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German Pages 387 [388] Year 1977
Günter Abel Stoizismus und Frühe Neuzeit
Günter Abel
Stoizismus und Frühe Neuzeit Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik
w DE
G 1978 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin e.V.
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutseben
Bibliothek
Abel, Günter Stoizismus und frühe Neuzeit : zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik u. Politik. — Berlin, New York : de Gruyter, 1978. ISBN 3-11-007262-9
1977 by W a l t e r d e Gruyter & C o . , vormals G . J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit & C o m p . Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und D r u c k : Walter de Gruyter ôc C o . , Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Für Angelika
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete und in den Anmerkungen ganz erheblich gekürzte Fassung meiner 1976 an der Freien Universität Berlin vorgelegten Dissertation. Mit dem Stoizismus der Frühen Neuzeit kam ich erstmals im Marburger Seminar von Herrn Prof. Dr. Gerhard Oestreich in Berührung, dem ich für seine fachkundige und wertvolle Unterstützung danken möchte. Mein Dank geht weiterhin an Herrn Prof. Dr. Michael Landmann und an Herrn Prof. Dr. Reinhard K. Maurer, beide Berlin, die in manch kritischem und förderlichem Gespräch an der Bearbeitung des Themas interessiert und beteiligt waren. Mein besonderer Dank aber gilt Herrn Prof. Dr. Alexander Schwan, Berlin. Er hat das Entstehen dieser Untersuchung sachkundig und offen begleitet und das Interesse an den behandelten Gegenständen stets auf die ihm eigene Art belebt und angeregt. Zu danken ist hier auch der Studienstiftung des Deutschen Volkes für die großzügige Gewährung eines Stipendiums, ohne das diese Arbeit nicht entstanden wäre. Vergessen möchte ich nicht Herrn Dr. Kurt Wassermann (f), dem ich den ersten Zugang zur Philosophie überhaupt verdanke. Berlin, im September 1977
Günter Abel
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Erster Teil I. Zur Gliederung
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II. Erneuerter Stoizismus und Frühe Neuzeit III. Stoische Lehrstücke in Humanismus und Renaissance
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Zweiter Teil IV. Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa (Justus Lipsius)
67
1. 2. 3. 4.
67 72 92 99
Stoizismus als praktische Philosophie Ethik und Politik Naturlehre und Vernunftgesetz Ordo in jubendo et parendo
V. Neustoizismus als Denk- und Handlungsform (Guillaume Du Vair)
114
1. Moralphilosophie und eigene Zeitsituation 2. Traktat über Standfestigkeit und Trost 3. Amtstätigkeit und Weltbild
114 125 145
VI. Im Vorhof skeptischen Rationalismus' und absoluter Monarchie (Pierre Charron)
153
1. 2. 3. 4. 5.
153 160 175 187 208
Menschenbild und Weitsicht Religiöse Apologetik und natürliche Begründung Weisheit als Preudhommie Stoische und skeptisch-relativistische Momente Moral und Politik
χ
Inhaltsverzeichnis
Dritter Teil VII. Aspekte des Wirkungszusammenhangs neustoischer Lehren
228
1. Neustoizismus und Ramismus 228 2. Erneuerte Stoa, Aristotelismus und Aristoteles 246 3. Neustoisches Denken in Frankreich zwischen 1580 und 1610/20 272
VIII. Zur philosophischen Kritik des Stoizismus bei G. W. F. Hegel 311 IX. Literaturverzeichnis
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Namen- und Sachverzeichnis
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Erster Teil I. Zur Gliederung Die hier vorgelegte Untersuchung ist von der Absicht getragen, gleichsam vom Ende der Neuzeit her etwas über deren anfängliche Konstitutionszusammenhänge zu erfragen. Dies geschieht in besonderer Konzentration auf die Bereiche Praktischer und Politischer Philosophie, um von dort aus die Veränderungen in der Welt- und Menschensicht sowie im Handlungsethos auszumachen, die die Neuzeit von der mittelalterlichen Welt abheben. Es geht also um die axiologischen und gnoseologischen Vorausentscheidungen, Perspektiven, Erwartungen und Motivationen, die der Mensch im Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur gesellschaftlichen (und staatlichen) und zur äußeren Natur aufbringt. In der fundamentalen Umstrukturierung der Lebens- und Geschichtswelt wird diejenige Leistung installiert, die wir als neuzeitliche Rationalität und als Neuzeit begreifen. Diese Entwicklung verläuft nicht sogleich über die Subjektivität des als Subjekt gedachten menschlichen Individuums, sondern zunächst wesentlich über die auf immanente, intransitive und endogene Rationalität gerichtete Autonomisierung der einzelnen Kultursphären (Wissenschaft, Kunst, Politik, Wirtschaft), in deren Zusammenhang dann die zugleich freisetzende und in die Kultursphären wiederum rückwirkende Subjektivierung auch des menschlichen Individuums steht. Unser Leitmotiv ist nun die Frage nach der Stellung eines unter diesen Zeitbedingungen erneuerten Stoizismus in Genesis und Funktionszusammenhang der frühneuzeitlichen Entwicklung. Der dabei herausgearbeitete Neustoizismus erscheint uns als ein wesentliches Bindeglied zwischen dem theoretischen Ursprung der neuzeitlichen Rationalität im Spätnominalismus und deren abstrahierender und philosophisch reiner Fassung bei den Wissenschaftlern und Philosophen des 17. Jahrhunderts. Neustoisch ist der Index jenes geschichtszeitlichen Zusammenhangs, der diese Umstrukturierung der Lebens- und Geschichtswelt trägt. Zur Darlegung dieses Vorgangs greifen wir auf den Späthumanismus und die Renaissancephilosophie des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts zu-
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rück und versuchen diese Entwicklung besonders am Beispiel Frankreichs, dem mit Blick auf die Entwicklung des Rationalismus und der Aufklärung eine bedeutende Stellung zukommt, aufzuweisen. Der Erste Teil der Untersuchung besteht aus zwei weiteren Abschnitten, von denen der folgende neben einigen Bemerkungen zur Forschungslage bereits eine grundsätzliche Erörterung des Zusammenhangs von (Neu)Stoizismus und Früher Neuzeit gibt. Dies geschieht wesentlich in Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Positionen von W. Dilthey ( der in seinem Konzept des „natürlichen Systems" einen unmittelbaren, konfliktfreien und konstitutiven Zusammenhang von römischem Stoizismus und Neuzeit erstellt) und H. Blumenberg (der für die Neuzeit jeden Bezug zur Stoa bestreitet). Von beiden Deutungen heben wir uns ab. Gegenüber Dilthey geschieht dies in der doppelten Hinsicht, daß neuzeitliche Rationalität nicht primäre, teleologische Natürlichkeit, und daß der Stoizismus der Frühen Neuzeit nicht einfach Erneuerung der antiken Stoa ist. Gegen Blumenberg stellen wir den Aufweis, daß der Neustoizismus im Bereich von Ethik und Politik etwa die Hobbessche Leistung eines Ubergangs der Selbsterhaltung als Trieb zur Selbsterhaltung als Vernunft durch eine Transformation des schon für die antike Stoa zentralen Zusammenhangs von Natur und Vernunft im Grundraster bereits aufbringt, und daß neustoische Momente an der Hobbesschen Konstruktion selbst nicht unbeteiligt sind. Dabei nehmen wir Blumenbergs Deutung der Neuzeit als „zweite Uberwindung der Gnosis" auf, versuchen aber in näherer Erörterung gerade die unterschiedene Zusammengehörigkeit von Stoizismus (aufgefaßt als Krisenphilosophie) und Gnosis in der Antike einerseits, von gnostischer Situation am Ausgang des Spätmittelalters und Neustoizismus am Beginn der Neuzeit andererseits herauszustellen. Im Sinne einer präziseren Einstimmung wird dann im dritten Kapitel auf einige Interpretamente und Zusammenhänge aufmerksam gemacht, die zum einen für den Humanismus und die Renaissancephilosophie von zentraler Bedeutung sind, und die zum anderen Lehrstücke darstellen, zu denen gerade die Stoa originäre Beiträge geliefert hat und die nicht selten die Mitte stoischen Denkens berühren. Der dreigegliederte Zweite Teil thematisiert zunächst anhand des Werkes von J . Lipsius den Ubergang eines philosophischen Späthumanismus zur praktischen Philosophie und weiterhin zur politischen Theorie im engeren Sinne. Mit Lipsius kommt es zu einer bewußten Erneuerung besonders des römischen Stoizismus im Interesse einer die Sicherung des
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Individuums voraussetzenden Verwirklichung des Ideals der Apathie und Ataraxie angesichts der Leben und Existenz des einzelnen Menschen bedrohenden Situation der Bürgerkriege, des Ordnungsschwundes, der Krise. Die instrumentale Bestimmung von Philosophie als eher technische Kunst der Lebensführung, die prophylaktische Praxisbezogenheit sowie die entschiedene Konzentration des Stoizismus auf den Menschen scheinen in besonderer Weise geeignet, der in den publicis malis gefährdeten und bedrohten individuellen Lebenswelt eine (endogene) Rationalität zu vermitteln. Um das Ideal der altstoischen Apathie und Ataraxie in der geschichtlichen Situation des späten 16. Jahrhunderts verwirklichen zu können, bedarf es für das Individuum einer ausgesprochen kämpferischstandfesten und aktiven Haltung. Die Disziplinierung zunächst des eigenen Selbst nach Maßgabe der Vernunft und in einem zweiten Schritt sodann auch die Forderung einer rationalen, immanent gesetzmäßigen Disziplinierung des sozialen und staatlichen Bereichs bilden die entscheidenden Strategien. Der politisch-staatlichen Ordnung kommt dabei eine herausragende Stellung zu, weil sie die geschichtlich erfahrene Krise überwinden und diese Überwindung durch ihre Leistung als Machtstaat stabilisieren und auf Dauer stellen soll. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muß die immanente Gesetzmäßigkeit der Politik beachtet werden, was zu einem bestimmten Spannungsverhältnis von Ethik und Politischer Klugheit führt. Lipsius versucht hier auf eigentümliche Weise die Eigengesetzlichkeit des Politischen unter Beibehaltung des ethischen Anspruchs zu fassen, wobei charakteristisch neuzeitliche Transformationen unausweichlich sind. Wir verfolgen diese Zusammenhänge bis in die politische Theorie im engeren Sinne, d. h. über die Laisierung des Staates und die neuzeitliche Disziplinierung bis in die Lehre politischen Handelns hinein, die neben einer Psychologie der Herrschaftssicherung zugleich in Gestalt des Beamtentums (Regierung und Verwaltung) und des Heerwesens die beiden Grundpfeiler des frühmodernen Staates entwickelt. Der Neustoizismus ist nun ineins Denk- und Handlungsform, und dieser Zusammenhang läßt sich an Leben und Werk G. Du Vairs besonders deutlich aufjveisen. Du Vair steht nicht nur aktiv im politischen Leben, sondern er verfaßt u. a. auch eine Darstellung und Erörterung der stoischen Moralphilosophie, die in Hinsicht auf die Psychologie der Affekte über die antike Stoa hinausgeht. Seine philosophischen Schriften und besonders seine Abhandlung über die Standfestigkeit und den Trost in den calamitez publiques bilden die Innenseite seiner politischen Erfahrungen und Handlungen. An Du Vair können wir sehen, daß und auf
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welche Weise die Aufnahme und Umsetzung stoischen Denkens in der geschichtlichen Situation wurzeln und in ihrer Funktion in einem konkreten Sinne an der Etablierung der absoluten Monarchie in Frankreich beteiligt sind. Das dritte Kapitel dieses Zweiten Teiles untersucht dann die Vermittlung und den Begründungszusammenhang von Anthropologie, Weltlehre, Sozialphilosophie und Politischer Theorie anhand des Werkes von P. Charron. Mit Charron befinden wir uns im unmittelbaren Vorhof zu skeptischem Rationalismus und absoluter Monarchie. Trotz aller Unzulänglichkeit und Krisenhaftigkeit der menschlichen Natur und der geschichtlichen Wirklichkeit nimmt Charron eine grundsätzlich positive Einschätzung des Menschen vor, und er entfaltet von der menschlichen Natur her das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu Anderen und zur äußeren Wirklichkeit. Die Immanentisierung und Säkularisierung der ,Weisheit' kommt über die Renaissancephilosophie bei Charron zu einem gewissen Abschluß.Ähnlich wie im Werk Charrons religiöse Apologetik und naturhafte -Grundlegung zueinander in Spannung treten, so scheinen auch axiomatische und skeptisch-relativistische Momente in seinem Denken unvereinbar gegeneinander zu stehen. In einem längeren Abschnitt gehen wir dem Verhältnis von Stoa und Skepsis im Denken Charrons nach und suchen gerade die Zusammengehörigkeit beider durch Aufweis der Ubereinstimmung der beiden Denkstilen vorausliegenden axiologischen Basis zu erbringen. Das spezifische Verhältnis von Zweifel und Gewißheit, wie wir es an Charron entfalten können, läßt dessen Gedanken in den Zusammenhang systematischer Skepsis und Gewißheit neuzeitlicher Subjektivität treten. Die philosophische Theorie steht nun der politischen keineswegs entgegen, sondern beide sind von Anfang an als zusammengehörig gedacht. Bedeutsam ist dabei die Dissoziation der Lebenswelt nach Innen und Außen, Privat und öffentlich. Trotz allen notwendigen Engagements im Felde des Politischen leiht sich der neustoische Weise nur der Öffentlichkeit, er gibt sich ihr nicht hin. Für ihn als naturgeadeltem Individuum hat der Staat einerseits keine universale Verbindlichkeit mehr, andererseits aber wird er als Ordnung von Befehl und Gehorsam dadurch legitimiert und sinnvoll, daß seine unterdrückende Ordnungsleistung gerade den neustoischen Weisen in seiner verinnerlichten Existenz sicherstellt. A m Gerechtigkeitsbegriff wird dieser Zusammenhang besonders greifbar. Die Entfaltung der Architektonik und Regierungstechnik der politischen Theorie im engeren Sinne führt diesen Zusammenhang in machtstrategischer Hinsicht aus.
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Der Dritte Teil unserer Untersuchung möchte (a) den Neustoizismus in seiner Beziehung zu den (etwa nach Keckermann) beiden wichtigsten Philosophien der Zeit, zu Ramismus und Aristotelismus, bestimmen, (b) am Beispiel Frankreichs im Zeitraum von 1580 bis 1610/20 zeigen, wie sehr und in welcher Weise der Zeitindex neustoisch ist, d. h. die einzelnen Lebens- und Kulturbereiche mit neustoischen Lehren durchsetzt sind, und (c) die Frage nach dem (Neu)Stoizismus in grundsätzlicher Perspektive aufnehmen, indem wir uns mit der philosophischen Kritik des Stoizismus bei Hegel auseinandersetzen. In einem ersten Kapitel geht es um das Verhältnis von Neustoizismus und Ramismus, wobei es uns unter formalem Aspekt auf den Nachweis ankommt, daß die Politica des Lipsius die ramistische Dichotomisierung zur Anwendung bringt. Inhaltlich gilt es die Bestimmung von Dialektik/Logik und Rhetorik bei Ramus im Zuge des logischen Anti-Aristotelismus als eine Hinwendung zu stoischen Vorstellungen aufzufassen und die ausgesprochen stoischen Interpretamente bei Ramus (besonders das Verhältnis von Natur und Vernunft) herauszuarbeiten. Den Gemeinsamkeiten von Neustoizismus und Ramismus steht allerdings ein entscheidendes Moment entgegen: Ramus klammert Ethik aus seinen Anstrengungen aus und läßt Philosophie in Logik/Dialektik aufgehen. Praktische und Politische Philosophie aber sind zufolge des Neustoizismus das Herzstück von Philosophie überhaupt. Es folgt das zweite Kapitel dieses Teiles zum Verhältnis von Neustoizismus und Aristotelismus, was die Inbezugsetzung einer Weltanschauung mit einer Schulphilosophie bedeutet. Obwohl die Peripatetiker in den Schulen herrschen, ist doch der Anti-Aristotelismus die für die Frühe Neuzeit kennzeichnendere Haltung. Dabei gilt es Aristoteles deutlich vom zeitgenössischen Aristotelismus zu unterscheiden. Der Neustoizismus hat ein gedoppeltes Verhältnis zur aristotelischen Lehre. Zum einen profitiert er und beteiligt sich selbst an den Angriffen auf Aristotelismus und Aristoteles, und zum anderen lassen sich innerhalb der zeitgenössischen Aristoteles-Rezeption selbst originär stoische Lehrstücke als bestimmend aufweisen. U m diesen Zusammenhang deutlich zu machen, gehen wir an einigen Stellen, auf Aristoteles selbst zurück. Die Entwicklung der aristotelischen phrónesis bis zur prudentia civilis bei Lipsius wird verfolgt, wobei gerade von der Warte der philosophischen Bestimmung von Ethik und Politik bei Aristoteles der immanente Zugewinn der Politik an Spezifität im neuzeitlichen Stoizismus in kritischer Perspektive in den Blick gerät.
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An diese Ausführungen schließt sich als drittes Kapitel ein mosaikhafter Abschnitt über die Durchdringung der einzelnen Lebens- und Kulturbereiche in Frankreich zwischen 1580 und 1610/20 mit neustoischen Lehren an. Gegen Ende dieses längeren Abschnitts folgen zwei Exkurse, zunächst zur antistoischen Argumentation von B. Pascal, und sodann zum Verhältnis von Stoizismus und entstehendem Kapitalismus am Beispiel des Mercator Sapiens (1632). Abschließend, dennoch aber zentral und gleichsam die bisherige Erörterung des Stoizismus ins Grundsätzliche treibend, setzen wir uns mit der philosophischen Kritik des Stoizismus bei Hegel auseinander. Dabei versuchen wir, sowohl die Hegels Philosophie immanenten Voraussetzungen seiner Kritik am Stoizismus freizulegen als auch das charakteristisch Unhegelsche am Stoizismus auszumachen. Ës ergibt sich von daher, daß Hegel bereits einen Stoizismus thematisiert, der im Kontext der neuzeitlichen Subjektivität steht, wodurch er, Hegel, zum einen einen indirekten Nachweis dafür gibt, daß Stoizismus und Neuzeit einen inhaltlichen Bezug haben (ähnlich wie später Nietzsche dies in seiner Stoizismus-Kritik tut), er damit aber zum anderen auch nicht den ganzen Gehalt stoischer Philosophie trifft.
II. Erneuerter Stoizismus und Frühe Neuzeit Im , Archiv für Geschichte der Philosophie' erschien 1892/93 W. Diltheys Abhandlung über Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, die besonders durch die Studie in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1904) über Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts erweitert wurde. Nach Dilthey hat die Erneuerung der römischen Stoa zusammen mit religiösen Ideen und den mathematisch orientierten Naturwissenschaften wesentlich zur Herausbildung des „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften" beigetragen, jener Lehre also, „nach welcher in der menschlichen Natur ein natürliches System der Religion und Sittlichkeit, des Rechtes und der wissenschaftlichen Wahrheit enthalten ist". Römische Stoa hilft bei der „Sprengung der kirchlich-feudalen Gesellschaftsordnung" des Mittelalters, wirkt befreiend hin auf das natürliche System. Dilthey sieht die Anstrengungen gut zweier Jahrhunderte als den Versuch, der natürlichen Tendenz, dem natürlichen System zum Durchbruch zu verhelfen. „In ihm liegt das lösende Wort für die Bedürfnisse des 17. Jahrhunderts. Seine Grundlage aber war die Lehre von Gemeinbegriffen, eingeborenen Begriffen oder elementaren Einsichten, auf welche eine rationale Theologie, Rechts- und-Staatswissenschaft und schließlich auch eine rationale Naturwissenschaft gegründet werden konnte", und genau dieser Vorgang der Grundlegung ist von der römischen Stoa beeinflußt. „Es liegen nach diesem System in der Menschennatur feste Begriffe, gesetzliche Verhältnisse, eine Gleichförmigkeit, welche überall dieselben Grundlinien von wirtschaftlichem Leben, rechtlicher Ordnung, moralischem Gesetz, Schönheitsregeln, Gottesglauben und Gottesverehrung zur Folge haben muß. Diese natürlichen Anlagen, Normen und Begriffe in unserem Denken, Dichten, Glauben und gesellschaftlichen Handeln sind unveränderlich und vom Wechsel der Kulturformen unabhängig. Sie beherrschen alle Völker, sie wirken in allen Gegenden. Die Autonomie des Menschen ist in ihnen gegründet." Gerade die Stoa kann eine solche Leistung erbringen, denn das „Verhältnis der Zeit zu der Stoa und der durch sie bedingten römischen Lebensansicht beruht vornehmlich darauf,
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daß hier ein Zusammenhang gegeben war, in welchem aus dem teleologischen Charakter des Weltzusammenhanges vermittelst der Lehre vom Menschen ein Inbegriff allgemeingültiger und unveränderlicher Regeln abgeleitet wurde, an welche jede Ordnung der Gesellschaft in Recht, Staat und religiösem Glauben gebunden ist." 1 Für die Konzeption des natürlichen Systems bei Dilthey ist es kennzeichnend, daß die Autonomieanstrengungen der Vernunft getragen sind von der Versicherung ihrer tiefen Natürlichkeit, ihrer natürlichen Teleologie. Es liegt gleichsam in der Natur selbst beschlossen, daß sich die Vernunft autonomisiert. Dilthey erhebt das teleologische Moment damit zum Grundmerkmal auch einer neuzeitlichen Rationalität und macht diese aus der Stoa ableitbar. Hinsichtlich des antiken Stoizismus ist Diltheys Einschätzung sicher treffend, denn für diesen sind die Naturteleologie und die Vorstellung des Organismus sowie eines tätigen Kosmos zweifelsohne konstitutive Merkmale. (Der Kosmos selbst ist ein agierendes Wesen, das Welttier, und er hat seine Bestimmung anthropozentrisch im Menschen. Die Behauptung des Kosmos gegen die ihn umgebende Leere und die Sicherung seines Bestandes geschehen durch ständige Integration seiner Teile als deren Hinbewegung zur Mitte des Ganzen. Das Ganze erhält sich durch die naturteleologische Bewegung der Teile. Das ,homologouménos zen', und dessen Präzisierung eines ,homologouménos te physei zen', zielt auf den Erhalt dieses kosmologischen, dieses Naturzusammenhanges, und das Entscheidende dabei ist die Verbindung von Teleologie und Immanenz.) Die neuzeitliche Welt hingegen konstituiert die ihr eigene Vernünftigkeit nicht primär aus einer intakt gedachten Naturvorstellung, aus einer umgreifenden Ordnung des Kosmos heraus, sondern nimmt ihren Ausgang in einer Konflikt- ud Problemkonstellation, deren Grundmerkmal gerade der Verlust einer unbefraglichen und teleologischen Naturbasis ist, um von hier aus auf dem Wege vernünftiger Konstruktion so etwas wie Naturordnung in sekundärer Weise (und nicht als primäres teleologisches Vermögen) allererst zu produzieren. (Das neuzeitliche Experiment produziert tatsächlich aufgrund der Mathematisierung seine Phänomene und rückt sie dadurch in einen kausal-mechanischen Konstitutions- und in einen technischen Beherrschungszusammenhang.) Die Herausstellung einer versicherten Naturbasis für die Konstitution neuzeitlicher Rationalität verwischt den tatsächlichen geschichtlichen Bedingungsrahmen aufgrund einer zu optimistischen und von der Antike bestimmten Perspektive auf 1
W. Dilthey, Ges. Schriften, Bd. II, S. 153, 91, 441.
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die Neuzeit, während demgegenüber die These zu betonen ist, daß die Neuzeit sich in Abstoßung von antikem Geist etabliert, und gerade von der Antike her eine gehaltvolle Kritik an der Entwicklung zur und der Neuzeit selbst geleistet werden kann und muß. Ähnlich wie J . Michelet und J . Burckhardt ist W. Dilthey (wie auch später E. Cassirer) in dem Sinne zu renaissanceemphatisch, daß er in dieser Zeit den entscheidenden Einschnitt zur Moderne, den Beginn der Neuzeit ansetzt und dabei z. B. die Frage unerörtert läßt, ob nicht Humanismus und Renaissance (wie auch Reformation und naturphilosophische Theorieform des 16. Jahrhunderts) übergewichtig — trotz aller Wendung gegen das Mittelalter — im spätscholastischen Problemkontext verhaftet bleiben, ja, und das wäre hier die These, ob nicht gerade diese pseudomorphe Geschichtssituation für das letztliche Scheitern von Humanismus und Renaissance verantwortlich ist. Humanismus und Renaissance gelangen zu einer neuen Autoritäts- und Traditionsfixierung, und ihr ursprünglich recht kraftvoll gegen die Scholastik formuliertes Ideal sublimiert sich in Ästhetik, regrediert zu einer bloß verfeinerten Sprachkultur. Die originär aus der Mineralogie stammende Vorstellung der Pseudomorphose, die O . Spengler im Zuge seiner universalen Geschichtsmorphologie auf die Kulturgeschichte übertragen hat, kann uns hier in einem etwas andersgearteten Sinne zu erklärender Verdeutlichung des gemeinten Sachverhaltes dienen. In der Mineralogie meint Pseudomorphose das Auftreten eines Minerals in der Kristallform eines anderen, vorgängigeren Minerals. Nachdem die alten Kristalle aufgrund von Einwirkungen so weit ausgewaschen worden sind, daß nur noch die reine Kristallform als hohler Kristallraster übrigbleibt, steht den ebenfalls zur Kristallisation drängenden neuen Stoffen und Mineralien ihre Kristallform nicht frei, sondern sie schießen gleichsam, teils wider Willen, teils befreiend, in die vorhandenen Hohlformen ein, werden dort gestaut und passen sich diesen an, was zu einem falschen, nicht aufeinanderbezogenen (und damit auch spannungsgeladenen) Verhältnis von kristalliner Binnenstruktur und äußerer Bauform führt. Der Umstand, daß die nachscholastische und die frühneuzeitliche Philosophie sich dem Problemüberhang der Scholastik stellt, deren Problematik nicht radikal streicht und sich neu dagegensetzt, sondern (obwohl in Wende gegen den scholastischen Geist) in mühevollen Anstrengungen innerhalb der Scholastik selbst sich konstituieren muß und sich als neuzeitliche Vernunft nur unter Anstrengungen wirklich etablieren kann, dieser Zusammenhang hat pseudomorphen Charakter. Die Scholastik hatte sich in einem Selbstauflösungsprozeß ihrer inhaltlichen Sub-
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stanz beraubt. Von ihr steht mit den Spätnominalisten und in deren Gefolge gleichsam nur noch das leere Kristallgerüst, d. h. der leere Problemraster. Aber diese Scholastik hat in der ihr eigenen Kristallform die Geschichte selbst in so durchherrschender Weise geprägt, daß keine neue Bewegung sie einfach abstreifen kann, sondern das Neue stets zur Existenz in den von der Scholastik zurückgelassenen Bauformen geschichtlich gezwungen ist. Es liegt so ewas wie eine bittere Ironie der Geschichte darin, daß die auf das Neue einen formenden Zwang ausübenden hohlen Kristallformen bereits inhaltlich ausgebrannt, substanzleer sind. Es scheint, als handle es sich grundsätzlich dabei um einen Vorgang, in dem das Metaphysische sich gleichsam nachträglich im Profanen Rache nimmt — für den Aufstand der Profanität. Bleiben wir im Bild der Pseudomorphose, so gilt, daß die humanistische Bewegung und die Renaissance (wie auch weitgehend der dogmatische Teil der Reformation, einmal abgesehen von der realgeschichtlichen Bedeutung der Reformation für die Konstitution der modernen Welt) aufs Ganze betrachtet dasjenige Neue darstellen, was der Epochendetermination unterliegt, in die Kristallform der Spätscholastik und des feudalen Mittelalters sich auskristallisieren zu müssen. Dabei besitzt dieses Neue noch nicht die autonome Selbstkraft, die die alte Kristallform zu sprengen in der Lage wäre. Dies gilt bereits auch für den Beginn des Humanismus. Petrarca etwa steigt auf den Mont Ventoux, und was tut er dort angesichts der sich vor ihm ausbreitenden Landschaft? — er schlägt Augustins Confessiones auf! Das Neue, das Neuzeitliche ist aber in Spätnominalismus und Renaissance schon unverkennbar am Werke, und was den Bereich von Ethik und Politik betrifft, so lautet unsere These, daß der Neustoizismus die Ernte dieser Renaissancemomente einbringt und in ein Begründungsgeflecht setzt, das sich in unmittelbarer Vorstufe zur Neuzeit und damit auch zur neuzeitlichen Rationalität befindet, wie sie dann bei Th. Hobbes (Descartes, Bacon, Newton und Spinoza) formuliert wird und die hohle spätscholastische Kristallform in grundsätzlicher und abstrahierender Weise zum Einsturz bringt. Was den pseudomorphen Charakter dieses Prozesses betrifft, so gilt es aber nicht nur die Seite der Widerständigkeit im Blick zu haben.Die Ironie der Geschichte ist gleichsam selbst eine doppelte. Zum einen ist das Neue auf die vorfindliche Form und Kulturkonstellation ohne Möglichkeit der Einflußnahme angewiesen und gezwungen, zum anderen aber liegt gerade in dem Auftreten in einer von der Tradition vorgegebenen Form auch eine enorm wirkungsgeschichtliche Potentialität, denn dadurch wird es möglich, Vertrautes mit Neuem, Altes mit Unvertrautem so zu vereinigen, daß zumindest der
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Form nach Kontinuität gewahrt ist. Dieses Moment ist für das Verhältnis ζ. B . von Christentum und Neustoizismus von zentraler Bedeutung. Das eine Mal handelt es sich um eine Rache des vorgängigeren Alten am gegenwendig Neuen, also um eine Ohnmachtsseite innerhalb der Geschichte, das andere Mal um die List des Neuen, aus dem Vertrauten selbst heraus sich zu etablieren. Das pseudomorphe Verhältnis von Christentum und Neustoizismus zu Beginn der Neuzeit ist übrigens die teilweise U m kehrung jener spätantiken Situation, in deren Zusammenhang sich auch gerade die christliche Aussage als Theologie ausbilden mußte. Man denke etwa an das Auftreten des zunächst unchristlichen Gedankens einer (originär der Stoa entstammenden) Providentia im christlichen Lehrgebäude.Die Schwierigkeit des Christentums lag seinerzeit nicht nur in dem Umstand, sich in vorfindliche Bauformen spätantiker Philosophie auskristallisieren zu müssen, sondern sie war insofern noch grundsätzlicherer Art, als es nämlich darum ging, überhaupt in ein Verhältnis zur Welt pseudomorph gezwungen zu werden, denn die ursprüngliche Jenseitsgerich tetheit sollte weltlicher Kristallisation gar nicht bedürfen. Grundsätzlich ist es vielleicht dem pseudomorphen Charakter von Geschichte zu verdanken und anzulasten, daß das Neue als Abkömmling, Derivat, Säkularisat, Verweltlichung, veränderte Fortführung oder Konsequenz von Altem aufgefaßt werden kann und muß. Doch kehren wir noch einmal kurz zu Dilthey zurück. Die Vorstellung des Natürlichen Systems vermag den Ubergang zur und die Konstitution der neuzeitlichen Rationalität deshalb nicht zureichend zu fassen, weil gerade diejenigen Momente, die offen oder implizit als Merkmale des Natürlichen Systems erscheinen, einer grundlegenden Bedeutungs- und Funktionsveränderung bedurften, um in einen wesentlichen Bezug zur neuzeitlichen Vernunft treten zu können. Das Natürliche System Diltheys ruht im Gedanken des Organismus und der Naturteleologie, für die die Vernunft im Sinne einer natürlichen inclinado als Instrument einer eigentlich immer schon latenten Naturneigung und eingeborenen Allgemeinbegrifflichkeit eingesetzt wird und sich als solche vollzieht. Dieser Gedanke baut auf eine intakte Naturordnung und setzt eine unverdorbene und auf ihre recht eigentliche Bewerkstelligung noch wartende Natur in dem Sinne voraus, daß die (kultur- und geschichtsinvarianten) Prinzipien der inneren Natur des Menschen jetzt auch in die Gestaltung der äußeren Verhältnisse des Menschen eingebildet werden sollen und in einem unmittelbaren, konfliktfreien und die Naturteleologie letztlich nur prolongierenden Sinne auch eingebildet werden können. Die
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neuzeitliche Vernunft nimmt zwar in alles entscheidender Weise ihren Ausgang bei dem jetzt als Subjekt aufgefaßten und in Stellung gebrachten Menschen, aber sie ist deshalb weder hinsichtlich der Natur des Menschen, noch hinsichtlich der Natur der gesellschaftlich-staatlichen und der äußeren Wirklichkeit rein unmittelbare, kontinuierliche Naturteleologie. Anderen Aspekten kommt hier eine entscheidendere Bedeutung zu. Zunächst ist (a) die Erhaltung, Sicherung und Behauptung eines Zustandes zu nennen, in dem die Vernunft als Vernunft überhaupt möglich ist und bleibt. Dies gilt sowohl in theoretischer Hinsicht, wo die Gefährdung darin besteht, daß die dem Menschen eigene Vernunftfähigkeit etwa durch theologische Absoluta bis zur Bestandsgefährdung degradiert oder dem Menschen gar nicht zugesprochen wird, als auch in praktischer Hinsicht, wo die existenzgefährdende Bedrohung von seiten anderer Menschen und natürlicher Katastrophen die Vernunft selbst aufzuheben und der Unvernunft ein Recht zu vindizieren scheint. Spdann müssen (b) Künstlichkeit und (c) sekundäre Konstruktivität als Merkmale neuzeitlicher Vernunfttätigkeit herausgestellt werden. Beide stehen in einem engen und folgerichtigen Zusammenhang mit der diagnostizierten und erfahrenen Bedrohlichkeit für die Vernunft selbst, gehen aber nicht in dieser auf. Ein Blick auf die der Autonomisierung und der Subjektivierung des Individuums vorausliegende Autonomisierung der einzelnen Kultursphären (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst) zeigt, daß die neuzeitliche Vernunft nicht nur aufgrund eines gleichsam von außen auf sie gerichteten Zusammenhangs der Gefährdung provoziert wird, sich behauptet und etabliert, sondern daß sie sich gerade auch als immanente Eigengesetzlichkeit einzelner Kultursphären entwickelt und durchsetzt. Eine auf das künstliche Werk (in Unterschied von natürlicher Schöpfung) und auf sekundäre Konstruktion (in Unterschied von primärem, natürlichem Vernehmen und Nachahmen) orientierte Vernunfttätigkeit entsteht nicht nur unter dem nötigenden Druck der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung, sondern auch durch und im Zuge der Entwicklung der immanenten Logik der einzelnen Kulturbereiche, deren notwendige Ausbildung ihrerseits mit dem anthropologischen Befund zusammenhängt, demzufolge der Mensch das auf Kultur zugleich angewiesene und angelegte Wesen ist, weshalb es zur Ausbildung kultureller Logiken mit Notwendigkeit kommt. Äußere und innere Autonomisierung also der Vernunft als Vernunft sind an der Konstitution und Durchsetzung des neuzeitlichen Vernunftgedankens wesentlich beteiligt. Nicht aber gehen die in der Vorstellung des Natürlichen Systems zusammengefaßten Momente in einem direkten Sinne zur
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neuzeitliehen Vernunft über, wie Dilthey dies unausgesprochen vorgibt. Dilthey hat die konstruktivistische Seite der Vernunft einer axiologisch, gnoseologisch und bezüglich der Tradition veränderten Einstellung der Neuzeit nicht deutlich genug im Blick. Auch kennt er nicht den eigentlichen Neustoizismus, dessen Struktur durch geschichtsspezifische und geschichtsbedingte Differenzen zum antiken Stoizismus bestimmt ist. In der Frühen Neuzeit kündigen sich in dem Sinne philosophisch rationale Systeme an, daß der konstruktivistische Gang der Vernunft ein zusammenhängendes, schlüssiges, ableitbares, zweifeis- und widerspruchsfreies Erklärungs- und Konstruktionsgeflecht erstellt, dessen Legitimation nicht so sehr in einer der Sache inhärenten Naturteleologie und Wesentlichkeit (als deren natürlicher Ausdruck die rationale Systematik zu erscheinen hätte) oder in der aristotelisch-scholastischen Teleologiespannung von Sein und Vollkommenheit ruht (wobei letztere stets das als Anlage und Aufgabe treibende Telos für ersteres bedeutete). Vielmehr gründet diese Vernunfttätigkeit in einer der (jetzt dem Menschen als dem Wesen der Subjektivität zugehörigen) Vernunft eigenen Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit, sie kann nicht mehr (weder bei einer übergewichtig rationalistischen noch bei einer übergewichtig empiristischen Ausrichtung dieser einen Weise neuzeitlicher Vernunft) am Wahrheitsgehalt von Seiendem scheitern, sondern sie erfährt ihre Selbstbestätigung und die Bestätigung der Wirklichkeit von Etwas als Vergewisserung und Gewißheit gerade an der Möglichkeit, ob und inwieweit ein Etwas Objekt für den Menschen ist und sein kann. Gewißheit bemißt sich also am Grade der Zurüstung von Welt und der damit verbundenen möglichen Verfügbarkeit. Das teleologische Denken der Antike fußte auf der Uberzeugung, daß — wenn nur genügend intensiv und wesentlich sich darum bemüht werde — die Vernünftigkeit des denkenden Menschen mit der die Welt in ihrem Grunde tragenden Vernunft zur Übereinstimmung und Harmonie im vollständigen und wesentlichen Sinne gelangen kann und soll. Auch die Neuzeit will das menschliche Bewußtsein in einen verbindlichen Zusammenhang mit der Struktur der äußeren Welt bringen. Allerdings wird primär nicht von der sowohl anfänglichen als auch letztlichen Einheit, sondern von der Differenz zwischen Bewußtsein und Welt ausgegangen. Der sekundär erstellte Bezug zur bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit unterscheidet sich von dem antiken Verhältnis von Sein und Vernunft dadurch, daß (a) für die subjektive Vernunft nur dasjenige als Wirklichkeit gilt, was ihr zweifelsfrei Objekt sein kann (Wirklichkeit also stets nur diesen subjektiv-objektiv begrenzten Ausschnitt meint), und daß (b) die
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Bestimmungen der auf diese Weise in den Blick gestellten Gegenstände einer subjektiven Wertung und Erkenntnis nicht von einem möglichen und ganzheitlichen Wahrheitsgehalt dieser bewußtseinsunabhängigen Natur selbst her festgelegt werden, sondern in letzter Instanz wiederum Konstruktionen und Vorschriften von seiten der subjektiven Vernunft her sind. Diese behauptet dann sehr wohl, etwa in der Vorstellung des Naturgesetzes, subjektive und objektive Vernünftigkeit in eine Ubereinstimmung gesetzt zu haben. Im Gefolge dieser Strategie vernünftiger Subjektivität steht nun zugleich eine Suspendierung des traditionellen teleologischen Prinzips zugunsten der Vorstellung eines identischen Beschlossenliegens und zureichenden Grundes der Existenz, der Dauer und der Bewegung von Seiendem in dessen Wirklichkeit selbst, physikalisch am greifbarsten in Newtons vis inertiae, allgemein philosophisch bei Spinoza in der Konzeption einer Identität von realitas und perfectio formuliert: „Per realitatem et perfectionem indem intelligo" 2 . Die Struktur einer unter den Bedingungen und in den Funktionen der Frühen Neuzeit erneuerten Stoa, die Struktur des Neustoizismus herauszuarbeiten, ist ein Grundanliegen unserer Untersuchung. Hinsichtlich der Frage nach dessen Bezug zur neuzeitlichen Rationalität sei hier nur angemerkt, daß eru. E. in einer kategorialen Transformation des für die Stoa originären Verhältnisses von Natur und Vernunft hin auf einen vernünftigen Konstruktivismus liegt, dessen neuzeitlichen Abschluß wir dann in der Hobbesschen Theorie vor Augen haben. Was Dilthey dagegen tut, ist im Grunde eine problemfreie Uberführung der Antike in die Neuzeit.Dies ist nicht frei von jener schon für den Humanismus und die Renaissance charakteristischen Fehlinterpretation, derzufolge sich die Neue Zeit als Wiederherstellung der Antike auffaßt. Dilthey s umfangreiche Quellennachweise antikstoischer Gedanken bei einer Vielzahl neuzeitlicher Autoren sind äußerst aufschlußreich, jedoch nicht recht eigentlich auf die Grundraster gerichtet, von denen her und auf die hin sich diese Philosophie entfaltet, weder auf diejenigen des Stoizismus, noch auf diejenigen der Neuzeit. Wenn von Neustoizismus die Rede sein soll, muß man sich zwei Dinge vergegenwärtigen (die bei Dilthey überhaupt nicht thematisch werden). Einmal, daß es in der Neuzeit aufgrund der veränderten Geschichtssituation und der darin wurzelnden neuen axiologischen und gnoseologischen Ausgangslage keine reinen antiken Stoiker mehr geben kann (obwohl die Stoa schon in der 2
Spinoza, Ethica, II, Def. VI. Vgl. dazu den Versuch von R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, Stuttgart 1963, S. 50 — 64, diesen Vorgang als „Inversion der Teleologie" zu begreifen und mit dieser Deutungsfigur auch das Neuzeitliche zu markieren.
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Antike Krisenphilosophie ist, wird jedoch dort die kosmologische Ordnung, die Naturordnung derart versichert und anthropozentrisch gedacht, daß Ataraxie und Apathie problemlos zum höchsten Ideal werden können, um die Eudaimonie zu erreichen), und sodann, daß überall dort, wo im 16. Jahrhundert Seneca (oder einer der anderen Autoren) auftritt, noch keineswegs Neustoizismus vorliegt. Die Grundstruktur des Neustoizismus ist noch abzuheben von dem besonders für Frankreich entlang des späten 16. Jahrhunderts bis hin etwa um 1660 beinahe zur modischen Pflicht gewordenen Rückgriff auf stoische Autoren. Hinsichtlich der Thesen Diltheys sei noch ein weiteres Moment herausgestellt, das auf die historische Funktion des Neustoizismus zielt. Dilthey sieht (wie später auch E. Cassirer) im Stoizismus nur die positive, emanzipatorische und aufgrund der Natürlichkeit zur Autonomie des Menschen beitragende Seite. Dies führt dazu, daß er die eigentlich neuzeitlichen Phänomene gerade nicht mehr aus dem natürlichen System erklären kann, denn — und hier liegt gleichsam die Geschichtsohnmacht der Diltheyschen These — diese „natürlichen Prinzipien haben die Auflösung der alten Gesellschaft herbeizuführen vermocht, aber sie waren außerstande, eine neue haltbare Ordnung zu bilden". Das veränderte Rechtssystem, die Vertragslehre und im wirtschaftlichen Bereich die „furchtbarste Konsequenz" des natürlichen Systems, den Kapitalismus 3 , kann Dilthey höchstens als Depravation einer geschichtsenthobenen Natürlichkeit begreifen, nicht aber in und aus der Geschichte heraus erklären. Der emanzipatorische Zug der stoischen Philosophie ist (vermittelt über den Anthropozentrismus der stoischen Naturlehre, über die natürliche Gleichheit aller Menschen und über die Zugehörigkeit der menschlichen Vernunft zum universalen Logos) zweifelsohne herauszustellen und hat auch in der Geschichte stets seine Träger gefunden. Jedoch gilt es darüber nicht die andere, die einpassende, sich einordnende Seite zu übersehen. Gerade auch sie wird für den Neustoizismus bedeutsam. In ihm ist beides anzutreffen, das sich einpassende ,parere' und das widerständige, standfeste, sich behauptende ,resistere*. Wir werden sehen, wie das stoische Gedankengut in der Hand des Besitz- und Bildungsbürgertums zu einer Individual- und Sozialethik sowie politischen Theorie im engeren Sinne erneuert wird, die dem einzelnen Individuum Handlungsanweisungen geben, um sich in der für ihn krisenhaft und undurchschaubar erlebten Welt zurechtzufinden, sich die Forderung nach neuer Zucht und Ordnung zu eigen zu machen 3
W . Dilthey, a. a. O . , S. 245.
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und sich in dieses vom Neustoizismus in Gestalt der Civilis doctrina selbst noch entworfene System diszipliniert einzupassen und damit u. a. etwa den Konflikt zwischen Trieb und Norm ausschließend zugunsten der Norm zu entscheiden. Auch bezüglich der historischen Funktion einer erneuerten Stoa sind unsere Ergebnisse also von denjenigen Diltheys (und auch Cassirers) grundverschieden. Doch kehren wir noch einmal zur Frage nach dem Verhältnis von neuzeitlicher Rationalität und Neustoizismus zurück, um die gewichtigen und intensiv vorgetragenen Thesen H. Blumenbergs in diesem Zusammenhang zu erörtern. Sein grundlegendes Werk über die Legitimität der Neuzeit (1966) gibt dazu den Hintergrund ab, auf den Stoizismus kommt er aber am entschiedensten in seiner 1970 im Druck erschienenen Akademie· Abhandlung über Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität zu sprechen4. Hier sind zunächst einige allgemeine Ausführungen angezeigt, um unseren Fragezusammenhang zu verdeutlichen und die grundsätzliche Beziehung zu den Thesen Blumenbergs anzudeuten, bevor wir in eine nähere Auseinandersetzung hinsichtlich des Neustoizismus eintreten. Wir müssen den Stoizismus der Antike als eine Krisenphilosophie begreifen, d. h. als den Versuch, nach Verfall der Polisordnung (und der damit verbundenen Ontologie als substantial verbürgter und jedem Einzelnen vorgängigen und ewigdauernden Ordnung eines Ganzen) diesen Ordnungs- und Einheitssinn dadurch zu erhalten, daß das Einheitsdenken, die charakteristische Vermittlung von Ganzem und Teil, auf die vermeintlich höhere, umgreifendere Stufe, nämlich den Kosmos erweitert und damit zugleich verflüchtigt wird. (Der Gegenstandsbezug, wie er bei der Polis als dem Bereich der gegenwendigen Umsetzung von Sein und Vollkommenheit noch gegeben war, schwindet natürlich, je höher die Stufe umgreifender Abstraktion.) Demgegenüber erscheint die antike Gnosis, wie H.Jonas überzeugend dargelegt hat, als diejenige „revolutionäre Bewegung", deren Begriff eines gnostischen Selbst die noch verbliebene innere Stimmigkeit dieses Systems zerstörte. Indem schon der Begriff dieses Selbst, „wie er im ,Pneuma' Gestalt gewann, das Subjekt allen bestehenden Ordnungen entrückte und in ganz andere, hierdurch erst gestiftete hineinhob, entzog es den vormaligen Kategorien noch den Schein von Gegenständlichkeit und ließ die leeren Formen einfach in sich zusammenfallen". Nachdem Jonas das Verhaftet4
Neu abgedruckt in dem für unseren Zusammenhang bedeutsamen Sammelband von H . Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt a . M . 1976.
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sein der Stoa (trotz ihres Krisenbewußtseins) im traditional griechischen Kosmos- und Versichertheitsdenken beschrieben hat, fährt er fort, das völlig andere Weltverhältnis im Gnostizismus zu umreißen, für das Fremdheit und Feindseligkeit von Seiten der Welt bestimmend sind. Es „quillt im Gnostizismus und all seinen synkretischen Erscheinungsformen (wie den Mysterienreligionen) aus anderen Lebensbezirken, anderen Schichten und Rassen etwas völlig Anderes herauf: ungeheure DaseinsUnsicherheit, Welt-Angst des Menschen, Angst vor der Welt und vor sich selbst. Und mit einem Schlage taucht hiermit auch der neue Logos gegenüber der begegnenden Mannigfaltigkeit aus den Tiefen des Daseins empor, eine neue Weise des Ansprechens, zunächst des bildhaften mythischen Meisterns des ,Gegebenen'. Dieses zeigt von nun an dem in es hineingestellten Dasein sein gänzlich neues Gesicht, das durch alle verworrene Vielfältigkeit der stofflichen mythologischen Bilder dasselbe ist: in ihm begegnet das Dasein sich selbst, seine tiefe Angst scheint ihm daraus zurück, wie es eben aus diesem seinem ursprünglichen (als solchem immer schöpferischen) Weltverhältnis sich seine Umwelt erst mit diesem Antlitz geprägt hat. Und wie dem Griechen aus der seinen die tiefe Vertrautheit und Ihm-Gemäßheit entgegenschien, eine immer erneute Bestätigung seiner Willenshaltung ihr gegenüber, seines Einverständnisses mit ihr, kurz seines Glaubens an die prinzipielle Möglichkeit, zu einer positiven Einheit seines Eigentlichen mit ihrem Eigentlichen zu gelangen, — so dem Asiaten jener Tage ihre fürchterliche Feindseligkeit und Fremdheit" 5 . Dieses für die Gnosis und deren Wirkung charakteristische Verhältnis der Fremdheit und Feindseligkeit ist der axiologischen und der gnoseologischen Einstellung und Problematik im Konstitutionszusammenhang der Neuzeit auffallend strukturaffinitiv. Wir schließen uns deshalb der von H . Blumenberg vorgetragenen These an: „die Neuzeit ist die zweite Uberwindung der G n o s i s " 6 . H . J o n a s setzt seinen Gedanken nach den Darlegungen zur Stoa mit einem demgegenüber' fort, betont also die grundsätzliche Andersartigkeit von Stoa und Gnosis, und H . Blumenberg bestreitet für die Neuzeit jeden Bezug zur Stoa. Unsere These dagegen lautet, daß die Ausgangs- und Konstitutionslage der Neuzeit einen geschichtsspezifischen Bedingungsrahmen abgibt, in dem gerade eine auf ihren konstruktivistischen Vernunft-Charakter hin transformierte (und nicht mehr primär der Kosmos5
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H . J o n a s , Gnosis und spätantiker
H. Blumenberg, Säkularisierung
Geist, Teil I, Göttingen 3 1 9 6 4 , S. 243, 1 4 3 - 1 4 4 .
und Selbstbehauptung,
S. 144.
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und Naturteleologie verhaftete) erneuerte Stoa einen Beitrag zu jener Strategie liefert, mit deren Hilfe die Neuzeit diese Gnosis zu überwinden sucht, zur neuzeitlichen Rationalität also. Und zwar ist der Neustoizismus dazu aufgrund der originär in der Stoa entwickelten Zusammengehörigkeit von N a t u r und Vernunft in der Lage. Die neustoische Vorstellung des Verhältnisses von Vernunft und Natur (eines zugleich heuristischen und ontologischen Begriffspaares) ist in besonderer Weise dazu geeignet, in den Kontext der neuzeitlichen Auffassung der Beziehung des Bewußtseins (Vernunft) zur äußeren und/oder inneren Wirklichkeit zu treten. Dies nun nicht nur im Sinne physikalisch-rationaler Konstruktion, wie sie der naturwissenschaftlichen Methodik (mit der Tendenz zur kausalen Mechanik und der Produzierbarkeit der Phänomene) eigen ist, sondern das veränderte Verhältnis von Vernunft und Natur ist mit einer Wirkung versehen, die in die Struktur menschlicher Praxis, und d. h. bis in die lebensweltlichen, weltanschaulichen, weltbildhaften, handlungsmotivationalen und handlungsethischen Bereiche menschlichen Handelns und Wollens, normierend vordringt. Der Neustoizismus trägt im Bereich von Ethik und Politik zur Konstitution eines gesetzmäßigen (und disziplinierten) Objektbereichs rationaler Methodik, den die Naturwissenschaften in der Natur schon fraglos meinten vorgefunden zu haben, allererst bei. Gerade in dieser Ordnungs-, Vergesetzlichungs-, Satzungs-, Konstruktions- und Disziplinierungsleistung liegt seine geschichtswirksame neuzeitliche Funktion. J a , wir müssen sogar davon ausgehen, daß zunächst diese axiologischen Veränderungen in der Tiefenstruktur menschlicher Praxis stattfinden mußten, bevor die bewußtseins- und praxisunabhängige äußere Natur in der rational-kausalen Weise neuzeitlicher Wissenschaft aufgefaßt werden konnte. Mit dem disziplinierenden Blick auf die zunächst jeglicher Allgemeingesetzlichkeit entzogene menschliche und gesellschaftliche Praxis trägt der Neustoizismus auch zur Konstitution des Gegenstandsfeldes neuzeitlicher Politischer Wissenschaft in dem Sinne bei, daß Praxis allererst zugerüstet werden muß, bevor man ihr kausale Zuordnungen und Gesetzmäßigkeiten entnehmen zu können meint. Zwar wird man mit Sicherheit sagen müssen, daß der erneuerte Stoizismus hinsichtlich des Schwundes mittelalterlich-scholastischer Einheitskultur (Troeltsch) den Einheitsgedanken im Bereich der Naturphilosophie durch Ausgriff auf den K o s m o s prolongiert. Höchst bedeutsam ist jedoch bereits die Umkehrung zeitlicher Abfolge, in der sich eine geschichtsfunktionale Andersartigkeit des Neustoizismus im Vergleich zum antiken Stoizismus ausdrückt. Gilt für die Antike die Folge: Identität von Sein und Vollkommenheit, realer
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Verfall dieses Zusammenhangs qua Zerfall der Polisordnung, Stoa als versuchte Weiterbehauptung dieses Prinzips qua Ausgriff auf den Kosmos als der neuen, unverbrüchlichen und unangreifbaren Seinswirklichkeit mit normativem Ausfluß, Gnosis als Zertrümmerung dieses Scheins; — so gilt für das Spätmittelalter und die beginnende Neuzeit etwa die Folge: geistige und realgeschichtliche Einheitskultur des Mittelalters, der spätscholastische Versuch, einer Rettung dieser Sicht durch theoretischen Rückzug auf einen absoluten Voluntarismus Gottes (W. v. Ockham), das damit verbundene neue Hervorbrechen der gnostischen Situation des Dualismus (Gott — Welt; Geist — Materie; Heilsgott — Schöpfergott; innerweltlich: Erwählte — Verdammte), erneuerte Stoa, neuzeitliche Rationalität als Strategie zur Überwindung dieser Gnosis. Betrachten wir den Neustoizismus näher, so werden wir sehen, daß es ihm tatsächlich nicht primär um eine Wiederherstellung kosmischer Versichertheit geht, deren Behauptung im Zentrum der antiken Stoa (hauptsächlich in deren Physik) stand. Deshalb kann nicht gesagt werden, daß dieser Neustoizismus recht eigentlich noch ins Mittelalter gehöre. Zentral ist also die zeitliche und funktionale Umstellung der Aufeinanderfolge Stoa —» Gnosis auf Gnosis —» Neustoizismus. Der Neustoizismus steht nicht nur am Ausgang des Mittelalters und der Renaissance, er gehört gerade auch in den Konstitutionszusammenhang der Neuzeit. Blumenbergs Ziel in der erwähnten Akademie-Abhandlung ist eine Begriffsgeschichte von ,Selbsterhaltung' (und ,Beharrung') als dem Zentralmoment dessen, was man als neuzeitliche Rationalität fassen kann. Er wendet sich explizit gegen die Thesen W. Diltheys, der zwar auf die Bedeutung von Selbsterhaltung hingewiesen habe, „sich aber durch die These der Herkunft aus der Stoa-Rezeption den Blick für die mögliche Authentizität verbaut". Blumenberg bestreitet grundsätzlich einen kategorialen Bezug zwischen Stoizismus und neuzeitlicher Rationalität, und seine Strategie hebt auf die jeweils unterschiedlichen gnoseologischen Einstellungen ab. Neuzeitliche Rationalität ist im Kern durch „intransitive Erhaltungsaussagen" bestimmt, d. h. von einem rationalen Prozeß, dem die Existenz, Dauer und Bewegung von Seiendem nicht mehr auf der aus der aristotelisch-scholastischen Bewegungslehre stammenden Konstruktion einer begleitenden Kausalität (die mit dem Seienden selbst stets zugleich als dessen Verursachung gegeben ist) ruht. Eine Begriffsgeschichte solcher Rationalität qua Selbsterhaltung „ist weder aus der stoischen Rezeption noch aus der Reduktion aristotelisch-scholastischer Teleologie und ActusLehre zureichend darzustellen". Blumenberg schlägt demgegenüber eine
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Brücke von Descartes und Hobbes, besonders aber von Newton und Spinoza zu den Spätnominalisten, um vom Mechanismus der Selbstauflösung des spätscholastischen Systems her die neuzeitliche Rationalität als Korrelat zum „theologischen Absolutismus" sich konstituieren zu lassen. Seine These „stellt den Begriff der ,conservatio sui' gegen die Tradition der transitiven ,conservatio' mit dem Extremwert der ,creatio continua', im Grunde gegen die gesamte Konzeption der Kontingenz in der Scholastik. Damit wird aber Diltheys Hauptthese von der stoischen Abkunft des Begriffs der Selbsterhaltung infrage gestellt, nämlich eingeschränkt auf bestimmte Rückgriffe in das Arsenal antiker Formulierungen und orientierender Metaphern organischen Typs." 7 Mit dieser These Blumenbergs müssen wir uns auseinandersetzen. Dabei versuchen wir, ebenfalls nur im Bereich gnoseologischer Einstellung zu argumentieren, d. h. die ganze Frage der einzelnen stoischen Lehrstücke in den neuzeitlichen Systemen, das Auftreten einzelner originär stoischer Interpretamente zu vernachlässigen. An die grundsätzlichen Grenzen begriffsgeschichtlicher Studien, sich nur an den ausgearbeiteten kategorialen Höhenspitzen der philosophischen Tradition zu orientieren und dabei Gefahr zu laufen, die jeweils geistes- und geschichtsepochale Umgebung vernachlässigen zu müssen (jene Niederungen geschichtlicher Welt also außer acht zu lassen, in denen zwar keine hohe Philosophie, wohl aber die Bedingungen für diese gelegt werden), sei hier nur erinnert. Des näheren aber hat Blumenberg hinsichtlich der neuzeitlichen Rationalität (die für ihn auch Fortschritt bedeutet) nur den naturphilosophischen Aspekt im Blick. Das ist eine legitime, aber auch gefährliche Eingrenzung (ebenso bedenklich wie etwa der Versuch, das Rechte auf das Recht begrenzen zu wollen). Denn zunächst (a) gilt es den Rationalismus der anderen Kultursphären (neben Wissenschaft ist zu denken an Kunst, Politik, Wirtschaft) nicht zu unterschlagen, ein Rationalismus, der sich im Zuge der Autonomisierung dieser Einzelbereiche, der Ausdifferenzierung aus dem Gesamt der mittelalterlichen Welt, sowohl in einem organischen als auch in einem vernunft-konstruktivistischen Sinne zeigt. Sodann (b) gilt es zu sehen, daß gerade auch die wissenschaftliche Rationalität der Frühen Neuzeit im Zuge von Weltbildern auf die Bahn kommt, die zu den Bereichen von Ethik und Politik mindestens in gleicher Nähe stehen wie sie später in den abstrakteren Formulierungen der Wissenschaft selbst zu verschwinden scheinen (an der Entwicklung der ramistischen Dialektik 7
H. Blumenberg, Selbsterhaltung
und Beharrung,
S. 3, 51, 4, 12.
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werden wir auf diesen Zusammenhang hinweisen können). Schließlich (c) gilt es deutlich herauszustellen, daß Neuzeit und neuzeitliche Rationalität deshalb nicht auf den naturphilosophischen Bereich festgelegt werden können, weil das Gegenstandsfeld der physikalisch-mechanistischen Methodik (die Natur) ein relativ feststehendes und damit besonders im Experiment durch die Mathematisierung reproduzierbares und produzierbares ist, während demgegenüber das Gegenstandsfeld von Ethik und Politik, die menschliche Praxis, sich per se einer solchen Vor- und Reproduzierbarkeit entzieht. Dies war für Aristoteles der Grund, warum er Ethik und Politik als Praktische Philosophie und eine ihr eigene phrónesis von der auf die unveränderlichen Seinsformen zielenden epistéme unterschied. Ein Unding aber wäre es, diese Bereiche aus der Bestimmung dessen, was Neuzeit ausmacht, ausschließen zu wollen. Wenn Thomas Hobbes eine politische Theorie und eine Politische Wissenschaft physikalisch und more geometrico entwirft (die, einmal systematisch richtig erkannt und erstellt, für ihn unmittelbar umsetzbar sein soll, d. h. eine Theorieform darstellen soll, die den Prozeß der Vergesellschaftung und gleichzeitigen Verstaatung, Gesellschaftsvertrag und Herrschaftsvertrag in einem, nach den Kausalitäts-, Ableitungs- und Vorstellungsmustern der physikalisch-mechanistischen Methodik der (Natur)Wissenschaften entwirft), so ist damit zwar das Postulat neuzeitlich konstruktivistischer Vernunft erfüllt, jedoch überhaupt nichts über den Erfolg, die Rückwirkungsmöglichkeiten dieser Konstruktion in das Gegenstandsfeld selbst, d. h. auf Weltsicht, Verhaltensmuster, Handlungsmotivation und Handlungsethos der Betroffenen, der Bürger, gesagt. Gerade deren Umstrukturierung aber ist für die neuzeitliche Welt der eigentliche Fundamentalvorgang. Die naturwissenschaftliche Methodik wirkt aufgrund der Produzierbarkeit der Phänomene (und damit der Natur) vermittels Technik (unter dem Postulat des Nutzens) unmittelbar auf ihren Gegenstandsbereich, die Natur, wieder ein und findet dort auch ihre Bestätigung. Die physikalisch-mechanistisch-rationale Konstruktion des Thomas Hobbes, der damit ja gerade auch eine Wissenschaft des Politischen entwerfen will, ist methodisch gesehen neuzeidich, übt aber keine Wirkung auf den Personenkreis aus, von dem her und auf den hin diese rationale (Rechts) Konstruktion funktionieren soll, d. h. die physikalisch-rationale Interpretation menschlicher Gesellschafts- und Staatenbildung ist nicht in der Lage, den Köpfen, Motivationen, Weltbildern und dem Handlungsethos der Beteiligten und Betroffenen jenen Zug an rationaler Disziplinierung anzuverwandeln, der die theoretische Ableitungskonstruktion gerade aus-
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zeichnete. Der physikalisch-mechanistischen Theorie und Mathematisierung folgt eine funktionierende naturwissenschaftliche Technik auf dem Fuße, der mechanistischen Konstruktion des Th. Hobbes dagegen scheint es geschichtlich verwehrt zu sein, eine analoge soziale Technik tatsächlich funktionieren zu lassen. Ja, auf dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis ergeben sich sogar grundlegende und lähmende Antinomien, auf die J . Habermas überzeugend aufmerksam gemacht hat. In unserer Frageperspektive läßt sich zusammenfassend sagen: die physikalisch-rationale Theorie (Politische Wissenschaft) des Th. Hobbes ist zwar methodisch gesehen neuzeitlich, ihrem Wirkungsgehalt nach jedoch gerade nicht in der Lage, das Gegenstandsfeld einer so gearteten Politischen Wissenschaft (und d. h. die Bereiche von Ethik und Politik) in der neuzeitlichen Weise zu disziplinieren, damit auf die gesellschaftliche und politisch-staatliche Praxis des menschlichen Individuums die Möglichkeit wissenschaftlicher Produzier- und Verfügbarkeit in der gleichen Weise zutrifft, wie dies im Bereich der gegenständlichen Natur hinsichtlich der auf diese ausgeübten mechanistischen Bearbeitungsweisen qua Technik der Fall ist. Für die Entstehung der neuzeitlichen Welt ist ein fundamentaler Prozeß der Disziplinierung gerade der lebensweltlichen, handlungsmotivationalen und -ethischen Bereiche anzusetzen, mit dem die Entstehung und die Verankerung der aus einer neuen Weltund Menschensicht resultierenden Maximen und (Natur)Gesetzlichkeiten einhergehen, so daß eine neuzeitliche Theorie wie diejenige des Thomas H o b b e s immer schon als Ergebnis dieser veränderten Geschichts- und Wirklichkeitsauffassung auszulegen ist, nicht aber als Wende und Initialpunkt zur eigentlichen Neuzeit gelten kann. Grundsätzlich also ist ein neuzeitlicher Konstruktionstypus im naturphilosophischen Bereich noch keineswegs wirkungsgeschichtlicher Garant einer Einwirkung auf die Lebens- und Geschichtswelt der Frühen Neuzeit. Deren integrierende und stabilisierende Stütze, der wesentliche Garant gleichsam von Existenz, Bestand und Dauer neuzeitlicher Imperative, Interpretations- und Konstruktionsrtiuster, besteht in einer bestimmten Ausprägung der axiologischen und gnoseologischen Struktur menschlicher Praxis. Der Neustoizismus setzt in dieser handlungs- und sozialphilosophischen Dimension der vita activa ein. U m dem Einwand, die Rationalität im ethischen und politischen Bereich sei derjenigen des naturphilosophischen Bereichs doch nur nachgeordnet und aus diesem übertragen, entgegenzuwirken, greifen wir auf den von J . Habermas vorgebrachten Nachweis zurück, „daß Hobbes ,in der Einstellung' Sozialphilosophie treibe, die für die
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moderne Physik bezeichnend ist — obwohl seine eigenen wissenschaftstheoretischen Bestimmungen der Physik unzureichend bleiben." 8 Hobbes ist als Sozialphilosoph auf der physikalischen Höhe seiner Zeit, als Naturwissenschaftler ist er dies keineswegs. Ebensowenig wie W. Dilthey kennt H. Blumenberg die Struktur des eigentlichen Neustoizismus. Seine Feststellung, daß es in der Antike nicht jene Bestimmung von Selbsterhaltung gegeben habe, die erst aus der besonderen Struktur, „durch den Problemüberhang des scholastischen Systems veranlaßt werden konnte", verkennt grundsätzlich die Möglichkeit, daß eine unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit (und d. h. unter den Bedingungen auch der spätscholastischen Systemauflösung) erneuerte Stoa eine neuzeitliche Funktion übernehmen kann. Gerade dies war für Dilthey, wie wir sahen, problemlos möglich. Blumenberg konfrontiert den Stoizismus der Antike mit der Rationalität der Neuzeit und gelangt, was nicht überrascht, zu dem Ergebnis, daß letztere sich nicht aus ersterem ableiten läßt. Wir dagegen versuchen herauszustellen, daß (a) eine solche Vergleichung gar nicht die eigentliche Aufgabe ist (hier lagen ja gerade auch die Grenzen Diltheys), sondern daß schon von einer geschichtsspezifischen Struktur erneuerter Antike auszugehen ist, d. h. stets bereits von einer Stoa im Kontext der Frühen Neuzeit (das Selbstverständnis von Humanismus und Renaissance, eine wiederhergestellte Antike zu sein, war ja eine Fehlinterpretation!), und daß (b) die Wurzeln neuzeitlicher Rationalität neben ihrem theoretischen Ursprung im Spätnominalismus auch in der frühneuzeitlichen Situation liegen, in die Humanismus, Renaissance und Reformation eingehen (die zudem alle nicht ohne die spätscholastische Krise denkbar wären). Der Neustoizismus stellt ein bedeutsames Bindeglied zwischen dem theoretischen Ursprung der Rationalität in der Spätscholastik und deren abstrahierender, philosophisch reiner Fassung bei den Philosophen und Wissenschaftlern des 17. Jahrhunderts, bei Descartes, Hobbes, Newton und Spinoza dar. Blumenberg hebt zu Recht hervor, daß der Prozeß der Selbstauflösung des 8
J. Habermas, Klassische Lehre von der Politik, in: Theorie und Praxis, S. 87; vgl. bes. S. 67 — 79, 87—88, Anmerk. 61. Grundsätzlich sei hier noch angemerkt, daß jede philosophische Lehre von den ihr zugrunde liegenden und sie treibenden axiologischen Gesichtspunkten her gelesen werden kann und muß. Nietzsche hat wohl treffend diagnostiziert, wenn er herausstellt, „daß die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen i s t . " (Jenseits von Gut und Böse, A p h . 6). Dies gilt besonders für Philosophien in Spät- und Krisenzeiten (auch für Nietzsche selbst), etwa für die hellenistische Skepsis, die Stoa und die Lehre Epikurs.
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scholastischen Systems wesentlich an die Fassung der dem Mittelalter eigentümlichen Kontingenz-Problematik gebunden ist. Deren Verschiebung aufgrund binnenlogischer Schwierigkeiten hinsichtlich der Stimmigkeit des ganzen Systems sind dann nach Blumenberg die konstitutiven Anfänge der neuzeitlichen Rationalität entsprungen9. Dabei läßt er aber eine geschichtsbedeutsame Differenz außer acht, denn von dem mittelalterlichen Kontingenzbegriff (als Ausgangspunkt einer theologischen Demonstration) gilt es die frühneuzeitliche Erfahrung der Kontingenz (als geschichtliche Erfahrung der Krise) noch zu unterscheiden. Der mittelalterlichen Scholastik ist dieser Begriff zentral. Ihm zufolge bedeutet gerade die Existenz von Seiendem als einem endlichen die Nichtnotwendigkeit eben dieses Seienden aus sich heraus, was im nächsten Schritt zur Notwendigkeit einer die Existenz dieses Seienden verursachenden Kausalität führt, wodurch dann die Existenz dieser Ursache (die die zeitliche Dauer von Seiendem verbürgt) mit Notwendigkeit nachgewiesen ist. Die Kontingenz als (neuzeitliche) geschichtliche Erfahrung meint demgegenüber die Erfahrung der Welt als (letztlich) unversichert, d.h. in anderer Weise kontingent als für die mittelalterliche Theologie-Philosophie, der die Kontingenz ja gerade zur Demonstration der Versichertheit diente. Die Kontingenz wird geschichtlich als eine solche erfahren, die den Menschen in seiner physischen Existenz entweder durch andere Menschen oder aufgrund von Naturverhältnissen zu vernichten droht. Wenn wir von Kontingenz als frühneuzeitlicher Grunderfahrung sprechen, so soll diese Seite eines scheinbaren Entlassenseins der Welt ins Kontingente damit angesprochen sein. Der Bezug zum mittelalterlichen Begriff der Kontingenz ist der Sache nach offensichtlich, denn es geht, wenn wir es von der Warte der Scholastik her betrachten, darum, daß der Kontingenzvorstellung des Mittelalters durch die existentiell und geschichtlich erfahrene Krise das Moment ihrer Versichertheit genommen wird, d. h., um die theologische Seite dieser Frage herauszustellen, darum, daß Gott allem Anschein nach keine Kohärenz mehr stiftet, daß er nicht mehr schöpft. Erst dann ist das einzelne Seiende sich selbst überlassen, und die Suche nach neuer Fundierung setzt ein. So bestechend die Kontingenz für die scholastische Argumentation einerseits war, sie bedeutete von Anfang an auch ein ungeheures Risiko für diesen zu demonstrierenden Gott selbst. Der
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H . Blumenberg, Selbsterhaltung sierung und Selbstbehauptung, S. 1 2 2 - 1 4 4 .
und Beharrung, S. 13; vgl. S. 2 1 - 3 6 ; vgl. ders., SäkulariS. 1 6 7 - 2 1 1 ; ders., Prozeß der theoretischen Neugierde,
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Aspekt der Bedrohlichkeit ist nun von zentraler Bedeutung. Hier wird nicht nur die sorgende, erhaltende Kraft eines Gottes (gleich in welcher Weise sie gedacht sei: als Eigennotwendigkeit Gottes, als Güte, als Qualität des Schöpfers, als Qualität des Geschöpften) fraglich, sondern die ins Freie gesetzte, ins Kontingente aus der teleologischen Spannung aristotelisch-thomistischer Prägung entlassene Welt wird auf eine neue Weise existenzgefährdend, bedrohlich, weil (absolut) heterogen und (da die Teleologie gleichsam in den Stoff selbst, in die Materie zurückgenommen ist und diesen Stoff energetisch potenziert) auch mit einem (absoluten) Anspruch auf Wertigkeit auftretend. Was die historische Ausdifferenzierung des Heterogenen aus dem Einheitszusammenhang der mittelalterlichen Welt betrifft, so ist dieser Prozeß nicht so zu verstehen, daß jedes einzelne Seiende primär entschränkt und in eine absolute Wertigkeit entlassen wird. Vielmehr handelt es sich um die Ausdifferenzierung im Sinne einer Autonomisierung von Zusammenhängen höherer Ordnung, um die einzelnen Kultursphären (Wissenschaft, Kunst, Politik, Wirtschaft). Erst im Zuge ihrer Selbstbehauptung (in deren Gefolge auch, sowohl rückwirkend als auch seinerseits diesen Prozeß vorantreibend, die Herausbildung von so etwas wie Individualität, Individuum, Individualismus liegen) vermag sich auch die neuzeitliche Rationalität zu konstituieren, ja sie wird die sich in diesem Vorgang selbst erst konstituierende Maßgabe dieses Prozesses. Die Rationalität wird zum Index, zum Signum der N e u e n Zeit der Heterogenität und der Endogenität. So bricht die neuzeitliche Rationalität zwar begriffsgeschichtlich im Spätnominalismus auf, geschichtswirksam wird dieses Prinzip aber erst im Zuge des genannten Heterogenisierungsvorganges, und d . h . wesentlich im Zuge von Humanismus, Renaissance und Reformation. Die scholastische Fassung des Kontingenzproblems führt hinsichtlich des Menschen zu Passivität, Einfügung, vita contemplativa, Hoffnung darauf, daß Gott das Seiende und insbesondere den Menschen selbst auch in jedem weiteren Bruchteil von Zeit noch (oder neu) schöpft, d. h. vor dem Verschwinden bewahrt, was zugleich die Sorge um das eigene Seelenheil zur vordringlichsten Aufgabe macht. Diese Absolutheit Gottes gegenüber dem Menschen ergibt sich u. a. aus der aristotelischen Vorstellung der begleitenden Kausalität, derzufolge — was für die Scholastik und auch noch für deren spätere Impetustheorie die bestimmende Voraussetzung bleibt — ,omne quod movetur ab aliquo movetur', es also Bewegung ohne eine immer wieder neu wirkende ,vis motrix' gar nicht gibt. Genau an diesem Punkt bringt der neuzeitliche Gedanke der Selbsterhaltung die
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entscheidende Wende, denn den Körpern wird jetzt eine immanente natürliche Tendenz zugesprochen, sich in ihrem jeweiligen Zustand zu erhalten, zu beharren. Die neuzeitliche ,vis inertiae' erhält den Bestand und die Bewegung aus sich heraus, und wenn dieser keine Widerstände entgegenstünden, wäre es im Prinzip eine unendliche Bewegung. Die Erhaltung von Seiendem ist jetzt also nicht mehr primär von einer schöpferischen Leistung des absoluten Gottes abhängig, sondern sie ist eine immanente Eigenschaft, Anlage und Bestimmung der Körper, von Seiendem selbst. Im Rahmen des scholastischen Kontingenzgedankens tritt die Frage nach menschlicher Freiheit und diejenige einer Theodizee folglich gar nicht auf, denn es handelt sich ja um ein System göttlicher Determination, in dem der Mensch kein aktives Erhaltungsinteresse zu zeigen hat. Für den Bereich menschlicher und politischer Praxis ändert sich aber genau dies in und als Erfahrung geschichtlicher Kontingenz. Begeben wir uns auf die schon neuzeitliche Warte des Verhältnisses von Subjekt und Objekt (das dem Subjekt als bewußtseinsunterschieden erscheint), so geht mit dem Prozeß der Entlassung der Welt ins Kontingente die Freisetzung und wesenszugleich die Entwicklung des Subjekts in eine Freiheit einher, der gegenüber das Bewußtsein selbst nur gerade noch seine eigene Wirklichkeit vor der vollständigen Auflösung bewahren kann. Descartes tut dies dann im ganz punktuellen Moment der Selbstvergewisserung seines ,cogito ergo sum', und der cartesianische Gottesbeweis dient (im Sinne einer Ergänzung) zur Vergewisserung der Wirklichkeit der äußeren Welt. In dieser Unversichertheit bietet sich der erneuerte Stoizismus in einem doppelten Sinne als Philosophie der (Selbst)Erhaltung unter den Bedingungen des Teleologieschwundes an. Zunächst ist von ihm her eine Konstruktion der Freiheit des Subjektes möglich, die sich als denkendes Bewußtsein konstituiert und so auch einer unbegriffenen, kontingenten, ja gar bedrohlichen Welt gegenüber sich ihrer selbst (über das bloß punktuelle ,cogito' hinaus) vergewissern und behaupten kann, ein Bewußtsein, das dem Denken des Gedankens den Status von Wirklichkeit zuspricht, ein Bewußtsein, das sich (ohne die Gefahr der Selbstzerstörung) gegenüber der Außenwelt die Freiheit zur Indifferenz, Apathie und Ataraxie nimmt und sich auf diese Weise selbst erhält. Gerade indem die substantiale Einheit von Welt und Gedanke nicht primär die notwendige Voraussetzung für die (Selbst)Gewißheit des rationalen Denkens ist (sekundär führt die Vorstellung einer Ubereinstimmung der Individual- mit der Universalvernunft im Stoizismus dann sehr wohl zu einer gleichsam naturgesetzlichen Versicherung des rationalen Denkens),
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gerade also durch die Nichtidentität von Welt und Gedanke gelangt das Denken zur Sicherheit seiner selbst. Durch die Ausgrenzung weiter Bereiche der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit aus seinem Selbstverständnis und seinem Tätigsein erreicht das Denken seine selbstbehauptende Freiheit, und gerade diese Distanz zu aller Wirklichkeit und allen Sachverhalten ermöglicht den normierenden Eingriff in diese Wirklichkeit. (Daß zu einer solchen Einstellung eine letztlich versichert gedachte Natur Voraussetzung ist, kann zunächst außer acht bleiben, denn es gibt so etwas wie eine Naturalisierung des Bewußtseins selbst, der dann auch eine gewisse zeitliche Beständigkeit zukommt, die sich in einem zweiten Schritt auf die Schaffung einer ihr gemäßen Phänomenwelt konzentriert.) Sodann erneuert der Stoizismus unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit nicht so sehr die Seite des organischen, kosmologischen und naturteleologischen Denkens der Stoa der Antike als vielmehr die Seite ihrer Ethik und aktiven Logosphilosophie. Diese beinhaltet nicht nur (im Sinne des Intellektualismus Chrysipps) eine Ausweitung des Substanzbereiches des Logos, sondern sie setzt (was die Bereiche von Ethik und Politik betrifft) den Menschen in den alles entscheidenden Stand der Möglichkeit eigener Konstruktion nach Maßgabe der Vernunft, um dieser Vernunft, und d. h. um der Welt und ihrer selbst willen. Die als Hintergrund im Neustoizismus nicht ausgelöschte Vorstellung eines auch in den Dingen, in der Naturordnung liegenden natürlichen Strebens zur Vernunftgemäßheit, die sich dann in der Konstruktion als solche ausweist und darstellt, vermag dabei die forschende und konstruierende Energie noch abzusichern. Für Blumenberg ist „die Ersetzung des transitiven Erhaltungsgedankens durch den reflexiven und intransitiven" die eigentlich neuzeitliche Wende in der Begriffsgeschichte von Selbsterhaltung, und des näheren sieht er in Spinoza denjenigen, der der Selbsterhaltung „jede teleologische Implikation" genommen habe, „auch wenn die aus dieser Prämisse vermeintlich ableitbaren Folgerungen der Ethik und Politik ihr nachträglich teleologischen Schein verleihen." 1 0 Aber es geht hier gar nicht um Implikation aus dem Prinzip der Immanenz in die Bereiche von Ethik und Politik. Vielmehr vollzieht sich gerade in Ethik und Politik selbst ein Vorgang der Entteleologisierung. Die ethische Grundeinstellung, Haltung und Handlung des neustoischen Weisen (die nicht aus einer natürlichen inclinatio triebhaft hervorgehen, sondern eine sekundäre Vernunftkonstruktion um der Vernunft und des Erhalts seiner selbst willen darstellen) und die neu10
H . Blumenberg, Selbsterhaltung
und Beharrung, S. 41, 39.
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stoische Grundlegung des Politischen, des Machtstaates (dessen raison d'être introversiv und als eine politische Vernunftkonstruktion gedacht wird, und deren Fragen Th. Hobbes explizit in Gestalt von Rechtsfragen, als Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag thematisieren wird) beinhalten gerade einen Schwund teleologischer Bestimmung, welche in der Antike und auch im Mittelalter für die Bereiche von Ethik und Politik grundlegend war. Bereits im ethischen und politischen Neustoizismus verwirklicht sich etwas von dem, was auf die fundamentale Abstraktionsweise bei Hobbes oder Spinoza hinausläuft. Das Neustoische an Spinoza hat Dilthey durch seinen Nachweis von Parallelstellen in der Stoa nicht sichtbar machen können, Blumenberg aber verbaut sich diesen Zugang ebenfalls dadurch, daß er stets nur den Stoizismus der Antike im Blick hat. V o m Individuum wird im Neustoizismus (in Grenzen) angenommen, daß seine Aufgabe, Bestimmung und Begründung in ihm selbst und aus ihm heraus zu erfolgen hat. Die rationale Binnenkonstruktion seiner inneren Natur setzt ihn in Affinität zur Universalstruktur der Naturordnung, aber dies ist nicht der übergewichtige Aspekt. Bedeutsamer ist der Zug der Selbstfundierung, der Subjektivierung des menschlichen Individuums mit dem Ziele, sich von der Außenwelt und der inneren Natur triebhafter Leidenschaften unabhängig zu machen, d. h. eine vernunftexogene Bestimmung aufzuheben, den Menschen überhaupt nur noch von seiner Endogenität her sich bestimmen zu lassen. Daß dies nicht nur aus einem gleichsam ichmetaphysischen oder natürlichen Drang des Individuums resultiert, sondern wesentlich eine Konsequenz der Verfaßtheit der äußeren, der geschichtlichen Welt ist, wird ein wichtiges Beweisziel unserer weiteren Darlegung sein müssen. Das gleiche Prinzip trifft auf die Ordnung des Politischen zu, die nicht mehr von außen verursacht und bestimmt werden soll (etwa als res publica Christiana), sondern weitgehend (wenn wir die Literatur der Fürstenspiegel hier einmal vernachlässigen) in den Stand einer Endogenität und Autonomie gesetzt wird, die bestimmte Leistungen zu erbringen hat, nicht aber auf ein transzendentes oder metaphysisches Ziel verpflichtet ist: der Staat selbst ist seine raison d'être. In den Bereichen von Ethik und Politik sind somit charakteristisch neuzeitliche Momente bereits lange vor der Newtonschen vis inertiae zu verzeichnen, der Erhaltung also aus sich selbst und um ihrer selbst willen unter Fortfall von nicht-immanenter Begründung und Teleologie. Blumenberg hebt an der Stoa ausschließlich deren Typus organischen Denken hervor, d. h. ein Denken, in dem „das Verhältnis der Teile zu einem Ganzen als Tendenz der ständigen Integration bezeichnet" wird,
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wobei die Grundstruktur jedes Seienden mit einer natürlichen Tendenz, einer ,inclinano' zu gerade dieser Art von Bewegung ausgestattet ist. Für Blumenberg „liegt darin kein Ansatz zur .Konstruktion des Universums durch die Vernunft'." 1 1 Wir stimmen ihm gegen Dilthey dahingehend zu, daß die Organismusvorstellung nicht den Ausgangspunkt für die neuzeitliche Rationalität liefert (später sollte etwa Goethe gerade durch organisches Denken in Gegensatz zum neuzeitlichen Newton treten), möchten aber gleichzeitig zwei Momente herausstellen, die sich gegen Dilthey wie gegen Blumenberg richten. Zum einen (a) ist der Neustoizismus gar nicht primär dem organischen Aspekt der antiken Stoa verpflichtet, sondern er entwickelt sich gerade im Anschluß an die spätscholastische Kontingenzkrise und an die geschichtliche Kontingenz-Erfahrung des 16.Jahrhunderts zwecks deren Uberwindung. Neustoizismus ist folglich als eine Anstrengung aufzufassen, die den universalen Naturzustand und die organische Einheitsvorstellung nicht mehr in dem gleichen Sinne intendiert, wie dies die antike Stoa getan hat. Diese zog sich nach dem Zerfall der Polisordnung gleichsam auf die noch intakte und unverbrüchliche Kosmosordnung und deren Gesetze zurück. Der erneuerte Stoizismus hingegen versucht im Anschluß an die Erfahrung der Kontingenz und der Bedrohlichkeit seitens der Welt, der Natur und der Menschen zu einer rationalnatürlichen Ordnung allererst vorzudringen. Der angestrebte Naturzustand i m Neustoizismus ist bereits rationale Konstruktion, und gerade die De constantia libri duo des J. Lipsius von 1584 gehen nicht in einer organischen Vorstellung von Selbsterhaltung auf. Sie etablieren sich zumindest in gleichem Maße im Gegenzug zu einer Geschichtssituation, in der gerade die organische Basis zerstört zu sein scheint, und ,constantia', Selbstbehauptung, Standfestigkeit versucht nicht, diese verlorene Natur wiederherzustellen, sondern eine sekundäre, qualitativ andere zu errichten. Auch der Kampf gegen die Affekte ist so gesehen nicht nur organische Selbsterhaltung, sondern ein bedeutsamer Schritt zur Entwicklung neuzeitlicher Selbstbehauptung, Selbstbegründung und endogener Grundlegung. Denn das von außen Einstürmende und als ,opinio' Gewertete droht die innere Beharrungskraft (eine anthropologische und psychologische Vorstufe der ,vis inertiae'), die in sich ruhende Trägheit, über die Affekte in nichtgewollte und in dieser inneren Natur selbst nicht gründende (und damit fremdbestimmte) Aktivitäten zu versetzen. Affekte bedrohen so das Moment der rationalen Beharrung selbst. Zum anderen (b) gilt es zu be11
H. Blumenberg, a. a. O., S. 1 4 - 1 5 .
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tonen, daß die neuzeitliche Rationalität bei all ihrer Unterschiedenheit vom Organismus-Denken dennoch von diesem nicht gänzlich abgelöst werden kann (ganz unabhängig noch von dem Umstand, daß organisches Denken auch in der Neuzeit seine Tradition gefunden hat — gerade auch in Kombination mit der mechanistischen Weltsicht). Hinsichtlich der Weltlehre ist die antike Stoa eindeutig von einer organischen Vorstellung geprägt, und es war besonders Poseidonios, der dieses Lehrstück herausstellte. Die Welt ist ein Organismus, ist der tätige Weltkörper, der mit einer inneren Spannkraft ausgestattet ist und als Ganzes auf diese Weise alle Teile in ihrem Wesen, ihrer Stellung und ihrer Funktion festlegt. Die Teile liegen innerhalb des Ganzen und werden von diesem her bestimmt. Sie stehen folglich untereinander und mit dem Ganzen in wechselseitiger Verbindung und streben nach Zusammenschluß. So ergibt sich für die Stoa die Harmonie des Alls und die Mannigfaltigkeit des Lebens, die von diesem Weltganzen her und nur als dessen Glied ist. Hinsichtlich der Vorstellung vom Universum liegt in diesem Denkmuster zweifelsohne eine grundsätzliche Sperre für den Ubergang zur neuzeitlichen Auffassung der Welt im ganzen, die jetzt primär gerade nicht organisch, sondern kausalmechanisch gedacht und konstruiert wird. Für die Stoa ist der Kosmos der eine Weltkörper, das tätige Welttier, das auf dem Wege der Integration seiner Teile zur Mitte eine Energieleistung aufbringt und sich dabei auch verzehrt. Das führt zu Ekpyrosis und Palingenesie. Ganz anders dagegen die neuzeitliche kausal-mechanische Konstruktion des Universums durch und als Vernunft. Später werden bei Kant die Weltkörper aus der von Gott geschaffenen Materie in einer Weise entstanden gedacht, die sich mit den mechanischen Gesetzen (der Stofflichkeit und der Kausalität) erklären läßt. Nietzsche geht dann in seiner Ablehnung einer Auffassung des Weltganzen, des Alls, als eines Organismus noch einen Schritt über die mechanische Kosmogonie Kants hinaus, indem er von der Wesenbestimmung alles konkret Lebendigen und Organischen als Auslassung von Kraft und als Wille zur Macht her bestreitet, daß das Ganze des Alls, das Ganze der Welt ein Organismus im Sinne eines lebendigen, organisierten Wesens überhaupt sein kann. „Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft ,auslassen'", nicht aber von einem organisierten Ganzen her und nur in Funktion auf dieses sein. Für Nietzsche ist das Ganze des Alls gerade kein Organismus, aber — und hier steht er bereits außerhalb der neuzeitlichen Rationalität — eben auch keine kausal-mechanistische Bildung, kein System im Sinne der Mechanistik, keine Maschine. Die Welt im ganzen ist ihm vielmehr Chaos, nicht Organisation. An dieser radikaleren Sichtweise
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Nietzsches sehen wir sogleich, daß es zwischen dem Organismus-Denken und der Mechanistik doch noch eine gewisse Zusammengehörigkeit gibt. Diese können wir am deutlichsten anhand der Begriffsklärung von .Organismus' und ,Maschine' andeuten, wie sie bei Kant vorgenommen wird. Dabei sei in unserem Zusammenhang zunächst noch daran erinnert, daß das Verhältnis von Teil und Ganzem in der Neuzeit (wie schon einmal in der antiken Sophistik) von demjenigen in der antiken Stoa dadurch unterschieden ist, daß es seit dem Nominalismus der Spätscholastik primär nur noch Einzelnes, Vieles gibt, und daß das Problem nicht mehr darin besteht, das konkret Viele aus der einfachen Einheit abzuleiten, sondern gerade umgekehrt darin, das Viele, die Teile, zur Einheit, zum Ganzen zusammenzudenken. So findet sich auch der Neustoizismus in der Situation, das scheinbar unzusammenhängende chaotische Viele in einen Zusammenhang zu setzen und damit zu stabilisieren. Die Lehre vom Kosmos als dem lebendigen Weltkörper, dem tätigen Welttier, ist so gesehen für den erneuerten Stoizismus nicht der entscheidende Ausgangspunkt — gerade in eine solche Basis (auf der ja in der Antike die Vorstellung der Harmonie der Welt ruhte) kann nicht unvermittelt mehr hineingesprungen werden. So wird, wie bereits gesagt, im Neustoizismus übergewichtig nicht die antike Kosmologie, sondern die ethische und vernunftrationale Seite der Stoa erneuert. Und in diesem Zusammenhang wächst dem Typus organischen Denkens eine im Verhältnis zur kosmologischen Lehre veränderte Stellung und Funktion zu. Auf der Ebene der Uberwindung des bedrohlich Vielen hin auf einen rationalen und damit als stabil erhofften Einheitszusammenhang konstruierter Art treten Organismus und Rationalität in Gestalt des Verhältnisses von Teleologie und Mechanistik, von naturhafter Zweckmäßigkeit und Vernunftkonstruktion, in ihr eigentliches Verhältnis wesenzugleicher Differenz und Einheit. Für die frühneuzeitliche Wissenschaft gibt nicht der Gedanke des Organismus die Voraussetzung für die mechanistische Weltsicht ab, sondern in umgekehrter Richtung wird nun auch der Organismus als eine mechanistische Maschine aufgefaßt und definiert. Genau an diesem Zusammenhang von Organismus und Maschine, von Organismus und Kunstwerk, läßt sich die gegenwendige Aufeinanderbezogenheit beider verdeutlichen. Hier hat Kant im Rahmen der Neuzeit zu wesentlicher Klärung beigetragen, indem er unterschied, daß die wirkenden Ursachen eines Organismus diesem selbst naturteleologisch innewohnen, während eine Maschine ihre wirkende Ursache außerhalb ihrer selbst, in der konstruierenden Vernunft des Menschen hat. Nach Kant ist für den Organismus wesentlich, daß er sich selbst
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organisiert (also kein Kunstwerk ist, weil dieses seinen Künstler stets außer sich hat), daß er in sich eine „bildende K r a f t " hat (während der Maschine „lediglich bewegende K r a f t " zukommt), daß jeder Teil um der anderen Teile und um des Ganzen willen da ist, und daß alle Teile in sich selbst zugleich Mittel und Zwecke sind, deren Funktionsstelle sich vom Ganzen her bestimmt. Die frühneuzeitliche Vernunft, wie wir sie etwa in der Vertragskonstruktion bei Th. Hobbes am Werke sehen, will sich nun auf der einen Seite gerade von der primär und naturhaft gegebenen Wirklichkeit ablösen und auf dem Wege der Vernunftkonstruktion ihren eigenen Erhalt dadurch sichern, daß sie diese ihr entgegenstehende Wirklichkeit selbst in den Griff ihrer Disziplinierungskraft nimmt. So gesehen etabliert sich also die neuzeitliche Vernunft gerade in Abhebung von einer primären Natureingebundenheit. Auf der anderen Seite aber will und muß sie gerade diese Wirklichkeit (a) zutreffend erfassen und erklären, (b) auf deren Struktur einwirken können. Diese beiden Aspekte zwingen jede noch so konstruierende Rationalität in ein Abhängigkeitsverhältnis zu der Natur, die doch gerade geflohen und überwunden werden soll. Abgesehen von der rein künstlerischen Phantasie (die ebenfalls zu Beginn der Neuzeit in dem Sinne freigesetzt und autonom wird, daß sie um ihrer selbst willen, ohne exogene Beschränkungen und ihrer eigenen Logik gemäß sich ihre Welten und Wirklichkeiten schöpft, kreativ und autonom hervorbringt — ein Zusammenhang, der der vernunftrationalen Konstruktion technischer Maschinen, die nicht auf bloß mimetische Weise aus der Natur heraus gewonnen werden, vorausgeht) bleibt also die rationale Vernunftkonstruktion immer auch dieser Wirklichkeit verhaftet, ja sie entwickelt sich gerade — wenn wir an Hobbes denken — aus einem konkreten, faktischen Behauptungszusammenhang heraus. Weil das so ist, kommt dem schon sehr früh gegen die mechanistische Bestimmung des Organismus vorgebrachten Einwand hohe Bedeutung zu, daß nämlich ein organischer Körper mit den Mitteln der Mechanik gar nicht zureichend erklärt werden könne. Kant stellt später heraus, daß das Prinzip der Mechanik neben die innere Zweckmäßigkeit der Natur, neben das Prinzip der Teleologie treten kann, daß es aber unmöglich sei, die Teleologie in Ansehung der Natur entbehrlich zu machen. Die Gesetze des mechanisch-kausalen Denkens können zwar mit Erfolg auch hinsichtlich der Entstehung von Organismen in Anschlag gebracht werden, aber die Mechanistik kann damit nicht die Frage nach dem ganz andersartigen „Erzeugungsgrund" organischer Körper überspringen, die Frage nämlich einer Kausalität durch Zwecke.
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Hinsichtlich ihres Grundes sind organische Körper teleologischer und nicht mechanischer Art. (Ihnen liegt Kant zufolge eine Idee zugrunde und voraus, deren Wesen allerdings dem menschlichen Vermögen uneinsichtig ist.) So bleibt die kausal-mechanistische Vernunftkonstruktion trotz aller Wende gegen die Primärnatur stets noch im Kontext der zumindest als naturhafte Disposition auszulegenden Teleologie dieser Natur selber. Um die Vernunftkonstruktion zu etablieren und auf die Wirklichkeit selber anzuwenden, bedurfte es zweifelsohne einer weitgehenden Entteleologisierung dieser Wirklichkeit. Eine konsequent teleologische Auffassung der Natur wird gerade diesen auf Produktivität und Beherrschung zielenden Zusammenhang blockieren. Eine teleologisch aufgefaßte, nur unter dem Gesichtspunkt ihrer inneren Zweckursächlichkeit ausgelegte Natur ist, wie F. Bacon schreibt, einer gottgeweihten Jungfrau gleich, die nichts gebiert. „Nam ,Causarum Finalium' inquisitio sterilis est, et tanquam virgo Deo consecrata nihil parit." Dies kann aber nicht absolute Entteleologisierung, sondern muß ein Zurückdrängen der Teleologie in und auf die immanente, endogene Grundverfassung von Seiendem bedeuten, da auch gerade eine auf produktive Beherrschung der Natur zielende kausal-mechanische Naturerklärung und eine darauf folgende Maschinentechnik zu ihrem eigenen Gelingen eine teleologische Disponibilität auf Seiten der Natur unterlegen müssen. Gerade Bacon weiß genau — was vor ihm schon die Renaissance (etwa Leonardo da Vinci oder Erasmus) und ganz besonders dann der Neustoizismus weiß und als zentral herausstellt — daß man der Natur nur dann befehlen kann, wenn man ihr gehorcht. „Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo vincitur; et quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar regulae est" 12 . So ist die neuzeitliche Rationalität zwar im Kern anti-teleologisch, aber sie lebt auch ihrerseits von der unausgesprochenen Annahme einer inneren, immanenten Gesetz- und Zweckmäßigkeit der Natur. Der mechanistischen Naturerkenntnis unterliegt also streng genommen nicht nur die Hypothese, daß der Mechanismus die bestimmende Seinsweise auch der Natur 12
F. Bacon, De augmentis sáentiarum, III, cap. 5, in: Works (Ausg. Spedding, Ellis und Heath), Bd. I, London 1858, S. 571; Novum Organum II, Aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis, Aph. 3, in: Works, Bd. I, S. 157. Zum Verhältnis von Organismus, Maschine und Teleologie bei I. Kant, vgl. in unserem Zusammenhang, Kritik der Urteilskraft, bes. die §§ 65 — 68, 77. 80. Zu Nietzsches Bestimmung alles Lebendigen als Auslassung von Kraft, vgl. Jenseits von Gut und Böse, Aph. 13 ; ders., Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 109, gegen eine Auffassung der Welt als lebendiges Wesen und gegen den Glauben, „daß das All eine Maschine sei."
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ausmacht, sondern auch — da die Entstehung organischer Körper nicht mechanisch erklärt werden kann — die Voraussetzung, daß der grund-teleologische Zusammenhang alles Organischen der mechanistischen Erklärungsweise entspricht und dieser letztlich zugänglich ist. Dies aber bedeutet zugleich, daß der Mechanismus dem Organismus mehr als verwandt ist. Von hier aus lassen sich all die Versuche verstehen, die organischen Körper, die Organismen, die Organisiertheit des Lebendigen als Maschine aufzufassen und zu definieren. Darin drücken sich zugleich Beherrschungsdrang und Abhängigkeit aus. Die Wende gegen organisches Denken ist somit keineswegs Garantie dafür, daß die Organismus-Vorstellung nicht doch für das neue Denken von Bedeutung ist. Die Ubermächtigungsanstrengungen seitens der Mechanistik gegenüber dem Organismus erstrecken sich auf die ganze Spanne des Wirklichen. Dies geschieht von der Bestimmung des Lebendigen als Maschine (so ist ζ. B. für Descartes das Tier eine Maschine, ein Automat ohne Seele, während allerdings für ihn der Mensch in Form der Seele und des Geistes noch Bereiche darüber hinaus besitzt, deren Proprium nicht in Mechanistik aufgeht) über die Auffassung schließlich des ganzen Menschen, seiner Naturbasis und seiner Geistdimension, als L'homme machine (Lamettrie) bis hin zur Mechanik des Himmels (Newton) und der Bestimmung der Welt im ganzen, des Alls, als einer (Welt)Maschine, der eben gerade weil sie eine Maschine ist, auch Wahrheit zukommt (Chr. Wolff). Der organische Körper wird bei Kant dann als „natürliche Maschine" gefaßt. Als Maschine, weil er ein absichtlich gebildeter Körper ist, als natürlich im Gegensatz zu künstlich, weil die Kräfte innerlich zu einem Ganzen vereinigt sind und auf dem Grunde einer Idee aufruhen. Die mechanistische Strategie der modernen Naturwissenschaft sieht sich immer schon in jene skeptische und scheinbar aporetische Konsequenz getrieben (die dann bei Kant explizit auftritt und dort eine spezifische Lösung erfährt), daß nämlich die von der menschlichen Vernunft aufgebrachte Theorieleistung sich in einer doppelten Verstrickung findet. Zum einen fördert sie nur einen Gesetzeszusammenhang zutage, der in der Natur stets schon immer naturgesetzlich herrscht, was dazu führt, daß die Vernunft gegenüber der Gesetzlichkeit der Natur gerade keine Freiheit des Vorschreibens hat. (Will die Vernunft in diesem Sinne frei sein, so müßte sie aber zugleich Einsicht in die Naturgesetzlichkeit haben und der Natur ihre Gesetze in Grenzen vorschreiben können.) Zum anderen legt der Gesetzlichkeits- und Determinationscharakter der Naturzusammenhänge und Naturvorgänge, wie sie in der Physik Galileis und Newtons dargelegt
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werden, die Möglichkeit nahe, diese Naturkausalität auf die innere Erfahrungs-, Vernunft- und Erkenntnistätigkeit zu übertragen, was jetzt gleichsam von der anderen, der objektiven Seite her, dazu führt, das Wissen der Vernunft um diesen Gesetzes- und Determinationscharakter als seinerseits immer schon naturgesetzlich determiniert zu sehen. Ist die neuzeitliche Rationalität auf diese Weise einerseits immer auch an die originäre Lebensform alles Organischen verwiesen und gebunden (sie will ja gerade dieser Wirklichkeit durch Einsicht in ihren Gesetzeszusammenhang die Ordnung, die Organisation, weitgehend vorschreiben), so zeigt andererseits das fertige kausal-mechanische Gebilde (etwa eine Maschine zur produktiven Bearbeitung der äußeren Natur; aber auch — im Bereich menschlicher Praxis — die politische Machtordnung, der Staat Hobbesscher Prägung zwecks gleichzeitiger Disziplinierung und Freisetzung der einzelnen Glieder durch deren Bestimmung vom Ganzen der Organisation her) auf der Ebene seiner Binnenlogik durchaus Ähnlichkeiten mit der Funktionsweise organischer Körper. Das eine Mal sind die wirkende Ursache und die bewegende Kraft innerhalb des Organismus selbst, das andere Mal ist die wirkende Ursache außerhalb des maschinentechnischen Gefüges. Wie der Künstler im Schaffen des Kunstwerkes dessen Ursache ist und wird, so ist die menschliche Vernunft für eine Maschine oder eine sozial- und machttechnische Vertrags- und Herrschaftsorganisation die außerhalb deren selbst liegende wirkende Ursache. Nehmen wir jetzt noch den neuzeitlichen Gedanken der Endogenität und der Immanenz hinzu, so wird deutlich, daß wir im Zusammenhang der neuzeitlichen Rationalität nicht nur die Organismen als natürliche Maschinen, sondern auch umgekehrt etwa die Maschinen-, Sozial- und Staatstechnik als künstliche Organismen aufzufassen haben. In der Absolutheit des Staates vindiziert sich gerade bei Hobbes die politische Machtordnung die gleiche Dignität der wirkenden und zweckmäßigen Ursächlichkeit wie diese hinsichtlich der organischen Körper einer zugrundeliegenden Idee, einem Gott als Urheberschaft zugesprochen wird. Doch zu all dem wären eingehende Erörterungen zum Verhältnis von Organismus und Rationalität erforderlich, die hier aber nicht geleistet werden können und sollen. Herauszustellen bleibt allerdings der Umstand, daß es unmöglich ist, den Gedanken des Organismus von demjenigen der neuzeitlichen Rationalität verbindungslos abzuspalten. Hinsichtlich der damit verbundenen Frage einer immanenten Teleologie sei der Blick kurz auf die Theoriebildung von Th. Hobbes selbst gelenkt. Es ist unzutreffend zu meinen, der neuzeitliche Thomas Hobbes vollziehe die Grundlegung seiner Theorie allein qua Vernunftkonstruktion.
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Diese ist vielmehr anthropologisch fundiert und besitzt als entscheidendes Moment die Vorstellung, daß die zur Überwindung des chaotischen Naturzustandes nach rechtsversichernder Ordnung strebenden Menschen, die primären Individuen, aufgrund einer Notwendigkeit ihrer Natur die Uberwindung des sie selbst in ihrer Existenz bedrohenden Naturzustandes wollen. „Immoto igitur quod jeci fundamento, ostendo primo conditionem hominum extra societatem civilem, quam conditionem appellare liceat statum naturae, aliam non esse quam bellum omnium contra omnes; atque in eo bello jus esse omnibus in omnia : deinde homines omnes ex eo statu misero et odioso, n e c e s s i t a t e n a t u r a e suae, simulatque miseram illam intellexerint, exire velie: id autem, nisi initis pactis a jure suo in omnia décédant, fieri non posse." 13 Das natur-teleologische Moment bleibt also gerade auch bei Hobbes an zentraler Stelle bedeutsam, ja erst von hier aus gewinnt die rational-mechanistische Konstruktion auch für ihn ihre systematische Legitimation. Die Auffassung des Staates als künstliche, zweite Natur steht auf diese Weise in einem gegenwendigen und zusammengehörigen Ableitungsverhältnis zur ursprünglichen, primären Natur des Menschen. Eine Differenzierung ist hier noch zu betonen, um den bedeutsamen Charakter dieser immanentisierten Sekundär-Teleologie bei Hobbes zu verdeutlichen, diejenige nämlich zwischen Teleologie und Zweckmäßigkeit. Im Leviathan stellt Hobbes heraus, daß für die menschlichen Wünsche und Handlungen kein letztes Ziel oder höchstes Gut im Sinne der überlieferten Moralphilosophie auszumachen ist. Vielmehr gilt: „Felicity is a continual progress of the desire, from one object to another ; the attaining of the former, being still but the way to the latter." Dieses Machtwollen (desire of power) muß — schon ganz ähnlich wie später in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht — stets eine Erweiterung und Steigerung seiner Macht anstreben und durchsetzen, um seinen eigenen Bestand und seine eigene Sicherheit auf Dauer stellen zu können. „So that in the first place, I put for a general inclination of all mankind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death." Dies ist gleichsam die primär-teleologische Verlaufslinie, die von einem anfänglichen Verlangen nach einem Gegenstand, über das stets weitere Verlangen nach anderen Gegenständen schließlich in der Erfahrung des Todes endet, „because the way of one
13
Th. Hobbes, De ave, praef. ad lectores, in: Opera, Bd. II, S. 148; Hervorhebung von Verf. ; im englischen Text heißt es : „even nature itself compelling them" (The English Works, Bd. II, S. XVII); die folgenden Zitate von Hobbes entstammen Leviathan, chap. XI, in: Works, Bd. II, S. 85ff.
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competitor, to the attaining of his desire, is to kill, subdue, supplant, or repel the other." Nun versuchen aber die selbstsüchtigen Menschen des Naturzustandes bei Hobbes neben und in diesem Machtwollen auch noch andere Ausprägungen des Wünschens und Verlangens zum Zuge zu bringen, und gerade diese disponieren (disposeth, inclineth) die Menschen dazu, sich einer allgemeinen Gewalt zu unterwerfen, um dadurch Schutz und Möglichkeit ihres Verlangens zu gewährleisten. Die entscheidenden Momente sind (a) die Selbsterhaltung der Individuen, (b) das Verlangen nach einem angenehmen Leben und nach sinnlichen Vergnügen (desire of ease, and sensual delight), (c) die Furcht vor der Erfahrung des Todes und vor Mißhandlungen (fear of death, and wounds) und (d) das Verlangen nach Wissen und friedlichen Künsten (desire of knowledge, and arts of peace). Diese Aspekte bilden ganz im Sinne einer ,inclinado' die natürliche Basis für die politische Macht- und Herrschaftsordnung, den Abstoßpunkt gleichsam für das politisch-staatliche Kunstwerk, für den Entwurf des Politischen aus und als Vernunft. Als naturhafte Neigungen setzen sie den Menschen in einer Weise in Disposition „ t o obey a common power", die die Primärlinie der Teleologie zwar willentlich unterbricht, an diesem Punkte der Zweckmäßigkeit der Vernunft aber über den Gedanken einer natürlichen Geneigtheit gerade dem für jedes teleologische Denken zentralen Aspekt der Disposition verpflichtet ist. Wenn also auch nicht mit streng und unmittelbar primär-teleologischer Notwendigkeit, so gründet die Vernunftkonstruktion, die Konstruktion des Gesellschaftlichen und Politischen als Vernunft, dennoch gerade in einer natürlichen Zweckmäßigkeit. Diese wendet sich zwar gegen die letztlich in der Erfahrung des Todes endende Naturteleologie, aber (a) sie gewinnt sich selbst auch in der Anknüpfung an natürliche Geneigtheiten, und (b) sie erfährt gerade in dieser Wende gegen einen ungehemmten Naturverlauf nun ihrerseits eine natürlich-rationale Grundlegung, wodurch die Vernunftkonstruktion sich als höchste Zweckmäßigkeit im Sinne einer sekundären Teleologie etabliert. Zwar lebt der Gedanke der Teleologie von der Vorstellung eines Zweckes, Zieles, höchsten Gutes, auf die hin alle Bewegung von Seiendem und menschliche Handlungen gerichtet sind. Aber der konstruierende Eingriff der Vernunft gleichsam auf halber Strecke einer andernfalls im Tode endenden Teleologie bleibt dem teleologischen Denken verhaftet, wenn wir Geschehensabläufe und Vernunftleistungen einmal nicht von der Warte des bereits gewonnenen Zieles her in den Blick nehmen, sondern wenn wir uns immanent in die Perspektive der endogenen Bewegung von Seiendem stellen und die Zwecke als in den Dingen und Handlungen selbst liegend und aus ihnen erwachsend
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betrachten. Teleologisches Denken umfaßt nicht nur das Gerichtetsein der Bewegung von Seiendem auf ein höchstes und letztes Ziel, sondern auch die immanente Disposition auf der Seite der Dinge und Handlungen zu einer allererst zu leistenden Aufbringung von Zwecken. So trifft es nicht zu, das Immanent-Teleologische erst ausschalten zu müssen, um einen Autor zur Neuzeit rechnen zu können, ja der kausalmechanistische Charakter der Neuzeit ruht neben der intransitiven Vernunftkonstruktion immer auch auf der Vorausetzung einer ImmanenzTeleologie (wobei das Gewicht auf Immanenz liegt). Die stoische Naturordnung ist bereits in der Antike (was sie von vornherein in einen möglichen Bezug zur Neuzeit bringt) mit einer Teleologie reiner Immanenz ausgezeichnet. U n d dieser Gedanke der Immanenz erfährt seine neuzeitliche Veränderung und Verschärfung dadurch, daß er in einen nochmaligen rationalen Konstruktionszusammenhang genommen wird, daß die Vollbringung und die endogene Selbstbehauptung der Immanenz sich also in und als rationale Konstruktion vollziehen. Die ethische Forderung eines , Lebens in Übereinstimmung (mit der Natur)' gibt der stoischen Verhaltenslehre einen teleologischen Zug, wobei allerdings schon in der Antike eine genaue Bestimmung dessen, was damit gemeint ist, fehlt. Für die antike Stoa gründet diese Möglichkeit und Forderung in einer versicherten Kosmosordnung. Im Neustoizismus dagegen handelt es sich eher um eine rationale Konstruktion, die in einem zweiten Schritt dann als Natur ausgegeben wird, aus dem ,secund u m naturam' scheint eine Veränderung hin auf eine ,secund a m naturam' vernunftkonstruktiver Art erfolgt zu sein. So tritt der neustoische Weise nach seinem Rückzug aus der Welt und nach der Disziplinierung seines eigenen inneren Selbst sekundär wieder in diese ein, um prophylaktisch dafür Sorge zu tragen, daß gerade seine Grundhaltung, Einstellung und Handlung als neustoischer Weiser möglich sind und auch auf Dauer möglich bleiben. U m dieses Ziel zu erreichen, will er auch die äußere Welt des Staatlich-Politischen nach Maßgabe der Vernunft strukturieren und als stabile Machtordnung auf Dauer stellen. Die politische Theorie des Neustoizismus will nicht den Staatsorganismus im Sinne der Ordnung primärer Natur ausprägen, sondern sie erstrebt den Ruhe, Ordnung, Frieden, Besitz und Sicherheit gewährleistenden Machtstaat, der den Ordnungsschwund und die Krise überwindet und damit die Möglichkeit der Vernunft selbst erst schafft und erhält. Der Staat des Neustoizismus ist der Vernunftstaat, nicht der Naturstaat. Wenn man ihm gleichwohl rational-naturgesetzliche Qualitäten und Dignitäten zusprechen kann und muß, so bedeutet dies die entscheidende Vertiefung seiner
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Autonomie und Legitimation. Im Neustoizismus bringen so gesehen Ethik und Politik die Hobbessche Leistung des Übergangs von einer Selbsterhaltung als Trieb zu einer Selbsterhaltung als Vernunft 1 4 im Grundraster bereits auf, und über die Vorstellung der Immanenz-Teleologie dringen diese neustoischen Momente in die Hobbessche Konstruktion selbst ein. In der antiken Stoa wird das Verhältnis von Natur und Vernunft in der Weise gedacht, daß die (kategorial gesehen) eigentlich unverdorbene, vollkommene Natur (wieder)hergestellt und dann auch in der Grundhaltung, Einstellung und Handlung der Menschen realisiert und erhalten werden muß. Der Naturzustand ist hier recht eigentlich der vollkommene (er ist in Gestalt des Kosmos existent, kann aber für alle anderen Bereiche kategorial durchaus noch ausstehen). Für Hobbes dagegen ist der Naturzustand das Existenz und Recht gefährdende Chaos, und erst danach (systematisch gesehen) wird der bessere Zustand gewonnen. Dies geschieht dadurch, daß die Vernunft eine Rechtskonstruktion (Gesellschaft- und Herrschaftsvertrag primärer Individuen) erstellt, der sich die Individuen bewußt unterwerfen, um sodann von dieser (absoluten) Ordnung her ihre Rechte zurückzuerhalten; d. h. die Vernunft konstituiert hier ihren eigenen Erhalt, indem sie eine Konstruktion schafft, die den Naturzustand gerade überwinden soll. Damit will die Vernunft die ständige Gefährdung ihrer selbst aufheben, d. h. sie will sich selbst als Vernunft möglich machen und erhalten. Bei Hobbes liegt so im Bereich der Politischen Philosophie in Gestalt der Selbsterhaltung als und aus Vernunft ein ähnlicher Prozeß vor wie bei Galilei im Bereich der Naturphilosophie, für den die Aufgabe der Naturforschung in einer Überwindung der Sinneseindrücke durch die Vernunft besteht. Die bei Galilei etwa durch das Fernrohr (und grundsätzlich durch Mechanik und Mathematik) erschlossene Ebene der Natur ist gegenüber der unmittelbar wahrgenommenen Natur in ähnlicher Weise höherwertig, wie dies im Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag bei Hobbes der Fall ist, wo ebenfalls die zweite (hier allerdings künstliche) Natur, die staatlich-politisch verfaßte Natur, die recht eigentliche ist. Wichtig ist nun für unseren Zusammenhang der grundsätzliche Vorgang, daß sich nämlich die Vernunft gleichsam aus Eigeninteresse heraus gegen einen primären und unmittelbar wahrgenommenen Naturzustand wendet, eine Vernunftkonstruktion entwirft und ins Werk zu setzen trachtet, sich aber dann auf dieser zweiten Stufe sehr wohl in einen naturgesetzlichen Zusammenhang begibt und ihre Legitimität und Dignität nicht nur aus dem 14
Anders dagegen H . Blumenberg, Selbsterhaltung
und Beharrung, S. 20.
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Aspekt freien Erzeugens von Nichtnatürlichem, von Künstlichem, sondern gerade auch aus der Ubereinstimmung mit der jetzt erreichten zweiten Naturordnung und deren Gesetzmäßigkeiten gewinnt. Wenn die unmittelbaren Sinneseindrücke durch die Vernunft überwunden werden, so öffnet sich etwa für Galilei der Blick für den Umstand, daß das eigentliche Buch der Philosophie die Natur ist. Das Buch der Natur ist allerdings nicht in den Buchstaben des Alphabets, sondern in geometrischen Figuren (in Kugeln, Kreisen, Quadraten, Dreiecken) geschrieben, zu deren Verständnis die Mathematik herangezogen werden muß. Die neuzeitliche Vernunft setzt sich also um des Erhalts ihrer selbst willen von einem primären Naturzustand frei und ab, bildet eine gegen diesen Naturzustand gerichtete Konstruktion aus, stiftet sich dann aber sehr wohl als Vernunftordnung in den jetzt vertieften Naturzusammenhang wieder ein. N u r auf diese Weise kann die konstruierende Seite der Vernunft als mit dem Wirklichkeitsbestand der Welt im Sinne der Endogenität immer schon wesenszugleich gedacht werden. Spinozas Identität von ,realitas' und ,perfectio' formuliert dieses Prinzip in aller Deutlichkeit. Der eigentümliche und im Folgenden näher herauszuarbeitende Charakter des Neustoizismus läßt sich in genau diesen Zusammenhang hinein verorten. Der Neustoizismus geht zunächst von der unmittelbar vorgefundenen (scheinbaren) Natur des Menschen und der Wirklichkeit aus und bestimmt diese in einem gedoppelten Sinne. Zum einen ist der Mensch „naturellement b o n " (Charron), d. h. er verfügt im Grunde über einen naturhaften Adel, er ist trotz aller Sündhaftigkeit im Besitz einer unverderbten Natur und Vernunft, die den Boden für eine endogene Grundlegung sowohl des eigenen Ich als auch der politisch-staatlichen Ordnung in und als Vernunft abgeben. Zum anderen ist diese positive menschliche Natur zugleich der ständigen Bedrohung sowohl von innen als auch von außen ausgesetzt, ja zumeist tritt diese Natur uns als bereits durch die inneren und äußeren Leidenschaften und Affekte korrumpiert entgegen. Es bedarf also eines UberwindungsVorgangs in beide Richtungen. Einerseits muß die Vernunft gegenüber den inneren Trieben, Leidenschaften und Affekten die herrschende Oberhand behalten, um damit das Ich aus dem wogenden Meer der Leidenschaften in die festen Bahnen der Vernunft zu stabilisieren. Andererseits hat die Vernunft gerade auch das gesellschaftliche und politisch-staatliche Zusammenleben der Menschen durch den Entwurf und die Durchsetzung einer stabilen Machtordnung zu strukturieren, um auf diese Weise (a) das Auftreten politischer Leidenschaften und Affekte zu verhindern (die dann von außen nach innen
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schlagen und damit sowohl hinsichtlich des inneren Ich als auch hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Verfassung aufrührerisch sind), und um (b) den politischen Ordnungsschwund zu überwinden, weil in der Situation der Bürgerkriege die einzelnen Gruppierungen und/oder Individuen nur ihre Partikularinteressen verfolgen, diese sich auf alles und alle erstrecken, sich einander bekämpfen und im Grenzfall (der in der Situation des Bürgerkrieges der Normalfall ist) einander zur Existenzbedrohung werden. Der Rück- und wesenszugleich der Vorgriff auf die Vernunft dient also zur Abwehr der doppelten Bedrohlichkeit von innen und von außen. Die Abwehr einer dritten Art von Bedrohlichkeit für den Menschen, derjenigen nämlich durch Naturkatastrophen (und oft ist man geneigt, geschichtliche Katastrophensituationen naturgesetzlich zu deuten), erfolgt auf eine veränderte Weise. Grundsätzlich besteht die Aufgabe der individuellen Vernunft hier nicht primär im Entwurf von Techniken der Naturbeherrschung (die dem Entwurf von Techniken der Selbst-Beherrschung im und am Menschen entsprächen), sondern in der gebotenen Einsicht in den tieferen Gesetzescharakter dieses Naturgeschehens. Neben dem Aspekt des passiven Sicheinfügens in den Charakter der Notwendigkeit dieses Naturschicksals gilt es aber schon hinsichtlich der antiken Stoa den Umstand zu betonen, daß durch die Einsicht in die Gesetzlichkeit und in die letztliche Vernünftigkeit solcher Vorgänge das Schicksalhafte des Schicksals gerade unterlaufen wird. So zeigt sich in der Schicksalsgläubigkeit der Stoa auch ein Stück menschlicher Widerspenstigkeit und Selbstbehauptung. Was die Auseinandersetzung mit der Natur unterhalb der Schwelle zur Naturkatastrophe betrifft, so gehört der Neustoizismus zu dem, was man den ,realen Humanismus' genannt hat. Es geht ihm noch nicht um eine technologische Bearbeitung und letztliche Beherrschung der Natur, wohl aber schon um einen maschinen-technischen Umgang mit und in der Natur. Der wichtigste Aspekt aber und zugleich die Vollendung des Dreischrittes (von primärer Natur über die Vernunftkonstruktion zur zweiten und höherwertigen Natur) besteht darin, daß diese freigesetzte endogene Vernünftigkeit in der Sphäre der Immanenz verbleibt und sich selbst als die eigentliche und bisher nur, verstellte oder nicht zum Zuge gelangte Naturgesetzlichkeit begreift. In der vernunftrationalen Konstruktion gelangt die Immanenz in ihre vertiefte und versicherte Form. Gerade diese Vernunft wird zu der Instanz, die aller Realität ihre immanente ontologische Dignität zuspricht. Im Neustoizismus entwickelt sich diese bestimmte Art der Vernunftkonstruktion sowohl des Ich als auch des
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Politischen vom Boden einer grundsätzlich positiv aufgefaßten (wenn auch stets bedrängten und der Gefahr der Korruption ausgesetzten) Menschennatur aus. Die Vernunft ist so von Anfang an anthropologisch und immanent gedacht, sie gewinnt sich in der Uberwindung unmittelbar von Leidenschaften und Affekten bestimmter Natur, indem sie gleichsam den positiven Vernunftkern der Natur zum Zuge bringt. Bei Th. Hobbes dagegen ist der vorgesellschaftliche Naturzustand der Individuen grundsätzlich derjenige einer verderbten Natur. Zwar kommt auch für Hobbes die Vernunftleistung in Gestalt des rechtlichen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages nicht von außen an die Menschennatur heran, sondern „necessitate naturae suae" aus dieser noch selbst heraus, aber sie versteht sich in deutlicher Wende gegen den Naturzustand. Das Vertragsdenken kommt so als gegenwendige Vernunft zu einigen Teilen für Hobbes noch aus dieser Natur selbst, bedeutsamer aber ist hier die Betonung des Umstandes, daß Verträge nur dort geschlossen werden, wo zuvor nicht die Vernunft, sondern die Unvernunft herrschte. Hobbes stellt also gerade die Bruchstelle im Übergang vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand heraus. Seine Vertragskonstruktion hat so gesehen hinsichtlich der ursprünglich schlechten Menschennatur einen ähnlichen — wenn auch säkularisierten — Erlösungscharakter wie dies bei der göttlichen Gnade hinsichtlich der durch die Erbsünde im Grundsätzlichen verderbten Natur des Menschen in der Tradition von Paulus über Augustin hin zu Luther und Calvin zu verzeichnen ist. Der Neustoizismus ist demgegenüber antiker, er greift die positive Bestimmung der Menschennatur in der vorchristlichen Antike auf und kann sich überdies mit der Tradition des (Semi) Pelagianismus innerhalb des Christentums selbst verbinden.
III. Stoische Lehrstücke in Humanismus und Renaissance Es wäre grundsätzlich verfehlt, das Mittelalter als stoisch zu qualifizieren. Jedoch ist auch hier eine subkutane Präsenz stoischer Lehrstücke nicht zu leugnen. Cicero (besonders De of fiáis) liefert der mittelalterlichen Welt die stoische Theorie der Tugenden, hauptsächlich aber ist es Seneca, der die Morallehre der Stoiker tradiert. Er ist für das Verhältnis des Menschen zu Fortuna und äußeren Gütern, aber auch für die Fürstenlehre sowie für Trostliteratur und mönchische Askese bedeutsam. Das Encheiridion Epiktets schließlich tritt in der Tradition des Mönchtums auf, der stoische Weise bringt seinen asketischen Charakter in die christliche Lehre ein. 1 Aber erst im Kontext von Humanismus und Renaissance gelangen stoische Gedanken und Interpretamente gezielt wieder ins Bewußtsein und zwar zunächst im Zuge der breiten Hinwendung zur Antike, denn das humanistische (Schul)Programm eines Bemühens ,ad fontes' versucht gerade, die vorchristliche und pagane Weisheit zu erschließen. Das Selbstverständnis von Humanismus und Renaissance, eine Erneuerung, eine Wiederherstellung der Antike zu sein (was eine Fehlinterpretation war!), dieses Epochenbewußtsein, das erstmals die Unterscheidung nach Antike, Mittelalter und Neuzeit hervorbringt (wobei Antike und Neuzeit sich zu dem eigentlich Wertvollen zusammenschließen, und das Mittelalter nur als die dumpfe, finstere, wie Petrarca sagt, und unwesentliche Zwischenphase begriffen wird, hinter die es jetzt zurückzugreifen gilt, um den inneren Zusammenhang (wieder)herzustellen und damit die Neue Zeit beginnen zu lassen), diese gegen die Scholastik gerichtete Anstrengung mußte auch stoische Philosophie in den Stand möglicher Erneuerung setzen. Hatte sie sich in der Antike aus dem Verfall der Polisordnung dergestalt herausentwickelt, daß sie auf die Ordnung von Natur und 1
Als Uberblick zur Frage der Stoa im Mittelalter vgl. M. Spanneut, Permanence du stoïcisme, S. 1 7 9 - 2 0 9 ; vgl. weiter G. Verbeke. Saint Thomas et le stoïcisme, in: P. Wilpert, Miscellanea mediaevalia, Bd. I, S. 48 — 68; Kl.-D. Nothdurft, Studien zum Einfluß Senecas auf die Philosophie und Theologie des zwölften Jahrhundert, Leiden/Köln 1963; K. A. Blüher, Seneca in Spanien, 1969.
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Kosmos zur Ermöglichung und Sicherung der Kohärenz von Welt zurückgriff und überging, so war nach dem Verfall der scholastischen, durch Kirche und Religion zusammengehaltenen unmittelbaren Verfaßtheit des einheitlichen und feudalstaatlichen Mittelalters ein für stoisches Philosophieren strukturähnlicher Nährboden geschichtlich gegeben. In diesem Sinne tritt Stoa in der Spätantike wie im Ubergang zur Frühen Neuzeit in die Funktion einer Philosophie der Krise. Die vom Stoizismus gegebene Lösung in der Antike bestand in einer Natur-, Kosmos- und aktiven Logosphilosophie — seine Stellung und seine Funktion im Geflecht der werdenden Neuzeit bilden das Leitmotiv unseres Fragens. Die Autoritätsgläubigkeit des scholastischen Mittelalters wird jetzt ebenso verlassen wie Vertrauen und Unterordnung gegenüber dem durch Theologie und Kirche verbürgten Einheitssystem im Zuge der Autonomisierung der einzelnen Kulturbereiche schwinden. Im Verhältnis zur Tradition gibt es keine vermittelnden Instanzen mehr wie etwa die scholastischen ,auctores', sondern antike Weisheit soll direkt — der Humanist tritt in einen unmittelbaren Dialog mit seinem antiken Gegenüber — und im Sinne von Synkretismus und Eklektizismus hinsichtlich eines am Menschen orientierten und auf ihn gerichteten Erziehungs- und Bildungsideals eingebracht werden, um das Ideal eines philosophiebestimmten und guten Lebens im privaten und im öffentlichen Bereich gerade auch von der antiken und paganen Weisheit bestimmt sein zu lassen. Diese Wende gegen die Scholastik ist zu Beginn des Humanismus eindeutig. Neben der A n des Philosophierens in ,quaestiones' und der daraus folgenden menschen- und lebensfernen Vorstellung und Praxis von Erziehung und Bildung, geht der Angriff auch gegen den scholastischen (verunstalteten) Aristoteles. Man sucht jetzt auf den authentischen Aristoteles, auf die authentische Antike zurückgehen. So finden sich in der Renaissance bereits einzelne Interpretamente der Stoa, verstreut und oftmals auch in unstoischen Zusammenhängen. Sie alle aber sind tragende Voraussetzung für den Versuch bewußter Erneuerung des Stoizismus unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit ausgangs des 16. Jahrhunderts, sie alle werden im eigentlichen Neustoizismus zusammengefaßt und treten in einen frühneuzeitlichen Funktionszusammenhang. Der Dichterphilosoph Petrarca schöpft tief und ausgreifend neben Augustinus aus Seneca und besonders dessen De consolatione. In seinem Werk De remediis titriusque fortunae wird schon in der Einleitung das Verhältnis von ,fortuna' und ,virtus' in stoischer Weise exponiert, dergestalt nämlich, daß die .virtus' der entscheidende Begleiter der ,fortuna' zu
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sein hat, welcher deren Exzesse zu regulieren im Stande ist, obwohl und gerade weil Fortuna den Kampf um Mensch und Geschichte zu gewinnen scheint. Der Frühhumanismus eines F . Petrarca und der Späthumanismus eines J . Lipsius haben in ihrer Hinwendung zur Antike zweierlei gemeinsam. Ausgangspunkt ist das Krisengefühl der Zeit, bei Petrarca die „presentís etatis execratio", bei Lipsius etwa die „vastitas Europae" oder das „aevum calamitosum"; und das Ziel besteht im Einbringen der ganzen eigentümlichen Fülle der Antike in eben diesen Zustand der Verderbnis und der Orientierungsleere zwecks Uberwindung und Neuorientierung. Petrarca ist sicher noch kein Neustoiker, und dennoch läßt sich, wenn wir ihn in theoriegeschichtlicher Spannung zu dem gut zwei Jahrhunderte späteren Lipsius bezüglich der Stoa sehen, gerade an ihm etwas von der Entwicklung hin zum eigentlichen Neustoizismus greifen. Petrarcas Auslegung und geforderte Gestaltung der Welt bewegen sich im Rahmen eines Stoizismus, der sich vom christlichen Ursprungs- und Zielgedanken, und d. h. wesentlich von dem die Wahrheit verkörpernden Christus getragen weiß und sich letztlich von dieser Wahrheit her zu relativieren und sogar aufzuheben bereit ist. Das Christentum bleibt für Petrarca primär. Bei Lipsius dagegen steht die Auslegung der Welt und die geforderte Gestaltung des Denkens, Verhaltens und Handelns bereits weitgehend unter den Bedingungen des Verlustes gerade auch der christlich-theologischen Ursprungs/Ziel-Versichertheit. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur äußeren Natur und zur Gottheit wird unter wesentlicher Heranziehung einer auf die Zeit und die lebenspraktische Dimension bezogenen erneuerten Stoa neu geordnet und in eine im Vergleich zum Mittelalter veränderte Konstellation gebracht. Die zugleich axiologische und funktionale Zugepaßtheit der drei Momente Gott, Mensch und Natur erfährt zu Beginn der Neuzeit eine fundamentale Veränderung. Für die Antike ist die Welt das umschließend Ganze, innerhalb dessen über den Menschen die Götter das ranghöchste Seiende sind. Für das christliche Mittelalter áugustinischer Provenienz ist Gott der eindeutige Ausgangspunkt. Der Mensch ist ihm Partner seiner Schöpfung, mit dem er, Gott, in seinem Heilsplan etwas vorhat, und die Welt wird hier nur noch als das Feld der Aktivitäten bestimmt. Diese absolute Stellung Gottes gegenüber Mensch und Welt erfährt dann in den Spät- und Krisenformen der scholastischen Theologie-Philosophie eine Steigerung in einen theologischen Absolutismus äußerster Art, wie wir an der Frage der Kontingenz und der damit verbundenen Vorstellung einer fortwährenden Neuschöpfung, einer gegen die natürliche ,inclinatio quietis' stets wieder
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neu wirkenden Kraft, einer ,creatio continua', bereits gesehen haben. Mensch und Welt werden hier in so vollständigem Maße als von dem absoluten Gott abhängig gedacht, daß die Verfaßtheit des von diesem Gott (stets neu) Geschöpften in keinerlei positive Beziehung, in keine gegenwendige Zugehörigkeit oder gar in ein Verhältnis fordernder und einklagender Kontrastierung zu diesem Gott gebracht werden kann und darf. Die an dem Differenzpunkt von Gott und Schöpfung freigesetzte Spannung wird in ausschließlichem Sinne der inneren Potenzierung der göttlichen Allmacht zugeschlagen und allein von dieser her gedacht. In Wende gegen diesen spätscholastischen Absolutismus findet im frühneuzeitlichen Bewußtsein die für die weitere Entwicklung entscheidende Umstellung des Verhältnisses von Gott, Mensch und Welt statt. Sowohl die Frage nach der Versicherung und der Grundlegung des Entsprechungsverhältnisses des Menschen zum heilsgeschichtlichen Plan augustinischer Prägung als auch das gerade durch die Absolutheit Gottes genötigte und freigesetzte Behauptungs- und Erhaltungsinteresse des Menschen führen dazu, daß jetzt für den Menschen nur dann etwas als versichert ist und Geltung beanspruchen kann, insofern dieses Etwas Objekt für den Menschen sein kann. Wahrheit ist nicht mehr die Unverborgenheit des Kosmos, wie in der Antike, Wahrheit ist auch nicht mehr Offenbarung im christlichen Sinne, sondern Wahrheit beginnt für den (früh)neuzeitlichen Menschen diejenige Gewißheit zu sein, die sich der Mensch (etwa auf dem Wege methodischen Zweifeins) selbst von einer Sache verschaffen kann. Für die Neuzeit gilt — verkürzt gesagt — die Rangfolge: Mensch, Welt, Gott. Der Gott ist dabei stets noch das höchste Wesen (und erst bei Feuerbach wird der Mensch im wesentlichen Sinne als das höchste Wesen verstanden). Gott ist aber jetzt nicht mehr höchstes Wesen im Sinne des aristotelischen ersten Bewegers und auch nicht mehr im Sinne des augustinischen Herrseins über den Geschichtsgang, sondern er dient (a) zur ursächlichen Erklärung des Daseins der äußeren Welt und Wirklichkeit und zu deren Vergewisserung, er kann (b) dem Menschen aufgrund der ihm als Gott zukommenden Qualitäten höchsten Wesens, d. h. per se, am absolutesten gewiß sein, und er ist (c) dem Menschen ( und dies ebenfalls per se) gerade dadurch, daß er sich der Gewißheit entzieht, unantastbar und unzweifelbar, d. h. als unantastbar gerade gewiß. Der Gott als höchstes Wesen dient dem neuzeitlichen Bewußtsein zur Vergewisserung seiner selbst und als Weltengrund, an ihm erfährt es die Gewißheit seines eigenen Ich (was in der Herausstellung der Subjektivität des Einzelnen in der Reformation vielleicht seinen deutlichsten Ausdruck findet, wenn — wie besonders Hegel
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betont — dem subjektiven Individuum in Gestalt des absoluten Gottes die höchste aller möglichen Anerkennungen zuteil wird), und der Gott ist zugleich Gewißheitsgrund der äußeren Realität und Wirklichkeit. In der Entwicklung des Verhältnisses von Christentum und Stoa in der Zeitspanne von Petrarca bis Lipsius und besonders bis zur Auffassung, Stellung, Funktion und Wertigkeit der menschlichen Natur bei Charron zeigen sich entscheidende Aspekte dieser sich verändernden Konstellation von Gott, Mensch und Welt. Dabei ist der erneuerte Stoizismus seinerseits sehr wohl bereit, eine sekundäre Versöhnung mit dem Christentum einzugehen. Es handelt sich, holzschnittartig vergröbert, um den Prozeß einer Gewichtsverschiebung bereits innerhalb des Bezugsfeldes von Stoa und Christentum von einer Daseins- und Weltsicht als .Christ und Stoiker' zu einer solchen als ,Stoiker und auch Christ'. Petrarcas Charakterisierung der stoischen Philosophie als „secta philosophorum fortis et mascula" und „virilis, severa" ist zu ihrer Zeit der relativierenden Korrektur oder gar der Kritik und Aufhebung von seiten des christlichen Wahrheitsgrundes sowie von seiten des Realitätssinns der Platoniker ausgesetzt. Im späten 16. Jahrhundert dagegen, in der Zeit der existenzgefährdenden Geschichtssituation etwa der französischen Religions- und Bürgerkriege, sind es genau diese Qualitäten, an denen sich mehr als eine ganze Generation aufzurichten sucht. 2 Voller stoischer Interpretamente stecken dann die in der Tradition des averroistischen Aristotelismus stehenden Renaissance-Rationalisten (besonders der Universitäten von Padua, Ferrara und Bologna), etwa Pietro Pomponazzi. Er leugnet die Möglichkeit übernatürlichen Geschehens, die Willensfreiheit und die persönliche Unsterblichkeit, d. h. (in der Linie des Averroes) der individuellen und an den jeweiligen Leib gebundenen Seele kommt Pomponazzi zufolge keine Unsterblichkeit zu. Dies ist eine Position, die zum Christentum viel unversöhnlicher steht als diejenige der erneuerten Stoa, für die sich (etwa bei Du Vair) als Überhöhung einer stoischen Lebensführung im innerweltlichen Bereich die Unsterblichkeit der Seele anschließt. Schließlich löst sich der Neustoizismus von der antiken Stoa gerade auch in der Frage eines absoluten Fatums zugunsten einer charakteristischen Doppelheit von Widerständigkeit und Einpassung, von 2
Zur virtus bei Petrarca vgl. Praefatio in libros De Remediis utriusque Fortunae, in : Opera, Basel 1554, S. 2 — 6; im engeren Sinne dann De rem. I, 10 — 11 ; II, 104. Zum Krisengefühl der Zeit Fam. X X , 1, Rubr.; Brief des Lipsius an Harlay vom 1 1 . 9 . 1594 und ders., Const. II, 20. Das theologische Wahrheitsinterpretament Augustins (De div. Quaest., qu. 1, in: PL 40, col. 11: „Omne verum a veritate verum est") bei Petrarca, Fam. III, 15, 1. Zur Härte der Stoa vgl. Rer. sen. XV, 3; Fam. I, 7, 13; De rem. I, 60.
