Ästhetische Faszination: Die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff 9783110527308, 9783110521436

Starting from a modern understanding of "fascination", this broad-based study in the area of conceptual histor

217 14 1MB

German Pages 297 [298] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination
1.1 Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert
1.1.1 Konzeptionen physischer fascinatio in der Antike
1.1.2 Metaphorisierung physischer fascinatio im frühen Christentum
1.1.3 Diskussion von Avicennas voluntativer Konzeption von fascinatio im Mittelalter
1.1.4 Psychologisierung des epistemologischen Faszinationsbegriffs in der Frühen Neuzeit
1.2 Merkmale, Metaphorik und emotionales Profil von Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption
1.2.1 Begriffsverständnis und emotionales Profil von Faszination im 20. Jahrhundert
1.2.2 Faszinationsbeschreibung und Faszinationsbegriff bei Platon
1.2.3 Applizierung des fascinatio-Begriffs auf Sokrates durch Marsilio Ficino
1.2.4 Faszination als Diskrepanz-Effekt in Nietzsches Sokrates-Bild
2 Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination
2.1 Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff
2.1.1 Aufmerksamkeit und Sinnestäuschung bei Baumgarten und Kant
2.1.2 fascinatio: Definition, Vergleich, anthropologische Anmerkung
2.1.3 Exkurs: Zum Begriff der dunklen Vorstellungen bei Kant und Sulzer
2.1.4 fascinatio: Beispiele und lustökonomische Bilanz
2.2 Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft
2.2.1 Formale Ästhetik: Lustökonomie des Schönen und des Erhabenen
2.2.2 Diskussion: Faszination des Hässlichen und des Erhabenen, interpretiert nach dem Modell des Schönen
2.2.3 Ästhetische Idee: Faszination des Schönen, interpretiert nach dem Modell des Erhabenen
2.3 Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison
2.4 Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe
2.4.1 Sinnenschein und zwiespältige Semantik: Rosalien-Episode
2.4.2 Geheimnis, Problem, Symbol
2.4.3 Faszination als Nicht-Scheiden-Können: Zu Goethes Faust
3 Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien
3.1 Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles
3.1.1 Lust an der Metapher durch Ähnlichmachen
3.1.2 Reichtum an Gedanken durch Verknappung und Entgegensetzung
3.2 Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione
3.3 Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen
3.3.1 Doppelcharakter des Erhabenen: Destruktion und Elevation
3.3.2 Faszination des Emphatisch-Angedeuteten
3.3.3 Erlebnismimetische Funktion der Stilmittel
3.3.4 Erhabene Stimulation der Gedanken: Mehr meinen oder anderes meinen
4 Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts
4.1 Gewalt der Imagination: Addison und Burke
4.1.1 Schweigegeste und Gedankensog
4.1.2 Lust der Einbildungskraft am Großen
4.1.3 Imaginationssteigerung durch Bildkombination
4.2 Starren auf Mannigfaltigkeit: Erhabene Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn
4.2.1 Erhabenheit und Mannigfaltigkeit bei Mendelssohn
4.2.2 Eindeutige und mehrdeutige Andeutung: Der ‚Wink mit der Augenbraue‘ bei Mendelssohn, Addison und Lessing
4.3 Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock im Gespräch
4.3.1 Anschauung und Bildbrüche: Mendelssohns Anmerkungen zu Lessings Laokoon-Entwurf
4.3.2 Faszinierende Bildmontage, sinnlicher Kohärenzdruck: Klopstocks Messias
4.3.3 Assoziationskalkül der Ode: Mendelssohns Von der lyrischen Poesie
4.4 Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination
4.4.1 Kommunikationsmodell Faszination: Adressierung der Bedürfnisstruktur
4.4.2 Stilmodell Faszination: Lakonismus, Bildlichkeit, Montage
Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht
Verzeichnis der zitierten Literatur
Personenregister
Sachregister
Recommend Papers

Ästhetische Faszination: Die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff
 9783110527308, 9783110521436

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview



Andreas Degen Ästhetische Faszination

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

87 (321)

De Gruyter



Ästhetische Faszination Die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff von

Andreas Degen

De Gruyter

Dieses Buch beruht auf meinen im Rahmen des DFG-Projektes „Faszination. Historische und empirische Konzeptionen einer ästhetischen Emotion“ am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin vorgenommenen Forschungen. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder für die gewährte Förderung. Die Publikation des Buches wurde durch die Potsdam Graduate School der Universität Potsdam finanziell unterstützt, wofür ich ebenfalls danke.

ISBN 978-3-11-052143-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052730-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052534-2 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com





Das klare aber ermüdet bald. Immanuel Kant

Inhalt

Inhalt Einleitung...................................................................................................................................  1 1 Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination ........................................................................................................................ 11 1.1 Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert ................ 11 1.1.1 Konzeptionen physischer fascinatio in der Antike................................. 12 1.1.2 Metaphorisierung physischer fascinatio im frühen Christentum....... 17 1.1.3 Diskussion von Avicennas voluntativer Konzeption von fascinatio im Mittelalter............................................................................... 21 1.1.4 Psychologisierung des epistemologischen Faszinationsbegriffs in der Frühen Neuzeit.................................................................................. 27 1.2 Merkmale, Metaphorik und emotionales Profil von Faszination am Beispielder Sokrates-Rezeption...................................................................... 32 1.2.1 Begriffsverständnis und emotionales Profil von Faszination im 20. Jahrhundert........................................................................................ 33 1.2.2 Faszinationsbeschreibung und Faszinationsbegriff bei Platon............ 39 1.2.3 Applizierung des fascinatio-Begriffs auf Sokrates durch Marsilio Ficino.............................................................................................. 48 1.2.4 Faszination als Diskrepanz-Effekt in Nietzsches Sokrates-Bild.......... 52 2 Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination.......... 57 2.1 Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff .................. 57 2.1.1 Aufmerksamkeit und Sinnestäuschung bei Baumgarten und Kant... 57 2.1.2 fascinatio: Definition, Vergleich, anthropologische Anmerkung........ 63 2.1.3 Exkurs: Zum Begriff der dunklen Vorstellungen bei Kant und Sulzer............................................................................................................... 67 2.1.4 fascinatio: Beispiele und lustökonomische Bilanz.................................. 70 2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft ....................... 75 2.2.1 Formale Ästhetik: Lustökonomie des Schönen und des Erhabenen. 75 2.2.2 Diskussion: Faszination des Hässlichen und des Erhabenen, interpretiert nach dem Modell des Schönen .......................................... 79 2.2.3 Ästhetische Idee: Faszination des Schönen, interpretiert ​nach dem Modell des Erhabenen........................................................................ 84 2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison... 100

VIII

Inhalt

2.4 Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe..................... 110 2.4.1 Sinnenschein und zwiespältige Semantik: Rosalien-Episode............ 110 2.4.2 Geheimnis, Problem, Symbol................................................................... 113 2.4.3 Faszination als Nicht-Scheiden-Können: Zu Goethes Faust ............ 121 3 Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien.................. 127 3.1 Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles.............. 127 3.1.1 Lust an der Metapher durch Ähnlichmachen...................................... 128 3.1.2 Reichtum an Gedanken durch Verknappung und Entgegensetzung ........................................................................................ 137 3.2 Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione ........ 141 3.3 Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen ....... 148 3.3.1 Doppelcharakter des Erhabenen: Destruktion und Elevation ......... 151 3.3.2 Faszination des Emphatisch-Angedeuteten.......................................... 157 3.3.3 Erlebnismimetische Funktion der Stilmittel........................................ 163 3.3.4 Erhabene Stimulation der Gedanken: Mehr meinen oder anderes meinen............................................................................................ 166 4 Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts ............................................................................................................ 175 4.1 Gewalt der Imagination: Addison und Burke................................................... 175 4.1.1 Schweigegeste und Gedankensog............................................................ 175 4.1.2 Lust der Einbildungskraft am Großen................................................... 180 4.1.3 Imaginationssteigerung durch Bildkombination................................. 186 4.2 Starren auf Mannigfaltigkeit: Erhabene Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn......................................................................... 191 4.2.1 Erhabenheit und Mannigfaltigkeit bei Mendelssohn......................... 191 4.2.2 Eindeutige und mehrdeutige Andeutung: Der ‚Wink mit der Augenbraue‘ bei Mendelssohn, Addison und Lessing........................ 198 4.3 Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock im Gespräch.................................................................... 204 4.3.1 Anschauung und Bildbrüche: Mendelssohns Anmerkungen zu Lessings Laokoon-Entwurf........................................................................ 204 4.3.2 Faszinierende Bildmontage, sinnlicher Kohärenzdruck: Klopstocks Messias ..................................................................................... 210 4.3.3 Assoziationskalkül der Ode: Mendelssohns Von der lyrischen Poesie ............................................................................................................. 213 4.4 Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination ...................................... 219 4.4.1 Kommunikationsmodell Faszination: Adressierung der Bedürfnisstruktur....................................................................................... 220 4.4.2 Stilmodell Faszination: Lakonismus, Bildlichkeit, Montage ........... 227

Inhalt

IX

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht............................................... 253 Verzeichnis der zitierten Literatur..................................................................................... 269 Personenregister.................................................................................................................... 283 Sachregister............................................................................................................................ 285

Einleitung

1

Einleitung Wer von Faszination spricht, sichert sich Aufmerksamkeit. Das Wort selbst scheint so attraktiv zu sein wie das, was es benennt. Es klingt geheimnisvoll, verspricht Unabsehbares und löst eine Folge rasch wechselnder Vorstellungen, Assoziationen und Gefühle aus, gerade so als ob in diesem performativen Effekt, in diesem Sog von Gedanken und Imaginationen die einstige Funktion des Wortes als terminus technicus der schwarzen Magie nachwirkt. In seiner alten Bedeutung besaßen das lateinische Wort fascinatio und seine volkssprachigen Derivate bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein eine eindeutig nega­ tive Valenz. Die moderne Bedeutung des Wortes hingegen, eigentlich eine tote Metapher des alten Terminus, meint eine positive, weil emotional wie geistig anregende und erwünschte Form des Wahrnehmens und Erlebens: ‚Faszination‘ steht für eine „fesselnde, geheimnisvolle Wirkung, Ausstrahlung, Bezauberung“1, eine „starke Anziehungs-, Verführungskraft“ oder „Unwiderstehlichkeit“; in dieser Bedeutung lässt sich das Wort im Deutschen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen. Wer heute von Faszination spricht, meint eine solche aufmerksamkeitsbindende Wirkung oder Kraft, die im Unterschied zur alten Wortbedeutung höchst willkommen ist, gerade weil sie mit Irritation, involvierender Herausforderung und einer gewissen Unkalkulierbarkeit verbunden ist und dadurch von gängigen Wahrnehmungs- und Erlebnisroutinen absticht.2 Faszination ist in starkem Maße an die sinnliche Erscheinungsqualität von Gegenständen, Personen oder Situationen oder deren zeichenvermittelte Imagination gebunden. Faszinationserleben kann zunächst als ein semantischer Strukturierungs- und anhaltender Imaginationsprozess beschrieben werden, der auf eine Mehrdeutigkeit oder Unbestimmtheit in der kategorialen Zuordnung einer sensitiv perfekt erscheinenden Wahrnehmung oder zeichen1 2

Nortmeyer, I.: faszinieren, in: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 5, hg. von G. Strauß u. a. Berlin, New York 2004, S. 733 – 737, hier S. 733f. In einer semantischen Wortfeldanalyse von eintausend ‚ein Gefühl darstellenden‘ deutschen Wörtern der Umgangssprache wird ‚Faszination‘, ‚faszinieren‘ u. ä. der Kategorie ‚Richten oder Fokalisieren der Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes‘ zugeordnet, wobei ‚Faszination‘ innerhalb dieser Kategorie der höchste Intensitätsgrad zugeordnet wird (Tritt, K.: Emotion und ihre soziale Konstruktion. Frankfurt a. M. 1992, S. 127).

DOI 10.1515/9783110527308-001

2

Einleitung

basierten Vorstellung innerhalb einer als kontrollierbar eingeschätzten Situation reagiert. Dieser Prozess verläuft intrinsisch motiviert. Die Lust, die hinter jedem Faszinationserleben steht, ist die Lust an dem belebenden Gefühl, sich resultat- und handlungsentlastet mit Diskrepanzen in der eigenen Schematisierung von Welt und in der kategorialen Zuordnung eigener Vorstellungen und Erfahrungsmuster zu beschäftigen. Aufgrund dieser Konzeptualisierung ist der von mir angesetzte Begriff von Faszination ein formaler. Faszination, so die Hypothese, beruht auf einer – in der Regel zufälligen, in der Kunst jedoch kalkuliert induzierten – Divergenz in der Prozessierbarkeit von sinnlichem Arrangement einer- und semantischer Ordnung andererseits. Neben Lust ist der Effekt dieser Diskrepanzerfahrung gedanklich-assoziative Fülle. Die anhaltende sinnlich vermittelte Beschäftigung mit dem faszinierenden Gegenstand schlägt sich physisch als Bewegungslosigkeit, als ein unverwandtes Starren auf das fesselnde Objekt nieder. In Wirklichkeit ist Faszination aber keine passivierende, sondern eine kognitiv und auch emotional aktive Erlebnisform.3 Schwindet allerdings die Grundannahme der Sicherheit und Kontrollierbarkeit in einer faszinierenden Situation, kann das Faszinationserleben leicht in Angst kippen; verliert andererseits das stimulierende Wahrnehmungs- bzw. Imaginationsobjekt seine sinnliche Affinität oder seine gravierende Ambiguität oder Unbestimmbarkeit, verblasst Faszination bald zu Langeweile. Wer von Faszination spricht, verwendet häufig Metaphern der Gewalteinwirkung wie Bezauberung, Verblendung, Hingerissensein, Gebanntsein oder Gefesseltsein.4 Mit diesen und anderen, nicht selten aus der komplexen Geschichte des Faszinationsbegriffs sich ableitenden Metaphern werden das die Aufmerksamkeit und Imagination Überwältigende und die gefühlte Intensität der Faszination veranschaulicht, der in realitas allenfalls ein kontrollierter Kontrollverlust zugrunde liegt. Das Anliegen dieses Buches ist es, jenes Gefühl der unwiderstehlichen und anhaltenden Attraktion, das sich in der Gewaltund Überwältigungsmetaphorik der Faszination ausdrückt, für den Bereich des Literarischen durch Begriffe und Theorien aus dem Feld der Rhetorik, Äs3

4

Innerhalb der empirischen Psychologie wird mittlerweile davon ausgegangen, dass die charakteristische Angststarre (Freezing) vor allem der Intensivierung der Orientierung dient und somit weniger als allgemeines Merkmal von Angst als Reaktion auf eine Bedrohung, sondern eher als Indikator für eine passive Wahrnehmungsaufnahme anzusehen ist (Lüdtke, J./ Jäkel, A./ Ordonez Acuna, D.: Self reported fascination experiences. Approaches to an unexplored emotion, in: Baisch, M./ Degen, A./ Lüdtke, J. (Hg.): Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Freiburg 2013, S. 309 – 344, hier S. 315f.). Vgl. Haring, C./ Leickert, K. H.: Wörterbuch der Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete. Stuttgart, New York 1968, S. 218; Dorsch, F.: Psychologisches Wörterbuch. Bern, Stuttgart, Toronto 111987, S. 215; Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hg. von J. Hoffmeister. Hamburg 21955, S. 230; die Neubearbeitung des Wörterbuchs von 1998 übernimmt die Erläuterung zu ‚Faszination‘ im Wortlaut.

Einleitung

3

thetik und Poetik zu erläutern. Faszination wird dabei im Sinne des modernen Sprachgebrauchs als eine Ambiguität markierende, jedoch grundsätzlich positiv bewertete komplexe emotionale Reaktion auf einen externen Stimulus angesehen. Sie wird der in der Emotionspsychologie etablierten Klasse der ästhetischen Emotionen zugeordnet, zu der auch Rührung, Erstaunen, Verzückung, Wonne, Bewunderung oder Harmonie gezählt werden können.5 Ästhetische Emotionen, das heißt emotionale Reaktionen auf wahrgenommene Kunstwerke oder bestimmte Naturphänomene, unterscheiden sich dem Emotionspsychologen Klaus R. Scherer zufolge von sonstigen, mit einer unmittelbaren Adaption an ein Ereignis (Handlungsreaktion) einhergehenden Emotionen dadurch, dass bei ihnen eine Bewertung (appraisal) des Ereignisses hinsichtlich der Relevanz für eigene Ziele, hinsichtlich des Coping-Potentials, der physischen Bedürfnisse und der sozialen Werte wenig ausgeprägt ist.6 Ästhetische Emotionen verlaufen demzufolge eher kurzphasig und mit einer geringen oder mittleren Intensität, sie sind stark stimulusfokussiert und sehr stark intrinsisch motiviert. Das Gefühl des Fasziniertseins wird in der Psychologie mitunter auch dem Interesse zugeordnet, das Carroll E. Izard als Basisemotion auffasst.7 Als Grund­vor­­aussetzung von Interesse wird eine Veränderung oder Neuheit angesehen, entweder in der Außenwelt oder im Bereich der Imagination, des Erinnerns oder Denkens. Interesse sei durch einen relativ hohen Grad an Annehmlichkeit und Selbstgefühl (pleasantness, self-assurance) und einen mittleren Grad an Impulsivität und Spannung (impulsiveness, tension) charakterisiert und oft mit der Emotion Freude (joy) verbunden.8 Einer jüngeren Studie zufolge teilen Vergnügen (enjoyment) und Faszination das Merkmal der positiven Valenz, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Gefühlsqualität:9 Anders als Vergnügen werde Faszinationserleben von Kunst, Natur oder Personen nicht einfach als Entspannung und Glück (relaxation, happyness) und nicht 5

6 7 8 9

Als ästhetische Emotion genannt wird Faszination bei Frijda, N. H.: The emotions. Cambridge 1986, S. 356 und bei Scherer, K. R.: What are emotions? And how can they be measured? in: Social Science Information 44 (2005), S. 695 – 729, S. 706. Frijda unterscheidet hinsichtlich ästhetischer Emotionen zwischen solchen, die durch Inhalt oder Form des Stimulus hervorgerufen werden (complementing emotions), und solchen, die durch dessen Qualität hervorgerufen werden (responding emotions), wobei Faszination neben Vergnügen, Bewunderung, Rührung, Ergriffenheit zu Letzterem gezählt wird. – Zu Faszination liegt bislang kaum psychologische Forschung vor. Eine Diskussion der bisherigen konzeptionellen Ansätze sowie zwei empirische Studien bietet Lüdtke u. a.: Self reported fascination. Scherer: What are emotions?, S. 704 und S. 706. Izard, C. E.: Human emotions. Emotions, personality, and psychotherapy. New York u. a. 1977, S. 189ff.; „This kind of total immersion, fascination, and absorption is precisely what follows from intense interest or excitement“ (ebd., S. 231). Ebd., S. 237. Lüdtke u. a.: Self reported fascination, S. 332f.

