemeinen Strafrecht so. Die meisten von Ihnen dürften in der Vorlesung Strafrecht BT den Sachverhalt genossen haben – ich glaube es war BGHSt 34, 199 – in dem jemand sehr viel Geld damit verdient hat, dass er ein Mittel angepriesen hat, das dem Verbraucher gleichzeitig verspricht, innerhalb von 10 Tagen 20 Kilo abzunehmen, die verlorenen Haare wieder zu gewinnen und weitere Schönheitseffekte zu erzielen. Die Besonderheit dieses Falles war, dass in der Werbung – sogar relativ prominent, also keineswegs erst im Kleingedruckten – stand: „Geld-zurück-Garantie“. Und die Frage war dementsprechend, ob die Menschen, die die Mittel appliziert haben, von denen man mit gutem Grund vermuten konnte, dass die gewünschten Effekte nicht eingetreten sind, da es sich um völlig effektlose Substanzen handelte, ob diese Menschen betrogen wurden. Einige wenige – weniger als 10% – haben das Geld zurückgefordert und auch zurückbekommen. Andere haben, vielleicht aus Gründen der Scham, nichts zurückgefordert, fühlten sich aber gleichwohl betrogen. Und die Frage tauchte auf und gehört seitdem zu den strittigen aber unterhaltsamen Fragen, ob das nun strafwürdige Dummheit der Opfer doch strafbarer Betrug der Täter ist. All diese Fragen, würde ich meinen, stellen sich im Wirtschaftsstrafrecht mindestens auch, in manchen Kontexten sogar ganz besonders stark, weil das typische Gefälle zwischen dem listigen Betrüger und dem sehr oft eben etwas einfältigen Betrugsopfer im Wirtschaftsstrafrecht keineswegs immer so eindeutig ist, da mehr und mehr Transaktionen auf Augenhöhe stattfinden, so dass die Frage, wie viel Mitverantwortung das Opfer hat,

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sich mit einer anderen Dringlichkeit stellt. Es gibt auch noch einen anderen Zusammenhang, der mir sofort eingefallen ist, als ich nachdachte über das Thema, das ich moderieren darf. Es hat mit einem Fall zu tun, der heute schon eine gewisse Rolle gespielt hat, weil Herr M. in Untersuchungshaft sitzt. Man überlege einmal, wie es wäre, wenn er nicht Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft gewesen wäre, sondern leitender Manager eines Familienunternehmens. Ein Familienunternehmen, bei dem der Patriarch oder sein weibliches Gegenstück alles abgesegnet hätte, was der glänzende Generaldirektor so macht. Die also gesagt hätten, wann und wohin der fliegt, interessiert nicht, das ist alles im Interesse der Firma. Es hätte gar keine Strafanzeige gegeben, weil niemand sich geschädigt gefühlt hätte. Herr M. aber war Vorstandsvorsitzender einer Gesellschaftsform, die nicht ohne Grund im romanischen Sprachraum societé anonyme heißt. Anonyme Aktionäre, die nicht wussten, dass er fliegt, wie er fliegt, wie oft er fliegt, was er da tut oder nicht tut – anders natürlich als das ganze persönliche Umfeld um Herrn Middelhoff herum, die, da bin ich bin ganz sicher, all das wussten. Und diese anonymen Aktionäre fühlen sich, wenn die ganze Sache den Bach herunter gegangen ist, natürlich stark geschädigt, weil sie ja Aktien haben. Diese verdünnten Opfer, diese anonymen Opfer werfen nochmal auch ein ganz anderes Schlaglicht auf die Frage der Opfermitverantwortung und ich bin sehr froh, dass unter der Verantwortung – vor allem, wenn ich das so sagen darf, ohne verletzend zu werden – der „Altveranstalter“, dieses Thema wirklich in den Vordergrund gehoben wurde, weil mir scheint, dass im Wirtschaftsstrafrecht bisher, das gilt auch für die Wirtschaftskriminologie, die sowieso zu wenig ausgeprägt ist, dieses Thema der Opfermitverantwortung, was im Wirtschaftsstrafrecht eine besondere Rolle spielen sollte, nicht die Rolle spielt, und ich hoffe, dass wir das heute nachholen können.

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Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung: Wirtschaftskriminologische Überlegungen Ralf Kölbel Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung

1. Einleitung Wenn die hier zu bearbeitende Thematik darin besteht, die dem Opfer zugerechnete (oder zugeschriebene) Mitverantwortung für wirtschaftsdeliktische Ereignisse in allgemeiner Form zu problematisieren, so könnte man an sich eine Darstellung der einschlägigen Grundkonstellationen und der darauf bezogenen dogmatischen Aspekte erwarten. Ich habe die Aufgabenstellung indes etwas anders interpretiert, nämlich als Auftrag, Opfermitverantwortung bei der Wirtschaftsdelinquenz als soziales Deutungsmuster zu rekonstruieren. Daher werde ich im Folgenden den kriminologischen Forschungs- und Meinungsstand zu einem spezifischen Opferstereotyp referieren, sodann danach fragen, ob und wie ihn die Betrugsjudikatur reproduziert, um mit einer knappen, ebenfalls kriminologisch grundierten Stellungnahme zu eben dieser Rechtsprechung zu schließen. Erwarten lassen sich hiervon womöglich Anstöße für die juristische Diskussion, nicht aber – dies liegt in der Natur kriminologischer Forschung – trennscharfe strafrechtliche Kriterien.

2. Wirtschaftsdelinquenz und die nicht-ideale Viktimisierung 2.1. Opferstereotypen Mit Blick auf die soziale Konstruktion und Verarbeitung von Wirtschaftsdelikten konstatierte die Kriminologie lange Zeit eine auffällige moralische Ambiguität. Diese Zweideutigkeit kommt bereits darin zum Ausdruck, dass sozialschädliche Aktivitätsformen insbesondere im Bereich der korporativen Delinquenz (anders als allgemeine Kriminalität) juristisch oft nicht als „Crimes“ bezeichnet und definiert werden: Das Recht gestaltet sie vielfach als Verwaltungsunrecht aus (und nicht als Straftaten), macht sie zum Gegenstand von administrativer Regulierung (und nicht von Strafverfolgung) und beauftragt damit primär berufsständige Organisationen oder Fachbehörden (anstelle der Strafverfolgungsinstitu-

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tionen).1 Auch die staatliche Verfolgungsintensität gilt als geringer – sei es, weil Aufdeckung und Nachweis der fraglichen Ereignisse strukturbedingt erschwert sind, 2 weil die administrativen Institutionen vielfach einen kooperativkonzilianten Enforcement-Stil pflegen und mehr mit Überzeugen, Beratung und Anreizen als mit Sanktionen operieren (Compliance-Modell),3 oder weil sich auch im strafrechtlichen Bereich eine Tendenz zu größerer Sanktionsmilde bemerkbar macht.4 Auch in der allgemeinen sozialen Wahrnehmung außerhalb des Rechtssystems äußert sich eine solche Normalisierungs- und Neutralisierungstendenz. Das „Publikum“ deutet wirtschaftsdeliktisches Handeln nämlich vielfach als Fehlentscheidung, Unfall, unanständiges Wettbewerbsgebaren usw.5 –

_____ 1 Dies gilt auch in Rechtsordnungen, die eine Unternehmensstrafbarkeit prinzipiell kennen. Zu den genannten Unterschieden vgl. Croall/Hazel Understanding White Collar Crime, 2. Aufl., Buckingham 2007, 102 ff. 2 Dazu anhand der Bedingungen von fraud detection empirisch Zingales/Dyck/Morse Who blows the whistle on corporate fraud. Law and Economics Workshop Berkeley University 10, 2007, 11 ff.; zum Problem vgl. ferner Shover/Hochstetler Choosing White-Collar Crime, Cambridge 2007, 98 ff.; zu Überführungshürden Theile Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren. Systemtheoretische Überlegungen zum Regulierungspotential des Strafrechts, Tübingen 2009, 128 ff. 3 Dazu den Überblick m.w.N. bei Kölbel Criminal Compliance – ein Missverständnis des Strafrechts?, ZStW 125 (2013), 499–535 (518 ff.). Kennzeichnend hierfür ist bspw. auch, dass die Krankenkassen bei Abrechnungsverstößen (jedenfalls jenen der Krankenhäuser) trotz ihrer Kontrollfunktion die Strafverfolgungsbehörden ausgesprochen zurückhaltend einschalten (dazu die Befunde bei Kölbel Zur strafrechtlichen (Ir-)Relevanz von Abrechnungsverstößen, in: ders. (Hrsg.): Abrechnungsverstöße in der stationären medizinischen Versorgung, Stuttgart 2014, 175–195, 187 ff.). 4 Befunde zu entsprechend ungleichen Strafzumessungspraktiken gegenüber Individualtätern allgemeiner und Wirtschaftskriminalität bei Hagan/Parker White-collar crime and punishment: The class structure and legal sanctioning of securities violations, in: American Sociological Review 50 (1985), 302–316; Tillman/Pontell Is justice „collar-blind“? Punishing medicaid provider fraud, in: Criminology 30, 1992, 547–574; Van Slyke/Bales A contemporary study of the decision to incarcerate white-collar and street property offenders, in: Punishment & Society 14 (2012), 217–246, 232 ff.; Marriott Justice and the justice system: A comparison of tax evasion and welfare fraud in Australia and New Zealand, in: Griffith Law Review 22 (2013), 403–429; vgl. auch Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 31 Rn. 67 f.; Reese Großverbrechen und kriminologische Konzepte, Münster 2004, 51 ff.; zu den gleichermaßen vorhandenen gegenläufigen Befunden vgl. neben Fn. 25 die Übersicht bei Simpson White-collar crime: Review of recent developments and promising directions for future research, in: Annual Review of Sociology 39 (2013), 309–331 (321 ff.). 5 Whyte Victims of corporate crime, in: Walklate, Sandra (Hrsg.): Handbook of Victims and Victimology, Cullompton 2007, 446–463, 453 f. – Dafür, dass diese sozialen Deutungsmuster auch von Teilen der Wissenschaft geteilt werden (wenngleich man hier üblicherweise von „Systemversagen” spricht), sind gerade die ECLE-Tagungen beredter Beweis.

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also nicht als „richtiges Verbrechen“ oder jedenfalls als weniger schwerwiegendes und auch nicht unbedingt bestrafungsbedürftiges Ereignis.6 All dies wird in einem Zusammenhang mit der spezifischen gesellschaftlichen Integration der individuellen und korporativen Akteure gesehen, die dank ihrer herausgehobenen Position über Definitions- oder jedenfalls Verteidigungsmacht verfügen und denen zudem eine prinzipielle Grundkonformität zugutegehalten wird. Gleichfalls bedeutsam ist hierfür gewiss auch die Opferlosigkeit oder Opferunsichtbarkeit vieler Wirtschaftsdelikte.7 Wo es nun indes eindeutig identifizierbare Tatopfer gibt, nehmen diese wiederum einen merkwürdig widersprüchlichen Status ein, der ebenso mit der Zweideutigkeit der White Collar-Crimes korrespondiert, wie er andererseits mit der gesellschaftlichen Stellung des allgemeinen Verbrechensopfers kontrastiert. Während es dort das „richtige Opfer“ gibt, das ein Objekt von gesellschaftlicher Empathie, Solidarität und Zuwendung ist,8 verhielt sich dies bei wirtschaftsdeliktisch Geschädigten jedenfalls lange Zeit anders. Man kann das daran erkennen, dass die White Collar-Viktimisierung weder in die Zielgruppen der an sich überbordenden Opferforschung9 noch in die der Opferschutzinstitutio-

_____ 6 Vgl. etwa Rossi/Waite/Bose/Berk The seriousness of crimes: Normative structure and individual differences, in: American Sociological Review 39 (1974), 224–237. Aus späteren USBefragungen geht freilich hervor, dass das gesellschaftliche Desinteresse an Wirtschaftsdelinquenz und deren Toleranz seit den 1970er Jahren kontinuierlich schwanden (jedenfalls bei einem Teil der Wirtschaftsdelikte). Vgl. dazu stellvertretend Cullen/Mathers/Clark/Cullen Public support for punishing white-collar crime, Journal of Criminal Justice 11 (1983), 481–493 sowie zusammenfassend m.w.N. Cullen/Hartman/Jonson Bad guys: Why the public supports punishing white-collar offenders, Crime Law and Social Change 51 (2009), 31–44, 36 f. 7 In der Regel bemerkt bspw. niemand die eigene Schädigung beim Kauf von Produkten, deren Hersteller in Preisabsprachen verstrickt sind oder Produktstandards missachtet haben. Zum Problem Tombs/Williams Corporate crime and its victims, in: Stout, Brian/Yates, Joe/ Williams, Brian (Hrsg.): Applied Criminology, Los Angeles u.a. 2008, 170–185, 177 f. 8 Dazu Kölbel/Bork Sekundäre Viktimisierung als Legitimationsformel, Berlin 2012, 85 ff. mit den dort zitierten Arbeiten; ferner Barton Strafrechtspflege und Kriminalpolitik in der viktimären Gesellschaft, in: ders./Kölbel, Ralf (Hrsg.): Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, Baden-Baden 2012, S. 111–137. 9 Ebenso wie in den gängigen englischsprachigen Lehrbüchern taucht im jüngsten deutschsprachigen Einführungswerk (Sautner Viktimologie, Wien 2014) das Opfer von Wirtschaftsdelikten in keiner Weise auf. Auch in der empirisch-viktimologischen Forschung führen sie ein Schattendasein. Dazu und zu den Gründen vgl. Shichor Victimology and the victims of whitecollar crime, in: Schwind, Hans-Dieter/Kube, Edwin/Kühne, Hans-Heiner (Hrsg.): Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Festschrift für Hans Joachim Schneider, Berlin/New York 1998, 331–351.

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nen 10 involviert war und dass gesellschaftlich ihr gegenüber vielfach Desinteresse bestand. Dies erklärt sich teilweise schon durch die Gesichtslosigkeit der betroffenen Individuen, die bei vielen „fraud schemes“ Teil einer größeren geschädigten Anleger- oder Konsumentengruppe sind und in ihr gleichsam untergehen.11 Darüber hinaus kam in der sozialen Bewertung allerdings auch ein charakteristisches „blaming“ zum Tragen, das gerade den Opfern von Wirtschaftsdelikten eine typische Mitschuld zuweist.12 Die Verbreitung solcher Deutungsformen wird nicht zuletzt durch den Umstand belegt, dass die Verantwortungszuschreibung selbst von den Betroffenen, die sich nach der Tat oft charakteristischerweise erhebliche Selbstvorwürfe machen, regelmäßig geteilt wird.13 Die in Betrugsfällen sehr niedrige Anzeigequote14 geht auch darauf zurück, dass die Betroffenen wegen ihrer Mitschuldgefühle (sowie aus Scham und Zurückweisungsangst) von einer Strafanzeige oftmals absehen.15 Nicht wenige

_____ 10 Auch diese sind auf andere Geschädigtengruppen fokussiert. Vgl. Shichor (Fn. 9), 345; Croall Victims of white-collar and corporate crime, in: Davies, Pamela/Francis, Peter/Greer, Chris (Hrsg.): Victims, Crime and Society, Los Angeles u.a. 2007, 78–108, 90. Für den White Collar-Bereich „zuständig” sind eher die Verbraucher- oder Anlegerschutzverbände. 11 Dodge Woman and White-Collar Crime, Upper Saddle River 2009, 100. 12 Croall (Fn. 10), 83. Näher etwa Tombs/Whyte Safety Crimes, Cullompton 2007, 74 ff. 13 Vgl. die Opferbefragungen von Shover/Fox/Mills Long-term consequences of victimization by white-collar crime, in: Justice Quarterly 11 (1994), 75–98, 92 und Mason/Benson The effect of social support on fraud victims´reporting behavior, in: Justice Quarterly 13 (1996), 511–524, 519 f.; dazu, dass Selbstvorwürfe zu den typischen psychischen Folgebelastungen bei Betrugsopfern zählen, vgl. auch Croall (Fn. 10), 90; Shichor (Fn. 9), 344. In welchem Grade das Mitschuldgefühl (neben dem Vertrauensbruch, den psychischen Aspekten finanzieller Verluste usw.) zu den gelegentlich als oft ganz erheblich festgestellten, psychiatrisch relevanten Tatfolgen bei Betrugsopfern (dazu Ganzini/McFarland/Bloom Victims of fraud: comparing victims of white collar and violent crime, in: The Bulletin of the American Academy of Psychiatry and the Law, 18 (1990), 55–63) beiträgt, ist unerforscht. 14 Da hierfür auch die Opfermerkmale und Tatformen einflussreich sind, schwanken die Nicht-Anzeigequoten in den einschlägigen Surveys zwischen 33% und 80% (vgl. den Forschungsüberblick bei Deevy/Lucich/Beals Scams, Schemes and Swindels, Stanford 2012, 14 m.w.N.). 15 Mason/Benson (Fn. 13), aaO; ferner die Befragungsdaten bei Kerley/Copes Personal fraud victims and their official responses to victimization, in: Journal of Police and Criminal Psychology 17 (2002), 19–35; Liebel Psychologie von Betrugsopfern und die Ideologie der Selbstverantwortlichkeit, in: forum kriminalprävention 3/2004, 39–42 (41); Ross/Smith, Risk factors for advance fee fraud victimization, in Trends & Issues in Crime and Criminal Justice 420 (2011), 1–6 (5); vgl. auch Copes/Kerley/Mason/van Wyk Reporting behavior of fraud victims and Black’s theory of law: An Empirical Assessment, in: Justice Quarterly 18 (2001), 343–363, 359 f.

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Tatopfer, deren Schädigung amtlich bekannt ist, bestreiten ihre Verluste gegenüber den Behörden sogar explizit.16 Vom idealen Opfer hoben sich die wirtschaftsdeliktisch Geschädigten also augenscheinlich ab. Das ideale Opfer ist respektabel, schutzbedürftig, dem Täter unterlegen und wurde von diesem ohne eigene Schuld verletzt. Diese Merkmale sorgen für seine Identifizierungsfähigkeit; hierdurch kann es im sozialen Diskurs legitimerweise als Opfer gelten und Aufmerksamkeit, Sympathie sowie Hilfe beanspruchen („deserving victim“).17 Bei den Opfern von Finanzbetrugsaktivitäten wird dagegen angenommen, dass sie sich auf die fraglichen Geschäfte aus fehlender Sorgfalt oder sehenden Auges oder aus Gier eingelassen haben. Sie erhalten daher wenig Mitgefühl und Beistand.18 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass jeder selbst dafür zuständig ist, worauf er oder sie sich einlässt.19 Aber auch wer Waren ungeprüft oder allein preisversessen kauft, wem betriebliche Sicherheitsnormen eine ungeliebte Last sind oder wer sich partout in wunscherfüllende operative Behandlungen begibt, ist „zunächst einmal selber schuld“, wenn ihm dabei ein Schaden entsteht – ist also als ein „undeserving victim“.20 Das gilt ganz besonders für korporative Opfer (oder die Sachwalter kollektiver Rechtsgüter), weil sie alles andere als macht- oder hilflos und an ihrer Tatbetroffenheit unschuldig erscheinen.21 Die kriminalpolitische Instrumentalisierung des unschuldigen Opfers, die mit dessen Schutzbedarf eine fortwährende punitive Strafrechtsausdehnung gerechtfertigt hat, 22 findet im wirtschaftsdeliktischen Feld daher keine Anknüpfungsgrundlage, was sich in einer hier neutral-risikoregulierenden und weniger expressiv-opferfokussierten Regulierungsstrategie niederschlägt.23

_____ 16 Die dahingehenden Befunde m.w.N. zusammenfassend Deevy u.a. (Fn. 14), 15. 17 Grundlegend Christie The ideal victim, in: Fattah, Ezzat (Hrsg.): From Crime Policy to Victim Policy, New York 1986, 17–30. 18 Shichor/Sechrest/Doocy Victims of investment fraud, in: Pontell, Henry/Shichor, David (Hrsg.): Contemporary Issues in Crime and Criminal Justice, Upper Saddle River 2001, 81–96, 83 f.; vgl. auch Croall (Fn. 10), 79. 19 Hierzu Dodge (Fn. 11), 101. 20 Whyte (Fn. 5), 447; Croall (Fn. 10), 83; Tombs/Williams (Fn. 7), 176, jeweils m.w.N. 21 Shichor (Fn. 9), 338. 22 Garland The Culture of Control, Oxford 2001, 11 f., 143 f., 200f; ferner z.B. Shichor (Fn. 9), 333 ff.; Dubber Victims in The War on Crime, London 2002, 3 ff., 198 ff. 23 Braithwaite What’s wrong with the sociology of punishment?, in: Theoretical Criminology 7 (2003), 5–28; vgl. auch Shichor (Fn. 9), 334 f.; Whyte (Fn. 5), 448.

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2.2. Umdeutungsprozesse Diese kriminologischen Beobachtungen stammen freilich meist aus einer zurückliegenden Zeit und werden durch neuere Befunde zunehmend in Frage gestellt.24 In den letzten Jahren zeichnet sich eine sukzessive, durch Bilanzskandale und Bankenkrise zusätzlich angefeuerte Veränderung ab. Neuere Befunde weisen nicht nur auf zuletzt zunehmend punitivere Sanktionierungspraktiken hin,25 sondern auch auf Verschiebungen in der gesellschaftlichen Bewertung. Befragungsdaten zeigen, dass White Collar- und Unternehmensdelikte heute von erheblichen Bevölkerungsteilen als hoch problematische und strafwürdige Ereignisse eingestuft werden und dass (ebenso wie und tendenziell sogar noch mehr als bei allgemeiner Kriminalität) eine strikte Sanktionierung der Verantwortlichen befürwortet wird.26 Geradezu mit Händen zu fassen ist dies bei öffentlichen Diskursen, die einzelne prominent gewordene Wirtschaftsstraftäter als „Bad Guys“ stilisieren und gleichsam als „gemeinschaftsfremd“ exkludieren („Othering“).27 Die dem zugrunde liegenden Prozesse sind erst ansatzweise erforscht. Einer Erklärungsvariante zufolge werden Aufsehen erregende Delikte im Kapitalmarktsektor von der Bevölkerung in eine Verbindung mit den Anreizen der Boni-Systeme und die Gier der Akteure gebracht und daher auf eine Verletzung moralischer Normen zurückgeführt.28 Institutionelle oder strukturelle Bedin-

_____ 24 Vgl. hierzu auch den Überblick über die Untersuchungen vor/nach 2000 bei Van Slyke Social Identification and Public Opinion on White-Collar Crime, Diss. Florida State University 2009, 7 ff. (zur gleichen zusammenfassenden Einschätzung wie hier vgl. 26 f.). 25 Vgl. dazu jedenfalls für die Vereinigten Staaten die Hinweise auf eine relativ rigoros werdende Strafzumessungspraxis bei Buell Is the white collar offender privileged?, In: Duke Law Journal 63 (2014), 823–889 (833 ff.); Belege für einen signifikanten „Enron et al.-Effekt“ auf die Haftquote in White Collar-Fällen finden sich etwa bei Van Slyke/Bales (Fn. 4), 234 f. 26 Holtfreter/Van Slyke/Bratton/Gertz Public perceptions of white-collar crime and punishment, in: Journal of Criminal Justice 36 (2008) 50–60; Schoepfer/Carmichael/Piquero Do perceptions of punishment vary between white-collar and street crimes?, in: Journal of Criminal Justice 35 (2007) 151–163, 157; Van Slyke (Fn. 24), 63 f.; Huff/Desilets/Kane The 2010 National Public Survey on White Collar Crime, Fairmont 2010, 17 ff.; zusammenfassend m.w.N. auch Cullen u.a. (Fn. 6, 2009), 39 ff. 27 Zu den besonderen Bedingungen, unter denen sich auch die Urheber von Wirtschaftsdelikten als „Folk Devils” konstruieren lassen, vgl. Levi Suite revenge?, The shaping of folk devils and moral panics about white-collar crimes, in: British Journal of Criminology 49 (2009), 48–67; ders. Social reactions to white-collar crimes and their relationship to economic crisis, in: Deflem, Mathieu (Hrsg.): Economic Crisis and Crime, Bingley 2011, 87–105, 91 ff. 28 So die Erhebungen bei Piquero/Gertz/Bratton Public attitudes toward the blameworthiness and control of the mortgage foreclosure crisis, in: Deflem, Mathieu (Fn. 27), 47–63, 57 f.; Wirth

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gungen geraten hier weniger in den Blick; vielmehr dominieren „bad apple explanations“.29 Dies löst, wie erste Erhebungen demonstrieren, ein Gefühlsgemisch aus Wut, Geringschätzung und Empörung aus, was wiederum Ablehnungseinstellungen, Stigmatisierungsneigungen und Bestrafungswünsche erzeugt.30 Verändert hat sich offenbar aber nicht nur die Sicht auf die Täter, sondern auch auf die Opfer, deren Tatverstrickung in der öffentlichen Wahrnehmung verblasst – deren Tatentstehungsanteil also angesichts des empörenden Täterverhaltens für die Ereignisbewertung zunehmend in den Hintergrund tritt.31 Eben dies wurde gerade auch mit Blick auf die deliktischen Anteile am Entstehen der jüngsten Bankenkrisen gezeigt (wobei sich hier auch politische Einstellungen bemerkbar machen).32 Ähnliches zeigt sich, wenngleich mit Abstrichen, sogar beim korporativen Opfer. Von den überhand nehmenden Studien und publizistischen Diskursen zur Unternehmensviktimisierung 33 wird nämlich eine auch hier virulente Verletzbarkeit betont, die das Unternehmen in die Gemeinschaft der Opfer integriert. Hierdurch ist zumindest für eine ansatzweise Solidarisierung gesorgt, zumal sich das Publikum als Konsument, Arbeitnehmer, Steuerzahler usw. ohnehin immer (indirekt) mitgeschädigt fühlen kann.34 Wenn man nun diesen noch relativ wenig entwickelten und hier etwas holzschnittartig referierten Forschungsstand etwas strapaziert und überzeichnet und es auch noch wagt, ihn auf deutsche Verhältnisse zu erstrecken, ergibt sich aus ihm zusammenfassend der folgende Befund: Im Zuge eines punitive turn, bei dem die Verurteilungs- und Sanktionswürdigkeit von Wirtschaftsdelikten in

_____ Moral Misfits: The Role of Moral Judgments and Emotions in Derogating Other Groups, Diss. Amsterdam 2014, 98 ff. 29 Vgl. Cullen u.a. (Fn. 6, 2009), 39 ff.; ferner Simpson (Fn. 4), 320 f. 30 Entsprechende Befragungsdaten bei Wirth (Fn. 28), aaO; ähnlich auch die Interviewbefunde für den Fall unethischen Herstellerverhaltens (Kinderarbeit) bei Grappi/Romani/ Bagozzi Consumer response to corporate irresponsible behavior: Moral emotions and virtues. Journal of Business Research 66 (2013), 1814–1821. 31 Zum „unsuspected victim“ in der Berichterstattung über die Bankenkrise vgl. m.w.N. Cullen u.a. (Fn. 6, 2009), 40 f. 32 In der Befragung von Piquero u.a. (Fn. 28, 59) wurden anstelle der Opfer (Kreditnehmer) ganz überwiegend die Banken und Darlehensgeber für US-Hypothekenkrise von 2008 verantwortlich gemacht, weniger deutlich jedoch durch die politisch konservativ stehenden Personen. 33 Mit Blick auf das auffällige Missverhältnis zur Untererforschung der Viktimisierung durch Unternehmen kritisch hierzu Whyte (Fn. 5), 458: „silencing by creating noise“. 34 Whyte (Fn. 5), 452 f.

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der gesellschaftlichen Bewertung deutlich ansteigt, verliert ein bislang dominierendes Deutungsmuster an Gewicht, das eine erhebliche Mitverantwortung der Geschädigten an ihrer eigenen wirtschaftsdeliktischen Viktimisierung unterstellt. Zumindest rücken solche Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität in den Mittelpunkt des Interesses, bei denen man keinen Anlass für ein Opfer-Blaming sieht. Es kommt daher zu einer fortschreitenden Angleichung an das allgemeine Opferbild – bis hin zu einer sich abzeichnenden Umkehrung des vorherigen Opferstereotyps. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob und wie sich dies auf der juristischen Ebene niederschlägt.

3. Opfermitverantwortung und Betrugsstrafbarkeit 3.1. Bewertungsbedarf Zur Beantwortung dieser Frage bietet sich ein Blick auf den Betrugstatbestand an, da hiermit eine (mittelbar-täterschaftliche35) Verlaufsstruktur kriminalisiert ist, bei der das Opfer mit kommunikativen Mitteln (Irreführung) gegen sich selbst instrumentalisiert wird und so sein eigenes Vermögen mindert.36 Anders als bei vielen anderen Delikten wird ihm der Schaden nicht (nur) zugefügt, sondern es trägt kooperativ zu dessen Entwicklung bei. Im Hinblick auf die insofern notwendig vorausgesetzte Opfermitwirkung ist ein Betrug deshalb regelhaft für die Betroffenen (objektiv) vermeidbar. Auch weil sich viele Täuschungsmöglichkeiten gerade im Kontext laufender oder sich anbahnender Geschäftsbeziehungen ergeben, bei denen die Opfer typischerweise eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen, liegt es folglich auf der Hand, dass sich die unterschiedlichsten Konstellationen der opferseitigen Mitverantwortung bei Betrugssachverhalten in besonderer Häufigkeit ergeben.37 Was die Deliktsstruktur also aus der juristischen Warte nahe legt, wird von der kriminologischen Forschung weiter bestätigt (freilich ohne damit wesentlich über den Stand der strafjustiziellen Alltagserfahrung hinauszugehen). Zwar stellt die Mitverantwortlichkeitsfrage keinen eigenen Gegenstand der bislang

_____ 35 Kindhäuser Betrug als vertypte mittelbare Täterschaft, in: Schulz, Joachim/Vormbaum, Thomas (Hrsg.): Festschrift für Bemmann, Baden-Baden 1997, 339–361. 36 Dreiecksbetrug wird hier ausgeklammert. 37 Vgl. hierzu auch die aus der Justizpraxis rekonstruierten Fallgruppen gesteigerter Opfermitwirkung bei Schwarz Die Mitverantwortung des Opfers beim Betrug, Berlin 2013, 16 ff.

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vorliegenden „fraud victimization surveys“38 dar, doch machen sie in ihrer Gesamtheit39 ein Mehrfaches sichtbar: Tatermöglichende und -begünstigende Opfermitwirkungsanteile („victim facilitation“40) sind in der Tat betrugstypisch, dabei aber je nach Begehungsmodus in ganz unterschiedlicher und unterschiedlich intensiver Weise auszumachen.41 Die Neigung zu einem vergleichsweise lockeren Umgang mit Geld oder die Bereitschaft zur Beteiligung an riskanten Geschäftstypen, wirkt viktimisierungsförderlich.42 Eine größere Vulnerabilität zeigt sich aber auch schon bei Konsumenten, die vergleichsweise impulsive Verhaltensstile aufweisen und „Distanzverträge“ (via Tele- und Onlinemarketing usw.) bevorzugen.43 „Motivatorisch“ liegt den Opferverstrickungen stets ein breites und nichttypisierbares Spektrum zugrunde, das in seiner Fallabhängigkeit von honorigen Absichten, über rationale Wirtschaftskalküle bis zu Unwissen, naiver Leichtgläubigkeit und Profitwünschen reicht.44 Dies zeigen gerade Studien zum Anlagebetrug, denen zufolge hinter dem Verhalten der Opfer, die sich finanziell in einem scheinbar guten Geschäft engagieren, ganz unterschiedliche und oft recht unklare Bedürfnisse stehen (finanzielle Absicherung; Gleichziehen-Wollen mit Bekannten, die ähnliche Geschäfte vornehmen; wirtschaftlicher Erfolg als Anerkennungsressource; Selbstbestätigung durch

_____ 38 Die grundlegende Schwäche all dieser Befragungen liegt freilich darin, dass das alltagstheoretische und das juristische Verständnis von betrügerischem Gebaren klar differieren. Dazu bspw. Nishimura A victimological study of dishonest trade practices, in: Kaiser, Günther/ Kury, Helmut/Albrecht, Hans-Jörg (Hrsg.): Victims and Criminal Justice. Bd. 1, Freiburg 1991, 169–194, 172 ff. 39 Zuletzt Huff u.a. (Fn. 26), 14 ff. m.w.N.; vgl. auch die Übersicht zu älteren Arbeiten bei Titus The Victimology of Fraud, 1999, 5 ff. (unter: www.aic.gov.au/media_library/conferences/rvc/ titus.pdf). 40 In diesem Bereich lag das zentrale Forschungsinteresse der frühen Kriminologie – nicht aber mit Blick auf den Betrug. Für einen Überblick vgl. etwa Rock Theoretical perspectives on victimization, in: Walklate (Fn. 5), 37–61, 42 ff.; ferner Schneider Kriminologie. Ein internationales Handbuch I, Berlin/Boston 2014, 242 f. 41 Zusammenfassend Titus (Fn. 39), 2 f.; ders./Gover Personal fraud: The victims and the scams, in: Farrell, Graham/Pease, Ken (Hrsg.): Repeat Victimization, Monsey 2011, 133–151 (135 f.). 42 Van Wyk/Benson Fraud victimization: risky business or just bad luck, in: American Journal of Criminal Justice 21 (1997), 163–179, 173 ff.; Schoepfer/Piquero Studying the correlates of fraud victimization and reporting, in: Journal of Criminal Justice 37(2009), 209–215 (210 f., 214). 43 Vgl. die Befunde bei Holtfreter/Reisig/Pratt Low self-control, routine activities, and fraud victimization, in: Criminology 46 (2008), 189–220; ferner Deevy/Beals The Scope of the Problem, Stanford 2013, 19 ff.; Pratt/Holtfreter/Reisig Routine Online Activity and Internet fraud fargeting, in: Research in Crime and Delinguency 47 (2010), 267–296 (280 f.). 44 Eingehend dazu Titus/Gover (Fn. 41), 136 ff.

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erfolgreiches Geschäft).45 Unmittelbar ausschlaggebend für das Engagement ist dabei meist eine Überschätzung der eigenen Beurteilungskompetenz.46 Bei korporativen Opfern ist häufig ebenfalls ein Mitverursachungsanteil feststellbar, schon weil sie besonders abwehr- und vorsorgemächtig wären, die fraglichen organisatorischen Maßnahmen aber vielfach von betriebswirtschaftlichen Kalkulationen abhängig machen47 oder aus anderen Gründen unterlassen.48 Im Betrugsstrafrecht ist die Opferbeteiligung also von alltäglicher faktischer Relevanz und das Problem der Opfermitverantwortung jedenfalls empirisch ganz und gar nicht „verborgen“. Dies konfrontiert die Gerichte mit dem notorischen Problem, die Bedeutung der Mitwirkungen für die Schadenszurechnung und Tatbestandsverwirklichung bewerten zu müssen. Die besagten Befunde zeigen aber auch, dass die Opferanteile variieren, wobei sie in der Regel zwischen den Polen der „Unschuld“ und der „Mitschuld“ changieren und damit weder den neuen noch den alten Opferstereotypen (oben 2.) entsprechen. Angesichts dieses diffusen „Dazwischens“, das die Wirtschaftskriminologie bisweilen als „victim-responsiveness“ diskutiert,49 tun die Gerichte gut daran, argumentativ begründbare Wertungskriterien autonom zu entwickeln – also nicht an die sozialen Diskurse und veränderlichen Deutungsmuster über die Schutz-, Mitgefühls- oder Vorwurfswürdigkeit des Opfers (oben 2.) anzuknüp-

_____ 45 Dazu Liebel (Fn. 15), 41; ders./Oehmichen Motivanalyse bei Opfern von Kapitalanlagebetrug, Wiesbaden 1992, 109 ff. u.ö.; erneut bestätigt in Liebel Täter-Opfer-Interaktion bei Kapitalanlagebetrug, Neuwied/Kriftel 2002, 95 ff., 183 ff.; ähnlich Shapiro Wayward Capitalists, New Haven/London 1984, 33 ff.: verbreitete Nativität bzw. Selbstüberschätzung bei Opfern von Anlagebetrug. Vgl. zudem auch Titus (Fn. 39), 3; sowie Trahan/Marquart/Mullings Fraud and the American dream, Deviant Behaviour 26 (2005), 601–620 (610 ff.). 46 Zu deren Defiziten eindrückliche Daten bei Hackethal/Meyer Grenzen des Informationsmodells im Anlegerschutz, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 113 (2014), 574–585. 47 Zur Einsparung von Selbstschutzmaßnahmen und Einkalkulierung von Schäden durch institutionelle Opfer vgl. Albrecht Kriminologie, 4. Aufl. München 2010, 324. Exemplarisch hierfür sind auch die Befunde der in Fn. 3 erwähnten Studie, wonach die Krankenkassen die Überprüfung von Krankenhausabrechnungen auf Grundlage von Aufwands-Nutzen-Abwägungen bewusst selektiv gestalten und bestimmte Fehleranteile unbeanstandet passieren lassen. Dazu Sulkiewicz Prüf- und Entscheidungsverhalten der Kasse, in: Kölbel (Fn. 3), 153–174, 154 ff. 48 Zum Zusammenhang, der zwischen der Ausgestaltung von Compliance-Maßnahmen eines Unternehmens und seiner Wehrhaftigkeit gegenüber deliktischen Schädigungen bestehen kann, vgl. die Fallanalysen bei Schneider/John Das Unternehmen als Opfer von Wirtschaftskriminalität, Köln 2013, 10 ff., 25 ff. 49 So in konzeptioneller Abgrenzung zur „victim-precipitation/facilitation“ (Fn. 40) vornehmlich Geis Victimization patterns in white-collar crime, in: Drapkin, Israel/Viano, Emilio (Hrsg.): Victimology – A New Focus. Bd. 5, Lexington 1975, 89–105, 98.

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fen. Es stellt sich aber die Frage, ob sich die Justiz tatsächlich in dieser Weise vom gesellschaftlichen Kontext unabhängig machen kann.

3.2. Position der Judikatur Sondiert man nun aus einer kriminologischen Beobachterwarte den Stand der juristischen Diskussion, gewinnt man den Eindruck, als habe sich die Rechtsprechung „opferskeptischen“ Haltungen seit jeher entzogen. Dies gilt freilich nicht ausnahmslos, finden sich doch zahlreiche Beispiele, in denen beim Betrugstatbestand, aber auch bei anderen Strafnormen der opferseitige Anteil in strafbarkeitseinschränkender Weise berücksichtigt wird. Bei der nämlichen Judikatur handelt es sich indes um punktuelle, beinahe eklektische Einzelfallentscheidungen, in denen der Opfermitwirkungstopos bei einzelnen Tatbestandsmerkmalen in unsystematischer Weise eine gewisse Bedeutung erlangt.50 Ganz anders verhält sich die Rechtsprechung jedoch in der Frage, ob dies nicht zu einem generellen Auslegungsprogramm zu verdichten ist. Dass sie dergleichen entschieden zurückweist, zeigt sich demgegenüber in einer Fülle von Entscheidungen zu ganz verschiedenen Sachverhalten, in denen den Geschädigten eine unsorgfältige Wahrnehmung ihrer Eigeninteressen hätte vorgehalten werden können.51 Namentlich dort, wo sie sich infolge von erheblicher Leichtgläubigkeit oder durch eine allzu flüchtige Vorgehensweise oder trotz vorhandener Skepsis täuschen und zu einer selbstschädigenden Verfügung verleiten ließen, sahen die Gerichte bislang keinen Anlass, an der Tatbestandswertigkeit des Geschehens irgendwelche Abstriche zu machen.52 Es gibt zwar Fallgruppen wie

_____ 50 Beispiele hierfür werden im anschließenden Beitrag von Björn Gercke für den Betrug und andere Tatbestände zusammengetragen. Zusammenfassend für die Diskussion um punktuell relevante Opfermitwirkungen bei § 263 StGB etwa auch Hennings Teleologische Reduktion des Betrugstatbestandes aufgrund von Mitverantwortung des Opfers, Berlin 2002, 76 ff., 130 ff. 51 Wenn bei Wirtschaftsdelikten tatsächlich den Opfern oftmals gerichtlich eine Mitverantwortung zugewiesen und so eine Entlastung der Täter bewirkt würde, die deren relatives Sanktionsprivileg erkläre (zu dieser These vgl. Reese Fn. 4, 53), könnte dies also nicht auf der Strafbarkeits-, sondern allenfalls auf der Strafzumessungsebene vonstattengehen. 52 Stellvertretend: BGHSt 34, 199; 47, 1; BGH NJW 2003, 1198; 2012, 1377; 2014, 2054; wistra 2001, 386; OLG Frankfurt/M. NJW 2003, 3215; 2011, 398. Zum Einschwenken der Schweizerischen (ursprünglich abweichenden) Judikatur auf diese Linie vgl. Arzt/Weber/Heinrich/ Hilgendorf Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. Bielefeld 2009, § 20 Rn. 49a; eingehend auch Schwarz (Fn. 37), 32 ff.

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den Kapitalanlagebetrug, in denen das Vorliegen einer Fehlvorstellung näher ausgeführt werden muss.53 Auch sind die Voraussetzungen, unter denen das unvorsichtige Vertrauen in eine unvollständige Informationslage eine Unterlassenstäuschung begründet, eher streng.54 Doch dies erklärt sich entweder mit tatsächlichen Besonderheiten (vorhandenes Erfahrungswissen vieler Kapitalanleger 55) oder den Eigenheiten der Unterlassensdelikte (Erforderlichkeit einer Aufklärungspflicht) – ist also vollkommen unabhängig von den Schadensentstehungsanteilen der Betrugsopfer und schränkt deren strafrechtliche Irrelevanz nicht ein. Von Seiten der Literatur hat die Judikatur darin allerdings seit jeher Gegenwind erfahren. Vor allem in Gestalt der sog. Viktimodogmatik wird die tatbestandseinschränkende Auslegung bei Mitverantwortung des Opfers zur allgemeinen, merkmalsübergreifenden Auslegungsmaxime erhoben und auf Grundprinzipien wie den Selbstverantwortungsgrundsatz oder die Subsidiarität des Strafrechts zurückgeführt.56 Die Rechtsprechung hat sich dem indes durchgehend verweigert. Unter deutlich größeren Druck gerät die Position der Gerichte allerdings nunmehr durch das Europäische Recht. Das vom EuGH57 entwickelte und in Europäischen Rechtsakten58 aufgegriffene, regulatorische Leitbild der EU-Wettbewerbsnormen, das den gemeinschaftsrechtlichen Irreführungsverboten den Maßstab eines verständigen, aufmerksamen und informierten Verbrauchers zugrunde legt, erzwingt jedenfalls eine teilweise Korrektur. So weit, wie ihr Regelungshintergrund59 und ihr originärer Anwendungsbereich (grenzüber-

_____ 53 Zu den Entscheidungen, ihrer Interpretation und den zuletzt wieder abgesenkten Begründungsanforderungen vgl. Zieschang in: Park, Tido (Hrsg.): Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl. Baden-Baden 2013, § 263 Rn. 164 ff., 170 ff.; siehe zum Problem auch den folgenden Beitrag von Eberhard Kempf. 54 Sie ist nach der Judikatur bspw. im Fall des Kfz-Verkaufs gegeben beim Verschweigen eines Unfallschadens (OLG Nürnberg MDR 1964, 693; BayObLG NJW 1994, 1078), nicht aber beim Verschweigen des bevorstehenden Erscheinens eines Neumodells (OLG München NJW 1967, 158). 55 Dazu, dass es sich hier um eine unbegründete Unterstellung der Rechtsprechung handeln dürfte, vgl. oben in Fn. 46 56 Vgl. den zusammenfassenden Überblick bei Hennings (Fn. 50), 135 ff. 57 Vgl. etwa EuGH Slg. 1998, I-4657 Rn. 35; EuGH Slg. 2000, I-117 Rn. 29. 58 RiL 2005/29/EG – Erwägungen 18. 59 D.h. das Ermöglichen von EU-weit einheitlicher Etikettierung, Verpackung und Vermarktung (dazu Dannecker Die Dynamik des materiellen Strafrechts unter dem Einfluss europäischer und internationaler Entwicklungen, in: ZStW 117 (2005), 697–748, 705 f.).

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schreitende Vermarktung von Waren60) reichen, stellen jene Formen der Publikumswerbung, die nur bei unverständigen Adressaten einen Irrtum hervorzurufen vermögen, keine Betrugshandlung mehr dar, da sich § 263 StGB sonst als eine (nach europäischen Kriterien: unzulässige) Einschränkung des innergemeinschaftlichen Handels ausnehmen würde.61 Da hierin nun aber eine Sonderbehandlung für grenzüberschreitende Sachverhalte liegt, drängen viele Stimmen darauf, das unionsrechtliche Verbraucherkonzept generell zu übernehmen und der Betrugsauslegung als Richtlinie zugrunde zu legen.62 Ob die Rechtsprechung diesem Druck nachgeben wird, bleibt – auch wenn hierfür momentan noch keine Anzeichen ersichtlich sind63 – erst einmal abzuwarten. Obwohl sich der BGH vom Europäischen Verbraucherleitbild erst kürzlich klar distanziert hat, ist das letzte Wort in dieser Sache schwerlich gesprochen.64 Sollte es zu einer Angleichung an die EU-Vorgaben kommen, nähme die Judikatur damit freilich abermals eine „kontra-atmosphärische“ Position ein. Stellte ihr Konzept im Kontext der früher opferskeptischen Stimmung (oben 2.1.) gleichsam einen opferfreundlichen Fremdkörper dar, stünde eine Neuorientierung im Verhältnis zur nunmehr veränderten Alltagskultur, in der sich ein neues „Opferverständnis“ herauszubilden scheint (oben 2.2.), in einem neuerlichen, nunmehr umgekehrten Widerspruch. Eine solche doppelte Immunisierung gegenüber den gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsvorstellungen wäre, so viel am Rande, ein kriminalsoziologisch interessanter Befund.

_____ 60 Zur Bestimmung dieses Geltungsbereichs vgl. Soyka Einschränkungen des Betrugstatbestandes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht am Beispiel der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken, wistra 2007, 127- 133 (129); Erb Gängige Formen suggestiver Irrtumserregung als betrugsrelevante Täuschungen, ZIS 2011, 368–378 (376). 61 Satzger in: ders./Schluckebier, Wilhelm/Widmaier, Gunter (Hrsg.), StGB, 2. Aufl. Köln 2014, § 263 Rn. 112 f.; Dannecker in: Graf, Jürgen/Jäger, Markus/Wittig, Petra (Hrsg.), Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, München 2011, § 263 Rn. 8 f.; Dannecker (Fn. 59), 705 f. 62 Soyka (Fn. 60), 131; Satzger (Fn. 61), § 263 Rn. 12, 114; Dannecker (Fn. 59), 711 ff.; teilweise auch Hecker Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, Tübingen 2001, 320 ff. 63 Ganz im Gegenteil wurde dies vom 2. Strafsenat des BGH erst kürzlich zurückgewiesen (vgl. BGH NJW 2014, 2595, 2596 ff.); aus der ebenfalls ablehnenden Literatur etwa Vergho Der Maßstab der Verbrauchererwartung im Verbraucherschutzstrafrecht, Freiburg 2009, 303 ff., 308 ff. 64 Vgl. hierzu die im Band folgenden Überlegungen von Björn Gercke und Eberhard Kempf sowie bspw. auch die Urteilsanmerkung von Rönnau/Wegner JZ 2014, 1064–1068 sowie den Beitrag von Krack Betrug durch das Betreiben von Abofallen, ZIS 2014, 536–544; dem BGH zustimmend aber Cornelius Europäisches Verbraucherleitbild (…), NStZ 2015, 310–317.