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,resistere' und .parere'. Pomponazzis Fatum dagegen ist stoischer als dasjenige des Neustoizismus. Der Mensch erscheint bei ihm als mikrokosmische Repräsentation des Makrokosmos, und er steht mit dem Ganzen des Alls in übereinstimmender Sympathie, was Erhöhung und Bindung an das Fatum zugleich bedeutet. Das stoische Lebensideal ist die dieser Gesamtkonstellation entsprechendste Haltung, die sich selbst genügende Tugend der zutreffendste Ausdruck des Menschseins. Aus diesem Zusammenhang entwickelt sich auch die Möglichkeit und Konzeption einer natürlichen Moral. Ethik ist sowohl in Fundierung als auch in Telos eine im Gegensatz zum theologischen Jenseits stehende Diesseitigkeit. Bei Pomponazzi erhellt dies deutlich an der Frage der Prämien, die nicht in einem Jenseits, sondern in der reflexiven Selbstgenügsamkeit der Tugend beschlossen liegen. Die Tugend ist sich selbst genug, sie wird nicht um eines anderen willen ausgeübt. Durch Bindung an die Anthropologie soll auf diese Weise Metaphysik ausgeschaltet werden. „Diciturque, nullum malum essentialiter impunitum, neque bonum essentialiter irremuneratum esse. Pro quo sciendum est, quod praemium et poena duplex est: quoddam essentiale et inseparabile, quoddam vero accidentale et separabile. Praemium essentiale virtutis est ipsamet virtus, quae hominem felicem facit. Nihil enim maius natura humana habere potest ipsa virtute, quandoquidem ipsa sola hominem securum facit et remotum ab omni perturbatione. Omnia namque in studioso consonant: nihil timens, nihil sperans, sed in prosperis et adversis uniformiter se habens, sicut dicitur in fine primi jEthicorum'." Diese Sichtweise hat für Pomponazzi die Grundhaltung und das Handeln des Menschen zu bestimmen, denn, und hier folgt er Alexander von Aphrodisias, dem Einzelmenschen kommen Intellekt und Seele nur als leibgebundene, passive, sterbliche und daher endliche Momente zu. Für Pomponazzi sind damit aber zugleich auch Kraft und Stärke des Individuums verbunden. Er spricht sich für die Annahme der Seele als einer sterblichen Größe aus, da die Voraussetzung einer unsterblichen Seele des (leiblichen) Menschen Hoffnung auf Belohnung und Furcht vor Bestrafung zur Folge habe, was dem Wesen der Tugend selbst widerstrebe. „Quare perfectius asserentes animam mortalem melius videntur salvare rationem virtutis quam asserentes ipsam immortalem; spes namque praemii et poenae timor videntur servilitatem quamdam importare, quae rationi virtutis contrariatur." 3 Gibt es in der Renaissance 3
P. Pomponazzi, Tractatus de immortalitate animae, hrsg. von G. Morra, Bologna 1954, cap. X I V ; ders., Libri quinqué de fato, de libero arbitrio et de praedestinatione, hrsg. von R . Lemay, Lugano 1957.
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eine deutlichere Ablehnung metaphysischer Bevormundung mit gleichzeitiger Einpassung in eine Naturordnung? Es geht darum, den Menschen aus dem Status metaphysischer Prämienabhängigkeit, aus dem Status der servilitas, zu befreien, und dies geschieht wesentlich dadurch, daß man ihn in den Zusammenhang seiner Naturgesetzlichkeit stellt. Freisetzung und Einpassung, beides vermittels ratio und virtus — damit findet sich bei Pomponazzi ein Schlüsselaspekt des späteren Neustoizismus. Hier sei ein kurzer Blick auf den naturphilosophischen Bereich geworfen, in dem sich bestimmte Interpretamente vor-neuzeitlicher Art durchzusetzen beginnen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der stoischen Lehre, besonders der stoischen Kosmologie stehen. Waren es bei Pomponazzi, wie wir sahen, in unserem Zusammenhang besonders die Momente des Rationalismus (als explizierendem und strukturierendem Verhältnis gegenüber der äußeren Wirklichkeit wie der eigenen Natur nach Maßgabe der Vernunft), der Reflexivität (als Rückbezüglichkeit und Insichzurückkehren des Denkens, Verhaltens und Handelns) und damit zusammenhängend der Gedanke der Immanenz (als Beginn einer Immanenz der Realität und Naturordnung, die eine zureichende Begründung für ihre Verfaßtheit, d. h. ihren physikalischen Bestand, ihre zeitliche Dauer, ihre Bewegung und auch ihre Teleologie nicht mehr transzendent vorgeschrieben, sondern in sich selbst, im Eigenen besitzt), so gilt es im Kontext der damit verbundenen Forderung nach einer naturgemäßen Erkenntnis der Natur etwa an L . Vives und dessen beobachtende und gleichsam vor-experimentelle, empirische Strategie der Erkenntnis zu erinnern. Vives' Bemühungen setzen bei den jeweiligen Attributen und Wirkungen der Gegenstände der Betrachtung ein und konzentrieren sich auf deren Erschliessung und Systematisierung, nehmen also wissenstrategisch ihren Ausgang nicht bei einer wesenhaften, ganzheitlichen und transzendenten Ist-Bestimmung. Was dieVorstellungen des Organischen, des Immanent-Teleologischen und eines tätigen, sich selbst erhaltenden und stabilisierenden Kosmos im Bereich der Naturphilosophie entlang des 16. Jahrhunderts bis einschließlich G . Bruno betrifft, so sind die Bezüge zur stoischen Lehre nicht nur unverkennbar, sie sind konstitutiv für die ganze Betrachtungsweise. Bei B. Telesio steht der für die Neuzeit charakteristische Aspekt der Selbsterhaltung als ein der Naturordnung zutiefst eingewobenes, eigenteleologisches und in der Vorstellung des Organismus ruhendes Prinzip systematisch an zentraler Stelle. Der Gedanke der Selbsterhaltung dient hier nicht nur zur Deutung und Erklärung von Existenz, Dauer, Bewegung, und zur
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Anschauung gelangender Eigenschaft und Wirkung des Kosmos und der Natur als einer conservano sui, sondern er gibt auch die Basis ab, von der her sich jede Ethik zu entwickeln hat. Deren Vernünftigkeit hat von dem Prinzip der Selbsterhaltung (bis hin zur Pflicht „ad vitae conservationem") bestimmt zu sein. Selbsterhaltung wird zum höchsten Gut, die „sui ipsius conservano" stellt das „supremum bonum" dar. Telesios De rerum natura iuxta propria prinàpia libri IX machen den- Versuch, Natur in einem immanenten Sinne aus sich selbst heraus zu begreifen (d. h. nicht mehr aus der aristotelisch-scholastischen Vorstellung einer vorgegebenen und begleitenden Kausalität heraus, welche als konstitutives Prinzip für jedes Seiende und die Naturordnung im ganzen gedacht wurde; d. h. weder von der scholastischen Kontingenzproblematik her, noch von der für Aristoteles bestimmenden teleologischen Differenz von Sein und Vollkommenheit aus gedacht) und stellen, ganz im Sinne stoischer Kosmologie, dabei die Selbsterhaltung, die ,conservatio sui ipsius' als das dieser Naturordnung (d. h. der Stofflichkeit der Welt, der Lebewesen allgemein, der Menschen im besonderen) grundeigene Prinzip heraus, das sich qua Selbsttätigkeit der Natur, und d. h. durch Naturtätigkeit als solcher (und nicht mehr als Tätigkeit von Natur im Sinne eines teleologischen Vermögens) verwirklicht. Selbsterhaltung ist das jedem Stofflichen, Lebendigen und Menschlichen organisch eingewobene, inhärente Prinzip, das diesen aufgrund ihrer Verfaßtheit als Seiende eigen und aufgegeben ist, und auf diese Weise erhalten sowohl das Ganze als auch die Einzelteile ihre immanent-teleologische Orientierung. Die Herausstellung des Immanenzgedankens stellt sich bewußt in Gegensatz zur aristotelischen Differenz von Sein und Vollkommenheit. Eine derartig teleologische Fremd-Bestimmung sucht Telesio durch eine Vorstellung von Immanenz zugunsten der natürlichen Realität, zugunsten des natürlichen Daseins zu verändern, wenn er sich z. B. gegen die aristotelische Zweiteilung der Seele in einen rationalen und einen irrationalen Teil wendet, oder wenn er hinsichtlich des Grundes und des Umwillens von Tugenden eine Position der Selbstgenügsamkeit und Eigenzentriertheit vertritt. Mit der Stofflichkeit des Daseins einer Natur ist für Telesio (der sehr wohl noch einen alle Naturordnung und allen Naturzusammenhang überwölbenden göttlichen „spiritus" kennt) auch ein dieser Natur allein eigenes pneumatisches Moment verbunden, ein „spiritus e semine eductus", dessen Bestimmung ebenfalls Selbsterhaltung ist. Mit dieser Ausweitung des Prinzips der Selbsterhaltung auch auf den Geist, die Vernunft in einem endogenen Sinne ist ein möglicher Bezug zur Neuzeit angedeutet. Die Vernunft selbst wird mit dem Postulat der Selbsterhaltung
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belegt, sie ist nicht mehr nur Instrumentarium, nicht nur teleologisches Vermögen. Hier liegt ein Ansatzpunkt, aus dem sich der konstruktivistische Zug von Vernunft als natürlich ableiten läßt: der Vernunft ist der Erhalt ihrer selbst natürlich aufgegeben. Das Moment der Selbsterhaltung kulminiert im 9. Buch der Abhandlung, wo die ,conservatio sui ipsius' aus dem naturphilosophischen Bereich in denjenigen der Ethik hinübergeleitet und auch dort zur Basis erhoben wird: „spiritum, ut proprium, supremumque bonum, sui ipsius conservationem appetere, reliqua, quae appétit, bona illius omnino gratia appetere omnia." 4 Selbsterhaltung als höchstes Gut bedeutet, daß das vernunftgemäße und sittliche Handeln sich (unter Leitung der Vernunft) an der ,conservatio sui' zu orientieren hat. Was die Stellung der Affekte in diesem Zusammenhang betrifft, so werden diese bei Telesio noch als organisch-teleologisch und durch das Prinzip der conservado sui regulierbar vorgestellt, während für den späteren eigentlichen Neustoizismus der rationale Kampf gegen Leidenschaften und Affekte charakteristisch ist. Bei Telesio sind die Affekte der Ökonomie der Selbsterhaltung ein- und untergeordnet. Dies beruht auf einem hohen Grad organischen Denkens und unterlegt eine metaphysische Versichertheit dieses Organismus, die für den Neustoizismus nicht mehr gegeben ist. Weniger als der naturhafte Selbsterhaltungstrieb (dem alles Seiende per se folgen muß, und auf den es gerichtet ist) steht ihm der Versuch einer rationalen Konstruktion von Bedingungsverhältnissen in der Mitte seiner Bemühungen, die erst in einem zweiten Schritt als Natur aufzufassen sind. Rationaler und auf Disziplinierung gerichteter Konstruktion aber sind die Affekte nicht mehr als triebhafte und regulierungsfähige eines Dranges zur Selbsterhaltung zu integrieren, sondern ihr werden gerade die Affekte und Leidenschaften zum Gegner von Vernünftigkeit. In der neustoischen Forderung der ,constantia' finden sich beide Momente: die triebhafte natürliche Selbsterhaltung und die selbsterhaltende Konstruktion nach alleiniger Maßgabe der Vernunft, die als zweite Natur ausgegeben werden kann und sich von der primären dadurch ableitet, daß das Gebot der Selbsterhaltung natürlich in besonderem Maße für den höchsten Ausdruck menschlichen Daseins, für die Vernunft gilt. Bei G. Bruno, der wichtigsten und bereits in die Neuzeit selbst hineinragenden Figur naturphilosophischen Denkens eine Generation vor Galilei, steht das Auftreten von Momenten originär stoischer Kosmologie 4
B. Telesio, De rerum natura, Nachdr. Ausg. 1586, Hildesheim 1971, IX, 2, S. 360; vgl. IX, 2 (conservado sui); IX, 4, S. 363: „mensuram spiritus conservationem oportere esse"; vgl. IX, 1 3 - 1 6 ; 3 3 - 3 5 .
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im Zusammenhang einer pantheistischen Weltsicht. Der Gedanke der Immanenz und der Gedanke der Selbsterhaltung aus sich heraus und aus immanentem Antrieb verbinden sich bei Bruno mit der Vorstellung eines unendlichen, allbeseelten und damit göttlichen Universums, dessen Gesetze zu erkunden und zu befolgen zugleich die höchste Form von Gottesdienst bedeutet. Das unendliche Universum wird als Weltorganismus bei Bruno gleich Gott begriffen, und die Differenz zwischen der Ursache von Seiendem, der Ursache der Welt einerseits, und diesem Seienden, dieser Welt selbst andererseits, wird durch den Gedanken natürlicher kosmologischer Immanenz pantheistisch zu überwinden versucht. Mochte Bruno auch subjektiv von einer damit verbundenen höheren und direkteren Gottgläubigkeit (qua Einsicht in die Naturgesetzlichkeit) überzeugt gewesen sein, hinsichtlich des theologischen Dogmas bedeutet dieser pantheistische Eintritt Gottes in die Welt im Vergleich zur scholastischen Tradition eine Beschneidung der Allmacht des monistischen Gottes. Denn nun wird das von diesem Gott Geschöpfte, die Natur, ebenfalls göttlich gedacht, d. h. sie kann ihrerseits in den Status des absoluten Gottes treten. Der sich durch eine permanente und auf seinen Mittelpunkt gerichtete Dynamik selbsterhaltende Weltkörper Brunos greift die stoische Vorstellung des Kosmos als eines agierenden, selbsttätigen und dadurch sich in seinem Bestand behauptenden Welttieres auf. Dabei meint der Gedanke der Unendlichkeit stets eine tätige Unendlichkeit ( nicht aber ein sich ins Unendliche zentrifugierendes Universum), und mit dem Prinzip der Dynamik ist zugleich zweierlei gesetzt. Zum einen gibt es keinen festen, einmaligen Mittelpunkt, der gleichsam ein für alle mal besetzt sein könnte (denn sonst wäre ja alle nachfolgende Bewegung in Richtung auf diese Mitte hin blockiert). Vielmehr handelt es sich bei der Mitte, wie in der Stoa, um einen Durchgangspunkt, den die einzelnen Bewegungsmomente durchlaufen, sogleich aber in einem kreisförmigen und kreisläufigen Sinne wieder aus ihm ab- und herausgedrängt werden, um von neuem in eine Strebigkeit zur Mitte versetzt zu werden. Integration und Reintegration sind so die Bestimmungen der Teile zum Ganzen. Zum anderen wird, wie in der Antike, die aristotelische Lehre von den natürlichen örtern', deren endgültige Besetzung einen statischen Zustand anstrebt, durch das dynamische Prinzip des Organismus ersetzt. Ist es bei G . Bruno die Vorstellung vom Weltkörper, in die originär stoisches Gedankengut eingeht, so sind bei M. de Montaigne — trotz der späteren Abkehr der Essais von einer rigiden und die menschliche Natur gerade verkennenden Lehre des stoischen Weisen — zunächst einige
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Schlüsselmotive zu nennen, deren Bestimmung und Stellung von der Stoa her erfolgen. Zu denken ist hier etwa an die Natur (la mère nature), die „raison universelle", die Verachtung gegenüber äußeren Gütern, Tod und Meinung (opinion), die Konzentration auf den in unserer Macht stehenden Willen und die sich von allem Äußeren lossagende Freiheit, „la vraie et souveraine liberté". Darüber hinaus läßt sich das Insistieren Montaignes auf der Natur des eigenen Ich, das nie an ein systematisierbares Ende gelangende Ausloten des eigenen Ich und Selbst, in einen verblüffenden Zusammenhang mit der stoischen Kosmologie bringen. Die Weise des Sich-Selbst-Ergründens hat nämlich in formaler Hinsicht Ähnlichkeit mit den Erhaltungsprinzipien des Welttieres Kosmos im Stoizismus. Das Selbst Montaignes ist ein von jedem anderen (ein)bindenden Zusammenhang abgelöstes Ich. Es hebt sich von der Natur der äußeren Wirklichkeit ebenso wie von der gesellschaftlichen Natur ab, beide sind nur Folien für es. Die Ablösung geschieht in ähnlicher Weise, wie dies bei der antiken Stoa der Fall war, in deren Zusammenhang sich trotz und gerade aufgrund aller kosmologischen Eingebundenheit das Ideal der Apathie und Ataraxie im Sinne einer Freisetzung gegen diese Determiniertheit (aufgrund des Wissens um sie), gegen äußere Beeinflussung und zugunsten einer Konzentration aufs private Ich etablierte. Montaigne aber verdoppelt dieses Verhältnis von Teil und Ganzem nochmals. Er begreift sein eigenes Selbst als eine Art vielfältigen Kosmos, in dem sich der ständige Integrationsund Reintegrationsprozeß der Teile als Bewegung hin auf die Mitte des Ganzen im Sinne der stoischen Leistung des Kosmos zwecks eigener Behauptung und Selbsterhaltung reproduziert. U m eine Transformation von der Makro- auf die Mikroebene verändert liegt dies mutatis mutandis in der Linie der stoischen Lehre, insofern nämlich dort der Mensch als in der Mitte des Kosmos stehend und die Teleologie des Kosmos als wesentlich anthropozentrisch gedacht werden. Montaigne versucht nun, das zentripetale Moment des stoischen Kosmos noch eine Stufe weiter nach innen zu treiben, den Kern des eigenen Ich auszumachen. Zentral wird daher der Umstand, daß es, wie in der stoischen Kosmologie, keinen festen und endgültig zu besetzenden Mittelpunkt des Natursystems, des Moi gibt, sondern es sich immer nur um das Durchlaufen von Einzelmomenten durch eine Zone, einen Bereich der Mitte handelt, zentripetale Dynamik also zum Prinzip erhoben wird. So etwas wie einen Kern des eigenen Ich, eine systematische Festlegung des Selbst, kann es nach dieser Sichtweise und Erfahrung gar nicht geben. Die ,auscultation du moi' und die Ichzentriertheit Montaignes präsentieren sich so gesehen als eine
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anthropozentrische Doppelung der Erhaltungsprinzipien der stoischen Kosmologie. Freilich gilt dies nur hinsichtlich der formalen Struktur der Selbstbeobachtung, denn die zentripetal ausgerichtete Energie der Selbsterkenntnis und Analyse der eigenen Individualität bringt für Montaigne inhaltlich gerade den Umstand zutage, daß sich das Ganze des Selbst einer Bestimmung entzieht, es also auf der Ebene des Ich kein Verhältnis von Ganzem und Teil im überlieferten Sinne mehr gibt. Das Interesse an der Herausstellung von Autonomie, Individualität, Subjektivität und die Wende gegen die Autoritätsgläubigkeit des scholastischen Mittelalters verbinden Humanismus, Renaissance und Reformation mit dem späteren Neustoizismus. Denn obwohl die Humanisten ihrerseits vorschnell in eine neue Autoritäts- und Traditionsabhängigkeit gerieten (die Antike ersetzt für sie in gewisser Weise die Funktion der scholastischen ,auctores', und die im Humanismus zu verzeichnende Schrumpfung der programmatisch angestrebten Höchstentfaltung menschlicher Wirkkräfte auf den Bereich eines letztlich bloß ästhetisierenden Bildungsideals, einer verfeinerten Sprachkultur, hat hier ihren wesentlichen Grund), ist doch das Moment direkter, unvermittelter Hinwendung zur Antike als Ausdruck eigener Autonomiestrebigkeit zu werten. Der Humanismus steht damit der Reformation weit näher als dem Katholizismus. Das direkte Verhältnis rückt ins Zentrum, der Humanist will mit seinem antiken Gegenüber in einen Dialog eintreten, um von ihm Aufschluß, Hilfe und Lösung zu erhalten. Auch für den Protestantismus ist der direkte Bezug von entscheidender Bedeutung, und Freisetzung und Unterwerfung gehen dabei ineinander. Gegenüber der durch die Vermittlungsund Autoritätsleistung der römischen Kirche gekennzeichneten Anstalt allgemeinen Heils wird das Individuum, der einzelne Gläubige freigesetzt, tritt dafür nun aber in die viel strengere, strafendere Unmittelbarkeit seines allmächtigen Gottes ein und zwar nicht mehr im Sinne kollektiver Heilsanstalt, sondern in je individueller Verantwortlichkeit. Uber das Gewissen wird sich jeder gleichsam zum eigenen Gott, was höchste Freisetzung und Unterwerfung in einem bedeutet, und hierin ruht auch Luthers paradoxe Bestimmung der ,Freiheit eines Christenmenschen'. Die Herausstellung der Subjektivität des Einzelnen verbindet Reformation und Stoizismus. Im Stoizismus meint dies allerdings eine Subjektivität, die in sich selbst als Subjektivität und nicht im jenseitigen allmächtigen und in der Seele des Einzelnen in Gestalt des Gewissens präsenten Gott gründet. Damit ist einer der Streitpunkte zwischen (Neu)Stoizismus und Reformation markiert. Ähnlich wie gegenüber Aristoteles nimmt M. Luther
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gegenüber der Stoa eine negative Haltung ein, und ähnlich wiederum sind es die humanistischen Reformatoren, bei denen die Stoa in ein fruchtbares Verhältnis zum Protestantismus gebracht wird. U. Zwingli ist sowohl von der Stoa als auch vom Renaissance-Platonismus etwa Ficinos beeinflußt, und eine seiner bedeutendsten Schriften, De Providentia (1530), greift ausgiebig auf Seneca zurück. Was Ph. Melanchthon betrifft, so werden wir auf dessen Harmonisierungsstrategie hinsichtlich des Verhältnisses von Christentum und Antike im Abschnitt über den Aristotelismus noch näher eingehen. Sie besteht in einem Zweischritt: Ausgangspunkt ist zunächst die Trennung von Philosophie und Theologie, erstere aber kann der protestantischen Lehre in einem zweiten Schritt von mehrfachem Nutzen sein. Diese Versöhnungsweise gilt auch in bezug auf die stoische Moralphilosophie, wobei hier ein noch günstigerer Verknüpfungspunkt in den vielfältigen Berührungen von Stoa und Christentum sowie in dem Konzept des ,lumen naturale' besteht. Wie die Reformation allgemein, so legt besonders deren humanistische Akzentuierung Wert auf die Struktur menschlicher Handlungen im Diesseits. In Komplementarität zu ihrem jenseitigen, fernen, fremden und allmächtigen Gott ist die Reformation ausgesprochen weit- und handlungszugewandt. Damit steht sie in möglichem Bezug zur Stoa, deren originärster Beitrag im Felde der Ethik, d. h. in der Gestaltung der praktischen (philosophiebestimmten) alltäglichen Lebensführung liegt. Die Wende der Reformation gegen die stoische Apathie ist u. a. aus diesem Handlungsinteresse heraus verständlich, und am Ausgang des Jahrhunderts grenzt sich auch der Neustoizismus gerade in dem Punkt völliger Apathie (als teilnahmslosem Auszug aus der Welt) von der antiken Stoa ab, nicht weil er die Unrichtigkeit eines solchen Zieles vertritt, sondern weil unter den krisenhaften Bedingungen des späten 16. Jahrhunderts äußere Aktivität, ein äußeres Inderweltsein notwendig ist, um Bedingungen zu schaffen, die so etwas wie innere Apathie allererst ermöglichen. Der Calvinismus hat übrigens zum Neustoizismus eine noch eigentümlichere Affinität, die sich am deutlichsten wohl im Bestreben Calvins zeigt, seine eigene Lehre der Prädestination nicht mit der stoischen Lehre von Notwendigkeit und Fatum, mit der stoischen Metaphysik gleichzusetzen. „ Q u i huic doctrinae invidiam facere volunt, calumniantur esse dogma Stoicorum, de fato: quod et Augustino exprobratum aliquando fuit. Nos etsi de verbis inviti litigamus, Fati tarnen vocabulum non recipimus: ( . . . ) Non enim cum Stoicis necessitatem comminiscimur ex perpetuo causarum nexu et implicita quadam serie, quae in natura con-
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tineatur: sed Deum constituimus arbitrum ac moderatorem omnium, qui pro sua sapientia, ab ultima aeternitate decrevit quod facturus esset: et nunc sua potentia, quod decrevit exequitur. Unde eius Providentia non caelum modo ac terram, et creaturas inanimatas, sed hominum etiam Consilia et voluntates gubernari sic asserimus, ut ad destinatum ab ea scopum recta ferantur." Desgleichen kämpft Calvin gegen die Unempfindlichkeit, die Apathie der Stoiker, die von den asketischen Zügen der eigenen Lehre zu unterscheiden sei. Er hat dabei grundsätzlich die Stoa der römischen Antike im Blick, möchte mit seiner Kritik aber auch gerade die zeitgenössischen Tendenzen innerhalb des Christentums selbst treffen, und vielleicht ist J . Calvin überhaupt der erste, der bewußt von Neustoikern, von den „novi Stoici" spricht. „Vides ut patienter ferre crucem non sit prorsus obstupescere et omni doloris sensu privari, quemadmodum Stoici magnanimum hominem stulte olim descripserunt, qui exuta humanitate, rebus adversis perinde ac prosperis, tristibus perinde ac laetis afficeretur; imo qui instar lapidis nulla re afficeretur. (. . .) N u n c q u o q u e s u n t i n t e r C h r i s t i a n o s n o v i S t o i c i , quibus non modo gemere ac Aere, sed tristari quoque et sollicitum esse vitiosum est. (. . .) At nihil nobis cum ferrea ista philosophia". Betrachten wir den Neustoizismus Ende des Jahrhunderts, so wird deutlich, daß die Notwendigkeit einer Abgrenzung seitens einer calvinistischen Position dadurch erschwert wird, daß sich etwa Lipsius gerade hinsichtlich der Notwendigkeit und des Fatums bewußt von der antiken Stoa abgrenzt. Der stoische Weise tritt dem Calvinisten im Neustoizismus gleichsam als säkularisierte calvinistische Askese entgegen, dem der Bezug zum fernen und allmächtigen Gott des Calvinismus fehlt. Hinzu kommt, daß der Versuch Calvins, Gott u n d Naturordnung in Gott zusammenzudenken und von diesem Zentrum her sich allererst entfalten zu lassen, nicht gegen jene Unterscheidung gefeit ist, die wir bei Pierre Charron im Vorhofe natürlicher Religion und natürlicher Moral antreffen werden, nämlich nach Gott u n d Naturordnung zu trennen und letztere (und sei es nur in einem zweiten Schritt) in den Status primärer Wertigkeit einzusetzen. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß der junge Calvin einen Kommentar zu Senecas De dementia angefertigt hat (1532), in dem er der stoischen Lehre weitgehend wohlgesonnen ist und dem Verfasser Seneca mit humanistischer Begeisterung an die Seite tritt. 5 Allerdings gilt es gerade im Zusammenhang der natürlichen
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J . Calvin, Int. christ. I, 16, 8, in: Opera selecta, hrsg. von P. Barth/W. Niesei, Bd. III, S. 198 — 199. Die novi stoici, Inst, christ. III, 8, 9, Hervorhebung von Verfasser. Vgl. d a z u :
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Religion daran zu erinnern, daß der erneuerte Stoizismus in diesem zentralen Punkt nicht im Protestantismus oder Calvinismus ein Affinitivum findet, sondern daß er sich hier mit der Tradition des (Semi)Pelagianismus, dem Natur- und Vernunftdenken innerhalb des Katholizismus selbst verbunden weiß. Es bildet keinen Zufall, daß die drei bedeutsamsten Vertreter des Neustoizismus (Lipsius, Du Vair, Charron) aus dem Katholizismus kommen. Die für die Frühe Neuzeit geschichtsbedeutsamste Neuauflage des alten Streites zwischen Pelagius und Augustin besteht in der Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts werden dann die gleichen Fragen im Gegeneinander von Neustoizismus und Jesuiten einerseits und Jansenismus andererseits ausgetragen. Das Werk und die Wirkung der Gedankenwelt des Erasmus ist somit entscheidend daran beteiligt, den Boden für eine mögliche Erneuerung des Stoizismus vorzubereiten. Luther zufolge determiniert die Erbsünde das menschliche Schicksal und die menschliche Natur in einem so durchgreifenden Sinne, daß der Mensch aus eigener Kraft letztlich nichts zu seiner Verwirklichung und Rettung beitragen kann. Die Natur des Menschen ist in ihrem Grunde und vollständig verderbt, und einzig die irrationale und jedem menschlichen Einfluß entzogene Gnade des allmächtigen Gottes vermag die verderbte Kreatur zu retten. Berühmt ist in diesem Zusammenhang Luthers Gleichnis, daß nämlich der Mensch einem Pferd gleiche, das zwischen Gott und Satan stehe und nicht aus eigener Willensmacht darüber entscheiden könne, welcher von beiden es besteige. Der Mensch ist für Luther also wesentlich Objekt eines umfassenderen Kampfes guter und böser Engel, Subjekt aber nicht einmal und schon gar nicht seiner eigenen persönlichen Vervollkommnung und seines eigenen und persönlichen Heils. Während Luther die Allmacht Gottes gar nicht groß genug denken kann, geht Erasmus 6 demgegenüber vom Menschen und hier des näheren von einem inneren Adel der Menschennatur aus. Die Natur des Menschen ist in ihrem tiefsten Grunde gut, obwohl der Sündenfall eine Korruption zur Folge hatte. Diese ursprüngliche Natur gilt es wiederherzustellen — und zwar auf dem Wege einer Komplementarität und Zusammenarbeit des
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Calvin's commentary on Seneca's De dementia, hrsg. von F. L. Battles/A. M. Hugo, Leiden 1969. Erasmus veröffentlicht 1524 De libero arbitrio Diatribe, Luther antwortet 1525 mit De servo arbitrio Diatribe, und Erasmus repliziert mit der Abhandlung Hyperaspistes. Vgl. in unserem Zusammenhang noch von Erasmus Antibarbari, Encheiridion militis christians und De contemptu mundi epistola.
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Willens Gottes und des freien Willens der Menschen. Erasmus sieht in der Herabsetzung des Menschen und der Heraufsetzung der Kraft Gottes gegenüber dem Menschen, wie dies bei Luther geschieht, der seine eigene neue Kirche gegen den zuvor freigesetzten Einzelnen ausspielt, nicht eine Steigerung, sondern gerade eine Schwächung der Gnadenlehre. Diese werde nämlich an ihrem einen Ende (demjenigen des dieser Gnade entgegenkommenden, sich bildenden Menschen) beschnitten, um die andere Seite (diejenige des irrationalen Gnadenaktes Gottes) umso mächtiger betonen zu können. Die lutherische Gnadenlehre stellt aus dieser Sicht nur eine halbierte Gnade dar, der das auf der Natur, der Freiheit und der Bildung beruhende Entgegenkommen des Menschen fehle. Erasmus bindet diese ganze Erörterung an den Menschen und entwickelt von ihm her auch den Gedanken eines seiner Ansicht nach authentischen Christentums. Bei Luther steht der Mensch als Objekt in einem umfassenderen Kampf von Gut und Böse, und von hier aus kann die den Menschen betreffende und erlösende Gnade nur bei dem übermächtigen Gott liegen. Bei Erasmus dagegen gibt es einen derartig fundamentalen Gnadengedanken im Grunde gar nicht, weil die Sünde hier als eine Beschaffenheit des Einzelnen, nicht aber als ein allgemeiner Wesenzug des Ganzen gedacht wird. Der Mensch hat im Inneren mit sich selbst den entscheidenden Kampf auszutragen, und weil dies der Ort der Auseinandersetzung ist, können die positiven Anlagen des Menschen — und an deren Spitze die Vernunft — gegen die Sünde kämpfen und sich auch durchsetzen. Gottesund Menschenwille wirken in der Sicht des Erasmus zusammen, und zwar ist diese Komplementarität gerade so zu denken, daß sie einen Beweis für die menschliche Willensfreiheit darstellt. Wenn Erasmus die menschliche Freiheit als die causa secundaria und die Gnade als die causa principalis versteht, so steht er damit im Zusammenhang jener schon aus der Scholastik stammenden Unterscheidung nach ,prima causa' und ,secunda causa', die wir Ende des Jahrhunderts bei Lipsius an zentraler Stelle wieder antreffen, und wo der Mensch sich zumindest die Sekundärursachen vindiziert. Im Zuge dieser Bindung an den Menschen wird das Christentum bei Erasmus von einer Jenseitslehre zur Ethik, wird das Christentum als mit der Stoa verwandt gedacht. So dient etwa der Gedanke der christlichen Inkarnation letztlich gerade zur Erhöhung des Menschen; nicht christliche Transzendenz, sondern christliche Immanenz beginnt bei Erasmus vom Menschen her Platz zu greifen. Dies erhellt etwa auch an solch philologischen Stellen wie an der lateinischen Ubersetzung von JohannesEvangelium I, 1 (en arche ën ho lògos) durch ,in principio erat sermo', wo
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durch den Gebrauch von , sermo' anstatt des traditionellen ,verbum' sowohl der menschlich-dialogische Charakter betont als auch der Aspekt ausschließlicher Jenseitigkeit gebrochen wird. Christentum ist für Erasmus stets das praktische Christsein, die Gestaltung der Lebensführung, ist theologia vitae. Dabei ist das Herauswachsen über den unmittelbaren Naturzustand des Menschen und die Erlangung der wahren Menschennatur bildungsstrategisches Ziel. Aber Erasmus weiß um das eigentümliche Paradox, daß der Mensch seine Freiheit und die Erhöhung seiner Natur nur auf dem Wege einer Anstrengung erreichen kann, die sich am Leitfaden der Vernunft in diese Natur ein- und unterordnet. Darin liegt die Uberwindung der Natur, und um sie zu erreichen, gilt es deshalb der Vernunft zu folgen, weil diese Natur immer schon die rationale, die von der raison universelle getragene Natur ist. Natur ist so gesehen zum einen eine Ordnung der rationalen Determination, aber sie ist zum anderen und damit zugleich auch Ausdruck der Bedeutung des Individuums, der natürlichen Individualität. Auch hier gibt es keinen Gegensatz zwischen einem so aufgefaßten rationalen Naturalismus und dem christlichen Glauben, denn das, was sich in und als Natur manifestiert, ist die Universalität der göttlichen Gesetze selbst, was dazu führt, daß Gott gerade nicht ohne die Hilfe der Natur sein kann. Gegen die Tendenz scholastisierender Theologie zur objektivistischen Einstellung und Haltung (etwa in Hinsicht auf das Verständnis der Heiligen Schrift oder das Menschenbild) streitet Erasmus die menschliche Natur, das Subjektive, das Mannigfaltige der Erscheinungen in und am Menschen in einer Weise heraus, die eine scholastische Objektivität eher als ein mythologisches Unternehmen erscheinen läßt. Erasmus nimmt so gesehen die Haltung einer geistigen Selbstbehauptung ein. Unter den Zeitgenossen hat wohl kaum jemand diesen Zusammenhang so klar gesehen wie der bedeutsamste Gegenspieler des Erasmus, Luther nämlich selbst. Dieser schreibt schon im Jahre 1517 an einen seiner Freunde bezüglich der Position des Niederländers: „ D a s Menschliche gilt mehr bei ihm als das Göttliche." Genau aus diesem von Luther diagnostizierten Grundzusammenhang heraus ist Christus für Erasmus weit mehr das fleischgewordene Wahrheitssymbol im Sinne eines Vorbildes und Zieles für die Menschen und weit weniger der Erlöser der Menschen im Sinne einer rein jenseitigen Christologie. Christus wird humanisiert und ethisiert. So ist es nur konsequent und allzu verständlich, daß der Mensch mit Blick auf seine Bildung auch gerade die Weisheit der paganen Antike aufnimmt. Gerade die Lebensphilosophie der Alten muß erneuert werden.
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Da die Antike an der Wahrheit orientiert ist und letztlich jede Wahrheit von Gott kommt, stellen Bildung und Religion für Erasmus ebenso wenig einen Gegensatz dar wie dies Vernunft und Glauben, Natur und Gnade tun. N u r will Erasmus gegen den religiösen und theologischen Absolutismus die Bildung, die Vernunft und die Natur herausstreiten, ihre Bedeutung für den Menschen und für das Christentum selbst betonen und vorbringen. Wo neben und ineins mit der Natur die Freiheit (verstanden nicht als Freisetzung der Instinkte, sondern als freie Unterordnung unter die Herrschaft der Vernunft) die entscheidende Maßgabe menschlicher und auf Wahrheit gerichteter Lebensführung ist, da kann diese Wahrheit nicht mehr im strengen Sinne einer einseitig festgelegten Determination gedacht werden, sondern dort beginnt Wahrheit — und damit das Christentum — gerade in dem offenen und freien Trachten des Menschen, der menschlichen Natur zu sein, deren Grundlage vor allem der Wille als ein Entscheiden- und Wählenkönnen, das .liberum arbitrium' ist. Diese von uns hier herausgestellten Interpretamente treffen natürlich nicht die ganze Lehre des Erasmus. Sie machen aber deutlich, in welcher Weise gerade das Werk und die Wirkung des Erasmus für die Erneuerung des Stoizismus am Ende des Jahrhunderts nördlich der Alpen von Bedeutung ist. Der Gedanke der Bildung, der ,eruditio', schlägt die Brücke zu Lipsius, die Zentralstellung des Naturgedankens verweist auf Charron, und innerhalb des antiken Denkens kommt die Stoa den Intentionen der Lehre des Erasmus am nächsten. Dagegen spricht auch nicht, daß er in der Laus stultitiae die zu Liebe und Mitleid unfähige Rigidität des stoischen Weisen lächerlich macht. Neben häufiger Erwähnung besonders von Chrysipp und Seneca sei hier nur — trotz mancher Zurückhaltung in Sachen Rhetorik, Gott und Seele — an die beiden großen Editionen des Seneca durch Erasmus (Basel 1515 und 1527—29) erinnert, die für die weitere Verbreitung stoischen Denkens von hoher Bedeutung waren. Erwähnt sei schließlich noch, daß die französischen Libertiner des 17. Jahrhunderts (etwa G. Patin und G. Naudé) Erasmus vorwiegend als Denker der Profanität und als Skeptiker lesen. Innerhalb der humanistischen Bewegung ist neben Erasmus natürlich besonders auf Guillaume Budé (seine Abhandlung De contemptu rerum fortuitarum von 1520 ist deutlich von Seneca beeinflußt) zu verweisen, wenn man von Vorbereitungsmomenten für den Neustoizismus spricht. Die bei Budé unter dem Einfluß von Erasmus und Bovillus vorgenommene Bestimmung der Philosophie als „cognitio Dei et nostri" greift diejenige der Weisheit bei den Stoikern als „cognitio rerum divinarum
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humanarumque" in lebensphilosophischer und auf die Selbsterkenntnis bezogener Orientierung auf, und neben dem gezielten Versuch, das delphische ,gnothi seautón' als ein ,Erkenne, was du bist' unter stark christlichem Vorzeichen zu erneuern, ist es gerade Budé zu verdanken, daß Humanismus und Reformation auf französischem Boden zusammengebracht werden konnten. Budés Anliegen ist unstreitbar dasjenige einer philosophia Christiana, aber, und dies ist für die humanistische und philosophisch-moralistische Tradition in Frankreich bis hin zu Montaigne und darüber hinaus von hoher Bedeutung, mit einer deutlichen Bejahung und einem Bemühen um die Gestaltung und Orientierung gerade der diesseitigen Lebensführung. Budé will das christlich philosophiebestimmte Leben, sein ganzes Ziel ist der Entwurf einer christlichen Philosophie, einer „vita per theoriam agenda". So kann und muß denn auch antike Philosophie (selbst wenn es stets herauszustellen gilt, daß diese nicht um das höchste Gut, das Christliche nämlich, gewußt habe) als eine auf Lebensführung zielende und vom christlichen Kontext her zu bestimmende „indagatrix virtutis et veritatis" 7 eingebracht werden. In einem wahlverwandtschaftlichen Verhältnis zur Lehre der Stoa steht zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch bereits die innere Zusammengehörigkeit von Vernunftvermögen, Weisheit, Tugend und Natur, wie sie bei Lefèvre d'Étaples entfaltet wird. In den Dialogi verbindet D'Étaples die stoische Sichtweise mit der Entwicklung des Menschen überhaupt vom Augenblick des Geborenwerdens bis hin zum vernünftigen Erwachsensein. „Quand tu viens de naître, dit Oneropolus, . . . tu vas grandir comme une petite plante. Tu n'es guère que sensation et appétit, et voilà tes premières feuilles. Avant de devenir adulte . . . tu apprends le nom des choses et ce qui peut te préparer à la vertu. Et ce sont tes premières fleurs. Bientôt, par le libre travail de nos facultés dirigées avec raison et avec prudence, nous sommes entraînés vers la beauté du savoir, la beauté des idées, la beauté plus grande encore de la sagesse. Et ces biens . . . sont les fleurs parfumées et véritables qui, dans l'ordre de la nature, précèdent le fruit. La sagesse enfin est en nous le fruit le plus excellent, qu'on ne peut acquérir sans la vertu . . . Pour l'atteindre, suis la nature . . . s'il est vrai, comme on l'affirme, que les philosophes suivent la nature et la vérité." 8 Mit Lefèvre 7
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Vgl. Stoic, vet.fragm. II, 35. Vgl. G. Budé, De contemptu rerum fortuitarum, üb. III, in: Opera omnia, Ausg. Basel 1557, Bd. I, S. 122; vgl. ders., De transitu Hellenismi ad Christianissmum, lib. III, ebda, S. 239; vgl. J. Bohatec, Budé, S. 3 0 - 3 1 , 1 0 4 - 1 1 7 . Vgl. P. Imbart de la Tour, Les origines de la Réforme, Bd. II: L'Église catholique, la crise et la Renaissance, Melun 2 1 9 4 6 , S. 425.
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d'Étaples verbindet François Rabelais nicht nur die humanistische Haltung in Sachen Religion (allein nämlich im direkten Rückgang auf die Bibel den richtigen Weg zu einem authentischen Glauben zu sehen), sondern ganz allgemein der anti-scholastische Geist und eine gewisse Ähnlichkeit der an Stelle der Scholastik gesetzten Interpretamente. Rabelais ist, wie die Stoa, der optimistischen Ansicht, daß der Mensch die Fähigkeit und die Möglichkeit hat, seine Vervollkommnung und sein Glück in der Tugend anzustreben und zu finden, und Rabelais' Figuren tragen Züge, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der stoischen Morallehre stehen. Der stoische Weise ist ein Grundideal, Apathie und Freiheit des Willens sind zentrale Postulate. Am Ende seines Gargantua greift Rabelais in der Konzeption der Abbaye de Thélème auf eine unverdorbene und stets auf das Gute hin orientierte Natur sowie auf das ,liberum arbitrium' bezüglich der aus dieser Natur zu folgernden Lebensgestaltung zurück. Die Thelemiten organisieren ihr Leben „selon leur vouloir et franc arbitre", unter dem Leitstern einer einzigen Regel: ,,Fay ce que vouldras, parce que gens liberes, bien nez, bien instruictz, conversans en compaignies honnestes, ont par nature un instinct et aguillon, qui tous jours les poulse à faictz vertueux et retire de vice, lequel ils nommoient honneur." Rabelais' Bestimmung der Freiheit ist an dem auf Paulus zurückgehenden lutherischen Paradox der Freiheit orientiert, wenn es nach Herausstellung des ,liberum arbitrium' heißt: „par ceste liberté entrerent en louable emulation de faire tous ce que à un seul voyoieent plaire." Freiheit und einordnende Unterwerfung gehören auf diese Weise zusammen, aber bereits nicht mehr im strengen Sinne der augustinischen Bestimmung von Freiheit als Gehorsam gegenüber Gott (libertas Deo parere est), sondern, im Geiste von Humanismus und Renaissance, unter weitgehender Ausklammerung Gottes und unter Gewichtsverlagerung vom einordnenden .parere' auf den freisetzenderen Sinn von ,libertas', auf eine sich in Ordnung einfügende, aber gerade auch auf autonome Entfaltung drängende menschliche Natur. Wenn Thélème auch (a) sozialgeschichtlich gesehen eine feudal-aristokratische Konstruktion ist und (b) theologisch gesehen neben der lutherischen Freiheitsparadoxie auch dem Synteresis-Denken im Sinne Thomas von Aquins verpflichtet ist, so ist hier doch mit Blick auf die neuzeitliche Entwicklung und einem möglichen Zusammenhang mit der Stoa herauszustellen, daß Rabelais (a) die menschliche Natur nicht im Status vollständiger Verderbtheit nach dem Sündenfall begreift, sondern in einem optimistischen Sinne zwar die Erlösung nicht in das Verdienst des Menschen legt, aber doch von der grundsätzlich noch positiven Menschennatur her
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seine ganze Lehre der Erziehung (in Wendung gegen die Scholastik, die gerade die Natur verdecke) entwickelt. 9 Das „L'homme est naturellement bon" tritt später wieder (und auch im Zusammenhang eines erzieherischen Entwurfs) bei Pierre Charron auf. Des weiteren (b) ist bedeutsam, daß mit dem Rückgriff auf einen noch intakt gedachten Naturbereich, dessen innerweltlicher Titel bei Rabelais der „honneur" ist, die Betonung des ,liberum arbitrium' einhergeht. In einem durchaus stoischen Sinne werden Natur, Vernunft und Freiheit auch im Discours de la servitude volontaire von Etienne de la Boétie zusammengedacht. Sie bilden dort die entscheidenden Maßgaben, von denen her die Bestimmung sowohl des Menschen als auch der Gemeinschaft entfaltet wird. Schließlich sei hier auch der Umstand erwähnt, daß es für das 16. Jahrhundert neben die Wirkungsgeschichte stoischer Autoren (besonders Senecas) diejenige Plutarchs zu setzen gilt, die gerade in Frankreich durch die Ubersetzungen Amyots von besonderer Bedeutung war. Die Vitae sind voller heroischer Lebensschilderungen, unter ihnen diejenigen vieler Stoiker (am einprägsamsten wohl die Vorstellung des Cato), und die Moralia stellen die stoische Lehre ausgiebig dar. 10 Hinzu tritt, daß sich der eigentliche Neustoizismus vom antiken Stoizismus u. a. gerade auch in jenen Punkten des stoischen Dogmatismus unterscheidet, die Plutarch beanstandet, was dessen Lektüre noch näher an die neustoischen Vorstellungen heranrückt. Sowohl die in den Vitae zusammengetragenen Lebensbeschreibungen griechischer und römischer Feldherrn und Staatsmänner als auch die Gesamtheit der in den Moralia befindlichen Lehren Plutarchs zielen auf ein Leben in standfester Sittlichkeit, Weisheit und Harmonie. Ein großartiges Beispiel der Hinwendung zu den Fragen praktischer Lebensführung und des Politischen gibt dann der Dichterphilosoph P. de Ronsard in einer Rede vor der Académie du Palais. 11 Ausgehend von der antiken Zweiteilung der Seele in eine rationalen und in einen irrationalen Teil gelangt Ronsard zu der aristotelischen Unterscheidung nach ethischen 9
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F. Rabelais, Gargantua, chap. LVII, in: Œuvres complètes, hrsg. von P. Jourda, Paris 1962, Bd. I, S. 204. Vgl. Paulus, Kor. I, 5; Rom. 13; Gal. IV, 31. Synteresis bei Thomas von Aquin, Sum. theol. I, qu. 79, art. 12; vgl. Bonaventura, Sentent, lib. II, dist. XXXIX, art. 2, qu. 1 (Ausg. Quaracchi, Bd. II, S. 9 0 8 - 9 1 1 ) . Rabelais, Pantagruel, chap. VIII, S. 257: „non sans peché, je le confesse (car nous péchons tous, et continuellement requerons à Dieu qu'il efface noz pechez), mais sans reproche." Das Erziehungsideal: Gargantua, chap. XXIII. Ubersetzung der Vitae 1559, bis 1619 über 20 Editionen; Ubersetzung der Moralia 1572, bis 1660 etwa 60 Auflagen. Der Text der Rede bei E. Fremy, L'Académie des demiers Valois, S. 2 2 5 - 2 3 0 .
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und dianoetischen Tugenden, den Vorzügen des Charakters und den Vorzügen des Verstandes, wenn er „les vertus attribuées à l'intellect" (sapience, science, prudence, arts, connaissance des causes et des principes) und die „vertus moralles" (fortitude, patience, constance, foi, vérité, justice, libéralité, magnanimité) unterscheidet. Anders als Aristoteles aber setzt sich Ronsard für die letztliche Höherwertigkeit der ethischen/moralischen Tugenden ein. „Si l'on me diet que la vertu intellectuelle a pour subject les choses célestes qui, point ne faillent, et que les moralles n'ont pour subject que les choses basses et pleines de changement et de mutations et, par conséquent, moins excellents, je responds que ce n'est pas grande vertu de contempler et s'amuser à un subject qui ne peult faillir ny tromper. Mais avoir pour subject les choses incertaines et le gouvernement des villes où les ungs sont colères, les autres flegmatiques, les autres mélancholiques, les ungs ambitieux, les autres modestes, les autres arrogans, les autres simples, comme on veoit en toutes villes pleines d'altercations, de changes de variétez de meurs, et les scavoir bien policer, gouverner et modérer, véritablement c'est plus d'artifice que regarder et méditer cela qui est constant et qui ne vous peult faillir ny décevoir. Caton le Censeur disoit que Rome se perdroit quand on introduiroit tant de sciences." Geleitet werden für Ronsard natürlich beide Arten der Tugenden von der einen unbestrittenen Vernunft. „Et la raison est au hault de la tour et au sommet de la teste comme ung Roy en son trosne ou le Sénat en son pallais, corrigeant, amendant et faisant venir à obéissance telles passions et perturbations et les contenant en leur debvoir." Mit der Académie du Palais ist zugleich eine Einrichtung angesprochen, die zeitlich bis in das Erscheinungsjahr des weltanschaulichen Hauptwerkes des Neustoizismus, den De constantia libri duo qui alloquium continent in publias malts (1584) des J. Lipsius, führt. Hier müssen wir die eigentliche, prismatische Aktualisierung all der bisher genannten stoabegünstigenden Interpretamente herausstellen, nämlich die geschichtliche Situation der Krise, für Frankreich am erfahrbarsten an den Religions- und Bürgerkriegen im letzten Drittel des 16. Jahrunderts. Krise steht für uns hier im Kontext des Verlustes mittelalterlicher Unmittelbarkeit und bezieht sich auf den Auflösungsprozeß dieser geschlossenen Welt, der trotz aller Binnenauseinandersetzungen ein einheitlicher Kulturgrund fraglos verbürgt war. Erst im Zuge der Ausdifferenzierung und Autonomisierung der einzelnen objektiven Kultursphären (Kunst, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft) wird diese Tiefenstabilität selbst in Frage gestellt und evolutionär gleichsam von unten her, vom Heterogenen und Endogenen her aufge-
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sprengt. Die Eigenrationalität, die dem jeweiligen Bereich in seiner Struktur inhärente Schlüssig- und Gesetzlichkeit, setzt sich gegen die umgreifende Einheitlichkeit des mittelalterlichen ,ordo mundi' durch. Des näheren soll uns der Begriff der Krise auf die aufgelösten Weltverhältnisse (und in nochmaliger Präzisierung besonders die politischen Verhältnisse) weisen, in denen staatliche Organisation und Ordnung, politische und in die individuelle Lebensführung reichende handlungsmotivationale Zucht sowie die kirchlich-religiöse Heils- und Lebensautorität in ihrer unbefraglichen Wirkung und Leistung versagen. Dies ist ein geschichtlicher Auflösungsprozeß, dessen grundlegendes Merkmal darin besteht, daß die zu bewerkstelligende Identitäts- und Integrationsleistung sowohl hinsichtlich der Individuen als auch hinsichtlich größerer Zusammenhänge (bis hin zu den einzelnen objektiven Kultursphären untereinander) nicht mehr über die bisherigen Weltbilder geleistet werden kann. Die geschichtliche Welt scheint der Kontingenz ausgeliefert zu sein, und darüber täuschen auch nicht die aufbäumenden Reaktionen des mittelalterlichen Dogmas (etwa in Gestalt von Glaubensverfolgungen, Inquisition, Gewissenszwang, Fanatismus und Hinrichtung von Häretikern) hinweg. Vielmehr verschärfen gerade sie in entscheidender Weise ihr eigenes Leistungs- und Legitimationsdefizit, indem sie die Erfahrung der Krise bis auf die einzelne Existenz durchschlagen lassen, für die sich, z. B. in der Situation der Religions- und Bürgerkriege, die Frage der Daseinssicherung und Daseinssorge in ihren elementarsten Formen stellt. Die an solchem Punkte einsetzende Suche nach neuer Fundierung, Vergewisserung und Sicherung der Wirklichkeit, der eigenen inneren, der äußeren, der gesellschaftlichen und der politisch-staatlichen Natur und Wirklichkeit, d. h. des näheren die Suche nach gesicherten Weltverhältnissen oder zumindest einem stabilen Innenverhältnis (eines durch die , ratio' geleiteten Inneren) gegenüber einer als unversichert, kontingent und für die eigene Existenz bedrohlich erfahrenen Außenwelt — dies sind für das Individuum die Eingangsstufen und der Nährboden stoischer Weltbilder rational-endogener Selbstbehauptung. Die Ankerlosigkeit und Undurchschaubarkeit dieser durch Abwesenheit von Vergewisserung, Zucht und Ordnung gekennzeichneten (und so erlebten) Welt schlägt besonders auf den gebildeten und um sozialen Status und Selbstverständnis ringenden Einzelnen (und die ihn tragende Gruppe oder Schicht) zurück, dessen Haltlosigkeit nach philosophisch neu begründetem Lebensziel und politisch gesicherter Ordnung strebt. Hier haben (neu)stoische Denk- und Handlungsformen ihren geschichtlichen Ursprung. Krisenhaftigkeit und Elitegebundenheit sind ihnen von Anfang
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Stoische Lehrstücke in Humanismus und Renaissance
an eingezeichnet. Die Vorstellung der Krise bedarf hier nicht weiterer Entfaltung und Bestimmung. Wir hoffen, daß sie im Fortgang der Untersuchung ihre geschichtsspezifischen Konturen erhält, allerdings stets schon hinsichtlich der im Gegenzug zu ihr entwickelten Strategien einer gegenwendigen Sicherung, in deren Zusammenhang etwas von der beginnenden Neuzeit, etwas vom Ubergang von Mittelalter zu Neuzeit und Moderne auszumachen ist. In der erfahrungsnah esten Form tritt die Krise den Zeitgenossen in Gestalt von Bürgerkriegen und Naturkatastrophen entgegen, deren Wirkungen bis in die Fibratur menschlicher Existenz durchgreifen. Hier setzt das (neu)stoische Bemühen ein. 12
12
Vgl. die in dieser Hinsicht eindrucksvollen Schilderungen von Lipsius etwa im Brief an Chr. de Harlay (11. 9. 1594), in Const.II, 26, et passim.
Zweiter Teil IV. Späthumanismus
und bewußte Erneuerung (Justus Lipsius)
1. Stoizismus als praktische
der
Stoa
Philosophie
Ziel der De constantia libri duo, qui alloquium praecipue continent in publias malis des Justus Lipsius von 1584 ist die „tranquillitas mentis"1, und um sie wirklich zu erreichen, muß Philosophie eine auf das Leben bezogene praktische Philosophie sein. Die Gefährdung eines solchen Beisichseins des Geistes und der Seele geht von der Situation geschichtlicher Krise aus, die sich „in publicis malis" am deutlichsten zeigt. Es scheint, als spreche die geschichtliche Wirklichkeit selbst gegen jedes ursprüngliche Zutrauen, demzufolge die Welt und Wirklichkeit zum Ruhme Gottes und zur Sicherung und zum Wohle des Menschen gereichen. Dieser Vertrauensschwund ist es, der die Anfangssituation der in Dialogform abgefaßten Constantia bestimmt, wenn der als Schüler auftretende Lipsius nur noch Flucht oder Tod als Ausweg aus den Wirren und Unruhen der Zeit sieht. Bereits der Hinweis aber des Lehrers Langius, daß man zwar das Land fliehen, nicht aber damit dem Problem entgehen könne, zeigt die doppelte Unmöglichkeit eines bloßen Auszugs aus der Welt zwecks Verwirklichung der altstoischen Ideale der Apathie und Ataraxie. Zunächst ist die existenzgefährdende Situation der Bürgerkriege nicht national begrenzt, sondern eine allgemeine, zumindest aber
1
Zu Lipsius allgemein vgl. H. F. Bouchery, Waarom Lipsius gevierd(1949) und G. Oestreich, Lipsius als Universalgelehrter, (1975). Zum philosophischen Spätwerk (Manuductio ; Physiologia) ist nachdrücklich an die Arbeit von J. L. Saunders (1955) zu verweisen, die das dortige Verhältnis von Stoa und Christentum herausarbeitet; vgl. dazu als Einführung auch die Darstellung von L. Zanta (1914). In historisch-politischer Hinsicht sind die Forschungen von G. Oestreich zentral. Oestreich stellt Lipsius als Theoretiker des Machtstaates heraus, spricht erstmals von einem politischen Neustoizismus und hat dessen Wirkung bes. im deutschsprachigen Raum verfolgt. Lipsius wird im Folgenden zit. nach Ausg. Opera omnia, 4 Bde, Wesel 1675.
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Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa
eine europäische Erscheinung. Sodann jedoch kann man durch eine bloß geographische Ortsveränderung nicht die inneren Affekte und Leidenschaften fliehen, die die eigentliche Ursache dafür sind, daß sich Verzweiflung über die Menschen und die Welt ausbreitet. So wird also der einzelne Mensch von Anfang an selbst dafür verantwortlich gemacht, ob sich die Welt für ihn positiv oder negativ darstellt, denn es hängt von dem Einsatz seiner ,rechten Vernunft' ab, ob er zur Auflösung der Nebel falschen Meinens, der ,opinio', und damit zu der Einsicht vordringt, daß die nur vermeintliche Kontingenz der Weltverhältnisse doch einen tieferen und dem Menschen zugewandten Sinn und Zusammenhang hat. Diese tiefere Wirklichkeit ,ist' zwar für die Stoa immer schon und auch unabhängig von der menschlichen Einsicht, aber ,für' den Menschen ,ist' sie eben stets nur in dem Maße, wie dessen göttlich verankerte Vernunft sich diese allererst erschließt, und d. h. auch: sekundär mit-konstituiert. Wenn das stoische Ideal also auch eine in sich versicherte, immanent-rationale und anthropozentrisch gerichtete Natur- und Vernunftordnung zur scheinbar fraglosen Voraussetzung hat, so bedeutet dies doch gerade auch, daß die Einsicht in die Struktur dieser wesentlich am Kosmos abgelesenen Grundordnung eine von der menschlichen Vernunft aufzubringende Leistung ist, daß die stoische Vernunft demjenigen, was sie axiologisch als Naturordnung auslegt, immer auch vorschreibt, wie es zu sein hat. Die Axiologie bestimmt hier recht eindeutig die gnoseologischen Einstellungen, und keineswegs ist es so, daß gleichsam objektive Naturerkenntnisse ethische Schlußfolgerungen erfordern. Das stoische Weltbild zwingt die Wirklichkeit zur Vernunft und in einen Anthropozentrismus — um der Vernünftigkeit dieser Naturordnung selbst willen. In der geschichtlichen Situation des späten 16. Jahrhunderts ist aber weder blindes Zutrauen noch beruhigter Auszug aus der Welt möglich, vielmehr bedarf es aufgrund einer gedoppelten Notwendigkeit des tätigen — wenn auch zugleich innerlich distanzierten und befreiten — Mitwirkens des Menschen. Zum einen liegt dem Neustoizismus zufolge in der kraftvollen, standfesten, widerständigen und kämpferischen Auseinandersetzung mit und in dieser Wirklichkeit selbst Sinn beschlossen. Zum anderen sind die Verhältnisse in bezug sowohl auf das Ganze einer Nation als auch auf die einzelnen Teile, die Existenz der Individuen, derart radikal, daß sie in das Sanktuarium der Seelenruhe, in die innersten Bereiche vernünftiger Einsicht, korrumpierend einzudringen in der Lage sind. Im extremsten Falle geschieht dies in Gestalt des Todes durch Naturereignisse oder gar durch die Hand eines im Bürgerkrieg entfesselten, ungehemmten anderen Menschen. In dieser Situation geht es
Stoizismus als praktische Philosophie
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dem Neustoizismus folglich, seiner Intention nach, um eine auf Realitätsbewältigung abzielende praktische Philosophie. Von daher übt Lipsius scharfe Kritik an der praxisfernen und bloß theoretisierenden Schulphilosophie. Demgegenüber hat die hier erforderte Philosophie instrumentalen Charakter, und ihr Feld ist dem Behandlungsraum eines Arztes vergleichbar. Beide müssen das Übel an der Wurzel packen und ausrotten, sie dürfen sich nicht in oberflächlichen Schmeicheleien ergehen; der Philosoph will nicht nur Einsichten ermöglichen, sondern auch Veränderung bewirken. „Nihil palpat ille medicus, nihil blanditur: sed pénétrât, pungit, radit, et acri quodam sermonum sale sordes absterget animorum." 2 Philosophie darf keine Wortklauberei und nicht Spiel mit Spitzfindigkeiten sein, wie sie die verachtenswerte Schulphilosophie betreibt. „Habent eam ( = philosophiam) ut oblectamentum, non ut remedium: et instrumentum vitae maxime serium, vertunt in ludum quemque nugarum." Der Stoa gemäß ist für Lipsius Philosophie wesentlich Gesetz und Kunst des Lebens. „Quid philosophia nisi vitae Lex est?" Für den einzelnen bedeutet dies, daß er aktiv Hand anlegen muß, wenn er sich seinen eigenen Glückszustand sichern und erfolgreich auf Dauer stellen will. In den Metamorphosen von Ovid konnte, wie Lipsius wiedergibt, Caeneus von einer Frau zu einem Manne allein durch starkes Wünschen werden; dem gefährdeten Individuum der eigenen Zeitsituation dagegen ist solch glückbringende Umwandlung durch bloßes Wünschen jedoch mit Sicherheit nicht möglich. Die Wirklichkeit fordert den Menschen zu einer Auseinandersetzung heraus, zu der er insbesondere der Constantia und der Sapientia bedarf. Weisheit tritt also hier bei Lipsius, und diese Entwicklung findet später bei Charron in einer gänzlichen Säkularisierung des Weisheitsbegriffs ihren Abschluß, in den Zusammenhang der Lebensführung selbst. Die altstoische Trennung nach Weisheit (als der Einsicht in die göttlichen und menschlichen Dinge) und Philosophie (als der eher technischen Kunst der Lebensführung) wird im Neustoizismus in der Weise verändert, daß auch als Weisheit nur noch gilt, was dem menschlichen Leben nützlich ist. Dies hat insbesondere für die Wissenschaften zuzutreffen. So besitzt das Studium der Litterae für die eigentlichen Aufgaben des Gemüts nur vorbereitenden Charakter, ist stets Mittel, niemals jedoch Selbstzweck. Die Lebensziele steigern sich vielmehr vom Scire über das Sapere hin zu Facere. „Pulchra haec laudatio, O virum doctum! sed illa melior, O virum sapientem! et ista optima, O virum 2
Const.
I, 10, S. 539; vgl. Epiktet, Diss. III, 23, 30.
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Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa
bonum!" Lipsius fordert damit von der humanistischen Bewegung eine Abkehr von dem zu bloß verfeinerter Sprachkultur verkommenen Schulhumanismus scholastisierender Prägung, und er selbst vollzieht den Ubergang von Philologie zu Philosophie und weiter besonders zu Politischer Theorie. Ausgangspunkt allen Tätigseins hat dabei stets das eigene Ich zu sein. „Quid Taciturn mihi corrigis: si vita tua inemendata est?" 3 Was die Affekte und Leidenschaften angeht, so haben Seneca und besonders der „göttliche" Epiktet darüber ausgiebig gehandelt, und deshalb ist dies nicht das Feld, wo Lipsius seinen eigenen Beitrag sieht. Dieser liegt vielmehr in der Frage der öffentlich-politischen Übel, der ,publica mala', und hier hat die Antike nicht in ausreichender Weise vorgearbeitet. „Solatia malis publicis quaesivi, quis ante me?" Um eine Festigung und Sicherung des endlichen Individuums zu erreichen, muß Philosophie gerade diesen Bereich thematisieren, da von ihm die größte Gefährdung des inneren Glückszustandes des Individuums ausgeht. In diesem Sinne ist eine Transformation der Philologie und der Philosophie notwendig, und Lipsius rühmt sich, diese für sein Zeitalter geleistet zu haben. „Ego ad sapientiam primus vel solus mei aevi Musas converti: Ego e Philologia Philosophiam feci." 4 Philologie wird in dem Maße philosophie- und lebenswürdig, wie sie die Erfahrungen und Weisheiten der Antike in lebensstabilisierender Absicht gegenwartsbezogen erschließt und zutage fördert. Das gesamte Werk des Lipsius wurzelt zugleich in der Weisheit der Antike und in den Anforderungen der eigenen Zeitsituation. Grundlage der das Individuum betreffenden Constantia (1584) bilden die Gedankengänge besonders Senecas, und die auf den Herrscher als der Verkörperung des Staatswesens zielenden Politicorum sive avilis doctrinae libri sex (1589) haben in Tacitus ihre Hauptstütze. Die politische Theorie des Lipsius ist weit mehr als ein bloßes Florilegium antiker Weisheit zu den Fragen von Macht und Herrschaft. Unter eklektischem Rückgriff auf die Antike liefert sie eine Theorie des frühneuzeitlichen Staates, die diesen als eine von der Religion gelöste, eigenständige und auf Befehl und Gehorsam basierende O r d n u n g der Sittlichkeit, der Macht nach innen und nach außen, der Regierung, der Verwaltung und des Militärs fordert.
3
4
Const. II, 4, S. 570; Vorrede, S. 518; vgl. Pol. I, 3: „ N o n in subtilitate religio, sed in factis"; vgl. Const. I, 12 (miseratio et misericordia). Manud. II, 2, S. 685 (lex vitae) nach Seneca, Ep. 94; 39. Const. II, 5 nach Ovid, Met. XII, 189ff. Cent. misc. I, 16 (5. Okt. 1582); vgl. Cent. misc. TV, 84 (3. Nov. 1603). Const., Vorrede, S. 518. Genaue Angaben zu den Briefen von und an Lipsius stets über A. Gerlo/H. D. L. Vervliet, Inventaire, (1968).
Stoizismus als praktische Philosophie
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Der in der Civilis doctrina anzutreffende Eklektizismus zwecks Stützung der jeweils von Lipsius selbst vorgebrachten Grundthesen ist für uns von hoher diagnostischer Bedeutung. Eklektizismus ist eine philosophische Denkanstrengung in kulturellen Spätzeiten, und sie ist nach dem Schwund vorgegebener und Sittlichkeit verbürgender ontologischer Ordnungsstrukturen (wie etwa in der Spätzeit griechischen und alexandrinischen Philosophierens und in unserem Zusammenhang besonders der spätscholastischen Theologie-Philosophie und der spätmittelalterlichen Feudalordnung) Ausdruck eines krisenhaften Verwiesenseins auf das eigene Selbst und auf die Notwendigkeit neuer und immanenter Grundlegung. Deshalb ist der Neustoizismus nicht als eine Schulphilosophie im strengen Sinne aufzufassen; „volui, nec homini uni, imo nec sectae districte adhaerendum. ( . . . ) Quod si omnino lubet partiarium esse; una Secta est in quam, me judice, tuto nomen demus. Ea est ,eklektiké (,Electivam' liceat reddere) quae a Potamone quodam Alexandrino introducta, valde ad meum sensum." 5 Daß der stoischen Philosophie im Zuge dieses Bemühens dennoch die entscheidende Stellung zuwächst, hat seinen Grund darin, daß die Stoa sowohl das Individuum als auch die Immanenz der Welt zu ihrem eigensten Anliegen macht. Außerdem scheint die Lehre der Stoiker mit der christlichen Tradition stets noch vereinbar zu sein, hatte doch das Christentum selbst, und dies besonders in der Zeit der Patristik, sich stoisches Gedankengut (z. B. die Providentia) angeeignet und seinem recht eigentlichen Bestand zugerechnet. Wenn die „veteres, et vetera, optimi" sind, so hat dies für Lipsius zur Folge, daß es um eine kulturgeschichtliche Renovatio besonders der römischen Welt im Horizont des die eigene Zeit charakterisierenden Ordnungsschwundes zu gehen hat. Von dieser Absicht zeugt neben der geplanten Fax histórica die beeindruckende Vielzahl diesbezüglicher Arbeiten. Zu nennen wären hier etwa: De magistratibus veteris populi romani (1592); der Kommentar zu Polybios, De militia romana (1595/96); die Abhandlung über die in der Antike verwandten Kriegsmaschinen Poliorceticon sive de machinis, tormentis, telis (1596); die Darstellung der römischen Größe und Macht in Admiranda, sive de magnitudine romana (1598); die beiden systematischen Darstellungen der stoischen Philosophie, die für die Neuzeit eine entscheidende Studiengrundlage bilden, Manuductio ad stoicam philosopbiam (1604) und Physiologia stoicorum (1604); und natürlich die Vielzahl der Kommentare zu antiken Autoren, von 5
Manud. I, 5, S. 633.
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Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa
denen hier lediglich Tacitus (Ausgabe 1574, Kommentar 1581) und Seneca (Opera 1605) genannt seien. Wie sehr übrigens Lipsius selbst an politischen Fragen und an der zeitgenössischen Politik interessiert und beteiligt war, geht sowohl aus seiner eigenen Lebensgeschichte als auch aus seiner Korrespondenz deutlich hervor. Hier tritt er als aufmerksamer Beobachter und Kommentator der europäischen Politik entgegen, wobei die Entwicklung Frankreichs stets mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wird, wie etwa aus dem Brief vom 22. August 1589 an C. Aerssen sichtbar wird. „Les nouvelles de France me plaisent, et mesmes ceste modération aux affaires de la religion, combien que aulcuns ou chatoulleux ou scrupuleux ne le trouveront bon. Mais, croyez moy, c'est le vray chemin pour redresser Testât, et establir une paix ferme. Tant y a, que en l'election du roy le fondement est iecté de la cause, et le reste doibt suivre." 6
2. Ethik und Politik Die Stoa wird von Lipsius, wie bereits erwähnt, allen anderen philosophischen Schulen vorgezogen, weil keine so edel sei, d. h. sich so intensiv um den Menschen und das allgemeine Wohl bemühe wie diese. Gerade in der Situation des späten 16. Jahrhunderts mußte deren Bestimmung der Philosophie als Gesetz und Kunst des Wohl-Lebens von besonderem Interesse sein, da sie genau jenen Bereich in sich thematisch macht, dessen Sicherung und Orientierung das Hauptanliegen praktischer Philosophie im Zeichen der Krise ist. 7 Ein erster und äußerst wichtiger Schritt zur Sicherung des Individuums und seiner Handlungsmöglichkeit angesichts einer als kontingent erlebten Geschichtssituation besteht für Lipsius darin, in einem Prozeß der Individuierung und Anthropologisierung die krisenhaften Weltverhältnisse an das Individuum selbst zu binden, sie ihm im Grunde anzulasten. Dies geschieht zunächst wesentlich durch Rückgriff auf das stoische Gegensatzpaar von ,ratio' und .opinio'. Wenn die Bedrängnis, Unruhen und Verzweiflungen, „quae te involvunt, nebulae et nubeculae sunt a fumo Opinionum" 8 , so liegt für Lipsius in dieser Zurechnung der Übel zu der anthropologischen Ebene des falschen Meinens bereits auch der erste Schritt zu ihrer Uberwindung. Dadurch daß die Ursachen von Angst, Furcht und Verzweiflung in Gestalt der die 6 7 8
G . H . M. Delprat (Hrsg.), Lettres inédites, S. 3 5 - 3 6 . Vgl. Manud. I, 15; Cent. Belg. I, 42 (9. Nov. 1599). Const. I, 2, S. 527. Vgl. Manud. II, 18, S. 725 mit Hieronymus: „ H o m o Natura bonus".
E t h i k und P o l i t i k
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,opinio' hervorrufenden Affekte und Leidenschaften gestellt sind, ist auch die Bedingung ihrer Ausmerzung erfüllt, insofern jetzt nämlich die Vernunft den Vorhang des falschen Meinens zerreißen kann. Dies bedeutet nun keineswegs, daß man vor der bedrohlichen Realität die Augen verschließen kann und darf. Der Ausgangspunkt jedoch der Reform zum Besseren ist eindeutig das individuelle und vernunftgeleitete Ich. Die politischen Wirren der Zeit, Bürgerkriege, Blutvergießen, Niedergang von Freiheit und Gesetz sind sicherlich Gründe menschlicher Betroffenheit, den Status eines Übels erhalten sie aber nur, weil der Mensch über seinen eigenen Schaden traurig ist. Die Menschen beklagen die ,mala publica* nämlich lediglich, weil sie sie als ,mala privata' empfinden. Entscheidend wird nun, daß zunächst eine deutliche Distanzierung des inneren Ich von der ihm äußeren Wirklichkeit zu erfolgen hat, daß eine Ausdifferenzierung des Individuums aus der geschichtlich-politischen Welt zu geschehen hat, bevor der neustoische Weise die Prinzipien seiner im Inneren bereits erfolgreich praktizierten rationalen Disziplinierung sekundär auch in seiner ihn umgebenden Umwelt zum Zuge zu bringen bestrebt ist. Der Noustoiker ordnet sich zunächst selbst und tritt sodann mit innerer und entemotionalisierter Distanz sekundär wieder in die Gesellschaft ein, um dort, gerade wegen der dauerhaften Sicherstellung seines eigenen Ideals privater Glückseligkeit, die Verhältnisse so weit zu stabilisieren, wie dies in seiner Macht liegt. Dies tut er mit einer doppelten Stütze. Er weiß seine eigene rationale Einstellung und Haltung von der universalen Struktur der Vernunft versichert; und er weiß um die Möglichkeit, an den kontingenten Außenbedingungen scheitern zu können, vielleicht sogar scheitern zu müssen, was seine Freiheit jedoch nicht aufhebt. Die Möglichkeit zu einem strukturierenden und disziplinierenden Eingriff in die menschliche Praxis, und d. h. in die Bereiche sowohl der individuellen als auch der gesellschaftlichen und der staatlich-politischen Lebensführung, gewinnt der Neustoizismus durch die Übertragung eines eigentlich naturphilosophischen Sachverhaltes auf Lebensgestaltung und Geschichte. Diesen fehlt gerade jene organisierte Stabilität, wie sie der kosmologischen und der natürlichen Ordnung eignet. Um in Analogie zu dem kosmologischen Anthropozentrismus sich gleichsam eines Geschichtsanthropozentrismus zu vergewissern, bedarf es also des strukturierenden Eingriffs in diese Wirklichkeit selbst, und erst wenn die geschichtliche Welt, und damit die menschliche Praxis, diszipliniert in den Status stabiler und unanfechtbarer Ordnung gesetzt ist, erst dann ist das ethische Ideal der Ataraxie und Apathie wirklich möglich, weil eine Bedrohung durch die
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Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa
Natur oder durch andere Menschen damit auf den Ausnahmefall eingegrenzt ist. Und gegen diesen Grenzfall wiederum von Schicksal und Tod vermag die stoische Lehre das Individuum unbesiegbar und damit existenzfähig zu machen. So wird für den Neustoizismus das Chaos der äußeren Wirklichkeit Grund des Entzuges, aber zugleich auch Stimulanz zum Entwurf einer disziplinierenden Ordnung der individuellen Lebensführung und des Politischen, Ausgangspunkt einer sekundären und erst recht eigentlichen Natur. Diese Übertragung der Naturvorstellung geht mit einer anderen philosophischen Denkbewegung einher. Das Ganze wird nämlich hier auf Einzelteile hin zersetzt, die im Modus innerer Distanz sodann wieder einen Aufbau des Ganzen intendieren müssen, da sie durch einen Zustand ordnungsloser Willkür und Kontingenz in ihrer eigenen Existenz, ihrem Bestand und ihrer Dauer höchst gefährdet sind. Der Rückgriff auf den im Menschen vorhandenen Teil des göttlichen und universalen Logos der Stoa reicht Lipsius aber noch nicht zur Fundierung einer wahren Handlungsmöglichheit und Freiheit aus, denn dazu bedarf es anscheinend einer eher ontologisch ausgerichteten Differenzierung von ,Providentia', ,necessitas' und ,fatum'. Deren funktionale Zusammengehörigkeit bildet genau jenen Raster aus, in dem sich das neustoische Einrichten in der Welt vollziehen kann. Grundsätzlich geht es dabei um das alte Problem des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit, und wir wollen auf dessen eigentümliche Ausformung bei Lipsius etwas näher eingehen. Dem Durcheinander im Gebrauch des Fatum-Begriffs sucht Lipsius zunächst durch eine Vierereinteilung beizukommen. Er unterscheidet das an den Gestirnen orientierte ,fatum mathematicum', das an einer Ordnung natürlicher Ursachen ausgerichtete ,fatum naturale', das in der Notwendigkeit gründende ,fatum violens' (besonders der Stoiker) und schließlich das von ihm selbst so bezeichnete ,fatum verum'. Die ersten drei Vorstellungen lehnt Lipsius ab, wobei seine deutliche Vorliebe für die Stoiker insofern zutage tritt, als deren Auffassung von der richtigen nicht mehr allzu weit entfernt sei, sie bedürfe, wie deren ganze Lehre, lediglich einer mäßigenden Auslegung. Schließlich kommt er zu seinem eigenen Anliegen. „Fatum enim Verum definió, sive cum illustri Pico: pendentem a divino Consilio seriem ordinemque caussarum, sive nostris verbis, obscurius sed subtilius: inhaerens rebus mobilibus immobile providentiae decretum, quod singula suo ordine, loco, tempore, firmiter reddit." Für die entscheidende Definition verwendet Lipsius also Giovanni Pico della Mirandola 9 , und gerade in diesem das Weltbild und die Stellung 9
Const. I, 19, S. 556 nach G. P. della Mirandola, Disp. adv. Astrolog. IV, 4.
Ethik und Politik
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des Menschen wesentlich betreffenden Zusammenhang wird seine Zugehörigkeit auch zur Philosophie der Renaissance deutlich, obwohl Pico und Machiavelli die einzigen Renaissanceautoren sind, mit denen er sich inhaltlich direkt auseinandersetzt. Während die Providentia eine Macht und Gewalt in Gott ist, etwas Ganzes, Unzerstückeltes, ist demgegenüber das fatum gleichsam der Ausfluß, die Verteilung dieser Providentia in die Dinge selbst; es ist in den Dingen und kommt über Providentia v o n Gott. Im Anschluß an Piaton wird die necessitas als „,firma sanctio, et immutabilis Providentiae potestas'" definiert. Wo liegt also der Unterschied zwischen fatum und necessitas? Die necessitas hat zwar ebenfalls ihren Ursprung in der providentia und kommt über diese von Gott, sie bezieht sich aber nicht auf den Ablauf der Dinge direkt, sondern ist gleichsam das allgemeine Gesetz, das hinter dem Ablauf der Dinge steht; sie ist eine unveränderliche Macht der Vorsehung. Das fatum aber „ad res ipsas magis descendere videtur, in iisque singulis spectari. ( . . . ) hoc in rebus, et iis adscribitur." Das fatum ist also konkreter als die necessitas, ist nicht Hintergrund, sondern in bezug auf Dinge und Geschehen inhärente Bestimmung, ohne allerdings damit die Eigenbewegung von Seiendem aufzuheben. Providentia, necessitas und fatum sind Begriffe, die sich — und das ist die eigentlich entscheidende Differenzierung — auf der Ebene der „prima causa" ansiedeln, in deren Gefolge sich eine zweite Ebene, diejenige der „secundae mediaeque causae", eigenständig etabliert und letztlich die gleiche Unanfechtbarkeit anstrebt wie sie zunächst nur der primären Kausalität zukommt. Lipsius übernimmt die bereits in der Hochscholastik ausgearbeitete Konzeption einer Unterscheidung von Primär- und Sekundärursachen eigentlich aus zwei Gründen. Zum einen kann nicht alles auf die „prima causa" ( = Gott) zurückgeführt werden, da dies auch alles offensichtlich Negative in der Welt einschlösse, zum anderen wäre es ein Unding, wenn die von Gott kommenden Momente der providentia, necessitas und des fatum die ebenfalls von Gott kommende und menschliche Handlung und Freiheit ermöglichende ,ratio' in ihrer Wirkung aufheben würden. Die Emanzipation der ,secundae causae', der nachstehenden und vermittelten Ursachen, von der ,prima causa' wird als ein in sich durchaus folgerichtiger Vorgang begriffen. Er dient zweifelsohne der auf Sicherung des Individuums gerichteten Strategie, und dieser Prozeß läßt sich in gleichsam konzentrierter Form ablesen, wenn Lipsius sich hinsichtlich des Schicksalsbegriffes vierfach von den Stoikern abgrenzt: (a) Gott wird nicht dem Fatum unterworfen; (b) eine von Ewigkeit herfließende Reihe natürlicher Ursachen gibt es nicht („secundae caussae non
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Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa
aeternae"); (c) das Zufällige im Ablauf der Dinge ist auf der Ebene der ,causae secundae' anzusiedeln; und (d) der freie Wille wird vom fatum nicht aufgehoben („Fatum est? Sed prima nempe caussa, . . . At inter secundas, etiam Voluntas tua est"). 10 Parallel aber zu dieser Fundierung der Handlungsmöglichkeit und Freiheit verläuft für den Neustoizismus die Beschränkung dieser Möglichkeit gleichsam in sich selbst, indem nämlich die der menschlichen Existenz wesentlich zugehörige Dimension des Leidens und Ertragens, die Ohnmachtsseite herausgestellt wird. Im Zusammenhang beispielsweise des Beweises der vierten These zur Notwendigkeit der Constantia als angemessenster Lebenshaltung („non mira aut nova esse haec mala publica"; vgl. Const. I, 13) legt Lipsius im Rückgriff auf eine Stelle des Euripides noch einmal deutlich dar, daß der Mensch nicht geboren sei, damit es ihm immer gut gehe. Mit unserer Geburt haben wir einen Eid geleistet, daß wir das Menschenschicksal ertragen, daß wir Menschen sind, und Lipsius übernimmt die von Seneca in dieser Perspektive vorgenommene Bestimmung der Freiheit. „Ad hoc sacramentum adacti sumus, ait Seneca, ferre mortalia: nec perturban his, quae vitare nostrae potestatis non est. In regno nati sumus: D e o p a r e r e , l i b e r t a s est." 1 1 Die Einsicht in die Kraft der Notwendigkeit fordert zu einer bewußten Übernahme dieser Dimension auf. Das Geworfensein („iactamur") gilt es zu akzeptieren und die Herausforderung gleichsam in einer Umkehrung des Speeres, in einer kämpferischen Haltung der Constantia, anzunehmen. „Arma adversum haec indue, et arripe hoc Fatale telum, quod dolores istos omnes non pungit, sed jugulât; non minuit, sed tollit." Constantia bedeutet stets also zweierlei; zunächst das passive, ertragende und sich unterordnende Einfügen in die Ordnung und den Ablauf von Natur und Geschichte, zugleich jedoch auch die aktive, willentliche und selbstbehauptende Auseinandersetzung und Gestaltung in jenem Sinne, wie es das Ruder eines vom Orkan erfaßten Bootes aus einer Logik des Lebens heraus, aus dem Interesse des Lebens an seinem eigenen Erhalt, seiner ,conservatio sui', heraus kraftvoll zu ergreifen gilt. Dieser Zusammenhang wird vielleicht am deutlichsten, wenn Lipsius die auf Cicero fußende Erlaubnis der Stoiker zum Selbstmord im Falle einer Nichtübereinstimmung mit der Natur und weiteren anderen Gründen entschieden ablehnt.
10 11
Const. I, 20; vgl. I, 13; 15; 19; vgl. Piaton, Nomoi, 741 i, 818b. Const. I, 14, S. 548; Seneca, De vita beata VII, 15, 7. Vgl. Const. II, 26, S. 60Ç-607; Euripides, Iph. Aul. 2 9 - 3 0 .
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Was die Lebensführung selbst betrifft, so will Lipsius sowohl das Prinzip Furcht als auch das Prinzip Hoffnung als Beweggründe menschlicher Einstellung und Handlung ausschließen, wenn er den Menschen auffordert, sich die Inschrift der Kampfschilde der Könige zu eigen zu machen: „nec spe, nec metu!" Dies war auch der bekannte Leitspruch der Familie Gonzaga, den Mantegna in den Palästen von Mantua und Goito dargestellt hat. Man muß sich der Wirklichkeit mit ,constantia' stellen, denn der Mensch ist ein wahrer König, „qui vere rex, vere liber, soli deo subjicere, immunis a jugo Adfectuum et Fortunae." Es ist die kraftvolle römische Willenshaltung, die Seneca grundsätzlich in das Diktum vom „vivere militare est" gebracht hat und die sich im Sinne von Tacitus „Deos fortioribus adesse" einer grundsätzlichen Unterstützung sicher sein kann. Die politische Seite dieser Aufforderung zu widerständiger Selbstbehauptung und tätigem Eingriff wird von Lipsius etwa diskutiert, wenn er darlegt, daß selbst für den Fall, daß der Untergang des Vaterlandes beschlossene Sache sei, Verzweiflung dennoch nicht angemessen ist, da die letzte Entscheidung darüber für den Menschen uneinsichtig ist und bleibt. Solange das Herrschaftsgebilde existiert, muß man sich dafür aktiv einsetzen. Dies schließt natürlich nicht aus, daß bei offensichtlicher Unabänderlichkeit unterordnende Einfügung geboten ist. Lipsius gibt das Beispiel Solons, der nach Einnahme der Stadt durch den Tyrannen Pisistratos seine Waffen niederlegte. Obwohl Varrò in der Schlacht bei Cannae im Gegensatz zu Paullus geflüchtet war, hat man ihn in Rom gelobt, weil er dadurch bezeugt habe, daß er noch weiter auf das Staatswesen hoffe. Wie in der stoischen Vorstellung des Organismus alle Teile ihre Bestimmung vom Ganzen her und auf dieses hin erhalten, so hat auch die Lebensführung unter dem Aspekt der Ganzheit zu stehen. In seiner Manuductio legt Lipsius dar, daß der Mensch nicht einzelne Teilbereiche seines Lebens regeln könne, ohne eine Vorstellung von dem Ziel seiner Existenz, d. h. von dem totalisierenden Begriff des höchsten Gutes zu haben. Dieses ist nicht mehr theologisch bestimmt, sondern nimmt die stoischen Gedanken der Vernunft, des Willens, der Natur und der Tugend in der Weise auf, daß diese ihr Telos, ihr Umwillen, an ihnen selbst haben, daß sie in einem immanenten Sinne selbstgenügsam sind, und es keiner weiteren Prämien außerhalb ihrer bedarf. Das höchste Gut besteht für den Neustoizismus, wie für alle stoische Tradition, in der auf die unmittelbare Selbsterhaltung folgenden Seelen-, Gemüts- und Geistesruhe, die auf dem Wege eines vernunftorientierten Lebens in Ubereinstimmung mit der
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Natur zu erstreben und auch zu erreichen ist. Beschränkende Einordnung bedeutet hier zugleich sich erhebende Freisetzung, und Lipsius betont den zweiten Aspekt, wenn er auf das alle Bemühungen auf Erneuerung des Menschen sowie das Streben nach Wissen und sittlicher Staatsordnung umfassende Prometheus-Symbol zurückgreift. Hier liegt das eigentliche Programm der Constantia von 1584 beschlossen: „et novus Hercules solvam hunc Prometheum." 12 Dabei tritt der stoische Weise bei Lipsius (und noch deutlicher später bei Charron) vorwiegend als ein Art regulative Idee auf, und die entscheidende Folgerung aus dieser Funktion ist nicht etwa der Pessimismus, daß diese Idee nie ganz verwirklicht vorliegen werde, sondern vielmehr die damit gegebenen Möglichkeiten ihrer Lehrbarkeit sowie die optimistische Ansicht, daß der von Natur aus gute Mensch sich im Status des Fortschreitens befinde. Lipsius versucht sogar mit Seneca herauszustellen, daß der stoische Weise auch real existiere, und Sokrates ist das berühmteste Beispiel. „Socrates supervenit, qui, ut hoc quoq; cum Sidonio, ,de naturae pondere migrans, Ad mores hominum limandos transtulit usum.' Ethica introduxit? id est, quod ajunt, de caelo ad terras Philosophiam devocavit. Magnum virum fuisse, credere tot magnis viris par est: sed ipse monumenta ingenii sui, praeter discípulos, nulla reliquit." 13 Im Rahmen des Lipsianischen Gesamtwerkes wird das Verhältnis von Ethik und Politik wohl am sichtbarsten in den beiden zusammengehörigen Werken der De constantia libri duo von 1584 und den Politicomm sive avilis doctrinae libri sex von 1589. Diese Zusammengehörigkeit ist nicht nur ein Phänomen der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, sondern mit Recht darf gesagt werden, daß gerade diesen beiden Schriften die ganze Neigung Lipsius' gehörte. An der Politica arbeitet er wohl schon seit 1586, und später urteilt er selbst: „Vide ,Constantiam' meam, dicet: vide ,Politica', idem: et hoc utrumque opus est, cui vita fortasse cum Latinis litteris manebit." Die Constantia ist gleichsam als eine Einweisung für die Untertanen in die Pflicht des Gehorsams gedacht, während die Politica das notwendige Komplement, die Einweisung nämlich des Fürsten in die Ausübung von Macht und Herrschaft bildet. Beide Werke markieren Pole 12
13
Const. I, 4, S. 530. Vgl. Manud. II, 13, S. 712-713, und Const. I, 21, S. 561 (Lebensführung, Höchstes Gut); Manud. II, 13 — 18 (vitam secundum naturam). Ablehnung des Selbstmordes Manud. III, 22, gegen Cicero, De fin. {II, 18, 60. Const. I, 6, S. 534 (Mensch als König). Zum .vivere militare est' vgl. Seneca, Ep. 96, 5; De prov. V; De tranqu. IV, 1; Ep. 105, 9; 107, 9; Lipsius, Pol. I, 4, S. 13 nach Tacitus, Hist.IV, 17. Vgl. Const. I, 22 (Solon, Varrò). Manud. I, 8; vgl. II, 8; Seneca, De const, sap. VII, 1.
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in dem alles entscheidenden Verhältnis von Befehl und Gehorsam. „Quod nunc tibi damus, P o l i t i c a esse vides. In quibus hoc nobis consilium, ut quemadmodum in Constantia cives formavimus ad patiendum et parendum; ita hic eos, qui imperant, ad regendum." 14 In der Spannung von Herrschaft und Untertanenschaft kommt der Constantia die Aufgabe zu, das Individuum einerseits gegenüber dem Auf und Ab von Welt und Geschichte freizusetzen, und andererseits in eine ebenfalls im Gegenzug zur Krise entwickelte Herrschaftsordnung einzupassen. Die Constantia soll gleichsam Autonomie und Unterwerfung in einem leisten. An dieser Aporie entfaltet sich das Problem von Ethik und Politik im Neustoizismus. Die Stärkung des Individuums vollzieht sich im wesentlichen durch bewußten Rückgriff auf die ihm eigene Vernunft göttlichen Ursprungs und die daraus sich ableitende Tugend der ,constantia', der männlich-kraftvollen Standfestigkeit römischer Willenshaltung. „Ea igitur ante omnia nobis cognoscenda est. Constantiam hic appello, rectum et immotum animi robur, non elati externis aut fortuitis, non depressi." Hinzu tritt die Einsicht in die Struktur der beiden der , constantia' entgegenwirkenden Wertvorstellungen der ,bona falsa' (Reichtum, Ehre, Macht, Gesundheit, langes Leben) und der ,mala falsa' (Armut, Schande, Schwäche, Krankheit, Tod). Die Stoiker betrachten nur das als gut, was absolut gut ist, und diese Absolutheit gilt auch für die Beurteilung der Übel. Alle Dinge, die weder eindeutig gut, noch eindeutig schlecht sind, werden der Klasse der Indifferentia zugeordnet (adiáphora). Können die ,bona falsa' und die ,mala falsa' nicht in diesem Sinne entlarvt und aufgebrochen werden, so entstehen aus ihrem zweifachen Stamm als Produkt der .opinio' die vier Hauptaffekte: ,cupiditas' und ,gaudium' (Begierde und Lust), ,metus' und ,dolor' (Furcht und Schmerz). Wenn diese die Oberhand im Menschen erlangen, so erscheinen dem Individuum auch die ,publica mala* (bellum, pestis, fames, tyrannis, caedes) neben den ,privata mala' als echte, reale, wahre Übel. Der Neustoiker dagegen erkennt beide als ,falsa mala' und hat damit den Grund eigener Gefährdung scheinbar eliminiert. Gleichzeitig ist er aber auch durch dieses Programm der Entemotionalisierung in den Stand gesetzt, in einem die Wirklichkeit strukturierenden Ordnungssystem als funktional eingepaßt (weil zugleich innerlich distanziert) zu erscheinen. 15 14 15
Pol., Vorrede, S. VII; Cent. misc. IV, 84, S. 413 (3. Nov. 1603). Const. I, 4, S. 5 3 0 - 5 3 1 (constantia). Vgl. Const. I, 7; Manud. II, 1 5 - 2 3 ; die Übel als defizienter Modus des Guten in Physiol. I, 15 (Licht und Finsternis), vgl. Augustin, De άν. Dei XII, 7.
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Was die Politica von 1589 betrifft, so sieht Lipsius sein Werk im Gefolge der Anstrengungen von Piaton und Aristoteles, mit dem Unterschied allerdings, daß er hier nicht das Ganze der Politik im Auge habe, sondern sich auf den Fürstenstand begrenze, über den bisher unzureichend gehandelt worden sei. Eine lobenswerte Ausnahme bildet für ihn nur Machiavelli. „Nisi quod unius tarnen Machiavelli ingenium non contemno, acre, subtile, ingenium: et qui utinam Principem suum recta duxisset ad templum illud Virtutis et Honoris! sed nimis saepe deflexit, et dum commodi illas semitas intente sequitur, aberravit a regia haec via." 16 Trotz aller Vorbehalte gegen das amoralische Vorgehen Machiavellis verkennt Lipsius also nicht den einschneidenden Charakter dieser Gedanken hinsichtlich der Struktur von Macht. Als Lipsius gegen jene angeht, die das Prinzip von Treu und Glauben aus Nutzenüberlegungen zu brechen gestatten, führt er zunächst das bekannte Argument ins Feld, daß Machiavelli Moral und Ethik außer acht lasse. Lipsius1 Gedankenführung aber ist interessant doppelter Natur, und wir können an ihr ablesen, daß er den Florentiner keineswegs von einem rein christlichen und rein moralischen Standpunkt her kritisiert. Zum einen versucht er vehement, auf so etwas wie eine ethische Einklagbarkeit von Gerechtigkeit, Güte, Treu und Glauben auch und gerade im Bereich der Politik abzustellen. Sodann jedoch meint er Machiavelli wohl auch aus rationalen Gründen, aus Gründen der Machtpsychologie widersprechen zu müssen. Wenn „nec ulla res vehementius rempublicam continet, quam Fides", dann verstößt derjenige gegen das Grundanliegen der Macht, sich nämlich selbst zu erhalten und weiter zu steigern, der solche Prinzipien dem bloßen Nutzen unterstellt. Lipsius scheint schon gesehen zu haben, daß Machiavelli sich vorwiegend mit der Macht in der Perspektive ihrer Etablierung auseinandersetzt, während die Frage nach Sicherung und Stabilität von Macht und Herrschaft einer erweiterten und realistischeren Anstrengung bedarf; reine Machtpolitik hat es vielleicht nie gegeben. Wie jeder Naturgegenstand und insbesondere alles Lebendige danach trachtet, sich selbst in seinem jeweiligen Bestand, seiner Bewegung und seiner zeitlichen Dauer zu erhalten, wie also die ,conservatio sui' die alles Seiende charakterisierende Auszeichnung ist, so ist auch die quasi-organische Machtordnung des Politischen an ihrer Selbsterhaltung wesentlich interessiert. Kein Wunder also, wenn sehr viel später Nietzsche das Prinzip der Selbsterhaltung bei 16
Pol., Vorrede, S. V I I ; stärkere Verteidigung des Florentiners durch Lipsius in der ungereinigten Ausg. (Leiden 1589), Pol. IV, 13; nach Rückkehr zum Katholizismus stärkere Ablehnung Machiavellis, vgl. Notae, Ad 1. lib. Polit., in cap. VI, S. 212.
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dem stoisch beeinflußten Spinoza als restteleologisch kritisiert, und wenn er in Machiavelli eine der ,redlichsten' Figuren der Geschichte sieht. Für Machiavelli, wie für Nietzsche, ist nicht Selbsterhaltung, sondern sich auslassende und neue Setzung das axiologisch höher eingestufte Prinzip. Daß Lipsius dagegen die Grundlegung seiner staatlichen Machtordnung nicht in der Macht per se vollziehen will, sondern eine tiefere, lebensweltlichere Verankerung anstrebt, zeigt sich z. B. auch daran, daß er das bekannte Diktum „Oderint dum metuant" nicht nur als unzureichend, sondern als für die Herrschaft verderblich darstellt. 17 Die nackte Macht erreicht keine Sicherung von Herrschaft; der legitime Anspruch des Machtstaates muß folglich lebensweltlich und in Hinsicht auf das Handlungsethos der Betroffenen verwurzelt werden, die Herrschaftsordnung muß Sittlichkeitscharakter haben. Deshalb bezieht sich die Geltung der Klugheitsregeln (praecepta) und der Tugend nicht nur auf den Herrscher, sondern stets auch auf die Untertanen. Die politischen „praecepta" sind stets „de rege, vel in regem". Selbstverständlich ist die nähere Ausgestaltung dieser Pflichten je nach der Stellung innerhalb des „ordo in jubendo et parendo" unterschieden. Wie die Untertanen gegenüber dem Herrscher sich in einer prinzipiell schwächeren Stellung befinden (obwohl dieser nicht ohne jene Herrscher sein kann), so erscheint auch die Ethik in der politischen Philosophie des Lipsius als zwar für die Politik selbst notwendiger Bestandteil, aber dennoch gerade in grundsätzlicher Abhängigkeit von der politischen Klugheit, von der „prudentia civilis". Nicht mehr bildet die Ethik die verbindliche Maßgabe auch des Politischen, sondern die ,prudentia civilis', die bei Lipsius zugleich staatspolitische u n d soziale Klugheit meint, vindiziert sich die universalistischen Qualitäten der Ethik. Diese selbst erfährt eine doppelte Veränderung. Zum einen wird sie aus dem öffentlich-politischen Bereich weitgehend herausgenommen und auf das einzelne Individuum in ihrer Verbindlichkeit zurückgeschnitten. Zum anderen unterliegt sie selbst einer Instrumentalisierung, die derjenigen der Religion im neuzeitlichen Machtstaat durchaus vergleichbar ist. Ethik dient dem Erhalt des Politischen nicht aufgrund ihrer umgreifenden und maßgebenden Verbindlichkeit, sondern aufgrund ihrer möglichen Funktion innerhalb der Politik. Ethik geht so in politische Moral über. War für die klassische Antike, für Piaton wie für Aristoteles, Praktische Philosophie als Ethik zugleich Politik, so ist dieser Zusammenhang zu Beginn der 17
Vgl. Pol. IV, 12, S. 108; II, 14, S. 3 9 ; Cicero, De o f f . III.
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Neuzeit klar dissoziiert, und das Problemfeld lautet von jetzt an nicht mehr ,Ethik und Politik', sondern ,Moral und Politik'. 1 8 Im Binnenverhältnis von Klugheit und Tugend können wir diesen Zusammenhang näher verfolgen. ,Prudentia' und ,virtus' sind die beiden Führer jener ,vita civilis', als deren Charakteristikum Lipsius das Prinzip gegenseitigen Vorteils und Nutzens herausstellt. Des näheren ist die ,prudentia' der Führer der .virtus', denn Tugend besteht wesentlich aus „electio" und „ m o d u s " , wozu ganz eindeutig Klugheit erfordert ist. Diese wird von Lipsius ganz im Sinne stoischer ,prudentia' definiert als „intellectual et dilectum rerum, quae publice privatimque fugiendae aut appetend a e . " O h n e die Klugheit gibt es also keine wirkliche Tugend, ist Tugend also nicht wirklich. Klugheit ist gleichsam der Transformationsriemen der in der Tugend liegenden Gehalte hinsichtlich deren eigener Verwirklichung. Die Klugheit ist „virtutis ipsius rector. Certe director. Sine prudentia enim quae potest esse virtus?" Ein ethisches Ideal erweist sich in dieser Perspektive letztlich nur dadurch als legitim, daß es realisiert in Erscheinung tritt, und gerade zu dieser Verwirklichung bedarf es der prudentia. Seneca folgend und dem stoischen Gedanken der Wahl (eklogé) verpflichtet, bestimmt Lipsius die ,ratio' allgemein als „haec eximia illa intelligendi judicandique vis: quae, ut animae perfectio hominis, sic ipsa animae e s t . " Und unter der ,recta ratio' sind des näheren „ d e rebus humanis divinisque (quatenus tarnen eae ad nos spectant) verum iudicium ac sensus" zu verstehen. Lipsius bringt also hier die stoische Bestimmung der Weisheit (als Einsicht in die göttlichen und die menschlichen Dinge) in die Bestimmung der dem Menschen eignenden rechten Vernunft ein, mit der kennzeichnenden Trennungslinie allerdings von Theologie und Philosophie: soweit nämlich die göttlichen Angelegenheiten uns betreffen. Wenn wir diese Bestimmungen im Auge behalten, dann wird leicht ersichtlich, daß ,prudentia' und ,virtus' die auf den Bereich des Politischen übertragene (und jetzt aufgespaltene) Vernunft darstellen. Bei dem grundsätzlichen Vorrang der Klugheit vor der Tugend erscheint die ,prudentia civilis' auch als der ins Politische gewendete „partem in homine divini spiritus mersam." Für den politischen Bereich im engeren Sinne erhalten übrigens beide, Prudentia und Virtus, noch spezifischere Definitionen. Was ist hier politische Klugheit anderes als „electio rerum quae aliter atque aliter sese habent?" Und Lipsius führt dazu näher aus: „Tempora, 18
Vgl. Pol. IV, 7 - 1 4 (praeeepta); Pol. I, 1 (vita civilis); Const. I, 11.
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loca, homines adspicit: et pro minima eorum mutatione ipsa se mutât". Zeit, Ort und die damit zusammenhängenden Menschen müssen in ihrer Veränderung dergestalt in Betracht gezogen werden, daß auf den geringsten Wechsel hin auch die Klugheit sich verändern muß. Grundsätzlich nämlich präsentiert sich die politische Wirklichkeit nicht so, daß man ihr die auf sie anzuwendenden Klugheitsvorschriften direkt entnehmen könnte. Klugheit bedeutet so zugleich Umsetzung in und Aneignung von Praxis. Gerade deshalb muß sie auf jede Veränderung in der Wirklichkeitskonstellation in einer auf sie selbst bezogenen Weise reagieren. So muß die politische Klugheit von ihren eigenen Voraussetzungen her dunkel bleiben, d. h. auf letztlich universale Merkmale verzichten, da es von der Sache her unmöglich ist, etwas Unsicheres in sicheren Lehrsätzen zu fassen. „Sane incertum aliquid, nemo redegerit in certa haec et stricta praeceptorum vincla." Die Ursachen sind nicht einsichtig, „quod in publica et Civili hac gubernatione, etsi in terrenis rebus, pleraeque tarnen caussae ab alto sunt, nec reperiendae in hac terra." Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß passiver und resignativer Rückzug die angemessenste Haltung darstellt. „Quid ergo? Quiesco, et sileo? Res et ordo vêtant." Im Zusammenhang der Mittel zur Staatserhaltung (,vis' und ,virtus') korrespondiert dieser engeren Bestimmung politischer Klugheit eine nähere Definition der politischen Tugend. „Eam ( = virtutem) paullo aliter quam vulgus, hic appello laudabilem utilemque imperio affectum, de rege, vel in regem." Diese vom Herrscher sich ableitende und auf ihn zurückwirkende, lobenswerte und der Herrschaft nützliche Gemütsregung wird eindeutig in bezug auf den politisch positiven Zweck der Herrschaft hin funktionalisiert, d. h. der Verwirklichungshorizont der Tugend wird vom Staat abgesteckt, ja, er ist in letzter Instanz mit der Ordnung von Macht und Herrschaft identisch. Eine derartige Verbindung von Tugend und politischer Klugheit hat u. a. natürlich auch dazu beigetragen, daß das Exempel, die Reputation und die Gloire Bestandteile der politischen Staatsklugheit wurden. 19 Die aus dem bisher Gesagten folgende Aufhebung eines auch in der Politik gültigen ethischen Universalismus weist bereits auf die Schwierigkeiten, die Lipsius bei der Frage nach den „fraudes", dem erlaubten und dem nicht erlaubten Betrug, antrifft. Hier tritt der in das überlieferte und stets idealisierte Verhältnis von Ethik und Politik einbrechende Druck der 19
Pol. I, 7, S. 1 6 - 1 7 (Klugheit). Const. I, 4 - 5 , S. 531-532 (ratio), vgl. Seneca, Ep. 66, 12. Pol. IV, 1, S. 6 1 - 6 2 (pol. Klugheit); Pol. IV, 8, S. 74 (pol. Tugend). Das Gute und das Nützliche, vgl. Manuel. II, 22, S. 736.
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tatsächlichen politischen Verhältnisse und Praktiken deutlich zutage. Das Ziel der ,prudentia' ist es, den Willen und die Affekte anderer zu ihrem eigenen Nutzen zu verändern und sich anzueignen. „ E t ,Propriam hoc esse Prudentiae statuit Conciliare sibi ánimos hominum, et ad usus suos adjungere'." Von hier aus ist auch der Betrug grundsätzlich erlaubt, und das politische Vermischen von Klugheit und Betrug (prudentia mixta) wird definiert als „argutum consilium a virtute aut legibus devium, regis regnique b o n o . " Lipsius begründet seine grundsätzliche Zustimmung durch Rekurs auf die Vernunft selbst, und er zitiert gegen mögliche Einwände Cicero. „ Q u i fas non putant ,Rationem bono Consilio a Diis immortalibus datam, in fraudem malitiamque converti'." Der Vernunft ist es durchaus gestattet, zwecks eigener Verrichtung ins Gewand des Betruges zu schlüpfen. Außerdem sehen diejenigen, die das Wohl nur auf dem Wege universaler Tugend anstreben, von der Wirklichkeit ab, sie verkennen das Zeitalter und die Menschen. „Aevum et homines ignorare mihi videntur." Durch das Versagen eines ethischen Universalismus kommt die endogene Sachlichkeit der Welt, kommen die politischen Erfordernisse der Macht selbst in den Blick. Der Neustoizismus nun zeichnet sich bei Lipsius dadurch aus, daß er keinen der beiden Aspekte aufzuheben sucht. Wenn sogar die Vernunft sich des Betruges zwecks Verwirklichung ihrer selbst bedienen darf, so ist es unmittelbar einsichtig, daß der allgemeine Nutzen und das öffentliche Wohl sowie die Sicherung der Herrschaftsordnung zureichende Kriterien sind, um eine politische ,prudentia mixta' zu legitimieren. „ B o n o fine, quaedam talia bona." Entscheidend aber bleibt für Lipsius die Eingrenzung, daß nicht jeder Nutzen ein Honestum zu sein beanspruchen kann. Die Verbindung von Nützlichem und ethisch Lobenswertem, von ,prudentia' und ,virtus', von Politik und Moral, bleibt das leitende Postulat an den Herrscher. Scharf wendet sich Lipsius gegen ein einseitiges und reines Nutzendenken. Aber dennoch, bei der Frage der ,fraudes' begibt er sich in ein Spannungsfeld, das er nur schwer durchhalten kann, wie wir bereits an der engagierten Sprachführung feststellen können. Seine theoretische Grundstruktur hatte zur grundsätzlichen Annahme des Betruges geführt, und Lipsius weiß genau um die Konsequenzen hinsichtlich einer Verflachung zu bloßer Zweck-Mittel-Relation und Ausschaltung jeglichen ethischen Momentes. Demgegenüber versucht er nun eine Differenzierung nach leichtem, mittlerem und schwerem Betrug einzuführen, die als ein Versuch zu werten ist, die Notwendigkeit ethischer Aspekte letztlich moralisch einzuklagen. Der leichte Betrug wird empfohlen, der mittlere geduldet und der schwere verworfen. Gleichsam
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wider Willen treibt ihn sein Grundansatz sogar zu der Bestimmung, daß „in ultima necessitate" der Weg des Rechts verlassen werden darf, wenn die Existenz der Herrschaftsordnung auf dem Spiele steht. Ganz entscheidend ist hierbei, daß die Frage nach einer Instanz solcher ,ultima necessitas' nicht erörtert wird. Es bleibt wiederum nur der Herrscher als Verkörperung des in jedem Falle zu sichernden Ordnungsgefüges von Befehl und Gehorsam. Den Ausnahmezustand bestimmt der Souverän, womit auch die Wendung „in ultima necessitate" jeglicher ethischen Schärfe und Verbindlichkeit beraubt ist. 20 Die Frage einer Verbindung von ,prudentia' und ,fraudes' entfaltet sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der in der Welt offensichtlich vorhandenen Übel, und so werden wir auch von hier aus auf einen grundsätzlicheren und die Vernunft überhaupt betreffenden Fragezusammenhang verwiesen. Innerhalb der nach wechselseitiger Obereinstimmung strebenden Größen der Vernunft, des Willens, der Natur und der Tugend kommt der Vernunft ein prinzipieller Vorrang zu. Sie wird als die allem Seienden letztlich zugrunde liegende Struktur gedacht, die in ihrer herausragendsten Ausprägung in der Vernunft des endlichen Menschen auch die übermächtigende Instanz gegen die ,opinio' darstellt. Mögen die Affekte und Leidenschaften auch in weite Bereiche der inneren Natur und in das Feld der Tugenden korrumpierend eingedrungen sein, die autonome Vernunft und den ihr folgenden Willen vermögen sie in keinem Falle in ihr Gegenteil zu verderben. ,Ratio' ist für Lipsius, wie wir bereits sahen, der in die menschliche Seele versenkte Teil göttlichen Geistes (Seneca). In keinem anderen Bereich des Seienden ist das Verhältnis von Gott als der Primärursache zu den Resultaten seiner Schöpfung näher als im Falle des allmächtigen Gottes zur endlichen menschlichen Vernunft. So ist die Vernunft sowohl durch die Natur als auch durch den Schöpfergott geadelt, und ihr zu folgen, bedeutet für Lipsius nichts anderes als „praeesse rebus omnibus humanis". 2 1 Vernunft wird auf diese Weise in sich selbst gründende, sich selbst zum Ziel habende Maßgabe menschlicher Grundeinstellung, Haltung und Organisation hinsichtlich des Verhältnisses des Individuums zu sich selbst, seiner inneren Natur, zu anderen Menschen, zur Natur der Gesellschaft, und zur äußeren gegenständlichen Natur. Der Vernunft folgen heißt bereits, moralisch zu sein. In der konkreten Erfahrung jedoch stößt die auf diese Weise geadelte Vernunftnatur des Menschen mit der Behauptung zusammen, alles in der Natur und in der 20
Vgl. Pol. IV, 1 3 - 1 4 , bes. S. 1 1 1 - 1 1 6 , 121; vgl. Cicero, De o f f . II; De nat. deor. III.
21
Const. I, 5, S. 532.
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Geschichte Geschehende gründe letztlich ebenfalls in der einen universalen Vernunft. Die subjektive Vernunft gerät also zu ihrem notwendigen objektiven Komplement in einen scheinbaren Widerspruch, widerspricht sich selbst. An diesem Punkt entwickelt Lipsius im Zusammenhang der ,publica mala' eine politische Theodizee. Diese wird einerseits notwendig, um Gott in Hinsicht auf die von ihm in der Welt zugelassenen Übel zu entlasten, und sie wird andererseits auch notwendig, weil der Rückgriff der beginnenden Neuzeit auf die Vernunft noch weit davon entfernt ist, die Welt und Wirklichkeit (und hier besonders die Negativa dieser Welt) aus eigener Kraft hinreichend erklären zu können oder sich diese gar im vollständigen Sinne selbst anzulasten (was notwendige Konsequenz wäre, wenn nicht mehr Gott, sondern der Mensch selbst als Herr der Geschichte aufgefaßt wird). Die Theodizee entlastet also sowohl Gott als auch den Menschen. Lipsius greift hier auf den ursprünglichen Optimismus der stoischen Naturlehre zurück und versucht diesen am Menschen selbst und in den Sachverhalten aufzuweisen. In seinen vier Thesen zur Existenz und Rechtfertigung der ,publica mala' (diese sind: „a deo immitti et circummitti"; „necessaria et a fato"; „utilia nobis"; „nec gravia nimis, nec nova") thematisiert Lipsius vorrangig nicht das Verhältnis Gottes zu den Übeln, sondern die Stellung des Menschen zu diesen. Es ist ihm eine offensichtliche Erleichterung, selbst in den existenzbedrohenden öffentlichen Übeln noch dem Menschen zuträgliche Momente aufspüren zu können, denn damit gehen zwei Aspekte zu einer inneren Einheit zusammen: der positive Zweck der ,publica mala' und die im Menschen angelegte Kraft kämpferischer und widerständiger Selbstverwirklichung im Sinne endogener Selbstbehauptung. Diese widerspenstige Einheit findet in der ,constantia' ihre angemessenste Grundhaltung. Dies wird besonders an der dritten der vier Thesen deutlich. Die positiven Endziele der ,publica mala' sind sowohl besonderer, das Individuum betreffender, als auch allgemeiner, kosmologischer Art („finis communis: conservatio et cultus Universi"). Zu den gesicherten besonderen Endzielen gehören ,exercitium', ,castigatio' und ,punitio', deren Funktionen sich schematisch wie folgt zusammenfassen lassen. Exercitium: (a) firmat (gymnasium), (b) probat (obrussa), (c) praeit (exemplum); Castigatio: (a) flagellum (cum peccavimus), (b) fraenum (nec peccemus); Punitio: bona est (a) si deum respicis, (b) si homines (societatem) spectes, (c) si spectes qui puniuntur, (d) justitiae adspectu. 22 Die ,publica mala' 22
Vgl. Const.
II, 6 - 1 7 , bes. II, 13.
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werden hier also als derjenige Ort herausgestellt, an dem und gegen den menschliche Behauptung und Verwirklichung überhaupt nur sich erweisen können. Hier zeigt sich auch, daß Lipsius innerhalb der unterschiedlich gerichteten Bestimmung der Natur in der Stoa eher auf die Universal- als auf die Individualnatur zurückgreift. Er folgt der Tradition des Kleanthes stärker als derjenigen etwa Chrysipps, der universale und menschliche Natur gemeinsam begreift, und der in Charrons Denken stärkeren Ausdruck findet. Fragen wir neben der auf den Menschen bezogenen Funktion der öffentlichen Übel weiterhin nach deren letzter Ursache, deren Verursacher im Sinne der beiden ersten der vier Thesen, so müssen wir uns das Verhältnis Gottes zu seinen Schöpfungen vergegenwärtigen. „ N e c praeest solum divinitas haec rebus omnibus, sed interest, imo inest." 2 3 Göttlichkeit leitet also nicht nur alle Dinge, sondern findet sich gleichsam in deren Relationen untereinander, d. h. in den die gegenseitige Zuordnung stabilisierenden Kräften, ja sie ist sogar in den Dingen selbst, sie ist immanent. Lipsius eröffnet hier einen Zugang zu Gott, der die Möglichkeit einer pantheistischen Auslegung nicht verschließt. In der Manuductio allerdings nimmt er diese Position später wieder zurück. Dort ist Gott nie in den Dingen gegenwärtig, sondern stets nur Grund ihrer Ermöglichung. Grundsätzlich aber geht in beiden Fällen der theologische Optimismus mit dem natürlich-kosmologischen der Stoa zusammen. Trotz menschlicher Uneinsichtigkeit hat Gott letztlich alles wohl angeordnet, und die ,publica mala' sind Ausdruck der Selbsterhaltung des Universums (die Pest z. B. als ein ausgleichender Faktor der Bevölkerungszahl). Dabei bleibt der organisch gedachte Gesamthaushalt, die „summa summarum", stets gleich, und nur die Relationen und Funktionen der Subsysteme und der einzelnen Teile verändern sich. Was von der Tätigkeit des Ganzen, von dem tätigen Welttier K o s m o s , in geschichtliche Erscheinung tritt, ist nicht bloße Kontingenz, sondern Ausdruck kosmologischer Selbsterhaltung. So kann die stoische Lehre von Ekpyrosis und Palingenesie als Hintergrundvorstellung der Interpretation von Geschichte und besonders von geschichtlicher Krise dienen. Das Grundlegungsverhältnis von Ethik und Politik hat in der Beziehung von Religion und Politik kein Analogon, und der Verschränkung von ,prudentia' und ,virtus' entspricht eine Abgrenzung von Politik und Religion (Theologie, Kirche) bei deutlicher Herausstellung der Autonomie, ja eines Vorrangs des Politischen. Selbstverständlich tritt bei Lipsius 23
Const. I, 13, S. 546; zu Kleanthes vgl. Manud. II, 16, S. 719-721.
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das Verhältnis von Stoa und Christentum in einer durch die christliche Tradition bereits geprägten Sachlage auf. Das Bestreben, in der Manuductio (1604) die stoische Philosophie mit dem Christentum zu versöhnen, wird dadurch ermöglicht und erleichtert, daß in die dogmatische Ausformulierung des Christentums selbst in der ersten nachchristlichen Zeit bereits eine Stoifizierung eingegangen ist, weil das Christentum die Momente der antiken Stoa aufzunehmen und zwecks eigener Behauptung sich anzueignen gezwungen war. Es gibt also eine gleichsam christlich legitimierte Basis für das stoische Denken. Lipsius greift bewußt auf Augustine Ansicht zurück, derzufolge das Christentum das Gold und Silber seiner Gegner wegtragen müsse, um es für seinen eigenen Nutzen zu verwenden. 2 4 Dennoch aber etabliert sich der Neustoizismus systematisch gesehen nicht aus dem Christentum heraus (auch wenn dieses durch Reformation und Gegenreformation ein neues Gesicht bekommen hat), sondern eher in Gegenzug zu ihm. Ausgangspunkt neustoischen Denkens ist die weltliche Situation, die auf sich selbst verwiesene Lebens- und Geschichtswelt des Individuums. Erst der Neustoizismus versucht, die menschliche Lebensführung mit einer Rationalität auszustatten, die es verhindert, daß das Individuum nach der Erfahrung der Krise und daraus gezogenen Konsequenzen in eine mystische Haltung zurückfällt, wie dies etwa in der Position ,sola fide' und der durchgängigen Verachtung, die Luther der Vernunft angedeihen läßt, angelegt ist. Die Reformation wendet sich zwar gegen die scholastische Vernunfttheologie, vermag ihrerseits aber die Lebensführung nicht mit einer dieser gemäßen positiven Vernünftigkeit zu versehen, sondern im Grunde nur einen Weg entweder in Mystik oder innerweltliche Askese (M. Weber) anzubieten. Aber, und das ist wirkungsgeschichtlich von hoher Bedeutung, eine sekundäre Versöhnung von Neustoizismus und christlicher Lehre bleibt möglich. Die daraus allerdings für das Christentum resultierenden dogmatischen Gefahren scheint die römische Indexkommission sehr wohl erkannt zu haben, als sie Lipsius und Charron auf die Liste der verbotenen Bücher setzte. Zeichen der Versöhnung scheint es zu sein, wenn Lipsius Gott und Materie als die beiden Prinzipien herausstellt, von denen alles in der Welt Vorfindliche herrühre. Das ist die platonisch-gnostische Unterscheidung von Gott und Materie, und beide werden in der Physiologia als Natur begriffen, d. h. Lipsius will beide nicht auseinanderfallen lassen. Bis in die 24
Manud.
I, 3; vgl. Augustin, De doctr. christ. II, 40.
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Spätwerke der Manuductio und der Physiologia hinein ist er aber überwiegend Stoiker, und gegen alle Versöhnungsversuche mit der christlichen Lehre schlägt etwa im Dritten Buch der Manuductio das Bild des idealen stoischen Weisen durch, wenn Lipsius die Paradoxa der Stoa erläutert und diese dabei so deutlich herausstellt, daß man die Gewißheit erhält, es müsse gerade dieser Teil der erneuerten stoischen Philosophie gewesen sein, den Pascal bei seiner Kritik vor Augen hatte, denn nirgendwo sonst in der Frühen Neuzeit gibt es eine solche schlagende Systematik stoischer Gedanken. Sapientes omnes pares esse; virtutes inter se pares, atque etiam nexas esse; Sapientem sibi parem, et gaudio semper esse; Sapientem vel in tormentis beatum esse; Sapientem apathem et imperturbabilem esse; Sapientem non opinari; Sapienti nihil praeter opinionem evenire; Sapientem sibi sufficere, sive, se solo contentum esse; Omnia sapientis: et, solum divi tern censendum; Solum sapientem liberum, ceteros omnes servos censeri; Solum sapientem regem esse; Sapientem Deo parem: paradoxum, atque etiam paralogum; Sapientem omnia recte facere, etiam digitum exserendo. Sine peccatis esse; Sapientes soli inter se amici: soli amare gnari; Solum pulchrum, nobilem, civem, magistratum, vatem, rhetorem, et plura esse; Non injuria affici, non insania, non ebrietate; Non ignoscere, non misereri; Omnes stultos insanire: et omnia vitia in omnibus; Peccata aequalia esse; Sapientem sumere aliquando mortem posse, decere, debere. 25 Das gebrochene Verhältnis Lipsius' zur Theologie wird auch überall dort deutlich, wo er eine Gotteslehre zu benötigen meint, diese dann aber auf rein humanistischer Grundlage entwickelt, Gott gleichsam unabhängig von den einzelnen Konfessionen zu bestimmen sucht. So ergibt sich etwa folgender Zugang: Deus unus, aeternus (Tacitus); descriptio eius (Cicero); periculosum rimari (Cyprian; Augustin); potentia divina (Ovid); iustitia (Platon; Ovid); arbitrium et ubique praesentia (Seneca; Plautus; Boetius); curatio, praemii aut poenae distributio (Sallust); gubernatio (Horaz; Ovid; Cicero); ignorantia horum, causa scelerum (Silius); credenda tarnen plura, quam scienda (Tacitus). Bereits der Freund Laevinus Torrentius macht Lipsius den Vorwurf, die Constantia hätte auch ein Heide schreiben können, und Lipsius beantwortet diesen Einwand mangelnder christlicher Dogmatik mit einer Trennung von Philosophie und Theologie. „Si mihi Theologum agere propositum, aberravi: si Philosophum, cur culpant?" Menschliche Weisheit hat ihre eigene
25
Vgl. Manud. III, 3 - 2 2 . Vgl. Physiol. I, 4 - 6 , S. 8 3 9 - 8 4 5 (Prinzipien, Gott, Natur); I, 7 (definitiones Dei), vgl. Const. I, 1 3 - 1 5 ; Physiol. II, 2 (Materie).
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Wertigkeit und Funktion bezüglich der „via salutis", und nicht Theologe, sondern christlicher Philosoph will Lipsius sein, „Philosophum ego agam, sed Christianum." 2 6 Noch in der Manuductio (1604) wird die Versöhnung von Stoa und Christentum vom Standpunkt der Stoa aus vorgenommen. In diesem Zusammenhang erscheint die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche auf dem Boden, sagen wir, historisch-politischer Sachlichkeit und überhaupt nicht unter theologischem Wahrheitsaspekt. Ausgangspunkt für die Beziehungen von Staat und Kirche ist der Staat, die politische Herrschaftsordnung und nicht eine absolut zu schützende Religion. Daraus folgt andererseits, daß der Herrscher nicht das Recht eines inneren dogmatischen Eingriffs, kein „ius in sacra" besitzt (was auch nicht seine erste Sorge ist), sondern ihm nur das staatliche Recht der „inspectio in sacra", d. h. die Aufsicht über das Kirchenwesen zukommt. Um besser zu verstehen, warum sich der Staat hinsichtlich des Dogmas neutral verhält, aber dennoch das Kirchenwesen beaufsichtigen muß, vergegenwärtigen wir uns die Entstehungstheorie des Staates (vgl. Const. I, 11). Die Herausbildung einer ,vita civilis', eines sozialen und zugleich politisch-staatlichen Lebens, ist durch die gemeinsamen Zeremonien, Rechte und Gesetze charakterisiert. Zu den gemeinsamen Zeremonien zählt auch und besonders die Religion in ihrer institutionellen Ausprägung. Zusammen mit der unmittelbaren Erfahrung, daß die Niederlande und besonders Frankreich gerade aufgrund der Religionsfrage als Staatsgebilde am Rande des Ruins stehen, kommt Lipsius von hier aus zu jenem Postulat e i n e r Religion im Staate, das ihm die berühmte Toleranzkontroverse mit Coornhert einbrachte. Für Lipsius gilt im Grunde die Maxime: une foi, une loi, un roi. „Ergo firmiter haec nostra sententia est, Unam religionem in u n o regno servari." 2 7 Das Herausstellen der staatlichen Aufsicht macht dabei deutlich, daß der Staat und nicht die Kirche die umfassendere und normierende Größe bildet. Grundsätzlich bleibt aber festzuhalten, daß f ü r Lipsius, wie f ü r die Großzahl der Humanisten überhaupt, die Religionsfrage noch ein Problem ist, das innerhalb der politischen O r d n u n g gelöst werden m u ß und sich dort auch lösen läßt. Zusammen mit der sich bei der Behandlung der Religionsfrage auch bei Lipsius schon ankündigenden Gewissensfreiheit (indem er hinsichtlich eines Fehltritts nach „publice" und „privatim peccantes" unterscheidet) wird an diesem Punkt deutlich, wie der frühmoderne Staat in seinen
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Const., Vorrede, S. 513-514; vgl. Cent. misc. I, 97(6. Mai 1584). Pol. I, 2 (Gotteslehre). Pol. IV, 3, S. 64; vgl. die Erläuterung dieser Stelle in De una religione (1590), S. 302.
Ethik und Politik
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Anfängen noch beides ist: religiös verpflichtet und auf dem Wege zur Laisierung seines Selbstverständnisses. Der Konflikt zwischen der spezifischen Freiheit zur Gestaltung der individuellen Lebensführung und der als Notwendigkeit aufgefaßten staatlich-politischen Machtordnung wird deutlich zugunsten des Staates und im Sinne eines sich zumindest äußerlich einpassenden Individuums gelöst. Die Versöhnung des Gegensatzes von Notwendigkeit und Freiheit wird darin gesehen, daß der Vollzug des einen Aspektes gleichzeitig per definitionem die Realisierung des anderen nicht nur nicht ausschließt, sondern geradezu vorantreibt. So kommt im Rahmen der oben bereits ausgeführten Differenzierung von ,Providentia', ,necessitas' und ,fatum' das Schicksal zwar von Gott, ist aber den Dingen zugleich in der Weise selbst zuzuschreiben, daß es die diesen innewohnende Bewegung nicht aufhebt. Das Schicksal steht also dem Gedanken einer immanenten Selbsterhaltung alles Seienden nicht entgegen. „Fatum ipsum etsi immobile, motum tarnen insitum et naturam non tollere a rebus: sed leniter et sine vi agere, ut cuique rei impressa a deo signa postulant et notae. In caussis quidem (secundas intellego) necessariis, necessario: in naturalibus, naturaliter: voluntariis, voluntarle: contingentibus, contingenter." Und am Rand heißt es zusammenfassend: „Fatum res non violet." 28 Die Sekundärursachen (causae secundae) sind nicht von Ewigkeit her, sondern sie existieren erst seit Erschaffung der Welt und zu ihnen zählt besonders der freie Wille. Lipsius versucht also gleichzeitig das Schicksalhafte, Einpassung Fordernde herauszustellen und die Vernunft von eben diesem Schicksal durch den Willen freizusetzen. Eine rein theologische Deutung der Wirklichkeit unter Absehung der herausragenden Stellung der menschlichen Existenz und deren Autonomie wird in dieser Problemkonstellation geschichtlich ebenso unmöglich wie eine Interpretation, welche die geschichtliche Wirklichkeit allein dem Gestaltungswillen der Menschen zuordnet. An dieser Spannung muß sich auch der neue Staatsbegriff im engeren Sinne orientieren. Die ,res publica Christiana' des Mittelalters ist ebenso unmöglich wie die direkte Fundierung des Staates als profaner Anstalt. Lipsius bestimmt den Staat und damit das Politische, d. h. alles die Ordnung von Befehl und Gehorsam Betreffende, in mehrfacher Weise: als sittliche Ordnung (Politik und Staatsvorstellung in ihrem Verhältnis zur praktischen Philosophie und Ethik; besonders Buch I und II der Politica), als Herrschaftsordnung (im Verhältnis zu Ratswesen, Kirche, Verwaltung, staatstragenden und 28
Const. I, 19, S. 557. Cent. misc. I, 34 (1. Okt. 1585): „Parere boni possunt et debent."