4

Einleitung

allein als Freude (joy, fun) beschrieben, sondern auch als ein überwältigendes, beherrschendes Gefühl (dominating, overwhelming, impressive feeling), das Interesse, Gedankentätigkeit und spirituelle Empfindungen weckt und das mit einem intensiven, oft nicht abschließbaren Evaluationsprozess hinsichtlich des stimulierenden Objektes verbunden ist. Ich gehe davon aus, dass ästhetische Faszination mit hoher Wahrscheinlichkeit dann empfunden wird, wenn sich im intrinsischen Erleben von sinnlich perfekt prozessierbaren Gegenständen ein hoher Grad an semantischer Unbestimmbarkeit und Ambiguität einstellt, der einen anhaltenden Evaluationsprozess der eigenen Kategorienbildung stimuliert. Diese lustökonomisch balancierte Diskrepanz von sinnlicher Affinität und problematischer Kategorien- und Schematazuordnung regt zu Assoziationen, Gedanken und – wie es 1811 in einem der frühsten Belege für ästhetische Faszination heißt – „trains of fascinating and of endless imagery“10 an. In dieser Passage, in der der schottische Philosoph Archibald Alison das Erleben einer weiten abendlichen Herbstlandschaft beschreibt, wird die Denkfigur des Fasziniertwerdens mit dem entsprechenden Wort benannt, das hier in einer positiven, von magischen Hintergrundkonzepten völlig abgelösten, rein ästhetischen Bedeutung verwendet wird.11 Faszination ist, im Unterschied etwa zu Rührung, Reiz, Interesse, Erhabenheit oder dem Wunderbaren, als ästhetische Kategorie bislang nicht etabliert.12 Begriffliche Explikationen finden sich im Bereich der Kunsttheorie und Philosophie nur in wenigen Ausnahmen, so in dem 1992 publizierten Wörterbuch der Ästhetik. Dort wird Faszination als eine „Form der Wahrnehmung oder des Erlebnisses“13 definiert, die oft an Erscheinungen des Erhabenen oder des Hässlichen gebunden ist und vor allem von der sinnlichen und gefühlsmäßigen Hingabe an das (faszinierende) Objekt gekennzeichnet ist. Von der geistigen Konzentration, als deren vitales Pendant sie begriffen werden kann, unterscheidet sich Faszination durch ihre Passivität bzw. durch ihre unkritische Nähe zum Objekt.

Ein möglicher Grund für die Zurückhaltung der ästhetischen Theoriebildung gegenüber einer Konzeptualisierung von Faszination kann im Auseinandergehen der Geschichte des alten Begriffsnamens ‚fascinatio‘ und der Geschichte des heute als Faszination bezeichneten ästhetischen Erlebnismodus gesehen 10 Alison, A.: Essays on the Nature and Principles of Taste. Edinburgh 1811, S. 437. 11 Vgl. Kapitel 2.3. 12 ‚Faszination‘ wird als Lemma oder Registerstichwort weder in den „Ästhetischen Grundbegriffen“ (Stuttgart, Weimar 2000 – 2005) noch im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (Basel, Stuttgart 1971 – 2007) oder „Metzler Lexikon Ästhetik“ (Stuttgart, Weimar 2006) angeführt. 13 Lotter, K.: Faszination, in: Lexikon der Ästhetik, hg. von W. Henckmann und K. Lotter. München 1992, S. 60.

Einleitung

5

werden. So verstand noch das für ästhetische Begriffsbildungen weichenstellende 18. Jahrhundert unter ‚Faszination‘ etwas deutlich anderes als wir, während umgekehrt das, was heute als Faszinationserleben beschrieben wird, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in anderen begrifflichen Zusammenhängen diskutiert wurde. Diesen begriffsgeschichtlichen Hiatus werde ich im ersten Teil des Buches mit einem zweifachen Gang durch die Genealogie des Faszinationsbegriffs vorstellen. In jüngerer Zeit sind einige Versuche unternommen worden, Faszinationserleben präziser zu beschreiben und konzeptionell zu verankern. In einer Reihe von empirischen Studien beschäftigen sich die US-amerikanischen Umweltpsychologen Stephen und Rachel Kaplan seit den 1970er Jahren mit Faszination als einer Variante von unwillkürlicher Aufmerksamkeit, verbunden mit einem ressourcenregenerierenden Effekt:14 Der Attention Restoration Theory zufolge vermögen Objekte aufgrund bestimmter sozialer oder naturbezogener Inhalte (wie Sexualität, Gewalt, Feuer, Sonnenuntergang) oder aufgrund eines informationsverarbeitenden Prozesses (wie Glücksspiel, Anhören einer Erzählung) unter begrenzt ungewissen Bedingungen zu faszinieren. Bei Letzterem sei nicht entscheidend, ob das Objekt tatsächlich neu ist, sondern ob es derart in kognitive Zusammenhänge eingebunden werden kann, dass diese insgesamt eine größere Einsicht oder Übersicht gewinnen lassen. An bestehendes Wissen bloß assimilierbare Reize faszinieren demzufolge nicht, sondern lenken vor­übergehend ab. Abhängig davon, in welchem Maße die unwillkürliche Aufmerksamkeitsbindung Reflexion zulässt, könne zwischen hard fascination (Autorennen, Spinnen) und einer mit Vergnügen verbundenen soft fascination, zu der auch ästhetisches Faszinationserleben etwa von Wolken oder einer Landschaft zählt, unterschieden werden.15 Ausgehend von der Herkunft des Wortes aus der Magie versteht der britische Literaturwissenschaftler Steven Connor Faszination als ein ursprünglich transitives Phänomen, bei dem ein Subjekt über ein anderes Macht ausübt.16 Das moderne, von keiner eigentlichen Fremdeinwirkung ausgehende, deshalb intransitive Verständnis von Faszination trage narzisstische Züge: Eine Unterscheidung zwischen Ego und Alter, Innen und Außen werde im ästhetisch-medialen 14 Kaplan, S.: Attention and fascination. The search for cognitive clarity, in: Kaplan, S./Kaplan, R. (Hg.): Humanscape. Environments for people. Belmont, CA 1978, S. 84 – 90; Kaplan, S./ Kaplan, R.: The experience of nature. A psychological perspective. New York 1989; Kaplan, S.: The restorative benefits of nature. Toward an integrative framework, in: Journal of Environmental Psychology 15 (1995), S. 169 – 182; vgl. auch Berto, R./ Baroni, M. R./ Zainaghi, A. u. a.: An exploratory study of the effect of high and low fascination environments on attentional fatigue, in: Journal of Environmental Psychology 30 (2010), S. 494 – 500. 15 Kaplan: The restorative benefits. 16 Connor, S.: Fascination, skin and the screen, in: Critical Quarterly 40 (1980), S. 9 – 24, hier S. 9.

6

Einleitung

Faszinationserleben zugunsten eines gesteigerten Ineinanderfließens von Subjekt und Objekt aufgehoben.17 Faszination sei eine prekäre Balance zwischen Distanzbewusstsein und Eintauchen, etwa beim Betrachten von Filmen. Faszinierend in einem allgemeinen Verständnis ist für den US-amerikanischen Komparatisten Ackbar Abbas eine „Erfahrung, die unsere Aufmerksamkeit gefangen nimmt, ohne sich gleichzeitig vollständig unserem Verstehen zu fügen“18. Ausgangspunkt seiner Studie zur Dialektik des Scheins ist eine Kritik des deutschen marxistischen Philosophen Wolfgang Fritz Haug, der Faszination als eine Strategie der Warenästhetik konzipiert. Haug zufolge sind Objekte faszinierend, die „die Sinnlichkeit von Menschen gefangen halten. Auf dem Wege über die Beherrschung des Sinnlichen sind es die eignen Sinne, die die Faszinierten beherrschen“19. Abbas schränkt Haugs Kritik mit dem Hinweis ein, dass Faszinierendes nicht nur täuscht und überwältigt, sondern aufgrund seiner Rätselhaftigkeit auch Verdrängtes zu exponieren und dadurch bewusst zu machen vermag.20 Vom Interessanten als Pendant des Intellekts unterscheide sich das Faszinierende dadurch, dass es mit dem Intelligiblen bricht und aus dem Bewusstsein gedrängte Realitäten zulässt. Literarisch Faszinierendes täuscht, aber betrügt nicht; vielmehr erinnere es an das, was sich jeder Symbolisierung entzieht.21 Abbas versteht, ähnlich wie der deutsche Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, Faszination als Symptom von Verdrängung, ungelösten Problemen oder Tabus.22 Für den deutschen Philosophen Martin Seel können visuell wahrgenommene Strukturen des Wechsels und Widerstreitens Auslöser ästhetischer Faszination sein. So fasziniere ein Sportereignis, weil wir zeitlich begrenzt die Unwägbarkeit unserer körperlichen Natur genießen können.23 Auf eine „Distraktion der ästhetischen Aspekte“24 führt Seel jene Faszination zurück, die mitunter von der ästhetischen Schönheit ethisch höchst problematischer Situationen ausgeht. Faszination gehört für den Anglisten Ulrich Seeber zum ästhetischen Kanon moderner Literatur; sie werde erlebt, wenn „imaginative poetische Verwandlung und faszinierende Alterität 17 Ebd., S. 20f. 18 Abbas, A.: Dialectic of Deception, in: Public Culture 11 (1999), S. 347 – 363, hier S. 356 (Übersetzung A.D); vgl. auch Abbas, A.: On Fascination: Walter Benjamin’s Images, in: New German Critique 48 (1989), S. 43 – 62. 19 Haug, W. F.: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M. 1971, S. 55. 20 Abbas: Dialectic of Deception, S. 348. 21 Ebd. S. 354 – 359. 22 Heinrich, K.: Das Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang. Basel, Frankfurt a. M. 1995, S. 340. 23 Seel, M.: Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports, in: Gerhardt, V./ Wirkus, B. (Hg.): Sport und Ästhetik. Tagung der dvs-Sektion Sportphilosophie vom 25.–27.6.1992 in Köln. Sankt Augustin 1995, S. 113 – 125, hier S. 125. 24 Seel, M.: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1991, S. 209.

Einleitung

7

in eine gemeinsame Perspektive“25 rücken. Faszinierend seien Erscheinungen, die „moralisch, ontologisch und/ oder ästhetisch radikal von der Norm abweichen“26. Mit einem weiten Begriffsverständnis lasse sich Faszination bestimmen als eine ästhetisch-psychologische, liebende Anziehung und angstbesetzte Abwehr verbindende Dimension von Wahrnehmung und intensiver Aufmerksamkeit, die ihre Entstehung vor allem einer Kombination von entgrenzter Ordnung (ontologisch und ästhetisch), Bannkraft des Bösen und unübersichtlicher, komplexer Rede (Faszination des Schwierigen) verdankt.27

Grundmerkmal der im 19. Jahrhundert entstehenden Poetik der Faszination sei die „paradoxe Doppelstruktur von Gefangensein und stimulierter, imaginativer, ja reflexiver Beweglichkeit“28, die durch eine Vielzahl stilistischer Mittel erzielt werden könne. Typische Erfahrungsbereiche von Faszination sind nach Seeber das Böse, das Rätselhafte und das Hässliche, weiterhin der Fetischismus der Warenwelt, Glamour sowie persönliches Charisma. Die deutsche Anglistin Sibylle Baumbach beschäftigt sich entlang der Rezeption des antiken Medusa-Topos vor allem mit der Faszination des Hässlichen und Schrecklichen, vorrangig in literarischen Texten. Faszination wird von Baumbach als intensive, aber widersprüchliche ästhetische Reaktion in der Verbindung von Abwehr und Anziehung verstanden.29 Eine solche kognitive Irritation trete vor allem bei ästhetisch schönen Darstellungen tabuisierter Gegenstände auf. Bei aller historischer und thematischer Vielfalt beruhe Faszinationserleben auf einem ähnlichen Grundmechanismus: der zugleich gefürchteten wie erwünschte Dualität von Vergnügen und Ambivalenz.30 25 Seeber, H. U.: Literarische Faszination in England um 1900. Heidelberg 2012, S. 14; vgl. auch Seeber, H. U.: Ästhetik der Faszination? Überlegungen und Beispiele, in: Anglia – Zeitschrift für englische Philologie 128 (2010) H. 2, S. 197 – 224. 26 Seeber: Literarische Faszination, S. 17; im Original teilweise hervorgehoben. 27 Ebd., S. 22. 28 Ebd., S. 249. 29 Baumbach, S.: Literature and Fascination. Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2015, S. 252. 30 Weitere Publikationen zu Faszination in vorwiegend ästhetischer Hinsicht sind Weiss, A. S.: An Eye for an I: On the Art of Fascination, in: Recent Film Theory in Europe 51 (1986), S. 87 – 95; Türcke, Ch.: Faszination, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. von W. F. Haug, Bd. 4. Hamburg 1999, Sp. 186 – 193; Weingart, B.: Faszinationsanalyse, in: Echterhoff, G./ Eggers, M. (Hg.): Der Stoff, an dem wir hängen. Faszination und Selektion von Material in den Kulturwissenschaften, Würzburg 2002, S. 19 – 29; Rimé, B./ Delfosse, C./ Corsini, S.: Emotional fascination. Responses to viewing pictures of September 11 attacks, in: Cognition & Emotion 19 (2005), S. 923 – 932; Hahnemann, A./ Weyand, B.: Faszination. Zur Anziehungskraft eines Begriffs, in: Dies. (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2009,

8

Einleitung

Die vorliegende Untersuchung zur Geschichte der ästhetischen Faszination geht von einem formalen Verständnis aus. Dieses wird für die Zeit vor der allmählichen Sedimentation des Faszinationsbegriffs während des 19. Jahrhunderts auf zwei historischen Stufen der rhetorischen, poetologischen und semiotischen Theoriebildung – der griechischen Antike und des 18. Jahrhunderts – erörtert, um daraus grundlegende Beschreibungs- und Erklärungskomponenten für die Stimulierung, Charakteristik und Wirkung jener ästhetischen Gefühlsnuance gewinnen zu können, die heute gemeinhin als Faszination bezeichnet wird. Untersucht wird Faszination somit als eine Denkfigur.31 Während der Begriff des ‚Begriffs‘ „eher auf invariante geistige Bedeutungen zielt und eine Teleologie präzisierter Terminologisierung aufruft“32, unterläuft der Begriff der ‚Denkfigur‘, der neben wissenschaftlichen auch literarische und alltagssprachliche Diskurse berücksichtigt, die „Dichotomie von Begriff, Metapher, Diskurs und Sprachpragmatik“, um „semantische Transfers, Registerwechsel und Übersetzungen zwischen verschiedenen Wissensbereichen zu erfassen“. Im Folgenden wird ästhetische Faszination konzeptionell auf die Erkenntnislust an der Metapher, auf kognitiv-emotionale Effekte sprachlicher obscuritas33, auf das Wirkungsmodells des Erhabenen oder auf die semiotische Differenz von eindeutiger und mehrdeutiger EmphaS. 7 – 32; Baisch, M.: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman, in: Kasten, I. (Hg.): Machtvolle Gefühle. Berlin, New York 2010, S. 139 – 166; Degen, A.: Ästhetische Faszination, erläutert an Reisebeschreibungen vom Vesuv, in: Peitsch, H. (Hg.): Reisen um 1800. München 2012, S. 107 – 124; Imschoot, T. V.: Surviving Fascination, in: Image [&] Narrative 14 (2013), 3, S. 151 – 168; Weingart, B.: Fas­ zinieren, in: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, hg. von H. Christians, M. Bickenbach und N. Wegmann. Köln, Weimar, Wien 2015, S. 209 – 224. 31 Unter einer Denkfigur lässt sich zunächst ein variierendes diskursives Set aus bestimmten Begriffen, Metaphern und Topoi auffassen; vgl. Müller, E./ Schmieder, F.: Begriffsgeschichte in den Naturwissenschaften. Die historische Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Workshop vom 9. bis 10. Februar 2007 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, in: Archiv für Begriffsgeschichte 49 (2007), S. 210 – 214, hier S. 214. 32 Müller, E.: Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Begriffsgeschichte im Umbruch, hg. von E. Müller. Hamburg 2005, S. 9 – 20, hier S. 17f. 33 Zu rhetorischer und literarischer Obscuritas vgl. grundlegend: Fuhrmann, M.: Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: Iser, W. (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Poetik und Hermeneutik, Bd. 2. München 1966, S. 47-69; Hamilton, J. T.: Soliciting Darkness: Pindar, Obscurity, and the Classical Tradition. Cambridge, Mass. 2003; Walde, Ch./ Brandt, R./ Fröhlich, J. u. a.: Obscuritas, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding, Bd. 6. Darmstadt 2003, Sp. 358-383; Asmuth, B.: Der Beitrag der klassischen Rhetorik zum Thema Verständlichkeit, in: Rhetorik. Ein internationales Handbuch, Bd. 28, hg. von G. Antos. Tübingen 2009, S. 1-28.