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3.3. Kriminologisches Statement Unabhängig davon bleibt natürlich die Frage, ob dem „gewinnsüchtigen“ und/ oder „leichtfertigen“ Opfer die Tatverantwortung deutlich eher zugerechnet werden sollte, als dies derzeit geschieht. Fraglos trägt ein Betrugstatbestand, der sich gegenüber der Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit von Opfern indifferent zeigt, paternalistische und vielleicht auch bevormundende Züge. Ebenso offenkundig ist es indes, dass die täterexkulpierende Mitberücksichtigung der Opferverantwortung andererseits einer abenteuerkapitalistischen Handlungslogik neue Freiräume gewährt. Was also ist in dieser Spannungslage von einem Auslegungsprinzip zu halten, das den Betrugstatbestand systematisch beschränkt, sofern der Schaden jedenfalls teilweise auch dem Opfer zurechenbar ist? Obwohl hier nicht der Raum ist, um diese Frage erschöpfend zu analysieren – zumal die zentralen Gesichtspunkte letztlich bereits vor drei Jahrzehnten zur Sprache gebracht worden und unverändert gültig sind65 –, sei an dieser Stelle wenigstens ein spezifisch kriminologischer Gesichtspunkt kursorisch benannt. Aus kriminologischer Warte spricht nämlich mehr für eine Beibehaltung der Rechtsprechungslinie (jedenfalls bei natürlichen Opfern, letztlich aber auch bei solchen korporativer Art). Insofern ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, dass die Mitwirkungsanteile von Verbrauchern, Anlegern und anderen Betrugsopfern kriminologisch nichts anderes als eine Gelegenheitsstruktur sind, die einen tatermöglichenden oder tatleichternden und daher ggf. auch tateinladenden Charakter hat, sich aber in diesem Effekt nicht prinzipiell von anderen, opferunabhängigen kriminogenen Möglichkeitsbedingungen unterscheidet,66 bspw. einer kriminogenen Gesetzgebung oder dem Fehlen drittseitiger Kontrollen.67 Solche situativen Umstände, die die Vulnerabilität von Personen, Gütern, Institutionen, Prozessen, Zuständen und dergleichen erhöhen, werden nun herkömmlich als Anknüpfungspunkte für technische oder regulative Präventionsmaßnahmen begriffen, nicht aber als Anlass für eine Strafbarkeitseinschränkung, die die Nutznießer der Situation ganz oder teilweise exkulpiert. Würde man bei den spezifisch op-

_____ 65 Vgl. die grundlegende Kritik an der Viktimodogmatik bei Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten, Göttingen 1981, 17ff., 192 ff. sowie die Replik von Schünemann Die Zukunft der Viktimo-Dogmatik, in: Zeidler, Wolfgang/Maunz, Theodor/Rollecke, Gerd (Hrsg.): Festschrift für Hans Joachim Faller, München 1984, 357–372. 66 Vgl. Kölbel Betrug, in: Achenbach, Hans/Ransiek, Andreas/Rönnau, Thomas (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., Heidelberg 2015, Rn. 64. 67 Einführend zu solchen Bedingungen Eisenberg (Fn. 4), § 54 Rn. 1 ff.

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ferproduzierten Tatgelegenheiten anders verfahren, wenn und weil hier die erhöhte Verletzbarkeit vom Rechtsgutträger (anders als in den vorgenannten Fällen) nicht von „den Umständen“, sondern von den schadensbetroffenen Personen selbst zu verantworten ist, stellte sich die nahe liegende Frage, wo hinsichtlich der Täter der Unterschied zwischen den Fallgruppen liegt. Mit Blick auf die Täterseite – für die es keine Rolle spielt, wie und weshalb die Chance entstanden ist, die sie ergreift – ist eine unterschiedliche Behandlung schwerlich begründbar. Würde das Strafrecht die Ausnutzung opferproduzierter Tatgelegenheiten freigeben, hätte das obendrein auch eine unzuträgliche Konsequenz. So haben Befragungen gezeigt, dass Betrugsstraftäter um die Schwachstellen vieler ihrer Opfer sehr genau wissen und dass sie deren manipulative Ansprechbarkeit ganz gezielt auszunutzen vermögen.68 Noch deutlicher wird dies bei jenen an sich leicht durchschaubaren Betrugsgestaltungen, die sich mit den Mitteln der Massenkommunikation an derart vielzählige Adressaten wenden, dass darin schon aus statistischen Gründen eine delikts-ökonomisch lohnende Teilgruppe ungewöhnlich unvorsichtiger Personen eingeschlossen ist. Wären solche Betrugsformen, die dezidiert und allein auf die „selber-schuld-Opfer“ abzielen, aus Mitverantwortungsgründen kein strafbarer Betrug, dürften sie vermutlich um sich greifen.69 Dafür spricht jedenfalls ein beinahe feldexperimenteller Beleg. De lege lata werden nämlich ganz wesentliche Ausprägungen der Opfermitverantwortung strafbarkeitsausschließend berücksichtigt, namentlich durch die tatbestandliche Exklusion nicht-kommunikativer Täuschungen und Suggestionen, die ein immanentes Merkmal von mundaner Geschäftstüchtigkeit sind (etwa als Alltagsbeispiel: die verkaufspsychologisch fundierte, nonverbale Werbungs-, Laden- und Auslagengestaltung). Bei solchen Beeinflussungsformen schlagen sich Kompetenzmängel bei der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Belange in einer allseits beobachtbaren, großflächigen Unvernunft bzw. Selbstschädigung

_____ 68 Liebel/Oehmichen (Fn. 45), 154 ff.; vgl. auch Shichor u.a. (Fn. 18), 90. Siehe ferner auch die Analyse des Schulungsmaterials, das Außendienstmitarbeiter auf den manipulationsähnlichen Vertrieb bei älteren Konsumenten vorbereiten soll, bei DeLiema/Yon/Wilber Tricks of the trade: Motivating sales agents to con older adults, in: The Gerontologist 54 (2014), doi: 10.1093/ geront/gnu039. 69 Vgl. die hierfür kennzeichnenden empirischen Hinweise auf die Persistenz des sog. Adressbuchschwindels bei Grau Sozialadäquate Geschäftstüchtigkeit oder strafbarer Betrug?, Münster 2009, 11 ff., 28 ff.; zur enormen Verbreitung von Abofallen siehe die Befragung unter http://www.infas.de/aktuell/presse/meldung-im-detail/millionendelikt-internetbetrug-1/.

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nieder, die ohne jede Strafrechtsrelevanz bleibt.70 Ich bin skeptisch, ob man dem noch zusätzlichen Raum geben soll. Cornelius Prittwitz Vielen Dank, Herr Kölbel. Es ist, das ist uns Veranstaltern bewusst, eine Zumutung, in 15 Minuten – nur Herr Hörisch hat es besser gehabt – einen Vortrag zu halten. Das brauchen Professoren normalerweise für die Einleitung. Insofern voller Bewunderung für die Inhalte, die in diese 15, 20, 22 Minuten eingebracht wurden. Herr Gercke, wenn Sie mir eine Sekunde Zeit noch geben, möchte ich nachholen, was ich vorhin nicht getan habe. Ich möchte eine Hommage auf Klaus Lüderssen ausbringen. ECLE ist das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung und immer dann, wenn Kollektive erfolgreich sind, muss man sehr, sehr vorsichtig sein, Einzelne hervorzuheben. Ich bin aber sicher – ohne mich vorher abgesprochen zu haben, also durchaus mit Risiken – dass Eberhard Kempf, der heute da ist und auch Klaus Volk, der nicht da sein kann, mir nicht ins Wort fallen oder mir hinterher Schläge androhen, wenn ich hervorhebe, in welchem Ausmaß wir alle Klaus Lüderssen Dank schulden dafür, nicht nur diese ganze Serie von Symposien initiiert und zum großen Teil organisiert zu haben, sondern auch dieses siebte Symposion. Klaus, vielen Dank dafür! Jetzt muss ich aber wieder um Ruhe bitten, weil es in Klaus Lüderssens Interesse ist, dass die Veranstaltung weiter geht. Herr Gercke, sie haben das Wort.

(neue Seite)

_____ 70 Näher Fabricius Kriminalwissenschaften. Grundlagen und Grundfragen, Band 3, Berlin 2011, 102 ff.; vgl. auch Ottermann Soziologie des Betruges, Hamburg 2000, 38 ff., 347 ff.

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Björn Gercke

Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung (aus Sicht der Praxis) Björn Gercke Verborgene Probleme der Opfermitverantwortung

I. Opfermitverantwortung Obwohl Opfermitverantwortung seit geraumer Zeit bei Auslegung und Anwendung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale sowie insbesondere der Strafzumessung erörtert wird, ist es nach wie vor kaum möglich, eine abschließende Definition dieses Begriffs zu finden. Entsprechend den Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Kölbel wird man wohl einen kriminologischen Opferbegriff zugrunde legen müssen; denn in strafrechtlicher Hinsicht würde die Annahme eines „Opfers“ an sich zunächst eine Tatbestandsverwirklichung voraussetzen. Insoweit wäre der Begriff Mitverantwortung des Erklärungs- oder Verhaltensadressaten vielleicht passender, um ergebnisoffen an die Frage heranzugehen, auf welcher Ebene – Tatbestand oder Schuld bzw. Strafzumessung – die Mitverantwortung verortet bzw. gewürdigt werden kann. Ungeachtet dieser Begrifflichkeiten handelt es sich inhaltlich wohl um solche Konstellationen, bei denen der Taterfolg bzw. die Rechtsgutsgefährdung in einem so erheblichen Maße auf eine Entscheidung des Betroffenen – nennen wir ihn eben: Opfer – zurückzuführen ist, dass dessen Schutzbedürftigkeit zweifelhaft ist. Voraussetzung ist regelmäßig eine Interaktion zwischen Täter und Opfer. Am deutlichsten wird dies am Tatbestand des Betrugs, in welchem das Opfer anhand des Merkmals des Irrtums als Folge einer Täuschung in die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar einbezogen wird. Insoweit verwundert es nicht, dass die Diskussion über Opfermitverantwortung im Wesentlichen bei den Betrugsdelikten geführt wird. Diskutiert werden etwa: – Fälle von Spekulations- und Risikogeschäften im weiteren Sinne, wie etwa Kapitalanlage- und Kreditbetrug oder auch Warenlieferungen trotz bekannter Säumigkeit oder gar Insolvenzreife des Geschäftspartners, – Fälle von gezieltem Ausnutzen von Aufmerksamkeitsmängeln, wie etwa bei Insertionsofferten oder sog. Abo-Fallen im Internet, sowie – Fälle von irrealen Erwartungen des Opfers, wie etwa bei dem Kauf von „Wundermitteln“ oder Käufen von Fälschungen von Luxus- bzw. Markenartikeln – regelmäßig im Internet – trotz Kenntnis des erheblich zu niedrigen Preises, etwa eine „neuwertige Original Gucci-Tasche“ für 10,– €.

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II. „Verborgene“ Probleme Die zuvor genannten Konstellationen sind nicht „unbekannt“. Die bereits angeführte Viktimodogmatik ist explizit angesprochen in einigen, gerade jüngeren höchstrichterlichen Entscheidungen und insbesondere vielfach im Schrifttum. Was aber sind „verborgene Probleme der Opfermitverantwortung“? Hier stellt sich nun die Frage, was mit „verborgen“ gemeint ist. Hiervon können sprachlich einerseits diejenigen Probleme erfasst sein, die bislang weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum thematisiert wurden und daher noch „im Verborgenen“ liegen. Es können aber auch diejenigen Fälle gemeint sein, in denen sich die Berücksichtigung der Opfermitverantwortung nicht unmittelbar aus dem gesetzlichen Tatbestand ergibt – die Rolle des Opfers in der Deliktsstruktur also „verborgen“ ist. Da es jedenfalls im Hinblick auf den Betrugstatbestand – wie bereits angesprochen – kaum einen Aspekt der Opfermitverantwortung geben dürfte, der noch nicht hinlänglich diskutiert wurde, wird nachfolgend zunächst auf diejenigen Fälle eingegangen, in denen die Berücksichtigung der Opfermitverantwortung in der Deliktstruktur nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird, bevor dann doch noch der Betrugstatbestand thematisiert wird. Im Folgenden soll sich dabei zunächst auf drei Tatbestände beschränkt werden: Wucher (1.), Untreue (2.) und Steuerhinterziehung (3.).

1. Die Erwähnung des Wucher-Tatbestands mag überraschend wirken, bedenkt man, dass dieser gerade zum Schutz vor Ausnutzung einer individuellen Unzulänglichkeit des Opfers dienen soll. So ist Voraussetzung der Strafbarkeit, dass die Zwangslage, die Unerfahrenheit, der Mangel an Urteilsvermögen oder die erhebliche Willensschwäche eines anderen ausgebeutet wird. Den genannten Schwächesituationen gemein ist, dass sie sich vom Opfer zum Zeitpunkt der Tathandlung nicht kontrollieren lassen. Was allerdings auffällt, ist, dass für das Opfer vermeidbare Schwächesituationen, insbesondere Leichtsinn, nicht geschützt werden. In einem Urteil vom 23.6.2006 zur insoweit gleichlautenden Norm des § 138 Abs. 2 BGB verneinte der 5. Zivilsenat angesichts dessen die Voraussetzungen des Wuchers. 1 Der Wuchertatbestand soll weder vor einer –

_____ 1 BGH NJW 2006, 3054, 3056.

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leichtfertig – unrichtigen Einschätzung der Wirtschaftlichkeit eines Rechtsgeschäfts noch vor enttäuschten Spekulationen schützen. Dass dies auch der Intention des Strafgesetzgebers entspricht, wird aus der Änderung des Wuchertatbestands in der Vergangenheit ersichtlich: So war Voraussetzung der bis 1976 in § 302a–f StGB normierten Wuchertatbestände die Ausbeutung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit oder gar des Leichtsinns einer anderen Person. Im Jahr 1976 wurden die Wuchertatbestände zu einem einheitlichen Tatbestand in § 302a StGB zusammengefasst; dieser entspricht dem heutigen Wuchertatbestand des § 291 StGB. Nicht mehr enthalten ist seit 1976 die Schwächesituation des Leichtsinns. Im Gesetzesentwurf zu § 302a StGB2 heißt es hierzu: „Abweichend vom geltenden Recht nennt der Entwurf andererseits als schutzwürdigen Zustand des Opfers gegen die wucherische Ausbeutung den „Leichtsinn“ nicht mehr. Der Entwurf geht in Übereinstimmung mit der Auffassung der Kommission davon aus, daß mit den Merkmalen „Zwangslage“, „Unerfahrenheit“, „Mangel an Urteilsvermögen“ und „Willensschwäche“ alle schutzwürdigen Schwächen des Opfers genannt sind. Wer in der Lage ist, die wirtschaftlichen Folgen seines Handelns zu übersehen, sich nicht in einer Zwangslage befindet und dessen Willensbestimmung auch nicht eingeengt ist, der verdient allein deswegen, weil er leichtsinnig ist, keinen strafrechtlichen Schutz.“

Der Gesetzgeber hat sich mithin klar dahingehend positioniert, dass ein frei verantwortlich handelndes, lediglich leichtfertiges Opfer keinen Schutz durch § 291 StGB genießt. Die Opfermitverantwortung hat insoweit – wenngleich auch „verborgenen“ – Einfluss auf die Strafbarkeit der ausbeutenden Person.

2. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch dem Tatbestand der Untreue zu. Eine Mitverantwortung des Opfers kann hier insbesondere in einem Einverständnis des Vermögensinhabers in die Vermögensschädigung zum Ausdruck kommen. Liegt ein solches Einverständnis vor, wirkt dieses bekanntlich grundsätzlich tatbestandsausschließend. Voraussetzung ist dabei, dass das Einverständnis wirksam erteilt wurde. Dies kann ausgeschlossen sein, wenn das Einverständnis gesetzeswidrig oder erschlichen ist, auf sonstigen Willensmängeln beruht oder seinerseits pflichtwidrig ist.

_____ 2 BT-Drs. 7/3441, S. 41.

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Praxisrelevant sind dabei insbesondere die Fälle, in denen der Vermögensinhaber seine Zustimmung zu Risikogeschäften erteilt hat. Sofern die Zustimmung auf einer umfassenden Information über das Verlustrisiko beruht, ist eine Pflichtverletzung zu verneinen. Der Vermögensinhaber als „Opfer“ trägt also eine Mitverantwortung an dem letztlich eingetretenen Vermögensschaden. Thematisiert wurde dies in diversen Landesbankenverfahren, zuletzt etwa im Verfahren gegen die Vorstände der BayernLB, in welchem das LG München I eine Pflichtverletzung auch aufgrund der durch die ausreichend informierten Anteilseigner erfolgten Einwilligung in den riskanten Kauf der Hypo Group Alpe Adria im Rahmen der Eröffnungsentscheidung ausschloss.3 Zwar hob das OLG München den Beschluss des LG München I auf, das Verfahren endete jedoch ohne Verurteilung bzgl. einer Untreue; lediglich einer der Angeklagten wurde nach § 299 StGB zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Noch bedeutsamer ist die Rolle des vermeintlichen „Opfers“ etwa im Strafverfahren um die SachsenLB. Dort wird den ehemaligen Vorständen vorgeworfen, bei der Auflegung von ABS-Strukturen zu hohe, den Bestand der Bank gefährdende Risiken eingegangen zu sein. Die Vorwürfe der Pflichtverletzung werden u.a. auf einen Verstoß gegen den im Gesetz über das öffentlichrechtliche Kreditwesen (GÖRK) im Freistaat Sachsen verankerten öffentlichen Auftrag einer Landesbank, die Missachtung von Großkreditvorschriften und die Eingehung von Klumpenrisiken gestützt. Allerdings wurden nach dem Gesetz über die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute im Freistaat Sachsen und die Sachsen-Finanzgruppe „die eigentümergeprägten Oberziele“ durch die Anteilseignerversammlung beschlossen und vom Verwaltungsrat waren nach diesem Gesetz „Geschäftsanweisungen für […] den Vorstand im Rahmen der von der Anteilseignerversammlung beschlossenen eigentümergeprägten Oberziele“ zu erlassen. Vorsitzender der Anteilseignerversammlung wie auch des Verwaltungsrates (und weiterer Gremien) war der Finanzminister des Freistaates Sachsen, dem auch zugleich die Bankenaufsicht oblag. Das Konstrukt der ABS-Strukturen war wohl allen Aufsichtsgremien bekannt, wurde u.a. dem Haushalts- und Finanzausschuss des sächsischen Landtags als auch später noch einmal Mitgliedern des Verwaltungsrates erläutert. Der dem Vorstand als pflichtwidrig vorgeworfene Ausbau der (gehebelten) Volumina – bei unverändertem Grundmodell – ging auf einen „Vorratsbeschluss“ des Verwaltungsrates zurück, in dem nahezu alle Mitglieder der Anteilseignerversammlung vertreten waren.

_____ 3 LG München I, Beschluss v. 6.8.2013 – 6 KLs 406 Js 44754/09, beck-online.

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In diesem wie auch anderen der sog. Landesbanken-Verfahren stellt sich nicht nur evident die Frage eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses der vermeintlich pflichtwidrig geschädigten Anteilseigner. Denn hat der Geschäftsherr dem Handelnden ausdrücklich die waghalsigen Unternehmungen gestattet, ist – so Seier mit Recht – „kraft Einverständnisses das Risikogeschäft erlaubt. Dabei ist einerlei, ob der Handelnde die Sorgfaltsregeln eines sonst ordentlichen Kaufmanns grob missachtet, ob die Verlustgefahr größer ist als die Gewinnaussicht, ob das Geschäft letztlich ins Fiasko führt oder nicht. So oder so liegt keine Treueverletzung vor.“4 Aber auch bei unwirksamem Einverständnis kann einer etwaigen Mitverantwortung des Vermögensinhabers bereits auf Tatbestandsebene Bedeutung zukommen: Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Täter von einer Wirksamkeit des Einverständnisses ausgeht und daher ohne Vorsatz handelt. Unabhängig von einem im Einzelfall erteilten Einverständnis des Vermögensinhabers – und der Frage der Wirksamkeit – kann das Problem der Opfermitverantwortung aber auch im Rahmen der Einräumung und der internen Handhabung der Vermögensbetreuungsbefugnis eine Rolle spielen. Dies kann etwa im Hinblick auf den Umfang der Einräumung einer Vermögensbetreuungsbefugnis durch den Vermögensinhaber relevant sein. Überdies wird man eine Mitverantwortung des Vermögensinhabers nicht von der Hand weisen können, wenn dieser dem Täter die Befugnis in Kenntnis dessen Unzuverlässigkeit eingeräumt oder ihn nicht ausreichend kontrolliert und überwacht hat.5

3. Schließlich soll in diesem Zusammenhang die Steuerhinterziehung Beachtung finden, obwohl der Wortlaut des § 370 AO zunächst nicht ohne weiteres auf die Berücksichtigung einer etwaigen Opfermitverantwortung hindeutet. Gleichwohl wird seit längerem diskutiert, ob der Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO neben dem ausdrücklichen Wortlaut auch einen Irrtum oder zumindest eine Unkennt-

_____ 4 Achenbach/Ransiek/Rönnau/Seier Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., 5. Teil 2. Kap. Rn. 396. 5 Nach der Rechtsprechung des BGH dürfte dies in der Regel keine Auswirkungen auf Tatbestandsebene haben, allerdings ist eine Berücksichtigung auf Strafzumessungsebene grundsätzlich möglich (vgl. etwa BGH wistra 2007, 261; wistra 1986, 172).

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nis der Finanzbehörden vom wahren Sachverhalt voraussetzt. Die Finanzbehörde ist insoweit Repräsentant des „Opfers Fiskus“. So wird im Schrifttum zum Teil vertreten, dass die Unkenntnis der Finanzbehörde in Persona des zuständigen Finanzbeamten als Tatbestandsmerkmal in die Norm hineinzulesen sei, die Kenntnis mithin tatbestandsausschließende Wirkung entfalte.6 Als Anknüpfungspunkt wird dabei u. a. auf das in der Norm enthaltene Wort „dadurch“ abgestellt, in welchem der Zurechnungsbezug zwischen Handlung und Erfolg besonders zum Ausdruck komme.7 Die geforderte Kausalität sei zu verneinen, wenn die Behörde die tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen kenne, da sie es dann selbst in der Hand habe, die Steuer zutreffend festzusetzen und beizutreiben. In Abgrenzung zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, dessen Wortlaut ausdrücklich auf die „Unkenntnis“ der Finanzbehörden abstellt, sei es widersprüchlich, wenn einerseits unvollständige Angaben gegenüber „wissenden“ Finanzbeamten strafbar wären, während die Nichtabgabe einer Steuererklärung gegenüber einem „wissenden“ Finanzbeamten andererseits straflos bliebe.8 Der BGH hat diese Position in seiner Rechtsprechung der vergangenen Jahre jedoch stets abgelehnt: Bereits in der Entscheidung zur Parteispendenaffäre vom 19.12.19909 stellte der 3. Strafsenat sich auf den Standpunkt, dass ein Irrtum auf Seiten der Finanzbehörden nicht zum Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gehöre. Dem stimmte der 5. Strafsenat in einer Entscheidung vom 19.10.199910 zu, führte aber weiter aus, dass eine positive Kenntnis aller für die Steuerfestsetzung erheblichen Tatsachen dann für die Tatbestandsverwirklichung von Bedeutung sein könne, wenn zusätzlich alle relevanten Beweismittel i.S.v. § 90 AO bekannt und verfügbar seien.11 Hierzu äußerte sich schließlich der 1. Strafsenat in einem obiter dictum vom 14.12.2010:12 Der Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO sei selbst dann verwirklicht, wenn der zuständige Veranlagungsbeamte von allen für die Veranlagung bedeutsamen Tatsachen Kenntnis habe und zudem sämtliche Beweis-

_____ 6 MüKo-StGB/Schmitz/Wulf 1. Aufl., § 370 AO Rn. 241; Steinberg wistra 2012, 45; Wegner PStR 2012, 46. 7 Vgl. Koops/Gerber DB 2011, 786; Hild StraFo 2008, 445. 8 MüKo-StGB/Schmitz/Wulf 1. Aufl., § 370 AO Rn. 241; Franzen/Gast/Joecks/Joecks 7. Aufl., § 370 AO Rn. 194. 9 BGH wistra 1991, 138. 10 BGH wistra 2000, 63. 11 So auch BGH wistra 2001, 263. 12 BGH NStZ 2011, 283.

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mittel bekannt und verfügbar seien. Das Erfordernis der „Unkenntnis“ der Finanzbehörde stünde im Widerspruch zur Wertung des Gesetzgebers in den Regelbeispielen des § 370 Abs. 3 S. 2 Nrn. 2 und 3 AO, die die Mitwirkung eines Amtsträgers unabhängig von dessen Zuständigkeit als besonders strafwürdig einstufen würden. Gerade durch das „Machen falscher Angaben“ realisiere sich die durch § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO rechtlich missbilligte Gefahr einer Steuerverkürzung. Diese Auffassung bestätigte der 1. Strafsenat im Übrigen in seiner Entscheidung vom 21.11.2012 zur Hinterziehung von Umsatzsteuern beim Handel mit Emissionszertifikaten.13 Gleichwohl ist in der Entscheidung vom 14.12.2010 jedenfalls ein Hinweis auf eine mögliche Berücksichtigung innerhalb der Strafzumessung enthalten: Danach können die Besonderheiten des Einzelfalls eine Strafmilderung ermöglichen, wenn ein Einschreiten der Finanz- und Ermittlungsbehörden „unabweisbar geboten“ war.14 Das Verhalten des Veranlagungsbeamten kann insoweit „(gleich einem Mitverschulden oder einer Mitverursachung des Verletzten) strafmildernd zu berücksichtigen“ sein.15 Offen lässt der 1. Strafsenat in dieser Entscheidung allerdings, wann ein Einschreiten „unabweisbar geboten“ sein soll. Dies wird auch in der Entscheidung vom 21.11.2012 zum Handel mit Emissionszertifikaten nicht näher ausgeführt, sondern es wird darauf abgestellt, dass es den Täter regelmäßig nicht entlasten könne, dass Ermittlungsbehörden nicht rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um den Eintritt des Taterfolgs zu verhindern.16 Umstände, die ein Einschreiten unabweisbar geboten hätten, seien nicht unter Beweis gestellt worden. Dieser Entscheidung lag die Ablehnung eines Antrags zugrunde, der auf die Vernehmung eines Finanzbeamten gerichtet war zum Beweis der Tatsache, dass die Zustimmung zur Erstattung von Umsatzsteuer aus „ermittlungstaktischen Gründen“ erteilt wurde. Der 1. Strafsenat sieht in der Ablehnung des Beweisantrags als „aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos“ keinen Rechtsfehler – weder im Hinblick auf die Tatbestandsverwirklichung noch auf die Strafzumessung. Insoweit dürfte jedenfalls davon auszugehen sein, dass nach Auffassung des 1. Strafsenats ein Einschreiten dann nicht „unabweisbar“ geboten ist, wenn ermittlungstaktische Erwägungen entgegenstehen.

_____ 13 14 15 16

BGH wistra 2013, 107. BGH NStZ 2011, 283, 284. BGH NStZ 2011, 283, 284. BGH wistra 2013, 107, 109.

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III. Berücksichtigung der Opfermitverantwortung 1. Nach diesen vermeintlich oder tatsächlich „verborgenen“ Problemen der Opferbzw. Adressatenmitverantwortung ist abschließend das Betrugsstrafrecht zu behandeln. Entsprechend den Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Kölbel ist das Thema Opfermitverantwortung allerdings „ganz und gar nicht verborgen“: Dies gilt insbesondere bzgl. der Frage, wann eine Täuschung vorliegt. So erfolgt etwa bei der Auslegung vertragsrelevanter Erklärungen häufig eine Orientierung an den Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs. Eine Frage, die – etwa gerade aktuell in Zusammenhang mit Insertionsofferten17 und mehr oder weniger verdeckten, also „verborgenen“ kostenpflichtigen Web-Angeboten18 – erörtert wird, ist, ob besonders sorglose Menschen ggf. vom Schutz des § 263 StGB ausgenommen werden können. Diesen Ansatz verfolgt – wie bereits erörtert – die sog. Viktimodogmatik. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das europäische Verbraucherleitbild zu erwähnen. So nahmen die Diskussionen um die Berücksichtigung einer Opfermitverantwortung in jüngerer Vergangenheit auch Bezug auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben im Wettbewerbsrecht. Diesen liegt zum einen eine Entscheidung des EuGH zur Auslegung der Richtlinie 84/450/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung zugrunde, wonach hinsichtlich der Frage einer Irreführung auf die mutmaßliche Erwartung eines „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers“ abzustellen sei,19 und zum anderen der Wortlaut der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr, in welcher hinsichtlich einer irreführenden Handlung ebenfalls unmittelbar auf den „Durchschnittsverbraucher“ abgestellt wird. Es liegt auf den ersten Blick durchaus nahe, dieses Verbraucherleitbild im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung gleichermaßen in das Tatbestandsmerkmal der Täuschung wie des Irrtums in § 263 StGB einfließen zu lassen. Mit Urteil vom 5.3.2014 schloss der 2. Strafsenat eine Anwendung

_____ 17 Vgl. zuletzt: BGH ZWH 2014, 428. 18 Vgl. etwa: BGH NJW 2014, 2595. 19 EuGH, Urteil v. 16.7.1998 – C-210/96, Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657, Rn. 31.

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des europäischen Verbraucherleitbilds auf den Betrugstatbestand allerdings aus.20 In der Entscheidung ging es um sog. Abo-Fallen im Internet – und zwar in Form eines kostenpflichtigen Online-Routenplaners: Diese Internetseite war so aufgebaut, dass bei ihrem Aufruf zunächst eine Startseite erschien, auf der von dem Nutzer verschiedene Angaben zum Standund Zielort zu machen waren. Nach Betätigung des Buttons „Route berechnen!“ erschien eine neue Seite, in deren unterem Bereich von dem Nutzer die Schaltfläche „Route planen“ anzuklicken war. Unterhalb dieser Schaltfläche befand sich ein Fußnotentext, auf den mit einem Sternchenhinweis verwiesen wurde. Am Ende dieses mehrzeiligen Fußnotentextes war der Preis für einen dreimonatigen Zugang zu dem Routenplaner in Höhe von 59,95 € in Fettdruck ausgewiesen. In Abhängigkeit von der Größe des Monitors und der verwendeten Bildschirmauflösung endete der sichtbare Teil der Internetseite unmittelbar nach der Schaltfläche „Route planen“, so dass der Hinweis auf das zu zahlende Entgelt auf den ersten Blick nicht wahrzunehmen war. Das zu zahlende Entgelt in Höhe von 59,95 € war auch in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufgeführt, die über den Link „AGB und Verbraucherinformation“ aufrufbar waren und von dem Nutzer akzeptiert werden mussten. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthielten darüber hinaus eine Bestimmung, wonach dem Nutzer über den Betrag in Höhe von 59,95 € eine Rechnung zugesandt und der Rechnungsbetrag vorbehaltlich des Widerrufsrechts unmittelbar nach Vertragsschluss fällig werde. Der 2. Strafsenat gelangt trotz des AGB-Hinweises zu einer Strafbarkeit nach § 263 StGB. Er stützt – nach einer sehr grundsätzlichen Auseinandersetzung zur richtlinienkonformen Auslegung nationaler Strafnormen – seine Entscheidung unter anderem darauf, dass die Richtlinie 2005/29/EG nicht den Zweck verfolge, „Geschäftspraktiken straffrei zu stellen, die zu einer Verletzung von Rechtsgütern der Verbraucher führen, und Verhaltensweisen zu privilegieren, die auf die Täuschung unterdurchschnittlich aufmerksamer und verständiger Verbraucher gerichtet sind (…). Irreführende Geschäftspraktiken, die dazu dienen, den Verbraucher durch gezielte Täuschung an seinem Vermögen zu schädigen, werden von dem Schutzzweck der Richtlinie daher nicht erfasst“.21 Und im Kern: Es komme „nicht darauf an, was der Getäuschte hätte verstehen müssen, sondern was er tatsächlich verstanden hat“.22 Diese Recht-

_____ 20 BGH NJW 2014, 2595. 21 BGH NJW 2014, 2595, 2597. 22 Ebd.

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sprechung wurde vom Senat in der Entscheidung vom 28.5.2014 zur Strafbarkeit sog. Insertionsofferten bestätigt.23 Hierin wird in der Literatur vielfach ein Widerspruch zu der mit der Richtlinie angestrebten Harmonisierung zwischen nationalem und europäischem Recht gesehen.24 Danach dürfen Geschäftspraktiken, die europarechtlich nicht als irreführend einzuordnen sind, auch nach nationalem Recht nicht untersagt, geschweige denn strafrechtlich sanktioniert werden.25 In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass die überwiegende Zahl der Kommentatoren dieser Entscheidung – und letztlich auch der Senat selbst – zu dem Schluss kommen, dass man auch bzw. gerade unter Beachtung der Richtlinie zu einer Betrugsstrafbarkeit gelangt,26 da der durchschnittliche Verbraucher – so Cornelius im aktuellen Heft des StraFo überzeugend – „bei einem Routenplaner regelmäßig keinen Preis erwartet“ und die Webseite auch „nicht nach einem entsprechenden Preis“ durchsucht.27 Dies einmal dahingestellt, gilt mit Blick auf das Thema der Opfermitverantwortung gerade bei sog. „Abo-Fallen“ vor dem Hintergrund des eingegangenen Vertragsverhältnisses, dass insoweit der Horizont des objektiven Empfängers maßgeblich ist28 –mithin des konkreten Erklärungsempfängers und nicht eines idealisierten Verbraucherleitbilds: Selbstverständlich gilt – so Fischer in seiner Kommentierung zu § 263 StGB prägnant – „freilich auch hier, dass die irrationale Hoffnung, in einem anonymen Markt auf Wohltäter zu stoßen, die Waren oder Dienstleistungen praktisch verschenken, durch § 263 StGB nicht geschützt ist.“29 Man wird dies aber stets am konkreten Opfer bzw. im Hinblick auf die angesprochenen praxisrelevanten Fallgruppen Insertionsofferten oder „Abo-Fallen“ an der konkreten Zielgruppe zu prüfen haben. Dies fällt bei Insertionsofferten naturgemäß leichter als bei einem Web-Angebot, das sich an einen quasi unbegrenzten Kreis richtet. Wer sich hier in pauschaler Weise an einem idealisierten Verbraucherleitbild orientiert, riskiert, dass intellektuell deutlich unterlegene

_____ 23 BGH ZWH 2014, 428; vgl. auch BGH NJW 2011, 1236 (5. StS): Danach begründet die Richtlinie nur einen Mindest-, aber keinen Höchstschutz. 24 Hecker/Müller ZWH 2014, 329, 334; Müller NZWiSt 2014, 387, 394 ff. 25 Hecker/Müller ZWH 2014, 329, 334; Müller NZWiSt 2014, 387, 394 ff.; vgl. auch. Cornelius StraFo 2014, 476. 26 Cornelius StraFo 2014, 476, 477. 27 Cornelius ebd. 28 BGHSt 47, 1, 4; Schönke/Schröder/Perron 29. Aufl., § 263 Rn. 14/15; Fischer 61. Aufl., § 263 Rn. 28; Geisler NStZ 2002, 86, 88. 29 Fischer 61. Aufl., § 263 Rn. 28b.

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Menschen, die vielleicht besonders schützenswert sind, vom strafrechtlichen Schutz ausgenommen werden. Letztlich wird man hier nicht umhin kommen, Täuschung und Irrtum, in jedem Einzelfall bezogen auf den konkreten Adressaten, mithin den individuellen Empfängerhorizont zu prüfen. Die BGH-Rechtsprechung behilft sich bekanntlich seit einiger Zeit gerade in Zusammenhang mit Betrugsdelikten im Internet mit der Vernehmung einiger sog. „repräsentativer“ Zeugen, von denen auf andere Verfügende geschlossen wird.30 Dies wird aber der erforderlichen individuellen Bestimmung des Empfängerhorizontes des „Opfers“ nicht gerecht. Die Instanzgerichte nutzen hingegen vielfach die „Krücke“ des Versuchs, um den tatsächlichen Irrtum beim „Opfer“ nicht nachweisen zu müssen.31 Andere wiederum machen massenhaft von § 154 StPO Gebrauch; das scheint verfahrensrechtlich die – „gefühlt“ – „sauberste“ Lösung zu sein. Einmal mehr wirken sich insoweit verfahrensrechtliche bzw. tatsächliche Probleme bei der Beweisaufnahme de facto materiell-rechtlich aus.32 Schließlich wird hinsichtlich eines konkreten Opfermitverschuldens beim Tatbestandsmerkmal des Irrtums vielfach diskutiert, ob und ab welchem Intensitätsgrad Zweifel des Opfers am Wahrheitsgehalt einer Behauptung einen Irrtum ausschließen können, was der BGH aber bekanntlich letztlich in ständiger Rechtsprechung verneint.33 Auch die Vermeidbarkeit eines Irrtums steht nach ständiger Rechtsprechung einer Verwirklichung des Tatbestands nicht entgegen – zuletzt etwa bestätigt durch eine Entscheidung des 3. Strafsenats vom 27.3.201434 zu sog. PingAnrufen.

2. Unbestritten sind – in diesen und anderen Fällen – mögliche Auswirkungen der Opfermitverantwortung auf Strafzumessungsebene: Obwohl ein Mitverschulden des Opfers in der insoweit maßgeblichen Norm des § 46 StGB nicht explizit aufgeführt ist, hat sich dieser Umstand als weitere Strafzumessungstatsache von

_____ 30 So etwa BGH NStZ 2013, 422, 423 (1. StS); wistra 2014, 97, 98 (3. StS); BGH NJW 2014, 2132 (4. StS); vgl. auch BGH NJW 2014, 2595, 2599 (2. StS). 31 Vgl. insoweit auch BGH NJW 2014, 2595, 2599. 32 Vgl. hierzu schon Weigend in: Schmoller (Hrsg.), Triffterer-FS 1996, S. 695. 33 BGH wistra 1990, 305; NJW 2001, 3718, 3719; NStZ 2003, 313, 314. 34 BGH StV 2014, 670 m. Anm. Jahn JuS 2014, 848.

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erheblichem Gewicht herausgebildet. Grund dafür ist, dass dieses Mitverschulden sowohl Einfluss auf die Tatschuld als auch auf das Tatunrecht haben kann. So liegt eine Minderung der Tatschuld beispielsweise nahe, wenn erst durch das Verhalten des Opfers ein Tatanreiz gesetzt oder die Entscheidung zur Tatbegehung hervorgerufen wurde.35 Eine Minderung des Tatunrechts kann sich zudem durch eine geringere Schutzwürdig- und Schutzbedürftigkeit des Opfers ergeben, etwa weil der Täter – wie im Falle eines besonders leichtsinnigen Opfers – weniger kriminelle Energie aufbringen muss.36 Zu bedenken ist dabei im Gegenzug aber auch, inwieweit sich eine vermeintliche Mitverantwortung des Opfers – das etwa dem angeführten „idealtypischen“ Verbraucherleitbild nicht entspricht – unter Umständen strafschärfend auswirken kann. So kann es ggf. für eine nicht unerhebliche kriminelle Energie des Täters sprechen, wenn etwa eine intellektuell deutlich unterlegene Position des Opfers gezielt ausgenutzt wird.37 Eine Verteidigung de lege artis hat also behutsam mit der möglichen Thematisierung von Opfermitverantwortung umzugehen – unabhängig davon, ob diese „offen“ oder verborgen im Tatbestand angelegt ist.

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_____ 35 Ellmer, Betrug und Opfermitverantwortung, 1986, S. 88. 36 OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 333. 37 OLG Düsseldorf StV 1993, 76.

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Diskussion Diskussion Diskussion Cornelius Prittwitz Vielen Dank auch Ihnen, Herr Gercke. Mögen nun Probleme der Opfermitverantwortung verborgen gewesen sein oder nicht, es gibt ja, wie wir aus der Kriminologie wissen, nicht nur Hell- und Dunkelfeld, sondern auch Grauzonen, Wissen also, das man vage hat, das aber durch Sie, soweit es bekannt war, bestens aktualisiert und uns in Erinnerung gerufen wurde. Wir sind, wenn ich auf die Uhr schaue, wie ein InterCity der Bundesbahn, mit einer halber Stunde Verspätung unterwegs – was bekanntlich aber noch nicht kostenpflichtig ist. Von daher würde ich sagen, dass wir auf keinen Fall darauf verzichten sollten, diese Teileinheit des Symposions zu diskutieren. Ich sehe schon erste Wortmeldungen und enthalte mich daher der unbeliebten Art der Moderatoren, unter dem Vorwand der Strukturierung der Diskussion erst einmal selbst etwas zum Thema zu sagen. Roman Reiß Eine kurze Wortmeldung. Ich möchte diesem Kanon, diesem verborgenen Kanon, dem Kanon mit dem verborgenen Problem der Opfermitverantwortung etwas spontan hinzufügen: Was ist denn mit der Auslandsbestechung? Wenn ich sage, der ausländische Wettbewerb, der möglicherweise die Tat nicht strafbar sein lässt, das ist ein § 9 Abs. 2 S. 2 StGB-Thema, oder aber, bei dem es einfach üblich ist, dass bestochen wird, dass es eine wahre Wonne ist – wie ist es denn mit so einem Wettbewerb? Ist dieser überhaupt noch schützenswert? Kann ich das über dieses Thema nicht auch abbilden? Jochen Hörisch Wiederum aus der Perspektive einer Medienwissenschaft, wie es öffentlich beobachtet wird; da finde ich es auffällig, wenn ich es richtig nachvollziehe, dass bei Opfermitverantwortung in bestimmten Bereichen es so gut wie unmöglich wäre öffentlich durchzusetzen, mit Opfermitverantwortung zu argumentieren. Ich denke etwa – klassisch – boulevardisierungsmäßig naheliegend: Vergewaltigungsfälle. „Die hat einen zu kurzen Rock angehabt“ usw. Also wenn ich das wahrnehme, ist das in den letzten Jahrzehnten – Gott sei Dank füge ich gleich hinzu – weggenommen worden, ähnlich wohl auch, wenn man sagt „Aha, das ist sozusagen viktimologisch gesehen einer, der will überfallen und ausgeraubt, der will erpresst werden. Er bietet sich von der ganzen Psychostruktur her geradezu an, erpresst zu werden.“ Da ist es, glaube ich so, dass es schwieriger ist mit so einem Argument durchzukommen. Meine Frage wäre also ein beiden Re-

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ferenten: Gibt es Spezifika in der wirtschaftsrechtlichen Konstellation, wo man Opfermitverantwortung anders einbringen kann als etwa beim Sexualstrafrecht? Die zweite Frage, auch wirklich nur ganz kurz: Wenn ich das richtig sehe wiederum im internationalen Rechtsvergleich finde ich kulturell sehr auffallend, dass man in Deutschland keine große Chance hat, einen Tabakkonzern zu verklagen, weil man sagt: „Ich habe Lungenkrebs. Ich rauche zwei Packungen am Tag.“ Oder „Ich trinke am laufenden Band Coca Cola und habe ein Übergewichtsproblem. Also Coca Cola, 3 Milliarden oder so was“ Also auch da würde mich die kulturelle Rahmung der Diskussion sehr, sehr stark interessieren. Matthias Jahn Ich denke, es ist kein Geheimnis, dass ich hier wissenschaftlich größere Sympathie für die Position hege, die Björn Gercke vorgestellt hat, und deshalb zwei kurze Fälle, die ich gerne mit Herrn Kölbel besprechen möchte: Der erste ist der Fall einer Person, die sich von dem bekannten Werbeslogan „Red Bull verleiht Flüüügel!“ dazu verleiten lässt, das Getränk zu kaufen. Aber der Veräußerer weiß dabei sehr genau, dass man unter dem Einfluss auch enormer Mengen von Red Bull nicht fliegen kann. Frage also: Keinerlei Opfermitverantwortung, keinerlei Berücksichtigung unterlassener zurechenbarer Selbstschutzmaßnahmen des Verletzten, sondern Berücksichtigung dieses Zusammenhanges nur auf Ebene der Strafzumessung oder über die weiche Lösung der strafprozessualen Opportunitätseinstellungsvorschriften? Und ein zweiter Fall, den ich ebenfalls der vorletzten NJW entnehme (Anm.: Majer/Buchmann Die „Abo-Falle“ im Internet – Mitverschulden des Betrogenen und Europarecht, NJW 2014, 3342 [3344]). Die Autoren sagen, in voller Schärfe stelle sich das Problem, also die fehlende Berücksichtigungsfähigkeit von viktimodogmatischen Überlegungen, generell bei offensichtlich absurden Behauptungen. Sie bringen dazu noch das Beispiel des Verkaufs von Sandalen, mit denen man auf Wasser laufen können soll. Auch hier müsse das leichtgläubige Opfer geschützt werden. Stimmt das, Herr Kölbel? Ralf Kölbel Ich glaube, wir müssen bei dem, worüber ich gesprochen habe zwei Punkte auseinanderhalten. Also ich glaube, wir müssen auseinanderhalten: Konstellationen, wie sie auch Herr Gercke vorgestellt hat, die faktisch in ihrer Wirkung auf eine Opfermitwirkungsberücksichtigung hinauslaufen – und das mag durch eine entsprechende Auslegung des Täuschungs- oder Irrtumsmerkmals auch hergestellt werden. Von dieser Frage müssen wir sozusagen das unterscheiden, wovon ich gesprochen habe: und das ist der auslegungsleitende Topos, der an verschiedenen Stellen bei dem Betrugstatbestand, aber auch bei anderen Straftatbeständen, zur Geltung gebracht werden könnte und der besagt, Opfermit-

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wirkung muss im Hinblick auf Selbstverantwortlichkeitserwägungen und dergleichen – Subsidiarität des Strafrechts – tatbestandseinschränkend berücksichtigt werden. Was nicht immer durchschlagen muss, sondern da kann es auch kollidierende Erwägungen geben, die dann dazu führen, dass man das dann doch nicht macht. Ich habe allein von dem Prinzip gesprochen. Deswegen will ich ein bisschen vorsichtig sein und sagen: Ihre Fälle, die will ich gar nicht lösen, sondern darüber würde ich mal gründlicher nachdenken, ob ich nicht zu dem von Ihnen erwünschten Ergebnis gelange, ohne dieses viktimo-dogmatisch leitende Prinzip. Denn ich meine als ein Prinzip mit all dem, was da mit dranhängt, wenn man von dem Prinzip spricht, hätte ich es nicht gerne – und dagegen habe ich mich gewandt. Öffentlich nicht begründbare Zuschreibung der Opfermitverantwortung: Was diese Opfermythen betrifft, die Sie überwunden glauben – da bin ich mir nicht ganz so sicher. Da gibt es viele Kollegen aus der Sozialpsychologie, die sehen das ein bisschen anders. Die würden gerade bei dem zu kurzen Rock noch immer die Frage stellen, ob das nicht ein Anknüpfungspunkt ist. Ich meinte aber im ersten Teil meines Vortrages signalisiert zu haben, dass sich in diesen Perspektiven etwas verändert hat. Das wäre gewissermaßen meine Diagnose, die ich an den durchaus vagen Befunden ablese, dass ich sozusagen die Begründungsfähigkeit von Opfermitverantwortung und entsprechend Zuschreibung- oder Zurechnungsprozessen auch im wirtschaftsstrafrechtlichen Bereich momentan jedenfalls eingeschränkt sehe. Das deckt sich, glaube ich, mit Ihrer medienwissenschaftlichen Analyse: Es passt nicht in das Stimmungsbild hinein. – Diese Schadensersatzklagen, die Sie ansprachen, muss man vor dem Hintergrund ihrer Funktion sehen. Die haben eine dezidiert wirtschaftssteuernde, regulierende Funktion. Da wird gerade durch die Symbolkraft, die in diesen exorbitanten Summen steckt, anstelle von strafrechtlichen Interventionen oder ähnlichen Sanktionsinstrumenten reguliert: durch die Judikatur, in dem man sozusagen abschreckend bestimmte Praktiken eindämmen will. Das erklärt letztlich die Höhe der Beträge. Da geht es nicht um das Opfer als solches. Das wird funktionalisiert und instrumentalisiert. – Auslandsbestechung.. Es gehört vielleicht mit in die Thematik hinein. Als wir das erste Telefonat geführt haben, Herr Gercke und ich, wollte ich ursprünglich über Opfermitwirkungsaspekte im Korruptionskontext was machen. Da habe ich nicht genügend dazu gefunden. Deswegen habe ich es doch gelassen – aber es gehört in den Themenkreis hinein. Für meine Begriffe würde ich hier aber an der Grundaussage meiner Haltung festhalten wollen. Björn Gercke Ich möchte zur ersten Frage, die die Auslandskorruption betrifft, etwas sagen. Ich vertrete hier die These, dass Korruption vielleicht ein opferloses De-

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likt ist. Insofern passt das hier meines Erachtens gar nicht rein. Soweit wir einen Opferwettbewerb haben, passt das für mich nicht in diesen Kontext Opfermitverantwortung, weil, wie ich eingangs gesagt habe, Opfermitverantwortung, wie wir sie hier diskutieren, Interaktion zwischen Individuen voraussetzt. Roman Reiß Kurze Gegenrede dazu: Dann ziehe ich den Vergleich zum Steuerrecht, zur Steuerstrafbarkeit, zur Steuerhinterziehung, die Sie ja gerade angeführt haben, und da haben Sie ja auch den Finanzbeamten mit dem Opfer quasi gleichgesetzt – der ist das ja auch nicht? Björn Gercke Er ist Repräsentant des Opfers Fiskus. Bei Steuerhinterziehung habe ich einen, aus meiner Sicht, abstrakt Geschädigten, und dann kann man das ja auch weiterziehen und fragen, wer hinter dem Fiskus steht? Der Staat, das wird ja immer bemüht in der Diskussion, das sind letztlich wir alle. Ich kann mir durchaus Korruptionssituationen vorstellen – und mit mir, denke ich, auch die meisten Kollegen, die entsprechende Fälle bearbeiten –, die vielleicht anrüchig sind, die aber wirtschaftlich – ich will jetzt nicht sagen – förderlich, aber zumindest in gewissem Maße opferlos sind. Bei der Steuerhinterziehung, finde ich, egal ob ich alles teile, was der erste Strafsenat und die Staatsanwaltschaften landauf, landab von sich geben, hat man einen sehr konkret Geschädigten. Das kann man sich bildlich schon ganz anders vorstellen. Cornelius Prittwitz Das führt zu der interessanten Frage, wo die Grenze zwischen Opferlosigkeit und Opferverdünnung ist. Irgendwo sind wir alle Opfer, vor allem solcher Delikte, bei denen die Opfer nicht so gut zu sehen sind. Mark Wahrenburg Ich habe mich ein bisschen gewundert, dass extreme Beispiele, wo das Opfer zum Täter wird, quasi gar nicht genannt wurden. Ich denke an den Berufskläger im Zusammenhang mit Prospektbetrug, Menschen, die nach einer Emission Wertpapiere kaufen, entweder den Gewinn einstreichen, wenn der Kurs steigt oder wenn der Kurs fällt eben solange im Prospekt suchen, bis sie irgendeinen Fehler finden und dann ja eigentlich nicht Opfer sondern der Täter sind. Kann man das nicht auch unter dem Stichpunkt Opfermitverantwortung fassen?