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staatsfeindlichen Momenten; besonders Buch III und IV) sowie als äußere und innere Machtordnung (im Verhältnis zu einer von außen kommenden Bedrohung und zu einer von innen drohenden Zersetzung; Buch V und VI). Alle Bestimmungen sind von einer ausgesprochen personalen Perspektive getragen. Lipsius schreibt für den Fürstenstand, dort aber für weit mehr als bloß die Person des Herrschers, sondern im Fürsten gerade für die Herrschaft. Der Fürst handelt stets in einem über seine bloße Person hinausgehenden politischen Interesse, und an einigen Punkten wird er selbst der politischen Eigengesetzlichkeit explizit unterworfen.
3. Naturlehre und Vernunftgesetz Die politische Macht wird bei Lipsius noch wesentlich über die Paulinische Tradition der „potestas a deo" einerseits und die höfische Tradition einer Auffassung des Herrschers als einer „imago dei" andererseits gerechtfertigt. Aber trotz der personalen Betrachtungsweise der Macht ist der Herrscher ja doch immer auch Verkörperung einer über seine Person hinausgehenden politischen Organisation, der Macht- und Herrschaftsordnung. Und in bezug auf diese eher allgemeine und abstrakte Seite machtstaatlicher Organisation scheint es nicht unwichtig, auf die innere Affinität der Grundsätze stoischer Naturlehre und der geforderten Verfassungsstruktur des Politischen hinzuweisen. Wenn im Neustoizismus Ethik und Politik in der zuvor herausgearbeiteten Weise in Zusammenhang stehen, so muß, bei der stoischen Dreiteilung der Philosophie in Ethik, Physik und Logik, auch nach dem Verhältnis von Naturlehre und Politik gefragt werden, zumal Lipsius in der Manuductio und in der Physiologia diesen Teil stoischer Philosophie ausgiebig thematisiert. Auszugehen ist von der Zentralstellung der Ethik. Gerade von ihr her erhalten Physik und Logik ihre hohe Bedeutung, da die Physik den Menschen dadurch in den Stand setzt, nach der Ordnung der Natur zu leben, daß sie diese Ordnung allererst bestimmen und damit das ,homologouménos zen' näher ausfüllen hilft, und da die Logik (die bei den Stoikern nicht bloßes Instrument wie bei den Peripatetikern, sondern Bestandteil der Philosophie ist) die sicheren Schlußweisen bereitstellt, um die wertende Entscheidung und Wahl in bezug auf die Natur richtig und sicher zu treffen. Der wahrhaft Weise ist so für die Stoa zugleich der wirkliche Logiker und Physiker, wobei das axiologische Ideal die gnoseologischen und logischen Einstellungen und Prinzipien vorgängig bestimmt.
Naturlehre und Vernunftgesetz
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Bei Lipsius drängt sich die Frage der Bedeutung der Naturlehre für die Organisation des menschlichen Miteinanders auch auf, wenn er etwa das Weltsystem in einem mechanistischen Sinne als „grandis machina" beschreibt, wenn er von dem Staatsgefüge als dem „civile aedificium" spricht, wenn die unter den Menschen tobenden Kriege zum Kampf der Elemente in Analogie gesetzt werden („neu bella inter homines tantum esse indignere, sunt inter elementa ipsa") oder wenn schließlich in der Physiologia der stoische Weltbegriff eine intensive Erörterung erfährt. 29 Wie die stoische Lehre so zeigt auch Lipsius grundsätzlich einen gedoppelten Zugriff auf Konstitution und Bewegung der Welt: Gott und Materie. Dies sind gleichsam die beiden Wirkursachen, die beiden Prinzipien im Aristotelischen Sinne der ersten Ursachen, aus denen alles ist und wird. So unterteilt sich die Physiologia in einen Gottes- und einen Materieteil. Die „prima essentia", die Urmaterie, der Urstoff ist als Substrat aller Dinge von gleicher Ewigkeit wie Gott, und Lipsius zitiert das bei Diogenes Laertius überlieferte Axiom Demokrits, demzufolge nichts aus dem Nichts komme und nichts in Nichts verschwinde. „Nihil ex nihilo gigni, nihil in nihilum revertí." 30 Im Unterschied zu den Stoikern der Antike setzt Lipsius, der in seinen späten Werken eine Versöhnung von Christentum und Stoa anstrebt, zwar diesen Urstoff in letzter Instanz gleich Gott, aber dies bedeutet dennoch niemals eine Identität beider etwa auch auf der Funktions- und Erscheinungsebene. Gott, Natur und Welt sollen letztlich zwar nicht getrennt werden, aber man kann auch nicht gestatten, daß sie identisch sind, da in diesem Moment alle Unzulänglichkeit der Materie auch eine solche Gottes bedeutet. Überdies herrscht unter den Menschen ja nicht einmal Ubereinstimmung hinsichtlich der Stellung dieses Gottes, wie sich an dem Kampf der Konfessionen am deutlichsten ablesen läßt. Im Grunde besteht für Lipsius damit das Problem in einem ständigen Gewähren und Entziehen Gottes, in einem steten Wechsel zwischen dem Deus revelatus und dem Deus absconditus, um Gott überhaupt als Sinn und Zusammenhang stiftende Größe erhalten zu können. Dies allerdings ist nicht so sehr Ausdruck theologischer Demonstration, sondern Index der theoretischen Sorge zur Sicherung von Wirklichkeit und Individuum. Gott ist alles in allem, gleich wertig innerhalb und außerhalb seiner Werke. Eines der unterschiedlichen Ergebnisse derartiger
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Vgl. Physiol. II, 6 - 2 4 ; vgl. Manud. II, 6 (Logik und Ethik); Const. I, 14 (Maschine); Pol. I, 6. Physiol. II, 2, S. 897; vgl. Diog. Laertius IX, 44. Manud. I, 4 (Gott, Materie).
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Bestimmungen ist mit Sicherheit die Verflüchtigung Gottes bei gleichzeitiger Herausstellung der Materialität und Immanenz des in Frage stehenden Sachverhaltes oder Gegenstandes. Und einen Hinweis auf diesen Aspekt scheint auch die spezifische Aneignungsstrategie des Lipsius hinsichtlich der Platonischen Ideen und der Aristotelischen Formen zu liefern. Interessanterweise interpretiert er die Platonischen Ideen nicht von dem Prinzip Gott her, sondern im Kontext der Materie, und zwar dort als eine Art Abstraktion. 31 Wie den Platonischen Ideen so wird auch den Aristotelischen Formen ein Prinzipien-Status abgesprochen. Hier wird deutlich, wie sehr auch noch der späte Lipsius bereits auf der Seite der immanent-teleologischen Welt steht, allerdings mit einer charakteristischen Weiterung. Im Gegensatz zu den Stoikern substantialisiert er nämlich die Ideen, d. h. er verweigert ihnen nicht den Status realer Entitäten. Die Welt und Wirklichkeit ist der Stoa zufolge durch die Vorstellungen der Stofflichkeit, des Organismus, der Immanenz, der inneren Dynamik und der Gesetzlichkeit gekennzeichnet, wobei das dem stoischen Materialismus eigene Zentripetalprinzip als Konstruktionsmerkmal von besonderer Bedeutung ist. Die zentripetale Kraftausrichtung der Wirklichkeit zeigt sich etwa in folgender Vorstellung: der leere Raum (unstofflich und unbegrenzt) ist das Gefäß, der Behälter, in dem der Kosmos (stofflich und endlich) als Welttier (animal rationale, animatum et intelligens) sich durch Integration und Reintegration der Teile in die Mitte seines Ganzen selbsterhält und ruht (in vacuo mundum librari); das Universum (weder stofflich noch unstofflich) umschließt beide; die Welt/Kosmos wird als Polis, als Civitas begriffen (Kosmopolitismus), die Welt ist der Tempel Gottes; in der Mitte wiederum der Welt liegt die Erde. 32 Dieses zentripetale System steht etwa dem Epikureischen Atomismus entgegen, der zu einer unendlichen Vielzahl der Welten führt, und gegen die Lipsius sich deutlich ausspricht. 33 Der Zentripetalismus der stoischen Naturauffassung steht nun in der Beziehung möglicher Affinität, eröffnet eine Verbindungsmöglichkeit zum frühneuzeitlichen Prinzip der Zentralisierung im Bereich des politischen Denkens, wie es auch von Lipsius mit aller Deutlichkeit gefordert wird. 31
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Physiol. II, 3, S. 900 - 902, vgl. Seneca, Ep. 58, 19. Zum Verhältnis Gott, Natur und W e l t vgl. Physiol. II, 5 ; I, 8; II, 8 ; I, 21, S. 892, Seneca, Quaest. nat., praef. 12. Vgl. Physiol. II, 6—10; 18. Kosmos als Organismus bei Piaton, Timaios; statische A u f fassung bei Aristoteles; organ.-dynamischer Prozeß bei den Stoikern, vgl. Stoic, vet. fragm. I, 4 9 7 ; II, 4 5 8 . Zentripetales System, vgl. Stoic, vet. fragm. I, 9 9 ; II, 350; II, 554. Physiol. II, 20, S. 9 5 0 .
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Zentralisierung erscheint so als Ausdruck und Postulat der Naturgesetzlichkeit, die zentripetale Kraftausrichtung wird als diejenige Weise gedeutet, aufgrund deren die Welt überhaupt als Einheit zusammengehalten wird, und folglich erscheint auch im Bereich menschlicher und politischer Praxis einzig die Übernahme dieses Organisationsmusters eine dauerhafte Festigung der inneren und der äußeren, politischen Wirklichkeit zu verbürgen. Wenn das künstliche Gebilde Staat sich diese Prinzipien zu eigen macht, dann vereinigt es zu Recht die Qualitäten der Vernunft- und Naturgemäßheit auf sich, d. h. es gewinnt damit auch ethische Verbindlichkeit, denn Gehorsam gegenüber den positiven Gesetzen eines derartigen Machtstaates bedeutet dann zugleich eine Form des Gehorsams gegenüber dem N o m o s der Vernunft- und Naturordnung selbst. Mit Bezug auf den politischen Zentralismus und das Persönliche Regiment des Herrschers ist hier jedoch eine entscheidende Transformation zu beachten. Die Mitte des Ganzen bildet jetzt nicht mehr, wie im stoischen Weltbegriff, denjenigen Bereich, auf den hin sich das selbsttätig agierende Ganze vermittels der Bewegung seiner Teile orientiert und selbsterhält, sondern der Mittelpunkt wird nun das recht eigentliche Zentrum, von dem aus alle Teile ihre Bestimmung erhalten. Nicht mehr ist primär das Ganze als das Entscheidende auf seine eigene Mitte gerichtet, sondern die Mitte — und das ist allgemein anthropozentrisch der Mensch und im politischen Bereich der Herrscher — wird jetzt zum eigentlichen Subjekt des Ganzen; die herausragende Mitte bestimmt alle Teile und damit auch die Seinsweise des Ganzen selbst. U n d diese Veränderung wird im politischen Neustoizismus gerade damit begründet, daß für die geschichtliche und politische Welt der Optimismus sich selbsterhaltender organischer Ordnung gerade nicht mehr fraglos angenommen werden kann, dennoch aber axiologisch gefordert werden muß. Zur Stützung dieses Zusammenhangs ist allerdings eine weitere und für die Stoa charakteristische Differenzierung vonnöten. Es gilt nämlich die ewige Naturordnung von den vergänglichen Gebilden der geordneten Welt noch zu unterscheiden. Als Natur ist die Welt ewig, als geordnete Welt aber wird sie periodisch zerstört und erneuert. Hier trifft die in Renaissance und Barock weitverbreitete Metaphorik von Theater und Bühne: die Stücke wechseln, das Theatergebäude jedoch bleibt sich gleich. Die zunächst der reinen Naturlehre zugehörige Aussage Senecas, daß die Ökonomie der Anstrengungen der Natur beim Aufbau ihrer Werke abgewogen und nur sehr schwer wahrnehmbar ist, wohingegen sich in der Zerstörung ihre ganze unwiderstehliche Macht schroff
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ereigne 3 4 , läßt sich auf eine Interpretation der Bürgerkriege etwa mit dem Resultat übertragen, daß die Krise Folge eines natürlichen Ratschlusses ist, und daß sie im gleichen Sinne innerhalb der Naturgesetzlichkeit erscheint wie die periodische Zerstörung der Welt durch Ekpyrosis, die einer katharsischen Erneuerung dient, nicht aber die Welt in ihrer Ewigkeit aufheben will. Damit ist im Neustoizismus ein Doppeltes erreicht. Zum einen wird die Möglichkeit des Scheiterns nicht nur einbeschlossen, sondern ihrerseits zu einem natürlichen Ingrediens, sobald sich die menschliche Vernunft an die Aufgabe begibt, die unsicheren und existenzgefährdenden Bereiche menschlicher und politischer Praxis nach Maßgabe einer wesentlich an der universalen Naturordnung abgelesenen Vernunftgesetzlichkeit zu ordnen und disziplinierend zu strukturieren. Das Scheitern von diesbezüglichen Plänen kann also keine beunruhigenden Auswirkungen mehr auf den Wen des angestrebten Zieles und auf die innere Stabilität und Identität des vernunfttrationalen Ich haben. Zum anderen wissen sich Vernunft, Willen und Tugend des individuellen Menschen als ethische Grundeinstellung, Haltung und auch als aktive Handlung in ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit dadurch versichert, daß sie in dem allem Seienden zugrunde liegenden Vernunft- und Naturgesetz gründen, daß hinter dem notwendigen Wandel eine zwar dynamische, aber sichere Ordnung steht. O h n e eine solche Annahme wäre jeder Einsatz von Vernunft und Tugend zum Scheitern und zu einer leeren Unendlichkeit verurteilt, wollte er mehr denn bloße Zufallstat und Willkür sein, ja diese Vernunft könnte nicht einmal erkennen, denn der Stoa zufolge kann immer nur Gleiches ihm prinzipiell Gleiches in seinem Wesen erkennen. Diese beiden Aspekte der Metaphorik des ,theatrum mundi' werden natürlich von der damit verbundenen allgemeinen Trostleistung noch umfaßt. Dem bedrohlichen Wandel der Dinge wird sein Spitze dadurch gebrochen, daß er nicht mehr blinder Wandel ist und auch nicht sein darf. Im Verhältnis zur politischen Machtordnung, zum Staat, kommt nun dieser ganze Zusammenhang in besonderer Weise zum Tragen, denn er setzt sowohl Energien zur rationalen Organisation der Herrschaftsordnung als auch die notwendige Abschiedlichkeit und Distanz für den Fall offensichtlichen Zerfalls politischer Gebilde frei. Wir haben bereits gesehen, daß Lipsius bei der Bestimmung der Natur jener Richtung innerhalb der stoischen Tradition folgt, die die universale, kosmologische Natur der Individualnatur überordnet. Diese Vorstellung 34
Seneca, Quaest. nat. III, 27, 2 - 3 ; vgl. Physiol. II, 22 (Ekpyrosis).
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wird im Zusammenhang der Politik bedeutsam, wenn in bezug auf die Untertanen eines Staatsgebildes deren Individualnatur vor der vermeintlich universal-natürlichen Ordnung in der Weise zurückgesetzt wird, daß erst der souveräne Staat die eigentliche oder zweite Natur der Individuen herzustellen in der Lage ist. Von Natur aus sind die Menschen wild und ungezähmt, ungeduldig und gegen eine Unterwerfung. „Natura nos feroces, indomiti, aequi impatientes, nedum servitutis." Das System von Befehl und Gehorsam, der „gyrus obedientiae", erhält auf diese Weise eine menschenbildnerische Funktion, insofern es nämlich den Menschen durch seine Unterwürfigkeit (servitus) allererst zum Menschen zu bilden vorgibt. Dessen Zustand anthropologischer Unzulänglichkeit und triebhafter Ausgelassenheit, in deren Folge die eigene Existenzgefährdung steht, gilt es zwecks dauerhafter Stabilität zu überwinden. Von hier aus erhält das politische Sollen die Qualitäten eines Naturgesetzes, bedeutet das Homologiegebot ,naturam sequere' zugleich eine bestimmte Einstellung und Verhaltensweise gegenüber dem Staat, und Abweichungen von den Normen der politischen Herrschaftsordnung sind gleichsam unter der Flagge einer .aberratio a naturae lege' anklagbar und strafenswert. Der gesellschaftliche und politische Sündenfall bestünde demnach formal in Ungehorsam und inhaltlich in der angeblichen Umkehrung der Naturordnung. Der Frage einer genaueren Verortung eines sich auf diese Weise bestimmenden (weil die Ordnung der Macht störenden) Bösen kommen wir näher, wenn wir auf die Funktion der politischen Klugheit im Zusammenhang der Machtdurchsetzung achten. „Prudentiae ad omnes res humanas usus: sed ad imperium maxime. Q u o d sine ea non solum infirmum sit, sed ausim dicere nullum." Die ,prudentia civilis' wirkt in Gestalt der Ausübung von Macht und Gewalt (vis) gerade an jenem Ubergang, wo diejenigen, die guten Willens sind (voluntarii) in die Ordnung des Gehorsams eingehen, „quia sola lene illud fraenum est, quo voluntarii rediguntur in obedientiae gyrum." Klugheit wird die zur Ausübung von Herrschaft alles entscheidende Tugend. „Prudentia, imperantis propria et unica virtus." Zur erfolgreichen Staatslenkung ist dabei eine genaue Kenntnis (a) der Natur des Volkes (natura populi) und (b) der Natur der Herrschaft (natura regni) notwendig. Die Volksmenge wird hier zum eigentlichen ordnungsstörenden Unruheherd. Ihre primären Natureigenschaften muß die politische Herrschaft in der Ordnung von Befehl und Gehorsam zähmen und züchtigen, ja diese Ordnung erhält gerade von dieser anthropologischen Unzulänglichkeit her eine ihrer entscheidenden Legitimationen. Der Staat nimmt als Natur höherer Ordnung die Primi-
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tivnatur des Volkes in sich auf, er ist sekundärer und befriedeter Naturzustand, er setzt damit den allgemeinen Nutzen in die Mitte seines Anliegens, was dazu führt, daß eine „,Communis utilitatis derelictio contra naturam est', non solum rationem." 35 Der Aspekt der Uberwindung eines zunächst chaotischen und gefährlichen Zustandes primärer Natur aus und als Vernunft verweist auf das, was Thomas Hobbes im Namen und gerade gegen die Natur im Leviathan als allmächtigen Staat, als ,sterblichen Gott', errichten wird. Für Lipsius, wie später auch für Charron, leitet sich aus diesem Zusammenhang eine beinahe ausschließlich auf Tacitus gestützte äußerst negative Charakterisierung der Volksmenge ab. Vulgus omne: instabile; affectus ponit, aut sumit; iudicii expers; ad plures inclinât; suspicax; credulum; res äuget; comprimi nescit; turbidum; favet fervidis; neglegit rem publicam; verbis ferox; metu aut spe nimium. Die Ordnung des Politischen hat für Lipsius und im Gefolge von Aristoteles ihre eigentliche Sicherung in den Gesetzen, „nam in legibus salus civitatis sita." Ihnen ist auch der Herrscher unterworfen, wie Lipsius entgegen der Bodinschen Vorstellung eines ,rex legibus solutus' herausstellt. Die Gerechtigkeit wird bestimmt als „virtutem ius et aequum in se inque aliis firmiter servantem", und hier wird deutlich, daß Lipsius seiner persönlichen Einstellung nach auf einen gemäßigten Machtstaat gerichtet ist. Gerechtigkeit hat zu herrschen, denn, und hier zitiert er das bekannte Diktum Augustins, „remota iustitia, quid sunt regna nisi magna latrocinia?" Aber sind dies nicht nur nachträgliche Verbalbremsen? Die Macht ist so eindeutig im Herrscher zentriert, daß etwa eine ständische Verfassung oder intermediäre Gewalten als politische Strukturmerkmale ausscheiden, ja nicht einmal erörtert werden. Letztlich bleibt nur eine moralische Einklagbarkeit, die aber ihrerseits nur höchst individuell und verinnerlicht passiv geschehen kann, da zum einen dem ethischen Universalismus dadurch die Kraft genommen ist, daß die politische Klugheit die übergeordnete Instanz bildet, und weil zum anderen Lipsius im Grunde jedes aktive Widerstandsrecht ablehnt. 36 Wie sehr die im Fürsten verkörperte staatliche Machtordnung darauf abzielt, alle gesellschaftlichen Bereiche, und d. h. sowohl die einzelnen Individuen als auch die Masse der Untertanen, im Interesse der „ordo in jubendo et parendo" zu disziplinieren und zu verstaaten, das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in jenen Gefilden, die dem ordnenden Zugriff der positiven Gesetze noch nicht 35 36
Pol. IV, 13, S. 111, Cicero, De o f f . III. Vgl. Pol. IV, 5; Zitate Pol. III, 1, S. 4 5 - 4 6 . Vgl. Pol. VI, 5, S. 189. Pol. IV, 5 (Volksmasse); II, 11 (Gesetze); II, 10, S. 33 (Gerechtigkeit), vgl. Augustin, De άν: Dei IV,·4.
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unterworfen sind, und für die Lipsius eine Zensur fordert. „Et appello Censuram, animadversionem in mores aut luxus eos, qui legibus non arcentur." Erfaßt werden soll hier all das, was gesetzlich noch nicht geregelt ist. Sittenpolizei (praefectus moribus; magister veteris disciplinae) soll gegen Hurerei, Ehebruch, Trunkenheit, Streit, Fluchen u. ä., besonders aber gegen den Müßiggang (otium) eingesetzt werden, um auf diese Weise eine Steigerung der Arbeitsmotivation und der Moralität zu erreichen. 3 7 Das gleiche Bestreben liegt auch bei der Forderung nach Errichtung eines Geheimdienstes (indagado) sowie eines Spitzelwesens zugrunde, um mögliche Umtriebe bereits im Keime zu erkennen und auszuschalten.
4. Ordo in jubendo et parendo U m den Ubergang von der ,respublica Christiana' des Mittelalters zum neuzeitlichen Machtstaat bei Lipsius zu begreifen, müssen wir auf die Auffassung von Staat und Politik im engeren Sinne zurückgehen. Im Rahmen der Constantia von 1584 liefert Lipsius eine Entstehungstheorie des Staates, die hinsichtlich des uns hier interessierenden Aspekts zunächst deshalb von Bedeutung ist, weil der darin behandelten Staatsgründung jegliche theologisch-metaphysische Dimension fehlt. Der Staat erscheint von Anfang an bei Lipsius als aus der Notwendigkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens und aus der Eigenliebe der einzelnen, aus dem Interesse der Individuen an ihrem eigenen physischen und damit auch geistigen Erhalt und Bestand hervorgegangenes Macht- und Herrschaftsgefüge, das in der Folge die gesellschaftlichen Handlungen seiner Glieder zu gegenseitigem Nutzen und Wohle in letzter Instanz regelt und vorschreibt. Entwickelt werden diese Gedanken im Zusammenhang der Frage nach einem engstirnigen Patriotismus, einer den egoistischen Affekten verhafteten falschen Vaterlandsliebe. Lipsius wendet sich scharf gegen die Vorstellung Ciceros, daß Vaterlandsliebe zur „pietas" gehöre, da eine solche Zuordnung sowohl gegen die Vernunft als auch die Natur verstoße. Das Verhältnis zum Vaterland gilt es auf eine angemessene „inclinado", „ a m o r " , „caritas Patriae" zu reduzieren, denn die soziale und politische Gemeinschaft der Menschen ruht nicht in einem mythischen Grund, sondern in einer sich aus dem Zusammenleben ergebenden gleichsam 37
Vgl. Pol. IV, 11, S. 101-106.
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zweckorganischen und sachlichen Notwendigkeit. Lipsius greift das systematische Problem dieser Fragen auf, er will uns nicht den historischen Beginn des Staates, sondern dessen Prinzip, dessen raison d'être vor Augen führen. „Postquam enim homines, ex rudi illa et solivaga vita, ab agris in opida compulsi sunt, et domos ac moenia struere coeperunt, et coetus facere, et populariter vim inferre vel arcere: ecce communio quaedam necessaria inter eos exorta, et societas variarum rerum. Terram et fines quosdam conjunctim habuerunt: templa in promiscuo, fora, aeraría, tribunalia: et quod praecipuum vinclum, ceremonias, jura, leges. Quas tarnen ipsas res ita amare et curare avaritia nostra occoepit (nec erravit prorsus) ut suas. Vere enim singulis civibus in ea ius: nec differunt a privatis possessionibus, nisi quod non unius. At consortio ista velut formam, et faciem quamdam expressit novi status, quam Remp. et eamdem proprie Patriam appellamus. In qua cum intellegerent homines quantum momenti esset ad salutem singulorum: latae etiam leges de ea iuvanda et propugnanda: aut certe traditus a majoribus mos, qui instar legum. Hinc factum, ut commodis ejus gaudeamus, doleamus incommodis: quia re ipsa privatae nostrae opes salvae, illa salva; et mortuae, m o r i e n t e . " 3 8 Coetus; communio quaedam necessaria; consortio „quam Rempublicam et eamdem proprie patriam appellamus", diese Formen des sozialen und politischen Miteinanders und seiner Regelung ergeben und entwickeln sich aus Vernunft und Notwendigkeit aufgrund des Zusammenlebens der Menschen und des menschlichen Egoismus (ab amore privato). Weil die Individuen ein Interesse an ihrer Selbsterhaltung, dem Schutz ihrer Person und der Sicherung ihres Besitzes haben, deshalb geben sie sich eine politisch-staatliche Organisation, die genau diese Funktionen erfüllt und von daher sowohl Machtbefugnis als auch Sittlichkeitscharakter für sich und gegenüber den Individuen beanspruchen kann. So ist der soziale und der politisch-staatliche Zusammenschluß einerseits ein Vorgang der Natürlichkeit (weil es Menschen gibt, kommt es zu Staatenbildungen), andererseits und zugleich aber, und dies ist für die neuzeitliche Vernunft im Bereich des Politischen wesentlicher, entsteht und rechtfertigt sich die politische Machtordnung gerade auch aufgrund ihrer Herkunft aus menschlicher Vernunft- und Willensleistung. Diese für den politischen Neustoizismus charakteristische Doppelheit klingt auch schon bei Cicero an, wenn es etwa heißt: „etsi duce natura congregabantur homines, tarnen
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Const. I, 11, S. 5 4 1 - 5 4 3 ; vgl. Cicero, Rep. I, 39; De o f f . II, 73. Vgl. Lipsius, Pol., Widmung; II, 6; Mort, et ex. II, 7.
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spe custodiae rerum suarum urbium quaerebant." Eine wirkliche Verfassung erhält das soziale Gemeinschaftsleben Lipsius zufolge also erst durch eine formal-rechtliche Organisation, deren Prinzipien und Charakteristika im Laufe der Zeit von den einzelnen Gliedern verinnerlicht und zu ihrem eigenen Anliegen und Ethos erhoben werden. Der Staat selbst ist folglich dann doch mehr als eine bloße Regulationsgröße des Zusammenlebens, er erscheint gleichsam als das organische Gefüge, das sich aus dem sozialen Zusammenleben mit natürlicher Notwendigkeit herausbildet, um dieses Zusammenleben auf einer zweiten Stufe zu organisieren und dadurch überhaupt erst weiterhin zu ermöglichen. Dabei ist der Staat bei Lipsius stets noch beides, sowohl zweite und gegen die primär-natürlichen, (selbst)zerstörerischen Eigenschaften und Neigungen der Menschen gerichtete künstliche Natur (ein Aspekt, der für Th. Hobbes zentral wird) als auch willentliche Verlängerung der an sich guten Grundnatur des Menschen (ein Moment, das J . Locke entfalten wird). Der Staat ist zugleich sittliche Ordnung, Herrschaftsgefüge und Machtordnung nach innen und außen. Aber er ruht nicht auf einem metaphysischen Prinzip, sondern ist eine letztlich auf Zweckmäßigkeit gerichtete Organisationsform, was etwa auch daran deutlich wird, daß Lipsius sich bei der Bestimmung des politischen Gemeinwesens (und damit auch des rechten Begriffs vom Vaterland) der Metaphorik des Schiffes bedient, um die Notwendigkeit einer zentralen Macht oder eines einheitlichen Gesetzes zu betonen: „unus aliquis status, ut dixi, et communis velut navis, sub uno rege aut sub una lege." Mit anderen Worten: die Menschen sitzen alle in dem gleichen Boot, und wenn jeder das Ruder übernehmen wollte, so wäre der Untergang aller die notwendige Folge. Die Ordnung von Befehl und Gehorsam (ordo in jubendo et parendo) ist auf diese Weise durch das Moment gegenseitigen Nutzens und allgemeiner Wohlfahrt (salus singulorum) auf quasi-natürliche Weise gerechtfertigt, auch und gerade wenn sie am Freiheitsraum des Individuums Beschneidungen vornimmt. Achten wir in dem Zusammenhang von Staatsentstehung und -auffassung noch auf zwei weitere Momente, die Frage nämlich nach möglichen Ansätzen zur Vertragslehre und den Gedanken des stoischen Kosmopolitismus. Im ersteren Bereich nimmt Lipsius eine transitorische Stellung ein. Herrscher und Untertanen werden als durch eine Kette einander verbunden gedacht. „ N a m ita profecto est: arcta quadam cathena devincti sumus, qui imperamur, cum imperante." In der Constantia wurde das gleiche Bild unter Rückgriff auf Homers ,aurea catena' verwandt, um das Verhältnis der ,prima causa' (Gott) zu den irdischen Dingen und Sach-
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verhalten zu charakterisieren. Ähnlich wie die höherwertige Seele im Körper nicht wirken und zu sich selbst finden kann, wenn die Teile des Körpers nicht ihre Funktionen erfüllen, so kann auch der Fürst nicht ohne die Untertanen wahrer Fürst sein. In diesem Sinne gibt es also durchaus ein Abhängigkeitsverhältnis auch des Herrschers von den Untertanen. Dabei ist der Fürst Lipsius zufolge zwar um der Untertanen willen da, aber fürstliche Macht hat ihre Legitimation nicht in so etwas wie in einem vertraglichen Ubereinkommen der Individuen. Die Fundierung und Stabilisierung der Machtordnung im Herrscher liegt Lipsius stets stärker am Herzen als das von ihm auch schon eindrucksvoll vorgebrachte Verlangen, die legitime Herrschaft unter Herausstellung des sich als Bürger verstehenden Individuums zu begrenzen. In dieser Perspektive ist das Ziel von Lipsius der gemäßigte Machtstaat, und es geht ihm darum, ,Prudentiam ac Modestiam miscere'. „Ergo eximia haec ratio de República bene merendi, de Principe bene mereri: id est, ducere eum et dirigere ad metam illam Publici boni. Nam hic, ne erretis ô Principes, vester finis. Praeestis hominibus, sed hominum caussa: nec domini modo et arbitri rerum, sed tutores et administri estis. (. . .) Collata est in sinum vestrum a Deo hominibusque República: sed nempe in sinum, et ut foveatur." 39 Die Machtordnung wird so zwar an den Gedanken der Wohlfahrt gebunden, aber auch dieser kann Herrschaft nicht ernsthaft verfraglichen und gefährden, da seine reale Einklagbarkeit durch die Bestreitung des Widerstandsrechtes und durch den Fortfall jeglicher intermediärer Institution zwischen Herrscher und Untertanen aufgehoben ist. Das Gemeinwesen ist dem Fürsten zwar von Gott u n d den Menschen, „a Deo hominibusque", zu Pflege und Förderung in den Schoß gelegt worden, und auch in der systematischen Frage der Entstehung des Staates konnte ein natürlich-willentliches Moment ausgemacht werden, dennoch aber ist es an keiner Stelle so, daß Herrschaft im Sinne eines Vertrages übertragen und damit dem (wenn auch abstrakten) Kriterium der Verrechnung, der gegenseitigen Verrechenbarkeit freigegeben wird. Was in diesem Zusammenhang den Kosmopolitismus betrifft, so bestand er in der antiken Stoa (ebenso wie die Möglichkeit eines natürlichen Rechts) aufgrund des Logos, des Vernunftgesetzes, das den Kosmos als ,lògos spermatikós' durchherrscht und alle Menschen gleichsam zu einer Rechtsgemeinschaft zusammenschließt und bindet. Der Nomos der Kosmopolis ist das für alle Menschen gültige immanente Naturrecht. Im 39
Pol., Vorwort, S. 3; Const. I, 14; Homer, litas, VIII, 19.
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Neustoizismus nun begegnen wir dem Kosmopolitismus gleichsam in einer doppelten Verkümmerung. Wenn es um die Sicherung und Festigung des Individuums in der Situation der Krise geht (besonders in der Constantia)·, dann fügt sich der Kosmopolitismus in die Reihe derjenigen Mittel ein, die zur Relativierung der gegenwärtigen und das Individuum gefährdenden Sachverhalte beitragen, indem der unmittelbaren geschichtlichen Wirklichkeit entweder jeglicher Ewigkeits- und Wahrheitscharakter bestritten oder dieser aber auf einer höheren (dem direkten Geschehen gar nicht mehr ohne weiteres ablesbaren) Folie vernünftiger Einsicht in den optimistischen Charakter der Wirklichkeit gleichsam sekundär geschaffen wird. Geht es dagegen um die Sicherung und Festigung der Macht- und Herrschaftsordnung (besonders in der Politica), die ihrerseits als die entscheidende Ordnung in bezug auf die Notwendigkeiten und Interessen des Individuums ausgewiesen werden soll, so müssen Logos und Kosmopolitismus ihre grundsätzliche Universalität auf die Ausmaße des jeweiligen Herrschaftsgebildes schrumpfen lassen, wie wir besonders bei Du Vair noch sehen werden. Das eine Mal haben Logos und Kosmopolitismus ihre Funktion am Punkte historischer Bedrängnis, Enttäuschung an der Wirklichkeit, und sie führen zu abstrakter Flucht in kosmologische Universalität und unangreifbare Grundsätzlichkeit; das andere Mal stehen sie im Kontext einer lokal begrenzten, rechtfertigenden Affirmation politischer Herrschaftsordnung, und die positiven Gesetze vindizieren sich die Qualitäten des kosmopolitischen Nomos. Die politische Machtordnung (imperium = certus ordo in jubendo et parendo = Staat) und die Ordnung der Wirtschaft (commercium) bilden die beiden wichtigsten Zusammenhänge menschlichen Miteinanders, die beiden Hauptsäulen der ,vita civilis' („vitam civilem definió quam in hominum societate mixti degimus ad mutua commoda sive usum"), und Lipsius beschränkt sich in seinen Darlegungen bewußt auf den Bereich politischer Ordnung. 40 An dieser Unterscheidung wird deutlich, daß Lipsius von einer Nichtzugehörigkeit des ökonomischen Bereichs zur Sphäre der Politik im eigentlichen Sinne ausgeht. Das steht in der Tradition des Aristoteles, der die Politik als die Lehre von der Politeia von der Ökonomie als der Lehre vom Hause unterschied. So gesehen sind für Lipsius auch Sozialbereich und Machtordnung noch nicht in der identischen Weise einander verwoben, wie dies später bei Th. Hobbes von Bedeutung wird, wenn die Konstitution des sozialen Miteinanders als 40
Pol. II, 1, S. 22; I, 1, S. 7.
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Gesellschaft zugleich (und nur unter dieser Bedingung ist Gesellschaft überhaupt möglich) die Geburtsstunde der politischen Machtordnung ist, wenn Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag eins sind. Aber schon die Entstehungstheorie des Staates zeigte, daß die politische Machtordnung aus der Sozialdimension heraus entstanden ist, und wenn Lipsius das ,commercium' neben das ,imperium' als die zweite Säule der ,vita civilis' stellt, so wird die Wirtschaftsordnung damit über die Begrenzung des Hauses hinaus bereits als tief in den sozialen und gesellschaftlichen Bereich hineinreichend aufgefaßt. Lipsius operiert im Grunde mit einer Trennung von Gesellschaft und Staat, und es geht ihm in der Civilis doctrina vorrangig um so etwas wie die disziplinierende Verstaatung auch des gesellschaftlichen Bereichs. Dabei läuft die Rechtfertigung der Existenz einer solchen Ordnung von Befehl und Gehorsam letztlich über einen Zirkelschluß. Der Staat ist ein Ordnungsgefüge von Befehl und Gehorsam, dessen Notwendigkeit und Gewalt so groß sind, daß er zum einzigen Gestell (fulcrum) menschlicher Angelegenheiten wird, d. h. weil seine Macht so umfassend ist, wird er als diejenige Dimension begriffen, in der menschliche Dinge allererst Platz greifen. „Cujus tanta vis sive necessitas potius, ut hoc unum fulcrum sit rerum humanarum." Erst durch den Staat wird das Leben in sozialer Gemeinschaft ermöglicht und zusammengehalten, er ist dessen Band und vitaler Odem. Zur Notwendigkeit tritt die Nützlichkeit, denn die ,salus singulorum' wird unterhalb der aus sich selbst heraus souveränen Macht zum immanenten Telos der politischen Ordnung erhoben, gleichsam als das entscheidende und dem einzelnen Individuum zuträglichste Moment jenes Umschlages, an dem die durch Sozialtrieb und Egoismus gezeichnete Primärordnung, das soziale Miteinander, sich notwendig eine ,vita civilis' und damit ein ,imperium' in der Person des Herrschers gab. Ziel der Herrschaft sollen „subditorum commodum, securitas, salus" sein, und um diese effektiv erreichen zu können, bedarf es einer Konzentration der Machtbefugnis im Herrscher zwecks Erhaltung des Ganzen und aller seiner Teile. Die für das Individuum damit zugleich verbundene Pflicht, sich gehorsam in das staatlich-politische Gestell zu fügen, hat etwas von jenem Utilitas-Charakter, der sich auch an den krisenhaften ,publica mala' zeigte und dort zur vernunftorientierten Standfestigkeit (constantia) führte. Beide Male ist die geforderte Haltung im Interesse des Individuums nutzbringend. Allerdings gilt es hier einen wesentlichen Unterschied zu beachten. Das eine Mal ist das Individuum gezwungen, seine Kräfte der Widerständigkeit, Selbsterhaltung, Selbstbehauptung und Standfestigkeit
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— bei aller passiven Einfügung in die grundlegende Ordnung der Dinge — gegen seine eigene innere und gegen die scheinbar chaotische Verfaßtheit der äußeren, natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit herauszustellen, ja herauszustreiten. Das andere Mal dagegen, d. h. im Verhältnis des Individuums zu der im Gegenzug zur und als Uberwindung der Krise aus Vernunft, aus dem Interesse an Selbsterhaltung heraus und zwecks Abwehr einer neuen Grenz- und Ausnahmesituation (Bürgerkrieg) entworfenen Ordnung des frühabsolutistischen Machtstaates, in diesem Falle wird von demselben Individuum einzig die Seite untertäniger Einpassung gefordert. Die Energien individueller Selbsterhaltung gehen jetzt auf das Ganze der Ordnung über, um auf kollektiver und machtbezogener Basis den Bestand und die Dauer gerade der Teile durch den übergeordneten Zweck des Erhalts des Ganzen zu gewährleisten. Ungehorsam führt zum „coagulum", zum Lab, das die Milch schnell zum Gerinnen bringt, d. h. politischen Zerfall zur Folge hat. Unter den verschiedenen Staatsformen (Monarchie, Aristokratie, Volksherrschaft) entscheidet Lipsius sich konsequenterweise für die Monarchie, den Prinzipat, den er definiert als „unius imperium, moribus aut legibus delatum, susceptum gestumque parentium b o n o . " 4 1 Der Prinzipat ist die beste, weil älteste, natur-, vernunftgemäßeste und dem Frieden dienlichste Staats- und Herrschaftsform. Der als ,imago dei' aufgefaßte und mit einer ,potestas a deo' ausgestattete Herrscher steht dabei besonders aufgrund des Friedensgedankens in einer näheren Beziehung zu Gott, ohne allerdings jemals eine wirkliche Apotheose anzustreben. Diesen charismatischen Zug übernimmt die politische Theorie der Frühen Neuzeit von der Panegyrik des römischen Prinzipats. „ N a m supra, non extra homines Princeps", und der Staat steht gleichsam zwischen Mensch und Gott und ist nach beiden Seiten hin autonom. Der römischen Prinzipatsideologie sind auch die ins Politische gewendeten Tugenden des Herrschers entnommen, ebenso wie der anspruchsvolle, die Last des Amtes herausstellende und zugleich Macht legitimierende Aufgabenkatalog des Fürsten (subditorum commodum, securitas, salus; vita beata civium; pastor populorum; tutela civium; non igitur dominium; cives et pater; intendit, curat, vigilat; labor; industria; onus enim hoc, non solum munus). 4 2 Der Herrscher ist bei Lipsius beides, (a) höchste und einzige Individuation der Macht als personale Majestät
41 42
Pol. II, 3, S. 25; II, 1, S. 22 (fulcrum); II, 6 (salus), vgl. Seneca, De clem. I, 4, 1. Vgl. Pol., Vorwort, und II, 15, S. 41 Rand; vgl. zum ganzen II, 7 - 1 7 .
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(und hier sind alle anderen Menschen ausgeschlossen), (b) Ausdruck der allgemeinen Wert-Ordnung des Herrschaftsgefüges, insofern nämlich Ziel und Pflicht des Staates als Gemeinwohl, gegenseitiger Nutzen, Personensowie Besitzsicherung verstanden werden (und hier sind alle Untertanen einbeschlossen). ,Majestas' und ,auctoritas' werden folglich von der Tugend her als Hoheit und personale Würde begründet. Die Majestas „est reverenda quaedam amplitudo, ob meri tum virtutis, aut rerum affinium. Graecis ea ,semnótes' dicta: nobis, in privato Auctoritas, in Principe Maiestas." Diese ,majestas' ist von der eher abstrahierenden und jeder politischen Machtordnung als Institution zukommenden Souveränität Bodins unterschieden, gleichwohl aber mehr als eine bloß persönliche Ausstrahlung. Der Fürst ist Herrscher als Person und als Verkörperung der staatlichen Ordnung. So wird etwa die neben der ,benevolentia' staatstragendste Tugend der ,auctoritas' gerade im allgemeineren Zusammenhang der Ordnung von Befehl und Gehorsam bestimmt. „Definido iterum: Auctoritas est impressa subditis, sive et exteris, opinio reverens de rege eiusque statu." Die ,auctoritas' sichert also die wohlwollende Zustimmung des Volkes, und sie ist damit gegen Haß und Verachtung seitens der Untertanen gerichtet, die Lipsius zufolge die beiden Hauptaspekte der Staatsgefährdung sind. 43 Die Untertanen bilden so in ihrer Gesamtheit den Ort, an dem die Stabilität der Herrschaft sich entscheidet, deren Souveränität und Legitimität jedoch haben ihren Sitz allein im Fürsten, weshalb auch das Persönliche Regiment als die angemessenste und wirksamste Regierungsform erscheint. „Vires imperii in consensu obedientium sunt." 4 4 Die Politica von 1589 will für den Herrscher eine Lehre politischen Handelns liefern, und so kommt den Klugheitsregeln (praecepta) in Sachen Politik eine zentrale Bedeutung zu. Lipsius übernimmt hier die Unterscheidung Senecas nach ,decreta' und ,praecepta', überträgt diese auf den Bereich der Politik und gelangt dort zu einer weiteren Unterteilung. Es geht nämlich einerseits um die positiven, staatsförderlichen Klugheitsvorschriften („praecepta quae iuvant firmantque regnum"), und es geht andererseits um die Analyse und prophylaktische Einbeziehung in das eigene Handeln gerade auch derjenigen Momente, die der Machtordnung abträglich und schädlich sein können („praecepta quae laedunt et perdunt regnum"). Den Ausgangspunkt dieser Doppelstrategie bildet nicht zuletzt die Janusköpfigkeit der Macht selbst. So muß Lipsius die Gewalt (vis)
43
44
Vgl. Pol. IV, 9, S. 7 7 - 8 6 ; II, 16, S. 42 (maiestas). Pol. IV, 12, S. 107; vgl. IV, 1 1 - 1 2 .
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einmal positiv fassen als „praesidium quod princeps utiliter adhibet ad se tuendo aut regnum", daneben aber auch negativ bestimmen als „molitio occulta unius pluriumque, in regem aut regnum" (die z. B. in Meuterei, Aufruhr, Krieg, Attentaten, Verrat erscheint). Hier zeigt sich deutlich, daß Lipsius trotz aller bei ihm anzutreffenden Idealbetrachtung des Politischen doch stets die geschichtliche Realität im Auge hat. So hängen Staat und Politik z. B . entscheidend von der Herrschaftsform und von den einsetzbaren Machtmitteln ab, und unter den Instrumenten der Macht nimmt Lipsius eine Abstufung vor nach Geld (opes), Waffen (arma), Ratschlägen und Beratung (consilia), Bündnissen (foedera) und Glück (fortuna). Grundsätzlich bedeutet dies, daß politische Macht durch den Besitz und Einsatz von Finanzen und Militär ermöglicht und getragen wird. „ O m n i a venalia nummis." Bei der Herausstellung der Notwendigkeit militärischer Macht geht Lipsius geradezu von einem Naturzustand H o b besscher Prägung aus. „Nec umquam deerunt, ,nisi silva hac' humani generis ,excisa, raptores alienae libertatis lupi'." 4 5 Neben dem Einsatz der Machtmittel kommt, wie wir bereits sehen konnten, der psychologischen Herrschaftssicherung eine hohe Bedeutung zu. So dürfen die Untertanen nicht gezwungen, wohl aber müssen sie klar geführt werden. „Duci natura mavult, quam cogi." Und die Frage der Nachfolge im Prinzipat wird mit der Begründung auf Erb- und Wahlprinzipat (und nicht auf die Herrschaft des Besten) eingegrenzt, daß jeder Mensch den Keim zum Tyrannen in sich trage, was zu einem Chaos führe, sollte die Nachfolge nicht in dieser Form geregelt sein. „Natura mortalium avida imperii e s t . " Hier sind natürlich in besonderer Weise die vom Herrscher geforderten Tugenden zu nennen, die sämtlich machtstabilisierende Funktion haben. Charakteristisch ist die Unterscheidung nach der vom Gesetz ausgehenden ,iustitia' und der im menschlichen Gemüt ihren Ausgang nehmenden ,dementia', die Lipsius bestimmt als „virtutem animi a poena aut vindicta ad lenitatem cum iudicio inclinantis." 4 6 Die politische Funktion der ,dementia' ist hauptsächlich präventiver Art, denn ohne sie, die die Liebe der Untertanen erwirbt, schwindet Autorität, ist Abschreckung nicht wirksam, ist das persönliche Wohl des Herrschers gefährdet, steigt die Zahl der Feinde und wird der Rachegedanke gefördert. Auch geht es hinsichtlich der Religion für den Staat und den Herrscher nicht darum, religiöse Wahrheit zu schützen oder dieser gar
45 46
Pol. IV, 9, S. 82, vgl. Velleius II. Vgl. Pol. IV, 7 - 1 4 (praecepta). Vgl. Seneca, Ep. 93; 94. Pol. II, 12, S. 35, vgl. II, 1 0 - 1 3 . Zur menschl. Natur Pol. II, 9, S. 32 Rand; II, 4, S. 26.
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auch zur weltlichen Geltung zu verhelfen, sondern um die funktionale Ausnutzung religiöser Haltungen, Institutionen und Zeremonien im Interesse der auf Selbsterhaltung und Ausweitung ihrer Sphären bedachten Machtordnung. Zu dieser Psychologie der Herrschaft zählt für Lipsius (wie auch schon für Machiavelli) auch die genaue Kenntnis derjenigen Zusammenhänge, von denen Unruhe und Umsturzbestrebungen ihren Ausgang nehmen. Der Herrscher muß, wie bereits erwähnt, insbesondere Haß und Verachtung (odium et contemptus) seitens der Untertanen als die beiden gefährlichsten „vitia" (vitium = „pravum noxiumque imperio affectum, de rege vel in regem") in ihrer Ursache und Wirkung genauestens kennen und durch seine eigenen Haltungen und Handlungen auszuschalten versuchen. 4 7 Daher gilt es zu beachten, daß alle negativen Ansatzpunkte einerseits in der aufrührerischen Natur des Volkes liegen, andererseits aber gerade dem Spannungsverhältnis von Herrscher und Untertanen entspringen. Gerade hier nämlich ist der Ursprungsort der ,opinio', des Nebels falschen Meinens, und von hier aus erhalten staatsgefährdende Aktionen in Gestalt etwa der Wut und Erregung des Volkes ihre Nahrung und ihre Akzeleration. Grund dafür ist nach Ansicht Lipsius' oftmals die falsche Handhabung von Strafen (supplicia), Steuern (tributa) und Zensur (censura), womit im Grunde Justiz-, Finanz- und Polizeiwesen angesprochen sind. Bei aller Konzentration auf die Person des Herrschers vergißt Lipsius jedoch nie, daß die politische Macht- und Herrschaftsordnung in ihrem tatsächlichen Funktionieren eine den Fürsten als Individuum übergreifende G r ö ß e ist, die Leistungen anderer Individuen, Diener und Repräsentanten der Macht erfordert. So unterscheidet Lipsius z. B. im Rahmen der politischen Klugheit die ,prudentia propria' von der ,prudentia mutuatitia', der gleichsam geliehenen Klugheit, und er gibt unter dem letzteren Leitbegriff eine Lehre der Beamtenschaft (adjutores), die nochmals zu unterteilen ist nach Ausführungen zu den ,consiliarii' ( = Räten) und den ,administri' ( = Bediensteten). „Consiliarii et administri. Illi, qui lingua et mente in primis iuvant: Hi, qui manu et factis." Unter der fremden, entlehnten Klugheit sind also herrschaftsstrategisch all die Momente zu begreifen, die zwar nicht den Sitz der Macht bilden, dennoch aber durch die Möglichkeit charakterisiert sind, die Herrschaftsordnung sichern zu können, insofern sie nämlich bei der Durchsetzung von Macht eine aktive Aufgabe übernehmen. Der Ratschluß der Regierungsbeamten hat ebenso wie die 47
Pol. IV, 11, S. 92.
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Tätigkeit der Verwaltungsbeamten seine Funktion darin, die Logik der Ordnung zur politischen, gesellschaftlichen und lebensweltlichen Wirklichkeit werden zu lassen. Lipsius setzt sich für eine Geheime Ratsregierung in der Form ein, daß der Fürst alles und rechtzeitig mit seinen Ratgebern behandeln und beraten soll; das letzte Urteil, die letzte Entscheidung jedoch bleibt stets bei ihm. Darüber hinaus bildet das Geheimnis die Seele des Rates, „sane anima consilii, secretum." Wenn den ,adjutores' innerhalb des Herrschaftsgefüges eine solche Bedeutung zukommt, so ist nur verständlich, daß die einzelnen Träger dieser Aufgaben machtspezifische Anforderungen erfüllen müssen. Sachgemäßheit und sittliche Bindung sind die beiden Grundkriterien, aus denen sich bei Lipsius durchaus so etwas wie eine Beamtenethik herleitet. Entscheidend ist dabei das Bestreben, die jeweilige Person sowie den Rat und die Magistratur als ganzes mit einer sittlichen Bindung zu versehen, die ihre Begründung nicht in metaphysisch-allgemeinen Bereichen findet, sondern gleichsam von der diesen Rollenträgern anvertrauten Sache her bestimmt wird. Das Erfordernis der Sache schlägt auch durch, wenn Lipsius sich einerseits gegen kühne, wagehalsige Ratschläge ausspricht, und er andererseits die z. B. von den Räten geforderte ,constantia' nicht als Starrheit und Verbissenheit, sondern als eine in sich durchaus bewegliche Grundhaltung der Flexibilität auslegt. „ N a m vere prudens et ,sapiens, non semper et uno gradu, sed una via'." Grundsätzlich geht es für die Beamtenschaft also um ein in sich gefestigtes, den sachlichen Erfordernissen durchaus beweglich Rechnung tragendes Einpassen in die Struktur der Herrschaftsordnung. Was die Auswahlkriterien für die Verwaltungsbeamten (administri) betrifft, so sind Abstammung (eligendi a genere), Lebensführung (probi eligendi) und geistige Fähigkeit (apti ab ingenio eligendi) zu nennen. Die sittliche Lebensführung steht dabei über allem anderen. „Vita est quam super omnia specto". Dem Beamtentum (Regierung und Verwaltung) kommt so in der Ordnung des Politischen eine zentrale Stellung zu. „Legi enim: ,Meliorem esse remp. et prope tutiorem, in qua Princeps malus sit, ea, in qua mali Principis ministri'." 48 Bildet die Magistratur somit einen der beiden Grundpfeiler der Herrschaft, so kommt dem zweiten, dem Militär, eine noch unmittelbarere Bedeutung zu. Militärische Macht bedeutet politische Macht sowohl nach innen wie nach außen. Innerhalb der Politica (1589) widmet Lipsius der Militärfrage bereits zwei Bücher, ein Gegenstandsfeld, das er später unter 48
Pol. III, 10, S. 57; III, 3, S. 48; 8, S. 55; 5, S. 50.
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streng militärwissenschaftlichem Aspekt in noch zwei weiteren großen Studien bearbeitet hat. E b e n s o wie im Bereich des Politischen und in grundsätzlich allen Lebensbereichen das Zusammenwirken von ,prudentia' und ,virtus' die sachlichste und erfolgreichste L ö s u n g verbürgt, so ist auch für den militärischen Bereich eine von diesen beiden Vorstellungen geleitete Wehrethik zu fordern, die Lipsius anhand der beiden Grundbegriffe der A u s w a h l (dilectus) und der Disziplin (disciplina) entwickelt. Diese sind die Voraussetzungen einer schlagkräftigen T r u p p e , und es gilt sie besonders herauszustellen, da der gegenwärtige Zustand des Militärs verheerend ist. „Militia nostra corruptissima." Lipsius will den tugendhaft überzeugten, klugen und engagierten Soldaten, der für die Sache einsteht, weil er u m sie weiß; nicht aber will er einen zusammengewürfelten Söldnerhaufen wie bisher. Eine „disciplina militaris" bildet hier sein Hauptanliegen; sie sei gegenwärtig verschwunden, und es gelte sie von den R ö m e r n neu zu erlernen. „ A p p e l l o autem Disciplinam, severam conformationem militis ad robur et virtutem", wobei die Ausbildung eine vierfache ist. Sie besteht aus ,exercitium', ,ordo', ,coercitio' (continentia; modestia; abstinentia) und ,exempla' (praemia et poena). 4 9 Die Behandlung der Fragen militärischer Taktik scheint dann noch einmal in geballter F o r m eine U m s c h r i f t der Grundstrategie des Neustoizismus hinsichtlich einer Sicherung des Individuums zu geben. In der kriegerischen Auseinandersetzung gilt es, die rechte Gelegenheit abzuschätzen, die Erkundung des Feindes und die richtige Beurteilung von Zeit und O r t (des Kampfes) v o r z u n e h m e n , die Feindlage und die eigene Lage komplex zu erfassen und z u verwerten, die Psychologie des Gegners und die eigene Psychologie zu berücksichtigen und die A r t des Kampfes zu entscheiden. Kein blinder A k t i v i s m u s also, sondern sachgerechte Beurteilung und mutige Ausführung der getroffenen Entscheidung unter Einkalkulierung möglichst aller Imponderabilien. Auch in der Constantia bedient Lipsius sich ausgiebig einer militärischen Metaphorik, und nicht von ungefähr haben die Zeitgenossen von J . Calvin bis B . Pascal die Neustoiker mit geharnischten Figuren verglichen. E i n e gewisse Ähnlichkeit mit der Frage der ,prudentia mixta' weist im militärischen Bereich das Problem der erlaubten oder nicht erlaubten Kriegslist auf (stratagema; callidijm consilium). Wie die politische so bejaht Lipsius auch die militärische List, letztere ist sogar rühmlich, „ n o s t r a sententia, non utilia ea solum, sed gloriosa." Wenn es sich um 49
Vgl. Pol. V - V I , beeinflußt von Machiavelli, Arte della guerra, De mil. rom., 1595/96; Poltor cet icon, 1596.
1519/20. Vgl. Lipsius,
O r d o in jubendo et parendo
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einen ,bellum iustum' handelt, so heiligt der Zweck durchaus die dazu notwendigen Mittel. Anders liegt die Situation hinsichtlich des Bürgerkrieges, den Lipsius bestimmt als „arma subditorum in principem mota, aut inter s e s e . " Bürgerkrieg ist eine Pest, ein wahrer Ozean der Leiden, der von allen Menschen und besonders von den guten Bürgern zu verabscheuen ist; mit ihm beginnt der selbstzerstörerische Untergang. Bürgerkrieg ist schlimmer als Tyrannei, und was seine Beendigung betrifft, so stellt Lipsius im Gefolge von Seneca die besonders in der Numismatik des römischen Prinzipats verwendete ideologische Formel , O B CIVES SERV A T O S ' als höchsten Ruhm heraus. „ . N u l l u m ornamentum Principis fastigio dignius pulchriusque est, quam illa corona O B CIVES SERVATOS'."50 Wir haben oben bereits die Frage der Veränderlichkeit im Zusammenhang des ,theatrum mundi' angesprochen und wollen unsere Bemerkungen zu Lipsius mit einem Blick auf die sich vor diesem Hintergrund ergebende Stellung zur Geschichte und den daraus folgenden politisch bedeutsamen Begriff der Mitte zunächst verlassen. Die Veränderlichkeit ist ein natürlich-notwendiges Geschehen. „Aeterna lex a principio dicta omni huic Mundo, nasci, denasci, oriri, aboriri: nec quidquam stabile aut firmum arbiter ille rerum esse voluit, praeter ipsum." Dem Ziel des einzelnen menschlichen Lebens („mors et interitus") entspricht der Untergang auch aller politischen Einrichtungen. Auch diese „incipiunt, crescunt, stant, florent" bis ihr Ziel erreicht ist, „ut cadant", und Lipsius durchstreift beinahe die ganze Weltgeschichte, um dieses Gesetz der Notwendigkeit mit politischen Beispielen zu belegen. Aber alle Veränderungen sind in eine Gesamtökonomie einbeschlossen, damit die systemimmanente Stabilität und Harmonie nicht verletzt wird. „Pereat ergo jure in partibus aliquid, ut summa ista summarum aeterna sit." 5 1 Geschichte kommt in dieser Perspektive im Ciceronischen Sinne einer „historia magistra vitae" zum Tragen, als gleichsam unveränderliches Exempelsubstrat, im Grunde unwandelbar und ohne Zeitindex. Durch den Rückgriff besonders auf die römische Geschichte und die Strukturmerkmale der römischen Herrschaftsordnung vollzieht sich bei Lipsius so etwas wie eine statische Historisierung hinsichtlich des frühmodernen Machtstaates. Die Historie (memoria rerum; historia) bildet zusammen mit der individuellen Erfahrung (usus) die Grundlage der politischen Klugheit, d . h . historisches Wissen und historische Erkenntnis treten in einen konstitutiven Bezug zur so 51
Pol. V I , 7, vgl. Seneca, De clem. I ; Pol. V I , 1, S. 177; V , 17, S. 1 6 5 - 1 6 8 ; V , 16. D i e Zitate der Reihenfolge nach Const. I, 16, S. 549, 5 5 0 ; II, 11, S. 580.
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praktischen Philosophie und deren politischer Stellung. „Historia est vitae quaedam magistra, et civilis atque moralis Philosophiae speculum aut exemplum. Quae in scholis voce alii docent, his factis exprimuntur." Geschichte wird hier zu einem Arsenal der Exempel, zum Substrat einer in historischen Fakten geronnenen Erfahrung, die „vitam instruit privatam" und „vitam publicam dirigit". Für Lipsius jedoch ist dies nicht die Erfahrung der Menschheit allgemein, sondern stets das Werk einzelner großer Männer. „Humanum paucis vivit genus." 52 Wenn dieses Verhältnis von notwendigem Wandel und einer diesem zugrunde liegenden Stabilität des Gesamt-Organismus für alle Gebilde sowohl der physikalischen und der biologischen als auch der geschichtlichen und der politischen Natur gilt, so ergibt sich als sachgemäßeste Einstellung und Haltung eine Position zwischen den beiden Extremen reinster Veränderlichkeit und rigider Starrheit. Auf der Individualebene soll dies in Gestalt der ,constantia' erreicht werden. Und auch im Bereich der Politik wird die Vorstellung der Mitte in einen grundlegenden Zusammenhang mit der Sicherung politischer Herrschaft gebracht. Die Herrschaft hat sich stets „cum temperie" zu gestalten, und sie wird sogar als Mäßigung in Rede und Kleidung wirksam. Politische Mitte ist die Forderung an die Justiz, die zwischen Gesetzesrigorismus und Gesetzesabstinenz zu stehen habe, die politische ,dementia' ist eine Haltung zwischen Tyrannei und weichlicher Zügellosigkeit. Trotz des steten Wandels aller Dinge ergibt sich vor diesem Hintergrund eine konsequent innovationsfeindliche Einstellung, die nur unter dem Druck höchster Notwendigkeit und höchsten Nutzens aufgegeben werden darf. Lipsius bestimmt die Form der Regierung als streng (severa), standfest (constans) und gebunden (adstricta), d. h. als Persönliches Regiment. Gerade die „forma constans imperii" verbietet Veränderungen der Gesetze. Lipsius ruft dem Herrscher zu: „Speme ergo circa te novatores!" In dem gleichen Sinne sollen die Räte (consiliarii) alt, erfahren und geistvoll sein, nicht aber spitzfindig. Ja, bezüglich der Auswahl der Verwaltungsbeamten (administri) heißt es sogar: „ut ingenia inspiciat. Id est, recta eligat, nec tarnen erecta." Ganz im Gegensatz etwa zur Aristotelischen Bestimmung der
52
Pol., Vorwort, S. 4. Historia magistra vitae, vgl. Cicero, De orat. II, 36; Lipsius an N. Oudaert (1. Dez. 1605) in P. Burman, Sy Höges, Bd. I, S. 301, Nr. 298; vgl. Widmung in Lipsius' Tacitus-Kommentar (1581). Pol. I, 8 (usus, historia); I, 9, S. 20 (vita privata et publica). Vgl. grundsätzlich Cent. misc. III, 61 (3. Dez. 1600), Systematisches zur Geschichte; vgl. Notae, ad I. lib. Polit., in cap. IX.
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Mesótes, die in dem Verhältnis von Uberschuß und Mangel eine Spitzenleistung bedeutet, gilt für den politischen Neustoizismus: „Medii ergo optimi, quibus olim et nunc tutissimo ,secreta Principum innixa'." Und schließlich gilt diese abgespannte Vorstellung der Mitte auch in bezug auf die Untertanen, die gehorchen müssen, nicht aber Knechte sind. Mit Tacitus heißt es: „Hoc ex ingenio hominum est: qui ,nec totam servitutem pati possunt, nec totam libertatem: Domiti ut pareant, non ut serviant'." 53 53
Pol. IV, 8, S. 75, vgl. Tacitus, Hist. I. Zur Mäßigung vgl. Pol. II, 1 5 - 1 6 ; Cent. misc. II, 65 (29. Okt. 1588); Pol. III, 5, S. 50 R a n d ; II, 11; 13. Keine Neuerungen, vgl. Pol. IV, 9, S. 79; III, 4, S. 49; 10, S. 57, vgl. Tacitus, Ann. III.
V. Neustoizismus als Denk- und Handlungsform (Guillaume Du Vair) 1. Moralphilosophie
und eigene
Zeitsituation
Abgesehen von dem Traité de la constance et consolation és calamitez publiques, den Du Vair während der Belagerung von Paris im Jahre 1590 verfaßte, aber erst 1594 publizierte, liegen alle philosophischen Schriften zeitlich vor 1585, ja wahrscheinlich auch noch vor seinem Eintritt in das Pariser Parlament im April 1584.1 Auf die im Anschluß an eine Italienreise entstehende und christlich orientierte Sainte Philosophie folgen die Ubersetzungen von Epiktets Manuel und der Réponses d'Epictète aux demandes de l'empereur Adrien, von Texten also, die zu den Hauptschriften der späten Stoa zählen. Darauf folgt die Philosophie morale des stdiques, in der die einzelnen Themenkreise Epiktets von Du Vair in eigener Zusammenstellung und mit Blick auf die Sicherung des Individuums in der als bedrohlich empfundenen eigenen Zeitsituation erörtert werden. Du Vair greift den Anthropozentrismus der Stoa auf, für ihn rückt das Individuum ins Zentrum allen Interesses, für es und auf es hin wird das Gute bestimmt. Alles Seiende gereicht dem Menschen zum Guten, und dessen Gut ist Finalität alles Seienden. Das höchste Ziel und Glück des Menschen besteht in der Aneignung des Guten, das in einem unter dem verbindlichen Leitfaden eines rechten Gebrauchs der Vernunft stehenden Leben in Ubereinstimmung mit der Natur gesehen wird. Gefordert ist „l'être et l'agir selon la nature". Allerdings stellt sich dieser Zustand für das Individuum keineswegs im Sinne einer naturteleologischen Automatik ein, sondern er hängt in entscheidendem Maße vom willentlichen und vernunftgeleiteten Selbsteinsatz des Individuums ab. „C'est une loi divine et inviolable, publiée dès le commencement du monde, que si nous voulons avoir du bien, il faut que nous nous le donnions nous-mêmes."2 1
2
Zu Du Vair vgl. allgemein die Biographie von R. Radouant (1907), die hinsichtlich des Werkes allerdings nur den rhetorischen Aspekt im Blick hat und den weltanschaulichen Zusammenhang völlig außer acht läßt. Philos, mor., S. 67; vgl. S. 64.
Moralphilosophie und eigene Zeitsituation
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Um dies wirklich erreichen zu können, bedarf es einer bedeutsamen Änderung im Verhältnis des Menschen zu seiner Um-welt. Wenn der Mensch nämlich die Erlangung des höchsten Gutes und damit seinen eigenen Glückszustand als Tugend und Vernunft dadurch unanfechtbar machen und erfolgreich auf Dauer stellen will, daß er selbst als das durch Vernunft und Willen charakterisierte Individuum Grund der Möglichkeit seines Glücks ist und bleibt, so hat dies zur Folge, daß sich das Individuum in keinem Fall, weder in seinem Denken noch in seinem Handeln, an die bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit, an anderes und andere entäußern darf. Jede Entäußerung bedeutet nämlich eine Gefährdung des erstrebten axiologischen Ideals selbst, sowohl in Hinsicht auf andere Menschen als auch in Hinsicht auf die Gegenstände und Sachverhalte der äußeren Wirklichkeit, der Geschichte und der Natur. Wenn nun aber trotzdem eine finale Wechselwirkung von Gut und Mensch vor dem Hintergrund einer universalen Vernunft angenommen werden soll, so erwächst dem Neustoiker daraus eine kennzeichnende Schwierigkeit. Entweder nämlich muß er dann dem Glück entsagen, um bei sich bleiben zu können, oder aber er muß erkennen, daß alles, was nicht von ilyn selbst abhängt, auch kein Gut sein kann. Der Neustoizismus entscheiuet sich hier deutlich für die zweite Möglichkeit, indem er die programmatische Eingangsforderung von Epiktets Encheiridion aufnimmt. Bei allem Denken und Handeln gilt es zunächst herauszufinden, ob das entsprechende Seiende in unserer Macht steht oder nicht — und bereits dies hat eine Tätigkeit der Vernunft zu sein. Den Auftakt einer moralischen Handlung bildet also ein intellektuelles Urteil. Da der einzelne im strengen Sinne nur Herr seiner Ratschlüsse und. der diesen folgenden Bewegung, nicht aber der Resultate und der unabhängig von ihm existierenden Sachverhalte ist, muß er sich der Spannung von gesetztem Ziel und möglicher Umsetzung in die Wirklichkeit bewußt werden, muß sich sein vernünftiges Wollen am Grade der Durchsetzbarkeit orientieren, denn per se kann der Wille nicht Dinge wollen, die außerhalb seiner Macht liegen. Der Wille ist also hier bei Du Vair stets dem axiologischen System selbst eingeordnet. Wenn auch die Freiheit des Menschen gerade in und an seinem Willen greifbar wird, so bleibt der Wille dennoch vorgängig an dasjenige gebunden, was subjektiv als Wertvolles ausgelegt worden ist. Trotz der Konzentration auf den Willen bleibt dieser von der axiologischen Rangordnung des neustoischen Systems abhängig. (Und erst bei Nietzsche tritt uns ja die vollständige Freisetzung des Willens entgegen, wenn dort die letzte auffindbare Grundbestimmung alles Seienden und
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
besonders alles Lebendigen als ,Wille zur Macht' gefaßt wird, der nicht mehr Bestandteil eines Systems ist, sondern gerade selbst die Rangordnung der Werte aus sich heraus setzt.) Wille und Vernunft bilden im Neustoizismus den Gegensatz zu den Leidenschaften, und es steht für Du Vair außer Zweifel, „qu'en nous le principe et mouvement de nos actions ne soit l'entendement et la volonté: le bien donc que nous cherchons doit être leur perfection, leur repos et leur contentement." 3 Dabei wird des näheren, wie übrigens später dann auch bei Charron, die rechte Vernunft als eine Disposition des Willens bestimmt. „Le bien donc de l'homme consistera en l'usage de la droite raison, — qui est à dire en la vertu, laquelle n'est autre chose que la ferme disposition de notre volonté à suivre ce qui est honnête et convenable." 4 Der so gefaßte Glückszustand des Menschen hat seine größte Gefährdung nicht mehr vorwiegend in den Verhältnissen der äußeren Wirklichkeit, sondern anthropozentrisch ebenfalls in sich selbst, in Form der Leidenschaften, und die Notwendigkeit des Kampfes gegen diese wird von Du Vair in der Philosophie morale des stoïques deutlich herausgestellt: „que nous commencions par ôter de nos esprits les passions qui s'y élèvent et eblouissent de leur fumée l'oeil de la raison." Diese „aufrührerische Bande" der Leidenschaften im Inneren steht in enger Beziehung zu den aufgelösten äußeren Verhältnissen der Zeit und deren Fanatismen und politischen wie religiösen Leidenschaften. Folglich besteht die erste Phase vernunftgemäßer Moral in der Selbstbeherrschung in Unruhesituationen. Der Kampf gegen die Affekte und ,passions' führt zunächst zur Notwendigkeit genauer Diagnose zwecks vernunftorientierter Therapie. Ausgangspunkt der Leidenschaften ist das menschliche Empfindungsvermögen, und sie entspringen dem sich seiner notwendigen und ausschließlichen Bindung an die Vernunft noch nicht bewußten Wunsch nach Glück. An die Auffassung der Leidenschaften als „un mouvement violent de l'âme en sa partie sensitive qu'elle fait ou pour suivre ce qui lui semble bon ou fuir ce qui lui semble mauvais" 5 , schließt sich eine weitere Differenzierung nach konkupisziblem und irasziblem Bereich an. Die Leidenschaften werden dadurch in Primärund Sekundärleidenschaften, d. h. in Empfindungs- und Intellektsleidenschaften unterteilt. Der konkupiszible Teil findet sich „à l'endroit ou l'âme exerce cete faculté d'appeter ou de rejeter les choses qui se présentent à elle comme propres ou contraires à son aise ou à sa conservation", und 3 4 5
Philos, mor., S. 66. Philos, mor., S. 64. Philos, mor., S. 69; vgl. S. 71, 99-100.
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der iraszible Teil befindet sich dann „en cet endroit où l'âme cherche les moyens qu'elle a d'obtenir ou éviter ce qui lui semble bon ou mauvais." 6 D e r Unterschied zwischen beiden Bereichen besteht also darin, daß in ersterem das begehrende Verlangen Aktivitäten zeigt, die sodann, einmal entfaltet, auf einer zweiten Stufe die Seele selbst bereits Mittel zum Erreichen oder zur Vermeidung eben dieser leidenschaftlichen Aktivitäten aufzusuchen veranlassen. Der iraszible Teil bildet demnach so etwas wie die nachfolgende Anpassung an die Interessenlage der Konkupiszenz und ist damit rationalisierter Ausdruck einer bereits eigenisteten Leidenschaft. Wenn dies geschieht, so ist Empfindung (la sensibilité) korrumpierend in den Verstand eingedrungen, und gerade auf dieser Ebene zeigt sich die größte Gefahr, die von den Leidenschaften ausgeht, Brechung nämlich der Klarheit des Intellekts, wodurch die Aneignung des Guten unmöglich gemacht wird. Empfindung hat den Intellekt korrumpiert und dadurch gleichsam intellektuelle Leidenschaften ausgebildet. Eng gekoppelt mit der Frage der Leidenschaften ist diejenige nach der Funktion der Sinne. Ihnen wird eine gedoppelte Rolle zugewiesen. Sie leisten zunächst Selektion von Außenwelt zum Erhalt des Individuums, und sie sind sodann auch Informationsträger für den Verstand, d . h . ihr Wirken liegt sowohl im Bereich der Physiologie als auch der Logik. Die Tätigkeit der Sinne wird erschwert durch die notwendige Flüchtigkeit des aufzunehmenden Eindrucks, die den Schein zum Auswahlkriterium werden lassen kann. Hinzu kommt die Gefahr, dem Verstand bereits verfälschte Informationen vorzustellen. Auf diese Weise kann die rechte Einschätzung dessen verwirrt werden, was dem menschlichen Körper nützlich ist und was dem Geist zum Guten gereicht. Aus den durch die Sinne behafteten Eindrücken entsteht die ,opinion', von der ein natürlicher Ubergang zu den Leidenschaften erfolgt. Wohl oder übel besteht die Funktion der Sinnesorgane darin, äußere Eindrücke nach innen zu vermitteln, d. h. gerade die sinnliche Wahrnehmung bildet den Verknüpfungspunkt mit der krisenhaften Umgebung. Da die Sinne an äußeren Objekten orientiert sind, entstehen die Leidenschaften in einem Prozeß gleichsam von außen nach innen, und das Fortschreiten in der Seele von konkupisziblem zu irasziblem Bereich ist nur eine zweite, jetzt innermenschliche Entwicklung des gleichen leidenschaftlichen Vorgangs. Gerade ihn aber gilt es über die
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Phílos mor., S. 71 — 7 2 ; vgl. des näheren S. 7 2 - 9 9 . Die konkupisziblen Leidenschaften sind: plaisir ou volupté; désir; haine ou horreur; fâcherie; douleur; pitié; jalousie; envie; crainte. Die irasziblen Leidenschaften: espoir et désespoir; peur et courroux.
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Vernunft zu unterbrechen, da andernfalls die geforderte Aneignung des Guten gefährdet ist. D u Vair liefert in der Philosophie morale des stoïques eine psychologische Detailbetrachtung der Leidenschaften, die über die antike Stoa hinausgeht. Die Aufspaltung der Leidenschaften in einen konkupisziblen und einen irasziblen Teil der Seele ist eine aristotelisch-scholastische Unterscheidung, die jedoch vor der Funktion des rein stoischen Begriffes der ,opinio' zurücktritt. Dieser bildet zusammen mit den Leidenschaften den Grundwidersacher der ,ratio', was für die ganze Erörterung Du Vairs tonangebend ist. Erst über die Verbindung von Leidenschaft und ,opinio' entsteht Opposition zwischen Vernunft und Leidenschaften, und nur eine in der vom Interesse an ihrer eigenen Selbsterhaltung geleiteten Vernunft gründende Ethik vermag nach Ansicht Du Vairs einen wirksamen Schutzwall gegen den Unruhe, Chaos und letztlich Untergang zur Folge habenden Ansturm der Leidenschaften zu errichten. Hier zeigt sich' recht deutlich, daß der Rückgriff auf die Vernunft aus einer Situation der Bedrohlichkeit heraus erfolgt. Die Fassung dessen, was als menschliches Glück gelten soll, ist also jetzt nicht mehr primär naturteleologische Folge von menschlichem Leben und dessen Bewegung und Tätigsein, sondern das Gut des Menschen, das menschliche Glück, ,ist' nur in dem Maße wie es ,als' Vernunft ist. Der Zugewinn der Vernunft an endogener Autonomie und Autorität steht in einem genetischen Zusammenhang mit der Wende gegen eine primäre Natürlichkeit, welche durch die Bildung und das ungehemmte Wirkenkönnen der Leidenschaften und Fanatismen gekennzeichnet ist. Der resignativ anmutende Rückzug auf das Innere des Individuums geht also hier mit einer möglichen Freisetzung und normativen Wirkung der Vernunft einher. Bereits die Zuspitzung auf das Individuum und dessen Vernunft erfolgt in höherwertiger und prinzipieller Übereinstimmung der menschlichen und der den Kosmos durchherrschenden Vernunft, und die individuelle Vernunft erhält auf diese Weise zugleich den Adelsbrief universaler Verbindlichkeit. Dem gesamten Universum eignet eine vernünftige Disposition und Ordnung, die eine respektvolle Balance der einzelnen und mitunter auch gegensätzlichen Teile bewirkt, und nur deshalb kann man sinnvoll von einer Ordnung der Natur sprechen. Dieser gegenüber hat sich der Mensch unter dem Leitfaden der Vernunft einzuordnen, was, nach der stattgehabten Dissoziation einer gänzlichen Eingebundenheit des Menschen in eine unmittelbare Natur und Wirklichkeit, durch eine „gemäßigte Affektion" gegenüber den Restteilen des Ganzen zu geschehen hat. Mit einem Schlage scheint dadurch eine
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doppelte Freisetzung erreicht zu sein. Zum einen hat das Individuum die hinter allem Auf und Ab der Welt und der Geschichte stehende feste Sinnhaftigkeit eingesehen, und dies bedeutet für die erneuerte Stoa eine im denkenden Bewußtsein sich vollziehende gewisse Befreiung von der bedrohlichen Kontingenz der Welt. Zum anderen erhebt sich der Mensch durch die Herausstellung der Vernunft über alle anderen Formen des natürlichen Seins; er erhält seine Stellung am Vermittlungspunkt zwischen irdischen und göttlichen Dingen, wodurch er auch bestimmte göttliche Qualitäten, besonders eine sekundäre Schöpferkraft, auf sich zieht, sich zu eigen macht. Die passive Einordnung in die als rational ausgedeutete Struktur der Natur setzt also zugleich Energien frei, insbesondere dann die politische Ordnung als rational, stabil, diszipliniert und leidenschaftsfrei zu postulieren und auch aktiv anzustreben, soweit dies in menschlicher Macht steht. Die Frage der Moral bildet das Grundanliegen aller Abhandlungen Du Vairs, und besonders in der Philosophie morale des stoïques wird deren politischer Zusammenhang sichtbar, die Bildung nämlich des „bon citoyen". Rufen wir noch einmal das ethische Programm in Erinnerung. „Puisque l'heur de l'homme dépend de son bien, que son bien est de vivre selon la nature, c'est de n'être point troublé de passions et se comporter envers toutes choses qui se présentent selon la droite raison, il nous faut, pour être heureux, purger notre esprit des passions et apprendre comme nous nous devons affectionner envers ce qui se présente." 7 Die hier implizierte Moral ist zunächst eine rein negative, denn im Anschluß an die Forderung des Encheiridion, in einem intellektuellen Urteil vorab zu entscheiden, ob etwas in menschlicher Macht steht oder nicht, wird jetzt besonders über den Begriff der Leidenschaften eine Enthaltung bestimmter gefährlicher Aktivitäten gefordert. Alle aus den außerhalb des Individuums liegenden und dem Vernunft- und Willenseinsatz entzogenen Bereichen kommenden Widerstände gegen die Klarheit des Verstandes gilt es zu unterdrücken. Die Konzentration auf das Individuum fordert zunächst nur Aktivitäten innerhalb des Individuums selbst, zur selbstbehauptenden Stützung seiner selbst, so z. B. die Zuständigkeitsentscheidungen der Vernunft und die Reinigung der Seele von Leidenschaften. Aber diese Negativität muß zwecks eigenen Erhalts zu einer positiven Moral werden, in der Pflichten hierarchisch festgesetzt sind. Der Begriff der Natur, die innere Logik der Vernunftkonstruktion und der Drang nach Verwirk7
Philos. TftOT.j
S. 6 8 ; vgl. S. 73 („affection temperée"); S. 104 („bon c i t o y e n " ) .
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lichung der Aneignung des Guten erfordern solche positiven moralischen Anweisungen. Der erste Schritt zur Erstellung positiver Moral besteht in der Unterscheidung der Pflichten nach solchen, die sich auf Dinge außerhalb des einzelnen Menschen und Bewußtseins erstrecken und solchen, die eigene Person betreffend. Die transindividuellen Bereiche haben ihre Gehorsam und liebende Zuneigung fordernde Legitimation in der Natürlichkeit ihres Daseins, in der Natur. In hierarchisch abnehmender Reihenfolge ist die Liebe zu nennen gegenüber Gott, Vaterland, Eltern, Kindern, Frau und Verwandten; dazu tritt noch die in der Tugend gründende Freundschaft. Die stärkste Zuneigung (affection) stellt die Frömmigkeit (piété) dar, sie gebührt Gott als dem Schöpfer und der Ursache aller Dinge, der höchsten Verkörperung jenes Guten, nach dem auch der menschliche Wille strebt. Durch die Frömmigkeit ist der Mensch gleichsam mit seiner ersten Ursache verbunden und konsolidiert. Ihre Hauptfunktion besteht in der möglichen Erkenntnis Gottes, seiner Existenz als Schöpfer der Welt und deren Beherrscher, seiner Vorsehung als wachender Größe und in der Einsicht, „ q u e tout ce qu'il nous envoie est pour notre bien et que notre mal ne vient que de n o u s . " Solche Erkenntnis und Sicherheit hat einen dankbaren Gehorsam sowie die Uberzeugung zur Folge, daß alles von Gott Gesandte dem Menschen zum Guten gereicht, obwohl dessen begreifendes Vermögen zu solcher Einsicht oft nicht in der Lage ist. „Sous cette assurance nous devons nous commettre et soumettre à lui reconnaisant que nous sommes entrés en ce monde non pour commander, mais pour obéir, que nous y avons trouvé les lois toutes faites, lesquelles il faut suivre." Gerade durch die bewußte Eingliederung in bereits Geordnetes, charakteristisch für den Weisen, erfährt der Mensch eine Erhöhung, seine höchste Stellung in der Ordnung der Natur. Auf die Pflichten gegenüber Gott folgen sodann diejenigen, die der einzelne dem Vaterland entgegenzubringen hat. Die Vernunft gebietet, der nationalen politischen Ordnung mehr Wohlwollen zu gewähren als allen anderen Bereichen und Einheiten des irdischen Seins, da im Falle ihres Untergangs alles Weitere sich von selbst erübrigt. Das Vaterland, die Nation, gibt jenen Rahmen ab, in dem alle weiteren Formen von Gemeinschaft (wie das Verhältnis zu den Eltern, Kindern, Verwandten und Freunden) ihre Voraussetzung haben, und von daher wird der Einsatz für das Vaterland zur höchstwertigen Grundeinstellung unter allen Haltungen gegenüber weltlichen und menschlichen Institutionen. Gefordert wird der „ b o n et fidèle citoyen". 8 Die Eltern 8
Philos,
mor., S. 104; Vgl. S. 100-103.
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bilden die nächste Gemeinschaft, der gegenüber naturgemäß der einzelne gehorsame Unterwerfung zu üben hat. Eltern sind auf Erden Göttern vergleichbar, deren Aufgabe es ist zu zeugen, zu versorgen und zu erziehen. Eine besondere Sorgfalt gebührt den Kindern, da der einzelne von G o t t gleichsam auf Posten in diese Welt gestellt ist und von daher für eine Nachfolge zu sorgen hat. Der Frau wird eine besondere Hochachtung zuteil, da sie hinsichtlich der Nachkommenschaft ein Teil des Gatten selbst ist. Der Nachwuchs, die Erleichterung der Härte des Lebens in Liebe und Treue, bildet die Grundlage des respektvollen Verhaltens gegenüber der Frau, und von ihr geht es in der Hierarchie der aufzubringenden „affection" zu den Verwandtschaftsbeziehungen über. Auch diese haben ihre Rechtfertigung in der Natürlichkeit ihrer Verbindung. Dagegen ist das Verhältnis zu weisen und tugendhaften Menschen in der Tugend und nicht in der Natürlichkeit direkt begründet. Die Freundschaft unter Ehrenmännern (honnêtes gens) stellt hier ein kostbares Gut dar. Damit ist die Betrachtung der außerhalb des Menschen liegenden Bereiche abgeschlossen. Sie sind hierarchisch geordnet, von der Liebe zu G o t t bis zur Freundschaft abnehmend. Im Falle eines Konfliktes zwischen zwei oder mehreren Bereichen ist stets dem in der Hierarchie höher stehenden der Vorrang zu geben; „il nous faut établir une règle: de préférer toujours les premières aux dernières." Ihren gleichsam gegenwendigen Höhepunkt haben all diese Pflichten gegenüber der Außenwelt in den Pflichten sich selbst gegenüber. „L'homme sage sans doute rend beaucoup de respect à soi-même, et, encore que personne ne le regarde que sa propre conscience, il a un grand soin de ne dire ni ne faire chose qui ne soit bienséante", und die oberste Pflicht, weil höchster Maßstab für jegliches Handeln des Individuums, ist der stete Einsatz der ,rechten Vernunft*. Ihr nachgeordnet ist die Sorge für den Körper, der mit dem Geist eine notwendige Verbindung im irdischen Bereich eingegangen ist und ohne ihn nicht existieren könnte. Der Leib hat instrumentalen Charakter, und dieses Instrument muß durch mäßige Nahrung und regelmäßige Übung stets einsatzbereit gehalten werden. Den Körper derart für Tätigkeiten vorbereitet, gilt es dafür zu sorgen, daß Gesichtsausdruck (visage) und körperliche Haltung (allure) eine große Ruhe des Geistes ausstrahlen, was in besonderem Maße für die Sprache zu gelten hat, die mit Mäßigung und den Regeln entsprechend gehandhabt werden muß. Dem zurückhaltenden Schweigen kommt ein besonderer Stellenwert zu, da es in seiner Sammlung Ausdruck der Vernunft und Beitrag zur Seelenruhe ist. Sprache soll eingreifen, um Wahrheit zu stützen und Lüge zu entlarven,
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nicht aber beispielsweise, um von Ereignissen, Theateraufführungen, Aktionen, Glück oder Unglück zu erzählen oder spaßig zu sein, ,,car cela tient trop du bouffon et fait perdre l'opinion que l'on pourrait avoir de nous." Da Sprache und Verhalten immer auch Ergebnis einer Nachahmung sein können, muß man die gemeine Volksmenge meiden, um seine Individualität zu bewahren. Stets gilt es das Verhältnis von gesetztem Ziel und der Erreichbarkeit mittels der eigenen Kraft sachgemäß zu gestalten. Gerade an diesem Punkt liegt eine Hauptaufgabe der Philosophie, die Vermittlung nämlich einer stets realistischen Einschätzung. „Le plus profitable enseignement que vous puisse donner la philosophie pour toutes vos actions, c'est d'examiner soigneusement quel doit être le progrès et la fin de ce que vous entreprenez, et mesurer vos forces et voir comme elles sont proportionnées à vos desseins. Celui qui se conseille sagement arrive au port qu'il s'est proposé." Bezüglich der eigenen Handlung darf keine Abhängigkeit vom Urteil anderer bestehen, ebenso wie die Tugend nicht auf Ruhm aus sein kann, sondern sich selbstgenügend lediglich eine Disposition zeigt, gerühmt zu werden. Der Erfolg einer Handlung ist stark an den günstigen Augenblick gebunden, und, zusammen mit der Einsicht in die Rolle der Fortuna, muß dem Individuum klar sein, daß in seiner eigenen Kraft stets nur der Ratschluß und die diesem folgende Bewegung liegen, nicht aber der Ausgang der Dinge selbst. Schließlich werden alle Pflichten der eigenen Person gegenüber durch eine allabendliche Selbstkritik abgerundet. In ihr wird das Verhältnis von Sein und Sollen aller Handlungen erhellt und in seiner Stellung zur rechten Vernunft in einem reflexiven und selbstkritischen Sinne bestimmt. „Voilà les principales lois par lesquelles le Stoïque estime q u ' i l f a u t p o l i c e r n o t r e vie." 9 Die Pflichten sich selbst gegenüber lassen sich also zusammenfassend begreifen als Kampf gegen die Leidenschaften, Sorge für die Seele, Sorge um den Körper und tägliche Selbstkritik. Mit dieser Konstruktion liegt eine Ethik vor, die in die Sozialdimension und in den Bereich des Politischen hineinragt. Aus dem Inneren heraus, aus der Sicht des einzelnen Individuums, wird ein hierarchisch angeordnetes System von Verhaltensnormen an die Außenwirklichkeit herangetragen, das alle möglicherweise auftretenden Momente und Situationen prophylaktisch erfassen und durch Vernunfteinsatz in der Weise beurteilen soll, daß diese nicht die Klarheit des Verstandes beeinträchtigen können. Alle Situationen sollen mittels Einsatz des Systems sofort und 9
Philos, mor., S. 112-113, Hervorhebung Verf.; vgl. S. 107-111.
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vernunftgemäß, d. h. unter Ausschaltung jeglicher Leidenschaft, einordnend bewältigt werden, und genau hierin liegt die Unbesiegbarkeit des Menschen. „ C e qui nous offense plus, c'est la nouveauté de ce qui nous arrive. (. . .) Les forçats pleurent quand ils entrent en galère; au bout de trois mois, ils y chantent. Mais ce que l'accoutumance apporte au vulgaire, la méditation l'apporte au Philosophe; car, à force de penser aux choses, elle les lui rend familières et ordinaires." 1 0 Dies ist die Leistung der Vernunft, und darin wird auch menschliches Glück wirklich, denn die Vernunftherrschaft wird als identisch mit dem Glückszustand aufgefaßt, da nur sie ein unabhängiges Beisichsein gewährleistet. Ihre Legitimation erhalten die so die Wirklichkeit strukturierenden und das Individuum in die gehorsame Pflicht nehmenden Ordnungen des Vaterlandes und der Familie durch die Denkfigur einer Strukturgleichheit des Universums als ganzem und aller seiner Teile. Das an der Naturordnung und insbesondere am Kosmos abgelesene Weltbild ist also für die Gestaltung des sozialen und politisch-staatlichen Miteinanders der Menschen von hoher rechtfertigender Bedeutung. Der Staat und die Familie werden auf diese Weise als natur- und vernunftgemäße Autoritätsträger ausgewiesen. Im Unterschied zu der altstoischen Vorstellung eines Kosmopolitismus findet bei D u Vair eine Eingrenzung auf das Vaterland statt. Für die französische Nation ist der Ordnun 0 sschwund so durchschlagend, daß die nationale und politische Existenz gefährdet zu sein scneint, und mit dem Auftreten anarchischer Verhältnisse ist auch die Unmöglichkeit einer praktischen Lebensordnung überhaupt gegeben. Folglich muß es zunächst darum gehen, das Vaterland zu erhalten und zu sichern. Der Neustoizismus stellt sich also den andrängenden Problemen in einem viel direkteren Sinne als dies die antike Stoa getan hat, für die die Krise der Polisordnung ja gerade der entscheidende Anlaß war, auf die unanfechtbare Harmonie und Ordnung des Kosmos auszugreifen. Die erneuerte Stoa dagegen transformiert den Gedanken des Anthropozentrismus von der Vorstellung eines auf den Menschen hin orientierten Kosmos zu dem neuzeitlichen Bemühen eines Denkens und Handelns im Interesse des Menschen und vom Individuum her. Beide Male steht der Mensch im zweckhaften Mittelpunkt der Welt und allen Geschehens, in der hellenistischen Antike allerdings als Ausfluß noch scheinbar versicherter Naturverhältnisse, in der Frühen Neuzeit dagegen als eher gefährdetes und ungeschütztes Wesen sowohl gegenüber einer andrängenden Natur als auch gegenüber den die eigene Existenz bedrohenden anderen Menschen (Religions- und Bürger10
Philos, mor., S. 88.
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
kriege). Die Texte des Neustoizismus haben hier ihre Wurzel. Sie wollen zum einen das einzelne Individuum in seiner Endlichkeit sichern, in sich gründen und dadurch besonders gegen Tod und Schicksal unbesiegbar und auf diese Weise lebensfähig machen, und sie wollen zum anderen die menschliche Gesellschaft in einer natur- und vernunftgemäßen Form politisch strukturieren und organisieren, so daß durch deren Charakter eines disziplinierten Machtstaates zwar nicht die Bedrohung durch Naturkatastrophen, wohl aber diejenige durch andere Menschen, d. h. die Situation des Bürgerkrieges, ausgeschaltet ist. Für den Neustoiker wird die machtstaatliche Monarchie zu derjenigen Staatsform, die sein höchstes Lebensziel am besten garantiert, und zwar gerade durch ihre hierarchischen Institutionen, die den einzelnen vor Entscheidungen stellen, die lediglich aus äußeren Zuordnungen bestehen und ihn dadurch einen verinnerlichten Freiheitsraum definieren lassen, ohne dabei der Unsicherheit ausgesetzt zu sein, durch plötzlich auftretende Situations- und Autoritätsänderungen in der Außenwelt bei der privaten Aneignung des Guten allein durch Vernunft gestört zu werden. Neben dem nationalstaatlichen spielt der christliche Aspekt bei Du Vair eine entscheidende Rolle. Das wechselseitige Durchdringen christlicher und stoischer Gedankengänge läßt sich bereits in der Sainte Philosophie greifen und findet, wie wir später noch sehen werden, in dem Traité de la constance seinen Höhepunkt. In der Sainte Philosophie heißt es: „j'ai pris peine de transférer à l'usage et instruction de notre religion les plus beaux traits des philosophes paiens que j'ai pensé s'y pouvoir commodément rapporter." 11 Im Anschluß an die eher christliche Fassung des höchsten Gutes (als „état et disposition d'une âme pure et innocente et son action parfaite, bienheureuse et toute céleste") und einem Hinweis auf das zukünftige Leben legt Du Vair den Grund der Übel in der Welt in den völlig unstoischen Begriff der Erbsünde. 12 Dieser sind letztlich das falsche Urteilen, der schlechte Wille und die Leidenschaften hervorrufende Tätigkeit der Sinne zuzuschreiben. Aber bereits die in Aussicht genommene und für möglich gehaltene Änderung dieses Zustandes wird in durchaus stoischer Weise gedacht. Der Wandel zum Guten geschieht nicht durch einen Gnadenakt Gottes, sondern er besteht in einer Reform des Intellekts. Die Du Vair zufolge für diese Veränderung notwendigen Tugenden der ,tempérance', ,clémence', ,modestie et modération', ,force et grandeur 11 12
Sainte Philos., S. 14. Sainte Philos., S. 22; vgl. S. 49, 57.
Traktat über Standfestigkeit und Trost
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de courage', .libéralité' und .justice' sind stoischen Grundcharakters. Am wichtigsten aber ist die Verschränkung von Stoa und Christentum in der Sainte Philosophie im Begriff der rechten Vernunft. Die ,recta ratio' ist dort „la règle qui conduit toutes choses à la fin à laquelle Dieu les a créées", und der Vernunft werden zwei der drei christlichen Tugenden, nämlich Glaube und Hoffnung, als Begleiter zur Seite gestellt. Erst in der Philosophie morale treten der Dualismus von Körper und Geist und besonders der stoischer Tradition entstammende Gegensatz von Ratio und Opinio hervor, und das höchste Gut wird jetzt nicht mehr als Besitz Gottes, sondern als eher immanente Glücklichkeit der sich in Ubereinstimmung mit der Natur wissenden Vernunft gefaßt. Dabei sind für Du Vair die Begriffe Vernunft und Natur einerseits angefüllt mit der Vorstellung einer materialen Substanz (im Sinne eines seienden Logos und einer seienden Natur, von etwas also, das in sich selbst ist), und sie enthalten andererseits eine über diese Stofflichkeit hinausgehende göttliche Dimension. Je nach Problemlage vollzieht sich eine Hinwendung mehr zu dem einen, mehr zu dem anderen. Wenn es z. B. darum geht, dem Menschen im Rahmen des stoischen ,homologouménos te physei zen', des ,vivere secundum naturam', nicht nur das Ethos einer Handlung, sondern auch den motivationalen Antrieb zu sichern, so vollzieht Du Vair innerhalb des Naturbegriffs eine Gewichtsverlagerung hin zu Gott als dem Schöpfer und der höchsten Vernunft überhaupt. Die Gottesvorstellung wird so zum entscheidenden Vermittler von Theorie und Praxis, und es ist nicht verwunderlich, wenn die Philosophie morale einen christlichen Abschluß findet, demzufolge die noch auf wackelnden Beinen stehende Autonomie' des Menschen auf Gottes Unterstützung angewiesen ist. Allerdings sind damit auch zwei gravierende Probleme aufgebrochen, denen Du Vair sich aber erst im Traité de la constance stellt: die Frage nach dem Verhältnis von natürlicher und göttlicher Ordnung, und die Frage nach den Beziehungen von göttlicher Notwendigkeit und menschlicher Freiheit.
2. Traktat über Standfestigkeit
und Trost
Auf den folgenden Seiten soll der Versuch unternommen werden, etwas von jener Struktur und Weise einzufangen, in der und nach deren Maßgabe der Neustoiker Du Vair sich selbst, die Menschen allgemein und die Welt und Wirklichkeit auffaßt, auslegt, auf sich bezieht und sich in ihr und gegen sie behauptet. Und zwar soll dies dadurch erreicht werden, daß
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
wir in einem eher immanenten Sinne die Darstellungsprinzipien und Gedankenführung Du Vairs selbst zu rekonstruieren suchen, in der Hoffnung, daß gerade an deren Struktur das besondere Menschen- und Weltbild erhellt. Viel stärker als bei Charron und Lipsius, an dessen Constantia sich der Traité de la constance orientiert, treffen wir bei Du Vair auf christliche und platonische Momente, und ganz deutlich wird auch hier wieder die hohe Bedeutung, die dem nationalen Aspekt zukommt. Du Vair ist der christliche und nationalpatrioàsc^e ^ c s t o i k e - . Al'erdings sei darauf hi igewiesen, daß der Gedankengang trotz der vielen traditionalen Theoriemomente oftmals gegen den Strich zu lesen ist, soll heißen: Du Vair greift des öfteren aus der Warte des betroffenen Individuums auf christliche Vorstellungen zurück, um dem gefährdeten Individuum dadurch Energien der Selbstbehauptung zuzuführen. Er will also in seinen Darlegungen keine christlich-theologische Demonstration liefern. So wird etwa in Gestalt Gottes ein Weltengrund gedacht, dessen Existenz das menschliche Streben und Ausharren in der Welt nicht als grundlos und von Anfang an zum Scheitern verurteilt erscheinen läßt. Die Existenz Gottes ist zur Vergewisserung der äußeren Wirklichkeit und zur Selbstvergewisserung in der Frühen Neuzeit von zentraler Bedeutung. Ausgangspunkt des als Gesprächsrunde abgefaßten Traité de la constance et consolation és calamitez publiques bildet die Belagerung von Paris durch Heinrich IV. (6. Mai bis 30. August 1590), in der die Religions- und Bürgerkriege ihren scheinbaren Höhepunkt erreichen. Der als Schüler auftretende Du Vair beweint das Schicksal Frankreichs und trägt einem seiner Freunde, Musée, seine Verzweiflung vor. Das Auseinanderklaffen der Schulphilosophie einerseits und der in der Wirklichkeit auftretenden Probleme andererseits ist sein Hauptproblem; „j'apprens maintenant, par expérience, combien il est plus aisé de parler que de faire, et combien sont faibles les argumens de la philosophie à l'escole de la Fortune." 1 3 Philosophie und Natur seien nicht mehr miteinander vereinbar, und eine Wahl zwischen beiden werde notwendig. Die Natur sei Herrin der Leidenschaften und habe diese in den Menschen selbst gelegt, wodurch jede Hingabe an die Affekte scheinbar einen Akt des Gehorsams gegenüber der Natur darstelle. In bezug auf die ,calamitez publiques' ergebe sich damit eine beinahe an tinomische Situation. Der empfundene Schmerz sei entweder unnatürlich, oder aber er beziehe sich auf dasjenige Übel, durch welches gerade die Natur so tiefgehend verletzt werde, „qui est en la ruine 13
Traité, S. 55.
Traktat über Standfestigkeit und Trost
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et subversion de nostre pays". Durch die Zerrüttung des Vaterlandes werden die naturgemäßen Bindungen des Bluts, der Freundschaft, des Wohlwollens und der Gesellschaft angegriffen. Angesichts solcher Situation kein Mitleid und keine Betrübnis zu empfinden, bedeute grundsätzlich einen Verstoß gegen die Zivilgesetze, die natürliche Frömmigkeit und die Majestät Gottes. Die Verzweiflung sei umso gerechtfertigter, als Menschen daran beteiligt waren, dieses Gemeinwesen in den Strudel der Bürgerkriege zu stürzen. Frankreich befinde sich am Vorabend eines unheilvollen Schiitbruchs, bei dem ihm von zwei beite.. Gefahr drohe. Den Fanatikern im Innern stehe Unheil von außen gegenüber. Musée stand stets auf der Seite der Natur gegen eine übertrieben gehandhabte Philosophie. Letztere aber ist jetzt so stark diffamiert worden, daß ihre Verteidigung unumgänglich ist. Er weiß, daß sie den natürlichen Affekten Zugeständnisse machen muß, jedoch kann sie Schmerz und Leidenschaft in den nötigen Grenzen halten, um eine zu starke Einflußnahme auf das Seelenleben zu verhindern, und letztlich kann Philosophie deren Tilgung überhaupt bewirken. Der Überlegungsgang wird nochmals unterbrochen, denn zwei der besten Freunde von Du VairSchüler und Musée, Orphée und Linus, treten auf, um die Gesprächsrunde zu vervollständigen. Bevor Musée seine Argumentation wieder aufnehmen kann, wird diese durch Erlebnisschilderungen der beiden Neuankömmlinge erschüttert und erschwert. Linus berichtet von einer Frau, die sich erhängt habe, weil sie für ihre Kinder keine Nahrung mehr habe finden können, und Orphée schildert eine Szene, in der hungernde Menschen einen auf altem Stroh gegrillten und noch blutenden Hund verzehrten. Es geht sogar das Gerücht, daß eine Landsknechtshorde Kinder geschlachtet habe. Musée wird aufgefordert, nicht so sehr seine Meinung darzulegen, sondern vielmehr aufzuzeigen, in welcher Weise die Philosophie ein in die Praxis übertragbares Heilmittel gegen diese verirrte Zeitsituation sein kann, deren Gründe in der politischen Krise liegen. Damit ist die Ausgangsproblematik der ganzen Abhandlung geschickt ins Blickfeld gerückt. Die sich aus den französischen Religions- und Bürgerkriegen ergebende Krisensituation treibt jeden verantwortungsbewußten und empfindsamen Menschen an den Rand der Verzweiflung. Unter ihrem D r u c k wird besonders das Verhältnis zur philosophischen Beschäftigung brüchig, denn Philosophie und reale Wirklichkeit klaffen anscheinend unvereinbar auseinander. Der Fortgang der Abhandlung besteht nun aus drei aufeinander folgenden Zyklen, in denen jeweils einer der drei Gesprächspartner eine inhaltlich abgeschlossene Argumentation vorträgt.
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Musée nimmt die Auseinandersetzung mit Gedanken zum Verhältnis von Natur und Geschichte wieder auf. Er will für die Wahrheit streiten und der Vernunft (raison) zum Siege verhelfen, d. h. einen Ruhezustand der Seele inmitten der uns quälenden Übel erreichen. Der erste Schritt dazu ist ein analytischer und stellt die Frage nach der Herkunft der Übel. Um diese Frage sinnvoll zu bearbeiten, erscheint es ihm nötig, auf den übereinstimmenden strukturellen Aufbau von funktionierender Monarchie und menschlicher Natur hinzuweisen. Die Natur des Menschen entspricht der Gestalt sowohl des ganzen Universums als auch derjenigen all seiner Teile, besonders der Beschaffenheit des Königtums. Der souveräne Fürst setzt zur Regierung seines Gebietes Gouverneure und Magistrate ein und versieht diese mit handlungsanweisenden Gesetzen. In zweifelhaften Angelegenheiten mögen sie mit ihm in Verbindung treten und seinen Befehl abwarten. Der Staat ist nun solange in einem Zustand friedlichen Gedeihens wie die Untertanen den Magistraten und diese wiederum den Gesetzen und dem souveränen Fürsten gehorchen. Unordnung und Verwirrung aber treten von dem Augenblick an auf, wo sich die unterhalb des Herrschers stehenden Autoritäten täuschen, korrumpieren lassen und ohne Bindung an den Fürsten eigenständig urteilen und befehlen. Auf anthropologischer Ebene entwickelt Musée eine Parallele. Im Menschen ist die höchste Kraft der Seele die Vernunft, die alle menschlichen Aktionen leitet. Sie hat zwischen sich selbst und die Sinne das Aestimativ, das Einschätzende, als Ebene eingezogen, „pour connoistre et juger, par le rapport des sens, la qualité et condition des choses qui se présentent, avec authorité de mouvoir nos affections pour l'exécution de ses jugements." 14 Die aufklärende Kraft der Natur ist dem Aestimativ gleichsam als Gesetz beigegeben. Darüber hinaus ist das Aestimativ durch die Möglichkeit einer ständigen, nachfragenden Rückkopplung an die Vernunft als der entscheidenden Instanz charakterisiert. Zeichnet sich das menschliche Leben durch diesen Funktionszusammenhang aus, so herrscht ein Zustand der Zufriedenheit. Dieser tritt aber nur sehr selten ein, da das Aestimativ als Kraft zwischen Verstand und Sinnen, „au-dessous de l'entendement et au-dessus des sens", bei seinen bereits die Qualität betreffenden Urteilen meistens der Täuschung und Korruption unterliegt, was zu falschen Einschätzungen führt, die ihrerseits die Affekte zu Unrecht ergreifen und den ganzen Menschen in Sorge und Unruhe versetzen. Die Sinne sind Vorposten der Seele, Wachs vergleichbar, auf dem 14
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sich lediglich die äußere Form der Erscheinung abdrückt, unter Aussparung der inneren Natur. Durch sie werden der Seele Bilder vorgestellt, versehen bereits mit einem die Qualität betreffenden Quasi-Vorurteil, je nachdem ob sie gefällig oder nützlich erscheinen. Das führt in der Seele zur Entstehung der Meinung, und indem sich die ,opinion' der Vorstellung bemächtigt, nistet sie sich in der Seele ein und steht in Opposition zur rechten Vernunft (la droite raison). Gleich einem politischen Tyrannen versucht sie, ihr Regime zu festigen und ihre Gegner auszuschalten, indem sie die menschlichen Affekte in Wallung setzt und so die ersehnte Harmonie verhindert. Die der Natur der Seele entgegengesetzte Meinung schwächt deren Kraft und Tugend gerade in einer Zeit, wo es alle Kräfte gegen das drohende Übel zu mobilisieren gilt. Besonders der von der Opinio hervorgebrachten Traurigkeit (la tristesse) gilt es bereits in den Anfängen zu wehren. Das wirksamste Instrument der Opinio sind die zukünftigen Übel, die nicht auf Grund ihrer Natur, sondern in dem Maße ihrer Denkbarkeit existieren und aus Besorgnis gefürchtet werden. Die menschliche Furcht hat die eigentümliche Funktion, einen gefürchteten Zustand auch tatsächlich eintreten lassen zu können. Für Musée ergibt sich daraus eine klare Folgerung: zeigt man keine Furcht, so tritt solange kein Übel auf, wie dieses nicht tatsächlich vorhanden ist. Um zu zeigen, daß größte politische Unruhe nicht notwendigerweise den Untergang des Staatssystems bedeutet, sondern sogar gegenteilige Wirkung haben kann, greift Musée zu Beispielen aus der Antike. Städte, Staaten und ganze Reiche sind aus dem Zustand größter Erschütterung gestärkter denn je hervorgegangen. Das beste Beispiel scheinen die Römer abzugeben, die als mutiges und tapferes Volk nie die Hoffnung verloren und das Glück von neuem tapfer versuchten, was sie zu vorher nie gekannter Größe führte. Dies gilt nicht nur für die äußeren Kriege, sondern auch für die Bürgerkriege, „qui sont ordinairement les fatales et mortelles maladies des grans Estats", zur Zeit Sullas und Marius, Pompeius und Cäsars, die Ubergangsphase zum größten Imperium wurden, was die Welt bisher gesehen hat. In der französischen Geschichte sind ähnliche Vorgänge zu erkennen. Bei Regierungsantritt Karls VII. lag der Staat völlig funktionsunfähig zu Boden, und niemand hätte erwartet, daß er sich binnen so kurzer Zeit hätte festigen und ausweiten können. Der Bereich dessen, was wir fürchten, setzt sich aus der Angst vor Verbannung, Armut, Verlust von Ehre, Kindern, Freunden und letztlich des eigenen Lebens zusammen. Die Verbannung als Übel anzusprechen, bedeutet, die Frage nach der natürlichen Liebe gegenüber dem Vaterland
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zu stellen. Musée vertritt hier einen auf Vernunft gegründeten Kosmopolitismus. Da der Mensch dazu geboren ist, alles zu sehen und zu erkennen, wäre es Unrecht, ihn an ein Fleckchen Erde fesseln zu wollen. Der Ursprung und Endpunkt umgreifende Himmel ist das wahre, allen gemeinsame Heimatland, das sich in allen Menschen und an allen Orten der Erde manifestiert. „Toute terre est pays, à celui qui est sage: ou pour le moins, comme disoit Pompée, il doit estimer que son pays est où est sa liberté." 1 5 Von seiner Natur her bedarf der Mensch nur sehr weniger Dinge als notwendig, und eine die Existenz bedrohende Armut trifft man nur sehr selten an. Wünschenswert aber ist diejenige Armut, die sich als Mäßigkeit und Genügsamkeit fassen läßt, denn sie ist eng mit der Tugend verbunden und kein Grund zur Furcht. Sie verhilft uns dazu, Herr des eigenen Lebens zu werden und nicht mehr vom Erhalt und der Erweiterung des Besitzstandes abhängig zu sein. „ O faux biens! qui vous connoistroit bien, vous estimeroit de vrais maux." 1 6 In gleicher Weise ist der Verlust von Ehren und Würden kein Grund zur Betrübnis. Alle großen Magistrate sind stets entweder verbannt, ermordet ouer ver b iftet worden, und ihre Ämter waren schwere Hindernisse für die Tugend. Die Antike liefert für das Scheitern tugendhafter Menschen in solchen Funktionen genügend Beispiele (Aristides, Themistokles, Phocion, Camillus, Scipio, Cicero). Aber um dies zu erläutern, braucht man nur in die eigene französische Geschichte zu schauen. Die beiden tugendhaften, gebildeten, politisch-gewandten und patriotischen Kanzler, François Olivier und Michel de L'Hospital, sind mit Schmach aus ihren Funktionen vertrieben worden. Beim Verlust von Freunden, Eltern und Kindern bedauern wir nicht, daß diese als sterbliche geboren sind, sondern lediglich, daß sie in dieser unruhigen Zeit sterben müssen. Aber ,,à quelle heure le port est-il plus désirable que quand on est fort battu de la tempeste?" Die schwerste Frage aber ist zweifellos diejenige nach dem Recht auf Furcht, wenn die eigene Existenz bedroht ist. Dies ist keine theoretische Konstruktion, sondern Ausdruck der politischen Krise, was an drei Punkten verdeutlicht wird. Die Wut der aufrührerischen Bürger (nos séditieux citoyens) kann schnell Gefängnis und Folter nach sich ziehen; eine militärische Einnahme von Paris bedeutet Raub und Plünderung durch wilde Heerscharen, in deren Hände gefallen, man sein Leben riskiert; und dazu treten Qualen von Krankheiten, gegen die man ohnmächtig zu sein scheint. Aus psycho-
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logisch-taktischen Erwägungen muß man versuchen, den Gegner nicht als einen geschlossenen Block anstürmen zu lassen, sondern ihn bereits durch Vereinzelung zu schwächen. Da sind zunächst die Krankheiten. Warum treten sie heute eher auf als noch vor zwanzig Jahren? Die Lösung ist einfach, denn bei genauerem Hinsehen stellt man fest, daß Gicht, Koliken oder Kopfschmerzen nur in den Städten und da wiederum in den Palästen der Großen als Ergebnis ihres unkeuschen Lebenswandels anzutreffen sind. Das zu ertragende Elend hebt also auch gleichzeitig die Voraussetzungen der Krankheiten, nämlich das Vergnügen auf. Armut ist das beste Heilmittel; sich dem Schmerz hingeben, ist Ausdruck großer Feigheit, da Vernunft und Überlegung einen Widerstand ermöglichen. Diese Gedanken sind auch in bezug auf Folterungen gültig, die noch leichter zu ertragen sind als Krankheiten, denn Körper und Gesundheit sind in gutem Zustand; die Natur hat gleichsam ihre eigene Kraft als Widerstandswaffe geliehen, und die Zahl derer ist groß, die solche Qualen mutig und von der Vernunft geleitet erduldet oder gar gesucht haben, um sich in die Gesetze des Universums und des höchsten Willens zu fügen. Als der römische Gesandte Pompeius vom König Gentius gefangengenommen worden war und zur Preisgabe seiner politischen Aufträge gezwungen werden sollte, ließ er sich selbst den Finger abbrennen, um damit zu dokumentieren, daß keine Folter der Welt ihn von der Treue zu Rom abbringen könne. Wollen wir dagegen den Geist erniedrigen und dem Körper unterwerfen ? Wer auf den Ruhezustand der Seele Wert legt, der mißt den körperlichen Leiden keine Bedeutung mehr bei. Der Tod, und hier besonders der aus Unglücks- und Notlagen hervorgehende, ist nur scheinbar das größte aller Übel. Je stärker wir den Wunsch nach Leben haben, desto tiefer soll der Tod von uns Besitz ergreifen, und die Fähigkeit, viel auf engsten Raum drängen zu können, wird ein Zeichen von Meisterschaft; stark ausgeprägte Tugend und Lebensdauer sind meistens umgekehrt proportional. Die Quantität hat keinen Einfluß auf die Qualität, ebenso wie ein größerer Kreis diesen nicht runder macht. Für Musée ist der Tod überall und stets der gleiche, und den Menschen peinigen lediglich die Vorstellungen, die er sich vom gewaltsamen Tod durch Feuer und Eisen macht. All diese irrigen Vorstellungen sind der arglistigen Opinio zu verdanken und führen zu trauerndem Sichgehenlassen. Musée forden dagegen eine männlich starke Willensbildung. Gegen die „infirmitez des femmes, mauvaises et efféminées contenances, pusillanimité" oder „efféminées lamentations" gilt es, der „courage civil" und der „virilité" zum Siege zu verhelfen, denn wenn die Betrübnis den ganzen Körper besetzt hält, so
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wird auch der Seelenzustand verwelken; Betrübnis schleicht sich unter dem Schein des Nutzens ein, behandelt die Wunde jedoch nicht heilend, sondern stößt das Schwert bis zum Herzen durch. Der Gegner wird im eigenen Haus gezüchtet, die Pflanzen mit den bittersten Früchten werden am sorgsamsten gehegt. Dadurch ist die besonders im politischen Bereich erforderliche Standfestigkeit aufgehoben, sind die Pflichten des „bon citoyen" lähmend aufgelöst. Gerade aber aus dem politischen Bereich stammen, wie wir gesehen haben, die Ursachen für die uns jetzt handlungsunfähig machende Verzweiflung. Mit steigender Handlungsunfähigkeit geht der Verrat am Seelenzustand einher, und aus der inneren Logik dieses Zusammenhangs ergibt sich, daß zur Erlangung des ersehnten inneren Ruhezustandes äußere (politische) Dynamik entstehen muß, um diesen zu menschlicher Verkümmerung führenden Teufelskreis zu durchbrechen. Darüber hinaus ist die resignierende Traurigkeit auch ungerecht und unfromm, denn sie steht im Gegensatz zur Natur und zum allgemeinen Weltgesetz, dessen oberstes Prinzip die Vergänglichkeit aller Dinge ist. Da die Städte und Staaten von gleicher Beschaffenheit sind wie alle anderen Teile des Universums, ist auch für sie mit ihrem Anfang bereits ein Ende gesetzt. Ja, für die geschichtliche Ordnung gilt die Vergänglichkeit in weit stärkerem Maße, da in ihr eine Vielzahl von unterschiedlichen und letztlich auf willentlich menschlichem Zusammenschluß beruhenden Elementen, gepaart mit göttlicher Neigung, die Funktionsfähigkeit ausmacht. Kriege und Aufruhr als häufigste Ursachen ihres Untergangs sind Ausfluß dieser Willensmomente. Aber selbst wenn solche nicht auftreten, durchlaufen die politischen Gebilde die Stadien der Geburt, der Jugend, des Mannes- und Greisenalters bis hin zum Tod. Die Natur wünscht den Erhalt ihres Werkes solange wie möglich, aber die Unvollkommenheit der Materie hat bewirkt, daß es unter den irdischen keine unsterblichen Dinge gibt, und unter den sterblichen bewirkt das Laster eine vorzeitige Beendigung ihrer Existenzform. Den Ausweg bildet eine Sukzessivdauer, und die Erde bleibt als stets formbares Material in der Hand der Natur. Städte, Königreiche und Imperien ändern sich, und aus ihren Trümmern entstehen neue politische Systeme, wobei die Veränderlichkeit sich gegen einen stets festen Bezugsrahmen abhebt, dem Theater vergleichbar, wo die Stücke ständig wechseln, das Gebäude jedoch stets gleichbleibend stabil ist. Aus Gründen der Gerechtigkeit läßt die Natur überdies Ruhm und Herrlichkeit von einem Ort zum anderen ziehen, und Frankreich ist gegenwärtig im Verblühen begriffen. Für den Kenner der Historie ist es kein Problem, eine Fülle von Beispielen zur Illustration zu
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liefern: Troja, Babylon, Athen, Jerusalem, Karthago, Alexandrien, Konstantinopel oder Rom. Ihr Untergang trat derart notwendig ein, daß sie in Ermangelung äußerer Feinde Bürgerkriege im Inneren züchteten, um ihrem naturgesetzten Ziel gerecht zu werden. Auch Piaton mußte auf die Frage nach der Unsterblichkeit seiner Politeia eine negative Antwort geben, und in diesen Zusammenhang gehört auch die Feststellung, daß Staatsgebilde niemals eines ruhigen Todes sterben, sondern ihr Untergang stets von starkem Aufbäumen begleitet ist. Musée schließt eine Betrachtung über den Zustand Frankreichs seit Ende des Hundertjährigen Krieges an. Zunächst ist der französische Staat sehr alt, wobei Altern stets ein Sichgewöhnen an Sterben bedeutet. Darüber hinaus hat er in den letzten fast zweihundert Jahren mehrmals am Abgrund gestanden. Nachdem er sich von den Streitigkeiten Orléans und der Bourgogne erholt hatte, trat eine Zeit der Ausschweifungen ein. Unter den letzten Königen schließlich ist der Staat in sein Kinderstadium zurückgekehrt, denn ausländische Sitten finden Gefallen, während die eigenen korrumpiert sind. Die staatstragenden Institutionen sind entehrt; der Adel als Säule des Königreiches ist entartet, in Luxus und Wollust übergegangen und hat die Größe und den Erhalt des Staates aus seinem Zielhorizont verloren; die Kirche ist in ihrer Funktion als Hüterin der Frömmigkeit und guten Sitten diffamiert worden, und ihre Hauptaufgabenbereiche haben gemeine, unwissende und unfromme Leute übernommen; die Justiz als Ordnungsmacht hat ihre Autorität verloren und ist im Günstlingssystem pervertiert. „Et, pour couronner tant de désordres et combler tout à fait nostre malheur, sont survenus les querelles de la Religion sur le sujet desquelles se sont dressez partis et factions par quiconque a voulu, qui ont esté aisément entretenus par la facilité et légèreté de nostre peuple et par les artifices de nos voisins qui cherchoient à se mettre à couvert dessous nos ruines. De ces estincelles s'est allumé ce feu qui nous a quasi dévorez, auquel chacun est accouru, non pas pour l'esteindre, mais pour en emporter sa pièce, comme d'un commun embrasement." 17 Angesichts solcher Situation ist es nicht verwunderlich, wenn der Staat am Rande des Abgrunds steht, was nun aber nicht bedeuten kann, daß man lediglich den Untergang geduldig abzuwarten hat. Wenn auch der Untergang letztlich unausweichlich, so ist doch der Zeitpunkt keineswegs gesichert, und es gibt positive Zeichen zur Hoffnung. Musée schließt seine Ausführungen mit einer Lobrede auf den Prinzen ab, der in diesem Zusammenhang Grund größter Hoffnung ist: 17
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Heinrich von Navarra. E r allein ist in Kriegs- wie in Friedenszeiten in der Lage, diesem Staat zu neuer Festigkeit zu verhelfen. Er gehört zur königlichen Familie der Saint Louis, zeichnet sich aus durch Güte und Milde gepaart mit Tapferkeit und Freigebigkeit und ist frei von Rachegedanken. Möge er noch in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren, um die Einheit seiner Untertanen zu verwirklichen. Er ist vernünftigen Vorschlägen zugänglich und nicht wortbrüchig ; nur er ist in der Lage, denjenigen entgegenzutreten, die mangels Argumenten mit Waffen aus den Trümmern dieses Staates als Mächtige hervorzugehen wünschen. Viele fremde Nationen sind Zeugen seiner Fähigkeiten als Feldherr. „ D e sorte que je présume que l'altération et le mouvement que nous sentons, n'est point de l'extirpation de l'Estat, mais seulement une incision qui se fait avec un douloureux et rude ferrement, pour, au lieu d'une branche que Dieu a retranchée, anter la plus prochaine sur la tige royal." 1 8 Sollte dieser neue Aufschwung jedoch ausbleiben, so ist Geduld vonnöten, denn alle großen Ereignisse hängen von der ewigen Vorsehung (la providence éternelle) ab, deren Ratschlüsse dem Menschen stets zum Wohl und Ruhm gereichen. Nach diesen Gedanken zum Verhältnis von Natur und Philosophie, von Naturordnung und Geschichtsordnung, setzt Orphée die Argumentation unter dem Leitmotiv der Providentia fort. Für die öffentlichen oder privaten Übel ausgesetzten Menschen gibt es keinen stärkeren Trost als die Gewißheit, daß alles, was ihnen zustößt, von der Vorsehung verordnet ist. Unter ihr ist „le soin perpétuel que Dieu a au gouvernement de tout ce qu'il a créé" zu verstehen, und die Ausflüsse dieser ewigen Kraft gereichen dem Menschen stets zum Guten. Obwohl die Vorsehung die leitende Kraft ist, die allen Teilen des Universums vorsteht und auf deren Erhalt bedacht ist, verschließen die meisten Menschen vor ihr die Augen und versuchen, sich über sie hinwegzutäuschen. Allerdings gibt es kaum jemanden, der sie völlig leugnet. Des öfteren trifft man auf Vorstellungen, die der göttlichen Kraft und Weisheit zwar die erste Schöpfung zusprechen, die sich auf die weitere Entwicklung beziehende Herrschaft aber der Natur oder einer schicksalhaften Notwendigkeit, dem Zufall oder Glück zuordnen. Ein derart begrenzter menschlicher Erklärungsversuch aber kann die Kraft der Vorsehung nicht berühren. Man zieht es vor, eher die Providentia zu verkennen als die eigene Unwissenheit zu akzeptieren, denn das, was als Natur, Notwendigkeit oder Glück gefaßt wird, sind drei 18
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Seiten eines ganzheitlichen Körpers. Bei der Betrachtung der höchsten, das Universum leitenden Kraft, spricht derjenige von Natur, der eine Ordnung und Folge von eingerichteten Ursachen wahrgenommen hat; von Schicksal und schicksalhafter Notwendigkeit spricht man, wenn Dinge — obwohl vorhergesagt — nicht verhindert werden konnten; schließlich spricht man von Glück, wenn jeglicher vernunftgemäße Zusammenhang hinsichtlich der Herkunft und des Ablaufs von Ereignissen zu fehlen scheint. Alle drei Erklärungen aber sind nur Teilaspekte jener umfassenden göttlichen Vorsehung, die in der Dimension menschlichen Verstandes nur beschränkt zugänglich ist. Zweifellos hat Gott dem Universum eine gesetzliche Ordnung zugrunde gelegt, nach der alle Dinge entstehen, sich anordnen und erhalten. Bei der häufig anzutreffenden Betonung der Natur besteht jedoch die Gefahr, diese als einen eigenständigen und von Gott unabhängigen Mechanismus zu begreifen, der mit der Regelung der bereits geschaffenen Dinge betraut ist. Die Natur aber ist jene erste aus Gott fließende und die Materie in Bewegung setzende Kraft, die Ablauf, Erhalt und Effekte der Dinge ermöglicht. Der schöpferische Gott ist gegenwärtig, und seine Güte teilt sich am stärksten in der Tatsache mit, daß er seine Kreaturen an der Schöpfungskraft teilhaben läßt. So hat er z. B. die Steine geschaffen, aber keine Häuser gebaut, wohl aber die Befähigung dazu im Menschen angelegt. Nachdem er den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, ist die Zeugung menschlichen Lebens der stärkste Ausdruck für menschliche Teilhabe an göttlicher Schöpfungsehre. Für den Menschen besteht damit die Möglichkeit, selbst etwas zu seiner Vervollkommnung beitragen zu können. Je größer seine Teilhabe an Gottes Werk ist, desto stärker ist dieser auch" darauf bedacht, daß sich die Dinge in seinem Sinne entwickeln. Welche Kraft auch in den bereits geschaffenen und sich bewegenden Dingen liegt, die erste Ursache (la première cause) ist stets den vermittelten und nachgeordneten Ursachen (les causes secondes) übergeordnet und in diesen wirksam. Nachdem die Ordnungsvorstellungen soweit zusammengetragen sind, tritt natürlich eine Frage in den Mittelpunkt: was wird aus der menschlichen Willensfreiheit angesichts dieser ewig-gültigen Anordnung der Dinge? Dieses Problem kann für Orphée leicht aus dem Weg geräumt werden, denn der menschliche Wille ist als frei gesetzt und unterliegt nur der Notwendigkeit, frei zu sein, und die Voraussicht bezieht sich lediglich darauf, wie er sein sollte. Nichts hängt ausschließlich vom menschlichen Willen ab, obwohl die Menschen vieles wollen, was sie können und vieles können, was sie wollen. Die Willensfreiheit hört aber deshalb nicht auf zu
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bestehen, denn sie bezieht sich nicht auf die Handlung selbst, sondern wesentlich auf die Bewegung zu dieser hin. Sie wirkt in diesem Prozeß mit anderen Ursachen zusammen. Wenn der Wille auf das Ziel hinwirkt, das er haben soll, so wird er vom Schicksal und dem Zusammentreffen der anderen Ursachen begünstigt. Ist der Wille auf ein Ziel gerichtet, das er eigentlich nicht haben sollte, so wird durch das Zusammenwirken der anderen Ursachen und des Schicksals ein Zweck verfolgt, der zwar nicht in seiner Absicht liegt, aus dem Gott aber dennoch seinen Ruhm ableiten kann. Das Schicksal ändert nicht die Natur der Dinge, sondern erreicht Wirkungen durch die Anordnung von deren freiwilligen, notwendigen und natürlichen Elementen. Welchen Weg man auch einschlägt, immer kommt man in der Herberge mit dem Schicksal gleichzeitig an. Sind in einer Ereigniskette die Ursachen nicht unmittelbar einsichtig, so neigen die Menschen dazu, den Zufall auf den Plan zu rufen, und aus menschlicher Unwissenheit entsteht dann die falsche Göttin Fortuna. Aber die Führung des Universums und all seiner Teile kann nicht über Jahrtausende hinweg in der Hand des Zufalls gelegen haben, wenn man bedenkt, daß ein ohne Klugheit geführter Haushalt bereits nach einem Jahr vor dem Ruin steht. Ein schlichter Geist reicht aus, um zu begreifen, daß die Vorsehung existiert, und daß es die Fortuna nicht gibt. Für Orphée ist hier der Punkt erreicht, wo er explizit zur Politik übergehen kann. „Or, entre toutes, il n'y en a point, à mon advis, sur lesquelles elle veille plus attentivement que sur les empires et royaumes dont elle est la vraie mère et tutrice." 19 Man denke etwa an die Landnahme Palästinas bis zum Bau Jerusalems und des Tempels oder an den in harter Auseinandersetzung mit seinen Nachbarn sich vollziehenden Aufstieg Roms bis zum Zentrum des römischen Imperiums. Auch bei der Betrachtung des französischen Königtums kann man nicht umhin, die Vorsehung als schützende Kraft zu begreifen, und ebenso wie sie das Entstehen von Städten und Reichen ordnet, so verfügt sie auch über deren Ende. Vergleicht man Aufstieg und Niedergang aller Reiche und Städte miteinander, so kommt man zu dem Urteil, daß ersterer von der Tugend begünstigt und von der Vorsehung unterstützt wird, während das Laster gleichsam als göttlicher Gerechtigkeit zu ihrem Ruin führt. Man denke an den Untergang der persischen und assyrischen Reiche, ebenso an die griechischen Republiken oder an die Geschichte Jerusalems. Besonders der Untergang Roms ist dadurch gekennzeichnet,
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daß er sich nicht zur Zeit großer Gesetzestreue und Großherzigkeit ereignete, sondern als Laster und Korruption aufgrund des Reichtums Einzug hielten. Das wichtigste Anliegen Orphées aber ist in diesem Zusammenhang die Krisensituation in Frankreich selbst. Wie die Dinge auch letztlich ausgehen mögen, in jedem Fall handelt es sich um eine tiefgehende und mit Qualen verbundene Umwälzung. Die Ereignisse des Barrikadentages waren derart erhitzt, daß die rasende Masse sogar bereit war, den souveränen Herrscher (le prince souverain) zu belagern und zum Verlassen der Stadt zu zwingen, und man kann bei solch widernatürlichen Dingen nur auf das Eingreifen der Vorsehung schließen. Die beeindruckendste Vorstellung der Vorsehung aber ist zweifellos das Aufbrechen des französischen Staates in zwei große politische Gruppierungen, die sich gegenseitig derart schwere Schläge versetzen, als seien sie im Dienste der göttlichen Justiz zu ihrer gegenseitigen Bestrafung und derjenigen des ganzen Staatsgebildes berufen. Am deutlichsten wird diese Sachlage an den einzelnen politischen Morden. Den ersten Schlag mußte der König einstecken, der, von seinen Untertanen aus der Hauptstadt vertrieben und seiner Autorität beraubt, sich in seinem eigenen Staatsgebiet im Exil befindet. Als Gegenschlag betrieb er die Ermordung der Guise in Blois (23. D e z . 1588), aber die erhoffte Zerschlagung der gegnerischen Partei und das Ende des Bürgerkrieges traten nicht ein. Das Gegenteil war der Fall, denn fast alle großen Städte des Königreiches verschworen sich gegen ihn; der König wird in Tours belagert und gleichsam gefangengehalten (7. Mai 1589). Die Liga betrachtet damit ihre Sache zunächst als gewonnen, aber bereits die Schlacht von Senlis (27. Mai 1589) bringt ihr eine Niederlage ein. Nachdem der König an seiner Verwundung gestorben war, ließ sich die Belagerung von Paris nicht mehr vermeiden, was den Rand des Ruins bedeutet. Heinrich von Navarra wurde zwar von der Liga in Dieppe belagert, groß war allerdings das Erstaunen, ihn mit seinen Soldaten in den Vororten von Paris anzutreffen, und in der Schlacht von Yvry (14. März 1590) mußte die Liga eine schwere Niederlage hinnehmen, der diejenigen von Mantes, Corbeil und Melun folgten. In Sens wiederum mußte der Sieger seinen Zug stoppen, und mit der Belagerung von Paris ist jetzt der Höhepunkt erreicht (6. M a i - 3 0 . Aug. 1590). König, Fürsten und Adel werden von Volkserhebungen gezüchtigt, die das Joch des Gehorsams erschüttern ; das V o l k wird von plündernden und unberechenbaren Kriegsleuten heimgesucht; die Vertreter der Kirche sind für Adel und Dritten Stand nur noch ein Spielzeug. Ihre Laster und Fehler bewirkten, daß G o t t uns den Krieg beschert hat, an dem sie noch mit allen
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Kräften teilhaben; die Zahl der Gottesdienste nimmt ab, Unfrömmigkeit und Blasphemie aber zu. Orphée greift den Einwand auf, daß es nicht zu begreifen sei, weshalb Gute und Schlechte, Unschuldige und Schuldige bei gerechter Vorsehung die gleichen Leiden erdulden müssen. Die erste Entgegnung besteht in der Gegenfrage, wo in der Welt eine solche Unschuld anzutreffen sei? Die Fehler und Sünden manifestieren sich zwar in den äußeren Körperteilen, aber ihr eigentlicher Sitz ist die Seele, also der von außen unzugängliche Bereich, was die Unmöglichkeit zur Folge hat, über Schuld oder Unschuld anderer eine Aussage machen zu können. Für die wirklich unschuldig von den „misères publiques" Betroffenen stellt Orphée die These auf, daß sie keinen Grund zur Klage haben, da die Übel eines der wertvollsten Güter darstellen. Um dies zu beweisen, wird zunächst ihr guter Ursprung unterstrichen. Ist der Grund bereits gut, so ist das Ziel noch besser. Vorher aber sei noch auf einige Einwände eingegangen, die sich auf die Mittel beziehen, mit denen dieses Ziel erreicht wird. Sind Kriege, Morde, Plünderungen, Gewalttaten oder die anderen Plagen nicht an sich schlechte Dinge, und sind von daher nicht auch ihre Träger zu verurteilen? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Unterscheidung der Übel nötig. Auf der einen Seite gibt es Übel, die von natürlichen oder höheren Ursachen herrühren, wie Hunger, Erdbeben, Pest, Überschwemmung, Sterblichkeit; auf der anderen Seite diejenigen, an denen der Wille des Menschen mitarbeitet, wie ζ. B. Tyrannei, Krieg, Mord und Plünderungen. Die ersteren zielen ausschließlich auf unser Wohl ab, da ihnen nur die Absicht ihres guten Absenders zugrunde liegt. Die andere Gruppe hat eine schlechte Intention, da ein böser Wille sie leitet, aber Gott wendet auch diese Art von Übel letztlich stets zu unserem Besten. „Les bons et les méchans sont en ce monde à la solde de Dieu et combattent pour sa gloire : quelques-uns choisis et instruits, les autres comme forçats et esclaves." 20 Die erste Nützlichkeit der auftretenden Übel für einen Ehrenmann (homme de bien) geht von der Grundannahme aus, daß sich der Mensch in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Umwelt befindet und seine Selbstverwirklichung in einer mannhaften Kampfstellung gegen die auftretenden Übel erreicht, und diese standfeste Selbstbehauptung bildet ein Kernstück des Neustoizismus. „L'homme entre au monde comme en un champ de bataille où toutes sortes de maux l'environnent ; depuis sa naissance jusques à sa mort, il n'a autre exercice que le combat. Vous estonnez-vous si ce bon 20
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et sage père nous veut souvent exercer pour nous endurcir au travail? — Point, Point. Il nous flatte pas en sotte mère qui gaste ses enfans ; mais nous rudoie en sage père qui les manie austèrement. Il nous tient continuellement en haleine et nous exerce, non seulement jusques à la sueur, mais mesme jusques au sang. Il sçait bien que le soldat ne devient capitaine qu'en travaillant, veillant, pâtissant, souffrant, endurant, supportant le jour, la nuit, le froid, le chaud, la pluye, le soleil. Le matelot ne devient pilote qu'entre les tempestes et les orages: et l'homme ne devient vrayment homme, c'està-dire courageux et constant, qu'entre les adversitez. C'est l'affliction qui lui fait connoistre ce qu'il a de force: c'est elle qui, comme le fusil du caillou, tire de l'homme cette estincelle de feu divin qu'il a au coeur et fait paroistre et reluire sa vertu. Il n'y a rien si digne de l'homme que de surmonter l'adversité; ni moyen de la surmonter qu'en la combattant; ni moyen de la combattre qu'en la recontrant." 21 Die zweite Nützlichkeit für den Ehrenmann ist eher tröstender Natur und besteht darin, daß man erkennen kann, welche Einschätzung Gott vom Menschen hat. Den Menschen mit einer beschwerlichen Bürde zu versehen, ist Ausdruck eines ehrenhaften Urteils über ihn, ebenso wie ein Hauptmann nicht einen seiner schwächsten Soldaten zur Durchführung einer schwierigen Aufgabe auswählen wird. Die Heiden haben diejenigen als die engsten Freunde der Götter angesehen, die sich am meisten mit Widerwärtigkeiten auseinandersetzen mußten. Die kämpferische Auseinandersetzung wird Einladung zu menschlichem Ruhm, und neben den Zustand innerer Zufriedenheit tritt die Beispielhaftigkeit der tugendhaften Handlungen für die Nachwelt. Göttliche Gerechtigkeit wacht auch besonders über irdische Autoritäten. Je mächtiger die Fürsten sind, desto stärker wird über sie gewacht, weil ihre Aktionen wesentlich zum Erhalt oder Ruin der Völker beitragen. Je nach Abschätzung der Handlungen für das Volkswohl und den Ruhm Gottes erhalten sie mehr oder weniger freie Hand. Könige, Fürsten, Republiken und Städte müssen die göttliche Gerechtigkeit über sich haben, da sie von der Kraft und Autorität der staatlichen Gesetze ausgenommen sind. Wären sie nicht dem göttlichen Richterspruch unterworfen, so könnte sich das Böse ungehindert ausbreiten. Orphée greift den möglichen Einwand auf, daß die UnVerhältnismäßigkeit der Bestrafung der Bösen den Glauben an die Vorsehung erschüttern kann. Während die einen bestraft werden, gehen die anderen straffrei aus. Dagegen ist zunächst der stets gute Wille Gottes als höchste Gerechtigkeitsinstanz an21
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zuführen. Seine Entschlüsse sind menschlicher Vernunft nicht zugänglich; unternehmen die Menschen dennoch einen solchen Versuch, so müssen sie immer wieder Gottes Gerechtigkeit feststellen. Strafe und Bosheit sind Zwillingsschwestern; Gewissensbisse, Kummer und Reue sind im Innenleben niemals fehlschlagende Scharfrichter, und von Menschen verhängte äußere Strafen erreichen nie den gleichen Wirkungsgrad. Es gibt aber auch Schuldige, die während ihres Erdendaseins diesen Qualen noch nicht ausgesetzt sind. Sie erwartet nach ihrem Tode eine um so härtere Strafe in der Hölle. Die Schurken ahnen dies übrigens, was sich daran ablesen läßt, daß sie bei herannahendem Ende verzweifeln und das Elend der Hölle voraussagen. Allerdings wendet man ein, daß die Vorsehung sie zu lange straffrei läßt und damit weitere Fehler nicht verhindert. Wenn jedoch die Menschen ihr Urteil über die Vorsehung mit gleicher Ruhe und Zeitdauer fällten, wie dies die Vorsehung ihrerseits mit ihnen tut, so würde deren Gerechtigkeit und Weisheit zutage treten. Aber es gibt noch einen anderen Grund für die Strafverzögerung: den Bösen soll jeglicher Grund für die Behauptung entzogen werden, sie hätten keine Besserungsmöglichkeit gehabt. Auch hat Gott nicht immer Scharfrichter zur Verfügung, denn Böse werden nur von Bösen bestraft. Er wartet auf den geeigneten Moment oder die Zeremonie, um dadurch seine Gerechtigkeit exemplarisch zu unterstreichen. Nur so ist ζ. B. die Ermordung Cäsars im Senat zu verstehen. Der gewichtigste Einwand ist zweifellos, daß die einen Fehler begehen, für die andere bestraft werden. Aber hier liegt nur eine scheinbare Ungerechtigkeit vor, denn Gott fordert damit die Menschen auf, das Übel selbst zu verhindern und zu züchtigen. Gerade die Angst vor kollektiven Strafen kann die Selbstregulierung fördern und damit Verbrechen und Untaten ausschalten. Das Gemeinschaftsprinzip der menschlichen Gesellschaft wird Grund der kollektiven Verantwortlichkeit gegenüber Gott. „En naissant en ce monde, en nous habituant aux villes et aux pays, nous contractons une taisible société et nous obligeons envers Dieu les uns pour les autres." Diese Vorstellung erhält sofort ihre politische Wende. Wegen des mangelnden Verantwortungsbewußtseins im gesellschaftlichen und im politisch-staatlichen Bereich, und wegen der Tendenz, jeweils nur sein eigenes Schäfchen ins Trockene bringen zu wollen, ist die politische Gemeinschaft in die Hände derer geraten, die ihr schaden wollen. Aber der Gedanke einer individuellen Rettung ist nicht möglich. Solon hatte recht mit seiner Aussage, daß es kein Mittel gibt, das öffentliche Übel von den Privathäusern fernzuhalten. „En vain celui pense-il sauver sa maison qui laisse perdre l'Estat. Il est bien dit certaine-
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ment: celui qui trahist son pays se livre soy-mesme." Nachdem also gezeigt wurde, daß die Übel auch für die Bösen gut und nützlich sind, müssen wir uns in Geduld und demütigem Schweigen in die menschlichem Verstand nicht zugänglichen Ratschlüsse der Vorsehung fügen. Diese abwartende Demutshaltung wendet Orphée auf die Situation des belagerten Paris an. Er sieht vier Möglichkeiten. Entweder fällt die Stadt wegen ihrer Altersschwäche nach dem Gesetz der Vergänglichkeit; oder: Ehre und Herrlichkeit werden an einen anderen Punkt des Universums verlagert; oder: der endgültige Untergang des Ganzen nimmt mit Paris seinen Anfang; oder aber, und das fürchtet er am meisten: „Que Dieu vueille punir tout à un coup tant de trahison, de perfidies, d'assassinats, d'empoisonnemens, d'adultères, d'incestes, de blasphèmes et d'hypochrisies, que nostre ville a couvez depuis quelques années et notamment depuis trente ans un ça." 2 2 Angesichts solcher Lage ist männliche Standhaftigkeit (constance) die einzige Haltung, die sowohl dem Ratschluß der Vorsehung als auch dem Menschen selbst am besten zusteht; ,raison' und ,constance' sind die gebotenen Verhaltensmaßstäbe. Wenn die Vorsehung auch für die geschichtlichen und politischen Umwandlungen verantwortlich ist, so entsteht die Frage, ob sich nicht gerade aus dieser Unausweichlichkeit des Geschehens ableiten läßt, daß wir uns vergeblich gegen den Strom stellen? Sollten wir nicht nach Einsicht in die Haltung der Vorsehung deren Partei ergreifen? Ist es nicht sinnvoller, sich auszuruhen, statt ständig den Felsblock nach oben zu schaffen, der, einmal oben, sogleich wieder herunterrollt. Die Fragen spitzen sich für Du Vair auf das Problem der Leistungsfähigkeit der Tugenden zu. Drei Verhaltensmöglichkeiten scheinen zur Wahl zu stehen: (a) die Anstrengungen der Tugend gegen die Gewalt sind für die Öffentlichkeit unnütz und dem eigenen Lebensbereich schädlich (die Folge wäre ein völliger Rückzug aus politischen Aktivitäten); (b) die Tugend muß selbst in den schwersten Stürmen hartnäckig ausharren; (c) es gilt einen Mittelweg zu finden, der der Öffentlichkeit so weit wie möglich dient, gleichzeitig aber dem privaten Leben entscheidend verpflichtet bleibt und auf den Tod als Ubergang zu ewigem Leben wartet. Linus, der den dritten Argumentationsgang vorträgt, hatte selbst einst die Ansicht vertreten, man müsse der Gewalt weichen und dem Schicksal den Weg freigeben. Diese Ansicht erscheint zunächst als weise und religiös, bei näherem Hinsehen aber stellt man fest, daß sie eine Schwäche des Geistes ist und 22
Traité,
S. 182; 180, 164.
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
lediglich den Versuch darstellt, den Menschen von der Arbeit und seinem Bemühen abzuhalten. Zugunsten des Menschen hat Gott die Zukunft dem menschlichen Verstand unzugänglich gemacht, denn die Gewißheit eines positiven Gutes würde den Menschen der Arbeit entziehen, ebenso wie die Gewißheit eines kommenden Obels ihn in Verzweiflung stürzen würde. Hoffnung und Furcht täuschen gleichermaßen, und „le mal n'est jamais si grand qu'il faille désespérer du salut." 2 3 Schwieriger als die Frage nach der Tätigkeit oder Untätigkeit in Krisenzeiten ist die Überlegung, ob man notwendigerweise der gerechtesten Partei folgen muß, oder ob man auch in einer Gruppe bleiben darf, in die man verwickelt ist, in der Hoffnung, zwischen den beiden Parteien vermitteln zu können. Hier finden wir eine Rechtfertigung des Verbleibens von Du Vair in Paris, nachdem der König die Verlagerung des Parlement nach Tours angeordnet hatte, und in der Argumentation offenbart sich der ,Politiker* Du Vair. Linus vertritt mit Solon die Ansicht, daß der Bürger, der citoyen, bei entstehenden Parteiungen Position ergreifen muß, und zwar diejenige der Gesetzmäßigkeit und des öffentlichen Wohls. Kein Bürger kann den Untergang seines Landes als Zuschauer verfolgen. Dies bezieht sich zunächst auf die Entstehungsphase von Unruhen. Anders aber ist die Situation, wenn sich unter den Augen des Fürsten die Aufruhr vermehrt, und eine starke Partei sich des Staates bemächtigt. Verläßt man in dieser Situation die Stadt, so ist zwar der Wille gegenüber Fürst und Öffentlichkeit bezeugt, jedoch nichts bewirkt. O b wohl die herrschende Partei als ungesetzlich verstanden wird, ist ein Verbleiben in der Stadt gerechtfertigt. Linus gibt vier Gründe an: (a) es gab Angehörige der Cours souveraines, die in Paris durch Gewalt festgehalten wurden; (b) man muß der etablierten Gewalt Zugeständnisse machen, um überhaupt wirksam werden zu können; (c) alles Vermögen (nos biens et moyens) befindet sich in der Stadt; (angesichts der großen Armut bildet dies eine wichtige Grundlage politischen Handelns); (d) die familiären und persönlichen Bindungen (Vater, Mutter, Frau, Kinder), Frömmigkeit und Liebe entbinden von der Strenge des Gesetzes. Für viele ehrenhafte Männer waren dies Beweggründe, in Paris zu verweilen, in der Uberzeugung, auf diesem abgeschlossenen Dampfer selbst bei einem Verstoß gegen ihre Pflichten noch mehr leisten zu können als in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers. Die Klugheit muß alle Handlungen leiten, denn sie bereitet den Weg für die anderen Tugenden, und
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Traité, S. 1 9 3 - 1 9 4 .