Einleitung

9

se verwiesen, um dadurch Aspekte der Geschichte ästhetischer Faszination als einer Denkfigur beschreiben zu können. Faszination ist ein sensitiv provozierter semantischer Explorations- und Strukturierungsprozess. Die durch Unbestimmbarkeit oder Mehrdeutigkeit beständig stimulierte Erkenntnislust scheint konstitutiv für die zeitliche Extension und damit für die ästhetisch-psychologische Qualität von Faszination zu sein. Faszination ist kein Pathoskonzept, sondern stark kognitiv profiliert. Fasziniert zu werden bedeutet gerade keine Verabschiedung, sondern eine Herausforderung des Intelligiblen durch das Sinnliche. In dem Maße, in dem ein Text zu einer „vollkommenen sinnlichen Rede“34 wird, kann seine Klarheit, seine begriffsförmige Explizitheit und Explizierbarkeit, im Modus von Ambiguität oder Ambivalenz verdunkelt werden. Dies mag epistemologisch oder ethisch als defizitär erscheinen, wirkungsästhetisch ist es ein Gewinn, da so die Aufmerksamkeitsfixierung stabilisiert und die Beschäftigung mit dem Gegenstand verlängert und intensiviert werden kann. Erstmals entwirft, auf der Grundlage eines theologisch gegründeten Sensualismus, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Johann Georg Hamann eine dezidierte Poetik der Faszination, die auf eine radikale Involvierung und Aktivierung des Erkennenden bzw. Lesenden zielt: Indem der Autor die sinnliche Bedürfnisstruktur des Rezipienten optimal nachahmt, zwingt er diesen, die implizite gedankliche Konzeption des Autors in eigenmächtiger Aktivität nachzuahmen. Im Unterschied zu anderen Begriffen ästhetischen Erlebens wie Rührung oder Enthusiasmus stehen beim ästhetischen Gefühl des Fasziniertseins Kohärenzbildung und semantische Strukturierung und damit dominant kognitive Prozesse im Zentrum. Dass im Erleben von Faszination kognitive Schemata herausgefordert oder überfordert werden, bedeutet keine Extermination des Denkens, sondern dessen Stimulation, was sich entsprechend emotional niederschlägt. Wenn Faszination eine bestimmte Qualität starker und anhaltender bzw. immer wieder reaktivierbarer Wirkung meint, darf angenommen werden, dass unabhängig der Terminologie überall dort, wo in der Rhetorik-, Ästhetik- und Poetikgeschichte Erlebnisphänomene solcher Wirkungsqualität und entsprechende Erklärungsmodelle und Stimulierungsverfahren reflektiert werden, auch Aspekte von Faszination zur Sprache kommen. Um diese Aspekte als Komponenten von Faszinationserleben geht es in diesem Buch, das aus vier Teilen besteht. Der erste Teil stellt in einem doppelten Durchgang die Geschichte des Begriffs ‚Faszination‘ von der Antike an dar („Von der physischen 34 A. G. Baumgarten definierte mit großer Nachwirkung das Gedicht („poema“) als „oratio sensitiva perfecta“ (Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Lateinisch-Deutsch, übersetzt und mit einer Einleitung hg. von H. Paetzold. Hamburg 1983, § 1). Dies kann auf andere Medien oder Zeichensysteme angewandt werden.

10

Einleitung

zur epistemologischen Faszination“). Der zweite Teil („Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination“) zeichnet die konzeptionelle Etablierung der Denkfigur der ästhetischen Faszination um 1800 nach: Diskutiert werden Ausschnitte aus Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und Kritik der Urteilskraft, aus Johann Georg Sulzers Aufsatz Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes, aus Dugald Stewarts und Archibald Alisons philosophischen Essays, aus William Hogarths Analysis of Beauty sowie aus Johann Wolfgang Goethes Italienischer Reise und Faust. Diesen historischen Zugriffen folgen zwei stärker systematisch ausgerichtete Teile, in denen rhetorische und literarästhetische Wirkungstheorien der Antike und des 18. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Faszinationsaspekte diskutiert werden. Diskutiert werden wirkungsästhetische Hypothesen aus der Rhetorik des Aristoteles, aus Ps-Demetrios’ Abhandlung über den Stil und aus Ps-Longins Schrift über das Erhabene (dritter Teil) sowie Auszüge aus theoretischen Schriften Joseph Addisons, Edmund Burkes, Moses Mendelssohns, Gotthold Ephraim Lessings, Robert Lowths und aus Klopstocks Vers-Epos Der Messias (vierter Teil). Abschließend wird an stil- und wirkungstheoretischen Überlegungen Johann Georg Hamanns eine erste programmatisch auf Faszination gerichtete Poetik vorgestellt. Dass die untersuchten rhetorisch, psychologisch, ästhetisch oder semiotisch ausgerichteten Erklärungsmodelle sprachlich-poetischer Wirkung selbst keinen expliziten Begriff von ästhetischer Faszination kennen und jeweils von sehr unterschiedlichen Basisannahmen, methodischen Ansprüchen und Geltungsbereichen ausgehen, steht außer Frage. Der hier entworfenen Geschichte der Denkfigur ästhetischer Faszination geht es nicht darum, retrospektiv eine Theorie der Faszination in die ästhetische Tradition zu implementieren. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wo Faszination als Wirkungskomponente mitgedacht wurde und welche wirkungsästhetischen Argumente und Modelle, etwa in Hinblick auf kognitiv-emotionale Reaktionen, lustökonomische Begründungen oder semiotische Effekte, sich aus dieser Tradition für eine ästhetische Theorie der Faszination gewinnen lassen.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

11

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination 1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert Ein Wort kann in bestimmten diskursiven Zusammenhängen als terminologischer Name für ein prägnantes Vorstellungsmodell, eine Theorie oder epistemologische Konzeption verwendet werden; es wird dann zu einem Begriff oder – sofern es sich um einen unfesten, textsortenoffen zirkulierenden, leicht übertrag- und wandelbaren Vorstellungszusammenhang handelt – zu einer Denkfigur. Die begriffliche Verknüpfung von Namen und Vorstellungsmodell steht dabei in vielfältigen Relationen zu anderen Begriffen und kann sowohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht unterschiedlich stabil sein. Die Relationen zu anderen Begriffen können solche der Abgrenzung, Überlappung oder Konkurrenz sein. Sie durchlaufen historische Dynamiken, da Begriffe und Denkfiguren in ihrem abgrenzenden oder korrelierenden Gebrauch durch neue Erkenntnisse und Erklärungsmodelle oder sprachliche Entlehnungs- oder Metaphorisierungsprozesse immer wieder modifiziert werden. In dieser Hinsicht „[haben] Begriffe Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben“1. Definitionen, mit denen die begriffliche Fluktuation stillgestellt werden soll, können die diskursive Unschärfe des Begriffsgebrauchs letztlich nicht aufheben.2 Auch die komplexe, vielfach mehrsträngig verlaufende, von verschiedensten Anwendungsbereichen und mehrfacher Bedeutungsübertragung geprägte Geschichte des noch immer vergleichsweise unscharfen Begriffs der (ästhetischen) Faszination weist historisch, einzel- und fachsprachlich diverse Verknüpfungen des Namens ‚fascinatio‘ mit unterschiedlichen Vorstellungsmodellen und wissenschaftlichen Konzeptionen auf. Diese können den plötzlichen Tod eines Kindes, Formen leidenschaftlichen Begehrens, unerwartete Erfolge eines Gegners, Betrug und Sinnestäuschung oder die starke Wirkung von Gedichten betreffen. Für den folgenden Überblick über die 1 2

Hacking, I.: Vom Gedächtnis der Begriffe, in: Schulte, J./Wenzel, U. (Hg.): Was ist ein philosophisches Problem?, Frankfurt a. M. 2001, S. 72 – 86, hier S. 84. Toepfer, G.: Vorwort, in: Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1. Stuttgart 2011, S. VII–XXXIX, hier S. XIX.

DOI 10.1515/9783110527308-002

12

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

konzeptionellen Veränderungen und Übertragungen des Begriffs ‚Faszina­tion‘ seit der Antike wähle ich einen doppelten Zugriff: In einem ersten historischen Durchgang werden, ausgehend vom griechischen Verb baskanos bzw. dem lateinischen Begriffswort fascinatio, verschiedene mit diesem Begriffswort verbundene historische Basiskonzeptionen und Erklärungsmodelle mit einem wissenschaftlichen Anspruch vorgestellt. Das Begriffswort fascinatio bleibt, von einzelsprachlichen Derivaten abgesehen, dabei konstant, während die mit ihm verbundenen Konzeptionen stark variieren. In einem zweiten, methodisch komplementär verfahrenden Durchgang werden vorbegriffliche Beschreibungen ein und desselben Phänomens, das dem heutigen Sprach- und Begriffsverständnis von ‚Faszination‘ nahekommt, aus verschiedenen Epochen untersucht. In diesem Fall bleibt also das Phänomen und dessen philosophische Konzeptualisierung, konkret die Wirkung des Sokrates auf seine Anhänger und der Eros-Begriff Platons, konstant, während die in der Beschreibung dieser Wirkung verwendeten Metaphern, Vergleiche, Narrative und Begriffe variieren. Zugleich wird mit diesem zweiten historischen Zugriff das emotionale Profil jener Erlebnisqualität, die heute als Faszination bezeichnet wird, im Rückgriff auch auf jüngste emotionspsychologische Forschung genauer charakterisiert. 1.1.1  Konzeptionen physischer fascinatio in der Antike Retrospektiv erscheint das sprachliche Bedeutungsfeld „anziehende, fesselnde Wirkung; bezaubernde Ausstrahlung, Anziehungskraft“3 als das Ergebnis einer mittlerweile sedimentierten mehrstufigen Bedeutungsverschiebung und -übertragung des Wortes fascinatio aus dem Bereich der schwarzen Magie und des Blick- und Schadenszaubers in den psychologischen und ästhetischen Bereich. Zunächst in der Verbform nahm das im Deutschen häufiger erst seit dem späten 18. Jahrhundert vorkommende Lehnwort ‚faszinieren‘ im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine positive Valenz im Sinne von „starkes, äußerstes Interesse wecken“, eine „große Anziehungskraft ausüben“, jemanden „anziehen, entzücken, bezaubern, fesseln, bestricken“ an.4 Die seit dem späten 20. Jahrhundert vereinzelt nachgewiesene Ableitung ‚Fasziniertheit‘ mit der Bedeutung „inneres Beteiligtsein; Involviertheit“ zeigt den gegenwärtigen semantischen Trend dieses Wortes an. Die angegebene Bedeutung findet sich ähnlich auch im Englischen: ‚to fascinate‘ steht für ‚a strong interest or attraction for‘ oder für ‚to hold motionless, spellbind‘.5 Die moderne lexikalische Bedeutung von ‚Faszi3 4 5

Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Dritte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim, Leipzig, Wien u. a. 1996, S. 489. Nortmeyer: faszinieren, S. 733. Webster’s II New College Dictionary. Boston (3.) 2005, S. 415.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

13

nation‘ betrifft eine Wahrnehmungs- und Erlebnisqualität, die psychologisch als „bis zu einem Maximum gesteigerte passive Aufmerksamkeit der Tiefenperson“6 und „vitale Vorform der Konzentration“ definiert werden kann. Von den verschiedenen wissenschaftlichen Erklärungsansätzen, die seit der Antike unter Verwendung diverser Basistheorien mit dem Begriffswort ‚Faszination‘ in Verbindung gebracht wurden, sollen in diesem ersten begriffsgeschichtlichen Durchgang zwei genauer verfolgt werden: der eine sinnliche Täuschung betreffende epistemologische Faszinationsbegriff und der die Wirkungsmacht der Imagination betreffende Begriff der voluntativen Faszination.7 Da beide den älteren und bis weit in die Neuzeit wirkungsmächtigen Begriff von Faszination als Schadenszauber durch Blicke zur Voraussetzung haben, wird dieser eingangs erläutert.8 Bei diesem Vorgehen ergibt sich folgender historisch-systematischer Abriss des Faszinationsbegriffs: Die ältesten bekannten wissenschaftlichen Erklärungsversuche verstehen unter Faszination einen durch starke Affekte veranlassten physischen Transfer hochverdünnter Substanzen, die andere Lebewesen, insbesondere Menschen mit einer schwachen Konstitution, durch einen direkten ‚Einfluss‘ oder eine feinstoffliche ‚Ausstrahlung‘ vergiften oder anderweitig schädigen. Dies trifft insbesondere für den Affekt Neid, in späteren Erklärungsmodellen auch für leidenschaftliches Begehren zu. Das frühe Christentum versetzt dieses Phänomen der physischen Faszination aus dem Erklärungsbereich der Anthropologie in den der Dämonologie: Faszination ist nicht 6 7 8

Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 230. Vgl. auch Degen, A.: Concepts of Fascination, from Democritus to Kant, in: Journal of the History of Ideas 73 (2012), 3, S. 371 – 393. Für den Begriff von Faszination als Schadens- und Augenzauber vgl. Seligmann, S.: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker, Bd. 1 und 2. Berlin 1910; Gregory, J. C.: Magic, Fascination, and Suggestion, in: Folklore 63 (1952), S. 143 – 151; Hauschild, Th.: Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin 1982; Dundes, A. (Hg.): The Evil Eye. A Casebook. Madison 1992; Rakoczy, Th.: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur. Tübingen 1996; S. 143 – 51; MacDonald Ross, G.: Okkulte Strömungen, in: Philosophie des 17. Jahrhunderts. Allgemeine Themen. Iberische Halbinsel, Italien, hg. von J.-P. Schobinger, Bd. 1. Basel 1998, S. 196 – 224; Connor, S.: Fascination, skin, and the screen, in: Critical Quarterly 40 (1998) H. 1, S. 9 – 24; Fanger, C.: Things done wisely by a wise enchanter. Negotiating the power of words in the thirteenth century, in: Esoterica 1 (1999), S. 97 – 132; Delaurenti, B.: La fascination et l’action à distance: questions médiévales (1230 – 1370), in: Médiévales 50 (2006), S. 137 – 54; Ceglia, F. P. de: „It’s not true, but I believe it“. Discussions on jettatura in Naples between the End of the Eighteenth and Beginning of the Nineteenth Centuries, in: Journal of the History of Ideas 72 (2011) H. 1, S. 75 – 97; Weingart, B.: Contact at a Distance. The Topology of Fascination, in: Weber, J./Campe, R. (Hg.): Rethinking Emotion. Interiority and Exteriority in Premodern, Modern, and Con­ temporary Thought. Berlin, New York 2014, S. 72 – 100.