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Gina Greeve Nur eine Ergänzung, speziell zu den Wettbewerbsdelikten. In Bezug auf die Wettbewerbsdelikte stellt sich – das ist sehr naheliegend zu unserem Thema hier – die Frage des geschützten Rechtsgutes und primär schon die Frage des abstrakt geschützten Wettbewerbs als Rechtsgut – mitgeschützt sind insoweit Individuen, nämlich durchaus Mitbewerber. Es gibt sicherlich absurde Situationen, nämlich dann, was Sie angesprochen haben, wenn ein Wettbewerb betrieben wird, in dem es eigentlich nur noch Täter gäbe und insoweit vielleicht keine Opfer mehr bzw. insoweit tatsächlich nur ein abstraktes Opfer. Dahinter verbergen sich natürlich noch weitere Rechtsfragen, die auch Fragen der Akzessorietät des Vergaberechts betreffen, aber auch eine grundsätzliche Frage, inwieweit ein nichtiger Wettbewerb, nämlich nichtige Rechtsgeschäfte, die zu Grunde liegen, überhaupt ein geschütztes Rechtsgut sein können und das Ganze wird dann im Zirkelschluss richtig lustig, weil dann letztendlich tatsächlich der individuelle Täter über das Rechtsgut entscheiden könnte, ob es ein geschütztes Rechtsgut ist oder nicht. Man kann das weiter denken und das sind sicherlich sehr schwierige Fragen, auch unter dem Gesichtspunkt der Nichtigkeit von Rechtsgeschäften. Da muss sehr differenziert werden, denke ich, v.a. mit Blick auf Opfermitverantwortung und geschütztes Rechtsgut bzw. Reichweite des geschützten Rechtsgutes. Georg Steinberg Zum Red Bull-Dilemma. Prinzipiell muss es doch so sein, dass das besonders anfällige Opfer, das körperlich oder psychisch anfällige Opfer oder das besonders leichtgläubige Opfer besonders geschützt werden muss. Das würde ich einerseits als Prinzip ansehen. Dann kommt aber die Gegenkomponente ins Spiel, dass beispielsweise im Straßenverkehr jemand, der so vorgeschädigt ist, dass bereits ein leichter Auffahrunfall bei ihm schwere Schäden herbeiführt, nicht geschützt, sondern die Zurechenbarkeit unterbrochen ist. Die Idee wäre zu sagen, im Wirtschaftsstrafrecht beteiligen sich die Personen ebenfalls in einem bestimmten kommunikativen Kontext, und unter bestimmten Umständen wird auch hier die Zurechnung unterbrochen. Das hieße, dass man keine SchwarzWeiß-Lösung erhält, sondern dass man in diesen Fällen tatsächlich abwägen müsste. Cornelius Prittwitz Bevor ich den Referenten das Wort gebe, eine Anmerkung zum Red Bull-Fall. Dieser Fall könnte ja genau ein solcher Fall sein, wie ihn Herr Wahrenburg erwähnt hat, in dem das Opfer eigentlich Täter ist. Es könnte ja sein, dass kein vernünftiges Gericht sagt: „Wir glauben Dir kein Wort, dass Du gedacht hast,

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fliegen zu können oder dass allein die Sandalen Dich zum Jesus machen. Das glauben wir Dir einfach nicht. Du nutzt aus, dass Du gehört hast usw. und kennst amerikanische Rechtsprechung“. Das würde meines Erachtens eher in die Kategorie des listigen Menschen fallen, der sich in die Opferrolle einschleicht, um daraus davon ungerechtfertigterweise zu profitieren, was ersichtlich nicht die Aufgabe des Strafrechts wäre. Es wäre etwas völlig anderes– da hat Herr Steinberg völlig Recht – als der prinzipiell gewünschte Schutz des schwachen Opfers. Aber ich missbrauche m(eine) Rolle. Ich übergebe das Wort an die beiden Referenten. Ich weiß nicht, wer von Ihnen beiden replizieren oder kommentieren möchte; es geht ja nicht nur um Fragen, sondern um Diskussionen hin und her. Björn Gercke Das waren ja eher Kommentare, die jetzt in der zweiten Runde waren und denen ich mich nicht verschließen möchte. Das Beispiel mit der Prospekthaftung ist natürlich hervorragend. Das ist eigentlich der Paradefall, den Sie genannt haben. Was den Wettbewerb betrifft: In der Tat, ich glaube, da liegen wir nicht weit auseinander. Man muss schon sehr um die Ecke denken, aber man kann um die Ecke denken, um dann auch zum individuellen Opfer zu gelangen. Ralf Kölbel Zu Ihrer Frage, zunächst ganz pragmatisch: Das Themenfeld war uns verschlossen, weil wir noch zwei Vorträge dazu hören. Insofern erklärt das, weshalb wir uns mit diesem Bereich nicht auseinander gesetzt haben. Aber nochmal bezogen auf das Beispiel. Ich kann das nur wiederholen, was ich zu Herrn Jahn gesagt habe: Man kann natürlich unabhängig von so einem Prinzip zu Ergebnissen gelangen, die dann jeweils die Tatbestandswertigkeit oder sei es sozusagen die Subsumption so gestalten, dass man nicht zu einer Strafbarkeit kommt. Vielleicht nochmal als Ergänzung zu diesen Red Bull-Fällen: Das sind ja Konstrukte und Sie wissen ja aus anderen Diskussionszusammenhängen, wie das so ist, wenn man Dilemmata an extremen Fällen diskutiert, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Die Fälle, die stattfinden, die diese Struktur aufweisen, wie Sie sie haben, das sind ja dann nicht die einzelnen Personen, der einzelne Käufer, der im Einzelfall von dem Verkäufer übers Ohr gehauen wird, sondern das Ganze findet ja sozusagen gleichsam nur auf einer statistischen Basis statt, im Wege einer Massenkommunikation nach Vorbild dieser Konstellation Ping-Anrufe usw. Das sind ja die eigentlich in der Lebenswirklichkeit auftretenden Fälle, an denen man so aberwitzige Leichtgläubigkeiten feststellen kann, die ausgenutzt werden. Wenn ich das transportiere auf den Einzelfall, kann ich mir natürlich die Frage stellen: Ist das wirklich sinnvoll? Aber wenn ich das dann als Betrugs-

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schema sehe – was ausschließlich auf das Prinzip setzt, bei einer massenkommunizierten Botschaft, die offensichtlich bei den meisten Adressaten nicht verfängt, aber es gibt immer noch einen gewissen Mindestanteil, der es lohnenswert macht – dann kann ich, aus dem Bauch heraus gesprochen, mich der Strafwürdigkeit nicht mehr verschließen. Da hätte ich auch nicht das schlechte Gefühl, das ich vielleicht in Ihrem Fallkonstrukt mit Ihnen teilen würde. Zur Korruption kann ich jetzt nicht Ergänzendes mehr beisteuern. Franz Salditt Ganz kurz: Gibt es keine andere Lösung? Stellen Sie sich einen Staat vor, es geht um die Amtsträgerbestechung im Ausland in West-Afrika, der seine Bediensteten bewusst so gering besoldet, weil er davon ausgeht, die versorgen sich durch Bestechlichkeit. Da haben wir eine Situation, wo man sagen würde: Das könnte eigentlich eine Lage sein, wo es eine „Opferverantwortung“ gibt, die die Tatbestandsmäßigkeit aufhebt – und der Fall ist nicht selten. Zu dem Sandalen-Fall: Das ist ja ein Fall des abergläubischen Opfers in der Regel, die gibt es ja, die sind einerseits nicht leichtgläubig, sondern tief verwurzelt in ihrem anderen Weltbild. Im Grunde muss man die abergläubischen Opfer, wenn das System nicht eine Umkehrung macht, die nicht mehr handhabbar ist, die muss man „extra commercium“ stellen. Da kann man nicht mit den Tatbeständen umgehen, die wir kennen. Wenn Sie sich vorstellen, dass jemand eine Wahrsagerin mit einem 100 Euro-Schein versieht, von dem die Wahrsagerin verspricht, dass sie diesen 100 Euro-Schein in einem heiligen Froschteich in einer Vollmondnacht versenkt mit der Folge, dass die Mutter von ihrer Krebserkrankung genest. Die 100 Euro sind weg, die Leistung kann nicht erbracht werden. Da ist wohl wegen des abergläubischen Opfers kaum die Struktur eines Betrugstatbestandes herzustellen, denke ich. Die Umkehrung des Weltbildes beim abergläubischen Opfer hebt irgendwo die Maßstäbe unserer Rechtsordnung auf. Ob der 100 Euro-Schein im Teich versenkt wird oder investiert wird in die Alkoholika des Ehemanns der Wahrsagerin ist irrelevant. Bei der Steuerhinterziehung – ein ganz kurzes Wort. Es hat den Fall gegeben in Hessen, das ist dieser CO2-Fall, bei dem die Finanzverwaltung, weil sie die Ermittlungsverfahren nicht stören wollte, sich bis zum Ministerium hin entschied, die Umsatzsteuervoranmeldungen, die an sich nicht wirksam waren, weil sie Teil eines Missing-Trader-Komplotts oder eines Umsatzsteuerkarussells waren, zu honorieren sogar durch Erstattungen der anfallenden Erstattungsbeträge. Da ist es so, dass das Opfer wissend war bis zur höchsten Ebene der Hierarchie und da muss man sich wirklich fragen: Ist das nicht eine Aufhebung der Schutzbedürftigkeit dieses Opfers? Bei dem Sachbearbeiter, der Bescheid weiß, gibt es immer in der Hierarchie jemanden, der irrt. Da wird man in der Struktur wahrscheinlich nie dazu kommen,

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dass man eine Opfermitverantwortung feststellen kann, die den Tatbestand aufhebt. Das wollte ich zu den drei Fällen sagen. Renate Wimmer (von der Staatsanwaltschaft München I.) Herr Prof. Salditt, Sie haben mir das Wort aus dem Mund genommen, was die Korruptionsdelikte betrifft. Ich wollte nämlich in Anknüpfung an Frau Greeve darauf hinweisen, dass durchaus, wenn man ja auch … sicherlich die Korruption ist ein opferloses Delikt, das mussten wir bei München I in einem sehr prominenten Fall auch sehen, weshalb die Anwendbarkeit deutschen Rechts in manchen Punkten schwierig war. Andererseits schwingt ja dieser Schutz des Geschäftsherrn schon mit und de lege ferenda soll es ja auch noch mehr mitschwingen, wenn Gesetz wird, was die Bundesregierung momentan plant. Ich meine schon, wenn auf der Nehmer-Seite eine Struktur geschaffen wird, sei es im Staat oder sei es im Unternehmen, wo diese Korruption quasi geduldet wird und schon fast, was die Besoldung betrifft, darauf angelegt ist, muss ich hier schon an eine Art „Opfermitverantwortung“ denken, das vielleicht auf Nehmer-Seite etwas anders erscheinen lässt, was die Strafwürdigkeit betrifft. Cornelius Prittwitz (…) Das gibt mir die Gelegenheit, zwei kurze Kommentare noch unterzubringen. Zum einen fand ich sehr interessant, Herr Kölbel, was Sie gesagt haben über die Wahrnehmung von Opfern und die Akzeptanz von Opferrollen auch von den Medien und von der Öffentlichkeit. Da spielt natürlich auch eine große Rolle: Wer hat Aktien? In den USA, wo in den Pensionsfonds Aktien immer eine wichtige Rolle gespielt haben, haben immer ganz viele Pensionäre mit gezittert und waren sehr schnell bereit, sich als Opfer zu fühlen und erpicht, auch als Opfer anerkannt zu werden. In Deutschland gab es früher nur die Lottozahlen im Fernsehen, inzwischen gibt es vor den Nachrichten auch den Aktienmarkt. Die Akzeptanz der Opferrolle für Aktionäre dürfte bald erheblich gestiegen sein. Der zweiten Punkt, der dogmatisch überhaupt kein Problem darstellt, aber rein tatsächlich von enormer Brisanz ist: Einverständnis bei riskanten Geschäften. Dogmatisch ist völlig klar: Wenn man einverstanden ist, ist man einverstanden. Nur rein faktisch ist es so, wenn das riskante Geschäft gut geht, dann sagt man: „Klar war ich einverstanden. Ich will ja auch alle Früchte davon ernten.“ Wenn es aber schief geht, neigt man ex post dazu zu sagen: „Damit war ich nicht einverstanden. Das habe ich nicht gewusst. Das habe ich nicht gewollt.“ Diese aus der Risikoforschung wiederum bestens bekannte Vorgehensweise, die wir ja heute Vormittag auch schon besprochen haben, dazu zu stehen, zu allem, was gut gegangen ist, und das Abwehren von Verantwortlichkeit,

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wenn es schlecht gegangen ist, muss man, denke ich auch in dieser Frage wieder berücksichtigen. Sie haben das Schlusswort. Björn Gercke Das, was Sie zuletzt angesprochen haben, ist, glaube ich, das Problem aller größeren Wirtschaftsstrafverfahren, aller Untreueverfahren, die landauf, landab laufen, insoweit kann ich Ihnen da zustimmen. Was das CO2-Verfahren betrifft, haben Sie natürlich völlig Recht. Ich sehe das auch sehr kritisch, dass der Staat im Prinzip vermögensschädigende Handlungen aus ermittlungstaktischen Gründen vornimmt. Das ist sicherlich zumindest kritisch. Ralf Kölbel Einverständnis. Irgendwo gehört es natürlich in den Kontext, aber irgendwo auch nicht mehr, weil wir dann aus anderen Gründen gewissermaßen schon aus dem Strafbarkeitsbereich hinaus sind. Deswegen meine ich, ist es eigentlich nicht mehr unser Thema. Herr Salditt hat im ersten Teil ja schön demonstriert, wohin es führt, wenn man mit extremen Fällen operiert, deswegen kann ich Ihnen nur beipflichten. Der zweite Punkt, das ist für mich ein klarer Hinweis darauf, dass es eben weniger um ein OpfermitwirkungsberücksichtigungsPrinzip geht in solchen Fällen, sondern vielmehr um die Frage der Wissenszurechnung in Hierarchien im Rahmen des Irrtumsmerkmals der Betrugsprüfung. Letzte Bemerkung zur Korruption: Da scheint mir eines unberücksichtigt zu bleiben, dass es neben der Regierung auch noch andere mitgeschädigte Dritte gibt: es gibt auch noch eine Bevölkerung in dem Land, die gewissermaßen mit beeinträchtigt ist. Und da denken wir vielleicht ein bisschen zu eng in juristischen Kategorien, wenn wir die Geschädigten demgegenüber eng und rechtlich konstruieren. Das wäre nur noch ein Hinweis.

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Opfermitverantwortung am Beispiel der kriminogenen Interdependenzen von Anlegerverhalten und Kapitalmarktpolitik

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Einleitung Cornelius Prittwitz Einleitung An dieser Stelle sagt der Zugführer stolz: „Wir haben aufgeholt“. Es sind nur noch 27 Minuten. Willkommen zum zweiten und inhaltlich zusammenhängenden Teil des Nachmittags mit Referaten von Eberhard Kempf und Andreas Hackethal. Eberhard Kempf muss ich wahrscheinlich in diesem Kreis überhaupt nicht vorstellen: Er ist Strafverteidiger und war von Anfang an bei ECLE dabei. Andreas [Hackethal], ich meine Du wärst auch schon einmal dabei gewesen oder täusche ich mich? Wenn Du es nicht weißt, ist es eher ein Punkt gegen Dich, mein Lieber, weil so etwas vergisst man nicht (Prof. Hackethal: Nicht als Vortragender). Nicht als Vortragender, na gut. Jedenfalls ist Andreas Hackethal eine Kollege aus dem Fachbereich 02, den Wirtschaftswissenschaften, und seit einigen Jahren auch sehr erfolgreich Dekan dieses Fachbereichs. In dieser Funktion wird er allerdings nicht zu uns sprechen. Ich darf ankündigen, wiederum die inhaltliche Vorstellung den Rednern selbst überlassend, dass wir uns kurz darauf verständigt haben, dass Andreas Hackethal zuerst präsentieren wird, weil er empirisch, während Eberhard Kempf eher narrativ eingreifen wird, und es empfiehlt sich immer, wenn beides angeboten wird, zuerst die Empirie zu hören.

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Was heißt gute Anlageberatung? Andreas Hackethal Was heißt gute Anlageberatung?

Bemerkungen aus empirisch ökonomischer Sicht I. Einleitung Die Dienstleistung Anlageberatung ist ein Vertrauensgut, das durch Informationsasymmetrien zwischen anbietendem Berater und nachfragendem Anleger geprägt ist. Informationsasymmetrien bergen Anreizkonflikte, weil der Berater sein Mehrwissen zu Produkten, Umfeld aber auch zu den Charakteristika des Anlegers im eigenen Interesse und zu Lasten der Kunden ausnutzen kann. Und weil bei Vertrauensgütern der Empfänger seinen Nutzen aus der erbrachten Dienstleistung kaum oder nur langfristig beobachten kann, bleibt die Benachteilung der Kunden leicht unentdeckt. Die Konsequenz kann ein Ungleichgewicht am Beratungsmarkt sein, in dem schlechte Beratung nicht verdrängt wird, der durchschnittlich zu erwartende Kundennutzen aus Beratung niedrig ist und daher von der Bevölkerung weniger Beratung nachgefragt wird als in einem alternativen, hypothetischen Gleichgewicht mit starkem Wettbewerb um hohe Beratungsqualität. Die verfügbare empirische Evidenz deutet darauf hin, dass die Finanzberatungsmärkte in Deutschland und auch z.B. in den USA durch unausgeschöpftes Potential bei Beratungsqualität und damit auch bei individuellem und ökonomieweitem Anlegernutzen gekennzeichnet ist.1 Die Skandale rund um S&K, Prokon und Infinus sind extreme Beispiele für Interessenkonflikte und hohe Schäden auf Kundenseite. Andere Studien legen zugleich nahe, dass auch viele Selbstentscheider, die aus verschiedensten Gründen keine Beratung in Anspruch nehmen, von hochwertiger Anlageberatung mit Blick auf Vermögensaufbau und private Altersvorsorge profitieren könnten. Die zweigeteilte Kernfrage auf dem Weg hin zu einem besseren Marktgleichgewicht lautet mithin: Wie lassen sich Informationsasymmetrien zwischen Angebot und Nachfrage reduzieren und wie lässt sich gleichzeitig der Charakter der Beratung von einem

_____ 1 Für eine aktuelle Zusammenfassung der Empirie siehe den Bericht des Weißen Hauses „The Effects of Conflicted Investment Advice on Retirement Savings“ aus dem Februar 2015. Abgerufen am 24.2.2015 unter: http://www.whitehouse.gov/sites/default/files/docs/cea_coi_ report_final.pdf.

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Vertrauensgut hin zu einem Erfahrungsgut verändern, bei dem die Qualität möglichst früh und möglichst verlässlich messbar ist? Sowohl die Anlegerschutzpolitik als auch die Kapitalmarkt(union)politik sind angesichts von Zinsen nahe Null und angesichts des politischen Willens, mehr Bevölkerungskreise in Form von Wertpapieren am Produktivkapital zu beteiligen, aktuell gefragt, gute Antworten zu finden. Das nachfolgende Kapitel argumentiert, dass ein Festhalten am klassischen Informationsmodell des Anlegerschutzes problematisch ist, weil weniger das vorvertragliche Informationsgefälle auf der Produktebene als vielmehr das nachvertragliche Gefälle bei der tatsächlich erfahrenen Beratungsqualität ein vielversprechender Ansatzpunkt ist, der mittels Leistungstransparenz im Markt auch wiederum vorvertraglich den Wettbewerb um Kundennutzen intensivieren wird. Jüngste empirische Ergebnisse betonen zudem die Anleger-Mitverantwortung für geringen Kundennutzen. Viele Anleger folgen selbst guten Empfehlungen nicht, sondern überschätzen den Wert der eigenen Meinung. Guter Anlegerschutz könnte sich folglich auch auf den Schutz vor eigenen Fehlentscheidungen erstrecken. Eine aktuelle, noch nicht veröffentlichte Experimentalstudie am House of Finance weist nach, dass selbstentscheidende Kunden eines Online-Brokers weniger Anlagefehler machen, wenn ihnen die Konsequenzen der eigenen Anlagepolitik wiederholt und didaktisch geschickt aufbereitet vor Augen geführt werden. Das Ergebnis legt nahe, dass sich bei Anlegern sehr wohl wichtige Lerneffekte hinsichtlich des eigenen Entscheidungskalküls und naheliegenderweise auch hinsichtlich der Beraterwahl einstellen, wenn die Informationen bedarfsgerecht und im passenden Zeitpunkt zur Verfügung gestellt werden. Schließlich möchte ich an dieser Stelle auch auf die aktuell deutlich zunehmende Digitalisierung im Anlagegeschäft hinweisen. Sowohl neue Wettbewerber (sogenannte Fintech-Unternehmen) als auch etablierte Anbieter beschreiten neue Wege im Umgang mit den Informationsasymmetrien und dem Vertrauensgutcharakter der Beratung. Anstatt zu versuchen, die Informationsausstattung der Anleger vorvertraglich auf das hohe Niveau der zunehmend komplexen Märkte und Produkte zu heben, wird bei jenen neuen Ansätzen der Entscheidungsprozess radikal vereinfacht und direkt auf ein präferenz- und anlagezielkonformes Wertpapierportfolio ausgerichtet. In der Darstellung von Entscheidungsalternativen bezüglich Risiko, Anlagehorizont und Sparplan und in der Darstellung von Anlageergebnissen setzen die Modelle auf verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse und anlegerseitige Lerneffekte. Angesichts der sich anhand von Initiativen einzelner Anbieter abzeichnenden Entwicklung hin zu mehr Leistungstransparenz im Beratungsmarkt und der zunehmenden Verbreitung vereinfachter Anlagemodelle ist aus meiner Sicht durchaus vorsichti-

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ger Optimismus angebracht, dass sich der Markt auf ein neues Gleichgewicht hin entwickelt, welches sich sowohl für die Nachfrage- als auch für die Angebotsseite mehr lohnt.

II. Grenzen des Informationsmodells im Anlegerschutz2 Der gesetzliche Anlegerschutz fußt auf der Prämisse, dass Anleger interessengerecht entscheiden, sofern sie mit den notwendigen Informationen ausgestattet werden. Empirische Arbeiten legen jedoch nahe, dass Anleger vorvertragliche Informationen zu Produkt und Beratungsmerkmalen ignorieren oder nicht zweckgerecht verarbeiten. Vielversprechender erscheinen nachvertragliche, anlegerindividuelle Datenpunkte zum tatsächlich erzielten Gesamtergebnis auf Portfolioebene. Solche am Anlegerverständnis und -nutzen ausgerichteten Informationen (smart disclosure) sollen kundenseitig Lerneffekte und wettbewerbsseitig eine Orientierung am messbaren Kundennutzen befördern. Eine wenig beachtete Besonderheit der Anlageberatung ist, dass es für Anbieter und Kunde mehr zu verteilen gibt, wenn sie kooperieren. Anders als beim Verkauf von Konsumgütern, wo Vorteile und Nutzen zwischen Produzent und Konsument mittels Preisfestsetzung lediglich verteilt werden, gilt bei der Anlageberatung, dass bessere Anlageentscheidungen mittels Risiko- und Liquiditätssteuerung die zu verteilenden Vorteile positiv beeinflussen. Es wird gemeinsam produziert. Auf Anbieterseite muss für ein optimales Ergebnis der Berater kompetent, die Systemunterstützung intelligent und die Produktauswahl hochwertig sein. Auf der Nachfrageseite muss der Kunde jedoch auch ein Grundverständnis von Rendite und Risiko mitbringen, die benötigten Informationen auch bereitstellen wollen, und sinnvolle Beratungsempfehlungen tatsächlich umsetzen. Zudem brauchen beide Seiten gemeinsam eine Übereinkunft, was die Beratung leisten soll, und sie müssen kritisch überprüfen, ob das Leistungsversprechen eingehalten wurde. Anlegerschutz, der auf Anlegernutzen abzielt, muss daher alle drei Dimensionen – Bringschuld der Finanzinstitution, Holschuld der Kunden und schließlich Transparenz bei der Einhaltung des Leistungsversprechens – berücksichtigen. Der gesetzliche Anlegerschutz in Deutschland hat sich bislang vor allem auf die erste Dimension konzentriert. Die zumindest anekdotisch vorliegende Evi-

_____ 2 Der folgende Text ist ein Wiederabdruck des Artikels: Hackethal/Meyer Grenzen des Informationsmodells im Anlegerschutz – Lösungsansätze aus empirisch ökonomischer Sicht, in: ZVglRWiss 113 (2014), S. 574–585.

Was heißt gute Anlageberatung?

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denz legt nahe, dass die Konzentration auf die Bringschuld der Anbieterseite nicht hinreichend für mehr Anlegernutzen ist und dass die anderen beiden Dimensionen deutlicher berücksichtig werden müssen. Nach einem Überblick über die einschlägige Empirie zum Anlegerverhalten und zur Rolle der Beratung in Deutschland wird der aktuelle Stand im gesetzlichen Anlegerschutz zusammengefasst und zwei neue Maßnahmen zur Verbesserung des Anlegernutzens zur Diskussion gestellt.3 Diese Maßnahmen erweitern das konventionelle, produktorientierte Informationsmodell um individualisierte und computerlesbare Datenpunkte auf Gesamtanlageebene. Hierfür bedarf es keiner zusätzlichen gesetzgeberischen Eingriffe, sondern lediglich der Vorgabe von Informationsstandards, die eine Vergleichbarkeit der Datenpunkte im Zeitablauf und über verschiedene Anbieter hinweg gewährleisten.

III. Empirische Evidenz zum Anlegerverhalten Forscher am Frankfurter House of Finance haben über die letzten Jahre eine Reihe von Datensätzen zu den Transaktionen und Depotbeständen von privaten Anlegern in Deutschland gesammelt. Mehrere hunderttausend Datenpunkte für Kunden verschiedenster Filialbanken und Online-Broker sind dabei zusammen gekommen. Abbildung 1 illustriert einen solchen Datensatz. Hierfür wurden 3400 Kunden eines deutschen Online-Brokers ausgewählt, die seit mehr als zehn Jahren ein aktives Depot unterhielten. Für jedes Depot wurden Tagesrenditen nach sämtlichen Kosten berechnet und in jährliche Depotrenditen und jährliche Wertschwankungen aggregiert. Jeder Punkt in Abbildung 1 spiegelt damit das durchschnittliche finanzielle Ergebnis nach Kosten und vor Steuern eines Anlegers wider, wobei sich angesichts des langen Beobachtungszeitraums Glück und Pech weitgehend egalisieren sollten und systematische Ergebnisstrukturen zum Vorschein kommen sollten. Jene Kunden nahmen über den gesamten Zeitraum keine Beratung in Anspruch, sondern entschieden eigenständig über ihre Anlagen. Es fällt auf, dass die Ergebnisse stark streuen, dass also Privatanleger deutlich unterschiedliche Anlagestrategien verfolgten. Bei gleichem Risiko liegen

_____ 3 Eine ausführlichere Darstellung der zentralen empirischen Ergebnisse und deren Deutung finden sich in Hackethal Financial Advice, in: Faia et al. (Hrsg.), Financial Regulation – A Transnational Perspective, 2015 (im Druck). Eine Kurzversion wurde am 10.7.2014 in Form eines Namensartikels mit dem Titel „Anlegerschutz braucht mehr Eigenverantwortung“ auf S. 39 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt (Koautor: Thomas Schäfer).

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viele Anleger häufig mehr als zehn Prozentpunkte pro Jahr auseinander. Blickt man zudem auf das Rendite-Risiko-Profil des Deutschen Aktienindex (DAX) in demselben Zeitraum, wird überdies deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Anleger ein schlechteres Ergebnis erzielt hat als der deutsche Aktienmarkt insgesamt. Mehr als drei Viertel der Anleger lagen nach zehn Jahren unter der in Abbildung 1 eingezeichneten Gerade, die einfache Mischportfolien aus DAX und Bundesanleihen symbolisiert. Ein vergleichbares Bild ergibt sich, wenn ein globaler Aktienindex wie der MSCI World eingezeichnet wird. Die meisten Anleger hätten sich also wesentlich besser gestellt, wenn sie über die zehn Jahre einen Teil ihrer Mittel passiv in einen breit diversifizierten Aktienfonds investiert hätten und den Rest in sichere Anlagen. Im Schnitt liegt die Renditelücke der Anleger in jener Stichprobe bei über 4% pro Jahr.4

Wertschwankungen (Standardabweichung p.a.) Abbildung 1: Rendite-Risiko Profile von 3400 Online-Broker Kunden (2003–2012).

Welche Verhaltensmuster sind für die Renditelücke verantwortlich und warum korrigieren die Anleger ihr Verhalten im Zeitablauf nicht? Während frühere Ar-

_____ 4 Ähnliche Renditelücken wurde auch für andere Länder gemessen: Barber/Lee/Liu/Odean Just How Much do Individual Investors Lose by Trading?, Review of Financial Studies 22 (2009), 609–632.

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beiten meist den Einfluss einzelner Verhaltensmuster auf den Anlageerfolg untersuchen, messen Weber et al. in ihrem Ansatz zehn der gängigsten Anlagefehler simultan.5 Die Autoren kommen zu dem überraschenden Ergebnis, dass für das Gros der Anleger nur drei offensichtliche Anlagefehler für die Renditelücke verantwortlich sind. Hierbei handelt es sich um übermäßiges Handeln, mangelnde Risikostreuung und den Kauf von hochspekulativen Aktien in illiquiden Märkten. Der erste Fehler führt zu Renditeeinbußen, weil die Privatanleger im Schnitt über keine Informationsvorteile verfügen, mit denen sie die Handelskosten kompensieren können. Im Falle mangelnder Diversifikation gingen die Anleger unnötige Risiken ein, ohne dass sie hierauf eine Risikoprämie verdienten. Beim Handeln mit hochspekulativen Aktien kommen schließlich hohe (indirekte) Handelskosten, Informationsnachteile und mangelnde Diversifikation zusammen. Privatinvestoren gehören hier im Schnitt stets zu den Verlierern. Gerade weil jene drei Fehler so offensichtlich gegen die gängigen Lehrbuchrezepte für die erfolgreiche Geldanlage verstoßen, drängt sich die Folgefrage auf, warum die Anleger ihr Verhalten im Zeitablauf nicht anpassen, die Fehler abstellen und damit die Renditelücke schließen. Eine einfache Erklärung für dieses Phänomen lautet, dass sich die Anleger ihrer Renditelücke gar nicht bewusst waren und daher keinen Anlass sahen, ihr Verhalten anzupassen. Eine Studie der Stiftung Warentest aus dem Sommer 2013 hat ergeben, dass Anleger von ihren Banken und Brokern keine Informationen zu den erreichten Renditen und Risiken auf Depotebene erhalten. Tatsächlich konnte kaum einer der von Glaser/Weber befragten Anleger die eigene Depotrendite auch nur näherungsweise richtig angeben.6 Bei der Einschätzung des eingegangenen Depotrisikos dürfte das Unwissen noch größer sein. Hackethal/Inderst vergleichen in ihrem Überblickaufsatz die von Brokerkunden bei Depoteröffnung angegebenen individuellen Risikopräferenzen mit den von denselben Kunden später tatsächlich eingegangenen Marktrisiken im Depot.7 Zu erwarten gewesen wäre ein strikt positiver Zusammenhang zwischen Ist- und Wunschrisiko, selbst wenn das angegebene Wunschrisiko nur als schwaches Signal für die wahren Risikopräferenzen gewertet wird. Tatsächlich ist zu beobachten, dass keinerlei Zusammenhang zwischen Ist- und Wunschrisiko bestand. Die Autoren folgern aus dieser

_____ 5 Weber/Meyer/Loos/Hackethal Which Investment Behaviors Really Matter for Individual Investors?, 2014, Working Paper, Goethe Universität, http://ssrn.com/ab stract=2381435. 6 Glaser/Weber Why Inexperienced Investors Do Not Learn: They Do Not Know Their Past Performance, Finance Research Letters, 2007, Nr. 4, S. 203–216. 7 Hackethal/Inderst How to Make the Market for Financial Advice Work, in: Mitchell/ Smetters (Hrsg.), The Market for Retirement Financial Advice, 2013, S. 213– 228.

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Beobachtung, dass nur wenige Anleger die eigenen Anlagerisiken kennen und im Einklang mit den Präferenzen steuern. Damit drängt sich das Bild vom Anleger im Blindflug auf, der die eigene Renditelücke nicht sieht und auch nicht die Diskrepanz zwischen erwünschtem und tatsächlichem Risiko. Im Blindflug fällt es auch schwer dazu zu lernen und das eigene Verhalten gezielt anzupassen. Tatsächlich dokumentiert Köstner in seiner Studie von 2012, dass Privatinvestoren vor allem dann hinzulernen und ihre Entscheidungen verbessern, wenn sie hierfür deutlich erkennbare Informationssignale (in dem Fall hohe Handelskosten) erhalten.8 Damit ergeben sich drei grundsätzliche und miteinander kombinierbare Ansatzpunkte zur Schließung der Renditelücke und zum verbesserten Umgang mit Anlagerisiken: 1. die Verbesserung der Finanzbildung von Privathaushalten, damit diese finanzentscheidungsrelevante Informationen als solche identifizieren und auch Nutzen stiftend verwerten können; 2. die Bereitstellung standardisierter und relevanter Depotinformationen, die Lerneffekte im Umgang mit den eigenen Finanzen und gegebenenfalls auch bei der Nutzung von Anlageberatung induzieren, und 3. Nutzen stiftende Anlagerberatung selbst. Bevor im nächsten Abschnitt die Empirie zum Nutzen gängiger Anlageberatungsformate zusammengefasst wird, möchten wir diesen Abschnitt mit aktuellen Erkenntnissen zu den Möglichkeiten der Finanzbildung beschließen. In ihrem Überblicksartikel zur mittlerweile sehr umfangreichen Literatur zu Finanzwissen und -bildung kommen Fernandes et al. zu einem ernüchternden Ergebnis. In den meisten der rund 200 berücksichtigten Studien hat sich gezeigt, dass Finanzbildungsmaßnahmen das Anlageverhalten kaum verändert hatten und dass selbst mehrtägige Trainings nur schwache und kurzfristige Effekte nach sich zogen.9 Nur dort, wo just im Zeitpunkt der Finanzentscheidung gezielte, individualisierte und vor allem kompakte Finanzbildungsimpulse (sog. „just-in-time education“) gesetzt wurden, kam es zu einer merklichen Entscheidungsverbesserung. Diese Ergebnisse lassen Zweifel an der Wirksamkeit von breit angelegten Finanzbildungsmaßnahmen, aber auch von allgemeinen Produktinformationen aufkommen. Dieselben Zweifel erscheinen auch gegenüber dem Informationsmodell in seiner allgemeinen Variante angebracht, derzufolge

_____ 8 Koestner Essays in Household Investment Behavior, 2012 (Diss., Goethe Universität, Frankfurt am Main). 9 Fernandes/Lynch/Netemeyer Financial Literacy, Financial Education, and Downstream Financial Behaviors, 2014, Management Science (im Druck).

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die Anleger alle direkt verfügbaren Informationen eigenständig in Nutzen maximierende Entscheidungen einfließen lassen. Gleichzeitig deutet die hier vorgestellte Empirie darauf hin, dass ein spezifiziertes Informationsmodell, das auf gezielte und vor allem individualisierte Informationen aufbaut, durchaus Potenzial besitzt. Gleiches gilt für eine Anlageberatung, die an den typischen Anlegerfehlern ansetzt und die Kunden insbesondere bei der Risikosteuerung unterstützt.

IV. Empirische Evidenz zum Einfluss der Anlageberatung Hilft professionelle Anlageberatung bei der Vermeidung teurer Anlagefehler? Das sollte zu erwarten sein, da knapp 60% der europäischen Haushalte bei Anlageentscheidungen auf einen Anlageberater setzen.10 Die existierende empirische Evidenz lässt jedoch vermuten, dass die Anlageberatung ihr Potenzial bei weitem noch nicht ausschöpft. Hackethal et al. haben die Resultate von beratenen und selbstentscheidenden Kunden derselben Bank ökonometrisch sorgfältig verglichen und zeigen, dass der Ergebnisunterschied beider Gruppen unter Berücksichtigung direkter und indirekter Beratungskosten minimal und im Schnitt gar zum Nachteil der beratenen Kunden ausfiel. Das Angebot von Beratung ist also keine Garantie für weniger Fehler und damit bessere Ergebnisse. Die Vermutung liegt nahe, dass Anreizkonflikte der Berater, die aus Provisionszahlungen der Produktanbieter herrühren, den potenziell positiven Beratungseffekten entgegenwirken. Bohrt man jedoch wie Bhattacharya et al. in den Datensätzen tiefer, stößt man auf eine überraschende Teilerklärung für jenes Ergebnis: Selbst wenn die Empfehlungen der Berater nachweislich sinnvoll und absolut im Interesse des Kunden waren, blieben die Fehler bestehen. Der Grund hierfür ist einfach. Viele Kunden sind den Beratungsempfehlungen nicht gefolgt, haben manchmal sogar das genaue Gegenteil gemacht und damit sinnvolle Anlagestrategien konterkariert.11 Die Beobachtung, dass beratene Kunden im Schnitt nicht besser dastehen als nicht beratene Kunden, liegt folglich nicht notwendigerweise an schlechter Beratung, sondern möglicherweise daran, dass gute Empfehlungen schlicht und einfach nicht umgesetzt wurden.

_____ 10 Chater/Huck/Inderst Consumer Decision-Making in Retail Investment Services: A Behavioural Economics Perspective (Studie im Auftrag der Europäischen Kommission), 2010. 11 Bhattacharya/Hackethal/Kaesler/Loos/Meyer Is Unbiased Financial Advice to Retail Investors Sufficient? Answers from a Large Field Study, Review of Financial Studies 24 (2012), 975–1032.

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Wie beim Patienten, der dem wohlgemeinten Rat seines Arztes nicht folgt – was laut Weltgesundheitsorganisation12 bei fast jedem zweiten chronisch Kranken vorkommt – stehen sich auch viele Anleger selbst im Weg. Der Harvard-Ökonom Sendhil Mullainathan hat für dieses Phänomen ein passendes Bild geprägt. Er nennt das Problem vieler Patienten und Anleger ein „lastmile problem“.13 Alle notwendigen Voraussetzungen für gute Entscheidungen seien gegeben – wirksame Therapien auf der einen und hochwertige Beratung und Finanzprodukte auf der anderen Seite –, dennoch vollziehen viele Menschen nicht den hinreichenden letzten Schritt und gehen die letzte Meile, sondern biegen zuvor in eine für sie nachteilige Richtung ab. Ursache seien Gedankenmuster und Handlungsroutinen, die sich in anderen Lebensbereichen als vorteilhaft, angenehmer oder schlicht als einfacher erwiesen haben, aber im Kontext von Gesundheit und Finanzen nicht förderlich sind. Beispielsweise trachten offenbar viele Anleger bei der Geldanlage nach dem heißen Tipp, der das beste Produkt und den besten Einstiegszeitpunkt verheißt. Die Grundregeln erfolgreicher Geldanlage (Diversifikation, geringe Kosten, Zielorientierung) werden allzu oft durch plausible Narrative (besonderes Marktmuster, einmalige Gelegenheit) ausgehebelt. Selbst wenn also durch den gesetzlichen Anlegerschutz Anbieter schlechter Anlageberatung vom Markt verschwänden, so ist angesichts der notorisch geringen Befolgungsquoten auch bei guter Beratung nicht gesagt, dass fortan Anlagefehler abgestellt würden. Die zentrale Erkenntnis der zitierten Forschungsarbeiten ist, dass beide Seiten, also Anbieter und Anleger, verantwortlich für das Ergebnis der Geldanlage sind. Die Anbieter haben für hohe Beratungsqualität zu sorgen und die Anleger tragen die Verantwortung, gute Beratung zu erkennen und auch umzusetzen. Doch wie können Anleger gute Beratung von mittelmäßiger oder gar schlechter Beratung unterscheiden, ihrer Eigenverantwortung gerecht werden und schließlich die „letzte Meile“ gehen? Hier wird das heutige Dilemma im Beratungsmarkt offenbar: Die meisten Anleger sind zur Vermeidung teurer Anlegerfehler auf Beratung angewiesen, können aber die Qualität der Beratungsempfehlungen in den zentralen Aspekten nicht einschätzen, insbesondere weil sie keine Informationen darüber erhalten, welche Renditen sie verdient haben, welche Kosten angefallen sind und wie riskant die Anlagen waren. Damit gibt es auch keine belastbaren Ver-

_____ 12 Sabate (Hrsg.), Adherence to long-term therapies: evidence for action, 2003 (World Health Organization). 13 Auf www.ted.com findet sich ein einschlägiger Video-Vortrag von Mullainathan mit dem Titel „Solving social problems with a nudge“.

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gleichstests zu den Depotrenditen und -risiken von Beratungskunden verschiedener Institute. Im Ergebnis ist das Verhalten bei der Auswahl und Befolgung von Beratung ähnlich impulsiv und fehlerbehaftet wie bei der eigenständigen Geldanlage. Während es auf funktionierenden Wertpapiermärkten jedoch keine per se guten und schlechten Wertpapiere gibt, weil Wettbewerb und Preismechanismus für Ausgleich sorgen, gibt es auf dem Beratungsmarkt offenbar nach wie vor große Qualitätsunterschiede. Hier funktioniert der Preismechanismus nicht, weil die Qualität der Beratungsleistung vom durchschnittlichen Kunden kaum eingeschätzt werden kann. Regulierungskonforme, aber im Ergebnis schlechte Beratung kann sich halten und wird nicht flächendeckend durch gute Beratung verdrängt. Im Ergebnis darf Anlegerschutz daher nicht nur Leitplanken für die Anbieter setzen, sondern muss auf Basis eines adaptierten Informationsmodells auch die Grundlagen dafür schaffen, dass die Sparer ihrer Eigenverantwortung in Geldfragen gerecht werden können und der Wettbewerb um das tatsächlich beste Beratungsangebot in Gang kommt. Diese Entwicklung sollte durchaus auch im Interesse der Anbieter sein, denn mehr Transparenz beim Beratungsnutzen erlaubt auch mehr Spielraum bei der Beratungsvergütung.

V. Der gesetzliche Anlegerschutz in Deutschland Das besondere Schutzbedürfnis des Privatanlegers ist zwar schon lange im Kapitalmarktrecht verankert, wurde aber erst in den letzten zehn Jahren legislativ umfänglich geregelt. Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts begnügte sich das Wertpapierhandelsgesetz noch damit, den Wertpapierdienstleistungsunternehmen allgemeine Wohlverhaltensregeln aufzuerlegen. Erst europäische Vorgaben brachten in 2007 einen Schub für den Anlegerschutz. Im Zuge der Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie14 wurden Privatkunden von professionellen Kunden abgegrenzt. Die Anlageberatung als solche wurde im Kontext der Bankendienstleistungen aufgewertet und zu einer echten Wertpapierdienstleistung deklariert, galt sie doch vorher nur als Nebenleistung. Ab sofort

_____ 14 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission (Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz (FRUG) v. 16.7. 2007 (BGBl. I, 1330). Die Neufassung der Finanzmarktrichtlinie 2004/39/EG (MiFID), die Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (MiFID II) trat am 3.7.2014 in Kraft (ABl. L 173, 349 v. 12.6.2014).

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waren dem Privatanleger deutlich mehr Informationen zur Verfügung zu stellen. So mussten die Banken fortan über ihre Dienstleistungen, die empfohlenen Finanzinstrumente samt enthaltener Risiken, Handelsausführungsplätze sowie Kosten und Nebenkosten aufklären. Das alles sollte ganz im Geiste des allgemeinen Informationsmodells dem Anleger helfen, eine seinen Interessen entsprechende, sinnvolle Anlageentscheidung treffen zu können. Der Anleger als Einzelperson trat immer mehr in den Fokus. Banken durften nur noch Empfehlungen aussprechen, wenn sie zuvor die Verhältnisse und den Wissensstand des Kunden erfragt hatten und mussten bei der Beratung dann speziell auf diesen Erfahrungs- und Kenntnisstand des Anlegers eingehen. Verstöße galten als Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße geahndet werden konnten. Seit 2010 muss für jeden Anlageberatungsfall eines Privatkunden ein Protokoll zu Anlass, Dauer und Inhalt der Beratung erstellt und dem Kunden ausgehändigt werden. Zusätzlich muss neuerdings jedem Beratungskunden vor Geschäftsabschluss ein kurzes und leicht verständliches Informationsblatt über das empfohlene Finanzinstrument zur Verfügung gestellt werden. Inzwischen existiert auch ein einheitliches Mindestniveau für Beraterqualifikationen, und sämtliche Beschwerden über Berater werden bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gesammelt. Diese kann den Einsatz von auffällig gewordenen Beratern zeitweise untersagen. Das Regelungsnetz ist also mittlerweile ausgesprochen engmaschig. Und trotzdem bleiben die meisten beratenen Anleger bei den Anlageergebnissen nach wie vor hinter den Möglichkeiten zurück. Erweisen sich damit die jüngsten gesetzlichen Vorschriften als nutzlos? Jüngere empirische Arbeiten legen zumindest nahe, dass der Nutzeneffekt hinter den Erwartungen zurückbleibt. Germann untersucht den Einfluss von Beratungsprotokollen auf die Renditeund Risikoprofile von realen Kundendepots und findet keinerlei signifikanten Effekt.15 Schon zuvor wies Beshears in Experimenten nach, dass das Entscheidungsverhalten von Anlegern kaum davon beeinflusst wird, ob kompakte oder ausführliche Produktinformationen vorgelegt werden.16 Die Anlegerschutzmaßnahmen erscheinen damit nicht hinreichend, um die Renditelücke zu schließen. Ein zentraler Grund hierfür mag sein, dass sie ausschließlich die Bringschuld der Anbieter, nicht aber die Holschuld der Kunden adressieren und damit die letzte Meile nicht effektiv überbrücken.

_____ 15 Germann The Effect of Advisory Minutes on the Portfolios of German Investors, 2014 (Diss., Goethe Universität, Frankfurt am Main). 16 Beshears/Choi/Laibson/Madrian Simplification and Saving, Journal of Economic Behavior & Organization, 95 (2013), 130–145.

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Nachfolgend sollen daher zwei zur aktuellen Regulierungspraxis komplementäre Lösungsansätze in die Diskussion eingebracht werden, die auf einem erweiterten Informationsmodell und mehr Eigenverantwortung für die Anleger aufsetzen.17 Beide Ansätze machen sich bereits vorhandene Datenpunkte zu Nutze, die jedoch geschickt und vor allem anlegerindividuell aufbereitet werden. In Anlehnung an eine aktuelle Initiative der US-amerikanischen Bundesregierung zur Verbesserung von Konsumentenentscheidungen durch die computerlesbare Bereitstellung personenbezogener Daten lassen sich beide Vorschläge unter dem Begriff „smart disclosure“ fassen.18

VI. „Smart Disclosure“ Der erste und für den Anlageberatungsmarkt zentrale Lösungsvorschlag hat seinen Ausgangspunkt in der oben erwähnten Beobachtung, dass Anleger zu wenige entscheidungsrelevante Informationen über den eigenen Anlageerfolg und dessen Ursachen erhalten, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Form Anlageberatung in Anspruch genommen wurde. Jeder Depotinhaber sollte daher zumindest einmal pro Jahr einen Depotbericht mit wenigen, aber dafür standardisierten Kennzahlen zum tatsächlich eingetretenen Anlageergebnis erhalten („smart portfolio disclosure“).19 Eine Beratung gemäß Lehrbuch sorgt dafür, dass das tatsächliche Risiko der Finanzanlagen mit dem zuvor vereinbarten Zielrisiko übereinstimmt und dass auf die eingegangenen Risiken eine faire Rendite nach Kosten erzielt wird.