Traktat über Standfestigkeit und Trost
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nachdem das Ziel als gerecht erkannt wurde, gilt es, die effektivsten Mittel zu wählen. Linus gibt eine methodische Kritik der bisherigen Staatsführung. Aus der politischen Herrschaft (le gouvernement politic), die eine besonders geartete Klugheit erfordert, wollte man eine allgemeinen Regeln unterworfene Angelegenheit machen. Der Sinn jeglichen Urteils wurde verdorben, indem dort Regeln angewandt wurden, wo es nur darum gehen konnte, Ausnahmen anzuwenden. Bereits an der Basis der Argumentation lag der Kernfehler, an den sich in der Folge nur noch falsche Schlüsse anschließen konnten. Die fehlerhafte Grundaussage war: „Das dient dem Erhalt der Religion, also muß es getan werden." Der erste Teil der Aussage, der eigentlich eine Bejahung oder Verneinung erfordert, ist stets als unzweifelhaft gesetzt worden. Eine differenzierende Politik wäre demgegenüber aber gerade vonnöten gewesen. „Les choses qui se proposoient, estoient de celles qui se devoient examiner par une grande et meure prudence, par l'exemple des effects qu'ont produits semblables affaires et où il falloit considérer le temps, les momens, les volontez des hommes et mille autres circonstances." 24 Zwischen einer zu strengen und einer zu milden Haltung muß das Mittelmaß gefunden werden. Die Aufgaben des ,bon citoyen' liegen maßvoll zwischen den beiden wirkungslosen Extremen. Diese politische Klugheit weicht der Gewalt, gegen die sie nichts ausrichten kann, es sei denn mit Urteilskraft und Mäßigung, und Linus versucht, zu diesem Zweck ihre Grenzen zu umschreiben. In der Anfangsphase von Unruhen muß man sich streng gegen alles wenden, was gegen die Gesetze verstößt. Dies gilt solange, wie Hoffnung auf Durchsetzung der Vernunft besteht. Wenn sich aber die Situation dahingehend verschlechtert hat, daß Gewalt die Gerechtigkeit der Gesetze außer Kraft gesetzt hat, so ist einer ungerechten Sache nur unter der Bedingung zuzustimmen, daß dadurch eine noch ungerechtere abgewendet wird. Grundsatz solcher Abwägungen muß es sein, daß niemals ein Vergleich zwischen persönlichem und staatlichem Übel angestellt wird. Läßt sich das den Staat betreffende größere Übel nicht anders vermeiden, so ist geboten, was eine Schiffsbesatzung stets im Notfall tut: Teile der Ladung gehen über Bord, um den Rest zu retten. Dies ist auch die Verhaltensvorschrift für den ,bon citoyen'. „Le bon citoyen doit bien avoir pour son but le salut public et la justice dont il dépend. Mais quand le chemin ordinaire ne l'y peut amener, si faut-il qu'il s'y conduise par celui qui reste le plus commode." 2 S 24
Traité, S. 202.
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Traité, S. 208.
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
Die Frage eines Lebens nach dem Tode, welches das irdische Leben zu einer Übergangsphase hin zu einem besseren Zustand macht, bildet für Du Vair den umfassendsten Trost in den ,calamitez publiques'. Wäre der Mensch auf den Zeitraum zwischen Geburt und Tod begrenzt, so ist nicht einzusehen, warum er dieses Leben durch die Tugend verbittern, und warum er sich nicht gegen die Natur auflehnen soll. Die menschlichen Hoffnungen müssen die engen Grenzen dieses elenden Lebens überschreiten und erkennen, daß der Tod Eingang zur Glückseligkeit ist. Aus Angst vor dem gerechten Schicksal glauben viele nicht an das ewige Leben, und sie versuchen mit Hilfe antiker Philosophen, die Seele gleichzeitig mit dem Körper sterben zu lassen, womit sie das einzig wahre Ziel bekämpfen. Um die Nichtigkeit solcher Einstellung darzulegen, will Linus seine Rede mit den letzten Worten des Präsidenten Christophe de Thou schließen. Dieser ist nach reiflicher Überlegung zu dem Schluß gekommen, daß die Gewißheit eines zweiten und glücklicheren Lebens der stärkste Trost für den Menschen ist. Wer die Gewißheit hat, daß die Seele auf Erden nur auf einer Pilgerfahrt ist, beklagt sich nicht über die Dornen des irdischen Weges. Diese Menschen „négligent tout ce qu'ils rencontrent, sinon en tant qu'il leur est nécessaire pour leur voyage." Die Natur als eine dem Menschen stets wohlgesonnene Kraft Gottes hat den Zugang zu dieser Einsicht nicht unmöglich gemacht, denn sichtbare Dinge erlauben den Schluß auf unsichtbare. Zu allen Zeiten bildete dieser Gedanke für die Völker die Grundlage jeglicher „actions, polices et sociétez civiles." 26 Die weisesten und gelehrtesten Männer aller Jahrhunderte haben die Unsterblichkeit übereinstimmend zum Zentrum ihrer Gedankenwelt und Philosophien gemacht. Die Seele umfaßt das zeitlich Begrenzte und das Unendliche, umfaßt die Formen aller Dinge und nimmt Gegensätze in sich auf, ohne dadurch ihren eigenen Charakter aufzugeben. Diese Eigenschaften zeigen, daß sie nicht materieller Art ist, denn Materie ist begrenzt auf ihre eigene Substanz und Form und kann keine Widersprüche beinhalten. Wenn die Seele aber immateriell ist, so ist sie auch unsterblich, da der Tod lediglich die Trennung von Materie und Form darstellt. Der freie Wille und die Vernunft sind die beiden Hauptkräfte der Seele. Beide aber sind von ihrem Wesen her nicht an eine zeitliche Dauer gebunden. Den Lebensstoff der Seele bilden die universellen Dinge, Ideen und Arten, die von Philosophen als unwandelbar und unsterblich begründet sind, während die Sinne sich an begrenzte Dinge binden. Ihre Bedürfnisse können 26
Traité, S. 2 1 7 - 2 1 8 .
Amtstätigkeit und Weltbild
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materiell befriedigt werden, die Seele jedoch strebt nach der Wahrheit, und der Körper hindert sie während des irdischen Lebens an ihrem vollen Genuß. Während des ganzen menschlichen Lebens versucht sie, der Sterblichkeit des Körpers ewige Dinge an die Seite zu stellen. Sie stammt ohne Vermittlung von Gott direkt ab, ist selbst Teil von dessen Vollkommenheit und von daher unsterblich. Der Mensch rückt ins Zentrum der Schöpfung, da in ihm der vollkommene mit dem unvollkommenen Teil der ganzen Schöpfung zusammentrifft. In dieser Verbindung wird das Göttliche vom Körper unterdrückt, ist aber dennoch greifbar. Dies ist besonders im Bereich der Vernunft und des Willens der Fall, die in ihren Grundbestrebungen Göttlichkeit im Menschen sichtbar werden lassen. In bezug auf Gott kann man sich also nichts vorstellen, wonach der Mensch nicht auch mit seinem Verstand und Willen strebt. Den augenscheinlichsten Beweis der Unsterblichkeit der Seele liefert die Vorsehung. Da sie existiert, gibt es auch eine Gerechtigkeit, was Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen bedeutet; dies aber ist auf Erden nicht immer der Fall. Die Seele muß also den Körper noch überleben, damit die Gerechtigkeit verwirklicht werden kann. Die Christen sind diesbezüglich in einer besseren Position als die Heiden, denn über die Verstehensmöglichkeiten anhand von Natur und Vernunft hinaus hat Gott sein eigenes Wort gegeben. Die Schrift lehrt, daß die Seele von Gott ist und den Körper führen soll. Sie lehrt über die Unsterblichkeit der Seele hinaus, daß die Körper selbst zu neuem Leben erwachen werden und die Göttlichkeit vom Himmel gestiegen ist, um von der Sünde zu befreien; der Tod ist nicht das Ende, sondern Beginn wahren Lebens. Präsident Christophe de Thou beendet seine Ausführungen mit einer politischen Ermahnung. Der Geist muß gefestigt und Standfestigkeit gelebt werden, denn das Ende des Jahrhunderts wird Starke, die staatliche und die private Existenz bedrohende Stürme bringen.
3. Amtstätigkeit
und
Weltbild
An Leben und Werk von Du Vair können wir ersehen, daß und in welcher Weise der Neustoizismus ineins Denk- und Handlungsform ist. Denn Du Vair ist nicht nur philosophischer Schriftsteller, sondern er ist gerade auch Vertreter des Amtsadels, Bediensteter des Herzogs von Anjou (von 1577 bis 1582), Angehöriger des Pariser Parlement (seit April 1584), Leiter einer vom König eingesetzten , Chambre de Justice* zur Befriedung
146
Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
Marseilles (ab 1596), Erster Präsident des Parlement in Aix-en-Provence, Garde des sceaux, und Bischof von Lisieux. An den politischen Reden und an einigen politisch höchst bedeutsamen Amtstätigkeiten Du Vairs können wir die handlungsorientierende Wirkung der neustoischen Welt- und Menschensicht konkret erfahren. In seiner Oraison funèbre de la Royne d'Escosse (15 87) 27 erklärt Du Vair mit Hilfe des stoischen Gegensatzpaares von ,ratio' und ,opinio' die in Frankreich als ein Politikum wirkende Hinrichtung der Maria Stuart. Die Möglichkeit zu dieser Art der Diagnose wird durch die Vorstellung einer Gleichstruk'turiertheit von anthropologischem und politischem Körper eröffnet, und im menschlich-individuellen wie im geschichtlich-politischen Raum treten die Schwierigkeiten der Selbstbehauptung der Vernunft in Auseinandersetzung mit den Leidenschaften auf. Im Falle der Maria Stuart handelt es sich dabei schon nicht mehr um die negative Wirkung einer durch die breite Volksmenge hervorgebrachten ,opinio', sondern Fanatismen und politische Leidenschaften haben sich, ganz wie im Übergang von konkupisziblen zu irasziblen Leidenschaften, korrumpierend in die herrschende (Vernunft)Obrigkeit selbst eingenistet. Konkret sind dies für Du Vair die Ratgeber der Königin Elisabeth. Und auf die französischen Verhältnisse übertragen sieht er gerade im Pariser Parlement diejenige korrigierende Institution, die eine derartige Korruption der Macht, bei aller Loyalität zum Königtum, verhindern kann. Ganz in diesem Sinne hat Du Vair des öfteren Position bezogen, so z. B. im Zusammenhang der von Heinrich III. gewaltsam erzwungenen Registrierung der Edikte zur Sanierung der Staatsfinanzen durch das Parlement (,lit de justice' vom 15. Juli 1586) oder auch hinsichtlich der Ereignisse am Barrikadentag (15. Mai 1588), an dem die durch die Liga aufgereizte Bevölkerung von Paris den König zum Verlassen seiner Hauptstadt zwingt. In der Folgezeit wird die politische Situation immer aufgelöster, unruhiger und bedrohlicher. Der König betreibt auf der Ständeversammlung von Blois (1588) die Ermordung der ligistischen Guise; in Paris aber herrscht gerade die Liga in Gestalt des .Komitees der Sechzehn'; im März 1589 fordert der König das Parlement auf, seinen Sitz von Paris nach Tours zu verlegen; inzwischen ist Heinrich III. eine Allianz mit den Hugenotten eingegangen, und im Sommer 1589 belagert er zusammen mit Heinrich von Navarra Paris; und die Ermordung Heinrichs III. am 1. August 1589 erhöht die ohnehin kaum noch zu steigernde Krisenlage in entscheidender Weise. 27
Actions et traictez, S. 1 - 3 2 .
Amtstätigkeit und Weltbild
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Aus der wachsenden Bedrohlichkeit der Situation des Bürgerkrieges und des beinahe gänzlichen Ordnungsverlustes sowohl für das Leben der Individuen als auch für den Bestand der Nation resultiert für Du Vair die Forderung nach ebenfalls gesteigerter politischer Autorität, nach Machtund Gewaltbefugnis, und das Parlement von Paris hat in diesem Sinne Entscheidungen zu treffen. Denn „d'autant plus que le danger et le trouble est grand, d'autant plus le magistrat et le supérieur doit-il avoir d'authorité". In seiner Rede Sur les assemblées illicites wird deutlich, daß Du Vair die Forderung einer starken Stellung der Autorität im Zusammenhang einer rechtlichen Absicherung des Rechts-, Besitz- und Personalstandes besonders der Mitglieder des Parlement und der Cours Souveraines erörtert. Ohne die Prärogativen und Privilegien des Parlement gegenüber dem König eigens zu erwähnen, fordert Du Vair darüber hinaus einen Arrêt, beinhaltend „les deffences generalles à toutes personnes, quelles qu'elles soient, d'attenter sur les personnes des bourgeois ny sur leurs biens, sinon par l'authorité des magistrats et juges ordinaires, à peine d'estre declarez criminels de leze Majesté." 28 Die Verwendung der beiden Bezeichnungen „bourgeois" und „citoyen" bei Du Vair zeigt deutlich, daß er diese Rechtssicherung für das Bürgertum, für die „meilleures familles", für die „meilleurs rameaux, qui estoient les plus riches familles", und nicht allgemein für das im Sinne des Citoyen dem Gemeinwesen verpflichtete Individuum, nicht für die bürgerlichen Untertanen schlechthin fordert. Die „prudence de ceux qui gouvernent doit estre de compasser la possibilité de noz fortunes particulières avec la nécessité des affaires publiques, et les proportionner en telle façon qu'elles se puissent toutes deux concerver. Car à la vérité nous ne devons veiller en nostre particulier qu'à sauver le public, mais le public aussi ne doit tendre qu'à conserver les particuliers." 29 Sozialgeschichtlich sucht dieses den alten Adel aus seiner politischen Stellung weitgehend verdrängende Bürgertum eine rechtliche und durch ein machtvolles Königtum zu garantierende Sicherung seines Rechts-, Sozial- und Besitzstandes. Für Du Vair bedeutet dies ein Zusammengehen mit dem politischen Herrscher, dem Königtum, gegen den ligistischen Adel und die „unberechenbaren" Volksmassen. Gerade diese Konstellation erwies sich für die Machtübernahme durch Heinrich IV. und damit auch für die Entstehung der frühabsolutistischen Monarchie als wesentlich, und wir wissen, daß sich die Machtstellung Heinrichs beinahe
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Actions et traictez, S. 54; vgl. S. 5 2 - 5 8 . Actions et traictez, S. 60.
148
Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
ausschließlich auf diese soziale Schicht, d . h . auf den Amtsadel, die .noblesse de robe', auf das Besitz- und Bildungsbürgertum stützte. Die politisch-programmatischen Gedanken Du Vairs in der Zeit ab Herbst 1592 bis zunächst zum Einzug Heinrichs IV. in Paris im Frühjahr 1594 sind diejenigen der ,Partei der Politiker', auf deren Konzeption eines umwillen der Friedenssicherung und unter dem Primat des Politischen gegenüber der Religion stehenden entsakralisierten Machtstaates wir im Dritten Teil (VII, 3) unserer Untersuchung etwas näher eingehen. Besondere Bedeutung kommt hier Du Vairs Exhortation à la paix adressée à ceux de la Ligue zu, in der er in äußerst realistischer Weise die Frage einer möglichen Thronfolge erörtert. Dabei ist für unseren Zusammenhang herauszustellen, daß Du Vair die Eingangsforderung der Epiktetschen Ethik zum strategischen Prinzip bei der Diskussion dieser Frage erhebt. „Ii ne faut donques pas penser des souhaits et à des voeux, mais comme toutes loix divines et humaines le permettent, entre tant de maux inevitables venir au choix des moindres, et examiner par prudence des choses qui sont en nostre puissance (car celles-la seules peut-on deliberer) laquelle est moins dangereuse et nuisible pour nostre religion." 3 0 Die Rede von einer Krisensituation ist dabei keine leere Vorstellung, sie besteht für Du Vair konkret darin, daß es keine intakte Infrastruktur, keine Blüte von Handel, Handwerk und Künsten mehr gibt, daß Pest, Hunger, Räubereien, Vertreibungen, Zerstörungen, Brandschatzungen und Ruin an der Tagesordnung sind, daß Adel und Kirche ausgelaugt sind, und daß „la justice n'a plus la puissance". Als mögliche Thronfolger werden in der Öffentlichkeit Philipp von Spanien, die Infantin Isabella, der Herzog von Savoyen, die Fürsten aus dem Hause Lothringen, der Herzog von Mayenne und andere Vertreter des Hauses Bourbon genannt. Für Du Vair scheiden alle aus. „Or apres ceux-la n'en reste-il qu'un seul, qui est de faire le Roy de Navarre catholique et Roy de France." Die Situation spitzt sich immer mehr auf eine Entscheidung für oder gegen Spanien zu, und im Dezember 1592, so berichtet Lestoile, müssen fast alle Angehörigen des Parlement den .Politiques' zugerechnet werden. Die politische Situation wird dadurch um ein weiteres gesteigert, daß ab Januar 1593 die Generalstände in Paris tagen, und dort etwa ab Juni die Frage der Wahl eines Königs, eines Waffenstillstandes und in diesem Zusammenhang sogar die Frage nach der Reichweite des Salischen Gesetzes diskutiert wird. Nachdem auf der Versammlung der Stände bereits ein grundsätzliches Einver30
Actions et traictez, S. 100; vgl. die ganze Rede, S. 63-109.
Amtstätigkeit und Weltbild
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ständnis besteht, daß die spanische Infantin als Königin akzeptiert wird, wenn sie einen französischen Fürsten heiratet, kommt es am 28. Juni 1593 zu jener denkwürdigen Sitzung des Parlement, auf der Du Vair im Anschluß an eine die machtpolitischen Probleme in ihrem Kern darlegende Rede einen von ihm zusammen mit Pierre Pithou und Nicolas Le Fèvre vorbereiteten Text präsentiert, der als Arrest de la Cour de Parlement de Paris contre l'establissement d'un prince ou princesse estrangers verabschiedet wird und unter der Bezeichnung ,Arrest du President Le Maistre' (Lestoile) berühmt geworden ist. Alle von den Generalständen geplanten Entscheidungen sind danach „faicts au prejudice de la loy Salique et autres loix fondamentales du Royaume." 31 Das Parlement wirkt nach wie vor als eine entscheidende Instanz, und die politische Bedeutung des Arrêt Le Maistre kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das Parlement stellt sich in eindeutige Opposition zu den Ständen, der oberste Gerichtshof begrenzt durch seinen Eingriff die Reichweite der ständischen Verfassung und ebnet Heinrich von Navarra den legitimen Weg zur französischen Krone. Doch damit ist Du Vairs Beitrag zur Durchsetzung und Sicherung des monarchischen Prinzips keineswegs beendet. 1596 entsendet Heinrich IV. ihn zunächst als Leiter einer .Chambre de Justice' nach Marseille, wo er diejenigen Funktionen ausübt, die später die königlichen Intendanten versehen, und in der Folgezeit ist Du Vair auch Erster Präsident des Parlement in Aix-en-Provence. Seine neuen Tätigkeiten in den Bereichen Justiz, Wirtschaft und Militärorganisation zwecks Sicherung der königlichen Machtstellung in dieser Region werden durch ein mögliches Wiedererstarken der in der Provence immer noch sehr einflußreichen Liga, durch eine eventuelle militärische Intervention der vor der Küste kreuzenden spanischen Geschwader sowie durch die streitenden Parteien in der bis Februar 1596 noch in den Händen der beiden Ligisten Jacques Casaulx und Louis d'Aix befindlichen und auch ansonsten im Verhältnis zur Krone einen Sonderstatus genießenden Stadt Marseille bestimmt. Bei der Herausstellung der zum Erhalt des Ganzen notwendigen Integration auch der relativ autonomen Teile bedient sich Du Vair als Hintergrundvorstellung des besonders in der Stoa ausgearbeiteten Gedankens des Organismus, der das Verhältnis von Teil und Ganzem in der Weise teleologisch denkt, daß die Teile ihre Bestimmung vom Ganzen her und um des Erhalts des Ganzen willen im Sinne einer ständigen Integra31
Actions et traictez, S. 144; vgl. S. 125-126; 143.
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
tion und Reintegration zur Mitte hin erhalten. Damit ist auch der eigene Erhalt und die eigene Blüte der Teile optimal gewährleistet. „Le Prince est en l'Estat ce que l'âme est au corps de l'homme. C'est luy qui entretient la société civile, qui regie par Justice les actions des hommes, qui faict que les membres se servent les uns aux autres et se rapportent tous à la conservation de tout." Fallen die einzelnen Teile aber aus diesem organischen Zusammenhang heraus, dann „la paix, le repos et la concorde se pert: tout s'en va en ruyne et se dissipe par morceaux; les modestes deviennent esclaves des violens, les bons, la proye des mescheans." 32 Der Gehorsam der einzelnen Teile gegenüber dem im Herrscher zentrierten Ganzen hat folglich, wie für Du Vair auch schon der Apostel Paulus seiner Forderung der gehorsamen Untertänigkeit gegenüber der Obrigkeit hinzufügte, um des glücklichen und friedlichen Lebens der Teile selbst willen zu erfolgen. Die Restauration der königlichen Macht und Herrschaft auch in Marseille und der Provence steht also für Du Vair vor dem Hintergrund einer besonders an der kosmologischen und der natürlichen Ordnung abgelesenen und (als gleichsam naturgesetzliche Aufforderung) im Bereich der Geschichte und des Politischen zu erstellenden Weltordnung. Erst durch diesen kosmologisch inspirierten Ordnungsgedanken wird die Welt wirklich Welt. „C'est par l'ordre que le monde est monde; (. . .) par l'ordre tant de parties différentes, voire contraires, sont tellement dispersées & agencées, qu'elles servent non seulement à leur mutuelle conservation, mais encor à celle de l'univers." 33 Für den Juristen und Vertreter des Amtsadels Du Vair kommt den Gesetzen in diesem Zusammenhang natürlich eine besondere Stellung zu, denn man kann sagen, „que les loix ciuiles, c'est à dire cet ordre des polices humaines, est vne ombre de cet ordre eternel, de ceste Sapience diuine". Du Vair beruft sich auf den von ihm als Stoiker eingestuften syrischen Philosophen Numenios, um die charakteristische Abfolge zu betonen: der Herrscher ist ein Werk Gottes, das Gesetz ein Werk des Herrschers, das Recht sodann eine Wirkung der Gesetze und die Glückseligkeit der Individuen schließlich eine Frucht des Rechts. Die Justiz und die Magistrate erhalten, wie Du Vair etwa mit Hilfe von Epiktet, Aristoteles, Laktanz und besonders von Chrysipp unterstreicht, folglich eine bedeutsame Rolle. Dabei hängt ihre ganze Autorität vom Gehorsam gegenüber dem Herrscher ab, denn sie sind nicht jeweils Verkörperungen der ganzen Macht, sondern Repräsentanten der einen absoluten Macht des Herrschers. Die Aktivitäten der 32 33
Actions et traictez, S. 201-202. Œuvres (1625), S. 817.
Amtstätigkeit und Weltbild
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einzelnen Magistrate stellen einen Kampf gegen die Leidenschaften dar, welche die Grundlage jeglicher Streitigkeiten bilden, und Du Vair vergleicht die Magistratstätigkeit mit dem Einwirken von Musik, die als diejenige ästhetische Kraft verstanden wird, die am tiefsten in den Menschen eindringt, um ihn von Lastern abzuhalten und zur Tugend zu führen. Mit Hilfe des Stoikers Zenon evoziert Du Vair das Bild der Innereien, in die der Jurist handelnd eingreift, um die Leidenschaften zu tilgen. Dabei sind die juristischen Prozesse als Bürgerkriege im kleinen aufzufassen, die stets in der Gefahr stehen, Ausgangspunkt größerer Unruhen zu werden, weshalb die Aufgabe der Justiz darin bestehen muß, das Aufeinanderprallen der Leidenschaften bereits im Keime zu ersticken. 3 4 Eine machtstaatliche Ordnung ist vonnöten, weil der mit göttlicher Vernunft und mit freiem Willen ausgestattete Mensch dazu neigt, die Ordnung des Universums zu korrumpieren. Das ihm von der Natur mitgegebene Maß an Gerechtigkeit reicht nicht aus, um sein gesellschaftliches Zusammenleben zufriedenstellend, und d. h. ohne wechselseitige Bedrohung sowohl des eigenen als auch des Bestandes der gesellschaftlich-politischen Ordnung als ganzer, zu sichern und zu regeln. Vielmehr müssen die positiven Gesetze als entscheidend hinzutreten, und wiederum sind es die Magistrate, die als Sachwalter des positiven Rechts in eine Schlüsselstellung rücken. Zwar baut das positive Recht grundsätzlich auf dem Naturrecht auf, kann und muß sich aber zugunsten eines größeren Staatswohles von diesem entfernen. 35 Wenn die Grundsätze der Justiz erst einmal verinnerlicht sind (und Du Vair nennt in diesem Zusammenhang Loyalität, Prud'hommie, Standfestigkeit im Denken und Handeln, mäßigende Beschränkung der Wünsche, Ehrerbietung im Gespräch und Legalität der Geschäfte), dann ist auch die Basis für einen florierenden Handel gegeben, der gerade für Marseille von herausragender Bedeutung ist. Es ist unverkennbar, daß Du Vair hier die Grundhaltungen des Neustoizismus in einen positiven Zusammenhang mit den vom Geschäfts- und Handelsleben geforderten Einstellungen bringt. A m Beispiel des Mercator sapiens (1632) des C . Barlaeus werden wir im Dritten Teil (VII, 3) unserer Darlegungen auf eine derartige Beziehung näher eingehen können. Was die wirtschaftliche Situation besonders von Marseille betrifft, so hat D u Vair sehr schnell erkannt, daß die Wieder34
Œuvres
(1625), S. 8 1 7 - 8 1 8 ; 7 9 8 - 8 0 0 ; 8 3 3 - 8 3 5 ; 795.
35
Œuvres
(1625), S. 8 9 5 ; 8 7 9 - 880.
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Neustoizismus als Denk- und Handlungsform
Herstellung königlicher Autorität in dieser Region von der Lösung der aus den letzten Bürgerkriegsjahren stammenden Verschuldung der Stadt und der sich an den verschiedenen Möglichkeiten der Amortisierung entzündenden Parteiungen und Volksunruhen abhängt. Darüber berichtet er dem König stets sehr ausführlich und unterbreitet selbst auch Lösungsvorschläge. 36 Doch Du Vair ist in der Provence nicht nur im juristisch-magistrativen und im wirtschaftlichen Bereich tätig, sondern er ist auch mit Fragen der militärischen Sicherung und des Ausbaus der Verteidigungsbereitschaft beschäftigt, wie detaillierte Überlegungen in seiner Korrespondenz mit Heinrich IV. deutlich zeigen. In der Zeit seines Aufenthaltes in der Provence (vom Herbst 1596 bis zum Sommer 1616) ist der Neustoiker Du Vair also in den für die Etablierung und die Sicherung des neuzeitlichen Machtstaates realgeschichtlich bedeutsamsten Bereichen aktiv, in den Bereichen nämlich der Justiz, der Magistratur, der Wirtschaft und des Militärs. Im frühneuzeitlichen Sinne verlangen all diese Gebiete menschlichen Tätigseins aufgrund ihres im Prinzip für alle an diesen Prozessen Beteiligten disziplinatorischen Charakters nach einer handlungsethischen und motivationalen Menschen- und Weltsicht, die gerade diesen Grundstrukturen eine korrespondierende Absicherung durch Verinnerlichung der Grundsätze verbürgen. Der Neustoizismus gerät zu diesen Strukturanforderungen in eine eigentümliche Affinität, die Max Weber sicherlich als „Wahlverwandtschaft" charakterisiert hätte. Weder ist er einseitig Derivat der Verfassung von Gesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik noch ist er einseitig Inauguralpunkt dieser neuzeitlich rationalen Entwicklung in allen Kultursphären. Aber seine Grundsätze stehen in einer zugleich reagierenden und treibenden Beziehung zur Entstehung der Moderne. Die durch subjektiven Einsatz und durch rationale Konstruktion zu leistende Erhaltung und Disziplinierung der inneren, der äußeren und der gesellschaftlichen Natur und die damit verbundene Gewähr, die Aneignung des höchsten Gutes und das Glück der Individuen latent auf Dauer stellen zu können, bilden, wie wir oben bereits sagten, jene Strategien, „par lesquelles le Stoïque estime qu'il faut policer notre vie." 3 7
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Zum Handel vgl. Œuvres (1625), S. 904, 907; zu den Parteien und Unruhen vgl. Briefe an Heinrich IV. vom 15. Jan. 1597; 13. Jan. 1603; 5. Aug. 1599; 26. Jan. 1603. Philos, mor., S. 112 — 113. Zu militärischen Fragen vgl. Briefe an Heinrich IV. vom 23. Aug. 1597; 8. Okt. 1602; 16. Mai 1604.
VI. Im Vorhof skeptischen Rationalismus' und absoluter Monarchie (Pierre Charron) 1. Menschenbild, und Weltsicht Die Lehrbarkeit der Tugend und die Möglichkeit zur Bildung eines neuen Individuums gründen bei Charron in einer universalen und grundsätzlich guten Natur des Menschen.1 So ist das gesamte Erste Buch der Sagesse auf die Kenntnis von Gattungsmerkmalen gerichtet, von denen her eine innerweltliche und im Menschen wurzelnde Weisheitslehre grundgelegt werden soll. Es findet gleichsam eine anthropologische Bestandsaufnahme statt. „La cognoissance de soy, et de l'humaine condition" ist die notwendige Voraussetzung jedweder Ethik und jedweder Vernunfttätigkeit, die ihre Begründung nicht außerhalb des Menschen sucht und fremdbestimmte, exogene Abhängigkeiten aus der Uberzeugung heraus ausschließt, daß diese der Moral und der Vernunft selbst abträglich sind und dem eigentlichen Ziel endogen-selbstgestaltender, autonomer Lebensführung entgegenstehen. Deshalb besteht für Charrons systematisches Bemühen die erste Aufgabe in der Bestimmung von Stellung und Eigenart des Menschen innerhalb des Seienden. Die starke Einbindung in die biologische Natur einerseits, und die gleichzeitige Betonung seiner herausragenden Stellung in der Seinsordnung aufgrund seiner „vivacité de l'esprit et de l'entendement" sowie seiner „grandes facultés de l'âme" (bei aller Beachtung seiner Schwächlichkeiten im Vergleich besonders zur Tierwelt) andererseits, setzen den Menschen an jenen Knotenpunkt der Welt, der ihm zum einen die Gesetzmäßigkeiten der Naturordnung als grundlegend einzeichnet und ihn zum anderen einer aktiven Teilhabe am universalen Naturgesetz selbst versichert; „comme homme qui est le saint et divin 1
Zu Leben und Werk Charrons vgl. die Arbeiten von J. B. Sabrié und R. Kogel. Hinsichtlich der politischen Philosophie sei nachdrücklich auf die Studie von A. M. Battista hingewiesen, die die originäre Qualität des Denkens von Charron deutlich vom Machiavellismus unterscheidet, dabei allerdings eine zu einseitige Betonung der skeptischrelativistischen Aspekte vornimmt. Die Sagesse im Folgenden zit. nach Ausg. A. Duval; die anderen Werke Charrons nach Œuvres 1635/1970.
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Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
animal: .Sanctius his animal mentisque capacius altae'; et comme roy d'icy bas". Diese im Grundsatz optimistische Einschätzung des Menschen bewegt sich aber stets auch im Spannungsfeld einer deutlichen Unterstreichung der menschlichen Unzulänglichkeiten. Es gehört auch zum Menschen, daß er durch Eitelkeit (vanité), Schwäche und Kleinlichkeit (foiblesse), Unbeständigkeit (inconstance), Erbärmlichkeit und Elend (misère) sowie durch Eigendünkel und Vermutung (présomption) charakterisiert ist. Der Mensch ist ein armseliges Wesen aufgrund seiner Neigung zu Erinnerung und Voraussicht, seines stets umherirrenden Suchens, des falschen Meinens (opinion), der Irrtümer und Leidenschaften, wegen seiner nur kläglichen Möglichkeiten und Mittel gegen die Übel und wegen seines vorgeblichen Wissens. Im Gegenzug gegen diese die wahre Bestimmung und Gestaltung des Menschen erschwerenden Aspekte seiner condition humaine versucht Charron stets jene optimistische Basis zu sichern, von der her die recht eigentlich dem Menschen aufgegebene Moral, die praktische Weisheitslehre entwickelt werden soll. Und die von Charron vorgebrachten ethischen Anstrengungen sind u. a. gerade auch als ein Gegenzug zu der natürlichen Schwäche und Unvollkommenheit des Menschen aufzufassen. Der geforderten menschlichen Weisheit geht es um „une droicture, belle et noble composition de l'homme entier, en son dedans, son dehors, ses pensées, paroles, actions, et tous ses mouuemens: c'est l'excellence et perfection de l'homme comme homme, c'est à dire, selon que porte et requiert la loy premiere, fondamentale et naturelle de l'homme, comme nous disons vn ouurage bien-faict et excellent, quand il est bien complet de toutes ses pieces, et que toutes les regles de l'art y ont esté gardées: Celuy qui est homme sage sçait bien excellement faire l'homme." Trotz der gegensätzlichen Grundstruktur des Menschen also als einerseits unheilvollstes, beklagenswertestes und andererseits stolzestes, erhöhtestes Wesen der Wirklichkeit ist die menschliche Natur in ihrem Grunde mit der Möglichkeit zu immanenter und endogener Lebensgestaltung ausgestattet. Sie kann die zur Erreichung dieses Zieles erforderliche Energie grundsätzlich aus sich heraus aufbringen. Es gilt — und dies ist für die gesamte Lehre Charrons von zentraler Bedeutung — daß „les hommes sont naturellement bons et ne suyvent le mal que pour le proffit ou le plaisir." 2 Für Charron baut sich die Wirklichkeit in Schichten auf (anorganisch, organisch, geistig), von denen jede höhere ihre Wurzeln in der darunter 2
Sag. II, 3, S. 87; I, 2, S. 16; vgl. I, 37, S. 235.
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liegenden hat, deren Wesen in sich aufnimmt, ohne allerdings von dieser ausschließlich bestimmt zu sein. Dem Menschen kommt dabei als Ausdruck des geistigen Lebens, der „vie intellective", gegenüber der vegetativen und der sensitiven Schicht der Pflanzen- und der Tierwelt die höchste Stellung in der Wirklichkeit zu. Diese Dreistufung nach vegetativ, sensitiv und intellektuell innerhalb der gesamten Seinsordnung findet ihre Widerspiegelung in der dreigeteilten Seele. Diese ist vegetativ im Sinne des allgemeinen Prinzips Leben, sensitiv, insofern sie in allen Lebewesen steckt, und intellektuell, rational, weil sie besonders im Menschen ausgebildet ist und dort alle drei Bestimmungen in sich enthält. Dieser Dreieraufbau korrespondiert dann seinerseits der umfassenderen Einteilung nach Körper, Seele und Geist. Dabei wird der Dualismus von Körper und Seele zwar erweitert, allerdings bedeutet dies keine Aufhebung des dualistischen Prinzips, denn dessen Funktion bleibt nach wie vor zentral. Aber die Dreigliedrigkeit verhindert zum einen eine schroffe Entgegensetzung der einzelnen Wirklichkeitsschichten und betont die wechselseitigen Kontinuitäten, und sie läßt zum anderen und zugleich die gesteigerte Stellung des Geistes deutlicher hervortreten als dies in der dualen Bezogenheit von Körper und Seele, von Materie und Geist, der Fall ist. So ist die menschliche Seele gleichsam über den ganzen Körper verteilt, hat jedoch ihren besonderen Sitz im menschlichen Gehirn (und nicht im Herzen). Wie bei allen geistigen Kreaturen, so muß auch bei der Seele nach Wesen (essence), Vermögen (faculté) und Wirkung (opération) unterschieden werden. Verstand (entendement), Vorstellungskraft (imagination) und Gedächtnis (mémoire) sind die drei Vermögen des Menschen, die ihren Sitz in der Seele haben. In Bacons De dignitate et augmentis scientiarum bilden diese drei Vermögen menschlichen Geistes dann die Grundlage von Philosophie (ratio), Poesie (phantasia) und Geschichte (memoria), wobei die Philosophie die wahrgenommenen Gegenstände in ihre natürliche und notwendige Ordnung setzt, die Poesie einen eher willkürlichen Zusammenhang stiftet, und die Geschichte schließlich unverändert aufbewahrt. Hinsichtlich einer hierarchischen Ausdeutung des Menschen ergibt sich für Charron, „qu'il n'y a rien de grand en la terre que l'homme, rien de grand en l'homme que l'esprit" 3 , und letzterer wiederum unterteilt sich in drei Arten, die in unmittelbarer Beziehung zum Aufbau der gesellschaftlichen Welt stehen. Der in die Nähe der Tiere gehörende niedere, schwache Geist wird dem gemeinen Volk zugeordnet; die mittel3
Sag. I, 15, S. 118-120; vgl. I, 8.
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mäßigen Geister scheinen in unbegrenzter Anzahl die Welt zu bevölkern, wohingegen die Zahl der aristokratisch hohen und raren Köpfe äußerst begrenzt ist. Eine explizit politische Dimension erhalten diese anthropologischen Grundzusammenhänge, wenn Charron herausstellt, daß es der Gesetze und der Gesetzgeber bedarf, damit die durch ihre Neigung zu Nutzen und Vergnügen gefährdete Natur des Menschen ihre im Grunde positive Verfassung zur Verwirklichung bringen kann. Die „excellence et perfection de l'homme comme homme" erfordert, wie wir später noch genauer sehen werden, eine bestimmte politische Machtordnung. Dabei hat der letztlich absolute Staat im Neustoizismus zwar nicht die Stellung eines säkularisierten Quasi-Erlösers, die er im Verhältnis zu den sich in einem als äußerst negativ und bedrohlich aufgefaßten Naturzustand befindlichen primären Individuen bei Hobbes innehat, aber dem Staat kommt bei der Verwirklichung des ethischen Ideals eine ganz entscheidende Rolle zu; er hat begrenzend und freisetzend in einem zu sein. Gerade aus den menschlichen Schwächlich- und Unzulänglichkeiten resultiert für Charron eine Rechtfertigung auch einer absoluten staatlich-politischen Organisation. Die „législateurs, pour les (= les hommes) induire à suyvre leur inclination naturelle et bonne, et non pour forcer leurs volontés, ont proposé deux choses contraires, la peine et la recompense." 4 Der Staat wird zur Verwirklichung der positiven Natur notwendig, das politische Gebilde kann sich aus der Anthropologie herleiten und legitimieren. Ja, wir müssen diesen ganzen Zusammenhang auch von der vielleicht entscheidenderen anderen Seite her sehen: die der neustoischen Menschenund Weltsicht zugrunde liegende Axiologie erfordert gerade die machtstaatliche Ausgestaltung des Politischen. Doch ist hier sogleich eine entscheidende Differenzierung und Relativierung anzubringen. Die Aufgabe der politischen Macht- und Herrschaftsordnung ist nämlich eine gedoppelte. Zum einen hat sie die negativen, Sicherheit, Ruhe und Ordnung gefährdenden Eigenschaften der breiten Volksmenge in disziplinierendem Zaum zu halten. Zum anderen soll sie gerade durch diese ihre Leistung als Machtstaat dafür Sorge tragen, daß sich die Individuen einer geistgeadelten hohen Natur ungestört entfalten können. Die diagnostischen Teile der Anthropologie Charrons, in denen versucht wird, Grundtatbestände erst einmal beschreibend zugänglich zu machen und zu jener Dimension zu erheben, in der eine mögliche Doktrin 4
Sag. II, 3, S. 87; vgl. I, 35, S. 204ff.; I, 41, S. 2 8 3 - 2 8 4 . Petit traicté Ausg. Duval, S. 267.
de Sagesse,
in
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anzusetzen hat (in der Sagesse besonders das Erste Buch), dürfen im Rahmen der Gesamtstrategie Charrons nicht überbewertet werden. Die Frage nach der condition humaine bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen, wie der Mensch sein soll. Je tiefer die Diagnose ist, desto tiefer kann die Therapie ansetzen. Anders ist es dagegen bei der analytischen Darstellung der Weltsicht. Besonders die Beschreibung des Aufbaus der politisch-gesellschaftlichen Welt zielt nicht darauf ab, den Ansatzpunkt zu einer neuen politischen Ordnung herauszupräparieren, sondern hier liegt in der Analyse selbst die Normativität unmittelbar eingeschlossen. So, wie Charron die Macht- und Herrschaftsverhältnisse beschreibt, so sollen sie auch sein, so sind sie für ihn auch im Normalfall gleichsam von Natur aus. Beispielsweise gilt es in diesem Lichte seine Bestimmung der Unterschiede zwischen den Menschen hinsichtlich Stand und Aufgaben im politisch-gesellschaftlichen Bereich auf der Basis von Befehl und Gehorsam zu verstehen.5 In die Beschreibung des Autoritätsgefüges ist das Postulat seiner Erhaltung und seines stärkenden Ausbaus als vorweggenommenes Ergebnis bereits eingegangen. Die Krise besteht nach Ansicht Charrons ja gerade in der Auflösung von Ordnung, Zucht und Disziplin. Da die Anthropologie im Denken Charrons den wesentlichen Zugang zum Bereich des Politischen zu leisten geeignet ist, muß folgerichtig ihre Strukturiertheit über Art und Qualität auch der Struktur des Politischen entscheiden. Die Gestaltung der individuellen Lebenswelt (ζ. B. in Ehe und Familie) ist für die Form des politischen Gemeinwesens von grundlegender Bedeutung. Diese anthropologische Ausrichtung verbaut Charron allerdings die kritische Überlegung, ob in der geforderten Disziplinierung des Individualbereichs nicht ausschließlich die Forderungen des übergreifenden Autoritätssystems an die einzelnen Teilnehmer am politisch-gesellschaftlichen Leben im Sinne einer Systemintegration zum Tragen kommen. Die solcherart sich ergebende Spannung zwischen einem gezielten Rückgriff auf die Natur des Menschen und deren Verwirklichung einerseits und der damit gleichzeitig anvisierten Systemeinpassung im Sinne einer Einordnung in hierarchische Wirklichkeitsschichten (besonders im politischen Bereich) andererseits, muß dem gesamten Denken Charrons zum Problem, zu einer charakteristischen Spannung werden. Anthropologische und politisch-gesellschaftliche Krise erscheinen in einer einseitigen Wenn-Dann-Beziehung, deren Umkehrung an keiner Stelle zum Thema erhoben wird. Sichtbarster Ausdruck dieses Verhältnisses ist der Versuch 5
Sag. I, 46ff. ; vgl. I, 19ff.
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der gesamten neustoischen Bewegung, mittels eines geänderten Menschen der Krise entgegenzutreten, und erst von hier aus wird der politische Bereich im engeren Sinne behandelt. Die Verschränkung von Menschenbild und Weltsicht beginnt bereits bei der Einteilung des Menschen in Geist, Seele und Körper. Als „image et defluxion de la divinité" entspricht der Geist einem königlichen Herrscher. Der Körper dagegen ist wie die Hefe des aufrührerischen Volkes („la lie d'un peuple tumultaire et insensé"), und die zwischen beiden liegende Seele ist indifferent, stets bedrängt von Geist und Körper, Hort also von Gutem und von Schlechtem — gleichsam den Magistraten vergleichbar. Der gleiche klassifikatorische Zug setzt sich fort und wird eigentlich noch deutlicher gesellschaftsbezogen, wenn, wie schon angedeutet, die Menschen hinsichtlich des Geistes in drei Klassen („trois classes et degrés d'esprit") eingeteilt werden. Die „esprits foibles et plats, de basse et petite capacité, mais pour obéir, servir et estre menés", bilden die größte Anzahl, gefolgt von den „esprits médiocres". Diese „font profession de suffisance, science, habileté", sind in ihrer Auffassung und Sichtweise eingegrenzt und halten für wahr, was zufällig ist. Sie treten in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf und regieren zum größten Teil die Welt. Beide Gruppen werden überragt von den „esprits supérieurs", die „sont vrayement sages et tels que nous cherchons ici." Allerdings ist deren Zahl äußerst beschränkt. Dies ist Charrons gleichsam geistiges Weltgehäuse, und in anschaulicher Weise spricht er auch von Etagen. Entscheidend an dieser Verschichtung der Welt ist die Betonung der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Und der ganze Zusammenhang erhält seine politische Wende in der Klassifizierung der Menschen nach solchen, die von Natur aus zum Beherrschtwerden, zum Gehorsam, und nach solchen, die von N a t u r aus zum Ausüben von Herrschaft bestimmt sind. Dieser geistigen Strukturierung war eine Unterscheidung der Menschen nach der natürlichen, biologischen und besonders der geographischen Ordnung vorausgegangen, in der Charron die auf G . Cardano zurückgehende Klimazonentheorie Bodins zur Anwendung bringt. Beide Bereiche, die geistige und die natürlich bedingte Unterschiedlichkeit der Menschen, werden verfolgt, und sie erhalten ihren Höhepunkt in ausgedehnten Erörterungen zu den Unterschieden zwischen den Menschen in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung (bezüglich ihrer „degrés, estats et charges"). Das Menschenbild und die politische Ordnung treten auf diese Weise in ein Verhältnis der Strukturaffinität, der Wahlverwandtschaft. Anthropologie und Politik gehen hier ineinander, und schon im formalen Aufbau der
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Sagesse wird dieser Zusammenhang deutlich, wenn unmittelbar nach der Behandlung der Frage der Autorität und Souveränität innerhalb der Familie bereits die Frage der Souveränität im politischen Bereich abgehandelt wird. Die Unterscheidung nach „degrés, estats et charges" ruht auf dem nach Ansicht Charrons grundlegenden Prinzip jeglicher menschlichen Gemeinschaft, dem Prinzip nämlich von Befehl und Gehorsam, Macht und Unterwerfung, Superiorität und Inferiorität. Auf der Basis dieser beiden Säulen (wobei gilt, daß „imperium non nisi divino fato datur: omnis potestas a Deo est" und „en l'obéir est l'utilité, l'aisance, la nécessité, tellement que pour la conservation du public, il est encores plus requis que le bien commander") kann Charron ein auf Autorität gründendes hierarchisches Weltbild und einen Pflichtenkatalog entwerfen. Die geforderte und als natürlich ausgegebene Ordnung der Autorität ist folglich berechtigt, disziplinierend bis in die letzten Bereiche sowohl des privaten als auch des öffentlichen Lebens durchzugreifen. 6 In diesem System hat jedwede soziale Beziehung, jedwede Zwischenmenschlichkeit ihren genau bestimmbaren Ort. Sie ist eingebettet in ihren Autoritätskontext und als solche stets abrufbar, wobei das Zuweisen der ihr zugesprochenen Systemstelle zugleich die Gesamtheit aller ihrer möglichen Bewertungen in sich zu schließen beansprucht. Die aus diesem Schema (vgl. bes. Sag. I, 46) zu entnehmenden Pflichten jedes Systemmoments sowohl gegenüber dem ihm übergeordneten als auch gegenüber dem ihm untergeordneten Moment ergeben eine vollständige, die Gesamtheit des privaten und öffentlichen Bereichs umfassende soziale Normenlehre. Im Bereich der niederen Stufen sozialer Beziehungen kommt der Herrschaftsstruktur in Ehe und Familie eine besondere Bedeutung zu, und an ihr läßt sich exemplarisch der paternalistische Grundcharakter der gesamten Weltsicht zeigen. Im Anschluß an die von Cicero geäußerte Ansicht ist auch für Charron die Ehe jene ursprüngliche Gemeinschaft, aus der alle weiteren hervorgehen: „prima societas in conjugio est, quod principium urbis, seminarium rei publicae". Trotz gegenseitiger Pflichten der Ehepartner ist die „supériorité et puissance maritale" das entscheidende Prinzip. Unter allen näheren Ausprägungen der Autorität kommt derjenigen des Vaters gegenüber den Kindern die höchste Stufe der Natürlichkeit zu. Als absolute Autorität erstreckte sich die Macht des Vaters in der Antike (und hier folgt Charron den diesbezüglichen Darstellungen Bodins) auf Freiheit, Güter, Handlungen und sogar auf das Leben der 6
Vgl. Sag. I, 3, S. 2 0 - 2 1 ; I, 4 4 - 5 4 .
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Kinder. Charron führt einige Beispiele zur Stützung dieser Position heran, um sodann den gegenwärtigen Verfall der väterlichen Autorität zutiefst zu beklagen. „Les republiques ausquelles elle a esté en vigueur, ont fleuri. Si l'on y cognoissoit du danger et du mal, l'on la pouvoit aucunement moderer et reigler; mais de l'abolir comme elle est, il n'est ny beau, ny honneste, ny expedient, mais bien dommageable". Die starke Herausstellung der väterlichen Autorität bei Charron hat eine ihrer Wurzeln sicherlich in der historischen Situation Frankreichs. Wenn die „puissance paternelle" als Kern des Gemeinwesens, die Autorität als Grundlage der politischen Societas gefaßt wird, so wird deren katastrophal und chaotisch anmutender Zustand folgerichtig auf die Zersetzung von Zucht und Ordnung zurückgeführt, und zur Uberwindung der Krise erfolgt der Ruf nach dem starken Zentrum, der Ruf nach dem pater familias antikrömischer Prägung. Charron will diese seine Position durchaus von Despotie, von bloßer Unterdrückung unterschieden wissen. Es geht ihm um Zucht und Autorität, nicht um Sklaverei, die er ablehnt. Das Verhältnis ,maître' — ,serviteur' ist ein Autoritäts-, dasjenige von ,seigneur' — ,esclave' ein Unterdrückungsverhältnis. In dieser Differenzierung zeigt sich deutlich die bereits angesprochene Spannung zwischen einem Rückgriff auf die Natur des Menschen einerseits und die gleichzeitige Einpassung in die hierarchische Weltsicht andererseits. Sklaverei ist unnatürlich, Abhängigkeitsverhältnisse jedoch sind für die Wirklichkeit selbst konstitutiv und tragend. Dies drückt sich beispielsweise auch in der notwendigen Ungleichheit der Güter und des Besitzes aus. Sowohl übersteigerter Reichtum als auch gesteigerte Armut führen stets zu politischen Unruhen. Aber die Versuche einiger Staatsdenker, diesen Unruheherd durch Gleichheit des Besitzes auszuschalten, hält Charron über praktische Schwierigkeiten hinaus unter dem Leitspruch des Plinius, daß „nihil est aequalitate inaequalius", nicht nur für unmöglich, sondern gar nicht für politisch wünschenswert. 7
2. Religiöse Apologetik und natürliche Begründung Von der Seitenzahl her betrachtet, ist Charrons theologisch-apologetisches Werk (besonders die Trois Ventés und die Discours chrétiens) etwa doppelt so umfangreich wie die seinen Ruhm ausschließlich aus7
Vgl. zur Ehe Sag. I, 48, S. 347, 356; III, 12, S. 6 t f f . ; zum pater familias Sag. I, 49; I, 64, S. 438 nach Plinius, Èp. V, 9.
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machende Sagesse. Stärker als bei Lipsiiis oder Du Vair bricht im Denken Charrons die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion, von einer auf die menschliche Natur gründenden Ethik und römischkatholischer Doktrin auf. Das von Charron entwickelte Lebensideal einer wahren „preudhommie" ist durch eine weitgehende Abwesenheit christlichen Dogmas, letztlich, wie wir sehen werden, durch die Ausblendung von Religion überhaupt gekennzeichnet. Charron selbst hat diese Spannung nicht bewußt erlebt, denn auch und gerade in der Sagesse gibt es für ihn persönlich keine grundsätzlichen Schwierigkeiten hinsichtlich des Verhältnisses von Philosophie und Religion. Allerdings bedurfte es zu solcher Versöhnung bereits eines Religionsverständnisses, das am innerweltlichen Geltungsanspruch der Theologie erhebliche, letztlich vernichtende Abstriche machte. Mit Sicherheit verstand sich Charron als gläubiger Katholik. Jedoch wird schon an der Struktur seiner Gläubigkeit der Zusammenhang deutlich, von dem her die christliche Religion aus dem normativen Zentrum der Lebensgestaltung verdrängt und durch eine unter dem Leitfaden von Natur, Vernunft und Willen stehende neue, lebensund weltimmanente Moral neustoischen Charakters ersetzt wird. Aufgrund dieser Überlegung ergibt sich durchaus kein Bruch zwischen dem religiösen und dem philosophischen Werk Charrons, wie er in der Literatur immer wieder herauszustellen versucht wird. Von zentraler Bedeutung ist es jedoch, die spezifische Verknüpfung von Religion und Philosophie aufzuspüren und diese vor dem Hintergrund der historischen Situation in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Frankreich zu begreifen. Das Ziel der Sagesse ist rein innerweltlicher Art, sie ist nicht geschrieben „pour le cloistre, mais pour le monde, la vie commune et civile." Nicht als Theologe, sondern als Philosoph und aufgrund der „liberté académique et philosophique" stellt Charron die Frage nach der Weisheit. Weder die „sagesse divine" der Theologen noch die der betriebsamen Welt zugehörige „sagesse mondaine", sondern die dem Philosophen vorbehaltene „sagesse humaine" ist Gegenstand seiner Bemühungen. Diese Abgrenzung nach Gegenstandsbereichen, und damit das deutliche Bestreiten eines alle Bereiche verbindlich durchmessenden Weisheitstheorems, wird keineswegs als problematisch empfunden. Die wechselseitige Zugehörigkeit der einzelnen Gebiete erweist und vollzieht sich lediglich in den jeweiligen Rand- und Übergangszonen. Der Religion und der Philosophie werden bestimmte Arbeitsfelder zugewiesen. Dies muß bei einer äußerst anthropozentrischen Sicht notwendigerweise die Aus-
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blendung besonders der jenseitsgerichteten Theologie zur Folge haben, insofern nämlich dieser die Möglichkeit einer nachhaltigen und von den Interessen des Individuums geleiteten Verhaltensorientierung und verbindlichen Lebensgestaltung besonders in Krisenzeiten bestritten wird. So muß Charron die Verbindung der Trois Vérités (1593 erstmals in Bordeaux erschienen) und der Sagesse (zuerst Bordeaux 1601) herstellen. Dies geschieht in der Art, daß die Achtung der Religion und der Dienst gegenüber Gott als die der geforderten menschlichen .preudhommie' gleichsam innewohnende Pflicht des Weisen ausgegeben werden. Das katholische Christentum ist dabei über jeden Zweifel erhaben; Charron verweist besonders auf seine Seconde Vérité, und in der Apologetik selbst erscheinen Weisheit und Religion als einander komplementär zugeordnete Größen. „Ainsi la sapience precede, & est chemin à la religion, comme cognoistre va deuant aimer & seruir: (. . .) C'est la saínete coupple, la sacrée & parfaicte alliance de sapience & religion, qui ne deuroient iamais estre séparés. Chez tous les anciens, c'estoient les mesmes professeurs de l'vne & de l'autre, Philosophes & Prestres." 8 Das philosophische Werk liegt der Theologie also voraus, ist aber in besonderer Weise geeignet, zu dieser hinzuführen. Die Trois Vérités dienen dem großangelegten Nachweis dreier Thesen: (a) das Bedürfnis nach Religion ist jedem Menschen eigen (gegen die „athees & irréligieux") und die Menschen brauchen Religion (= Erste Wahrheit); (b) unter allen Religionen ist die christliche die beste (= Zweite Wahrheit; gegen die „mescreans, Gentils, Iuifs & Mahumetans") und (c) unter allen Ausprägungen der christlichen Religion ist die römischkatholische die beste ( = Dritte Wahrheit; gegen die „heretiques & schismatiques"). Uber die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Ph. DuplessisMornay hinaus sind besonders zwei Momente in den Trois Vérités von herausragender theologischer Bedeutung. Bei Charron findet sich die später in Descartes Gedankenführung wiederkehrende Verwendung des ontologischen Gottesbeweises. „Conceuant donc vne chose, qui luy soit infinie par puissance, & Dieu estant au dessus de toute conception, l'esprit est tenu de croire vn Dieu actuellement infiny, puisqu'il y arriue par imagination capable d'infinité, ,potentia cogitatione' infinie." Außerdem treffen wir bei Charron auf die Herausstellung der Notwendigkeit eines Gottesglaubens aufgrund jener Überlegung, die in der Pascalschen Wette 8
Prem. Vèr. II, S. 5; vgl. Vorwort Sag. (1601), S. X X X I X - X X X V ; Sag. II, 5.
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ihre Berühmtheit erlangt hat. „Croire vn Dieu: c'est à dire, vne essence infinie, toute bonne, toute puissante, toute parfaicte, prouidente de nous, vaut mieux que de ne croire rien de tout cela: car vne bonne chose vaut mieux que rien, vn estre & vn bien infiny vaut mieux que non estre." 9 Unter den Argumenten für die ,Erste Wahrheit', derzufolge Religion dem Menschen eignet und nützt, ist die an vorderster Stelle rangierende politische Begründung von herausragender Bedeutung, weil sie einen expliziten Brückenschlag zur Behandlung der Religionsfrage in der Sagesse liefert. Die Religion bildet die Grundlage des Gemeinwesens, das Fundament des Staates überhaupt, weil erst durch ihre Existenz das Einpassen des Menschen in Formen des Gemeinwesens ermöglicht und Gehorsam gesichert wird. Der Herrscher muß die Religion erhalten, denn das politische Gebilde bedarf ihrer zwecks eigenen Erhalts und Funktionierens. Religion ist gemeinschaftsstiftend und hat im Interesse dieser Gemeinschaft instrumentellen Charakter, ist Instrument der Politik ; „le vray moyen, le premier & le plus fort, pour maintenir les republiques, & toute autre espece de société humaine, pour reigler les hommes en eux mesmes & enuers autruy, les contenir en l'obeissance des loix & des Magistrats, les enhardir aux dangers de guerre, les rendre modestes en paix, bref les faire souples & maniables à toutes choses, & faire ioug aux supérieurs, c'est la persuasion de religion, sans laquelle tous les autres moyens sont foibles & peu durables." 10 Solch grundlegend politische Funktion kann natürlich eine einheitliche, sprich: eine Staatsreligion am besten leisten, und in der Sagesse finden sich denn auch diese Gedanken in aller Deutlichkeit. „Parquoy le prince doibt soigner que la religion soit conservée en son entier selon les anciennes ceremonies et loix du pays, et empescher toute innovation et brouillis en icelle, chastier rudement ceux qui l'entreprennent." 11 Den Nachweis seiner zweiten These, daß nämlich unter allen Religionen die christliche die beste sei, führt Charron vor dem Hintergrund anthropologischer Nützlichkeit (!). Die Grundforderung an eine Religion ist die Bereitstellung der Mittel, (a) Gott zu ehren und (b) dem Menschen nützlich zu sein, ihm Ehrenhaftigkeit, Befriedigung, Freude und Zufriedenheit zu geben, eine Religion also, „qui est la plus propice & fauorable à son bien, à son estre, à sa perfection." 12 In dem Interesse des Menschen an sich selbst ruhen also die Kriterien für die 9 10 11 12
Prem. Vèr. X I I , S. 62; VIII, S. 34 (Gottesbeweis). Vgl. R. Kogel, Charron, Prem. Vèr. IV, S. 9. Sag. III, 2, S. 300. Sec. Vèr. X , S. 103; vgl. VII, S. 94.
S. 83.
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Entscheidung (!) des Individuums zugunsten einer der verschiedenen Religionen. Innerhalb der von Charron vergleichend (!) behandelten fünf Religionen (der natürlichen, die mit Beginn der Menschheit einsetzt; der heidnischen, die in der Zeit zwischen der Sintflut und der Sprachverwirrung Babels liegt; der jüdischen aus der Zeit Abrahams; der christlichen des Jesus-Christus ; und der mohammedanischen in Arabien) fällt die Wahl auf die christliche Religion, weil diese die genannten Bedingungen in Theorie und Praxis am ehesten erfüllt. In der Sagesse handelt Charron Bestimmung und Rolle der römischkatholischen Kirche durch einen kurzen Verweis auf seine ,Dritte Wahrheit* ab, und hinsichtlich der Religionsfrage finden wir nur die Feststellung, daß der römischen Kirche in Theorie und Ausübung die alleinige Entscheidungs- und Richtungsgewalt zukommt. Die çigentliche Begründung dieser Aussage findet sich in der Troisième Vérité. Zunächst einmal ist auch dort die theologische Beweisführung politisch orientiert. Die Darlegung der römisch-katholischen Alleinvertretung bildet den Kernpunkt in der apologetischen Auseinandersetzung mit Philippe DuplessisMornay, und Charron nützt die Konversion Heinrichs, um seiner Abhandlung sogleich politisches Gewicht zu verleihen. Duplessis-Mornay hatte seinen Traktat lediglich dem hugenottischen Heinrich von Navarra widmen können, wohingegen Charron sich in Auseinandersetzung mit Mornay an den katholischen König Frankreichs wenden kann, der durch sein Beispiel die Richtigkeit der zu verteidigenden These politisch bestätigt hat. Im Zentrum der Apologetik steht natürlich der Vorwurf DuplessisMornays, daß der Katholizismus die Kirche zu Unrecht über die Heilige Schrift stelle, denn die Wahrheit liege in der Schrift und nicht in der Institution. Charron setzt bei der Überlegung an, daß es zur Beendigung der Interpretationsstreitigkeiten christlicher Religion einer obersten Instanz bedarf. Unter den drei sich bietenden Möglichkeiten fällt die private Inspiration von vornherein heraus, und das Gegeneinander von Kirche und Heiliger Schrift macht den Konflikt zwischen Katholiken und Schismatikern aus. Der entscheidende Dreh besteht nach Ansicht Charrons nun darin, daß die römisch-katholische Kirche die Universalität der Heiligen Schrift in sich schließt, sie gleichsam deren Verkörperung ist. „Car qui a l'Eglise, a bien l'Escriture. Ou la voulez-vous mieux trouuer? mais qui a l'Escriture, n'a pas pour cela l'Eglise." Die römisch-katholische Kirche ist entscheidende Autoritätsinstanz zur Interpretation der Schrift. Die Kirchenväter sind der Schrift untergeordnet, sie bilden zusammen mit den Konzilien das wichtigste Zeugnis der kirchlichen Tradition, und als
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Ausdruck der Kirche selbst sind die Konzile in dogmatischen Angelegenheiten unfehlbar. Die römisch-katholische Kirche kann nicht irren, und Charron faßt ihre besonderen Wahrheitsmerkmale in acht Kernpunkten zusammen. Er nennt: (1) das hohe Alter der römisch-katholischen Kirche; (2) ihre starke Verbreitung (örtlich und was die Zahl ihrer Glieder betrifft); (3) ihre ununterbrochene Dauer, ihr Bestand und ihr öffentlich sichtbares Auftreten („perpetuellement publique" und „publiquement perpetuelle") ; (4) die Bezeichnung ,katholisch' als Merkmal und Eigenname der Kirche Gottes, .katholisch' ist synonym für ,echte Gotteskirche'; (5) die Einheit als Merkmal der wahren Kirche; (6) ihre Heiligkeit, da sie ganz und gar sowie von Anfang an Gott geweiht und ergeben ist; (7) das Festhalten an ihrer Wurzel, ihrer Grundlage; (8) die doppelte Nachfolge in Person und Lehre. 13 In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß die Trois Vérités das apologetische Werk nicht eines Herzensgläubigen, sondern eines wohlüberlegenden Intellektuellen sind, der die Kirche aus Gründen verteidigt, die über bloßen Gottesglauben hinaus weit in den weltlichen Bereich hineinragen. Die funktionale Bestimmung der einheitlichen Religion als Grundlage des politischen Gemeinwesens scheint auch bei der Verteidigung der römisch-katholischen Kirche durch, und der Gedanke einer machtbefugten Zentralinstanz ist der Argumentation von Anfang an ein Leitmotiv. Die beiden ersten Wahrheiten reihen sich übrigens in eine Kette grundsätzlicher Apologie des Christentums ein, deren bloße Existenz bereits das Gefährdetsein der christlichen Tradition signalisiert. 1578 hatte DuplessisMornay jenen Traité de l'Eglise auquel sont disputées les principales questions qui ont esté meues sus ce point en nostre temps geschrieben, gegen den sich Charrons Troisième Vérité richtet. Einige Jahre später jedoch besteht auch für Mornay die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Verteidigung der christlichen Religion „contre les Athées, Epicuriens, Payens, Juifs, Mahumetans et autres Infidèles" (Antwerpen 1581 u. ö.). Derartige Abhandlungen sind an der Zeit, und für Frankreich ist an Autoren wie G. Pacard, P. Macé, Ν. Du Fail, Chr. de Cheffonds oder J. Cousin zu denken. Während bei Charron die Ansicht vorherrscht, daß die Ursache für die Notwendigkeit einer solch grundsätzlichen Rechtfertigung in der Reformation und deren Folgen zu suchen ist, finden wir bei J. Cousin etwa den interessanten Gedanken, daß der eigentliche Gegner des Christentums diejenige Lehre sei, in der die sich selbst genügende Tugend das höchste Gut dar13
Vgl. dazu Trois. Vèr. V I I - X I V ; vgl. II, S. 157; Sag. II, 5, S. 147.
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stelle. Das verweist im Grunde recht deutlich auf die starke Durchdringung der einzelnen Lebensbereiche mit neustoischem Gedankengut, denn gerade die Selbstgenügsamkeit der Tugend und der sich darin manifestierende Gedanke einer an Natur, Vernunft und Willen orientierten Immanenz ist eines der Zentralmerkmale des Neustoizismus. Den unmittelbaren Angriffspunkt der Trois Vérités bildet der genannte Traktat DuplessisMornays. Auf eine 1594 in La Rochelle anonym erschienene Response à un livre nouvellement mis en lumière, intitulé les Trois Véritez geht Charron bereits in der zweiten Auflage seiner Abhandlung mit äußerstem rhetorischen Geschick und mit stilistischer Strenge jeweils im Anschluß an die entsprechenden Kapitel ein. Von protestantischer Seite wäre hier eine Reihe weiterer Reaktionen anzuführen, für uns aber am aufschlußreichsten ist vielleicht die Amiable confrontation de la simple vérité de Dieu, comprise ès Escritures Saintes, avec les livres de M. Pierre le Charron (Leiden 1599) von François Du Jon, die einen versöhnlichen Ton anschlägt und den Katholiken Charron auf einige gravierende Verstöße gegen das katholische Dogma hinweist, besonders auf die Betonung der Natürlichkeit der Religionen und die (implizite) Gleichsetzung von JesusChristus und antikem Geist. Wollte man die Herkunft der neustoischen Bewegung konfessionell beschreiben, so wird man historisch gesehen sagen müssen, daß sie stärker dem Katholizismus als der Reformation entwächst, jedoch dem Geist der Reformation näher steht als dem ursprünglichen Katholizismus. Gerade die Affinität zu den asketischen Zügen protestantischer Ethik erklärt vielleicht, daß es kaum Neustoiker rein protestantischer Provenienz gibt. Ja, der Stoizismus hat nicht unwesentlich zum Scheitern der Reformation in Frankreich beigetragen. Schon dem Stoizismus der Antike war der Gedanke der Immanenz zentral, und so ist auch der Neustoizismus konsequenter als die aufgrund des ganz jenseitigen Gottes notgedrungene Innerweltlichkeit des endlichen Menschen im Calvinismus. Die sich, wie besonders M. Weber betont hat, religiösen Motiven verdankende rationale Struktur innerweltlichen Handelns im asketischen Protestantismus stellt insofern keine wirkliche und endogene Innerweltlichkeit dar, als sie dem irrationalen und jenseitigen Heilszusammenhang ja gerade verpflichtet bleibt. Die deutliche Herausstellung des menschlichen Willens steht im Gegensatz zur Prädestinationslehre, und die Grundlegung des Humanen im immanent gedachten Naturgesetz drückt einen das Individuum adelnden Stolz und eine in sich gründende Autonomie aus, die nur wenig mit dem Gedanken determinierender Schöpfung und einer vorherbestimmten
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Gnadenwahl zu tun hat. Die gleichsam als innerweltliche Gnosis erscheinende calvinistische Trennung nach Auserwählten und Verdammten ist in immanent-natürlicher Hinsicht grundsätzlich von der neustoischen Unterteilung der im Grunde guten Menschen nach den „esprits faibles", deren N a t u r diejenige des Gehorchens ist, und den „esprits supérieurs", die als naturgeadelte Individuen die hier geforderte Weisheit verwirklichen, zu unterscheiden. Mit dieser Immanentisierung geht in religiöser Hinsicht eine Entwicklung zur natürlichen Religion und zum neuzeitlichen Pantheismus einher, die sich gerade durch ihren Rückgriff auf die Natur und deren Gesetzlichkeit über die unter sich zerstrittenen Konfessionen erhebt. Die neustoische Bewegung steht so gesehen über den religiös-theologischen Fronten der Zeit. Die Tendenz, sich oberhalb der Parteiungen als natürliche Position zu etablieren, eignet auch dem von Seiten des zeitgenössischen Katholizismus heftig diskutierten Religionskapitel der Sagesse: „Estudier à la vray pieté." Hier tritt der skeptische Relativismus Charrons deutlich hervor, wenn er seinen Gegenstand vergleichend und soziologisch abhandelt. Aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen von Religion, der Unterschiedlichkeit ihrer Theoreme und Postulate, muß zunächst von ihrer prinzipiellen Gleichstellung ausgegangen werden, die sich auch auf das Verhältnis von Religion und antikem Geist erstreckt. Gerade im theologischen Bereich sind die Meinungen unterschiedlich und umstritten. Wendungen wie „les opinions sont diverses" finden sich durchgehend bei Charron, und im A n s c h l u ß an deren Darlegung werden Meinungen diskutiert, was dann entweder zu einer höherwertigen Entscheidung führt oder die Frage grundsätzlich offen läßt, w i e dies" bei dem Problem des Seelenlebens nach dem Tode des Körpers der Fall ist. So unterläuft es Charron sogar, daß er von den „vrayes religions" im Plural spricht, obwohl seine Darstellungen eigentlich auf das Christentum als einzig wahrer Religion und hier w i e d e r u m auf den Katholizismus hinauslaufen sollen. Die Religionen sind, „ q u o y qu'on en a dit, tenues par mains et moyens humains, témoin premièrement la maniere que les religions ont esté reçeues au monde, et sont encores tous les jours par les particuliers; la nation, le pays, le lieu, donne la religion; l'on est de celle que le lieu, auquel l'on est né et eslevé tient: nous sommes circoncis, baptisés, Juifs, Mahumetans, Chrestiens, avant que nous sçachions que nous sommes hommes; la religion n'est pas de nostre choix et election". 1 4 Auch in der Sicht der Religionen mani14
Sag. II, 5, S. 129 (Ausg. 1601); Disc, chrét. II, 14, S. 186-187 (Seelenleben).
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festiert sich also etwas vom Zugewinn der Welt und des Menschen an Endogenität, was methodisch hier mit einer soziologischen Betrachtungsweise und einer relativierenden Skepsis einhergeht. Diese Skepsis ist bei Charron in der Anlage (wenn auch noch nicht streng reflektiert) bereits eine deutlich methodische, d. h. sie richtet sich als Zweifel zunächst gegen die mit dem Schein sicherer Wahrheit auftretenden Aussagen, dient zugleich aber dem menschlichen Bewußtsein im durchaus präcartesianischen Sinne gerade durch diese ihre Leistung zur Selbstvergewisserung. So kommt es, daß Charron den Universalitätsanspruch der Religionen in der Sagesse bestreitet, gleichwohl aber seiner eigenen Lehre einen universalen Index verleiht. Das entscheidende Moment ist dabei die Aufhebung jeglicher Fremdbestimmung und die endogene Grundlegung der Moral in der Natur, der Vernunft und dem Willen des Menschen selbst. Ethik darf nicht von äußeren Umständen, von exogenen Willen in ihrer Bestimmung abhängen, denn diese erweisen sich als labile und letztlich willkürliche Begründungsbereiche sittlicher Normen. Wahre Moral kann sich nach Ansicht Charrons nur auf Natur, Vernunft und Willen des menschlichen Individuums gründen. Und dieses Individuum kann seine sittliche Verwirklichung nur in Bindung an sich selbst, niemals jedoch vermittels der Mitmenschen erreichen. Die Versubjektivierung der Ethik geht also mit einer gleichzeitigen Universalisierung einher, und dieser Zusammenhang wird erst sehr viel später, bei Kant nämlich, der in dieser Hinsicht der neustoischen Tradition verpflichtet ist, seine prägnanteste Ausformung erhalten. Dieser Aspekt wird bei Charron stärker herausgestellt als etwa bei Lipsius oder Du Vair, wo der Einordnung in die allgemeine Natur im Sinne der Schöpfung Gottes noch stärkeres Gewicht zufällt. Von hier her gilt es so entscheidende Formulierungen bei Charron zu begreifen, wie etwa diejenige, daß der Mensch das Gute tut, weil er Mensch ist, nicht aber, weil er etwa dem universalistischen Begriff des Guten als einer außerhalb seiner existierenden Wirklichkeit oder Setzung entsprechen muß. Für Charron ist nur eine unabhängige Moral potentiell in der Lage, in das Selbst als dem Zentrum der Motivation und Legitimation einzudringen. Eine fremdbestimmte, etwa auf religiöse Setzungen gründende Moral könnte aus sich heraus gar nicht in die entscheidenden anthropologischen Tiefendimensionen vordringen. Die natürliche Begründung von Moral hat für Charron eine Einstellung zur Folge, die sowohl pantheistischen als auch deistischen Charakter hat. Wer der Natur gemäß handelt, „agit vrayement selon Dieu, car c'est Dieu, ou bien sa premiere, fondamentale et universelle loy qui l'a mis au
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monde, et qui la premiere est sortie de luy; car Dieu et nature sont au monde, comme en vn estât, le roy son autheur et fondateur, et la loy fondamentale qu'il a bastie pour la conservation et regle dudit estât. C'est un esclat et rayon de la divinité, une defluxion et dépendance de la loy eternelle qui est Dieu mesme, et sa volonté: ,quid natura nisi Deus, et divina ratio toti mundo et partibus ejus inserta?"' 1 5 Ein dreifacher Naturbegriff also liegt zugrunde. Natur als (a) Ausfluß der Göttlichkeit, (b) als universales Gesetz, hinter dem Gott selbst und sein Wille stehen (Naturordnung) und (c) die je individuelle Natur als spezifische Ausprägung, das Naturell. In jeder der drei Perspektiven eignet der Natur selbst und immanent eine Universalität, verweist der Naturbegriff auf eine deistische Grundhaltung. Diese zeigt sich im Bereich der Theologie etwa darin, daß Charron keinerlei Neigung zu theologischen Spekulationen zeigt. Charakteristischerweise hält er den allen Religionen innewohnenden Zug, daß Gottheit durch Gebete und Opfer zu besänftigen sei, für eine Entäußerung des Geistes, eine „aliénation de sens". 1 6 Durch die Anwendung des deistischen Prinzips auf die Vernunft selbst gehört Charron in die Tradition des Fideismus. Gelänge es der Innerweltlichkeit sich so weit zu erheben, daß sie das Ideal des Weisen zur völligen Verwirklichung brächte, dann bestünde ihre Krönung eben in der Bindung an den letzten Ursprung, d. h. Religion und Gott sind Folgen der ihnen vorausliegenden Moral, zugleich aber auch deren höchste Vollendung. Die Gestaltung der Lebensführung des Menschen als eines natürlichen, mit Vernunft und Willen ausgestatteten Wesens bildet dabei jedoch stets das Zentrum. Dies schließt nicht aus, daß sich Charron, und hier steht er in theologischer Hinsicht in der Tradition Augustins, auch noch der göttlichen Gnade als der letzten und vollkommenen Erhöhung des in seinem Grunde endogenen moralischen Lebens versichern möchte. Die Philosophie, und d. h. des näheren die Ethik, geht der Religion grundsätzlich voraus. Ja, letztere wird als Teil der Philosophie aufgefaßt, denn erst deren oberstes Gebot der Gerechtigkeit, jedem nämlich das Seine zu gewähren, setzt Religion in den Stand des Anspruchs, begründet Gottesdienst im strengen Sinne, da Gott gerecht zu werden oberste Pflicht ist. Religion ist damit ein Teilgebiet der Ethik und deren Vollendung wird im Zusammengehen von „preudhommie" und „grace" als einander zugehöriger und dennoch deutlich unterschiedener Größen gesehen. Zwar
15 16
Sag. II, 3, 8 2 - 8 3 ; vgl. Disc, ehret. Sag. II, 5, S. 125.
I, 9, S. 72. Vgl. Seneca, De ben. IV, 7.
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ergibt sich eine Aufstufung von natürlicher, erworbener und durch göttliche Gnade gekrönter preudhommie. Wie ein Schauspieler jedoch sich ohne Souffleur betätigen kann, dieser jedoch nicht ohne jenen, so ist auch das Verhältnis von Ethik und Religion, von Mensch und Gott so beschaffen, daß die Menschen Gottes recht eigentlich nur noch zur letzten Krönung ihrer Lebensführung bedürfen. Um die Möglichkeit der Perfektibilität zu sichern, dehnt Charron die für den Weisen charakteristische Freiheit des Urteils auf alle Bereiche aus, ausgenommen lediglich die „vérités divines qui nous ont esté revelées, lesquelles il faut recevoir simplement avec toute humilité et submission". 1 7 Der Gedanke der Sicherung göttlicher Gnade geht hier mit einer fideistischen Verbindung von Glaube und Vernunft zusammen. Im Verhältnis des Einzelnen zur Religion und zu Gott ergeben sich aus der beschriebenen Auffassung zwei Aspekte, die sowohl in der Sagesse als auch in den Discours chrétiens anzutreffen sind. Zum einen verfügt der Mensch in seiner Schwächlichkeit nicht über eine der unendlichen Größe Gottes entsprechende Erkenntnisfähigkeit. Daraus wird die Notwendigkeit eines inneren Gottesdienstes im Geiste und in der Seele als die sachgemäßeste Verehrungsform abgeleitet. Zum anderen ist Gott nicht eine im Alltag und in seinem wirklichen Sosein direkt erfahrbare Größe. Das eigentümliche Wissen um Gott besteht gerade in einem Wissen um das Nichtwissenkönnen um ihn. Gott ist seinem Wesen nach verborgener Gott, ist deus absconditus (vgl. Jes. 45,15). Auf diese Weise wird u. a. erreicht, daß Gott der kontingenten und krisenhaften Welt entzogen wird, und der Rückzug Gottes ins Unbegriffene und Verborgene geht mit dem Rückzug des Individuums aus der Gesellschaft einher. Die „superstition" wird als diejenige Form geschildert, die „ne laisse vivre en paix ny Dieu ny les hommes"; sie bewege sich nur in den Extremen von entweder zu großer Furcht oder übersteigerter Devotion. Im Gegenzug zu dieser kleinmütigen Schwäche entwickelt Charron das Bild einer kraftvollen und verinnerlichten Frömmigkeit. Kontemplation und Adoration im Geiste bilden die eigentliche Verehrungsform. Diese Verinnerlichung der Frömmigkeit entspricht durchaus dem Gesamtbemühen der Sagesse, eine ausschließlich auf das Individuum gegründete innerweltliche Moral zu entwerfen. Die Verlagerung des qualitativ höchstwertigen Gottesdienstes aus der Gemeinde in die subjektive Kontemplation eines jeden Einzelnen ist in ihrem Zusammenhang mit dem Rückzug aus der kollektiven Welt zu sehen. Und hier wie dort findet sich das für die 17
Sag. II, 2, S. 34; vgl. II, 3, S. 101 ff.
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neue Moral so charakteristische sekundäre Wiederhineinstellen in die Welt, um bestimmte Funktionen zu erfüllen, die den zuvor vollzogenen Rückzug und die innere Distanz gleichsam absichern und stabilisieren sollen. Im politischen wie im religiösen Bereich fordert Charron, daß der um die eigentliche Handlungs- und Verehrungsform wissende Weise sich dennoch an den Zeremonien der Öffentlichkeit beteiligt, da diese staatsund gemeinschaftserhaltend sind. Der Vorstellung Augustins folgend betont er, daß „Dieu veust estre servi d'esprit, et que ce qui se fait au dehors est plus pour nous que pour Dieu, pour l'unité et edification humaine que pour la vérité divine, ,quae potius ad morem quam ad rem pertinent'." 18 Weil die christliche Religion Inneres und Äußeres in diesem Sinne am besten miteinander verbunden habe, ist sie nach Ansicht Charrons auch geeignet, sowohl das Individuum als auch größere Massen unterschiedlicher Geister zu erreichen. Die religiöse Verinnerlichung hat ihre Mitte in der Anthropozentrik des gesamten Weltbildes, was sich deutlich etwa daran zeigt, daß der Abschnitt „De l'homme" nicht nur das umfangreichste Kapitel in den Discours chrétiens bildet, sondern auch vollständig in das Erste Buch der Sagesse übergegangen ist. In diesem Punkt unterscheidet sich Charron grundlegend von Du Vair. Wir haben gesehen, daß bei Du Vair stets die Pflicht gegenüber Gott an erster Stelle der Pflichtenhierarchie steht. Das führte zu einem Praxisbezug vermittels Gott und zu einer Sozialphilosophie, an deren Spitze Gott stand. Bei Charron dagegen ist der Mensch in einem schon viel entschiedeneren Sinne Wesen der Subjektivität. Die oberste Pflicht des Menschen besteht in der Pflicht sich selbst gegenüber, und von ihr her erschließen sich erst alle weiteren Bereiche, auch derjenige der Religion. Darüber hinaus steht im ethischen wie im religiösen Bereich der Wille an ganz entscheidender Stelle, und innerhalb der auch für den religiösen Bereich zentralen Dreiheit von pouvoir, savoir und vouloir wird dem Willen die wichtigste Aufgabe zugesprochen. Von dieser Dreiheit her bestimmen sich alle Möglichkeiten, und zur deutlicheren Hervorhebung erinnern wir hier noch an die Tatsache, daß Charron auch das während der Renaissance verlorengegangene Dogma der Erbsünde nicht kennt, daß er trotz aller menschlichen Unzulänglichkeiten ein optimistisches Menschenbild hat, das in der menschlichen Natur unter Verzicht auf religiöse Abhängigkeiten gründet. Charron will in einem endogenen Sinne die 18
Sag. II, 5, S. 145; vgl. Augustin, De av. Dei VI, 10. Disc, chrét. I, 5, S. 19: „La vraye cognoissance de Dieu est vne parfaite ignorance de luy"; Sag. II, 5, S. 135ff. (superstition, Frömmigkeit).
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menschliche Lebensführung als solche gestalten, nicht aber denkt er von der Warte eines außerhalb des Menschen und der Welt befindlichen Jenseits her. Anzeichen dafür ist auch die materialistische Komponente seines Denkens. Die Materie geht jeglicher Form voraus, ebenso wie der Körper der Seele. „Par raison le corps est l'aisné de Pame, comme la matiere de sa forme". 19 Wie für Montaigne, so ist auch für Charron die Frage des Todes von großer Wichtigkeit. Im System der innerweltlichen Lebensführung kommt dem Tode eine zweischneidige Rolle zu. Einerseits ist er Endpunkt des Lebens und von daher eigentlicher Richter über alles vorangegangene Leben. Andererseits beendet er das Leben im radikalsten Sinne, was ihn entweder das Ende schlechthin bedeuten lassen kann oder ihm aber die Qualität eines erlösenden und notwendigen Durchgangs zu weiterer, qualitativ neuer Existenz zusprechen könnte (etwa in Form der Unsterblichkeit der Seele). Charron deutet in der Sagesse den Tod ausschließlich als die herausragende letzte Station der Beurteilung, und er holt ihn auf diese Weise in die Lebensführung selbst herein. Der Stoizismus ist durch das Bestreben gekennzeichnet, den Menschen gegenüber Tod und Schicksal lebensfähig zu erhalten, und auch bei Charron handelt es sich hier um nichts Geringeres als den Versuch, sich über den Tod in gewisser Weise gerade dadurch zu erheben, daß man sich in seine notwendige Unausweichlichkeit unterordnend einfügt. „C'est chose excellente que d'apprendre à mourir, c'est l'estude de sagesse qui se resoult à ce but." Wenn die Frucht der Weisheit neben der wahren Geistes- und Seelenruhe in dem Bereitsein zum Tode besteht, so bedeutet dies u. a. auch, daß selbst die Qualität des Todes im Möglichkeits- und Einwirkungsbereich der ,sagesse humaine' liegt. Vor dem Hintergrund der Gedanken Senecas über das sich wechselseitig bedingende Verhältnis von Leben und Tod, wo dem Tod konstituierende Kraft für das Leben zukommt, unterliegt dem Gedankengang Charrons durchaus das Bestreben, den Tod als eine Dimension der Existenz selbst herauszustellen. Wenn der Tod in diesem Sinne unausweichlich ist, so ist er zugleich auch etwas dem Menschen Unveräußerliches. Die Freiheit zum Tode wird von hier aus zum Zeichen der besonderen Möglichkeit des Menschen. „La vie peust estre ostée à toute homme par toute homme, la mort non". Allerdings gerät Charron sogleich in die charakteristische Schwierigkeit, diese höchste Freiheit gegenüber dem Leben nicht so einfach verwirklichen zu können, weil er 19
Sag. I, 2, S. 17; Vgl. Disc, chrét.
II, 14 (De l'homme); I, 4, S. 33ff. (Willen).
R e l i g i ö s e A p o l o g e t i k und natürliche B e g r ü n d u n g
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gerade auf Ausübung von Standfestigkeit, Tugend und Kampf als der anderen wesentlichen Dimension der Existenz abstellt. Letztlich wendet sich Charron gegen den Selbstmord und bewertet standhaftes Ausharren höher. „ O r la vraye et vive vertu ne doibt jamais ceder: les maux et les douleurs sont ses alimens : il y a bien plus de constance à user la chaîne qui nous tient, qu'à la rompre; et plus de fermeté en Regulus qu'en Caton." 2 0 Die innere Funktion der Religion besteht für Charron wie für Du Vair nicht in der Gestaltung des Lebens in der Welt, sondern in der Verbindung des Menschen „avec l'autheur et principe de tout bien, reunir et consolider l'homme à sa premiere cause, comme à sa racine". Die Religion ist nicht mehr der normierende Bestimmungsgrund der menschlichen Lebensführung. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Nachdruck, mit dem Charron ,preudhommie' und Religion auseinanderhält. Beide sollen, wie wir bereits im Zusammenhang der Gnade gesehen haben, im höchsten Stadium zusammengehen, jedoch nicht vorschnell vermischt werden, denn zwischen ihnen gibt es Wertunterschiede. Was die Überlegung betrifft, „qui vaut mieux, religion ou preud'hommie, je ne veux traiter cette question: seulement je diray, pour les comparer hors de là en trois points, que la premiere est bien plus facile et aysée, de plus grande montre et parade, des esprits simples et populaires: la seconde est d'exploit beaucoup plus difficile et laborieux, qui a moins de montre, et est des esprits forts et genereux." Sofort diskutiert Charron die Konsequenzen solcher Bewertung und begreift Religion als eine der Ethik nachgeordnete Größe. Religion ist als Frömmigkeit die erste Pflicht der Tugend der Gerechtigkeit. Religion ist eine besondere Tugend. Damit sind Naturalisierung und Immanentisierung der Moral und der Weisheitsvorstellung eigentlich vollständig. Die menschliche Natur und deren Tätigkeit und Gesetz sind Ort der Weisheit; der menschlichen Natur kommt in einem intransitiven und engogenen Sinne die Dignität der Weisheit zu. „Je veux que, sans paradis et enfer, l'on soit homme de bien." Tugendhaftigkeit bedarf nicht länger mehr religiöser Prämien oder Strafen, um sich selbst zu begründen und zu verwirklichen, sondern die Möglichkeit zu tugendhafter Selbstverwirklichung ruht in der dem Menschen eigenen Natur. Tugend, Vernunft und Willen bilden die um sich selbst wissende und sich selbst zum Ziele habende Grundstruktur des Menschen. Daß diese Ausblendung der Religion aus dem Begründungszusammenhang von Moral ihren historischen Hintergrund in den Religions- und Bürgerkriegen hat, ist unverkennbar, 20
Sag. II, 11, S. 2 6 6 ; S. 236, 238, 252, 2 6 2 ; vgl. M o n t a i g n e , Ess. I, 18; Seneca, Ep. 30.
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wenn wir ζ. B. Charrons Schilderungen der katastrophalen Folgen einer Einstellung betrachten, die ihre ethische Grundlegung und ihre Handlungsanweisungen lediglich aus der Religion bezieht. Im Dienste der Religion scheint dann jedes Mittel recht (trahison, perfidie, sédition, rébellion, offence), ja sogar „louable, meritoire et canonisable." 21 Die Erfahrung und das Bewußtsein uneinsehbarer und gefährdender Zufälligkeiten, eines unüberschaubaren Geschehens, das eine Auflösung und Vernichtung des Individuums herbeiführen kann und dieses aufgrund der drohenden Gefahr zwingt, sich zu ihm zu verhalten, muß Identitätsprobleme im Dreierverhältnis von innerer, äußerer und gesellschaftlicher Natur zur Folge haben. Die Dissoziation dieser Dreiheit und die geschichtliche Erfahrung dieser Auf- und Abspaltung bilden den sachlichen Ausgangspunkt des Neustoizismus. In den Discours chrétiens läßt sich dieser Problemhorizont in seiner theologischen Einfärbung herausschälen. „La grande question & difficulté est, à bien accorder & ioindre la liberté de la volonté humaine & contingence des choses auec le decret infaillible de la volonté diuine, & est tellement grande que des plus subtils l'ont dit inexplicable, & hors de nostre science en ceste vie." 2 2 Dies bedeutet, daß in dem gleichen Maße, in dem Gott aus der Krise herausgenommen werden muß, um ihn als weit zurückgezogene, absolute Größe zu denken (d. h. um hinsichtlich der Individuen seine identitätsstiftende Kraft zu retten, die ja sonst an der krisenhaften Kontingenz fraglich würde), daß in dem gleichen Maße dieser verborgenen Verallgemeinerung also, der letzten Universalisierung Gottes, gerade diese Allgemeinheit mit der Frage der menschlichen Freiheit in Konflikt gerät. Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß eine in und vermittels Gott begründete Identität mit der von der Erfahrung geschichtlicher Kontingenz geforderten Identität zusammenstößt. Genau an diesem Ort hat der Neustoizismus eine seiner Funktionen. Verdeutlichen wir das Problem an zwei Bereichen, an der Stellung der Providentia und an der Frage nach menschlicher Freiheit. In den Discours chrétiens nimmt die Frage der „providence" breiten Raum ein. Will die monotheistische Religion des Christentums auch in der Krise als lebensermöglichend und lebensgestaltend wirksam bleiben, so bedarf es eines sinnvollen Zusammenhangs von Gott und krisenhafter Umwelt. Diesen Brückenschlag soll die Vorsehung leisten. Göttlicher Vorsehung wird selbst noch die Krise im radikalsten, d. h. in ihrem die menschliche 21 22
Sag. II, 5, S. 141, 1 4 8 - 1 5 6 . Disc, chrét. I, 4, S. 38.
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Existenz gefährdenden Sinne zugeschrieben (als Strafe, als Bewährung, als unergründliche Gerechtigkeit), um der christlichen Religion ihre zentrale Stellung, ihre einheitsstiftende Funktion im Identitätsdreieck zu erhalten. D e m Problem der Identität und weniger der Rechtfertigung und Entlastung Gottes verpflichtet lehnt Charron die Prädestination im strengen Sinne ab und begreift sie lediglich als eine besondere Art der Vorsehung. „La Predestination est vne speciale Prouidence." Dies bedeutet eine Sicherung des menschlichen Selbsteinsatzes und der rationalen Autonomie, weil im Rahmen der umgreifenden Vorsehung menschliche Freiheit und Handlung möglich bleiben, während Prädestination diese in einem deterministischeren Sinne festlegt. Wäre Gottes Freiheit mit der menschlichen Freiheit identisch, so gäbe es keine Konflikte zwischen beider Wollen. Sobald Gott jedoch außerhalb des Menschen begriffen wird, entsteht eine Spannung. Als Lösung gilt es letztlich einen der beiden Begriffe so zu bestimmen, daß sein Vollzug gerade die Erfüllung des anderen bedeutet. Dies geschieht etwa in der Vorstellung, daß der menschliche Wille als frei gesetzt ist, und daß ,Deo parere libertas est'. Das Resultat einer derartigen Versöhnung besteht dann in der These, daß (göttliche) Notwendigkeit weder die Kontingenz der Krise noch die menschliche Freiheit aufhebt. Ein Hinweis darauf, daß diese Konflikte tatsächlich der geschichtlichen Situation entstammen, findet sich etwa darin, daß für Charron Prädestination und Reprobation erst in Zeiten der Dekadenz zum Tragen kommen. Das Feld „ d e la predestination & reprobation est la cheute & misere universelle du genre humain (car la predestination n'est autre chose que le choix que Dieu a fait de ceux qu'il a voulu releuer de ceste cheute & misere; la reprobation est l'abandon des autres en icelle." Deutlich aber gilt es für Charron herauszustèllen, daß der Mensch grundsätzlich dieser Kontingenz nicht eingeordnet werden und anheimfallen darf. „II est bien certain que l'homme n'a point esté faict à l'hazard & par cas d'aduenture, ny par rencontre & occasion, ou petite & legere cause & fin, n'ayant Nature chose en laquelle & pour laquelle elle doiue plus se gratifier & glorifier." 2 3
3. Weisheit als Preudhommie Den Werken von Lipsius und D u Vair lag die Absicht zugrunde, den Menschen in der ihn umgebenden Situation der Krise zu festigen und der 23
Disc. Chrét. I, 11, S. 110; vgl. I, 8 - 1 0 , bes. S. 97.
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Philosophie deshalb eine lebensnützliche Aufgabe zu weisen. Bei beiden Autoren stand somit die gezielte Auseinandersetzung mit den ,publica mala' im Zentrum, aus dem dann die sachgemäßesten Handlungs- und Verhaltensformen hervorgehen sollten. Diese ganze Arbeit liegt für Charron gleichsam im Vorfeld, sie ist von seinen beiden berühmten Zeitgenossen geleistet worden. Die Sagesse setzt auf einer Stufe ein, die von den durch Lipsius, Du Vair, Montaigne, Bodin und Huarte gesicherten Ergebnissen ausgeht. Der besonders von Lipsius und Du Vair thematisierte Ausgangspunkt der ,publica mala' ist zwar in Charrons Werk stets gegenwärtig, wird jedoch in der Sagesse nicht explizit einer Bearbeitung unterzogen, ausgenommen vielleicht in dem Abschnitt über die Weise „Se porter modérément et également en prospérité et adversité", wo Charrons Darlegungen aber auf der Philosophie morale Du Vairs beruhen. Senecas Gedanken zum Verhalten des Weisen in schwierigen und widerwärtigen Situationen bilden hier in dichtgedrängter Form die Mitte der Argumentation. 24 Besonders bei der Betrachtung des Zweiten Buches der Sagesse, das Charron selbst als sein eigenstes begriffen hat, bekommt man den Eindruck, als wolle er das für Montaigne so charakteristische Suchen beenden, um auf der Basis menschlicher Selbstkenntnis ein System, ein Lehrgebäude zu errichten, das einen neuen, widerstandsfähigen und sich selbst im Mittelpunkt des Interesses behauptenden Menschen herausbilden soll. (A) „Enseigner l'homme à se bien cognoistre, et l'humaine condition", (b) „l'instruire à se bien regier et moderer en toutes choses" und (c) detaillierte Verhal tensan Weisungen, die mittels der vier Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Standfestigkeit, Mäßigung) darauf abzielen, die Vielzahl möglicher Verhaltens- und Entscheidungssituationen einem strukturierenden Vorgriff zugänglich zu machen — dies ist die dreifache Stoßrichtung der Sagesse, die auch in der formalen Dreiteilung des Werkes ihren Ausdruck findet. Charron rückt den Menschen intensiver und entschlossener als noch Lipsius oder Du Vair in das Zentrum, erhebt ihn zur entscheidenden Instanz, macht ihn durch Rückgriff auf seine Natur zum Subjekt; „la vraye science et le vray estude de l'homme, c'est l'homme." 25 Auf diese Weise ist der Neustoizismus an dem Prozeß jener Verinnerlichung und Versubjektivierung beteiligt, der für die folgende Zeit philosophisch und politisch-praktisch von hoher Bedeutung ist. In dem hier ange-
24 25
Sag. II, 7. Seneca, Ep. 85; Quaest. Sag. I, 1, S. 2.
nat. III, praef.
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sprochenen Wandel geht es nicht um eine bloße Veränderung von Normen, sondern der Bereich der Grundsätze, aus dem Normen erst erwachsen, erfährt eine Umstrukturierung. Erst dieser Versuch macht den Neustoizismus zu einer grundlegenden Bewegung im wörtlichen Sinne. Das Grundsatzbewußtsein selbst (und nicht das Normenbewußtsein) soll neue Qualität erhalten, und auf dieser Ebene wird die christliche Lehre als Normenbegründung und Normeninstanz durch das stoische Natur- und Vernunftdenken weitgehend substituiert. Bereits im Vorwort der Sagesse wird das stoische Gegensatzpaar von Natur (= Vernunft) und opinio (oder Leidenschaft) deutlich herausgestellt, und der Natur zu folgen bedeutet den virtuellen Besitz aller Momente von Weisheit. Allerdings erfährt das rein stoische Grundmuster zwei wichtige Veränderungen. Zunächst sind „esprit, jugement et entendement humain" der Gefahr einer Verfälschung grundsätzlich aufgrund dreier Momente ausgesetzt: (a) der stets umherstreifenden, unruhigen Freiheit und Disponibilität des Geistes selbst; (b) des Ansteckung bewirkenden irrigen Meinens der (Außen)Welt und (c) der Korruptionsfähigkeit des Willens und der Macht der Leidenschaften. Sodann kennt Charron keine strenge Gegenüberstellung von ,ratio' und ,opinio', sondern ,opinio' tritt stets mit der imagination' zusammen auf. Die imagination' (Vorstellungskraft) kann sowohl positive, nach vorn treibende, als auch schlechte, verstellende Funktionen haben. Ihre Negativseite ist gleichsam die in völlig stoischem Lichte erscheinende ,opinion'. Sie ist jenes falsche Meinen, das dem gemeinen Volk und den Sinnen entspringt, im Gegensatz zur Vernunft (raison) steht, Ausgangspunkt aller Übel und Leidenschaften ist und als Führer der Dummköpfe und des Volkes auftritt. „Les hommes sont tourmentés par les opinions qu'ils ont des choses, non par les choses mesmes." 2 6 Von der natürlichen Grundlegung her erhält auch die Wissenschaft ihren Standort, und Charrons vehement vorgetragener Angriff gegen die Scholastik hat hier seine Wurzel. Scharf wendet er sich gegen das bloße Aneignen von Wissen, gegen bloßes Angefülltsein des Gedächtnisses und der Vorstellung, weil damit die eigene Natürlichkeit, die ,sagesse', die Urteilskraft, der Wille und das Gewissen nicht nur außer acht gelassen, sondern ausgesprochen unterdrückt werden. Dieser Typus von Wissenschaft erhält seine Legitimation aus Bereichen, die außerhalb des NaturGrundsatzes liegen. Weisheit und dergestalt verstandene Wissenschaft werden so für Charron einander ausschließende Gegensätze. „La science 26
Sag. I, 17, S. 140; vgl. I, 15.
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est un petit et sterile bien au prix de la sagesse." Vor diesem Hintergrund erscheinen die Gegner der ,sagesse humaine' als „pédants, formalistes ou superstitieux". Demgegenüber muß Wissenschaft in der Sicht Charrons stets instrumenteilen Charakter haben, muß Mittel auf dem Wege zu höherwertiger Weisheit sein, muß die sagesse selbst zum Gegenstand haben, und gerade die Weisheitsträchtigkeit muß zum entscheidenden Kriterium von Wissenschaftlichkeit werden. „Celles (= des sciences) que je recommande sur toutes, et qui servent à la fin que je viens de dire, sont les naturelles et morales, qui enseignent à vivre et bien vivre, la nature et la vertu, ce que nous sommes et ce que nous debvrons estre. Soubs les morales sont comprinses les politiques, oeconomiques, les histoires. Toutes les autres sont vaines et en l'air, et ne s'y faut arrester qu'en passant." Die Methode der Unterweisung soll dabei an derjenigen des Sokrates mit dem Ziel orientiert sein, die Formung des Geistes auf Natur und Universalität auszurichten. Das hat zur Folge, daß „l'esprit se roidist, apprend à ne s'estonner de rien, se forme à la resolution, fermeté, constance." 27 Die Konzentration auf den Menschen und die Verinnerlichung sind jedoch deutlich von einem mönchischen oder einsiedlerischen Leben zu trennen, denn Ziel der sagesse soll die innerweltliche Lebensführung sein, und die „vie civile ou sociale" wird positiv gegen eine „vie solitaire" abgehoben. Der bloße Rückzug im Sinne eines Entzugs ist Ausdruck von Schwächlichkeit und vermag vor Lastern keineswegs zu schützen. „Fuir n'est pas eschaper, c'est quelquefois empirer son marché et se perdre. ,Νοη vitat sed fugit: magis autem periculis patemus aversi'." 28 Allerdings handelt es sich bei Charron nie um eine so nachdrückliche Stellungnahme für das öffentliche Leben wie etwa bei Du Vair, und es geht ihm stets auch um eine distanzierte und sekundäre Zugehörigkeit zum sozialen und staatlichen Leben. Was die Bestimmung der Vernunft angeht, so wird das bei Lipsius und D u Vair anzutreffende Sanktuarium der Ratio bei Charron scheinbar aufgehoben. Vernunft und Verstand werden nicht näher unterschieden (,raison' und ,entendement' meistens identisch verwandt). Ganz allgemein können wir nur sagen, daß Verstand eher die unmittelbare Begebenheit, den unmittelbaren Kontakt des Individuums zur Wirklichkeit bezeichnet, während Vernunft als die zugrunde liegende Qualität erscheint. Unterschieden sind beide noch vom ,esprit', dem Geist im Sinne von Regsamkeit 27 28
Sag. III, 14, S. 110; S. 88, 102. Sag. I, 56, S. 409; Seneca, Ep. 104.
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oder Bewegung, der gerade aufgrund dieses Merkmals relativistisch-skeptisch zu beurteilen ist; „tout ce qu'il y a de mal, non seulement en l'homme, mais au monde, est forgé et produict par l'esprit". Der menschliche Geist ist keine von vornherein gesicherte Größe, vielmehr kann er sich aufgrund seiner ,vivacité' selbst zuwiderhandeln, er ist korruptionsfähig. Allerdings bleiben Wahrheitssuche und über die bloß daseiende Natur hinausgehende „invention" (Erfindungsgeist) stets seine beiden grundsätzlichen Ziele. Auch die Vernunft (la raison) „a tant de formes, est tant ployable, ondoyante." 29 Jedoch ist gerade sie als Strahl göttlicher Vernunft im Menschen die Grundlage ethischer Prinzipien; denn nur Vernunft führt zur Aneignung des höchsten Gutes der Seelenund Geistesruhe. In der Vernunft gründet die Möglichkeit der Ethik, und Vernunft ist zugleich die entscheidende Fähigkeit zur Wahrheitssuche. Als Ausfluß der Göttlichkeit ist die Vernunft dem Strudel relativer Skepsis enthoben, als menschliches Instrument der Wahrheitssuche jedoch wird sie in Frage gestellt. Diese Dissoziation zielt letztlich aber dennoch gerade auf eine Sicherung der menschlichen Vernunft, denn Vernunft wird sowohl als seiender Logos als auch als präcartesianisches cogito, d. h. sowohl objektiv als auch subjektiv gefaßt, und der systematische Zweifel, der Suspens eines als objektiv ausgegebenen subjektiven Urteils, dient letztlich der Herausstellung dieser subjektiven Vernunft selbst, insofern deren Maßgabe und Geltung erst an jenem Punkte versichert werden, wo sie im konsequenten Rückgang auf sich selbst sich ihrer Gleichstrukturiertheit mit der universalen Vernunft inne und bewußt geworden ist. Die nach diesem Läuterungsvorgang der subjektiven Vernunft entspringenden Urteile beanspruchen als Akte der Subjektivität jetzt universale Gültigkeit. Dieser Vorgang hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der (bereits behandelten) immanenten Emanzipation der Sekundärursachen von der zwar umgreifenderen, aber dadurch nicht präsenteren Primärursache. Daß Charron eine solche Sicherung der Vernunft anstrebt, zeigt sich auch in der gezielten Verwendung der imagination' als dritter Größe neben ,opinion' und ,raison'. Die ,imagination' ist Sitz falschen Meinens und Ursprungsort der Leidenschaften, wodurch die Vernunft, auch als spekulatives Instrument der Wahrheitssuche, in ihrer Qualität von den störenden Leidenschaften frei gehalten wird. Was dann die Auseinandersetzung mit den Leidenschaften betrifft, so übernimmt Charron explizit die Grundraster und Argumentationen von 29
Sag. I, 39, S. 258; I, 37, S. 236; vgl. I, 15.
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D u Vair, auch und gerade deren politische Analogisierungen (raison, Fürst; Aestimativ, Magistratur; Sinne, Volk). „Ainsi, en l'homme l'entendement est le souuerain, qui a soubs soy une puissance estimative et imaginative comme un magistrat". 3 0 Für diesen ganzen Zusammenhang gilt grundsätzlich all das, was wir oben zu D u Vair angemerkt haben, denn lediglich in der Klassifizierung herrscht zwischen beiden keine völlige Ubereinstimmung. Freiheit als in sich gründende Ruhe des Geistes erfordert den Kampf gegen die Leidenschaften, gegen die „confusion et captivité de ses passions et tumultaires affections", und die beiden vorbereitenden Kapitel zur eigentlichen Weisheit als ,preudhommie' sind von der Absicht getragen, den Weisen aus den unsicheren und gefährdenden Niederungen des Volkes herauszuheben. Die Mittel zur Ausschaltung der Leidenschaften sind nun keineswegs beliebig. Reine Apathie etwa ist für Charron Ausdruck einer schwachen Seele, da man Weisheit und Constance nicht ohne genaue Kenntnis der Dinge erlangen kann. Eine Leidenschaft durch eine andere zu ersetzen oder zu überwinden ist Ausdruck des Übels selbst, weil die Leidenschaften nie im Gleichgewicht sind. Eine vorbeugende Flucht kann zwar ein Uberranntwerden durch die Leidenschaften verhindern, jedoch ist dies keine Bändigung ihrer selbst. Die vierte und die beste aller Kampfformen ist nach Charrons Ansicht „une vive vertu, resolution et fermeté d'ame par laquelle on voit et on affronte les accidens sans trouble; on les lutte et on les c o m b a t . " 3 1 Entscheidend bei dieser kämpferischen und aktiven Haltung ist die Einsicht in die Macht, die die Leidenschaften über uns haben, und in diejenige Gewalt, die wir über sie haben. Allerdings erhält die hier durchschlagende stoische Härte ihre für Charron charakteristische Relativierung in dem Versuch, den ,désirs et plaisir' die ihnen zukommende, durchaus natürlich-positive Stellung zu weisen. Dies geschieht vor dem Hintergrund des bereits für Montaigne so gewichtigen Grundsatzes: „C'est une science divine et bien arduë, que de sçavoir jouir loyalement de son estre, se conduire selon le modelle commun et naturel, selon ses propres conditions". Nun darf man aber diese „desirs et plaisirs", wie auch die später im gleich natürlichen und reglementierenden Sinne behandelten „voluptés", nicht mit den Leidenschaften verwechseln und von daher etwa vermuten, daß Charron Teile seiner Frontstellung wieder zurücknehme. Die Leidenschaften sind der 30
Sag.
I , 19, S. 148; S. 146: „ E t n'ai point veu qui les despeigne plus na'ifvement et riche-
ment q u e le sieur D u Vair en ses petits livrets moraux, desquels e me suis fort servy en cette matière passionnée." Vgl. Sag. I, 19—34. 31
Sag. I I , 1, S. 1 6 - 2 1 .
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menschlichen Weisheit entgegengesetzt, die desirs und plaisirs dagegen gehören im positiven Sinne zur condition humaine. Hier darf also kein Gegensatz konstruiert werden zwischen stoischen und epikureischen Momenten. So geht Charron in keinem Falle davon aus, daß die,desirs et plaisirs' eine Struktur darstellen, die, einmal freigesetzt, sich gleichsam selbst regulierend und mit Zielen versehend leiten könnte. Auch der Genuß ist strenger Disziplinierung unterworfen, und Charron erstellt vier Regeln. Man muß (a) stets nur wenig begehren, ideal ist der Zustand des Nichtbegehrens, (b) nur natürlichem Begehren nachgehen; die Natur selbst hat verfügt, daß sie zu befriedigen ist, (c) mit Mäßigung genießen, ohne Schaden für sich und andere und (d) den Bereich des Begehrens begrenzt halten, den unmittelbaren Bezug zur eigenen Person wahren. 3 2 Von hoher Bedeutung für Charrons Denken ist die zentrale Stellung des Willens. Aufgrund seiner vagabundierenden Disponibilität ist der Geist, wie wir sahen, in starkem Maße in den Strudel relativistischer Skepsis geraten, selbst Verstand und Vernunft sind für Charron keine über jeden Zweifel erhabenen Größen. Weitgehend davon ausgenommen scheint allein der Wille (la volonté), und die rein stoische Opposition von ,ratio' und ,opinio' tritt bei Charron in der abgeänderten Form als Gegensatz von ,volonté' und ,opinion' auf. Während etwa bei Lipsius oder D u Vair die kraftvolle Willenshaltung ihren Grund letztlich in der Vernunft hatte, so ist der Wille bei Charron zwar stets auch vernunftgeleitet, er bedarf eines vernunftorientierten Einsatzes, trägt seine Begründung und Bestimmung jedoch bereits in sich selbst, manchmal schon als ein Wille zum Willen anmutend. Das später für Descartes so zentrale Verhältnis von Intellekt und Willen liegt hier bereits bei Charron in seiner Grundstruktur vor. Diesen voluntaristischen Zug gilt es im Auge zu behalten, denn er bildet eine Grundstruktur aus, von der her sich das System Charrons entfaltet. Die Willensbetonung ist dann ihrerseits in die Forderung Epiktets einzubinden, sich nur auf das zu konzentrieren, was in menschlicher Macht steht. Der Wille kann per se nur etwas wollen, was auch in seinem Einwirkungsbereich liegt. Für die starke Bedeutung des Willens lassen sich drei Argumente nennen. Zunächst hängt die Verfassung des Menschen, das menschliche Befinden fast ausschließlich vom Willen ab, „eile seule est vrayement nostre et en nostre puissance; tout le reste, entendement, memoire, imagination, nous peust estre osté, altéré, troublé par mille accidents et non la volonté." 3 3 Sodann 32
33
Vgl. Sag. II, 6, S. 1 6 0 - 1 7 0 . Sag. I, 18, S. 1 4 2 - 1 4 3 .
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bedeutet der Einsatz des Willens stets auch den ganzen Einsatz seiner selbst, seines ganzen Eigentümlichen. Schließlich bestimmt der Wille allein die Charakterbeschaffenheit, der Wille ist der Sitz von Güte und Tugend. D e r Unterschied zwischen Verstand und Willen läßt sich bei Charron dergestalt bestimmen, daß vermittels des Verstandes die Erscheinungen je nach Art des Verstandes ausgewählt werden und modifiziert in die Seele eintreten, während im Willen die Seele gleichsam aus sich herausgeht und sich in die gewollten Dinge begibt. Damit wird dem Willen ein Seelenadel zuteil, den der Verstand niemals erreichen kann. Es erscheint folgerichtig, wenn, kurz vor der eigentlichen Darlegung des Weisheitsideals, im Zuge der „liberté d'esprit" (d. h. in jenem Bereich, w o gezielt versucht wird, den Menschen von allem Anfälligen und krisenhaften Trubel zu befreien, ihn gleichsam für die Weisheit zu präparieren, die „carte blanche" freizulegen) die „liberté de la volonté" und die ,liberté du jugement" die beiden Hauptforderungen bilden. Sie sind Vorausbedingungen jeglicher menschlichen Weisheit. Die Urteilsfreiheit besteht aus drei Aspekten: der Weise muß über alle Dinge urteilen (juger de toutes choses), wobei er sich der Methode von Entgegensetzung und Vergleich zu bedienen hat; keiner Sache darf er sich verpflichten (surséance du jugement); er muß umfassend und offen für alles bleiben (demeurer universel et ouvert à tout). Der hier geforderte Zustand einer Freiheit des Geistes (d. h. des Urteilens und des Wollens) ist nun keineswegs Aufforderung zur Tat, sondern rückt für Charron in die Nähe der Ataraxie etwa Pyrrhons. Dies bedeutet zugleich, daß die Frage nach der Freiheit des Wollens nicht die eher theologische Perspektive des liberum arbitrium betrifft, sondern „ q u e l'homme sage, pour se maintenir en repos et liberté, doit mesnager sa volonté et ses affections, en ne se donnant et affectionnant qu'à bien peu de choses, et icelles justes". Gerade vom richtigen Einsatz des Willens (jener hier auf Montaignes Weise „ D e mesnager sa volonté" zurückgehenden Fassung der Wollensregelung) her ergibt sich ein entscheidender Zugang auch zur Frage des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Das wahre Einrichten des Willens besteht darin, den Dingen und Menschen in der Umwelt keine zu starke Affektion entgegenzubringen, denn diese verhindert die Ruhe und Freiheit des Geistes (da sie nicht zur Selbsterkenntnis führt), sie erschwert die Verrichtung von Geschäften (die gerade einen gewissen Abstand erfordern), und sie trübt das Urteil selbst (da sie sich die Dinge in ihrer Perspektive zurüstet). Für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft lassen sich daraus drei äußerst wichtige Grundmerkmale ableiten. Selbsterkenntnis ist nicht ver-
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mittels anderer zu erreichen, sondern nur durch einen selbst; die Funktionen innerhalb der Gesellschaft bedürfen keiner emotionalen Zuneigung; Affekte trüben das objektive Urteil, weil sie über das Faktisch-Funktionale hinaus sich die Welt perspektivisch zurechtbiegen. Diese drei Momente verstehen sich genau an jenem Punkt, wo der Mensch zunächst aus der Gemeinschaft herausgenommen und anschließend wieder sekundär eingegliedert wird, innerlich so fremd wie möglich, äußerlich so scheinbar nah wie sachgemäß. Diese Art von Entfremdung greift bis in die intersubjektiven Beziehungen durch, „nous devons nous maintenir en tranquillité et liberté. Et pour ce faire, le souverain remede est de se prester à autruy, et ne se donner qu'à soy, prendre les affaires en main, non à cueur, s'en charger et non se les incorporer, soigner et non passionner, ne s'attacher et mordre qu'à bien peu, et se tenir tousjours à soy. Ce conseil ne condamne point les offices deus au public, à ses amis, à son prochain, tant s'en faut, l'homme sage doibt estre officieux et charitable, appliquer à soy l'usage des autres hommes et du monde, et pour ce faire doibt contribuer à la société publique les offices et debvoirs qui le touchent." 3 4 Erst in der Distanz liegt für den Geist die Möglichkeit der Freiheit, die dessen Universalität ausmacht. Dies läßt den Weisen zu einem „citoyen du monde comme Socrates" werden, und mit einer geballten Häufung von Seneca-Zitaten unterstreicht Charron die Universalität des Geistes, vermittels derer sich der Mensch aus seiner Naturgebundenheit herausnehme, um in Grenznähe der Göttlichkeit sich zu erheben. Die Ausführungen zur „vraye et essentielle preud'hommie" sind für das gesamte Werk Charrons von entscheidendster Bedeutung. In der Sagesse führen alle vorangegangenen Teile auf die beiden wichtigsten Kapitel des Zweiten Buches (3—4) hin, wobei die Grundlegung der sagesse zunächst über den universalen Naturbegriff, sodann aber auch gerade über die Vorstellung einer partikularen Natur, über das Naturell eines jeden einzelnen Individuums erfolgt. Die weiteren Teile haben von hier aus betrachtet nur noch ausführenden Charakter. Die Bestimmung der „preudhommie" erfolgt nicht über ein bestimmtes Tun, sondern Charrons Augenmerk ist deutlich auf die Antriebsstruktur gerichtet. Von der Motivation her gilt es zwischen echter und nur weltgewandter preudhommie zu unterscheiden. Nicht schwächliche Unterwerfung unter äußere Bedingungen ist gefordert, sondern wahre preudhommie präsentiert sich in ausgesprochen römisch-männlicher Haltung. „Tout homme doibt 34
Sag. II, 2, S. 7 0 - 7 1 ; S. 3 4 - 6 5 . Montaigne, Ess. III, 10.
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Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
estre et vouloir homme de bien, pource qu'il est homme." (Welches Verhältnis diese Grundlegung zur Politik haben kann, wird angedeutet, wenn wir uns die Möglichkeit vergegenwärtigen, das positive Recht gleichsam, was Charron in der Tradition Ciceros auch tut, als die Kopie der ,lex scripta in cordibus nostris' aufzufassen.) Wichtig ist auch hier, sich wieder zu verdeutlichen, daß der Rückgriff auf Natur mit dem Rückgriff auf den Willen einhergeht, Natürlichkeit und Voluntarismus auf innigste Weise verbunden sind. Zwischen dem ,vivre et agir selon nature', der ,raison' und der ,vraye preudhommie' als einer „droite et ferme disposition de la volonté" herrscht eine wechselseitige Ubereinstimmung. Um den stoischen Charakter dieser entscheidenden Grundlegung zu betonen, sei etwas ausführlicher zitiert. „Voila pourquoy la doctrine de tous les Sages porte que bien viure, c'est viure selon nature, que le souuerain bien en ce monde, c'est consentir à nature, qu'en suiuant nature, comme guide & maistresse, l'on ne faudra iamais: ,Naturam si sequaris ducem, nusquam aberrabis: bonum est quod secundum naturam, omnia vitia contra naturam sunt: Idem beate viuere et secundum naturam', entendant par nature l'équité & raison vniuerselle qui luit en nous, qui contient & couue en soy les semences de toute vertu, probité, iustice, & est la matrice de laquelle sortent & naissent toutes les bonnes & belles loix, les iustes & équitables iugemens, que prononcera mesmes vn idiot. Nature a disposé toutes choses au meilleur estât qu'elles puissent estre, & leur a donné le premier mouuement au bien & à la fin qu'elles doiuent chercher, de sorte que qui la suiura ne faudra point d'obtenir & posseder son bien & sa fin: ,Sapientia est in naturam conuerti, et eo restituí vnde publicus errore expulerit: Ab illa non deerrare, ad illius legem exemplumque formari sapientia est.' Les hommes sont naturellement bons, & ne suiuent le mal que pour le profit ou le plaisir." 35 Der hier von Charron zugrunde gelegte und auf die berühmte Epistel 90 Senecas verweisende Naturbegriff ist, wie bereits oben angedeutet, dreifältig. Er meint zunächst die von Gott geschöpfte und mit Regeln versehene Naturordnung, sodann die universale Vernunft im Sinne des Naturgesetzes und schließlich die jedem einzelnen Lebewesen innewohnende je spezifische und als solche ebenfalls universelle Natürlichkeit. Einer inhaltlicheren Bestimmung dessen, was Natur ist, vermag Charron sich durch die kulturkritische und besonders auf Montaigne zurückgehende Überlegung zu entziehen, daß 35
Sag. II, 3, S. 86 — 87; die Zitate entstammen (in der Reihenfolge): Cicero, De o f f . I, 28, 100; Seneca, Ep. 118; De vita beata Vili, 1; Ep. 94; De vita beata III, 2.