14

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

mehr Menschen-, sondern Teufelswerk. Zugleich setzt sich aber, durch eine meta­phorische Verwendungsweise bei den Kirchenvätern, ein neues Verständnis von ‚Faszination‘ im Sinne einer perzeptiven oder mentalen Verblendung und Täuschung durch, das den Begriff in einen Gegensatz zur (christlichen) Wahrheit stellt. Dieser neben dem fortbestehenden physischen Transfermodell aufkommende epistemologische Ansatz der christlichen Kommentarpraxis ist für moderne Verwendungsweisen des Begriffs­wortes ‚Faszination‘ wie insbesondere für dessen Applizierung auf ästhetische Phänomene ausschlaggebend gewesen. In dieser Hinsicht gleichfalls bedeutsam ist die seit dem Hochmittelalter kontrovers diskutierte voluntative Konzeption der magischen Faszination, nach der die Seele materiefrei auf einen fremden Körper oder Geist einzuwirken vermag: Mit dieser Konzeption wird die Imagination und deren externe oder interne Wirkungskraft zu einer entscheidenden Instanz. Im Zusammenhang eines komplexen wissenschaftlichen Paradigmenwechsels in Hinblick auf das Verständnis des Zusammenwirkens von Leib und Seele im Allgemeinen und von visueller Wahrnehmung, Imagination und Magie im Besonderen treten in der Frühen Neuzeit immanent statt transitiv argumentierende Erklärungsmodelle von Wirkungsphänomen in den Vordergrund. Das lateinische Wort fascinatio wird über die Parallelform fascinum auf das griechische Verb baskanos („beschreiend“, „behexend“, „verleumdend“, „neidisch“) zurückgeführt.9 Die griechische Form entwickelte sich möglicherweise aus einem illyrisch-thrakischen Wort für ‚sprechen‘. Die stark negative Konnotation des gesamten Bedeutungsspektrums von baskanía („Beschreien“, „Behexen“, „Verleumdung“) leitet sich aus der für die vorchristliche Antike dominanten Grundvorstellung ab, vermittels Neid, Zorn oder einer anderen heftigen Erregungen auf einen anderen Menschen – oder auf ein anderes Lebewesen oder ein unbelebtes Objekt – einzuwirken und diesen physisch schwer zu schädigen.10 Das seit dem späten 5. vorchristlichen Jahrhundert belegte Wort baskanía/fascinatio ist zudem eng mit dem bis in die Moderne in vielen Kulturen bekannten Glauben an die schädigende Kraft böser Blicke verbunden.11 Das Wort baskanía/fascinatio meint in seiner allgemeinen Bedeutung also eine willkürlich oder unwillkürlich ausgeübte Handlung, die die Physis eines anderen Menschen (oder eines Tieres) durch – in der Regel visuell transferierte – Substanzen schädigt. Faszination galt bis ins 19. Jahrhundert als Inbegriff von Schadenszauber. Der älteste überlieferte Erklärungsversuch für eine solche faszinierend-schädigende Wirkung findet sich in der atomistischen Naturphilosophie 9

Walde, A.: Lateinisches etymologisches Wörterbuch. 3. neubearbeitete Auflage von J. B. Hofmann, Bd. 1. Heidelberg 1938, S. 459. – Eine umfassende und äußerst differenzierte Auswertung und Erläuterung aller Quellen zu den verschiedenen Faszinationsvorstellungen des antiken Griechenlands bietet Rakoczy: Böser Blick. 10 Rakoczy: Böser Blick, S. 39 – 41. 11 Vgl. Dundes: The Evil Eye.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

15

des Demokrit aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert. Demokrit sieht Neid als Ursache der baskanía an.12 Seine Erklärung stützt sich auf die Theorie der eidōla (Bilder). Eidōla sind außerordentlich kleine und dünne stoffliche Replikate eines Körpers, die sich permanent von seiner Oberfläche ablösen und seine inneren und äußeren Merkmale wie Form, Farbe oder affektiver Status konservieren und in größter Geschwindigkeit übertragen. Alle Sinnesempfindungen resultieren dieser Konzeption zufolge aus dem Eindringen derartiger eidōla, die im Falle von Faszination affektiv, nämlich mit Neid, imprägniert sind.13 Wie Demokrit verstehen auch andere antike Erklärungsansätze unter Faszination einen stofflichen Transfer. Sie gehen dabei jedoch meist von einer willkürlichen Handlung aus, die mit einem Erklärungsmodell von visueller Wahrnehmung verbunden wird, welches das Sehen im Sinne eines Ausstrahlens als einen aktiven Prozess vorstellt.14 Mit diesem bis in die Neuzeit weit verbreiteten Modell des aktiven Sehens korreliert auch der frühe transitive Gebrauch von Verben des Sehens, etwa bei Homer.15 Noch im lateinischen Verb ‚in-videre‘, das ‚beneiden‘ bzw. ‚etwas an- oder hineinblicken‘ bedeutet, ist der transitive Aspekt greifbar.16 Etwa seit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert werden im Griechischen und Lateinischen die Bezeichnungen für Neid und für den bösen Blick weitgehend synonym gebraucht.17 Dieser von einem wirklichen physischen Transfer schädigender Substanzen ausgehende Erklärungsansatz von Faszination behauptet sich unabhängig davon, ob Sehen als ein passiv-empfangender Vorgang (wie bei Demokrit) oder als ein aktiv-aussendender Vorgang (wie etwa bei Platon) vorgestellt wird, bis ins 17. Jahrhundert. Diese Theorien zur Erklärung von Krankheit, Tod und anderen Schadensund Unglücksfällen können als Versuche der Rationalisierung traditioneller Vorstellungen von bösen Dämonen angesehen werden.18 Dämonen nehmen in der antiken Vorstellungswelt einen zentralen Platz ein. Einen Zugang zu der gemeinsamen konzeptionellen Wurzel von Dämonenfurcht und baskanía bietet aufgrund ihres Alters und ihrer metaphysischen Anschlusskonzepte die erwähnte eidōla-Theorie des Demokrit. Der Sache nach sind die auf unbestimmte Zeit frei umherschwirrenden eidōla, die auch seelische Anteile konservieren und somit Gutes oder Böses bewirken können, nichts anderes als die 12 13 14 15

Mansfeld, J.: Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1987, S. 653. Rakoczy: Böser Blick, S. 26f. Lindberg, D. C.: Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler. Chicago 1976, S. 23. Transitiv gebrauchte Verben des Sehens weisen auf den ‚Inhalt‘ des Sehens und sind Indikatoren für die Vorstellung vom bösen Blick, z. B. deínà dérkesthaí: ‚etwas Schreckliches im Blick haben‘ (Rakoczy: Böser Blick, S. 272). 16 Ebd., S. 41. 17 Nusser, K.-H.: Neid, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24. Berlin, New York 1994, S. 246 – 254, hier S. 247. 18 Delling, G.: báskaino, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von Gerhard Kittel, Bd. 1. Stuttgart 1933, S. 595f., hier S. 596, Anm. 10.

16

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Dämonen des Volksglaubens.19 Wie diese können sie den Menschen vergiften und schädigen.20 Die aus dem Bereich gelehrter Schriftlichkeit gedrängte dämonologische Basis von Faszination erlebt im Christentum eine Renaissance. Hintergrund ist die in den patristischen Schriften vorgenommene Transformation des paganen Dämonenglaubens in die christliche Vorstellung vom Teufel. Dieser wird im frühen Christentum nicht nur eng mit Neid in Verbindung gebracht, sondern mitunter auch ausdrücklich als baskanōn bezeichnet.21 Konzeptionell entfaltet wird dieser Zusammenhang bei Basilius dem Großen. In seiner 11. Homilie Vom Neid (De invidia) warnt er vor der Manipulation durch den Teufel.22 Wie andere Kirchenväter auch gebraucht er die Wörter phthónos (invidia, Neid) und baskanía (fascinatio, böser Blick) synonym.23 Basilius verwirft die Erklärung von Faszination durch feinstofflichen Transfer als ein Ammenmärchen und führt sie stattdessen auf Dämonen (daimones) zurück.24 Treffen böse Dämonen auf eine ihnen verwandte seelische Konstitution, manipulieren sie diese; dadurch können sie auch die Augen desjenigen, der den bösen Blick (baskánōn) hat, zu ihren Zwecken benutzen.25 Diese christlich adaptierte dämonologische Erklärung nimmt demjenigen, der Faszination ausübt, zwar die Selbstbestimmung über seine Fähigkeit, nicht aber die moralische Verantwortung für die schädigende Handlung. Faszination ist Basilius zufolge nicht – wie vordem – ein anthropologisches Phänomen, sondern nur durch die Macht böser Dämonen möglich; sie setzt aber bei demjenigen, der von diesen instrumentalisiert wird, eine dem Bösen verwandte Konstitution voraus. Wer dem Dämon einen Zugriff ermöglicht, vergeht sich an Gott, der als der „Gute und Neidlose“ („agathou kai aphthónou“)26 bezeichnet wird. Basilius leugnet somit nicht die Existenz von Faszination als Schadenszauber, überführt sie aber aus einem 19 Vgl. Eisenberger, H.: Demokrits Vorstellung vom Sein und Wirken der Götter, in: Rheinisches Museum 113 (1970), S. 141 – 158, hier S. 157f. 20 Rakoczy: Böser Blick, S. 115 – 117. 21 Meisen, K.: Der böse Blick und anderer Schadenzauber in Glaube und Brauch der alten Völker und in frühchristlicher Zeit, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 1 (1950), S. 144 – 177, hier S. 157f. Schon in den Evangelien wird zwischen dem hebräischen ‚Satan‘ (Feind, Widersacher) und dem griechischen ‚diabolos‘ (Ankläger, Verleumder) nicht mehr genau unterschieden; beide Namen stehen für den Teufel; vgl. Link, L.: The Devil. A Mask without a Face. London 1995, S. 21. 22 Basilius: Opera Omnia. Patrologia Graeca, Bd. 31. Paris 1857, S. 380; Limberis, V.: The Eyes infected by Evil. Basil of Caesarea’s Homily ‘On Envy‘, in: Havard Theological Review 84 (1991), S. 163 – 184, hier S. 178. 23 Nusser: Neid, S. 249. 24 Vgl. Dickie, M. W.: The Fathers of Church and the Evil Eye, in: Byzantine Magic, hg. von H. Maguire. Washington 1995, S. 19. 25 Basilius: Opera, S. 380; die Deutung folgt Rakoczy: Böser Blick, S. 220 – 222. 26 Rakoczy: Böser Blick, S. 222.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

17

physiologisch-anthropologischen in einen heilgeschichtlichen Zusammenhang: Das Böse kämpft nicht zuletzt durch Faszination gegen das Werk des neidlosen christlichen Gottes. 1.1.2  Metaphorisierung physischer fascinatio im frühen Christentum Die für den modernen Faszinationsbegriff überaus folgenreiche Genese eines spezifisch christlichen Verständnisses des Begriffswortes fascinatio lässt sich an den theologischen Kommentaren zum Brief des Apostels Paulus an die Galater im Neuen Testament verfolgen. Innerhalb des griechischen Textes des gesamten Neuen Testaments kommt nur an dieser einen Stelle, in Vers 3,1 des Galaterbriefes, das als dezidiert pagan verstandene Verb baskaíno/fascinavit vor: „O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch bezaubert [baskaíno], denen doch Jesus Christus vor die Augen gemalt war als der Gekreuzigte?“27 Paulus wendet sich mit diesem Brief an die junge christliche Gemeinde in Galatien. Grund seiner Kritik ist, dass die Gemeinde sich gegen seine Autorität als Apostel gestellt habe und wieder dem alten israelitischen Glauben folge. Der terminus technicus der Faszination wird hier also auf die jüdische Lehre als eine Irrlehre bezogen. Die in der Folgezeit über zweitausend Jahre lang geführte christliche Auseinandersetzung mit dieser, durch die Verwendung eines pagan-magischen Begriffs überaus anstößigen Stelle innerhalb eines dogmengeschichtlich wichtigen Textes hat die Semantik von baskaíno/fascinatio im christlichen Kontext nachhaltig verändert: Durch eine Glossierung aus Gal 5,7 – 8 („Wer hat euch aufgehalten, der Wahrheit nicht zu gehorchen? Solches Überreden kommt nicht von dem, der euch berufen hat.“), die die gesamte Argumentation des Galaterbriefes verdeutlicht und die lateinische Kommentartradition bis zum 19. Jahrhundert prägt, werden das Wort fascinavit (bezaubert) in Gal 3,1 und die Formulierung non obedire veritati (der Wahrheit nicht gehorchen) in Gal 5,7 in ein Entsprechungsverhältnis gestellt: Dadurch wird das Begriffswort für schädigenden Blickzauber in völlig neuartiger Weise zu einem Synonym für ein Sich-Abwenden von der Autorität der (christlichen) Wahrheit, mithin für Irrtum, Täuschung und Verführung. Da es Paulus in seinem Brief an die Galater um die Konkurrenz zweier Lehrsysteme, dem neuen christlichen und dem alten jüdischen, geht, bezeichnet baskaíno hier eine Schädigung bzw. Täuschung und Verführung auf verbalem Wege, das heißt im Sinne eines 27 In der Vulgata-Fassung: „O insensati Galatae! quis vos fascinavit non obedire veritati, ante quorum oculos Jesus Christus praescriptus est, in vobis crucifixus?“; die deutsche Übersetzung zitiert nach: Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung. Stuttgart 1984.

18

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

mala lingua nocere (durch Rede bezaubern)28. Die argumentative Stellung im Kontext von Gal 3,1 gibt dem Wort fascinavit die Konnotation ‚Wirkung falscher Lehre‘ oder ‚Verführung‘. Dieses neue Verständnis schließt an ältere Vorstellungen vom Neid der Götter an: Außergewöhnlicher Erfolg kann von den Göttern durch Verblendung (átē) bestraft werden, die den Frevler sein Ziel verfehlen lässt.29 Diese christliche Lesart wird insbesondere in Kommentaren der Galaterstelle bei den Kirchenvätern Johannes Chrysostomos und Hieronymus herausgearbeitet. Chrysostomos, der Paulus sprachlich und kulturell nahe steht, geht vom Affekt des Neides aus. Grundsätzlich versteht er Neid als Ursache für den Fall des Teufels.30 Nichts anderes als der Erfolg der Galater in ihrem neuen (apostolischen) Glauben habe die Prediger der alten Lehre neidisch gemacht. Chrysostomos folgt zwar der traditionellen Vorstellung, dass jemanden beneiden und faszinieren dasselbe ist, betont aber, dass Neid durch den Anblick einer Fülle und Vollkommenheit hervorgerufen werde; in diesem Fall durch die Fülle des apostolischen Glaubens, der bei den Galatern zunächst bestanden hat. Durch Blicke gelange die Fülle in die Seele. Das Sehen spielt bei Chrysostomos also nur bei der Stimulierung von Neid und nicht, wie im alten Erklärungsansatz des stofflichen Transfers, beim Ausagieren des Neids eine Rolle. Weder besitzt für Chrysostomos das Auge eine natürliche Kraft, den Angeschauten zu schädigen, noch habe Paulus in seinem Brief eine solche unmittelbare Wirkung des Neides gemeint: Ihm sei es vielmehr darum gegangen, dass die Anhänger des alten Glaubens aus Neid auf die Wirkungsmacht des neuen und wahren Glaubens die Galater verführt haben.31 Chrysostomos versteht somit Faszination nicht als Vergiftung durch schädigende Stoffe, sondern als Täuschung und Verführung durch eine Irrlehre (epistemologische Faszination) aufgrund von Neid. Vorbehalte gegenüber einem stofflichen Transfer zeigt auch der einflussreiche Galater-Kommentar des Kirchenvaters Hieronymus. Zunächst referiert Hieronymus die vorchristliche Konzeption, der zufolge der Neidische (invidus) durch fremdes Wohlergehen gequält werde, während derjenige, der etwas Gutes besitzt, von einem, der „den bösen Blick wirft, das heißt mit Neid hinsieht“ („alio fascinante, id est invidente noceatur“)32, geschädigt wird. 28 Vgl. Betz, H. D.: Galatians. A Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia. Philadelphia 1988, und Elliott, J. H.: Paul, Galatians, and the Evil Eye, in: The social world of the New Testament. Insights and models, hg. von J. H. Neyrey und E. C. Stewart. Peabody, MA 2008, S. 221 – 34. 29 Sitzler-Osing, D.: Sünde I. Religionsgeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32. Berlin, New York 2001, S. 361. 30 Nikolaou, Th.: Der Neid bei Johannes Chrysostom. Unter der Berücksichtigung der griechischen Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Bonn 1969. 31 Saint Chrysostom: Saint Chrysostom’s Homilies on Galatians, Ephesians, Philippians […], hg. P. Schaff. Whitefish 2004, S. 24. 32 Die Übersetzung folgt Rakoczy: Böser Blick, S. 217f.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

19

Ob diese Auffassung glaubhaft ist, wolle er nicht entscheiden. Alternativ bietet er eine an Basilius orientierte christlich adaptierte dämonologische Erklärung an: Möglicherweise helfen Dämonen (daemones) bei dieser Sünde mit, indem sie denjenigen, der in den Werken Gottes voranschreitet, von den guten Taten abbringen. Welche der beiden Erklärungen zutrifft, möge Gott entscheiden.33 Ähnlich wie Basilius betont Hieronymus eine eschatologische Dimension der fascinatio, da diese sich gegen Gottes Heilsplan richte. Außerordentlich folgenreich bis in die frühneuzeitlichen Debatten um Hexerei ist sein Argument, mit dem er die Verwendung des Wortes baskanía durch den Apostel legitimiert. Paulus habe in seinem Brief die Möglichkeit derartiger Zauberei nicht anerkannt, sondern lediglich der Anschaulichkeit wegen sich einer volkstümlichen Formulierung bedient, mit der er das Verhalten der Galater vergleicht. Die junge Gemeinde sei derart geschädigt worden, „so wie“ (velut) es von der Wirkung der Faszination auf den Körper eines jungen Menschen behauptet wird.34 Hieronymus versteht das Wort fascinavit in seiner neutestamentlichen Verwendung somit metaphorisch. Als Metapher mit großer diskursiver Wirkung bezeichnet die im frühchristlichen Kontext überaus fragwürdige traditionelle Vorstellung von fascinatio die Folgen einer täuschenden und blendenden Irrlehre.35 Die patristischen Kommentatoren des Galater-Briefes prägen mit dieser Interpretation des Wortes ein spezifisches Verständnis von fascinatio, das epistemologisch ausgerichtet ist, insofern es für ein Nichterkennen der Wahrheit steht. Gestützt und moralisch akzentuiert wird dieses theologische Verständnis durch eine Parallelstelle in der Septuaginta- und in der Vulgata-Fassung des Alten Testaments, auf die bereits Hieronymus hinweist. Im Buch der Weisheit 4,12 findet sich in der griechischen bzw. lateinischen Übersetzung der hebräischen Vorlage die heidnisch konnotierte und mit der Galater-Stelle korrespondierende Vokabel: „Denn der Reiz [fascinatio] des Bösen verdunkelt das Gute und der Taumel [inconstantia] der Begierde verdirbt den arglosen Sinn.“36 Diese übersetzungstechnisch konstruierte lexikalische Parallelstelle verschärft und konkretisiert die metaphorische Lesart von Gal 3,1 erheblich. Hier dürfte auch der eigentliche konzeptionelle Impuls für die spätere 33 Hieronymus, S. E.: Opera Omnia. Patrologia Latina, Bd. 26. Paris 1845, Sp.  347; Commentariorum in epist. ad Galatas Lib. I Cap. III: „Hoc utrum verum, necne sit, Deus viderit: quia potest fieri, ut et daemones huic peccato serviant.“ 34 Ebd., Sp. 347f.: „Nunc illud in causa est, quod ex opinione vulgi sumptum putamus exemplum, ut quomodo tenera aetas noceri dicitur fascino: sic etiam Galatae in Christi fide nuper nati, et nutriti lacte, et non solido cibo, veluti quodam fascinante sint nociti: et stomacho fidei nauseante“. 35 Rakoczy: Böser Blick, S. 216 spricht von einem Paradigmenwechsel in der Begriffsverwendung, der durch die frühen christlichen Autoren herbeigeführt wurde. 36 Vulgata-Fassung: „Fascinatio enim nugacitatis obscurat bona, et inconstantia concupiscentiae transvertit sensum sine malitia“.