_____ 17 Für eine Bewertung der Lösungsansätze, wie sie aktuell von Politik und Aufsicht diskutiert werden, siehe Zimmer Vom Informationsmodell zu Behavioral Finance: Brauchen wir „Ampeln“ oder Produktverbote für Finanzanlagen? JZ 14 (2014), 714–721. 18 Die zugehörige Studie unter dem Titel „Smart Disclosure and Consumer Decision Making: Report of the Task Force on Smart Disclosure“ ist unter folgendem Link abrufbar: http://www.whitehouse.gov/sites/default/files/microsites/ostp/report_of_the_task_force_on_ smart_disclosure.pdf. Dort findet sich in Fn. 69 auch die folgende Definition: „[…] timely release of complex information and data in standardized, machine-readable formats in ways that enable consumer to make informed decisions“. 19 Ein erster entsprechender Vorschlag findet sich in einer Studie, die von einer Forschergruppe um Andreas Hackethal und Roman Inderst im Jahr 2011 im Auftrag des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz erstellt wurde. Die Studie unter dem Titel „Messung des Kundennutzens der Anlageberatung“ ist unter folgendem Link abrufbar: http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Verbraucherschutz/FinanzenVersicherungen/StudieKundennutzenAnlageberatung.pdf?blob=publicationFile.

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Zwei vielversprechende Kennzahlen, um Transparenz bei der Beratungsqualität herzustellen, sind folglich die in der Vorperiode erzielte Gesamtrendite nach Kosten im Depot und das hierfür eingegangene Gesamtrisiko im Depot. Damit die Kennzahlen über die verschiedenen Institute und über die Jahre hinweg für die Anleger vergleichbar sind, muss sowohl die Berechnung als auch der Ausweis der Kennzahlen vollkommen standardisiert und angesichts des begrenzten Effekts von Finanzbildungsmaßnahmen auch sehr leicht verständlich sein. Das wird nur möglich sein, wenn von Seiten des Gesetzgebers oder eines anderen zentralen Standardsetters eine einheitliche Risikoskala für ganze Wertpapierdepots festgelegt wird. Anleger müssen nicht verstehen, wie genau der einheitliche Algorithmus zur Risikoberechnung aussieht. Sie müssen lediglich verstehen, dass eine höhere Risikoklasse mehr Risiko bedeutet und dass sie deshalb auch langfristig mit mehr Rendite rechnen können. Natürlich liegt es nahe, dass in den Medien Durchschnittsrenditen über alle Anleger in derselben Risikoklasse veröffentlicht werden, so dass der Einzelne einordnen kann, wo er in puncto Risiko und Rendite im Vergleich zu allen anderen oder auch einer relevanten Auswahl anderer Anleger gelandet ist. Gute Beratung könnte hier ganz konkret demonstrieren, dass Risiken im Einklang mit dem Kundenwunsch gesteuert wurden und langfristig eine faire Rendite nach Kosten erwirtschaftet werden konnte. Die Dokumentation von konkretem Kundenutzen der Beratung würde auch neue, anreizkompatible Preismodelle in der Beratung befördern, die Kunden- und Bankinteressen besser vereinbar macht. Auch nicht-beratene Anleger würden von der neuen Transparenz profitieren. Ihnen wird am eigenen Depot begreiflich gemacht, dass sich das Gesamtrisiko mittels Streuung der Anlagen deutlich reduzieren lässt, ohne dass die Rendite leidet. Manch ein Selbstentscheider wird zu dem Schluss kommen, dass seine spekulativen Anlagen nur ein unterdurchschnittliches Ergebnis brachten und er oder sie doch besser Beratung in Anspruch nehmen sollte, die ausweislich die Renditen und Risiken in den Kundendepots im Griff hatte. Der zweite Lösungsvorschlag fokussiert nicht auf die Wertpapieranlage, sondern erweitert die Perspektive auf die Altersvorsorge. Kaum ein Sparer hat heutzutage einen verlässlichen Überblick über die Gesamthöhe und Struktur seiner Altersvorsorgeansprüche. Die Informationen liegen in vielen Haushalten bunt verteilt in verschiedenen Ordnern. Ohne den Überblick sind langfristige Anlageentscheidungen jedoch nur zufällig richtig und häufig falsch. Welche Ansprüche bestehen in den drei Säulen der Altersvorsorge? Sollte mehr oder kann sogar weniger zurückgelegt werden? Soll bei den Finanzanlagen mehr oder weniger Risiko gefahren werden? Sowohl in Schweden als auch Dänemark gibt es bereits seit mehreren Jahren halbstaatliche Einrichtungen, bei denen alle Bürgerinnen und Bürger per

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Smartphone einen leicht verständlichen Überblick über ihre aktuellen, persönlichen Ansprüche aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge erhalten. Die angezeigten Daten können direkt für Anlageentscheidungen mit oder ohne Beraterunterstützung genutzt werden. Eine solche säulenübergreifende Informationsplattform empfiehlt sich auch für Deutschland („smart pension disclosure“). Sie spart Anlegern und Beratern viel Zeit bei der Sammlung von entscheidungsrelevanten Informationen und erlaubt im Zeitablauf das nicht zuletzt psychologisch wichtige Nachhalten von Anlagezielen. Alle benötigten Daten liegen bei den verschiedenen Rentenversicherungsträgern bereits vor. Zusätzlich bedarf es eines Informationsstandards und einer schlanken, zentralen Infrastruktur, die ohne Datenvorhaltung und unter Wahrung von Datensicherheit und -vertraulichkeit jedem Sparer einfachen und sofortigen Zugang zu den gesammelten Renteninformationen verschafft. Sparer könnten dann regelmäßig überprüfen, ob sie auf einem guten Weg zur finanziellen Absicherung im Alter sind und ob sie gegebenenfalls Anpassungen bei Sparrate oder Risiko vornehmen sollten. Finanzberater erlangen ihrerseits eine weitere Möglichkeit, den Nutzen ihrer Beratungsimpulse konkret zu dokumentieren. Beiden Lösungsvorschlägen ist gemein, dass anlegerindividuelle und standardisierte Datenpunkte produziert werden, welche direkt in die Entscheidungsfindung der Haushalte einfließen und diese dadurch gezielt verbessern sollen. Darüber hinaus eignen sich die Datenpunkte aufgrund ihrer Standardisierung auch zur automatisierten, computerbasierten Auswertung und Weiterverarbeitung im Rahmen neuartiger Dienste.20 Mittels Aggregation anonymisierter Datenpunkte über spezifische Anlegergruppen können benchmarks bereitgestellt werden, die es den Individuen erlauben, die eigene Situation in Bezug zu Durchschnittswerten einer relevanten Vergleichsgruppe zu setzen und hieraus weitere Schlüsse zu ziehen. Zusätzlich können die standardisierten Datenpunkte für regelbasierte Signal- und Empfehlungssysteme genutzt werden. Einfache Signalbeispiele sind beispielsweise: „Das von Ihnen eingegangene Risiko weicht deutlich vom Zielrisiko im Depot ab“; „Ihre Sparrate ist zu gering, um das Sparziel zum Zieldatum zu erreichen“; „Andere Anleger mit vergleichbarer Familien- und Einkommenssituation bewegen sich mit ihren Anlagen in

_____ 20 Für eine Diskussion sog. „choice engines“, mit deren Hilfe Datenpunkte aus „smart disclosure“-Quellen gesammelt, auswertet und in Handlungsempfehlungen umgewandelt werden, siehe Thaler/Tucker Smarter Information, Smarter Consumers, Harv. Bus. Rev. 91 (2013), 44–54. Im Bereich Altersvorsorge wird das interessante Beispiel www.brightscope.com angeführt.

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einer höheren Risikoklasse als Sie“; „Mehr als die Hälfte Ihres Depotrisikos bestand aus diversifizierbarem und damit vermeidbarem Risiko“. Die Signale können systemgestützt genutzt werden, um passende Handlungsempfehlungen auszulösen, die die Anleger darin unterstützen, zeitkonsistent und selbstkontrolliert zu handeln.

VII. Fazit Die jüngsten Gesetzesinitiativen haben den Anlegerschutz in Deutschland deutlich verschärft. Dennoch bleibt das Nutzenpotenzial der Anlageberatung unausgeschöpft. Viele Anleger überwinden nach wie vor nicht „die letzte Meile“, weil Sie als Selbstentscheider die Grundregeln der Geldanlage nicht beherzigen oder als Beratungskunden entweder gute Beratung nicht identifizieren können oder guter Beratung nicht Folge leisten wollen. „smart disclosure“ oder vielleicht sogar im Kontext privater Finanzen noch passender: „last-mile disclosure“ von individuellen Datenpunkten in standardisiertem, computerlesbarem Format soll Anleger in die Lage versetzen, konkreten Handlungsbedarf zu identifizieren, die Qualität eigener Entscheidungen bzw. fremder Beratungsempfehlungen auf Gesamtanlageebene besser einzuschätzen und letztlich die „letzte Meile“ zu gehen. Standardisierte „smart disclosure“ wird die Wettbewerbskräfte auf den messbaren Kundennutzen lenken, neue Dienstleistungen ermöglichen und damit auch für neue Differenzierungsmöglichkeiten bei den Anbietern sorgen. Eine derartige Erweiterung des Informationsmodells erfordert nur geringe gesetzgeberische Intervention. Ganz im Gegenteil: Sollten die ersten Erfahrungen vielversprechend im Sinne deutlich verbesserter Ergebnisse von Beratungskunden sein, ist zu überlegen, ob eine anbieterseitige Selbstverpflichtung zum standardisierten Ausweis von Anlageergebnissen hinreichend ist. Im Gegenzug könnten die entsprechenden Anbieter gar von der Pflicht zur Protokollierung von Beratungsgesprächen befreit werden. Durch die Perspektivverschiebung im Anlegerschutz von der produktorientierten Inputseite hin zur portfolioorientierten Outputseite und insbesondere hin zum individuellen Kundennutzen aus Anlageberatung kommt es zu mehr Wettbewerbsdruck und als Folge zu einer stärkeren Interessenangleichung von Kunde und Berater. Gleichzeitig sind die Kunden in ihrer Bringschuld hinsichtlich Beraterauswahl und Beratungsbefolgung gefordert. Im Ergebnis sollte sich die Qualität der Finanzentscheidungen verbessern. Damit wachsen die zu verteilenden Renten, so dass langfristig beide Seiten profitieren sollten.

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Cornelius Prittwitz Vielen Dank, Andreas [Hackethal]. Es ist einfach wunderbar, Kollegen anderer Disziplinen mit ihren anderen Kulturen, ihrer anderen Sprache zu hören. Ich kenne Andreas Hackethal jetzt seit Jahren, wir waren zwei Jahre zeitgleich Dekan, er hat ganz „normal“ gesprochen und plötzlich tritt er als Ökonom auf − und er ist ein anderer geworden. Faszinierend ein anderer. Es ist ja wirklich außerordentlich interessant, dass diese Welt der Aktien, die nach meiner natürlich empirisch nicht gestützten Meinung bis vor Kurzem in Deutschland die Welt einiger ganz weniger war, dass das eine Welt ist, in der heute viele sich auch als Spieler wahrnehmen mit – man ahnt es – unglaublichen Risiken. Was Du gesagt hast, deutet ja in die Richtung, dass das Anlegerverhalten, mag es auch nicht kriminogen sein, hoch riskant ist und deswegen wahrscheinlich auch eine Versuchung ist für diejenigen, die sich besser auskennen, die ein Produkt zum Beispiel verkaufen wollen. Eberhard, ich bin gespannt, wie Du mit Deinen Narrativen, dieses Bild ergänzt.

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Eberhard Kempf

Grenzen der Schutzbedürftigkeit Betroffener bei Betrug und Marktmanipulation Eberhard Kempf Grenzen der Schutzbedürftigkeit Betroffener bei Betrug und Marktmanipulation

I. Täuschung und Irrtum beim Betrug setzen eine Interaktion1 zwischen Täter und Opfer voraus. Vergleichbares gilt für die Tatbestände des Kapitalanlagebetrugs gemäß § 264a StGB und der informationsgestützten Markt- bzw. Kursmanipulation des § 20a Abs. 1, 1. Alt. WpHG. Alle drei Tatbestände schließen also einerseits den „völlig skrupellos und alle Eventualitäten mitbedenkenden Täter“,2 der sein Opfer völlig beherrscht und dessen Verfügungen bestimmt, wie den eines „sich frei seinem Schicksal ergebenden Opfers“3 aus. In solchen Fällen liegt entweder schon keine Täuschungshandlung oder kein Irrtum vor. Es kommt also auf das große Zwischenfeld möglicher Interaktionen von Täter und Opfer und die Bestimmung seiner Grenzen an. Die Definition der Grenzen der Schutzbedürftigkeit eines Opfers ist ein bekanntes Thema der Betrugsdogmatik.4 Vor allem Amelung,5 Winfried Hassemer,6 Schünemann7 und jüngst Ackermann8 haben sich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Frage auseinandergesetzt, ob auch der „exquisit Dumme“9 noch des strafrechtlichen Schutzes von § 263 StGB bedarf. Amelung10 sieht die Grenze der Schutzbedürftigkeit des Opfers erreicht, wo „solche

_____ 1 Frank/Leu, StraFo 2014, 196, 199. 2 Frank/Leu, aaO, 199. 3 Frank/Leu, aaO, 196. 4 Kurth, Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 1984; Hassemer, Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafrechtsdogmatik, Zugleich ein Beitrag zur Auslegung des Irrtumsmerkmals in § 263 StGB, 1981. 5 GA 1977, 1 ff. 6 In: Kohlmann (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Klug, Bd. 2, 1983, 217 ff. 7 ZStW 90 (1978) 11 ff.; ders., in: Schünemann (Hrsg.) Strafrechtssystem und Betrug, 2002, 51 ff.; ders. NStZ 1086, 439. 8 „Sträflicher Leichtsinn“ oder strafbarer Betrug? Zur rationalen Kriminalisierung der Lüge, in: FS Roxin, Band II, 949 ff. mit zahlreichen weiteren Verweisen in Fn. 71. 9 Samson, Grundprobleme des Betrugs (I. Teil) JA 1978, 471. 10 AaO, 6 zum Irrtumsmerkmal bei § 263 Abs. 1 StGB.

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Zweifel“ des Opfers, „die sich auf einen konkreten Anlass stützen“, seinen Irrtum im Sinn von § 263 StGB ausschließen. Das Opfer habe in solchen Konstellationen „regelmäßig hinreichende Anhaltspunkte, um das betroffene Vermögen zu schützen.“11 Die Ausdehnung der strafrechtlichen Schutzwirkung würde „der Subsidiarität des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes widersprechen.“12 Schünemann leitet seine viktimodogmatische Auslegungsmethode unmittelbar aus dem „ultima ratio-Prinzip“ ab, das die Notwendigkeit des „Einsatz[es] des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz“ voraussetze.13 Diese Debatte wurde durch eine Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 5. März 201414 wieder neu angefacht. Der BGH hatte über die strafrechtliche Bewertung einer „Abo-Falle“ im Internet zu entscheiden. Es ging um einen Routenplaner. Auf der ersten Seite des Bildschirms erschienen die auszufüllenden Felder für Start- und Zielort. „Auf der Startseite befand sich in Fettdruck auch ein Hinweis auf ein Gewinnspiel. Eine Information darüber, dass für die Nutzung des Routenplaners ein Entgelt zu zahlen war, enthielt die Startseite nicht. Nach Betätigung der Schaltfläche „Route berechnen!“ erschien eine neue Seite, über der sich eine Grafik befand, in der wiederum auf das Gewinnspiel hingewiesen wurde. Auf derselben Seite gab es auch eine so genannte Anmeldemaske, in welche der Nutzer seinen Vor- und Zunamen nebst Anschrift, E-Mail-Adresse und Geburtsdatum einzutragen hatte. Die Anmeldemaske war in kursiver Schrift mit den Worten überschrieben: „Bitte füllen Sie alle Felder vollständig aus!“ Im unteren Bereich der Seite war von dem Nutzer die Schaltfläche „ROUTE PLANEN“ anzuklicken. Unterhalb dieser Schaltfläche befand sich ein Fußnotentext, auf den mit einem Sternchenhinweis verwiesen wurde. Am Ende dieses mehrzeiligen Fußnotentextes war der Preis für einen dreimonatigen Zugang zu dem Routenplaner in Höhe von 59,95 € in Fettdruck ausgewiesen. In Abhängigkeit von der Größe des Monitors und der verwendeten Bildschirmauflösung endete der sichtbare Teil der Internetseite unmittelbar nach der Schaltfläche „ROUTE PLANEN“, so dass der Hinweis auf das zu zahlende Entgelt auf den ersten Blick nicht wahrzunehmen war. Das zu zahlende Entgelt in Höhe von 59,95 € war auch in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufgeführt, die über den Link „AGB und Verbraucherinformation“ aufrufbar waren und von dem Nutzer akzeptiert werden mussten. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthielten darüber hinaus eine Bestimmung, wonach

_____ 11 12 13 14

Zit. bei Kuhli, ZIS 2014, 504, 508. GA 1977, 1, 6. Schünemann, Strafrechtssystem und Betrug (FN 8), 62. 2 StR 616/12 = NJW 2014, 2595 = NZWiSt 2014, 387 mit Anm. Müller = StV 2014, 665.

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dem Nutzer über den Betrag in Höhe von 59,95 € eine Rechnung zugesandt und der Rechnungsbetrag vorbehaltlich des Widerrufsrechts unmittelbar nach Vertragsschluss fällig werde.“ Die Entscheidung des BGH war erforderlich geworden, nachdem das LG Frankfurt mit seinem Beschluss vom 5.3.200915 die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt, das OLG Frankfurt mit Beschluss vom 17.12.201016 das Verfahren eröffnet und das LG Frankfurt den Angeklagten am 18.6.2012 daraufhin verurteilt hatte.17 Der Bundesgerichtshof sieht in der konkreten Gestaltung der Internet-Seite eine konkludente Täuschung, der die Erkennbarkeit des „Hinweis[es] auf die Entgeltlichkeit bei sorgfältiger, vollständiger und kritischer Prüfung“ nicht entgegenstand.18 Es sei – insoweit greift der BGH auf eine Sentenz in BGHSt 47, 1, 4 zurück – „zwar nicht Aufgabe des Strafrechts (und des Betrugstatbestands), allzu sorglose Menschen vor den Folgen ihres unbedachten Tuns zu schützen […]. Doch lassen Leichtgläubigkeit des Opfers oder Erkennbarkeit einer auf die Herbeiführung eines Irrtums gerichteten Täuschungshandlung weder aus Rechtsgründen die Täuschungsabsicht entfallen […] noch schließen sie eine irrtumsbedingte Fehlvorstellung aus.“19 Damit hält der BGH an einer seit Langem tradierten, sehr opferfreundlichen Position fest, und sieht sich daran auch nicht durch die „Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern […]“20 gehindert, zu der er sich in dieser Entscheidung erstmals äußert. Die UGP-Richtlinie orientiert sich am Maßstab des „Durchschnittverbrauchers“, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist“.21 Leicht durchschaubare Tricks, auf die ein solcher Durchschnittsverbraucher nicht hereinfällt, fallen danach ebenso aus der Anwendung des Betrugstatbestandes heraus wie im Fall der Beleidigung abwertende Äußerungen, die im Verständnis des auch dort zum Maßstab dienenden „verständigen Dritten“22 nicht als strafwürdig angesehen werden.

_____ 15 LG Frankfurt, 5.3.2009 – 5/27 KLs 3330 Js 21484/07 KLs 12/08, BeckRS 2010, 17751. 16 NJW 2011, 398, zust. Erb, ZIS 2011, 368; Fischer, StGB 61. Aufl. 2014, § 263 Rn. 28a f; Hansen, NJW 2011, 404; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 263 Rn. 16 f. 17 LG Frankfurt, 18.6.2012 BeckRS 2014, 14339. 18 AaO, Rn. 20. 19 BGH, aaO Rn. 20. 20 ABl L 149/22 vom 11.6.2005. 21 Erwägungsgrund 18 der UGP-Richtlinie. 22 BGHSt 19, 237; OLG Düsseldorf, NJW 1989, 3010.

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Der BGH lehnt eine richtlinienkonforme Auslegung des Betrugstatbestandes ab,23 obwohl er sie „auch im Bereich des Strafrechts“ grundsätzlich anerkennt.24 Er begründet das damit, dass die UGP-Richtlinie „keine strafbarkeitseinschränkende Auslegung des Betrugstatbestandes“ erfordere. 25 Vielmehr dürfe „der normative Gehalt einer nationalen Vorschrift im Wege der richtlinienkonformen Auslegung nicht grundlegend neu bestimmt werden“.26 „Eine Beschränkung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes auf durchschnittlich verständige Verbraucher führte“, so der BGH27 weiter, „überdies zu einer die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung überschreitenden Normativierung des Täuschungs- und Irrtumsbegriffs, wo doch der „Irrtum“ als „Widerspruch zwischen einer subjektiven Vorstellung und der Wirklichkeit“ lediglich „eine psychologische Tatsache“ sei, deren Vorliegen eine „Tatfrage“ sei. Das erstaunt angesichts der vom Richtliniengeber gewollten Vollharmonisierungswirkung,28 der sich aus Art. 4 Abs. 3 UA 2. u. 3. EUV ergebenden Loyalitätspflicht und der sich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV ergebenden Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien29: Auch die bisherige Diskussion um die Auslegung der Tatbestandselemente von „Täuschung“ und „Irrtum“ wurde nicht etwa im Rahmen einer rechtspolitischen Forderung um eine gesetzliche Einschränkung des Opferbegriffs von § 263 StGB geführt, sondern es ging immer um eine – in der Tat allerdings strafrechtseinschränkende – Auslegung. Im Übrigen: Heger30 weist zu Recht darauf hin, dass es „auch beim Betrugs-Tatbestand […] ohne gesetzgeberische Modifikationen von § 263 Abs. 1 StGB Zeiten (gab), in denen etwa der Vermögensschaden unter Zugrundelegung des rein juristischen Vermögensbegriffs stark normativiert war, während der rein ökonomische Vermögensbegriff zwischenzeitlich zu einer vollständigen Entnormativierung geführt hat (vgl. nur Perron, in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 263 Rn. 79 ff.).“ Und schließlich: Es wäre wünschenswert (und würde mancherorts zu anderen Ergebnissen geführt haben bzw. führen), wenn der BGH die Grenze zwischen Auslegung einer Strafvorschrift und gegebenenfalls strafrechtseinschränkende „Normativierung“ auch andernorts mit ähnlicher Trennschärfe gezogen hätte bzw. ziehen würde.

_____ 23 24 25 26 27 28 29 30

BGH, aaO, Rn. 21 ff. BGH, aaO, Rn. 25. BGH, aaO, Rn. 26. BGH, aaO, Rn. 27. AaO, Rz. 30. Hecker/Müller, ZWH 2014, 329, 333. Krack, ZIS 2014, 536, 541. HRRS 2014, 467, 470.

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Die bei der Entscheidung unmittelbar anstehende Frage der Anwendung der UGP-Richtlinie hat für den BGH, nachdem er sie bereits dem Grundsatz nach verneint und die Rechtsfrage unter Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht dem EuGH vorgelegt hat,31 darüber hinaus am Ende gar keine Rolle gespielt, weil er sein Ergebnis hilfsweise auf Art. 5 Abs. 2 lit. b Abs. 3 UGP-RL stützt, der dem Schutz besonders empfindlicher Verbraucher dient. Der BGH hat mit seinem Urteil vom 5. März 2014 ohne Not eine Chance der Entkriminalisierung vertan, nachdem der Gesetzgeber seinerseits die zivilrechtliche Frage der Wirksamkeit so zustande gekommener „Verträge“ und damit auch die Kondizierbarkeit auf solche nur vermeintlich wirksamen Verträge geleisteter Zahlungen mit § 312j Abs. 3 BGB zugunsten des Verbrauchers geklärt hat. Dabei kann selbstverständlich nicht bestritten werden, dass der von § 263 StGB vorausgesetzte „Irrtum“ „eine psychologische Tatsache“ ist, die in einem „Widerspruch zwischen einer subjektiven Vorstellung und der Wirklichkeit“ besteht, und dass dessen „Vorliegen eine Tatfrage“ ist. Aber: Die hergebrachte Rechtsprechung, an der der BGH auch im Jahr 2014 festhält, ist – und das scheint mir der entscheidende Unterschied zu sein – für Betrugskonstellationen herausgebildet worden und für solche Konstellationen sicher richtig, in denen sich Täter und Opfer face to face gegenüber treten, der Täter das Opfer „mitten ins Gesicht anlügt“ und Irrtum, Täuschung und Verfügung aus der „psychologischen Tatsache“ der Interaktion „unter Anwesenden“ entstehen, während die „Abo-Falle“ in der Entscheidung des BGH im Internet aufgestellt worden ist, wo der Täter einerseits sicherlich viel List und Tücke auf die Gestaltung des Internetauftritts zu Lasten des Verbrauchers aufwendet, wo aber der Nutzer alle Möglichkeiten hat und die Nutzung dieser Möglichkeiten ihm auch zugemutet werden kann, sich dem Einfluss des Täters zu entziehen. Für solche, meist massenweise praktizierten Fälle genügt es nach der UGP-Richtlinie nicht, „dass es auf Seiten des Verbrauchers zu irgendeiner faktischen Fehlvorstellung über Tatsachen gekommen ist. Erforderlich ist zusätzlich, dass diese Fehlvorstellung auch bei einem als Maßstabsfigur heranzuziehenden Durchschnittsverbraucher i.S.d. Art. 5 Abs. 2 lit. b, Abs. 3 UGP-RL eingetreten wäre.“32 Der BGH hätte somit seine bisherige Rechtsprechung für face-to-face-Betrugskonstellationen aufrecht erhalten können, auf die ihm vorliegende konkrete Fallgestaltung, die eine „Abo-Falle“ im Internet betraf, die UGP-Richtlinie und ihren Maßstab eines „angemessen gut unterrichteten und angemessen aufmerksamen und kritischen Verbrauchers“ anwenden können und wäre dabei wohl zum selben Er-

_____ 31 Vgl. Heger, aaO, S. 471 ff. 32 Hecker/Müller, ZWH 2014, 329, 334.

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gebnis gekommen. Er hätte aber einer Entscheidung des 3. Strafsenats aus dem Jahr 1986 entgegentreten müssen, die selbst einen noch so marktschreierischen Anzeigentext (damals gab es noch kein Internet) für ein Betrugs-relevantes Täuschungsmittel hielt. Der dortige Angeklagte hatte in Zeitungsinseraten für ein „Hollywood-Lifting-Bad“ aus „taufrischem Frischzellenextrakt“ geworben, das „mit 100%iger Figurgarantie“ „im Blitztempo von nur zwölf Bädern wieder schlank, straff und jung formen“ sollte. „Verblüfft und zufrieden hätten Testpersonen festgestellt, „dass sie um herrliche zehn, fünfzehn oder mehr Jahre verjüngt“ und „zur Figur eines Filmstars geliftet worden seien.“33

II. Bevor ich vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB zu den eingangs genannten Kapitalmarktdelikten übergehe, möchte ich in aller Kürze auf die Schweizer Strafrechtspraxis hinweisen, 34 die ausdrücklich die „Opfermitverantwortung“ in den Blick nimmt und den von Arzt dazu entwickelten Fallgruppen nicht nur Strafzumessungsrelevanz zuerkennt, sondern sogar deren Strafbarkeit als Betrug verneint35: Es geht in einer ersten Fallgruppe um die „Vernachlässigung besonderer geschäftlicher Sorgfaltspflichten“ durch das „Opfer“. „Im Hinblick auf ihren Selbstschutz [sei] ein strengerer Maßstab anzulegen“.36 Eine zweite Fallgruppe handelt von der „leichtsinnigen Fortführung der Geschäfte trotz Warnungen oder nach durchschauter Täuschung“, von Fällen also, „in denen das Opfer bereits Geschäfte mit dem Täter tätigte und den in diesen Fällen erlittenen Verlust durch Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung wieder wettmachen will“.37 In einer dritten Fallgruppe geht es um Geschäfte mit besonders unrealistischen

_____ 33 BGHSt 34, 199, 200. 34 Frank/Leu, StraFo 2014, 196, 202 ff. 35 Arzt, in: Basler Kommentar, 2. Aufl. 2007, Art. 146 Rn. 57 ff.; vgl. auch: Arzt, FS Tiedemann 2008, 595 ff. 36 Frank/Leu, aaO, S. 203 mit Verweis auf Schweizer. BG, U.v. 1.2.2007. In einer ebenfalls dort zitierten Entscheidung des Schweizer BG vom 31.3.1993 ging es um die Beurteilung eines Kreditantragstellers, der „als Vertreter einer reichen ausländischen Familie auf(getreten ist), die in der Schweiz Wohneigentum erwerben wollte. Er versuchte, unter Verweis auf die „schwarze Natur“ des Geschäftes, um eine diskrete Abwicklung, woraufhin ihm die Bank die Kredite, ohne üblicherweise erforderlichen Unterlagen und ohne Rückfrage beim vermeintlichen Auftraggeber, gewährte.“ 37 Frank/Leu, aaO, S. 204.

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Gewinnerwartungen. In diesen Fällen stellt das Schweizer Bundesgericht auf die konkrete Erfahrung und Fachkenntnisse des Opfers ab, völlig unrealistische Gewinnerwartungen als solche zu erkennen, und erkennt die Opfermitverantwortung als einen die gesetzlich vorausgesetzte „Arglist“ des Täters ausschließenden Umstand an.38 Unter diese Fallgruppen fällt auch ein kleiner Bericht der „Neuen Züricher Zeitung“ vom 31. Oktober 2014 über eine Strafverhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich. Junge Männer tätigten außerordentlich teure Einkäufe. An der Kasse gaben sie vor, ihre Kreditkarte sei defekt. Als angebliche Banker wüssten sie aber, wie die Zahlung dennoch vorgenommen werden könne. Sie wiesen die Kassierer an, die 16-stellige Ziffer und das Verfallsdatum der Kreditkarte einzugeben, wie die Zahlung bei online-Käufen vorgenommen werden kann. Den Beleg unterschrieben sie mit dem Namen des Inhabers der Kreditkarte, die sie ihm wohl vorher gestohlen hatten. Die NZZ berichtet: „Für den Gerichtsvorsitzenden Roland Heinmann war es die Geldgier der Geschädigten, die es den Betrügern so einfach machte. … In der Migros für 14 Franken 50 wäre ein solcher Betrug nicht möglich gewesen, bei Juwelieren und in Etablissements, wo es um Tausende von Franken ging, hingegen schon.“39 Der Bericht von Frank und Leu in StraFo 2014, dem ich diese Fallgruppen und den Ausschnitt aus dem Schweizer Strafgesetzbuch entnommen habe, scheint mir ein wertvoller Beitrag zur Entkriminalisierung des Betrugsstrafrechts zu sein.

III. Wenn wir jetzt den Blick weg vom Betrug des § 263 StGB und auf das Kapitalmarktstrafrecht lenken, dann ist zunächst der augenfällige Unterschied hervorzuheben, dass sich die Bestimmung des § 20a WpHG nach der Festlegung durch die Marktmissbrauchsrichtlinie des europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 200340 zum Ziel gesetzt hat, „die Integrität der Finanzmärkte der Gemeinschaft sicherzustellen und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte zu stärken“.41 § 20a WpHG schützt also nicht das Individualrechtsgut des Vermögens, sondern bezweckt den Anlegerschutz, ohne deswegen ein Schutzgesetz

_____ 38 39 40 41

Frank/Leu, aaO, S. 205. NZZ v. 31.10.2014, S. 19. ABl. 2003L0006 – DE – 4.1.2011 – 002.001. AaO, Erwägungspunkt Nr. 12.

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im Sinn von § 823 Abs. 2 BGB zu sein.42 Die Vorschrift ist daher im Gegensatz zu dem Erfolgsdelikt des § 263 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Vogel spricht mit Blick auf das tatbestandlich vorausgesetzte Kurseinwirkungspotential und die tatsächliche Kurseinwirkung von einem „abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikt.“43 Diese Feststellung hat eine erste Konsequenz für das Akteneinsichtsrecht eines Verbrauchers, der behauptet, in seiner Anlegerentscheidung durch „unrichtige oder irreführende Angaben“ von Bewertungsrelevanz beeinflusst worden zu sein. Das OLG Stuttgart hat – ausdrücklich gegen das OLG Hamburg44 – in einer jüngst ergangenen Entscheidung45 gegen ein Akteneinsichtsrecht einer nur mittelbar geschädigten Gesellschaft entschieden, dass die „Berufung auf deliktische Anspruchsgrundlagen, die lediglich an das Strafrecht anknüpfen, […] die Gefahr eines Zirkelschlusses heraufbeschwören [würde], da dieser Personenkreis eine Verletzung der Strafrechtsnorm zu seinem Nachteil gerade nicht behaupten kann.“ Der Beschluss spricht daher generell ein Akteneinsichtsrecht nur „durch die dem Angeklagten vorgeworfene Straftat“ unmittelbar Geschädigten zu. Und: „Soweit den Angeschuldigten in der Anklageschrift (ausschließlich) Marktmanipulation nach §§ 20a Abs. 1 Satz 1, 1. Alt., 39 Abs. 2 Ziff. 11, 38 Abs. 2 Ziff. 1 WpHG vorgeworfen wird, handelt es sich bei der Norm des § 20a WpHG gerade nicht um eine drittschützende Norm, vielmehr wird alleine die im öffentlichen Interesse liegende Wahrung der Zuverlässigkeit und Wahrheit bei der Preisbildung an Börsen und Märkten als Normzweck angegeben […]. Ein unmittelbarer Schutz des Kapitalanlegers ist weder gewollt, noch angesichts der Existenz drittschützender Normen geboten […]. Durch Marktmanipulation geschädigte Kapitalanleger sind mithin nicht Verletzte iSd § 406e StPO [folgen Verweise].“

Das OLG Stuttgart rundet seine Begründung mit einem Verweis auf Art. 1a und 10 des „Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren“46 ab. Nach Art. 1 lit. a) dieses Rahmenbeschlusses ist „Opfer“ ausschließlich eine „natürliche Person[…], die einen Schaden […] oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlun-

_____ 42 Vogel, in: Assmann/Schneider, WpHG, 6. Aufl., § 20a Rn. 26; gegen die Schutzgesetzeigenschaft ausführlich OLG Stuttgart, B.v. 28.6.2013, 1 Ws 121/13, BeckRS 2013, Nr. 13426. 43 Vogel, aaO, Rn. 8. 44 wistra 2012, 397; ebenso LG Berlin, B.v. 20.5.2008, 514 AR 1/07, zit. nach juris; KKEngelhardt, StPO, 6. Aufl., § 403, Rn. 5. 45 OLG Stuttgart, B.v. 28.6.2013, aaO (Fn. 40). 46 AblEG 2001 L 82 v. 21.3.2001, S. 1.

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gen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen.“ Das OLG Stuttgart verweist unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des EuGH47 in diesem Zusammenhang darauf, dass diese „Regelungen dahin auszulegen sind, dass juristische Personen nicht vom Opferbegriff des Rahmenbeschlusses umfasst sein sollen und auch nicht zu sein brauchen, da sich natürliche Personen wegen ihrer größeren Gefährdetheit und der Natur ihrer Interessen, die durch Straftaten allein gegen natürliche Personen beeinträchtigt werden können, wie das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Opfers, in einer objektiv anderen Lage befinden als juristische Personen.“

In der vergleichenden Betrachtung von § 263 StGB einerseits und § 20a Abs. 1 Nr. 1 WpHG andererseits fällt ein weiterer Aspekt auf: Während das kapitalistische Wirtschaftssystem auf den Vermögen schädigenden Betrüger nicht angewiesen ist, auch wenn es ihm systembedingt semper apertus steht, ist das Kapitalmarkt-orientierte Unternehmen zur Befriedigung seiner Kapitalinteressen auf einen funktionierenden Kapitalmarkt systemisch ebenso angewiesen wie der Kapitalanleger seine Renditeinteressen nur befriedigen kann, wenn Unternehmen am Kapitalmarkt ausreichend Kapital nachsuchen. Die Interaktion zwischen Betrüger und Betrogenem beim Betrug ist durch ein deutliches Gefälle gekennzeichnet, wohingegen am Kapitalmarkt strukturell Gleichgewicht herrscht, das allerdings durch Exzesse der einen wie der anderen Seite durchaus erheblich gestört werden kann: Durch auf Hochglanz polierte Beschönigung von Risiken des emittierenden Unternehmens ebenso wie durch Gier-getriebene hochspekulative Anlagestrategien von Kapitalanlegern. Dieser Unterschied wird von Gesetz und Rechtsprechung geradezu feinsinnig betont, wenn dem Betrogenen ein unmittelbarer Schadenersatzanspruch gemäß §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB zuerkannt wird, während der Kapitalanleger auf den Nachweis vorsätzlich sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB verwiesen wird. Auch das Kapitalmarkt- und das Kapitalmarktstrafrecht orientieren sich an dem „verständigen, durchschnittlich informierten und situationsadäquat aufmerksamen Anleger“,48 ohne dass beim angesprochenen Personenkreis der Anleger eine „besondere Sachkunde“ vorausgesetzt würde.49 § 2 Abs. 1 S. 1 MaKonV spricht kurz vom „verständigen Anleger“. Es sind mir jedoch keine Gerichtsentscheidungen bekannt, die als Kriterien der Zu- oder Aberkennung eines Anspruchs tragend darauf abstellen, ob der Anspruchsteller ein „durch-

_____ 47 Urteil vom 21.10.2010 – C-205/09, zit. nach juris. 48 Vogel, aaO, Rn. 62. 49 Vogel, aaO, Rn. 60.

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schnittlich verständiger Kapitalanleger“ ist oder ob er am oberen oder unteren Ende der „Verbraucherkette“ aus der Maßstabsfigur herausfällt. Immerhin weist das LG Stuttgart in einer noch nicht veröffentlichten Entscheidung vom 17. März 2014 bei der Erörterung, ob die dort geltend gemachte Schadenshöhe etwa den Vorwurf der sittenwidrigen Schädigung begründen könne, darauf hin, „dass die Klägerinnen hochspekulative ungesicherte Leerverkäufe getätigt haben“.50 Im Übrigen spreche „die hochspekulative Natur der Anlagen der Klägerinnen, die ganz bewusst und ohne Offenlegung ihrer entsprechenden Absichten gegenüber der Beklagten hochriskante und – nach eigenem Vortrag – ungesicherte Kurswetten in einem außerordentlich volatilen Anlageumfeld getätigt haben, indiziell gegen die geltend gemachte Sittenwidrigkeit.“51 Ob der von § 20a WpHG prinzipiell durchaus intendierte Anlegerschutz solchen Hedgefonds zukommen sollte, die über alle teilweise hochtechnisierten Informationssysteme verfügen und die Informationen für ihre Anlagestrategien noch am Wenigsten auf Informationen von Emittenten stützen, kann durchaus bezweifelt werden. Einer dieser Fonds hat 2002, als Argentinien kurz vor der Staatspleite stand, in großem Stil argentinische Staatsanleihen gekauft, die zu dem Zeitpunkt nur noch als junk bonds gehandelt worden sind. Dem von Argentinien mit den allermeisten seiner Gläubigerinstitutionen ausgehandelten Schuldenschnitt von mehr als 70% hat er sich entzogen, um 2012, als Argentinien sich wirtschaftlich erholt hatte, mit Hilfe eines Vollstreckungstitels eines US-amerikanischen und eines englischen Gerichts einen Viermastsegler der argentinische Marine, der im Hafen von Accra ankerte, arretieren zu lassen. Prima vista fällt ein solcher Hedgefonds nicht unter den Begriff eines „verständigen, durchschnittlich informierten und situationsadäquat aufmerksamen Anlegers“. Wer „Kurswetten in einem außerordentlich volatilen Anlageumfeld“ betreibt, handelt nach seiner eigenen Agenda. Er ist kein eigentlicher Kapitalanleger, sondern bewegt sich im Kapitalmarkt wie in einem Kasino. Ich danke Ihnen als weit überdurchschnittlich verständige, überdurchschnittlich informierte und jederzeit situationsadäquat aufmerksame Zuhörer.

(neue Seite)

_____ 50 LG Stuttgart, U.v. 17.3.2014, UA S. 40. 51 AaO, UA S. 41.

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Diskussion Diskussion Diskussion Hans Richter Opfermitverantwortung im Kapitalmarkt, lieber Herr Kempf, ist aus meiner Sicht nicht beantwortbar in der Einteilung in gute und schlechte Kapitalanleger, in solche, die Wetten auf Leerverkäufe machen und solche, die Investitionen in Unternehmen tätigen. Ich denke, Frau Greeve, Sie haben auf das Richtige heute Morgen hingewiesen, in dem wir fragen müssen: Was will Strafrecht schützen? Wenn Strafrecht Individualgüterschutz bezwecken will, dann können wir von Opfer reden, wenn Strafnormen aber Strukturen schützen wollen, dann gibt es keine Opfer. Natürlich, Herr Lüderssen, darüber haben wir immer wieder diskutiert, in dieser Ihrer Veranstaltung, Strafrecht schützt letzten Endes immer Individuen. Aber die Frage ist: In welcher Abschichtung es eben solchen Schutz bezweckt und es macht keinen Sinn auf das Opfer zu schauen, wenn eine Struktur geschützt wird und es hilft auch nicht, Herr Kempf, wenn wir über die Zivilrechtsprechung etwa des Landgerichts Stuttgart einen Schaden kreieren für eine Strafnorm, die eben überhaupt keinen Schaden kennt. Der § 20a WpHG schützt nämlich nicht den richtigen Preis und nur wenn es um einen Preis von einem Wertpapier ginge, könnte ein Schaden diskutiert werden, sondern er schützt den Preisbildungsprozess, dem als tragendem Strukturelement des geschützten Kapitalmarktes eigener Wert zukommt. Deswegen ist der Blick nicht auf Opfer gerichtet, sondern auf Täter, wie wir Strafrechtler sagen würden: Bestimmtes Verhalten ist untersagt. Dann ist die Frage, welche Funktion hat jetzt der „normativ bestimmte Verbraucher“, der Anleger in diesem Sinn. Nun, er hat nicht die Funktion einen Opferschutz zu kreieren, sondern die Funktion herauszufinden, welche Strukturen wurden vom Gesetzgeber als unerwünscht, deklariert. Gerade dieses müssen wir prüfen und sagen: „Das widerspricht den Regularien, nach denen ein Preis zustande kommen soll und deswegen wird der Täter bestraft.“ Die Fragestellung „Opferschutz im Kapitalmarktstrafrecht“ ist aus meiner Sicht falsch gewählt, weil es sich um „Strukturstrafrecht“ und nicht um „Individualstrafrecht“ handelt. Es geht also gerade nicht um Opferschutz. Ich will aber noch ein Wort weiter dazu sagen, weil ich schon sehr lange im Wirtschaftsstrafrecht tätig bin. Mir kommen selbst im Individualrechtsgüterschutzbereich, im Normbereich etwa der § 263 StGB, auch § 266 StGB, immer mehr in Zweifel am Gedanken des Opferschutzes. Wollen wir wirklich unterscheiden nach der Struktur der Vorgehensweise der Opfer, ob diese besonders oder wenig schutzwürdig sind? Oder ist es nicht viel mehr so, dass wir bestimmtes Täterverhalten, auch im Individualrechtsgüterschutz, in unserer Gesell-

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schaft nicht dulden wollen? Wenn ich mir bestimmte Viertel in Stuttgart anschaue, in denen die Menschen ihre Differenzen mit Fäusten und mit Messern klären: Geht es da um den Opferschutz dessen, der einen Stich mit dem Messer oder einen Faustschlag bekommen hat? Oder geht es nicht viel mehr in diesem Individualrechtsgüter schützten Bereich auch darum zu sagen: Bestimmte Dinge wollen wir in unserer Gesellschaft nicht haben, Ist das nun täterorientiert oder opferorientiert? Ferdinand Gillmeister Ich wollte, bezogen auf das, was Herr Richter gerade gesagt hat, noch einen Schritt zurückgehen. Ich stelle mir die Frage, wie kann man feststellen, wer Opfer einer Straftat ist. Die Frage nach dem Opfer hat auch Auswirkungen auf die Kategorien im Verbrechensaufbau. Gibt es vor- oder nachgeschaltet Institute oder Wege zur Definition des Opfers? Wen wollen wir schützen? Und wer bestimmt, wie weit dieser Schutz geht? Diese Frage kann auf den verschiedenen Ebenen im Verbrechensaufbau gestellt werden. Für die Tatbestandsebene sind Beispiele genannt worden. Beim Betrugstatbestand kann z.B. die Definition des Irrtums den Schutzbereich bestimmen. Liegt ein Irrtum vor, wenn der Getäuschte erhebliche Zweifel hat, ob die Tatsachenbehauptung zutreffend ist? Die Franzosen definieren den Betrugstatbestand sehr viel enger als wir in Deutschland. Um das Beispiel von Herrn Salditt von vorhin aufzugreifen: Es ist doch zweifelhaft, ob jemand über Tatsachen täuscht, wenn er verspricht, mit besonderen Sandalen über den Rhein gehen zu können. Dies wären tatbestandsimmanente Lösungen. In anderen Bereichen, dem Einverständnis bzw. der Einwilligung, geht es um die Verfügbarkeit eines Rechtsguts. Ich glaube, wir sind hier in einer sehr schwierigen Problematik. Oft schenkt der Gesetzgeber uns einen Tatbestand und überlässt es der Rechtswissenschaft und der Praxis das entsprechende Rechtsgut zu finden bzw. zu konturieren. Es ist ja nicht so, dass das Rechtsgut exakt definiert ist und zu seinem Schutz ein Straftatbestand gebastelt wird. In vielen Fällen wechselt die Auffassung vom Rechtsgut. Und wenn wir das Rechtsgut erst entwickeln bzw. definieren müssen, dann stellt sich die Frage nach den Maßstäben. Wie weit soll der Schutz gehen? Diese Antwort liegt außerhalb des objektiven Tatbestandes. Ich habe keine Lösung aber dazu heute auch noch keinen Lösungsansatz gehört. Ralf Krack Ich möchte noch kurz was zu den Abo-Fall sagen – etwas zwanghaft, weil da letzten Monat auch ein Aufsatz von mir erschienen ist: Ich schätze das etwas anders ein als Herr Kempf. Ich glaube nicht, dass der zweite Strafsenat darauf immer gewartet hat. Für mich liest sich das so – das kann ich wie Herr Kempf

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auch etwas leichter sagen, weil Herr Fischer noch nicht da ist – so als ob man sehr unbeholfen da heran geht. Es gibt erstmal sechs, sieben Randnummern, in denen der zweite Senat sich zu ganz grundlegenden, unstreitigen Dingen äußert. Eine Randnummer nur zu dem Thema, man müsse richtlinienkonform auslegen. Eine Randnummer nur zu dem Thema, das gilt auch für Normen die schon älter sind als die Richtlinie, wie z.B. § 263 StGB. So werden Selbstverständlichkeiten aus der Anfänger-Europarechtsvorlesung vorgetragen – die vollkommen richtig sind und es ist gut, – dass man das nicht falsch versteht – dass der BGH dazu erstmal etwas gesagt hat, aber es macht nicht den Eindruck, als ob die sich lange darauf vorbereitet hätten und froh waren, das jetzt endlich mal sagen zu können. Die Revision hatte das vorgebracht und sie hatten wohl das Gefühl, sie müssten dazu mal etwas sagen. In der Folgeentscheidung im Juni oder Juli haben sie ja nur noch auf sich selbst verwiesen mit einem Satz. Das tut man meistens nicht, wenn man deutlich etwas mitteilen will. Damit sind wir bei der Frage, ob wir Strafrechtler auch mal das Europarecht zur Kenntnis nehmen. Das ist ja eine alte Frage und aus meinem Mund klingt das auch ziemlich höhnisch, weil ich mich damit auch so gut wie nie befasst hatte. Auch im Schrifttum liest man da noch immer so Dinge wie das mit dem Grenzüberschreitenden – das war der Stand bis 2007, als es die UGP-Richtlinie mit der Vollharmonisierung nicht gab, da ging es um die Grundfreiheiten und die gelten nur bei Grenzüberschreitungen. Das ist in den meisten Fällen nicht mehr bedeutend und der BGH, der meint, es käme auf die UGP-Richtlinie an, liegt wohl auch falsch. Wir haben speziellere Richtlinien. Wir haben die Richtlinie, die § 312j Abs. 3 BGB zu Grunde liegt, die Verbraucherrechte-Richtlinie, und wir haben die Richtlinie, die § 1 Abs. 6 Preisangaben-Verordnung zu Grunde liegt – ich habe die Richtlinie gerade vergessen –, der Endpreis muss ja deutlich daneben stehen. Die sind wohl spezieller oder prägen zumindest die Generalklauseln des § 3 Abs. 1 UWG und Art. 5 der UGP-Richtlinie, daran müssen wir das deutsche Recht messen. Das haben wir auch alle noch nicht so recht erkannt. Ich bis letzten Monat auch nicht. Von daher müssen wir daran noch arbeiten, die Rechtsprechung und wir alle anderen auch. Eberhard Kempf Ich würde jedenfalls gerne zwei Bemerkungen anbringen. Herr Richter, Sie haben natürlich völlig Recht, darauf hinzuweisen, zuerst adressiert die Norm, auch wie § 20a WpHG wie alle anderen strafrechtlichen Normen, sich an den Täter. Aber Sie weisen mit Ihrer Bemerkung auch daraufhin, dass § 20a WpHG dann ein reines abstraktes Gefährdungsdelikt ist und dann sind wir in der Problematik, die wir glaube ich noch zu diskutieren haben: Die Legitimation rein abstrakter Gefährdungsdelikte. Ferdinand Gillmeister, Dein Beitrag hat mir ge-

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zeigt, ich hätte es vielleicht doch vortragen sollen. Die Diskussion um § 263 StGB, das Verbraucherleitbild und die Frage der notwendigen Wirkung der UGP-Richtlinie auch für Strafrecht könnte ja bedeuten, dass am unteren Ende jedenfalls die Strafbarkeit wegen der Anwendung der UPG-Richtlinie etwas begrenzt wird. Die Schweiz tut dies. Es gibt einen sehr schönen Aufsatz von Ackermann – dem Anderen – in der Roxin-Festschrift, aber auch in einem 2014 Heft von StrafFo, in der auf die Arbeiten vor allem von Arzt hingewiesen. Das Schweizerische Strafgesetzbuch beim Betrugstatbestand enthält den Hinweis auf ausdrücklich arglistige Täuschung. Die Täuschung im schweizerischen Betrugstatbestand muss arglistig sein. Weil sie arglistig sein muss, hat die schweizerische Rechtsprechung bestimmte Cluster herausgebildet von nicht arglistigen Täuschungen, dann z.B. wenn die Banken – wir würden sagen ohne Beachtung der Vorschriften aus § 18 KWG – Kredite vergeben, besonders unsorgfältige, leichtsinnige Entscheidungen treffen oder wenn – auch davon war heute schon die Rede – ein Verbraucher, nachdem er schon einmal auf dieselbe Geschichte herein gefallen ist, noch ein viertes, fünftes Mal rein fällt. Oder aber die Geschäfte mit besonders unrealistischen Gewinnerwartungen. Die 100%Garantie von Jugendschönheit und Fitness. Das wird im schweizerischen Betrugsverständnis nicht mehr als vom Betrugstatbestand erfasst behandelt, so die Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts, die insoweit den Arbeiten von Arzt folgt. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, die der BGH durchaus hätte ergreifen können in seiner Abo-Fallen-Entscheidung und die er leider verpasst hat. Wolfram Schädler Es geht ja um den Topos Opfermitverantwortung. Ich habe das Gefühl in der Diskussion heute Nachmittag – und ich stütze mich da auf meine zehnjährige Erfahrungen als Bundesanwalt in verschiedenen Senaten –, dass wir hier von Opfern gesprochen haben, die eigentlich in der Praxis – jedenfalls in meiner Praxis – überhaupt nicht vorgekommen sind. In den ganzen zehn Jahren ging es im Bereich der Wirtschaftskriminalität nicht um Anleger, sondern es ging um alte Leute, die von systematisch vorgehenden Tätern in diesem Bereich um ihre Einkünfte im Bereich der Altersvorsorge gebracht worden sind. Diese Täter haben Erfolg bei ganz bestimmten gutgläubigen älteren Menschen, denen man auch die Schönheitscreme zehn, fünfzehn mal verkaufen kann. Herr Kempf und ich waren einmal in einem großen Fall zusammen, in dem jemand immer wieder versucht hat, einen Bonus, einen Gutschein oder ein Geschenk zu ergattern und immer wieder auf dieselbe Sache hereingefallen ist. Aber trotzdem: die Leute sind eben schützenswert. Es ist bei Herrn Kölbel ein bisschen angeklungen, aber ich finde schon, dass die Praxis hier ein bisschen Einzug halten sollte.