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die Gewohnheiten, Zeremonien und die bienséance den Blick für die Natur verstellt haben. „De cette generale et universelle alteration et corruption, il est advenu qu'il ne se cognoist plus rien de nature en nous", was Charron von der entscheidenden Frage nach den Instanzen der Natur befreit. Wie stark er religiöse und natürliche Tugend einander abgrenzt und letztere als die eigentlich menschliche Verwirklichung begreift, wird deutlich, wenn er gleichsam Stufen der Vervollkommnung unterscheidet. Die natürliche preudhommie (die sich in kraftvoll-beständiger Güte zeigt) wird gefolgt von der erworbenen preudhommie (gegen die Laster gerichtet und Tugend genannt), um in dem gegenseitigen Durchdringen von Natürlichem und Erworbenem ihre höchste Stufe zu erreichen. „C'est à quoy estudioient ces deux sectes, la stoïcienne, et encores plus l'epicurienne; (. . .) non seulement ils mesprisoient, soustenoient patiemment, et vainquoient toutes aspretés et difficultés; mais ils les recherchoient, s'en esjouissoient et chatouilloient, pour tenir leur vertu en haleine et en action, laquelle ils rendoient non seulement ferme, constante, grave et severe, comme Caton et les Stoïciens, mais encores gaye, riante, enjouée, et s'il est permis de dire, folastre." 3 6 Im Stoizismus ist Tugend mit dem vernunftund naturgemäßen Leben identisch, was stets auch kämpferische und standfeste Selbstbehauptung bedeutet; die Tugend Epikurs wird hier aufgefaßt als die richtige Einsicht in die Bedingungen wahrer Lust, als Umgestaltung der harten Standfestigkeit in natürliche Freuden. Das zweite Grundpostulat der Sagesse (Avoir un but et train de vie certain) ist gleichsam das besondere Gegenstück zur Universalität des allgemeinen Naturgesetzes und versucht, das je individuelle Naturell in Betätigungsfeld und Lebensstil zum Tragen zu bringen. Entscheidend ist dabei, daß der jeweilige Gegenstandsbereich der eigenen Möglichkeit zugänglich sein muß, „nec quidquam sequi quod assequi nequeas." Wie durch den Versuch, nur auf das einzuwirken, was im Bereich des Realisierbaren liegt, so ist das neustoische System auch wesentlich dadurch gekennzeichnet, die Nöte und Widerständigkeiten der Welt und des Lebens zur Dimension der Existenz, zur Dimension der Welt zu erheben. Wenn nach Seneca „omnia ad quae gemimus, quae expavescimus, tributa vitae sunt", so ist von dort der Weg nur noch gering bis zu der Ansicht, daß gerade die Widerwärtigkeiten (adversités) als „le champs des plus heroïques vertus" begriffen werden. Mäßigung gegenüber Glückszuständen und Kampf gegen die Übel gemäß Epiktets Leitspruch ,sustine et 36
Sag. II, 3, S. 9 8 - 9 9 ; 92.
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abstine', dies ist die geforderte Einstellung und Haltung. In echt stoischer Manier erscheint der Weise als geharnischter Kämpfer, der sich dadurch auszuzeichnen sucht, daß er Taktik und Strategie der Übel bereits kennt und durch Voraussicht dagegen gefeit ist. Voraussicht ist das wichtigste Mittel des Philosophen, sie leistet für ihn das Gleiche wie die Gewohnheit für das gemeine Volk; „l'homme sage en temps de paix fait ses préparatifs pour la guerre."Auch hier wieder der bedeutsame Grundzug des Neustoizismus, die möglichen Zustände und Ereignisse einer wechselfälligen Außenwelt verfügbar zu machen, ihnen mittels einer rationalen Lebensführung jegliche Möglichkeit überraschenden Wirkens auf den Menschen zu nehmen. Das ist die eigentlich angestrebte Funktion der sagesse humaine, „si qua finiri non possunt, extra sapientiam sunt." Es geht also um gezielte Ausgrenzung von Überraschungen, um das Bestreben, die Welt im vorhinein klassifikatorisch zu strukturieren, getragen von der Maxime: „faire de nécessité vertu." 3 7 Zur Aufhebung der Abhängigkeit von unmittelbarer Kontingenz ist die Trennung eines inneren und eines äußeren Bereichs von entscheidender Bedeutung, und konsequent führt Charron sie bei der Aufstellung eines Pflichtenkataloges für den Weisen durch. Die unbestrittene Höherwertigkeit des Innenbereichs hat zur Folge, daß sich der Weise aus bestimmten pragmatischen Gründen nicht gegen die äußeren Disziplinierungen auflehnt (etwa gegenüber Gesetzen, Gewohnheiten, Zeremonien), sondern sich einpaßt, ihnen äußerlich beitritt und sie achtet. Aber er tut dies nicht als Folge einer Einsicht in ihre ethische Richtigkeit, sondern aufgrund der in ihnen liegenden faktischen Autoritätsgrundlage; es gilt sie zu befolgen, weil sie sind. Der Weise leiht sich dabei nur dem Äußeren, gibt sich diesem niemals hin. Der Neustoizismus ist hier der entscheidende Träger jener Maxime Senecas, nach der „intus omnia dissimilia sint, frons populo nostra conveniat", einer Trennung von Innen und Außen, des öffentlichen und privaten Bereichs, die wir bei Petrarca dann wiederfinden, und die über Montaigne zu Charron und später in reinster Form zu G. Naudé führt. Hinsichtlich des Verhaltens in der Gesellschaft gilt es eine weitere Unterscheidung vorzunehmen. Geschieden werden muß nämlich nach einer Umgebung, der man mehr oder weniger täglich begegnet und ausgesetzt ist, und einer solchen, mit der das Individuum nähere Bekanntschaft verbindet. Zu beiden Bereichen lassen sich je sieben Regeln aufweisen. Im mehr anonymen (geschäftlichen) Bereich gilt: (1) Schweigen und Mäßigung üben, (2) 37
Vgl. Sag. II, 7, S. 1 7 4 - 1 9 0 ; II, 4, S. 114 nach Cicero, De o f f . I, 31; Seneca, Ep. 96.
Stoische und skeptisch-relativistische Momente
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Dummheiten nicht übelnehmen, (3) Wissen nicht demonstieren, (4) keine Bitterkeit im Gespräch, (5) dezente Neugierde zeigen, (6) Urteilskraft einsetzen, (7) nicht affirmativ oder herrisch sprechen; zusammenfassend „en ce peu de mots: avoir le visage et la montre ouverte et agréable à tous, l'esprit et la pensée couverte et cachée à tous, la langue sobre et discrette; tousjours se tenir à soy et sur ses gardes". Für den näheren Bekanntenkreis gilt: (1) Umgebung gelehrter Leute suchen, (2) sich nicht durch Meinung verletzen lassen, (3) Härte der Auseinandersetzung nicht fürchten („il faut une société et familiarité forte et virile, il faut estre masle, courageux"), (4) auf Wahrheit ausgerichtet sein, (5) in der Diskussion die besten Mittel mit Kürze und Prägnanz einsetzen, (6) in allem Form, Ordnung und das Treffende wahren, (7) auf Widersprüchlichkeiten nicht beharren. Im ganzen läßt sich also sagen, daß im Bereich des gesellschaftlichen Verkehrs die Trennung nach Sein und Schein unbedingt eingehalten werden muß, und daß selbst im Umfeld privater Beziehungen die disziplinierte Auseinandersetzung die wichtigste Verhaltensnorm bildet. Der private Nutzen dieser Einstellung und Haltung soll Charron zufolge dann in den beiden Früchten der Weisheit, dem Bereitsein zum Tode und der echten Geistesruhe, liegen. Diese ,tranquillitas mentis et animi' ist aber weder im Rückzug, noch im Müßiggang, noch in der Indifferenz zu erreichen, sondern sie muß sich aktiv erarbeitet werden. Aktiv erworben ist sie das höchste Gut des Menschen, „tout nostre soin doibt tendre là; c'est le fruict de tous nos labeurs et estudes, la couronne de sagesse."38
4. Stoische und skeptisch-relativistische
Momente
In der philosophischen Literatur scheint P. Charron ein für allemal das Etikett des Skeptikers erhalten zu haben, und seine Sagesse wird, zusammen mit F. Sanchez' Quod nihil scitur, besonders aber mit der Apologie de Raimond Sebond Montaignes als eines der Hauptzeugnisse der Erneuerung des antiken Skeptizismus am Ausgang des 16. Jahrhunderts betrachtet. Wir müssen uns hier mit einem derartigen Zugang zu Charrons Werk auseinandersetzen, weil im Falle einer konsequenten Erneuerung antiker Skepsis das Denken Charrons als unverständlich in 38
Sag. II, 12, S. 274. Pflichtenkatalog Sag. II, 5 - 1 0 , bes. S. 2 1 7 - 2 1 8 ; vgl. Petit traicté, S. 292. Innen- und Außenbereich, Seneca, Ep. 5, 2; Petrarca, Fam. III, 15, 7; II, 1, 6; Montaigne, Ess. III, 10; „Mon opinion est qu'il se faut prester à autruy et ne se donner qu'à soy-mesme."; vgl. Seneca, Ep. 22. G. Naudé: „intus ut übet, foris ut moris est."
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Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
Skepsis und Axiomatik zerrissen erscheinen müßte. Oder aber gibt es ein bestimmtes und aufeinander bezogenes Zusammengehörigkeitsverhältnis beider, der stoischen und der skeptischen Aspekte? „Je diray icy que j'ay fait graver sur la porte de ma petite maison que j'ay fait bastir à Condom, l'an 1600, ce mot, ,je ne sçay'." 3 9 Mit diesem Diktum scheint Montaignes (wohl auch stets schon vom Nichtwissen getragenes) ,Que sais-je?' endgültig negativ beantwortet, der suchende Zweifel an sein eigenes systematisierbares Ende gekommen zu sein. Doch was verbirgt sich tatsächlich hinter dieser Formel? Um das Ergebnis in noch unbestimmter Weise vorwegzunehmen : bei der Formulierung ,je ne sçay' handelt es sich nicht um die prägnante Zusammenfassung einer durch konsequente Erneuerung antiker Skepsis gekennzeichneten Grundhaltung, sondern der skeptische Einschlag im Werke Charrons bewegt sich zum einen auf der Stufe des Sokratischen Wissens um das Nichtwissen und steht hinsichdich seiner ethischen Intention zum anderen in einem näher zu bestimmenden produktiven Verhältnis zu den stoischen Aspekten einer Grundlegung und Organisation sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft mit Hilfe von Natur, Vernunft und Willen. Zunächst gilt es die Ansicht, daß Wahrheit stets verborgen bleibt („Nous sommes nais à quester la vérité: la posseder appartient à une plus haute et grande puissance") 40 nicht mit einer Grundüberzeugung zu verwechseln, die von einer Unmöglichkeit von Erkenntnis überhaupt ausgeht. Sodann gilt es sich zu erinnern, daß das Sokratische Wissen um das Nichtwissen bereits zweifach als Weise des Philosophierens gesichert ist, daß nämlich (a) das begrenzte gegenwärtige Wissen ausgebaut werden muß und dazu auch fähig ist, und daß (b) das Wissen um das Nichtwissen bereits ein versichertes Wissen darstellt, das im Rückgang auf seine eigene Fragwürdigkeit eine Vergewisserung herbeiführt, die dem für die Frühe Neuzeit so bedeutsamen Cartesianischen Verfahren einer punktuellen Selbstvergewisserung des Bewußtseins im cogito (als ,cogito me cogitare') bei aller Unterschiedenheit strukturell nicht unähnlich ist. Beide Male jedenfalls wird der Ausgangspunkt des Philosophierens markiert, dort das subjektive Nichtwissen und hier die Ungewißheit, die um des Wissens bzw. der Gewißheit willen, nicht aber um einer absolut skeptischen oder religiösen Resignation willen so hohe Bedeutung haben. Obwohl Charron den vollen Besitz der Wahrheit und damit auch das Enthobensein von jeder Kritik allein dem Gotte vorbehält, so bedeutet dies für die Lebens39 40
Sag. II, 2, S. 50. Sag. I, 15, S. 126.
Stoische und skeptisch-relativistische Momente
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dimension des endlichen Menschen und die gleichsam ethische Daseinssorge keineswegs (wie wir an der Grundlegung seines Ideals der preudhommie gesehen haben) eine resignative Abhängigkeit des philosophischen und lebenspraktisch orientierten Bemühens von der Religion. (Allerdings bleibt die Möglichkeit unbenommen, die krönende Erhöhung einer geglückten Lebensführung in einem Zutun göttlicher Gnade zu sehen, und in theologischer Hinsicht sucht Charron die Aspekte molinistischer Willensfreiheit und augustinischer Gnade zusammenzudenken und diese auch für die auf der Natur gründende Philosophie des Menschen offen und gesichert zu halten.) Mit Bezug auf Sokrates läßt sich auch das Miteinander skeptischer und dogmatischer Momente bei Charron entfalten. Denn wie in der Antike der Dogmatismus (und gerade auch die Stoa) vorgibt, das Sokratische Nichtwissen positiv aufgefüllt, d. h. die Somatische Forderung der Wissenserweiterung eingelöst und abgeschlossen zu haben, und die Skepsis demgegenüber zu Sokrates in der Weise wieder zurückkehrt, daß sie das Nichtwissen zu ihrem eigentlichen Anliegen macht und sich unter dessen Vorzeichen gegen die Dogmatiker wendet (zu denen Pyrrhon „Aristoteles, Epikur, die Stoiker und einige andere" zählt), so läßt sich bei Charron das Zusammengehen skeptisch-relativistischer und stoischer Momente vor dem Hintergrund der einen und gemeinsamen Absicht einer ethischen und logischen Sicherung des endlichen menschlichen Individuums verstehen. Der Bezug zu Sokrates wird übrigens vom Text unmittelbar angeboten, „solum certum nihil esse certi, hoc unum scio quod nihil scio." Sokrates erscheint durchgehend für Charron als die Verkörperung seines Weisheitsideals, er ist der „roy des hommes", weil er die Selbsterkenntnis am weitesten getrieben habe, er ist „maistre et admirable docteur en la nature" und wird damit zum herausragenden Exemplar der preudhommie überhaupt; sein Wissen um das Nichtwissen macht ihn zum eigentlich weisesten unter den Menschen, weil sich darin tiefste Einsicht in die condition humaine ausdrückt. Diejenigen, die z. B. den Sinn einer Entsagung vom Urteil nicht nur nicht begreifen, sondern sogar verdammen, „ne sçavent pas qu'il y a une sorte d'ignorance et de doute, plus docte et asseurée, plus noble et genereuse que toute leur science et certitude : c'est ce qui a rendu Socrates si renommé et tenu pour le plus sage." 41 Das ganze Erste Buch der Sagesse ist der „cognoissance de soy, et de l'humaine condition" gewidmet, stellt also die Forderung der anthropo41
Petit traicté, S. 283; vgl. Sag. I, 1, S. 7; II, 3, S. 88. Sext. Empiricus, Pyrrhoneae Hypotyposes I, 3.
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Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
logischen Selbsterkenntnis an den Anfang eines auf die Gestaltung des Lebens gerichteten Philosophierens. In der antiken Stoa war Philosophie von der Weisheit noch dergestalt zu unterscheiden, daß erstere eher als Instrument der Lebensführung fungiert (auch bei Lipsius haben wir die Bestimmung der Philosophie als „instrumentum vitae maxime serium" angetroffen), während die Weisheit eine Verhaltensweise und Einsicht des sophós darstellt, die noch über die Lebensführung hinaus Einsicht in die wahre Struktur der göttlichen und der menschlichen Dinge bedeutet. Für Charron ist nun charakteristisch, daß seine Konzeption der sagesse humaine auch die Weisheit in die gleiche praktische Dimension einholt, die in stoischer Sicht das vorrangige Feld der eher lebenstechnischen Philosophie ausmachte. Die Weisheit in menschlichen Dingen ist nicht länger an die Wahrheit der göttlichen Dinge verpflichtend gebunden, die Natur des Menschen trägt ihre Wahrheit in sich. Dieser Ubergang ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung. War für die klassische Antike der Zusammenhang von philosophischem Wissen als Wahrheit (etwa als platonische anámnesis) und dem Glücken des Menschseins, der Eudaimonia, nicht nur unzweifelhaft, sondern conditio sine qua non, wobei letzteres stets von ersterem abhängig war, so erfährt diese Bindung im Hellenismus ihre erste Auflösung insofern, als die alltägliche Lebensführung und deren Glücken relativ unabhängig vom philosophischen Wahrheitsbesitz möglich wurde, ja gerade werden sollte. Erst die Frühe Neuzeit, und hier blicken wir in unserem Zusammenhang auf Charron, hat dieses Verhältnis gänzlich zu einem immanenten zusammengeschmolzen. Charron holt die Weisheit in die Dimension der Lebenspraxis selbst und vindiziert der menschlichen Natur dadurch einen immanenten Sinn von Wahrheit. Natürlich ist ein solcher Vorgang im späten 16. Jahrhundert nicht als vollständiger und unter Aussparung des nachreformatorischen Traditionszusammenhangs zu sehen, und wenn wir das Theologische an Charron in den Vordergrund stellen, so scheint es gerade so, daß die Wahrheit gänzlich aus der menschlichen Natur herausgenommen, bei einem unerreichbaren und fraglosen Gott aufbewahrt ist. In der Tat, beide Bewegungen finden statt. Aber erinnern wir uns der Trennung von Philosophie und Religion und der darin ausgesprochenen Unterscheidung auch der Wahrheiten im Horizont der anthropologisch-ethischen Intention Charrons, ein in der menschlichen Natur gründendes Moralgebäude freizusetzen, das sich keiner Fremdbestimmung, auch keiner theologischen, anheimgeben darf. Von den Bedürfnissen des endlichen Subjekts her gedacht, bedeutet es jedoch eine entlastende Stütze hinsichtlich des von
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ihm jetzt geforderten ,Lebens in Ubereinstimmung mit der Natur', wenn ein G o t t noch etwas (ja wenn nötig sogar den Hauptteil) von der Wahrheitsbürde übernimmt, wenn Gott, trotz aller Immanenz des Denkens, das Vorhandensein des Menschen und der Welt sowie einen letztlich sinnvollen Zusammenhang des Menschen mit der Wirklichkeit im ganzen verbürgt und sichert. Aber Charrons Sagesse stellt bewußt nicht übergewichtig auf diese Seite ab. Er hat die immanente Verfaßtheit, diejenige Beschaffenheit des Menschen im Blick, die sich weder mit der äußeren Wirklichkeit, noch mit anderen Menschen und auch nicht mehr mit einer ihr transzendenten philosophischen Wahrheit identisch weiß, sondern sich gerade als unterschieden und gefährdet erfährt und auch selbsterhaltend setzt. Wie sehr beides noch bei Charron aufeinander bezogen gedacht wird, das Transzendente und das Immanente, das zeigt auch seine doppelte Wirkungsgeschichte etwa sowohl bei den Jansenisten von Port Royal als auch gerade bei den Libertinern, Descartes und Hobbes. Die Selbsterkenntnis des Ersten Buches der Sagesse fördert ein Naturbild immanenter Qualität vom Menschen zutage, welches dann im nächsten Schritt (dem Zweiten Buch) Grundlage der „instructions et reigles generales de sagesse", d. h. des Verhältnisses des Individuums zur äußeren Wirklichkeit und besonders zu anderen Menschen wird. V o m Individuum aus gilt es einen Uberstieg zu bewerkstelligen, der das Ich in eine gesellschaftliche Welt stellt, die ihm notwendigerweise fremd bleiben muß. Welcher Art muß die Strategie zur Gestaltung des Ich und der geschichtlichen Welt sein, damit das Ich sich, sich selbst genügend, nicht an eine ihm stets fremd bleibende Welt entäußert, sondern bei sich bleibend in dieser Wirklichkeit nichts anderes erreichen will, als jeweils neu die Bedingungen seiner zurückgezogenen Selbstgenügsamkeit zu schaffen und zu sichern? Der Neustoizismus bietet hier eine unter dem Leitfaden von Vernunft und Natur stehende Doppelstrategie an, zum einen den strikten Rückgang auf die subjektive Vernunft (und den Aufbau der Wirklichkeit, Dihairesis und Prohairesis allein aus diesem gesicherten Grund der ,ratio'), zum anderen den Ausgriff auf eine umfassendere Naturordnung, deren Erhaltungsprinzipien, Pronoia und Anthropozentrik das Individuum ebenfalls in den Stand unveräußerlicher Festigkeit setzen. Sind diese disziplinierenden Strukturen erst einmal verwirklicht bzw. erkannt, so besteht die politische Aufgabe darin, die sich gleichsam zwischen diesen beiden Polen aufbauende Geschichtswelt und Gesellschaft nach dem gleichen Muster zu verfassen, soweit menschlicher Zugriff möglich ist (denn Natur und Geschichte werden hinsichtlich der in ihnen waltenden
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Kräfte nicht als deutlich unterschieden betrachtet, sondern Geschichte wird weitgehend in Analogie zu Naturzusammenhängen begriffen, was allerdings auch gerade die Forderung nach Ubereinstimmung freisetzt). An der Constantia haben wir gesehen, wie Lipsius von beiden Seiten her argumentiert, zum einen von einer christlich eingefärbten Providentia aus, zum anderen von der Warte einer ,recta ratio' des menschlichen Individuums. Beide Vektoren aber sind von dem einen Grundanliegen getragen, den in Unsicherheit über sich, die Welt, den Ort und die Möglichkeit eines befriedeten Lebensglücks befindlichen Menschen zu festigen und zu sichern. In diesem Zusammenhang tritt ein Problem auf, das für das Verhältnis stoischer und skeptischer Momente bei Charron von Bedeutung ist, und das einst auch das Zentralproblem war, um das sich die Forderung des Sokrates nach Selbsterkenntnis drehte (und von seiner Umwelt auch gedreht worden ist), ob nämlich der philosophische Vorrang der Selbsterkenntnis überhaupt noch einer umfassenderen Natur- und Kosmosphilosophie bedarf, ob damit nicht Ethik und Logik zu den Bereichen der Philosophie überhaupt werden, oder ob, und wenn ja, in welcher Weise, dennoch gerade ein Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Naturordnung, von Ethik und Metaphysik besteht. Hinsichtlich der Stellung des Sokrates setzt die antike Uberlieferung in dieser Frage unterschiedliche Gewichtungen. Diese aufnehmend, können wir mit Blick auf das späte 16. Jahrhundert holzschnittartig sagen, daß Lipsius eher eine Lösung anstrebt, die der Uberlieferung durch Piaton nahekommt (daß nämlich auch Sokrates gesehen habe, daß eine wahre Selbsterkenntnis nicht ohne ihren naturphilosophischen Zusammenhang möglich sei), während Charron in einem vollständigen Sinne die Natur des Menschen als ein immanentes Gebilde und unter dem Zwang zur Lebenspraxis betrachtet, was ihn in die Nähe der Xenophonischen Uberlieferung bringt, die das menschliche Leben und die menschlichen Dinge als Anfang und Ziel des Philosophierens herausstellt. Vom Standpunkt des Lebens aus muß man auch die scharfe Wende sowohl von Lipsius als auch von Charron (und natürlich auch von Montaigne) gegen den (neu)scholastischen Wissensbetrieb und dessen Wissensideal verstehen. Eine jetzt in der praktischen Dimension verankerte und geforderte Weisheit tritt in Gegensatz zu dem vom Leben gänzlich abstrahierten Wissensideal, denn was wissenswert ist, bestimmt sich für Charron aus dem Zusammenhang der Frage nach der Wohlgestaltung des Lebens selbst. 42 42
Lipsius, Const.
II, 4 ; Charron, Sag. III, 14. bes. S. 8 7 - 1 0 2 ; II, 2 ; I, 51; I, 63.
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Der Rückzug oder das Ausgreifen auf die Kosmosordnung eröffnet dem Stoizismus gleichsam aus doppelter Warte die Möglichkeit, dem Ich die Bedingungen seiner zeitlichen Dauer und seines physischen Bestandes sowie die Möglichkeit einer denkenden Rückkehr in sich selbst zu versichern. Von der Warte der Kosmologie aus präsentiert sich die Gesamtordnung als wohlgeordnetes, harmonisches und sich selbsterhaltendes Wesen, als dessen Teil und Mitte sich der Mensch bevorzugt wissen darf. Von der Warte des sich als unterschieden von der äußeren und gesellschaftlichen Wirklichkeit (und damit auch als unwissend und fremd) erfahrenden Individuums besteht die gleiche Möglichkeit zur Einsicht in Festigkeit und Zuverlässigkeit des Ganzen, weil, wie Seneca 43 sich ausdrückt, dem Menschen von der Natur die Stellung in der Mitte eingeräumt wurde, von der aus er im freien Blicke nach allen Seiten forschend sich von der Fülle und Vollkommenheit der Naturordnung überzeugen und an ihr teilhaben kann. Für den antiken Stoizismus gründet die ethisch angestrebte Gewißheit des Menschen (und in ihrer Folge die geläuterte Gelassenheit des Weisen) primär in der einsichtigen Gewißheit des Kosmos; für die erneuerte Stoa der Frühen Neuzeit bewegt sich diese Gewißheit stärker auf einer Grenzlinie zwischen subjektivem Individuum und umfassender Naturordnung. Der Mensch zieht die Konstitution dieser zusammenhängenden Naturordnung einerseits teilweise an sich, andererseits trifft er diese immer auch schon an. Und die Sicherungsanstrengung des Neustoizismus bedeutet, um in diesem Bild zu bleiben, die stete Markierung und Sicherung jener Grenzlinie, an der sich die zum Erhalt solcher Gewißheit notwendige Selbstanstrengung des Individuums mit einer vorauszusetzenden Gesamtordnung die identitätsstiftende Waage hält. Affekte, Leidenschaften, Irrationalismen und unbegrenzter Wissensdrang stellen in dieser Perspektive Momente dar, die genau diese Demarkationslinie zu überschreiten anstiften und damit Entäußerung, d. h. Unordnung in die Ordnung bringen. Ist dieses grundsätzliche Verhältnis (das auch und gerade ein solches von Wissen und Nichtwissen ist) in Gestalt von Selbsterkenntnis, Weltsicht und den daraus resultierenden Interpretations-, Aneignungs- und Organisationsmustern erst einmal erstellt, dann kann auch die Regelung der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen erfolgen, was Charron im Dritten Buch der Sagesse auch näher unternimmt, d. h. hier wird die gleiche Demarkationslinie in der Sozialdimension gezogen. 43
De otio V, 4 - 6 .
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Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
Anders als die aktive, widerständige und Gewißheit verlangende stoische Seite verweisen die skeptischen Momente bei Charron auf eine grundsätzlich unterschiedene Antwort auf die e i n e Grundfrage der Sicherung und Ermöglichung menschlicher Existenz. Die Skepsis betreibt nämlich eine Hypostasierung des Nichtwissens, um das glückende Menschsein nicht auf einer erst zu erreichenden Gewißheit des eigenen Selbst und der äußeren Wirklichkeit ruhen lassen zu müssen. Vielmehr sucht sie das Ich dadurch in den Stand einer vergleichgültigenden Uninteressiertheit und Ataraxie zu versetzen, daß dieses die Welt als eine daseiende dahingestellt sein läßt, sich jeglichen Urteils enthält und auf diese Weise sich erst gar nicht in die Gefahr begibt, sich urteilend und vergewissernd strebend zu entäußern. Diesen Zusammenhang hat vielleicht auch F. Nietzsche im Blick, wenn er den Skeptiker sehr treffend als einen „Freund der Ruhe und beinahe als eine Art Sicherheits-Polizei" diagnostiziert. So etwas wie Skepsis im engeren Sinne wird bei Charron nur an sehr wenigen Stellen ausdrücklich thematisch, meistens in Zusammenhängen, die zum Aufweis bestimmter, dem Menschen eigener Fähig- oder Unfähigkeiten dienen (ζ. B. der faiblesse, vanité, présomption). Gerade etwa am Beispiel der „présomption", der auf Vermutung gründenden (sich jedoch allgemein verbindlich durchzusetzen trachtenden) Eitelkeit, wird aber zugleich deutlich, daß es Charron dabei weniger um die Verunmöglichung von Erkenntnis überhaupt und auch nicht um eine gänzliche Vergleichgültigung gegenüber der Welt und den Erkenntnisfragen geht, sondern daß er den Zweifel gezielt als Kampfinstrument gegen dogmatische Positionen einsetzt. Ganz auf den intoleranten Geist seiner Zeit bezogen, gilt für Charron die Erfahrung, daß dogmatische Meinungen danach streben, „faire valoir et recevoir à autruy ce que l'on croit, et les induire voire impérieusement avec obligation de croire, et inhibition d'en doubter. Quelle tyrannie! (. . .) Il n'est rien à quoy communément les hommes soient plus tendus qu'à donner voye à leurs opinions: ,nemo sibi tantum errat, sed aliis erroris causa et author est'." Ja, man ist bereit, diese Positionen mit Hilfe von commandement, force, fer et feu' durchzusetzen. 44 Außer gegen die Dogmatiker gilt es natürlich die menschliche Weisheit und den Zweifel gegen die Formalisten und Pedanten als freisetzendes Instrument einzubringen. Diese Personenkreise sind für Charron Ausdruck einer Uberziehung von Denkstilen, die von der Natur
44
Sag. I, 42, S. 314ff.; Seneca, De vita beate I; F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 208.
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des Menschen weit entfernt und als Korruption des Verstandes zu begreifen sind. Charrons (wie auch Montaignes) Skepsis hat ihre Wurzeln und ihre Funktion in der geschichtlichen Verfassung ihrer Gegenwart, und es handelt sich nicht um eine rein traditionsgeschichtliche Erneuerung spätantiker Lehre. Es geht nicht um das emphatische (und sich über seinen eigenen Charakter täuschende) Selbstverständnis einer identischen Wiederherstellung der Antike im Geiste des frühen Humanismus, sondern skeptisches, d. h. wörtlich „spähend umherblickendes" Suchen und Fragen vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Problemkonstellation bildet den motivationalen Ausgangspunkt. Bis in die Erkenntnislehre hinein, die stets als abhängig und funktional auf die maßgebende und erkenntnisleitende preudhommie bezogen aufzufassen ist (nicht aber darf das Ideal der ,preudhommie' als eine bloße Konsequenz der erkenntnistheoretischen Einstellung betrachtet werden!), läßt sich dieser Faktor der Zeitbedingtheit an Unterschieden zur spätantiken Skepsis ausmachen. Wollten wir Charrons Äußerungen zu einer Art Tropenlehre zusammenstellen, so ergeben sich etwa die folgenden, auf Skepsis als angemessenste Haltung verweisenden Momente. Gegen das auf aristotelische Tradition zurückgehende Diktum, daß ,nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu', stellt Charron heraus, daß der Mensch nicht über alle möglichen Sinne verfüge und die ihm eigenen wiederum unvollkommen und verfälschend sind. Der den Menschen auszeichnende Intellekt, das entscheidende Erkenntnisinstrument, ist selbst schwächlich, ständig ohne Rast umherirrend, produziert Vorstellungen (die als Realität ausgegeben und erlebt werden), ist leicht deformierbar, ist die Wurzel seiner eigenen Korruption, ist anfällig gegenüber dem vulgären Meinen des Volkes und der Öffentlichkeit und hält bereits einer Erkrankung der inneren Organe oder gar des Willens nicht stand. Zu alledem treten noch die Streitigkeiten der Philosophen sowie die Auseinandersetzungen um Bräuche, Gesetz und Institutionen. Charron ist sichtlich in Systematik und Intensität der Tropen von der strengen Skepsis unterschieden, wie sie uns von Diogenes Laertius und von Sextus Empiricus überliefert wird. Er argumentiert (bei aller Betonung der herausragenden Stellung des Menschen unter allen Lebewesen) von einer durch ihre Mängel charakterisierten Grundstruktur des Menschen aus und führt die Unsicherheit des Urteils, die Korruption des Erkenntnisinstrumentariums neben grundsätzlicher Schwäche vorwiegend auf eine von außen nach innen schlagende Infektion zurück, und nicht umsonst kommt der Anfälligkeit gegenüber dem falschen Meinen des gemeinen Volkes eine besondere Bedeutung zu. So wird im Unterschied
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Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
zu dem fraglosen Sanktuarium der ,ratio' bei Lipsius (und auch noch bei D u Vair) bei Charron durch eine Art doppelter Gefährdung sowohl des Innen- als auch des Außenbereiches sogar die Vernunft in den Strudel des Relativen gezogen. Hier scheint sich Charron aus dem Zentrum des Neustoizismus herauszubewegen. Aber dies geschieht nur bis zu einem gewissen Grade und gleichsam im immanenten Interesse seines Preudhommie-Ideals. Denn die Vernunft wird zwar, wie wir bereits gesehen haben, als Mittel der Wahrheitssuche in Frage gestellt, als Instrument des Urteilens aber bleibt sie letztlich unbestritten. Damit ist in der Vernunft selbst die lebenspraktische Dissoziation von Weisheit und Philosophie (im Interesse der Lebenspraxis und gegen eine Verbindung von philosophischem Wahrheitsbesitz und menschlichem ich-identischen Glückszustand) vorgenommen, und die so humanisierte Vernunft erreicht als Verstand ihre eigentliche, und d. h. lebensbefähigende, handlungsmotivierende und orientierende Funktion erst durch den menschlichen Willen als derjenigen Größe, die „seule est vrayement nostre et en nostre puissance."45 Wenn der Mensch, was bei Charron der Fall ist, das Wesen der Natur im genitivus objectivus und subjectivus ist, es des näheren um den Menschen der Natur und um die Natur des Menschen geht, so verweist die erste Gewichtung auf eine naturphilosophische Dimension, während letztere Einstellung Ethik und Logik an die philosophische Zentralstelle rücken läßt. Wir haben schon des öfteren auf die ethische Bedeutung der Epiktetschen Dihairesis, der Einteilung der Dinge, sowie der eng damit zusammenhängenden Prohairesis, der sittlichen Vorentscheidung (in der die Einstellung zu dem Verhältnis von Gut und Übel vom einzelnen Menschen willentlich, im Grundsatz und mit Blick auf die Einteilung der Dinge nach solchen, die in unserer Macht stehen und solchen, die nicht in unserer Macht stehen, vorgenommen wird) hingewiesen. Die Logik gibt dann die Schlußweisen an, nach denen Entscheidungen in der genannten Perspektive sicher getroffen werden können. Aber hinsichtlich des Verhältnisses stoischer und skeptischer Momente ist hier daran zu erinnern, daß auch der Stoizismus mit der Möglichkeit rechnet, daß der Weise einer Entscheidung, einem Urteil dann entsagen muß, wenn dieses entweder seinen subjektiven Verfügungsbereich überschreitet (und von daher in seiner Rückwirkung auf die innere Vernunftverfassung eher unheilvoll als
45
Sag. I, 18, S. 142; Vgl. I, 15, S. 123ff. Zu den Tropen vgl. Diog. Laertius IX, 7 9 - 8 8 ; Sext. Empiricus, Pyrrh. Hypot. I, 36—37.
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Stoische und skeptisch-relativistische Momente
stärkend und beruhigend wirkt, weil sich der einzelne Mensch in diesem Augenblick nicht mehr als denkender in den Gegenständen seines Urteils verhält) oder wenn der Unterschied zwischen zwei Vorstellungen
so
gering ist, daß es besser ist, eine Entscheidung zu suspendieren, um einer Aporie zu entgehen. Wir betonen diesen Umstand, um zu zeigen, daß es keineswegs allein skeptische Tradition ist, sich seines Urteils zu enthalten. J e n e „surséance du jugement", die von Charron gefordert wird und für ihn w o h l ihre direkten Wurzeln in der durch Montaigne vermittelten Pyrrhonischen ,epoché' hat, ist grundsätzlich auch in der stoischen Tradition ein Mittel zur Selbstsicherung des individuellen Ich. Es gibt also eine stoische ,epoché', wenn auch diese Entsagung noch einer denkenden Entscheidung bedarf, und wenn sie auch nicht den entscheidenden Punkt der Lehre ausmacht, denn die Stoa gründet gerade auf Gewißheit, auf Einsicht,
auf zustimmender Vorstellung,
auf der ,phantasia
kataleptiké',
auf der Evidenz als höchstem Kriterium. Die stoische und von Charron noch
um
den
Willen
bedeutsam
erweiterte
Forderung
eines
Lebens
in Ubereinstimmung mit der Natur setzt einerseits die Kenntnis dieser Naturordnung
voraus,
fordert also zu ihrer Erkenntnis
bewußt
enthält aber andererseits, wenn wir einmal eine Unterscheidung innerer und äußerer Natur unterlegen, die Forderung,
auf, nach
sich nicht in
forschende Aktivitäten zu verstricken, welche die individuelle Menschennatur überschreiten und zu dieser keine oder nur eine beunruhigende, störende Beziehung haben. So versteht Seneca etwa die Skepsis als extreme Reaktion auf einen übertriebenen Dogmatismus. 4 6 In seiner Manuductio47
zieht auch Lipsius als Quelle zur Einteilung der
Philosophie Sextus Empiricus heran, und mit Blick auf Charron ist es v o n n ö t e n , akademische und pyrrhonische Skepsis in ihrer Unterschiedenheit zu beachten. Deren Grundunterschied besteht darin, daß die Neue Akademie das Argument ins Feld führt, nichts sei gänzlich gegen Täuschung gefeit (gerade auch die kataleptische Vorstellung der Stoiker nicht), während Pyrrhon und T i m o n zur Skepsis aufgrund der Überlegung gelangen, daß unterschiedliche und gegensätzliche Aussagen mit einer gleichwertigen Glaubhaftigkeit ausgestattet sind, d. h. der eine Satz also „nicht e h e r " zutreffen m u ß als der andere,
es also grundsätzlich gar keine
Möglichkeit gibt, zwischen wahren und falschen Vorstellungen zu unterscheiden. Die Anhänger der Akademie rühren nicht an der Auffassung,
46 47
Vgl. Sext. Empiricus, Pyrrh. Hypot. Manud. II, 3 - 4 .
I, 1 - 4 ; II, 253.
198
Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
daß der Mensch sich im philosophischen Bemühen seinen Glückszustand selbst erarbeiten muß und auch kann. Durch die Aufhebung der Möglichkeit einer Unterscheidung nach Gut und Übel kommt der pyrrhonische Skeptiker dagegen seinem ethischen Ziel der Ataraxie insofern ein entscheidendes Stück näher, als damit das Aussetzen jeglichen strebenden Bemühens verbunden ist (dem größten Gegner der Seelenruhe) und die unphilosophische Vergleichgültigung zur Grundverfassung wird. Das eigentliche Verfahren pyrrhonischer Skepsis bildet dann die Isosthenie (das gleichrangige Gegeneinandersetzen von Aussagen und Vorstellungen, um so dem Tropus des Relativen zur Wirksamkeit zu verhelfen), die wir auch bei Charron an zentraler Stelle antreffen. Man darf im Zusammenhang des skeptischen Zweifels und der Aussetzung des Urteils nicht nur die Seite der damit zugestandenen Uneinsichtigkeit und Unentscheidbarkeit der Wahrheit sehen, sondern, und dies ist für die forschende Natur der Frühen Neuzeit von besonderer Bedeutung, es gilt auch zu beachten, daß es gerade die an den Zweifel gebundene Hoffnung auf Gelöstheit, Gelassenheit, Entkrampfung und Begrenzung auf den eigenen, subjektiven Bereich ist, die eine stets neue und sich mit gestärkter Sicherung immer weiter aus dem eigenen Ich herauswagende Urteilskraft und Neugierde freisetzen kann. Gerade die im skeptischen Zweifel sich ausdrückende Selbstbegrenzung ist zu neuer forschender Energiefreisetzung in der Lage, zum einen, weil sie dasjenige, was man nicht weiß, als fremd, unerkannt und damit dem wißbegierigen Geist attraktiv erhält, und zum anderen, weil diese Begrenzung durch die angestrebte Gelöstheit eine geruhte, sich selbst bewußte Ausgangslage verstärkt. Hier liegt auch ein Ubergang vom allgemeinen zum methodischen Zweifel gerade der Frühen Neuzeit. Die skeptische Einstellung der Begrenztheit, inneren Gelöstheit und Ruhe kann sich sehr wohl in der Weise weiter entwickeln, daß dieser Zweifel jetzt zur Vergewisserung des eigenen Selbst führt (vielleicht gerade aufgrund seiner entgegengesetzten und identitätsgefährdenden Tendenz, die Welt und das Ich nämlich in letzter Konsequenz in ein gänzlich zusammenhangloses, absolut kontingentes Gebilde zerbröckeln lassen zu müssen, was auch den ursprünglichen und ethischen Anspruch der Skepsis selbst in seinen eigenen Widersinn verkehrt). Weil ich mich als unterschieden und begrenzt erfahre, kann ich (unter unbefragter Voraussetzung einer intakten und auf den Menschen teleologisch bezogenen allgemeinen Naturordnung) gelöst bei mir selbst sein, und gerade dieses noch wenig aufgeklärte, aber schon im Ansatz reflexive Moment führt dazu, mir meiner selbst gewiß zu werden, was
Stoische u n d skeptisch-relativistische Momente
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wiederum ein derart vergewissertes Selbst in einen neuen Stand selbst zugestandener Berechtigung gegenüber der immer noch unerkannten Wirklichkeit setzt. Und die Reichweite des noch als im Bereich gefahrlosen subjektiven Wollens Gedachten ist für den forschenden Geist jetzt wesentlich größer als für die ursprünglich bloß skeptische Zufriedenstellung. Gerade in einem solchen Sinne etwa ist MQntaignes pyrrhonischer Zweifel als ein Vorläufer der neuzeitlichen Erkenntniseinstellung zu betrachten, obwohl gerade ihm das Herausstellen der Unzulänglichkeiten und Eitelkeiten des menschlichen Verstandes besonders am Herzen lag. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch wird die Rede von Skepsis stets verstanden als das grundsätzliche Bestreiten von so etwas wie Wahrheit überhaupt. Diese Einstellung mag vielleicht für manche Sophisten zutreffen, für die Skepsis dagegen ist dies gerade nicht charakteristisch, denn sie bestreitet, besonders in ihrer pyrrhonischen Ausprägung (und das ist diejenige Tradition, in der über Montaigne auch Charron steht), nicht die Möglichkeit, daß es eine zusammenhängende Wahrheit gibt, sondern allein die Möglichkeit, den Wahrheitsanspruch eines Urteils beweisen zu können. (Dabei schließt die pyrrhonische Tradition nicht einmal aus, daß wir eines Tages vielleicht die Wahrheit treffen.) Pyrrhon versucht nun, diesen Gedanken auch konsequent auf sich selbst anzuwenden, indem diese Aussage nicht in einem neuen Sinne von Dogmatismus durchgesetzt werden, sondern einer unphilosophischen Erfahrung, einem jeweiligen und alltäglichen Zustand des Menschen als daseiende Einstellung entspringen soll. Erst auf diese unverkrampfte Weise kommt der Zweifel zu seinem eigenen Ziel, nämlich die glückende Verwirklichung des ihn vorbringenden Individuums nicht mehr an eine diesem Individuum äußere Wirklichkeit und Wahrheit gebunden zu wissen, die Wirklichkeit so in gewisser Weise auf •vich gestellt sein zu lassen. Auch hier besteht wieder die Möglichkeit eines Übergangs zur Forschung, denn dieses Aufsichgestelltsein bedeutet eine Trennung, eine Lösung des skeptischen Subjekts von der äußeren Wirklichkeit, und das entbundene Ich kann in einem nächsten Schritt (der sich ja ruhig auch als relativer verstehen kann) diese als gleichgültig auf sich gestellte Wirklichkeit zurüsten und als isolierten Gegenstand der Betrachtung vor sich hinstellen. Letztlich besteht also kein Unterschied zwischen dem ethisch motivierten Zweifel und dem methodischen Zweifel der Vergewisserung der Existenz des eigenen Bewußtseins, das Ausgangspunkt und Träger eines unruhigen forschenden Geistes wird, der jenes ethische Ziel einer in sich befriedeten Gelassenheit des Individuums erst wieder erreicht, wenn er durch einen schier endlosen Gang der Anreicherung
200
Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
seines Ich durch alle ihm fremden Momente des Seienden in sich zurückkehren kann. Hier wird auch etwa deutlich, in welcher Weise, trotz aller Unterschiedenheit, sowohl Goethes Faust als auch Hegels Geist in den Kontext neuzeitlicher Einstellung gehören (obwohl gerade ihr beider Ausgangspunkt insofern ausgesprochen unneuzeitlich ist, als sie ihren Einstieg ja nicht in einer Perspektive nehmen, die dem Subjekt eine beziehungslose und als Material entgegenstehende Wirklichkeit setzt). Übrigens hat auch schon Pyrrhon selbst aus seinem Zweifel einen Antrieb zu genauerem Ergründen der Wirklichkeit gerade gegen die Dogmatiker abgeleitet, die ja eigentlich nicht forschen dürfen, da sie bereits wissen. Denn gerade für diejenigen, die ihre Unkenntnis über die wahre Natur der Dinge eingestehen, wäre ein weiteres Forschen folgerichtiger als für diejenigen, die die Natur der Dinge genauestens zu kennen glauben. 4 8 Der Charronsche Zweifel ist nun sicherlich nicht direkt auf das forschende Bemühen, sondern deutlich gegen die dogmatischen Praktiken der Zeit (ζ. B. die Inquisition), gegen die neuscholastischen Lehren und deren Wissensideal gerichtet. Hier manifestiert sich im Zweifel die neben der systematischen Theoriebildung zweite grundsätzliche Aufgabe von Philosophie überhaupt, das Freikämpfen nämlich von Positionen, die von Systemen unrechtmäßig besetzt sind, das kritische Raumschaffen gegenüber versteinerten und regredierten Denk- und Handlungsformen. Dabei wird (anders als bei Montaigne) der aufgrund des Zweifels zunächst freigesetzte Raum im Neustoizismus durch eine bestimmte systematische Zusammenjochung von Vernunft, Natur und Willen sogleich wieder besetzt. Skepsis geht also hier dem Stoizismus voraus, während sie andererseits in dem Sinne auf den Stoizismus erst folgt, wie Hegel sagt, seine negative Vollendung ist, als sich das aus der Welt zurückziehende denkende Bewußtsein des Individuums die Dinge der Welt gleichsam entschieden vom Leibe zu halten und aus dem Zentrum seiner eigenen Vernunft heraus erst zusammenzudenken trachtet, was eine Weise der Negativität bedeutet, die in der Skepsis als dem Negativen selbst zum System wird. U m dem etwas näher zu kommen, was wir später die Paradoxie der Skepsis nennen wollen, ist es wichtig, sich die Grenzen der skeptischen Einstellung bei Charron vor Augen zu führen. Gegen Aristoteles bringt er vor, daß Erkenntnis sich gerade nicht entscheidend den Leistungen der Sinne verdanke, sondern in dem Vermögen des Intellekts gründet. Von diesem kann letztlich auch gesagt werden, daß „toute cognoissance vient 48
Vgl. Sext. Empiricus,
Pyrrh. Hypot.
II, 11.
Stoische und skeptisch-relativistische Momente
201
de luy, et les sens ne peuvent rien sans luy." 4 9 Dem Geist kommt gegenüber den Sinnen eine aktive Eigenständigkeit zu, in der die Möglichkeit von Wissen(schaft) überhaupt liegt, was nun aber nicht bedeuten soll, daß die Seele aus sich heraus wissend sei. Im Wechselspiel beider ist Wissen aber eine deutliche Verstandesleistung. Gegen die „schwachen Köpfe" die die Sagesse als zu gewagt empfinden, unterstreicht Charron im Gefolge von Paulus (1. Korr. II, 15), daß sich Weisheit und der Weise gerade dadurch auszeichnen, daß sie alles beurteilen, selbst aber keinem Urteil anheimfallen. Der Weise wird durch diese Trennung jeglicher Kritik enthoben, er hebt sich aus der Masse der Menschen heraus, zieht eine Trennungslinie zwischen sich und den Gegenständen seiner Betrachtung und erlaubt in keinem Falle, daß sich diese über sein Reflektieren und Urteilen zum Richter erheben. Das denkende Bewußtsein schützt sich auf diese Weise gleichsam vor den Gegenständen seines Denkens. Die strukturell gleiche Strategie der Grenzziehung treffen wir auch an, wenn es darum geht, dem Zweifel Schranken zu setzen, denn volle Skepsis ist letztlich nur um den Preis vollständiger Auflösung und Verunsicherung sowohl des Ich als auch der äußeren Wirklichkeit durchzuhalten, was ja erklärtermaßen auch gerade nicht das Ziel sein soll. Um sich gleichsam selbst zu entkommen, macht der Zweifel Charrons halt vor der geoffenbarten Religion, vor dem Faktisch-Existierenden, vor den bestehenden sozialen und politischen Ordnungen. Positiv gewendet bedeutet dies: fideistische Haltung in Sachen Religion, Achtung und Befolgung von Autorität und Gesetzen aufgrund ihrer autoritativen Faktizität (nicht etwa aufgrund ihrer ethischen Richtigkeit), konformistische Haltung gegenüber Institutionen, Sitten und Bräuchen, und vollständige Unterwerfung unter politische Macht. Dies ist um so bedeutsamer, als Charron sich darüber im klaren ist, daß er bei aller Verlagerung der Maßgeblichkeit ins Individuelle, sein Individuum nicht gänzlich der gesellschaftlichen Sphäre entziehen kann, gesellschaftlicher Kontakt also in die Konstruktion der sagesse humaine eingerechnet werden muß. Charrons skeptisches Individuum verkehrt in der Gesellschaft als Maske, übenimmt in innerlich distanzierter Weise eine Rolle. Auch aus dem methodischen Verfahren der Skepsis bei Charron (durch Vergleich nämlich und besonders durch Kontrastierung der Unterschiedlichkeiten eine Negation absoluter Kriterien und damit absoluten Wissens herbeizuführen) läßt sich deren Grenze als Zweifel und der Ubergang zu Formen der Gewißheit heraustreiben. Die Strategie des Zufallbringens 49
Sag. I, 14, S. 114.
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Skeptischer Ratioaalismus und absolute Monarchie
von Kriterien und Wissen muß grundsätzlich mit der Annahme operieren, daß sich Übereinstimmung (d. h. eine Nicht-Gegensätzlichkeit, eine Nicht-Relativität) niemals einstellt, und daß es keine Instanz gibt, die eine solch synthetische Leistung der Vereinheitlichung vollbringen könnte. Unausgesprochen muß das skeptische Verfahren zugeben, daß dann Kriterium und Wissen wahr sind, wenn im Sinne einer solchen Leistung eine gleichsam empirische Ubereinstimmung oder Vereinheitlichung erreicht ist. Dieser empirische Konsens ist unausgesprochen gleichsam das Wahrheitskriterium der Skepsis selbst. Entscheidend ist nun, daß Charron dabei keineswegs auf einen (wenn auch noch zukünftigen) Idealkonsens abstellt, sondern daß er sich stets vergangenheitsorientiert mit derjenigen Übereinstimmung zufrieden gibt, die sich im bloß faktischen Bestehen ausdrückt. So wendet er sich beispielsweise gegen die Reformation mit dem Argument, die katholische Kirche vereinige (a) durch ihre zeitliche Dauer, ihr Alter und (b) durch ihre weite Verbreitung eine Wahrheit auf sich, gegenüber der die Reformation eine wahrheitsarme Zufälligkeit sei. Skepsis richtet sich so gesehen prinzipiell gegen Innovationen. Man vergegenwärtige sich demgegenüber etwa die Position des gleichwohl auch für die souveräne Monarchie eintretenden J . Bodin, der hinsichtlich des Naturrechts den Konsens gerade als Kriterium ablehnt, wohl wissend, daß Naturrecht damit hinter einer Reduktion auf Faktisches zu verschwinden droht; 5 0 Für die Theorie von Lipsius und Du Vair gilt noch das Bemühen um so etwas wie eine Dialektik von Seinsordnung und Freiheit, von Metaphysik und Ethik. Für Charron scheint diese Spannung nicht mehr zu bestehen. Seine Skepsis läßt als Grundlegung und Kriterium nur noch faktisch Daseiendes, nur noch Bestehendes gelten. Der Skepsis entspringt eine eigentümliche Metaphysik des Faktischen, die in ethischer und politischer Hinsicht implizite bestimmte Konsequenzen hat. Wollten wir einmal diesen Zusammenhang in die Frage nach dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit einspannen und den Gedanken einer Einrichtung und Entwicklung der vollkommensten aller möglichen Welten zur Verdeutlichung herantragen, so muß festgestellt werden, daß diese Welt dann, den Prinzipien einer solchen Skepsis zufolge und in Unterschied zur Metaphysik eines Leibniz, keineswegs die sittlich beste, sondern die faktischste aller möglichen sein würde. Ab sofort ist aus dieser Warte am Bestehenden keine Kritik mehr möglich, und die Paradoxie liegt
50
Vgl. B o d i n , République
I, 5.
Stoische und skeptisch-relativistische Momente
203
darin, daß diese Paralyse gerade durch den Zweifel erreicht wurde. Der an der Vergangenheit und am Bestehenden als Kriterium orientierte Zweifel verunmöglicht sich letztlich selbst als Kritik und besitzt (da Faktisches und Normatives identisch sind) sein Betätigungsfeld politisch gesehen im Kampf gegen Neuerungen. Wollten wir die Skepsis Charrons hinsichtlich ihrer Stellung zur Uberlieferung systematisch einordnen, so ergibt sich eine doppelte Schwierigkeit. Fassen wir nämlich Anlage und Grundintention der Sagesse ins Auge, so wird deutlich, daß die vereinzelten skeptischen Momente auf einem festen und mit Gewißheit vorgetragenen philosophischen Grundraster aufruhen. D e r Entwurf Charrons ist von der Grundannahme getragen, daß ein befriedeter und in sich ruhender Glückszustand des Menschen (a) in einer deutlichen Abhängigkeit von einem aktiven Bemühen des Individuums und (b) im Rahmen einer philosophischen Systematik steht. Insofern besteht die Basis der Charronschen Lehre gerade nicht aus Skepsis. Die skeptischen Vorbehalte beziehen sich dann auf die Möglichkeit, daß sowohl die Sinneswahrnehmung als auch die Verstandesleistung der täuschenden Korruption zugänglich sind. Deshalb kann es dogmatische Gewißheit nicht geben (ausgenommen natürlich sogleich diejenige Verbindlichkeit, die, durch Evidenz sich selbst vermittelnd, aus der Natur der Sache und der Natur des Menschen resultiert; ,res, non verba' lautet das Programm). Hier steht Charron mit seinen Gründen für den Zweifel eher in der Nähe einer akademischen Skepsis. Allerdings zeigt die weitere Ausführung dieses Zusammenhangs, daß er der über Montaigne vermittelten Tradition pyrrhonischer Skepsis weit stärker und entscheidend verpflichtet ist. Zu denken ist etwa an das Herausstellen der Isosthenie als Grundverfahren; das Aussetzen eines Urteils; das fraglose Leben in Überkommenem, dessen Existenz nicht in der Entscheidung des Weisen liegt, deren Werte er aber befolgt, nicht weil sie wahr oder richtig sind, sondern weil er sich verhalten muß, auch dann, wenn er die Unmöglichkeit einer wertenden Entscheidung eingesehen hat. Aber Charron ist kein Pyrrhoneer im strengen Sinne, denn deren bewußt unphilosophische Gleichgültigkeit macht jeglichen systematischen Entwurf unmöglich. Wäre er ein wahrhafter Skeptiker, er hätte nie die Sagesse schreiben können, sondern höchstens, wie Montaigne dies tut, in einer unsystematischen Weise etwas von dieser pyrrhonischen Grunderfahrung unverbindlich mitteilen können. In einem für die Neuzeit höchst bedeutsamen Zirkel zeigt sich der Ubergang von allgemeiner Skepsis zum methodischen Zweifel und dessen veränderte Funktion einer Gewißheit. Die Gewißheit (als religiöse, mora-
204
Skeptischer Rationalismus und absolute Monarchie
lische und zuletzt auch als methodische) sucht sich mittels des Zweifels zu sichern, und aus dem Zweifel treibt Gewißheit sich heraus. Wir haben schon gesagt, daß sich aus der Skepsis als einer scheinbar interesselosen Entsagung der äußeren Wirklichkeit (um nicht durch Wissensdrang die ruhige Gelassenheit des individuellen Ich, die Seelenruhe zu gefährden) trotz aller Vergleichgiiltigung gerade auch eine Vergewisserung des eigenen Selbst einstellt. Zunächst geschieht dies noch nicht in dem reflexiven Sinne des Gedankens, daß ein sich selbst bewußtes Ich sich jetzt des Urteils enthält, sondern vielleicht nur auf der Ebene selbstbezogenen Empfindens über das eigene Verhalten und die eigene Einstellung. Eine ausgeprägt skeptische Haltung geht dann einen Schritt weiter, sie setzt nämlich ein bewußtes Ich bereits voraus. Auf dieses Ich führt die Skepsis immer stärker zu, denn sie kann ihr Ziel der abständigen Gelassenheit nur um den Preis einer letztlich totalen Verunsicherung dieser Welt, nur um den Preis endloser Auflösung und Transformation in Kontingenz erreichen. Die Skepsis selbst ist sich dieser ihrer eigenen Konsequenz erst nach Hegel im 19. Jahrhundert bewußt geworden. Sie zehrt bis dahin vielmehr die Kraft ihrer Negation aus einem dennoch jenseits aller Fraglichkeit fraglos vorhandenen ontologischen Bestand der Wirklichkeit. Wenn die Skepsis behauptet, der Mensch könne auf ihrem konsequenten Wege durch die gewonnene Abständigkeit zur Welt seine innere Ruhe und Gelassenheit finden und damit seinen Glückszustand gerade qua Skepsis und Nichtwissen erfolgreich auf Dauer stellen, so hat sie damit eine letztlich intakte und ontologisch versicherte Wirklichkeit zur fraglosen Voraussetzung. Skepsis übernimmt also so gesehen gerade eine bestimmte axiologische Funktion. Historisch gilt dies bis einschließlich Hegels philosophischem System, wo die Skepsis im Interesse einer übergeordneten Sache innerhalb des Systems eine bestimmte Funktionsstelle ausfüllt, nicht aber ihre immanente und auf Gänzlichkeit zielende Logik zum Zuge bringen darf. Neben der fraglosen Voraussetzung einer letztlich versicherten Wirklichkeit (was besonders bei der antiken Skepsis der Fall ist), gilt es, wie schon gesagt, hinsichtlich der skeptischen Einstellung und Haltung in der Frühen Neuzeit auf das immer auch schon vorauszusetzende Ich zu verweisen. Ihm kommt im Zusammenhang der neuzeitlichen Entwicklung eine entscheidende Bedeutung zu. Dem Prozeß der stets weiter ausgreifenden Auflösung der Welt und Wirklichkeit geht zwangsläufig eine Konzentration auf das den Zweifel vorbringende Ich einher, das nun entweder die Konstitution der Welt zur Einheit, ihre Ubersetzung aus völliger Kontingenz in auf den Menschen bezogene Zusammenhänge für sich be-
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ansprucht und übernimmt oder resignative Zuflucht in eine von dieser Welt absolut unterschiedene Struktur eines ich-stabilisierenden Zusammenhangs etwa religiöser Art nimmt. Für die neuzeitliche Theoriebildung ist in diesem Zusammenhang nun besonders ein Ubergang entscheidend. Die pyrrhonische Skepsis der Antike gründet in der steten Möglichkeit zur Diaphonie, zur Entgegensetzung gleichrangiger Sätze, die „nicht eher" Wahrheit beanspruchen können als andere. Sie leugnet damit die Möglichkeit, eine solche Vielfalt und Relativität zu einer Einheit synthetisieren zu können. Demgegenüber führt die für die Neuzeit ganz entscheidende Einschränkung der allgemeinen Skepsis auf den methodischen Zweifel und die aus diesem gewonnene Gewißheit möglicher Erkenntnis gerade dazu, das menschliche Bewußtsein in einen Status der Subjektivität gegenüber einer vergegenständlichten äußeren Wirklichkeit zu setzen, hinsichtlich deren das Bewußtsein diese Synthesis einer Mannigfaltigkeit zur Einheit zu leisten beansprucht. Und das Entscheidende dabei ist, daß diese Synthesisleistung des Bewußtseins (welche die Mannigfaltigkeit und Unterschiedenheit der Wahrnehmungsleistungen vereinheitlichend aufhebt) nicht einfach Addition, Zusammenbindung des Vielen ist, sondern selbst erst etwas Neues gleichsam in die Welt oder genauer : als Welt setzt. Am Beispiel des Experiments ließe sich dieser Grundzug verdeutlichen. Empirisch auftretende Phänomene werden ihrer gegensätzlichen und individuellen Eigenarten soweit entkleidet, bis sie sich einer Leistung des Bewußtseins, eines mathematisierten Theoriezusammenhangs in einem transzendentalen Sinne anpassen. Ist diese Vereinheitlichung erreicht, so wird mit einer derart zugerüsteten Wirklichkeit experimentiert, d. h. sowohl Erfahrungskontrolle des bisher gültigen allgemeinen Gesetzeszusammenhangs durchgeführt als auch besonders selbst Phänomene und eine Wirklichkeit zu produzieren getrachtet. Als methodischer Zweifel tritt die allgemeine Skepsis in der neuzeitlichen Rationalität also in einen Zusammenhang, der die Grundbehauptung der antiken Skepsis, die Unmöglichkeit einer Synthesis nämlich, in einem dogmatischen Sinne aufhebt. Daß der Zweifel zu einer neuen Art von Gewißheit führen kann, das zeigt sich gerade auch im religiösen Bereich, wenn wir etwa daran denken, daß Pascals berühmte Wette auf der Unsicherheit gründet, und wenn wir uns vergegenwärtigen, in welch scharfer Wende später Kierkegaard an jedweder Vernunftleistung zweifelt, und der Zweifel als Verzweifelung im Rahmen seines Glaubensparadox entscheidende Bedeutung erhält. Was den Theologen Charron betrifft, so können wir nicht davon absehen, daß er vor dem Hintergrund der Gegenreformation in Frankreich schreibt,
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und daß von hier aus gesehen seine Skepsis auch in den Zusammenhang der durch die Reformation aufgeworfenen Frage nach einem Wahrheitskriterium in Sachen Religion gehört. Das philosophische Bemühen Charrons aber darin aufgehen zu lassen, dies ginge am eigentlichen Anliegen der sagesse humaine vorbei. Der Zweifel an der Wahrheitsleistung der Vernunft in religiösen Dingen und die gegenwendige Herausstellung des Glaubens als entweder der Vernunft vorgeordnet oder gar nur gegen diese möglich, der Zweifel gleichsam zum Zwecke theologischer Demonstration ist noch zu unterscheiden von demjenigen Zweifel und derjenigen Skepsis, die sich aus dem axiologischen Beweggrund der Ataraxie, der Seelenruhe und der gelösten Gelassenheit der individuellen Lebensgestaltung eines sicheren Urteils über Sätze und Vorstellungen enthält, sich in das Sosein der Welt in einem eher gleichgültigen Sinne einfügt, ohne dabei von dessen Wahrheitsgehalt überzeugt oder gar abhängig zu sein, es also gerade ablehnt, sich in die Sicherheit weder eines Glaubens noch der Welt zu begeben. Die rein theologischen Schriften Charrons zeugen von ersterer Haltung, die Sagesse jedoch ruht auf letzterer auf. Dabei haben wir bereits gesehen, in welcher Weise der neustoische Zusammenhang von Natur, Vernunft und Willen zum einen die christliche Lehre hinsichtlich der Grundlegung einer natürlichen Moral substituiert, und wie dieser Zusammenhang zum anderen eine endogene und immanente Sicherung des menschlichen Individuums ermöglicht und bewerkstelligt, die dann in einem zweiten Schritt auch die soziale und politische Wirklichkeit nach ihrer Maßgabe verfaßt sehen möchte. Wenn die Gegenreformation den Zweifel als Kampfinstrument einsetzte, ebenso übrigens wie die Reformation gegen den "Katholizismus und dessen Lehre, und beide sich damit einer in der göttlichen Offenbarung und dem Glauben ruhenden Sicherheit der Religion, der Theologie und deren Beweisführung wähnten, so konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich der Gedanke des Zweifels gerade auch auf diesen Bereich anzuwenden sucht. In der Person Charrons finden wir beide Bewegungen, einerseits den Einsatz der Skepsis gegen den theologischen Gegner, und andererseits die Wende des Zweifels gegen die Religion selbst bei gleichzeitiger Konzentration auf eine neue Basis zur Sicherung des menschlichen Individuums, die in dem Dreigestirn von Natur, Vernunft und Willen gefunden wird. In der Sagesse wird Religion zum Teilbereich der Moral. In der Religion wird zwar immer noch die Krönung des Ideals wahrer ,preudhommie' gesehen, aber zur Begründung dieser Lebens- und Welthaltung ist sie keineswegs mehr notwendig. Dies ist die neue Weise, in der Denken und Glauben, Natur und Religion
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einander komplementär verbunden sind. Religion tritt dabei aus dem Begründungszusammenhang von Ethik heraus. Unsere Interpretation stellt die positiv-setzenden, die aktiven, die affirmativen, die handlungsmotivationalen und -ethischen Züge der sagesse humaine als die für das Denken Charrons charakteristischen Grundlinien heraus. Dabei aber darf die als Konsequenz der skeptisch-relativistischen Einstellung und Haltung auftretende Passivität nicht unterschlagen werden. In dem gleichen Sinne, in dem stoische und skeptische Momente bei Charron unter dem Leitfaden der einen axiologischen Grundforderung zusammenwirken, in dem gleichen Sinne fügen sich in dieser Lehre auch die aktiven und die passiven Züge im Interesse des ethischen Ideals ineinander. Charron entwirft, wie wir später noch genauer sehen werden, im Dritten Buch der Sagesse unter beinahe ausschließlichem Rückgriff auf die Civilis doctrina von Lipsius eine umfassende politische Theorie im engeren Sinne. Diese Ausführungen haben postulatorischen und normativen Charakter ; sie fordern eine politisch-staatliche Ordnung, wie sie nach Ansicht Charrons dem Ideal der preudhommie am entsprechendsten ist. Hier erhält also die Seite willentlicher Setzung ihren deutlichsten und politisch wirksamsten Ausdruck. Dabei erscheint die geforderte Ausprägung der politischen Machtordnung, der neuzeitliche Machtstaat nämlich, als die dem privaten Ideal natürlicher Moral adäquateste Formung des sozialen und politisch-staatlichen Miteinanders der Menschen. Zugleich aber ist dieser Staat für den Skeptiker und Relativisten Charron eine entsakralisierte und entuniversalisierte Zweckveranstaltung. Beide Aspekte gilt es in ihrer Zusammengehörigkeit zu sehen. Sie zeigen in welchem Sinne der neue Machtstaat eine über das historisch Gewordene hinausgehende Dignität seitens der Untertanen auf sich zu ziehen fähig und legitimiert ist. Dies führt dazu, daß die Imperative der Macht und der Herrschaft nicht nur, aufgrund konkreter Machtausübung, unmittelbare Wirksamkeit, sondern gerade auch, auf dem Wege über Grundeinstellung und Haltung, latente Dauer erhalten. Gleichwohl aber ist dieser Staat als rein weltliche Anstalt von Kirche, Religion und auch von ethischer Universalität gelöst. Fordert also die aktive Seite natürlicher Moral des Individuums eine bestimmte Organisation der Gesellschaft und des Politischen, so ist die skeptisch-relativistische Seite in der Lage, die Einstellungen und Haltungen bereitzustellen, diese Ordnung fortan auch durch Passivität und kritiklose Einpassung seitens der Untertanen in ihrem Bestand und ihrer zeitlichen Dauer zu sichern. In realgeschichtlicher Hinsicht bedeutet dies eine enorme Stütze für die absolute Monarchie. Die Skepsis stützt den früh-
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modernen Staat dadurch, daß sie jedem möglichen Einwand schon im vorhinein den Boden für eine nach Maßstäben einer ethischen Universalität geführten Kritik entzieht. Es gibt im skeptisch-relativistischen Zusammenhang keine ethischen Werte mehr, die aufgrund ihrer objektiven Begründung als N o r m auch die gesellschaftliche Gesamtheit und deren politische Organisation und Verfassung unter sich oder zumindest vor ihre Schranken der Rechtfertigung zwingen könnten. In Konsequenz der Skepsis kann sich auch die Tradition des Naturrechts keiner objektiven Basis mehr versichert wissen, was den politischen Herrscher und das positive Gesetz zu letztlich willkürlicher Unbegrenztheit freisetzt. 5. Moral und Politik Charron begreift die Herausbildung und Entwicklung der menschlichen Weisheit als eine „matiere morale et politique, vraye science de l'homme", und bei ihrer Bearbeitung will er sich antiker (besonders Senecas und Plutarchs) wie auch moderner Autoren bedienen. So soll von Anfang an die philosophische der politischen Theorie nicht unvermittelt gegenüberstehen. Bereits im noch rein anthropologischen Bereich waren die Strukturaffinitäten zwischen menschlichem Körper und funktionierender Monarchie herausgestellt worden. Die gleichen erweiternden Analogisierungen finden wir in der dreifachen Aufstufung der Lebensweisen nach (a) innerem oder privatem, (b) häuslichem oder familiärem und (c) öffentlichem oder vor den Augen der Welt sich vollziehendem Leben. In dieser Reihenfolge manifestiert sich eine jeweils steigende Gefügekomplexität, mit der eine stärkere Entäußerung des Individuums und dadurch auch ein Verlust an Evidenz und Wahrheit einhergeht. „ C e qui se faict en public est une farce, une feincte; en privé et en secret, c'est la vérité: (. . .) le reste est tout contrefaict: ,universus mundus exercet histrion i a m ' . " Das Individuum ist mit jeder weiteren Stufe äußerer Aktivität und äußeren Zusammenhangs mit Anderen und Anderem zu einer Entäußerung seines eigenen Ich gezwungen und steht stets in der Gefahr einer Selbstaufgabe. Dies gilt besonders im öffentlich-gesellschaftlichen Leben, „ o ù nous sommes en eschec et en butte aux yeux et jugemens de tous, où la gloire, la crainte du reproche, de mauvaise reputation, ou quelqu'autre passion nous meine (or la passion nous commande bien plus vivement que la r a i s o n ) . " 5 1 Das unveräußerlich Innere eines als privat gedachten Ich ist 51
Sag. I, 55, S. 4 0 4 - 4 0 5 ; vgl. Vorwort Sag. (1601), S. X X X I V .
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so gesehen in den Formen zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verkehrs stets gefährdet, und den Gemeinsamkeiten, dem gesellschaftlichen und politischen Gefüge als ganzem kommt keine ich-konstituierende Aufgabe zu. Der Mensch ist nicht mehr, wie in der klassischen Antike, seinem Wesen nach politische Kreatur in jenem polis-orientierten Sinne, daß er erst im und als Innestehen in der staatlichen Gemeinschaft sein wahres Ich herauszubilden vermag, sondern er tritt aus Gründen äußerer Notwendigkeit des Uberlebens als ein in seinem Innern bereits distanziertes, gleichsam schon fertiges, identisches (oder nur im Innern zur Selbstverfertigung und Identität des Ich gelangendes) Wesen sekundär in einen sozialen und politischen Verbund. Dies allerdings mit Notwendigkeit, denn es ist für Charron ein Trugschluß zu meinen, daß man sich durch einsiedlerischen, einsamen Entzug Ruhe sichern könne. „Fuyr n'est pas echaper, c'est quelquefois empirer son marché et se perdre. , Ν ο η vitat sed fugit: magis autem periculis patemus aversi'." In einer desengagierten Form und darum wissend, daß das eigene Ich zwar nicht in seiner Konstitution, wohl aber in seiner Sicherung von Gemeinschaftsformen abhängt, besteht sogar die Pflicht zur aktiven Teilnahme an der kollektiven Sicherung der Individuen qua Staat und öffentlicher Ordnung. Von der Warte einer auf diese Weise an Nutzen und Notwendigkeit orientierten Machtordnung aus gesehen gilt, daß „s'enfuyr et se cacher ayant moyen de profiter à autruy, et secourir au public, c'est estre deserteur, ensevelir le talent, cacher la lumiere, faute subjecte à la rigueur du jugement." Beispielsweise nimmt der Weise an öffentlichen Gottesdiensten trotz seines Wissens um die eigentlich notwendige kontemplative Verehrungsform Gottes teil, um sich eigenen Nutzen dadurch zu sichern, daß er durch diese seine Teilnahme zur Stabilität des Gemeinwesens beiträgt. Die Gemeinschaft muß sich damit zufrieden geben, daß man sich ihr im Scheine des Beteiligtseins, des Dazugehörens leiht und einpaßt. Diese Grundhaltung wird durch die Ansicht unterstrichen, daß der „homme de b i e n " öffentliche Funktionen nur übernimmt, um zu verhindern, daß sie von Bösewichten ausgeübt werden. Tritt das Individuum aktiv in die Sphäre der Gesellschaft ein, so übernimmt es eine bestimmte Rolle, setzt sich eine Maske auf. „Au reste il faut bien sçavoir distinguer et separer nous-mesmes d'avec nos charges publiques; un chascun de nous joue deux roolles et deux personages, l'un estranger et apparent, l'autre propre et essentiel." 5 2 Wie einerseits die
52
Sag. II, 2, S. 72; I, 56, S. 409 - 4 1 0 , vgl. Seneca, Ep. 104; II, 5, S. 145, vgl. Augustin, De civ. Dei VI, 10; Sag. II, 2, S. 37; vgl. III, 17, S. 140ff.
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scheinbare Teilnahme, so steht andererseits die bewußte Enthaltung seitens des Individuums in dem gleichen Interesse einer Stabilisierung der inneren und der äußeren Verfaßtheit. Die „surséance du jugement" richtet sich gegen ein dogmatisches Festhalten an einer Position, die im Inneren zu Stolz, Ambition, Halsstarrigkeit und Eigendünkel führt, aus denen dann wiederum die „troubles; sectes, heresies, seditions" hervorgehen. Wird ,epoché' in diesem Sinne zu einer allgemeinen Grundhaltung, so gilt sie jedoch nicht in gleicher Weise für die Träger öffentlicher Ämter, die sich, wie Charron im Gefolge von Lipsius unterstreicht, in jedem Falle der gerechten Partei anzuschließen haben und das Steuer nicht im Sturm verlassen dürfen. Disziplinierung im geistigen und im politischen Bereich sind so einander komplementär gefordert. Der umherstreifende und vagabundierende Geist, in dessen Folge stets auch politische Unruhen stehen, muß durch Religion, Gesetze, Gewohnheiten, Wissenschaft, Vorschriften, Versprechungen und Androhungen gezügelt werden, denn nur der wirklich hohe Geist kann sich selbst überlassen werden. Der Staat erhält auf diese Weise einen jeweils anderen Charakter, je nachdem ob er hinsichtlich der unruhestiftenden Volksmenge oder hinsichtlich des verinnerlichten und aristokratischen Geist-Individuums betrachtet wird. Die Zucht des Geistes verhindert Verirrungen, die Zucht im Staate verhindert Unruhen und Aufruhr. Der Staat erscheint in dieser Perspektive als die Disziplinierungsanstalt auf gesellschaftlicher Ebene, sein Gegenstand sind die politischen Leidenschaften, welche wiederum ihren Sitz im Volke haben. Zu diesem hat der Weise größte Distanz zu halten, „de fuyr sur-tout la tourbe, la compagnie et conversation du vulgaire, d'autant que l'on n'en approche jamais sans son dommage et empirement." Der Weise ist „autant par dessus le commun des hommes, comme celuy par dessus les bestes", was unmittelbar zur Charakterisierung des Volkes als eines wilden und unberechenbaren Tieres führt. 5 3 Weit zurückgelassen ist hier bereits Montaignes doch versöhnliches Postulat der Volkstümlichkeit des Weisen ; wir sind vielmehr im Bereich rein politischer Wertung. Das hinsichtlich der Gesellschaft und des Staates Böse wird in Bindung an das gemeine Volk expliziert. Dessen Züchtigung und Zähmung ist vonnöten, da es wie kaum ein anderes Moment in der Lage ist, die Erreichung des höchsten Gutes, die in der Seelenruhe endende preudhommie zu verhindern. Wie im anthropologischen Bereich der vernunftgeleitete Wille, der rationale Intellekt, so ist im politischen Bereich die Majestät das zentrale Mittel der
53
Sag. II, 2, S. 35; II, 1, S. 13. Vgl. I, 15, S. 130-131; II, 2, S. 53.
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Züchtigung und Selbsterhaltung. „Ii n'y a rien de plus grand en ce monde que l'authorité, qui est une image de Dieu, un messager du ciel: si elle est souveraine, elle s'appelle majesté; si subalterne, authorité, et se soustient de deux choses, admiration et crainte meslées ensembles." Majestät und Autorität haben ihren Sitz in der Person des Souveräns und den aus dessen Majestät fließenden Gesetzen und Verordnungen. Ihnen gilt es sich zu unterwerfen, „non parce qu'elles sont justes, mais parce qu'elles sont loix et coustumes; c'est le fondement mystique de leur authorité." 54 Wie sehr Charron hier den politisch-disziplinierenden Überlegungen Vorrang vor einem uneingeschränkten Rückgriff auf die Natur des Menschen einräumt, wird spürbar, wenn er die grundsätzlich naturwidrige Funktion der „coustumes" zugunsten deren politischer Funktion hintanstellt. Die , coustumes' treten als entscheidendes Instrument neben die positiven Gesetze zwecks Züchtigung des Volkes. Der Weise vollbringt demgegenüber die Einpassungsleistung aus eigenem Antrieb, als gleichsam geadelte Natur verhält er sich so, daß sowohl seinen eigenen Intentionen als auch den Erfordernissen des allgemein Politischen Genüge getan ist. So lassen sich etwa acht Regeln klugen Verhaltens in Angelegenheiten der Welt herauspräparieren, die für ihn die gleiche Verbindlichkeit haben wie sie mutatis mutandis das regierungstechnische Verhalten des souveränen Herrschers bestimmen sollen. (1) genaue Kenntnis der Personen, mit denen man Umgang hat, (2) richtige Einschätzung und Beurteilung der Dinge nach ihrer Natur und Nützlichkeit, (3) die richtige Wahl treffen (in schwierigen Fällen immer für die ehrenhafteste Lösung eintreten), (4) sich des Rates anderer (aber mit Vorsicht) bedienen, (5) eine Mittelstellung zwischen zu großem Vertrauen und Mißtrauen einnehmen, (6) den rechten Augenblick nutzen, (7) Tugend höher als Fortuna schätzen, jedoch mit letzterer stets auch rechnen und (8) Zurückhaltung und Verschwiegenheit wahren. 5 5 Den gleichen Zusammenhang von neuer Moral und Politik finden wir im Bereich des Gerechtigkeitsbegriffs. Von der Idee einer reinen, idealen Gerechtigkeit als einer theoretischen Tugend wendet Charron sich eigentlich zu dem, was der menschlichen Natur einerseits und der politischen Sphäre andererseits gerecht wird. Gerechtigkeit erscheint im Sinne des Gerechtwerdens gegenüber einer betreffenden Natur und beginnt für Charron da, wo die Vernunft sich gegenüber der Sinnlichkeit durchsetzt und damit den Zustand der Gerechtigkeit herstellt. Für das positive Recht 54 ss
Sag. II, 8, S. 194, 205. Vgl. Sag. II, 10. Zu den coustumes vgl. Montaigne, Ess. I, 22; Sag. II, 8, S. 194ff.
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bedeutet dies, daß es als das der Natur des Politischen gerechtwerdende Recht eine quasi-naturrechtliche Qualität erhält. Ziehen wir die bereits behandelte skeptisch-relativistische Komponente hinzu, so wird deutlich, daß die hier zugrunde gelegte Natur letztlich die Natur des BloßFaktischen ist. Natur ist das, was der Fall ist, und gerecht ist, was diesem nützt. „Justice est rendre à chascun ce qui luy appartient, à soy premièrement et puis à autruy." 5 6 Gerechtigkeit wird im Rahmen von Notwendigkeit und Nutzen bestimmt, und nicht umgekehrt. Die unbequeme Spannung von (metaphysischem) Ideal und (konkreter) Praxis wird durch eine tiefgreifende Unterscheidung zu beheben gesucht, die ihre theoretischen Wurzeln nicht so sehr in dem Einfluß etwa Machiavellis, sondern vielmehr in der Dissoziation von ,iustitia naturalis' (theoretische Gerechtigkeit) und ,iustitia civilis' (Gerechtigkeit im Sinne praktisch-politischer Weisheit) bei dem zur Tradition akademischer Skepsis gehörenden Karneades hat. Für Charron geht es um die Gerechtigkeit als einer politischen Tugend, d. h. als einer dem Politischen im immanenten Sinne angemessenen Verhaltensweise und Einstellung, und gerade die zeitgenössische Situation der Krise erfordert eine derartige Umorientierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Charron akzeptiert die Maxime ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst', interpretiert sie aber konsequenterweise dahingehend, daß die Pflichten sich selbst gegenüber ins Zentrum jeglicher Gerechtigkeitsbemühung rücken, denn es gibt keinen Bereich, dem es so uneingeschränkt gerecht zu werden gilt wie der Natur des Menschen. Dem Geist gilt es dadurch gerecht zu werden, daß seine beiden Grundmomente der Vernunft und des Willens (und in deren Gefolge Wissenschaft und Tugend) zum Tragen kommen; der Körper bedarf der Sorge, da er ein von der Natur gegebenes Instrumentarium darstellt, dessen Beschützer der Geist ist; den an sich indifferenten Gütern (biens) gilt es eine mäßigende Einstellung zwischen Ablehnung und Zuneigung entgegenzubringen; Reichtum soll man (a) wollen, aber nicht lieben, (b) nicht auf Kosten anderer erstreben, (c) wenn ehrenhaft erworben, nicht abweisen, (d) ehrenvoll und zurückhaltend verwenden und (e) sich über einen Verlust nicht grämen. Der mit der Rationalisierung des Lebenszusammenhangs einhergehende Verlust an Ganzheit, die Dissoziation der Lebenswelt, läßt sich auch im Bereich der vom Individuum aufzubringenden Gerechtigkeit greifen. Unterschieden wird nach Gerechtigkeit und Pflicht gegenüber (a) Gott, (b) sich selbst und (c) den Mitmenschen, wobei jeder der drei Bereiche in
S6
Sag. III, 5, S. 431; vgl. Bodin, Rép. VI, 6.
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sich isoliert ist und seine Bestimmung jeweils nur aus sich heraus erfährt. Gott gerecht zu werden bedeutet, ihm in höchst individuellem Geiste huldigend verbunden zu sein. Eine Selbstverwirklichung ist nur im Individuellen möglich, und das Verhältnis zum Mitmenschen ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß es die jeweils in Frage stehende Person nicht wirklich berührt. Keiner der Bereiche von Gott, Ich, Mitmensch und äußerer Wirklichkeit greift funktional oder medial auf einen der anderen zurück oder vor. Die vierheitliche Ganzheit ist in ein amorphes und nur über äußerliche Bewegtheit im Sinne der Notwendigkeit und des Nutzens zusammengehaltenes Gefüge übergegangen. Von hier aus hebt Charron die Unterscheidung nach einer „justice naturelle, universelle, noble, philosophique" und einer Gerechtigkeit „aucunement artificielle, particulière, politique, faicte et contraincte au besoin des polices et estats" zugunsten der letzteren auf. Die erste Weise der Bestimmung entspreche nicht dem, was die Struktur der Welt ausmacht, und auch nicht dem, was in der Welt tatsächlich geschieht. Diese Art von Gerechtigkeit „n'est qu'en idée et theorique, n'en faut point parler." Nachdem die Gerechtigkeit derart auf die praktischen Erfordernisse zugeschnitten ist, ergibt sich bei Charron bereits die später bei Samuel Pufendorf wiederkehrende Unterscheidung nach einer .justice commutative' zwischen den einzelnen Individuen (Zivilrecht) und einer ,justice distributive' (öffentliches Recht), wobei das Zivilrecht nach arithmetischer und das öffentliche Recht nach geometrischer Proportionierung verfährt. 57 Was die Gerechtigkeit und die Pflichten im Bereich sozialer Intersubjektivität betrifft, so lassen sich vier Prinzipien des Zusammenlebens ausmachen: Freundschaft, Treu und Glauben, das ermahnende Korrigieren und die wohlwollende Tat mit anschließender Verpflichtung und Anerkennung. Wie die Gerechtigkeit in ihrer gesellschaftlichen Funktion dem Gesetz vorausliegt, so greifen diese Grundsätze ihrerseits noch vor die Gerechtigkeit zurück — beide Male im Sinne einer conditio sine qua non. Vollkommene, d. h. private Freundschaft, „qui est une confusion de deux ames, très libre, pleine et universelle", ist von der durch Wohlwollen und Verbundenheit charakterisierten öffentlichen Freundschaft für Charron ebenso wie für Montaigne schärfstens zu trennen. Der innere Charakter wahrer Freundschaft trägt in seiner Idealisierung einen identitätsstiftenden Zug. In ihr wird die Kluft zwischen Individuum und Anderem überwunden, in ihr herrscht eine Dialektik der Selbstverwirklichung, wenn es S7
Vgl. Sag. III, 5, S. 4 3 1 - 4 3 6 ; III, 6; vgl. auch Bodin, Rép. VI, 6.
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heißt, daß der „ a m y parfait non seulement sçait et cognoist pleinement la volonté de son amy, et cela suffit pour respondre, mais il la tient en sa manche, et la possede entièrement." 5 8 Ganz im Sinne des ciceronischen Diktums 'fundamentum justitiae est fides' setzt Charron dann das Prinzip von Treu und Glauben an die Basis des Zusammenlebens, und hinsichtlich der Zerstörung gesellschaftlicher Harmonie ist Treulosigkeit schlimmer als Atheismus. Treulosigkeit, Schmeichelei, Lüge und Verstellung sind „la presque unique cause de la ruine du prince et de l'estat." Die Erfordernisse der Praxis melden sich aber gegenüber solchen Idealbestimmungen bereits dann zu Worte, wenn Charron zwei Personenkreisen das Mittel der Verstellung zubilligt, dem Fürsten nämlich zum öffentlichen Nutzen und zur Ruhesicherung im Staate, und den Frauen „pour la bienseance, car la liberté trop franche et hardie leur est messeante et gauchit à l'impudence. D a s Maß aller Anstrengungen ist letztlich der Nutzen in Verbindung mit dem Vergnügen. „ E n luy profittant et en luy plaisant" — dies ist die Devise für jegliche Tat, die der an sich gute Mensch einem anderen zuteilwerden läßt, und auch hierfür existiert noch ein detaillierter Regelkanon, den es unbedingt zu beachten gilt : daß man nämlich gern gibt, ohne Frist, ehrenhaft für den Empfänger und keinen Nachteil bringend. 5 9 Der dichotomische Aufbau der Ordnung von Macht und Untertänigkeit aus dem Ersten Buch der Sagesse (vgl. I, 46) wird von Charron in späteren Abschnitten aufgefüllt und expliziert, wobei die strukturelle Gleichbehandlung von privatem und öffentlich-politischem Bereich von entscheidender Bedeutung ist. Aus der Behandlung von Ehe, Haushalt, Verhältnis von Eltern zu Kindern, Verhältnis von Herr und Diener schraubt sich die Behandlung des öffentlich-politischen Bereichs im wahlverwandten Sinne heraus: der Souverän und die Untertanen, die Magistrate, die Großen und die Kleinen. Vom Privaten zum öffentlichen (und umgekehrt) besteht in dieser Perspektive über-setzende Kontinuität; etwa von der Jugend als „Samen der Republik" zum Staat, von der Ökonomie des Haushalts zu den Staatsfinanzen, vom pater familias zum politischen Herrscher. Die all diesen Bereichen unterliegende Macht- und Herrschaftsstruktur ist streng paternalistisch und stets ein Zweierverhältnis im Schema von Befehl und Gehorsam. Sie tritt in den umfangreichen Ausführungen zum Verhältnis der Eltern gegenüber den Kindern paradigmatisch zutage. In keinem anderen Herrschaftsverhältnis wird überdies
58 59
Sag. III, 7, S. 13; z u m ganzen vgl. Sag. III, 7 — 9 und 11. Vgl. Cicero, De o f f . I, 7; Sag. III, 8, S. 22, 27; III, 10, S. 35; III, 11, S. 4 1 - 5 3 .
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die Natürlichkeit der Autorität so offensichtlich. Die Pflichten der Eltern erstrecken sich auf vier Entwicklungszeiträume der Kinder (Zeugung und Schwangerschaft; Kindheit bis zum Erlernen von Gehen und Sprechen; Jugendzeit, Zeit der Unterweisung; Erwachsensein). Dabei greift der Disziplinierungsvorgang bis in die intimsten Bereiche durch. Charron gibt nämlich sogar, in der Nachfolge Huartes, genaueste Anweisungen (acht Regeln) für die Durchführung des Zeugungsaktes, damit bereits in dieser ersten Phase der Grundstock für Stärke, Standfestigkeit, Kraft, Constantia, Willenshaltung und Weisheit gelegt wird. Ziel der Zeugung ist es, „faire des enfans masles, sains, sages et advises". Diese Härte setzt sich nach der Geburt in Anwendung des sehr spartanischen Erziehungsideals fort (la discipline spartaine), welche die entscheidenste Lehre der Welt, die Notwendigkeit nämlich von Befehl und Gehorsam, vermittelt. Die auf Geist, Körper und Sitten gerichtete Unterweisung im Jugendalter muß natürlich am Ideal der Weisheit selbst orientiert sein. Interessant ist vielleicht noch, daß sich die Eltern gegenüber den Kindern der gleichen psychologischen Mittel bedienen sollen, die der Fürst gegenüber seinen Untertanen anwendet. Nicht die Belastung, sondern die Herausbildung von Ehre und Scham sind entscheidend; „il faut contenir la jeunesse en discipline non corporelle des bestes ou des forçats, mais spirituelle, humaine, liberale de la raison." Für die Kinder (und analogisierend können wir ergänzen: für die Untertanen) ist folgerichtig Ehrerbietung, Gehorsam, stete Hilfeleistung und Nachsichtigkeit die aus diesem Autoritätsverhältnis resultierende Haltung gegenüber den Eltern, eine Haltung, „qui leur doibt estre rendu non point comme à hommes purs et simples, mais comme à demy-dieux: dieux terriens, mortels, visibles." Abhängigkeits- und Untertänigkeitsverhältnisse sind auf diese Weise naturgegeben, und von dem stoischen Ideal der Gleichheit aller Menschen schimmert nur noch etwas in der Ablehnung der Sklaverei und der Forderung durch, daß die Herren ihren Knechten und Dienern menschlich begegnen müssen, da lediglich das Glück sie an eine andere Stelle der Naturordnung gesetzt hat, sie aber von gleicher Natur sind. 6 0 D e m Gedanken des Pater familias ist bei Charron auch derjenige der politischen Souveränität noch verpflichtet, die ihrerseits in einer wesentlichen Beziehung zum Willen steht. Ist für den Erhalt der kosmologischen Ordnung ein göttlicher Wille und für den Einzelnen der menschliche Wille festzuhalten, so entspricht hinsichtlich einer staatlichen Ordnung, 60
Vgl. dazu Sag. III, 1 2 - 1 8 ; die Zitate Sag. III, 14, S. 72, 84, 119.
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die sich gleichsam zwischen Kosmos und Individuum als Sinnstruktur (weil Zwecke, Werte und Bedeutungen beinhaltend und festlegend) etabliert und legitimiert, dem Willen die Souveränität als die immanente und unveräußerliche Qualität eines (nationalen) Herrschaftsgebildes. Bodin folgend begreift Charron die Souveränität als „une puissance perpetuelle et absolue, sans restriction de temps ou de condition: elle consiste à pouvoir donner loy à tous en general, et à chascun en particulier, sans le consentement d'autruy, et n'en recevoir de personne." Die zentrale Begründung dieser Souveränität, die konsequenterweise von Charron nicht wie bei Bodin vorwiegend als eine jedem Staatsgebilde gleichsam abstrakt eignende Qualität, sondern stets in Identität mit der Person des Herrschers begriffen wird, liegt in der Natur des Willens. Denn „il est contre nature à tous de se donner loy, et commander à soy-mesme en chose qui depend de sa volonté, ,nulla obligatio consistere potest quae à volúntate promittentis statum capit'; ny d'autruy, soit vivant ou de ses predecesseurs, ou du pays." 6 1 Anthropologie und Politik sind so über den Willen einander wesentlich verknüpft; der Staat ist in seinem Prinzip entscheidend mit der Natur der menschlichen Dinge verbunden. Naturgemäß leben' bedeutet in dieser Perspektive mithin auch ,staatsgemäß leben*. „L'estat, c'est à dire la domination, ou bien l'ordre certain en commandant et obéissant, est l'appuy, le ciment, et l'ame des choses humaines : c'est le lien de la société, qui ne pourroit autrement subsister; c'est l'esprit vital qui faict respirer tant de milliers d'hommes, et toute la nature des choses." 6 2 Mit Blick auf seine eigene Sicherung als Individuum ist der Weise bei Charron bereit, alle aus seiner ich-zentrierten Einstellung zu Anderen und Anderem resultierenden und die Gesellschaft betreffenden Ergebnisse, alle negativen Folgen für die Gesamtheit in Kauf zu nehmen. Ein Zug von Radikalität weht durch das Ideal des Weisen, das hinsichtlich seiner Verwirklichung keine Begrenzungen anerkennt und zugleich jedoch nicht wahrnimmt, daß es sich kaum der von ihm selbst als fraglos und allbefugt in Macht gesetzten Ordnung letztlich entziehen kann. Der Bogen zur Politik wird also vom Individuum her geschlagen, und dieser Umstand zeitigt zumindest zwei gewichtige Folgen. Zunächst bewirkt die Konzentrierung auf das individuelle Ethos, daß auch im Bereich des Politischen eine ausgesprochen personengebundene Betrachtungsweise gehandhabt wird (d. h. keine Institutionenlehre, keine Lehre des corps social, keine 61 62
Sag. I, 51, S. 377 nach Bodin, Rép. I, 8. Sag. I, 51, S. 376 nach Seneca, De clem. I, 4.
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allgemeine Souveränitäts-, sondern vielmehr eine Fürstenlehre). Sodann wird der Staat in einem distanzierten Sinne als Veranstaltung begriffen, die aufgrund ihres Charakters einer Macht- und Zuchtordnung die Pflege des eigenen Ich garantieren und trotz gewisser äußerer Anforderungen sich diese auch ungestört und auf Dauer vollziehen lassen soll. Die Volksmenge nun ist in besonderer Weise in der Lage, dieses erstrebte Ziel zu verunmöglichen, und in dem negativen Porträt, das Charron (und mit ihm eine ganze Tradition) vom Volke zeichnet, manifestiert sich der Verlust jeglichen Zutrauens in kollektive Größen. Bereits bei Du Vair können wir sehen, daß die traditionell negative Charakterisierung des Volkes durch die historischen Ereignisse der Zeit noch verstärkt wurde (beispielsweise durch die Ereignisse um die ,journée des barricades'). Das Volk (le peuple ou vulgaire; la tourbe et lie populaire) ist unbeständig, leichtgläubig, ohne Urteilskraft, neidisch und boshaft, unredlich, treulos, widerspenstig, aufrührerisch, ohne Sorge für das öffentliche Interesse, Gegner jedweder Herrschaft, kraftlos in Situationen der Furcht, unterdrückend in Situationen der Domination, undankbar und ein wildes Tier. Gestützt wird diese abwertende Schilderung durch zahlreiche Passagen aus den Historiae und Annales des Tacitus. Charron beruft sich des öfteren direkt auf Tacitus im Sinne eines Lehrers der ,ars aulica', und alle seine Ubernahmen aus der Lipsianischen Civilis doctrina sind bei der dort herausragenden Stellung des Tacitus auch von dessen Geist durchtränkt. Tacitus' Vorbehalte gegenüber der Masse sind bekannt, und bei Charron ist das Volk jene Größe, auf die der rein politische Teil der zuvor entworfenen Macht- und Autoritätsordnung im Sinne einer zwangsstrukturierenden und Zucht bewirkenden Größe Anwendung finden soll. Die Volksmenge ist von Natur aus wie eine gärende Hefe, eine ständige Bedrohung der Stabilität des Gemeinwesens, ist Sitz des gesellschaftlich Bösen, weshalb gerade ihre Disziplinierung vorrangige Aufgabe des Staates sein muß. Die Notwendigkeit staatlicher Disziplin entspringt für Charron dem Grundcharakter des Volkes selbst. Durchgreifende Strenge „est meilleure, plus salutaire, asseurée et durable que l'ordinaire douceur et grande facilité. Ce qui vient premièrement du naturel du peuple, lequel, comme dit Aristote, n'est pas si bien nay, qu'il se range au debuoir par amour, ny par honte, mais par force et crainte des supplices, puis de la corruption generale des moeurs et desbauche contagieuse du monde." 6 3 Die beste Staatsform besteht für Charron in der „monarchie royale", 63
Sag. III, 3, S. 350; Charakterisierung des ,peuple ou vulgaire', Sag. I, 54.
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wobei „royal" im Gegensatz zu „seigneurial" oder „tyrannique" eine Regierungsart, gleichsam einen Regierungsstil umschreibt, „en laquelle le souverain (soit-il un, ou plusieurs, ou tous) obéissant aux loix de nature, garde la liberté naturelle et la propriété des biens aux subjects." 64 Gerade diese Zusammenstellung (Souveränität, Naturgesetz, Freiheit der Person und des Besitzes) deutet auf die großen Schwierigkeiten hin, denen sich der Herrscher konfrontiert sieht, denn er steht am Knotenpunkt dieser wohl zusammengehörigen, aber auch unterschiedenen Anspruchslinien. Hinzu tritt noch eine Reihe weiterer Beschränkungen seiner Person, was etwa Leben und Vergnügungen, Heirat, geistige und körperliche Betätigungen, Freizügigkeit, Freundschaft und Bekanntenkreis betrifft, und oftmals ist der Herrscher einem mißlichen Ende ausgesetzt. Im individuellen wie im politischen Bereich läßt sich das jeweilige Ziel (rationale Autonomie, Souveränität und bien public) nur gegen Schwächlichkeit und Widerstände verwirklichen, was hinsichtlich des Fürsten zu einer Herausstellung der Last seines Amtes führt, die durchaus an die ,onera' der Panegyrik des römischen Prinzipats erinnert. Die Spannungen zwischen Vernunft/Wille und Leidenschaften/O pinio, dem Individuum und der Gemeinschaft, dem privaten und dem öffentlichen Leben, der ethischen Universalität und den politischen Erfordernissen, der Souveränität und den die politische Ordnung zersetzenden Momenten, all diese Spannungen erfordern eine besondere Verwirklichungs-, eine besondere Durchsetzungsstrategie weltanschaulicher und politischer Intentionen. Charrons Denken bietet zu diesem Zwecke im Rahmen der Kardinaltugenden besonders die politische Klugheit (prudence politique) auf, und er beruft sich im ganzen dieses Zusammenhangs ausdrücklich auf die Politicorum sive civilis doctrinae libri sex qui ad principatum maxime spectant (1589) des J. Lipsius. Wir werden sehen, daß bis auf die von Lipsius nicht behandelten Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik, die Charron von Bodin übernimmt, die Civilis doctrina die Grundlage der politischen Theorie Charrons im engeren Sinne bildet. „Cette matiere est excellement traicté par Lipsius à la maniere qu'il a voulu: la moelle de son livre est icy. Je n'ay point prins ny du tout suyvi sa methode ny son ordre, comme desja se voit icy en cette generale division, et se verra encores après: j'en ay laissé aussi du sien et en ay adjousté d'ailleurs." 65 Die vom Fürsten geforderte politische Klugheit setzt sich 64 65
Sag. I, 46, S. 3 4 0 - 3 4 1 . Sag. I I I , Vorwort, S. 291.
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zusammen aus der Lipsianischen ,prudentia togata* und ,prudentia militaris' und wird durch die auf Bodin zurückgreifende finanz- und wirtschaftspolitische Klugheit ergänzt. Klugheit gründet bei Charron wie bei Lipsius grundsätzlich auf Erfahrung (expérience; usus) und Geschichte (histoire; memoria rerum). Des näheren gilt es sich zunächst demjenigen Bereich zuzuwenden, der ganz sicher in der Macht des Fürsten liegt (Kenntnis von Staat, Tugenden, Sitten, Rats- und Verwaltungswesen, Finanz-, Militär- und Bündnispolitik), um sodann zu der schon mit mehr Imponderabilien außerhalb des Fürsten liegenden Regierungstätigkeit selbst, dem Regierungsstil fortzuschreiten, und um schließlich das Verhalten in ausgesprochen schwierigen, der Person des Fürsten und den Erfordernissen des Staates widrig gegenüberstehenden Situationen zu behandeln. Viel stärker als in der gelehrten Anordnung des Problemfeldes der politischen Klugheit bei Lipsius manifestiert sich in der Einteilung Charrons das Streben nach unmittelbarem Praxisbezug. Erfordert sind nicht so sehr gelehrt grundsätzliche Analysen mit anschließenden Handlungsmaximen, sondern es geht um ein unmittelbares Instrument zur Gestaltung des privaten und des öffentlichen Lebens. Eine genaue Kenntnis des Volkes, der Herrschaft und der Souveränität ist dem Fürsten unmittelbar möglich und aufgegeben. Desgleichen muß er als Herrscher mit Tugenden ausgestattet sein, die ihm als Person selbst, dem Staat und den Untertanen politisch nützlich sind. 66 Frömmigkeit ist verlangt, weil sie die Gesellschaft zusammenhält, und der Fürst muß sich ihrer als Herrschaftsinstrument bedienen. Lipsius spricht an dieser Stelle die später von ihm ausgeführte These der ,una religio' im Staate an, während Charron nur gegen Neuerer vorgehen will, in deren Gefolge Unruhe und Aufruhr stehen. Die Tugend der Gerechtigkeit im Sinne einer Bindung an ,loix, raison, équité et obligation' und im Sinne des Gerechtwerdens ist sowohl vom Fürsten selbst als auch von den Untertanen gefordert, und im Anschluß daran behandelt Charron genau jenes Problem des Zusammengehens von Nützlichem und Ehrenhaftem, das bei Lipsius als ,prudentia mixta' thematisiert wurde. Notwendiges Postulat an Fürst, Staat und Untertanen ist des weiteren die militärische Tugend, die ,prudentia mili taris', die sich in der Herrschaftspraxis mit der sowohl als Prinzip als auch als Mittel zur Herrschaftssicherung begriffenen ,dementia' des Fürsten vereinigen soll. Außer diesen Haupttugenden (Klugheit, Gerech66
Zu den folgenden aus der Civilis doctrina (1589) des Lipsius (und in weit geringerem Ausmaß auch aus der République Bodins) bis in die Formulierungen hinein übernommenen Darlegungen Charrons vgl. bes. Sag. III, 2 — 4; 1 6 - 1 7 .
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tigkeit, Stärke, Mäßigung) hat der Herrscher natürlich auch die .minores virtutes', die zweitrangigen, nachgeordneten, aber dennoch herrschaftstragenden Grundhaltungen zu verwirklichen, besonders die ,libéralité' und ,magnanimité'. Da die Tugenden eine ihrer Erscheinungsseiten in den Sitten des Herrschers haben, ist dieser auch verpflichtet, in Gesichtsausdruck, Haltung, Gang, Sprache, Kleidung, Wohnung und Umgang gemäßigte Schwere, Majestät und Gravität zu zeigen. Der Herrscher muß selbst in seiner Erscheinung und Persönlichkeit ein Zeugnis jener Disziplin sein, die er mittels seiner Herrschaft im Gemeinwesen als ganzem zu verwirklichen bestrebt ist. Von diesem unmittelbaren und dem persönlichen Zugriff des Fürsten fügigen Bereich geht der auf Disziplinierung gerichtete Blick jetzt in die nähere und weitere Umgebung. Charron entfaltet die Kompetenz- und Bestimmungsbereiche des Herrschers in einer Viererstaffelung: (1) das Verhältnis zu den und die Auswahl der Räte (conseillers) und Administratoren (officiers), (2) die Finanzpolitik, (3) die Militärpolitik und schließlich (4) die Bündnispolitik. Seine Bemerkungen zu Ratswesen und Verwaltung folgen den Ausführungen der Lipsianischen Politica, womit er die Theorie des neuzeitlichen Beamtentums übernimmt. (Bei Lipsius ist die Gesamtheit der Helfer, der ,adjutores', als Beamtenschaft zu begreifen.) Das Gebiet der Finanzen verlangt vom Herrscher Klugheit besonderer Art, eine besondere „science", denn sie sind ein „grand et puissant moyen; ce sont les nerfs, les pieds, les mains de l'estat". Die Rolle des Geldes ist zentral. Es gibt kein wirksameres Mittel zur Erreichung eines Zieles, und auch Lipsius hatte ganz in dem hier von Charron vorgebrachten Sinne bereits die Macht des Geldes herausgestellt. „Argenteus gladius omnia pénétrât" heißt es in einer zusammenfassenden Randbemerkung der Politica. Wenn Lipsius das ,commercium' noch scheinbar problemlos aus seiner Betrachtung ausklammern und sich allein auf das ,imperium', auf die politische Ordnung konzentrieren konnte, so kann und will Charron in seinen Ausführungen auf diese zweite Säule der Gesellschaft nicht verzichten. Lediglich an einer Stelle behandelt Lipsius unter dem Begriff der ,tributa' die vom Fürsten zu beachtenden Regeln bei der Steuererhebung (Notwendigkeit; Mäßigung; Aufsicht über die steuereinnehmenden Beamten; richtige Verwendung; Steuergleichheit). Charron greift auf Bodin zurück und entwickelt von hier aus ein Konzept finanzpolitischer Klugheit, das für uns von besonderem Interesse ist, da es sich zunächst um eine Ergänzung der politischen Theorie von Lipsius handelt, sodann aber grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, politischen Neustoizismus mit
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Finanz- und Wirtschaftspolitik ins Verhältnis zu setzen. Vor dem Hintergrund des Interpretationsschemas von Innen und Außen entwickelt Charron einen Zusammenhang, der im reinsten Sinne als merkantilistisch bezeichnet werden muß. Neustoische Welteinstellung und merkantilistische Wirtschaftseinstellung sind einander strukturaffinitiv. Der Fürst (le sage prince) hat die Finanzpolitik in dreifacher Hinsicht zu gestalten, hinsichtlich (a) der Grundlegung und Beschaffung, (b) der richtigen Verwendung und (c) einer Reserve für den Notfall. Was Grundlegung und Beschaffung angeht, so stehen ihm mehrere Quellen zur Verfügung, nämlich (1) die Krondomäne und die Einkünfte des Staates, (2) die Beute, die bei Eroberungen gemacht und aus Kolonien gezogen wird, (3) die Abgaben und Steuern, (4) die Zölle, (5) ein Mittel, das Charron ebenso wie Bodin ablehnt: die Ämterkäuflichkeit, (6) das Verleihen von Erspartem zu gewissem Zinssatz, um dadurch Gewinn zu erzielen („de mettre les deniers de l'espargne et de reserve à quelque petit proffit, comme à cinq pour cent, et les biens asseurer soubs bon gages, ou caution suffisante et solvable") und als letztes Mittel schließlich (7) Anleihen und Subsidien bei den Untertanen (dies soll nur im Notfall sein, dann allerdings ist es ein gerechtfertigtes Vorgehen, denn „en ce cas, il est juste, selon la reigle, que tout est juste qui est necessaire"). In der Frage der Zölle wird der merkantilistische Grundcharakter am deutlichsten. Kein Export von Rohstoffen, sondern nur Export von Fertigwaren, damit die Einheimischen daran Gewinn haben. Die Ausfuhr von Fertigprodukten (des matières ouvrées) soll nicht mit Zöllen belastet sein. Der Import von Rohstoffen (des matières crues) muß erleichten, die Einfuhr von Fertigprodukten dagegen mit Zöllen stark belastet werden, damit die einheimischen Produkte im eigenen Land und auf dem Weltmarkt die Waren anderer Länder preislich unterbieten können und auf diese Weise die Produktion im eigenen Lande den Verbrauch in eben diesem Lande bei Vollbeschäftigung nicht nur deckt, sondern ihren größten Nutzen daran hat. Bei Anleihen und Subsidien gilt es außer der Notwendigkeit noch vier weitere Bedingungen zu beachten, die sich in eine finanz- und wirtschaftspolitische Konzeption einfügen, die sich in der absoluten Monarchie Frankreichs bis zur Revolution von 1789 trotz mancher Versuche nicht hat. durchsetzen können: (a) Anleihen müssen anschließend wieder zurückgezahlt werden, (b) bei Armut der Untertanen sind Erhebungen nur mit deren oder deren Vertreter Zustimmung (und auch dann nur zeitlich begrenzt) durchzuführen, (c) Erhebungen zielen nur auf den Besitz, keine Kopfsteuer (capitation), weil diese ungerecht ist und (d) die Erhebungen
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müssen sich auf alle Volksschichten (auch Klerus und Adel) und alle Güter (besonders Luxusgüter) erstrecken. Die richtige Verwendung endlich der Finanzen muß sich nach Ansicht Charrons an den sachgemäßen Bedürfnissen orientieren von Fürstenhaus, Sold für Gendarmerie, Offizieren, Renten, Städtebau, Grenzbefestigung, Wege- und Brückenbau, Einrichtung von Collèges, öffentlichen Bauten, Förderung von Kunst und Handwerk. Die finanzpolitischen Überlegungen werden schließlich mit der Forderung einer Reserve, eines Staatsschatzes, abgerundet, damit man in Notzeiten nicht auf ungerechte Mittel zurückgreifen müsse. Nicht das bloße Anhäufen aber ist Ziel der Anstrengungen, sondern der wahre Zweck der Finanzen liegt in deren Anwendung, weshalb das sicherste Mittel zum Erhalt und Ausbau einer Reserve in der ständigen Verleihung auf Zins bestehe. Mit der finanzpolitischen Klugheit hat die militärpolitische einherzugehen, und Charron greift in seinen Ausführungen zu Militärfragen zentral auf das Fünfte Buch der Lipsianischen Politica zurück. Ein Staatswesen kann nicht ohne Militär sein, da es immer Unruhe- und Aufruhrelemente im Inneren wie von außen gibt. Es bedarf deshalb einer ständigen Garde (les gardes du corps) zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, und eine ständige Truppe ist vonnöten, die für die (äußere) Verteidigung wichtige Punkte besetzt hält, „pour reprimer une soudaine rebellion ou esmotion qui pourrait advenir dedans ou dehors son estât." Bereits die Existenz eines solchen militärischen Apparates (un tel appareil) mit Arsenal und Magazinen dient dazu, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Was die Aktionen des Fürsten betrifft, die schließlich über die nationalen Grenzen hinausragen, so rundet die auf Stärkung des eigenen Staates ausgerichtete Bündnispolitik die im Inneren des Staatswesens erstrebte Regierungs-, Verwaltungs-, Finanz- und Militärstruktur in einem stärkenden Sinne ab. Am besten wird der Staat durch Allianzen mit den stärksten und mächtigsten Nachbarn gestützt. Solche Verbindungen sollen nicht ewig, sodern zeitlich begrenzt sein, und die Zusammenschau von Finanzen, Politik und Militär wird bei Charron an der Uberzeugung sichtbar, daß auch Handelsverträge zu solchen Bündnissen zählen. Die Kunst des Regierens, d. h. der Erhalt und die Sicherung von Herrschaft (anders als Machiavelli sieht der Neustoizismus nicht die Gründung eines Staatswesens, sondern dessen Erhalt als größte herrscherliche Leistung an), besteht für den Fürsten in Aktionen und Verhaltensweisen, die dazu führen, daß ihm das Volk Gewogenheit (bienveillance) und Autorität (authorité) entgegenbringt und erhält. Bienveillance wird durch Sanftmut (douceur; lenitas), Freigebigkeit (bénéficence; beneficen-
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tia) und Nachsicht (libéralité; indulgentia) gesichert. Lipsius hatte drei Weisen behandelt, vermittels derer die staatstragende Autorität zu erreichen sei: (a) die Form der Herrschaft (forma imperii: severa, constans, adstricta); (b) die Macht des Staates und (c) das persönliche Regiment des Herrschers. Bei Charron geht diese Dreigliedrigkeit über in eine Abfolge der Formen des Herrschens: (a) mit Strenge, (b) mit beständiger Standfestigkeit und (c) in persönlichem Regiment. Aus dieser Bestimmung der Kunst des Regierens wächst die Unterscheidung nach „bon prince" und „tyran". Der gute Herrscher achtet die Gottes- und Naturgesetze, und sein Ziel ist der ,bien public', die öffentliche Ordnung und Wohlfahrt. Demgegenüber tritt der Tyrann Gottes- und Naturgesetz mit Füßen, und der eigene Profit ist ihm stets höchstes Ziel. An dieser Stelle wird deutlich, daß der Staat Charrons eine Mischung aus Machtstaats- und Wohlfahrtsgedanken ist, die in der Person des Fürsten zusammenläuft. Die politische Machtordnung besitzt sowohl zwingenden Anstalts- als auch sorgenden Wohlfahrtscharakter, letzteren allerdings in weit geringerem Maße. Beider, des Staates und des Fürsten größte Gefahr besteht in Haß und Verachtung der Untertanen gegenüber dem Herrscher. Der Fürst kann sich gegen den Haß der Untertanen schützen, indem er Grausamkeit und Habgier meidet. Die Gründe für Verachtung seitens des Volkes liegen nach Charrons Ansicht in einer zu sehr verweichlichten Regierungsform, dem Unglück des Fürsten (in Geschäften; keinen Nachfolger) und in dem Zerfall der allgemeinen Sitten. Um diese Vielzahl an Aufgaben für den Fürsten lösen zu können, bedient Charron sich der Lipsianischen Unterteilung nach ,prudentia togata' (l'action pacifique) und ,prudentia militaris' (l'action militaire), nach Klugheit in Friedens- und Klugheit in Kriegs- und Unruhezeiten. Bereits der verbale Ubergang von ,prudentia' zu ,action' indiziert den bei Charron stärker als bei Lipsius zu verzeichnenden Drang zu unmittelbarer Anwendung. Erstere Art der Klugheit ist seitens des Herrschers durch genaue Kenntnis derjenigen Angelegenheiten gekennzeichnet, die um ihn herum und mit Bezug auf seine Stellung geschehen: in Friedenszeiten hat der Fürst stets ein abgekürztes Verzeichnis der Staatsangelegenheiten, eine Liste der würdigsten Personen und eine Aufstellung der getätigten Zuwendungen bei sich zu tragen; stets muß der Herrscher die Ausstattung und Verleihung von Zuwendungen, Ämtern und Renten für sich allein beanspruchen. Was nun die militärische Klugheit betrifft, so tritt hier die neustoische Wehrethik, wie wir sie explizit im Fünften Buch der Politica des Lipsius finden, ganz deutlich hervor. Eine militärische Aktion ist zu gliedern nach (a) Vorbereitung, (b)
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Durchführung und (c) Beendigung, wobei Imponderabilien bereits von Beginn an eingerechnet werden müssen. Geld, Waffen und Lebensmittel sind notwendig. Der Einsatz von Infanterie ist im ganzen betrachtet erfolgreicher als derjenige der Kavallerie. Bei der Zusammensetzung der Armee sind die Einheimischen den Ausländern vorzuziehen. Es gibt aktive Truppen (ordinaires) und Reservetruppen (subsidiaires); die Aktiven sollen ein schlagkräftiges, jedoch begrenztes stehendes Heer bilden. Bereits die Auswahl der Soldaten ist für die Schlagkraft der Truppe entscheidend, und die Erhebung selbst hat sich zu orientieren an: Herkunft, Alter, Körper, Geist und Ausdauer. Ziel der Ausbildung ist ausgeprägte militärische Disziplin, und an die militärischen Führer werden besondere Anforderungen gestellt. Nachdem Charron auf diese Weise die Vorbereitung und materiale Grundlage der Kriegsführung selbst in ihrer geforderten Besonderheit herausgestellt hat, gibt er sogar ausgedehnte, allgemein taktische Regeln und Anweisungen für das Verhalten während der Kriegsführung. In diesem taktischen Rahmen ist Kriegslist durchaus erlaubt. Ziel eines jeden Krieges muß ein sicherer und ehrenhafter Frieden sein, weshalb Charron besonders die siegreiche Partei zu gerechtem und dauerhaftem Frieden aufruft. Wenn das Diktum zutrifft, daß souverän ist, wer den Ausnahmezustand bestimmt, so bedeutet dies für das späte 16. Jahrhundert über die Bodinsche Souveränität und Bestimmung eines ,rex legibus solutus' hinaus die Entscheidung darüber, ob die Bedingungen einer „prudence requise aux affaires difficiles et mauvais accidents publics et privés" erfüllt sind. Verschwörung, Verrat, Volkserhebungen, Parteiungen, Aufruhr, Tyrannei, Rebellion und Bürgerkriege stellen den als Ziel angestrebten Zustand zuverlässiger und latenter Stabilität in Frage. Ihnen gilt es sich entgegenzustellen, wenn jedoch die Umstände unüberwindlich sind, sich auch geduldig zu fügen. Was die „maux publics", die politischen Übel betrifft, so muß man ersteres versuchen, „et y sont tenus ceux qui en ont la charge et le peuvent; aux particuliers chascun choisisse son meilleur." Zentral ist für die Klugheit in besonders schwierigen Lagen einmal mehr der prophylaktische Charakter, der Zug klassifikatorischen Vorgriffs auf das, was eventuell eintreten könnte. Genau hier versucht die Klugheitstechnik anzusetzen; „le sage est courageux, car il pense, discourt et se prepare à tout: le courageux aussi doibt estre sage." Gegen Verschwörungen muß der Fürst seinen Geheimdienst einsetzen, Güte zeigen (die zur Liebe der Untertanen führt), stets gute Miene machen, auf alles gefaßt sein, und die Verschwörer hart bestrafen. Landesverrat muß noch schneller und härter bestraft
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werden als die Verschwörung. Bei Volkserhebungen (émotions populaires) gilt es durch Eloquenz oder Führerschaft die erregte Masse zu besänftigen, entweder mit stolzem, autoritärem Auftreten oder mit Schmeichelei. Parteiungen und Bündnisbildungen (faction et ligue) entspringen dem Haß und dem Ehrgeiz, und der Fürst muß sie im Keim und mit Entschlossenheit vernichten. Gegen den aus Unterdrückung oder Furcht resultierenden Aufruhr (sédition) gibt es eine Reihe von Mitteln: (a) mit den Aufrührerischen sprechen, (b) sich bewaffnen, (c) durch das Erwecken von Hoffnung und Furcht die Lage verändern, (d) die Geschlossenheit des Aufruhrs durch geschickte Argumentation aufspalten, (e) in zweideutigen Begriffen vorerst Zugeständnisse machen, (f) Versprechungen und Bestechung einzelner betreiben und (g) wenn in Gehorsam zurückgekehrt, die Aufständischen sanft behandeln. Tyrannei und Rebellion gilt es zu verhindern, wenn sie jedoch eingetreten sind, zu ertragen, denn „il vaut mieux le tolerer qu'esmouvoir sedition et guerre civile." Bei alledem handelt es sich für den Herrscher in der Befolgung der politischen Klugheit nicht um Abweichungen von einer an sich richtigen und verbindlichen Grundhaltung, sondern um eine Grundforderung, ein Strukturmerkmal der Welt und genauer des Staates selbst, gleichsam um ein Naturgesetz der politischen Ordnung. Die Frage des Widerstandsrechts und Tyrannenmords entscheidet sich für Charron an der Legitimität, d. h. des näheren an der Trennung nach Tyrann und Usurpator. Er unterscheidet mehrere Fälle: (1) der Fürst ist illegitim im Besitz der Souveränität („c'est sans doubte qu'il luy faut resister, ou par voye de justice, s'il y a temps et lieu, ou par voye de faict."); (2) der rechtmäßige Fürst regiert tyrannisch, (a) er verletzt Gottes- und Naturgesetze und übt auf die Gewissen Zwang aus (keinen Gehorsam leisten; sich entweder entziehen oder gedulden); (b) er verstößt gegen die physische Existenz, gegen den Körper und den Besitz (mit Geduld als Zorn Gottes auffassen; Gehorsam leisten, weil der Herrrscher legitim ist); (c) er verändert die Grundfesten des Staates, z. B. die Staatsform oder die ,lois fondamentales' („En ce cas il luy faut resister, et l'empescher par voye de justice ou autrement" ; diese Aufgabe kommt den Ständen und den Prinzen von Geblüt zu). Deutlich abgelehnt wird also nur der Usurpator, während in allen anderen Fällen der Gehorsam gegenüber der Legitimität im Streite liegt mit dem Gottes- und Naturgesetz, der Gewissensfreiheit, dem Schutz von Person und Eigentum sowie der Sicherung der überkommenen und monarchischen Staatsform. Wenn das Lebensideal der menschlichen Weisheit auch einen Herrschafts-
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typus verlangt, der gerade an diesem Ideal seine Grenzen findet, so obsiegt dennoch faktisch die Legitimität, während das betroffene Individuum sich nur wiederum innerlich der Gehorsamspflicht zu entziehen sucht. Dies ist aus der Sicht des Autoritätsgefüges, des frühmodernen Machtstaates, deshalb von großer politischer Bedeutung, weil damit entscheidende Instanzen möglicher Unruhe und Opposition (etwa die religiöse, vernunftbezogene, privatrechtliche oder verfassungsrechtliche Instanz) zurückgedrängt sind. U n d dies alles, um das Schlimmste zu vermeiden, öffentlichen Aufruhr nämlich und Bürgerkrieg. Die Situation des Bürgerkriegs bildet hinsichtlich des Begründungszusammenhangs der politischen Macht- und Herrschaftsordnung sowohl den Ausgangspunkt als auch das um jeden Preis zu vermeidende Übel, den nie eintreten dürfenden Grenzfall. „ O r il n'y a mal plus miserable, ny plus honteux; c'est une mer de malheurs." Aber bei Charron findet sich, wie bei Lipsius und Du Vair, neben der rein machtstaatlichen Grundlegung sogleich das Bemühen, diesen Staat nicht als rein absoluten, sondern in seiner Absolutheit noch als gemäßigten zu fordern. Dies sieht so aus, daß die in den Macht- und Herrschaftsverhältnissen oben Stehenden dennoch durch bestimmte moralische Vorschriften eingegrenzt werden sollen. Das wird deutlich, wenn die Pflichten des Souveräns bestimmt werden. Er hat gottesfürchtig und fromm zu sein, die Gesetze Gottes und der Natur als unverletzlich zu achten und für ihre Beachtung Sorge zu tragen; er muß Versprechen und Konventionen halten; er muß die Gesetze achten, danach leben und urteilen, auch wenn er über ihnen steht; er schuldet allen Untertanen Gerechtigkeit und muß über das Wohl des Staates wachen. Daß solche abstrakten und lediglich verbal anmutenden Beschränkungen nicht zu unterschätzen (allerdings auch in keinem Falle zu überschätzen) sind, zeigt beispielsweise der theoretische Kontext der Ermordung Heinrichs IV. im Jahre 1610. Legitimität und moralisch-religiöse Bindung sind hier die beiden Bereiche, aus deren vermeinter Nichterfüllung die Gegner Heinrichs ihre Begründungen ziehen, denn die Entscheidung über Erfülltsein oder Nichterfülltsein solcher Verbindlichkeit liegt nicht ausschließlich bei dem Herrscher selbst. In der absteigenden Herrschaftshierarchie von Fürst, Magistratur und Volk wird der Fürst an einen eher abstrahierten Bereich gebunden, die Magistratur dagegen direkt an den Fürsten, und die Pflichten des Volkes schließlich bestehen in der Ehrbezeugung gegenüber dem Herrscher als ,image de Dieu', in Gehorsam, Kriegsdienst, Abgaben und in der Anstrengung, der Majestät Glück und Gedeihen zu wünschen. Bodin folgend, entwickelt Charron die Pflichten der Magistrate in doppelter Hinsicht.
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Gegenüber dem Souverän sind sie ausführendes Organ mit begrenztem Recht zur Remonstranz; gegenüber den Untertanen müssen sie ein offenes Ohr für deren Anliegen haben, stets jedoch Ehre, Würde und Recht des Souveräns durchsetzen. Für die Magistrate rückt das Grundideal der Sagesse in eine rein politische Funktion, denn „pour bien s'acquitter de cette charge, il faut deux choses, preud'hommie et courage." Und auch die den Staat verkörpernde Person des Herrschers erscheint bei Charron zusammenfassend in einem Lichte, das durchaus die Vorstellung eines Stoikers auch auf dem Throne aufkommen läßt. „Et, pour comprendre tout en peu de paroles, il doibt craindre Dieu sur-tout, estre prudent aux entreprinses, hardy aux exploits, ferme en sa parole, sage en son conseil, soigneux des subjects, secourable aux amys, terrible aux ennemys, pitoyable aux affligés, courtois aux gens de bien, effroyable aux meschans, et juste envers tous." 6 7 67
Sag. III, 16, S. 132; vgl. Bodin, Rep. III, 4 - 5 .
Dritter Teil VII. Aspekte des Wirkungszusammenhangs neustoischer Lehren 1. Neustoizi$mus und Ramismus Im Rahmen der politischen Philosophie der Frühen Neuzeit ist von wirkungsgeschichtlicher Bedeutung, daß der formal-logische Ramismus als dialektisch-methodische Formmatrix des neustoischen politischen Denkens fungiert. Auf den Bereich der Politik wurde die ramistische Dichotomisierung erstmals nicht, wie allgemein angenommen, in der Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata (1603) des Johannes Althusius angewandt, sondern das Hauptwerk des politischen Neustoizismus, die Politicorum sive civilis doctnnae libri sex (1589) des J. Lipsius, ist trotz einer deutlichen Kritik an der Unzulänglichkeit der Lehre des Ramus an dessen formaler Strategie orientiert.1 Lipsius geht so vor, daß er (in bezug sowohl auf die Gesamtanlage eines Buches als auch auf die nähere Durchführung) mit einer allgemeinen Definition beginnt, eine Analyse, Diskussion und nähere Erörterung und Teilung durchführt (Einwände, Gegenreden), um derart erweitert zu einer bereits spezifischeren Definition fortzuschreiten, bis schließlich ein Beziehungsgeflecht vorliegt, das die ganze Breite vom allgemeinen Ganzen zum besonderen Einzelnen in einem (formal-logischen) Sinneszusammenhang zeigt. Dabei erfährt das allgemeine Ganze mit jedem Fortschreiten eine Präzisierung, und zugleich wird das spezifische Moment seiner Bestimmung und seinem Stellenwert mit jedem Schritt näher gebracht, wird relationell angemessen verortet, in seinem Bezug zum Ganzen sichtbar dargestellt. Werfen wir einen Blick gleich auf den ersten zusammenhängenden Stukturabschnitt der Politica, d. h. auf Pol. I, 1—7, wo sogar die Bezeichnung ,ramus' als terminus technicus verwandt wird. Definiert wird die vita civilis: „Vitaiii civilem definió, quam in hominum societate mixti degimus, ad mutua 1
Zu Ramus und Ramismus vgl. die Arbeiten von R. Hooykaas, W. J. O n g und W. Risse.
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commoda sive usum" (Pol. I, 1), um anschließend die dazu nötigen „duces duos sive directores", nämlich .virtus' und .prudentia', herauszustellen, wobei „Hanc [= virtutem] in duos velut ramos divido, pietatem et probitatem" (Pol. I, 2; Pol. I, 2 —5 behandelt dann intensiver die pietas und Pol. I, 6 beginnt mit „Ramus virtutis mihi alter superest, Probitas . . ."). Die Bestimmungen dieser Einzelmomente stehen in dem genannten ausfüllenden und spezifizierenden Verhältnis zu der Definition des Ganzen, so z. B. wenn es (Pol. I, 6) heißt: „Nec Probitatem aliud hic intellego, quam rectam in moribus et actione omni vitam, ex honesti norma"; die nähere Erörterung der probitas selbst schafft noch weitere Bestimmung. Schließlich greift Pol. I, 7 das zweite Moment der Ausgangszweiteilung, die ,prudentia', auf, um auch sie von der allgemeinen Definition her und auf diese hin (ganz im stoischen Sinne) zu bestimmen als „intellectum et dilectum rerum quae publice privatimque fugiendae aut appetendae". Die Absicht dieser Art methodischen Zugriffs auf das Politische ist deutlich erkennbar: eine klare, übersichtliche Grundstruktur, weitgehende Differenzierung der Begriffe bis hin zu einem detaillierten Gerüst aller Momente des Politischen, wobei jedes Element seinen bestimmten systematischen Ort hat und dort gleichsam abrufbar ist (im politischen Unterricht!), gleichzeitig aber der Zusammenhang zum Ganzen sichtbar bleibt. Politik wird methodisch, die Politische Wissenschaft konstituiert sich im engeren Sinne und erhält in der Civilis doctrina ein neuzeitliches Lehrbuch, eine politische Handlungslehre, ein Handbuch der Regierungslehre und Regierungstechnik. Hauptsächlich aus vier Gründen wollen wir uns — soll die Rede von Bedingungs- und Wirkungskonstellationen des Neustoizismus sein — mit der Lehre des P. Ramus etwas näher auseinandersetzen: (a) der Ramismus steht am Übergang zur Neuzeit, und seine Werke haben eine enorme Verbreitung gefunden (von P. Ramus und O.Talon sind etwa 1100 Editionen zu verzeichnen, hauptsächlich in der Zeitspanne von 1543 bis 1650); (b) Ramismus ist im Zusammenhang der Frage nach der Stellung von Rhetorik, nach Formkategorien allgemein für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts von Bedeutung, da in ihm das Verhältnis von Dialektik und Rhetorik dadurch eine einschneidende Veränderung erfährt, daß die Dialektik aus ihrer Nähe zur Rhetorik herausgenommen und der Logik (bis zur Gleichsetzung) angelagert wird; (c) im Denken von Ramus treten an zentraler Stelle einige ausgesprochen stoische Interpretamente auf, besonders hinsichtlich des Verhältnisses von Natur und Vernunft, wobei (d) die Organisation der Vernunftleistungen im Rahmen des für die Frühe
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W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g neustoischer Lehren
Neuzeit zentralen Zusammenhangs des Methodus steht, und der Gedanke der Methode im Sinne einer (auf Piaton zurückgehenden) Dichotomisierung für uns bedeutsam ist, weil er, wie wir bereits sahen, die Formmatrix des politischen und, wie wir noch sehen werden, des historischen Denkens im Neustoizismus bildet. Für Ramus sind Theologie und Philosophie hinsichtlich ihrer Objektbereiche und damit hinsichtlich ihrer autonomen Interessen deutlich voneinander zu scheiden. Theologie hat als „doctrina bene vivendi" die Lebensführung mit Blick auf Gott im Auge, während Philosophie als ein „bene ratiocinari" wesentlich aus Logik besteht. Diese Tendenz zu möglichst eindeutiger Festlegung der Disziplinen setzt sich auch innerhalb der Philosophie fort, wenn Ramus das Verhältnis von Dialektik und Rhetorik zunächst dissoziiert und erst nach einer klaren Abgrenzung des jeweiligen Gegenstandsbereiches (dann aber wesentlich) in ein Verhältnis funktionaler Zusammengehörigkeit bringt. Seine an Cicero orientierte Gleichsetzung von Logik und Dialektik bedeutet die Herausnahme der Dialektik aus dem Bereich des Probablen — für Ramus keineswegs ein bedauerliches Ergebnis, sondern gerade seine erklärte Absicht. Er will durch diesen Schritt die Dialektik von dem Odium des Unsicheren, des Metaphysischen, des Probablen befreien und sie zu einem oder genauer d e m Instrumentarium sinnvoller Darstellung und Demonstration entwickeln und herausstellen, welches für alle „artes" gleichermaßen gilt und jedem metaphysischen Ursprung oder Ziel diesseitig ist, ohne jedoch deren Möglichkeit zu bestreiten. Die Dialektik des Ramus soll überall, zu jeder Zeit, in allen Umständen und Zusammenhängen sowie in Anwendung auf jeden Gegenstand das entscheidende Formalinstrumentarium, die stets gültige Verfahrensweise abgeben, da — so die einfachste und zugleich kennzeichnendste Grundannahme — es sich stets um die gleiche menschliche Vernunft handelt. Es gibt für Ramus nur e i n e gültige Methode, und diese repräsentiert die stets gleiche Funktionsleistung der menschlichen Vernunft, welche sich deshalb immer gleich bleibt, weil sie sich, diesseits der Wahrheitsfrage und des Wertbereichs, im Felde relationeller Zuordnungen der einzelnen Argumente und Aussagen bewegt (relationeller Sinnbegriff). Die dem Verstand eignenden Verknüpfungs- und Zuordnungsleistungen haben instrumenteilen Rekonstruktionscharakter, sie rekonstruieren die möglichen relationeilen Verbindungen der unterliegenden Sachgehalte selbst, und zwar von den Relationen der Aussagen und Urteile her. Hier liegt das Normative, das universalistische Implikat der ramistischen Dialektik, denn von der Relation her (als der Leistung des menschlichen
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Verstandes) bestimmen sich dann Möglichkeit und Notwendigkeit, Kohärenz und Kontingenz, Wahr und Falsch, Gut und Übel; die Entscheidungen darüber werden in der relationellen Binnenstruktur der Aussage und der Aussagen untereinander gefällt. Obwohl die Lehre des Ramus die Rhetorik im Vergleich zu deren Bestimmungen in der Antike (inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronuntiatio) auf nur noch zwei Bestandteile, nämlich die , elocutio' und die ,actio/pronuntiatio', verkümmern läßt, wäre es dennoch eine völlige Fehleinschätzung des ramistischen Ansatzes, wollte man daraus eine Trennung von Dialektik und Rhetorik im Sinne einer Beziehungslosigkeit folgern oder gar den Ramismus in Dialektik aufgehen lassen. Im Gefolge von Cicero findet zwar eine Verlagerung der Dialektik aus dem Wirkungsfeld der Rhetorik hin zur Logik (bis zur Gleichsetzung von Logik und Dialektik) statt, aber es ist für die neue Logiktradition der Zeit (L. Valla, R. Agricola, Ph. Melanchthon, L. Vives, J. Sturm) und in besonderem Maße für Ramus von Wichtigkeit herauszustellen, daß ein ständiger Wirkungskreis von „usus" und „ars", von praktischer Erfahrung (Nützlichkeit) und theoretischer Leistung der , artes' unterlegt und postuliert wird. Das hat gleichsam sprachlich-rhetorische Folgen, und bei Ramus können wir am deutlichsten sehen, in welcher Weise Logik/Dialektik und Sprache/Rhetorik zusammengedacht werden, denn der für jede Einzeldisziplin geforderten Dreigliedrigkeit von „natura", „ars" und „exercitatio" wird Logik/Dialektik gerade in dem Augenblick gerecht, wo sie ihre eigene theoretische Abstraktion immer schon aus einem Felde gewinnt, das innerhalb des praktischen Kontextes der genannten Dreiheit selber liegt. Wo aber ist dies besser der Fall als in den Werken der großen Redner, der mächtigen Oratoren. Dort finden sich nicht nur die formalen Verfahrensweisen der Logik, sondern gerade auch deren Umsetzung in die Praxis vermittels der Uberzeugungs- und Uberredungsseite der Sprache. Logik soll aus einem Anwendungszusammenhang aufgenommen, durchorganisiert und immanent (auf abstrahierend höherer Stufe) ausgebaut werden, um gleichsam gestählt in einen neuen praktischen Zusammenhang nutzenorientiert eingestiftet werden zu können. Die Logik ist bei Ramus utilitaristisch bestimmt, die ,artes' werden von ihren Verwendungszusammenhängen her festgelegt, „ex suo fine defineretur mathematica ars." So bestimmt sich Logik als ,ars bene disserendi', Grammatik als ein ,bene loqui', Arithmetik als ein ,bene numerare', Geometrie als ein ,bene metiri', Optik als ein ,bene videre' und schließlich die Theologie als ,doctrina bene vivendi'. Theoretische Wissenschaft (die reinen Künste) hat
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für Ramus ihren Ausgangs- und Zielpunkt im Stand der praktischen ,artes', und er berichtet immer wieder, wie wichtig es ist, der Praxis selbst ihre Gesetze zu entnehmen. So bestimmt sich z. B. der Wert der Mathematik durch ihre Leistungen im Handel (Umrechnen), bei Legierungen (Mischverhältnisse, z. B. bei Goldschmieden), im staatlichen Fiskus (arithmetische Festsetzung der Steuern) oder in Kriegsfragen (Taktik und Berechnungen). 2 Im Grunde finden wir hier einen Hinweis darauf, in welcher Weise die geschichtliche Welt des 16. Jahrhunderts in die neuzeitliche Wissenschaft eingeht, und die technischen Wissenschaften der Neuzeit gehen neben dem grundsätzlich Verfügbarkeit versichernden Vorgang der Mathematisierung auch aus dem hervor, was man den ,realen Humanismus' genannt hat. Begreifen wir einmal Uberzeugung und Überredung als zwei Seiten einer möglichen Funktion von Sprache, so wird leicht einsichtig, in welchem Verhältnis der Zusammengehörigkeit beide stehen. Dialektik und Rhetorik stehen bei Ramus in genau diesem Verhältnis, wobei die Dialektik die Sicherung von Uberzeugung übernimmt, während Rhetorik den notwendigen Uberredungsanteil zur Aufgabe hat. Keine Trennung also im Sinne einer Auflösung von Rhetorik und Dialektik, wohl aber eine enorme Wende gegen den Sprachoptimismus der humanistischen Bewegung. Eine weitere und entscheidende Stütze findet die These von dem funktionalen Bezug von Dialektik und Rhetorik bei Ramus durch den Umstand, daß der Ramismus nicht von seinem pädagogischen Kontext gelöst werden kann. Dies gilt in besonderem Maße für Frankreich, wo der rein logische Teil der Lehre nach dem Tod von Ramus (1572) keine Tradition gefunden hat, sondern die Wirkungsgeschichte über die Rhetorik und die Bemühungen zur Reform des Unterrichtswesens läuft. Die pädagogisch-didaktischen Erfordernisse des Unterrichts bilden einen wesentlichen Ausgangspunkt des Ramismus, und hier kommt der Sprache natürlich eine zentrale Stellung zu. Unterstrichen wird die enge Bezogenheit von Rhetorik und Dialektik bereits auch durch eine Art Komplementarität der Werke: das gezielte Entsprechungsstück zur nationalsprachlichen Dialectique (1555) bildet die Rhétorique françoise (1555) von A. Fouquelin, dasjenige zur lateinischen Dialéctica die Rhetorica des O. Talon. Beide, Fouquelin und Talon, sind nicht als Ramisten im Bereich der Rhetorik zu begreifen, sondern sie arbeiten den rhetorischen Teil der ramistischen 2
Scholae mathematicae IV, S. 108; II, S. 53. Vgl. R. Hooykaas, Humanisme, science et réforme, S. 7 6 - 8 4 , 92—95; und W. J. Ong, Ramist method and the commercial mind, (1961).