20

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Verbindung des epistemologischen Faszinationsbegriffs mit Vorstellungen der Mehrdeutigkeit und des Oszillierens („inconstantia“) sowie für die Zuordnung zur Sinneswahrnehmung und deren Täuschung („transvertit sensum“) liegen, die letztlich auch für die um 1800 beginnende Übertragung des Begriffswortes ‚Faszination‘ auf ästhetische Phänomene ausschlaggebend werden. Mit dem Protestantismus wird, zumindest in dessen Verbreitungsgebiet, die dämonologisch begründete epistemologische Konzeption von Faszination dominant. Anders gesagt: Neben der überall weiterbestehenden traditionellen Vorstellung von Faszination als Wirkung von Neid und bösem Blick gewinnt die konzeptionell und diskursiv längst gefestigte metaphorische Anwendung bzw. Ausweitung des Begriffswortes fascinatio auf epistemologische Phänomene der Täuschung und des Irrglaubens zunehmend an Bedeutung: nicht nur quantitativ, sondern vor allem für weitere Übertragungs- und Transformationsprozesse des Begriffs im 18. und 19. Jahrhundert. Martin Luther macht seinen Kommentar zu Gal 3,1 zu einem Kernstück seiner Dogmatik und bezieht den Vers auf die aktuellen Richtungskämpfe unter den Reformatoren. In seinem lateinischen Galater-Kommentar von 1535 tritt die epistemologische Konzeption hervor. Urheber der Faszination ist der Satan, ein raffinierter „Täuscher“ („fascinator“)37, der nicht nur die Sinne („fascinum sensuum“), sondern auch den Geist („fascinum spiritus“) verwirrt, so dass der Mensch verleitet wird und Falsches für wahr hält. Der Satan fasziniert die Menschen aber nicht nur direkt, sondern auch vermittels „der Lehre falscher Apostel“ („doctrina pseudoapostolorum“)38. Luthers Differenzierung zwischen „körperlicher und geistiger Zauberei“39 erlaubt es, neben der Sinnestäuschung auch die für Gal 3,1 zentrale Manipulation des Verstandes mit falschen und bösen Überzeugungen als Faszination zu behandeln. Im Fall der geistigen Zauberei unterscheidet Luther noch einmal emotionale Verirrungen wie Stolz oder Mutlosigkeit von der Wirkung falscher Dogmen. Deren „falsche und niederträchtige Überredung” sei nichts anderes als „eine Blendung und Faszination des Teufels“ („illusio et fascinatio diaboli“)40. Als zeitgenössische Beispiele nennt Luther die Lehrmeinung der Wiedertäufer, der Reformatoren Thomas Müntzer und Huldrych Zwingli sowie andere „schwärmerische Überzeugungen“ („phanaticas opiniones“)41. Mit dieser Wendung des Begriffs gegen Abweichler im eigenen protestantischen Lager bekräftigt Luther die epistemologische Konzeption von Faszination als Verblendung des Geistes. 37 Luther, M.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 40, 1. Abt. Weimar 1911, S. 317. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 313. 40 Ebd., S. 327. 41 Ebd., S. 319.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

21

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sieht der puritanische Theologe William Perkins in Gal 3,1 den Beweis für die Existenz von Hexerei: „a confessed truth, that there is witchcraft, and witches“42. Die auch mit Melancholie in Zusammenhang gebrachte Hexerei beruhe auf einem Bündnis mit dem Teufel und wirke als Störung der Wahrnehmung und Erkenntnis: „It is a Satanicall operation, whereby the senses of men are deluded“. Der Vorwurf der Faszination spielte in der frühneuzeitlichen Verfolgung angeblicher Hexen eine zentrale Rolle, wobei das ältere Verständnis des Begriffs im Sinne von Augenzauber sich mit der epistemologischen Variante im Sinne von Verblendung und Täuschung vielfach verband. Die 1728 in London erscheinende Cyclopaedia von Ephraim Chambers, die erste englischsprachige Enzyklopädie überhaupt, definiert fascination der Ursache nach dämonologisch („witchcraft, charm, spell“), der Wirkung nach jedoch eindeutig epistemologisch: „which alters the Appearance of Things, and represents ‘em different, from what they are“43. Die Differenz von Schein und Sein bildet das Kernkonzept des epistemologischen Faszinationsbegriffs, das auch den Ausgangspunkt für das spätere ästhetische Verständnis von Faszination darstellt. Mit der Kritik an der Hexenverfolgung verliert die dämonologische Begründung von Faszination langsam an Geltung. 1.1.3  Diskussion von Avicennas voluntativer Konzeption von fascinatio im Mittelalter Neben heftigen Affekten und dem Wirken des Teufels tritt im 11. Jahrhundert eine weitere Erklärung für die Ursache von Faszination auf: die bloße Willens­ kraft der Seele. In der arabischen und lateinischen Tradition begegnet man wiederholt der Vorstellung, dass die Seele oder der Geist nicht nur den eigenen Leib, sondern auch den Leib eines anderen Menschen intentional beeinflussen kann.44 Eine konzeptionelle Verbindung zwischen der Imaginationskraft der Psyche, die ihre Wirkung wie Strahlen aussendet, und dem traditionellen Begriff von Faszination findet sich zuerst bei Avicenna. Obgleich Avicenna ein wichtiger Vermittler der Philosophie des Aristoteles ist, widerspricht seine Vorstellung einer materiefreien, nur willentlich wirkenden Faszination dem Kausalitätsprinzip aristotelischen Denkens. Aus diesem Grund wird im Zuge 42 Perkins, W.: A Commentary, or Exposition Upon the Five First Chapters of the Epistle to the Galatians. New York 1989, S. 137. 43 Chambers, E.: Cyclopædia, or, An universal Dictionary of Arts and Sciences, Bd. 1. London 1728, S. 12. 44 Doel, M. J. E. van den/Hanegraaff, W. J.: Imagination, in: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, hg. von W. J. Hanegraaf, Bd. 2. Leiden 2005, S. 606 – 616, hier S. 606.

22

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

der scholastischen Aristoteles-Rezeption die Lehre von einer voluntativen Faszination in die Liste der Errores philosophorum aufgenommen und 1277 in Paris als häretisch verurteilt. Die in Artikel 112 inkriminierte Lehrmeinung lautet: Höhere Intelligenzen beeinflussen die niederen, so wie die ganze Seele auch eine andere Seele und eine sensitive Seele beeinflussen kann. Und kraft eines solchen Einflusses kann ein Zauberer [incantator] allein mit dem Blick ein Kamel in eine Grube werfen.45

Avicenna entwickelte seinen Faszinationsbegriff in den Schriften De Anima und Isarat im Rahmen einer Theorie der Prophetie.46 Er verteidigt dort das Prinzip einer nicht-stofflichen Kausalität als Grundlage von Prophetie und Schadenszauber. Der geistige Anteil der Seele vermag autonom, allein durch seinen Willen (voluntas), zu handeln. Nur er vermag es, durch Imagination (virtus imaginativa) auf einen Körper einzuwirken. Während prophetisches Handeln nur einer reinen Seele möglich ist, kann eine weniger reine Seele ohne stoffliches Medium auf einen fremden Körper einwirken und diesen manipulieren, was einer Faszination durch Blicke gleichkommt: Häufig handelt die Seele in einem fremden wie im eigenen Körper, so wie es das Werk der Augen ist, zu faszinieren [fascinantis] und durch das Anschauen [aestimatio] zu handeln. Falls die Seele ausdauernd, edel und den Prinzipien ähnlich ist, folgt ihr die irdische Materie und unterwirft sich ihr.47

Werden hier Imagination und Faszination nur verglichen, führt der persische Philosoph Al Ghazali Ende des 11. Jahrhunderts beide Begriffe zusammen: Manchmal wirkt [pertransit] ein Eindruck [impressio] durch eine Seele auch auf einen anderen Körper, so dass durch Betrachtung [estimacio] das Lebenspneuma [spiritus] zerstört und der Mensch infiziert [inficiat] wird, und das heißt Faszina­ tion [fascinatio].48 45 Piché, D. (Hg.): La Condamnation Parisienne de 1277. Texte Latin, Traduction, Introduction et Commentaire. Paris 1999, S. 297; deutsche Übersetzung nach Uhl, K.: Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung. Wien, München 2000, S. 51. 46 Vgl. Hasse, D. N.: Avicenna’s „De Anima“ in the Latin West. The Formation of a Peripatetic Philosophy of the Soul 1160 – 1300. London 2000, S. 154 – 168. 47 „Multotiens autem anima operatur in corpore alieno sicut in proprio, quemadmodum est opus oculi fascinantis et aestimationis operantis; immo cum anima fuerit constans, nobilis, similis principiis, oboediet ei materia quae est in mundo et patietur ex ea [...]“, Avicenna: Liber de Anima seu Sextus de naturalibus, IV–V, hg. von S. von Riet. Louvain 1968, S. 65. 48 „Aliquando autem impressio alicuius anime pertransit ad aliud corpus, sic ut destruat spiritum estimacione, et inficiat hominem estimacione, et hoc dicitur fascinatio.“ (Algazel: Algazel’s Metaphysics, hg. von J. Th. Muckle. Toronto 1933, S. 194).

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

23

Avicennas Theorem der materielosen Wirkung der Willens- und Imaginationskraft der Seele beruht auf der Annahme einer actio in distans und widerspricht darin der aristotelischen Naturphilosophie, was die scholastische Philosophie zu einer kontroversen Diskussion dieses Erklärungsmodells herausforderte. Im 13. Jahrhundert wird in Robert Grossetestes Galater-Kommentar Avicennas Begriff voluntativer Faszination nur kurz erwähnt.49 Im Unterschied dazu schließt Albertus Magnus in De animalibus eine voluntative Kraft der Seele bzw. des Geistes als Faszinations­ursache nicht aus: Dadurch wird auch die Faszination [fascinatio] verursacht, durch die der Geist [anima] eines Menschen den Geist eines anderen hindernd oder fördernd durch Blicke oder einen andere Sinn leitet.50

Allerdings geht er, anders als Avicenna, in De somno et vigilia nicht davon aus, dass es der Seele völlig frei steht, „per modum fascinationis“ zu handeln.51 Solches widerspreche der universalen Ordnung der Welt. Vielmehr wäre eine willentlich ausgeübte Faszination – vor deren Folgen ein fester Glauben schützen kann52 – nicht ohne Übereinstimmung mit der Konstellation der Sterne („ex virtute constellationis“53) zum Zeitpunkt der Geburt möglich. Thomas von Aquin bemüht sich im ersten Teil der Summa theologica Avicennas Konzeption auf eine physiologische Erklärungsgrundlage im Sinne des traditionellen Faszinationsbegriffs zurückzubiegen, indem er die Willenskraft der Seele physiologisch, über Bewegungen des Herzens und des Körpers, vermittelt: Was er [Avicenna] aber vom Verhexen [de fascinatione] anführt, geschieht nicht deshalb, weil der Gedanke des einen unmittelbar den Körper des andern verändert: sondern weil er mittels der Bewegung des Herzens den (mit der Seele) verbundenen Körper verändert; dessen Veränderung gelangt zum Auge, von dem aus etwas Äußeres beeinflußt werden kann, besonders wenn es etwas leicht Veränderliches ist.54

Die psychischen Vorstellungen („imaginationes animae“) sind für Thomas zwar mit dem eigenen Körper verbunden („spiritus corpori coniuncti“), eine Übertragung dieser Seelenvorstellungen in einen anderen Körper sei aber nur als 49 Hasse: Avicenna’s „De Anima“, S. 168. 50 „Hinc etiam causatur fascinatio qua anima unius agit ad alterius impedimentum vel expeditionem per visum vel alium sensum.“ (Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Nach der Cölner Urschrift, hg. von H. Stadler, Bd. 2. Münster 1920, S. 1354, deutsche Übersetzung A.D.); vgl. auch Uhl: Engelbert, S. 50. 51 Albertus Magnus: Opera omnia, Bd. 9. Paris 1890, S. 203. 52 Ebd., S. 153. 53 Ebd., S. 263. 54 Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden, hg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von M. H. Wörner. Darmstadt 1996, S. 115.

24

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

materieller Transfer durch Sehstrahlen denkbar.55 Auch Nicole Oresme lehnt Avicennas Faszinationsbegriff ab, da er den Grundannahmen der Philosophie wie des Glaubens widerspreche.56 Eine Ausnahme innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion stellt im 13. Jahrhundert Roger Bacon dar. Er verbindet den voluntativen Ansatz mit seiner Theorie der universalen Vervielfachung (multiplicatio specierum).57 In Opus Maius bemüht Roger Bacon sich, den „suspekten Begriff “ („verbum suspectum“58) fascinatio für den wissenschaftlichen Diskurs zu rehabilitieren. Er referiert dafür verschiedene Erklärungsansätze von Faszination und nennt als Autoritäten auf diesem Gebiet neben Vergil, Aristoteles und Plinius auch Avicenna. Habe die bisherige Kritik an Avicenna vor allem darauf gezielt, das Bestehen der Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen zu sichern, will Roger Bacon zeigen, dass Faszination nichts mit Magie zu tun hat, denn „alle diese Dinge sind natürlich“59 („haec omnia naturalia sunt“). Seine Theorie der multiplicatio basiert auf der Annahme, dass jeder Gegenstand kontinuierlich species (Abbilder seiner selbst) an die angrenzende Materie abgibt, die wiederum diesen ähnliche species hervorbringt. Auf diese Weise vollzögen sich alle Handlungen und mentalen Repräsentationen. Faszination ist für Roger Bacon somit nichts anderes als eine solche multiplicatio, nämlich der Worte, die zwar von astralen Konstellationen abhängt, jedoch nichts mit Magie oder übernatürlichen Kräften zu tun habe: Und wenn auf diese Weise die Vervielfältigung [multiplicatio] der Abbilder [species] und die Äußerung des Wortes unter der erforderlichen Konstellation der Sterne erfolgt, müssen notwendigerweise starke Wirkungen daraus hervorgehen. Und in all diesen Dingen gibt es nichts Magisches oder Wahnhaftes. Und wenn dies Faszination [fascinatio] genannt wird, können wir den Namen ändern, wenn wir wollen.60

Bemerkenswert ist die aktuelle politische Wendung, die Roger Bacon seinem Faszinationsbegriff gibt. Er schreibe nämlich nicht nur für wissenschaftliche Zwecke, vielmehr wolle er mit seinen Erläuterungen dazu beitragen, den Ansturm der Ungläubigen gegen die Christenheit aufzuhalten. Der Antichrist („Antichristus“) in Gestalt von Tataren und Sarazenen („Tartari et Saraceni“) nutze mit verderbender Absicht die Möglichkeit der Vervielfältigung, um 55 56 57 58

Ebd., S. 115f. Delaurenti: La fascination, S. 145. Lindberg: Theories of Vision, S. 197. Roger Bacon: The Opus Majus, hg. von J. H. Bridges, Bd. 1. Oxford 1897, S. 398; deutsche Übersetzung hier und im Folgenden A.D. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 399: „Et si hujusmodi multiplicatio speciei et verbi prolatio fiant in constellatione debita, necesse est quod operatio valida consequatur; et in his omnibus nihil est magicum vel insanum. Et si hoc vocetur fascinatio, nomen, si volumus, possumus mutare.”