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Cornelius Prittwitz Ich darf einen kleinen Zweifel anbringen, wie viele Senioren Red Bull trinken, aber ansonsten bin ich vollkommen einverstanden. Klaus Lüderssen Ich habe nur eine Frage an Herrn Hackethal: Bei der Unübersichtlichkeit des Anlegerverhaltens, bei der völligen Irrationalität – welche Rolle spielt dann dort die mögliche kriminogene Tätigkeit der Zentralbank? Die Zentralbank ermöglicht Kredite, aber die müssen doch wissen, was damit passiert oder ist das egal? Sie haben das Thema gelobt, die kriminogene Interpendenz. Wo ist der Anteil der Interpendenz bei der Zentralbank? Hans Richter Nur eine kurze Bemerkung. Herr Kempf: §§ 20a, 38, 39 WpHG, ist ein Verletzungsdelikt und kein Gefährdungsdelikt. Es wäre nur dann ein abstraktes Gefährdungsdelikt, wenn Sie auf das dahinter stehende Vermögen und damit auf den Preis des Wertpapiers schauen. Dies trifft aber gerade nicht das von mir vorher erwähnte Rechtsgut. Wenn Sie den Preisgestaltungsprozess sehen, der geschützt werden soll, dann ist dieser durch die pönalisiert Handlungen verletzt. Cornelius Prittwitz Darf ich selber noch zwei Punkte anfügen? Ich habe mich auch auf die Liste gesetzt. Zum einen wollte ich, in Antwort auch auf Herrn Richter, sagen, dass ich es doch sehr wichtig finde, zu unterscheiden zwischen – ich möchte mal sagen – Fernzielen des strafrechtlichen Schutzes, bei dem natürlich hinter vielen Einzelstrafvorschriften mit einzelnen Verletzten Strukturen stehen. Dass Körperverletzungs-, Tötungs-, Beleidigungs- und andere Verbote letzten Endes auch unsere Art des Zusammenlebens, also insofern Strukturen schützen, scheint mir evident zu sein. Es scheint mir aber für ein nicht ausuferndes Strafrecht genauso wichtig zu sein, dass dieses Ziel gewissermaßen nur am Horizont ist und nicht schon per se die Kriminalisierung rechtfertigt. Will sagen: Strukturschutz ohne Verletzte, ohne benennbare, konkrete Verletzte ist immer in Gefahr, ein expansives, ein ausuferndes, unter Umständen auch in schlimme Richtungen ausuferndes Strafrecht zu werden. Von daher würde ich sagen, es hat schon einen guten Grund, dass wir nach den konkreten Verletzten suchen, und wenn wir die nicht finden, ist die Legitimität des Straftatbestandes zweifelhaft – sie ist nicht automatisch verloren, aber sie muss auf andere Art und Weise diskutiert werden, als wenn wir die konkret benennbaren Verletzten haben. Das nur als kleine Anmerkung zu Ihrer Wortmeldung.

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Ich habe noch eine Frage an Dich, Andreas [Hackethal]. Du hast uns ja so viel über das Anlegerverhalten gesprochen und ein bisschen wie Klaus Lüderssen frage ich nach den kriminogenen Elementen, also den kriminalitätsfördernden, kriminalitätsproduzierenden Elementen im Kapitalmarkt. Wir haben ja von Eberhard Kempf das argentinische Beispiel gehört, bei dem man auch sagen könnte, der Anleger, der Hedgefonds, der diese Ramschpapiere gekauft hat und gesagt hat: „Mal sehen, in zwei von zehn Fällen wird aus Ramsch Nicht-Ramsch und an irgendwelchen Verhandlungen beteilige ich mich, aber wenn es soweit kommt, dann bin ich ganz toll.“ Da könnte man fragen, ist Argentinien nicht das Opfer? Ist die Möglichkeit, solche Papiere zu kaufen, sie auf diese Art und Weise zu verwalten, ist das ein kriminogener Faktor im Kapitalmarkt? Aber auch umgekehrt natürlich und vielleicht verstärkt umgekehrt und im Hinblick darauf, dass er nun doch das Gefälle – da kommt es mir so vor, Eberhard [Kempf], als ob Du ein bisschen idealistisch warst, gewissermaßen vom BGBBild doch zu stark beeinflusst, dass alle auf Augenhöhe und frei und gleich sind. Mir scheint auch, dass gerade auf dem Kapitalmarkt in Deutschland, auf dem sich vermehrt Kleinanleger bewegen – und zwar nicht missbräuchlich, sondern mit Blick auf ihre Altersvorsorge –, das Gefälle doch auch vergleichbar besteht wie in normalen Betrugsfällen. Zurückkommend zur Frage an Andreas Hackethal: Welche kriminogenen Faktoren gibt es im Bereich des Kapitalmarkts, der Kapital will? Und vor allen Dingen die Frage: Verdient es wirklich den Begriff „kriminogen“ oder ist das nur Teil des Marktes? Man verspricht was, man erhofft sich Geld, man hofft, dass vielleicht auch die Leute, die weniger informiert sind, sich auf ihr eigenes Risiko hin beteiligen. Also die Frage, welche Rolle hat im Kapitalmarkt tatsächlich das Strafrecht jenseits von vollkommen eindeutigen, hier nicht zu diskutierenden Fällen von Täuschungen, die ja auch vorkommen? Welche Rolle soll das Strafrecht haben? Oder ist der Kapitalmarkt ein Wesen, das z.B. die strafrechtliche Intervention gar nicht verdient oder dem die strafrechtliche Intervention gar nicht gut tut? Andreas Hackethal Ganz herzlichen Dank, Herr Lüderssen, Cornelius [Prittwitz], für die Fragen. Auch Ihnen natürlich. Da nehme ich etwas in meinen Rucksack mit, das gehört normalerweise nicht so in mein Feld, sich darüber Gedanken zu machen, weil wir typischerweise mit Annahmen arbeiten und die Annahme ist typischerweise die, Kapitalmärkte, auf denen Privatanleger zu Gange sind, die sind recht funktionierend, weil eben hoher Wettbewerb gilt und weil sie reguliert sind und weil die Chancengleichheit ausgeprägt ist. Der Markt selbst, wenn wir die Deutsche Börse, Xetra, anschauen, dann mag dort kriminogene Energie sein, aber ich denke, sie verpufft. Sie hat es sehr, sehr schwer. Die Intermediäre, über die ich

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gesprochen habe, die den Marktzugang verschaffen oder Marktprodukte dann an Privatanleger vertreiben, dort ist natürlich dann die Möglichkeit dieses Kriminogene auszuleben. Deswegen habe ich den Fokus darauf gelegt. Es gibt ja wirklich schöne Beispiele – dieses Abo-Modell. Ich hatte vor kurzem mal die Computer-Bild, die mich ansprach und fragte: „Was halten Sie denn von Folgendem?“. Ich kann mich noch erinnern, das hieß, glaube ich, „P95 Pro“. Wenn Sie das auf der Webseite mal schauen, dann ist das genau wie das Bad, in das man zehn Mal reinsteigt. Es ist sehr perfide gemacht und es ist einfach ein Vertriebsfeuerwerk, was dort abgespult wird, ob das über Kapitalmärkte geht. Tatsächlich ist das dahinter ein Broker und man handelt irgendwelche Derivate, aber darum geht es eigentlich gar nicht. Es geht darum, dass man Personen anbietet: „Hier können Sie schnelles Geld machen“. Sind das die Märkte? Die Märkte sind ein Instrument, aber das Problem liegt eben intermediär davor, der etwas bewirbt und da ist es sehr schwer nachzukommen. Ist das noch faktisch? Da gibt es einen Demo-Modus, da kann man rum tippen und man macht sehr viel Geld, in der Realität sieht es anders aus. Und die Motive sind eindeutig, würde ich sagen, so dass es Richtung Betrug geht, aber das ist dann Ihre Aufgabe dort diese Grenze zu ziehen. Ich versuche das mal so zu machen, zu sagen, die Märkte, von denen wir typischerweise reden, wo Kapitalangebot und nachfrage aufeinander treffen, die höchst gesichert und reguliert sind, die folgen ihren eigenen Regeln und innerhalb dieser Regeln Kriminogenes auszumachen, würde mir schwer fallen. Das ist ein bestimmtes System, was nach der Währung Geld funktioniert. Vielleicht machen wir es uns da ein bisschen arg einfach, aber das wäre mein Versuch zu antworten. Aber ich nehme es eher mit, weil das ist noch ein bisschen diffus, muss ich zugeben, was ich hier anbiete. Herr Lüderssen, zu Ihrer Frage. Die Zentralbank ist natürlich ein anderes Level. Das ist die Makro-Ebene, die dort über Geldpolitik Einfluss auf Zinsen hat und da gibt es natürlich ein Diskussion über die Ursachen der letzten großen Krise, die in den USA ihren Ausgang hatte, mit der Subprime-Krise und ich denke, da trifft die Zentralbank mit dem billigen Geld schon eine Schuld, denn was sie macht, indem sie das Geld so billig macht und die Kreditaufnahme so billig macht, sie verzerrt das Preissystem. Das führt zu einer falschen Kapitalallokation und typischerweise zu Bubbles, Blasen, in bestimmten Märkten, und dort im Häusermarkt. Ich denke, derzeit haben wir etwas Ähnliches wieder und die Frage ist nur abermals, wo greift man ein? Also einerseits der Stabilitätsgedanke und der Wachstumsgedanke. Diese sind in einem ewigen Konflikt miteinander und das wird dann so politisch, dass ich fürchte, weder die Ökonomen noch die Juristen können wirklich einen Beitrag zur Lösung leisten. Wo wird das kriminell? Wo wird eine Zentralbank kriminell? Diese Diskussion kann man auch sehr gut führen. Da bin ich nur der Falsche, das zu fragen, ich bin nur Betriebs-

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wirt. Da mache ich es mir ganz einfach. Das sind meine Gedanken hierzu. Aber vielen Dank, das ist sehr ernst gemeint, zu der Fragestellung des Kriminogenen auf den Kapitalmärkten. Ich glaube, da muss man institutionell sauber abgrenzen; und die Märkte an sich würde ich erstmal als neutral bewerten. Die Marktteilnehmer, welche Chancen sie haben, wie sie es aussitzen können, je organisierter alles ist und das ist vielleicht der Versuch, da eine Empfehlung abzuleiten, je grauer und unorganisierter, umso mehr schreit es förmlich danach, durch die Informationsintransparenz, dass diese Motivation durchschlagen kann. Je organisierter – und da darüber wird sich die Deutsche Börse freuen – je mehr man aus OTC-Ebenen in organisierte Kapitalmärkte rein zieht, umso geschützter sind eigentlich alle Teilnehmer. Cornelius Prittwitz Vielen Dank, Andreas [Hackethal]. Das ist nun noch nicht kriminell, aber jedenfalls nicht vorgesehen, dass Du im Moment nicht intervenieren willst. Da ich im Moment auch keine weiteren Wortmeldungen sehe, vor allen Dingen aber mit Blick auf die Uhr feststelle, dass der Zug fast schon so verspätet ist, dass es zahlungspflichtig wird, möchte ich die heutige Sitzung tatsächlich beenden, verbunden mit einem aufrichtigen Dank an die beiden Referenten, die uns in die verschiedenen Teilwelten, aus denen das Wirtschaftsstrafrecht besteht, nämlich aus Wirtschaft und Strafrecht, geführt haben. Vielen Dank.

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Einleitung

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Einleitung Cornelius Prittwitz Einleitung Nicht nur lebt das Recht unübersehbar in einer ökonomisierten Welt, sondern erfreulicherweise auch die Ökonomie in einer verrechtlichten Welt. Ich bin also sehr gespannt, was die Ökonomen damit anfangen werden, was die Juristen jetzt ausführen. Ich brauche nicht inhaltlich einzuführen, Herr Kubiciel wird das besser können als ich. Das Grundproblem der abstrakten Gefährdungsdelikte ist bekannt: Je stärker ein Strafrecht präventiv auftritt, präventiv legitimiert wird, desto sinnloser erscheint es, dass das Strafrecht wartet, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist und immer erst hinterher kommt. Deswegen ist es vollkommen in der Logik des präventiv legitimierten und präventiv denkenden Strafrechts, wenn es sagt: „Wir schreiten vorher schon ein, wenn die Gefahr noch nicht zum Schaden geworden ist“. Die erste Stufe bestand aus den konkreten Gefährdungsdelikten, wenn man z.B. gefährlich überholt, zum Glück aber nichts passiert ist. Daran kann man anknüpfen. Die nächste Stufe folgte konsequent: Ist das nicht auch schon zu spät? Wie ist es denn praktisch, wenn man sich betrunken ans Steuer setzt? Ist da nicht eine abstrakte Gefahr mit Händen zu greifen, der man mit allen Mitteln, also auch mit strafrechtlichen Mitteln, zu Leibe rücken soll? Das war die Geburt der abstrakten Gefährdungsdelikte und das interessante ist die Mischung dieses Deliktstyps mit seiner spezifischen Funktion sowie Legitimation und dem Wirtschaftsstrafrecht. Da tun sich Möglichkeiten auf, die für manche wahrscheinlich verlockend, für andere erschreckend sind, nämlich, dass in diesem wichtigen Gesellschaftsbereich abstrakten Gefahren mit strafrechtlichen Mitteln, strafrechtlichen Androhungen, mit U-Haft und Strafhaft, mit riesigen Summen, die allerdings auch außerhalb des Strafrechts bezahlt werden, tatsächlich im Vorfeld auf Gefahren reagiert wird. Was dabei raus kommt, wissen wir nur ansatzweise. Herr Kubiciel, ich bitte Sie uns aufzuklären, was auf uns zukommt.

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Freiheit, Institutionen, abstrakte Gefährdungsdelikte: Ein neuer Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts? Michael Kubiciel Freiheit, Institutionen, abstrakte Gefährdungsdelikte

I. Aktueller Anlass und grundsätzliche Fragen Abstrakte Gefährdungsdelikte sind seit langem Bestandteil des Strafrechts, zumal des Wirtschaftsstrafrechts. So macht sich wegen eines Kapitalanlagebetruges (§ 264a StGB) derjenige strafbar, der in einem Verkaufsprospekt falsche Angaben zu Wertpapieren macht. Dass die Wertpapiere tatsächlich gekauft werden und dies zu einem zu hohen Preis, ist nicht erforderlich.1 Das Verbot bezieht sich auf die (gefährliche) Handlung, ab deren Vornahme der Handelnde das Geschehen aus der Hand gibt, so dass es nun nicht mehr an ihm liegt, ob eine Person konkret gefährdet oder geschädigt wird, ob also jemand ein Wertpapier (überteuert) erwirbt. Das alles ist nicht neu und doch ist das von den Organisatoren der Tagung definierte Thema „Abstrakte Gefährdungsdelikte – der zunehmende Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts?“ von aktueller Bedeutung. Denn es enthält sowohl eine aktuelle als auch eine nach wie vor klärungsbedürftige Komponente. Erstens ist zu fragen, ob tatsächlich ein neuer und nachhaltiger Trend zur Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte im Wirtschaftsstrafrecht zu erwarten ist. Zweitens lässt sich das Fragezeichen hinter dem Vortragstitel auf die Legitimität einer solchen Entwicklung beziehen und also fragen, ob die Schaffung weiterer abstrakter Gefährdungsdelikte den – schon vor längerem von der sog. „Frankfurter Schule“2 konstatierten – „unmöglichen Zustand des Strafrechts“3 verstärkt oder ob sich für die Implementierung weiterer abstrakter Gefährdungsdelikte nicht doch gute, strafrechtstheoretisch werthaltige Gründe finden lassen. Beiden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Die Untersuchung gelangt zum einen zu der Prognose, dass mittelfristig von einer Zunahme abs-

_____ 1 Statt vieler Wittig Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2011, § 6 Rn. 8. S. aber auch Rotsch in: Momsen/Grützner, Wirtschaftsstrafrecht, 2013, S. 13, 21. 2 Dazu umfassend Jahn/Ziemann in: Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt a.M. (Hrsg.), 100 Jahre Rechtwissenschaft in Frankfurt, 2014, S. 299 ff. 3 S. den gleichnamigen Titel sowie das Vorwort des vom Institut für Kriminalwissenschaft herausgegebenen Bandes, Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 5 f.

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trakter Gefährdungsdelikte auszugehen ist. Zum anderen wird die – wirtschaftspolitisch gesprochen – ordoliberale These aufgestellt und begründet, dass eine weitere Implementierung abstrakter Gefährdungsdelikte zum Schutz freiheitserhaltender und -ermöglichender Institutionen notwendig und (verfassungsrechtlich sowie strafrechtstheoretisch) zulässig sein kann.

II. Abwendung vom Erfolgsdelikt und Hinwendung zum abstrakten Gefährdungsdelikt 1. Stringente Evolution des Wirtschaftsstrafrechts? Wenden wir uns der ersten Frage zu: Ist zu erwarten, dass das abstrakte Gefährdungsdelikt zum neuen Leitdeliktstyp des Wirtschaftsstrafrechts avanciert? Glaubt man der Evolutionstheorie des Rechts in der Spielart ihres berühmtesten strafrechtlichen Vertreters, Franz von Liszt, lässt sich die Antwort auf diese Frage am geltenden Recht und seiner Genese ablesen. Wegen der „kausalen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens“ könne, so Liszt, vom gewordenen und seienden Recht auf das werdende Recht geschlossen werden.4 Träfe dies zu, dann ließe sich auch aus der zunehmenden Implementierung von abstrakten Gefährdungsdelikten in der Vergangenheit auf eine künftige Entwicklung schließen, die auf das abstrakte Gefährdungsdelikt als neuen Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts hinausliefe. Doch so einfach liegen die Dinge nicht, wie schon Liszt selbst erleben musste.5 Denn die Entwicklung von Recht und Gesellschaft ist stets komplexer als Entwicklungsnarrative glauben machen. Das hat seinen Grund darin, dass das Strafrecht als Teil der „Selbstbewegung der großen Ideen“6 den sozialen, kulturellen und politischen Paradigmen seiner Zeit folgt.

_____ 4 S. nur v. Liszt ZStW 26 (1906), 553, 556; ders. JW 1918, 754; ders. Vom Völkerbund zur Staatengemeinschaft, 1918, S. 5 f. Zum Ganzen Herrmann Das Standardwerk. Franz von Liszt und das Völkerrecht, 2001, S. 185 ff., 190: „Er (der Entwicklungsgedanke, M.K.) stellt gleichsam das Leitmotiv in seinen wissenschaftlichen Bemühungen dar.“ Umfassend dazu demnächst Pawlik in: Koch/Löhnig (Hrsg.), Die v. Liszt-Schule und die Entstehung des modernen Strafrechts, 2015. 5 Zum Ausbleiben rechtspolitischer Erfolge Liszts statt vieler Herrmann NJW 2001, 2854, 2855. Am Beispiel des von Liszt propagierten einheitlichen mitteleuropäischen Strafrechts Kubiciel JZ 2015, 63 ff. 6 Braun Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006, S. 393. Aus strafrechtswissenschaftlicher Sicht Hilgendorf JRE 2003, 83, 88.

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Daher verliert sich, so Max Weber, irgendwann der Weg, den diese Paradigmen weisen, in der Dämmerung: „Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln (…). Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen.“7 Anders als die Planeten eines Sonnensystems, folgen die „Gestirne“ des Systems Strafrecht aber keiner vorgezeichneten Bahn. Vielmehr spiegelt das Strafrecht gesellschaftliche und politische Entwicklungen, die sich eben nicht gradlinig auf ein Ziel zubewegen, sondern tentativ verlaufen, gelegentlich in Extreme verfallen und an ihrem Scheitelpunkt wieder die gegenläufige Entwicklungslinie einschlagen. So wechseln sich in der Wirtschaftspolitik und dem – die Wirtschaftspolitik umsetzenden Wirtschaftsrecht – Phasen der Deregulierung mit Perioden der ReRegulierung ab. Auch das Wirtschaftsstrafecht folgt keiner stringenten kriminalpolitischen Linie, die auf eine immer dichtere Regulierung zuläuft. Beide Rechtsmaterien, das Wirtschaftsrecht und das Wirtschaftsstrafrecht, kennen vielmehr auch Regulierungspausen. Daher ist die Entwicklung des „Dings“ – hier: des Wirtschaftsstrafrecht – „nichts weniger als sein progressus, sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder voneinander unabhängigen, an ihm sich abspielenden ÜberwältigungsProzessen (…)“.8 Die Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts ist, so lässt sich Nietzsche vor unserem Hintergrund verstehen, vor allem Folge eines Ringens um die wirtschafts- und kriminalpolitische Deutungsherrschaft. Schon dieser eminent politische Charakter des Vorgangs spricht gegen die Annahme, die Rechtsentwicklung folge einer inneren Teleologie. Mit Hilfe simplifizierender Evolutionstheorien lässt sich die Frage, ob sich das abstrakte Gefährdungsdelikt als Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts durchsetzen wird, folglich nicht beantworten. Es kommt hinzu, dass das (Straf-)Recht Veränderungen in seiner Systemumwelt, namentlich der Wirtschaftspolitik, nicht einfach übernimmt, sondern diesen gewissermaßen mit Brechungen folgt. Änderungen in der Umwelt nimmt das System „Strafrecht“ zwar zur Kenntnis, indem neue außerstrafrechtliche Bezugsnormen in die Auslegung von Straftatbeständen einbezogen oder zusätz-

_____ 7 Vgl. Weber Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Winckelmann (Hrsg.), Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1982, S. 146, S. 214. 8 Nietzsche Zur Genealogie der Moral, in: Vormbaum (Hrsg.), Strafrechtsdenker der Neuzeit, 1998, S. 500, 507. Zu Nietzsche Bung ZStW 119 (2007), 120 ff.; Müller/Dietz GA 2015, 160 ff.

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liche Straftatbestände geschaffen werden. Doch folgt das Strafrecht bei der Rezeption dieser Änderungen seiner eigenen Verarbeitungslogik.9 Prägend für die spezifische Systemlogik des Strafrechts ist der rechtskulturelle Überlieferungszusammenhang, in dem sich das Verständnis vom Strafrecht und das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft herausgebildet haben.10 Kernbestandteil auch des heutigen Strafrechtsverständnis ist das Tat- und Schuldprinzip. Dieses Prinzip sowie die daran anknüpfende Warnung vor der Vorverlagerung der Strafbarkeit haben im kriminalpolitischen Diskurs eine Eigenschwere, die eine Entwicklung hin zu abstrakten Gefährdungsdelikten abbremsen und die Entwicklungsrichtung verändern kann. Mehr noch: Diese Topoi taugen ohne Weiteres dazu, die Umkehr der rechtspolitischen Entwicklung zu begründen, sollte die Gesellschaft in eine Phase der Deregulierung oder in eine Regulierungspause eintreten und das abstrakte Gefährdungsdelikt seinen Reiz verlieren. Das Tat- und Schuldprinzip wäre dann zwar nicht der Grund für die Abkehr vom abstrakten Gefährdungsdelikt, gäbe aber eine gute Begründung für diesen Schritt ab.

2. Indizien für den Ausbau des Systems abstrakter Gefährdungsdelikte Wie wir sehen, wird die Evolution des (Wirtschafts-)Strafrechts von so vielfältigen, teils gegenläufigen Faktoren beeinflusst, dass keine Rede von einem „nicht umkehrbaren Wandel des Rechts (…) mit bestimmter Richtung“11 – hier: weg vom Erfolgsdelikt und hin zum abstrakten Gefährdungsdelikt – sein kann. Gleichwohl gibt es nicht wenige Indizien, die einen – zumindest mittelfristig anhaltenden – Trend zum Ausbau des Systems abstrakter Gefährdungsdelikte im Wirtschaftsstrafrecht nahelegen.12

_____ 9 Dazu Kölbel ‚Cultural Lag‘ und Normevolution. Systemtheoretische Überlegungen am Beispiel des Wirtschaftsstrafrechts, in: Kodalle/Rosa (Hrsg.), Rasender Stillstand. Beschleunigung des Wirklichkeitswandels, 2008, S. 69, 72, 73 ff.; Vesting Rechtstheorie, 2007, S. 137 ff. 10 S. dazu Fikentscher Wissenschaft und Recht, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 77, 79. Zur Traditionsbindung der Rechtswissenschaft auch Dedek Rechtswissenschaft 1 (2010), S. 58. Zum Begriff des rechtswissenschaftlichen Überlieferungszusammenhangs Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 209. 11 So die Rechtsevolution definierend Henke Über die Evolution des Rechts, 2010, S. 211. 12 Einen Trend zur Normierung abstrakter Gefährdungsdelikte konstatiert auch Rotsch (Fn. 1).

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a) Beweisprobleme bei Erfolgsdelikten Verbreitet wird dieser Trend mit der Hypothese unterlegt, der Gesetzgeber wolle mit Hilfe der Gefährdungsdelikte jene Beweisprobleme umgehen, die Erfolgsdelikte aufwerfen.13 So ließe sich an ein Gefährdungsdelikt denken, das die Untreue funktional ersetzt, indem es Probleme bei der Bestimmung der Schadenshöhe oder der Zurechnung des Schadens zum pflichtwidrigen Verhalten eines konkreten Verursachers umgeht. Tatsächlich wechselt der Untreuetatbestand gegenwärtig sein Image: Stand er lange im Ruf eines zu beinahe jedem Fall der Wirtschaftskriminalität passenden Allzweckinstruments der Strafverfolgung,14 scheinen die vom BGH und BVerfG aufgestellten Hürden einen revisionsfesten Nachweis von Untreuevorsatz und Schaden in vielen Fällen nicht mehr zuzulassen. Dies gilt keineswegs nur für „Großschadenslagen“ wie jene der Finanzkrise;15 vielmehr scheinen auch alltägliche Pathologien des modernen Wirtschaftslebens nur noch mit Mühe in einer verfassungsgerichtsfesten Weise unter § 266 StGB subsumiert werden zu können.16 Versagt das Strafrecht aber nicht nur in einer Ausnahmesituation,17 sondern in der Normallage, weil sich über längere Zeiträume eine Vielzahl von Fällen, die von der Öffentlichkeit als strafwürdig erachtet werden, nicht mehr unter Tatbestände wie § 266 StGB fassen, ist der gesetzgeberische Schritt zu anspruchsärmeren Gefährdungsdelikten vorgezeichnet. Es überrascht daher nicht, dass die Justizministerkonferenz bereits die Idee ventiliert hat, schon die vorsätzliche Verletzung kaufmännischer Pflichten unabhängig vom Eintritt eines (Gefährdungs-)Schadens zu kriminalisieren. Indes steht der Vorschlag auf schwachen Füßen. Wenn das materielle Strafrecht geändert werden soll, um prozessuale Beweisprobleme zu lösen,18 setzt das, schon aus verfassungsrechtlichen Gründen, zweierlei voraus: valide Informa-

_____ 13 S. bereits Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, 2009, S. 241, 255 f.; Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993, S. 249. Zusammenfassend Rotsch (Fn. 1), S. 22. 14 Vgl. Ransiek ZStW 116 (2004), 634: „passt immer“. S. ferner Bernsmann GA 2007, 219; ders. GA 2009, 296; Beulke FS Eisenberg, 2009, S. 245, 266. 15 Dazu etwa Jahn JZ 2011, 340 ff.; Kubiciel ZIS 2013, 53 ff.; Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/ Volk (Hrsg.), Die Finanzkrise, das Wirtschaftssystem und die Moral, 2010, S. 211 ff.; Rönnau in: Schünemann (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise, Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, 2010, S. 43, 62; Schröder Handbuch Kapitalmarkstrafrecht, 3. Aufl. 2015, S. 357 ff., 376 ff. Allgemeiner Prittwitz (Fn. 13), S. 349, der betont, tradierte Zurechnungsstrukturen passten nicht zu globalen Zusammenhängen. 16 Vgl. Fischer StGB, 62. Aufl. 2015, § 266 Rn. 163 f. m.w.N. 17 Zur Finanzkrise als Ausnahmezustand Kubiciel Nomos – Kansai Law Journal (2013), S. 21 ff. 18 Krit. Weigend Festschrift Triffterer 1996, S. 695 ff.

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tionen über die tatsächliche Existenz der behaupteten Probleme 19 und zudem die Prüfung, ob sich den Problemen nicht durch weniger schwerwiegende Maßnahmen – Anpassung der Zurechnungsvoraussetzungen an die Besonderheiten des Wirtschaftsrechts – abhelfen lässt. Der Idee der Justizministerkonferenz, eine untreueanaloge Strafvorschrift mit abgesenkten Tatbestandsvoraussetzungen zu schaffen, sind bislang keine Taten gefolgt. Auch die Reaktionen des Strafgesetzgebers auf die Finanzkrise sind bislang ausgesprochen verhalten.20

b) Der Einfluss des Europäischen Strafrechts Das Ziel, Beweisprobleme zu umgehen, ist jedoch nicht die einzige Triebfeder einer Entwicklung hin zum abstrakten Gefährdungsdelikt als neuem Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts. Eine meines Erachtens wirkmächtigere, wenn auch weniger beachtete Quelle neuer abstrakter Gefährdungsdelikte ist das europäische Recht. Abstrakte Gefährdungsdelikte gelten auf internationaler und europäischer Ebene als angemessene Instrumente zum Schutz marktwirtschaftlicher Institutionen.21 Diese Überzeugung wirkt über internationale Konventionen und europäische Richtlinien auch auf das deutsche Recht ein. Tatsächlich haben schon heute nicht wenige Gefährdungsdelikte im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht ein europarechtliches Fundament.22 Um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen: Die Verschärfung des Tatbestandes der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr dient vor allem der Umsetzung europäischer Vorgaben23 und trägt der im EU Anti-Corruption Report geäußerten Kritik Rechnung.24

_____ 19 Zur Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften für das Wirtschaftsstrafrecht vgl. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht – Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, S. 15. 20 Treffend Schröder WM 2014, 100, 101 f.: Der Gesetzgeber habe – trotz der öffentlichen Stimmung – auf „hektische Reaktionen“ verzichtet. Mit dem Klischee eines dem „Volkszorn“ nacheilenden Gesetzgebers spielend hingegen Brand ZVglRWiss 113 (2014), 142, 143. 21 Tiedemann (Fn. 18), S. 80. 22 Umfassende Übersicht bei Dannecker/Bülte in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 4. Aufl. 2014, S. 79, 115 ff. 23 Rahmenbeschluss des Rates 2003/568/JI vom 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor, ABl. Nr. L 192, S. 54. Krit. dazu Gaede ZWiSt 2014, 280 ff., anderer Ansicht Kubiciel ZIS 2014, 667, 668 f. 24 Annex Germany to the Report from the Commission to the Council and the European Parliament – EU Anti-Corruption Report, COM (2014) 38final, S. 6 f.; zum Inhalt Kubiciel/Spörl Journal of Business Compliance 2014, 5.

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c) Zunahme wirtschaftslenkender Primärnormen Der bedeutendste Impuls zur Schaffung neuer abstrakter Gefährdungsdelikte geht jedoch weder vom deutschen noch vom europäischen Strafgesetzgeber aus, sondern von der Schaffung immer neuer wirtschaftslenkender Primärnormen und der damit verbundenen Komplexitätssteigerung der Ordnungssysteme. Beispielhaft: Wenn die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen – Luft, Wasser, Boden – staatlich verwaltet wird und wenn bei Bewirtschaftungsentscheidungen ökologische, ökonomische und soziale Gesichtspunkte berücksichtigt werden dürfen, ist es auch strafrechtlich mit einfachen Erfolgsdelikten – Gewässerverunreinigung – nicht mehr getan. Vielmehr liegt es nahe, die teils in Verwaltungsakten enthaltenen einzelnen Primärnormen durch akzessorische Straftatbestände, Sekundärnormen, zu flankieren. Der Schutz konkreter Rechtsgüter tritt hinter den Normenschutz in diesen Fällen deutlich zurück.25 Ähnliches gilt für eine Vielzahl von Bereichen des Haupt- und Nebenstrafrechts, in denen der Strafgesetzgeber auf außerstrafrechtliche Primärnormen Bezug nimmt, um deren Geltung durch die Strafandrohung zu sichern. Der nächste Schritt dieser Entwicklung zeichnet sich an § 54a KWG ab. Das Kreditwesen und seine Regulierung haben offenbar bereits einen Grad der Komplexität erreicht, der eine Steuerung von Risiken allein mit Hilfe wirtschaftslenkender Primärnormen, an die eine strafrechtliche Sekundärnorm anknüpft, ausschließt. § 54a KWG flankiert daher – anders als etwa das Umweltstrafrecht – keine konkrete Primärnorm, sondern verlangt die Vorhaltung von Compliance-Standards, welche die Einhaltung der bankrechtlichen Primärnormen in Kreditinstituten gewährleisten sollen.26 Der Straftatbestand enthält, aus der Perspektive des Rechtsguts betrachtet, nur noch eine Tertiärnorm. Dies ist, wiederum vom Standpunkt der Rechtsgüterschutzlehre betrachtet, eine hochgradig bedenkliche Entwicklung. In wirtschaftspolitischer Hinsicht stellt der Tatbestand hingegen den Versuch dar, den Primat der Politik über die Finanzwirtschaft auch auf Tätigkeitsfeldern zu demonstrieren,27 in denen eine Risikosteuerung durch andere strafrechtliche Mittel nicht möglich erscheint.

_____ 25 Näher dazu Kubiciel Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 262 ff. Zur h.M. Saliger Umweltstrafrecht, 2012, S. 18 ff. 26 Vgl. Hamm in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmenskultur und Wirtschaftsstrafrecht, 2015, S. 79, 82, der den „extremen“ Blankettcharakter des § 54a KWG und die Besonderheiten der Regelungsmaterie in Abgrenzung vom umweltverwaltungsakzessorischen Umweltstrafrecht betont (S. 90). 27 Vgl. Mansdörfer in: Kempf/Lüderssen/Volk (Fn. 26), 197, 205 f. – Einen „traurigen Höhepunkt“ gesetzgeberischen „Versagens“ konstatiert hingegen Brand ZVglRWiss 113 (2014), 142, 145; ähnlich scharf Kasiske ZIS 2013, 257, 264. Krit. auch Hamm/Richter WM 2013, 865 ff.; Jahn

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3. Der Einfluss der Strafrechtswissenschaft Diese Entwicklung hat die Strafrechtswissenschaft nicht aufhalten können; ihre lange herrschenden Konzeptionen – insbesondere die Rechtsgüterschutzlehre28 – hatten diesem Trend auch wenig entgegenzusetzen. So kann eine präventionstheoretische Rechtfertigung der Strafe die Bedeutung des tatbestandlichen Erfolges nicht abbilden: Denn verbieten lässt sich nur die Vornahme einer gefährlichen Handlung, nicht der Eintritt eines Erfolges. Folgt man der Logik der Präventionstheorien – jedenfalls der negativen Generalprävention und der Spezialprävention – ist das Erfolgsdelikt der Problemfall, nicht das Gefährdungsdelikt. Lässt sich aber die Kritik der Strafrechtswissenschaft an der Gesetzgebung nicht bruchlos mit den von ihr verwendeten Grundlagenkonzepten (Rechtsgüterschutz, Prävention) vereinbaren, kann es nicht überraschen, wenn der Gesetzgeber seine kriminalpolitischen Entscheidungen unbeeinflusst von der wissenschaftlichen Kritik trifft.29

4. Fazit Auf die Frage, ob das abstrakte Gefährdungsdelikt zum neuen Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts avanciert, lässt sich – bei aller Vorsicht – folgende Antwort formulieren: Da sich den Steuerungsproblemen, welche die Wirtschaft aufwirft, nicht mit einfachen Erfolgsdelikten begegnen lässt und wir uns in einer Phase der Regulierung befinden, ist mit einer Zunahme von wirtschaftslenkenden Primärnormen zu rechnen, die durch Straftatbestände – abstrakten Gefährdungsdelikte – flankiert werden. Insofern ist das abstrakte Gefährdungsdelikt gegenwärtig der Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts.

III. Institutionenschutz und freiheitstheoretische Legitimation des abstrakten Gefährdungsdeliktes Damit sind wir bei der zweiten Frage angelangt: jene nach der Legitimation von abstrakten Gefährdungsdelikten. Diese lässt sich sowohl ökonomisch-krimino-

_____ FAZ v. 31.7.2013, S. 19, Volk FS Schiller 2014, S. 672 ff.; Wastl WM 2013, 1401 ff. Abweichend Kubiciel ZIS 2013, 53 ff.; ders. StV Editorial 10/2013. 28 Näher zu deren Schwächen Kubiciel (Fn. 25), S. 51 ff. 29 Anhand von Beispielen Kubiciel (Fn. 25), S. 2 f.

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logisch als auch juristisch-normativ behandeln und – abhängig vom methodischen Zugang – durchaus unterschiedlich beantworten. Eine empirischkriminologische Erörterung der Problematik muss beispielsweise prüfen, ob bzw. wie sicher sich prognostizieren lässt, dass ein bestimmtes (unternehmerisches) Verhalten fremdes Vermögen, eine einzelne Bank, das Kreditwesen o.ä. gefährdet. Man kann die Legitimitätsproblematik aber auch mit genuin strafrechtswissenschaftlichen Methoden bearbeiten, ohne dass in diesem Kontext die ökonomischen Erkenntnisse notwendig eine ausschlaggebende Bedeutung erlangen müssen. Denn der Nachweis tatsächlich vorhandener ökonomischer Risiken in einem Verhalten oder das Vorliegen eines tatsächlichen Schadens bzw. einer konkreten Gefahr ist nur von ausschlaggebender Bedeutung, wenn man dem Strafrecht allein oder jedenfalls vorrangig den Zweck zuweist, Rechtsgüter vor empirisch feststellbaren Gefährdungen oder Schäden zu schützen. Diese Konzeptualisierung des Strafrechtszwecks ist indes wissenschaftlich hoch umstritten – auch deshalb, weil sie das Strafrecht nur unzureichend abbildet.

1. Rechtsgüterschutz oder Normenschutz? Bereits im Jahr 1903 entdeckte Max Ernst Mayer das wirtschaftssteuernde Nebenstrafrecht: In der „entwickelten Rechtsordnung unserer Tage“ gebe es im Strafrecht „specialisierte Bestimmungen“, die nicht auf Kulturnormen beruhten, sondern nur für einen „besonderen Verkehr“ spezielle Pflichten statuierten.30 Die Zahl wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Primärnormen, die unter Strafandrohung gestellt wurden, nahm während des 1. Weltkrieges deutlich zu.31 Eine Vielzahl von wirtschaftsstrafrechtlichen Gefährdungsdelikten fand Eingang in das fortan sogenannte Nebenstrafrecht.32 Bei all diesen Straftatbeständen steht der Rechtsgüterschutz nicht im Vorder- sondern im Hintergrund; primär sichern diese Straftatbestände die in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen (Primär-)Normen. Diese Erkenntnis ist freilich älter als das Wirtschaftsstrafrecht. Gemeinhin wird sie Karl Binding zugeschrieben,33 doch verdankt sie sich keinem Geringerem als jenem Denker, der als Begründer der modernen und liberalen Strafrechtswissenschaft gilt: Paul Johann Anselm von

_____ 30 Mayer Rechtsnorm und Kulturnorm, 1903, S. 22 ff.; zu Mayer Ziemann Jahrbuch der Jur. Zeitgeschichte 4 (2002/2003), 84 ff. 31 Dazu Tiedemann GA 1969, 71, 73 f. 32 Hirsch FS Tiedemann 2008, S. 145. 33 Grundlegend Binding Die Normen und ihre Übertretungen, Bd. 1, 4. Aufl. 1922.

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Feuerbach.34 Für Feuerbach war der Schutz subjektiver Rechte des Einzelnen und des Staates die Aufgabe des gesamten Strafrechts.35 Der Normschutzgedanke lässt sich folglich an liberale Traditionsbestände des strafrechtlichen Denkens anschließen. Anders als von Feuerbach beabsichtigt schützen die abstrakten Gefährdungsdelikte jedoch nicht nur subjektive Rechte der Person, sondern – wie es heißt – hoch abstrakte, unbestimmte Gemeinschaftsrechtsgüter. 36 Sind dies Anzeichen eines problematischen Sonderstrafrechts,37 das Züge der „historisch so diskreditierten Pflichtverletzungslehre“38 trägt? Zunächst: Wer von einem Sonderstrafrecht spricht, muss das Normalstrafrecht begrifflich umreißen. Der Rechtsgüterschutzgedanke ist dazu, wie kein Geringerer als Hassemer 39 betont hat, nicht mehr geeignet – wenn er diese Eignung denn je hatte. Denn der Rechtsgutsbegriff ist inhaltlich unbestimmt,40 sein Geltungsgrund unge-

_____ 34 Zur Berechtigung dieses Rufs Feuerbachs Kubiciel in: Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, 2014, S. 1, 11 ff.; Frisch in: Koch/Kubiciel/ Löhnig/Pawlik (aaO), S. 191, 206 ff. 35 Näher dazu und zum Umgang Feuerbachs mit seiner Theorie Jakobs in: Koch/Kubiciel/ Löhnig/Pawlik (Fn. 34), S. 191 ff. 36 Weigend FS Frisch 2013, S. 17, 22. Krit. zur „eigentümlichen Unbestimmtheit“ der Rechtsgüter im Wirtschaftsstrafrecht zuletzt H. Schneider in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, 2014, § 1 Rn. 84. 37 Prittwitz (Fn. 15), S. 350. 38 Davor warnend Kempf/Lüderssen/Volk in: dies. (Hrsg.), Gemeinwohl im Wirtschaftsstrafrecht, 2013, VII. 39 Hassemer zitiert bei Youssef/Godenzi, ZStW 125 (2013), 659, 665. – Anders Jahn in: Brodowski/Burchard (Hrsg.), Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, im Erscheinen: „Für einen vollständigen Abschied von der Idee des Rechtsguts (...) besteht jedenfalls derzeit kein hinreichender Anlass. (...) Für die weitere Diskussion sollte ein Offensichtlichkeitsmaßstab herangezogen werden, der mir den nach wie vor berechtigten Kern der strafrechtlichen Rechtsgutslehre zutreffend abzubilden scheint. (...) Nur – aber auch gerade – dann, wenn eine Strafnorm für jeden Sachkundigen ohne längere Prüfung erkennbar keine Grundlage in einem mit der Verfassung kompatiblen Rechtsgut hat, ist es begründbar, dass sie gerade deshalb gegen Verfassungsrecht verstößt.“ Dem Verf., Matthias Jahn, sei für die freundliche Überlassung des Manuskripts herzlich gedankt. 40 S. nur Appel Verfassung und Strafe, 1998, S. 357 ff.; Frisch in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie: Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003, S. 215, 217; Kuhlen in: Wolter/Freund (Hrsg.), Straftat, Strafzumessung im gesamten Strafrechtssystem, 1996, S. 77 (97); Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 1993, S. 279; Stuckenberg GA 2011, 653, 657. – Klassisch die Kritik v. Liszts Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, 1970, S. 224, aus dem Jahr 1873: Der Rechtsgutsbegriff (namentlich Bindings) sei ein „Proteus, der alle Gestalten annimmt; ein Wort, das heute das und

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klärt,41 und selbst Vertreter einer systemkritischen Rechtsgutskonzeption setzen sich über deren Grenzen hinweg, wenn es ihnen kriminalpolitisch opportun erscheint.42 Auch mit Hilfe eines Verweises auf eine bessere Vergangenheit lässt sich nach meinem Dafürhalten ein legitimes „Normalstrafrecht“ nicht (allein) bestimmen. Anders gewendet: Dass vor 40 Jahren noch das Erfolgsdelikt der Prototyp des (Wirtschafts-)Strafrecht im StGB war, ist kein Argument gegen das abstrakte Gefährdungsdelikt als neuen Prototyp. Denn ebenso wenig wie Liszt von einem gegenwärtigen Recht auf das künftig sein-sollende Recht schließen kann, lässt sich das heutige Recht am Maßstab des vergangenen Rechts prüfen. Beide Sichtweisen leben von unausgesprochenen geschichtsmetaphysischen Annahmen, die weit von allgemeiner Anerkennung entfernt sind, um das Wenigste zu sagen. Unabhängig davon wäre zu begründen, an welcher historischen Stunde das heutige Strafrecht Maß nehmen müsste. Die legitimen Grenzen des Strafrechts lassen sich nicht an der Gestalt des Strafgesetzbuchs von 1871 oder 1975 ablesen; maßgeblich muss das Jahr 2014 sein. Anders gewendet: Das Strafrecht lässt sich nicht auf einen – wie auch immer zu bestimmenden – historischen Status quo „einfrieren“, sondern muss sich den Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur anpassen.43 Es muss, nochmals anders gewendet, auf der Höhe seiner Zeit sein,44 in der es seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung eines Zustandes von Freiheit leisten soll.