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Lehre aus. Die Dissoziation von Rhetorik und Dialektik hat natürlich nicht nur die Autonomisierung und Universalisierung e i n e r Dialektik zur Folge, sondern aus dem Lösungsvorgang geht die Rhetorik zwar verändert, aber gleich der Dialektik universal hervor, als die überall und auf alle Gegenstände zu jeder Zeit anwendbare „doctrina bene dicendi". 3 Diese Universalität ergibt sich dadurch, daß das Was des dicere nicht mehr Angelegenheit der Rhetorik selbst ist, wodurch sie nicht mehr im Rahmen psychologischer Aussage, sondern ausschließlich im instrumenteilen, verrichtenden, poietischen Kontext gesehen wird. Hier liegt die grundsätzliche Wende gegen den Sprachoptimismus von Humanismus und Renaissance, dem logische Strenge und Durchsetzungskraft nach Ansicht des Ramus fehlt. Die psychologische Bedeutung der Sprache tritt zurück, ihre instrumentelle Seite in gleichem Maße hervor, wenn (a) sich die Notwendigkeit von Dialektik gerade aus der Situation des Unterrichts ableitet, (b) die auf dialektischem Wege gewonnenen Argumente sowie die sich daraus durch methodische An-ordnung und Be-urteilung der einzelnen Aussagen nach Maßgabe ihres Allgemeinheitsgrades ergebenden Sinnzusammenhänge vermittels der Rhetorik durchgesetzt werden sollen, und besonders wenn (c) das empirische Material, an dem Dialektik (d. h. des näheren inventio und iudicium/dispositio) gewonnen und zur Anwendung gebracht werden soll, gerade von den antiken Oratoren gebildet wird, und diese auf dem Wege von Analysis und Synthesis bearbeitet werden sollen. An diesem letzten Punkt liegt eine gewisse, noch in sich gekehrte empirische Beobachtung vor, und es ist beeindruckend zu sehen, wie Ramus gerade insofern eine sprachliche, eine rhetorische Dialektik aufbaut als er nicht eine formalisierte Zeichensprache einführt, sondern in der Struktur der sprachlichen und besonders der oratorischen Texte seine Logik findet. Für die Dialectique von 1555 übernahmen die großen Dichter der Zeit die Übertragung fremdsprachigen Materials ins Französische, u. a. Ronsard und D u Beilay. Es handelt sich nicht um reine Deduktion aus dem denkenden Bewußtsein heraus, sondern die Struktur der Logik soll sich im analytischen und synthetischen Durchgang durch ein dem Bewußtsein zunächst äußeres, fremdes, wenn auch im letzten Grunde entsprechendes Material erstellen. Hier zeigt sich etwas von jener Doppelheit, die besonders den Stoizismus seit der Antike auszeichnete: die Gleichzeitigkeit nämlich eines sachlichen Determinismus mit der freiheitlichen Vernunftkonstruktion. 3
Vgl. den Beginn der Rhetorica von O . Talon; Quintilian, Inst. orat. V, 10, 54: „ R h e torice est bene dicendi scientia."
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„Nulla auctoritas rationis, sed ratio auctoritatis dominaque esse debet", so formuliert Ramus gegenüber der Scholastik die Unabhängigkeitserklärung von Philosophie und Vernunft. Die oben erwähnte Trennung von Theologie und Philosophie bedeutet aber für Ramus nicht, daß Theologie vorrangig für die Jenseitigkeit und das Verhältnis zu Gott zuständig ist, während der Philosophie als praktischer Philosophie die Lebensführung und -gestaltung als originäres Feld zugesprochen wird (für Charron wird Religion in dieser Perspektive zu einem Bestandteil der Philosophie!), sondern bei Ramus hat die Theologie eine praktische Dimension. Sie ist zwar nicht ,doctrina beate vivendi', aber doch ,doctrina bene vivendi', deren Ziel „non est notitia rerum ipsi subjectarum, sed usus et exercitatio." Demgegenüber hat die ramistische Logik/Dialektik trotz ihrer konstitutiven Bindung an den praktischen und nutzenbringenden Gebrauchszusammenhang einen kontemplativen Grundcharakter. Sie will den Naturzusammenhang, die Naturgesetzlichkeit in der menschlichen Vernunft aufdecken, einsichtig anschauen, nicht aber etwa einen dieser menschlichen Vernunft entspringenden Plan willentlich und aktiv verwirklichen. Hier deutet sich ein Unterschied zum Neustoizismus an. Lipsius hat zwar auch die Religion in den praktischen Zusammenhang der Lebensführung (religio non verbis, sed factis) zu ziehen versucht, aber das war eine und nicht die wesentliche Seite von Religion und Theologie, und schon gar nicht konnte sie die Aufgaben einer praktischen Philosophie (Ethik und Politik) ersetzen. Ja, gerade von dieser geschichtlichen Unmöglichkeit her war die Ausdifferenzierung von Politik und Religion, von Staat und Kirche erst in Gang gekommen. Für Ramus dagegen — und hier unterscheidet sich seine Lehre grundsätzlich von derjenigen der erneuerten Stoa — wird Ethik bewußt ausgeklammert, zum einen als Folge der Konzentration auf die Logik, zum anderen aber auch aufgrund der Ansicht, daß eine philosophische Ethik die Aufgabe eines wahren und gottgemäßen Lebens nicht erfüllen könne und sich in ihr letztlich nichts anderes als menschliche Hybris zeige. „Theologia autem docet bene vivere, id est Deo, bonorum omnium fonti, congruenter & accomodate: Ethica siquidem paganorum Philosophia beatam hominis vitam caducis & infirmis humanae facultatis viribus fere comprehendit & terminavit, tanquam homo seipso contentus esset ad beate vivendum, suaque natura, doctrina, consuetudine beatitatem sibi per se posset acquirere, ideoque humanae virtutis vel habitus, vel actio, vel voluptas, vel honor beatos efficeret." 4
4
Scholae mathematicae
III, S. 78. De rei. christ. I, 1, S. 6.
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Ramus' Position richtet sich hier von theologischer Warte bereits gegen den Rationalismus und das Immanenzdenken des 16. Jahrhunderts, in deren Zusammenhang auch das Heraufkommen der natürlichen Religion, des Pantheismus, der natürlichen und endogenen Moral und des Deismus steht. Ramus hält die Trennung von Philosophie und Theologie streng aufrecht* für ihn scheint es noch keine Versuchung zu sein, die Ausrichtung der Lebensführung und die Auslegung der Natur- und Weltordnung von der gerade auch von ihm vorgenommenen Konzentration auf die menschliche Vernunft her zu vollziehen. Aber seine theologischen Fundamentalsätze stehen dennoch bereits in grundsätzlicher Nähe zur fideistischen Auffassung der späteren Aufklärung. 5 In einem Brief an Paulus Buys vom 12. Juli 1583 gibt Lipsius eine Einschätzung der zeitgenössischen Philosophie. Sie ist eher negativ und richtet sich gegen eine humanistische (Neu)Scholastik. Lipsius warnt davor, sich auf der Suche nach neuen Wegen auf dasjenige einzuschränken, was andere (ebenfalls suchende) als eine Art „compendia perveniendi", d. h. als Einführung vorgelegt haben, und er denkt dabei besonders an die Anhänger von Ramus und Melanchthon. „Novam viam novi homines ineunt: et explosa illa secta veteri, sapientiae frugem quaerunt in agellis Rami, aut Philippi." Deren Systeme sind für die Schüler nicht mehr Mittel, sondern, und hier liege die Versteinerung, ausreichendes Ziel geworden: „ut non viam illos, sed metam censeant: nec per eos ad veteres transitum faciant, sed in his subsistant." Lipsius gelangt zu dem warnenden Aufruf an die Jugend, daß, wer Ramus für groß halte, niemals ein Großer sein könne: „Juventus nostra a me hoc audiat: Numquam ille magnus erit, cui Ramus est magnus." Diese deutlich ablehnende Kritik ist nun allerdings auch geeignet, einige Affinitäten zwischen Ramismus und Neustoizismus verschwinden zu lassen, über deren Ausmaß sich vielleicht Lipsius selbst nicht im klaren war. Ganz allgemein gilt, daß der Anti-Aristotelismus im Bereich der frühneuzeitlichen Logik (etwa bei L. Valla, R. Agricola, L. Vives, P. Ramus) von den Zeitgenossen als eine Abwendung von Aristoteles und eine Hinwendung zu Cicero und den Stoikern gedeutet wird. 6 In der Tat nimmt Cicero bei der Bestimmung von Dialektik die stoischen Vorstellungen auf, nach denen Dialektik (als Bestandteil der Logik) als Lehre vom prägnan5
6
Vgl. J. Moltmann, Tur Bedeutung des Petrus Ramus für Philosophie und Theologie im Calvinismus, (1957). Vgl. das Vorwort von F. Burgersdijk, Institutionum logicarum libri duo . . . ex Aristotelis praeceptis nova methodo oc modo formati. Editio nova, Leiden 1645.
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ten, kurzen und richtigen Fragen und Antworten in jener bekannten Unterscheidung zum weiter gefaßten ,bene dicere' der Rhetorik steht, die Zenon in das einprägsame Bild gefaßt hat, demzufolge die Strenge der Dialektik einer geballten Faust und die ein- und ausholende Rhetorik einer offenen, ausgestreckten Hand gleiche. 7 Für Cicero wird Dialektik im stoischen Zusammenhang der Auswahl erstrebenswerter Güter (der ,eklogé', auf die wir später bei der Behandlung des Aristotelismus noch zurückkommen) die „veri et falsi iudicandi scientia, et arte quadam intellegendi quid quamque rem sequatur et quid sit cuique contrarium." 8 Diese Bestimmung bildet in der auf die Stoiker zurückgehenden und bei Ramus als die beiden Hauptbestandteile der Logik fungierenden Unterteilung von ,inventio' und ,iudicium' den letzteren Bereich (dem ersteren ist die Topik Ciceros als eine ,ars inveniendi' gewidmet). Die durch Quintilian noch untermauerte Unterscheidung nach ,ars inveniendi' und ,ars iudicandi' treibt die Trennung von Rhetorik und Dialektik voran. Bei Ramus tritt uns dieser Grundraster dergestalt verändert entgegen, daß die ,ars inveniendi', die ,inventio', aus der Rhetorik herausgenommen und der Logik zugeschlagen wird (Rhetorik besteht nur noch aus Stil, ,elocutio', und Vortrag, ,pronuntiatio'), um dort zusammen mit dem Judicium' die beiden Hauptteile der Logik/Dialektik zu bilden. In der stoischen Tradition liegt auch die Auslagerung der Dialektik aus dem Probablen ins rein Logische, denn dem ethischen Kern und Grundanliegen der Stoiker, dem Ideal der ,apátheia' und ,ataraxia', muß es gerade um Gewißheit und nicht um Wahrscheinlichkeit gehen. Im Interesse dieses Ideals stellt die stoische Logik ja nichts anderes dar als die systematische Ausarbeitung des ethischen Grundanliegens in Hinblick auf die für die praktische Lebensführung (auch des ,sophós') erforderlichen Entscheidungen und Urteile. Die Gleichsetzung von Logik und Dialektik als „ars bene disserendi" findet sich bei Cicero, bei Ramus und später bei Descartes. 9 Welche Bedeutung gerade diese A r t der Bestimmung von Logik/Dialektik für die Stoiker selbst und besonders aber für unsere Betrachtung der unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit erneuerten Stoa in ihrem Verhältnis zur logischen Philosophie des P. Ramus hat, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß innerhalb der für die Stoa gültigen Dreiteilung nach Ethik,
7 8 9
Cicero, De fin. II, 18; Diogenes Laertius VII, 48; Stoic, vet. frag. I, 75. Cicero, De leg. I, 62; vgl. die Aufnahme bei Petrarca, Farn. I, 7, 13. Quintilian, Inst. orat. V, 14, 28; Cicero, De orat. II, 38; Ramus setzt zu Beginn der Dialéctica hinzu: „eodem sensu logica dicta est"; Descartes, Regulae X, und: Discours II, in: Werke, Ausg. Adam/Tannery, Bd. X, S. 406; Bd. VI, S. 17.
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Logik und Physik trotz der Zentralstellung der Ethik die beiden anderen Gebiete ihre hohe Bedeutung behalten. Die Logik bildet für den Stoiker gerade die außerhalb von wankelmütigen Wahrscheinlichkeiten feststehende formale Urteils- und Entscheidungslehre. Logik/Dialektik ist auf diese Weise der Tugend selbst inhärent und stets auf diese bezogen, und schon in der Antike ist bezeichnendermaßen der Weise für die Stoiker der eigentliche Dialektiker (Logiker). 10 Ramus und Lipsius sind hier näher beieinander als Lipsius es wahrhaben möchte, wenn er die mangelnde Hinwendung zur Antike und die Einengung von Philosophie auf Logik kritisiert, oder wenn er gar die inhaltsleeren Formgerüste ramistischer Dichotomie vor Augen hat, wie diese von den Anhängern des Ramus bis zum Exzeß praktiziert wurden (etwa bei J. Th. Freigius, dessen Professio regia, Basel 1576, lediglich aus Schemata und Tabellen besteht). Im Rahmen der stoischen Einteilung der Philosophie nach Ethik, Logik und Physik könnte man in gewisser Weise, wenn man die Affinitäten zu Cicero und dessen Übernahme stoischer Definitionen im Bereich der Dialektik und des näheren die auf stoische Tradition zurückgehende Gleichsetzung von Dialektik und Logik, sodann aber besonders das noch zu erörternde Verhältnis von Natur und Vernunft betrachtet, in Ramus Zusammenhänge stoischer Logik erkennen. Der verborgene innere Bezug von Ramismus und Neustoizismus wird über das bisher Gesagte hinaus am Verhältnis von Natur und Vernunft, und damit auch im Zusammenhang der Frage von Determination und Freiheit, erweitert greifbar. Für Ramus ist die menschliche Vernunft der philosophisch-logisch nicht mehr hintergehbare Bereich, und das Problem besteht darin, sich über die Funktionsweisen und Leistungen dieser Vernunft Klarheit zu verschaffen, um sodann von diesem stets auf den Menschen begrenzten denkenden Bewußtsein auf die Struktur und das Wesen der äußeren Wirklichkeit schließen zu können. Der Hiatus, an dem sich die Frage der Erkenntnis und der Wissenschaft für die Neuzeit stellt, zwischen menschlichem Bewußtsein und äußerer Wirklichkeit, wird bei Ramus durch den Gedanken der Entsprechung überwunden — eine Brücke, deren Maßgabe aber wiederum auf der Seite der Vernunft liegt. Diese Verbindung kann von Ramus nur um den Preis eines Verlustes an erkenntnisstimulierendem Widerspruch, an Gegensatz und fremder Andersartigkeit seitens der bewußtseinsäußeren und -unabhängigen Wirklichkeit geschlagen werden, da mit der Entsprechung auch eine Tendenz 10
Vgl. Stoic, vet. fragm. II, 124.
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zur Integration, zur verkürzenden Gleichsetzung von Natur und Vernunft verbunden ist, die vorschnell nivellierenden Charakter hat. Bei Ramus erhält das im Bereich der Ethik formulierte ,vivere secundum naturam' der Stoiker ein gleichsam logisch-wissenschaftstheoretisches Äquivalent im Sinne eines ,intellegere secundum naturam', wobei dasjenige, was als Natur gelten soll, der Wirklichkeit abgelauscht und ihr noch nicht so sehr als vernunftkonstruiertes Gesetz vorgeschrieben wird. Die Vernunft gibt sich hier noch damit zufrieden, den (Kausal)Zusammenhang der Natur darzustellen, wenngleich sie sich in Gestalt der philosophisch nicht mehr hintergehbaren menschlichen Vernunft auch im Vorhofe der cartesischen Unterscheidung nach ,cogitatio' und ,extensio' bewegt. In noch unreflektierter Weise gehört diese Vernunft auch schon in jenen Zusammenhang, der dem gesetzlichen Zusammenhang der Natur noch die autonome Gesetzlichkeit, die Selbstbestimmung der Vernunft determinierend unterlegt. Letzterer Aspekt ist ein Grundzug neuzeitlichen Vernunftdenkens, der in der Stoa stets schon vorgebildet ist, wenn man das Gebot des ,In Übereinstimmung mit der Natur Leben' nach der Seite hin betrachtet, wo es sich im Sinne Zenons um die Entfaltung des Logos um seiner selbst willen handelt. Die Stoa steht hier in einem grundsätzlich positiven Bezug zum neuzeitlichen Vernunftdenken, und der in gewisser Weise schon am Ausgang der Neuzeit stehende Nietzsche hat den Stoizismus aus seiner Perspektive als „Selbst-Tyrannei" gegen die eigentliche Natur des Lebens in einer Weise philosophisch diagnostiziert, an der etwas vom Neuzeitlichen am Stoizismus selbst erhellt. „Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, daß sie ,der Stoa gemäß' Natur sei, und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen — als eine ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoizismus!" 1 1 Bei Ramus geschieht Erkenntnis im wesentlichen über zwei Schritte. Zunächst gilt es der äußeren Welt ihre Naturgesetzlichkeit abzulauschen. Ramus beschreibt selbst, wie er in den Ateliers der Händler herumgestöbert sei, um ihnen aufs Werk zu schauen; für ihn gilt der Erkenntnisvektor: von der Kalkulation zur Arithmetik, von der Feldmeßkunst zur Geometrie. Dieser praktische Zusammenhang bildet den Ausgangspunkt, aber auch wiederum das Ziel von Wissenschaft. Wissenschaft hat ihre Gegenstände aus den praktischen Anwendungszusammenhängen zu nehmen, und die von dort aufgenommenen Erfahrungsdaten und Bezüge 11
F. Nietzsche, Jenseits
von Gut und Böse, Aph. 9.
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werden dann auf dem Wege der Vernunft systematisiert, d.h. methodisch nach dem Allgemeinheitsgrad angeordnet, logifiziert, weiterentwickelt und als wiederhol- und lehrbar festgehalten, um schließlich der praktischen Seite der ,artes' mit jetzt gesteigerter Intensität wieder eingestiftet zu werden. Wissenschaft kommt so aus der Natur, um als theoretisch ausgearbeitete wieder gezielt und in einem beherrschenden Sinne sich dieser Natur zu bemächtigen. Wenn die sich wesentlich als Logik dokumentierende Vernunft bei der Natur (sowohl derjenigen der äußeren Wirklichkeit als besonders derjenigen des menschlichen Verstandes) anzusetzen hat, so ist nach Ramus' Ansicht nicht die aristotelische Logik der Begriffe, sondern die Stufe davor, nämlich die platonische Dialektik der Sache maßgebend und höherwertiger. Für die philosophische Arbeit selbst ist von daher zugleich einsichtig, daß sie vorrangig Philosophie des Denkens zu sein hat, denn im Denken (Bewußtsein) als dem naheliegendsten und auch philosophisch nicht mehr hintergehbaren Bereich kann sich die Vernunft nicht nur ihrer eigenen Natur, sondern aufgrund des vorausgesetzten Entsprechungsverhältnisses auch der Natur der ihr gerade äußeren und fremden Wirklichkeit versichern. Die Strategie der Auflösung des Spannungsverhältnisses von Natur und Vernunft durch Hinübernahme der Natur in den Bereich der Vernunft selbst, diese Konzentration auf das die Erkenntnis allererst zu bewerkstelligen habende menschliche Denken, bestimmt nun auch den Aufbau der einzelnen Disziplinen als Einheit von „natura", „ars" (oder „doctrina") und „exercitatio" nach Maßgabe der praktischen Verwert- und Umsetzbarkeit. Genau dieser für den Ramismus wesentliche Zusammenhang von , natura' (Vernunftvermögen des Menschen), ,ars' (Vorschriften zum richtigen Gebrauch dieser Fähigkeit) und ,exercitatio' (Umsetzung in Praxis bis zur Gewohnheit) ist dem Stoizismus nicht fremd. Er tritt dort der Sache nach im Bereich der Ethik auf, und bei Lipsius finden wir ihn an ganz zentraler Stelle seiner Lehre politischer Klugheit, wenn er etwa in den Mónita et exempla politica libri duo festlegt: „Prudentia necessaria est Principi, atque iis qui in República versantur. Haec non aliud est quam notitia rerum, eventumque, et judicium in iis rectum. Tria illam pariunt, natura, usus, doctrina." 12 Ramus unterscheidet eine „dialéctica naturalis" und eine „dialéctica artificialis", und auch im näheren Bereich der Methode (als dem Verfahren der nach Maßgabe ihres Allgemeinheitsgrades relationell richtigen An-ordnung der Aussagen und Urteile) gilt ihm das Auseinanderhalten von „methodus doctrinae" und 12
Lipsius,
Mort.
I, 8.
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Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
„methodus prudentiae". Die Bestimmung ,naturalis' bezieht sich dabei nun nicht unmittelbar auf die Struktur der äußeren Natur, der äußeren Wirklichkeit, der Sache, sondern sie meint die menschliche Vernunft, hinter die das philosophische Bemühen nicht mehr zurückgehen könne. „Naturalis autem dialéctica, id est, ingenium, ratio, mens, imago parentis omnium rerum Dei, lux denique beatae illius, & aeternae lucis aemula, hominis propria est, cum eoque nascitur." Von Natur aus sind die Menschen — und dies ist eine Gabe Gottes, von Prometheus ihnen gebracht — homines logici. „Omnium certe antiquissimus Logicus Prometheus; artificiosae methodi author & inventor in Philebo Platonis traditur; cum Socrates docet, omnes homines natura logicos esse." 1 3 Jede Theorieform wurzelt also in der menschlichen Vernunft und aufgrund der Entsprechung qua Vernunft in der äußeren Wirklichkeit selbst. Mithin muß alles darum gehen, (a) die Struktur des menschlichen Denkens, und d. h. dessen relationelle Funktionen und Bezüge zu entfalten, und, da der höchste Stand der theoretischen ,artes' identisch ist mit demjenigen der praktischen ,artes' (wobei die ,artes' den Status von Kategorien besitzen!), (b) eben diese Leistungen des Denkens „ex suo fine", d. h. vom utilitaristischen Verwertungszusammenhang her zu bestimmen (Kalkulation führt zur Arithmetik, und nicht umgekehrt). Wie sehr diese wechselseitig nützliche Einstiftung möglich und zugleich gefordert ist, wird auch an dem Umstand deutlich, daß Ramus sich gegen Hypothesenbildung wendet (sie seien Fiktion; Aristoteles habe wenigstens noch den Vorteil, seine Hypothesen für wahr gehalten zu haben; bekannt ist des Ramus' Angebot, demjenigen seinen Lehrstuhl in Paris zur Verfügung zu stellen, der eine Astronomie ohne den Einsatz von Hypothesen erstelle). 14 Philosophie hat als „bene ratiocinari" ihren Ausgangspunkt im menschlichen Denkvermögen zu nehmen, und dessen dialektische Entfaltung leistet auch den problematischen Ubergang von sich selbst auf die äußere Wirklichkeit. Will man der Natur als Ganzes ihren Rhythmus, ihren Mechanismus ablauschen und erkennen, so kann und muß dies im Mikrokosmos des Denkens, der menschlichen Vernunft geschehen. Bewußtseinsphilosophie also und nicht spekulative Seinsphilosophie ist bei aller an Piaton orientierten und letztlich kontemplativen Absicht implizite gefordert. Hier gehen neuzeitliche und traditionale Momente ineinander über, wenn dabei 13
14
Ramus, Dial, inst., fol. 6r; Scholae dial. I, 1, S. 4. Vgl. Platon, Philebos, 1 6 c - 1 7 a . Scholae mathem. II, S. 47. Ramus wendet sich diesbezüglich an G. J. Rheticus (Feldkirch) und T. Brahe. J . Kepler (Vorwort zu Astronomia nova) hält sich dann für denjenigen, dem der Lehrstuhl eigentlich zufallen müsse.
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das Nächste und zugleich das Äußerste, was der Mensch besitzt, in seinem Vernunftvermögen gesehen wird, und sich von diesem her die Welt aufbaut und erschließt. Ramus scheidet die anfänglichen platonischen Ideenmomente, die im logischen Durchgang bis zur Schau des Ganzen der Seinsordnung führen sollten, aus seiner Dialektik aus. Darin kündigt sich auch eine Reduzierung des Entsprechungsoptimismus von Allgemeinem und Besonderem an. Der Wahrheitswert der Dialektik bezieht sich jetzt zunächst und hauptsächlich auf die relationelle Schlüssig- und Richtigkeit des formalen Verfahrens selbst. Dies ändert nicht, daß die ,artes' nach wie vor die Kategorien bilden, und diese Reduzierung geht bei Ramus auch in keinem Moment so weit, daß er etwa Hypothesenbildung akzeptieren würde. Denn das dem menschlichen Verstand eingewobene ,lumen naturale' behält seine volle Gültigkeit, nicht aber mehr gilt ihm im unmittelbaren und vollständigen Sinne eine Gleichung von der Art: natura rationis = ratio naturae (extensae). Bevor wir zum ramistischen Gedanken der Methode als dem wesentlichen Teil der Dialektik übergehen, gilt es noch den für Ramus neben dem pädagogisch-didaktischen Bedürfnis und der Sicherung einer eindeutigen Lehre der An-ordnung von Aussagen und Urteilen des menschlichen Vernunftvermögens dritten Grund für die Notwendigkeit der Ausarbeitung einer Dialektik herauszustellen. Dieser ist ebenso wie das Verhältnis von Natur und Vernunft ein originär stoisches Lehrstück, die Überlegung nämlich, daß dialektische Strenge im Gegenzug zu den Affekten, dem Meinen, den unsicheren und täuschenden Sinneswâhrnehmungen, den Leidenschaften etabliert werden muß, da diese den Geist von seiner Bahn abbringen. Der Geist ist „souvent troublé et trompé par erreur d'opinion car par amour, hayne, envie, crainte, cupidité et autres trompeuses affections nous concluons bien souvent plustost que par solide et constant jugement du syllogisme." 15 Für Ramus ist von grundlegender Bedeutung, daß er nicht bei der Feststellung eines Entsprechungsverhältnisses von Vernunft und Natur stehen bleiben will, sondern sein Ziel in einer Methodisierung des Vernunftvermögens besteht. Methodisierung meint das systematische Verfahren bei der hierarchischen An-ordnung der einzelnen Vernunftresultate, der einzelnen bewiesenen und jetzt zur Beurteilung vorfindlichen Stücke, nicht des Beweises selbst (keine Beweislehre). Dabei gilt der Zusammenhang von dispositio rationis = ratio dispositionis (wie wir analog zur dispositio 1S
Dialectique,
S. 144.
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artis = ars dispositionis formulieren können). In dieser formalen Wechselseitigkeit liegt die Gefahr eines schematisierten Kurzschlusses des Verhältnisses von Natur und Vernunft, der die epigonalen Nachfolger des Ramus auch konsequent erlegen sind, indem etwa nach folgendem Schrumpfungsmuster gedacht wurde: Natur = Vernunft = Verstand = Dichotomie = dichotomisches Verfahren der Darstellung. Hier liegt eine Zentripetaldrehung zur Versteinerung, eine in sich verkrustende Formalisierung vor. Die Tendenz zu integrationistischer Verkürzung des Zusammenhanges von Natur und Vernunft läßt sich daran verdeutlichen, daß so etwas wie die für Aristoteles grundlegende Spannungsdifferenz, daß nämlich das von Natur Erste (das an sich Erste, das in der , ratio essendi' Erste) für uns (für die menschliche erkennende Vernunft, für die ,ratio cognoscendi') das Spätere, das Letzte sei, eingeebnet und kurzschließend gleichgesetzt wird. Dies führt der Sache nach dazu, ein Das als ein Was ausgeben und demonstrieren zu können. Methode ist hier ein systematisches und (nach Gesichtspunkten eines aus sich heraus evidenten Allgemeinheitsgrades) hierarchisches Verknüpfen einzelner Lehrstücke, von bereits Gewußtem, keine spekulative ,ars inveniendi', sondern Rückgang auf methodische Festlegung, auf methodische Organisation, auf ein Einholen der der Vernunft zunächst äußeren Wirklichkeit durch Definition und Teilung (definitio, divisio), durch systematische Klassifikation. In diesem Sinne hatte der ramistische Methode-Gedanke natürlich einen großen zeitgenössischen Verbündeten, das Römische Recht nämlich, das selbst keiner Methode bedarf, da es aus sich heraus Methode ist. Im an-ordnenden und be-urteilenden Teil der Logik, dem Judicium', treten zwei Momente zusammen und überlagern einander in Gleichberechtigung (diese Gleichberechtigung gilt besonders für die späteren Fassungen der Dialéctica): (a) der Syllogismus und (b) der „Methodus". Der Syllogismus sichert auf dem Wege des Auffindens des für ihn zentralen Mittelbegriffs die Gültigkeit der Einzelaussage, indem gerade der Mittelbegriff die Schlußfolge vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Gattung zur Art, ermöglicht und die Einzelheit damit auf den Stand des Allgemeinen hebt, d. h. deren Definition erlaubt. Der sich nach der (platonischen) Dichotomisierung richtende ,methodus' gewährleistet die verbindliche Gültigkeit möglicher Beziehungen der Aussagen untereinander in einem Sinngefüge, indem nach Maßgabe des Allgemeinheitsgrades hierarchisch-relationell an-geordnet wird. Methode ist für Ramus nicht Beweislehre, sondern eine nach ,definitio' und ,divisio' verfahrende Anordnungslehre von einzelnen Lehrstücken (Aussagen, mehrgliedrigen Argumenten). Der ,methodus'
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erhält seinen Wahrheitswert (jetzt gefaßt als relationelle Richtigkeit, denn aufs Ganze gesehen versucht ramistische Dialektik inhaltliche Fragen in formaler Relationslogik zu lösen) dadurch, daß er als die Dianoia selbst begriffen wird, welches Vermögen die verschiedenen Einzelstücke zum System gehörig aus- und ihnen sodann ihren Stellenwert zuweist. „Methodus est dianoia variorum axiomatum homogeneorum pro naturae suae claritate praepositorum, unde omnium inter se convenientia iudicatur." Wie sehr die Lehre des Ramus sich von dem durch Sprachoptimismus gekennzeichneten Denken der Renaissance bereits entfernt hat, und Methode die Stelle der Sprache einnimmt, wird an der herausragenden Funktion deutlich, die der ,methodus' hinsichtlich der Stellung des Menschen innerhalb der Welt einnimmt. „Tellement qu'autant que l'homme surmonte les bestes par le syllogisme, d'autant luy-mesme excelle entre les hommes par la méthode et la divinité de l'homme ne reluit en nulle partie de la raison si amplement qu'au soleil de cest universel jugement." Die urteilende Methode ist „la souveraine lumière de raison."16 Der pädagogisch-didaktische Zusammenhang, in dem der MethodeGedanke sowohl hinsichtlich seiner Genese als auch hinsichtlich seiner Anwendung im Unterricht steht, ist unverkennbar. In der Unterrichtssituation sind die Bemühungen um Erfassung des Gegenstandsfeldes und um Lehrbarkeit, um Gefügigkeit und Verfügbarkeit einander verwoben, und dementsprechend hat die Methode auch einen doppelten Charakter. Sie hat unterschieden und dennoch ineins „methodus doctrinae" und „methodus prudentiae" zu sein. „Methodus igitur doctrinae est dispositio rerum variarum ab universis et generalibus principiis ad subiectas et singulares partes deductarum, per quam to to res facilius doceri, percipique p o s s i t . " Das Unterrichtsverfahren ist grundsätzlich durch die Abfolge gekennzeichnet: allgemeine Definition, spezielle Explikation durch die Distribution der Teile, Definition der Einzelteile, Illustration durch geeignete Beispiele (d. h. definitio et summa quaedam comprehensio; specialis per distributionem partium explicatio; partium singularium definitio; ex idoneis exemplis illustratio). Dem ,methodus prudentiae' ist der Bezug zum Unterricht insofern noch direkter, aber nicht grundlegender, als hier den besonderen Umständen von Raum, Zeit, Personenkreis usw. Rechnung getragen werden soll. „ A d methodum prudentiae transeundum nobis est, quae pro conditione personarum, rerum, temporum, locorum, consi16
Dialéctica
(1572), II, S. 17; Dialectique
(1555), S. 153.
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Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
lium disponendi dabit." 17 Erst die Dialéctica von 1572 läßt diesen konkreten Ausgangs- und Bezugspunkt verschwinden, um sich auf eine höhere Stufe der Abstraktion zu begeben, wenn, wie oben zitiert, ,methodus' ganz grundsätzlich als Denkvermögen, als Dianoia gefaßt wird. Daß der Methode-Gedanke aber bei Ramus im Kontext des pädagogischen Unterrichts steht, ist, wie bereits erwähnt, besonders für Frankreich von Bedeutung. Dort verläuft die Wirkungsgeschichte des Ramismus im Unterschied etwa zu Deutschland, der Schweiz, England oder Schweden nämlich nicht im Bereich der Logik/Dialektik, sondern (über die Rhetorik des O. Talon) im Felde von Pädagogik und Rhetorik. Die Methode der ,studia humanitatis' bestand wesentlich im Einsammeln der ,loci' (= sedes argumentorum), und in gewisser Weise logifiziert, strukturiert und hierarchisiert Ramus diesen Vorgang in einem Zweischritt. Die ,inventio' bringt die entscheidenden ,loci' (Argumente) auf, und das Judicium' leistet die An-ordnung und die Beurteilung aller Aussagen nach ihrem Allgemeinheitsgradus absteigend als einem relationeilen Sinnzusammenhang. Die Methode avanciert bei Ramus immer mehr zum Hauptstück der Dialektik, und was ihre formale Verfahrensweise betrifft, so erhält die endgültige Fassung der Dialéctica von 1572 den ausschließlichen Charakter der (auf Piaton zurückgehenden) Dichotomisierung. Es erfolgt eine Aufspaltung des allgemeinsten Begriffes in jeweils zwei Unterbegriffe und dies fortschreitend bis das Wesen der untersten und in Frage stehenden Art dergestalt begrifflich bestimmt ist, daß Allgemeinbegriff (Gattungsbegriff) und Einzelbegriff (Artbegriff) identisch sind. Piaton bestimmt auf diese Weise etwa den Sophisten und den Staatsmann. 18 Formal analog entstehen jene für den Ramismus charakteristischen dichotomischen und pyramidalen Begriffs- und Sinngefüge, die ihrem inhaltlichen Anspruch nach bei Piaton den Ab- und Aufstieg vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Gattung über Mittelschritte zur einzelnen Art, und damit die Zusammengehörigkeit der Sache (für Piaton etwa das Sein des Staatsmannes) zum Ausdruck bringen wollen. Bei Ramus jedoch führt dies zu einer Formalisierung der einzelnen Gebiete, und aufgrund der Regredierung ins rein Formale, ins reine Schema schwindet der Inhalt, und die zurückbleibende Form wird lebens- und substanzleer. Im italienischen Humanismus und der Renaissancephilosophie des 16. Jahrhunderts steht die Frage nach der Vorrangigkeit entweder 17
18
Vgl. Dialectici commentarli tres authore Audomaro Talaeo editi, 1546, S. 8 3 - 8 4 , 8 7 - 9 0 ; Dialectique (1555), S. 145, 150. Vgl. Sophistes, 218d—231e; 2 3 5 b f f . ; 264cff.; Politikos, 2 5 8 b - 2 6 7 c .
Neustoizismus und Ramismus
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der Anordnung von bereits Gewußtem oder dem Erfinden und Auffinden von bisher Unbekanntem (von Ursachen, die von den Wirkungen her erschlossen werden, oder von Wirkungen, die aus den Ursachen gefolgert werden) im Mittelpunkt eines methodischen Interesses. Begrifflich unterscheidet beispielsweise Jacopo Zabarella zwischen Methode und Ordnung, und er meint mit Ordnung im Grunde dasjenige, was bei Ramus als Methode auftritt, während demjenigen, was er unter Methode versteht, eine weit höhere Bedeutung zukommt, da diese den Schritt von den Erfahrungstatsachen und -effekten auf die zugrunde liegenden Ursachen zu vollziehen sucht. 19 Ramus ist dagegen eher Francesco Piccolomini oder Benedetto Varchi vergleichbar, für die An-ordnung das Entscheidende ist, und wo so etwas wie ein spiegelnder Gleichklang von Struktur der äußeren (zu erfassenden) Natur und Struktur des diese Natur begreifenden denkenden Bewußtseins (Denkvermögen) herausgestellt wird. Zu Beginn unserer Ausführungen zum Verhältnis von Ramismus und Neustoizismus konnten wir deren Gemeinsamkeiten u. a. daran aufweisen, daß sich die Civilis doctrina der ramistischen Dichotomisierung als dem entscheidenden, weil den eigentlichen Zusammenhang stiftenden Formalgerüst bei der Darstellung und Behandlung des Politischen bedient. Die Unterschiedenheit dagegen der Lehre des Ramus von derjenigen des Neustoizismus läßt sich im systematischen Kern darauf zurückführen, daß für Lipsius Philosophie wesentlich Ethik und Politik zu sein hat, während sie bei Ramus in Logik und Rhetorik aufgeht. Wir wollen diesen Zusammenhang mit dem Hinweis verlassen, daß Lipsius das ramistische Verfahren auch beim gliedernden Zugriff auf den neben Politik (als Politischer Wissenschaft) für die Zeit bedeutsamsten Gebiet, der Geschichte nämlich (auch im Sinne der entstehenden Geschichtswissenschaft), in Anschlag bringt. Hinsichtlich der H i s t o r i a gilt, daß „summa ejus divisio est, M y t h i s t o r i a & H i s t o r i a . Illa, quae fabulas vero mixtas; ista, quae purum & merum verum habet. (. . .) vera Historia: quam licet bifariam partiare.Est N a t u r a l i s , est N a r r a t i v a : sit venia sic loquenti, plane, si non pure, Illa est, quae naturae faciem 8c facta révélât, (. . .). ,Narrativam' dico, quae gestas actionesque prodit, sacras sive profanas. Ideoque a duplici hac materie iterum duplex, Divina & Humana. Illa, quae religionem, aut quod adhaeret, tangit: haec, quae res plurimum actionesque humanas. Iterumque ea duplex, Privata & P u b l i c a . Nam 19
Vgl. die aristotelische Unterscheidung nach (a) methodus demonstrativa und (b) methodus resolutiva bei J . Zabarella, Opera logica, Köln 1597, col. 265F—266A.
246
Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
aut singulorum res, vitam, virtutes, vitia recenset: & Privata est, aut quae noxae, sunt gesta: & Publicam appello." Und im Juni 1603 schreibt Lipsius an D . de Villers über seine bisherigen Arbeiten, daß er „in Constantia, in Politicis, Saturnalibus, Militia, Admirandis: & sparsim etiam materias, quae usui aut oblectationi generi humano essent, disposui & ordine digessi. Ordine, quem in omnibus scriptis amavi". 2 0
2. Erneuerte
Stoa, Aristotelismus und, Aristoteles
Lipsius klagt darüber, daß dem Stoizismus die ihm gebührende Oberherrschaft in der Philosophie nur sehr schwer zu verschaffen sei, da die Peripatetiker in den Schulen das Sagen haben, und in dem bereits erwähnten Brief an Paulus Buys setzt er sich kritisch mit der Situation der zeitgenössischen Philosophie (Aristotelismus, Ramus, Melanchthon) auseinander. E r versucht, einen authentischen Aristoteles gegen die „commentarios obscuros illos in eum et aculeatos" durchzusetzen, denn diese „detorquent rectissima ingenia, et in acuminum flexuosos labyrinthos abducunt, a vero Philosophiae fine." Desgleichen gilt es, eine einseitige Autoritätsfixierung aufzuheben („Nos Aristotelem reducimus: sed ipsum et, si me audis, non solum") und besonders Platon, Epiktet, Plutarch und Seneca in ihr Recht zu setzen. Weiterhin zielt Lipsius' Bemühen darauf, die enge Ausrichtung der Philosophie auf die Logik, den Aristoteles des Organon, durch Herausstellung besonders von Ethik und Politik zu unterbinden, da gerade diese beiden Bereiche den eigentlichen Gegenstand von Philosophie ausmachen. „Politica quia tangit? (. . .) Nam ethica ipsa, leviter libant et velant in transcursu. Scilicet hoc jamdiu motibus his obtinuit, ut nulla pars minus ad Philosophiam facere censeatur, quam quae ad mores. Atqui ea praecipua erat, vel verius sola. Iam, 'nee solum addidi: et bono j u r e . " 1 Setzen wir Neustoizismus und Aristotelismus in eine Beziehung, so ist zweierlei von Bedeutung. Zum einen ist der Neustoizismus kein abgeschlossenes Schulsystem, sondern er nimmt bestimmte Philosopheme unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit eklektizistisch in sich auf, gleichsam so, als bringe er die Ernte der Renaissancephilosophie für die beginnende Neuzeit ein (man denke an den extrem anthologischen Cha20
1
Cent. misc. V, 26; III, 61 (3. Dez. 1600) zur Geschichte. Dichotomisierung auch bei P. Charron, Sag. I, 46 (politisches Weltbild); Disc, chrét. II, 3, S. 131 (Naturordnung). Manud. I, 4, S. 630; Cent. misc. I, 89.
Erneuerte Stoa, Aristotelismus und Aristoteles
247
rakter etwa der Politica des Lipsius). Zum anderen handelt es sich im Verhältnis von Stoizismus zu Aristotelismus und Ramismus um das Aufeinandertreffen einer auf das Handlungsethos und die Struktur der praktischen Lebensführung zielenden und diese festlegenden Menschenund Weltsicht einerseits mit den beiden wichtigsten Strömungen der zeitgenössischen Schulphilosophie (für B. Keckermann z. B. gibt es in der Philosophie nur die Alternative von Aristotelismus und Ramismus) andererseits. Ausgang des 16. Jahrhunderts stellen die in Spanien und Portugal entstehende neuscholastische Theologie-Metaphysik und die empirisch-rationale Methodik des italienischen Pagan-Aristotelismus an den Universitäten von Ferrara, Bologna, Pavia und besonders von Padua die beiden bedeutendsten Systeme vom Boden der Lehre des Aristoteles aus dar. Die gegenreformatorische Bewegung steht im Zuge des Trien ter Konzils im Zeichen einer Erneuerung thomistischer Positionen unter den Bedingungen des Humanismus und der Renaissance (erinnert sei an die 1597 erstmals erschienenen Disputationes metaphysicae des Jesuiten F. Suärez), und die logische und methodologische Seite des averroistischen Aristotelismus erreicht in Italien in den Opera logica des J. Zabarella ihren Höhepunkt. Der Aristotelismus ist die von Kirche und Universitäten weithin geschützte offizielle Lehre, und jede Abweichung, besonders von der aristotelischen Physik, unterliegt der Verurteilung. 1616 werden die Schriften von Kopernikus und Galilei verboten, und 1624 erläßt das Pariser Parlement ein vornehmlich gegen Gassendi gerichtetes Verbot jeglicher Veränderung der aristotelischen Lehre — unter Androhung des Todes. Und die Pariser Sorbonne verbietet noch 1678 (!) jede von der Physik des Aristoteles unterschiedene Lehre. Gegen diese schulbeherrschende Stellung und die den Katholizismus wie den Protestantismus erfassende neuscholastische Rezeption des Aristoteles zieht Lipsius energisch zu Felde, indem er den ursprünglichen und im Verbund mit anderen Philosophen, und d. h. besonders mit den Stoikern, aufzunehmenden Aristoteles gegen die „verdunkelnden und spitzfindigen Kommentare" herauszustellen sucht. Lipsius wendet sich mit dieser Kritik nicht so sehr gegen die scholastischen Kommentatoren des Mittelalters als vielmehr gegen die Versteinerungen der humanistischen Bewegung seiner Zeit selbst. Der frühe Humanismus (und hinsichtlich der praktischen Philosophie des Aristoteles wäre hier an Leonardo Bruni oder Jacques Lefèvre d'Étaples zu denken) hatte sich gegen die mittelalterliche Scholastik gerichtet, aber im Laufe des 16. Jarhunderts zeigt sich, daß der Humanismus die Scholastik zwar recht erfolgreich ins Lächerliche ziehen konnte, er
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Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
aber letztlich nicht über die Kraft verfügte, an deren Stelle etwas Neues zu setzen. In ihrer Abhängigkeit von den antiken Autoren wurden die Humanisten gleichsam selbst zu weltlichen Scholastikern. Lipsius tritt Ende des 16. Jahrhunderts mit den gleichen Argumenten gegen den zu verfeinerter Sprachkultur und zu scholastisierenden Verfahrensweisen regredierten Humanismus auf, die der frühe Humanismus einst gegen die Scholastik vorgebracht hatte. Auch die für die zeitgenössische Situation des Aristotelismus bedeutsamen Schriften Philipp Melanchthons haben für Lipsius, wie im Abschnitt über Ramus bereits angemerkt, nur einführenden Charakter; betrachtet man sie als eigenständige Lehre, so versperren sie gerade den für einen wahrhaften Humanismus geforderten umfassenden und zeitbezogenen Rückgang auf die Alten. Zudem liegt bei Melanchthon eine einseitige Ausrichtung auf Aristoteles vor. Melanchthon versucht, den Protestantismus mit einem humanistischen Aristotelismus zu vereinigen und wird so der für die neuzeitliche Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert hinein bedeutsame Begründer der protestantischen Neuscholastik. Ganz anders als Luther, für den Aristoteles der zu eliminierende Heide bleibt, sucht Melanchthon auch die aristotelische Ethik in ein sekundäres Versöhnungsverhältnis zum protestantischen Christentum zu bringen. Reformation und antike Moralphilosophie werden dabei in eine Zusammengehörigkeit gesetzt, die grundsätzlich auch die Möglichkeit eröffnet, sowohl Stoizismus und Christentum als auch Neustoizismus und Aristotelismus in einer positiven Beziehung zu sehen. Dies geschieht wesentlich durch die Herausstellung eines inneren Sachzusammenhangs von Ethik, „lex divina" und „lex naturae". Melanchthons Versuch ist also neben seiner Bedeutung für den zeitgenössischen Aristotelismus auch für die Wirkungsgeschichte der erneuerten Stoa von Wichtigkeit. Wo Reformation oder Aristotelismus melanchthonscher Prägung auftreten oder herrschen, da ist, trotz der Vorbehalte des Lipsius, die wirkungsgeschichtliche Situation auch für den Neustoizismus nicht gerade ungünstig. Der humanistische Reformator geht zunächst von einer Trennung von Philosophie und Evangelium aus, hebt diese aber sogleich in einem funktionalen Sinne wieder auf, weil die Moralphilosophie für die protestantische Lehre selbst einen mehrfachen Nutzen erbringen kann. „Utilitates philosophiae moralis. I.a Utilis est collatio cum Evangelio et lege Dei, ac illustrât genera doctrinae. Tenendum enim est discrimen legis et Evangelii, et sciendum ethicam doctrinam esse partem legis divinae de civilibus moribus. II.a Quia ethica doctrina pars est legi? naturae, et quia Deus vult legem naturae cognosci, cene hae
Erneuerte Stoa, Aristotelismus und Aristoteles
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disputationes prosunt, quae per signa et demonstrationes colligunt leges naturae, et ordinem monstrant. III.a Cum velit Deus legibus magistratuum regi civiles mores, etiam hanc doctrinam approbat, quae legum fons est. IV.a Cum discunt homines erudita ratione metiri officia, fiunt mores mitiores. V.a Hae disputationes sunt exempla methodi. VI.a Etiam in Ecclesia in disputationibus de civilibus officiis et moribus, multa sumuntur ex hac doctrina, videlicet ex lege naturae, ut cum de contractibus, de officiis magistratuum, de virtutibus plerisque, de legibus humanis disseritur. Et maiori dexteritate explicare tales materias possunt, qui recte instituí sunt in hac philosophia." 2 Diese Strategie einer komplementären Harmonisierung findet im Anschluß an Melanchthon reichlich Nachfolger, in Frankreich etwa das dem Kanzler Michel de L'Hospital gewidmete Werk Du droict Vsage de la philosophie morale avec la doctrine chrestienne (Paris 1562) des Premier président à la Cour des Aides de Paris, Pierre de la Place. Für Frankreich gilt es neben dieser sekundären Versöhnung noch auf eine Tradition hinzuweisen, die eine gleichsam vor-christliche Vereinbarkeit von Aristoteles und christlicher Lehre darlegt, und an deren Beginn eine der Schlüsselfiguren des französischen Reformhumanismus, nämlich Jacques Lefèvre d'Étaples steht. D'Étaples ist begeisterter Anhänger der praktischen Philosophie des Aristoteles. Seine Kommentare zur Ethik (1497), zur Politik und Ökonomik (1506) wenden sich von der scholastischen Methode der ,quaestiones* ab, geben Erläuterungen, didaktische Zusammenfassungen, Definitionen, philologische und historische Beispiele, denn der Kommentar soll von erzieherischem Nutzen sein. Aristoteles habe die Menschheit aus dem Status der Unwissenheit geführt und stehe, da er sich mit der Natur beschäftigt und diese der Ausgangspunkt jeglicher Erfahrung auch auf dem Wege zu Gott ist, natürlich in keinem Gegensatz zum Christentum. Im Gegenteil, der Stagirite erscheint in dieser Perspektive als ein von Gott begnadeter Mensch vor der Zeitenwende. Die christliche Orientierung ist diesem Verhältnis zu Aristoteles bestimmend, aber sie wird von Perspektiven geleitet, die (a) in den lebenspraktischen und auf Selbstverwirklichung und Autonomie des Menschen zielenden Rahmen bei G. Budé verweisen und (b) vom stoischen Interpretament der Natur nicht unberührt sind, sowohl in der Aristotelesdeutung als auch in der Bestimmung der Weisheit selbst. „La sagesse enfin 2
Enarrationes aliquot librorum Etbicorum Aristotelis, in: Corpus Reformatorum, Bd. XVI, S. 276—277. Für Luther dagegen ist die Vernunft eine ,kluge Hure', die ,Quelle aller Übel' und eine .Bestie, die gejagt werden muß', in: Werke. Kritische Gesamtausg. Weimar, Bd. X , 2, S. 295; Bd. X L , 1, S. 365.
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Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
est en nous le fruit le plus excellent, qu'on ne peut acquérir sans la vertu (. . .) pour l'atteindre, suis la nature." 3 Wenn wir nach dem Verhältnis des Neustoizismus zum zeitgenössischen Aristotelismus fragen, so ist damit zugleich die Frage gestellt, aus welchen Gründen der Neustoizismus Ausgang des 16. Jahrhunderts die bestimmende Weltanschauung sein konnte, weshalb der Index dieser Zeit nicht aristotelisch, sondern neustoisch ist. In diesem Zusammenhang sind sowohl historische als auch systematische Aspekte zu beachten. Wenn auch der Aristotelismus in der Kirche und im Bildungssystem der Zeit eine dominierende Stellung innehat (und Aristoteles zu Beginn des 17. Jahrhunderts etwa durch den Totius philosophiae peripateticae corpus absolutissimum des für Frankreich damals bedeutendsten Aristotelikers, Jean Crassot, eine umfassende Verteidigung erfährt; in gleicher Linie wären noch Pierre Padet, Guillaume Du Val oder Jean Cécile Frey zu nennen), so kann dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß in systematischer Hinsicht der Anti-Aristotelismus der für die Frühe Neuzeit kennzeichnendere Haltung ist. Aus der Vielzahl der hier zu nennenden Angriffe auf die scholastisierenden Aristoteliker und gegen Aristoteles selbst sei nur erinnert an die Dialecticae disputationes contra Aristotélicos (gedr. 1499) von Lorenzo Valla, an G. Pico della Mirandola, an die De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos libri IV (1533) des M. Nizolio und natürlich an die Aristotelicae animadversiones des P. Ramus von 1543. Ramus war dabei nicht nur logischer Antiaristoteliker, sondern auch in Sachen Ethik gegen Aristoteles eingestellt, und zwar von dezidiert christlichem Standpunkt aus. In seinen Erläuterungen zum Lehrplan von 1551 heißt es: „Ethica disciplina secundo curriculi philosophici anno per legem instituitur: nec tarnen omnes Ethici Aristotelis libri, sed quatuor duntaxat imperantur. Hujus philosophiae doctrinam, si mihi fuerit optandum, quod assequi velim, malim pueris ex Evangelio per eruditum aliquem, probatisque moribus Theologum, quam ex Aristotele per philosophum tradi. Puer impietates multas ex Aristotele discet." 4 Ein Jahr zuvor hatte O . Talon eine In primum Aristotelis Ethicum librum explicatio, ad Carolum Lotharingum Cardinalem Guisianum (Paris 1550) geschrieben, wo ebenfalls vom christlichen Standpunkt aus die aristotelische Ethik angegriffen, und die teleologisch-praktische Bestimmung des Glücks sowie die heidnische Tugendlehre abgelehnt wird. Aristoteles bestimme weder Ursprung noch Ziel des höchsten Gutes richtig, denn er 3 4
Vgl. P. Imbart de la Tour, Les origines de la Réforme, Collectaneae Praefationes, Epistolae, Oratioties, S. 275.
Bd. II, Melun 21946, S. 425.
Erneuerte Stoa, Aristotelismus und Aristoteles
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verneine sowohl den Schöpfergott als auch ein jenseitiges Leben. F. Patrizzi veröffentlicht 1581 seine Discussionum Peripateticarum Tomi IV, und für Frankreich bilden die Exercitationes paradoxicae adversus Aristoteles, in quibus praecipua totius Peripateticae Doctrinae atque Dialecticae fundamenta excutiuntur, opiniones vero aut novae, aut ex veteribus obsoletae, stabiliuntur (1624?) Pierre Gassendis gleichermaßen Höhepunkt und Abschluß der negativen Haltung gegenüber Aristoteles. Gassendi bricht sein Werk nach dem zweiten Buch ab, weil er merkt, daß F. Patrizzi die geplante Arbeit bereits geleistet hat. Das erste Buch der Exercitationes wendet sich gegen die Sophisterei der Aristotelikér, ihre Autoritätsfixiertheit, behandelt Unsicherheiten, Ermangelungen und Fehler der aristotelischen Lehre, und das zweite Buch richtet sich gegen die Dialektik, die weder Notwendigkeit noch Nützlichkeit habe, wendet sich gegen die Behandlung von Universalien, gegen die Erstellung der zehn Kategorien zur Erfassung der Wirklichkeit, gegen das „Geschwätz" über Vordersätze und gegen die aus Aristoteles folgende Unmöglichkeit von Wissenschaft. Schließlich stehen Fr. Bacon mit seinem Novum Organum scientiarum, G. Galilei mit seinem Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo und R. Descartes im Gegenzug zur aristotelischen Lehre, womit wir bereits in der Neuzeit selbst sind. Diese hauptsächlich logischen und naturphilosophischen Angriffe auf den Aristotelismus und auf Aristoteles selbst werden in Frankreich nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer auf Induktion, Empirie und der Behauptungsleistung der Vernunft gründenden neuzeitlichen Wissenschaft und Methodik betrieben. Ihnen ist stets auch eine christliche Argumentation verwoben, und die Unterschiede der aristotelischen Lehre (und hier hat man wohl direkt den italienischen Aristotelismus vor Augen) zum Christentum (keine ,creatio ex nihilo'; keine persönliche Unsterblichkeit; kein zukünftiges Leben; keine Vorsehung; keine Engel, Dämonen, Offenbarung, Wunder, Prophetie, kein Charisma) liefern hier die entscheidenden Argumente. Die Lehre der Stoiker und besonders deren Metaphysik (das Denken über Schicksal, Vorsehung, Notwendigkeit und Freiheit) ist dem christlichen Lehrgebäude grundsätzlich um vieles näher, einer christlichen Aneignung und Synthese zugänglicher als die aristotelische Philosophie. Diese gerät im Zuge der religiösen Erneuerungsbewegung des beginnenden 17. Jahrhunderts sogar in ihrer verchristlichten Form des Thomismus in stärkste Kritik und Ablehnung. Eine vom christlichen Standpunkt aus vollzogene Wende gegen aristotelische Philosophie bedeutet nun allerdings nicht automatisch, daß die ganze Weisheit der Antike ausge-
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Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
schlossen bleibt, wohl aber kommt dem Aspekt der Vereinbarkeit mit dem Christentum eine besondere Bedeutung zu. Innerhalb des antiken Geistes rücken von daher — wie schon in den Anfängen der christlichen Theologie — Piaton und die Stoa an zentrale Stelle. Ja, sogar der späte Lipsius der Manuductio führt gegen Aristoteles die kirchliche Tradition zu Felde. Wenn Aristoteles hinsichtlich der Erfassung der Natur der Dinge auch höherwertiger sei als Piaton, so gebühre, und hier beruft sich Lipsius auf die Einschätzung Augustins, Piaton doch der Vorrang, wenn es um das Verhältnis von Philosophie und Christentum geht. 5 In dem doppelten Sinne einer zugleich immanent rationalen und christlich dogmatischen Kritik wären etwa Th. Campanellas Atheismus triumphatus. — De gentilismo non retinendo. — De praedestinatione et reprobatione (Paris 1636) oder auch S. Bassons Philosophiae naturalis adversus Aristotelem libri XII, in
quibus abstrusa veterum physiologia restauratur et Aristotelis errores solidis rationibus repelluntur (Genf 1621) zu lesen. Mit den zwanziger und dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts setzt in Frankreich dann ein christlicher Renouveau, eine devote Erneuerungsbewegung ein, in deren Gefolge es auch von Seiten der Religiosität zu einer klaren Trennung von Religion und Philosophie, von Glauben und Vernunft kommt; eine Auseinandersetzung, die im Kampf der Jesuiten (die als Anhänger der thomistischen Theologie Religion und Philosophie zusammenzudenken versuchen) gegen die Jansenisten (für C. Jansenius ist gerade die Philosophie die Quelle der Häresie, sie ist schlechthin „mater haereticorum, mater errorum" und darf nicht einmal mehr „ancilla theologiae" sein) ihren Höhepunkt erreicht. Glauben und Gnadenakt einerseits werden gegen Vernunft und Philosophie andererseits gesetzt — für Guez de Balzac muß die Vernunft dem Gotte geopfert werden, was mehr bedeute als Abrahams Opfer des Isaac. Und mit B. Pascal tritt sogar der Fall ein, daß die Theologie der Vernunft an Vernünftigkeit überlegen scheint. Neben einer möglichen Vereinbarkeit mit dem christlichen Denken kommen der erneuerten Stoa zu Beginn der Neuzeit hinsichtlich ihrer Geschichtswirksamkeit noch zwei weitere und entscheidende Aspekte zugute. Zum einen kann der unter vernunftaktivem Vorzeichen erneuerte Stoizismus in den Zusammenhang der charakteristisch neuzeitlichen Sichtweise treten, und zum anderen nisten sich schon sehr früh originär stoische Lehrstücke in die Aristoteles-Rezeption selbst ein und verändern die Lehre des Stagiriten an durchaus zentralen Stellen. Zunächst ist an das 5
Vgl. Lipsius, Manud.
I, 4; Augustin, De vera religione IV.
Erneuerte Stoa, Aristotelismus und Aristoteles
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der Stoa von Anfang an eigene Denken einer immanent-teleologisch sich erhaltenden Naturordnung zu erinnern. Diese Erhaltungsleistung ist das W e r k des die Natur durchherrschenden aktiven Logos, und diese Vernunft ist hier um ihrer selbst willen als Vernunft tätig. In der Mitte dieser sich selbsterhaltenden Ordnung steht der Mensch, auf ihn ist die Welt in ihrer Bestimmung anthropozentrisch gerichtet. Dies eröffnet die Möglichkeit, daß der Mensch die ordnende, regelnde und verfügende Leistung der universalen Vernunft auf sich ziehen kann und darf, denn er ist ja das erhabendste Wesen der Naturordnung, in seiner (wenn auch endlichen) Vernunft verschafft sich der seiende Logos in besonderer Weise Ausdruck. D e r Ubergang vom seienden Logos zur punktuellen Individualvernunft des einzelnen Menschen (und vice versa) erscheint von hier aus als möglich und
— wenn
auch in den Grenzen des Systems
— legitim. In der
Einfügung und Unterordnung in das die Natur durchherrschende und anthropozentrisch gedachte Vernunftgesetz liegt also für die Stoa gerade die Möglichkeit einer Uberwindung bloßer Naturdetermination.
Indem
der Mensch der (inneren und äußeren) Natur- und Vernunftgesetzlichkeit gehorcht,
erhebt er sich über sie. Schicksal und Naturgesetz werden
immanent überwunden. Im Stoizismus liegt immer schon das Bestreben, gleichsam im Schöße der einen, primären und umfassenden Natur auf dem W e g e der Vernunft eine sekundäre und menschengeschaffene Natur zu errichten. Dieses praktizistische Verhältnis und Interesse des Menschen zur Gesetzlichkeit der Natur wird innerhalb der Geschichte der Stoa besonders in deren römischer Ausprägung sichtbar, wenn die Naturvorstellung in den Zusammenhang praktischer Orientierung tritt, wenn der Naturbegriff des Panaitios etwa sich mit dem Geist der Scipionen verbindet. Im Stoizismus ist also virtuell beides möglich (wenn auch von der Theorie nicht primär in dieser Richtung intendiert): einerseits steht der Mensch inmitten der Naturordnung (als innerer und äußerer Wirklichkeit, als Welt, als K o s m o s ) , und diese erhält sich in ihrem Bestand und in ihrer D a u e r ihren eigenen immanenten Prinzipien gemäß, andererseits aber kann gerade der Mensch dieser Natur gegenüber in ein Verhältnis zugleich vernehmender und konstruierender Vernunft treten. E r lauscht der Natur zum einen ihre Gesetzmäßigkeiten ab (das ist eine Bedingung des ,homologouménos te physei zen'; man denke auch an Senecas Bild des in der Mitte der Welt stehenden und neugierig umherschauenden Menschen, der wissen muß, um richtig zu leben) 6 , zum anderen kann er dieser gegenüber 6
Seneca, De otio V, 4—6: „in media nos sui parte constituât et circumspectum omnium nobis dédit".
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Wirkungszusammenhang neustoischer Lehren
auch in einen konstruierenden und vorschreibenden Bezug treten, der aufgrund des Interesses menschlicher Vernunft an ihr selbst der Naturordnung in der Weise und in Grenzen ihre Gesetzmäßigkeit vorzuschreiben sich in die Lage setzt, daß er als menschliche Vernunft (und damit auch als erhabendster Teil innerhalb des Seienden) physikalische, logische und ethische Einsicht zu besitzen behauptet. Die dem Menschen aufgegebene Entfaltung der Vernunft als Vernunft, noch unabhängig von deren Bezug zu den bewußtseinsäußeren Gegenständen, stellt zumindest für Zenon die gewichtigste Seite des noch nicht auf Natur festgelegten ,In Ubereinstimmung Leben' der Vernunft dar. Weiterhin ist es zwar stets die Struktur der Sache selbst, die im Wahrheitskriterium der ,phantasía kataleptiké' evident wird, zugleich aber ist der Ort dieser Evidenzleistung und vor allem ihre ethische Absicht unbestritten das Subjektive. Für das Verhältnis von Neustoizismus und Aristotelismus ist es von erheblicher Bedeutung, daß stoische Interpretamente in die Auslegungen des Aristoteles eingegangen und bestimmend geworden sind, und unter Umständen verdankt mancher der in der Frühen Neuzeit häufig anzutreffenden Kommentare zur praktischen Philosophie (Ethik und Politik) seine zeitgenössische Wirkkraft gerade dieser unaristotelischen Rezeptionsweise. Um dies zu verdeutlichen, müssen wir einen kurzen Blick auf den authentischen Aristoteles selbst werfen. Die Etbica Nicomachea des Aristoteles siedelt sich in der Struktur menschlichen Handelns an, und die Zwecke (die Finalität, das Telos) dieser Praxis sind in einem vielgliedrigen Gefüge hierarchisch geordnet und von der Grundaufgabe des Handelns selbst, der Erfüllung nämlich des dem Menschen als Werk aufgegebenen „anthrópinon agathón" (was mit der Leistung der „alétheia" und dem „aletheúein" identisch ist) her bestimmt. Metaphysik und Anthropologie verbleiben auf diese Weise in der Struktur menschlicher Praxis. Diese anthropologische und metaphysische Wahrheitsleistung wird von Theorie und Praxis gemeinsam (obwohl unterschieden) aufgebracht. Für die wesentlich deskriptive Ethik des Aristoteles ist dabei von entscheidender Bedeutung, daß es im Grunde keine wissenschaftliche, und d. h. keine auf das Sein des Seienden als unveränderlichem gerichteten ethischen Maximen, keine Wissenschaft der Ethik und auch keinen Kantischen Imperativ gibt. Denn das Gegenstandsfeld von Ethik ist gerade durch eine Veränderlichkeit charakterisiert, die die Jeweiligkeit der eine ethische Entscheidung fordernden Situation in ihrer ganzen eigentümlichen Intensität herausstellt, so daß sich eine theoretische Ethik diesem gleichsam immer nur approximativ und im Sinne der Deskription nähern kann — die eigentliche
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Leistung liegt wiederum in der menschlichen Praxis selbst. Aus diesem teleologisch-praktischen Gefüge wird ersichtlich, daß Ethik für Aristoteles nicht die bloße Verwirklichung einer Naturanlage, nicht eine bloße Entfaltung einer schon vorgängig bestimmten Natur bedeuten kann. Die Struktur menschlicher Praxis, nicht aber ein einmal festgelegtes und sodann auf seine Ausfaltung bedachtes Naturquantum bildet das Tragende der Aristotelischen Ethik. Die Vorzüge des Charakters, d. h. die ethischen Tüchtigkeiten, sind nicht angeboren, sind nicht (auch nicht verschüttetes) Naturgesetz, sondern wesentlich ein Ergebnis von Gewöhnung (éthos), von einer an dem hierarchischen Zweckgefüge nachhaltig orientierten festen Grundhaltung, d. h. Natur nur in dem letzten Sinne als aufgegebene Aufgabe des Gelingens, Glückens des Menschseins. „Also entstehen die sittlichen Vorzüge in uns weder mit Naturzwang noch gegen die Natur, sondern es ist unsere Natur, fähig zu sein, sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustand nähern wir uns dann durch Gewöhnung." Das menschliche Wesen soll sich von dem Gefüge der Zwecke her bestimmen, und die Hoffnung auf ein Zuteilwerden des höchsten Gutes bei Unkenntnis des Zieles, des Zweckes, des Umwillen, ist ein bloßer Wahn. Natürlich stellt Aristoteles gerade hier auch den Vorzug und die Notwendigkeit heraus, von der Natur zur Auf- und Übernahme des Umwillens befähigt zu sein, denn „das Streben nach dem Ziel ist kein Akt seiner ureignen Wahl, sondern man muß gleichsam mit einem Auge geboren sein, das zum richtige Urteilen und zum Erwählen des wahrhaften Gutes befähigt." 7 Entscheidend tritt zur Naturbefähigung die Freiwilligkeit des wertvollen Menschen, und auf diese Weise erst kommt dessen Praxis ins Ziel. Diese Erinnerung an Aristotelische Ethik soll verdeutlichen, daß Aristoteles seine Ethik nicht von der Natur her als Naturgesetzlichkeit, festgelegtes Naturquantum, Naturdeterminiertheit oder universale Naturordnung grundlegt, und daß damit ein grundsätzlicher Unterschied zur Fundierung von Ethik im Stoizismus besteht, dem gerade diese Züge wesentlich sind. Die Aristoteles-Rezeption ist nun schon sehr früh (erstmals wohl durch den in Theologie und Ethik der mittleren Stoa des Poseidonios folgenden M. T. Cicero, bei dem der höchste Punkt und die eigentliche Schlußfolgerung der aristotelischen Ethik für 'den Menschen in
7
Eth. Nie. II, 1, 1103 a 2 3 - 2 6 ; III, 7, 1114b 6 - 8 . Die folgenden Zitate jeweils in der Ubersetzung von F. Dirlmeier.
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einem ,vivere secundum naturam suam' gesehen wird)8 durch eine auf die stoische Bestimmung und Funktion von Natur zurückgreifende Lesart, durch das stoische Interpretament der Natur bestimmt. Die bereits für Melanchthon zu verzeichnende sekundäre Versöhnung von christlicher Lehre und aristotelischer Philosophie findet sich in reinster Form in einem der damaligen Zeit vertrauten Harmonisierungs-Syllogismus mit dem entscheidenden Mittelbegriff Natur: Gottesgesetz und Naturgesetz vertragen einander; die Ethik des Aristoteles folgt der Natur; die Ethik des Aristoteles ist in Ubereinstimmung mit dem Göttlichen Gesetz. So heißt es etwa in der Apologia adversas Audomari Talaei explicationem in primum Aristotelis Ethicum librum (Reims 1562) von Nicolas Boucher: „ L e x naturae legi divinae non répugnât, sed consentit. — Aristotelis doctrina de moribus in descriptione summi boni et virtutum naturam ducem sequitur. — Aristotelis igitur doctrina de moribus Evangelio non répugnât, sed consentit." 9 Ein grundsätzliches Hindernis für eine authentische Wirkungsgeschichte der politischen Philosophie des Aristoteles zu Beginn der Neuzeit besteht in deren innerer Aufeinanderbezogenheit und Einheit von Ethik und Politik. Dieser Zusammenhang ist bei Aristoteles von der Grundsicht getragen, daß der Mensch als zoon noun échon notwendig und seinem Wesen nach „zoon politikón" ist, und daß seine menschliche ,eudaimonia' im Sinne praktischer (als teleologisch verstandener) Vollbringung seiner Aufgabe als Mensch mit der ,eudaimonia' der Polis, d. h. dem Glücken und Gelingen des Gemeinwesens aufs Inhaltlichste verzahnt ist. Für Aristoteles ist der Mensch seinem Wesen nach politische Kreatur, er erreicht seine wesentliche Verwirklichung durch und als Innestehen in der Polis. Für die beginnende Neuzeit dagegen gilt zum einen (trotz mancher andersartigen Hoffnung in der humanistischen Bewegung) schon die Maxime „intus ut Übet, foris ut moris est" (G. Naudé), und zum anderen erfolgt die Betrachtung des Staates, seiner raison d'être, in Ablösung von der Frage nach dem Glück des Menschen als dem glückenden Gelingen seines Menschseins. Gerade das Aristotelische Anliegen, Anthropologie und Metaphysik sowie Politik und Metaphysik in der Struktur menschlichen Handelns und in der Struktur der Polis vereint und von dieser her sich bestimmen zu lassen, gerade ein solcher substantialer Zusammenhalt 8
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Vgl. Cicero, De fin. V, 9, 2 4 - 2 6 . Apologia, S. 140; vgl. dazu die Einleitung von R. A. Gauthier zu Übersetzung und Kommentar der Eth. Nie. (zusammen mit J. Y. Jolif): L'éthique à Nicomaque, Louvain/ Paris 2 1970, Bd. I, S. 173, 241-244.
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ist in der Frühen Neuzeit nach dem spätscholastischen Systemzusammenbruch und im Zuge der Autonomisierung, Heterogenisierung und Individualisierung sowie als Folge der geschichtlichen Erfahrung der Bürgerkriege und des Ordnungsschwundes nicht mehr möglich. Bei aller Herausstellung des ,anthrópinon agathón' liefert Aristoteles in dieser Situation keine dem Stoizismus vergleichbare Individualethik. Vielmehr herrscht bei ihm in dem Sinne Identität von Glück des Einzelnen und Glück der Polis, daß eine identische Ich-Konstitution nur in einem wesentlichen Innestehen des Menschen in der Polisordnung möglich ist, es sich nicht aber darum handelt, daß bereits fertige und geglückte Iche sich in einem sekundären Sinne auch zu Gesellschaft und Staat zusammenfinden. 1 0 Das Gute, das agathón der Ethik ist bei Aristoteles unbestimmt, eine doppelsinnige Größe (da es ,das' Gute nicht existent gibt) 1 1 und nicht auf das bedrohte, gefährdete Individuum der Religions- und Bürgerkriege und auf dessen Trost, „consolation et constance" (Du Vair) zugeschnitten. Aristoteles ist weder die Konzentration auf das Indivduum im subjektiven Sinne eigen noch kennt er den aktiven und dynamischen Logos. Beide Momente entwickelt erst die Stoa in originärer Weise. In ihr erfolgt die aktive Fassung der Vernunft, die in extremer Gestalt natürlich am Intellektualismus Chrysipps greifbar wird, der ja sogar die Affekte als eine Art Urteil, d. h. als Werke des (wenn auch krankhaften) Logos herausstellt. Die Übermächtigung der Affekte soll auf diese Weise deshalb von Erfolg gekrönt sein, weil die Affekte und Leidenschaften nicht als vom Logos unterschieden gedacht und nicht vor dessen Thron zur Beurteilung im Sinne einer Entscheidungsinstanz geführt werden, sondern sich selbst noch einer Vernunfttätigkeit verdanken. Damit ist die Möglichkeit ausgeschaltet, daß trotz eines Einspruchs und Urteils der Vernunft etwas Unvernünftiges geschehen kann (was ein Problem für die Aristotelische Ethik war). D a die Leidenschaften und Affekte als schon innerhalb des Substanzbereiches des jetzt erweiterten Logos gedacht werden, sind sie auch einer höherwertigen Uberwindung durch diese Vernunft um der Vernunft willen zugänglich, und sie können reguliert und ausgeschaltet werden. Die aktive Bestimmung der Vernunft unterscheidet sich von der Zweckursache, der causa finalis des Aristoteles hinsichtlich der Entfaltung der Einheit in die Vielheit geformter Einzeldinge dadurch, daß die eine 10
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Vgl. in diesem Zusammenhang Eth. Nie. I, 1, 1094a 26-1094b 11; I, 5, 1097b 11; I, 10, 1099b 2 9 - 3 2 ; IX, 9, 1169b 18-19; Pol. I, 2, 1253a 1 - 3 9 ; III, 6, 1278b 15-30; III, 9, 1280b 3 8 - 1 2 8 1 a 4. Eth. Nie. I, 4, 1096b 25.
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Entwicklung und Formung zu und von Einzelseiendem bewirkenden Ursachen nicht mehr in einem vom Stoff der Formung unterschiedenen statischen Eidos und einer dem Stoff vorgegebenen Teleologie gesehen werden, auf die hin Seiendes in Form, Bewegung und Entwicklung gelangt, und an deren Erreichung auch Bewegung und Entwicklung ihren statischen Abschluß, ihren natürlichen Ort' finden. Vielmehr nimmt die Stoa den Stoff und das gestaltende Prinzip in einem immanenten und monistischen Sinne zusammen und faßt sie als die beiden Seiten der einen Substanz auf. Die Vernunft wohnt in einem immanenten Sinne dem Stoff selbst als keimende, schöpfende, wirkende und damit gerade auch formende Kraft inne. In dieser Vorstellung der Immanenz und der aktiv wirkenden Vernunft unterscheidet sich die Stoa in grundlegender Weise von Aristoteles, und mit Bezug auf die Vernunftlehre des Heraklit ist der Stoizismus die erste ausgeprägte Logosphilosophie. Für die Stoa sind die den Herakliteischen Einheitslogos aufspaltenden ,spermatikoì lógoi' in einem endogenen Sinne die entscheidenden Wirkkräfte beim Ubergang, bei der Entfaltung der zugrunde liegenden Einheit in die Vielheit, in die Mannigfaltigkeit des Konkreten und dessen Entwicklungen. ImmanenzTeleologie und dynamisch gedachte Vernunft bringen so gesehen die Stoa der Situation frühneuzeitlichen Denkens weit näher als die Aristotelische Lehre. Daneben besitzt der Stoizismus, was hinsichtlich des handelnden Individuums von hoher Bedeutung ist, ein bei weitem ausgearbeiteteres Volumen an (Individual)Psychologie als etwa Aristoteles. Und schließlich dürfen wir zu alledem zwei Momente nicht vergessen, die eine direkte Wirkung der aristotelischen Lehre auf die Lebensgestaltung und das Weltbild in der Frühen Neuzeit behindern, daß nämlich (a) der Aristotelismus der vorangegangenen Scholastik eine akademische Schulphilosophie war, deren Verfahrensweise (als höchstens stets weitere Steigerung von ,quaestiones c ) mit Fragen der Lebensführung nichts gemein hatte, und daß, wie bereits angedeutet, (b) der im Humanismus und in der Renaissance wiederentdeckte authentische Aristoteles einige für seine Lehre konstitutive Merkmale besaß, die in unvereinbarem Gegensatz zur christlichen Lehre standen. Zunächst wird die Welt als von Ewigkeit her begriffen, d. h. so etwas wie einen einmaligen göttlichen Schöpfungsakt gibt es nicht. Sodann kennt Aristoteles keine Unsterblichkeit der Seele im christlichen Sinne (ein Aspekt, der besonders von Averroes auf die Unmöglichkeit einer persönlichen Unsterblichkeit hin betont wurde und in der Renaissance etwa bei Pomponazzi wirkte; von Averroes her leitet sich auch die für die Eigenständigkeit der Philosophie und die Möglichkeit
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einer pantheistischen Grundhaltung bedeutsame Lehre von der , Doppelten Wahrheit', die wir über Siger von Brabant und Wilhelm von Ockham dann in der italienischen Renaissance bei Pomponazzi und weiter bei Zabarella und Montaigne antreffen). Schließlich entfällt in der Ontologie die Vorstellung einer Providentia Gottes, und endlich werden, wie wir gesehen haben, Ethik und Politik bei Aristoteles vorrangig aus der teleologischen Struktur menschlicher Praxis (in Verwobenheit mit der dem Menschen aufgegebenen Aufgabe eines glückenden Menschseins) grundgelegt, während die christliche Lehre eine transzendente Begründung der Ethik aufweist (aller Anfang von Ethik ist hier Gott) und zum Staat, zur politischen Ordnung, ein negatives oder zumindest gebrochenes Verhältnis hat. Was die politische Theorie im engeren Sinne betrifft, so ist herauszustellen, daß Aristoteles die brennenden Probleme der Frühen Neuzeit natürlicherweise nicht behandelt hat. Hierher gehören z. B. die Fragen der Souveränität, des inneren und äußeren Krieges, politischer und religiöser Toleranz, die Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche, von römischem und Gewohnheitsrecht, des Widerstandsrechts, der Rolle des Adels, der Stellung der Wirtschaft zum Politischen. Nachdem man im 16. Jahrhundert versucht hatte, die Politica des Aristoteles durch Ergänzungen und kongeniale Nachträge auf den Stand der Frühen Neuzeit zu bringen (so der Florentiner Philosoph Cyriacus Strozzi, der die Politica 1563 um zwei auf zehn Bücher erweiten), bringt erst das 17. Jahrhundert Versuche eines politischen Neuaristotelismus (etwa bei H. Arnisaeus). Dieser macht sich aber gerade nicht die Grundlegung der politischen Philosophie des Aristoteles zu eigen, sondern entwirft im Anschluß an die rationale Methodik des italienischen Aristotelismus eine (doctrina) politica in Abgrenzung zu Theologie, Ethik und Jurisprudenz, die sich von der philosophischen Bestimmung der Politik bei Aristoteles weiter entfernt als der das handelnde Individuum ins Zentrum stellende personale Zugriff auf das Politische im Neustoizismus etwa bei Lipsius, der hier aristotelischer ist als der politische Aristotelismus. In unserer Fragestellung des Verhältnisses von Stoizismus und Aristotelismus kommt der Beziehung des stoischen Zusammenhangs von Wahl und Klugheit (,eklogé* und ,prudentia') zur Aristotelischen phrónesis hohe Bedeutung zu. Stoischem Denken zufolge wurzelt das den Menschen in spezifischer Weise charakterisierende Sittlichgute als höchstes und einziges Gut (und verstanden als die Entfaltung der Vernunft gemäß der ihr immanent eigenen Gesetzlichkeit) im Inneren des Menschen selbst und tritt aus dessen Natur als Subjektivität heraus. Die Entfaltung der Ver-
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nunft erfolgt mithin als Sittlichkeit, und die Tugend beansprucht aufgrund ihrer Autarkie (d. h. aufgrund ihrer Unabhängigkeit von äußeren Dingen und von anderen Menschen), die menschliche Eudaimonia auf Dauer stellen zu können. Das höchste Gut und die eudaimonia haben also in der rationalen Einstellung des Menschen als Vernunftwesen ihre entscheidende Mitte. Deshalb kommt in der Stoa dem Gedanken der Auswahl (eklogé) insofern eine bedeutsame Stellung zu, als das jeweilige Subjekt ständig zwischen den zu meidenden und den zu erstrebenden Gütern, zwischen den „rebus expetendibus" und den „rebus fugiendibus" zu wählen hat, um durch diese Wahl ein ,vivere secundum naturam' zu erreichen. Die richtige Wahl und Auswahl ist also für die rationale Lebensführung entscheidend, und zwar in dem doppelten Sinne des Homologiegebotes. Zum einen meint dies die wohl für Zenon das ,homologouménos zen' ausmachende gänzliche Entfaltung des Logos (man beachte das Auftreten des L o g o s schon im Worte selbst: homologouménos zen) ohne einen Bezug zu den Gegenständen der äußeren Wirklichkeit, das vernünftige ,In Ubereinstimmung Leben' der Vernunft. Die Wahl ist in diesem Sinne nicht Auswahl von Dingen, sondern wählende Leistung und damit Entfaltung der Vernunft selbst, und sowohl Handlungen als auch moralische Akte sind von hier aus gesehen eine rationale Leistung, intellektuelles Urteil. Zum anderen aber meint dies gerade auch die vernunftgemäße Auswahl derjenigen Dinge (der äußeren Wirklichkeit), die naturgemäß sind, was innerhalb des Seienden denjenigen Gegenständen und Gütern einen fraglosen Vorrang einräumt, die ihrer Natur nach in einem Entsprechungsverhältnis zur Vernunftnatur des Menschen stehen. Beide Male wird eine Entäußerung der Vernunft an die Gegenstände äußerer Wirklichkeit (und damit die Möglichkeit, daß diese über das innere Zentrum der Vernunft gleichsam von außen Einfluß bekämen) strengstens vermieden. Die Herausstellung und Auswahl der natur-, und d . h . der vernunftgemäßen Dinge in der für die Entfaltung des menschlichen Logos nicht unbedingt notwendigen äußeren Welt bedeutet nicht eine Aufwertung der Existenz äußerer Wirklichkeit für den Entfaltungsprozeß der (inneren) Vernunft, sondern unterstreicht vielmehr das ethische Anliegen der Stoa insofern, als dadurch der praktischen Lebensführung und deren Notwendigkeiten, der Alltäglichkeit Rechnung getragen und zugleich aber die Gewähr dafür geboten wird, daß einzig durch den Vernunftgebrauch das Ideal einer ,tranquillitas animi et mentis' möglich ist. Bei der näheren Bearbeitung dieses (Aus)Wahlvorganges tritt die Klugheit, die ,prudentia', ins Zentrum des Interesses, und die Aristotelische ,phrónesis' wird schon bei Cicero in
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einem eingrenzenden und stoifizierenden Sinne festgelegt. „Princeps omnium virtutum illa sapientia, quam ,sophian' Graeci vocant (prudentiam enim, quam ,phrónesin', aliam quamdam intelligimus, quae est rerum expetendarum fugiendarumque scientia)." 1 2 Diese Bestimmung der ,prudentia' haben wir dann auch bei Lipsius angetroffen, als er für die Leitung der ,vita civilis' Tugend und Klugheit (virtus et prudentia) herausstellte und politische Klugheit als „intellectum et dilectum rerum, quae publice privatimque fugiendae aut appetendae" bestimmte. Gerade diese Auffassung von politischer Klugheit ist in den zeitgenössischen Traktaten aufgenommen worden, wie wir an Charron sehen konnten, und was sich deutlich auch etwa an J . Althusius ablesen läßt, wenn dieser begrifflich festlegt, daß „Prudentia haec politica est, autore Lipsio, intellectus & delectus eorum, quae publice privatimq; in Reip. administratione sunt facienda, vel omittenda." 1 3 Im Zuge der bei Aristoteles in dieser Weise nicht anzutreffenden Frage und Bedeutung der Auswahl (erstrebenswerter Dinge) und im Zuge des stoischen Anliegens, in der Philosophie (in Abgrenzung von der nur ganz wenigen zuteil werdenden Weisheit als Einsicht in die göttlichen und menschlichen Dinge) eine lebenstechnische Hilfe zu geben, wird die Aristotelische ,phrónesis' in den subjektiven und verrichtenden Kontext der Auswahl eingelassen, sowohl im Sinne einer Klugheitsregel als auch in Gestalt der Selbstbeschränkung des Individuums, als ,sophrosyne*. Phronesis ist dabei nicht mehr jene Größe, die nicht nur die Mittel, sondern gerade auch die Zwecke und Ziele (d. h. phrónesis als sittliche Einsicht) der als kontingent (und nicht der spekulativen Ordnung der Notwendigkeit angehörig) erscheinenden menschlichen Praxis aufbringt. Phronesis wird jetzt hingegen beschränkt auf das Auffinden der Mittel zum Erreichen eines Zieles, dessen Woher, Warum und Woraufhin nicht mehr in der Phronesis selbst beschlossen liegen. Cicero präzisiert an anderer Stelle seine Definition der ,prudentia' als „rerum bonarum et malarum neutrumque scientia" dahingehend, daß drei Momente diesen Vorgang praktischen Aus- und Erwählens bestimmen: (a) die rationale Einsicht in die Struktur der jeweiligen Situation (intelligentia), (b) die mögliche Auswirkungen und Folgen vorwegdenkende und (mit Bezug auf die eigene ethische Absicht einer affektfreien und vernunftorientierten
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Cicero, De o f f . I, 43, 153; vgl. Stoic, vet. fragm. III, 274; vgl. Augustin, Epos, quarumdam propos, ex ep. ad Rom., 49, in: PL 35, col. 2073; ders., De div. quaest. LXXXIII, liber unus, qu. 61, n. 4, in: PL 40, col. 51; vgl. auch Stobaeus, Eel. II; Sext. Empiricus, Adv. Math. IX, 153. Lipsius, Pol. I, 7; Althusius, Pol., cap. XXI, Ausg. Herborn 1614, S. 398.
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Lebensführung) einkalkulierende Voraussicht (providentia), und (c) die erinnernde Fähigkeit, dasjenige in Bezug zu der geforderten Entscheidung zu setzen, was als lebensgeschichtlicher (und damit auch allgemein historischer) Zusammenhang mit Hinsicht auf die Qualität der geplanten Entscheidung damit in Verbindung und eingebracht werden kann (memoria). G a n z in diesem lebenstechnischen und politisch-sozialtechnischen Sinne hatten wir dann ja bei Lipsius auch ,usus' und ,memoria' als die näheren Bestimmungen sowohl der privaten als auch der öffentlich-politischen ,prudentia' angetroffen. 1 4 Und ganz in diesem Sinne gestaltet sich auch zu Beginn der Neuzeit das enge Zusammengehen von Politik und Geschichte, was in der häufig anzutreffenden Zusammenfassung dieser beiden jetzt im spezifischen Sinne entstehenden Wissenschaften in universitären Lehrstühlen institutionell zutage tritt. Enthält auf diese Weise jede Aristoteles-Aufnahme, in der sich die Schrumpfung des phrónesis-Begriffs auf das Auffinden von Mitteln zum Erreichen von anderen Zwecken findet, eine Affinität zur Stellung der Klugheit im Stoizismus (wobei noch ein wesentliches Moment hinzutritt, daß nämlich für den Stoiker, anders als für Aristoteles, bei aller Bedeutsamkeit dieser Klugheit für das menschliche Handeln, ,prudentia' dennoch gerade nicht aus der menschlichen Praxis, sondern als theoretische Einsicht gewonnen wird, und sie gerade von daher Züge spekulativer Notwendigkeit erhält), so hat die ,phrónesis' aber doch ihre eigentliche Entpotentialisierung auf einen bloß instrumenteilen Charakter nicht durch die Stoa, sondern durch die christlich bevormundende und vorschaltende Interpretation des Aristoteles bei Thomas von Aquin erfahren. Bei Aristoteles stand Phronesis in dem Sinne im Kontext praktischer Philosophie an zentraler Stelle, als gerade sie es war, die in den grundsätzlich durch Vergehen, Veränderung, Kontingenz und Jeweiligkeit gekennzeichneten Situationen des Lebens und der Polis, d. h. im Felde der Ethik, die höchste Tüchtigkeit darstellte, insofern sie Mittel u n d Ziele des in sich selbst terminierenden Handelns zu bestimmen trachtete und auch in der Lage war. Für die Bestimmung der ,phrónesis' (sittliche Einsicht) gilt, „daß sie eine mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit des Handelns ist, des Handelns im Bereiche dessen, was für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll ist. Denn das Hervorbringen hat ein Endziel außerhalb seiner selbst, beim Handeln aber kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln ist selbst Endziel." Ist so die 14
Cicero, De invent. II, 160; Lipsius, Pol. I, 8 - 9 .
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Phronesis bei Aristoteles die höchste Tüchtigkeit im Bereich menschlichen Handelns, so steht sie dennoch nicht über der philosophischen Weisheit (sophia), die die „Wissenschaft von den erhabendsten Seinsformen" ist; sittliche Einsicht (phronesis) „bedient sich ihrer nicht, sondern bemüht sich sie herzustellen." Aufgrund der inneren Zusammengehörigkeit und einer durch Einheit und gegenwendige Differenz gekennzeichneten Grundlegung von Ethik und Politik in praktischer Philosophie gehört Phronesis natürlich (bei aller Abhebung von der Staatskunst im engeren Sinne) gleichermaßen in den Bereich des handelnden Individuums und in die Polis, bleibt aber grundsätzlich getrennt von der Ordnung der Notwendigkeit. Thomas von Aquin nun beraubt die Aristotelische ,phronesis' ihres Eigentümlichsten, indem er ihr eine Ordnung der Notwendigkeit vorsetzt, von der her ,prudentia' ihre Funktion in einem subalternen, bloß instrumenteilen, verrichtenden Sinne erhält. Bei Thomas beginnt Ethik mit G o t t und steigt nicht aus der Struktur menschlichen Handelns hervor, und folglich schließt die ,prudentia' nicht mehr das Wissen um das moralische Telos in sich. ,Prudentia* wird eingeengt auf den Bereich der Mittel, sie hat nicht mehr die beiden Formen wie bei Aristoteles, nämlich als eine sowohl auf das Allgemeine als auch auf das Besondere gerichtete Einsicht zu wirken. 1 5 Die beiden Grundmomente christlicher Lehre, nämlich (a) der allmächtige Gott des Monotheismus und (b) die dem Menschen nach dem Sündenfall grundsätzlich anhaftende Schwäche und Unzulänglichkeit, umgreifen die Ethik. In dieser thomistischen Umklammerung verliert die Aristotelische Ethik ihr eigentliches Potential und wird zu einem christlichen Lehrstück herabgesetzt. Vom einen Ende her wird der allmächtige G o t t Ausgangspunkt und universale Leitschnur von Ethik, vom anderen Ende her ist der nach dem Sündenfall verderbte und schwächliche Mensch zu einer ins Ziel gelangenden Vollbringung von Ethik aus eigenen Stücken nicht mehr in der Lage. Bei aller Ubereinstimmung von Phronesis (sittliche Einsicht) als sowohl das individuelle Handeln bestimmender und leitender als auch im Bereich der Staatsführung bedeutsamer Größe, liegt es Aristoteles dennoch deutlich am Herzen, gerade auch den spezifischen Unterschied von sittlicher Einsicht und Einsicht in Dingen der Staatsführung herauszustellen. „ D a s Wesen der sittlichen Einsicht ist Handeln. Man muß also beide Formen haben (die auf das Allgemeine und die auf das Besondere ls
Prudentia bei Thomas von Aquin, Sum. theol. IIa Ilae, quaest. 47 — 56. Wertvolles Handeln als Endziel, Eth. Nie. VI, 5, 1140b 5; Unterschied zur sophia, Eth. Nie. VI, 13, 1145a 6 f f . ; VI, 7, 1141a 7ff.
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gerichtete Einsicht) oder die letztere in höherem Grade als die erstere. Doch gibt es wohl auch in diesem Fall eine übergeordnete Wissenschaft (die Staatskunst). Es ist aber Einsicht in Dingen der Staatsführung und sittliche Einsicht ein und dieselbe Grundhaltung, die begriffliche Fassung der beiden ist jedoch nicht identisch. Bei der Einsicht in Dingen des Gemeinwesens ist zu unterscheiden die Einsicht in Dingen der Gesetzgebung — diese ist als etwas Ubergeordnetes anzusehen — und eine zweite, welche die allgemeine Bezeichnung ,Einsicht in Dingen der Staatsführung' hat — diese ist als in den Einzelfällen klar sehend zu betrachten und deren Wesen ist Handeln und Beraten." 16 Dieses für Aristoteles in Sachen Ethik und Politik charakteristische und konstitutive Prinzip von Einheit und Differenz wurde in der Renaissance-Rezeption eingeschliffen. Phronesis erfährt als ,prudentia' nicht nur die (traditionsgeschichtlich besonders auf Thomas von Aquin und hinsichtlich der realgeschichtlichen Erfahrungswirklichkeit auf die konkreten Bedürfnisse der Staatsgebilde der Zeit zurückgehende) Eingrenzung auf die Bereitstellung und durchführende Anwendung von Mitteln. Sie wird auch in direkter Weise den politisch-staatlichen Organisationsgefügen als politische Klugheit zugesprochen, d. h. als politische Einsicht in Nützlichkeit und Notwendigkeit ausgegeben, wodurch die Staatskunst im engeren Sinne als ,phronesis' auftritt, politische Notwendigkeit und politischer Nutzen sich die Qualität von Tugenden vindizieren. Dabei kann man den frühen Humanisten noch das Bemühen um eine praktische Verbindung von Ethik und Politik zugestehen. Der Differenzierungsabfall im Verhältnis zu Aristoteles in diesem Punkte schlägt auch erst Ende des 16. Jahrhunderts geschichtlich zu Buche, als sich nämlich diese Konstruktion mit dem Denken der Staatsräson verbindungsfähig erweist. Beispiele für diese Behandlung, in der die Aristotelische ,phronesis' auf den Bereich der Mittel reduziert und zugleich auf den Bereich des Politischen scheinbar problemlos übertragen und mit der Staatskunst im engeren Sinne gleich gesetzt wurde, sind in der moralisch-politischen Literatur der Renaissance durchgängig zu finden, sie reichen von Matteo Palmieri (Della vita àvile) bis Alessandro Piccolomini (Della institutione morale . . . libri XII) und darüber hinaus. Mit all diesen traditionsgeschichtlichen Einschränkungen durchwirkt war uns bei Lipsius der Begriff der politischen Klugheit, die ,prudentia civilis' entgegengetreten. Gegenüber Aristoteles gleichsam doppelt verändert: zunächst durch die Hauptgewichtung auf den Bereich der Mittel, 16
Eth. Nie. VI, 8, 1141b 21-27.
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sodann durch die grundsätzliche Ausdifferenzierung der Politik aus jenem ganzheitlichen Kontext praktischer Philosophie, der (in Übereinstimmung und in spezieller Differenz zu Politik im engeren Sinne) die „Gesamtheit menschlicher Seins- und Sinnesweisen" als politisch umfaßte und bestimmte. Aber wir haben zugleich gesehen, daß es sich im Klugheitsbegriff des Neustoizismus nicht um die thomistische Verkümmerung der ,phrónesis' handelt, sondern daß bei Lipsius in formaler Hinsicht noch etwas von der Struktur der Aristotelischen Klugheit bestehen bleibt, was inhaltlich-faktisch allerdings zu einer Aristoteles entgegengesetzten Konsequenz führt. Im Neustoizismus steht die ,prudentia' im Spannungsfeld einer Wahl/Entscheidung zwischen den „rebus expetendibus et fugiendibus". Die ,prudentia' ist dabei an dem Auffinden und an dem Aufweis eines auf das Individuum oder auf die Ordnung des Politischen bezogenen Zweckes und Zieles in einem immanent-teleologischen Sinne beteiligt. Sowohl das Individuum als auch die politische Ordnung werden im Neustoizismus als sich selbsterhaltende, selbstbehauptende, selbstgenügende, auf Autarkie gerichtete und ihre Eigengesetzlichkeit herausstellende organische und quasi-organische Systeme aufgefaßt und ethisch gefordert. Um ihren Bestand und ihre Dauer zu erhalten, zu behaupten und zu sichern, muß diesen Gebilden eine spezifische Logik und eine Rationalität eigen sein, die über die naturteleologische Bestimmung alles Lebendigen als ,conservano sui' in einem vernunftkonstruierenden Sinne noch hinausgeht. Das Auffinden der richtigen, und d. h. der dieser Logik entsprechenden Mittel bedeutet dann zugleich auch einen Aufweis des für alle Teile des Systems verbindlichen Zweckes und Zieles. Dieser Zusammenhang ist eine Folge des Immanenzdenkens. So will das neustoische Individuum nicht um eines anderen willen rational und naturgemäß sein, sondern um seiner selbst willen, weshalb die Verrichtung dieses Selbstseins in Orientierung an der als höchstes Gut eingestuften Selbsterhaltung an der Einsicht in und dem Auffinden von Zweck und Ziel selber beteiligt ist. Und die politische Ordnung des Neustoizismus will letztlich nicht um eines anderen willen stabil und unumstößlich sein, sondern um der Erhöhung des eigenen Staatsgedankens willen, weshalb die politische Klugheit an dem Telos des Politischen insofern selbst unmittelbar beteiligt ist, als sich in ihr die raison d'être des Staates (bei aller Bindung an die Gottes- und Naturgesetze und bei aller Eingrenzung des Rechtes auf Derogation der Uberlieferung) als raison d'état ausdrückt, artikuliert und Geltung verschafft. Phronesis ist also bei aller Schrumpfung zugleich mehr als eine bloß regulierende und instrumenteile Größe. Verkümmerung und Verabsolutierung bedingen
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sich hinsichtlich der politischen Ordnung und deren zweckmäßiger Klugheit hier wechselseitig. Politische Klugheit tritt mit dem Anspruch auf, das Sein des Politischen selbst zu beinhalten — und zwar in Gestalt der für die Neuzeit bestimmenden Säkularisierungen und Immanentisierungen als Friedens-, Ordnungs-, Stabilitäts-, Sicherheits- und Schutzleistung, was letztlich auf eine technische Organisation von Macht und Herrschaft, auf den Staat als ,ordo in jubendo et parendo' hinausläuft. Lipsius hat zur Politica des Aristoteles ein durchaus positives Verhältnis. Zwar lobt er die Politela des Piaton und empfiehlt dem Herrscher auch die Lektüre der Nomoi, aber in Sachen Politik gebühre dem Aristoteles doch ein deutlicher Vorrang. 17 Diese Wertschätzung bezieht sich sowohl auf die Aussagen zu Verfassung und Gestalt einer politischen Ordnung als auch gerade auf die von Lipsius im Tiefsten seines Herzens erwünschte Grundlegung des Politischen im Verbund mit dem Ethischen unter Herausstellung von Politik im spezifischen Sinne. Lipsius sieht die Unmöglichkeit, eine solche Theorie wider den zeitgenössischen Geist durchzusetzen. Bei allem Realitätssinn aber bedauert er dies, wie wir etwa an der doppelschneidigen und zögernden Behandlung der ,prudentia mixta', der ,fraudes' sehen konnten. Im Vergleich mit einer auf die aristotelische Methodik (und nicht auf die Zusammengehörigkeit von Ethik und Politik im Sinne praktischer Philosophie) sich aufbauenden autonomen Politischen Wissenschaft (etwa der Politica des Henning Arnisaeus, die man als politischen Neuaristotelismus bezeichnet hat) gehört die politische Theorie des Neustoizismus eher in die Nähe der ethisch und auch naturrechtlich durchsetzten Richtung politischen Denkens. Ihr Begriff der ,civilis doctrina' für Politische Wissenschaft unternimmt es gerade nicht (und hierin ist er Bodin, Althusius und auch Hobbes ähnlich), einen vorstaatlichen und einen eigentlich staatlichen Bereich zu trennen, um die Autonomie der Politik gegenüber Ethik, Theologie und Jurisprudenz zu betonen. Politische Wissenschaft ist im Neustoizismus in dem Sinne stets politische Philosophie als sie das Gesamt von Moralphilosophie, Sozialphilosophie und Politischer Theorie in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sucht, in dem, geht es um die Theorie im engeren Sinne, natürlich die Politik, d. h. das ordnende und normativ gestaltende Strukturieren und Sichern der Ordnung des Politischen, einen autonomen Vorrang hat. Doch in dem gleichen Maße, in dem der Staat im Neustoizismus von universalen ethischen Bindungen gelöst und entsakralisiert wird (was wir besonders deutlich bei P. Charron
17
Lipsius, Notae ad Civil, doctr. I, 10.
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sehen konnten), wird die Ordnung des Politischen zu einer alle anderen Kultursphären und alle Individuen übermächtigenden Größe. In realgeschichtlicher Gestalt der absoluten Monarchie tritt dann die ganze Verkehrung der Aristotelischen Bestimmung der Politik als ein die .Gesamtheit der menschlichen Seins- und Sinnesweisen' umfassendes Geschehen (als das Werk der Wahrheit, als das ,érgon' der ,alétheia') zutage. Politik hatte im Aristotelischen Verständnis ineins ermöglichende Freisetzung und Begrenzung der Fähigkeiten und Verwirklichungen von Freien und Gleichen zu sein. Der absoluten Monarchie und dem neuzeitlichen Machtstaat dagegen fehlt gerade jener wesentliche Zusammenhang von Mensch und Politik, der bei Aristoteles in grundlegender Weise dazu führte, menschliche Praxis als Ethik wesenszugleich Politik sein zu lassen. Die absolute Monarchie will ordnend disziplinieren, nicht ermöglichend und begrenzend freisetzen. In dem neuzeitlichen Auseinanderfallen von Ethik und Politik scheint sich der eine Teil jener Hybris erfüllt zu haben, die Aristoteles im Auge hat, wenn er (bei Entfaltung aller Eigenständigkeit) die innere Zusammengehörigkeit, das Aufeinanderbezogensein und das sich wechselseitig erst Ermöglichende der beiden grundsätzlichen menschlichen Tüchtigkeiten, der Philosophie/Ethik (sophia) und der Politik (politiké = phrónesis perì pólin), durch Verabsolutierung eines der beiden Momente gefährdet sieht. Eine Verabsolutierung der ,phrónesis' bedeutet für Aristoteles eine maßlose (weil das Maß der ,sophia' verloren habende) Eingrenzung auf den Menschen und damit eine Verkümmerung. Die Neuzeit gibt der prudentia als ,prudentia civilis' den Charakter einer Verabsolutierung in dem Sinne, daß sie den Begriff der Klugheit auch noch vom Menschen ablöst und, in Gestalt binnenlogischer Erfordernisse, der politischen Ordnung oder der diese Ordnung verkörpernden Person des (absoluten) Herrschers überläßt. Lenken wir zunächst den Blick auf die Ethik selbst, so wird deutlich, daß die bei Aristoteles eingenommene Stellung zwischen Kollektiv- und Individualethik als einer Haltung praktischer Philosophie teleologischen Grundgehalts im Stoizismus bereits zur Individualethik hin ausschlägt. Diese wird dann, neben ihrer hohen Bedeutung für die Ausbildung der abstrakten Persönlichkeit im Römischen Recht, im Neustoizismus des 16. und 17. Jahrhunderts erneuert, gesteigert und in dieser Gestalt für die Neuzeit geschichtswirksam. Der Verlagerung der ,eudaimonia' in den Innenbereich steht dabei im Neustoizismus eine Bejahung und rationale Grundlegung der politischen Ordnung (als der umfassendsten, wichtigsten Ordnung des Gemeinwesens) entgegen oder besser: komplementär gegen-
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über. Die beiden Prozesse sind inhaltlich verzahnt zu deuten: die Auslagerung des menschlichen Glücks als Vernunft aus dem gemeinwesentlichen Bereich des Politischen, aus der ,politiké koinonía', erübrigt auch auf einer ersten Stufe das Gerichtetsein des Politischen auf die praktische, und d. h. die mitmenschliche und politische Bestimmung und Wesensverwirklichung des Menschen. Dies führt dazu, das Telos der politischen Ordnung ohne ethische Einwendungen als eines an ihm selbst genügsames aufzufassen. In diesem Sinne braucht der Staat dann nicht mehr als eine Gemeinschaftsordnung von Freien und Gleichen aufgefaßt, sondern er kann als ,ordo in jubendo et parendo' begriffen werden, was, wenn nicht Recht, sondern Gewalt das Prinzip der Ordnung ist, für Aristoteles bereits in die Nähe der Despotie rückt. Erst auf einer zweiten Stufe tatsächlicher Gefährdung auch der inneren Natur, auf der das Individuum sich des Umstandes innewird, daß es sich nicht gänzlich autark, sondern stets nur unter bereits vorfindlichen Bedingungen der Kultur überhaupt erhalten und entwickeln kann, tritt eine restethische Bindung der Macht und ein sekundär positives Verhältnis zum Gemeinwesen und zur Politik im engeren Sinne ein. Einerseits ist dies der Fall, wenn die menschliche Existenz durch andere Menschen (z.B. in Bürgerkriegen) oder durch Naturkatastrophen bedroht ist. Dies führt zur Forderung eines Sicherung verbürgenden Machtstaates. Andererseits stellt sich diese veränderte Haltung ein, wenn die aus solcher Krise als absolut hervorgehende, sich selbst setzende und selbst genügende politische Macht- und Herrschaftsordnung, die nicht mehr um die Vorläufigkeit und Vergänglichkeit jeglicher Praxis weiß, das Individuum in einem vollständigen Sinne unter sich zwingen könnte und will. Dies führt zu ethischen und rechtlichen Grenzen auch einer ansonsten absoluten Macht. Welch heile Welt mußte Aristoteles nicht aus der Sicht eines Lipsius unterlegen können, wenn er den Menschen als ,ζοοη noun échon' ein ,ζοοη politikón' sein lassen konnte, wenn er die Natur und das Glücken des Menschen wesentlich an das Innestehen in der ,politiké koinonía' binden konnte. Ein solcher Zusammenhang ist dem Neustoizismus nur auf dem Wege sekundärer Beziehung möglich, und dies nach stattgehabter Dissoziation des öffentlichen und privaten Bereichs in doppelter Hinsicht. Von der Warte des Individuums aus werden in der Constantia (1584) die Natur und das Glück des Menschen in seine Innerlichkeit zurückgenommen, aus seiner Praxis herausgezogen. Dies führt dann besonders bei Charron zu einer Einstellung gegenüber der politischen Ordnung, die dem Staat die Sicherung der Einzelsphäre zur Aufgabe macht (während bei Aristoteles der Staat als die
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herausragendste und umfassendste aller Gemeinschaften auch, da jede Gemeinschaft nach einem Gut strebt, das erhabendste Gut anstrebt, welches alle anderen in sich schließt, Politik also in diesem hohen Sinne als Werk der Wahrheit aufzufassen ist). Das notgedrungene Zusammenleben der Menschen in und als Gesellschaft, die „communio quaedam necessario inter eos exorta", definiert Lipsius dann in der Civilis doctrina (1589) von der Warte der Machtordnung aus als das soziale u n d zugleich schon politisch-staatliche Leben (vitam civilem) „quam in hominum societate mixti degimus, ad mutua commoda sive usum." Hier wird die Gesamtheit der Societas erfaßt, denn die „Vita Civilis in Societate est". Soziales Leben ist immer schon in die Gemeinwesentlichkeit der ,societas', in die Gesellschaft eingebettet, die ihrerseits durch zwei Ordnungssysteme ihre nähere Bestimmung erfährt. „Societas in duabus rebus, Commercio et Imperio. Illud alterius argumenti est, hoc mei. quod definió, certum ordinem in jubendo et parendo." Ganz deutlich ist hier, daß Lipsius die politischstaatliche Machtordnung insofern in einem Zuge mit der Konstitution der sozialen, d. h. der intersubjektiven Gesellschaftlichkeit begreift, als sie die entscheidende Ausführung und Gewähr für die Aufrechterhaltung gerade der Societas bildet. Denn im Sinne der Machtordnung gilt es jetzt die von Seneca stammende und von Lipsius übernommene Vorstellung zu sehen, daß der Staat „est vinvulum per quod respublica cohaeret: i'ie spiritus Vitalis, quem haec tot milia trahunt: nihil ipsa per se futura, nisi onus et praeda, si mens ilia imperii subtrahatur." 18 Auf Th. Hobbes verweist in diesem Zusammenhang nicht nur das Zugleich in der Konstitution von (sozialer) Gesellschaft und (staatlich-politischer) Machtordnung, sondern gerade auch die Ansicht, daß beim Scheitern dieser Machtordnung der Erhalt des Ganzen, d. h. in identischer Weise der Erhalt von Staat und Leben gefährdet ist. Der Staat (als Ordnung von Befehl und Gehorsam) schafft den für die Menschen notwendigen Rahmen zur Sicherung ihres physischen Bestandes und stellt für das Individuum die Möglichkeit zur Entfaltung seines inneren Ich auf Dauer. Deshalb ist sich einordnender Gehorsam unbedingte Notwendigkeit für das Uberleben selbst, Ungehorsam (inobedientia) führt zum „coagulum", zum Lab, zum Untergang aller. Gehorsam ist zugleich staats- und lebenserhaltend. Schließlich ist für Lipsius auch charakteristisch, daß er (wie später Hobbes) die Gehorsam, Einpassung, Begrenzung, Selbstmäßigung fordernde, legitime Zucht und
18
Lipsius, Const. I, 11 (Entstehung des Staates); Pol. I, 1; II, 1, nach Seneca, De clem.
I, 4, 1.
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Gewalt ausübende Ordnung des Politischen gerade in ihrem Disziplinierungs- und Zuchtcharakter als staats- und lebensnotwendig betrachtet, während die Ordnung des Wirtschaftens (das commercium') nicht mit solchen Begrenzungen belegt wird. Es scheint, als werde hier neben der Innerlichkeit des eigenen Ich ein zweites Feld unbegrenzter Aktivitäten freigegeben. U m die Selbsterhaltung des Menschen zu sichern, bedarf es des politischen Zwanges, der eingrenzenden Einpassung in das staatliche Gestell (fulcrum) der Macht. Die Wirtschaftsordnung dagegen wird zwar als Feld menschlicher tätiger Entfaltung gesehen, bedarf aber keiner diese Entfaltung begrenzender und disziplinierend in Zucht nehmender Reglementierung, weil die Entwicklung des Commerciums nicht so sehr in grundsätzlichem Zusammenhang mit den Bedingungen des selbsterhaltenden Überlebens gedacht wird. Eine politische Entschränkung wird als Chaos und Bedrohung von physischem Bestand und zeitlicher Dauer des Menschen und der Gesellschaft gedeutet, eine wirtschaftliche Entschränkung wird gar nicht in diesem negierenden Zusammenhang thematisch. Der realgeschichtliche Hintergrund für die Unmöglichkeit einer authentischen Aufnahme der politischen Philosophie des Aristoteles bestand Ausgang des 16. Jahrhunderts in einer veränderten Erfahrungswirklichkeit, und dies in doppelter Hinsicht. Zum einen haben (was besonders Frankreich betrifft) die religiösen Bürgerkriege der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jegliches Vertrauen in kollektive Ordnungsgebilde als Ort menschlicher Verwirklichung verunmöglicht. Das individuelle Ich tritt nur unter einer Maske und in der Dimension des Scheins in die ihm zutiefst äußerliche Öffentlichkeit. Wenn es dies dennoch tut, so eigentlich nur, um größeres Übel zu verhindern und im Gegenzug zur Situation der Krise ein stabiles Ordnungsgefüge zu fordern und an dessen Bewerkstelligung zu arbeiten, damit die gesellschaftliche und geschichtliche Welt disziplinierend strukturiert und das jedes Individuum in seinem Dasein gefährdende Chaos so weit wie möglich ausgeschaltet und diese Ausschaltung qua personaler und institutioneller Struktur der Machtordnung auch auf Dauer gestellt wird. Zum anderen ist die mit der Krisenhaftigkeit des überkommenden Ordnungsgefüges einhergehende Entwicklung zur absoluten Monarchie von entscheidender Bedeutung. Hier bilden für Frankreich zunächst die Religions- und Bürgerkriege sowie eine die Nationalstaatlichkeit bedrohende Intervention Spaniens eine Folie, vor deren Hintergrund der Herrscher mit vereinheitlichter und absoluter Macht ausgestattet werden muß. Gerade die Situation der Krise begünstigt also die dem Königtum selbst charakteristische Tendenz zur Absolutierung, die sich etwa unter Heinrich III. in
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Versuchen zeigt, das Pariser Parlament auszuschalten, und die im Selbstverständnis des Herrschers sowie in der unter Heinrich IV. anwachsenden theoretischen Literatur zur absoluten Monarchie, zur Stellung des Fürsten, zur Struktur der Verwaltung und den Institutionen einen weiteren entscheidenden Ausdruck findet. Dieser Prozeß verläuft wechselseitig mit dem Zurückdrängen der feudalen Verfaßtheit und d. h. besonders des grundbesitzenden Adels aus politischer Machtstellung, der nicht mehr in der Lage ist, die aus der Brüchigkeit des alten Ordnungssystems resultierenden Aufgaben zu erfüllen. Diese lassen nun auch den Finanzbedarf des Fürsten für H o f , Heer und Beamtenschaft in bisher ungeahnte Dimensionen ansteigen, was dazu führt, daß der Herrscher auf das finanzkräftige Bürgertum zurückgreift (man denke an die entscheidende Bedeutung der Ämterkäuflichkeit in Frankreich), welches dadurch seinen politischen Aufstieg gleichsam erwirtschaften und erkaufen kann. Wenn die absolute Monarchie in Frankreich tatsächlich auch nie die regionalen Ständeverfassungen und die lokalen Korporationen hat gänzlich ausschalten können (wenngleich sie sich oberhalb der ständischen Verfassung etabliert und ihr die Tendenz zur Durchwirkung bis auf die lokale Einheit unverkennbar eigen ist), so stellt sie doch in jedem Falle eine geschichtliche Herrschaftsform dar, die mit der Aristotelischen ,politiké koinonía' als einer unter den Normen eines ,guten Lebens' stehenden Gesellschaft von miteinander verbundenen Freien und Gleichen insofern keine Gemeinsamkeit mehr hat, als (über die rein zahlen- und flächenmäßige Ausweitung hinaus) der unter dem Zweck des guten Lebens und Handelns stehende Mensch diese ihm aufgegebene Aufgabe nicht durch eine freie und gleiche Teilhabe am Ganzen der politischen Ordnung (die als solche auch das Gesamt aller endlichen Zwecke in sich aufnehmen und in Orientierung auf das erhabendste Gut noch transzendieren muß) verwirklichen kann. Denn diese Ordnung ist gerade eine der absoluten Macht, deren Grundmustern die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit überhaupt widersprechen, eine Ordnung nämlich ,in jubendo et parendo'. Diesem Staatsgebilde kann man nur in desengagierter und distanzierter Weise zugehörigen, zugleich aber muß man ihm angehören, weil es die politischen und kulturellen Bedingungen der Selbsterhaltung und der Reproduktion des Lebens absteckt. Die Einordnung ist also erforderlich, obwohl der Staat, in gewisser Analogie zum theologischen Absolutismus der mittelalterlichen Welt, als politischer Absolutismus noch einmal alle heterogenen Bereiche unter seinen umfassenden und normierend übermächtigenden Zugriff zwingen will. Wie gegenüber der Situation der Krise, so gilt gegenüber dem aus
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dieser Krise als absolut hervorgegangenen neuzeitlichen Machtstaat die Verhaltensmaxime einer äußeren Beteiligung, ohne jedoch jemals in der öffentlichen Praxis die Selbstverwirklichung zu suchen. Diese Haltung gilt nicht nur für die einzelnen Gebildeten, sondern für jene ganze Schicht, die die Etablierung und den Erhalt der absoluten Monarchie zu erheblichem Teil finanzpolitisch und weltanschaulich sowie durch ihre wirtschaftende und gesellschaftliche Tätigkeit trägt und sich in diesem Zuge ihre soziale und politisch entscheidende Stellung erwirbt und sichert, für das Besitzund Bildungsbürgertum der Zeit — nicht zuletzt deshalb, weil trotz des bewußten Zurückschneidens des politischen Einflusses von grundbesitzendem Adel seitens der absoluten Monarchie dennoch unter der überregionalen und supralokalen Machtstruktur der absoluten Monarchie die Adelsgesellschaft weiter existiert, deren Spitze der Monarch ist.
3. Neustoisches Denken in Frankreich zwischen 1580 und 1610/20 Die 1584 bei Christophe Plantin in Leiden erscheinenden De Constantia libri duo, qui alloquium praecipue continent in publias malis, das weltanschauliche Grundwerk des eigentlichen Neustoizismus, werden im gleichen Jahr und an gleicher Stelle bereits auch in der französischen Ubersetzung von Nuysement gedruckt, und auch die 1589 bei François van Raphelengen erstmals erscheinenden Politicorum sive civilis doctrinae libri sex. Qui ad principatum maxime spectant, das politisch-theoretische Hauptwerk des Neustoizismus, werden bereits im folgenden Jahr sowohl in der lateinischen Fassung (bei H. Haultin) als auch in einer französischen Übertragung (bei M. Villepoux, übersetzt von Charles Le Ber) im hugenottischen La Rochelle aufgelegt (1590). 1 Nach der ,journée des barricades' hatte Heinrich III. Paris der Liga überlassen müssen, und außer der Einberufung der Stände nach Blois forderte er die Cours souveraines auf, von Paris nach Tours umzusiedeln. In G. Du Vair waren wir zwar bereits auf eine jener Personen gestoßen, die diesem Aufruf keine Folge leisteten. Viele aber gehorchten dem König, 1
Zu den folgenden ediiionsgeschichtlichen Bemerkungen vgl. neben F . van der Haeghen, Bibliographie Lipsienne, Gent 1 8 8 6 - 8 8 ; Ph. Renouard, Répertoire des imprimeurs, Paris 1965; ders., Imprimeurs et libraires parisiens du XVIe siècle, Paris 1964ff. ; die in der Abtlg. Réserve der Bibl. Nat. Paris aufbewahrten und unveröffentlichten Aufzeichnungen von Ph. Renouard; Baudrier, Bibliographie lyonnaise, Nachdr. Paris 1964; den Katalog der Bibl. Nat. Paris; und den Bericht von Julien-Eymard d'Angers in: Assoc. G. Budé (1963).
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und unter den Flüchtlingen fanden sich auch zahlreiche Drucker und Buchhändler, die Paris aus politischen Gründen verlassen mußten. Im Oktober 1591 gründeten sie in Tours eine Vereinigung (Association d'imprimeurs et de marchands libraires), deren Ziel zunächst, „estans reffugiez à cause des troubles", ein wirtschaftlicher Zusammenschluß ist, dann aber auch gerade in einer gemeinsamen Pflege bestimmter Bereiche von Veröffentlichungen besteht (u. a. Epistres de Senecque; l'Histoire de nostre temps; Discours de l'Estat). Es handelt sich um eine Art Verlagskartell, das im Dienste der königlichen Sache operieren will. Unter ihnen finden sich einige der bedeutendsten französischen Buchdrucker der Zeit, z. B. J . Mettayer, M. Orry, Cl. de Monstr'oeil, J. Richer, M. Guillemot, S. Du Moulin, G. de Robet, A. Langelier.2 Ein Großteil der königstreuen und gegen die Liga gerichteten Pamphlete, Remonstrances und Harangues ist von diesen Druckern herausgebracht worden, am bekanntesten und wirkungsvollsten dürfte dabei die berühmte Satire Ménippée gewesen sein. In unserem Zusammenhang ist diese Druckervereinigung deshalb von besonderem Interesse, weil die politische Philosophie des Lipsius allem Anschein nach zum festen Programm gehört, und weil wir damit das Lipsianische Denken in der unmittelbaren Umgebung des Königs und der Beamtenaristokratie finden. Bei J. Mettayer erscheinen 1592 in der Ubersetzung von François Béroalde de Verville die beiden Bücher De la Constance (Tours 1592), die auch zwei Jahre später von Cl. de Monstr'oeil und J . Richer gemeinsam verlegt werden (Tours 1594), und beide bieten der Öffentlichkeit im gleichen Jahr Les Politiques und De la Constance in einem Band an (Tours 1594) — womit die inhaltliche Zusammengehörigkeit beider Werke auch editionsgeschichtlich eindrucksvoll belegt ist. Nach dem Einzug Heinrichs IV. in Paris setzen die gleichen Verleger ihre Tätigkeit in Paris fort. Cl. de Monstr'oeil und J . Richer bringen 1597 (chez M. Guillemot) ihre De la Constance (übersetzt von Charles le Ber) heraus, und im Jahre 1606 schließlich erscheint bei de Witwe von Cl. de Monstr'oeil, Cath. Nuyverd, eine Ubersetzung der Mónita et Exempla: Les Conseils et Exemples (übersetzt von Nicolas Pavillon), und im gleichen Jahr bei M. Guillemot, wiederum in einem Band, Les Politiques und De la Constance (Paris 1606). Um den politischen Charakter der Editionsgeschichte des Lipsius in Frankreich zu verdeutlichen, wollen wir uns zwei
2
Vgl. dazu R. Porcher, Notice sur les imprimeurs & libraires blésois du XVle au XIXe siècle, Blois 2 1895; und E. Giraudet, Une association d'imprimeurs et de libraires de Paris réfugiés à Tours au XVIe siècle, Tours 1877.
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Momente vergegenwärtigen: (a) für die Zeitspanne von 1584 bis 1610 (d. h. von dem Erscheinen der Constantia, dem Beginn der französischen Thronfrage, bis zum Tode Heinrichs IV.) lassen sich mehr als achtzig (!!) auf französischem Boden erschienene Werke des J. Lipsius ausweisen (bis zur Ausgabe der Conseils et Exemples von 1653 ist die Zahl auf etwa 120 geklettert), und (b) ein Blick auf die Druckorte sowie auf die Hauptwerke der Constantia und Politica zeigt, daß Lyon, La Rochelle, Tours und Paris die Druckorte des Lipsius sind, und daß die Ausgaben von La Rochelle und Tours im Zeitraum bis 1594 liegen (in Lyon auch noch danach bis zur Gesamtausgabe bei Horace Cardon 1613), während sich ab 1594 die Ausgaben nur auf Paris konzentrieren (Lyon versorgt gleichsam den Süden). Es fällt ins Auge, daß diese Chronologie und dieses Editionsitinerar mit dem politischen Itinerar Heinrichs IV. übereinstimmt. Es ist, als zöge (vorbereitet durch die Etappen La Rochelle und Tours) mit Heinrich und den zurückkehrenden Mitgliedern der Magistratur auch die politische Philosophie des Neustoizismus in Paris ein, wo die Partei der Politiker (und besonders Du Vair) den Boden schon bereitet hatte. Betrachten wir des näheren nur diese politische Philosophie in ihrer französischsprachigen Editionsgeschichte, so ergibt sich für die Zeitspanne von 1590 bis 1610 etwa das folgende Bild. Die Six Livres des Politiques werden in den Ubersetzungen entweder von Charles Le Ber oder Simon Goulart in La Rochelle 1590 (bei M. Villepoux), in Genf 1594 (bei J. Le Preux), in Paris 1594 und 1598 (bei Du Carroy) als Einzelausgaben herausgebracht. Von besonderem Wert sind natürlich jene Editionen, die in einem Band die Livres des Politiques und die De la Constance vereinigen, erstmals in Tours 1594, dann von den gleichen Druckern in Paris 1597, weiterhin in Paris 1598 (oder 1608?) bei J. Houzé, 1606 (bei Toussaint Du Bray) und im gleichen Jahr bei M. Guillemot und Paris 1609 (bei David Le Clerc). Nach der ersten französischen Übertragung der Constantia als De la Constance von Clovis de Hesteau, Sr de Nuysement, Leiden 1584, folgt eine weitere französiche Ausgabe Tours 1592 (bei J. Mettayer), Tours 1594 (bei Cl. de Monstr'oeil und J. Richer) und wiederum bei denselben in Paris 1597. Aber auch die lateinischen Fassungen werden in Frankreich aufgelegt, so z. B. die De Constantia 1592 in Lyon (bei G. Jullieron), auch noch 1595 (Lyon, bei H . A. 'Porta) und 1596 (Lyon, bei den Erben von P. Roussin), in Paris 1599 (bei der Witwe von G. Buon) und im gleichen Jahr bei der Witwe von G. Cavellat, sowie Paris 1601 bei N . Lescuyer. Die lateinische Fassung der Politicorum sive civilis doctrinae libri sex bereits 1590 in La Rochelle (bei H . Haultin), bei G. Jullieron in Lyon 1592 und 1594, in
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Paris bei L. Delas 1593 und 1594, und J. Februarium bringt in Paris 1599 sogar eine einbändige Ausgabe heraus, die Politica und Constantia vereint. Was die lateinischen Ausgaben betrifft, so ist klar, daß Frankreich von den Niederlanden direkt beschickt wurde (von der Politica wissen wir von umfangreichen Lieferungen nach Frankreich); an die Zweigstelle Plantins in Paris sei hier nur erinnert. Zu erwähnen sind schließlich noch die Mónita et Exempla, Paris (P. Chevalier) 1605 und 1618, sowie deren bereits erwähnte Übertragung Les Conseils et Exemples, Paris 1606 (übersetzt von Nicolas Pavillon), und die versteckte Form der Mónita in J . Baudouins Le prince parfait (Paris 1650). 1653 liefert J. Baudouin dann eine Ubersetzung, Conseils et Exemples. Schließlich verdient die Tatsache noch einer besonderen Erwähnung, daß die erste lateinische Gesamtausgabe bei Horace Cardon 1613 in Lyon erscheint. Was die französischen Ubersetzer Lipsianischer Werke betrifft, so ist zunächst Clovis Hesteau, Sr de Nuysement, zu erwähnen, dessen Deux livres de la constance im gleichen Jahr wie das lateinische Original erscheinen. Anfangs gehört Hesteau in den Kreis um den Duc d'Anjou, an dessen Hof er mit Sicherheit auch den jungen Du Vair kennengelernt hat. Seine Prosopopöie Les gemissemes de la France (1578) zeigt deutlich, wie sehr bei Hesteau selber das Bewußtsein der Frankreich erschütternden Krise ausgprägt ist. Schon während der Ubersetzungsarbeit aber an der Constantia ist Hesteau als Kammersekretär Heinrichs III. in Paris zu finden. Unter den anderen Ubersetzern sind neben N. Pavillon, A. Brun und J . Baudouin besonders Ch. Le Ber, F. Béroalde de Verville und S. Goulart zu nennen. Le Ber hat außer den Livres des Politiques des Lipsius etwa auch die neuplatonische Abhandlung De consolatione philosophiae des Boethius ins Französiche übertragen (Paris 1578). Der Dichter und Erzähler F. Béroalde de Verville hält sich nach der Bartholomäusnacht in Genf auf, ist nach seiner Rückkehr Anhänger Heinrichs III. und veröffentlicht 1593 unter dem Titel Le Moyen de parvenir au parfaict estât de bien vivre den ersten Teil einer Erörterung der Weisheit. Die Beziehung des Neustoizismus zur calvinistischen Tradition zeigt sich auch an der Tatsache, daß der Nachfolger Theodor Bezas an der Spitze der .Compagnie des pasteurs', Simon Goulart, die Politicorum sive civilis doctrinae libri sex ins Französiche überträgt. Goulart ist eine jener veilseitigen Prsönlichkeiten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Humanist, Theologe, Historiker, Dichter, Ubersetzer und Herausgeber), die es nur natürlich erscheinen läßt, daß Lipsius einen Freundeskreis gerade auch in Genf hatte. Aus einer bisher unveröffentlichen Kopie eines Briefes von Lipsius an
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P. Bredenrode vom 12. August 1587 geht hervor, daß Lipsius Beza und Goulart kannte.3 Einige Bemerkungen zur Editionsgeschichte der beiden anderen Hauptsäulen des Neustoizismus in Frankreich, Du Vair und Charron, sollen diese trockene, aber dennoch aussagekräftige Materie abschließen. Es steht außer Zweifel, daß Lipsius, Du Vair und Charron die meistgelesensten Autoren im Frankreich des späten 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts waren. Was Du Vair betrifft, so sind für den Zeitraum von 1610 bis 1640 allein etwa 15 (!) Ausgaben des Gesamtwerkes zu verzeichnen (Druckorte: Genf, Paris, Rouen). Dazu treten Einzelausgaben sowohl des Traité de la constance als auch der anderen Werke (ζ. B. der Éloquence·., Sainte Philosophie; Harangues et Traictez). Die Editionsflut ist bei P. Charron noch eindrucksvoller. Allein die Sagesse von 1601 kennt bis etwa 1610 acht (!) Ausgaben, bis etwa 1630 weitere zwanzig (!) und bis 1672 abermals weitere zwanzig (!), d. h. etwa fünfzig (!!) Ausgaben für den Zeitraum von 1601 bis 1672. Was die Autoren der römischen Stoa betrifft, so lagen die lateinischen Opera omnia Senecas den Zeitgenossen in den großen Ausgaben von D. Erasmus, M.-A. Muretus, N. Le Fèvre, J . Gruter und J. Lipsius vor. Es lassen sich etwa fünfzig (!) Ausgaben für die zweite Hälfte des 16. und das beginnende 17. Jahrhundert mit Sicherheit verzeichnen. Dazu tritt eine Vielzahl einzelner Abhandlungen Senecas sowie ein gutes Dutzend allein französicher Ubersetzungen (S. Goulart, M. de Chalvet, J. Baudouin, F. de Malherbe, P. du Ryer) des Gesamtwerks für den Zeitraum von 1590 bis 1660. Die Anzahl der übersetzten Einzelabhandlungen ist noch um vieles dichter. Bezüglich der Auflagenhäufigkeit rangiert Epiktet nach Seneca und vor Marc Aurel. Für seine Werke, das Encheiridion und die Dissertationes lassen sich für die zweite Hälfte des 16. und das 17. Jahrhundert gut dreißig (!) Editionen teils französisch, teils lateinisch angeben (übertragen von A. Du Moulin, J . Coras, A. Rivaudeau, G. Du Vair, J. Goulu). Die Frage der Wertschätzung für J. Lipsius in französischen Humanistenkreisen möchten wir zunächst mit dem Augenmerk auf eine jener Persönlichkeiten beantworten, die Humanismus und Politik in ihrer Person vereinigen, mit Jacques Bongars, dem Gesandten Heinrichs von Navarra und später Heinrichs IV. bei den protestantischen Fürstenhöfen des Deutschen Reiches. Dieser Humanist, aktive Patriot und Verfechter der königlichen Position ist Anhänger des Neustoizismus und bezeichnet 3
Bibl. Nat. Paris, ms. Dupuy, 699, fol. 90.