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

25

ohne Krieg, allein durch die Kraft der Faszination, Menschen so wie Tiere zu beherrschen und dadurch die Kirche Gottes zu besiegen: Und durch Worte solcher Art und durch Handlungen, die durch Sterne herbeigeführt werden, und verbunden mit dem Wunsch, Schaden zu tun, und mit der sichersten Absicht und mit starkem Vertrauen, wird er nicht nur Individuen, sondern Länder und Regionen unglücklich machen und faszinieren [infascinabit]. Und auf diese magische Weise wird er ohne Krieg das erreichen, was er will, und Menschen werden ihm gehorchen so wie Tiere [...].61

Die Vorstellung, dass Menschen dem, was ein anderer wünscht, willenlos Folge leisten, entspricht Avicennas Konzeption. Allerdings gibt das von Roger Bacon hier beschriebene Szenario eines globalen Kampfes dem – dämonologisch begründeten – voluntativen Faszinationsverständnis eine neue, an Massensuggestion erinnernde Qualität. Er führt historische Belege und eigene Beobachtungen solcher hypnotisierenden Massensuggestionen durch Agenten des Bösen an. In dieser Hinsicht kann seine Theorie der Faszination qua multiplicatio speciei als Vorläufer der neuplatonisch inspirierten Theorie der Massenmanipulation gelten, die drei Jahrhunderte später Giordano Bruno in De vinculis in genere entwickelt.62 Bruno geht von universalen Zusammenhängen aus, auf denen die Wirkung von Magie und Imagination beruht. Die Besonderheit der Imaginationskraft sei, dass sie auch dann wirklich zu fesseln vermag, wenn das Vorgestellte auf keinen Tatsachen beruht. Avicennas Konzeption beeinflusste trotz ihrer Bekämpfung die Diskussion um die Kraft der Seele, namentlich in platonischen und neuplatonischen Zusammenhängen. Einen Wendepunkt in der Geschichte der Imagination stellt Marsilio Ficino dar. In seiner Theologia platonica (1474) stellt Ficino seine Lehre von den winzigen leuchtenden Partikeln (spiritus) vor, die Körper und Seele verbinden. In Buch 13 führt er Beweise dafür an, dass die Seele den Körper dominiert, so beispielsweise bei Emotionen, die aus der Phantasie hervorgehen, oder bei Poesie oder Wundern. Zu den Vermögen der Seele gehören Imagination (imaginatio) und Phantasie (phantasia). Die Imagination fasst die einzelnen Sinnesdaten zu einem Bild (imago) zusammen und weckt das zugehörige geistige Schema. Die Phantasie wird als eine vorbegriffliche Ahnung oder Intention zu einer solchen geistigen Vorstellung beschrieben.63 Der Phantasie zugeordnet sind vier Emotionen (Begehren, Vergnügen, Angst und 61 Ebd: „Et per hujusmodi verba et opera stellificanda, et magno desiderio malignandi componenda cum intentione certissima et confidentia vehementi, ipse infortunabit et infascinabit non solum personas singulares, sed civitates et regiones. Et per hanc viam magnificam faciet sine bello quid volet et obedient homines ei sicut bestiae [...].“ 62 Zu G. Brunos Schrift vgl. die weitgehende Deutung bei Culianu, I. P.: Eros and Magic in the Renaissance. Chicago 1987, S. 89. 63 Kristeller, P. O.: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt a. M. 1972, S. 218.

26

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Schmerz), die bei heftiger Erregung nicht nur den eigenen Körper, sondern auch fremde Körper affizieren können. Diese Fernwirkung der Phantasie wird als Faszination bezeichnet und als anschauungsbezogene Entsprechung zur lebendigen Wirkungsmacht der Seele aufgefasst: Daher leitet die Phantasie [phantasia], wie gesagt, so wie die Lebenskraft den ihr zugehörigen Körper an, wenn sie von sehr heftigen Emotionen bewegt wird. Durch Faszination [fascinatio] und Schadenszauber leitet sie sogar einen fremden Körper an. Dass die Seele solche Dinge durch ihre Emotionen bewirken kann, ist nicht überraschend, wenn bestimmte Kräuter dies tun können [...].64

Die Renaissance platonischen Denkens im 15. und 16. Jahrhundert führte in der spekulativen Erklärung verborgener Kräfte vielfach zu einer Überlagerung von Vorstellungen und Konzeptionen der Magie, der Physik und der Poesie; solche unerklärlichen Wirkungsphänomene wurden dabei oft mit der einen oder anderen Konzeption von Faszination verbunden. Diesen Verknüpfungen des Begriffswortes ‚Faszination‘ mit diversen Phänomenen und Erklärungen gemeinsam ist, dass sie als eine intentionale aktive Einflussnahme vermittels einer Substanz oder unstofflichen Kraft in den Körper oder in die Seele eines anderen Menschen vorgestellt werden. Dieses transitive Basismodell von Faszination erfährt mit jedem neuen Erklärungsansatz und jedem neuen Anwendungsbereich eine semantische Extension und Diffusion des Begriffswortes, was dieses zu einer unscharfen Bezeichnung für alle möglichen schädigenden, da zumindest Willenskraft und Handlungsfreiheit des Betroffenen beschränkenden oder manipulierenden Wirkungen werden lässt. Von Faszination als einer wie auch immer verstandenen unkontrollierbaren Einwirkung war nicht nur in philosophischen, theologischen oder naturwissenschaftlichen Abhandlungen oder in Traktaten über Zauberei und Hexerei die Rede. Die Gefahr, fasziniert zu werden, galt als allgegenwärtig und war deshalb leicht instrumentalisierbar. Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts konnte mit dem Begriffswort ‚Faszination‘ selbst in aufgeklärten Kreisen Preußens ein justiziabler Tatbestand der absichtsvollen Schädigung durch Manipulation bezeichnet werden. Dies belegt eine Anklageschrift, in der Voltaire dem Schutzjuden Abraham Hirschel, einem Finanzier des preußischen Königs, vorwirft, dieser habe ihn durch

64 „Ergo phantasia instar virtutis vivificae format et ipsa proprium corpus, ut diximus, quotiens acrioribus affectibus agitatur. Format etiam fascinationibus et maleficiis alienum. Neque mirum est animam facere talia affectibus suis, si herbae quaedam faciunt [...].“ (Ficino, M.: Platonic Theology, übersetzt von M. J. B. Allen, hg. von J. Hankins, Bd. 4. Cambridge, Mass. 2004, S. 192 – 193; deutsche Übersetzung A.D.) Zu Magie und Imagination vgl. auch Godet, A.: „Nun was ist die Imagination anderst als ein Sonn im Menschen“. Studien zu einem Zentralbegriff des magischen Denkens. Basel 1982.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

27

allerlei für Juden typische Gefälligkeiten und Kunstgriffe zu riskanten Aktiengeschäften „zu fasciniren und einzunehmen gewusst“65. 1.1.4  Psychologisierung des epistemologischen Faszinationsbegriffs in der Frühen Neuzeit Für eine Bestandsaufnahme der avanciertesten wissenschaftlichen Theorien, die sich an der Wende zur Neuzeit mit dem Begriffswort ‚Faszination‘ verbanden, eignet sich kein Autor besser als Francis Bacon. Bacon beschäftigte sich intensiv mit Phänomenen, die als natürliche Magie aufgefasst wurden. In seinem Essay Of Envy (1597/1625) wird die durchschlagende Wirkung von leidenschaftlicher Liebe und von Neid als Faszination durch Blicke beschrieben; beide Affekte seien mit starken Wünschen und mit einer Selbstmanipulation durch Imaginationen und Suggestionen („vehement wishes“, „imaginations and suggestions“) verbunden.66 Dem alten physiologischen Erklärungsansatz steht Bacon jedoch skeptisch gegenüber („if any such thing there be“67). Symptomatisch für die Unsicherheit, mit der er als Erfahrungswissenschaftler den verborgenen Kräften der Natur begegnet, ist Bacons Bemerkung in Novum Organum (1620): Bei den gewöhnlich als Aberglaube und Magie angesehenen Gauklerkünsten und Spielen („praestigiae et jocularia“) solle genau geprüft werden, ob sich dahinter nicht doch Naturgesetze verbergen; dies gelte auch für Faszination (fascino) oder die materiefreie Übertragung des Willens (actio in distans).68 Bacons Verständnis von Faszination orientiert sich an der zentralen Stellung der Imagination in der Tradition Avicennas. Mit einigen Vorbehalten fügt er in Proficience and Advancement of Learning (1605) seiner Darstellung der Seele die Phänomene Divination und Faszination an: „Faszination ist die Kraft und die Handlung der starken Imagination auf andere Körper als den Körper des Imaginierenden“69. Eine Rückführung auf den Teufel schließt er aus. Wirkungen magischer Zeichen seien vielmehr dadurch zu erklären, dass sie die Imagination stimulierten. In Paragraph 944 von Sylva Sylvarum (1626), einer breit rezipierten Sammlung naturphilosophischer Probleme, scheint Bacon ebenfalls einen voluntativen Ansatz zu präferieren. Faszination im Sinne 65 Mangold, W.: Voltaires Rechtsstreit mit dem Königlichen Schutzjuden Hirschel 1751. Prozeßakten des Königlichen Preußischen Hausarchivs. Berlin 1905, S. 3. 66 Bacon, F.: The Works, hg. von J. Spedding u. a., Bd. 6. London 1858 [Nachdruck 1963], S. 393. 67 Ebd. 68 Bacon: The Works, Bd. 1, S. 286. 69 „Fascination is the power and act of imagination, intensive upon other bodies than the body of the imaginant“ (Bacon: The Works, Bd. 3, S. 381; deutsche Übersetzung A.D.).

28

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

des bösen Blicks („oculus malus“) sei nichts anderes als eine heftige Variante einer Infektion von Geist zu Geist („infection from spirit zu spirit“). Sie wirke durch die Augen und werde von starken Affekten wie Liebe und Neid verursacht. Insgesamt bewertet Bacon jedoch den gesamten Problemkomplex der „Kraft der Imagination“ als „wenig glaubhaft“ („less credible“).70 Die Versuche des 17. und 18. Jahrhunderts, die verschiedenen traditionellen und jüngeren Konzeptionen und Anwendungsbereiche, die sich mit einem bestimmten Begriffswort verbanden, zusammenzutragen und zu klassifizieren, sind auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Faszination als einer „unsichtbaren unerklärlichen Beeinflussung“ („unseen inexplicable influence“71) charakteristisch. Rationalistische und okkulte Positionen, die sich im 18. Jahrhunderts diametral entgegenstehen, sind in der Auseinandersetzung mit dem christlich interpretierten Aristotelismus gegen Ende des 16. Jahrhunderts noch oft ineinander verwoben.72 Das verstärkte Bemühen um eine deutliche Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Aberglaube betrifft die verborgenen Kräfte der Natur, zu denen neben Gravitation, Magnetismus und sympathetischem Pulver in der Regel auch Faszination gezählt wurde.73 Mit der Durchsetzung der Vorstellung von Sehen als einem rezeptiven Vorgang schwindet die wissenschaftliche Basis für eine physiologische Erklärung von Faszination als feinstoffliches Ausstrahlen.74 Eine Tendenz zur Lösung des Faszinationsbegriffs aus dem negativ konnotierten Bereich des Schadenszaubers hin zu einer ästhetischen Wirkungsqualität mit positiver Valenz zeigt sich in William Temples Essay Of Poetry von 1690. Faszination als Bezeichnung einer erwünschten starken Empfindung steht hier gleichermaßen für geheime Wirkungen verschiedener Kräuter, für die Kraft des Klangs wie für die starken Eindrücke, die Fabeln und Poesie hinterlassen.75 Das gemeinsame Wirkungsprinzip aller dieser Arten von Bezauberung und Faszination durch Verse, Bilder, Knoten („sorts of charms and fascinations by verses, by images, by knots”76) und anderes ist für Temple die Gewalt der Imagination („force of imagination“). Ein erstes Indiz dafür, dass sich konzeptionell die Ableitung der schädigenden oder zumindest manipulativen Wirkung von einer externen zu einer internen Erklärungsursache verlagerte, findet sich bereits 1613 in Rudolph Goclenius’ Lexicon Philosophicum. Der ausführliche Artikel zu fascinatio be70 Bacon: The Works, Bd. 2, S. 657. 71 Johnson, S.: A Dictionary of the English Language, Bd. 1. London 1755, [ohne Paginierung]. 72 MacDonald Ross: Okkulte Strömungen, S. 197. 73 Curzon, H.: The universal library, or, compleat summary of science, Bd. 1. London 1716, S. 19. 74 MacDonald Ross: Okkulte Strömungen, S. 200. 75 Temple, W.: Works. Complete in four Volumes, Bd. 3. London 1814, S. 409. 76 Ebd., S. 408f.

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

29

rücksichtigt verschiedene Theorieansätze mit entsprechenden Gewährsmännern wie Plinius oder Albertus Magnus.77 In Zusammenhang von Gal 3,1 wird auf den metaphorischen Gebrauch des Begriffswortes im Sinne des epistemologischen Begriffs eingegangen. Übertragen auf die Seele („transfertur ad animum“) kann fascinatio demzufolge auch eine Schädigung der Urteilskraft (iudicium) oder des Willen (voluntatas) meinen: Gleichsam wie durch Zauberei („qua quasi incantatione“) seien den Galatern diese beiden Vermögen verdorben und verkehrt worden. Nur metaphorisch wird hier von einer äußeren Einwirkung gesprochen, in das Zentrum des Erklärungsbemühens rückt ein Defizit der Urteilskraft und der Beständigkeit. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts wird dann im Dictionnaire universel (1690) von Antoine Furetière jenes immanente epistemologische Erklärungsmodell greifbar, das, ausgehend von einem Mangel an rationaler Selbstkontrolle, für den modernen Faszinationsbegriff bestimmend wird. Allerdings ist ein solcher Wortgebrauch hier noch als ein bloß metaphorischer ausgewiesen: „Unsere Leidenschaften faszinieren den Geist“78. Damit erhält der epistemologische Faszinationsbegriff nun anstelle der dämonologischen eine psychologische Begründung: Sinnestäuschungen und Fehlurteile werden im 18. Jahrhundert weniger auf eine Schädigung von außen als auf eine defizitäre Disposition des Faszinierten selbst zurückgeführt: nämlich auf „eine Verwirrung der Sinne infolge starker Leidenschaft“ („trouble des sens causé par une violente passion“79). Dieser psychologisch begründeten epistemologischen Konzeption folgt noch Immanuel Kant. Damit ist für den epistemologischen Faszinationsbegriff der inconstantia des Urteils, der sich aus dem metaphorischen Gebrauch des traditionellen Faszinationsbegriffs eines feinstofflichen Transfers durch die christliche Kommentartradition zum Galaterbrief 3,1 und zum Buch der Weisheit 4,12 speist, eine Akzentverschiebung von einer externen zu einer internen Störung vorgenommen. Dieses Verständnis von Faszination, das sich mit der Vorrangstellung des Imaginationsvermögens der Seele in der Begriffstradition Avicennas im Sinne einer „natürlichen Magie der Einbildungskraft“80 verbindet, wird seit dem 18. Jahrhundert und zunehmend im Laufe des 19. Jahrhunderts bestimmend.81 Eine umfassende Diskussion erfahren die verschiedenen tradierten Faszinationsbegriffe 1756 im Artikel Fascination der französischen Encyclopédie: Der Mediziner Paul-Joseph Barthez (1734 – 1806) eröffnet seine erst 77 Goclenius, R.: Lexicon philosophicum. Frankfurt 1613, S. 570f. 78 „Les passions nous fascinent l’esprit“, Furetière, A.: Dictionnaire universel, Bd. 2. La Haye 1690 [ohne Paginierung, Lemma ‚fasciner‘]; deutsche Übersetzung hier und im Folgenden A.D. 79 Ebd. 80 So der Titel einer 1796 veröffentlichten Abhandlung von Jean Paul. 81 Zum Übergang von einem transitiven zu einem intransitiven Erklärungsmodell von Faszination während des 18. Jahrhunderts vgl. beispielsweise Connor: Fascination.

30

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

philosophisch-historische, dann medizinische Erläuterung des Phänomens und dessen möglicher Ursache mit einer externe und immanente Erklärungsmodelle einschließenden Definition: Faszination sei eine „Schadenswirkung, entstanden aus einer starken Imagination, die auf einen Geist oder einen schwachen Körper einwirkt“82. Der Artikel stellt das gesamte Spektrum an historischen Begriffsbildungen und Erklärungsmodellen zu den verschiedenen als Faszination bezeichneten Phänomenen vor: Dämonologische Begründungen und magische Konzeptionen, die aus Sicht des französischen Aufklärers vor allem für den deutschen Diskurs charakteristisch seien, werden als unglaubwürdig abgewiesen, ebenso die rein willensmäßige Manipulation eines Menschen im Sinne Avicennas. Allerdings wird eine manipulative Selbst-Faszination vermittels der eigenen Imagination für möglich gehalten. Das antike Neid-Konzept eines stofflichen Transfers wird von Barthez nur kurz erwähnt und auf einen Effekt der Imagination, verursacht durch eine Antipathie zwischen Menschen, zurückgeführt. Am plausibelsten erscheint dem Autor eine solche Erklärung von Faszination, nach der bestimmte Ideen oder Ereignisse auf die Imagination eines Menschen wirken und diesen dadurch zu schlechten Handlungen verleiten. Faszination sei, heißt es gegen Ende des Artikels im Sinne des immanent-psychologischen Erklärungsmodells des Dictionnaire universel, ein weitverbreitetes Übel, da dem Menschen aufgrund der wechselseitigen Beeinflussung („commerce“) von Leidenschaft und Imagination permanent Irrtümer unterlaufen.83 Dies sei als die wahre Ursache aller scheinbaren Bezauberung anzusehen. Faszination wird damit zu einem anthropologischen Problem unzulänglicher affektiver Kompetenz, die zu Sinnestäuschungen führt. Die in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) vorgestellte Konzeption von Faszination, die ich im zweiten Teil dieses Buches im Übergang zu ästhetischer Faszination näher erläutern werde, folgt der epistemologischen Konzeption mit psychologischer Begründung. Faszination ist für Kant, ähnlich wie für Barthez, allenfalls eine ‚natürliche Magie‘, nämlich eine durch den Widerstreit von verstandesgeleitetem und sinnlich-triebbedingtem Urteil verursachte partielle Fehlleistung in der sinnlichen Erkenntnis. Diese zeige sich darin, dass im Sinne des inconstantia-Merkmals keine sichere Erkenntnis hinsichtlich der Existenz und Beschaffenheit eines bestimmten wahrgenommenen Objektes erzielt werden kann: Da „der Sinn also sich selbst 82 „maléfice produit par une imagination forte, qui agit sur un esprit ou un corps foible.“ (Encyclopédie, hg. von D. Diderot und J. B. d’Alembert, Bd. 6. Paris, Geneve, Neuchâtel 1756, S. 416; hier und im Folgenden deutsche Übersetzung A.D.). 83 „La fascination est le plus universel de tous les maux, […] mais parce que les hommes séduits par leurs passions & leur imagination, font entr’eux un commerce perpétuel d’erreurs.“ (Ebd., S. 418).