2. Institutionenschutz als Freiheitsschutz Freiheit, wie wir sie heute verstehen, ist aber nicht lediglich die Abwesenheit von Zwang; Freiheit ist die reale Möglichkeit zur personalen Selbstentfaltung.45

_____ morgen wieder etwas ganz anderes bedeutet, ein Blankett, dem jeder den Inhalt geben kann, der ihm gerade passt.“ 41 Dazu zuletzt Hilgendorf NK 2010, 125, 128 f.; Stuckenberg GA 2011, 653 ff. 42 Zu „Erweiterungen des strafrechtlichen Regelungsbereichs über den Rechtsgüterschutz hinaus“ s. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 29 ff. 43 Hirsch FS Tiedemann 2008, S. 145, 155. 44 Jakobs in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 134, 136. Weiterführend Pawlik GA 2014, 301 ff.; ders. FS Heintschel-Heinegg 2015. – In diesem Sinne ist das Strafrecht stets politisch, vgl. Prittwitz Fachbereich Rechtswissenschaft der GoetheUniversität Frankfurt am Main, 100 Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt, 2014, S. 343, 345, der zutreffend meint, man könne Strafrecht gar nicht unpolitisch betreiben. 45 Näher Kubiciel in: Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik (aaO), S. 393, 408 ff.; Pawlik Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 90 ff.

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Für die personale Selbstentfaltung sind Institutionen von erheblicher Bedeutung. Institutionen lassen sich definieren als rechtlich garantierte Bedingungen freier Entfaltung in einer Gesellschaft.46 Das Eigentum beispielsweise ist eine solche Einrichtung, die intersubjektive Freiheitsräume definiert und die Möglichkeit personaler Entfaltung vorstrukturiert.47 Als Institution ist das Eigentum den Einzelnen vorgegeben. Gerade weil eine Institution nicht Gegenstand permanenter intersubjektiver Aushandlungen ist, kann sie einen bereichsspezifischen Sinn und erprobte Vernünftigkeits- und Gerechtigkeitsstandards sowie daraus abgeleitete Regeln speichern.48 Das Vorhandensein einer auf Dauer gestellten Institution, deren Regeln sich über die Zeit und in der sozialen Praxis bewährt haben, bietet Orientierung und ermöglicht es dem Einzelnen, sich in persönlicher, wirtschaftlicher und unternehmerischer Hinsicht frei zu entfalten. Auch der Wettbewerb und das Kreditwesen sind schutzwürdige Institutionen,49 die durch Normen nach außen verfestigt und nach innen ausgestaltet werden.50 Institutionen als Ideen von einer sozialen Praxis müssen nicht nur tatsächlich in der Gesellschaft verankert sein, sondern müssen – damit sie ihre Funktionen auf Dauer ausüben können – auch rechtlich geschützt werden.51 Normen, die für die Stabilität und die Funktion einer Institution unabdingbar sind, bedürfen daher eines (strafrechtlichen) Schutzes.52 So gesehen, ist es zu pauschal, dem (Wirtschafts-)Strafrecht und seinen abstrakten Gefährdungsdelikten vorzuwerfen, es schütze nicht nur Individualrechtsgüter, sondern diffuse Kollektivrechtsgüter. Abstrakte Gefährdungsdelikte wie § 264a StGB, aber auch § 54a KWG garantieren Regeln, die für den Bestand und die Funktion der jeweiligen Institution von Bedeutung sind. Die Garantie dieser normativen Funktionsbe-

_____ 46 Jakobs Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 26. S. ferner Lampe FS Tiedemann 2008, S. 79, 83; Kindhäuser Zur Legitimität der abstrakten Gefährdungsdelikte im Wirtschaftsstrafrecht, in: Schünemann/Suárez Gonzáles (Hrsg.), Bausteine eines europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 125, 128. 47 Vgl. Zabel in: Seelmann/Zabel (Hrsg.), Autonomie und Normativität. Zu Hegels Rechtsphilosophie, 2014, S. 153, 158 f., im Anschluss an Nussbaum Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, S. 420. 48 Ähnlich Zabel in: Seelmann/Zabel (Fn. 47), S. 165. 49 Anders Kindhäuser (Fn. 46), S. 129: Das Kreditwesen gehöre nicht zu den rechtlich garantierten Bedingungen freier Entfaltung. 50 Zur Notwendigkeit, Institutionen durch Normen „juristisch zu verfestigen“, vgl. Lampe (Fn. 46), S. 97. 51 Vgl. zu der von ihm so genannten „Sachinstitution“ Hauriou Die Theorie der Institution, hrsg. von Roman Schnur1965, S. 35. 52 Kindhäuser FS Krey 2010, S. 249, 265. Weitergehende Voraussetzungen bei Schünemann GA 1995, 201, 213 f.

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dingungen von Institutionen ist auch freiheitstheoretisch notwendig, weil eine Institution, deren Bestand oder Funktionsweise unsicher ist, gerade nicht zur Gewährleistung von Vertrauen und personaler Freiheit geeignet ist.53 In die Sprache des Strafverfassungsrechts gewendet bedeutet das: Der Gesetzgeber bewegt sich im „weiten Raum verfassungsrechtlicher Freiheit“, in dem er Verhaltensnormen mit strafrechtlichen Sanktionsnormen bewehren darf,54 wenn er abstrakte Gefährdungsdelikte einsetzt, um Normen zu sichern, die für den Bestand einer freiheitsermöglichenden Institution wichtig sind. Da diese strafbewehrten Normen nur jene erfassen, die sich innerhalb dieser Institutionen oder „konkreten Erfahrungsräumen“ bewegen (und von ihnen profitieren), kann auch von einer übermäßigen Freiheitsbeschränkung keine Rede sein.55

IV. Ergebnisse 1. Auch wenn simplifizierenden Evolutionstheorien des Rechts und daraus abgeleiteten Prognosen mit Skepsis zu begegnen ist (II. 1.), gibt es Indizien, die für einen Trend zum abstrakten Gefährdungsdelikt als Prototyp des Wirtschaftsstrafrechts sprechen (II. 3.). 2. Abstrakte Gefährdungsdelikte schützen Normen, keine Güter (III. 1.). Dass eine konkrete Tat den Wettbewerb, das Kreditwesen oder dergleichen nicht empirisch nachweisbar schädigen oder gefährden kann,56 ist für die Legitimation der Straftatbestände daher nicht von Bedeutung. 3. Legitim sind solche Straftatbestände insbesondere dann, wenn sie die Geltung solcher Normen garantieren, die für die Stabilität einer freiheitsermöglichenden Institution notwendig sind (III.2.). 4. Dies bedeutet, dass die Deliktstypenlehre kein Seismograph für die Liberalität oder Illiberalität des Strafrechts ist. Konkreter gesprochen: An der Anzahl von abstrakten Gefährdungsdelikten im Strafrecht lässt sich nicht ablesen, ob das Strafrecht freiheitsfreundlich oder freiheitsfeindlich ist. Die Frage der

_____ 53 Vgl. Kindhäuser (Fn. 46), S. 131: Ein Rechtsgut, über das nicht unbesorgt verfügt werden kann, sei nicht in vollem Umfange nutzbar und daher geschädigt. 54 Vgl. Jahn (Fn. 39). Zum weiten verfassungsrechtlichen Rahmen, innerhalb dessen der Gesetzgeber seinen kriminalpolitischen Beurteilungsspielraum nutzen kann, auch Gärditz Der Staat 49 (2010), 331, 341 ff.; Stuckenberg GA 2011, 653 ff. Am Beispiel des Unternehmensstrafrechts Kubiciel ZRP 2014, 133 ff. 55 Ähnlich Mansdörfer Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts, 2011, S. 83 f. 56 Kindhäuser (Fn. 46), S. 129.

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Strafwürdigkeit und jene nach dem Deliktstyp sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. 57 Der Prototyp „abstraktes Gefährdungsdelikt diskreditiert daher auch das Wirtschaftsstrafrecht nicht. Im Gegenteil: Auch und gerade ein liberal-freiheitssicherndes Strafrecht kommt ohne diese Reaktionsform auf Wirtschaftskriminalität nicht aus. Denn wenn das Strafrecht nicht auf Verhaltensweisen reagiert, die verbreitet für strafwürdig erachtet werden, steht nicht nur die Geltung einer einzelnen Norm oder einer Institution auf dem Spiel. Es geht, in letzter Konsequenz, um nicht weniger als die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft.58 Cornelius Prittwitz Vielen Dank, Herr Kubiciel. Ich bin ganz sicher, dass ich nicht der einzige bin, der sofort am liebsten in eine engagierte und unter Umständen auch kontroverse Diskussion eintreten würde, aber Sie haben sich, was ich ganz wunderbar und anregend finde, in die Höhle des Frankfurter Löwen begeben, in der die abstrakten Gefährdungsdelikte überwiegend anders betrachtet werden. Nicht ganz einhellig, wir kommen darauf noch zu sprechen. Zuerst hören wir, was der Ökonom zu alledem zu sagen hat: Herr Wahrenburg, bitte.

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_____ 57 Kindhäuser (Fn. 52), S. 249, 264. 58 Richter in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2011, § 2 Rn. 50.

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Die exzessive Risikoübernahme als abstraktes Gefährdungsdelikt in juristischer und ökonomischer Betrachtungsweise Mark Wahrenburg Die exzessive Risikoübernahme als abstraktes Gefährundsdelikt Bis 2007 konnte jedermann in den USA Häuser kaufen, auch wenn er oder sie über kein nennenswertes Eigenkapital und kein nennenswertes Einkommen verfügte. Solange die Immobilienpreise weitersteigen würden, würden die Kredite bedient werden können. Der Fall eines Rückgangs der Immobilienpreise war offenbar nicht vorgesehen – oder die finanzierenden Banken antizipierten korrekterweise, dass dann der Staat mit einer ganzen Batterie von Hilfsmaßnahmen zur Seite springen und so die Verluste tragen würde. Birger Priddat bezeichnet dies als eine Art Lotterie, die eine verschworene Gruppe von Bankern gegen den Staat gespielt hätte. Es stellt sich die naheliegende Frage, ob solch gefährliches Tun mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden werden sollte. Der Gesetzgeber hat auf die Finanzkrise mit einer Verschärfung des Strafrechts reagiert. Interessant erscheint mir vor allem die Begründung für die Einführung des §54a KWG, der Verfehlungen im Risikomanagement von Banken unter Strafe stellt. Die Gesetzesbegründung führt aus: „Es bestehen unzureichende Möglichkeiten, Geschäftsleiter von Kreditinstituten, […] strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, wenn das Institut […] durch Missmanagement in eine Schieflage geraten ist. Die bestehenden Tatbestände des Kern- und Nebenstrafrechts setzen in ihrem Schutzzweck und dem strafbewehrten Verhalten andere Schwerpunkte. Pflichtverletzungen im Risikomanagement, mit denen nicht nur die Stabilität des einzelnen Instituts, sondern des Finanzsystems als Ganzem auf dem Spiel steht, werden nicht bewehrt […].“

Offenbar geht der Gesetzgeber davon aus, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Handlungen, die die Stabilität eines Instituts gefährden und solchen, die die Stabilität des Finanzsystems als Ganzes gefährden. Systemgefährdende Risiken haben zweifellos den Steuerzahler stark belastet. Eine solche Unterscheidung ist aber aus ökonomischer Sicht nicht angebracht. Das Finanzsystem ist die Summe seiner Einzelteile. Systemische Risiken ergeben sich letztlich aus der Summe der einzelnen Risikoentscheidungen der Wirtschaftssubjekte. Aus Sicht eines Ökonomen stellen sich im Zusammenhang mit der Strafbarkeit abstrakter Gefährdungsdelikte im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts zwei zentrale Fragen:

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Ist es möglich, eine klare Trennlinie zwischen strafbarem Handeln und normaler Geschäftstätigkeit zu ziehen? Dies setzt voraus, dass es unter Experten einen Konsens darüber gibt, welche Entscheidungen oder Handlungen nicht toleriert und daher sanktioniert werden sollten. Wie müssen Gesetze und die Institutionen zur praktischen Durchsetzung des Rechts geschaffen sein, um strafbares Handeln effektiv zu unterbinden, ohne die Freiheit des unternehmerischen Handelns unbotmäßig einzuschränken?

Ich habe als neutraler Gerichtsgutachter und als Parteigutachter bei verschiedenen Strafprozessen gegen Führungskräfte von Banken mitgewirkt. Die dort gemachten Erfahrungen haben einige Stärken und Schwächen des deutschen Strafrechtssystems, aber vor allem auch Stärken und Schwächen der deutschen Bankenaufsicht deutlich gemacht. Mein großer Respekt gilt in diesem Zusammenhang den Rechtsanwälten, Staatsanwälten, Richtern und den Ermittlern von Polizei, LKA und BKA, die sich durch ganze Lastwagenladungen komplexer, häufig englischsprachiger Schriftstücke gearbeitet haben. Ich habe dabei den Eindruck gewonnen, dass die beteiligten Juristen trotz der großen Komplexitäten des modernen Bankgeschäfts am Ende ein recht umfassendes und zutreffendes Verständnis der Sachlage hatten. Trotzdem gab es bisher nur in wenigen Einzelfällen Verurteilungen. Dies wirft die Frage auf, ob die Waffen des Strafrechts zu „stumpf“ sind. Gerade im Bereich der Untreue scheitert eine Verurteilung häufig an strafrechtlich relevanten Anforderungen im Bereich des Nachweises eines Vorsatzes, der Zurechenbarkeit des Schadens auf einen oder mehrere Verursacher sowie der Schwierigkeit, einen Schaden zu identifizieren und zu beziffern. Im Zuge der Finanzkrise sind eine ganze Reihe verschiedener Delikte vor deutschen Strafgerichten verhandelt worden. Ich möchte mich hier im Wesentlichen auf ein abstraktes Gefährdungsdelikt konzentrieren, das im Zuge der Finanzkrise eine hervorstechende Bedeutung spielt: das Eingehen exzessiver Risiken mit möglicherweise bestandsgefährdendem Ausmaß. In verschiedenen solcher Fälle wurde auf Untreue ermittelt und teilweise auch angeklagt. Wo sich der Vorwurf der Untreue nicht erhärten lies, klagte die Staatsanwaltschaft teils als Ersatztatbestand Verfehlungen in der Offenlegung an – z.B. wegen fehlender Hinweise in der Risikoberichterstattung von Banken. Mir ist kein Fall bekannt, in dem es letztlich zu einer Verurteilung kam und ich halte dies auch für die noch laufenden Verfahren für unwahrscheinlich. In Zukunft könnten solche Taten möglicherweise über den abstrakten Gefährdungstatbestand des § 54a KWG effektiver verfolgt werden. Es gibt zahlreiche Beispiele für strafrechtlich relevante Sachverhalte, in denen die Risikoübernahme eine zentrale Rolle spielt:

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Der Kauf riskanter Wertpapiere wie Asset Backed Securities zu einem überhöhten Preis, ohne fachliches Know How, im blinden Vertrauen auf Rating Agenturen, ohne adäquates Risikomanagement etc. Unterlassung des Verkaufs solcher Wertpapiere, nachdem diese im Wert gefallen waren und eine Bestandsgefährdung des Instituts bei weiteren Wertverlusten drohte. Abschluss komplexer Geschäfte zur „Vermeidung von Bilanzrisiken aus Asset Backed Securities“ zum Schaden der Bank. Übernahme von bestandsgefährdenden Liquiditätsrisiken durch Liquiditätslinien an Structured Investment Vehicles (S.I.V.). Investition in griechische Staatsanleihen, die zu einer Bestandsgefährdung führt. Kauf anderer Banken zu einem überhöhten Preis, ohne adäquate Due Diligence, unter Inkaufnahme bestandsgefährdender Risiken. Nichtanzeigen einer Bestandsgefährdung, obwohl die nach den aufsichtsrechtlichen Vorgaben berechnete Risikotragfähigkeit dies bei Umsetzung der vom BaFin geforderten Berechnungsmethodik nicht gegeben war. Verschleierung von Kreditrisikokonzentrationen in Form einer Umgehung der Großkreditbeschränkungen durch Vergabe mehrerer kleiner Kredite an Briefkastenfirmen, hinter denen tatsächlich der gleiche Großkreditnehmer steht. Vergabe umfangreicher Mitgarantien im Zusammenhang mit Wohnungsverkäufen, die die garantiegewährende Tochtergesellschaft in ihrem Bestand gefährdet.

Da die Übernahme von Risiken zum Kerngeschäft von Banken gehört, ist die Abgrenzung von normalen unternehmerischen Entscheidungen gemäß Business Judgement Rule und exzessiver Risikoübernahme naturgemäß schwer. Darüber hinaus scheitert eine aus ökonomischer Sicht sinnvolle Beurteilung im Strafprozess aber auch an der unterschiedlichen Herangehensweise von Ökonomen und Juristen. Diese Problematik möchte ich am Beispiel der BGHRechtsprechung am Beispiel des Berliner Bank Falls erläutern. Die Berliner Bank hat im Zusammenhang mit der Auflage von geschlossenen Immobilienfonds Wohnungen verkauft und im Rahmen dieses Verkaufs dem Käufer langfristige Mietgarantien gewährt. Die von einer Tochter-GmbH ausgegebenen Mietgarantien stellten ein bestandsbedrohendes Risiko für die Tochter dar und bewirkten am Ende tatsächlich die Insolvenz der Tochter-GmbH. Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten vor, dass das Eingehen von so großen Garantierisiken pflichtwidrig gewesen sei. Die Bank sei ohne entsprechende kalkulatorische Absicherung unüberschaubare Risiken eingegangen.

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Der BGH hat im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Untreue durch Übernahme von Risiken klare Anforderungen in Bezug auf den Nachweis des erforderlichen Eventualvorsatzes formuliert.1 Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist eine Strafbarkeit dann gegeben, wenn sich der Vorsatz der Angeklagten auch auf das Eingehen eines „existenzgefährdenden“ Risikos (hier in Gestalt der Mietgarantien) für die Tochter-GmbH erstreckte. Nach den Anforderungen des BGH an den Eventualvorsatz reicht es nicht aus, dass der Betreffende allein die Gefährdungslage billigt. Vielmehr kann nur dann von einer Untreue nach § 266 StGB ausgegangen werden, wenn der Täter nicht nur die konkrete Gefahr in Kauf nimmt, sondern darüber hinaus auch die Realisierung dieser Gefahr billigt. Der BGH schreibt in seiner Urteilsbegründung: „Für je wahrscheinlicher der Täter den Erfolgseintritt hält, umso mehr spricht dafür, dass er sich letztlich mit einem Schadenseintritt abfindet.“ Vorliegend hätte im Fall der Berliner Bank eine Prüfung durch das interne Risikomanagement und externe Berater aber keine Hinweise auf eine existenzgefährdende Bedrohung der Tochter-GmbH gegeben. Damit sei das Risiko auf Basis des damaligen Prognosematerials nicht absehbar gewesen. Den Angeklagten habe das Bewusstsein gefehlt, dem Vermögen der Tochter-GmbH Nachteile zuzufügen. Auf der Wissensebene kommt es nach dem BGH maßgeblich darauf an, ob der Täter das Risiko der zugrundeliegenden Handlung richtig bewertet. Erkennt er das Risiko nicht oder bewertet es falsch, handelt er nicht vorsätzlich. Der Fall endete mit einem Freispruch, weil kein Untreuevorsatz nachgewiesen werden konnte. Mir erscheinen diese Grundsätze des BGH zumindest für den Bereich des Bankrisikomanagements weltfremd. Die geplante bzw. billigend in Kauf genommene Insolvenz von Zweckgesellschaften, Projektgesellschaften etc. ist integraler Bestandteil vieler Geschäftspraktiken. Meiner Ansicht nach muss den Führungskräften der Berliner Bank klar gewesen sein, dass die Mietgarantien im Fall eines allgemeinen Mietrückgangs zur Insolvenz der Tochtergesellschaft führen würden. Vermutlich wurde sogar bewusst eine Tochtergesellschaft und nicht etwa das Mutterinstitut als Garantiegeber ausgewählt, weil man für einen solchen Fall die Bank selbst schützen wollte. Wenn in den damaligen Risikoberichten entsprechende Hinweise fehlten, ist dies kein Indiz für die Arglosigkeit der Geschäftsführer. Weil sich die Compliance Kultur inzwischen stark verändert hat, würde heute in keinem solcher Berichte ein Hinweis auf bestandsgefährdende Risiken fehlen. Ich kann nur hoffen, dass sich die Rechtsprechung

_____ 1 BGH, Urt. v. 28.5.2013, Az. 5 StR 551/11.

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des BGH dann nicht als „Geschäftsverhinderer“ für an sich sinnvolle und nicht verwerfliche Geschäfte darstellt. Die bewusste Inkaufnahme bestandsgefährdender Risiken mag teilweise missbilligenswert sein, wenn z.B. arglosen Käufern Mietgarantien oder Gewährleistungen in Aussicht gestellt werden, die später mit großer Wahrscheinlichkeit mangels Solvenz des Garantiegebers gar nicht durchsetzbar sind. Die Problematik liegt aber hier in der Täuschung argloser Kunden und nicht in der Risikoübernahme per se. Ganz ähnliche Praktiken werden aber auch im Geschäftsverkehr unter informierten Experten verwendet, um z.B. die Beteiligten eines Projekts von Projektrisiken abzuschirmen. So werden z.B. viele Immobilienprojektentwicklungen über Projektgesellschaften abgewickelt, die in einer ex ante Sichtweise mit recht hoher Wahrscheinlichkeit später in der Insolvenz enden. Es ist weltfremd, davon auszugehen, dass Bankvorstände das Schlagendwerden solcher Risiken ex ante für so gut wie ausgeschlossen halten und daher das Risiko falsch bewerten. Ebenso abwegig erscheint es aber auch, einen Untreuetatbestand schon dann anzunehmen, wenn wissentlich ein existenzbedrohendes Risiko für eine Tochtergesellschaft eingegangen wird. Denn das Eingehen solcher existenzbedrohender Risiken gehört zumindest in einigen Bereichen der Bankwirtschaft zu den üblichen Geschäftspraktiken und fällt damit klar unter den Geltungsbereich der Business Judgement Rule. Auch die in der BGH-Rechtsprechung zum Ausdruck kommende Überzeugung, nach der kleine Risiken tolerierbar sind, dagegen aber bestandsgefährdende Risiken verwerflich erscheinen, erscheint für die heutige Bankenpraxis unbrauchbar. Das Risiko der Bestandsgefährdung ist ein dem Bankgeschäft immanent innewohnendes und unvermeidbares Risiko. Es kann auch mit strafrechtlichen Sanktionen nicht verhindert werden. Es kann lediglich mit Methoden des Risikomanagements auf ein erträgliches Maß limitiert werden. So müssen Banken z.B. heute auf Anweisung der Bankenaufsicht im Rahmen des „Reverse Stresstesting“ routinemäßig eine Vielzahl von Szenarien durchrechnen, die zu einer Bestandsgefährdung des Instituts führen. Darüber hinaus müssen Banken im Rahmen der Risikotragfähigkeitsmodelle nach Säule II der Basler Vorschriften regelmäßig durchrechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit einer existenzbedrohenden Krise ist. Die Bestandsgefährdung kann dabei das Ergebnis von schlagend werdenden Einzelrisiken sein, in der Regel sind es viele verbundene Einzelrisiken wie z.B. Verfall der Aktienkurse oder ein Rückgang der Immobilienpreise. Aus Sicht des Risikomanagements erscheint es weltfremd, das Eingehen dieser bestandsgefährdenden Risiken grundsätzlich auszuschließen, indem es strafrechtlich sanktioniert wird. Vielmehr sollten eine effektive Governance und eine effektive Aufsicht dafür sorgen, dass die Wahr-

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scheinlichkeit des Eintritts existenzbedrohender Szenarien in einer tolerierbaren Bandbreite bleibt. Nach welchen Kriterien kann dann aber eine sinnvolle Abgrenzung zwischen normaler Geschäftstätigkeit und strafrechtlich sanktionierter exzessiver Spekulation abgegrenzt werden? Aus Sicht der ökonomischen Theorie kommen zwei Fallkonstellationen in Betracht: 1. Fehlanreize durch Bonusverträge, z.B. im Bereich des Wertpapierhandels: Weil ein Händler für Gewinn belohnt, für Verluste aber nicht bestraft wird, befindet er sich in einer anderen Entscheidungssituation als ein fiktiver „ehrbarer Kaufmann“, der auch die Verlustrisiken bei seiner Entscheidung berücksichtigt. Als Folge wird er ein höheres Risiko wählen. Wenn solche Fehlanreize volkswirtschaftlich erhebliche Ausmaße annehmen, sollte das Übel an der Wurzel bekämpft werden. Dies wäre eine gesetzliche Regulierung der Bonusverträge. Sofern das Verhalten mit strafrechtlichen Sanktionen vermieden werden soll, muss das Strafrecht die Risikoentscheidungen eines „ehrbaren Kaufmanns“ abgrenzen von Risikoentscheidungen, die aufgrund falsch gesetzter Anreize zustande kommen. In der Praxis dürften viele Fälle in einem unvermeidbaren Graubereich anzusiedeln sein, denn man kann selten ausschließen, dass ein „ehrbarer Kaufmann“ im spezifischen Fall definitiv eine andere Entscheidung bevorzugt hätte. 2. „Gamble for Resurrection“: Mit diesem Begriff wird die Tatsache bezeichnet, dass die Geschäftsleitung einer Bank, die sich in einer Krisensituation befindet, einen ceteris paribus größeren Anreiz zur Übernahme von Risiken hat. In der ökonomischen Theorie ist dieser Fall sehr ähnlich zum obigen Fall von fehlgeleiteten Anreizen aufgrund von Bonusverträgen. Hier ist der Fehlanreiz aber immanent und kann höchstens durch stark verschärfte Eigenkapitalvorschriften eliminiert werden, die das Eintreten der Krisensituation von vorneherein unwahrscheinlich machen. Kann das Strafrecht nun einen wirksamen Beitrag gegen Gambling for Resurrection leisten? Das wäre großartig, ist aber vermutlich illusionär. Die Vermeidung von Gambling for Resurrection ist zweifellos zunächst eine der Kernaufgaben der Bankenregulierung. Der deutschen Bankenaufsicht waren im Vorfeld der Krise diejenigen Institute bekannt, die aufgrund ihrer schwachen Ertragslage verstärkte Anreize zur Übernahme exzessiver Risiken hatten. Die Aufsicht hat auch frühzeitig die Risikopolitik dieser Institute genau unter die Lupe genommen. Dafür steht der Aufsicht mit der Sonderprüfung nach § 44 KWG ein hervorragendes Instrument zur Verfügung. § 44 KWG ermächtigt die Aufsicht, auch ohne besonderen Anlass Prüfungen vorzunehmen und kann für die Prüfung externe Experten beauftragen, deren Kosten wiederum von der geprüften Bank über-

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nommen werden. Ich hatte im Rahmen meiner gutachterlichen Tätigkeiten Zugang zu einigen § 44 KWH-Berichten und diese Berichte haben mein Bild von der Bankenaufsicht nachhaltig verändert. Das Bild, dass sich dem Beobachter bietet, sieht vereinfacht in etwa so aus: Ein Beratungs- bzw. Wirtschaftsprüfungsunternehmen identifiziert im Rahmen einer § 44 KWG-Prüfung erhebliche Verstöße gegen geltende Aufsichtsregeln, i.d.R. Verstöße gegen die MaRisk. Die Aufsicht fordert daraufhin in einem Brief deren unverzügliche Abstellung – und danach passiert wenig. Wenn im Folgejahr oder später in einer neuen 44iger Prüfung festgestellt wird, dass der gleiche Mangel immer noch besteht, beginnt die gleiche Prozedur von vorne. Wenn dann ein betroffener Bankvorstand befragt wird, warum er denn die klar formulierte Anweisung der BaFin nicht umgesetzt habe, könnte die Antwort lauten: „Wir waren anderer Auffassung als die Aufsicht […]. Wenn die Aufsicht tatsächlich eine sofortige Abstellung des Mangels gewünscht hätte, dann hätte sie dies im Wege eines Verwaltungsaktes durchsetzen können. Genau dies ist aber nicht geschehen. Die Inaktivität der Aufsicht hat uns letztlich in der Auffassung bestätigt, dass die Geschäftspraktiken in unserer Bank in den Bereich der von der Bankenaufsicht tolerierten Praktiken fällt.“ Etwas überspitzt könnte man schlussfolgern: entweder sind die Experten in der Bankenaufsicht tatsächlich davon ausgegangen, dass die festgestellten Verfehlungen nur geringfügig und somit tolerierbar waren. In diesem Fall kann ein Strafrichter nur schwerlich das Gegenteil für erwiesen halten und einen Untreuetatbestand feststellen. Oder aber die Bankenaufseher haben auf den Erlass eines Verwaltungsaktes verzichtet, weil die Anreizsituation innerhalb der Bankenaufsicht schlecht gestaltet ist. Es erscheint naheliegend, dass ein Mitarbeiter der Bankenaufsicht sich durch den Erlass eines Verwaltungsaktes viel potentiellen Ärger, aber wenig Freude einhandeln kann. Wenn aber Verwaltungserlasse nicht erlassen werden, die tatsächlich dringend geboten erscheinen, dann sollte das Strafrecht sinnvollerweise eher in Form einer Ahndung von Pflichtverletzungen innerhalb der Aufsichtsbehörde eine Abstellung dieses Missstandes erreichen. Diesem Vorgehen sind durch Artikel 34 GG enge Grenzen gesetzt. „Gambling for Resurrection“ ist zwar aus ökonomischer Sicht verwerflich, weil es hier aufgrund externer Effekte zu Wohlstandseinbußen kommt. Gleichzeitig tun sich Gerichte schon deshalb schwer damit, dieses Verhalten zu bestrafen, weil es oft viele Banken gleichzeitig betrifft. Wenn aber alle Banken gleichzeitig zum „Täter“ werden, fällt es schwer, einen aus der Masse herausragenden „Exzess-Täter“ als besonders strafwürdigen Täter zu identifizieren. Das klassische Beispiel hierfür ist die Savings & Loan Krise der amerikanischen Sparkassen in den 80iger Jahren. Aufgrund des starken Zinsanstiegs mussten alle Sparkassen viel höhere Zinsen auf die Spareinlagen zahlen. Dagegen stiegen die

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Zinseinahmen wegen der Langfristigkeit der Kreditverträge nur unwesentlich. Als Reaktion auf die akute Ertragskrise investierten fast alle Sparkassen frei werdende Mittel in hoch riskante Projekte wie z.B. Junk Bonds. Nach heute vorherrschender Überzeugung ist ein Großteil des Schadens für den Steuerzahler (mehr als 150 Mrd. $) auf die fehlgeleitete und falsche Anlagepolitik aufgrund des „Gambling for Resurrection“ zurückzuführen. Die Sparkassenvorstände hatten aber damals kein nennenswertes Unrechtsbewusstsein. Ihr einfaches Argument war: Wenn wir nicht den Strohhalm (Junk Bonds) ergriffen hätten, wären wir schon viel früher zahlungsunfähig geworden. Das „Gambling for Resurrection“ stellt sich auch aus Sicht des Ökonomen als rationale Antwort des Managements auf die spezielle Situation in einer Bankenkrise dar. Aber individuell rationales Verhalten führt hier – entgegen der Lehre von Adam Smith – zu einem volkswirtschaftlich unerwünschten Ergebnis. Ein ähnliches Beispiel ist aktuell in der Deutschen Lebensversicherungswirtschaft zu beobachten: Aufgrund der vertraglich garantierten Mindestverzinsung sehen sich aktuell fast alle Lebensversicherungen gezwungen, das Risiko ihres Anlagevermögens deutlich zu erhöhen. Auch hier existiert eine analoge Diskrepanz zwischen der Zielfunktion des Managements („muss mindestens die vertraglich zugesicherte Mindestrendite erwirtschaften“) und den Versicherten („möchten eine sichere Anlage ihrer Ersparnisse für Vorsorgezwecke“). Auch hier gilt: Wenn es schieflaufen sollte, wird es viele Geschädigte und vermutlich auch viele Klagen geben. Das Strafrecht wird sich aber wieder schwer tun, einen gesetzwidrigen Untreuesachverhalt festzustellen. Im Ergebnis gilt, dass Bankvorstände selten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn das Fehlverhalten in einzelnen Risikoentscheidungen oder in der durch Risikoentscheidungen realisierten Risikopolitik ihres Instituts gesehen wird. Die in der Finanzkrise offenbar gewordene Schwierigkeit, im Einzelfall einer Risikoentscheidung einen strafrechtlich relevanten Untreuetatbestand nachzuweisen, hat den Gesetzgeber auf den Plan gerufen. Die im neuen § 54a KWG kodifizierte Reaktion des Gesetzgebers heißt kurz gesprochen: Wenn geschäftspolitische Risikoentscheidungen mit den Mitteln des aktuellen Strafrechts nicht oder unzureichend verfolgt werden können, muss die Androhung der Strafbarkeit auf die Ebene der Organisation des Risikomanagements erweitert werden. Nach § 54a KWG machen sich Geschäftsleiter von Kreditinstituten bereits dann strafbar, wenn das Risikomanagement einer Bank nicht auf dem jeweils neuesten und der Risikosituation der Bank angemessenen Stand ist. Die Details sind in einer langen Liste von gesetzlichen Vorgaben verpackt, die weitgehend identisch mit der MaRisk ist. Aus meiner Sicht haben alle aufgelisteten Vorgaben eines gemeinsam: sie sind vage und unbestimmt und damit wenig justiziabel.

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In der ursprünglich vorgeschlagenen Form hätte § 54a KWG große Rechtsunsicherheiten bewirkt, denn kaum eine Bank wird in der Lage sein, die Einhaltung sämtlicher vom Gesetz geforderten Mindeststandards zweifelsfrei nachzuweisen. Die Banken haben zurecht und erfolgreich vor den Risiken gewarnt, die sich aus der Anwendung dieser unpräzisen Forderungen in der Rechtspraxis ergeben könnten und haben den Gesetzgeber dazu gebracht, die Gesetzesvorlage abzuändern und einen neuen Absatz 3 in § 54a KWG aufzunehmen. Danach ist ein Verstoß gegen die zahlreichen im Gesetz genannten Mindeststandards nur dann strafbar, wenn zuvor die Bankenaufsicht einen Verwaltungsakt erlassen hat und die Bank dieser vollziehbaren Anordnung zuwiderhandelt. Die Wirksamkeit dieser neuen Strafandrohung steht und fällt damit mit der Bereitschaft der Bankenaufsicht, im Fall eines festgestellten Verstoßes gegen die MaRisk eine vollziehbare Anordnung zu erlassen. Ich habe oben argumentiert, dass die Neigung der deutschen Bankenaufsicht zum Erlass von Verwaltungsakten als Reaktion von festgestellten Defiziten in bisherigen §44er-Prüfungen gering ist. Der Grund liegt in meinen Augen darin begründet, dass es bei Verstößen gegen die MaRisk fast immer große Ermessensspielräume gibt und die Aufsicht diese Spielräume bisher im Zweifelsfall zugunsten der beaufsichtigten Bank ausübt. Vor diesem Hintergrund ist von § 54a KWG keine gravierende Änderung der Haftungsrisiken von Bankvorständen zu erwarten. Im Zuge der Neustrukturierung der europäischen Bankenaufsicht wird sich das Verhalten der Aufsicht eventuell zukünftig ändern. Doch selbst im Fall eines rigideren Vorgehens der Aufsicht wird § 54a KWG meines Erachtens nicht oder nur in seltenen Extremfällen zu einer Verurteilung von Bankmanagern führen. Die Erfahrung mit Mängelfeststellungen im Rahmen von § 44er-Prüfungen zeigt ein typisches Bild: Die Reaktion der betroffenen Bank besteht weder im vollständigen Nichtstun noch in der vollständigen Abstellung des Mangels im Sinne der Aufsicht. Stattdessen wird ein kostengünstiger Weg gesucht, um einerseits einzelnen Wünschen der Aufsicht Rechnung zu tragen, andererseits das in der Kritik stehende präferierte Geschäftsmodell nicht in seiner Substanz zu verändern. Vor dem Strafgericht wird dann in erster Linie zu verhandeln sein, ob einer vollziehbaren Anordnung der Aufsicht tatsächlich zuwider gehandelt wurde. Strafrichter werden sich damit schwertun, denn die Aufsicht neigt nicht dazu, den Banken klare und präzise Anordnungen zur Ausgestaltung ihres Risikomanagements zu geben. Nach der vorherrschenden Auffassung setzt die Aufsicht die Rahmenbedingungen, während die Bank alle weiteren Entscheidungen in eigener unternehmerischer Verantwortung trifft. Eine typische Anordnung der Aufsicht wird deshalb die wenig präzise Forderung nach Abstellung eines Missstandes sein, nicht aber die präzise Vorgabe der dafür vorzunehmenden Tätigkeiten.

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Fazit Die Bankenkrise hat gezeigt, dass es Fälle von nicht tolerierbarem Verhalten von Führungskräften in Banken gab, in denen die Bankenaufsicht zu nachgiebig agiert hat. Eine Abschreckung durch strafrechtliche Sanktionen erscheint in diesen Fällen im Sinne einer Ultima Ratio grundsätzlich sinnvoll. Dabei ist es für die abschreckende Wirkung des Strafrechts relativ unerheblich, ob es am Ende zu tatsächlichen Verurteilungen kommt. Die aktuell vor verschiedenen Gerichten verhandelten Fälle haben ganz offensichtlich auch ohne Verurteilungen eine erhebliche Auswirkung auf das Verhalten von Führungskräften in der Bankindustrie. Denn bereits die drohende Möglichkeit von strafrechtlichen Ermittlungen oder der Eröffnung eines Strafverfahrens ist mit erheblichen negativen Konsequenzen für die betroffenen Führungskräfte verbunden. Die Effektivität des Strafrechts als verhaltenssteuerndes Instrument muss sich daran messen, welche Verhaltensänderung in der Praxis tatsächlich induziert werden. Ich bezweifle, dass dies in der gegenwärtigen Rechtspraxis die gewünschten sind. Anlässlich des Freispruchs der Angeklagten im Prozess gegen Führungskräfte der HSH Landesbank erklärte Gerichtsgutachter Helmich: „Das Gericht hat mit dem Urteil das unternehmerische Handeln geschützt. […] Ein Urteil hätte die Bereitschaft vieler Vorstände gesenkt, unternehmerische Risiken zu tragen.“2 Helmich befürchtet offenbar als unerwünschte Nebenwirkung strafrechtlicher Sanktionsdrohungen, dass Banken zu risikoavers werden. Wenn dies der Haupteffekt ist, würde ich der Einschätzung von Helmich gerne widersprechen: Als Bürger und Steuerzahler bin ich tendenziell froh, wenn die Banken weniger Risiken eingehen als sie das vor der Finanzkrise getan haben. Nach meiner Ansicht sind unerwünschte Nebenwirkungen aber eher in anderen Bereichen zu suchen. Riskante Geschäfte wie Kredite, Wertpapierkäufe oder Unternehmenskäufe werden vor Gericht selten zu einer Verurteilung führen. Die Drohung von möglichen Strafprozessen führt aber bereits heute zu der deutlich sichtbaren Auswirkung, dass Banken wesentlich bürokratischer und langsamer werden und der Einfluss der internen und externen Compliance auf Entscheidungen von Banken enorm zugenommen hat. Bewirkt dies eine Verbesserung von Entscheidungen der Führungskräfte? Wohl kaum, denn die im Bereich Compliance tätigen Experten wissen nicht, welche Entscheidungen die „richtigen“ sind. Wenn Risikoentscheidungen stark durch Compliance-Abteilungen

_____ 2 http://de.reuters.com/article/topNews/idDEKBN0FE19D20140709.

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beeinflusst werden, können sie sich zwangsläufig weniger stark an ökonomischen bzw. unternehmerischen Kriterien orientieren. Dies ist m.E. mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Als Schlussfolgerung kann konstatiert werden: Die Ökonomen müssen definieren, unter welchen Umständen welche Risikoentscheidungen nicht tolerierbar sind. In Gesprächen mit Bankführungskräften habe ich den Eindruck gewonnen, dass es durchaus einen gewissen Konsens darüber gibt, welche Verhaltensweisen mit den berühmt gewordenen Worten von Angela Merkel betitelt werden könnten: „Das geht gar nicht“. Die Ökonomie hat es aber bisher versäumt bzw. nicht geschafft, geeignete Kriterien für eine justiziable Abgrenzung von tolerierbaren und nicht tolerierbaren Risiken zu definieren. Eine solche Abgrenzung muss als Ziel haben, dass sich Risikoentscheidungen wie oben dargestellt an sinnvollen „unternehmerischen“ Zielen ausrichten. Führungskräfte von Banken würden in einem ökonomisch sinnvoll definierten Strafrecht möglicherweise eher einen Schutz als eine Bedrohung sehen. Denn in der Vergangenheit war exzessive Risikoübernahme häufig auch eine Folge von unrealistisch hohen Renditeanforderungen der Eigentümer. Ein geeignet ausgestaltetes Strafrecht könnte einen Beitrag leisten, um exzessiven Renditeansprüchen der Eigentümer eine effektive Grenze zu setzen.

Reste –

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Bestechung bzw. Vorteilsnahme im Rahmen von Kick Backs: Ein externer Makler vermittelt Wohnungen an Käufer und zahlt einen Teil der erhaltenen Maklerprovision als Kick Back an die Bank, die diese wiederum als erfolgsabhängige Vergütung an ihre Führungskräfte auszahlt. In diesem Zusammenhang trat der Vorwurf der Falschberatung auf, weil die finanzierende Bank nicht über Risiken und/oder die Kick Backs aufgeklärt hat. (ApoBank) Beihilfe zur Steuerhinterziehung (Schweizer Banken), Tolerierung der Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch den Vorstand trotz Verdachtsmomente. Manipulation von Zinssätzen & Wechselkursen, Nichtunterbindung der Manipulation durch den Vorstand trotz klarer Verdachtsmomente. Börsenkursmanipulation (§ 38 WpGH) durch Falschinformation des Kapitalmarktes im Rahmen von Pressemitteilungen bzw. Ad Hoc Mitteilungen („Wir haben kaum Subprime Exposure […]“ – IKB) Falschinformation des Kapitalmarktes durch unrichtige Darstellung der Vermögens- und Ertragslage im Geschäftsabschluss. (Nichtkonsolidierung

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von Zweckgesellschaften, die über Strohmänner kontrolliert werden – LBBW, SachsenLB). Cornelius Prittwitz Vielen Dank, Herr Wahrenburg, für dieses – glaube ich – für alle hier anwesenden Juristen hoch interessante Referat, in dem sich gezeigt hat, dass die Welten so unterschiedlich doch nicht sind, dass die Welt der Ökonomie die Welt des Rechts schon wahrgenommen hat und auch, wie ich finde, ganz realistisch wahrgenommen hat. Trotzdem werde ich als Moderator kurz den Strafrechtsprofessor „geben“ und Ihren Vortrag als mögliche Straftat untersuchen: Es gibt Verbotstatbestände und bestraft wird man, wenn man diesen Tatbestand verwirklicht und zwar rechtswidrig und schuldhaft. Sie haben den Tatbestand der exzessiven Überdehnung Ihrer Redezeit erfüllt. Das bedeutet, es indiziert Rechtswidrigkeit. Haben Sie einen Rechtfertigungsgrund? Ich würde sagen: Nein. Denn wenn alle das so machen, ginge das den Bach herunter. Wollen wir Sie deswegen bestrafen? Das ist die Frage der Schuld, der Vorwerfbarkeit und hier könnte man einen neuen Entschuldigungsgrund finden, dass Sie uns so Interessantes gesagt haben, dass wir Sie von Strafe freisprechen, sondern mit einem warmen Beifall belohnt haben. Ich darf begrüßen den Justizminister Kutschaty, Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Herzlich willkommen bei uns. Herr Kutschaty, Sie müssen entschuldigen, wir sind verspätet, aber das hat seinen Grund eben darin, dass wir so interessant diskutieren, und vielleicht ist es für Sie ja auch eine Möglichkeit wahrzunehmen, wie hier gesprochen wird, um sich dann einzubringen. Wir sind insofern wirklich dramatisch zurück, als wir jetzt seit 10 Minuten schon in der Kaffeepause sind. Wir sollten aber, wie ich finde, auf die Diskussion nicht verzichten. Wir werden sie vielleicht ein bisschen kürzen müssen. Die Kaffeepause dann auch ein bisschen kürzen, so dass wir insgesamt doch in einen sicheren Hafen einlaufen werden. Ich hatte schon bei Herrn Kubiciel die Versuchung empfunden, sofort mitzudiskutieren, und bei Herrn Wahrenburg ist das nicht anders. Aber meine Rolle ist leider die des Moderators und deswegen werde ich mich zunächst darauf beschränken, Wortmeldungen zu notieren.