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sich selbst als einen Schüler Lipsius'. Der erste uns erhaltene Brief Bongars an Lipsius (vom 19. Februar 1579) bezeugt, daß Lipsius vor dem Erscheinen von Constantia (1584) und Politica (1589) bereits als philologische Autorität auch in Frankreich geschätzt wurde. Bongars und Lipsius haben sich persönlich gekannt, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß Bongars einen Brief des Lipsius an Theodor Canter (30. Juli 1584) überbringt. „Veniente ad vos viro egregio Jacopo Bongarsio. Fuit apud nos biduum aut triduum hilariter & gratus certe hospes." Einen weiteren Hinweis auf die Beziehung zu Lipsius und zum Neustoizismus liefert schließlich die Bibliothek Bongars (dazu später genauer), in der sich 29 (!) Werke des Lipsius finden. Bongars Brief an Lipsius vom 21. April 1587 ist für das Verständnis der Funktion sowohl der politischen Ethik des Neustoizismus (Constantia) als auch der nachfolgenden politischen Theorie (Politica) aufschlußreich. Mit Bongars spricht ein aktiv im politischen Leben stehender Mann zu uns, der seine Kraft ganz der französischen Politik gewidmet hat. Er kennt die unsicheren, instabilen politischen Verhältnisse besonders Frankreichs aufs genaueste. Von wo kann eine Hilfeleistung zur politischen Existenzbewältigung kommen? Vor dem Hintergrund solchen Fragens wendet er sich, was die theoretische Seite betrifft, an Lipsius, und zwar zunächst in Gestalt eines rhetorischen Vorwurfs. Bongars fühlt sich von Lipsius im Stich gelassen und versteht nicht, warum dieser große Kopf seine Vorstellungen zurückhält, die doch so viele aufrichten könnten; ,,& nos ilio, veluti commeatu, ad hoc dificillimum iter conficiendum destituamur. Cui, obsecro, seculo, opes istas servas? meliora & aequiora tempora spectas? Et quis, plenis horréis, in vilitatem annonae respicit? Quin prome, in tanta penuria, quae habes condita; & tot miseros, quos famis enecat, exsatia." Gleichsam auffordernd ruft er Lipsius zu: „Haec tempora, Lipsi, Thraseae tempora sunt: illius artibus, illius machinis, ad nos firmandos, erigendos opus est." Zur Illustration beschreibt er die Wirkung, die die Constantia auf ihn ausgeübt habe. Diese sei ein tief eindringendes Werk, das nicht wie manche andere Abhandlung davon ausgehe, daß tiefer Friede vorhergesehen und erwartet werden könne; die Constantia lasse deshalb nicht nur aufhorchen, sie dringe vielmehr ein. Bongars spricht von wiederholter Lektüre nach seiner Rückkehr aus Byzanz, nach der er sich in die aufgewühlten politischen Verhältnisse seines Vaterlandes gestürzt sah. „Ut autem me, e medio peregrinationum cursu turbatae patriae nuntius revocavit; & in hoc mare, infame naufragiis, incidi, . . .". Ja, die Constantia habe ihn vor der völligen Auflösung bewahrt. „Concideram animo, perie-
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ram, nisi animum mihi & virtutem Constantia tua revocasset." Der nicht-religiösen Constantia, der neustoischen Ethik, wird damit eine grundsätzlich daseinssichernde Leistung zugesprochen. „Dicam de te, merito tuo, quod de Sextio Seneca noster. ,Vivit, viget, liber est, supra hominem est: dimittit me plenum ingentis fiduciae.' & c. Multum Constan tiae tuae debeo: Velim & Thraseae debere, & per eum in societatem illius venire, qui ,— metus omnes, et inexorabile fatum Subjecit pedibus, strepitumque Acherontis avari'." Der daseinsbejahende Mut, das Selbstvertrauen und die „fiducia" werden nicht aus einem religiösen und theologischen Zusammenhang gewonnen, sondern aus einem laien-philosophischen Gebäude bezogen. Der Lösungsprozeß geht so weit, daß Bongars in die Gemeinschaft dessen treten möchte, der „alle Ängste und das unerbittliche Schicksal sowie das Getöse des unersättlichen Acheron in den Staub tritt". Die Ethik des Neustoizismus steht hier in Dimensionen, die, in Grenzen, Züge einer in der Selbstbehauptung liegenden Sabotage des Schicksals tragen. In zwei Briefen an Theodoras Leeuwius (15. April und 25. Mai 1583) finden wir die ersten und mit Sicherheit auf die Lektüre der Essais zurückgehenden, lobenden Erwähnungen Montaignes durch Lipsius. Dieser nennt Montaigne dort den „Thaies Gallicus", eine Bezeichnung, die er im ersten uns erhaltenen Brief an Montaigne selbst (15. April 1588) aufgreift und ihn zu den Sieben Weisen zählt. „Inter septem illos te referam, aut si quid sapientius illis septem." Auch ist es Montaigne, dem Lipsius von Schwierigkeiten bei der Fertigstellung der Politica berichtet (da für Lipsius das Problem besteht, angesichts der gegenwärtigen geschichtlichen Situation, „aevo quod impetu, non Consilio fertur", eine wohldurchdachte und zeitgemäße Staatslehre auf dem Boden antiker Weisheit zu erstellen), und er kündigt an, daß Montaigne einer seiner ersten Leser sein soll. Dies ist dann auch tatsächlich der Fall, denn Lipsius übersendet Montaigne im September 1589 ein Exemplar seiner Politicorum sive àvilis doctrinae libri sex, begleitet von einem noch große Ungewißheit über die Wirkung des Werkes ausdrückenden Brief (17. September 1589). „O tui similis mihi lector sit! & tu iudicium tuum libere, & ut vir es, scribe." Von Montaigne an Lipsius sind keine Briefe überliefert, aber die dem Niederländer seitens Montaigne entgegengebrachte Wertschätzung hat an zwei Stellen der Essais öffentlichen Niederschlag gefunden. Montaigne erhoffte von Lipsius eine Aufarbeitung und Darstellung der antiken Philosophie, damit diese dem Leben nutzbar gemacht werden könne. „Combien je desire que, pendant que je vis, ou quelque autre, ou Justus Lipsius, le plus sçavant
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homme qui nous reste, d'un esprit très-poly et judicieux, vrayement germain à mon Turnebus, eust et la volonté, et la santé, et assez de repos pour ramasser en un registre, selon leurs divisions et leurs classes, sincerement et curieusement, autant que nous y pouvons voir, les opinions de l'ancienne philosophie sur le subject de nostre estre et de noz moeurs, leurs controverses, le credit et suitte des pars, l'application de la vie des autheurs et sectateurs à leurs preceptes ès accidens memorables et exemplaires. Le bel ouvrage et utile que ce seroit!" Montaigne greift diejenigen an, die sich mit den Gedanken und Werken anderer eigenen Ruhm zu erwerben suchen, nimmt aber die Lipsianische Politica ausdrücklich davon aus. „De ma part, il n'est rien que je veuille moins faire. Je ne dis les autres, sinon pour d'autant plus me dire. Cecy ne touche pas des centons qui se publient pour centons; et j'en ay veu de très-ingenieux en mon temps, entre autres un, sous le nom de Capilupus, outre les anciens. Ce sont des esprits qui se font voir et par ailleurs et par là, comme Lipsius en ce docte et laborieux tissu de ses ,Politiques'." In der Tat hat Montaigne dann auch die Politica des Lipsius eher als Nachschlagwerk zur antiken Philosophie benutzt und nicht die Theorien des Lipsius selbst im Auge gehabt. 4 Wir haben an anderer Stelle5 herausgearbeitet, in welcher Weise Lipsius selbst noch mit der Editionsgeschichte der Essais verbunden ist, über seine Beziehungen nämlich zur ,fille d'alliance' Montaignes, Marie de Gournay, die die erste erweiterte, posthume Ausgabe der Essais 1595 (Paris, A. Langelier) besorgte. Marie de Gournay eröffnet die Korrespondenz mit Lipsius, und für diesen bildet die gemeinsame Verehrung für Montaigne die Basis einer wohlwollenden Antwort („nostrum ilium amicum & tuum, ut appellas, patrem Mich. Montanum"). Lipsius veröffentlicht diesen Brief, der voll des Lobes und der Begeisterung über die ,vera Theano' ist, in der Centuria Secunda (1590) seines Briefwechsels, was für das öffentliche Ansehen der Mlle de Gournay einen unüberschätzbaren Wert hat, den niemand genauer zu würdigen wußte als die genannte selbst. „C'est par vous qu'on me cognoist et m'estime parmy les patriotes et les estrangers, & si n'ay point de qualitez en moy qui me puissent faire meriter cela, si ce n'est l'estime que ie scay faire de vous." Mlle de Gournay sendet Lipsius (Brief vom 15. Nov. 1596) drei Exemplare der von ihr besorgten Ausgabe der Essais von 1595, in denen das emphatische und 4
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Ess. II, 12, S. 650; und Ess. I, 26, S. 1 5 7 - 1 5 8 . Vgl. P. Villey, Les sources & l'évolution des Essais. Verf., Juste Lipse et Marie de Gournay autour de ,L'exemplaire d'Anvers' des ,Essais' de Montaigne, (1973).
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umfangreiche Vorwort herausgenommen und durch eine etwa zwanzig Zeilen umfassende neue handschriftliche Einleitung ersetzt ist (außerdem sind eine Reihe von Textkorrekturen vermerkt). Sie verbindet dies mit der Bitte an Lipsius, zwei von diesen Exemplaren nach Basel und Straßburg zu den dortigen Verlegern zu senden, damit diese eine authentische Vorlage für einen möglichen Neudruck haben. Es ist offensichtlich, daß Marie de Gournay vermittels der Autorität des Lipsius weitere Ausgaben der Essais auch außerhalb Frankreichs zu erreichen trachtet. Eine positive Einstellung sowohl zu Lipsius als auch zum Neustoizismus bezeugt auch die Tatsache, daß ein Mann wie William Barclay ein Exemplar der De constantia als ,album amicorum' wählte.6 Auf die Frage, warum Barclay gerade dieses Werk ausgewählt habe, heißt es im handschriftlichen Vorspann: „et binae quoque mihi causae, aut quia in manibus semper iste: aut quia C O N S T A N T I A, quae caeterarum virtutum sanguis et robur est, est anima amicitiae." Mit der Bitte um Freundschaft tritt auch der Sohn des berühmten Staatsmannes Achille 1er de Harlay, Christophe de Harlay, an Lipsius heran (Brief vom 5. August 1594), und Lipsius erwidert sie, nicht ohne allerdings gerade den Bezug zum bedeutenderen Vater sich zu eigenen Gunsten eitel herauszustellen. „Ut Harlaei nomen in epistola vidi, fateor me excitatum. Tune viri illius in Gallis, imo Europa clarissimi, filius es? tu ad amicitiam meam sic avide & ultro venis?"7 Mit Paris steht Lipsius auch über Dominique Baudier in Kontakt, der, in Lille geboren, ab 1578 (also mit Beginn der Lehrtätigkeit des Lipsius in Leiden) Theologie in Leiden, von 1581 bis 1583 bei Theodor Beza in Genf, ab 1583 dann Jurisprudenz in Leiden studierte und in der Zeit von 1591 bis 1601 in Paris lebte, wo er zu dem humanistisch-politischen Kreis zu zählen ist. Baudier begleitete übrigens den eben erwähnten Christophe de Harlay, Comte de Beaumont, auf seiner Mission nach England (1602— 1605), und im Jahre 1603 wird er Professor der Eloquenz in Leiden. Wie sehr Lipsius, obwohl nie persönlich in Frankreich gewesen (nur einmal auf der Rückreise von Rom 1570 macht er Station in Dôle, in der FrancheComté, um der medizinischen Promotion seines Freudes Victor Giselinus beizuwohnen), zu den humanistischen und politischen Kreisen in Paris Beziehung hat, wird auch deutlich, wenn man das sehr lange und bisher unveröffentlichte Gedicht J.-A. de Thous Ad Cl. Virum Justum Lipsium. Lugdunum Batavorum betrachtet.8 Aus der Fülle der französischen Hu6 7 8
Ausg. Leiden 1591; Bibl. Nat. Paris: R. 2526 Rés. Cent. Germ. 18 (11. Sept. 1594). Bibl. Nat. Paris, ms. Dupuy, 460, fol. 43r-46v.
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manisten, mit denen Lipsius in direkter Verbindung stand, und bei denen er höchste Wertschätzung erfuhr, seien nur noch einige wenige hier erwähnt, besonders jenes soeben genannte Haupt der Verschränkung von Humanismus und Politik, Jacques-Auguste de Thou, des weiteren die Gebrüder Pithou, der aus Genf stammende und in Paris als Bibliothekar Heinrichs I V . wirkende Isaac Casaubon; einer der engsten Freunde von G . D u Vair und J . - A . de Thou, Nicolas Le Fèvre, schließlich noch der berühmte Jurist Jacques Cujas, der calvinistische Theologe Lambert Daneau, der für Lipsius' eigene Geschichte höchst bedeutsame Marc-Antoine Muret, der Sohn des großen Kanzlers Michel de L'Hospital, Michel Hurault de L'Hospital, und der Nachfolger Bellièvres im Kanzleramt (1607), Nicolas Brullart de Sillery. Joseph-Juste Scaliger bekennt sich offen dazu, daß Lipsius sein Freund sei, obwohl gerade er es ist, der in seinem Urteil über Lipsius (und dabei hat er ausschließlich die Tacitusausgabe des Lipsius von 1574 im Blick, die in ihrer Veröffentlichung derjenigen des Muretus kurz zuvorkam) schreibt: „Lipsius insignia plagia commisit in Tacito a Mureto edoctus, sed juvenis multa sibi tribuit tamquam propria, sed amicus meus e s t . " Lipsius seinerseits ist voll des Lobes auf Scaliger und charakterisiert den Protestanten (ab 1562) und Freund J . - A . de Thous in einem Brief 1576 als „Aquila in nubibus, quod Graeci dicunt, vere tu es: vides, imo pervides omnia & quidquid venaris capis". 9 Unter den französischen Korrespondenten des Lipsius finden sich auch der für die jansenistische Entwicklung von Port-Royal so bedeutsame Jean Duvergier de Hauranne und der Verfasser des Franco-Gallia, François Hotman, sowie dessen Sohn Jean Hotman. Hinsichtlich der Einstellung von Lipsius selbst gegenüber Frankreich gilt es die Zeit vor Ausbruch der Religionsund Bürgerkriege (d. h. besonders die Zeit von Franz I.) von derjenigen danach zu unterscheiden („Francisco Rege immigravi! in Galliam melior doctrina, atque etiam haeret"). An I. Casaubon heißt es z. B. einmal: „ H e u , Gallia vestra quam aestuat! . . . Illacrumo". In Frankreich erlahme im Zuge der politischen Wirren die Kultur. „Vides languescere Galliam tuam, & ponere paulatim ardorem illum discendi, docendi, scribendi"; und wie sehr hebt sich das einstige Frankreich davon ab. „Ah Utinam Gallia sit, quae olim fuit! sedes pietatis, schola humanitatis, gemma & decus orbis terrae . . . & ut iterum mutet, & in gradum se reponat, eritne nobis videre? Equidem voveo, & Illum qui omnia potest precor." 1 0 9 10
Cent. misc. I, 6 (26. Nov. 1576). In der Reihenfolge der Zitate Lipsius an Bongars am 21. 1. 1581, in: P. Burman, Sylloges, Bd. I, S. 50, Nr. 47; an Casaubon Cent. misc. II, 84 (6. Aug. 1589); an
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Werfen wir einen kurzen Blick auf einige Privatbibliotheken der Zeit, um auch auf diese Weise die These von der Bedeutsamkeit des Neustoizismus zu stützen. Im Jahre 1632 kam die Bibliothek Jacques Bongars nach Bern. Glücklicherweise wurde schon 1634 ein Katalog, Clavis Bibliothecae Bongarsianae, angefertigt. Mit seiner Hilfe können wir den Bestand der Bongarschen Bibliothek unschwer rekonstruieren, und es ist beeindrukkend, in welchem Umfang die Werke des Lipsius dort vertreten sind. Wir finden bei Bongars den gleichsam festen Bestand des politischen Neustoizismus, die Constantia (Ausg. Leiden 1591; aus Bongars Briefen geht eindeutig hervor, daß er eine frühere Ausgabe besaß), zwei Ausgaben der Politica (Leiden 1589 und Paris 1594), die Mónita et exempla polit. (Antwerpen 1605), die Admiranda (Antwerpen 1598), die De militia rom. (Antwerpen 1596) und Poliorceticon sive de machinis (Antwerpen 1596); dazu die Lipsianischen Briefsammlungen sowie die von Lipsius besorgten Textausgaben und Kommentare zu Tacitus und Seneca, natürlich auch die die Bewunderung für Lipsius auslösenden Variae lectiones sowie einige weitere Abhandlungen (De Vesta; Epistolica institutio; De recta pronunc. ling, lat.; Orationes VIII Jenae habit.·, Syntagma de bibliotbecis; Dispunctio notar, mirand. cod. ; Inscript. Rom. ; Dissertano de idolo Hallensï) und auch einige posthume Verteidigungs- und Lobesschriften.11 In der Bibliothek des Ratgebers Heinrichs IV. und der bedeutendsten hugenottischen Autorität Frankreichs, Philippe Duplessis-Mornay, finden sich natürlich ebenfalls die Werke des Neustoizismus. Lipsius ist vertreten mit den Opera omnia (Ausgabe Antwerpen 1605?), den Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, De cruce und den Admiranda sive de magnitudine rom.' (Ausg. 1598); daneben die Trois Vérités Charrons (zwei Ausgaben 1593 und 1595) sowie Du Vairs Eloquence françoise; natürlich die Werke der Klassiker, unter ihnen auch Cicero, Plutarch, Seneca und Epiktet. 12 Allgemein muß übrigens herausgestellt werden, daß Plutarch und Seneca in beinahe allen Bibliotheken des späten 16. Jahrhunderts anzutreffen sind, sie bilden gleichsam den Nährboden für den eigentlichen Neustoizismus. Dies gilt noch bis tief in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein. In der Bibliothek beispielsweise von Racine finden
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Godefroy Cent. misc. II, 33 (13. Aug. 1587); an Fronton Le Duc (Ducaeus) Cent. Germ. 19 (7. März 1954). Die Klammern beziehen sich auf die Ausgaben Bongars; der Katalog heute: Burgerbibliothek Bern, Codex A J. Die Bibliothek von Duplessis-Mornay bildet den Grundstock derjenigen der Akademie von Saumur; Katalog: Archives Nationales Paris: TT 266,2.
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sich ausgiebig Plutarch und Seneca, und es scheint natürlich, daß sie von einer Ausgabe der Sagesse P. Charrons begleitet werden. Plutarch und, für den zeitgenössischen Stoizismus weit bedeutsamer, Seneca sind auch die beiden einzigen antiken Autoren in der Bibliothek des Malers Philippe de Champaigne. Das Verhältnis von Tugend (und besonders von constantia) zu Glücksfall und Fortuna ist, wie in Dichtung und Philosophie (man denke an den Roman de Fauvel oder an Petrarca), so auch in der Malerei der ausgehenden Renaissance von großer Bedeutung. Die ,fortuna' als ,comes virtutis', dann aber besonders der stoische Gedanke der Tugend als der Uberwinderin der Fortuna, virtus domitor fortunae, wird etwa in der Schule von Mantegna thematisiert, und der Bezug von Malerei und Neustoizismus ist für die uns hier unmittelbar interessierende Zeit bezüglich Rubens bereits nachgewiesen worden. 1 3 Was die Verteilung neustoischer Werke in privaten Bibliotheken in Paris für die Zeitspanne von etwa 1580 bis 1610/20 betrifft, so haben wir in Kleinstarbeit den bisher für unseren Zeitraum völlig unausgeschöpften Nachlaßakten (inventaires après-décès) des ,Minutier Central des Archives Nationales' (Paris) wenigstens einige Details entreißen können, die hinsichtlich der Personenkreise aufschlußreich sind, in die der Neustoizismus eingedrungen ist, die politisch bedeutsame Schicht des Besitz- und Bildungsbürgertums. Theologen, Mediziner, Bourgeois, Procureurs und Avocats, Parlementaires, Angehörige der Cour des Aides, der Chambre des comptes, Secrétaires du Roi, Maître des requêtes, Angehörige des Regierungspersonals, officiers des finances, und einige Adlige ,sans titre' — das sind diejenigen Kreise, die im Paris der Zeit Bibliotheken besaßen. Eine genauere Analyse dieser .inventaires après-décès' des ,Minutier Central' für das späte 16. und beginnende 17. Jahrhundert wäre sicher eine lohnende Aufgabe, sie kann hier natürlich nicht geleistet werden. Uns geht es im Folgenden lediglich um Hinweise hinsichtlich der Durchdringung privater Bibliotheken mit neustoischen Werken. Auszugehen ist dabei von der Feststellung, daß Plutarch, Seneca und Tacitus in beinahe allen (!) Bibliotheken der Zeit vertreten sind. Die große Bibliothek des Eustache de Refuge (gest. 1617), Seigneur de Courcelle et de Precy (im Jahre 1592 Conseiller au Parlement de Paris, 1600 Maître des requêtes, bekannt auch 13
Vgl. P. Bonnefon, La Bibliothèque de Racine, in: Rev. d'hist. litt, de la France, 5 (1898), S. 169-219; B. Dorival, La bibliothèque de Philippe et de Jean Baptiste de Champaigne, in: Chroniques de Port Royal, 1970, S. 20—36; M. Warnke, Kommentare zu Rubens, Berlin 1965; W. Prinz, The ,Four Philosophers' by Rubens and the PseudoSeneca in Seventeenth-Century Painting, in: The Art Bulletin, 55 (1973), S. 410—428.
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als Gesandter in der Schweiz, Holland und Flandern; später Conseiller d'État ordinaire), räumt den Werken von Du Vair, Charron und besonders Lipsius einen breiten Platz ein. Neben den Opera omnia finden wir von Lipsius noch gesondert die Politica, zweimal die Constantia, De militia romana, das Poliorceticon, die Mónita et exempla, Panegyricus, Epistolae, die Manuductio ad stoicam philosophiam und schließlich auch den berühmten Tacitus-Kommentar. Die Opera des Lipsius finden sich auch bei dem Procureur au Châtelet, Ledenoir, und in der Bibliothek von Nicolas de Baillard, Sr de Vatteloy (Conseiller d'État, Maître des requêtes de l'Hôtel, später Gesandter und surintendant des finances). Wir treffen neben Seneca, Plutarch, Tacitus auf Lipsius' Werke bei Nicolas de Villoutreys, conseiller du Roi en sa Cour de Parlement et commissaire ès requêtes du Palais; bei dem Bischof von Marseille, Nicolas Coeffeteau, und auch bei Marie de Ceriziers, femme de Jacques Le Coigneux, conseiller du Roi et Président en sa chambre des comptes. Ein Exemplar der Militia romana finden wir bei Renée Potier, femma de Messire Oudart Hennequin, chevalier, Sieur de Bossville; den Tacituskommentar etwa bei Jacques Poille, Sr de St Gracien, conseiller du Roi en sa cour de Parlement (Poille besaß eine recht umfangreiche Bildungsbibliothek), die Lipsianische Politica bei Nicolas Vignon, conseiller du roi et maître ordinaire en sa chambre des comptes. Schließlich sei noch die Bibliothek erwähnt von Jean Louveau, sieur de Clervaulx, avocat au Conseil privé, wo sich neben Politica und Constantia auch noch die Admiranda, Saturnalia und Epistolae befanden. Die Werke G. Du Vairs finden sich etwa bei François Courtin, avocat au Parlement et greffier de l'Hôtel de Ville; bei Nicolas Rolland, Sr Du Plessis, conseiller du Roi et général en sa Cour des aides; bei Pierre de Marivault, Sr de la Salle; bei Paul Phélypeaux de Pontchartrain, conseiller du Roi en ses conseils et secrétaire des commandements de Sa Majesté; in der Bibliothek von Marguerite Lefebvre, femme de Poncelet Le Béat, marchand privilégié suivant la Cour; in derjenigen von Gaston de Grieu, Sr de Vieuilles, maître d'hôtel du Roi; in derjenigen von Nicolas Roblin, banquier expéditionnaire en Cour de Rome; unter den Büchern von Joseph Salomon, avocat du Conseil privé; unter denjenigen von Nicolas Daniel, auditeur en la Chambre des comptes; in der Bibliothek eines Claude Le Lart, procureur au Parlement; eines Gilles de Baussan, avocat au Parlement; eines Jehan Du Bois, avocat au Parlement; einer Marie Janot, femme de Michel Groy, notaire au Châtelet; eines Nicolas Potier, seigneur de Blancmesnil, second président du Parlement de Paris; eines Jacques Dubreuil, conseiller du Roi et contrôleur général des Rentes
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de l'Hôtel de Ville oder auch in derjenigen des Nicolas Le Camus, conseiller ordinaire en ses conseils d'État et Privé. Im Schloß der Louise de Lorraine (gest. 1601) in Chenonceaux finden wir die Weke Du Vairs neben Seneca und der Amyot-Übertragung Plutarchs. Der Präsident Jeannin nennt die Sagesse von Pierre Charron ein „livre d'état", und ein Blick auf den Leserkreis bestätigt dieses Urteil. Wir finden die Sagesse etwa bei Antoine Feydeau, conseiller au Parlement; bei Nicolas Le Picart, Sr de St Germain, contrôleur des réparations de Champagne et de Brie; in der Bibliothek von Pierre Le Blanc, écuyer, Sr de Beaulieu; unter den Büchern von Pierre Passat, Sr de Merantes, conseiller du Roi et l'un des quatre secrétaires de sa foire Saint Laurent; auch, neben den Werken von Du Vair, bei der bereits genannten Marie Janot, femme de Michel Groy, notaire au Châtelet; sowie in der Bibliothek von Ponce Prévost, conseiller et médecin ordinaire du Roi, de ses . . . et armées (eine umfangreiche Bibliothek). 14 Jener der Sagesse Charrons wohlgesonnene Président Pierre Jeannin besaß auch die Werke des Justus Lipsius. Dies geht aus dem Inventaire der Bibliothek von Pierre de Castille hervor, Intendant des Finances und Verwandter Jeannins. Dessen umfangreiche Bibliothek setzt sich wesentlich aus den Beständen Jeannins zusammen, und dort ist eine sechsbändige (?) Ausgabe lipsii opéra siné criticis verzeichnet. Wollte der Inventator, es war Gabriel Cramoisy (1630), damit zum Ausdruck bringen, daß es sich um eine noch ungereinigte Fassung Lipsianischer Werke handelte? Wichtig auch zu erwähnen, daß die neu14
Eustache de Refuge, Nachlaßakte vom 19. Sept. 1617: LXXXVII, 109. Die römischen Zahlenangaben beziehen sich auf die Signaturangaben im Minutier Central. Hier die genauen Nachweise: Ledenoir, NA 22. Okt. 1612: XLIX. Nicolas de Baillard; Nicolas de Villoutreys, NA 28. März 1623: XVIII, 258. Nicolas Coeffeteau, NA 21. April 1623: CV, 572. Marie de Ceriziers, NA 4. Jan. 1624: I, 87. Renée Potier, NA 24. Mai 1614: LXXXVI, 215. Jacques Poille, NA 4. Dez. 1623: XXVI, 82. Nicolas Vignon, NA 20. Juni 1637: VI, 454. Jean Louveau, NA 13. Jan. 1626: XXIV, 352. François Courtin, NA 2. Sept. 1609: III, 487. Nicolas Rolland, NA 13. Nov. 1620: XVIII, 219. Pierre de Marivault, NA 7. Sept. 1621: CV, 254. Paul Phélypeaux de Pontchartrain, NA 26. Febr. 1622: XL, 59. Marguerite Lefebvre, NA 15. Jan. 1625: XXXV, 235. Gaston de Grieu, NA 25. Febr. 1625: XVIII, 259. Nicolas Roblin, NA 3. März 1626: CIX. Joseph Salomon, NA 17. Okt. 1626: XII, 131. Nicolas Daniel, NA 28. Sept. 1626: XXI, 198. Claude Le Lart, NA 14. April 1627: I, 93. Gilles de Baussan, NA 29. Mai 1628: I, 395. Jehan Du Bois, NA 21. Juli 1632: IV, 114. Marie Janot, NA 29. März 1632: CV, 464. Nicolas Potier, NA 22. Juli 1634: LXXXVI, 316. Jacques Dubreuil, NA 30. Dez. 1634: XXI, 201. Nicolas Le Camus, NA 8. Juni 1637: LI, 257. Louise de Lorraine, vgl. P. A. Galitzin, Inventaire des meubles, bijoux et livres estant à Chenonceaux, le 8 janvier 1603, Paris 1856. Antoine Feydeau, veröffentlicht von Leraix de Lincy in: Bull, du Bibliophile, S. 215ff. Nicolas Le Picart, NA 2. Jan. 1616: XLV, 163. Pierre Le Blanc, NA 27. Nov. 1629: CV, 578. Pierre Passat, NA 25. Mai 1630: LI, 255. Ponce Prévost, NA 22. März 1640: CX, 93.
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stoischen Werke Ausgang des Jahrhunderts nach dem Inventaire (1609) des ,feu Maistre Pierre Poisson, docteur en droit, juge ordinaire en toute la temporalité de l'archevêché de Narbonne' den Kern bilden, sowohl an zeitgenössischem Humanismus als auch besonders in weltanschaulicher und politisch-theoretischer Perspektive. In der Bibliothek des Richters Poisson, und damit eines Richters gerade in jener Zeit und in jener Region, deren Befriedung nicht mit dem Einzug Heinrichs IV. in Paris beendet war (man erinnere sich der Tätigkeit Du Vairs in der Provence), finden sich neben dem Tacituskommentar und den Briefen von Lipsius eine Ausgabe der Constantia sowie zwei (!) Ausgaben der Politicorum sive civilis doctrinae libri sex; außerdem eine vierbändige Ausgabe Plutarchs, ein Plädoyer von Simon Marion, die Tragödien Senecas, die Epist. familiares Ciceros, die Sainte Philosophie Du Vairs und ein Hauptstück der Satire Ménippée, nämlich Le catolocon d'Espagne. Die Verbindung zur Partei der ,Politiker' wird übrigens noch dadurch unterstrichen, daß neben den beiden Ausgaben der Lipsianischen Politica an politischer Theorie nur noch die Six livres de la République Jean Bodins zu finden sind. Die Politica des J . Lipsius und die République des J . Bodin, das sind die beiden bedeutendsten politischen Theorien im Frankreich Ausgang des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts. Mit der Constantia, den Werken zur Antike und einigen Briefen ist Lipsius auch in der Bibliothek des 1601 verstorbenen Bischofs von Grasse und von Vence, Guillaume Le Blanc, vertreten, wo sich auch der Traité de la constance Du Vairs findet. In der von Christoph 1er de Harlay begonnenen und von dessen Sohn Achille 1er de Harlay und wiederum dessen Sohn Christoph Ile de Harlay (dem Korrespondenten des Lipsius) fortgesetzten Bibliotheca Harleiana, einer der bedeutendsten humanistisch-politischen Bibliotheken der Zeit, finden sich natürlich auch (neben Autoren der politischen Theorie wie Machiavelli, Bodin, Daneau, Keckermann, Mariana, Erasmus) die Werke des Justus Lipsius; zwei Ausgaben der Opera omnia (Antwerpen 1614; Wesel 1675), die Constantia, von den Politicorum sive avilis doctrinae libri sex auch die englische Fassung Lipsius's sixe Bookes of Politicks, or Civil Doctrine, done into English by William Jones von 1594, die Epistolae selectae (Antwerpen 1586; 1607), das Poliorceticon (Antwerpen 1596) und schließlich noch die Abhandlung De recta pronuntiatione lat. ling., die Animadversiones in tragoedias quae L. Annaeo Senecae tribuuntur (Leiden 1588), die Satyra Menippaea Somnium (Antwerpen 1581) und De cruce (Antwerpen 1599). Den Gebrüdern Dupuy verdanken wir die Existenz eines Bibliothekskataloges der Familie De Thou, der Bibliotheca Thuana, jener Familie,
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von der Jacques-Auguste de Thou als der führende Kopf des in Paris unter Heinrich IV. wirksamen politisch-humanistischen Kreises anzusehen ist. In dieser großartigen Bibliothek ist stoische Philosophie umfangreich vertreten : jeweils etwa ein Dutzend Werke von Plutarch und Cicero und etwa ebensoviel von Epiktet; von den zeitgenössischen Werken werden aufgeführt: Justi Lipsii Manuductio ad Stoicam Philosophiam und die Physiologia Stoicorum (Ausgabe Antwerpen 1604) sowie die Gasparis Scioppii Elementa Philosopbiae Stoicae moralis (Ausgabe Mogunt. 1606); unter der Rubrik ,De virtutibus et vitiis, et de moribus cognoscendis' erscheinen, zusammen mit De contemptu rerum fortuitarum Guillaume Budés (Ausg. Paris 1526), fünf (!) Ausgaben der De Constantia libri duo des J. Lipsius sowie die Satyra Menippea sive Somnium. Im ganzen zählen wir 34 (!) Werke des Lipsius in der Bibliotheca Thuana. Außer den bereits genannten gilt es noch hinzuweisen auf (im Bereich der ,tractatus politici') vier Ausgaben der, wie es heißt, Justii Lipsii Politica cum notis, & de una religione, auf De militia rom., Poliorceticon, De Amphitheatre, Saturnalia, Admiranda, De magistratibus pop. rom., Antiquae lectiones, De Vesta, Dissertatiuncula apud Principes, verschiedene Briefsammlungen und schließlich noch auf eine Reihe weniger bedeutsamer Arbeiten ; endlich ist noch die posthume Verteidigung Justus Lipsii Defensio posthuma zu nennen. Die Literatur des Neustoizismus erscheint in der Bibliothek der De Thou vollständig, da wir neben den Lipsianischen Werken auch diejenigen von Du Vair und von Charron antreffen. Gerade die großartigen Bibliotheken der Harlay und in besonderem Maße der De Thou zeigen in ihrem zeitgenössischen Umfang und in ihrer ethisch-moralischen und politischen Ausrichtung, wie sehr es gerechtfertigt ist, die späthumanistischen und politisch bedeutsamen Kreise der Zeit unter philosophisch-weltanschaulichem Blickwinkel zu thematisieren. 15 Ein besonderes Kapitel der Rezeptionsgeschichte Lipsii und damit auch des Neustoizismus in Frankreich stellen die Bemühungen des französischen Hofes dar, Lipsius nach Paris zu bekommen. Uber Gilles Beys, den Schwiegersohn Christoph Plantins (den ersten Mann der Madeleine Plantin) und Leiter der Niederlassung Plantins in Paris (von 1567—1595), erhält 15
Vgl. (zu Jeannin und Castille) den Anhang der Thèse d'École des Chartes (1962) von F. Denel; P. Jourda, La Bibliothèque d'un juge à Narbonne au début du XVIle siècle (1609), in: Humanisme et Renaissance, 3 (1936), S. 420-428; G. Doublet, La Bibliothèque d'un évêque de Grasse et de Vence à la fin du XVIe siècle, in: Annales de la Société d'études provençales, 1 (1904), S. 103-117, 153-167; Catalogas Bibliothecae Harleianae, London 1743—45; Catalogus Bibliothecae Thuanae, Hamburg 1704, pars II, S. 7ff.; p a r s i , S. 76, 507.
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Lipsius bereits in einem Brief vom 6. O k t . 1594 einen Ruf nach Paris für 600 écus jährlich. 1 6 Am 10. O k t . 1594 ergeht eine negative Antwort an G . Beys, und Lipsius erwähnt diese Absage am gleichen Tag in seinem Brief an Jean Moretus mit den Worten: „Respondí Beysio de vocatione. Credis me iturum? non, non. H o c statu rerum." Heinrich IV. ist nicht nur über Beys an Lipsius herangetreten, sondern bedient sich auch seiner Gesandten. Jacques Bongars übermittelt am 12. O k t . 1594 (also zwei Tage nach der negativen Antwort des Lipsius an Beys) die gleiche Bitte Heinrichs. „Tous les plus beaux fleurons de sçavoir, ont honoré nostre France, ou de leur naissance, ou de leur presence. Vous seul, qui estes, certes, la fleur des fleurs, ny avez encores mis le pied. Et rien ne nous default que vous, pour la perfection de cest honneur des lettres, acquis par vostre jugement mesmes, à nostre nation: Ne luy envyez pas plus long temps ce point d'honneur : Vous y estes désiré : Vous y estes appellé : et ce par la voix de tous les gents de bien: par la voix du Prince: Prince, duquel j'ay assez diet, quand je l'ay nommé. Son nom porte son los avec soy: Sa Majesté m'a recommandé de vous en escrire, et d'apprendre de vous mesmes vostre volonté. Il vous offre telle profession à Paris, que bon vous semblera: et six cents escus de gages, avec moyens de faire le voyage." In diesem Ruf, wie auch in dem später durch A. Le Fèvre de la Boderie vorgebrachten, spiegelt sich auf zwei Ebenen die hohe Wertschätzung, die Frankreich dem niederländischen Gelehrten entgegenbringt, und das Zusammengehen dieser beiden Ebenen ist von charakteristischer Bedeutung. Zunächst gilt es festzustellen, daß mit Heinrich IV. das politisch organisierte Frankreich Lipsius berufen möchte, sodann wird diese Bitte durch einen politischen Humanisten vorgetragen, der in seiner Person das wissenschaftliche und das politische Interesse Frankreichs an Lipsius zum Ausdruck bringt. Aber Lipsius lehnt in seiner Antwort an Bongars vom 14. Nov. 1594 ab. „Invitas, quo nec invitandus sim, si tempora, & , non dicam pax, sed modica tranquillitas permittat." Seine ,fortuna' habe es ihm bisher versägt, den von ihm hochverehrten Heinrich IV. zu sehen, aber so plötzlich sei dies nicht möglich, private Aspekte (er nennt Frau und Familie) halten ihn zurück. Dann aber kommt der eigentliche Beweggrund zum Durchbruch: Lipsius erscheinen die politischen Verhältnisse in Frankreich zu unsicher,
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Weitere Rufe an Lipsius: die Bischöfe von Salzburg, Köln, Würzburg, Breslau (Cent. Germ. 8; 9; 13); des Papstes Clemens VIII., der Kardinäle G. Paleotti, A. Colonna, F. Borromeo, F. Sforza (Cent. Ital. 40; 19; 52); der Städte Padua, Bologna, Pisa, Rom (Cent. Ital. 1 5 - 1 8 ; 2 7 - 2 8 ; 7; Cent. Belg. III, 3); der Herzöge Wilhelm von Bayern (Cent. Germ. 2), Ferdinand der Toscana (Cent. Ital. 1 7 - 1 8 ) .
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als daß er sich dort aufhalten möchte. „Privati aliquot aspectus, an affectus, tenent: tum & publici, quod apud vos parum etiam serenavit Quid si bella & arma, vis me involui ? quis mei porro usus erit, nati & facti ad alias artes? Summa est, delibero: nec tu, si iudicium non affectum solum consulis, improbabis." 1595 wird von Henri de Monantheuil, jenem Monantheuil, der unter einem Pseudonym in Du Vairs Traité de la constance auftritt, ein Ruf an Lipsius in seiner Rede an Heinrich IV. COratio qua ostenditur quale esse deberet Collegium Professorum regiorum ut sit perfectum atque absolutum, habita 18 cal. dec. in auditorio regio) erneut vorgeschlagen. Monantheuil rät dem König, das Collège de France mit den berühmtesten Lehrern zu versehen, z. B. mit Lipsius. Am 20. Jan. 1603 berichtet Lipsius an Jean Moretus davon, daß „ie viens de recepvoir lettres de France, d'ung grand, lequel par charge du Roij m'escript de venir hors de ces troubles en France, en tel lieu quii me plaira, a telles conditions que ie vouldraij designer: in som(m)a piain des honnestes offres. le ne m'en serviraij poinct pour astheur, cependa(n)t il nijat nul mal d'avoir des amijs." In dem gleichen Brief erweist sich Lipsius (wie so oft) als Kommentator der europäischen Politik. Trotz des im Ruf an ihn unterliegenden Hinweises, daß jetzt Frankreich nicht mehr von Unruhen heimgesucht sei, ist ihm im Grunde auch 1603 Frankreich ein noch zu unsicheres Land. Dies wird in dem Brief deutlich, wenn er mit dem Unterton des Entsetzens von dem gescheiterten Versuch des Herzogs von Savoyen, Charles Emmanuel I., berichtet, in der Nacht vom 11. auf den 12. Dez. 1602 die Stadt Genf im Handstreich zu nehmen. In einem Brief an Denys de Villers vom 16. März 1603 spricht Lipsius von dem gleichen Angebot und seiner Ablehnung. „Rex Galliae scribi ad me iussit bene serio, ante duas tresve septimanas, Sc in suum regnum, loco & conditione quibus vellem, inuitari. Excusaui, & gratias egi." Am 12. Dezember des gleichen Jahres 1603 schreibt der Gesandte und Historiker Heinrichs IV. A. Le Fèvre de la Boderie, im Auftrage des Königs an Lipsius. Wieder wird Lipsius von einem politischen Späthumanisten nach Paris zu rufen versucht, wo seine Hauptaufgabe in der Leitung der Bibliothek bestehen soll. Der Gehalt ist inzwischen auf 1200 écus angestiegen, und auch dies nur als Anfangsgratifikation. „Encore que vostre vertu soit connue par toute la chrétienté, si croyie ny avoir province, ou elle soit en tant d'estime, comme elle est en France: le bruit en est desia long temps parvenu aux oreilles du Roy mon maistre, lequel maintenant, qu'il ne travaille qu'à la cultivation de la paix, & à la recolte des fruits qui en viennient, m'a commande de scavoir de vous, si vous auriez point agreable de changer de
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seiour, & venir favoriser de vostre prescence ce royaume, qui vous honore tant. Il me charge de vous dire, que vous ne scauriez jamais estre en lieu, ou vous receviez plus d'accueil & bon traitement, ni près de Prince, de qui vous soyez plus chieri & aymé, que vous ferez de luy." Die Bemühungen Heinrichs halten auch weiterhin an. Beispielsweise berichtet I. Causaubon am 27. Jan. 1604 in einem Brief an Lipsius von einem diesbezüglichen Gespräch mit dem König, und im Tone der Begeisterung nimmt Casaubon eine Tätigkeit des Lipsius in Paris in Aussicht. „Magno nuper affectus sum gaudio, cum mihi Rex Christianissimus narraret summopere cupere se Academiam Parisiensem splendoris tui radiis illustrare. (. . .) Laeteri igitur nos mirandum in modum: qui etiam Majestati ipsius statim recepimus, si Lipsii vox in ejus Academia audiretur, nostram quoque operam accessuram, vel eo sane nomine, ut tanto & tarn conjuncto collega possemus gloriari." Aber das so sehr gewünschte Vorhaben kommt nicht zu Stande. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich Franz I. in Vermittlung durch Guillaume Budé vergeblich bemüht, Erasmus für die Leitung des ,Collège des lecteurs royaux' (des späteren , Collège royal' und , Collège de France') zu gewinnen. Ausgang des Jahrhunderts scheitern auch die Versuche Heinrichs IV., Lipsius als den bedeutendsten Gelehrten der Zeit nach Paris zu holen. Vergegenwärtigen wir uns holzschnittartig die Themenkreise, die die Diskussion für den Zeitraum unserer Betrachtung wesentlich bestimmen, so wird bereits ersichtlich, daß der Neustoizismus eine dieser Epoche originär zugehörige Bewegung ist. Im ganzen lassen sich etwa vier Großbereiche unterscheiden : (a) die Fragen nach dem Menschen im psychologischen, stärker aber im anthropologischen Sinne, (b) das Verhältnis von G o t t und Glauben einerseits zu Natur und Vernunft andererseits, (c) die Stellung der Tugenden und ihr Verhältnis zu den Affekten, (d) die Fragen der politischen Verfaßtheit der frühabsolutistischen Monarchie, des frühneuzeitlichen Staates. Diese Themen geben etwas von der Signatur der Zeit wieder. Des näheren geht es in (a) um Fragen nach Eigenart, Stellung, Natur und Grenzen des Menschen, seiner raison d'être, des Umwillens menschlichen Daseins ; um das Verhältnis von Seele und Körper sowie um die Stellung des Menschen zu Gott, um die Frage eines Innen- und Außenbereichs (privat und öffentlich), die Frage des Todes und des Selbstmordes. Der zweite Themenbereich (b) verlangt eine detaillierte Aufschlüsselung, da sich gerade an ihm das Verhältnis von Christentum und erneuerter Antike sowie dasjenige von Christentum und neuzeitlichem Rationalismus entspinnt. Hier nur einige der zeitgenössischen
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Frageperspektiven (für Frankreich): wie ist das Verhältnis zu bestimmen von Philosophie zu Religion und Theologie, wie dasjenige von christlicher Wahrheit zu antiker Weisheit? wie steht es um die Beziehung von Gott und Naturordnung (identisch in Gott? unterschieden, aber zusammengehörig durch die Schöpfung? einmal geschaffen und dann autonom? von Ewigkeit her?) und, zusammen mit der Frage nach Vernunft und Offenbarung, wie ist das Verhältnis von natürlicher und geoffenbarter Religion und Moral? ist die Vernunft spekulatives Instrument oder ein Ordnungsund Klassifikationsregler von Vorhandenem? Erörtert wird die Frage des Schicksals, der Notwendigkeit und der (möglichen oder unmöglichen?) menschlichen Freiheit, ein Thema, das sich auf die Frage nach dem Willen zuspitzt. Schließlich wären hier noch zu nennen: das Verhältnis von christlichen und paganen Tugenden; Tugend qua ratio? welche Stellung nimmt der Weise ein? welche Bedeutung hat Sünde (Erbsünde)? und endlich auch rein innertheologische Fragen wie etwa diejenige nach dem Gottescharakter Jesu (Inkarnation?). Die Moralistik im engeren Sinne ist wesentlich von (c) bestimmt, wobei die antiken Tugenden als das die Leidenschaften/Affekte/passiones regulierende, überwindende oder ausrottende Moment gedacht werden. In welchem Verhältnis steht die Selbstgenügsamkeit der Tugend zur christlichen Vorstellung von Vollkommenheit? Im Kern der Moralphilosphie aber steht die Frage nach praktischer Lebensführung. Orientierung unter disziplinierender Anleitung der neuzeitlichen ,ratio' oder unter Führung traditional-christlicher und/oder reformatorischer Vorstellungen? So unterscheiden sich die Fragen von (c) nicht eindeutig von den politischen Themen im engeren Sinne (d), sie überschneiden sich. Hierher gehört die gesamte Fürstenlehre, das Verhältnis von Ethik und Politik, die Souveränitätsfrage (wo ist ihr Sitz? bei V o l k , Herrscher oder Institution?), damit verbunden die Frage des Widerstandsrechtes, die Religionsfrage und deren politische Lösung, das Verhältnis von Staat und Kirche, innerer und äußerer Krieg, die veränderte Rolle des Adels sowie (im Zusammenhang der Wirtschaftsordnung) der politische Aufstieg des Bürgertums, die Stellung des Königs sowie die R u h e - , Ordnungs-, Schutz- und Friedensleistung des Staates. Zu den von der Antike getragenen und eine auf Rationalität zielende Ethik in die Mitte des Bemühens stellenden Werken zeitlich unmittelbar vor dem eigentlichen Neustoizismus gehört Pierre de la Primaudayes Académie française (ab 1577). Sie ist Anzeichen dafür, daß gerade in Frankreich eine dem Neustoizismus günstige moralphilosophische Situation herrscht. Wichtiger aber als dieser theoriegeschichtliche Umstand sind
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in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht (a) die realgeschichtliche Situation der Religions- und Bürgerkriege und (b) die Verschränkung von Humanismus und Politik. Letzterem Aspekt sei kurz unsere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Verbindung von Humanismus und Politik ist dem Neustoizismus bildungsgeschichtlich konstitutiv, und unsere obigen Bemerkungen zur Editionsgeschichte, zu Korrespondenzen und Privatbibliotheken haben dies bestätigt. Humanismus und Politik sind zwei Wurzeln des Neustoizismus und zugleich die beiden Hauptmerkmale jener Personenkreise, die als Träger neustoischer Gedanken in Frankreich angesprochen werden müssen. Die (Spät)Humanisten bekleiden politische Funktionen hauptsächlich in der Magistratur (daneben sind sie verteilt auf Tätigkeiten als Geistliche, Richter, Lehrer und Ärzte), gehören aber zugleich, und das ist für die ihnen entgegengebrachte soziale Wertschätzung von hoher Bedeutung, der internationalen respublica litteraria an, deren Zentrum für den uns hier interessierenden Zeitraum eindeutig bei den niederländischen Humanisten liegt, bei J. Lipsius, D. Heinsius und J. Scaliger. Humanismus und Politik lassen sich auch als Grundlagen der ,Académie du Palais' (1576—1585) ausmachen, deren Mitglieder Poeten, Dichter, Gelehrte, Parlamentsangehörige, Advokaten oder Angehörige der Universität sind (man denke an Namen wie Baïf, Ronsard, Pibrac, Desportes, D'Aubigné, Jamyn, Doron, Thiard, Dorat, Belleau, Garnier, Filleul, Rapin, Chrestien, Fresnaye, Brisson, De Thou, Mesmes, Lesur, Faucon, D'Espeisses, Loisel, Bodin oder Du Vair). Schließlich seien nur noch einige Beispiele erwähnt, wo aktiv im politischen Leben stehende Humanisten philosophische Werke geschrieben und veröffentlicht haben. So verfaßt etwa der Conseiller du Roi, Lieutenant particulier assesseur criminel du siège Présidial de Condom, Maître des requêtes ordinaire de la Reine Marguerite, Scipion Dupleix, einen vierteiligen Cours de philosophie (die ersten drei Teile 1602; Teil vier im Jahre 1609: L'éthique ou philosophie morale). Der aus protestantischer Familie stammende Secrétaire du Roi und Bekannte Sullys, Ange Cappel, überträgt eine Reihe von Abhandlungen Senecas ins Französische. Der Conseiller du Roi, Trésorier de France, général des finances de Sa Majesté en Berry, Hiérosme de Bénévent, übersetzt die Nikomachische Ethik Paraphrase sur les dix livres de l'Ethique ou Morale à Nicomaque, Paris 1615. Der Sommaire des quatre parties de la Philosophie, Logique, Ethique, Phisique et Metaphisique (Paris 1607) stammt von Jean de Champeynac, Escuyer, Sr Dumas, Conseiller du Roi, Lieutenant assesseur au siège Présidial de Perigueux, et Maître des requêtes ordinaire en la maison de Navarre. Pierre de la Place ist Premier Président
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à la cour des aides de Paris und verfaßt 1562 eine dem Kanzler Michel de L'Hospital gewidmete Abhandlung Du droict Usage de la philosophie avec la doctrine chrestienne. Ja, selbst ein so wichtiger Vorgänger Descartes wie der Mathematiker François Viète war Conseiller au Parlement de Bretagne, Maître des requêtes et membre du Conseill privé d'Henri IV. In welcher Weise Parlement und Humanismus einander verwoben sind, wird an der Umgebung Du Vairs greifbar, wo wir es zugleich mit einem neustoischen und von den ,Politikern' durchsetzten Kreis zu tun haben. Der im Traité de la constance unter dem Pseudonym Musée auftretende Henri de Monantheuil zählt zu den besten Freunden Du Vairs. Er unterrichtet zusammen mit Passerat, einem der Autoren der Satire Ménippée, am Collège Royal, gehört zur .Partei der Politiker', ist an den vorbereitenden geheimen Versammlungen zur Ubergabe der Stadt Paris an Heinrich IV. beteiligt, und vielleicht ist er der erste, der in Paris öffentlich eine Panegyrik auf Heinrich IV. hält (Panegyricus Henrico IUI., Paris 1594; erscheint gleichzeitig in französischer Ubersetzung), in der er neben der loyauté, authorité, piété und clémence Heinrichs auch besonders die Unantastbarkeit des Salischen Gesetzes und damit den wesentlich auf Du Vair zurückgehenden berühmten Arrêt Le Maistre herausstellt. Neben Monantheuil ist Nicolas Le Fèvre zu nennen. Er ist Humanist, Philosoph, Herausgeber Senecas, Anhänger Heinrich IV., der ihn als Hauslehrer (1596) für den Prinzen Condé bestellt (ab 1611 wird er auch Hauslehrer von Louis XIII), von der stoischen Philosophie (in ihrer Versöhnlichkeit mit der christlichen Lehre, wie er im Vorwort zur Ausgabe Senecas Paris, Nivelle, 1587 darlegt) bestimmt und seinerseits Freund von P. de Lestoile, sowie von Muret, Casaubon, Pithou, Du Perron, Rapin und dem Präsidenten De Thou. Jacques Houillier, die Gebrüder Pithou, die Dupuy, De Thou, Scaliger, Hotman und N. Le Fèvre gehörten zu jenem sonntäglichen Kreis, von dem De Thou berichtet. „M. Houllier étoit un tres-sçavant homme fils d'un Medecin, tres-habile homme. Il sçavoit beaucoup de choses. Il étoit fort éloquent; sçavoit bien l'histoire. Ils avoient étudié aux loix à Thoulouse, Messieurs du Puy, le Fèvre & luy. Il étoit grand railleur, (. . .). Ils s'assembloient tous les Dimanches & toutes les fêtes aux Cordeliers, dans le Cloistre, depuis huit heures jusqu'à onze, Messieurs Pithou, du Puy, le Fèvre, de Thou, Houlier, Hotman & quelquefois Servin, qui servoit pour faire rire. Monsieur Houlier se moquoit de luy, & luy faisoit accroire de grandes absurditez. Là ils communiquoient de lettres, & falloit être bien fondé pour être de leur compagnie. Pour moy je ne faisois qu'écouter. Cette compagnie se
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trouvoit chez moy les fêtes après disner, où Monsieur Scaliger étoit souvent. J ' a y apris tout ce que je sçay en leur compagnie." 1 7 Eine enge Beziehung bestand zwischen der Familie D e Thou und Du Vair. Am Ende des Duvairschen Traité bilden die Worte des 1582 verstorbenen Ersten Präsidenten des Parlement, Christophe de Thou, den tröstenden Abschluß der ganzen Abhandlung. J . - A . de Thou wiederum zählte Pierre Pithou, Antoine Loisel, Scaliger, Rapin und natürlich D u Vair zu seinen engeren Freunden. A m Hofe des Duc d'Alençon hatte Du Vair bereits G . Du Faur, Sr de Pibrac (bei Alençon Nachfolger des Kanzlers Renauld de Beaune), Jean Bodin, den Bruder J . - A . de Thous, den Sr d'Emery, Antoine Loisel (tiefe Freundschaft verband Du Vair mit Loisel) und Simon Marion kennengelernt, der zu den neustoischen Magistraten gehört, und der die mangelnde Stärke der von den ,passions' überrannten Vernunft für die Krisensituation verantwortlich macht. W i r wissen, daß in der Umgebung Heinrichs III. Seneca und die Themen der stoischen Psychologie der Affekte einen festen Platz innehatten. Ihre Behandlung aber erfolgt, mit der großen Ausnahme der bereits in unserer Einleitung erwähnten Rede Ronsards, in einem abgehoben gelehrten Sinne, noch ohne Bezug zur konkreten Lebensführung und zur Gestaltung des Politischen, als abstraktes Nachsinnen über Tugenden und Leidenschaften. Dabei findet sich, trotz aller Gegenwart Senecas, aufs Ganze der 23 Discours betrachtet, den Stoikern gegenüber eine eher ablehnende Haltung. Aber, wenn auch nicht akzeptiert, die Stoa ist präsent, und in der neunten Rede etwa wird in rein stoischer Manier der Ursprung der Affekte in die subjektive Seite des Meinens, in die ,opinio' gelegt. „Toute cause de perturbation vient de l'opinion qu'on a de quelque bien ou de quelque mal. L'opinion de quelque bien présent et excellent nous faict tressaillir le joye. L'opinion d'un bien à venir est espérance. L'opinion de quelque grand mal présent nous cause ungne extresmes tristesse. L'opinion d'un mal futur est crainte." Das sind bereits Klänge von Lipsius oder D u Vair. Mehrere Momente gilt es an diesen Discours der Académie du Palais herauszustellen. Zunächst ist festzuhalten, daß sich ein intellektuelles, humanistisch-philosophisches Interesse in der Umgebung des Königs findet. Sodann ist zu betonen, daß es sich um Themen handelt, zu deren Ausarbeitung gerade die stoische Lehre originäre Beiträge geliefert hat. Schließlich ist festzuhalten, daß es sich in der Zeit vor 1585 bezüglich stoischer Themen um noch abstrakte, noch ästhetisierende Behandlung handelt. Endlich ist für unseren Zusammen17
Petroniana
et Thuana
ou pensées judicieuses
. . ., Köln 1694, S. 425—426.
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hang von Bedeutung, daß der Stoizismus zwar präsent ist und sich als Neustoizismus auch bereits ankündigt, daß er aber für Frankreich erst nach dem Ende der Académie du Palais und zeitgleich mit dem Erscheinen seines weltanschaulichen Grundwerkes, der Lipsianischen Constantia von 1584 einsetzt, mit dem eigentlichen Neustoizismus kommt ein viel lebensnaherer, krisenbewußterer und zeitgemäßerer Ton in die ganze Diskussion, und es ist nicht überraschend, daß es gerade Vertreter der Magistratur und der Partei der ,Politiker' sind, die deutliche Kritik an der ,Académie du Palais' üben. Für Jean Passerat ist die dem König Heinrich III. überreichte fragmentarische Ubersetzung besonders des VI. Buches der Aeneis Gelegenheit, im Interesse des Staates herauszustellen, daß „Sans chercher donc la Vertu endormie/Aux vains discours de quelque Académie,/Lisez ces vers, et vous pourrez sçavoir,/ Quel est d'un Roi la charge et le devoir!" Und der nationalbewußte Etienne Pasquier formuliert in aller Deutlichkeit den Vorwurf, daß der König sich mit den schönen Künsten beschäftigte, während Frankreich führungslos seinem Untergang entgegentreibe. 18 Auf die ,Partei der Politiker' kann hier nicht intensiv eingegangen werden. Folgen wir dem Umsetzungsvektor neustoischen Denkens von der Gestaltung des individuellen Ich, über die Lebensführung auch in der Sozialdimension, hin zum Politischen, zu politischen Gruppierungen, so wird allerdings deutlich, daß der Neustoizismus in der Partei der Politiker seine wahlverwandtschaftliche Entsprechung auf der Ebene konkreter Politik besitzt. Die theoretische Position der .Politiker' läßt sich dabei etwa wie folgt zusammenfassen. Ausgangspunkt ihres Bemühens ist die Situation des Bürgerkrieges, und ihr Hauptziel besteht in der Erhaltung der (national) staatlichen Einheit Frankreichs durch eine Beendigung der Bürgerkriege. Zur Erreichung dieses Zieles wird der Primat der Politik gegenüber der Religion gefordert. Der Begriff des Friedens wird nicht mehr primär theologisch, sondern staatlich verstanden (als politischer Friedenszustand im Sinne einer Tradition, die sich auf Marsilius von Padua hätte berufen können). Politik und Religion sind voneinander zu trennen, was zu einer Entkonfessionalisierung des Staates zu führen hat, die eine Unterscheidung der Mitglieder des Staatsgebildes nach Rechtgläubigen und Ketzern für die Zukunft verunmöglicht. Um einen solchen Zustand des Friedens zu erreichen, ist politische Toleranz das einzig erfolgverspre18
Die 23 discours veröffentlicht in E. Fremy, L'Académie des demiers Valois. Zitat Passerat ebda, S. 371. Vgl. A. Levi, French moralists, S. 63—73; F. Neubert, Academic du Palais (1933).
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chende Mittel, und diese beinhaltet die Duldung und Legitimierung der neuen Konfession. Die Macht der Krone muß folglich gestärkt werden, damit sie die Funktion des Friedensgaranten ausüben kann, damit sie die ihr zukommende Friedens-, Sicherheits- und Ordnungsleistung erfüllen kann. Folglich hat allein der Staat das Monopol der Gewaltausübung, er steht über den Konfessionen. Historisch gesehen nimmt diese Bewegung ihren Ausgang im Scheitern der Toleranzpolitik des Kanzlers Michel de L'Hospital, betätigt sich bis etwa 1568 nur publizistisch, findet dann in der Familie der Montmorency ihren Kristallisationspunkt und setzt natürlich nach der Bartholomäusnacht (1572) als aktive Bewegung erst richtig ein. 1575 kommt es im Süden zu einem Bündnis zwischen Hugenotten und Politiques, und als ein Sieg der Politiker ist das von Condé und Alençon 1576 erzwungene Edikt von Beaulieu zu werten. Nach der Konferenz von Castres (1585) unterstützt Henri de Montmorency-Damville den Führer der Hugenotten, Heinrich von Navarra, und an Leben und Werke etwa G. Du Vairs können wir sehen, in welcher Weise gerade die Politiques an der Thronbesteigung Heinrichs IV. aktiv beteiligt waren. Ein Blick auf die Träger der Bewegung verweist auf deren Affinität zum neustoischen Denken. Auf der Seite der gemäßigten Katholiken ist natürlich besonders Henri de Montmorency-Damville zu nennen; in der hugenottischen Umgebung, außer Heinrich von Navarra selbst, Philippe DuplessisMornay, François de la Noue, Arnaud Du Ferrier und Michel Hurault; sodann hauptsächlich der Kreis der noblesse de robe, die Publizisten Pierre Du Beiloy, Claude Fauchet, Charles de Faye, Guy Coquille, die Familien der Séguier und der De Thou, die Juristen Pierre Dupuy, Pierre Pithou, Hierôme de Montholon, Antoine Loisel, Etienne Pasquier, Louis Servin, Guillaume Du Vair, Simon Marion, Le Maistre und viele andere. Was die königstreuen Traktate zur Fürstenlehre der Zeit betrifft, so wissen wir, daß sie in direkter Abhängigkeit (bis in die Formulierung hinein) entweder der Bodinschen République oder der Lipsianischen Politica stehen. 19 Gemessen an diesen beiden für Frankreich bedeutsamsten politischen Theoretikern der Zeit (wobei der personale Zugriff des Lipsius noch zu scheiden ist von der eher institutionellen Sicht Bodins) erscheinen die Abhandlungen von Jacques Hurault, D. D. R. de Flurance, François de Gravelle, François Le Jay, François de L'Alouette, Regnault Dorleans, Pierre Poisson de la Bodinière, Henry Du Boys, Pierre Constant oder André Duchesne als schwächere, jedoch stärker auf die Situation Frankreichs bezogene Nachahmungen. 19
Vgl. dazu E . Hinrichs, Fürstenlehre
und politisches Handeln,
S. 31 — 127.
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Erinnert sei hier nochmals daran, daß neben die Wirkungsgeschichte Senecas diejenige Plutarchs zu stellen ist. Beide sind nicht ohne weiteres identisch mit Neustoizismus, diesem aber wertvoller Nährboden. Unter den französischen Übersetzern der Briefe Senecas ist Geoffroy de la Chassaigne, Sieur de Pressac, den wir auch in der näheren Umgebung Montaignes finden, einer der überzeugtesten Anhänger der stoischen Lehre selbst. Seine Épistres de Sénèque erscheinen in mehrfachen Auflagen (stets erweitert) und mit einer eigenständigen Abhandlung Pressacs über Ehre und Tapferkeit versehen: Le Cleandre, ou de l'honneur, & de la vaillance. Pressac fertigt seine Ubersetzung im Gegenzug zum „dereglement qui se trouue (Amy lecteur) en toutes choses", gegen eine Zeit an, in der „il est impossible, ou du moins mal-aise, recoignoistre, et discerner, la vertu d'auec le vice", gegen eine Zeit der „corruption de meurs". Nicht die Antike als solche soll erneuert werden, sondern mit seinen zeitgenössischen Problemen geht Pressac auf Lösungssuche. „Iay donc, en ce subiect ici faict, ce que le peu sçauant chirurgien fait en son estât, qui ne sçachant inuenter des nouueaux remedes pour guérir des vieilles playes, se sert de ceux qu'il trouue dans des vieux boquins, auec lesquels il faict de tresbelles cures". Nicht unwichtig vielleicht ist festzuhalten, daß Pressac die Briefe Senecas auch für den politischen Herrscher einzubringen sucht, denn gerade die Lebensführung der Befehlenden (und er wendet sich hier auch an den Adel) muß im moralisch-praktischen Sinne durch die stoische Standfestigkeit und „haute discipline" bestimmt sein. In Anklang an das alte Adelsideal stellt Pressac besonders die Todesverachtung heraus, „le mespris de la mort, par lequel les hommes obtiennent vne entiere, & souueraine iurisdiction sur toute façon de force, & de puissance, qui les exe(m)pte de rien souffrir, & de rien craindre, & qui les tient tousiours asseurez parmy les choses non asseurees." Die Nähe zu Montaignes ,philosopher c'est apprendre à mourir' ist unverkennbar, wird aber durch zwei Momente lebenspraktischer, politischer gefärbt, nämlich (a) die für jede wahre Herrschaft notwendige Todesverachtung, die Bereitschaft — wenn wir es Hegelisch sagen wollen — sein Leben einzusetzen, um Herr zu sein, und (b) die Betonung des Todesverachtung als Hilfe zu einem guten und glücklichen Leben. Die Lektüre Senecas „t'aidera à bien et heureusement viure, et t'asseurera contre ce que tous les mortels craignent, qui est la mort." 2 0 Standfestigkeit steht auch im Mittelpunkt eines im Titel an Lipsius anschließenden und das Buch Hiob paraphrasierenden Gedichtes von 20
Hier benutzt Ausg. T o u m o n "1593; die Zitate aus den Vorbemerkungen.
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J.-A. de Thou: Iobus, sive de Constantia libri III, poetica metaphrasi explicati, zwischen 1584 und 1586 verfaßt (De Thou steht darüber mit Lipsius im Briefwechsel) und Paris 1587 erstmals veröffentlicht. In Rom erscheint 1585 (unvollendet) und mit einem Vorwort von F. Benci versehen, die Seneca-Ausgabe von M.-A. Muretus, die Nicolas Le Fèvre für Frankreich aufnimmt, vervollständigt und mit einer ausführlichen Einleitung versieht, in der er eine hohe Wertschätzung zunächst gegenüber der Person Senecas ausdrückt, sodann aber gerade auch die Leistungsfähigkeit der stoischen Doktrin selbst herausstellt. „Nam inter omnes disciplinas philosophia primum sibi locum iure vidicet ( . . . ) in tanto vero sectarum numero, nulla sit, quae id amplius luculentiusque praestet, quaeque ad nostrum dogma propius accedat Stoicorum schola; nos ea scripta, quae tarn praeclaram et egregiam doctrinam continent, tanto pluris aestimare par est, quanto maiorem et huberiorem fructum ab ijs, quam ab ullis alijs percipere, aut sperare possumus." Das genannte Exemplar 21 weist noch eine kleine Besonderheit auf, nämlich dreizehn handschriftlich von Pierre Pithou beschriebene Seiten vor dem eigentlichen Text, auf denen die verschiedenen Ausprägungen der Stoa (nach Schulen angeordnet) sowie Auszüge einzelner Autoren (Cicero, Plutarch, Laktanz, Quintilian) und hauptsächlich die Prinzipien der stoischen Ethik in Form von Sentenzen zusammengefaßt sind. François de Malherbe (von Du Vair beeinflußt), Vauquelin de la Fresnaye und Agrippa D'Aubigné wären zu nennen, um anzudeuten, daß auch im Bereich der Poesie eine Erfahrungswirklichkeit thematisiert wird, deren Konsequenzen in (neu)stoischen Mustern ausgetragen werden. Der Neustoizismus ist auch in der Poesie greifbar, ja, an der Entwicklung der Poesie zu clarté, logique, abstraction, euphonie und rigueur beteiligt. 22 Tugend, Weisheit, der Weise, Constance, Selbstbeherrschung, Selbstbehauptung, Gegenzug zur Fortuna, das sind die immer wieder anzutreffenden Themen der Poesie in dem uns hier interessierenden Zeitraum. Direkte Erwähnungen von Lipsius und Charron finden sich bei D'Aubigné, der ansonsten dem Stoizismus hauptsächlich über Seneca verbunden ist. Für D'Aubigné ist der Stoizismus eine Vorbereitungsstufe, Leiter für den Aufstieg zum christlichen Leben des Heils, zu dessen Ubernatürlichkeit die Stoiker nicht vorzudringen vermögen. In diesem vorbereitenden Bereich aber, im Bereich der Lebensführung, ist der Stoizismus mit seinem Ideal des Weisen der Bibel an Trost- und Standfestigkeitsleistung über21 22
Bibl. N a t . Paris: Rés. 233 (Paris, Nivelle, 1587). Vgl. R . Lebègue, La poésie française de 1560 à 1630, Bd. I, S. 2 3 - 5 4 ; 107; II, S. 83.
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legen. D'Aubigné gehört damit in den Kreis jener Autoren, die den Stoizismus zwar in seinem Gegenstandsbereich mittels christlicher Vorstellungen begrenzen, aber der Bereich, auf den sie ihn begrenzen (und den sie ihm weitgehend überlassen) ist gerade auch das Feld zentral stoischen Philosophierens, die Ethik nämlich der (alltäglichen) Lebensführung und -gestaltung. Im Bereich der politischen Theorie und Praxis sollte nach D'Aubigné besonders die ,clémence' Senecas in das Herrschaftsverhältnis von König und Untertan hinsichtlich der Gerechtigkeit und der Beherrschung der Leidenschaften und Affekte eingelassen werden, und in solch beherrschtem Sinne bedarf es gerade eines sich selbst einbindenden und den hohen Idealen des Rechts verpflichteten Stoikers auf dem Throne.23 Stoische Interpretamente durchdringen auch das Theater, man denke an die Bedeutung Senecas für die Tragödien Robert Garniers, und zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die an Seneca und Epiktet orientierten Epistres Morales (1603 ff.) von Honoré d'Urfé sowie ganz allgemein die Constance-Romane am Ausgang des 16. Jahrhunderts. Virtus und Fortuna, jenes schon für Petrarca zentrale Thema der Lebensführung, bilden in den hauptsächlich zwischen 1596 und 1604 erscheinenden Werken Montchrestiens den Mittelpunkt, im Zuge des Neustoizismus allerdings bereits präzisiert auf die Opposition von ,constantia' und .fortuna'. Die Außenwirklichkeit wird als instabil, kontingent, veränderlich, unversichert, kurz: als das Feld einer die menschliche Existenz bedrohenden Fortuna, aufgefaßt, und Montchrestiens Figuren etablieren sich gegenüber dieser Erfahrungswirklichkeit im Sinne einer menschlichen Selbstbehauptung und in Gegenzug zu scheinbar blinder Fortuna. Dem realgeschichtlichen Chaos der Welt geht der Zusammenbruch der traditionalen, vom Mittelalter geprägten und von der durchwirkenden Autorität von Religion und Kirche getragenen Weltbilder einher. Denn gerade deren Einheitskultur (Troeltsch) vermag der durch die Autono misierung der einzelnen Kultursphären, durch die Religions- und Bürgerkriege sowie durch tiefgreifende sozialgeschichtliche Umwälzungen bestimmten Situation des Ordnungsschwundes und der Krise keinen überwindenden Entwurf entgegenzusetzen. An diesem Punkt setzt der Neustoizismus ein, und in Montchrestiens Tragödien finden wir beides: die eindringliche Bearbeitung der Situation der Krise (sie tritt auf der Ebene psycholo23
Vgl. in diesem Zusammenhang D'Aubigné, Traité du devoir mutuel des Rois et des sujets; Erwähnung von Charron und Lipsius, in: Œuvres compi., Ausg. Réaume/Caussade, Bd. I, S. 439; II, S. 426, 445, 358; vgl. J. Bailbé, D'Aubigné (1965).
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gischer Verfassung der Figuren selbst zutage) und den Versuch einer Behauptung gegenüber dieser instabilen und bedrohlichen Wirklichkeit durch in konkrete Lebensformen umzusetzende Grundraster des Neustoizismus. Der Aspekt der Selbstbehauptung setzt dann im Grunde bei der Eingangsunterscheidung Epiktets an (derjenigen nämlich zwischen dem, was in unserer Macht steht und dem, was nicht in unserer Macht steht), gelangt so zu einer Konzentration auf das eigene Selbst und hält sich auf diese Weise bereits im Vorhof des für Charron und später für Descartes so bedeutsamen Interpretaments auf, daß allein der Wille in vollständiger Verfügung des Menschen steht. In Les Lacènes ou La Constance heißt es nach Ausdruck der Finsternis der Welt (des ténèbres du monde) gleichsam programmatisch: „Mais méprisez celui qui s'envole soudain/Et dépend plus du sort que de vostre puissance." Und die Grundhaltung des Neustoizismus treffen wir in La Carthaginoise ou la liberté: „un généreux courage/Renforce sa vigueur aux efforts de l'orage,/ Subsiste par soi-même, ainsi que le rocher/Que les vents et les flots ne peuvent eslocher/(. . ,)/L'invicible constance est une arme sacrée/Qui retient l'âme forte en assiette assurée./ Et comme une remore arreste sans bouger/Nostre nef que les vents taschent de submerger." Dieses Gefühl des Überflutetwerdens, des Erstickens aufgrund des Einstürmens äußerer (kontingenter) Wirklichkeit wirft wie für jeden Stoiker so auch für Montchrestien die Frage des Selbstmordes auf. Als selbstbestimmter Akt einer bis ins Letzte gefährdeten Freiheit ist dieser Weg für Montchrestien offen. „Le seul vivre est servir, s'il n'a la liberté/De mourir, quand au coeur naît cette volonté; /(. . .)/Ses chemins sont ouverts, et l'homme de courage/Peut aller de partout à ce dernier passage." Doch das bleibt die äußerste Freiheit einer Sabotage des Schicksals, zuvor aber wird die ganze Kraft der Constance gegen das Widersächliche der Wirklichkeit und gegen die Verzweiflung im Sinne menschlicher Selbstbehauptung eingesetzt. „Sophonisbe, tout beau! ne lâche point la bride/A l'âpre désespoir de soi-même homicide." Wie eng übrigens Neustoizismus und Politik einander zugehören, wird an der Tatsache deutlich, daß Montchrestien außer seinen neustoischen Tragödien auch einen Traité d'Oeconomie politique (1615) verfaßt hat, der zu einem der wirtschaftspolitischen Manifeste von Merkantilismus und absoluter Monarchie geworden ist. Das Ziel ist beide Male eine von gefährdender Kontingenz befreite und mit fester Stabilität durchzogene innere und äußere Wirklichkeit, zum einen der sich selbst und anschließend seine Umgebung disziplinierende neustoische Weise, zum anderen eine merkantilistische und staatsinterventionistische Wirtschafts-
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politik zur Stabilität der wirtschaftlichen und politischen Ordnung. Der Vertrauensschwund sowohl in die christliche Lehre (besonders in die christliche Hoffnung) als auch in die menschenfreundliche Verfassung der Wirklichkeit selbst (die durch diesen Schwund Furcht bewirkt) provoziert gleichsam die kämpferische und willentliche Standfestigkeit und Behauptung. „Veuf de crainte et d'espoir demeure ferme et stable/Invincible à la joie autant qu'à la douleur,/ Reçoy d'un front égal et l'heur et le malheur." 2 4 Gegen Furcht und Hoffnung gleichermaßen gewendet stellt der Neustoizismus einen Versuch menschlicher Selbsterhaltung und Beharrung gegenüber der daseinsgefährdenden Situation der Krise dar. Wir können hier nicht näher auf die religiöse Literatur eingehen und müssen uns mit dem Hinweis begnügen, daß die Literatur der katholischen Spiritualität im Frankreich des 17. Jahrhunderts vom Neustoizismus durchwirkt ist. Selbst bei den die Stoa ablehnenden Vertretern macht sich deren Einfluß noch bemerkbar. Es ist nämlich stoisches Denken, das entweder den Rahmen oder den reibenden Gegenpol des eigenen doktrinären Gefüges ausmacht. In dieser allgemeinen Form trifft dies auf die ganze Breite der katholischen Spiritualität zu, beispielsweise auf Kapuziner (Georges d'Amiens, Zacharie de Lisieux, Léandre de Dijon, Yves de Paris, Sébastien de Senlis, Jacques d'Autun), Oratorianer (J. F. Senault), Karmeliter (Léon de Saint-Jean), Franziskaner (Jacques de Bosc) oder auf die Jesuiten (E. Binet, R. Ceriziers, J. Hayneuve, F. Garasse, P. Lescalopier, J. B. Saint-Jure, B. Castori). 2 5 Als eindrucksvolles Beispiel sei auf den bedeutendsten Vertreter katholischer Spiritualität zu Beginn des 17. Jahrhundert, François de Sales, verwiesen, der gerade im Stoizismus sein eigenes Interesse wiederfand, und zwar nicht in Seneca, sondern in dem „excellent philosophe" Epiktet. François de Sales gehört in jenen Kreis eines humanistischen Katholizismus, der sich der stoischen Philosophie bis zu einem gewissen Grade bedient, dann aber auch die Unterschiede zur christlichen Lehre herausstellt. In diese Richtung gehört auf protestantischer Seite etwa Simon Goulart mit seinem Ample discours sur la doctrine des Stoïques im Anhang seiner Obersetzung der Œuvres morales et meslées Senecas. Die in diesem Zusammenhang immer wieder anzutreffende Abgrenzung bezieht sich dann auf (a) die fehlende Verbindung des Menschen mit Gott, seinem Erlöser, (b) die Eitelkeit und den Stolz des stoischen Weisen, (c) die Selbstgenügsamkeit der Tugend, (d) die stoische 24
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Les Lacènes, Ausg. L. Petit de Julleville, S. 193, 180, 176; La Carthaginoise, ebda, S. 119-120, 116. Vgl. K. Willner, Montchrestien; M. Spannern, Permanence, S. 262-270. Vgl. dazu die Arbeiten von Julien-Eymard d'Angers.
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Apathie und Ataraxie und (e) die Frage der Unsterblichkeit und des Selbstmordes. Neben dieser Gruppe gibt es jenes von der Stoa durchdrungene Christentum, in dessen Gedankenführung christliches und stoisches Denken einander verwoben sind, oftmals in der Absicht zu christianisieren, ohne jedoch zu bemerken, daß christliche Lehre eigentlich stoifiziert wird. Ein Beispiel für die Durchschlagskraft des Stoizismus stellt auch der Jesuit und Korrespondent von Lipsius, Martin Antoine Del Rio, in seinem Verhältnis zur Antike allgemein und zu den Stoikern im besonderen dar. Auf seine zunächst humanistische Haltung, daß auch die pagane Antike Wahrheit und besonders moralische Unterweisung enthalte, folgt nach Eintritt in die Societas Jesu eine ablehnende Einstellung gegenüber dem Geist der Antike. Als Gott der Welt die Wahrheit offenbart hat, da hat der Satan gegen diese Wahrheit den Irrtum in die Welt gesetzt, und die heidnische Antike ist, da voller Irrtümer, Werk des Satans. Deshalb bedürfen die Christen beim Herausfinden des Echten der Anleitung, und die gesamte Antike ist als ,castigata' aufzubereiten. Hier liegt der Antrieb zu Del Rios Syntagma Tragoediae Latinae als Kommentierung der Tragödien Senecas. Am schärfsten wird diese Kritik in der Wende gegen die Stoiker, und Del Rio zielt damit gegen den zeitgenössischen Neustozismus. Denn in der Vita Delrii von 1609 heißt es aufschlußreich, daß die Jugend dem „Geschmeide Chrysipps" nachrenne: „ut adolescentulos ab illa lue averterem quorum jam plerosque non duci, sed rapi videbam phaleris Chrysippoeis." 2 6 Das Verblüffende nun ist, daß Del Rio in seinen eigenen Aussagen zur Moral keineswegs stoafrei ist, ganz im Gegenteil. Seine Darlegungen zu Geduld, Tugend, Tod, Widerständigkeit gegen Übel und standhaftes Tugendleben, besonders aber zu Vernunft und Willen, die die höchsten Tugenden ermöglichen, erinnern an die Briefe Senecas Ad Lucilium, mit dem Unterschied allerdings, daß das tugendhafte Leben nicht, wie bei den Stoikern, Selbstzweck sein soll. Dies kann es gar nicht sein, weil es seine eigentliche Vollendung erst durch die göttliche Gnade erfährt, und weil das Umwillen eines tugendhaften Lebens der christliche Himmel ist. Dadurch wird auch bei Del Rio Gott der Ausgangspunkt aller Ethik, Gott tritt an die erste Stelle in Sachen Ethik und Moral. Wir haben bereits gesehen, wie sehr das Urteil des Lipsius den Zeitgenossen Autorität war, und so scheint es gar nicht verwunderlich, daß Jean Goulu ( = Jean de Saint-François) seiner Übertragung der Propos d'Epictete, recueillis par Arrian auteur grec son disciple (Paris 1609) einen 26
Vgl. M. Dreano, Humanisme chrétien, S. 6 1 - 7 8 , 109-133.
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Auszug aus der Lipsianischen Manuductio ad stoicam philosophiam voranstellt, in dem das „Ivgement de Lipsius tovchant Epictete et ses escrits" zu finden ist. Jean Goulus Zugang zu Epiktet, dem „excellent Maistre de vertu", wird durch eine Sichtweise bestimmt, die das menschliche Wesen zwischen Engel und Tier verortet, und die sowohl dem Stoizismus als auch dessen Kritikern Ausgangspunkt sein kann und auch gewesen ist. Die beiden unterschiedenen Naturen des Menschen (l'une toute spirituelle; l'autre animale et sensuelle) sind auf wunderbare Weise verbunden, und daraus „resulte non vn Ange, car il est pur esprit; ni vne beste, car elle est sans raison: mais cet excellent composé qui est l'homme; le propre duquel (comme tient Aristote) est d'auoir la raison, de l'entendre, et de luy obéir." Der intellektuelle Seelenteil vermag sich bis zur Kenntnis Gottes zu erheben, und in dieser Hinsicht ist Epiktet von herausragender Bedeutung. „Ce n'est qu'vn Payen, mais il fera honte à beaucoup de Chrestiens." Aber genau auch von dieser Bestimmung zwischen Engel und Tier her wird später Pascal seine Kritik am Stoizismus formulieren, wenn er ebenfalls, aber unter stärkerer Betonung menschlicher Unzulänglichkeit, herausstellt, daß „L'homme n'est ni ange ni bête", womit er, Pascal, in der Tradition jenes Montaigne steht, der sich bereits vom Stoizismus losgesagt hat und für den gilt, „qu'il n'y a rien en nous . . . purement spirituel ni corporel et que injurieusement nous démembrons un homme tout vif." Jean de Saint-François ist sicherlich kein Neustoiker im strengen Sinne, aber doch ein Beispiel dafür, wie trotz Ablehnung der stoischen Unempfindlichkeit und ungeachtet der Ubermächtigung der stoischen Moralphilosophie durch den christlichen Gott (die Aufgaben eines ,homme de bien' sind dreifacher Art: l'amour de Dieu, l'affection à la vertu, la charité envers le prochain) der Stoizismus den Rahmen der Vorstellungen absteckt. Zu nennen wären z. B. die Herausstellung der „constance" gegenüber der „passion", die Betonung von „iugement & fermeté" und grundsätzlich die entscheidende Bedeutung der Vernunft: „c'est que par le moyen de l'entendement l'homme est faict capable non seulement de la cognoissance, mais aussi de la iouyssance de la divinité." Die Menschengattung (le genre humain) „a eu communication par le moyen de la raison" mit Jesus-Christus, und Leben „selon le droict usage de la raison" wird zum Zeichen des wahren Christen. 27 27
J. Goulu, Propos d'Epictete, S. 156, 169, épître à la Royne Marguerite. Lipsius zu Epiktet, Manud. I, 19. Montaigne, Ess, III, 5; Pascal, Pensées, in: Œuvres compi., Ausg. L. Lafuma, S. 590, Nr. 678 (358 nach Ausg. Brunschvicq): „L'homme n'est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l'ange fait la bête." J. Goulu, Consolation à une damoiselle sur la mort d'un sien f i l s unique, und ders., Exhortation faicte en une assemblée
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Wenn der soeben erwähnte Montaigne auch nicht in den systematischen Zusammenhang des Neustoizismus gehört, so sind dennoch Präsenz und Bedeutung stoischer Philosophie bei ihm unverkennbar. Zu denken ist hier etwa allein (neben dem häufigen Zurückgreifen auf Plutarch, Cicero und besonders Seneca) an die für ihn so bedeutsamen Interpretamente wie „notre mère nature", „la raison universelle", die Verachtung äußerer Güter, des Todes, der Opinion, die Konzentration auf den in unserer Macht stehenden Willen, das Orientiertsein auf das Sterben (que philosopher c'est apprendre à mourir) oder die sich vom Äußeren lossagende „vraie et souveraine liberté". 28 Dem stoischen Vernunft- und Naturdenken ist schließlich auch die Konzeption einer natürlichen Religion verpflichtet, wie sie etwa in dem Colloquium Heptaplomeres Jean Bodins von 1593 dargelegt wird, und vom Stoizismus durchwirkt und getragen ist auch ein Werk wie La philosophie soldade, avec un manifeste de l'autheur (Paris 1604) von Vital d'Audiguier. Mit Bérulles Discours de l'état et des grandeurs de Jésus (1623) wird die Spiritualität im 17. Jahrhundert zentral erneuert. Und mit deren Betonung einer Zusammengehörigkeit von Größe und Erbärmlichkeit des Menschen, der Nichtigkeit der menschlichen (sündigen) Kreatur, der für ein neues Leben entscheidenden Bedeutung Jesus', der Notwendigkeit einer Überund Annahme Jesus' sowie der mystischen Vermittlung dieser Forderungen, ist eine bewußte Absetzung von jeglicher Vernunft als menschlicher Wesensbestimmung verbunden. Gerade die Vernunft ist von der Nichtigkeit bezeichnet, es gilt „le néant de la créature raisonnable". In dieser religiösen Erneuerung drückt sich eine Reaktion nicht zuletzt gegen den Neustoizismus aus. Wie sehr dessen Durchschlagskraft übrigens von den ihn tragenden Persönlichkeiten abhängt, wird deutlich, wenn wir in der Person von Guez de Balzac trotz vereinzelter Neigung zum Stoizismus die Argumente des späteren Anti-Stoizismus bereits antreffen, eingeleitet mit der aufatmenden Überlegung: „Depuis la mort de Juste-Lipse, 8ί de Monsieur le Garde des Sceaux Du Vair, il nous est permis de parler librement de Zenon & Chrysippe, & de dire que les opinions de ces
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de Religieux l'an 1615, beide in J. Goulu, Discours funèbre sur le trespas de Me Nicolas Le Febvre, Paris 2 1616, bes. S. 127-129 (constance), 148-151 (raison, passion), 153-159 (entendement), 210—215 (homme de bien). Ess. I, 26 (Natur); III, 12 (Vernunft); I, 14 (Verachtung); I, 7 (Willen); I, 20 (Sterben; Freiheit). Ess. III, 10 (De mesnager sa volonté) behandelt das Verhältnis von Innen und Außen, von subjektiver Innerlichkeit (die als solche unveräußerlich bleiben muß) und gesellschaftlicher Praxis (die zur Erhaltung der kulturellen Lebensbedingungen notwendig ist); vgl. Charron, Sag. II, 2, S. 65ff.
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Ennemis du Sens commun estoient quelquefois plus estranges que les plus estranges Fables de la Poésie." Im Kampf der Jansenisten, unter anderem auch und vielleicht gerade gegen die erneuerte Stoa, wiederholen sich dann jene Argumente des alten theologischen Streites zwischen Augustinus und Pelagius. Die augustinischen Jansenisten führen ihre Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Stoizismus unter der Flagge eines Kampfes gegen den neuen Pelagianismus. Das gilt bereits für den Augustinus, sive doctrina Augustini de humanae naturae sanitate, aegritudine, medicina (1640) des Cornelius Jansen und später natürlich für Pascal. Der Jansenismus stellt mit Augustin systematisch fest: „Si enim (. . .) possibilitas naturalis per liberum arbitrium et ad cognoscendum quomodo vivere debeat, et ad bene vivendum sufficit sibi, ergo Christus gratis mortuus est." 2 9 An dieser Stelle ist ein Exkurs zur anti-stoischen Haltung von B. Pascal angebracht. In Pascals Argumentation tritt uns das Gesamt der religiösen Kritik des 17. Jahrhundert am Stoizismus entgegen, exemplarisch greifbar und für die Zeit selbst aufschlußreich in dem wohl auf N. Fontaine zurückgehenden L'Entretien de M. Pascal et de M. de Sacy sur la lecture d'Epictete et de Montaigne. Was Epiktet betrifft, so stellt Pascal heraus, daß er nur die eine Seite des Menschen, diejenige nämlich der Pflicht, des Vermögens und des Könnens, beachte, während die andere Seite, diejenige der Unvollkommenheit, der Schwäche und der Ohnmacht, nicht in den Blick gerate. „J'ose dire qu'il mériteroit d'être adoré, s'il avoit aussi-bien connu l'impuissance, puisqu'il falloit être Dieu pour apprendre l'un et l'autre aux hommes. (. . .) après avoir si bien compris ce qu'on doit, voici comme il se perd dans la présomption de ce qu'on peut." Gegen diese »présomption' (und d. h. gegen die von Augustin als ,superbia' bezeichnete Haltung) richtet sich auch Pascals Wende gegen die stoische Überhöhung der Tugend, in der ein falsches Streben zur Gottgleichheit sichtbar wird, sowie gegen die Ansicht, „que la douleur et les maux ne sont pas des maux", und außerdem gegen die Freiheit zum Selbstmord. In Auseinandersetzung mit Montaigne dagegen zielt Pascal auf die mangelnde Positivität. „C'est dans ce doute qui doute de soi et dans cette ignorance qui s'ignore, et qu'il ( = Montaigne) appelle sa maîtresse forme, qu'est l'essence de son opinion, qu'il n'a pu exprimer par aucun terme positif." Dieser Aspekt war übrigens auch für uns entscheidend, als wir Montaigne 29
Augustinus, Ausg. Löwen 1640, I, 4, cap. 15, col. 215; vgl. Paulus, Galaterbrief II, 21. J.-L. Guez de Balzac, Dissertations chrestiennes et morales, Diss. VI, in: Œuvres, Ausg. Paris 1665, Bd. II, S. 317.
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aus dem engeren Kreis des Neustoizismus ausschlossen, denn seine Gedankengänge bilden keinen systematischen Zusammenhang aus, wie er für den erneuerten Stoizismus gerade charakteristisch ist. Montaigne, wie Pascal formuliert, „n'a pû expliquer que par interrogation, de sorte que ne voulant pas dire: J e ne sçais', il dit: ,Que sçais-je?', dont il fait sa devise." Pascal sieht in Montaignes Verhältnis zur Vernunft bereits — und damit dreht er den Montaigneschen Kern einer Suche nach Fundierung der Wirklichkeit sogleich ins Licht religiöser Insuffizienz — eine Kritik der neuzeitlichen und vom Glauben isolierten Vernunft, indem dieser nämlich die Unzulänglichkeit und die Misere der Vernunft herausstelle, welche ohne göttliches Zutun ihre eigene Bestimmung nicht erreichen könne. „C'est ainsi qu'il gourmande si fortement et si cruellement la raison dénuée de la foi, que, lui faisant douter si elle est raisonnable (. . .) il la fait descendre de l'excellence qu'elle s'est attribuée, et la met par grace en parallele avec les bêtes, sans lui permettre de sortir de cet ordre, jusqu'à ce qu'elle soit instruite par son Créateur même de son rang qu'elle ignore". Pascal sieht den entscheidenden Fehler der beiden Schulen, des Stoizismus und des Pyrrhonismus, in einer falschen Einschätzung der Verfaßtheit des Menschen. „Ii me semble que la source des erreurs de ces deux sectes est de n'avoir pas sçû que l'état de l'homme à present différé de celui de sa création." Epiktet und die Stoiker stellen die Größe des Menschen heraus und ignorieren dessen Korruption. Epiktet „a traite la nature comme saine et sans besoin de réparateur, ce qui le mene au comble de la superbe". Montaigne demgegenüber, „éprouvant la misere présente et ignorant la première dignité, traite la nature comme nécessairement infirme et irréparable, ce qui le précipite dans le desespoir d'arriver à un véritable bien, et delà dans une extrême lâcheté." Die beiden Ergebnisse sind also: ,orgueil' und ,paresse'. Der Dreh Pascals besteht nun darin, daß er durch die Verortung des Fehlers in den Begriff der Natur die Unmöglichkeit herausstellt, daß sich die beiden Schulen auf einer Mitte zu neuer Qualität verbinden könnten. Dies ist unmöglich, weil sie ja gerade im Kern, nämlich in der Einschätzung der condition humaine und der Natur gegensätzlich sind. Der eine knüpft die Größe des Menschen, der andere die Schwäche des Menschen an die gleiche menschliche Natur. Dieses Aufheben durch Gegensätze schafft gleichsam einen Kairos für das Hervorbrechen des Evangeliums. Stoizismus und Pyrrhonismus „se brisent et s'anéantissent pour faire place à la vérité de l'Evangile." In gewisser Weise bringt Pascal hier in einen systematischen Zusammenhang, was mit Blick auf den Kirchenvater Augustin in der Tat dessen lebensgeschichtlichen
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Ubergang zum Christentum und die darauf folgende dogmatische Grundlegung hinreichend begreifen lassen könnte, Stoa und Skepsis nämlich als die beiden letzten Lebenssysteme unmittelbar vor der (und in ihren ethischen Absichten sowie in ihren originären Strategien den Raum gleichsam freigebend für die) Gläubigkeit des Christentums. Das Evangelium allein bietet nach Pascal die einzig lösende, dissoziierende Versöhnung in der Figur des Gott-Mensch, wodurch das Evangelium gleichsam zwei identische Subjekte in sich vereinigt. Der Glaube „nous apprend à les mettre en des sujets différens, tout ce qu'il y a d'infirme appartenant à la nature, tout ce qu'il y a de puissant appartenant à la grace. Voilà l'union étonnante et nouvelle que Dieu seul pouvoit enseigner et que lui seul pouvoit faire, et qui n'est qu'une image et qu'un effet de l'union ineffable de deux natures dans la seule personne d'un homme-Dieu." 30 Diese von Augustin getragene Argumentation Pascals zeigt in sehr eindrucksvoller Weise, auf welchem Weg sich das Christentum den Neustoizismus argumentativ anzuverwandeln in der Lage war. Pascals Auseinandersetzung zeigt aber auch, wie sehr der Duktus auch und gerade der theologischen Diskussion (der Problemhorizont nämlich und die Dignität von etwas, überhaupt Gegenstand theologischen Bemühens zu sein) durch die erneuerte Stoa beeinflußt ist. Trotz seiner Gegenwendigkeit bewegt sich der Jansenismus in diesem Kontext, er gewinnt seine eigene Position in Wende gegen den Pelagianismus, hinter dem sich im Grunde der Stoizismus der Frühen Neuzeit verbirgt. Abschließen wollen wir unsere eher fragmentarische Zusammenschau des Auftretens und der Bedeutung neustoischen Denkens in den einzelnen Lebensbereichen und Kultursphären mit dem Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang zwischen (neu)stoischem Philosophieren und frühneuzeitlicher Wirtschaftsgesinnung. In seiner Civilis doctrina hatte Lipsius die ,societas' in zwei Ordnungssysteme hinein präzisiert: das ,Imperium' und das commercium'. Zwar grenzt er seine Darlegungen dann strikt auf den Bereich der politischen Macht- und Herrschaftsordnung (imperium) ein, aber dies schließt einen Bezug stoischer Denkformen auch zur Wirtschaftsordnung und deren Gesinnung nicht aus. Dabei müssen wir uns zunächst der Bedeutung gerade der Ordnung des Wirtschaftens für die nationalstaatliche und politische Entwicklung etwa Frankreichs erinnern. Sozialgeschichtlich ist die Situation der Frühen Neuzeit durch die Auflösung und das Zurückdrängen der adlig-feudalen Verfaßtheit, durch eine 30
In der Reihenfolge der Zitate L'Entretien S. 15, 21, 35, 55, 57, 59.
de M. Pascal et de M. de Sacy, Ausg. Courcelle,
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Zentralisierung der Macht und durch den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg des Bürgertums bestimmt. Der alte Adel besaß weder Bildung (er war regelrecht bildungsfaul!) noch wirtschaftliche Stärke. Beide Momente vereinigte das Bürgertum auf sich, durch Humanismus und Wirtschaftsleben. Die mit der Zentralisierung der Macht erhöhten Anforderungen an die staatliche Organisation des Herrschaftssystems hinsichtlich der politisch-institutionellen Rationalität von Regierung und Verwaltung (was im internationalen Bereich im beginnenden diplomatischen Verkehr zwischen den Staaten seinen Ausdruck fand) erforderte eine gesellschaftliche Elite, ein für den neuzeitlichen Machtstaat geschultes Personal, welches nur das Bürgertum hervorzubringen in der Lage war. Der damit wechselseitig einhergehende Ubergang von Bedürfnis- zu Erwerbswirtschaft und internationalem Handelsverkehr sowie die enorm steigenden Finanzbedürfnisse des neuzeitlichen Staates und dessen Verschuldung rücken die Wirtschaftsordnung an eine entscheidende Stelle auch im Zusammenhang der politischen Macht. Was Frankreich betrifft, so haben wir hier besonders an die dem Besitzbürgertum den Weg zur politischen Macht eröffnende Ämterkäuflichkeit zu denken, die sogar erblich wurde und so das Königtum selbst in eine gefährlich abhängige Lage brachte. Für den neuzeitlichen Wirtschaftsmenschen nun, für den im Geist kapitalistischer Erwerbswirtschaft handelnden Kaufmann und Geschäftsmenschen, für den Mercator und den Unternehmer (Verleger) stellt der Neustoizismus in besonderer Weise eine Stütze und Rechtfertigung seines Handlungsethos bereit. Hinsichtlich der politischen und der geschichtlichen Welt hatten die Religions- und Bürgerkriege die Versichertheit und Stabilität der äußeren Wirklichkeit für das Individuum erschüttert. Und diese geschichtliche Erfahrung der Kontingenz führte dazu, daß das gefährdete Individuum seine Selbstbehauptung im Gegenzug dazu und in einer Weise bewerkstelligen zu müssen glaubt, die den eigenen Selbsterhalt, die zeitliche Dauer, das Ziel des Lebens und die Bestimmung dessen, was als Glückszustand zu gelten hat, so weit als möglich von dieser äußeren und unberechenbaren Wechselfälligkeit frei hält. Keine Ent- und Veräußerung also des eigenen Ich in Andere und Anderes (und schon gar nicht Konstitution eines Ich qua Beziehung zu Anderem und Anderen), sondern primär A u s z u g aus dieser Kontingenz und Sicherung des eigenen subjektiven Ich. Erst sekundär erfolgt eine Verbindung des so gefestigten Innenbereichs mit der Außenwelt, ein sekundäres Wiederhineinstellen in die äußere Welt, um die Selbsterhaltung zu gewährleisten, die mit bloßem Rückzug nicht gesichert ist, da das Individuum ja nicht unter primären, sondern bereits
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und gerade unter geschichtlichen und kulturellen Bedingungen existiert, die auch die Möglichkeiten und Bedingungen seiner rein physischen Selbsterhaltung noch unabhängig von seinem Erhaltungstrieb festlegen und bestimmen. Das neustoische Individuum ist tätig, ohne sich innerlich zu engagieren, es ist in der Welt aktiv, ohne sich an sie zu verlieren, es ist in ihr und zugleich ihr fremd. Wenn es etwas erreichen will, so ist es die Strukturierung der Welt nach den gleichen rationalen und disziplinierenden Prinzipien wie es sein eigenes Ich (und dessen als Vernunft und als Tugend auf Dauer zu stellenden Erhalt) als Höchstes bestimmt, um so die kulturellen Bedingungen seiner Selbsterhaltung und seines Glücks gleichsam festzuschreiben und ebenfalls auf Dauer zu stellen. Stoisches Philosophieren und frühneuzeitlicher Wirtschaftsgeist nun gehen dort zusammen, wo der wirtschaftende und Handel treibende Mensch die gleiche distanzierte und desengagierte Einstellung zur letztlich undurchsichtigen und nicht gänzlich wägbaren Welt der Wirtschaftsordnung beziehen muß, wenn er (a) entemotionalisiert und mit dem Ziele einer über die Bedürfnisse hinausgehenden Erwerbssteigerung in dieser Welt tätig sein will, und wenn er (b) bei einem möglichen Nichtgeiingen oder Rückschlag aufgrund der ihm äußeren Konstellation der Bedingungen seines Wirtschaftens nicht sein eigenes Ich gefährdet wissen will. Neben diesen grundsätzlichen Aspekten der Einstellung und des Verhaltens hinsichtlich einer beweglichen, wankelmütigen, veränderlichen, kontingenten und an die Unberechenbarkeit der Fortuna grenzenden Außenwirklichkeit bietet gerade der Neustoizismus des näheren ein Psychologie- und Tugendspektrum, das sowohl von dieser Außenwelt freimachen als auch die Fortuna reglementierend in ihre Grenzen weisen soll. Rationale ,virtus' (zunächst als ,comes' und später als ,domitor fortunae') besitzt, mit Blick auf das Wirtschaften formuliert, eine Affinität zur erwerbsinteressierten rationalen Disziplinierung des neuzeitlichen Wirtschaftsmenschen. In den politischen Reden, die G. Du Vair während seiner Amtstätigkeit (als Leiter der ,Chambre de justice' und in den Funktionen, die später die königlichen Intendanten ausübten) in der Provence (1596—1616) gehalten hat, geht es, der Eigentümlichkeit dieser Region und besonders der Stadt Marseille entsprechend, stets auch um die hohe Bedeutung des Handels für die menschliche Gemeinschaft und für den politischen Staat. Loyalität, Standfestigkeit, Prudhommie, Einschränkung in den Wünschen und Legalität der Geschäfte, dies sind für Du Vair diejenigen Eigenschaften, die den in der Wirtschaft tätigen Menschen auszeichnen müssen. Systematischer waren dann die wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen bei Charron in einem
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frühmerkantilistischen Sinne von der Warte des Herrschers und seiner besonderen Staatsklugheit aus behandelt worden. Ein weiteres und eigentliches Musterbeispiel für das Zusammengehen von Stoizismus und entstehendem Kapitalismus bildet dann der Mercator sapiens sive Oratio De conjugendis Mercaturae et Philosophiae studiis (Amsterdam 1632) des Caspard Barlaeus. Der Verfasser, ansonsten Aristoteliker, stellt seine in der Handelsstadt Amsterdam vorgetragenen Gedanken zur Weisheit und zu den Tugenden des ,mercator sapiens' bewußt in die Tradition stoischen Philosophierens. Und später vermerkt er einmal: „docui mercatores sapienter et ex Stoicorum rigidis praeceptis mercari, ea oratione quae scholae nostrae inauguralis fuit et ,Mercator sapiens' inscribitur." Die auf die Praxis der Lebensführung zielende stoische Lehre kann Barlaeus zufolge eine doppelte Funktion erfüllen. Zum einen vermittelt sie die Härte und Rigidität bei Planung, Verrichtung und Auswertung der Geschäfte sowie die notwendige Begrenzung der eigenen Wünsche und Gelüste, d. h. sie leistet etwas hinsichtlich der eigenen subjektiven Seite des Geschehens. Zum anderen, und das zielt auf die nichtverfügbare objektive Seite des Geschehens, gewährt sie Trost und Stärkung, consolatio et constantia, im Falle eines Nichtgelingens infolge der nicht mehr zu durchschauenden (Markt)Mechanismen (denn Reichtum hängt nicht so sehr vom eigenen Können und Vermögen ab) oder auch Trost, Sammlung und Konzentration in der auf den geschäftlichen Einsatz von Erfahrung, Gedächtnis, Scharfsinn, Urteilskraft und Umsicht folgenden Entspannung, die die Vernunft, die intellektuellen und die moralischen Vermögen sammelt und aktualisiert. Von hier aus ist das Diktum von Barlaeus zu deuten, daß der ,mercator sapiens' ebenso viele Taler wie Tugenden besitze. „Ut cum totos pecuniarum acervos seponit, totum quoque virtutum chorum seposuisse videatur."31 Ist bei solcher Beziehung unsere gleichsam aphoristische Erfahrung noch verwunderlich, in der Auslage eines Buchladens die vierte Auflage 1972 eines kleinen Bändchens mit dem Titel Seneca für Manager anzutreffen, eine Anthologie aus den Epistolae ad Lucilium Senecas, herausgegeben von dem „Bulletinredaktor eines typischen Managerklubs", dem die Pflicht oblag, „den wöchentlichen Vortrag mit einem Spruch einzuleiten" ? 32
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Vgl. Barlaeus, Orationum liber et Epistolarum liber, S. 999—998; Mercator Sapiens, S. 15—16; vgl. P. Dibon, Philosophie néerlandaise, S. 226—232. Seneca für Manager. Sentenzen aus den Briefen an Lucilius, ausgew., übers, von G. Schoeck, Reihe ,Lebendige Antike', Zürich/Stuttgart "1972.
VIII. Zur philosophischen Kritik des Stoizismus bei G. W . F. Hegel Eines sei vorab herausgestellt: es geht uns im Folgenden nicht um die Isolierung eines Bausteines Hegelscher Philosophie, um von dort aus zu Gesamtaussagen zu gelangen — Hegels Philosophie gibt das Entgegengesetzte auf. Aber es geht uns um die Frage, wie es mit der Behauptung steht, Hegel habe in Sachen Stoizismus Endgültiges gesagt. Dabei wird unsere bisherige Erörterung in einen noch grundsätzlicheren Zusammenhang eingelassen und zugleich fällt aus der Perspektive der Behandlung des Stoizismus bei Hegel ein Schlaglicht auf Hegel selbst.1 In dem wichtigen vierten Abschnitt der Phänomenologie des Geistes (Selbstbewußtsein) von 1807 finden sich die konzentriertesten Äußerungen Hegels zum Stoizismus. Stoizismus erscheint folglich auf einer Stufe des Entwicklungsgangs der PhG, wo „wir also nun in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten" sind, denn für Hegel hat das Bewußtsein „erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet." Den wohl bekanntesten Teil dieses vierten Abschnittes bildet die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, und aus ihrer Struktur entwickeln sich auch Frage und systematische Stellung des Stoizismus. In dem für das Verhältnis von Herr und Knecht wesentlichen Mechanismus der Anerkennung (angestrebt ist stets die Anerkennung des eigenen Selbstbewußtseins durch ein anderes, seinerseits aber selbständiges Selbstbewußtsein) liegt die Verkehrtheit der Wahrheit des Selbstbewußtseins des Herrn beschlossen. Der Herr strebt nach der Anerkennung des Knechtes als einem selbständigen Bewußtsein, um auf diese Weise sein wahres, wesentliches, herrliches ,Fürsichsein' im Knechte zu erreichen. Was er im Knecht aber findet, ist gerade nicht ein selbständiges, „sondern vielmehr ein unselbständiges" Bewußtsein. Dadurch erfährt auch die 1
Nach den Ausgaben von J. Hoffmeister werden zitiert: Phänomenologie des Geistes, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, 3 1959; Die Vernunft in der Geschichte, 5 1955; die anderen Angaben nach Werke-Ausgabe H. Glockner, 1959. 6 1952;
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Wahrheit des Herrn, d. h. all das, was wirklich dessen Wesen ausmacht, im Bewußtsein des Herrn selbst ihren dialektischen Umschlag, was — in Lösung von der idealtypischen Konstruktion von Herr und Knecht — hinsichtlich der Hegel vorrangig am Herzen liegenden Entwicklung des Bewußtseins bedeutet, daß auf der bisher erreichten Stufe der PhG (derjenigen des selbständigen Bewußtseins des Herrn) die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins nicht in der Gewißheit des eigenen Fürsichseins liegt, „sondern seine Wahrheit ist vielmehr das unwesentliche Bewußtsein, und das unwesentliche Tun desselben. Die ,Wahrheit' des selbständigen Bewußtseins ist demnach das ,knechtische Bewußtsein'." Die Herrschaft ist also in Wahrheit etwas anderes als sie sein will, und die gleiche Verkehrtheit trifft auch die Knechtschaft. Diese wird in ihrem Vollzuge (als dienendes und arbeitendes Bewußtsein) zum Gegenteil, zum gegenwendigen Teil dessen, „was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich , zurückgedrängtes' Bewußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren", denn sie trifft (a) im Herrn auf ein selbständiges Bewußtsein und (b) kommt das Bewußtsein „durch die Arbeit (. . .) zu sich selbst". Letzteres geschieht in der Weise, daß die Arbeit als „gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden" ihren Gegenstand formiert, in Form setzt (und damit als Einzelheit schafft), ohne ihn gänzlich aufzuzehren, zu (ver)nichten, was zugleich das Bewußtsein aus sich selbst heraus auf und in den zu bearbeitenden Gegenstand treibt, d. h. „in das Element des Bleibens" setzt, wodurch das „arbeitende Bewußtsein (. . .) zur Anschauung des selbständigen Seins ,als seiner selbst'" gelangt. Im Resultat, dem Produkt (und dem Prozeß hin zu diesem) seiner Arbeit erfährt das knechtische Bewußtsein die zunächst bewußtseinsunabhängige äußere Natur auch als das Andere seiner selbst, als ein Fürsichsein, es erfährt sich selbst als das Bewußtsein eines Herrn. (Der Herr selbst führt ja keine direkte Naturbearbeitung durch, sondern läßt diese durch den Knecht bewerkstelligen). Das knechtische Bewußtsein sieht sich also in einer günstigeren Lage als das selbständige Bewußtsein des Herrn, denn es hat im Herrn die Anerkennung eines anderen selbständigen Bewußtseins und vermag sich mittels der Arbeit in der äußeren Wirklichkeit selber als Bewußtsein seiner selbst zu finden. Es ist also potentiell in den Stand gesetzt, an den Gegenständen der ihm zunächst nur äußeren und in einer nur kruden Weise unmittelbar daseienden Wirklichkeit (das Sein ,ist' zunächst im Sinne reiner Positivität) das Fremdartige an diesem Anderen auszuschließen, gleichsam wegzuarbeiten, und dasjenige an diesem Anderen herauszufordern, was zu ihm, d. h. zum seiner selbst bewußten
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Bewußtsein, in genau der Beziehung steht, die es dem Bewußtsein ermöglicht, in dem derart aufbereiteten, bearbeiteten Gegenüber das Andere seiner selbst zu erkennen und zu erfahren. Dabei hat von umgekehrter Seite her auch zugleich diese Qualität des Gegenstandes, der im Zuge der Bearbeitung ja auch ein anderer wird, diese ,andere* Seite des Gegenstandes, in dem ihr gegenüberstehenden Bewußtsein ihrerseits ihr Anderes. Dieser wechselseitigen Anerkennung und Zugepaßtheit entspricht bei Hegel dann auch die Bestimmung des .Begriffs', dem (a) etwas Wirkliches korrespondieren muß, der (b) zugleich logische und ontologische Qualität hat, (c) die Möglichkeit gibt, den Zusammenhang von Denken und Sein logisch zu entfalten und (d) nicht nur ein subjektives Setzen bezeichnet, sondern Hegel nennt gerade auch diejenige Seite an der Wirklichkeit selbst Begriff, die gleichsam zum Begriffe paßt. Für das Bewußtsein ist damit potentiell die Möglichkeit gegeben, die ,unendliche Rückkehr in sich', das Fürsichsein des Anderen, zu erreichen, d. h. die doppelte Bestimmung von Freiheit des Geistes zu verwirklichen, das Hinausgehen nämlich ins Neue und eine Rückkehr in sich. Wenn, in einem ineinander verschlungenen Sinne, Idee bei Hegel die zugleich subjektive und objektive Ermöglichung von Vernunft bezeichnet, Vernunft sodann eine ideenhafte Strukturierung des Seins und auch die Erkenntnis derselben im wechselbezüglichen Verhältnis von Subjekt und Objekt ist, und Geist schließlich als der Prozeß, der Vollzug dieser beiden, als der in sich zentrierte Vollzug von Vernunft und Idee zu begreifen ist, so meint Geist des näheren (a) diese spontane Bewegung selbst, (b) den Vorgang des Sichabhebens von sich selbst, der Selbstentäußerung und zugleich dasjenige, was diese Erfahrung der Entzweiung und der neuen Versöhnung macht, und (c) sowohl den endlichen, subjektiven Geist als auch den absoluten Geist (der qua Weltgeist zu sich kommt). Für beide, den endlichen und den absoluten Geist, ist Freiheit das Grundbestreben — und zwar gerade in dem gedoppelten Sinne, als Hinausgehen über den status quo ins Neue und als in sich rückläufige Bewegung, als ,unendliche Rückkehr in sich'. 2 Doch zunächst wieder zurück in den konkreten Argumentationsgang der PhG an der uns hier interessierenden Stelle, denn dem „in sich zurückgedrängten Bewußtsein" fallen nun diese seine beiden 2
Die Zitate aus PhG, S. 134, 140, 146-149, 151-152. Der Zusammenhang der Hegelschen Grundbegriffe in gedrängtester Form etwa in Die Vernunft in der Geschichte, S. 124: „Die Idee haben wir einerseits in ihrer Bestimmtheit erkannt als die sich wissende und sich wollende Freiheit, die nur sich zum Zweck hat: das ist zugleich der einfache Begriff der Vernunft und ebenso das, was wir Subjekt genannt haben, das Selbstbewußtsein, der in der Welt existierende Geist."
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günstigen Qualitäten (die sich im objektiven Gang bereits vorfinden) noch auseinander. Für den um die weitere Entwicklung wissenden Philosophen aber — und als solcher begreift sich Hegel in der PhG (wenn die scheinbare Grenze der Selbsterfahrung des Bewußtseins erreicht ist, hier etwa der Status der Entzweiung, dann greift der wissende Philosoph Hegel als Movens ein und verhilft dem objektiven Fortgang zum Durchbruch, meist mit der Formulierung: „aber ,für uns' . . .") — ist damit bereits eine „neue Gestalt des Selbstbewußtseins geworden." Wir befinden uns nämlich jetzt auf der Stufe des denkenden oder freien Selbstbewußtseins, denn Denken heißt für Hegel gerade ein Verhalten zu sich selbst und zum Gegenstande (äußerer Wirklichkeit), das „die Bedeutung des ,Ansich'seins" (was das Ich betrifft) und „die Bedeutung des ,Fürsichseins' des Bewußtseins" hat (was den Gegenstand betrifft). Letzteres soll heißen, daß der Gegenstand äußerer Wirklichkeit in und als Bewußtsein erscheint. Dieses Denken geschieht in Begriffen („nicht in Vorstellungen oder Gestalten"), d. h. in einer Weise, die vom Bewußtsein selbst nicht unterschieden ist, obwohl sie vom bloßen Ansichsein des Gegenstandes sehr wohl unterschieden ist, und der Begriff selbst dabei zugleich ein Seiendes ist (diese Differenz macht für Hegel gerade den bestimmten Inhalt' des Begriffs aus). Das Bewußtsein stößt sich also als Selbstbewußtsein gleichsam energetisch von sich selber ab, entzweit sich so und wird sich selbst zum Gegenstand. Es ist insofern frei, als es sich nicht in einem selbstaufgebenden Sinne abhängig und entäußert erfährt und weiß, sondern weil es aufgrund des Umstandes in sich zurückkehrt (die eigene Entzweiung, die Selbstentzweiung in eine neue Einheit zurückführt), daß es als gedoppeltes Bewußtsein sich selbst zum Gegenstand hat und dieser Gegenstand wiederum stets nur als und im Bewußtsein Dasein hat (was dazu führt, daß der Begriff dieses Denkens bei aller Differenz und Entzweiung wieder Einheit herbeiführt). Die Bewegung der Begriffe bleibt so eine in sich ruhende. Diese Freiheit des Denkens (des Gedankens) gilt nicht nur hinsichtlich der Selbstentzweiung des Bewußtseins als Selbstbewußtsein, sondern durchaus auch hinsichtlich des denkenden Bewußtseins von Gegenständen der äußeren Wirklichkeit, solange es nicht um die Durchsetzung eines im Denken entwickelten Planes in die Wirklichkeit geht. Auf diese Weise kann Hegel sagen: „Im Denken ,bin' ich ,frei', weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Fürmichsein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst." Das Selbstbewußtsein hat jetzt also eine Stufe erreicht, in der
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es , „denkendes' Bewußtsein ,überhaupt' oder sein Gegenstand .unmittelbare' Einheit des ,Ansichseins' und des ,Fürsichseins' ist." Für Hegel ist damit eine äußerst wichtige Stufe erreicht, wenngleich er auch schon deren Grenze anspricht, da, nach seiner Ansicht, das Bewußtsein sich zwar „ansichseiendes Element" wird, aber „nur erst als allgemeines Wesen überhaupt, nicht als dies gegenständliche Wesen in der Entwicklung und Bewegung seines mannigfaltigen Seins." Dies ist der Kontext, in dem bei Hegel der Stoizismus thematisiert wird, denn: „Diese Freiheit des Selbstbewußtseins hat bekanntlich, indem sie als ihrer bewußte Erscheinung in der Geschichte des Geistes aufgetreten ist, Stoizismus geheißen." Stoizismus ist für Hegel diejenige Weise des Bewußtseins, die ihr Wesen, ihre Wesensbestimmung im allgemeinen Denken überhaupt hat. Begierde (als die Weise der Befriedigung des Selbstbewußtseins, die ihren Stoff gänzlich aufzuzehren, zu ver-nichten trachtet und dabei doch zugleich mit der Erfahrung der Nichtigkeit des Anderen die Erfahrung des Daseins und der Selbständigkeit dieses Anderen macht, wodurch die Gewißheit seiner selbst gleichsam hinterrücks durch das Verzehrte, das Genichtete bedingt ist) und Arbeit (als ,gehemmte Begierde') stehen im Kontext des Lebenszusammenhanges. Sie sind gegen das Leben gerichtet (als Verzehren und formierendes Bearbeiten), während der Stoizismus sich gleichsam aus dem Leben (Leben verstanden als „das sich entwickelnde und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze") in die ,reine Bewegung des Denkens' zurückzieht. Da das Denken in Begriffen geschieht und diese dem Bewußtsein ununterschieden sind (obwohl vom Ansichsein des Gegenstandes äußerer Wirklichkeit sehr wohl unterschieden), entfällt — da es sich des näheren im Stoizismus um das allgemeine Wesen des Denkens überhaupt handelt und nicht um dessen Seite .mannigfaltigen Seins', nicht um dessen Entfaltung in die Mannigfaltigkeit — der .bestimmte Unterschied' sowohl hinsichtlich der Gegenstände der äußeren Wirklichkeit untereinander als auch bezüglich des Verhältnisses von Bewußtsein und Gegenstand. Unterschiede sind ab sofort — letztlich aufgrund der Ununterschiedenheit von Begriff und Bewußtsein — nur noch gedachte Unterschiede, und Wesenheit enthält „allein der Unterschied, der ein, gedachter' oder unmittelbar nicht von Mir unterschieden i s t . " Hegel sieht also die eigentümliche Leistung des Stoizismus darin, daß er — wenn auch nur auf der Stufe des allgemeinen, reinen Denkens überhaupt (was ihm Hegel letztlich als Grenze und Kritik entgegenhalten wird) — die Entzweiung des Bewußtseins, nämlich (a) als Selbst-
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bewußtsein sowohl Bewußtsein als auch dessen Gegenstand zu sein (was ein Bestreben gegenseitiger Nichtung zwecks selbstbewußter Anerkennung aus sich entläßt) und (b) als denkendes Bewußtsein die Selbständigkeit, das Ansichsein der äußeren Wirklichkeit nicht aufheben zu können (d. h. keine Vermittlung zu finden zwischen allgemeinem Denken und Mannigfaltigkeit des Seins), zu überwinden, oder sagen wir auf der Linie Hegelscher Kritik genauer: zu suspendieren in der Lage ist. Damit begeht der Stoizismus aber für Hegel einen nicht wettzumachenden Fehltritt, denn dieses „Bewußtsein ist somit negativ gegen das Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft", d.h. für uns grundsätzlicher formuliert: ihm ist eine Konzeption von Freiheit wesentlich, die nicht im und durch den Strudel des Anerkennungsmechanismus (gegenwendiger Anerkennung selbständiger Selbstbewußtseine im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur äußeren Natur) ihre Verwirklichung erreicht. An dieser Stelle wird übrigens deutlich, daß für Hegel das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft als ein grundsätzliches, immerwährendes, bewegendes und damit positives Verhältnis des Bewußtseins gilt, und daß es nicht einfach um eine Aufhebung dieses Verhältnisses im Sozialbereich geht. Hegel hält dem Stoizismus gerade seine Negativität gegen das Verhältnis von Herr und Knecht vor. Der Stoizismus ist „ohne die Erfüllung des Lebens", denn er ist das Bemühen, „die Leblosigkeit sich zu erhalten, welche sich beständig aus der Bewegung des Daseins, aus dem Wirken wie aus dem Leiden, in ,die einfache Wesenheit des Gedankens zurückzieht"'. Wie sehr darüber hinaus eine einseitige Interpretation des Stoizismus als Knechts-Ideologie (A. Kojève) an dieser Stelle unangebracht ist, zeigt u. a. auch die Tatsache, daß Hegel die stoische Haltung sowohl dem Herrn als auch dem Knecht als Möglichkeit zubilligt: „sein [= des stoischen Bewußtseins] Tun ist, in der Herrschaft nicht seine Wahrheit an dem Knechte zu haben, noch als Knecht seine Wahrheit an dem Willen des Herren und an seinem Dienen, sondern wie auf dem Throne so in den Fesseln, in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins frei zu sein." Stoizismus ist eine grundsätzliche Position des Selbstbewußtseins, sowohl seiner herrlichen als auch seiner knechtischen Seite. Auch erscheint der Stoizismus als allgemeine Form des Weltgeistes doppelt, sowohl „in der Zeit einer allgemeinen Furcht und Knechtschaft, aber auch einer allgemeinen Bildung (. . .), welche das Bilden bis zum Denken gesteigert hatte." 3 3
Vgl. PhG,
S. 138 (Leben), 152, 153 (Denken).
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Hegel muß nun mit seiner Kritik recht tief ansetzen, denn er bemerkt sehr wohl, daß der Stoizismus gerade eines der von ihm selbst angestrebten Momente verwirklicht, das Beisichbleiben nämlich des (stoischen) Bewußtseins. Dieses Bewußtsein kennt ein Anderes, aber da es ,denkendes Bewußtsein' ist, gilt, daß „etwas nur Wesenheit für dasselbe hat, oder wahr und gut für es ist, als das Bewußtsein sich darin als denkendes Wesen verhält" und dieses „Anderssein ( . . . ) an ihm hat, so daß es in seinem Anderssein unmittelbar in sich zurückgekehrt ist." Aber, so lautet Hegels Kritik, „dies sein Wesen [ist] zugleich nur ein .abstraktes' Wesen. Die Freiheit des Selbstbewußtseins ist gleichgültig' gegen das natürliche Dasein, hat darum ,dieses ebenso frei entlassen', und die .Reflexion' ist eine .gedoppelte'." Abstraktes Wesen, Freiheit im Gedanken, ohne Erfüllung des Lebens, nur der Begriff der Freiheit, nicht die lebendige Freiheit selbst — mit diesen Formulierungen macht sich Hegels Kritik am Stoizismus Luft. Damit ist zugleich jene Linie markiert, an der die im und als Selbstbewußtsein zugewonnene innere Freiheit ihre Grenze hat, denn Freiheit bedeutet für Hegel stets auch die Einbeziehung und die Uberwindung der Abhängigkeit von anderen Menschen und anderen Gegenständen äußerer Natur durch die Verwirklichung von Plänen, das Umsetzen von Plänen in die Wirklichkeit und die damit verbundene Anerkennung von seinerseits autonomiefähigen Anderen und Anderem, von anderen Ichen und von einem dem Bewußtsein anderen, gegenspielenden Natursubjekt. Die Kritik am Stoizismus ist von dem Grundpostulat getragen, daß eigentlich „die Individualität als handelnd sich lebendig darstellen oder als denkend die lebendige Welt als ein System des Gedankens fassen sollte", d. h. letztlich die Identität von innerer, äußerer und gesellschaftlicher Natur darstellen sollte. Die stoische Strategie stellt sich für Hegel in der Weise dar, daß das denkende (stoische) Bewußtsein „von der Mannigfaltigkeit der Dinge sich abtrennt" und deren Inhalt zu vertilgen sucht „als ein fremdes .Sein', indem es ihn [ = den Inhalt] denkt." Diese Tilgung ist keine vollständige Negation des Andersseins, da der Begriff stets bestimmter Begriff bleibt (die vollständige Negation vollbringt nach Hegel erst der Skeptizismus, der „die Realisierung desjenigen [ist], wovon der Stoizismus nur der Begriff, — und die wirkliche Erfahrung, was die Freiheit des Gedankens ist; sie ist ,an sich' das Negative und muß sich so darstellen"), und außerdem nennt der Stoizismus auf die Frage „nach einem ,Inhalte' des .Gedankens' selbst" (nach dem ,Kriterium der Wahrheit') wiederum „das .inhaltslose' Denken selbst ( . . . ) : in der Vernünftigkeit soll das Wahre und Gute bestehen." Gerade weil der Stoizismus in dieser Weise
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für Hegel formalistisch ist, gelangt er „zu keiner Ausbreitung des Inhalts", was seine Grundbegriffe (wahr, gut, Weisheit, Tugend, vernünftig) dazu verurteilt, „Langeweile zu machen." 4 Die gleichwertige und übereinstimmende Zusammengehörigkeit von Geschichte des Geistes und Geschichte der Menschen erlaubt es Hegel (bei aller nicht zu unterschlagenden Unterschiedenheit von Weltgeist und endlichem, subjektivem Geist), die Frage nach der Geschichte (und das heißt auch die Frage nach dem Bewußtsein des Menschen im Verhältnis zur Geschichte) in die reinere Frage nach dem Selbstbewußtsein und dessen Dialektik eingehen und/oder von hier her sich entfalten zu lassen. So wird auch die historische Erscheinung des Stoizismus auf der Stufe des Selbstbewußtseins behandelt, im phänomenologischen Gang also gerade in dem Bereich, wo (a) der methodologische Bestfall eintritt, daß nämlich im Selbstbewußtsein (dem Bewußtsein also, das das Bewußtsein von sich selbst hat) das Bewußtsein sowohl Bewußtsein als auch dessen Gegenstand ist. (Dies ist hier übrigens in noch gesteigert reinerer Form der Fall, als wenn man sagt, daß die Dingheit, die äußere Wirklichkeit, stets nur im und als Bewußtsein existiere. Im Selbstbewußtsein tritt so in einem frühen Stadium eine Form der Identität des Identischen und des Nichtidentischen auf, in Entstehung und Versöhnung nämlich des .gedoppelten Bewußtseins', desjenigen Bewußtseins also, das sowohl in seine Extreme reflektiert, d. h. in das Bewußtsein und seinen Gegenstand, sodann aber auch dialektisch zur Aufhebung dieser Entzweiung und Zerrissenheit strebt.) Darüberhinaus (b) stellt sich der inhaltliche Vorteil ein, daß auf dem Wege der Selbstwerdung des Geistes im Selbstbewußtsein bereits eine Qualität der Selbsterfahrung des Geistes erreicht wird, die höher ist als das gleichzeitige Verhältnis des Bewußtseins zur wirklichen, realen Außenwelt, zur Außenwirklichkeit. Da vom Selbst her (und dies schließt in sich die Ununterschiedenheit des Unterschiedenen, d. h. die für das unentzweite Sein charakteristische Unendlichkeit, die Festlegung des Unterschiedes also nicht mehr aufgrund äußerer Abgrenzungen der Gegenstände untereinander und des Bewußtseins zu den Gegenständen, sondern einzig als in sich ruhende, übereinstimmende Unterschiedenheit, als Identität des Nichtidentischen, als Unendlichkeit) auch das ganze Bezugsfeld zur äußeren Wirklichkeit auf eine neue Qualitätsstufe gehoben wird, kommt ihm im Verhältnis zu dieser Außenwirklichkeit ein deutlicher dialektischer Vorrang zu. (Dabei soll letztlich die Trennung von Innen und Außen, von 4
Vgl. PhG, S. 152-155.
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Bewußtsein und Gegenstand, von Idee und Erscheinung, von Allgemeinem und Besonderem, Allgemeinheit und Einzelheit in ihrer Entzweiung aufgehoben werden.) Wir sind also zu der Feststellung berechtigt, daß die Behandlung des Stoizismus als Freiheit des Selbstbewußtseins für Hegel die eigentliche und damit auch die eigentlich historische, geschichtliche Behandlung des Stoizismus bedeutet. Für Hegel ist zum einen die Philosophie die reflektierteste Form von Geschichte (sowohl über die res gestae als auch über die historia rerum gestarum hinausgehend), und zum anderen hat jedes philosophische System in der Geschichte des Geistes (und damit auch in der Geist-Entwicklung der Geschichte) einen Doppelstatus. Es ist zunächst eine zu überholende Etappe, eine Ubergangsstufe zur nächsten, neuen und höheren Entwicklung, und es hat dann auch noch zugleich etwas Eigenes, etwas als unaufhebbar Zurückbleibendes. Das erste Moment, die Aufhebung (im dreifachen Sinne Hegels: als Negation, als Aufbewahrung und als Höherhebung) hat Hegels ganzes Interesse, und von hier aus erschließt sich, daß ein philosophisches System nur an bestimmten historischen Punkten auftreten und verortet werden kann. s So ist für Hegel zwar jedes philosophische System sinnvoll, aber er ist weit von einer Einstellung entfernt, für die jedes System ein eigenständiges und auch in sich vollständiges Gebilde eines Selbst-, Menschen- und Weltbezuges darstellt, was für die Philosophiegeschichte bedeutete, daß jedem System eine direkte Nähe zum oder eine gleichweite Entfernung vom Absoluten zukommt und eigen ist. Hegel versucht beides zu verbinden, eine zyklische, morphologisch-perspektivistische Auffassung (wie sie besonders Goethe eignet) der Geschichte und das Fortschrittsdenken der Aufklärung — letzteres aber ist deutlich übergewichtig. So ist Hegel in seiner Philosophiegeschichte und in seiner philosophischen Betrachtung der Geschichte den Geschichts-, Kultur- und Geistesgebilden gegenüber in gewisser Weise intolerant. Die einzelnen Gebilde werden nicht so sehr in ihrer Autonomie, sondern vielmehr hinsichtlich ihres Überwindungscharakters betrachtet, sie sind nicht etwa als Bemühen und Systeme mit einem je eigenen (Teil)Gehalt der einen ganzen Wahrheit ausgestattet und alle gleichweit von der Wahrheit, dem Absoluten entfernt, wie dies etwa schon bei Nikolaus Cusanus eindrucksvoll entwickelt wird und sich hinsichtlich der Religionen über das Colloquium heptaplomeres des J. Bodin in die Ringparabel Lessings fortsetzt.