1.1  Der Begriff ‚Faszination‘ von der Antike bis zum 18. Jahrhundert

31

zu widersprechen scheint“84, ist die Aufmerksamkeit permanent gefordert und dadurch die Sinneswahrnehmung anhaltend auf das fragliche Objekt fixiert. Kants Konzeption gibt dieser aus dem Bereich der Magie wie der Krankheit herausgerückten Erlebnisform neben der Hervorhebung der Aufmerksamkeitskomponente eine eigene emotionale Qualität. Er vergleicht die wechselnden Einschätzungen des Objekts mit dem Gefühl der Verwunderung. Damit wird Faszination, auch dies trifft für den modernen Begriff von Faszination zu, in das emotionale Spektrum zwischen admiratio (Bewunderung, Verwunderung) und stupor (Erstarrung) eingeordnet. Im Unterschied zum magischen Begriff von Faszination als einem quasi-visuellen feinstofflichen Transfer schädigender Potenzen betrifft der sich durch sprachliche Übertragung auf ähnliche, zumindest ähnlich schädigende Wirkungen (Teufel) herausbildende epistemologische Faszinationsbegriff eine psychische Fehlleistung im Erkennen und Bewerten der Realität, die auf eine unzulängliche Kontrolle der Sinn­lichkeit und Affekte zurückgeführt wird. Fasziniert zu sein meint hier, bei be­stimmten, vor allem stark emotionsbesetzten Objekten nicht sicher zwischen Ima­gination und Erkenntnis, Irrtum und Wahrheit unterscheiden zu können. Der Faszinierte ist daher anfällig für Manipulation. In Verbindung mit dem die Leistung der Imagination herausstellenden voluntativen Verständnis von Faszination wird dabei die verwerfliche inconstantia im Urteil oft auf den unzureichend kontrollierten Einfluss der den Sinnen und Trieben folgenden Imagination zurückgeführt. Hier setzt, wie ich im zweiten Teil des Buches zeigen werde, die Entwicklung des epistemologischen Faszinationsbegriffs hin zu einem Begriff ästhetischen Erlebens an. Dieser Prozess des Ästhetischwerdens von Faszination hat weniger den Charakter einer Metaphorisierung des epistemologischen Begriffs, vielmehr dürfte er auf die konzeptionelle Dissoziation des weiten Begriffs der aisthesis in sinnliche Erkenntnis einer- und Ästhetik andererseits zurückzuführen sein. Die von Alexander Gottlieb Baumgarten um 1750 als Pendant zur Logik auf den Weg gebrachte Disziplin der Ästhetik beschäftigte sich zunächst als eine allgemeine Lehre von der Optimierung der sinnlichen Erkenntnis auch mit wahrnehmungsbedingten Fehlschlüssen und anderen Sinnestäuschungen.85 Erst nach einer Verengung des Aisthesis-Begriffs auf Ästhetik im – Kant’schen – Verständnis einer zweckfreien Ausübung der sinnlichen Erkenntnisvermögen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich so etwas wie ästhetische Faszination als erwünschte Erfahrung begrifflich von der defizitären Sinnestäuschung abgrenzen. Die historisch eng verwandten Begriffe der epistemologischen und der ästhetischen Faszination bestimmen 84 Kant, I.: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, Bd. 7. Berlin 1907, S. 150f.; dazu ausführlich Kapitel 2.1. 85 Vgl. Kliche, D.: Ästhetische Pathologie. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 42 (2000), S. 197 – 230.

32

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

konzeptionell, ungeachtet der fortgesetzten metaphorischen Rede von Zauber, Bannung und Unwiderstehlichkeit, die Anwendung des Begriffswortes ‚Faszination‘ seit dem 19. Jahrhundert. Dies wird in dem zweiten begriffsgeschichtlichen Durchgang am Beispiel des Faszinationsbegriffs bei Friedrich Nietzsche illustriert. Die heuristische Unterscheidung von psychologisch begründeter epistemologischer und ästhetischer Faszination schließt Übergangs- oder Hybridformen nicht aus. Während der epistemologische Begriff von einer tatsächlichen Unfähigkeit, zwischen Sein und Schein sicher zu unterscheiden, ausgeht, setzt ästhetische Erfahrung im modernen Verständnis ein Bewusstsein über diese Differenz voraus. Auf dem Hintergrund der Begriffsgeschichte wäre ästhetische Faszination als eine Als-Ob-Faszination zu beschreiben, bei der das inconstantia-Merkmal des oszillierenden Urteils nicht mehr die Erkenntnis eines Objekts, sondern das Verhältnis von Sinnlichkeit und Semantik bzw. Bewertung betrifft.

1.2  Merkmale, Metaphorik und emotionales Profil von Faszination am Beispielder Sokrates-Rezeption Methodisch gegenläufig zum Abriss der verschiedenen historischen Verwendungsweisen des Begriffswortes ‚Faszination‘ soll nun in einem zweiten begriffsgeschichtlichen Durchgang eine nach dem modernen Verständnis als prototypisches Faszinationserleben etikettierbare Wirkung in ihren historischen Beschreibungen aufgesucht und in Hinblick auf das jeweils verwendete Set an Metaphern, Emotionswörtern, Narrativen und Begrifflichkeiten ana­ lysiert werden.86 Es geht also um ein vorbegriffliches Reflektieren von Faszination im Sinne einer Denkfigur.87 Als faszinierend werden hierbei der Habitus und die Rede- und Denkweise des Sokrates in den Dialogen Platons angesetzt. Während das Sprachliche in der Beschreibung des Sokrates vielfach variiert, werden bei diesem von einem spezifischen Begriffswort entkoppelten Durchgang das Phänomen und dessen Basiskonzeption – der Eros-Begriff Platons – als konstant angesetzt. Anhand der Sokrates-Beschreibungen können dadurch auf vier Zeitstufen die semantischen und diskursiven Veränderungen in der Relation des Begriffswortes fascinatio gegenüber dem, was heute unter ‚Faszination‘ verstanden wird, beobachtet werden. Dass Faszination als eine Denk­ figur lange vor der Verbindung dieser Erlebnisform mit dem erst nach 1800 allmählich aufgewerteten Begriffswort fascinatio diskursiv eingeführt war, wird 86 Dieses Kapitel erschien in einer anderen Fassung als Degen, A.: Sokrates fasziniert. Zu Begriff und Metaphorik der Faszination (Platon, Ficino, Nietzsche), in: Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2012), S. 9 – 31. 87 Vgl. Müller u. a.: Begriffsgeschichte, S. 214.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

33

im Folgenden an Sokrates-Beschreibungen von Platon (ca. 427 – 347 v. Chr.), Marsilio Ficino (1433 – 1499), Johann Georg Hamann (1730 – 1788) und Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) aufgezeigt. Dabei wird die jeweilige Referenz auf den gleichen Grundtext Platons als Konstante angesetzt und, dem modernen Faszinationsbegriff entsprechend, von einer epistemologischen Konzeption von Faszination ausgegangen. 1.2.1  Begriffsverständnis und emotionales Profil von Faszination im 20. Jahrhundert Zunächst soll jedoch der moderne Begriff von Faszination anhand einiger Begriffsbestimmungen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen aus dem 20. Jahrhundert genauer erläutert werden: Das Handbuch der Heilpädagogik versteht 1911 unter ‚Faszination‘ den „eigenartigen Einfluß“, den manche „Menschen durch die Gesamtheit ihrer Persönlichkeit, ihr gewinnendes Auftreten, ihren Takt, die Treffsicherheit ihrer Rede, den Klang ihrer Stimme oder auch lediglich schon durch ihr körperliches Äußeres auszuüben vermögen“88; oft sei dies mit einer Innen-Außen-Diskrepanz verbunden, da „die Charakterartung in schroffem Gegensatz zum gewinnenden Äußern“ steht. Eine psychiatrische Fallstudie definiert 1926 ‚Faszination‘ als „jene bekannte Bewußtseinsveränderung“89, bei der „ein Erlebnis unter starker Affektspannung, bei starker aktiver Aufmerksamkeit in den Zentralpunkt des Bewußtseinsfeldes gerückt wird unter mehr oder weniger starker Abblendung aller übrigen Wahrnehmungen und Vorstellungen“. Pathologisch werde sie, wenn die Abblendung „eine totale [wird], so dass der Kontakt mit der Wirklichkeit völlig verloren [geht].“ In Zusammenhang seiner Theorie des Heiligen prägt der Theologe Rudolf Otto 1917 den Begriff des ‚Fascinans‘, der das in „Kontrast-Harmonie“ zum Schauervollen stehende „Sinn-berückende, Hinreißende, seltsam Entzückende“90 des Göttlichen bezeichnet. Im Rahmen seiner zwischen einer Persönlichkeitsschicht und einer weithin unbewusste vegetative, animalische und vital-emotionale Vorgänge umfassenden Tiefenschicht des Menschen differenzierenden Schichttheorie versteht der Philosoph und Soziologe Erich Rothacker ‚Faszination‘ als Basiselement eines „doppelschichtigen Aktes“91 gesteigerter Aufmerksamkeit, die nicht bewusst gesteu88 Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik, hg. von A. Dannemann, H. Schober, E. Schulze. Halle a. S. 1911, S. 536. 89 Schmitz, H.: Über einen Fall ‚Pathologischer Faszination‘, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 76 (1926), S. 261 – 270, hier S. 267. 90 Otto, R.: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Leipzig 1917, S. 39. 91 Rothacker, E.: Die Schichten der Persönlichkeit. Bonn 51952, S. 100.

34

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

ert wird, sondern von der animalisch-vitalen Triebschicht ausgeht. Bei der auch bei Tieren auftretenden „Faszination“ wird man „in Spannung gehalten“ und „angezogen“ von einem den „Trieb mächtig fesselnden Bild“. Auch die menschlichen „Höchstleistungen“ eines „gesammelten Wahrnehmens“ sind „vorbereitet und unterschichtet durch Vitalprozesse der Faszination“92. Eng an Rothackers Schichttheorie anschließend wird der Begriff 1955 im Wörterbuch der philosophischen Begriffe als „die bis zu einem Maximum gesteigerte passive Aufmerksamkeit der Tiefenperson“ und „vitale Vorform der Konzentration“93 definiert. An dieses von Rothacker geprägte Verständnis schließt 1971 Werner Strube an, um den eigentümlichen „Wachzustand“94 des ästhetisch Begeisterten als Außer-mir-Sein und Faszination zu beschreiben; ebenso 1992 Konrad Lotter im Lexikon der Ästhetik, der ‚Faszination‘ als eine „Form der Wahrnehmung oder des Erlebnisses“95 versteht, „die vor allem von der sinnlichen und gefühlsmäßigen Hingabe an das (faszinierende) Objekt gekennzeichnet ist. Von der geistigen Konzentration, als deren vitales Pendant sie begriffen werden kann“, unterscheidet sie sich „durch ihre Passivität bzw. durch ihre unkritische Nähe zum Objekt“. Im gleichen Zeitraum ist für die ästhetisch-philosophische Diskussion in Frankreich, etwa in Maurice Blanchots L’espace littéraire (1955), der von Jean-Paul Sartre in L’imaginaire (1940) und L’être et le néant (1943) eingeführte phänomenologische Faszinationsbegriff einflussreich. Sartre versteht Faszination als Wahrneh­mungsmodus der Unmittelbarkeit, als „absolute Gegenwart“96 des Objektes, die verbunden ist mit einer völligen Negation des Bewusstseins und der Illusion einer Einswerdung ohne eigentliche Verschmelzung. In psychoanalytischer Tradition fasst der Psychologe Siegfried Bernfeld ‚Faszination‘ 1928 als eine Variante unter anderen „radikalen Ichverarmungen“ auf, die mit „höchster Aufmerksamkeit bei voller motorischer Gehemmtheit“97 verbunden ist: „Man ist in den Gegenstand versunken; gewiß nicht psychisch gelähmt, sondern psychisch bewegt“. Gleichfalls an Freud anschließend führt der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich in den 1980er Jahren Faszination auf kollektiv „unerledigte Konflikte, nicht ausgetragene Spannungen“98 zurück. Ähnlich 1999 der Literaturwissenschaftler Ackbar Abbas: „Die parakritische Funktion der 92 Ebd. (Hervorhebung im Original). 93 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 230. 94 Strube, W.: Ästhetische Illusion. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts. Bochum 1971, S. 18f. 95 Lotter: Faszination, S. 60. 96 „présence absolue“ (Sartre, J.-P.: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris 1976, S. 217, Hervorhebung im Original). 97 Bernfeld, S.: Über Faszination, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften 14 (1928), S. 76 – 87, hier S. 83. 98 Heinrich: Das Floß, S. 15.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

35

Faszination liegt darin, uns durch das Rätsel aufzufordern, dasjenige anzuerkennen, das unsere Kultur oder auch wir selbst nicht erkennen wollen.“99 Aus marxistischer Sicht bestimmt Christoph Türcke 1999 im Anschluss an Theodor W. Adorno ‚Faszination‘ als Gegenbegriff zu ‚Emanzipation‘, nämlich als ein „heimliche[s] Einverständnis“100 mit der Gewalt der Herrschaft: „Übermacht, Gewalt, Herrschaft drücken sich nicht nur von außen auf; sie finden in den Unterdrückten einen Resonanzboden“101. So unterschiedlich diese und weitere Begriffsbestimmungen im Einzelnen auch ausfallen mögen, in zwei Merkmalen kommen sie weithin überein: Faszination wird als intensive, kognitiv und affektiv komplexe Wahrnehmungs- und Erlebnisqualität der unwillkürlichen Aufmerksamkeitszuwendung und -bindung verstanden, die seitens des Faszinierenden oder des Faszinierten mit einer je unterschiedlich konzipierten Zuordnungs- oder Bewertungsdiskrepanz, Mehrschichtigkeit, Spannungs- oder Kontraststruktur in Zusammenhang gebracht wird. Diese deutlich an die epistemologische Tradition anschließende moderne Basiskonzeption von Faszination wird im Folgenden auf die Wirkungsqualität des Sokrates bezogen und historisch rekonstruiert. Das Wort ‚Faszination‘ in diesem modernen Verständnis ist Teil eines Redens über verschiedene Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Bewusstseinsformen. Diesem Reden liegt ein einzelsprachlich unterschiedlich strukturiertes Lexikon von Erlebnisbegriffen oder, enger gefasst, von Emotionsbegriffen zugrunde, das Resultat von Typisierungsprozessen ist und als „vernetztes System sozialer Deutungsmuster für Erleben“102 aufgefasst werden kann. Obgleich nicht alle eingangs vorgestellten Begriffsbildungen zu Faszination explizit emotional moduliert sind, führen ihre Beschreibungen doch Begriffe oder Metaphern an, die dezidiert emotionsbezogen sind. Für die Rubrizierung von ‚Faszination‘ als einem emotionalen Erlebnisbegriff spricht auch, dass dieser in jüngeren emotionspsychologischen Taxonomien berücksichtigt wird. Generell ist das emotionale Lexikon historisch, einzelsprachlich, gruppen- und diskursspezifisch unterschiedlich skaliert. Dabei ist die Frage, ob Faszination terminologisch ausgewiesen wird oder nicht, eine Frage nach der jeweiligen Skalierung des emotionalen Lexikons und nach der dieser zugrunde liegenden Begriffssyste99 „The paracritical function of fascination is that it prompts us through the enigma to attend to what our culture or even we ourselves do not want to recognise.“ (Abbas: Dialectic, S. 348; deutsche Übersetzung A.D.). 100 „Das Hinstarren aufs Unheil hat etwas von Faszination. Damit aber etwas vom geheimen Einverständnis.“ (Adorno, Th. W./Horkheimer, M.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1981, S. 264). 101 Türcke: Faszination, Sp. 186. 102 Fiehler, R.: Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Kommunikation. Berlin, New York 1990, S. 72 (im Original hervorgehoben).