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Diskussion

Diskussion Diskussion Diskussion Marco Mansdörfer Herr Kollege Kubiciel, vielen Dank für den interessanten Vortrag. Einige Anmerkungen und Kritik. Zum Gefährdungsdelikt als Prototyp. Ich meine, dass für die Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts, wenn wir auf die letzten 25 Jahre zurückblicken, ganz entscheidend nicht die Gefährdungsdelikte verantwortlich waren, sondern die Erfolgsdelikte. Ich meine, alle großen Entwicklungen hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anhand der Erfolgsdelikte ins Rollen gebracht. Das Ganze hat angefangen bei der strafrechtlichen Produkthaftung, die Rechtsprechung zu §§ 263, 266 StGB kennen wir alle. Ich gebe Ihnen aber Recht, dass die Gefährdungsdelikte – und das sehe ich ganz genauso – Hochkonjunktur haben, weil sie ein ideales Instrument sind, in speziellen Bereichen spezifische Gefahren von Spezialisten vermeiden wissen zu wollen. Ich meine, dass da eine Hochkonjunktur und ein Dammbruch stattgefunden hat, soweit insbesondere in den letzten fünf bis zehn Jahren immer mehr bei Unternehmen auch die interne Organisation durch § 130 OWiG oder durch den geplanten § 2 Abs. 2 des Verbandsstrafgesetzes in Angriff genommen wird und hier in Bereiche hinein reguliert wird, die eben bis vor zehn Jahren Tabu waren. Wie ein Konzern oder Unternehmen intern ausgestaltet war, war kein Thema des Strafrechts. Stark widersprechen würde ich Ihnen allerdings, wenn Sie sagen, wir müssten das europäische Recht in den Blick nehmen, bei dem das Gefährdungsdelikt das angemessene Recht sei. Wir in Deutschland befinden uns in der ganz komfortablen Situation, dass wir das Ordnungswidrigkeitenrecht neben dem Strafrecht haben. Das finde ich einen ganz großen Gewinn und das finde ich auch einen ganz großen Exportschlager. Immer und überall dort – das ist jetzt eine Kritik an Ihrem Standpunkt, wenn Sie meinen, dass wir Institutionen schützen sollten – sollte der Schutz bitte nicht über abstrakte Gefährdungsdelikte erfolgen. Bitte keinen Institutionenschutz durch Freiheitsstrafe. Das ist nicht angemessen, sondern Institutionenschutz sollte primär und soweit es geht durch Ordnungswidrigkeitenrecht erfolgen. Die Subsidiarität sollte man hier bitte sehr streng interpretieren, was mich auch zu meinem nächsten und letzten Punkt führt: Da ich meine, dass zum Institutionenschutz primär das Ordnungswidrigkeitenrecht berufen ist, würde ich bei den abstrakten Gefährdungsdelikten ganz stark den Bezug zum Individualrechtsgut in den Vordergrund stellen und einfordern. Da wir in der Pönalisierung abstrakter Gefährdungen eben eine Pönalisierung von Handlungsunrecht ohne Erfolgsunrecht sehen, halte ich auch abstrakte Gefährdungsdelikte, wenn denn der Bezug zum Individualrechtsgut hinreichend klar ist, für hochgradig legitim. Wenn wir aber

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nicht wissen, was wir schützen wollen, sondern sagen, das sind überindividuelle, abstrakte, kollektive oder kumulative oder was weiß ich was für Rechtsgüter, dann sollten wir das besser lassen. Stefan Kirsch Mich würde interessieren, ob die beiden Referenten die Einschätzung teilen, dass sich angesichts hoch komplexer Organisations- und Handlungsstrukturen des modernen Wirtschaftslebens nicht nur die Zahl von Gefährdungstatbeständen im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht in den letzten Jahrzehnten erheblich erhöht hat, sondern wir zwischenzeitlich auch eine Entwicklung der Zurechnungsregeln des Allgemeinen Teils hin zu einer Gefährdungsdogmatik erkennen können. Denn wir haben es in den arbeitsteilig organisierten Prozessen des Wirtschaftslebens nun einmal nicht mehr mit schlichten Kausalverläufen nach dem Muster „A erschießt B“ zu tun, sondern mit hierarchisch gegliederten Verantwortungszusammenhängen, in denen sich unsere hergebrachten Vorstellungen von der Verursachung eines Erfolges kaum mehr sinnvoll zur Anwendung bringen lassen. Vor diesem Hintergrund überrascht dann weder die steile Karriere der „Geschäftsherrenhaftung“ im Strafrecht, noch die besondere Aufmerksamkeit, die § 130 OWiG seit einiger Zeit entgegengebracht wird. Denn man mag zwar die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung formal als Fall der Haftung für Erfolgsunrecht einordnen, doch wird bei der Verletzung von Aufsichts- und Organisationspflichten – wie bei § 130 OWiG – deutlich, dass die Verbindung mit einem Erfolg immer vager wird. Entsprechende Zurechnungsstrukturen, bei denen die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vorgesetzten gemäß der Maxime respondeat superior nicht mehr an ein konkretes Verschulden im Hinblick auf eine Tat eines Untergebenen anknüpft, kennen wir übrigens schon im Bereich des Völkerstrafrechts, wo wir es ja auch mit einigermaßen komplexen Organisations- und Handlungsstrukturen zu tun haben, denn üblicherweise erschießen Generäle und Minister ja niemanden. Mein Befund wäre also: Wir haben es im modernen Wirtschaftsstrafrecht nicht nur mit abstrakten Gefährdungsdelikten im Besonderen Teil zu tun, sondern wir bewegen uns auch im Allgemeinen Teil zu einer Zurechnungsdogmatik, die weggeht von der Erfolgsverursachung und hin zu Aufsichts- und Organisationspflichtverletzung und damit gefährdungsdeliktsgleich wirkt. Würden Sie diesen Befund teilen oder ist das vielleicht etwas zu steil für den Samstagmorgen? André-M. Szesny Herr Kirsch hat mir Vieles vorweggenommen. Deshalb fasse ich mich ganz kurz: Die Aufgabe des Zurechnungsmodells im besprochenen Zusammenhang hat

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bereits in den 80er Jahren, die Du, Michael, als Zeitraum identifiziert hast, in dem der Gesetzgeber wenig tätig war, zumindest bei der Schaffung des Umweltstrafrechts sowohl beim Gesetzgeber als auch in der Rechtsprechung zu Unwohlsein geführt. Damals wurden Instrumente eingeführt und diskutiert, die als Regulativ wirken sollten, etwa der Gegenbeweis der Ungefährlichkeit beim abstrakten Gefährdungsdelikt oder die Frage, ob in Einzelfällen von der Opportunitätseinstellung Gebrauch zu machen ist, wenn zwar der Tatbestand erfüllt wurde, das Rechtsgut aber nicht wirklich zumindest in Gefahr war. Die Frage ist: Ist dieses Unwohlsein beim Gesetzgeber inzwischen völlig verschwunden oder gibt es eine Tendenz, ganz eindeutig zu sagen: Dass, was wir im Strafrechtlichen im Moment diskutieren, ist eigentlich gar nicht mehr das Strafrecht, was es mal war. Ist es inzwischen Teil des Wirtschaftsverwaltungsrechts? Wenn es das ist, dann – Herr Wahrenburg hat das ja eben sehr deutlich gemacht – ist die Schaffung von Sanktionen vielleicht ein Schritt zu spät. Wenn das Problem darin liegt, dass wir z. B. Finanzprodukte bzw. einen Handel mit Finanzprodukten zulassen, der geradezu programmhaft zu konkreten Gefährdungen oder Schädigungen bestimmter Systeme, Banken, dem Vermögen Einzelner führt, stellt sich doch die Frage, ob wir mit dem Strafrechtsdiskussionen ein bisschen spät sind und im falschen Rechtsgebiet diskutieren. Oder ist das Strafrecht – und das ist die Frage – faktisch doch bereits Gegenstand von Wirtschaftsverwaltungsrecht und will inhaltlich und damit ordnungsrechtlich regulieren? Ist dann alles das, was ich noch gelernt habe – Rechtsgutsbezug, Strafrecht als ultima ratio – Makulatur? Ist das die zwingende Folge der Aufgabe des Zurechnungsmodells? Cornelius Prittwitz Ich habe bisher jeden Beitrag in ganzer Länge genossen. Trotzdem muss ich in meiner Rolle als Moderator darum bitten, dass die kommenden Redner sich noch kürzer fassen. Wir wollen – nicht nur aus Höflichkeit, sondern vor allem aus Interesse – die Schlussstatements der Referenten hören. Diese Mikrofone haben eine wunderbare Eigenschaft, eine disziplinierende Eigenschaft. Nach zwei Minuten fangen sie an zu blinken und dann ist es aus, es sei denn, man macht sie wieder an. Ich drücke jetzt rhetorisch die Taste: wenn Schluss ist, ist Schluss. Jens Bülte Ganz kurz zu Herrn Mansdörfer. Ich bin völlig anderer Auffassung als Sie. Im Lebensmittelstrafrecht sehen wir das, wir brauchen die abstrakten Gefährdungsdelikte. Da kommen wir gar nicht drum herum, wenn jemand durch unsichere Lebensmittel die Bevölkerung gefährdet, es heißt immer so schön die Volksgesundheit, mittlerweile verwenden wir andere Begriffe, aber das Ganze bleibt ja in der Sache die Volksgesundheit. Ich glaube nicht, dass wir da um die

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abstrakten Gefährdungsdelikte herum kommen. Das halte ich auch überhaupt nicht für unangemessen. Ein Problem stellt sich allerdings, Herr Kubiciel: Wie grenze ich denn überhaupt abstrakte Gefährdungsdelikte ab? Ich habe das Problem jetzt beim § 380 AO, Gefährdung von Abzugssteuern. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das ein Erfolgsdelikt oder ein abstraktes Gefährdungsdelikt ist. Jochen Hörisch Ich möchte nachhaken bei dem Beispiel, das mich besonders beeindruckt hat, Herr Wahrenburg, aus der Lebensversicherungsbranche. Das ist ja volkswirtschaftlich gesehen keine Kleinigkeit. Der Regulierungsgrad ist nach meinem Kenntnisstand deutlich größer als bei Banken, als bei Hedgefonds, als bei Overthe-counter-Geschichten. Da fällt einem natürlich immer schnell ein Punktzitat ein. Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch. Wo das Rettende ist, da könnte auch die Gefahr wachsen. Wenn eine größere Risikobereitschaft in der Lebensversicherungsbranche angezeigt ist, wie sollte man sonst agieren? Der Aufsichtsgrad ist groß, die Zustimmung, einfach weil es vielen Kundenbestand gibt, ist groß – es bliebe letztlich nur, aber das wäre ja ein Kalauer, dass man die EZB darauf verklagt – aber das wird man nicht können – die Niedrigzinspolitik einzustellen. Gerade in einem sehr hochgradig regulierten Bereich denke ich, gehört nicht Prophezeiungskraft dazu zu sagen, dass die nächste Krise genau aus diesem Bereich kommen könnte, der Ihren Anforderungen eigentlich weitgehend entsprechen würde. Meine Frage wäre die Gretchen-Frage: Was könnte man in so einem Strukturfall machen, wo nach meinem Kenntnisstand der Kriminalisierungsgrad deutlich geringer ist als in anderen Branchen, aber der Gefährdungsgrad umso höher ist? Cornelius Prittwitz Jochen [Hörisch], ich schlage vor, dass Du bei allen unseren Tagungen immer dabei bist, aus vielen Gründen, aber aus einem ganz besonders: dass Dir zu jedem Zusammenhang sofort ein auch aus der Erinnerung zitierfähiges Zitat einfällt. Das ist wunderbar. Lorenz Schulz Wenn man sich kurz fassen muss, dann hat das den Nachteil, dass möglicherweise der Genuss leidet. Historisch ist es natürlich ein merkwürdiges Erlebnis, dass man gerade hier in Frankfurt in den 80er Jahren diese Schriften gegen das abstrakte Gefährdungsdelikt hatte, beispielsweise die Habilitationsschrift von Felix Herzog. Jetzt, eine Generation später, ist eine Normalisierung eingetreten. So geht es uns ja vielleicht auch mit dem Unternehmensstrafrecht. So wie die

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Spanier, die nach seiner Einführung jetzt auch nicht mehr diskutieren, was die Grundlagen betrifft. Soviel als historische Anmerkung. Ich glaube, wenn ich Herrn Wahrenburg zugehört habe, dass das Problem dramatischer ist. Es geht nicht nur darum, abstrakte Gefährdungsdelikt abzusegnen, wie Herr Kubiciel das getan hat. In Bezug dazu noch auf Normenverstöße, das ist schon sehr weitgehend, finde ich. Aber was Herr Wahrenburg gesagt hat, das ist doch das, was wir im Strafrecht kennen. Da würde ich als Prototyp des neuen Delikts den § 261 nehmen. Das ist nicht mehr abstrakte Gefährdung, das ist einfach ein Ermittlungstatbestand. Es wird ermittelt, und Herr Wahrenburg hat gesagt, das Problem ist, dass wir zunehmend Pflichtverletzungen, compliance etc., verletzen, und die Unternehmer oder die Akteure einfach das Verfahren fürchten. Wir haben einfach immer mehr Verfahren, die irgendwo enden, in einer Erledigung, aber nicht mehr in einer Verurteilung. Da möchte ich auf Herrn Mansdörfer noch eingehen, genau besehen wie Stefan Kirsch. Wenn man die Erfolgsdelikte nimmt, dann nehme man mal als Beispiel – das haben Sie sicher auch vor Augen gehabt – die Rechtsprechung zu den schwarzen Kassen. Was passiert denn da aus dem Erfolg, aus dem Schaden? Der Erfolg ist nun das Anlegen der schwarzen Kassen, das ist eine Normativierung. Das ist nicht mehr der klassische Erfolg, sondern von diesem her gedacht eine Gefährdung. Also ich meine, das Problem ist noch dramatischer. Cornelius Prittwitz Ich darf anfügen, dass ich auch die kurzen Beiträge genossen habe. Wahre Meisterschaft zeigt sich, dass man sowohl lang als auch kurz Wichtiges sagen kann. Martin Waßmer Ich mache es kurz. Wir haben ja gesehen, dass § 54a KWG relativ unbrauchbar ist, weil er voraussetzt, dass die BaFin den Missstand bemerkt und reagiert, also eine Anordnung getroffen hat. Und dann muss der Täter dieser vollziehbaren Anordnung vorsätzlich zuwiderhandeln und hierdurch eine Bestandsgefährdung herbeiführen. Das ist alles sehr unwahrscheinlich. Meine Frage an die Referenten wäre: Was kann das Strafrecht in diesem Bereich überhaupt tun? Das Strafrecht scheint ja an eine Grenze zu gelangen, weil von den Akteuren erkannt werden muss, dass ein unvertretbares Risiko vorliegt. Meines Erachtens ist dies vor allem ein Problem der Aufsicht und der Regulierung. Sollte man diese weiter verschärfen und bei entsprechenden Verstößen strafrechtlich eingreifen? Weiter verschwimmt auch meiner Meinung nach bei § 54a KWG die Grenze zwischen Erfolgs- und Gefährdungsdelikt, wenn der Täter einer Anordnung zuwiderhandeln und hierdurch eine Bestandsgefährdung als Taterfolg eintreten

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muss. Auch bei § 38 Abs. 2 WpHG, der Marktmanipulation, ist es streitig, ob ein abstraktes Gefährdungs- oder ein Erfolgsdelikt vorliegt, da nach h.M. nur ein Kollektivrechtsgut geschützt wird, aber eine Taterfolg in Form einer Preiseinwirkung eingetreten sein muss. Fehlt es an einer Preiseinwirkung, liegt lediglich eine Ordnungswidrigkeit vor. Wäre ein vergleichbarer Regelungsmechanismus eine sachgerechte Lösung? Cornelius Prittwitz Bevor ich den Referenten zu einem Schlusswort das Wort gebe, möchte ich zwei Anmerkungen machen: Zum einen ist es interessant, dass Herr Kubiciel, unser Jurist, doch legitimierend und auch in gewisser Weise problemlösungsversprechend über die abstrakten Gefährdungsdelikte gesprochen hat, während ich Herrn Wahrenburg deutlich skeptischer gehört habe. Das finde ich einen interessanten Befund. Und zum Zweiten kann ich es mir als Jurist nicht ersparen, Ihnen allen nochmal auf dem Silbertablett einige Wörter zu servieren: „Gambling for resurrection“, „perfekt“, „rational“, „ökonomisch“, „verwerflich“, „Das Eingehen von existenzgefährdenden Risiken gehört zum Normalgeschäft der Banken“. Achtung, wir fahren Auto. Auch das ist das Eingehen von existenzgefährdenden Risiken, dort aber geht es „nur“ um einzelne Menschen und nicht gleich um Systemgefährdung. Das könnte ein spielentscheidender Unterschied sein. Sie haben beide das Wort. Vielleicht in umgekehrter Reihenfolge. Herr Wahrenburg, wollen Sie anfangen? Und dann Herr Kubiciel. Mark Wahrenburg Ich fange gerne an. Ich verstehe gut, dass das Strafrecht einen Erfolg braucht, der klar identifizierbar und zurechenbar ist. Wenn ein ganzer Vorstand hier ist, dann möchte man natürlich auch wissen: Wer war verantwortlich dafür? Aus ökonomischer Sicht kann ich nur sagen, ist das ganz anders. Stellen Sie sich ein Kernkraftwerk vor, was die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen unterläuft. Keiner möchte, dass es zum Erfolg kommt, dass dieses Kernkraftwerk explodiert. Aus ökonomischer Sicht möchten wir, dass alle Vorstände in Gemeinschaftshaftung sind, weil wir wissen, dass nur dann am Ende die notwendige Sorgfalt heraus kommt, wenn einer den anderen beobachtet. Das hat überhaupt nichts mit Verursachung zu tun. Auch nicht mit den juristischen Zurechnungsprinzipien. Das ist einfach ein ökonomisches Prinzip, weshalb der Gesetzgeber früher die Gesamthaftung des Vorstandes eingeführt hat. Was kann das Strafrecht leisten? Ich stimme völlig zu, dass der Schutz einer Norm nicht der Sinn an sich sein kann. Wir müssen schon wirklich genau wissen, was für ein Verhalten wir induzieren wollen. Wenn wir nicht Gut von Schlecht unterscheiden können, dann macht es keinen Sinn die abstrakte Ge-

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fährdungshaftung als Selbstzweck, als Monstranz für sich herzutragen. Herr Hörisch, Sie haben das schön gezeigt mit dem Beispiel der Lebensversicherung. Wir wissen es ja auch nicht. Natürlich können wir heute sagen: „Eigentlich hätte niemand zwei oder drei Prozent Mindestverzinsung versprechen dürfen. Das ist ja ein unglaublich langfristiges Versprechen. Das Eigenkapital der Lebensversicherung reicht niemals aus um das zu machen.“ Man könnte dann sagen: „Okay, dann müssen wir mehr Eigenkapital für Lebensversicherungen halten“. Dann ist die Lebensversicherung kaputt. Oder wir sagen, die Politik – das ist ja selten, dass das eintritt und wenn es eintritt, dann muss die Politik eben helfen. Sie hat ja schon geholfen. Die alten Lebensversicherungsverträge, die heute ausbezahlt werden kriegen ja viel weniger damit es für die Zukunft gemacht wird. Das ist eigentlich ein enteignungsgleicher Eingriff, der durch das Gesetz legitimiert wird und so werden Risiken umalloziert. Es ist gar nicht so einfach zu sagen, was sollte jetzt verboten werden und am Ende ist es eine Aufsichtsrechtsfrage. Deswegen glaube ich auch, dass viele der Sachen, die wir hier diskutiert haben, am Ende eine Frage der richtigen Regulierung und der richtigen Aufsicht sind und nicht eine Frage des Strafrechts. Nichts desto trotz haben wir eben gelernt in der Vergangenheit, dass Aufsichtsbehörden weiß Gott nicht das machen, was sie tun sollen, obwohl der richtige Gesetzesrahmen da ist. Von daher finde ich es schon vernünftig, als ultima ratio eine Strafandrohung in den Raum zu stellen. Aber diese sollte auch verhaltenswirkend sein. Ich glaube gerade – aus Sicht des Bankpraktikers ist es gerade die Nichtzurechenbarkeit, also die Gefahr, dass man einen Schaden zugerechnet bekommt, der einem eigentlich gar nicht zugerechnet werden kann, für den man eigentlich gar nicht verantwortlich ist, ist eben genau der Grund warum man aufpasst, was seine Kollegen machen. Von daher argumentiere ich jetzt mal ganz anders als der normale Strafrechtler. Cornelius Prittwitz Vielen Dank, Herr Wahrenburg. Je länger ich Ihnen zuhöre, desto mehr vermute ich, dass Sie doch ein Jurist sind. Michael Kubiciel Mir war bewusst, dass ich mich – wie Sie gesagt haben – in die Höhle des Frankfurter Löwen bewege. Als ich Herrn Mansdörfer gestern gesehen habe, war mir auch klar, dass auf mein Referat von seiner Seite Widerspruch folgen wird. Ich werde mich deswegen, weil das ja eine sehr grundsätzliche Frage ist und wir wenig Zeit haben, auf den Wortbeitrag von Herrn Mansdörfer konzentrieren. Sie haben vollkommen Recht. Viele wirtschaftsstrafrechtliche Fälle sind über das Erfolgsdelikt § 266 StGB behandelt und nicht gelöst, aber jedenfalls doch vor

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Gericht gebracht worden. Der § 266 StGB ist nicht durch einen Akt des Gesetzgebers in den letzten 30 Jahren aufgewertet worden, sondern durch einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft insgesamt und dann auch der Gerichte: Unternehmerische Fehlentscheidungen wurden auf ihre Strafbarkeit geprüft. Ungefähr zeitgleich mit der Aufwertung des § 266 StGB als Anknüpfungspunkt für die Prüfung unternehmerischer Entscheidungen kam es zu einer interessanten Gegenbewegung. Diese brachte eine wahre Publikationsflut mit sich, zu der maßgeblich Anwälte beitrugen, die an allen möglichen Stellschrauben versuchten, dem § 266 StGB die Zähne zu ziehen. Dies betrifft die Anforderungen an den Vorsatz, die Pflichtwidrigkeit und den Schaden. Dies geschah – das sagt Ihnen auch jeder Verteidiger – um den § 266 StGB zu entschärfen. An dieser Stelle möchte ich ganz grundsätzlich werden: Ich halte die Abwesenheit strafrechtlicher Folgen nicht für den Ausweis einer liberalen Gesellschafts- oder Wirtschaftsordnung. Ich begreife Liberalität des Strafrechts im Sinne des Ordoliberalismus. Auch in der Wirtschaft muss es Regeln geben und die müssen durchgesetzt werden. Man kann natürlich über Sinn und Umfang jeder Regel diskutieren, aber letztendlich entscheidet über die Regel der demokratisch legitimierte Gesetzgeber. Argumentationswege zu finden, die zu einer Nichtanwendbarkeit einer Norm führen, ist zwar eine in professioneller Hinsicht kluge Vorgehensweise; manche werden sogar sagen, dass dies die Aufgabe eines Rechtsanwalts ist. Aber die Entschärfung des § 266 StGB gewissermaßen als Ausweis der Liberalität des Strafrechts darzustellen, halte ich für bedenklich. Das Gleiche gilt auch für die abstrakten Gefährdungsdelikte. Wie ich eben gesagt habe: Das abstrakte Gefährdungsdelikt ist für mich kein Seismograph, an dem sich die Liberalität oder die Illiberalität eines Strafrechts ablesen lässt. Ob eine Rechtsordnung liberal oder illiberal ist, hängt zuvorderst davon an, welche Institutionen sie schützt, genauer: ob diese freiheitsgewährleistend sind oder nicht. Wenn man eine für den Bestand einer freiheitsschützenden Institution, wie den Wettbewerb oder das Kreditwesen wesentlich Norm schützt, dann ist das für mich eine ordoliberale Vorgehensweise und keine illiberale oder freiheitsfeindliche. Sodann stellt sich die Frage, wie wir diese Norm schützen bzw. wo wir das tun: Als Straftatbestand im Strafgesetzbuch oder als Ordnungswidrigkeit im OWiG? Sie, lieber Herr Mansdörfer, haben ein starkes Plädoyer für eine Regulierung im OWiG gehalten und ich achte Ihre Argumente. Es ist aber bislang nicht gelungen, trennscharf zu unterscheiden zwischen Delikten, die nur im StGB stehen dürfen, und solchen Handlungsweisen, die nur als Ordnungswidrigkeit bezeichnet und im OWiG sanktioniert werden sollten. Feuerbach hat eine solche Unterscheidung versucht. Sein daran anknüpfendes Strafgesetzbuch von 1813 ist dramatisch gescheitert. Was man auch sehen muss, ist, dass eine Übertragung der Regulierung ins OWiG ja keineswegs per se libe-

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ral oder freiheitsfreundlich ist, denn die Ausgestaltung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens ist für den Beschuldigten wesentlich weniger komfortabel als das Strafverfahren. Die Frage, ob eine Norm mit den Mitteln des Strafrechts oder des Ordnungswidrigkeitenrechts geschützt wird, ist also komplex und kann nur vom Gesetzgeber beantwortet werden. Die Strafrechtswissenschaft kann keine trennscharfen Begriffe anbieten, die diese Entscheidung determiniert. Zum Umweltstrafrecht vielleicht noch eine kurze Bemerkung. Wenn man die Beiträge liest, die Anfang der 1980er Jahre zum Umweltstrafrecht verfasst wurden, dann scheint es so, als sei die Implementierung des Umweltstrafrechts eine Art Dammbruch, jedenfalls etwas kriminalpolitisch ganz Schlimmes, gewissermaßen eine Kontaminierung des Strafrechts. In vielen Veröffentlichungen ist damals sogar behauptet worden, das Umweltstrafrecht sei verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat dann klar entschieden, dass das Umweltstrafrecht verfassungskonform ist. Blickt man nun in neuere Beiträge oder Kommentierungen und Lehrbücher zum Umweltstrafrecht, dann werden die Bedenken, die damals vorgebracht worden sind, kaum noch erwähnt. Das liegt, glaube ich, nicht an der Kritiklosigkeit der heutigen Strafrechtswissenschaft, sondern es liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Argumente, die gegen das Umweltstrafrecht damals vorgebracht worden sind, einfach nicht überzeugungskräftig waren. Cornelius Prittwitz Wir könnten ewig weiter diskutieren. Das Kompliment, dass Sie, Herr Kubiciel, sich in die Höhle des Löwen getraut haben, habe ich schon formuliert. Ich kann Ihnen auch versichern, dass Sie unbeschadet aus dieser Höhle wieder herauskommen – ganz im Gegenteil: Wir fühlen uns bereichert durch die Brocken, die Sie uns hingeworfen haben. Erlauben Sie mir, bevor ich Sie in die Kaffeepause entlasse, eine Schlussbemerkung. Herr Wahrenburg hat einen Begriff verwendet, den ich als zentral ansehe, und das ist der Begriff Staatsversagen. Ich würde es vielleicht erweitern: Staatshandeln – die Art und Weise, wie der Staat handelt und dann wenn es eben misslingt: Staatsversagen. Die Frage, die sich ja im Umweltstrafrecht genauso gestellt hat wie jetzt bei Fragen des Finanzmarktes lautet: Wie interagiert der Staat mit Akteuren im Wirtschaftsleben? Und wenn der Staat sich, durchaus auch in Gefolge von Tendenzen, die man Globalisierung nennt, in Wirklichkeit Amerikanisierung heißen sollte, sich ein eher liberales, manche sagen: neo-liberales, Handeln angewöhnt, in dem ausgehandelt wird, was geht und was nicht geht, dann lässt er sich auf eine bestimmte Handlungsweise ein, die es in der Logik − jedenfalls in der ernstzunehmenden Logik − verbietet hinterher zu sagen: „Jetzt kommen wir mit dem Strafrecht“. Wenn man verhandelt, dann verhandelt man, und es ist kein Zufall, dass im

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Strafrecht auch immer mehr verhandelt wird am Ende. Es geht sozusagen praktisch so weiter. Die Frage ist, ob der Staat, wenn er sich auf so viel Handeln mit Gerechtigkeit – so hieß ja ein wunderbares Buch von Karl F. Schumann aus Bremen –, einlässt, ob er sich nicht irgendwann, wenn es wirklich schief geht – das kann der GAU im Atomkraftwerk sein oder der Finanz-GAU – nicht vorhalten lassen muss, dass er eben zu viel verhandelt und zu wenig gehandelt hat und deswegen ein Staatsversagen vorliegt.

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Entmythologisierung des Wirtschaftsstrafrechts?

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Einleitung Matthias Jahn Einleitung Ich will nicht den vornherein untauglichen Versuch unternehmen, Klaus Lüderssen, der Sie alle herzlich grüßen lässt, zu ersetzen. Wir haben deshalb, das, was er eigentlich unter dem optimistischen Titel „Die bessere Zukunft“ jetzt als Anmoderation vorgetragen hätte, für Sie kopiert. Das liegt auf Ihren Plätzen aus und ich werde es weder zusammenfassen noch vorlesen, sondern versuchen, den Anschluss an die Diskussion zu finden, die wir gerade auf dem letzten Panel geführt haben. Ich habe aus ihr mitgenommen, dass eine der möglichen Zukunftsaufgaben eines rechtsstaatlichen Wirtschaftsstrafrechts auch der Schutz von Institutionen sein könnte. Das ist jedenfalls die Position, die Herr Kubiciel stark gemacht hat. Wenn man das mit dem Vorblatt des Gesetzentwurfs aus Nordrhein-Westfalen konfrontiert, der uns heute hier zu dieser Diskussion zusammenführt und zu dem der spiritus rector des Unternehmens, Herr Minister Kutschaty, gleich sprechen wird, dann findet man einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den beiden Inhalten. Denn auf dem Vorblatt des Entwurfs (Anm: NRW-Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, S. 1, ) heißt es zu den Aufgaben des Strafrechts – sie alle kennen den Entwurf, aber vielleicht haben Sie über diese Stelle doch etwas schnell hinweg gelesen: „Neben dem individuellen Rechtsgüterschutz ist zunehmend auch der Schutz kollektiver Interessen und Funktionszusammenhänge in den Fokus der Strafgesetzgebung getreten.“ Ich glaube, dass diese Aufgabenbeschreibung des Strafrechts anschlussfähig wäre auch für das, was Herrn Kubiciel vorschwebt, nämlich der Schutz von Institutionen. Wenn Sie sich in der Literatur darüber zu informieren versuchen, was hinter dem Begriff der Institutionen steckt, werden Sie jedoch bei den Kernbegriffen mit einer unendlichen Vielzahl von Konzeptionen konfrontiert. Am Ende bleibt letztlich nur der Befund: Alles ist streitig. Das Wörterbuch der Soziologie, das ja eigentlich Aufklärung bringen sollte, verzichtet sogar auf einen Definition des Begriffs und liefert bloß eine Kasuistik einzelner Institutionen auf. Institutionen seien beispielsweise Ehe und Familie, Vertrags- und Verwaltungsformen usw. In der Auflage noch aus dem Jahr 1972 findet man als Institutionen aber auch beispielhaft aufgezählt die Schuldknechtschaft, Sklaverei und Feudalismus. Die Frage ist also: Was ist der Kompass für die Auswahl schützenswerter Institutionen im Rechtsstaat? Aus dem Ensemble der auftretenden Fragen wählt der nordrhein-

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westfälische Vorstoß als Aufgabenbeschreibung eines legitimen rechtsstaatlichen Strafrechts den Schutz kollektiver Interessen und Funktionszusammenhänge aus, die durch die sprichwörtliche organisierte Unverantwortlichkeit gefährdet seien. Das ist der Boden, auf dem dieser Entwurf gediehen ist. Ich will nicht den Versuch unternehmen, den derzeitigen Diskussionsstand und auch nicht der Stand der politischen Entscheidungsprozesse in Berlin, auf den es jetzt in erster Linie ankommt, zusammenzufassen – das wird Herr Kutschaty selbst gegen Ende seines Referats tun –, sondern ich will noch mit einem zweiten Stichpunkt den Bogen zu einer Diskussion des gestrigen Tages schlagen, die auch heute aufgegriffen worden ist, nämlich den Begriff der Zuschreibung. Wir haben über eine alte Idee von Klaus Lüderssen gesprochen, ob es nämlich so etwas geben kann wie gebotene Zuschreibung. Der Ausgangspunkt des nordrhein-westfälischen Entwurfs scheint mir ein Anwendungsfall dieser Idee zu sein. Die Diskussion, die wir bisher in der Strafrechtrechtswissenschaft zu diesem Punkt geführt haben, war bislang wohl noch etwas unterkomplex, weil ich die Debatten im Wesentlichen so wahrgenommen habe, dass die Frage der Zuschreibung von Verantwortlichkeit an den Verband bei vielen Abwehrreaktionen provoziert hat. Herr Kutschaty, wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie Ihre Zeit an einem Wochenende den Weg von Düsseldorf hierher opfern, um uns die Möglichkeit zu geben, mit Ihnen diese Grundfragen noch einmal zu diskutieren. Das ist bekanntlich keineswegs der Standard in der rechtspolitischen Debatte in der Bundesrepublik Deutschland. Ich würde mir persönlich wünschen, dass noch mehr ihrer Kolleginnen und Kollegen den Weg hierher fänden, dass sie bereit wären, ihre rechtspolitischen Konzepte auf einer fachlich-nüchternen, hoffentlich rationalen Ebene zu diskutieren.

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Der Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches

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Thomas Kutschaty

Der Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen Thomas Kutschaty Der Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuches Vor etwas mehr als einem Jahr, im September 2013, haben wir unseren „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verbandsverantwortlichkeit“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Wenige Tage später habe ich im Justizministerium in Düsseldorf mit ausgewählten Vertretern des Mittelstandes aus NordrheinWestfalen zusammengesessen. Wir haben in Düsseldorf die nützliche Einrichtung einer „Clearingstelle Mittelstand“. Sie ist in unserem Bundesland die Sachwalterin der Interessen der sogenannten KMUs, der kleinen und mittleren Unternehmen. Sie moderiert und bündelt für die Landesregierung den vielstimmigen Chor aus der Wirtschaft, insbesondere die Stimmen der Industrieund Handelskammern, der kleineren Unternehmensverbände, des Handwerks, der Kommunalen Spitzenverbände und der Berufskammern. Das ist sehr hilfreich und so hatten wir über die Clearingstelle das besagte Treffen vereinbart. Es wird Sie nicht wundern: Die Mittelstandsvertreter waren nicht sonderlich begeistert von unserem Vorschlag, ein Verbandsstrafrecht einzuführen. Mit begeistertem Zuspruch hatte ich auch gar nicht gerechnet. Wir standen erst am Anfang eines langen Diskussionsprozesses, der nicht weniger als eine Neuausrichtung des Wirtschaftsstrafrechts insgesamt mit sich bringen soll. Da war mit Widerstand zu rechnen. Lebhaft in Erinnerung geblieben ist mir unter anderem der Einwand eines Unternehmensvertreters, der empört erklärte, sein Unternehmen könne doch schlechterdings nicht für die Missetaten eines „durchgeknallten Prokuristen“ verantwortlich gemacht werden. Warum erzähle ich Ihnen das? Weil es uns mitten hineinführt einen verbreiteten Mythos über Wirtschaftskriminalität. Seit zehn Jahren erforscht der Kriminologe Kai Bussmann aus Halle mit einem interdisziplinär besetzten Forschungsteam aus (Wirtschafts-)Psychologen, Kriminologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen die Bedingungen für die Entstehung von Wirtschaftskriminalität. Seine Umfragen bei Unternehmen zeigen: Vor allem fehlendes Unrechtsbewusstsein, leichte Verführbarkeit und finanzielle Verlockungen gelten intern als Gründe dafür, dass Mitarbeiter aus dem Unternehmen heraus Straftaten begehen. Die Wirtschaftsunternehmen führen im Falle eines Falles den Normverstoß auf eine schwache oder sonst defizitäre Täterpersönlichkeit zurück. Während

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Profite oder Erfolge meist dem Unternehmen als Ganzem zugeschrieben werden, werden die Fehler in der Binnenwahrnehmung individualisiert. Das ist der Mythos vom „unschuldigen“ Unternehmen, das unter einer Straftat selbst am meisten leidet, selbst wenn es zuvor von ihr profitiert hat. Ich will gar nicht bestreiten, dass es solche Fälle gibt. Dass diese Binnenwahrnehmung aber als allgemeines Prinzip die Unternehmenskriminalität erklären könne, ist falsch. Das lehrt uns ein Blick auf die Erkenntnisse der Wirtschaftspsychologie und Wirtschaftskriminologie. Wäre nämlich das individuell-charakterliche Defizit des Missetäters als Person ausschlaggebend für die Straftat, dann müsste sich dieses Defizit eigentlich auch in seinem Privatleben bemerkbar machen. Genau das ist aber nicht der Fall. Eine Vielzahl von kriminologischen Studien belegt, dass der „klassische Wirtschaftsstraftäter“ biografisch vollkommen unauffällig daher kommt. Er ist, anders als der Durchschnittstäter, der bekanntlich im Alter bis zu 25 Jahren damit begonnen hat, den Gerichten und uns Justizministern Kummer zu machen, kriminell ein ausgesprochener Spätzünder. Im Durchschnitt ist er 40 Jahre alt, überwiegend männlich und häufig seit Jahren in einem Unternehmen tätig. Aus seiner privaten Sozialisation – aus Schule, Elternhaus oder Freundeskreis – ergeben sich die Indikatoren für seine späte Karriere als Wirtschaftsstraftäter eher nicht. Im Gegenteil – diese Beschuldigten sind in ihrem privaten Umfeld häufig sogar besonders angepasst. Niemals kämen sie auf die Idee, an der Supermarktkasse beim Wechselgeld zu schwindeln. Deshalb bekommen sie auch so häufig Bewährung. Sie haben einfach eine besonders gute Sozialprognose. Warum werden sie dann aber ausgerechnet im Zusammenhang mit ihrem Beruf zu Straftätern? Untersucht hat das schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts der amerikanische Soziologe Donald Ray Cressey, ein Pionier der Erforschung von Wirtschaftskriminalität. Cressey verdanken wir das sognannte „Fraud Triangle“. Das „Betrugsdreieck“ beschreibt die drei wesentlichen Faktoren, die für die Begehung von Wirtschaftsstraftaten den Ausschlag geben. Erstens ein Motiv, meist wurzelnd im Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis. In Frage kommen fehlende Anerkennung, subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten oder auch Leistungsdruck. Eher selten sind es private Nöte. Zweitens die Gelegenheit, nämlich das Wissen um die Funktionsweise bzw. die Schwächen des Apparats. Deshalb werden Berufsanfänger seltener auffällig. Und drittens eine persönliche Rechtfertigung: Der Täter, der ja kein ausgesprochener Gewohnheitsverbrecher ist, redet sich die Sache schön: „Es ist gut für die Firma.“, „Die andern tun das schließlich auch.“, „Eigentlich steht es mir

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zu.“ oder „Der Schaden ist versichert.“ Wer – wie ich – einmal eine Zeit lang als Strafverteidiger gearbeitet hat, kennt alle diese Rechtfertigungen und Ausreden zur Genüge. Unschwer erkennt man: Alle diese Faktoren sind zumindest teilweise, wenn nicht sogar gänzlich, durch das Unternehmen zu beeinflussen. Es ist ja das Unternehmen, das einen wesentlichen Teil des soziologischen Umfelds eines arbeitenden Menschen gestaltet. In der modernen Informationsgesellschaft, in der jedermann jederzeit erreichbar ist, lassen sich Privatleben und berufliches Umfeld noch schwieriger voneinander trennen, als es zu Cresseys Zeiten der Fall war. Eine rationale Kriminalpolitik, die kriminologische und soziologische Forschung ernst nimmt, sollte darauf klugerweise reagieren. Das stellt nicht etwa alle Unternehmen „unter Generalverdacht“ – so eine häufig geäußerte Polemik gegenüber unserem Gesetzentwurf. Es ist einfach ein Gebot der Vernunft, wenn das Recht Unternehmen und Verbände dazu anhält, ihre Struktur nach Möglichkeit so auszugestalten, dass Risiken vermieden werden, nicht nur Risiken durch Maschinen oder Produktionsprozesse, sondern auch Risiken durch den Faktor „Mensch“. In der eingangs erwähnten – für unsere Zwecke überaus lehrreichen – Diskussion mit den Mittelstandsvertretern erklärte einer der Diskutanten dazu sogleich, so etwas sei wegen der Verletzung des Schuldprinzips verfassungswidrig. Auch hier gilt es, den Diskurs zu entmythologisieren. Das verfassungsrechtliche Schuldprinzip ist zwar alles andere als ein Mythos, sondern ein Kernstück unseres Rechtsstaats. Ein Mythos aber ist, dass es der Einführung der Verbandsstrafe entgegenstehe. Jeder Gutachter, der Unternehmensstrafen wegen Verstoßes gegen das Schuldprinzip für verfassungswidrig erklären möchte, hat nämlich ein großes Problem: Auch eine Geldbuße nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht ist eine strafähnliche Sanktion. Das Schuldprinzip gilt unstreitig auch für Ordnungswidrigkeiten. Das ist eine Leitlinie, die uns das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahre 1959 mit auf den Weg gegeben hat. In einem Beschluss zum damaligen § 23 Wirtschaftsstrafgesetz – einem Vorläufer unseres heutigen § 130 OWiG – heißt es klipp und klar: „Es ist im modernen Strafrecht selbstverständlich, dass eine Bestrafung Schuld voraussetzt.“ Die Grundsätze des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts beanspruchten für Ordnungswidrigkeiten sinngemäß genauso Geltung, auch wenn der Gesetzesverstoß nicht im förmlichen Strafverfahren verfolgt und „nur“ mit einer Geldbuße geahndet werde. Genauso sieht es Übrigens auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Strafe im Rechtssinne ist jede Maßnahme von einigem Gewicht, die abschreckenden sowie vergeltenden Charakter hat und aus Anlass der Begehung einer Straftat verhängt wird.

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Die Entscheidung, was Strafrecht sein soll und was Ordnungswidrigkeitenrecht, trifft der Gesetzgeber. Die gesetzliche Zuweisung folgt dabei nicht aus einer irgendwie metaphysisch oder dogmatisch zu bestimmenden Rechtsnatur der Verbotsnorm, sondern schlicht aus der Gestaltung und Bezeichnung der Rechtsfolge. Die formale Bezeichnung – die Ordnungswidrigkeit ist kein kriminelles Delikt und ein Bußgeldverfahren ist kein förmliches Strafverfahren – ändert an der Geltung des Schuldprinzips erst einmal überhaupt nichts. Will der Gesetzgeber sanktionieren, so hat er folgendes zu beachten: Dient die Sanktion – sei es eine Strafe oder eine Buße – der Ahndung von menschlicher Schuld, gibt es bestimmte, aus der Menschenwürde abzuleitende Grenzen. Der Mensch als geistig-sittliches Wesen, ist darauf angelegt, sein Handeln selbst zu bestimmen und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Das muss der Gesetzgeber respektieren. In diesem Sinne darf ein Sanktionsrecht für Menschen nur menschliche Schuld ahnden. Das – aber auch nicht mehr – folgt aus dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Auf die Garantie der Menschenwürde können sich juristische Personen oder Personenvereinigungen naturgemäß nicht berufen. Hindert also das Schuldprinzip prinzipiell die Bestrafung von Verbänden? Evident nicht, denn erstens haben alle unsere Nachbarn, die auch der Menschenrechtskonvention verpflichtet sind, ein Unternehmensstrafrecht – teilweise seit Jahrzehnten – und zweitens haben auch wir seit 38 Jahren eine Sanktionsnorm für Verbände, für die das Schuldprinzip gilt. Und § 30 OWiG ist unstreitig nicht verfassungswidrig. Wir stellen also fest: Will der Gesetzgeber Verbände strafen, ist er nicht an die Beschränkungen gebunden, die ihm das Schuldprinzip bei Menschen auferlegt. Er kann an Vorgänge anknüpfen, die der Verband zu verantworten hat, soweit er damit legitime Strafzwecke verfolgt. Dass er dabei rechtsstaatliche Prinzipien wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Auge behalten muss, versteht sich von selbst. Alles andere bleibt seiner Gestaltungsfreiheit im Rahmen gesetzgeberischer Vernunft überlassen. Das Stichwort „Vernunft“ führt mich zur nächsten „mythologischen Erscheinung“ in der Diskussion um das Wirtschaftsstrafrecht. Seit der Finanzkrise ist sie zwar etwas aus der Mode gekommen. Aber in der Debatte um das Unternehmensstrafrecht erfreut sie sich weiter größter Beliebtheit. Ich meine den Homo Economicus – den stets rational kalkulierenden, vorteilsbewussten Marktteilnehmer. Uns wird immer wieder entgegengehalten, ein Unternehmensstrafrecht sei schlicht unvernünftig, denn Unternehmen könne man mit Strafen und sozialethischem Tadel sowieso nicht erreichen. Gerade hat wieder die Monopolkommission in ihrem 20. Hauptgutachten genauso argumentiert:

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Das Unternehmen, die juristische Person oder Personenvereinigung, sei nichts als ein Zweckgebilde der Rechtsordnung. Vom Standpunkt eines Unternehmens bzw. seiner Eigentümer werde es kaum einen Unterschied machen, ob es mit einer Geldstrafe oder einer Geldbuße sanktioniert werde. Man könne sich den ganzen Aufwand sparen. Zählen werde am Ende allein das Geld. Dass es den Homo Economicus in Reinform nicht gibt, wird wohl niemand mehr ernsthaft bestreiten. Die Verhaltensökonomik, die sich seit vielen Jahren mit dem Verhalten von Marktteilnehmern im wirtschaftlichen Kontext beschäftigt, hat uns dazu mit einigen verblüffenden Experimenten versorgt. Vielleicht kennen Sie die berühmte Studie des in Amerika arbeitenden Ökonomen Uri Gneezy zu den unerwünschten Folgen der Ökonomisierung des Alltags. Untersucht hat der Forscher mit einem Kollegen das Verhalten von Eltern in Kindergärten. Wer Kinder im Kindergarten hat, der weiß: Es ist ein stetes Ärgernis, dass die Eltern ihre Kleinen nicht rechtzeitig abholen. Also verhängte man in den untersuchten Kindergärten ein Bußgeld für Verspätungen. Dies in der Hoffnung, mehr Pünktlichkeit bei den Eltern zu bewirken. Der ökonomische Anreiz indessen bewirkte das glatte Gegenteil. Die Zahl der ,Zuspätabholer‘ stieg. Der Zeitverzug wurde nicht mehr als sozialethisch zu missbilligende Rücksichtslosigkeit gegenüber den Kindergärtnerinnen empfunden, sondern als ein ökonomisches Gut, dass man sich mit einer Bußgeldzahlung buchstäblich „straflos“ kaufen konnte. Ein sozial-ethisches Unwerturteil ist in einer Gesellschaft nicht gleichgültig, nur weil es die Gemaßregelten gemessen in Heller und Pfennig nichts kostet. Wieso soll für Unternehmen und Verbände, die auch in der Gesellschaft agieren, etwas anders gelten? Wir sind uns doch alle einig, dass Unternehmen durch ihre Organe handeln. Ihr Verbandswille entsteht durch die Vernetzung individueller Entscheidungen. Der Verbandswille mag sich am Ende vom Willen der beteiligten Individuen unterscheiden, es bleibt dabei: Es bewerten, handeln und entscheiden die Organe. Hätten unsere Kritiker Recht, so müssten wir annehmen, dass es diesen Organen bei ihren Entscheidungen im Unternehmen letztlich vollkommen schnuppe ist, welche Art Sanktion ihren Verband trifft, solange nur die Kasse stimmt. Ein Unternehmen, das für sich selbst ein Persönlichkeitsrecht, eine „Corporate Identity“ reklamiert, wäre nichts als eine Art überdimensionierte Registrierkasse. Ich glaube das nicht und ich weiß mich gut aufgehoben bei den Erkenntnissen der Wirtschaftspsychologie, der Verhaltensökonomik und der Kriminologie. Es gibt eine dynamische Wechselwirkung zwischen dem Verband als einem Kollektiv von Personen und den einzelnen Personen, die wiederum Teile des Verbandes sind und ihn gestalten und prägen. Das Klima in einem Unternehmen –

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die Verbandsattitüde – beeinflusst den Einzelnen in seinem Verhalten und in seinen Ansichten. Und jeder Einzelne beeinflusst durch sein Verhalten und seine Ansichten wiederum das Klima im Unternehmen. Seien Sie ehrlich: Wenn es den Unternehmen und Verbänden tatsächlich ganz egal sein könnte, ob sie bestraft oder bebußt werden, dann gäbe es die ganze Aufregung um unseren Entwurf nicht und Sie hätten mich heute nicht eingeladen, um über unser Konzept zu sprechen. Ich möchte Sie deshalb einladen, einmal diese Mythen und Denkverbote hinter sich zu lassen und über die positiven Möglichkeiten, die ein Verbandsstrafrecht bieten würde, ohne Vorbehalte nachzudenken. Die Verbandsstrafe stellt weder ein generelles Misstrauensvotum gegenüber der Wirtschaft dar, noch verstößt sie gegen die Verfassung, noch ist sie eine Maßnahme „wider die Natur“ eines Verbandes. Sie hat vielmehr gegenüber dem Recht der Ordnungswidrigkeiten eine ganze Reihe von klaren Vorteilen, von denen ich einige im Folgenden kurz skizieren möchte. Dabei werde ich mich auf drei Punkte konzentrieren, die mir besonders am Herzen liegen: Es sind dies eine verbesserte Transparenz im Verfahrensablauf, eine ungleich größere Flexibilität bei Auswahl, Umsetzung und Kontrolle möglicher Sanktionen und – last but not least – ein Stück Ehrlichkeit im Umgang mit ethischem Fehlverhalten im Wirtschaftsleben. Beginnen wir mit dem Thema Transparenz. Das Bundesverfassungsgericht hat in der bereits erwähnten Entscheidung aus dem Jahre 1959 den Unterschied von Ordnungswidrigkeit und Strafrecht sinngemäß wie folgt erklärt: Rechtsverstöße werden als Straftaten oder als Ordnungswidrigkeiten bewertet. Das entscheidet der Gesetzgeber. Sind sie als Ordnungswidrigkeiten ausgestaltet, so bedeutet das, dass der Schuldvorwurf die Sphäre des Ethischen noch nicht erreicht. Demgemäß fehlt der Geldbuße – so drückt es das Gericht aus – „der Ernst der staatlichen Strafe“. Der Volksmund nennt den Bußgeldbescheid deshalb freundlich ein „Knöllchen“. Es liegt bloß ein Ungehorsam gegen „technisches“ Recht vor und die Rechtsordnung antwortet darauf mit einer „Pflichtenmahnung“. Dass es bei der Frage nach der Rechtsnatur einer Sanktion primär um einen Akt gesetzgeberischer Wertung geht, kann man besonders gut am Straßenverkehrsrecht verdeutlichen: Autofahren im fahruntüchtigen Zustand ist verboten, weil es massiv sozialschädlich ist. 0,5 ‰ am Steuer sind aber „nur“ ordnungswidrig, es sei denn es käme zu einem alkoholbedingten Fahrfehler. Erst ab 1,1 ‰ begeht man zwingend eine Straftat. Die unterschiedliche Gewichtung des Rechtsverstoßes erfolgt hier sogar anhand numerisch berechenbarer Grenzwerte. Die Unrechtsformen gehen fließend ineinander über.