5
Vgl. System d. Philos. I (Logik), S. 205, 229; vgl. Win. d. Logik II, S. 9 - 1 1 ; I, S. 120; vgl. PhG, S. 90.
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Diesen Aspekt der Hegeischen Betrachtungsweise gilt es auch in bezug auf seine Ausführungen zum Stoizismus kritisch herauszustellen. Eine weitere Einengung des Blickwinkels tritt dadurch ein, daß Hegel die geschichtliche Wirkung des Stoizismus in der in sich rückläufigen Bewegung des Selbstbewußtseins als Denken des Gedankens aufgehen läßt. (Diese Art des Ineinanderaufgehens ist jener integrationistischen Gleichsetzung von ars dispositionis = dispositio artis bei P. Ramus nicht unähnlich, und sie tritt viel später strukturell ähnlich etwa bei Heidegger auf, wenn dieser Geschichtszeit in Existenzialzeit aufgehen läßt.)6 Mit dieser Verortung des Stoizismus auf eine der ersten Stufen (neben Skeptizismus und unglücklichem Bewußtsein) der Geschichte des Bewußtseins wird die eigentlich historische Funktion des Stoizismus verdunkelt. Obwohl Stoizismus einen grundsätzlichen Bewußtseinsstil, eine grundsätzliche Art des Sicheinrichtens in der Welt bedeutet, obwohl oder genauer gesagt: weil er dies bedeutet, darf er nicht in seiner Stellung und Funktion als eine bloße Bewußtseinshaltung, nicht bloß als Freiheit des Selbstbewußtseins im Sinne einer Stufe der Selbsterfahrung des Bewußtseins auf seinem Entwicklungsgang zum absoluten Wissen (wo „der sich als Geist wissende Geist" heraustritt)7 behandelt werden. Was wir hier allerdings kritisch als ein Einschieifen der Differenz von Bewußtsein und äußerer Wirklichkeit (und auch von Gegenwärtigem und Vergangenem) auffassen, ist natürlich für Hegel gerade das Programm. Wenn nämlich Bewußtsein und Wirklichkeit letztlich identisch sind, so muß gerade in der Erfahrung des Bewußtseins seiner selbst, und d. h. im Selbstbewußtsein, jene Wahrheit beschlossen liegen, daß nämlich das Bewußtsein im und als Selbstbewußtsein die „Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" (so der Titel des vierten Abschnitts der PhG) als eine solche erfährt, die das gesamte Sein als Bewußtsein, als Idee ausweist und — dialektisch damit vereint — das Bewußtsein die gesamte Wirklichkeit sein läßt. Dieser Zusammenhang gilt deshalb, weil das Bewußtsein auf der Stufe der Vernunft, und diese ist im Selbstbewußtsein bereits berührt, die äußere Wirklichkeit „als seine eigene Wahrheit und Gegenwart" erfährt. „Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein." 8 Im Vergleich zu solcher Identitätsstrebigkeit muß natürlich der Stoizismus als bloß abstrakte Reflexion in eines der beiden Extreme von Bewußtsein und Welt, nämlich in dasjenige des bloß subjektiven Bewußtseins, erscheinen — als das abstrakte Denken des Gedankens. Wir haben aber gesehen, daß und in welcher Weise der 6
7
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, §§ 72—77. 8 PhG, S. 176. PhG, S. 564.
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Neustoizismus (den Hegel in dieser Art gar nicht kannte) eine Anthropologie, eine Sozialethik und schließlich auch eine Politische Theorie im engeren Sinne aus sich entläßt. Gerade am Neustoizismus können wir sehen, daß die Stoa insofern Politische Philosophie ist, als sie alle Lebensbereiche, (um es aristotelisch auszudrücken) alle menschlichen Seins- und Sinnesweisen durchdringt und auf diese einen normierenden Zugriff vollführt, der auch vor der konkreten Gestaltung der äußeren Wirklichkeit, besonders des Politischen, nicht haltmacht. Der Neustoizismus terminiert in einer sich sowohl in den Gang der Naturordnung passiv und gehorsam einfügenden als auch die geschichtliche Welt willentlich, aus Interesse an Stabilität und Festigung der kulturellen Lebensbedingungen und unter dem Leitmotiv einer widerständigen Selbsterhaltung und Selbstbehauptung stehenden standfesten, kämpferischen Haltung der Constantia — mag dies nun auch im Interesse wiederum nur des Bewußtseins, d. h. um des ethischen Ideals, um des neustoischen Weisen willen sein. Hegels Beurteilung des Stoizismus steht und fällt mit zwei Voraussetzungen, die zugleich zwei Grundmuster Hegeischen Denkens überhaupt darstellen. Zum einen (a) unterliegt die Vorstellung, daß jede über unmittelbare Gewißheit hinausreichende Erfahrung, jede wesentliche Wahrheit auf ein autonomiefähiges, selbstbewußtes Gegenüber (sei es im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, in der gesellschaftlichen Mitmenschlichkeit oder Intersubjektivität, wie auch im Verhältnis sowohl der Einzelnen als auch der Gesellschaft gegenüber der Natur) angewiesen ist, ein Gegenüber, das in seiner Selbständigkeit gerade auch das Andere des eigenen Bewußtseins ist und dieses als selbständiges anerkennt. Freiheit, und dies ist für Hegels Einschätzung des Stoizismus von zentraler Bedeutung, wird von Hegel nicht als grenzenlose Möglichkeit gefaßt, sondern an die Anerkennung durch ein seinerseits freies Anderes gebunden. Hier liegt in unserem Zusammenhang und auf der Ebene des Selbstbewußtseins in der PhG der Ubergang von der Ordnung der Begierde zur Ordnung der Anerkennung. Freiheit ist für Hegel wesentlich an den Strudel der Anerkennung gebunden, denn sonst würde sich das Tun und Treiben des Bewußtseins stets wieder als abhängig und damit als bedingt erfahren. Dieses Spannungsverhältnis, dieses Subjekt—Objekt ist es, was die Welt in energetischem Zustand hält und Geschichte aus sich entläßt, d. h. einen Zustand entropischer Amorphie verunmöglicht. Für geschichtliche Bewegung sorgt das Interesse des Geistes an seiner eigenen dialektisch gegensätzlichen Hervorbringung. Zum anderen (b) und damit eng zusammenhängend beansprucht die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft eine
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absolute Gültigkeit. Sie wird von Hegel in einer so grundsätzlichen Weise gedacht, daß sie nicht etwa mit einer Aufhebung konkreter Knechtschaft zu Ende sei oder in einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufgehoben wäre. Nur von hier her erklärt sich auch, daß der Stoizismus mit Kritik gestraft wird, weil er „negativ gegen das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft" ist. Uberspitzt formuliert gäbe es nach Hegel keine Geschichte, bestünde die Welt aus lauter Stoikern, denn ihre Position, sowohl auf dem Throne (man denke an Marc Aurel) als auch in Fesseln (man denke an Epiktet) Freiheit zu haben, bedarf, scheint es, zur Verwirklichung gerade nicht des relationellen Verhältnisses von Herr und Knecht. Hegels Angriff ist deutlich: er bestreitet dem Stoizismus, daß er diese Freiheit wirklich erlange, denn das Wesen des stoischen Selbstbewußtseins sei „nur ein abstraktes Wesen", eine „Freiheit im Gedanken ( . . . ) ohne die Erfüllung des Lebens ( . . . ) also auch nur der Begriff der Freiheit, nicht die lebendige Freiheit selbst." Hegel hat nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß nach der durch den Stoiker vollzogenen rationalen Versubjektivierung und Verinnerlichung der Wirklichkeit aus diesem inneren Ort selbst wiederum heraus eine durchaus aktive Bearbeitung der äußeren Welt entlassen, grundgelegt und vollzogen werden kann, die sich allerdings nach der Maßgabe des ethischen Ideals zu vollziehen hat. Dieses legt nicht nur die wertenden Grund- und Vor-Entscheidungen jeder Erkenntnis fest, die axiologischen Voraussetzungen und Festlegungen nämlich darüber, daß überhaupt erkannt und gewußt werden soll, und wo die Grenzen der Erkenntnis und des neugierigen Wissensdranges zu liegen haben, sondern das ethische Ideal steckt auch den axiologischen Rahmen, die Motivation und den Horizont eines aktiven Eingriffs und einer Bearbeitung der bewußtseinsäußeren Wirklichkeit ab. Die Strategie des Neustoizismus sucht gleichsam in einem zweiten Schritt, die Struktur der inneren Ratio in der äußeren und zwischenmenschlichen Natur durchzusetzen. In diesem Sinne kann Stoizismus der Bewußtseinsstil nicht nur des Knechtes, sondern gerade auch eines Herren sein, und diese herrscherliche Seite des Neustoizismus schließt auch etwas von jenem kritischen Potential in sich, mit dem das Individuum sich der Vermittlung an sein höchstes Gut durch ein umfassend Absolutes zu widersetzen vermag, da es das höchste Gut gerade in seiner Individualität beschlossen und realisieren zu können glaubt und auch beansprucht. Dies aber bedeutet für den dem Anerkennungsmechanismus selbständiger Bewußtseine und dem Denken in Entsprechungsverhältnissen (bis in die Rechtsphilosophie und gerade auch von dieser her, wenn wir an das Verhältnis Einzelner — sittliche Ordnung
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denken) verpflichteten Hegel einen gleichsam systematischen Frevel. In dem Augenblick also, wo die Notwendigkeit der Anerkennungs-Balance bezweifelt wird, wo in dem aufzuhebenden, weil zu bearbeitenden Gegenüber äußerer Wirklichkeit nicht ebenfalls ein autonomiestrebiges und autonomiefähiges Subjekt unterlegt werden muß, in einem solchen Zusammenhang kann sich ein sekundär auf die Außenwirklichkeit hin dynamisierter und funktionalisierter Stoizismus — und so haben wir den Neustoizismus aufzufassen — sehr wohl bestätigen und, in axiologischen Grenzen, an die Aufgabe einer Gestaltung der Wirklichkeit begeben. Aus der Hegeischen Perspektive gedacht erscheinen die Stoiker als undialektisch. Sie realisieren dasjenige nicht wirklich, was die „Freiheit des Gedankens" ausmacht, nämlich das Negative, d.h. sie kennen nicht die wirkliche, echte Negation. Sodann entbehren die Stoiker der Vermittlung, was für Hegel gerade an ihrer Bestimmung der Wahrheit greifbar wird. Sie bestimmen diese zwar als „Ubereinstimmung des Gegenstandes und des Bewußtseins", aber es fehlt das Dritte, was die ,Vergleichung' anstellt; diese Leistung wird vom Bewußtsein übernommen, das dadurch aber seinerseits nicht mehr vom Gegenstand her verglichen werden kann, was Hegel zu dem Vorwurf des Formalismus führt. 9 Und schließlich versuchen sich die Stoiker auch der Zeit zu entheben und damit implizite auch die Kraft der „Erinnerung-in-sich" als konstitutives Moment der eigenen Bildungsgeschichte auszuschalten. Fassen wir das Fehlen dieser drei Momente (Negation, Vermittlung, Zeit) zusammen, so tritt schlagartig ans Licht: dem Stoizismus fehlt genau das, was den Kern der Hegeischen Dialektik ausmacht. Hegel kann und will sich nicht vorstellen, daß die spezifische Leistung eines Stoizismus gerade dort ansetzen könnte, wo so etwas wie Hegeische Dialektik ausbleibt, wo nämlich nicht mehr von der optimistischen Hoffnung ausgegangen wird, daß (a) das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich ist (was immer das heißen mag) und (b) das Ansich und das Fürsich sowohl des Bewußtseins als auch des Gegenstandes des Bewußtseins in einem Anundfürsich dialektisch (aufgrund ihrer gegensätzlichen Selbsterfahrungen) aufgehoben, versöhnt werden können, d. h. gerade dort, wo dialektische Vermittlung und Synthesis zwischen beiden nicht den vorgezeichneten Weg ausmacht, wo Gegensätze sich in ihrer Widerständigkeit unversöhnlich behaupten. Erst dort bricht die ganze Frage sowohl der (technischen und existentiellen) Daseinssorge und -Sicherung als auch diejenige der Erfahrung des Bewußtseins mit sich selbst in 9
Vgl. Gesch.
d. Philos.
III, S. 4 4 6 - 4 5 2 .
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voller Schärfe auf. Gerade in der Zerrissenheit des Bewußtseins mit sich selbst und mit der Außenwirklichkeit kann die Leistung des Stoizismus ansetzen als eine Weise der Uberwindung dieser Situation der Krise oder etwas bescheidener formuliert: als eine Weise des menschlichen Ausharrens und Verbleibens, als Einstiftung von Mut zum Sein (P. Tillich). Die Leistung des Stoizismus ist hier doppelter Natur, was Hegel unterschlägt. Sie besteht nämlich sowohl in einem denkenden .resistere' als auch in einem denkenden ,parere'. Die Stoa fordert zum einen das gehorsame und sich unterordnende Einfügen in das Ganze des wesentlich an der Kosmologie abgelesenen Weltengangs. Sie fordert aber zum anderen auch das sich als Denken vollziehende und widerständige Freimachen von den äußeren Dingen und von der existenzgefährdenden Kontingenz der Welt. Hier wird der Mensch bei aller Einsicht in einen hinter dem Geschehen und den Dingen stehenden Zusammenhang auf sich gestellt, und im Neustoizismus wird der Behauptungs- und Kampfescharakter des menschlichen Lebens herausgestellt. Leben hat sich zu erhalten und zu behaupten. In aller Einordnung wird also der Mensch insofern an sich selbst verwiesen und damit auch freigesetzt, als — was eine begrenzte Sabotage des Schicksals bedeutet — das menschliche Denken das Fatum eingesehen und als vernünftig erkannt zu haben behauptet, Schicksal also weder blind noch irrational sein kann und darf. Der berühmte ,amor fati' hat bei den Stoikern — wie später auch, wenngleich aus unterschiedenen Motiven bei Nietzsche — neben seiner Seite der Resignation auch diejenige einer Erhöhung des Menschen. Sprechen wir dem Stoizismus eine solche daseinssichernde Leistung zu, so müssen wir noch einen weiteren Aspekt heranführen, um den Unterschied zu Hegels Sichtweise zu verdeutlichen. Vor dem Hintergrund der Endlichkeit muß jedem Menschen und jeder Generation ein Recht auf möglichst unmittelbaren und vollständigen Glücks-, Wahrheits- und Freiheitsbezug zugestanden werden. Von hier aus gesehen weht ein inhumaner Zug durch den Gang des Hegeischen Weltgeistes, wenn dieser seine langsame Gangart damit begründet, daß er nicht zu eilen habe, daß er genug Zeit habe, „eben weil er selbst außer der Zeit, weil er ewig ist", denn „daß er ebenso viele Menschengeschlechter und Generationen an diese Arbeiten seines Bewußtseins wendet, (. . .) darauf kommt es ihm auch nicht an; er ist reich genug für solchen Aufwand; er treibt sein Werk im Großen; er hat Nationen und Individuen genug zu depensieren." 10 10
EM. in d. Gesch.
d. Philos.,
S. 62.
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Hinsichtlich des Verhältnisses von Stoizismus zu Herrschaft und Knechtschaft thematisiert Hegel eingeengt. Der Neustoizismus etwa ist zwar insofern ,negativ gegen das Verhältnis von Herr und Knecht', als er den jeweiligen dialektischen Umschlag im Bewußtsein sowohl des Herrn selbst als auch des Knechtes selbst nicht vollzieht. Aber indem er im Grunde diese Dialektik als Herd möglicher Unruhe und Verunsicherung stillegt, ist er einem Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft in der realen Sozialdimension in einem stabilisierenden Sinne gerade positiv. Das innere Ich wird unter entschiedener Wende gegen die aufrührerischen Leidenschaften in die disziplinierende Zucht der Vernunft genommen. Nicht die Instinkte, Triebe, Affekte machen die Natur des Menschen aus, sondern als Natur wird eine entfaltete und herrscherliche Verfaßtheit der Vernunft begriffen. Vernunft hat sich in diesem Sinne gegen eine primäre Natürlichkeit durchzusetzen, um die eigentliche Vernunft-Natur im Sinne einer zweiten Natur herauszubringen. Das dergestalt vernünftige und sich als autonom verstehende Individuum und Ich hat bei allem Wissen um die Vergänglichkeit, das Auf und Ab des Geschehens im sich letztlich doch nur selbsterhaltenden Weltzusammenhang, ein Interesse daran, die es umgebende Umwelt soweit als möglich ebenfalls in einen Zustand stabiler Beständigkeit zu überführen, Unruheherde und Situationen, die den Ruhestand und in letzter Instanz die Existenz sowohl des einzelnen Ich als auch des Ganzen der Gesellschaft und der Welt bedrohen, an die Grenze des Möglichen als den um jeden Preis zu verhindernden Grenzfall zu verlagern und zu deklarieren. So entspricht der inneren Zucht und Ordnung (der disziplinierenden Maßgabe der Vernunft, die ihrerseits von dieser Ordnungs- und Sicherheitsleistung in der Weise bestimmt wird, daß die Vernunft gleichsam um ihrer selbst willen diese Ordnungsleistung zu erbringen hat) eine Auffassung des Politischen, der Organisation des menschlichen Miteinanders in der Sozial- und Geschichtsdimension als ,ordo in jubendo et parendo', um auch in diesem größeren Zusammenhang die Bedingungen für eine auf Dauer gestellte Selbsterhaltung des Ich gewährleistet zu sehen. Dabei gilt es innerhalb des Neustoizismus noch, wie wir gesehen haben, nach zwei Seiten hin zu unterscheiden. Aufgrund der für die stoische Philosophie charakteristischen Uberzeugung, daß eine Apathie und Ataraxie des Ich stets an die Gewißheit einer hinter allem scheinbar wankelmütigen Geschehen stehenden und auf den Menschen bezogenen Ordnung des Zusammenhanges gebunden ist, steht die Grundlegung des Staates im Neustoizismus im Rahmen eines Denkens der Naturgesetzlichkeit (weniger der kosmologischen als vielmehr einer der autonomen
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Kultursphäre Politik eigenen Gesetzlichkeit), um gleichsam von der Seite objektiver Ordnung her die Verwirklichung und Durchsetzung des ethischen Ideals der Stoa zu bewerkstelligen und zu legitimieren. Bei Charron haben wir sehen können, in welcher Weise dieser stoische Zusammenhang in eine Strategie zur Sicherung des ethischen Ideals eingelassen wird, ohne allerdings noch in einem strengen Sinne (was in der Antike den entscheidenden Unterschied zwischen Stoa und Skepsis ausmachte) die Notwendigkeit zu verspüren, die Erreichung des Ideals an eine einsichtige (philosophische) Gewißheit binden zu müssen. In Wende gegen die Dogmatiker, Pedanten und Formalisten wird gerade der Verzicht auf solche Gewißheit, die Vergleichgültigung äußerer, dem Menschen exogener Prinzipien bei gleichzeitiger Bindung des Verhaltens, des Handlungsethos und der Handlungsmotivation an die menschliche Natur, Garantie für die Erreichung des inneren moralischen Zieles. Der Weise bei Charron befolgt die Gesetze und Zeremonien menschlicher Gemeinschaft nicht aufgrund seines Wissens um ihre Naturgesetzlichkeit, sondern weil sie nun einmal faktisch vorhanden sind und sich bei der technischen Regelung des menschlichen Miteinanders bewähren, und wir haben gerade bei Charron gesehen, wie sich auf dem Wege dieser inneren Abstinenz eine vollständige Einpassung in den realen Macht- und Herrschaftszusammenhang ergibt. Die Wendung auf den Menschen als das Wesen der Subjektivität ist so im Neustoizismus von Anfang an gespalten. Um diese Subjektivität als individuumgebundene, innere und private zu erhalten und zu behaupten, wird den umfassenderen Ordnungen gesellschaftlichen und politisch-staatlichen Seins eine fraglose, auf subjektive Gewißheit gerade Verzicht leistende Unterordnung entgegengebracht. Das Politische ist jetzt zwar für das menschliche Individuum entuniversalisiert, der Staat rückt faktisch aber in eine (absolute) Machtstellung ein, die dem menschlichen Subjekt die zugewonnene Freisetzung gerade wieder aus der Hand schlägt. In Europa folgt auf den theologischen Absolutismus des Mittelalters der politische Absolutismus der Frühen Neuzeit. Die Existenz und Geschichtswirksamkeit des Neustoizismus am krisenhaften Ubergang von Mittelalter zu Neuzeit macht deutlich, und dies sei noch im universalgeschichtlichen Schema Hegels selbst gedacht, daß der Stoizismus nicht vorrangig eine vorbereitende Etappe auf dem Wege zu einem eigentlich erfüllten System ist, sondern gerade auf den Zusammenbruch eines Systems folgt, und zwar als eine Uberwindungsstrategie hinterlassener System- und Ordnungslosigkeit. Zunächst verbaut der Stoizismus also nicht die Erfüllung des Lebens, sondern er ist gerade
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Gegenzug zu deren Schwund. Insofern ist die systematische Verortung des Stoizismus bei Hegel nicht mit dessen realer historischer Funktion identisch. Denn hier ist der Stoizismus nicht eine Stufe auf dem Wege zur substantialen Ununterschiedenheit, zur Identität des Identischen und der Differenz, zur Identität des Nichtidentischen, sondern gerade eine der historisch bedeutsamsten Bewegungen und Strategien zur Daseinssicherung n a c h dem Verfall einer in sich funktionierenden Ordnung (wie immer auch des näheren zu bestimmender) substantialer Sittlichkeit. Dafür ist das geschichtliche Auftreten sowohl am Ende der griechischen Polis als auch die erneuerte Stoa am Ende der scholastischen und spätfeudalen Welt des Mittelalters im Ubergang zur Frühen Neuzeit eindrucksvolles Zeugnis. Die Phänomenologie des Geistes', dieser Prozeß der Selbstwerdung des Geistes als Bildung, steigt von der Unmittelbarkeit sinnlicher Gewißheit auf zum absoluten Wissen, d. h. bis zur alles offenlegenden Wahrheit seiner selbst; sie setzt nicht umgekehrt am Scheitern oder Fraglichwerden gerade eines absoluten Wissens, einer absoluten Theologie oder einer absoluten Politik ein. Die Verbindung von Brüchigkeit und Stoizismus liegt bei Hegel brach. Die Möglichkeit, daß der Stoizismus eine Strategie der Freisetzung des Menschen angesichts einer ontologisch brüchigen und metaphysisch nicht mehr versicherten Welt darstellt, bleibt bei ihm unbedacht. Wenn es dem Menschen um die Frage auch gerade der technischen Daseinssorge geht, dann kann er sich schwerlich an der Hegelschen Denk- und Seinsdialektik orientieren, dann kann er auch gerade nicht auf jene „absolute Furcht", auf jene „Flüssigkeit" als Grund der Daseinssicherung bauen, die für Hegel erst „alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseins wankend" gemacht haben muß, um aus dem Status der Knechtschaft herauszuführen. Das Problem der Neuzeit besteht im Gegenteil darin, solcher Flüssigkeit entgegenzuwirken. Die Neuzeit stellt in dieser Hinsicht nicht nur eine zweite Uberwindung der Gnosis ( H . Blumenberg) dar, indem sie die Fremdheit in und gegenüber der Welt zu überwinden sucht. Sie ist (wenn wir etwa an die Frontstellung platonischer Philosophie gegen die Sophisten denken) auch als Versuch einer zweiten Uberwindung der Sophistik aufzufassen, indem sie die zunächst gegen die mittelalterliche Welt herausgestrittene Vielheit und Heterogenität (in diesem ersten Sinne ist die Neuzeit selbst eine Sophistik) durch das menschliche Subjekt zur allgemein verbindlichen Einheit zu synthetisieren trachtet. Allerdings soll es dabei gerade darauf ankommen, den Tiefgang des Relativen und Heterogenen nicht erst in seinem gänzlichen Umfange erfahren zu müssen. Die Erfahrung des vereinheitlichenden
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Grundes von Seiendem soll nicht im und als Rückgang hinter relativ und heterogen Seiendes erfolgen, sondern in entscheidendem Maße an die Synthesisleistung des Menschen als dem Vernunft-Subjekt gebunden sein. So sehr die Betonung darauf zu legen ist, daß die Frühe Neuzeit keine erneuerte oder wiederhergestellte Antike ist, und somit der Neustoizismus auch keine identische Erneuerung der antiken Stoa ist, so sehr ist aber auch im Laufe unserer Untersuchung deutlich geworden, daß es sich bei Lipsius, Du Vair, Charron und den hier betrachteten Zeitgenossen um einen Stoizismus handelt, um eine unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit erneuerte Stoa. Für Hegel ist die antike Philosophie nicht erneuerbar, da sie in der Geschichte des Geistes eine bestimmte Stufe darstellt, auf die den Geist zurückzudrängen letztlich eine Vergewaltigung wäre, die „er sich aber nicht gefallen" läßt. „ E s kann deswegen heutigen Tages keine Platoniker, Aristoteliker, Stoiker, Epikuräer und mehr geben." Von hier aus erklärt sich auch zum Teil, warum Hegel für das philosophische Bemühen der Frühen Neuzeit, für den durch eine Wiederbelebung der Antike bestimmten Humanismus und die Renaissancephilosophie letztlich kein Verständnis hat. Sie sind für ihn „Menschenverstand", bloße und übertriebene Reaktion auf die „dürre Scholastik", eine Zeit, in der der Mensch sich selbst einzubringen sucht, ohne allerdings die entscheidende, nach vorn gerichtete Verve zu haben, welche die Renaissance zu einer einschneidenden Etappe des Weltgeistes hätte machen können. Für Hegel bildet die lutherische Reformation den welthistorisch entscheidenden Einschnitt. Daß aber auch gerade das neue Menschen- und Weltbild des Humanismus und der Renaissance den Geist der Frühen Neuzeit in sich verkörpern und die Neuzeit geschichtswirksam beeinflußt haben, dies kommt Hegel nicht in den Blick. Die Tendenz dieser philosophischen Bemühungen, sich gegen die Absolutheit der Scholastik zu behaupten und den (endlichen) Menschen in den Status des Subjekts zu setzen, das ist es letztlich, was Hegel den Zugang zu diesen Philosophemen verbaut. Konsequent wertet er sie ab. Aber nicht erst seit heute wissen wir, in welch hohem Maße gerade sie an der Genese der Neuzeit beteiligt sind. Hohe Philosophie siedelt sich für Hegel stets im Bereich des dem Denken und dem Sein letztlich als identisch zugrunde liegenden Geistes an, und zwar als das Bemühen, ,aus dem Begriff, dem Gedanken heraus zu räsonieren'. Philosophie hat für Hegel immer im Erfassen des Seins auf das System der Begriffe aus und von diesen her zu sein. Die Gedanken der Renaissancephilosophie zählen demgegenüber „zum gesunden Menschenverstand", zur „allgemeinen Bildung". Hegel steht diesen
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Philosophen verständnislos gegenüber, betrachtet sie als Kuriositäten, sie sind für ihn „Menschen gährender, brausender Natur", „merkwürdige Männer", das Ganze sind „eigenthümliche Bestrebungen in der Philosophie", „es ist eine Lebens-Philosophie aus dem Kreise der menschlichen Erfahrung (. . .). Aber indem sie nicht die höchste Frage, die die Philosophie interessirt, zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen, und nicht aus dem Gedanken raisonniren: so gehören sie nicht eigentlich der Geschichte der Philosophie an." Hegel vermerkt: „Lipsius wollte ein Stoiker sein" 1 1 , und wir dürfen wohl sinngemäß hinzusetzen ,aber er konnte es nicht mehr sein'. Für Hegel gründet diese Unmöglichkeit in der im 15. und 16. Jahrhundert bereits erreichten höheren Stufe der Insichgekehrtheit des Geistes. Hegel trifft hier durchaus den entscheidenden Sachverhalt. Allerdings können wir heute (a) diesen Vorgang schwerlich im Hegeischen Zusammenhang des sich selbst herausproduzierenden Weltgeistes begreifen. Für Hegel ist die Unmöglichkeit gegeben, weil der Geist zu dieser Zeit bereits in ein innigeres (ver-innerteres) Verhältnis zu sich selbst getreten ist. Wir interpretieren den gleichen Umstand, die Unmöglichkeit nämlich, am Beginn der Neuzeit antiker Stoiker sein zu können, aus einer anderen Perspektive, gleichsam vom anderen, vom menschen-endogenen Ende her. Dem Stoiker der Antike war noch eine kosmologisch und metaphysisch versicherte und anthropozentrisch fürsorgende Einheit der Welt, in deren Mitte der Mensch steht, letztlich fraglos verbürgt. Der Schwund genau dieser Einheit und Eingebundenheit aber ist der Problemkonstellation der Frühen Neuzeit konstitutiv und entscheidender Ausgangspunkt. Zu Beginn der Neuzeit reicht der Rückzug auf ein an der unangreifbaren Ëinheit und Versichertheit des Kosmos genährtes Weltbild nicht mehr aus, um dem (individuellen) Menschen die Daseinssorge abzunehmen und diese Entlastung subjektiv wie objektiv auf Dauer zu stellen. Vielmehr wird in der Neuzeit der Versuch unternommen, von dem als Subjekt aufgefaßten Menschen her die Welt und Wirklichkeit aus und als Vernunft zu entwerfen und zu konstruieren. Die von der Vernunft des Forschenden ausgehende Naturwissenschaft etwa Galileis fragt nicht nach dem Warum eines Naturvorganges, sondern einzig nach seinem Wie, um auf diese Weise erkennend in die Natur einzudringen. Auf dem Wege der konstruierenden Vernunft soll die Natur in ihren Funktionen dechiffriert werden ; der Mensch, das Zwischenmenschliche, die Natur und das Universum werden als Vernunft konstruiert. 11
Vgl. Gesch. d. Philos. I, S. 7 6 - 7 7 ; Einl. in d. Gesch. d. Philos., S. 7 2 - 7 3 ; Gesch. Philos. III, S. 2 1 9 - 2 2 0 , 2 5 2 - 2 5 3 .
d.
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Andererseits (b) müssen wir in diesem Zusammenhang und gegen Hegel festhalten, daß gerade das Moment der Auflösung bisher versicherter Ordnungen und Begründungszusammenhänge einer (neu)stoischen Strategie der Subjektivität zum Zwecke der Versicherung und Festigung günstig ist. Die Stoa der Antike entsteht im Zuge des Verfalls der Polisordnung und setzt an deren Funktionsstelle — und daß sie dies tun kann, macht ihren antiken Vorteil aus — die stets intakte und unbefragliche Naturordnung, den Kosmos. Der Neustoizismus tritt am Verfall der scholastischen, feudalen und unmittelbar politischen Verfaßtheit der mittelalterlichen Welt auf, und was er an ihre Stelle setzt, gehört bereits in den Zusammenhang der neuzeitlichen Rationalität. Warum für Hegel die Reformation (und grundsätzlich das Christentum) und nicht etwa der (Neu)Stoizismus das fortschrittliche Moment der Geschichte darstellt, wird deutlich, wenn er die unterschiedlichen Weisen des Selbstbewußtseins in Christentum und Stoa gegeneinander setzt. Das stoische Selbstbewußtsein konstituiert sich, wie Hegel sehr richtig sieht, in einer Weise, „die .denkend durch die Stärke des eignen Geistes Werth hat' und in der ,Welt', in der Natur, in den natürlichen Dingen und im Erfassen derselben die Realität des Denkens sucht, die somit ,ohne den unendlichen Schmerz' ist und zugleich in durchaus ,positiver' Beziehung auf das Weltliche steht." In der Tat ist es gerade die Seite positiver Beziehung zur äußeren Wirklichkeit, die im Neustoizismus bedeutsam wurde, allerdings unter möglichster Aussparung desjenigen Schmerzes, der das innere Ich entzweien und zerreißen kann, wenn es sich, wie Charron im Gefolge Senecas und Montaignes sagt, dem Außen nicht nur leihweise und distanziert zur Verfügung stellt, sondern gänzlich hingibt und die Erfüllung seines Ich an die Außen Wirklichkeit bindet. Aber in diesem stoischen Selbstbewußtsein fehlt Hegel die wahre Versöhnung, die nur im Mechanismus des Anerkennens durch ein anderes freies Selbstbewußtsein und der damit verbundenen Entäußerung des eigenen Selbst in das zunächst fremde, gegensätzliche, aber sodann identisch sein sollende Andere, erreicht werden kann. Hinsichtlich des Selbstbewußtseins meint dies — religionsphilosophisch formuliert — „jenes Selbstbewußtseyn, das sich seiner ,Besonderheit' und ,Eigenheit unendlich entäußert' und nur in jener Liebe, die in dem unendlichen Schmerze enthalten ist und aus ihm kommt, unendlichen Werth hat"; nur in solcher Vermittlung wird „die ,Subjectivität wahrhaft unendlich' und ,an und für sich'." 1 2 Dies gerade
12
Religionsphilos.
II, S. 312; vgl. Gesch. d. Philos. II, S. 429.
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macht auf der Seite der Ver-innerlichung die Leistung von Christentum und Reformation aus. Im Stoizismus dagegen wird das Subjekt in einer gesteigert selbstsicheren Weise das Entscheidende. „Indem die richtige Vernunft allein das Bestimmende des Handelns seyn soll, so giebt es eigentlich keine feste Bestimmung mehr. Das allgemeine Gesetz soll zur Richtschnur genommen werden. Alle Pflicht ist immer besonderer Inhalt; sie können freilich in allgemeiner Form gefaßt werden, das thut aber dem Inhalte nichts. Ein letztes entscheidendes Kriterium, was gut sey, kann nicht aufgestellt werden. Jeder Grundsatz ist gleich ein Besonderes; insofern der Grundsatz bestimmungslos ist, fällt die letzte Entscheidung in das Subjekt. Wie früher das Orakel das Entscheidende war, so ist bei dem Beginne dieser tieferen Innerlichkeit das Subjekt zum Entscheidenden des Rechts gemacht. ( . . . ) Bei den Stoikern fällt alle äußere Bestimmung weg ; das Entscheidende kann nur als ein Subjektives seyn, es entscheidet aus sich als letzte Instanz (Gewissen)." 13 Die „Hauptrevolution" auf dem Wege zur philosophischen Neuzeit ist also für Hegel mit der Reformation anzusetzen, erst „mit Luther begann die Freiheit des Geistes, im Kerne", und die Reformation bedeutet auch von der politischen, realgeschichtlichen Seite her (von der Seite der realen Selbstentwicklung des Weltgeistes) den entscheidenden Ubergang vom feudal verfaßten Mittelalter zur absoluten Monarchie und neuzeitlichen Staatenbildung. Das Prinzip der Reformation war die Schaffung der Individualität, das „Gelten des Subjektiven", welches dadurch wahre Subjektivität wird, daß es die höchste, und d. h. die religiöse Bewährung durch das religiös Absolute, durch Gott erfährt. Der lutherischen Unmittelbarkeit zu Gott im Glauben ist also in Hegels Sicht die Stufe echter Subjektivität zu verdanken, denn es ist damit sowohl der Mechanismus der Anerkennung erfüllt als auch die Verallgemeinerungswürdigkeit (über die bloße Einzelheit hinausgehend), d. h. die Möglichkeit zur .objektiven Sittlichkeit' gegeben. Diese „Versöhnung des Diesseits und Jenseits" auf der Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins, auf der gilt, daß die „Trennung des Selbstbewußtseyns ist an sich verschwunden, und darin die Möglichkeit gesetzt, versöhnt zu werden", war die im Christentum stets angelegte Leistung der Reformation. Diese hat dasjenige — um es in den Begriffen der PhG auszudrücken — Selbstbewußtsein geschaffen, das die „Wahrheit der Gewißheit seiner selbst" besitzt, d. h. sich nicht nur als entzweites, sondern als inneres und versöhntes Selbstbewußtsein erfährt. Mit dieser Höchstleistung ist aber 13
Gesch. d. Philos. II, S. 462.
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zugleich auch die Grenze der Reformation selbst erreicht, denn dieses wahre, innere, mit sich selbst versöhnte (Selbst)Bewußtsein strebt jetzt für Hegel auf seine nächst höhere Entwicklungsstufe: es geht aus sich heraus auf die Gegenstände der äußeren Wirklichkeit. „Insofern nun der Geist jetzt zum Erkennen fortgeht, zu geistigen Bestimmungen, sich umsieht, heraustritt in den Inhalt: so wird er sich darin verhalten als in seinem Eigenthum, und wesentlich darin behaupten wollen und haben das Seinige." 1 4 Hier setzt für Hegel — und damit hat er für den Bereich der Erkenntnistheorie die Konstitutionsproblematik der Frühen Neuzeit genau getroffen — die Leistung der ,Neueren Philosophie' ein. Diese Leistung aber, so müssen wir Hegels Uberbewertung der Reformation trotz aller Bezüge zur neuzeitlichen Entwicklung (schon früh betont etwa Petrus Ramus den direkten Zusammenhang von Reformation und entstehenden Wissenschaften) 15 entgegensetzen, hat ihren Ansatz nicht primär und ausschließlich in der Reformation, sondern in den naturphilosophischen, anthropologischen und ihrem Grundcharakter nach paganen Strömungen der Renaissancephilosophie, die ihrerseits nicht ohne die im Spätnominalismus aufbrechende rationale Wissenschaftlichkeit zu denken ist. Die Reformation holt für den Bereich der Theologie eine Entwicklung nach, die ihren Ausgang in den anderen Kultursphären bereits und gerade gegen die mittelalterliche Kirche und Theologie genommen hat. Allerdings geht der Theologe Luther sogleich zum Verteidigungsangriff über — er stellt das Individuelle und das Subjektive in bis dahin kaum gekannter Deutlichkeit heraus. Wenn etwa die katholische Kirche oftmals sagte, Erasmus ,habe das Ei gelegt, was Luther dann nur noch ausbrütete', so ist es dann aber gerade Luther, der die Humanität des feinsinnigen Erasmus mit all der ihm eigenen Wuchtigkeit zur geschichtlichen Wirkungslosigkeit verurteilte. Aber diese faktisch bestimmende Stellung der Reformation ist nicht gleichbedeutend mit der Stellung ihrer dogmatisch-theologischen Seite zur Struktur des neuzeitlichen Denkens; das liberum arbitrium des Erasmus ist dem Geist der Neuzeit verwandter als Luthers Verbindung von sola fide und servum arbitrium. So bietet z. B. die systematische Zusammengehörigkeit von Natur und Vernunft, wie sie originär der stoischen Philosophie zugehört und im Neustoizismus bewußt in einem vernunftaktiven Sinne erneuert wird, für das der beginnenden Neuzeit zentrale Problem des Ubergangs vom sich 14 15
Vgl. Gesch. d. Philos. III, S. 253-255, 266, 262; vgl. Philos, d. Gesch., Vgl. P. Ramus, Basilea, ad senatum populumque Basiliensem, (1571).
S. 519-548.
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selbst bewußten Bewußtsein auf die diesem Bewußtsein äußere Wirklichkeit eine viel direktere Basis als das durch die religiöse Absolutheit-Gott sich vermittelte Selbstbewußtsein der Reformation, das sich durch die Verortung der religiösen Heilsordnung in den menschlichen Geist zwar verendlicht, ver geschichtlicht, historisiert, aber immer nur in dem Sinne, daß es den Ubergang zur äußeren Wirklichkeit nicht als eigentliche Forderung und als Problem der geistigen Heilsordnung selbst kennt. Deshalb zeigt Hegel hier auch zu Recht die Grenze der Reformation auf. Anders der Stoizismus, er ist nicht nur bei der Genese des Selbstbewußtseins naturund weltverwickelter (sei es als Absonderung von der äußeren Wirklichkeit, sei es, daß er sich in den Gegenständen äußerer Wirklichkeit als denkendes Bewußtsein verhält), sondern der positive Bezug zu den Dingen äußerer Natur ist gerade das über die Konstitution des Selbstbewußtseins hinausragende Postulat. In einem sekundierenden Sinne haben Logik und Physik den Hauptbestandteil der stoischen Philosophie, die Ethik nämlich, und in deren Mitte wiederum das ,homologouménos (te physei) zen', das ,Ιη Übereinstimmung (mit der Natur) Leben', das ,vivere secundum naturam', zu füllen. Dies geschieht wesentlich mit Hilfe der sich im menschlichen Denken ereignenden und vollziehenden ,phantasia kataleptiké'. Wenn Hegel die Logik der Stoiker bespricht, weiß er, daß die ,begriffene Vorstellung* dort das Kriterium der Wahrheit bildet. „Diese ,begriffene Vorstellung', ,phantasía kataleptiké', ist das berühmte .Kriterium' der Wahrheit der Stoiker ( . . . ) der Maßstab und der Beurtheilungsgrund aller Wahrheit; was allerdings sehr formell ist." 1 6 Hegels Dialektik selbst soll identisch Denk- und Seinsdialektik sein, und in der spekulativen Logik ist gleichsam der Fall eingetreten, daß das Sein dem Philosophen Hegel die Hand führt. Die ,phantasía kataleptiké', die sich aus Vor-stellung und Begreifen, Erfassen zusammensetzende Größe der Stoiker, erscheint demgegenüber als eine Eingrenzung auf den Bereich des Denkens allgemein. Aber, und das gilt es gegen Hegel und die in seinem Gefolge stehenden Kritiken am Stoizismus an dieser Stelle festzuhalten, diese ,phantasía kataleptiké' will ihrem Wesen nach gerade nicht bloßer Rückzug, Selbstgenügsamkeit des Gedankens sein. Phantasia bedeutet nicht eine sich eingebildete Vorstellung, kein phántasma im Sinne etwa eines Traumbildes unabhängig vom realen Sein eines Objektes, sondern das Verursachende im Erkenntnisprozeß ist in einem durchaus materialistischen Sinne das Objekt selbst, das sich vermittels der Vor-stellung (seiner 16
Gesch.
d. Philos. II, S. 444.
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Realität, seines Vorhandenseins, seiner Eigentümlichkeiten, seiner Merkmale der Unterscheidung von allen anderen Objekten) nach den Worten des Kleanthes „wie ein Siegel mit Erhöhungen und Vertiefungen" im Pneuma der Seele ein- und abdrückt. 1 7 Das Problem besteht dann darin, daß die ,phantasia' nicht Einbildungskraft, sondern treffende, d.h. die Realitäts- und Wesensmerkmale des entsprechenden Objekts zutreffend erfassende, begriffene Vorstellung sein muß, denn sie präsentiert dem L o g o s gleichsam (sensualistisch) die Eindrücke, und es ist der Logos, der die Katalepsis, das Erfassen des Gegenstandes, als Leistung vollbringt, d. h. die Vorstellung vermöge seiner ,synkatáthesis' (Zustimmung) als wahr oder falsch prüft, beurteilt und anerkennt. Daß die ,phantasia' dabei selbst immer schon kataleptische Qualitäten haben muß, gab im Zuge des Intellektualismus Chrysipps die Möglichkeit, den Akzent vom logischen Erfassen (von der ,katálepsis') auf die kataleptische ,phantasia' selbst hin zu verlagern, wodurch die ,kataleptiké phantasía' (die über Cicero dann als ,com-prehensio' auftritt) zum entscheidenden Wahrheitskriterium wird. D a Hegel den Stoizismus unter den Gesichtspunkten (a) von dessen subjektivistischem Ansatz und (b) dessen abstraktem Denken des Gedankens (was zur Erlangung einer erfüllten Freiheit nach Hegels Ansicht nicht ausreicht, da die Verwirklichung, die äußere Seite der Freiheit fehlt) thematisiert, erscheint ihm auch die kataleptische Vorstellung hauptsächlich unter dem Blickwinkel der Katalepsis, der sich im Denken vollziehenden Erfassung des Objekts. Seine Kritik besteht im Kern wieder darin, der Stoa vorzuhalten, daß sie sich in ihren Gegenständen stets nur als denkendes Bewußtsein verhalte, was dazu führe, daß alle Gegenstände, in denen für das Bewußtsein dieses denkende Verhalten nicht möglich oder erschwert ist, als unwesentlich aus dem Kreise des Denkens ausgeschlossen werden, wodurch die reale Wirklichkeit ebenso auf sich gestellt und in sich entlassen wird wie das Bewußtsein sich als Denken des Gedankens auf sich selbst zurückgezogen hat. Hegel sieht nicht, daß die ,kataleptiké phantasía' der Stoiker stets das einander treffende Zusammengehen beider Momente gerade zur Aufgabe hat: die Erfassung der Wirklichkeit, Eigentümlichkeit und Unverwechselbarkeit des Objekts nämlich u n d die dazu notwendige (und die Autonomie des Logos verbürgende) Synkatathesis des erkennenden Subjekts. Bei der Behandlung des Verhältnisses von Stoa und Skepsis bei P. Charron haben wir gesehen, daß der gleichsam günstigste, weil identische Zusammenfall dieser beiden Seiten in dem besteht,
17
Stoic, vet. fragm.
II, 56; vgl. I, 66 Verbildlichung der Katalepsis bei Zenon.
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was die Stoiker als unmittelbare Evidenz fassen und was für sie das höchste Wahrheitskriterium darstellt. In der stoischen ,phantasia kataleptiké' ist also gerade jene übereinstimmende Zusammenkunft von Subjekt und Objekt gefordert, die auch Hegel am Herzen liegt, mit einem wesentlichen Unterschied allerdings, der Hegel selbst nicht in den Blick kommt, da er Stoa einseitig unter dem Gesichtspunkt des Denkens des Gedankens thematisiert. Die stoische Erkenntnislehre ist im Grunde materialistisch, d. h. der Erkenntnisvektor, die Richtung der Verursachung wird deutlich vom Objekt her gedacht, das sich mit all seiner Stofflichkeit, Wirklichkeit, Eigentümlichkeit und unverwechselbaren Eindeutigkeit auf dem Wege über die Sinne in das Seelenpneuma drängt, um dort vom Logos getroffen, erfaßt, begriffen zu werden. Die Leistung und die Autonomie des Logos bestehen nicht zuletzt darin, daß er in seiner Entfaltung (in und auf die Mannigfaltigkeit des Seins) sich mit den Wesenzügen der ihm als Stofflichkeit, als Materie, als Material vor-gestellten Objekte trifft und diese begrifflich faßt. Schematisiert und schon in Hegeischen Vorstellungen ausgedrückt könnte man den Unterschied etwa dergestalt fassen, daß für die Stoiker der Logos in einem autonomen Sinne zum Teil das Andere der Materie ist, während Hegels Bemühen darauf gerichtet ist, die Realität (sowohl der Natur als auch der Geschichte) als das Andere des Bewußtseins (als das Feld der Entfaltung des Geistes in die Mannigfaltigkeit der Erscheinung und der sich im Zuge der Bewußtwerdung seiner selbst vollziehenden Rückkehr des Geistes in sich selbst) aufzufassen und zu behandeln, um auf diese Weise Freiheit (und eine Reflexion auf das Subjekt) zu ermöglichen. Da der Logos der Stoiker universale Vernunft ist, er also sowohl (als menschliche Vernunftanlage) die methodische Ausbildung von Allgemeinbegriffen (communes notitiae; koinai énnoiai) ermöglicht und bewerkstelligt als auch in Gestalt der ,lógoi spermatikoì' an der Schöpfungsleistung der Weltvernunft (als die vielen schöpfenden Samen und Keime, die die zugrunde liegende Einheit in die Vielheit der Einzeldinge entfalten) und an der Selbsterhaltung (auf dem Wege der vernünftigen Naturgesetze) des Welttieres Kosmos wesentlich beteiligt ist, trifft der erfassende, begreifende Logos des Menschen in den Objekten seiner Erkenntnis auch immer etwas von sich selbst an. Dennoch aber steht er der Welt als äußerer Wirklichkeit, den Gegenständen der äußeren Natur, auch in einer beziehungslosen Weise gegenüber, denn das jhomologouménos zen' bedeutet für Zenon als ,In Obereinstimmung (der Vernunft) Leben' eine Entfaltung des Logos, das Gebot einer Entfaltung der Vernunft in Ubereinstimmung (Homologie) mit sich selbst und dem
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von ihr mitbestimmten Leben, noch unabhängig von den Gegenständen der äußeren Wirklichkeit. Diese Art der Entfaltung der Vernunft um ihrer selbst willen in einem aktiven Sinne steckt in der antiken Stoa einen Rahmen ab, der in doppelter Weise im Zusammenhang der neuzeitlichen Rationalität aktualisiert und weitergetrieben werden konnte. Zum einen tritt die Entfaltung der Vernunft um ihrer selbst willen im neuzeitlichen Zusammenhang in Gestalt und unter dem Postulat einer Erhaltung, einer Behauptung der Vernunft um ihrer selbst willen auf. Im und am Neustoizismus haben wir dann etwas von jenem Uberstieg herausstellen können, der von einer sich ihrer selbst als gefährdet bewußtwerdenden Vernunft hin zu einer (begrenzten) Formierung der einem ordnenden Zugriff zugänglichen Wirklichkeit erfolgt. Diese konstruierte Disziplinierung aus und als Vernunft zielt auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, die zwischenmenschlichen Beziehungen und auf die gesellschaftliche und politische Ordnung. Die individuumzentrierte, persönliche, gesellschaftliche und staatlich-politische Disziplinierung aus und als Vernunft, aufgrund des orthòs lògos, der recta ratio, der aufrechten und rechten Vernunft, haben wir innerhalb des Neustoizismus besonders bei Justus Lipsius angetroffen, und sie hat ihre politisch neuzeitliche Ausprägung in reiner Form dann bei Thomas Hobbes erhalten. Zum anderen scheint hier in der Logosphilosophie der Stoa schon ein Anknüpfungspunkt zur Uberwindung jener skeptischen Konsequenz der neuzeitlichen Vernunft zu liegen, die sich nach stattgehabter Konzentration der Vernunft auf den Menschen als Subjekt (wobei die menschliche Vernunft sich gegenüber der Welt als die entscheidende Maßgabe begreift und in Stellung bringt) einstellt. Die Leistung der menschlichen Vernunft muß aus ihrem Interesse an sich selbst heraus mehr sein als das bloße Zutagefördern von substantial in der Natur vorhandenen (kausalen) Naturgesetzen, denn wenn sich ihre Leistung darin erschöpft, so kann sie schwerlich Autonomie und Freiheit für sich beanspruchen, und sie unterläge damit in letzter Konsequenz der gleichen Naturdetermination. Die Vernunft muß sich der äußeren Wirklichkeit gegenüber in den Stand abstrahierender Auswahl, eigen-willentlicher Zusammensetzung der Momente eines ausgeschnittenen Wirklichkeitssektors, konstruierender Zusammenjochung der Teile setzen, kurz: sie muß der Natur (in Grenzen) ihre Gesetze vorschreiben können. Die Gesetze der Natur haben in diesem Sinne Gesetze der Vernunft zu sein, und genau dieser Umstand ist es, der dem Stoizismus als Möglichkeit grundsätzlich eignet und einen Anknüpfungspunkt für das neuzeitliche Denken ergibt. Zunächst eröffnet
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das Homologiegebot (als Ubereinstimmung der Vernunft mit sich selbst und dem von ihr mitbestimmten Leben) die Möglichkeit einer Konzentration auf das Interesse der Vernunft an ihr selbst, noch unabhängig von Dasein und Eigenart der äußeren Wirklichkeit. Diese Vernunft verlangt sodann aber auch nach Durchsetzung, nach (Ein)Bildung der Wirklichkeit ihrer Maßgabe gemäß, denn die mit sich selbst übereinstimmende Vernunft soll ja gerade auch das Leben bestimmen. Leben aber bedeutet und erfordert aus sich heraus stets auch Umgang mit Anderem und Anderen. Das ethische Ideal der Stoa (Apathie und Ataraxie) gründet zwar in der Gewißheit der Einsicht in die natur- und vernunftgesetzliche Ordnung des Ganzen, des Kosmos, aber dies bleibt stets auch eine Einsicht, die die menschliche Vernunft der Natur als Gewißheit allererst vorschreibt. Das ethische Ideal steckt den Rahmen und jene Grenze des Erkennens ab, von der her und auf die hin darüber entschieden wird, was überhaupt als ein zu erkennendes Etwas aufgefaßt wird und welches die der Vernunft zugestandenen Strategien sind. Die Axiologie legt in der Stoa so gesehen dasjenige vorgängig fest, was gnoseologisch möglich ist oder nicht. Vom ethischen Anliegen her erhalten Logik und Physik ihre Stellung und Funktion, wenngleich sie offiziell als die Grundlagen auch der Ethik ausgegeben werden. Diese axiologisch bestimmte menschliche Vernunft soll nicht nur erkennen, was ist, sie steht auch im Dienste dessen, was im praktischen Lebenszusammenhang sein soll, damit das ethische Anliegen zur Verwirklichung gelangt. Denn die Weisheit, die ,sophia', als Einsicht in die göttlichen und menschlichen Dinge, ist nur wenigen vorbehalten, während der bei weitem größte Teil der Menschen sich mit dem Trachten und Streben nach dieser ,sophia', mit der Philo-sophia zufrieden geben muß, die folglich allerdings kein theoretisches, sondern ein auf die praktische Lebensführung gerichtetes Wissen anstrebt. Das Leben und des näheren die Lebenskunst, die Lebenstechnik, bilden also die Maßgaben der Philosophie, und das ethische Ideal dieser Lebensführung steckt den Horizont ab, in dem etwas überhaupt als Natur erscheint und thematisch werden kann. Ein , Leben in Übereinstimmung mit der Natur' setzt immer schon eine vorgängige Auslegung dessen, was als Natur gelten soll, voraus. Indem sich also in praktischer wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Kreis von Erfassung des Logos durch das Objekt und Erfassung des Objekts durch das (vernünftig) erkennende Subjekt als vom ethischen Ideal der Stoa her bestimmt erweist, kehren wir wieder zur Frage der Subjektivität zurück, und es scheint, als treffe Hegel den Kern der Sache, wenn er kritisch formuliert: „ D a s Wahre des Gegenstandes selbst ist darin enthalten, daß
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dieses Gegenständliche dem Denken entspricht, nicht das Denken dem Gegenstande." 1 8 Betrachten wir die reine Erkenntnislehre der Stoiker (und sie hat Hegel in diesem Zusammenhang im Blick), so gibt, wie wir gesehen haben, Hegel die Position der Stoiker nicht richtig wieder, denn dort bringt gerade das Objekt sich mit all seiner Materialität und Eigentümlichkeit vor den Logos, um von diesem anerkannt, erfaßt, begriffen zu werden. Erst wenn wir die Überlegung hinzuziehen, daß das ethische Ideal die Maßgabe auch für Logik und Physik bildet (eine Überlegung, die Hegel selbst nicht vollzieht, weshalb seine Behandlung der Stoiker allein unter subjektivistischem Gesichtspunkt eine ungerechtfertigte Reduzierung bleibt), erst dann ist den Hegeischen Formulierungen zutreffender Sinn abzugewinnen. Die Stoiker selbst haben diesem Zusammenhang schon Ausdruck gegeben, wenn sie etwa das Bild des Gartens heranzogen, bei dem die Mauer der Logik, die Bäume der Physik und die Früchte der Ethik entsprechen. 19 Wenn die stoische ,phantasia' zugleich ,katálepsis' ermöglicht (oder auch selbst immer schon ist), so gelangt sie bei aller Unterschiedenheit in eine affinitive Nähe dessen, was Goethe einmal als die für jeden Erkenntnisvorgang der Natur notwendige Einbildungskraft herausstellt. Hier klingt zugleich an, in welcher Weise gerade in der phantasía kataleptiké Möglichkeiten liegen, auch utopische Gehalte in einem präzisen Sinne an-zutreffen und zu verwirklichen, in welchem Sinne ein Übergang von der Metaphysik als der Lehre von dem, was ontologisch ist, zur Utopie als einer präzisen Phantasie von dem, was sein soll, vorzustellen wäre, in welchem Sinne etwa Zukunft, das Gute und das Rechte genau phantasiert werden könnten. Goethe schreibt: „Im Grunde ist ohne diese hohe Gabe ein wirklich großer Naturforscher gar nicht zu denken. Und zwar meine ich nicht eine Einbildungskraft, die ins Vage geht und sich Dinge imaginiert, die nicht existieren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt und mit dem Maßstab des Wirklichen und Erkannten zu geahndeten, vermuteten Dingen schreitet. Da mag sie denn prüfen, ob denn dieses Geahndete auch möglich sei und ob es nicht in Widerspruch mit anderen bewußten Gesetzen komme. Eine solche Einbildungskraft setzt aber freilich einen weiten ruhigen Kopf voraus, dem eine große Ubersicht der lebendigen Welt und ihrer Gesetze zu Gebote steht." 2 0
18 19 20
Gesch. d. Philos. II, S. 447. Vgl. Stoic, vet. fragm. II, 49; 38. Goethe zu Eckermann am 27. Jan. 1830.
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„ D a s Entscheidende kann nur als ein Subjektives sein", dieser von Hegel am Stoizismus diagnostizierte Umstand und Anlaß stärkster Kritik bedeutet natürlich eine Strategie, die dem Geist der Goethezeit (bei all deren Betonung der Individualität) widerstrebt, in der das Individuum an sein höchstes Gut durch ein Absolutes, objektiviert betrachtet: durch Gesellschaft und Staat, vermittelt wird. Gerade die im Stoizismus proklamierte „subjektive Sittlichkeit" kann Hegel nicht ertragen. 2 1 Was er will, ist eine von der Gesamtheit, vom Ganzen her gedachte Sittlichkeit des Subjektes, des Individuums. Er will das sittliche Individuum, nicht aber die individuelle Sittlichkeit. Hegel behauptet, daß der Stoizismus dem Individuum keine Glückseligkeit vermitteln könne, da er die Einzelheit gar nicht erreiche, weil er einerseits nur das allgemeine Denken überhaupt ist, und weil er andererseits so subjektiv ist, daß er das einzelne Subjekt nicht überschreiten könne. Auch der Angriff auf die stoische Subjektivität muß aus den Hegeischen Voraussetzungen selbst verstanden werden. Für Hegel muß das Absolute Subjekt sein (und hier liegt das idealistische Ich beschlossen), um auch das Einzelne als Einzelheit in den Status zu setzen, volle und das Ganze in sich aufnehmende Partikularität zu sein. 2 2 Der umgekehrte Weg (d. h. derjenige von der subjektiven Sittlichkeit, dem individuellen Subjekt, auch vom Weisen her, der durch sich selbst vermittelt Vernunft realisiert) ist verfehlt. Für Hegel ist Freiheit nur denkbar, wenn (a) der Natur und der Geschichte ein übermenschliches (Geschichts)Subjekt, der sich an Raum und in Zeit entäußernde (absolute) Geist zugrunde liegt. Von der Weltgeschichte sagt Hegel folglich, „daß sie die Darstellung des Geistes sei, wie er zum Wissen dessen zu kommen sich erarbeitet, was er an sich ist." Geschichte ist damit vorrangig Sich-SelbstBewußtwerdung des übermenschlichen Geschichts-Subjekts, des Geistes selbst, und diese Ubermenschlichkeit der in der Ordnung der Natur (dem natürlichen Universum') und der Ordnung des Wollens (dem ,geistigen Universum'), der Weltgeschichte, waltenden Vernunft besteht darin, daß, im Unterschied zum endlichen Tun, diese Vernunft tatsächlich allmächtig ist, d. h. „sie zehrt aus sich und ist sich selbst das Material, das sie verarbeitet." 2 3 Die Vernunft der Geschichte hat also den Charakter eines
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Vgl. Gesch. d. Philos. II, S. 462, 464. Vgl. Vorrede zur PhG, S. 19—21. (A) Die Substanz ebenso sehr als Subjekt zu denken und (B) das Resultat zusammen mit seinem Werden als die Wahrheit aufzufassen, beides, um Freiheit zu ermöglichen, dies macht die Grundproblematik Hegeischen Philosophierens aus. Vgl. Die Vernunft in d. Gesch., S. 6 1 - 6 2 , 29.
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unendlichen Subjekts, d. h. dadurch daß sie einen Entwurf denkt, ist er unmittelbar wirklich. Weiterhin ist Freiheit für Hegel nur denkbar, wenn (b) dieser (absolute) Geist mit dem endlichen Geist übereinstimmt, Geschichte also kein Naturprozeß, sondern ein Weltprozeß, d. h. ein Prozeß durch die endlichen Geister hindurch ist. Hegel benötigt also das Absolute als Subjekt, um Freiheit auch eines endlichen Geistes denken zu können. Stellen wir einmal die Überlegung zurück, daß sich der Stoizismus die Dimension der Geschichte, wie sie uns bei Hegel entgegentritt, noch gar nicht erschlossen hat (und es dafür auch grundsätzliche Hindernisse gibt), so kann doch gesagt werden, daß es für Hegel keinen gangbaren Weg bedeutet (weder für den Einzelnen, den endlichen Geist, noch für das Ganze), das Individuum selbst absolut in den Status der Entscheidung zu setzen. Für ihn, Hegel, ist zwar das Absolute ohne die subjektive Tätigkeit des endlichen menschlichen Geistes nicht denkbar und dazu verurteilt, das ,leblose Einsame' zu sein, gleichsam in seiner eigenen, dumpfen, noch unentfalteten (noch nicht in die konkrete Mannigfaltigkeit der Ordnungen von Natur und Geschichte entfalteten) Unbewußtheit seiner selbst und ohne Rückkehr in sich, ohne die „sich wiederherstellende' Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst", d. h. ohne dasjenige zu verbleiben, was allein als das Wahre gilt. 24 Das Absolute kommt ohne seinen Vollzug in den endlichen Geistern nicht zu sich selbst; ohne deren Zutun wäre es zur Nichtigkeit verurteilt — ganz im Sinne jenes Aphorismus von Angelus Silesius: „Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein N u kann leben, würd ich zu nicht, ich glaub, er müßt vor Not den Geist aufgeben." Aber dies alles bedeutet für Hegel keineswegs, daß der endliche Geist diese Entscheidung letztlich allein in der Hand hält. Nach Hegel kann der menschliche, der endliche Geist auf dieses Absolute aus seinem eigenen Interesse heraus nicht verzichten, denn die Selbstwerdung des absoluten Geistes soll sich ja gerade durch und als selbstbewußte Freiheit der endlichen Geister vollziehen und dort auch terminieren. Aber der endliche Mensch ist deshalb nicht das wahre Subjectum, das der Welt in letzter Instanz vorschreibt, wie sie zu sein hat. Für Hegel erfolgt die Vermittlung an das höchste Gut gerade auch des Partikularen, des Individuellen über das Ganze, das Allgemeine. Er versucht, eine Verbindung herzustellen zwischen der liberalen Vorstellung eines autonomen und wesentlich durch seinen Willen Freiheit habenden Ich und dem aristote-
24
PbG, S. 20; vgl. den Schluß der PbG, S. 564 (das leblose Einsame).
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lischen Polisgedanken, demzufolge Glück (in Hegels Philosophie nimmt der Gedanke der Freiheit systematisch diejenige Stellung ein, die bei Aristoteles das Glück innehatte) für den Einzelnen nur in einem wesenhaften Innestehen im Ganzen der Polisordnung möglich ist. Hegel vermag sich nicht vorzustellen, daß es eine auf Universalität hingeordnete subjektive Sittlichkeit geben könnte, die keineswegs Atomisierung und Kampf aller gegen alle Sittlichkeitspositionen bedeuten muß, und deren Ausgleichung und Gemeinsames keineswegs nur im Sinne der Hobbesschen Vertragsnaturen denkbar ist. Dies erklärt sich zum guten Teil aus der Ansicht Hegels, daß die liberale Konzeption eines autonomen Ich zu einer wahren Freiheit und Ich-Identität als Ubereinstimmung von innerer, äußerer und gesellschaftlicher Natur gar nicht gelangen könne, da ihre Freiheit letztlich diejenige der sophistischen Willkür ist. So gesehen thematisiert Hegel also den Stoizismus als eine Bewußtseinsform gerade der Neuzeit, eben schon im kritischen Zusammenhang der Metaphysik der neuzeitlichen Subjektivität. Dieser Umstand liefert zwar indirekt einen Beweis für die Bedeutung des Stoizismus im neuzeitlichen Denken, verbaut Hegel aber zugleich den Blick auf den originär stoischen Zusammenhang von menschlicher Subjektivität und verbindlich Allgemeinem, eine Dimension, die allerdings auch gerade im Neustoizismus nur streng nach der einen Seite hin aktualisiert wurde. Wenn dem Stoizismus auch eine subjektive Sittlichkeit eigen ist, so gilt es doch klar zu sehen, daß dieses Sittliche als höchstes Gut des und für den Menschen in der Natur des Menschen in der Weise als allgemein verbindlich angelegt und aufgegeben ist (und in keinem Falle bedeutet stoische Sittlichkeit so etwas wie nachträglichen Konsens), daß das Sittlichgute, das Sittliche mit der dem Menschen im ,homologouménos zen' aufgegebenen Entfaltung und Vollendung der Vernunft identisch ist. Ein stoisches Leben des Logos bedeutet identisch ein Leben der Sittlichkeit. Dieses Leben ist nicht auf die Einzelpolis, sondern auf die Kosmopolis gerichtet, auf einen Zusammenhang also, der gerade durch eine Gesetzlichkeit, durch einen Nomos bestimmt ist, der als Naturrecht (d.h. als Natur- und Vernunftgesetz) in einem der Welt endogenen, immanenten Sinne alle Menschen in gleicher Weise an die Gerechtigkeit bindet, denn dieses Naturrecht ist identisch Gerechtigkeit. So ist im Subjektiven der stoischen Ethik das weltbürgerliche Allgemeine gerade intendiert. Was allerdings fehlt — und gerade dies ist Hegels Problem und Anliegen — ist eine verbindliche Einheit in Gestalt einer gleichsam objektiven politischen Ordnung (und deren Nomos) zwischen den beiden Extremen, dem Subjektiven des endlichen Menschen
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und dem Allgemeinen der Kosmopolis. 25 Aus der Ablehnung des Subjektiven als Entscheidendem, als demjenigen, was nur sich selbst vermittelt die letzt eigentliche Entscheidung fällt, gilt es auch die Behandlung zu verstehen, die der stoische Weise bei Hegel erfährt. 26 Der Vorwurf der abstrakten Freiheit, der abstrakten Unabhängigkeit, ist durchhaltend und kulminiert — und dies ist für die Hegeische Perspektive auf den Stoizismus charakteristisch — in der Feststellung, daß der Stoizismus keine „objektive Sittlichkeit" erreichen könne. Da die Stoiker die Ubereinstimmung von Vernünftigkeit und Dasein nicht erreichen, erreichen sie auch „nicht das, was wir als objektive Sittlichkeit, Rechtlichkeit ausdrücken können"; gegen die Stoiker muß eingewandt werden: „Ihre sittliche Realität ist nur der Weise, ein Ideal, nicht eine Realität", ihre Sittlichkeit bleibt subjektiv. Im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Natur und Vernunft im Neustoizismus haben wir sehen können, in welcher Weise der Neustoizismus in den Kontext neuzeitlichen Denkens gehört. In gewisser Weise ist er sogar schon mit einer Vorstellung behaftet, die sowohl das antike Erbe des Stoizismus als auch eine die streng mechanistische Ausrichtung der Neuzeit bereits über sich hinaustreibende Position in sich vereinigt. Dies wird später etwa daran deutlich, daß der gegen die mechanistische Natursicht des neuzeitlichen Newton (besonders der Farbenlehre) mit den Argumenten einer schöpferischen Naturlehre streitende Goethe in eine Tradition stoischen naturphilosophischen Denkens zu bringen ist. Im Neustoizismus wird der universale, die Gesamtheit der Welt durchwirkende und generativ erhaltende Logos der Antike, die seiende Vernunft, zwar nicht aufgelöst, aber in einer gewissen selbstbewußten Schrumpfung hin auf eine Art präcartesianisches cogito, auf eine Akzentuierung des menschlichen Bewußtseins hin verändert. Hier zeigt sich eine Strategie der Versöhnung von universaler, seiender Vernunft (der 25
26
Für Hegel gilt die wechselseitige Abfolge: Absoluter Geist, Weltgeist, objektiver Geist, Volksgeister, endliche, individuelle Geister. Dabei ist für alle Erscheinungsformen das Hinausgehen über den status quo und die Rückkehr in sich charakteristisch, ausgenommen die Volksgeister, die ihre Wiederkehr nicht in sich, sondern im Weltgeist haben. Die Hegeische Kritik an einem unvermittelten Sprung vom Einzelnen zum Allgemeinen nimmt E. Bloch auf, wenn er in Das Prinzip Hoffnung, Ausg. Frankfurt a. M. 1973, Bd. I, S. 304—305, im Zusammenhang der Feuerbach-Thesen von Marx die anthropologische Position Feuerbachs als Neustoizismus charakterisiert. Feuerbach schlage einen „hohlen Bogen zwischen einzelnem Individuum und abstraktem Humanum (unter Auslassung der Gesellschaft)." Für Bloch wird Marx gleichsam zu einem Anti-Neustoiker par excellence. Vgl. Gesch. d. Philos. II, S. 4 6 3 - 4 7 2 .
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sich die Struktur der Wirklichkeit verdankt) und menschlichem Bewußtsein (dem die Welt, die äußere Wirklichkeit zunächst als unterschieden und fremd gegenüber steht), die von der Überzeugung getragen ist, daß sich gerade in der menschlichen Natur und Vernunft die seiende Vernunft am herausragendsten manifestiert. Folglich ist primär nicht mehr von der Naturphilosophie, sondern von der Bewußtseinsphilosophie auszugehen, und es scheint von hier aus eine legitime Konsequenz zu sein, wenn auch der Aspekt der Universalität des seienden Logos auf die subjektive Menschenvernunft übergeht. Hegels Bemühen der PhG ist auf das gleiche Versöhnungsziel gerichtet. Aber — und hier liegt die wichtige Unterscheidung — diese vollzieht sich aus der Perspektive des (Selbst)Bewußtseins hin auf die äußere Wirklichkeit, vermittelt durch die Geschichte der Erfahrung des Geistes an sich und seiner selbst. Auf diesem Wege soll die reale Welt dem Bewußtsein als eigentlich nicht mehr fremd, sondern als das Andere des Bewußtseins selbst ausgewiesen werden. Die begrenzte Sicht Hegels auf den Stoizismus läßt ihn solche Zielaffinität der Versöhnung nicht erkennen, ja der systematische Ort, den er der Stoa zuweist, läßt eine solche Perspektive gar nicht zu. Darüber hinaus bleibt aber doch zu betonen, daß es einen entscheidenden Unterschied macht, ob man solche Versöhnung aus der Perspektive einer universalen seienden Vernunft (der Stoizismus gelangt von hier zur entscheidenden Stellung des Individuums, ja letztlich legt die menschliche Vernunft in einem subjektiven Sinne fest, was überhaupt als universale Vernunft, als schöpfende Weltvernunft zu gelten hat) oder aus dem Blickwinkel des menschlichen Bewußtseins (Hegel gelangt von hier zur Konstruktion des Absoluten als Subjekt, wobei in letzter Instanz trotz aller Notwendigkeit der endlichen Geister für die Selbstwerdung und Verwirklichung des Weltgeistes das Absolute das wahre Subjectum ist) vornimmt. Es scheint, als erfahre die Stellung des Menschen in und zur Welt im Falle der Übertragung ursprünglich universal seiender und/oder göttlicher Bestimmungen und Attribute auf den Menschen eine höhere Wertigkeit und Bedeutung als in dem anderen Falle, wo nämlich das Denken von den Selbsterfahrungen des endlichen Menschen ausgeht und schließlich zu notwendig vorauszusetzenden Absolutheiten gelangt, die den ursprünglich menschlichen Ausgangspunkt verschwinden lassen. Wenn das neuzeitliche Individuum sich also den (absoluten) Willen des spätscholastischen Gottes auf dem Wege der Säkularisierung vindiziert und sogleich gegen diesen Gott selbst herausstreitet und behauptet, so hat dies unter Umständen eine größere und freisetzendere Bedeutung für den Menschen als wenn dieser
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gänzlich bei sich anfängt und zu seiner Verwirklichung schließlich auf ihn erst ermöglichende und bestimmende Absolutheiten ausgreifen muß. Vielleicht ist Nietzsche in diesem Sinne ein herausragendes und die neuzeitliche Entwicklung zugleich an ihr Ende treibendes Beispiel, denn seine Bestimmung der ,freien Geister' und des ,Willen zur Macht' überträgt letztlich die Absolutheit des christlichen Gottes (wie sie besonders in der Spätscholastik und dann wieder im Luthertum herausgestellt wurde) auf den Menschen und sieht deren Funktion wesenszugleich damit gerade in der alle Werte umwertenden Wende gegen dieses Christentum (und den hinter ihm stehenden Piatonismus, denn Christentum ist für Nietzsche nichts anderes als „Piatonismus fürs ,Volk'") und gegen den christlichen Gott. Die absolute Subjektivität des Gottes provoziert gleichsam die absolute Subjektivität der einzelnen Menschennatur, und bei Nietzsche gelangt der Gedanke der neuzeitlichen Subjektivität insofern bereits an sein Ende, als er dort eine derartige Überhöhung erfährt, daß er schon ins Grundlose herabzusinken beginnt. In der Perspektive der Immanentisierung und Subjektivierung ursprünglich universal seiender Bestimmungen und Attribute gehört der erneuerte Stoizismus in den anfänglichen Zusammenhang der neuzeitlichen Subjektivität, und wenn Hegel den Grundsatz der Stoiker ablehnt, daß das ,Entscheidende nur als Subjektives sein kann', so wird damit deutlich, daß er, Hegel, bereits gegen einen verabsolutierten Typus neuzeitlicher Subjektivität und Rationalität steht. Hegel thematisiert einen Stoizismus, der bereits im Zusammenhang der neuzeitlichen Rationalität und Subjektivität steht. So sieht er nicht, daß sein eigenes Anliegen mit demjenigen der Stoa manchen Berührungspunkt hat. In der Erkenntnislehre ζ. B. hat der Stoizismus durchaus etwas von dem, was unter ,geistigem' Vorzeichen auch das Ziel Hegels ist, und was Goethe im Wilhelm Meister einzufangen und als Ziel zu etablieren sucht, wenn er schreibt: „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an." Hegels Beweisgang in der PhG bezüglich des Verhältnisses von Bewußtsein/Denken und Welt geht dabei sowohl über die transzendentale Deduktion Kants (d. h. über die Emanation der Kategorien des Verstandes) als auch über die emphatische und ihr Interesse ausschließlich an ihr selbst habende Freiheit bei Fichte hinsichtlich einer aktiven Einbeziehung der äußeren Wirklichkeit, der Natur im Sinne einer Gegenspielers, hinaus. Wenn wir dies sagen können, so müssen wir auch festhalten, daß Hegel im Abschnitt über den
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Stoizismus in der PhG nicht nur Kants Ethik der Moralität, sondern auch die Freiheitskonzeption Fichtes im Auge hat, und das Bild der Stoa in der PhG ist von diesen zeitgenössischen Fragen entscheidend bestimmt. (Kants Gedanke des kategorischen Imperativs der Pflicht steht dem stoischen Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit offensichtlich recht nahe. Die aus vernünftiger Einsicht in das Sittlichgute resultierende Tugend und Glückseligkeit wird für die Stoiker dadurch erreicht, daß der Mensch in Ubereinstimmung mit dem Vernunftgesetz sowohl der universalen Weltordnung als auch der individuellen Menschennatur lebt. Der Kantische Imperativ rückt den Menschen in ähnlicher Weise in die Stellung, zugleich Subjekt und Objekt der Sittlichkeit zu sein, in deren Erfüllung der Mensch auch seiner subjektiven Glückseligkeit versichert sein kann — wenn diese auch nicht wie bei den Stoikern mit der Tugend identisch ist). Es fehlt Hegel zufolge die wirkliche Vermittlung zwischen der rein subjektiven Bestimmung von Freiheit einerseits und dem reinen und abstrakt Allgemeinen der Freiheit des Gedankens andererseits; es fehlt die objektive Ordnung der Freiheit und der Sittlichkeit. „Der Eigensinn ist die Freiheit, die an eine Einzelheit sich befestigt und .innerhalb' der Knechtschaft steht, der Stoizismus aber die Freiheit, welche unmittelbar immer aus ihr her und in die ,reine Allgemeinheit' des Gedankens zurückkommt; als allgemeine Form des Weltgeistes nur in der Zeit einer allgemeinen Furcht und Knechtschaft, aber auch einer allgemeinen Bildung auftreten konnte, welche das Bilden bis zum Denken gesteigert hatte." 27 (Man beachte den Gleichklang mit dem Schluß des Goethezitates!) Ohne hier mögliche Bezüge zwischen einem authentischen Stoizismus und Hegelscher Philosophie thematisieren zu wollen (zu erinnern wäre etwa an die grundsätzliche Stellung der Vernunft, auch an die Bestimmung von Freiheit und Notwendigkeit in der Logik), sei doch ein Blick auf die für Hegel wie für die Stoa an systematisch zentraler Stelle auftretende Todesproblematik geworfen. Für das selbständige Bewußtsein (und damit für die Freiheit überhaupt) ist die Todesfurcht, „die Furcht des Todes, des absoluten Herrn", im Kern konstitutiv. Bei Hegel ist gerade diese tiefste Furcht, dieses „absolute Flüssigwerden alles Bestehens" der entscheidende Punkt, an dem das Bewußtsein sein Fürsichsein als Wahrheit erfährt. „Diese reine allgemeine Bewegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens ist aber das einfache Wesen des Selbstbewußtseins, die absolute Negativität, ,das reine Fürsichsein', das hiermit ,an' diesem Bewußtsein 27
PhG, S. 153; Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre,
Hamburger Ausg. Bd. 8, S. 302.
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i s t . " 2 8 Überspitzt formuliert gäbe es nach Hegel ohne Todesfurcht gar kein wahres Selbstbewußtsein. Was die Haltung der Stoiker zur Todesfrage betrifft, so wäre es verfehlt, sie als Ausdruck von Schwäche und als Flucht aus einer erdrückenden Welt zu deuten. Gerade im Verhältnis des Menschen zum Tode liegt auch für den Stoiker das Moment vollständiger Freiheit beschlossen, zunächst aufgrund seiner Todesverachtung, sodann aber auch aufgrund der Entscheidungsfreiheit gegen ein schicksalhaftes Dasein für den Freitod, den Selbstmord. (Wir erinnern uns, daß die Möglichkeit des Selbstmordes im Neustoizismus abgelehnt wurde, was dort eine Steigerung der kämpferischen Innerweltlichkeit und eine bewußte Übernahme der Todesfurcht bedeutete.) Was die daseinsbewältigende Leistung der Stoa betrifft, so liegt diese gerade in ihrem Bemühen, dem Menschen (und zwar als vereinzeltem, betroffenem Individuum) gegenüber T o d und Schicksal den Mut zum Sein (P. Tillich) einzustiften. Wollte man den Abschnitt der PhG über das Selbstbewußtsein historisch analogisierend lesen, so wäre für die Abfolge von Stoizismus, Skeptizismus und unglücklichem Bewußtsein wohl hellenistische Antike/Spätantike und beginnendes sowie mittelalterliches Christentum zu setzen. Wir erwähnen diese Möglichkeit, um (zusammen mit der Erinnerung an die Zentralstellung der Reformation) nochmals zu verdeutlichen, daß Hegel so etwas wie einen geschiehtswirksamen Neustoizismus in seiner Systematik nicht kennt. Hegel unterschlägt — und das ist ein Mangel gerade auch seiner eigenen Philosophie der Geschichte — die Geschichtswirksamkeit der stoischen Bewußtseins-, Auslegungs- und Verhaltensmuster. Wie sehr aber diese für das Handlungsethos bestimmend, für die Lebensgestaltung leitend sein können und im Entstehungszusammenhang der Frühen Neuzeit auch gewesen sind, wie sehr gerade sie zu einer Ausbreitung in alle Lebensbereiche gelangen, dies zu zeigen, war eines der Grundanliegen unserer Darlegungen. Für Hegel gibt es lediglich eine Parallele zwischen dem Auftreten des Stoizismus und dem Erscheinen der abstrakten Persönlichkeit im römischen Privatrecht. 2 9 Aber schon allein dessen Wirkungsgeschichte hätte eine historische Perspektive eröffnen müssen, noch unabhängig von der Tatsache, daß die Stoa in der Antike für etwa acht Jahrhunderte eine der bestimmendsten philosophischen Richtungen war und außer ihrer expliziten Erneuerung im 16. Jahrhundert auch sonst in der Philosophie-Geschichte eine durchgehende
28 29
PhG, S. 148. Vgl. PhG, S. 343.
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und bedeutsame Tradition bis heute gefunden hat. Eine für die Frühe Neuzeit entscheidende Verschärfung der Geschichtswirksamkeit des erneuerten Stoizismus ist in dem Umstand zu sehen, daß er die handlungsorientierende, das Handlungsethos bestimmende und die Weltsicht tragende Anschauung der kulturell und politisch zu Beginn der Neuzeit bedeutsamen Schicht des Bildungs- und Besitzbürgertums wurde. In Frankreich läßt sich dabei innerhalb der .noblesse de robe', innerhalb der Magistratur eine nochmalige Präzisierung zu einer politischen Gruppierung ausmachen, zu der für die königliche Machtstellung während und nach den Wirren des Bürgerkrieges so bedeutsamen Partei der ,Politiques'. Eine solch formierende Kraft wie sie die neustoische Bewegung im Rahmen der Frühen Neuzeit darstellt, hat Hegel nicht gesehen. Im Gegenteil, die frührationalistischen Bemühungen in dieser Richtung sowie die gesamte Philosophie der Renaissance finden, wie wir gesehen haben, keine oder eine nur sehr abschätzige Würdigung. Hegel betrachtet das Problemfeld Mensch und Geschichte vorwiegend aus der Perspektive des selbstwerdenden Weltgeistes. Die Menschen sind so gesehen letztlich Werkzeuge in dessen Diensten, und die mögliche Differenz zwischen menschlicher Existenz und Geschichte wird mit Hilfe der ,List der Vernunft' zugunsten des Weltgeistes eingeschliffen. Wenn das ,,,Ziel', das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist" erreicht ist, wenn also Geschichte und Wissenschaft in Einheit treten als „begriffene Geschichte", dann wird ersichtlich, daß alle bisherige Wissenschaft wie auch alle bisherige Geschichte „die Schädelstätte des absoluten Geistes" bilden. 30 Weiterhin ist das sich im Durchgang durch die Geschichte selbst herausfördernde, herausproduzierende Absolute das eigentliche Subjekt schon von Anfang an. Aus diesen beiden Gründen kann Hegel die historische Funktion des Stoizismus nicht zureichend deuten, denn diese liegt gerade in dem krisenhaften Vertrauensschwund an die agierende Kraft eines solchen Absoluten, liegt gerade im Verwiesensein auf die eigene Kraft, auf das Subjekthafte im eigenen Selbst, im Gegenzug zu einer als kontingent oder auch als absolut (etwa in der Erfahrung einer absoluten Theologie-Philosophie oder auch eines politischen Absolutismus) erfahrenen Wirklichkeit und Welt. Hegel thematisiert insofern ungeschichtlich, als er den Stoizismus nur als zu überholende Etappe einer fortschreitenden Bewegung des Geistes sieht, die im sich selbst wissenden Geist absolut terminiert und von diesem Endpunkte her stets auch schon 30
PhG, S. 564.
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bestimmt und auf ihn gerichtet ist (wenngleich die Möglichkeit des Scheiterns der Geschichte nicht ausgeschlossen wird). Er thematisiert Stoizismus also wesentlich im Zusammenhang seiner eigenen, Hegels, fortschreitenden Entwicklung des Geistes, nicht aber sieht und beachtet er den geschichtlichen Zeit- und Sachzusammenhang und innerhalb dieses Zusammenhangs wiederum besonders das Was und Wen gegenüber denen sich Stoizismus herausbildet, behauptet und durchzusetzen sucht. Gemessen wird letztlich am absoluten Geist und auf der Strecke bleibt dabei der jeweils geschichtlich bestimmte Behauptungszusammenhang der stoischen Bewußtseinsform. (In einer ähnlich ungeschichtlichen Vereinseitigung steht später etwa auch Nietzsches scharfe Haltung gegenüber Spinoza oder der Stoa.) Hegel entgehen dadurch die spezifischen Leistungen des Stoizismus, die er in besonderer (weil schon im Zusammenhang der auch ihn gerade bedrängenden Neuzeit stehenden) Weise am Neustoizismus hätte erfahren können, den er als Zeitströmung jedoch nicht sieht. Wollten wir an diesem Punkt in verkehrter Weise in die Vorstellungswelt der PhG zurückkehren, so ließe sich hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Geschichte (ein Verhältnis, das der antike Stoizismus ja in dieser Form noch gar nicht kannte) unter Herausstellung der menschlichen Daseinssorge sagen, daß der Neustoizismus einen neuzeitlichen Versuch einer Hemmung darstellt, die gegen die auf den Menschen als ihr Material zielende Begierde der Geschichte gerichtet ist, d. h. der Neustoizismus bedeutet eine gegen die Geschichte gerichtete selbstbehauptende ,Arbeit'. Hemmung also und damit zugleich Selbstbehauptung gegenüber einer Geschichte und einer Natur, die in Gestalt der Bürgerkriege, des Ordnungsschwundes und der Naturkatastrophen den Menschen zu nichten drohen. Indem der Mensch sein eigenes Ich, die zwischenmenschlichen Beziehungen und den gesellschaftlich-politischen Bereich vermittels einer rationalen Disziplinierung in einen Zustand willentlicher Ordnung und Organisation bringt, zwingt er zugleich die (hinter allem sich wandelnden und den Menschen bedrohenden Geschehen stehende) Macht (des Schicksals, der Gottheit, der Natur) implizite in ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung zum Menschen. Die neustoische Tugend der Constantia meint Einfügung und Selbstbehauptung in einem, und der Neustoizismus weiß, daß man sich über die unmittelbar bedrängende Natur nur dann erheben kann, wenn man sich dem Nomos dieser Natur auch gehorsam einordnet. Indem der Mensch sich also der Natur einordnet, ergibt sich für ihn sogleich die Möglichkeit, sich über sie zu erheben. „Natura enim non nisi parendo vincitur" (F. Bacon). Dabei sind Disziplinierung und
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rationale Konstruktion die vom Menschen aufzubringenden Leistungen, um im Interesse des Menschen an seiner Selbsterhaltung und seiner Selbstbehauptung gleichsam den Ubergang von der Ordnung der Begierde zur Ordnung der Anerkennung zu bewerkstelligen. Natur und Geschichte sollen der Intention nach in einen den Menschen anerkennenderen Zusammenhang gezwungen werden. Schließlich aber geschieht im Stoizismus etwas, was aus dieser Hegeischen Vorstellung herausfällt. Da sich die Entfaltung der Vernunft im , homologouménos zen' zunächst noch unabhängig von dem Dasein der äußeren Wirklichkeit vollzieht (eben als Entfaltung der Vernunft als Vernunft, als ein ,In Ubereinstimmung der Vernunft Leben'), handelt es sich letztlich gerade nicht, wie wir gesehen haben, um einen Zusammenhang der Anerkennung, sondern das Subjektive wird das in letzter Instanz, und d. h. das als axiologische Instanz Entscheidende. Die Einsicht in den rationalen und positiv menschenbezogenen Grundcharakter allen schicksalhaften Geschehens zwingt ineins den Menschen in sein Schicksal und das Schicksal in den Zusammenhang einer Rationalität und eines Anthropozentrismus, gibt also auch einen Maßstab frei, auf den das Schicksal festgelegt werden kann. Für den Neustoizismus liegt von hier aus betrachtet in der Geschichte, im historischen Geschehen (bei aller vorgeblichen Einsicht in den dem wechselvollen Auf und Ab des Geschehens letztlich zugrunde liegenden Zusammenhang) das dem Menschen Widerständige, das Anerkennung Versagende, das die Verrichtung von Plänen Hemmende, das Gegenstrebige, in dessen Gegenzug der Mensch sich behaupten und bewerkstelligen muß. Die Strategie des Neustoizismus besteht dabei offensichtlich darin, diese ganze Widerständigkeit in die Struktur des eigenen Selbst zu verlagern, um auf diese Weise ein Doppeltes zu erreichen. Zum einen wird damit die Möglichkeit geschaffen, den Gegner in einem Rahmen zu suchen und zu stellen, der dem rationalen Zugriff direkt zugänglich ist, und zum anderen wird die eigentliche ethische Aufgabe, die Ermöglichung nämlich von Apathie und Ataraxie, gleichsam am Ursprung und Ziel selbst, nämlich im und am Menschen in Angriff genommen, nicht aber wird ihre Verwirklichung in einem für die Identität gerade gefährlichen Innestehen und Tätigsein im äußeren, öffentlichen und im Geschichtsraum gesehen. Es ist zutreffend, wenn Hegel herausstellt, daß der Stoizismus gegen die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft negativ ist, und wenn er betont, daß es am Stoizismus die grundsätzliche Differenz kritisch herauszustellen gilt von (a) einer der Stoa wesentlichen Allgemeinheit des Gedankens und (b) der Konkretheit und Bestimmtheit jeden begrifflichen
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Inhalts. Hegel zielt hier auf den nach seiner Ansicht dem Stoizismus letztlich aporetisch werdenden Umstand, daß jeder Begriff konkreter Inhalt ist, selbst wenn er sich gerade auch aus der konkreten Wirklichkeit zurückziehen möchte; er bleibt von dieser Wirklichkeit bestimmt, eben als Auszug aus ihr. Erst von dieser Überlegung her erscheint der Skeptizismus bei Hegel dann als die Vollendung dessen, was im Stoizismus als Begriff bereits angelegt ist. Skepsis ist das an sich Negative, das Negierende überhaupt, und sie sucht auf diese Weise gleichsam zu verhindern, daß sich die Wirklichkeit selbst noch in jene Begriffe einschleicht, die gerade als Befreiung von ihr konzipiert waren. Dies verurteilt den Skeptiszismus allerdings dazu, sich im Reich der Zufälligkeiten herumzutreiben. 31 Für Hegel bedeutet dies, daß der Teilhabe des Stoizismus am Prozeß der Geschichte des Weltgeistes eine deutliche Grenze gesetzt ist. Wir dagegen müssen aufgrund der vorangegangenen Überlegungen feststellen, daß gerade die Negativität gegen das Verhältnis von Herr und Knecht (oder besser gesagt: die Stillegung dieser Dialektik) und der auf normierende Disziplinierung der inneren und in einem zweiten Schritt dann gerade auch der äußeren und der gesellschaftlichen Natur und Wirklichkeit gerichtete Grundcharakter die geschichtswirksamsten Momente des Neustoizismus bilden. Der neuzeitliche Machtstaat etabliert sich im Neustoizismus als ,ordo in jubendo ac parendo' gleichsam unabhängig, unter Ausparung der Dynamik dessen, was Hegel als Dialektik von Herr und Knecht entfaltet. Nach seiner staatspolitischen Seite hin wird dies daran sichtbar, daß Lipsius die Frage etwa der Souveränität (ob bei Volk oder Monarch) oder die Frage möglichen Widerstandsrechts (legitim oder illegitim) gar nicht behandelt, und hierher gehört auch, daß er Korporationen und Stände nicht thematisiert; sie sind für ihn keine notwendigen intermediären Größen, wie sie dies etwa für solche Theorien sind, denen man so etwas wie eine Dialektik von Herr und Knecht zusprechen kann. Constantia und Politica fügen sich ineinander unter Ausgrenzung der Dialektik von Herr und Knecht. Diese Austrocknung bedeutet aber nicht Ende, sondern Anfang einer Geschichtswirksamkeit, und sie spiegelt darüber hinaus die reale Geschichte der absoluten Monarchie wieder. Wir sagten, daß sich vieles in Hegels Kritik am Stoizismus aus seiner Zugehörigkeit zur Goethezeit erklärt. Das auch sinnfällig mit dem Tode von Hegel und Goethe einsetzende 19. Jahrhundert hat zur Individualität, zur Verortung des Subjekts in das Individuum als qualitativer Größe, zum 31
Vgl. PhG, S. 157.
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Gedanken, daß sich ein Ganzes aus den je autonomen Individualitäten zusammensetzt und aufbaut, das 19. Jahrhundert hat zu dieser Gedankenwelt — und damit auch zur Beurteilung des Geistes der Frühen Neuzeit — ein weitaus bejahenderes Verhältnis als die Goethezeit. So ist es nicht überraschend, daß auch eine positivere Haltung gegenüber der Stoa zu finden ist. Im Todesjahr Hegels erscheint in Paris die Introduction à l'histoire universelle von Jules Michelet, und in ihr manifestiert sich bereits etwas vom Geist des 19. Jahrhunderts. Michelet beginnt seine berühmte Einleitung mit dem einschneidenden Gedanken: „Avec le monde a commencé une guerre qui doit finir avec le monde, et pas avant; celle de l'homme contre la nature, de l'esprit contre la matière, de la liberté contra la fatalité. L'histoire n'est pas autre chose que le récit de cette interminable lutte." Wie unterschieden ist diese Auffassung von Hegels Bestimmung des Sinns und daraus folgend des Zieles und des Endzwecks von (Welt) Geschichte als dem „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit." Gerade das Ideal des stoischen Weisen stellt für Michelet einen Ausdruck höchster Selbstbehauptung und Durchsetzung des Menschen dar, denn der Stoiker rettet den Menschen, scheint es, im Chaos der hellenistischen Welt. „Sur les ruines du monde grec, dispersé, dévasté, reste son élément indestructible, son atome, d'après lequel nous le jugerons, comme on classe le cristal brisé par son dernier noyau; ce noyau, c'est l'individu sous la forme du stoïcisme, ramassé en soi, appuyé sur soi, ne demandant rien aux dieux, ne les accusant point, ne daignant pas même les nier." 3 2 Der Blick auf die geschichtliche Verhaftetheit auch des Urteils von Hegel macht die an Hegel, bei aller Trefflichkeit seiner Argumentation, zu vollziehende Relativierung seiner Stoizismus-Kritik deutlich und notwendig. Hegel hat keineswegs das Endgültige hinsichtlich des Stoizismus gesagt, sondern an der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Stoa selbst erfahren wir, daß das Urteil über diesen grundsätzlichen Bewußtseinsstil vom jeweiligen historischen Ort nicht nur abhängig ist, sondern geradezu auch geleitet sein muß. Wie anders könnte man die Möglichkeit offenhalten, auch den Stoizismus zu beerben, d. h. seine im Interesse des Einzelnen und der Menschheit an Ermöglichung, Sicherung, Behauptung und Erhalt von menschlicher Eudaimonia, Freiheit und höchstem Gut zu bewahrenden Gehalte neu, weil in historisch unterschiedenen Situationen qualitativ einbringen oder eliminieren zu können. Ohne sich dem Vorwurf 32
J . Michelet, Œuvres compi. Bd. II, Paris 1972, S. 229, 233; Hegel, Die Vernunft in d. Gesch., S. 63.
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übermäßiger Fortschrittsgläubigkeit aussetzen zu müssen, darf man wohl sagen, daß die sich im Zuge der Autonomisierung und Ausdifferenzierung der einzelnen Kultursphären herausbildende qualitative Individualität der Neuzeit gegenüber der mittelalterlichen Bestimmung jedweder Einzelheit ,sub specie aeternitatis' einen Fortschritt, weil Zugewinn an endogener Bestimmung bedeutet. Wir haben gesehen, daß die Stoa in ihrer unter den Bedingungen der Frühen Neuzeit stehenden Erneuerung im Neustoizismus an diesem Prozeß beteiligt ist. Der Neustoizismus nimmt seinen Ausgang in der Krise und steht im Zusammenhang der Bemühungen des Menschen, sich gegen eine brüchig gewordene Welt zu behaupten und zu entwerfen. Er setzt an jenem Differenzpunkt an, wo die Deutungs- und die auf dem Wege über Motivation und Ethos die praktische Lebensführung betreffenden Handlungsdefizite einerseits (besonders des scholastischen Systems, zum Teil bereits in Gestalt des petrifizierten Humanismus und der religiösen Neuscholastik des 16. Jahrhunderts), und das menschliche Sicherungs-, Standfestigkeits- und Behauptungsstreben, die geistige, physikalische und zeitliche conservatio sui andererseits, auseinander getreten sind. Der rechtfertigende Ausgriff auf die allem äußeren Wandel dennoch zugrunde liegende Naturordnung wird im Neustoizismus bereits aus einem Erhaltungsinteresse des Menschen heraus vollzogen und geht mit der Konzentration auf das eigene Innere und Ich einher. Die aktive Selbsterhaltung und Selbstbehauptung dieses Ich gründet in der Möglichkeit, daß neben dem Denken der Wille zur zentralen Bestimmung des Menschen aufsteigt. Gerade diese beiden Momente sind dem Menschen im wirklichen Sinne verfügbar, stehen in seiner Macht. Wille und Intellekt werden zu dem wesentlich Eigenen des Menschen und von ihnen her wird die Welt im Neustoizismus sowohl verstanden als auch aufgebaut. Kritisch ist gegen den Neustoizismus festzuhalten, daß die von ihm eingeschlagene Strategie zur Erfassung, Sicherung und Fundierung der als krisenhaft erlebten und erfahrenen Wirklichkeit sich gegen das Individuum selbst kehrt. Denn der Neustoizismus — in einer Perspektive historischer Gefährdungshaftung betrachtet — organisiert einen auf alle Lebensbereiche durchschlagenden Disziplinierungsprozeß, der einer neuen sich in der Wirklichkeit unter dem Schein des Interesses und der Notwendigkeit formierenden inhumanen Ordnung nicht nur stillschweigend beizupflichten in der Lage ist, sondern sogar aufgrund der absolut gesetzten Sicherung der eigenen Subjektivität eine Theorie für den Machtstaat zu liefern bereit ist, der zwar nicht zu übersehende Fortschrittsmomente gegenüber der mittelalterlichen Feudalordnung aufweist, in gleichem Maße aber dem
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Interesse gerade des Einzelnen an Freiheit ins Gesicht schlägt und sich so gegen die ursprünglichen Gehalte der Stoa selbst wendet. Die Dissoziation von öffentlichem und privatem Bereich, von Allgemeinheit und individuellem Ich, kann für den Neustoizismus nur dadurch Bestand haben, daß eine immer stärkere Ordnungsmacht gefordert wird, die das innere Ich der Individuen durch eine Stabilisierung der äußeren Bedingungen ermöglicht und gegen existenzgefährdende Krisen auf Dauer stellt. Das vereinzelte Individuum soll neben der abstrakten Bindung der politischen Macht- und Herrschaftsordnung an die Gottes- und Naturgesetze die entscheidende, aber auch einzige Schranke gegen die absolute Macht sein und gerät dabei in eine Autonomie, die für es selbst vernichtend ist. Um an diesem Punkte wieder auf Hegels Kritik zurückzukommen, muß in historischer Perspektive herausgestellt werden, daß die zu Recht einer negativen Kritik zu unterziehende geschichtswirksame Bedeutung des Stoizismus nicht, wie Hegel meinte, in dessen Abscheidung, Trennung und Beziehungslosigkeit von Herr und Knecht, nicht so sehr in dem auf sich selbst zurückgezogenen und aufgrund der tatenlosen Distanz zum Objekt zur Langweile verurteilten Subjekt besteht. Die negative Seite der Geschichtswirksamkeit des Neustoizismus liegt vielmehr in einem höchst beziehungsgeladenen Verhältnis, in der Dialektik nämlich von dem aus seinem subjektiven Vernunftgrund handeln wollenden Individuum (bei gleichzeitig behaupteter Einsicht in die Naturgesetzlichkeit) einerseits, und der Rückwirkung der von diesem Subjekt mitgeschaffenen objektiven Ordnung auf eben dieses Individuum andererseits. Disziplinierung war die eigentliche Leistung des Neustoizismus, nicht Freiheit. Das System gründet sich auf das Individuum und auf die Naturgesetzlichkeit, und das Individuum ist ihm letztlich ausgeliefert. Die auf das Individuum zurückschlagende Dialektik der Selbstbehauptung und der Aufklärung (Adorno/Horkheimer) scheint hier vorweggenommen. Im Neustoizismus beherrscht der Einzelne zunächst seine innere Natur aus und als Vernunft, um sodann seine Um-welt in einen ebenso disziplinierten Zustand zu versetzen, damit die Bedingungen seines eigenen Bestandes und guten Lebens erfolgreich auf Dauer gestellt werden. Zusammen mit der Subjektivität wird dabei ein politischer Absolutismus freigesetzt, der nicht mehr in die Einheit der traditionellen politisch-philosophischen Lehrstücke eingelassen ist und damit dem Individuum die intendierten Elemente seiner Weltsicherung aus der Hand schlägt. Von hier aus scheinen gerade Hegels Bemerkungen von neuem auf ihre Richtigkeit zu pochen. Um aber die Hegeische Kritik am Stoizismus als
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etwas Endgültiges übernehmen zu können, müßten wir (a) die Reduzierung des Stoizismus auf subjektivistische Ethik vollziehen, (b) von der realen geschichtlichen Funktion der Stoa absehen und die stoische Wirkungsgeschichte, besonders den Neustoizismus leugnen und (c) die Prämissen der Hegeischen Argumentation selbst fraglos zu übernehmen bereit sein. Selbst dann aber noch bleiben Aspekte ausgespart, die dem Stoizismus wesentlich sind und für uns bedeutsam sein können (wie z . B . die ,phantasía kataleptiké'), die Hegel nicht in ihrer eigentlichen Leistung in den Blick geraten. Aber bereits die ersten drei Bedingungen sind für uns — selbst wenn wir wollten — nicht mehr möglich, denn sie implizieren in bestimmter Weise Geschichtslosigkeit. Deutlich allerdings dürfte auch geworden sein, daß wir uns gerade an Hegel mit der Frage nach dem Stoizismus auseinandersetzen können und müssen.
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Namenverzeichnis Adorno, Th. W., 353 Aerssen, C., 72 Agricola, R., 231, 235 Alençon, Duc d', 294 Alexander von Aphrodisias, 48 Althusius, J., 228, 261, 266 Amyot, J., 63, 285 Angelus Silesius, 340 Anjou, Duc d', 145, 275 A'Porta, H., 274 Aristides, 130 Aristoteles (s. Aristotelismus), 4, 21, 44, 50, 54, 64, 80f., 93f., 98, 103, 112, 150, 189, 200, 240, 242, 246-272 Arnisaeus, H., 259, 266 Augustin, 10, 42, 44, 47, 57, 79, 88, 98, 169, 171, 209, 252, 261, 305 f. Averroes, 47, 258 Bacon, F., 10, 33, 154, 251, 348 Ba'if, J.-A. de, 292 Baillard, Ν. de, 284f. Barclay, W., 280 Barlaeus, C., 151, 310 Battista, Α.- M., 153 Baudier, D., 280 Baudouin, J., 275f. Baudrier, le président, 272 Baussan, G. de, 284f. Beaune, R. de, 294 Belleau, R., 292 Bellièvre, P. de, 281 Bénévent, H. de, 292 Béroalde de Verville, Fr., 273, 275 Bérulles, P. de, 304 Beys, G., 287f. Beza, Th., 275f., 280 Binet, E., 301 Bloch, E., 342 Blüher, Κ. Α., 43 Blumenberg, Η., 2, 16f., 19f., 23f., 28f., 39, 327 Bodin, J., 98, 106, 158, 176, 202, 212f„ 216, 218ff., 224, 226f., 266, 282, 292, 294, 296, 304, 319
Boëthius, 89, 275 Bonaventura, 63 Bongars, J., 276ff., 281 f., 288 Bonnefon, P., 283 Borromeo, F., 288 Boucher, N „ 256 Bouchery, H. F., 67 Bovillus, C., 60 Brahe, T., 240 Bredenrode, P., 276 Brisson, B., 292 Brun, Α., 275 Bruni, L., 247 Bruno, G., 49, 51 f. Budé, G., 60f., 249, 287, 290 Buon, G., 274 Burckhardt, J., 9 Burgersdijk, P., 235 Burman, P., 281 Buys, P., 235, 246 Calvin, J . , 42, 55f., 110 Camillus, 130 Campanella, Th., 252 Cappel, A,, 292 Cardano, G., 158 Cardon, H., 274f. Cäsar, 129, 140 Casaubon, I., 281, 290, 293 Casaulx, J., 149 Cassirer, E., 9, 15f. Cas tille, P. de, 285, 287 Castori, Β., 301 Cato, 63f., 173, 185 Cavellat, G., 274 Ceriziers, M. de, 284 f. Ceriziers, R., 301 Chalvet, M. de, 276 Champaigne, Ph. de, 283 Champeynac, J. de, 292 Charles Emmanuel I, Duc de Savoie, 289 Charron, P., 4, 40, 47, 56f., 60, 63, 69, 78, 87f„ 98, 116, 126, 152-227, 234, 246, 261, 266, 268, 272passim, 326, 328, 330, 334
Namenverzeichnis Cheffonds, Chr. de, 165 Chevalier, P., 275 Chrestien, FL, 292 Chrysipp, 60, 87, 150, 257, 302, 304, 334 Cicero, 43, 76, 78, 81, 84f., 89, 98ff., l l l f . , 130, 159, 184, 186, 214, 230f„ 235ff., 255f., 260ff., 282, 286f., 298, 304, 334 Clemens VIII, 288 Coeffeteau, N., 284f. Colonna, Α., 288 Condé, prince de, 293 Constant, P., 296 Coornhert, D. V., 90 Coquille, G., 296 Coras, J., 276 Courtin, F., 284f. Cramoisy, G., 285 Crassot, J., 25o Cujas, J., 281 Cusanus, N., 319 Cyprian, 89 Daneau, L., 281, 286 Daniel, N., 284f. D'Aubigné, Α., 292, 298f. Délas, L., 275 Del Rio, Μ. Α., 302 Demokrit, 93 Denel, F., 287 Descartes, R., 10, 20, 23, 26, 34, 162, 181, 188, 192, 236, 251, 293 D'Espeisses, 292 Desportes, Ph., 292 Dilthey, W., 2, 7ff„ 11, 13-16, 19f„ 23, 28 f. Diogenes Laërtius, 93, 195f., 236 Dorât, J., 292 Dori val, Β., 283 Dorleans, R., 296 Doron, 292 Doublet, G., 287 Dreano, M., 302 Du Bellay, J., 233 Du Belloy, P., 296 Du Bois, J., 284f. Du Boys, H., 296 Du Bray, T., 274 Dubreuil, J., 284f. Du Carroy, 274 Duchesne, Α., 296 Du Fail, Ν., 165 Du Ferner, Α., 296
371
Du Jon, Fr., 166 Du Moulin, S., 273, 276 Dupleix, S., 292 Duplessis-Mornay, Ph., 162, 164ff., 282, 296 Du Perron, J. D., 293 Dupuy, frères, 286, 293, 296 Du Ryer, P., 276 Du Vair, G., 3, 47, 57, 114-152, 161, 168, 171, 175f., 178, 180f., 196, 202, 217, 226, 257, 272passim, 328 Du Val, G., 250 Duvergier de Hauranne, J., 281 Ebeling, H „ 16 Epiktet, 43, 70, 114f., 148, 150, 181, 185, 196, 246, 276, 282, 287, 299-303, 305f., 322 Epikur, 23, 94, 185, 189, 328 Erasmus, D „ 33, 57-60, 276, 286, 290, 332 Euripides, 76 Fauchet, Cl., 296 Faucon, 292 Faye, Ch. de, 296 Februarium, J., 275 Ferdinand, Hz. der Toscana, 288 Feuerbach, L., 46, 342 Feydeau, Α., 285 Fichte, J. G., 344ff. Ficino, M., 55 Filleul, 292 Flurance, D. D. R. de, 296 Fontaine, N., 305 Fouquelin, Α., 232 François I", 281, 290 Freigius, J. Th., 237 Fremy, E., 295 Fresnaye, 292 Frey, J. C , 250 Galilei, G., 34, 39f„ 51, 247, 251, 329 Garasse, Fr., 301 Garnier, R., 292, 299 Gassendi, P., 247, 251 Gauthier, R. Α., 256 Georges d'Amiens, 301 Giraudet, E., 273 Godefroy, D „ 282 Goethe, J. W„ 29, 200, 319, 338, 342, 344, 350 ' Gonzaga, 77 Goulart, S., 274ff., 301 Goulu, J., 276, 302f., 304 Goumay, M. de, 279f.
372
Namenverzeichnis
Gravelle, Fr. de, 296 Grieu, G. de, 284f. Groy, M., 284 f. Gruter, J., 276 Guez de Balzac, J.-L., 252, 304 f. Guillemot, M., 273f. Habermas, J., 22f. Haeghen, F. van der, 272 Harlay, A. de, 280, 286 Harlay, Chr. de, 66, 280, 286f. Haultin, H., 272, 274 Hayneuve, J . , 301 Hegel, G. W. F., 5f., 46, 200, 204, 311-354 Heidegger, M., 320 Henri III, 146, 270, 272, 275, 294f. Henri IV (de Navarre), 126, 134, 137, 146ff., 152, 164, 226, 271, 273ff., 276, 281 f., 286-290, 293, 296 Heinsius, D., 292 Hennequin, O., 284f. Heraklit, 258 Hesteau, Cl. de, 274 f. Hiob, 297 Hieronymus, 72 Hinrichs, E., 296 Hobbes, Th., 2, 10, 14, 2 0 - 2 3 , 28, 32, 35f., 39, 42, 98, 101, 103, 107, 156, 191, 266, 269, 337 Homer, 101 Hooykaas, R., 228, 232 Horaz, 89 Horkheimer, M., 353 Hotman, F., 281 Hotman, J „ 281, 293 Houillier, J . , 293 Houzé, J., 274 Huarte de San Juan, J . , 176, 215 Hurault, J „ 296 Hurault de L'Hospital, M., 281 Imbart de la Tour, P., 61, 250 Jacques d'Autun, 301 Jacques de Bosc, 301 Jamyn, Α., 292 Janot, M., 284 f. Jansenius, C. (s. Jansenismus), 252, 305, 307 Jeannin, P., 285, 287 Johannes, 58 Jonas, H., 16f. Jones, W „ 286 Jourda, P., .287
Julien-Eymard d'Angers, 272, 301 Jullieron, G., 274 Kant, I., 31, 33f., 168, 254, 344f. Charles VII, 129 Karneades, 212 Keckermann, B., 247, 286 Kepler, J „ 240 Kierkegaard, S., 205 Kleanthes, 87, 334 Kogel, R., 153 Kopernikus, Ν., 247 La Boétie, E. de, 63 La Chassaigne, G. de, 297 Laktanz, 150, 298 L'Alouette, Fr. de, 296 Lamettrie, J. O., 34 Langelier, Α., 273 La Noue, Fr. de, 296 La Place, P. de, 249, 292 f. La Primaudaye, P. de, 291 Léandre de Dijon, 301 Lebègue, R., 298 Le Ber, Ch., 272 - 275 Le Blanc, G., 286 Le Blanc, P., 285 Le Camus, N., 285 Le Clerc, D., 274 Le Coigneux, J., 284f. Ledenoir, 284f. Le Duc, Fr., 282 Lefebvre, M., 284f. Le Fèvre, N., 149, 276, 281, 293, 298 Le Fèvre de la Boderie, Α., 288f. Lefèvre d'Étaples, J., 61, 247, 249 Leibniz, G. W., 202 Le Jay, Fr., 296 Le Lan, CL, 284f. Le Maistre, P., 149, 296 Leonardo da Vinci, 33 Le Picart, N., 285 Le Preux, J . , 274 Lescalopier, P., 301 Lescuyer, N., 274 Lessing, G. E., 319 Lestoile, P. de, 148f., 293 Lesur, 292 L'Hospital, M. de, 130, 249, 281, 293, 296 Lipsius, J . , 2f., 5, 29, 45, 47, 57f„ 60, 64, 67-113, 126, 161, 168, 175f., 181, 190, 192, 196f„ 202, 207, 217ff., 222f., 226, 228, 234f., 237, 239, 245-248, 252, 259,
Namenverzeichnis 261 f., 264ff., 268f., 272passim, 328f., 336, 350 Locke, J., 101 Loisel, Α., 292, 294, 296 Louis d'Aix, 149 Louveau, J., 284f. Louis XIII, 293 Luther, M., 42, 54, 57ff„ 248f„ 331 f. Macé, P., 165 Machiavelli, Ν., 75, 80f., 108, 110, 212, 222, 286, 304 Malherbe, Fr. de, 276, 298 Mantegna, 77, 283 Marc Aurel, 276, 322 Maria Stuart, 146 Mariana, J. de, 286 Marion, S., 286, 294, 296 Marius, 129 Marivault, P. de, 284 f. Marx, K., 342 Melanchthon, Ph., 55, 231, 235, 246, 248f., 256 Mesmes, H. de, 292 Mettayer, J., 273f. Michelet, J., 9, 351 Moltmann, J., 235 Monantheuil, H. de, 289, 293 Monstr'œil, Cl. de, 273 f. Montaigne, M. de, 52ff., 61, 172f., 176, 180, 183 f., 186 ff., 192, 195, 197, 199f., 203, 210f., 213, 278f., 297, 303-306, 330 Montchrestien, A. de, 299 ff. Montholon, H. de, 296 Montmorency-Damville, H. de, 296 Moretus, J., 288f. Muretus, M.-A., 276, 281, 293, 298 Naudé, G., 60, 186f., 256 Newton, I., 10, 14, 20, 23, 29, 34, 342 Nietzsche, Fr., 6, 23, 30f., 33, 36, 80f., 115, 194, 238, 324, 344, 348 Nizolio, M., 250 Nothdurft, Kl.-D., 43 Numenios, 150 Nuyverd, Cath., 273 Ockham, W. von, 19, 259 Oestreich, G., 67 Olivier, Fr., 130 Ong, W. J., 228, 232 Orry, M., 273 Oudaert, N., 112 Ovid, 68, 89
373
Pacard, G., 165 Paleotti, G., 288 Palmieri, M., 264 Panaitios, 253 Pascal, B., 6, 89, 110, 162, 205, 252, 303, 305-307 Pasquier, E., 296 Passat, P., 285 Passerat, J., 293, 295 Patin, G., 60 Patrizzi, Fr., 251 Paullus, 77 Paulus, 42, 62f., 150, 201, 305 Pavillon, Ν., 273, 275 Petrarca, Fr., 10, 43-47, 187, 236, 283, 299 Phélypeaux de Pontchartrain, P., 284f. Phocion, 130 Pibrac, Guy du Faur de, 292, 294 Piccolomini, Α., 264 Piccolomini, Fr., 245 Pico della Mirandola, G., 74f., 250 Pisistratos, 77 Pi thou, P., 149, 281, 293f., 296, 298 Plantin, Chr., 272, 275, 287 Platon (s. Piatonismus), 47, 75f„ 80f., 89, 89, 94, 133, 192, 230, 240, 244, 246, 252, 266 Plautus, 89 Plinius, 160 Plutarch, 63, 208, 246, 282-287, 297f., 304 Poille, J., 284f. Poisson, P., 286 Poisson de la Bondinière, P., 296 Polybios, 71 Pompeius, 129f. Pomponazzi, P., 47ff., 258f. Poncelet Le Béat,· 284 f. Porcher, R., 273 Poseidonios, 255 Potier, N., 284f. Prévost, P., 285 Prinz, W., 283 Prometheus, 78, 240 Pufendorf, S., 213 Pyrrhon, 182, 197-200, 203, 206 Quintilian, 233, 236, 298 Rabelais, Fr. de, 62 f. Racine, J., 282 Radouant, R., 114 Ramus, P., 4, 228-246, 320, 332 Raphelengen, Fr. van, 272 Rapin, N., 293f.
374
Namenverzeichnis
Refuge, Eu. de, 283f. Regulus, 173 Renouard, Ph., 272 Rheticus, G. J., 240 Richer, J „ 273f. Risse, W., 228 Rivaudeau, Α., 276 Robet, G. de, 273 Roblin, N., 284f. Rolland, N., 284f. Ronsard, P. de, 63f., 233, 292, 294 Roussin, P., 274 Rubens, P. P., 283 Sabrié, J. B., 153 Saint-Jean, L. de, 301 Saint-Jure, J. B., 301 Salomon, J „ 284f. Sanchez, Fr., 187 Sales, Fr. de, 301 Saunders, J. L., 67 Scaliger, J.-J., 281, 292ff. Schoeck, G., 310 Scioppius, G., 287 Scipio, 130, 253 Sébastien de Senlis, 301 Séguier, Α., 296 Senault, J. F., 301 Seneca, 15, 43f., 55f„ 60, 63 , 70, 72, 76ff., 82f., 85, 89, 94, 105ff., I l l , 173, 176, 178, 184ff„ 193f., 197, 208f., 216, 246, 253 , 269, 273 , 276, 282 - 2 8 6 , 292ff., 297ff., 301 ff„ 310, 330 Servin, L., 293, 296 Sextus Empiricus, 189, 195ff., 200, 261 Sforza, F., 288 Siger von Brabant, 259 Silius, 89 Sillery, N. B. de, 281 Sokrates, 78, 178, 183, 188f„ 192 , 240 Solon, 77, 140, 142 Spaemann, R., 14 Spanneut, M., 43 Spengler, O., 9 Spinoza, B. de, 10, 14, 20, 23, 28, 40, 81, 348 Stobaeus, 261
Strozzi, C., 259 Sturm, J., 231 Suárez, Fr., 247 Sulla, 129 Sully, Duc de, 292 Tacitus, 70, 72, 77f., 89, 113, 217, 281-284, 286 Talon, O., 229, 232f., 250 Telesio, B., 49f. Themistokles, 130 Thiard, 292 Thomas von Aquin, 62f., 262ff. Thou, Chr. de, 144 Thou, J.-A. de, 280f., 286f„ 292ff„ 296, 298 Tillich, P., 324, 346 Timon, 197 Torrentius, L., 89 Troeltsch, E., 18, 299 Urfé, H. d', 299 Valla, L., 231, 235, 250 Varchi, Β., 245 Varrò, 77 Vauquelin de la Fresnaye, 298 Vellerns, 107 Verbeke, G., 43 Viète, Fr„ 293 Vignon, N „ 284f. Villepoux, M „ 272 Villey, P., 279 Villers, D. de, 246, 289 Villoutreys, Ν. de, 284f. Vives, L., 49, 231, 235 Warnke, M „ 283 Weber, M., 88, 152, 166 Wilhelm, Hz. von Bayern, 288 Wilpert, P., 43 Wolff, Chr., 34 Xenophon, 192 Yves de Paris, 301 Zabarella, J., 245, 247, 259 Zacharie de Lisieux, 301 Zanta, L., 67 Zenon, 151, 236, 238, 254, 304, 334f. Zwingli, U., 55
Sachverzeichnis Absolutismus, 45f., 270f., 326, 353 Adel, 147f., 271 f., 297, 307f. Affekte/Leidenschaften, 3, 28f., 40, 42, 51, 68, 70, 73, 79, 85, 1 1 6 - 1 1 9 , 126, 146, 151, 177, 179ff., 193, 210, 241, 257, 291, 294, 299 Anthropozentrismus, 15, 53, 68, 73, 114, 123, 171, 349 Antike, 8, 11, 13f., 23, 26, 28, 38f., 43ff., 55, 60, 70, 93, 130, 166, 302, 328, 330, 346 Apathie/Ataraxie, 3, 15, 26, 53, 56, 62, 67, 182, 194, 236, 325, 337, 349 Apologetik, 4, 160, 162, 165 Aristotelismus (s. Aristoteles), 4, 55, 195, 2 3 5 f „ 239, 2 4 6 - 2 7 2 , 328 Artes, 230ff., 240 Autonomie, 12, 15, 20, 25, 44, 153, 336 Axiologie, 1, 18, 68, 156, 322, 337 Bewußtsein, 13, 18, 26f., 168, 188, 199ff., 205, 237, 239f., 245, 3 1 1 - 3 2 4 , 330f., 333f., 343, 345f. Bürger, 142f., 147, 183, 271 f., 283, 308 Bürgerkrieg, 3, 41, 47, 64ff., 96, 105, 111, 123, 126f., 137, 147, 151 f., 224ff., 270, 295ff., 299 Calvinismus (s. Calvin), 55—57, 166 Christentum, 11, 42, 45, 47, 55, 59, 71, 88, 90, 124ff., 144, 162, 165, 248f., 251 f., 258, 301 f., 306f., 331, 344 Constantia, 29, 51, 76, 79, 86, 112, 141, 180, 277, 280, 299 f. Deismus, 168, 235 Dialektik, 5, 20, 2 2 9 - 2 3 3 , 235ff., 239, 241, 244, 323, 333 Dichotomie, 228f., 242, 244ff. Disziplin(ierung), 3, 21f., 32, 35, 38, 110, 152, 181, 186, 210f., 215, 220, 309, 325, 336, 348, 350, 352 Dogmatismus, 189, 194, 197, 199, 203, 210 Erkenntnis, 7f., 13, 34f., 3 9 f „ 49, 54, 61, 68, 79, 82, 96, 111, 117, 128f., 153, 155, 171, 176, 179, 188ff., 192, 194f., 199f., 237f., 313, 322, 334f., 3 3 7 f „ 344
Evidenz, 197, 203, 208, 254 Familie, 120f., 123, 159f., 214f. Fideismus, 169f., 201, 235 Fortuna, 43f., 122, 126, 134, 136, 299, 309 Freiheit, 53, 62, 75f., 115, 119, 125, 135, 174f., 182f., 233, 313ff., 317, 319, 321 f., 332, 334ff., 339ff., 345, 353 Fürstenlehre, 43, 80, 92, 102, 1 0 5 - 1 0 9 , 150, 163, 218ff., 223, 297 Gerechtigkeit, 4, 98, 139f., 169, 211 ff. Geschichte, 71, 77, 86f., l l l f . , 192, 245, 262, 318f., 324, 326, 328, 339f., 347ff., 351 Gewißheit, 4, 12, 26, 46, 188, 193f., 201, 203ff., 325f., 337 Gnade, 57f., 169f., 189 Gnosis, 2, 1 6 - 1 9 , 167, 327 Gott, 25f., 35, 45ff., 52, 54, 59, 75, 87f., 93, 120, 135, 140, 162f„ 168, 170, 174, 190, 290f., 302, 341, 343 Höchstes Gut, 51, 77f., 114f., 119, 124f., 179, 250, 255, 260, 265, 322, 339 Homologie, 8, 13, 26, 38, 77f., 85, 114, 118 f., 125, 184 f., 191 f., 197, 238, 253f., 256, 260, 333, 335, 337, 341, 345, 349 Humanismus, 2, 9f., 14, 23, 25, 43f., 54, 61, 195, 232f., 244, 2 4 7 f „ 2 9 2 f „ 328, 352 Immanenz, 4, 8, 27, 35, 41, 49f., 52, 71, 94, 166f., 173, 235, 258, 265, 344 Individualität/Individuum, 1, 12, 15, 22, 25, 28, 39, 47f., 59, 7 0 - 7 3 , 100, 104f., 114f., 119, 121f., 124, 126, 153, 167f., 170, 182, 186f., 191, 193, 199, 201, 208f., 211, 213, 257, 268f., 2 9 0 f „ 3 0 8 f „ 322, 325, 331 f., 339f., 343, 350, 352f. Jansenismus (s. Jansenius), 57, 191, 252, 307 Jesuiten, 57, 252, 302 Kausalität, 19, 21, 24f., 32, 35, 50, 58, 75, 91, 93 Kirche, 90, 148, 164f. Klugheit, 3, 21, 8 1 - 8 4 , 97, 108, 111, 142, 218ff., 223ff. , 229, 239, 2 5 9 - 2 6 2 , 264f., 267
376
Sachverzeichnis
Konstruktion, 12, 18, 21, 27, 29, 31 ff., 3 5 - 3 8 , 40f., 51, 152, 329, 336, 349 Kontingenz, 24ff., 29, 50, 65, 175, 204, 308, 324 Kosmos, 8, 16, 19, 2 9 f f „ 48ff., 53, 68, 94, 102, 123, 193, 329, 335, 337, 341 Kosmopolitismus, 101 ff., 123 Kultursphären, 1, 12, 20, 25, 64f., 299, 332, 352 Liga, 148, 272 Logik, 5 , 92, 196, 229ff., 237, 239, 333, 337f. Magistrate, 108f., 128, 149-152, 227 Maschine, 30—35 Materie, 88, 93f., 144 Mechanistik, 30ff., 34, 93 Methode, 18, 21, 230, 239, 241-245, 247 Militär, 109ff., 149, 222ff. Mittelalter, 1, 7, 10, 19, 24, 28, 43ff., 54, 66, 99, 247, 327 Monarchie, 4, 124, 128, 147, 2 0 7 f „ 267, 271 f., 350 Natur, l f . , 4, 7f., 11, 14, 18, 21, 27ff., 32f., 36, 40f., 45, 47, 50ff., 57, 5 9 - 62, 74, 77f., 87, 92, 9 4 - 9 8 , 102, 107, 112, 118, 125f., 128, 135, 153ff„ 158, 169, 173, 177, 184f., 193, 196, 202, 212, 229, 237-242, 245, 253, 256, 290f., 306, 325, 338f., 344 Naturgesetz, 14, 22, 33ff., 41, 49, 96, 150, 153, 156, 166f., 184, 234, 253, 256, 336, 341, 348 Nominalismus, 1, 10, 20, 23, 31, 332 Notwendigkeit, 53, 55, 74f., 125, 175, 233, 253, 336 Öffentlichkeit, 4, 84, 171, 178, 186, 195, 201, 208, 270 Opinio, 68, 72, 108, 117f., 129, 131, 146, 177, 294 Organismus, 8, 11, 2 8 - 3 2 , 34f., 49, 51, 77, 94, 112, 149 f. Pantheismus, 52, 167f., 235, 259 Paradoxa, 89 Parlement, 146-149, 293 Pelagianismus, 42, 57, 305, 307 Phantasia kataleptiké, 197, 254, 333ff., 338, 354 Physik, 92, 237, 333, 337f. Piatonismus (s. Piaton), 126, 239, 241 f., 328, 344 Polis, 16, 19, 29, 43, 94, 123, 209, 256f„ 327, 341
Politiques, 142, 148, 286, 293, 295f., 347 Preud'hommie, 151, 161, 169, 173, 183f., 189, 195, 206 Providentia, 11, 71, 74f., 134, 136, 140f., 145, 174f. Pseudomorphose, 9—11 Ramismus (s. Ramus), 4, 228—246 Rationalismus, 1, 4, 8, 11, 14, 16, 18ff., 23ff., 29f., 30, 33, 35, 47, 49, 82, 88, 118, 146, 205, 235, 336, 344, 349 Reformation, 10, 23, 25, 46, 54f., 61, 88, 166, 202, 206, 248, 328, 3 3 0 - 3 3 3 Religion, 62, 70, 87, 90, 107, 143, 161-164, 167, 169, 173, 201, 206, 219, 234, 295f., 301, 304 Religionskrieg, 47, 64f., 123, 126, 143, 270 Renaissance, 2, 10, 14, 23, 25, 4 3 f „ 47, 54, 95, 171, 233, 243f., 247, 264, 328, 332, 347 Rhetorik, 2 2 9 - 2 3 3 , 236 Säkularisierung, 4, 69, 343 Salisches Gesetz, 148f., 293 Schicksal, 41, 47, 55, 74ff., 91, 135-138, 253, 278, 324, 349 Scholastik, 9f., 19f„ 23f., 43f., 58, 62, 70, 75, 192, 200, 234f„ 247f„ 258, 343f„ 352 Schöpfung, 46, 134, 145, 166 Selbsterhaltung, 2, 12, 15, 19f., 23, 25, 2 7 f f „ 39, 41, 4 9 - 52, 59, 65, 76f„ 80, 87, 100, 138, 253, 265, 300, 308f., 335, 349, 353 Sinne, 117, 128f., 195, 200, 203, 211 Skepsis, 4, 23, 34, 167f., 179, 187ff., 194-206, 212, 306f., 317, 320, 326, 334, 336, 346, 350 Souveränität, 159, 215f., 224, 350 Staat, 4, 28, 35f., 38, 70, 79, 84f., 90ff., 97, 9 9 - 1 1 1 , 123f., 133, 143, 151, 156, 163, 207, 210, 214, 216, 219, 223f., 226, 259, 264, 2 6 6 - 2 6 9 , 290f., 295f., 325f. Stände, 146, 148f., 350 Subjektivität, 1, 4, 6, 12ff„ 26, 28, 46, 54, 152, 171, 176, 205, 326ff., 330ff., 336f., 339-343, 350, 353 Syllogismus, 241 ff., 256 Teleologie, 2, 8, 1 1 - 1 4 , 2 5 - 2 8 , 31 ff., 3 5 - 3 8 , 49f., 53, 118, 250, 253f., 258f., 265 Theodizee, 26, 86 f. Tod/Freitod, 36f., 67, 74, 78, 111, 124, 127, 131 f., 138, 141, 144f., 172f., 187, 297, 300, 304f., 345f.
Sachverzeichnis Tugend, 44, 48, 62, 64, 81 ff., 97, 107, 141, 153, 166, 173, 176, 185, 218f., 255, 260f., 283, 290f., 309, 345 Die Übel, 72f., 79, 86f., 126-131, 133, 138ff., 176 Universum, 52, 87, 94f., 118, 123, 132, 134 ff., 151 Vaterland, 77, 99, 120, 123 Veränderlichkeit, l l l f . , 132f., 325 Vernunft, 2, 12, 14f., 18, 26f., 29, 32, 37, 39f., 50, 58, 68, 72, 85, 94ff., 115f., 118, 123, 125, 128, 169, 173, 177ff., 196, 211 f., 229 f., 233f., 237-242, 253f., 257f., 260, 290f., 303f., 320, 325, 329, 335ff., 339, 342 Vertrag, 28, 32, 35, 39, 42, 101 f., .104
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Volk, 98, 108, 147, 156, 158, 195, 210f., 217, 226 Der Weise, 52, 56, 62, 92, 162, 182f., 186, 201, 210f., 216, 236f., 342 Weisheit, 6 0 f „ 69, 89, 154, 162, 173, 178, 180, 183f., 190, 196, 208, 263, 337 Weltbild, 20f., 65, 68, 157, 159, 258, 328f. Widerstandsrecht, 98, 225f., 350 Wille, 47, 53, 57f., 60, 63, 91, 114ff., 131, 135f., 168f., 171, 173, 181f., 184, 196f., 212, 215f„ 300, 332, 343, 352 Wirtschaft, 1, 6, 15, 20, 103f., 149, 151, 220ff., 270, 307ff., 310 Wissenschaft, 18, 20f., 31, 33f., 177f., 232, 239, 329 Zweifel, 4, 46, 168, 194, 198-201, 2 0 3 - 2 0 6
w DE
G
A. Schwan
"Walter de Gruyter Berlin-Newark Geschichtstheologische Konstitution und Destruktion der Politik Friedrich Hogarten und Rudolf Bultmann Groß-Oktav. XIV, 322 Seiten. 1976. Ganzleinen D M 124,- ISBN 311006783 8 Die Geschichtstheologie begründet eine Sozialanthropologie und Ethik, die zur Denaturierung der Politik führt; sie schwankt zwischen autoritativer Legitimierung und relativierender Vergleichgültigung politischer Normen und Strukturen. Ihre Aporier versucht der Verfasser durch eine Theorie personaler Politik zu überwinden.
J . Mittelstraß
Neuzeit und Aufklärung
Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie Groß-Oktav. XVI, 651 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 78,- ISBN 3110018250
Kritische Rekonstruktion der Geschichte der Vernunft in Philosophie und Naturwissenschaft. Die Rolle der Physik für das methodische Selbstverständnis des neuzeitlichen Denkens. Aus dem Inhalt : Die Entdeckung der Vernunft - Vorgeschichte und Anfang des neuzeitlichen Denkens (Kopernikus, Luther, Renaissance) - Der euklidische Aufbau der neuzeitlichen Physik - Physik und Metaphysik - Fortschritt und Utopie Kunstsprache und Logikkalkül - Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung) - Logik und Metaphysik - Das Ende der Metaphysik.
J. Mittelstraß
Die Rettung der Phänomene Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips Groß-Oktav. VI, 281 Seiten. 1962. Ganzleinen D M 36,- ISBN 3110051281 Preisänderungen vorbehalten