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Gleichwohl hat die Grenzziehung wesentliche Auswirkungen auf das Verfahrensrecht. Für Ordnungswidrigkeiten sieht das Gesetz eine einfache und standardisierte Sanktion vor – die Geldbuße und Punkte in Flensburg. Die Sanktion wird in einem entsprechend einfachen Verfahren verhängt. Sanktioniert wird prinzipiell schriftlich, per Bußgeldbescheid. Bei Einsprüchen entscheidet das Amtsgericht. Berufung gibt es nicht. Ruckzuck, einfach und klar, das ist die Stärke des Ordnungswidrigkeitenrechts. Aber die Unterschiede gehen noch weiter: Solange der Rechtsverstoß als eher „technisch“ angesehen wird, ist auch die „Pflichtenmahnung“ technischer Natur. Weil die „Sphäre des Ethischen“ nicht erreicht wird, ist die Sanktionspraxis im Ordnungswidrigkeitenrecht so offen für Praktikabilitätserwägungen aller Art, für Kosten-Nutzen-Kalkulationen, ja sogar für vollständig entformalisierte Prozeduren. Natürlich kann die Polizei vor einem Kindergarten alle Temposünder anhalten und diese – statt Bußgelder zu verhängen – von den Kindergartenkindern ansprechen lassen, um ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Das klappt erfahrungsgemäß sogar ziemlich gut. Aber ist das auch das richtige Modell für die Wirtschaftskriminalität? Die Unterschiede zwischen der Verfahrensordnung im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht sind weder zufällig noch sind sie beliebig. Sie haben ihre gute Begründung im Unterschied der beiden Sanktionsformen. Das Opportunitätsprinzip, die weitgehende Schriftlichkeit des Verfahrens, die Offenheit für verfahrensbeendende Absprachen und formlose Prozeduren, all das hat im Recht der Ordnungswidrigkeiten nicht zufällig seinen angestammten Platz. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass die wichtigsten Fehlentwicklungen bei der Sanktion von Unternehmensstraftaten gerade an dieser Stelle zu verzeichnen sind. Gemeint sind die vielfach kritisierten Deals hinter verschlossenen Türen, die Ungleichheit in der Rechtsanwendung, eine exzessive Kronzeugenregelung im Kartellrecht, die wir im Strafrecht so niemals tolerieren würden, und eine Sanktionspraxis, hinter der böse Zungen mancherorts eher fiskalische als kriminalpräventive Motive vermuten. Was wollen wir vernünftigerweise erreichen, wenn wir Unternehmen sanktionieren? Die öffentlichen Kassen mit Geld zu fluten ist kein legitimer Strafzweck. Damit kommen wir zum zweiten meiner Stichworte, zum Stichwort „Flexibilität der Sanktionen“. Das Bußgeldrecht mag zwar verfahrenstechnisch beweglich daher kommen, bei den Sanktionen erweist es sich als denkbar unflexibel. Es kennt eigentlich nur „Ja“ oder „Nein“, nicht aber die Möglichkeit, durch eine Sanktion oder durch den Verzicht auf eine Sanktion über längere Zeit steuernd einzuwirken.

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Dass im Bußgeldrecht nur einfache und standardisierte Sanktionen vorgesehen werden, ist vor dem Hintergrund seiner Verfahrensordnung konsequent. Für Geldbußen ist im Gesetz ein Fixbetrag genannt. Die Geldbuße nach § 30 OWiG beträgt für Unternehmen heute im Fall einer vorsätzlichen Straftat bis zu zehn Millionen Euro, bei Fahrlässigkeit bis zu fünf Millionen Euro. Individuelle Abweichungen berücksichtigt das Gesetz nicht. Das bleibt dem Ermessen des Rechtsanwenders überlassen. Die Millionenbußen, die von Zeit zu Zeit durch die Medien gehen – zuletzt zahlte eine Schweizer Bank an die Staatsanwaltschaft Bochum mehr als 300 Millionen Euro Bußgeld –, kommen nicht zustande, weil jemand die wirtschaftliche Schlagkraft des Unternehmens individuell eingeschätzt oder eine Sanktion individuell bemessen hätte, so wie es bei einer richtigen Geldstrafe der Fall wäre. Die Rekordbeträge beruhen sämtlich auf Abschöpfungsmaßnahmen. Im jüngsten 300-Millionen-Fall, der aufgrund der Tatzeit noch nach altem Recht entschieden werden musste, betrug die eigentliche Buße – der sogenannte Ahndungsteil – wie im Fall Siemens eine Million Euro. Der Rest war Abschöpfung des unrechtmäßig erwirtschafteten Gewinns aus systematischer Steuerhinterziehung. Das wäre nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Strafrecht gerade keine Strafe gewesen sondern eine bloße Kondiktionsmaßnahme, der Ausgleich einer ungerechtfertigten Bereicherung. Dass derart berechnete Geldbußen große, finanziell potente Unternehmen anders treffen als kleine mit geringem wirtschaftlichem Spielraum liegt auf der Hand. Das erwähnte Schweizer Geldhaus steigerte trotz der Bußgeldzahlung von 300 Millionen Euro seinen Gewinn im entsprechenden Quartal übrigens um 15 Prozent. Deshalb ist auch nicht viel damit gewonnen, dass der Bußgeldrahmen kürzlich auf 10 Millionen Euro erweitert wurde. Selbst wenn man ihn erneut anheben würde, wäre damit das Problem nicht bewältigt. Je weiter der Bußgeldrahmen, desto bedenklicher wird die Sache rechtsstaatlich, wenn kein strukturiertes Strafzumessungsrecht das Ermessen der Verfolgungsbehörden einhegt. Und ein klar strukturiertes Strafzumessungsrecht kennt das Bußgeldrecht bis heute nicht. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Es gibt auch eine andere Seite und die ist vielleicht sogar die Wichtigere: Die Einstellung gegen Auflage, selbst gegen eine Auflage zur Schadenswiedergutmachung, ist gemäß § 47 OWiG ausdrücklich verboten. In einem einfachen Verfahren für einfache Sanktionen sind verhaltensleitende Maßnahmen, zumal wenn sie überwacht und bewertet werden müssen, umständlich und zeitraubend. Da die ethische Gewichtung des Tatvorwurfs nicht im Mittelpunkt steht, verfährt das Gesetz auch hier rein pragmatisch. Das hat praktische Auswirkungen. Wir wissen aus einer rechtstatsächlichen Untersuchung, dass Staatsanwaltschaften Compliance-Programme, die wäh-

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rend oder nach der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens eingeführt oder modifiziert werden, nur in Ausnahmefällen bei der Bemessung der Bußgelder für Unternehmen berücksichtigen. Das Strafrecht ist in solchen Fragen deshalb flexibler und zukunftsorientierter, weil es den formalen Rechtsverstoß nicht nur technisch abarbeiten will. Es will auch ethisch wirken, es will Verhalten leiten und formen. Es kennt eigene Instrumente des Sanktionsverzichts, die sich gezielt spezialpräventiv auswirken. Diese Instrumente stehen uns für die Unternehmenskriminalität derzeit nicht zur Verfügung. Wir halten das für falsch und haben in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen, es zu ändern. Man kann das Konzept der Therapie- und Wiedergutmachungsauflagen, mit denen wir im Individualstrafrecht seit Jahrzehnten erfolgreich arbeiten, an die Besonderheiten einer Verbandsstrafe anpassen. Das ist gar nicht so schwierig. Es erfordert allerdings eine Abkehr vom bequemen Ordnungswidrigkeitsverfahren. Unser Programm beginnt mit einer Vorschrift, die die Verfahrenseinstellung ermöglicht, wenn schon durch eine ausländische Strafverfolgungsbehörde eine geeignete Umstrukturierung eines Unternehmens veranlasst wurde und wenn dies entsprechend überwacht wird. Das wäre eine komplette Neuheit im deutschen Recht, aber im Zeitalter der Globalisierung nur vernünftig. Es geht weiter mit einem starken Opferschutzakzent: Wir sehen vor, dass ein Verfahren bei Wiedergutmachung des angerichteten Schadens eingestellt werden kann. Wir schlagen vor, dass mit Zustimmung des Unternehmens ein Compliance-Plan erstellt wird, der überwacht wird und im Falle der Umsetzung binnen einer angemessenen Frist zu Einstellung des Verfahrens führt. Auch nach Anklageerhebung wollen wir das noch zulassen. Manchmal gilt auch für Unternehmen und Verbände: Besser spät als nie! Solche Maßnahmen können und sollen erhebliche Umstellungen in einem Verband auslösen. Das geht natürlich nicht ohne Rechtsschutz. Deshalb haben wir einen Verfahrensrahmen vorgesehen, der eine gerichtliche Kontrolle zwingend vorsieht. Wenn das Unternehmensstrafrecht modern und präventionseffizient wirken soll, muss es sich freischwimmen von seinem Image der „Mauschelei im Hinterzimmer“. Die justizielle Kontrolle muss – jedenfalls in gravierenden Fällen – in einer Hauptverhandlung stattfinden, die nicht vor dem Amtsgericht, sondern vor einer Wirtschaftsstrafkammer im Landgericht stattzufinden hat. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich: „In gravierenden Fällen“. Im Schrifttum ist vereinzelt vorgeschlagen worden, grundsätzlich alle Verfahren bei Unternehmenskriminalität vor dem Landgericht zu führen. Das halte ich für übertrieben und obendrein ist es ineffektiv.

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Hier weist uns das rechtsstaatlich ausdifferenzierte Strafprozessrecht gut gangbare Wege. Wir müssen nicht alles neu erfinden, weder im Strafzumessungsrecht noch in der Prozessordnung. Wir können an viele bewährte Regeln anknüpfen. Warum sollen nicht auch Verbände einen Strafbefehl erhalten, wenn alle wesentlichen Umstände aufgeklärt sind und weder Gründe der Spezial- noch der Generalprävention die Durchführung einer Hauptverhandlung gebieten? So ist es in Ziffer 175 der Richtlinien für das Strafverfahren geregelt. Ich sehe keinen Grund, es nicht auch bei Unternehmen so zu halten. Wir wollen niemanden ohne Not an den Pranger stellen. Wir wollen ein Unternehmensstrafrecht mit Augenmaß. Zum Augenmaß gehört im Gegenzug allerdings auch Entschiedenheit bei schweren und schwersten Verfehlungen. Der Eifer, mit dem manche Verbandsvertreter gegen unseren Vorschlag Sturm laufen, schwerkriminelle Wiederholungstäter aus dem Verkehr zu ziehen, wundert mich. Hier sind offenbar Abwehrreflexe am Werk, die über Jahrzehnte unkritisch kultiviert wurden. In Fällen, in denen aus der Chefetage eines Unternehmens – trotz vorangegangener Sanktionen – Straftaten beharrlich wiederholt werden, liegt konsequentes und strenges Durchgreifen im ureigenen Interesse der redlichen Wettbewerber. Unsere Mittelstandsvertreter beklagen sich mit Recht über die mit Wirtschaftsstraftaten verbundene Wettbewerbsverzerrung. Ich komme zum Schluss und zu meinem dritten und letzten Stichwort: Es lautet „Ehrlichkeit“. Zur Ehrlichkeit im Umgang mit Unternehmenskriminalität gehört zunächst einmal, dass man mangelhafte und ungerechte Rechtsanwendung nicht weiter beschönigt. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch die Frage, wieso ausgerechnet für die potentesten und wichtigsten Akteure im Wirtschaftsleben, die ihre „Unternehmensethik“ längst als Marketingargument entdeckt haben, ein Sanktionsrecht vorgehalten wird, das ethische Dimensionen bewusst ausspart. Für den Wiener Satiriker Karl Kraus war die Lage klar. Als einer seiner Studenten erklärte, er wolle Wirtschaftsethik studieren, kommentierte Kraus: „Herr Kollege, Sie werden sich für eines von beiden entscheiden müssen.“ Ich glaube, Karl Kraus hat Unrecht. Wirtschaftsethik ist möglich. Wirtschaftsethik ist das Konzept der Zukunft. Wir leisten uns ein Sanktionsrecht, dass darauf hinausläuft, den ethischen Unwert einer unternehmensbezogenen Straftat aus dem Unternehmen „outzusourcen“. Für das Unwerturteil sucht man sich einfach einen Mitarbeiter als bequemes „Bauernopfer“. Das sollten wir ändern. Es ist möglich. Man muss es nur wollen. (neue Seite)

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Diskussion Diskussion Diskussion Jens Bülte Ich habe folgende Frage an Sie: Ich habe Sie so verstanden, dass Sie auch deswegen auf das Strafrecht hinauswollen, weil Sie das Legalitätsprinzip – das ist einer der Gründe – ins Spiel bringen wollen? Der andere Punkt ist die Frage der Transparenz. In beiden Punkten frage ich mich, ob das ausreichend ist im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, um Strafrecht wirklich zu rechtfertigen. Ich bin allein aufgrund meiner wissenschaftlichen Herkunft – von Dannecker – ein großer Befürworter der Verbandsstrafe, auch im Strafrecht, überhaupt keine Frage. Dass es die Österreicher gemacht haben, halte ich für völlig richtig. Aber mit dieser Begründung: „Wir wollen das Legalitätsprinzip. Wir wollen Transparenz. Wir wollen nicht mehr, dass die Ordnungswidrigkeit, die Geldbuße berechenbar ist“? Da glaube ich, dass wir in einem Bereich sind, wo der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht eingehalten ist. Ich kann nicht Strafrecht schaffen, weil ich praktische Notwendigkeiten sehe, sondern ich muss Strafrecht machen, weil ich der Meinung bin, dass das bekämpfte Verhalten einen sozial-ethischen Unwertgehalt beinhaltet. Insofern glaube ich, dass der Weg richtig ist, aber die Begründung passt nicht. Martin Waßmer Herr Kutschaty, ich stimme Ihnen im Ergebnis, dass das eine rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers ist, vollkommen zu. Das ist dem Gesetzgeber auch unbenommen, ob er das machen möchte oder nicht, aber er muss natürlich gewisse Strukturen einhalten und wesentlich ist das Schuldprinzip. In dem bisherigen Entwurf, das sehe ich anders als bei § 30 OWiG, sehe ich nicht, wie das verfassungsrechtlich haltbar sein soll. § 30 OWiG setzt ja voraus, dass wir das Verschulden eines Entscheidungsträgers haben, also einer Leitungsperson. In dem bisherigen Entwurf ist es ja so, da wird eine Zuwiderhandlung vorausgesetzt. Es steht ja in der Begründung ausdrücklich drin, es wird keine Verhängung einer Kriminalstrafe gegen diesen Entscheidungsträger gefordert, also kein Verschulden. Das soll ja dann auch das Organisationsverschulden sein. Es mag viele Fälle geben, wo es tatsächlich ein Organisationsverschulden gibt, das wir irgendwie konstruieren können, aber es mag genauso viele Fälle geben, wo das überhaupt nicht der Fall ist, weil eben die Person jahrelang zuverlässig gearbeitet hat und plötzlich für das Unternehmen eine Straftat begeht. Da sehe ich das nicht. Dann hätte ich noch eine kurze Nachfrage und zwar zu dieser Studie, die Sie angefertigt hatten. § 30 OWiG erfasst ja nicht nur als vorgelagerte Tat an die angeknüpft

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wird nicht nur eine Straftat, sondern auch eine Ordnungswidrigkeit. Ist da differenziert worden? Wurde nur erfasst, ob Straftaten begangen worden sind? Weil wir haben ja noch eine zweite Statistik, wo man schauen kann – das ist das Gewerbezentralregister, weil alle Geldbußen über 200 Euro werden eingetragen und ich meine gelesen zu haben oder der Statistik zu entnehmen, dass es ungefähr 3000 Geldbußen in ganz Deutschland im Jahr gibt. Ein letzter Punkt wäre die Frage – Sie hatten es ja angesprochen mit der … es ist ja praktisch so, dass man die Sanktionen verschärft. Das wäre ja noch ein Gedanke, der in dem Entwurf drin ist. An was ist daran gedacht? Ist es so wie im Kartellrecht, dass man es dann wie im OWiG eine Umsatzabhängigkeit rein bekommt, wenn man es nicht als Straftat fasst? Also falls kein Verbandsstrafrecht kommen wird, ob man die Sanktion umsatzabhängig ausgestaltet um eine schärfere Wirkung zu haben? Cornelius Prittwitz Herr Kutschaty, ich stimme Ihnen zu, dass die Geschichte und die Tradition des Strafrechts für sich genommen kein valides Gegenargument sind gegen ein Unternehmens- oder Verbandsstrafrecht. Ich stimme Ihnen auch zu, dass die Verfassung jedenfalls nicht als Totschlagsargument verwandt werden sollte. Dass verfassungsrechtlich argumentiert wird über die Pros und Cons eines solchen Vorschlags, scheint mir auf der anderen Seite im Verfassungsstaat selbstverständlich. Eine Anmerkung und eine Frage. Die Anmerkung haben wir vorhin in der Pause schon kurz besprochen: Ob nicht jenseits der Punkte, die Sie als entscheidende Gründe für Ihren Vorschlag genannt haben, nicht doch der symbolische Aspekt hinzu kommt, dass man das Ganze dann wirklich Strafrecht nennen darf, mit allen Implikationen, die für die Öffentlichkeit, die Strafe fordert, wo Schlimmes passiert, ob diese symbolische Funktion nicht doch gewichtigerer ist als die eher instrumentellen Aspekte, die Sie erwähnt haben. Wenn das so ist, wenn auf den symbolischen Charakter des Strafrechts in erster Linie abgestellt wird, dann muss man sich fragen: Woher hat das Strafrecht diese Symbolkraft? Meine Behauptung wäre: Das Strafrecht hat diese Symbolkraft gerade, weil es verbunden ist mit der Frage persönlicher Verantwortlichkeit. Und ich behaupte weiter, dass man, wenn man diese Symbolkraft benutzt für ein ganz anderes Unternehmen – das Unternehmen Unternehmensstrafbarkeit – dass man dann die Symbolik benutzt und ihr gleichzeitig den Boden unter den Füssen wegzieht. Aber das ist eine Einschätzung. Natürlich kann der Gesetzgeber dies durchaus tun, er muss dann nur Verantwortung dafür übernehmen. Meine Frage ist eine andere: Ob Sie die Alternativen zu Ihrem Vorschlag geprüft haben, präziser gefragt, wie genau Sie Alternativen geprüft haben im Bereich ent-

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weder der Reform des Ordnungswidrigkeitsrecht oder aber – eine Ebene darunter – die Frage, was mache ich mit Staatsanwaltschaften, die so wenig ermitteln? Es gibt ja doch gewisse Möglichkeiten, die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften anzuregen und das wäre meines Erachtens unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit eine mildere Maßnahme, die unter Umständen erfolgsversprechend sein könnte, vor allem wenn das Ordnungswidrigkeitsrecht in Zukunft noch stärkere Sanktionen enthält. Clemens Trautmann Ich bin hier als Vertreter eines Internetunternehmens und von daher wahrscheinlich in diesem Diskurs und der Ideologie des Festhaltens an Grundsätzen der Strafrechtsdogmatik relativ unverdächtig. Ich möchte gerne, Herr Minister, die Frage aufwerfen, ob das Gesetzgebungsvorhaben, das Sie vorantreiben, nicht rückwärtsgewandt und antiquiert ist und auf tatsächlichen Befunden beruht, die so vielleicht aktuell noch existieren, aber in so radikalem Wandel begriffen sind, dass es schlechthin nicht sinnvoll ist, darauf ein Gesetzgebungsvorhaben zu stützen. Ich hatte hier im vergangenen Jahr die Gelegenheit zu sprechen über Digitalisierung, Unternehmenskultur und deren wirtschaftsethische Dimensionen und habe einige Aspekte aufgezeigt, die sozusagen einer organisierten Unverantwortlichkeit, das ist ja sozusagen der Grundgedanke des Vorhabens, derart entgegenstehen, dass ich tatsächlich meine, man sollte auch unter diesem Aspekt, nicht nur aus dogmatischen Gesichtspunkten, sondern auch aus (rechts-)tatsächlichen Gesichtspunkten das Vorhaben noch einmal überdenken. Das betrifft im Prinzip drei große Bereiche. Das betrifft das Thema der Mitarbeitereinbindung, die in digitalen Unternehmen – und auch etablierte Konzerne bewegen sich ja unter dem Druck von disruptiven Erfindungen und Entwicklungen sehr stark in diese Richtung – sehr viel stärker ist und sehr viel stärker auf individuelle Initiativen setzt. Das betrifft des Weiteren ein ganz neues Wissensmanagement in einem Enterprise 2.0, wo durch Enterprise Data Warehouses jedem Entscheidungsträger in jeder Hierarchiestufe alle Unternehmensdaten gleichermaßen zur Verfügung stehen. Das betrifft außerdem das Stichwort softwaregestützte Prozesse, was bedeutet, dass im Prinzip jeder Handgriff, den ein Mitarbeiter tut, aufgezeichnet wird bzw. er es – nicht weil er gehalten ist, sondern von sich aus im Sinne dieses neuen Wissensmanagements – für erstrebenswert hält, alle Schritte, die er macht, alle neue Entwicklungen, neue Versuche, neue Produkte, AB-Testing zum Beispiel in einem WikiSystem zu dokumentieren. Insofern glaube ich, dass da die Grundlage zusehends entfällt, nicht mehr auf individuelle Verantwortlichkeit zu gehen, sondern den Verband in Haftung zu nehmen. Ich wäre dankbar, wenn Sie dazu kurz Stellung nehmen könnten.

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Stefan Kirsch Ich versuche mich ganz kurz zu fassen, denn ich bin in einem zentralen Punkt – anders als viele hier im Raum – zunächst ganz bei Ihnen, Herr Kutschaty, weil ich denke, dass das Schuldprinzip als Verfassungsprinzip der Einführung einer Verbandsstrafbarkeit nicht entgegensteht. Und im Grunde finde ich die Idee einer Verbandsstrafbarkeit nicht zuletzt vor dem Hintergrund dessen, was uns Herr Hörisch zu Beginn der Tagung zum Phänomen der „Personalisierung“ berichtet hat, sogar ganz sympathisch. Denn wir sind es als Strafrechtler im Rahmen der Zurechnung zwar gewohnt nur über individuelle Schuld – also über Personen und nicht über Verbände, Strukturen und Systeme – zu reden, wissen aber doch genau, dass die einzelne Person und ihr Verhalten oft gar nicht zu erklären und verstehen ist, wenn man die Strukturen außer Acht lässt, in denen die Person eingebunden ist. Auch wenn man also nicht befürchten muss, dass wir in Deutschland „unschuldige“ Individuen als Repräsentanten eines „schuldigen Verbandes“ nur deswegen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen, weil wir kein Verbandsstrafrecht haben, wäre es also vielleicht gar nicht schlecht, wenn wir uns über ein Verbandsstrafrecht diesen blinden Flecken wieder zuwenden würden. Ich glaube aber – und hier setzt meine Kritik an dem Projekt an –, dass wir eine gewisse Weisheit des Schuldprinzips am Ende nicht aus den Augen verlieren sollten und ich versuche zu erklären, was ich meine. Wenn ich Berichte von amerikanischen Kollegen und vor allem Ökonomen höre, dann sagen die: „Wir sind – was den Gebrauch von Verbandssanktionen angeht – schon wieder auf dem Rückweg“. Weil die Steuerungsfähigkeit gleich null geht, denn am Ende zahlen nicht diejenigen die Zeche, die eine Regelverletzung zu verantworten haben, sondern die Mitarbeiter des Unternehmens, die Aktionäre, die Versicherungen oder wer auch immer, und die, die zu entscheiden haben, entscheiden munter weiter. Mit der Einführung der Verbandsstrafbarkeit trennt man also Entscheidungsmacht von Lastentragung, und dass das steuerungstheoretisch nicht besonders sinnvoll ist, kann ich auch als Nicht-Ökonom gut verstehen. Ich glaube also, dass die Einheit von Entscheidung und Lastentragung eine Weisheit des Schuldprinzips darstellt, von der wir uns nicht verabschieden sollten, weil wir mit dem Schuldprinzip ja schon Präventionskategorien irgendwie mitdenken. Denn auch wenn man Schuld nicht rein präventiv rekonstruieren will, macht es wenig Sinn, jemanden normativ „anzusprechen“, der nicht ansprechbar ist, weil jemand anderes die Zeche zahlt. Deswegen ganz kurz meine Frage: Haben Sie sich solche Überlegungen schon einmal gemacht und nehmen Sie solche Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten, die ja schon länger mit dem System arbeiten und sagen „So toll funktioniert es irgendwie auch nicht“, in Ihre Erwägungen mit auf?

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Renate Wimmer Herr Prof. Prittwitz hat genau das Stichwort gegeben: andere Alternativen findet man in Gesetzentwürfen immer: keine. Vielleicht ist doch der Ausbau des Ordnungswidrigkeitenrechts eine solche Alternative. Wenn immer gesagt wird, die Staatsanwaltschaften schritten nicht ein, weil sie sich auf das Opportunitätsprinzip zurückziehen könnten, meine ich, dass das nicht zählt, weil dieses Nicht-Einschreiten, das – da gebe ich Ihnen absolut Recht – zum Teil tatsächlich praktiziert wird, nicht gerechtfertigt ist durch das Opportunitätsprinzip. Schließlich würde auch niemand ernsthaft überlegen, bei einem Rotlichtverstoß das Knöllchen nicht zu erteilen. Ich meine daher, dass man nicht in Erwägung ziehen kann, bei einen dicken Bestechungsfall im Unternehmen kein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen das Unternehmen einzuleiten. Das wäre meines Erachtens schlichtweg rechtswidrig. Die Staatsanwaltschaften tun dies auch nicht bewusst, etwa weil sie sich denken: „Jetzt leite ich hier kein Verfahren ein“. Nein, ich denke, dass man sich streckenweise schlicht überhaupt keine Gedanken darüber macht, weil man die Möglichkeiten der §§ 30, 130 OWiG nicht kennt. Aber hier könnte man ansetzen. Wir tun das auch in Bayern bei unseren Einführungstagungen. Wir lehren die jungen Staatsanwälte, die neu in Wirtschaftsstrafsachen tätig sind, regelmäßig den Umgang mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht und ich meine, es hat auch schon Früchte getragen. Ich bekomme zumindest immer mal wieder Anrufe von den Behörden, die nach Mustern anfragen. Ich erlebe aber auch immer wieder in der Deutschen Richterakademie, dass es durchaus Kollegen gibt, die sagen: „Was erzählt die mir eigentlich? Das brauche ich eh nicht, das wende ich eh nicht an. Ich habe keine Kapazitäten.“ Ähnliche Erfahrungen haben auch die österreichischen Kollegen nach der Einführung des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes gemacht, wenn man einer Studie der Universität Wien Glauben schenken kann. Nach dieser Studie sind es schlichtweg Vollzugsdefizite. Hier müsste man ansetzen: die Vollzugsdefizite beseitigen und natürlich auch – da gebe ich Ihnen absolut Recht – im Ordnungswidrigkeitenrecht nachjustieren. Was Letzteres betrifft, werden viele Aspekte eine Rolle spielen müssen, die in Ihrem Gesetzentwurf, Herr Minister, vorgesehen sind. Denn dieses Regelungswerk, das wir aktuell haben, ist sicherlich nicht ausreichend, um Unternehmen hinreichend zu sanktionieren. Da könnte ich viele Aspekte nennen, und einige Aspekte haben wir auch in unserem Aufsatz zu Ihrem Gesetzentwurf genannt. Darauf kann ich aber mit Hinblick auf die Zeit jetzt nicht näher eingehen. Sehr positiv stimmt mich natürlich als Praktikerin, wenn Sie sagen, dass auch personell nachjustiert werden könnte. Ich hoffe, der Staatsminister in Bayern sieht das auch so, weil ich natürlich gut mehr Staatsanwälte in der Abteilung gebrauchen könnte.

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Mark Wahrenburg Der letzte Beitrag fragt, ob es nicht mildere Mittel gibt, um das Gleiche zu erreichen. Ich glaube auch, dass man Unternehmen nicht an den Pranger mit Strafrecht stellen sollte. Aber ich glaube schon, dass es Sinn ergibt, sie mit empfindlichen Geldstrafen zu bedrohen. Eine Idee bestünde darin, Unternehmen haftbar für Individualstrafen ihrer Mitarbeiter zu machen. Jeder kennt das Beispiel Rolf Breuer, der zu einer Strafe verurteilt wurde, die er niemals persönlich bezahlen kann. In dieser Situation könnte das Unternehmen im Rahmen seiner Fürsorgepflicht für Mitarbeiter quasi zu einer Zwangsgarantie oder Versicherung dieser Zahlung verpflichtet werden. Also sprich: Wenn ein Mitarbeiter sich durch Korruption strafbar gemacht hat, eine sehr, sehr hohe Strafe im Bereich vieler Millionen zu zahlen hat, dann würde faktisch das Unternehmen bestraft. Die Lenkungswirkung ist exakt die gleiche, aber das Unternehmen steht nicht selbst als strafbares Subjekt am Pranger, sondern agiert nur als Haftungsgeber für das Tun ihrer eigenen Mitarbeiter. Thomas Kutschaty Vielen Dank für Ihre Fragen, meine Damen und Herren. Warum soll das Strafrecht Anwendung finden und der Komplex nicht im Ordnungswidrigkeitenrecht gelöst werden? Ich teile Ihre Einschätzung, dass es nicht reicht, dies allein mit dem Legalitätsprinzip zu begründen. Darauf habe ich es in meiner Argumentation auch nicht reduziert. Das Sanktionsrecht für Verbände muss vielmehr gleichmäßiger angewendet werden, es braucht klare Strafzumessungsregeln und Unternehmen, die in Compliance investieren, benötigen Rechtssicherheit. Das OWiG ist für einfache Rechtsverstöße und standardisierte Sanktionen gedacht. Wir brauchen im Bereich der Verbandstrafe aber ein passgenaues Modell, um intelligente Sanktionen mit präventiver Zielsetzung zu verhängen. Es wurde eben Österreich angesprochen. Die haben seit einigen Jahren ein solches Sanktionenrecht. Allerdings haben es die Österreicher bei ihrem Gesetz beim Opportunitätsprinzip belassen. Und dort haben wir aktuell eine große Diskussion, ob man mit Blick auf die niedrigen Fallzahlen zum Legalitätsprinzip wechseln sollte. Natürlich ist das nicht der entscheidende und alleinige Grund dazu, sondern es geht in der Diskussion auch um Fragen von Transparenz und Verhältnismäßigkeit. Ich halte die Verhältnismäßigkeit für gegeben. Denn Sie müssen die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten immer im Verhältnis setzen zu dem Schaden, der entstanden ist. Das haben wir gemacht, indem wir noch eine Kontrollberechnung eingezogen haben, anhand derer wir uns zwar bei der Festsetzung der Geldstrafe an der Ertragslage des Unternehmens orientieren, aber die Höhe haben wir auf maximal zehn Prozent des Umsatzes und

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nicht des Ertrages gedeckelt. Ich finde, dass die Verhältnismäßigkeit hierdurch gewährleistet ist. Dann wurden bei den Fragen noch die Komplexe Verschulden und Zurechnung einer Zuwiderhandlung eines einzelnen Entscheidungsträgers auf die juristische Person angesprochen. Ich glaube, wir haben mit § 2 Verbandsstrafgesetzbuch technisch eine ganz saubere rechtliche Lösung gewählt. Entscheidet sich der Gesetzgeber dafür Verbände strafrechtlich zu sanktionieren, ist er nicht an die Beschränkungen gebunden, die ihm das Schuldprinzip bei Menschen auferlegt. Er kann an Vorgänge anknüpfen, die der Verband zu verantworten hat, soweit er damit legitime Strafzwecke verfolgt. Das ist auch nicht neu, denn bereits § 30 OWiG ist eine Sanktionsnorm für Verbände, für die das Schuldprinzip gilt. Was die Statistik-Frage anbelangt, so haben wir die Zahlen bei den Staatsanwaltschaften erhoben. Vor allem bei kartellrechtlichen Ordnungswidrigkeiten werden von den Kartellbehörden natürlich deutlich mehr Bußgelder verhängt. Wir haben dagegen gezielt nach „Unternehmenskriminalität“ gefragt, also nach Tätigkeit bzw. Untätigkeit von strafrechtlicher Relevanz, die im Unternehmensbereich wurzelt oder im Unternehmensinteresse ausgeführt wird. Falls statt dem Gesetzentwurf eine Reform des Ordnungswidrigkeitenrecht kommt, kann ich Ihnen nicht sagen, ob man sich dann hinsichtlich der Sanktion am Umsatz oder an der Ertragslage orientiert. Mein Entwurf geht im Strafrecht nach der Ertragslage. Ich halte die Ertragslage auch für ein faireres Instrument als den Umsatz, weil es je nach Branche erhebliche Spannen zwischen Ertragslage und Umsatz gibt. Dass wäre tatsächlich ein Frontalangriff auf die Unternehmen, wenn die Sanktion nach Umsatz berechnet würde. Hinsichtlich der Anmerkung betreffend den symbolischen Charakter des Strafrechts geht es mir nicht um Symbolik. Gleichwohl leugne ich nicht, dass die Benennung einer Zuwiderhandlung im Strafrecht natürlich auch durchaus generalpräventive Aspekte beinhaltet. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde: „Ich verspreche mir dadurch nicht auch präventive Nachwirkungen“. Wenn man das Kind beim Namen nennt, ist das zwar nicht das zentrale Argument, aber es ist immerhin ein Grund, warum wir Strafrecht in Deutschland haben. Warum sollte das dann nicht auch in diesem Bereich gelten, wenn wir es natürlichen Personen entsprechend zumuten? Zu der Frage, ob auch Alternativen geprüft wurden und ob man nicht, um aus diesem Dilemma mit dem Opportunitätsprinzip rauszukommen, einfach die Staatsanwaltschaften anweisen könnte, solche Verfahren auch zu verfolgen. Als Justizminister muss man mit Weisungen an die Staatsanwaltschaft sehr aufpassen. Das ist – zumindest wenn es einen Einzelfall betrifft, eine Einzelfallwei-

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sung. Und das dürfte die erste und letzte Weisung eines Justizministers sein. Ich will ja aber noch als Amtsinhaber sehen, wie dieses Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet wird. Insofern bin ich da etwas zurückhaltender. Natürlich können allgemeine Weisungen erteilt werden. Das kennen wir auch bei der Frage, bei welchen Grenzwerten wir bei den Betäubungsmitteldelikten einschreiten. Solche allgemeinen Hinweise kann man natürlich geben. Das kann aber allenfalls die Probleme in Nordrhein-Westfalen lösen. Wir haben aber 16 Bundesländer und ob wir so zu einer einheitlichen Handhabung kommen, das ist fraglich. Wenn ich mir die Diskussion der vorletzten Justizministerkonferenz vor Augen führe, wann bei Verstößen gegen Betäubungsmitteldelikten sofort eingeschritten werden muss, hat sich gezeigt, dass es da die unterschiedlichsten Spannbreiten gab. Und wenn das schon im Kreise der 16 Landesjustizministerinnen und Landesjustizminister bei einem solch leicht zu überschaubaren Thema wie Verstoß gegen Betäubungsmittelgesetz nicht funktioniert, dann habe ich Zweifel, dass das hier funktionieren kann. Deswegen ist die aus meiner Sicht saubere Lösung eben nicht die Weisungen aus dem Ministerium, sondern die gesetzliche Grundlage, die man dafür schaffen soll. Ich glaube auch und teile Ihre Einschätzung, dass wir durchaus auch noch Schulungsbedarf haben in diesem Bereich, dass in vielen Fällen ein Nicht-Tätigwerden keine Bösartigkeit ist oder weil man jemanden ungeschoren davonkommen lassen will, ich glaube da sind die Staatsanwälte und Staatsanwältinnen in ganz Deutschland von jedem Zweifel erhaben. Ein solches Gedankengut ist da nicht verbreitet, jemand schützen zu wollen. Dass es einfach die Unkenntnis ist, so etwas haben wir noch nicht gemacht in unserer Behörde, wir wissen vielleicht auch gar nicht wie das so richtig läuft, was man da machen muss. Insofern ist es schon richtig und vernünftig dort auch Schulungen anzubieten und ich glaube, es hat sich zumindest in Nordrhein-Westfalen herum gesprochen bei unseren Staatsanwaltschaften, welch großes Interesse die Landesregierung an solchen Verfahren hat und ich glaube, das ist auch in anderen Bundesländern so. Wir sollten entsprechende Schulungen ausbauen in diesem Bereich. Das ist auch ganz wichtig. Ob Herr Kollege Bausback mehr Staatsanwälte einstellt, weiß ich nicht. Wir haben auf jedem Fall in unserem Haushaltsentwurf 2015 32 neue Stellen für die Verfolgung von Wirtschaftskriminalität eingesetzt. 22 Richterinnen und Richter und 10 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Ich glaube, das ist auch nötig, weil wir zunehmend auch aufpassen müssen, dass Strafverfolgungsbehörden auf Augenhöhe mithalten können, insbesondere auch mit Blick auf hochspezialisierte Verteidigerinnen und Verteidigern in diesem Bereich. Sie haben mich gereizt, als Sie den Fall Middelhoff ansprachen, allerdings darf ich Ihnen dazu leider nichts sagen, da es sich ja noch um ein nicht rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren handelt und es schickt sich nicht, dass ein

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Justizminister ausgerechnet aus dem Bundesland, in dem dieses Verfahren verhandelt wird, auch nur irgendeine Anmerkung zu diesem Verfahren macht, wenngleich einem natürlich vielen dazu auch einfällt in diesem Bereich. Ich glaube, hier geht es natürlich auf der einen Seite um persönliches Fehlverhalten, andererseits aber auch um die Frage, wie Unternehmensstrukturen und Wirtschaft unter Umständen heutzutage solches Verhalten begünstigen. Das ist, glaube ich, auch das, was Sie damit zum Ausdruck bringen wollten. Damit komme ich so ein bisschen zurück zu dem, was ich eingangs, ganz am Anfang meines Vortrages gesagt habe, nämlich der Mythos, dass Fehlverhalten individualisiert wird und die Unternehmen gar nichts dafür können, sondern es vielmehr der böse einzelne Mitarbeiter war. Auch da müssen sich Unternehmen Gedanken machen, welche Strukturen die Kriminalität möglicherweise begünstigt und welche Kontrollmechanismen bislang vielleicht nicht funktioniert haben in dem Unternehmen. Dann war noch die Frage offen, wer dafür zahlt. Treffen wir – so habe ich es jedenfalls verstanden – möglicherweise den Falschen oder die Falsche mit einer solchen strafrechtlichen Sanktion? Die Frage ist nicht neu für mich. Ich spitze sie sogar mal etwas zu: Was kann denn der Mitarbeiter dafür, wenn sein Unternehmen plötzlich eine hohe Geldstrafe zahlen muss und dann unter Umständen Arbeitsplätze als Konsequenz abgebaut werden müssen oder was kann der Aktionär dafür, der sich jetzt in guter Hoffnung, dass das Unternehmen an der Börse den Wert steigert und jedes Jahr eine ordentliche Dividende auszahlt, wenn diese Dividendenauszahlung in diesem Jahr nicht erfolgen kann, weil eine hohe Geldstrafe zu zahlen ist. Ob das das Unternehmen immer so hart trifft, weiß ich nicht. Ich habe es gerade mal an der Schweizer Bank deutlich gemacht, die es trotz dieser Zahlung von 300 Millionen Euro geschafft hat, ihren Gewinn nochmal um 15% in diesem Quartal zu erhöhen. Das mag sich möglicherweise ändern, wenn die Geldbeträge angehoben werden, aber hier, meine Damen und Herren, geht es uns darum, den Ehrlichen zu schützen. Wenn ich an Arbeitnehmerrechte denke, was sagt denn der Mitarbeiter eines Unternehmens, dessen Chef nicht durch Korruption an Aufträge kommt und deswegen Aufträge verliert und Arbeitsplätze abbauen muss. Das ist eine ähnliche Situation. Was sagt der Aktionär, wenn Gewinne sprudeln, er im Zweifel von der Korruption auch profitiert hat, indem sein Unternehmen mehr wert geworden ist? Wer sich ins Wirtschaftsleben begibt und Anteilseigner an Unternehmen wird, weil er Aktionär wird, der hat die Chancen, aber auch die Risiken zu berücksichtigen und im Zweifel muss er im Rahmen der Hauptversammlung darauf achten und nachfragen und sich erkundigen, welche Compliance-Strukturen eingezogen sind, welche Sicherungsmechanismen, welche Branche habe ich. Ist die Gefahr geneigt, dass dort etwas schief geht? Das sind alles Abwägungen, die man

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selbst als Privatanleger vor einer unternehmerischen Entscheidung treffen muss. Deswegen mag ich das nicht so richtig gelten lassen. Bei Ihrer Frage, Herr Wahrenburg, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe. Jedenfalls finde ich es schon etwas problematisch, wenn man ein Modell haben möchte, indem die Strafe als solche auf den einzelnen Mitarbeiter individualisiert wird und das Unternehmen sozusagen als Versicherung für den einzelnen Mitarbeiter eintritt und wenn dann eine Geldstrafe zu zahlen ist, weil etwas schief gelaufen ist im Unternehmen, dann nehmen wir strafrechtlich den einzelnen Mitarbeiter, aber treffen irgendwie so das Unternehmen doch noch wirtschaftlich, indem das Unternehmen verpflichtet wird, eine Garantenstellung für Fehlverhalten des einzelnen Mitarbeiters einzunehmen. Da muss ich sagen: das widerstrebt mir schon ein bisschen und gefällt mir deshalb nicht. Das ist diese klassische Bauernopfer-Theorie, indem man seine Verantwortung für das Gesamte durch Individualisierung abzuschieben versucht und sagt: „Das war ein irregeleiteter, wildgewordener Prokurist, der da irgendetwas gemacht hat und wir haben nichts damit zu tun und wir Armen müssen jetzt auch noch dafür bezahlen, für den, der so etwas gemacht hat“. Das würde falsche Impulse setzen in diesem System und nicht den Anreiz bieten, dass man sich bei den Unternehmensführungen Gedanken macht, wie man Kriminalität und Straftaten verhindern kann. Letztendlich ist es eine finanzielle Abwägung. Was erlaube ich oder was erlaube ich nicht und welches Risiko gehe ich ein? Deswegen habe ich da eine andere Einschätzung und würde das eher nicht favorisieren in diesem Bereich. Ich hoffe, ich habe Ihre Fragen jetzt weitestgehend beantwortet. Herzlichen Dank. Ach so: Digitale Welt, Entschuldigung. Ich weiß natürlich nicht, wie sich die digitale Welt weiterentwickeln wird. Ich kann auch nicht einschätzen, ob es dadurch weniger gefahrgeneigt ist, Straftaten in Unternehmensstrukturen zu haben. Ich kann Ihnen nur aktuelle Zahlen des Bundeskriminalamtes sagen. Die haben Mitte diesen Jahres in Wiesbaden im Rahmen einer Pressekonferenz mitgeteilt, dass die Korruptionsdelikte im Jahr 2013 um 33 Prozent gestiegen sind. Und wenn man sich vor Augen führt, dass die Digitalisierung nicht erst in drei Jahren beginnt, sondern schon vor ein paar Jahren angefangen hat, weiß ich nicht, ob das eine Schutzwirkung in dem Bereich entfaltet, ob durch die Digitalisierung andere Strukturen entstehen, die dafür sorgen, dass weniger passiert. Ich kann das nicht abschätzen, ich habe da aber eher Zweifel, dass das eine entsprechende Auswirkung haben wird. (Zwischenfrage aus dem Publikum: Wer ist da dabei?) Ich weiß nicht, wer da im Einzelnen dabei ist. Kann ich Ihnen nicht sagen, aber ich habe diesen Aspekt notiert und werde dieser Frage nochmal nachgehen. Mich ärgert, wenn

Diskussion

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ich Ihnen das heute nicht abschließend beantworten kann, welche Auswirkungen das hat, deswegen stelle ich mir die Frage selbst nochmal bzw. meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Matthias Jahn Das war wohl so ähnlich wie die große Fragestunde im Düsseldorfer Landtag. Wir sind dennoch mit einer maßvollen, akademisch fast schon gebotenen Verzögerung am Ende unserer Agenda angelangt. Sie werden es mir nachsehen, dass ich jetzt nicht versuche, unsere gesamte Tagung noch einmal in vier bis fünf etwas längeren und vermutlich recht gewundenen Hauptsätzen zusammenzufassen. Ich habe mich gefragt, ob sich Klaus Lüderssen gefreut hätte, wie wir diskutiert haben – und kann das mit einem eindeutigen Ja beantworten. Dies liegt an Ihnen, dies liegt aber auch an ihrem Diskussionspartner. Es ist ein guter Brauch in vielen Bundesländern, dass der Landesjustizminister Jurist ist. Das muss natürlich nicht so sein. Wenn es aber zudem noch ein Jurist ist, der als Anwalt auch in der Praxis gearbeitet hat, dann merkt man das an der Art und Weise, wie man miteinander ins Gespräch kommen kann. Das empfinde ich als Glücksfall. Trotzdem glaube ich nicht, dass jetzt alle hinter diese emphatische Überschrift, die Klaus Lüderssen diesem abschließenden Panel gestiftet hat, „Die bessere Zukunft“ nunmehr ein Ausrufezeichen setzen würde. Wir einigen uns vielleicht vorläufig darauf, dass es eine mögliche Zukunft sein könnte. Es gibt noch viele Fragen, über deren Beantwortung wir uns Stück für Stück einem Punkt nähern könnten, an dem man sagen mag, jetzt ist das Projekt Verbandsstrafgesetzbuch reif für die vollständig informierte, unmittelbar demokratische legitimierte Dezision.

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Die Teilnehmer des 7. ECLE-Symposions am 21./22.11.2014 in Frankfurt am Main

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RA Dr. Stephan Beukelmann Prof. Dr. Werner Beulke OStA Folker Bittmann Dr. Thomas Böckenförde Prof. Dr. Jens Bülte OStA Ulrich Busch-Gervasoni Prof. Dr. Andreas Cahn RAin Eva Dannenfeldt RA Peter Doll RA Dr. Felix Dörr RA Dr. Hanno Durth RA Dr. Jürgen Fischer RA Prof. Dr. Björn Gercke RAin Dr. Lara Gielok RA Prof. Dr. Ferdinand Gillmeister RAin Dr. Friederike Goltsche RAin Dr. Gina Greeve Prof. Dr. Andreas Hackethal Prof. Dr. Rainer Hamm RA Dr. Kai Hart-Hoenig RAin Angelika Haucke-D'Aiello Julius Henneberg RA Eckart C. Hild Prof. Dr. Jochen Hörisch Dr. Elisa Hoven RA Hans-Peter Huber Prof. Dr. Matthias Jahn, Richter am Oberlandesgericht RA Eberhard Kempf RA Dr. Stefan Kirsch Prof. Dr. Ralf Kölbel Prof. Dr. Ralf Krack Prof. Dr. Michael Kubiciel

Lohberger & Leipold Universität Passau Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau Universität Mannheim Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main Institute for Law and Finance Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte Clausen, Doll & Partner Rechtsanwälte Dr. Günter Dörr & Partner Kipper und Durth Rechtsanwälte Fischer & Euler Gercke Wollschläger Klinkert Rechtsanwälte Gillmeister Rode Rechtsanwälte Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte MGR Rechtsanwälte Goethe-Universität Frankfurt am Main HammPartner Rechtsanwälte Dr. Kai Hart-Hoenig Rechtsanwälte Rechtsanwaltskanzlei Haucke-D'Aiello und Kollegen Goethe-Universität Frankfurt am Main Kanzlei Eckart C. Hild Universität Mannheim Universität zu Köln Knierim Huber Rechtsanwälte Goethe-Universität Frankfurt am Main Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte HammPartner Rechtsanwälte Ludwig-Maximilians-Universität München Universität Osnabrück Universität zu Köln

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StS a.D. Christoph Kulenkampff Justizminister Thomas Kutschaty RA Dr. Klaus Leipold Prof. em. Dr. Klaus Lüderssen Prof. Dr. Marcus Mansdörfer RA Prof. Dr. Reinhard Marsch-Barner RAin Dr. Regina Michalke RA Reinhart Michalke Prof. Dr. Bernd Müssig RAin Malaika Nolde RA Dr. Stefan Petermann RAin Melanie Poepping Prof. Dr. Cornelius Prittwitz RA Dr. Roman Reiß RA Thomas Richter OStA Dr. Hans Ernst Richter Bundesanwalt a.D. Dr. Wolfram Schädler RAin Dr. Hellen Schilling Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy RA Dr. Christian Schoop Prof. Dr. Edward Schramm RA Prof. Dr. Lorenz Schulz Prof., Vorsitzender Richter am Landgericht a.D Dr. Thomas-Michael Seibert Prof. Dr. Georg Steinberg RA Dr. André-M. Szesny Dr. Clemens Trautmann RA Privatdozent Dr. Gerson Trüg RA Dr. Gerhard H. Wächter Prof. Dr. Mark Wahrenburg Prof. Dr. Martin Paul Waßmer OStAin Renate Wimmer OStAin Dr. Patricia Wüllner Dr. Sascha Ziemann

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JKW Integrity Services Land Nordrhein-Westfalen Lohberger & Leipold Goethe-Universität Frankfurt am Main Universität des Saarlandes Linklaters LLP HammPartner Rechtsanwälte Leitner & Partner Redeker Sellner Dahs Rechtsanwälte VBB Rechtsanwälte Eisenmann Wahle Birk & Weidner Deutsche Bank AG Goethe-Universität Frankfurt am Main Robert Bosch GmbH HammPartner Rechtsanwälte Staatsanwaltschaft Stuttgart RAe Dammeier & Gass Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte Universität des Saarlandes DLA Piper UK LLP Universität Jena Goethe-Universität Frankfurt am Main Goethe-Universität Frankfurt am Main

EBS Universität für Wirtschaft und Recht Heuking Kühn Lüer Wojtek Immonet GmbH Rechtsanwälte Bender Harrer Krevet Wächter Rechtsanwälte Goethe-Universität Frankfurt am Main Universität zu Köln Staatsanwaltschaft München I Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main Goethe-Universität Frankfurt am Main

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