36

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

matik. Eine einfache Begriffssystematik lässt zwischen übergeordneten, mittleren und untergeordneten Emotionskategorien unterscheiden.103 Beispielsweise kann ‚Ärger‘ innerhalb der übergeordneten Kategorie ‚Emotion‘ als eine mittlere Kategorie, hingegen ‚Unbehagen‘ als eine entsprechende Unterkategorie aufgefasst werden. ‚Ärger‘ ließe sich dann als eine basale Emotionskategorie im emotionalen Lexikon des Deutschen auffassen. Die begriffliche Skalierung in den philosophischen bzw. rhetorischen Emotionskatalogen etwa bei Aristoteles, Cicero oder Descartes fällt aufgrund unterschiedlicher Vor- bzw. Rahmenannahmen recht unterschiedlich aus.104 Dies gilt ähnlich auch für entsprechende Systematisierungsversuche von Emotionsbegriffen in der jüngeren Psychologie. Allerdings scheint in der psychologischen Forschung zumindest eine gewisse Übereinstimmung hinsichtlich basaler Emotionsbegriffe zu bestehen, die etwa nach distinktiven Gesichtsausdrücken, evolutionär erworbenen Verhaltensweisen oder durch Vergleich von Wortbedeutungen identifiziert werden.105 ‚Faszination‘ bzw. ‚fascination‘ wird nirgendwo als Basisemotion geführt; der Begriff ist also als eine untergeordnete Emotionskategorie oder als emotionale Nuance aufzufassen. Das emotionale Profil von Faszination lässt sich anhand psychologischer Begriffsbildungen und Taxo­nomien genauer bestimmen. Als einer der ersten fragt der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler 1906 nach der affektiven Entsprechung jenes „intellektuellen Gefühl[s]“ des Dominiertwerdens und Sich-Unterordnens, das als Faszination bezeichnet werde. Er sieht diese in einer emotionalen Verwandtschaft sowohl zu Schreckstarre als auch zu einer Art von Liebe: [...] es wird niemand bezweifeln, dass dem Sichimponierenlassen, dem intellektuellen Gefühl des Dominiertwerdens ein starker Affekt entspricht, der auf der einen Seite (bei der Mehrzahl der Männer andern Männern gegenüber) kontinuierlich verfolgt werden kann zu dem Affekt, welcher die Schrecklähmung bewirkt, anderseits (namentlich bei Frauen Männern gegenüber) in den Grenzfällen in eine Art Liebe übergeht, indem das Gefühl des Dominiertwerdens eine gewisse Süssigkeit besitzt, die dem Manne nicht so leicht verständlich ist. 103 Vgl. Kövecses, Z.: Metaphor and emotion. Language, culture, and body in human feeling. Cambridge 2000, S. 3f. 104 Vgl. Rosenwein, B. H.: Emotion words, in: Le sujet de l’emotion au Moyen Âge, hg. von D. Boquet, P. Nagy. Paris 2009, S. 93 – 106; Newmark, C.: Passion, Affekt, Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008. 105 Ekman, P.: All emotions are basic, in: The nature of emotion. Fundamental questions, hg. von P. Ekman und R. J. Davidson. New York 1994, S. 15 – 19; Plutchik, R.: Emotions. A general psychoevolutionary theory, in: Approaches to emotion, hg. von K. R. Scherer und P. Ekman. Hillsdale, NJ 1984, S. 197 – 219; Hupka, R. B./Zaleski, Z./Otto, J. u. a.: Anger, envy, fear, and jealousy as felt in the body. A five-nation study, in: Cross-Cultural Research 30 (1996), S. 243 – 264.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

37

Beide Arten von Seelenzuständen werden unter dem Namen Faszination zusammengefasst, deren affekte Bedeutung allerdings noch nicht klar ist.106

Im Jahr 1908 bestimmt der englische Psychologe William McDougall Faszination als complex emotion, zusammengesetzt aus den Basisemotionen Angst, Ekel und Neugier (fear, disgust, curiosity).107 Jüngeren Systematiken zufolge gehört Faszination weder zu den positiven noch zu den negativen Emotionen, sondern zu einem dritten Bereich, der durch Aktivität bzw. Passivität und bestimmte Kognitionszustände charakterisiert sei.108 ‚Faszination‘ wird hier der Kategorie ‚Aktivität‘ und der Unterkategorie ‚Interesse‘ zugeordnet und als eine starke Fokussierung der Aufmerksamkeit ohne sonstige kognitive Aktivitäten beschrieben. Die schon bei Bleuler angedeutete besondere Bedeutung des kognitiven Profils gegenüber dem affektiven und verhaltensbezogenen Profil dieses emotionalen Zustandes erweisen auch andere Taxonomien auf empirischer Grundlage.109 Das von Klaus Scherer entwickelte „Geneva Affect Label Coder“ ordnet im Englischen und Französischen den Wortstamm ‚fascina*‘ neben ‚admir*‘, ‚awe*‘ und ‚wonder*‘ der Kategorie ‚admiration/awe‘ zu.110 In der psychologischen Forschung zeichnen sich zwei Konzeptionalisierungstendenzen von Faszination ab: Zum einen wird darunter eine Art von unwillkürlicher Aufmerksamkeitsfokussierung verstanden, die ohne Mühe und fast emotionslos verläuft.111 Dem steht eine Auffassung von Faszination als emotional spannungsreicher kognitiver Bewältigungsprozess gegenüber, der mit einem ressourcenintensiven Umbau von Bewertungsstrukturen verbunden ist.112 Welche der beiden Konzeptionen jeweils adäquat erscheint, hängt vermutlich auch davon ab, ob es sich um einen aufmerksamkeitsabsorbierenden Konfigurierungsprozess von Sinnesreizen (d. h. in der Anschauung) 106 Bleuler, E.: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. Halle 1906, S. 57. 107 McDougall, W.: An Introduction to Social Psychology. New York (29.) 2003, S. 117. 108 Storm, Ch./Storm, T.: A taxonomic study of the vocabulary of emotions, in: Journal of Personality and Social Psychology 53 (1987), S. 805 – 816, hier S. 813. Das Begriffswort ‚fascination‘ wird in dieser Taxonomie der Kategorie ‚active terms‘ zugeordnet, die wiederum unterteilt wird in Begriffswörter, die hauptsächlich eine Erregung, ein Interesse, eine Erwartungsirritation oder einen kognitiven Zustand ohne externen Fokus bezeichnen. Dabei wird das Wort ‚fascination‘ gemeinsam mit ‚absorbed‘, ‚caught up‘, ‚concentration‘, ‚engrossed‘, ‚intent‘, ‚involved‘, ‚mesmerized‘ und ‚intense‘ der Unterkategorie ‚hauptsächlich Interesse‘ zugeordnet; es sei darüber hinaus durch eine starke Aufmerksamkeitsfokussierung charakterisiert. – Einen Überblick über den Begriff in der jüngeren psychologischen Forschung bieten Lüdtke u. a.: Self reported fascination, S. 309 – 344. 109 Ortony, A./Clore, G. L./Foss, M. A.: The referential structure of the affective lexicon, in: Cognitive Science. A Multidisciplinary Journal 11 (1987), S. 341 – 364, S. 363. 110 Scherer: What are emotions, S. 714. 111 Kaplan: Attention and fascination; Kaplan: The restorative benefits. 112 Rimé u. a.: Emotional fascination.

38

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

handelt, oder ob es sich um einen wahrnehmungs- oder zeichenbasierten Konfigurierungsprozess in der wissens- und erfahrungsbezogenen Verarbeitung und Bewertung (d. h. in der Vorstellung) handelt, bei dem Welt- und Selbstbilder sowie ethische Kategorien eine große Rolle spielen. Versucht man diesem emotionspsychologischen Begriffsprofil einen philosophisch eingeführten Emotionsbegriff zuzuordnen, kommt beispielsweise Descartes Begriff der ‚admiration‘ in Frage, mit dem er die erste von sechs affektiven Basiskategorien benennt.113 ‚Admiration‘ umfasst hier das gesamte emotionale Spektrum von Bewunderung, Wundern, Staunen und Erstaunen.114 Descartes ordnet den Begriff weder den abstoßenden noch den anziehenden Emotionen zu, sondern sieht das Charakteristische dieser Kategorie in der Reaktion auf Neues und Bemerkenswertes, was eine besondere kognitive Herausforderung impliziert. Descartes Basiskategorie ‚Admiration‘ umfasst, was in der lateinischen Tradition häufig durch das Begriffspaar admiratio/stupor graduell differenzierend bestimmt wird:115 ‚admiratio‘ bezeichnet verschiedene semantische Aspekte des griechischen Wortes ‚thaumázein‘ (Staunen, Verwunderung)116, ‚stupor‘ hingegen wird meist als lateinische Entsprechung des griechischen Wortes ‚ekplexis‘ (Überraschung, Bestürzung) aufgefasst, das Aristoteles als übermäßiges Staunen (thaumázein) definiert (Top. IV 6, 126b 14). Zwar werden diese Begriffe in den Affektkatalogen beispielsweise von Aristoteles oder Cicero nicht angeführt, doch bezeichnet Platon thaumázein ausdrücklich als die Leidenschaft (pathos) des Philosophen (Theait 155d). In emotionsbegrifflicher Hinsicht ließe sich Faszination somit als ein konzeptionell spät abgegrenztes und terminologisch ausgewiesenes Segment innerhalb des traditionell als affektive Basiskategorie angesetzten facettenreichen admiratio-stupor-Spektrums auffassen. Eine spezifizierende Nuancierung innerhalb dieses oder anderer emotionaler Begriffsspektren wird nicht zuletzt durch die Verwendung bestimmter Metaphoriken geleistet. Grundsätzlich werden emotionale Zustände, außer durch Begriffswörter oder expressive Ausdrücke (wie: Ah!), in starkem Maße durch Metaphern und weitere Tropen verbalisiert.117 Diese sind weniger proto113 Descartes, R.: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch, hg. und übersetzt von K. Hammacher. Hamburg 1996, S. 94. 114 Newmark: Passion, S. 135. 115 Matuschek, S.: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991, S. 68f. Etymologisch ist ‚thaumázein‘ eng mit ‚theastai‘ (ich schaue, ich staune) verbunden, insofern bezeichnet es im engeren Sinne ein „staunendes Schauen“, das mit einer distanzierten, reflektierenden Haltung verbunden ist (Bojashieff, Z.: Die frühgriechische Philosophie als Phänomen der Kultur. Würzburg 1995, S. 29, Anm. 1). 116 Ebd., S. 57f. Albert, K.: Griechische Religion und platonische Philosophie. Hamburg 1980, S. 73f. spricht von einem positiven und einem negativen Bedeutungsaspekt von ‚thaumázein‘. 117 Vgl. Kövecses: Metaphor, S. 4f.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

39

typisch als die beiden anderen sprachlichen Ausdrucksformen. Metaphern dienen dazu, emotionale Nuancen, komplexe emotionale Erfahrungen oder auch bestimmte Aspekte einer Emotion wie etwa Intensität, Ursache oder Kontrollierbarkeit zu denotieren.118 Beim Reden über Emotionen werden häufiger als beim Reden über andere Gegenstände Metaphern verwendet.119 Das evokative Potential von Metaphern wird für das Sprechen über Emotionen außerdem höher eingeschätzt, da Emotionen physische Zustände betreffen und diese häufig Bildspender entsprechender Metaphern sind.120 Metaphorisches Reden über emotionale Erfahrungen wird dadurch befördert, dass auch die Vorstellung von solchen Erfahrungen wesentlich von Metaphern geprägt wird. Generell wird Metaphern bei der Konzeptualisierung von Erfahrung und Handlung eine entscheidende Rolle zugesprochen, da wir „das weniger scharf Konturierte“, also etwa die emotionale Erfahrung, „in Begriffen des schärfer Konturierten konzeptualisieren“121, beispielsweise in Begriffen körperlicher Zustände oder Handlungen. Namentlich emotionsbezogene Konzepte, die nicht klar umrissen oder lebensweltlich nicht unmittelbar anschlussfähig sind, werden häufig indirekt, nämlich durch Metaphern, kommuniziert.122 Die Grundmetaphorik von Emotion ist, Zoltán Kövecses zufolge, die Vorstellung „emotion is force“.123 Von dieser leiten sich für verschiedene Emotionsbegriffe spezifische konzeptionelle Metaphern ab, die wiederum durch verschiedene sprachliche Metaphern expliziert werden können. Für die metaphorische Beschreibung der Erfahrung von Faszination dürften, wie Platons Alkibiades-Rede zeigen wird, unter den bei Kövecses genannten konzeptionellen Metaphern spezifischer Emotionen vor allem die Bildspender „mental/natural force“, „magic“ und „divided self “ charakteristisch sein.124 1.2.2  Faszinationsbeschreibung und Faszinationsbegriff bei Platon Entscheidend für ein begriffswortentkoppeltes Vorgehen ist die Frage, nach welchem Verfahren eine bestimmte aufgefundene Konstellation aus Begriffen, Beschreibungen und Metaphern als Set bzw. Denkfigur identifiziert und 118 Ebd., vgl. Gibbs, R. W./Orden, G. C. van: Are emotional expressions intentional? A self-organizational approach, in: Consciousness and Emotion 4 (2003), S. 1 – 16. 119 Fainsilber, L./Ortony, A.: Metaphorical uses of language in the expression of emotions, in: Metaphor and Symbolic Activity 2 (1987), S. 239 – 250. 120 Ortony: Why metaphors, S. 45 – 53. 121 Lakoff, G./Johnson, M.: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 22000, S. 73. 122 Ebd., S. 102. 123 Kövecses: Metaphor, S. 17. 124 Ebd., S. 37 – 39.

40

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

einem Begriff zugeordnet wird. Dies gilt insbesondere bei historischen Texten, in deren Entstehungshorizont der retrospektiv angesetzte Begriff ‚Faszination‘ terminologisch nicht nachweisbar ist: Was erlaubt, Platons Beschreibungen der Reaktion Menons oder Alkibiades, auf Sokrates mit der modernen Basiskonzeption von Faszination in Verbindung zu bringen? Drei Gründe lassen sich anführen: Zunächst fällt auf, dass Platon hierbei Begriffe wie thaumázein und ekplexis verwendet, die, wie erläutert, dem semantischen Umfeld von ‚Faszination‘ zugehören. Außerdem lässt sich bei Ficino eine relativ frühe direkte begriffshistorische Verbindung zwischen der Wirkung des Sokrates und einer metaphorischen Verwendungsweise des magischen fascinatio-Begriffs aufzeigen. Entscheidend ist jedoch, dass seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also seit der lexikalischen Etablierung des modernen Faszina­tionsbegriffs, in wissenschaftlichen Publikationen die Wirkung des Sokrates explizit und nicht pejorativ als faszinierend bezeichnet wird. Die Anwendung dieses in den emotionalen Lexika jener Zeit sich lexikalisch neu ausdifferenzierenden Konzepts ‚Faszination‘ auf Sokrates ist seitdem üblich. Im Englischen lässt sich eine solche Bezeichnung des Sokrates erstmals für 1804, im Französischen für 1861, im Deutschen für 1888 nachweisen, wobei explizit von Faszination insbesondere in Zusammenhang der Alkibiades-Rede in Symposion gesprochen wird.125 Im 20. Jahrhundert, insbesondere in dessen zweiter Hälfte, häufen sich entsprechende Belege in großer Zahl.126 Wenn die von Platon den Dialogpartnern des Sokrates in den Mund gelegten Beschreibungen von dessen Wirkung derart stabil als Beschreibungen erlebter Faszination angesehen werden, scheint es nicht unberechtigt, in dem von Platon verwendeten Set an Emotionsbegriffen, Beschreibungen und Metaphern einen Zugang zur modernen Konzeption von Faszination zu suchen. Die genannten Gründe wie die programmatische Tragweite der entsprechenden Passagen erlauben es, Beschreibungen der Sokrates-Wirkung wie die durch Menon oder Alkibiades als prototypische Faszinationsbeschreibungen anzusehen. Um das Grundprinzip sokratischen Philosophierens zu veranschaulichen, paraphrasiert Edmond Chevrier in seiner Sokrates-Monographie aus dem Jahr 1861 eine einschlägige Stelle aus Platons Dialog Menon (79e – 80b). 125 So beispielsweise bei Mavor, W.: Universal history, ancient and modern, Bd. 3. London 1804, S. 169; Douglas, J.: On the philosophy of the mind. Edinburgh 1839, S. 37; Laurent, F.: Histoire du droit des gens et des relations internationales, Bd. 2. Gand 1850, S. 373; Chevrier, E.: Socrate, sa vie et ses doctrines, in: Journal d’agriculture, sciences, lettres et arts 51 (1861), S. 116 – 138, hier S. 128 ; Nietzsche, F.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli, M. Montinari, Bd. 6. München, Berlin u. a. 1999, S. 72. 126 So etwa bei Maier, H.: Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung. Tübingen 1913, S. 158; Burnet, J.: Greek Philosophy. Thales to Plato. London 1914, S. 114; Osborne, C.: Eros unveiled. Plato and the god of love. Oxford 1994, S. 100; Kutschera, F. von: Platons Philosophie, Bd. 1. Paderborn 2002, S. 34.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

41

Menon wendet sich hier mit dem Vorwurf an Sokrates, dass dieser ihm seinen Geist (esprit) so fasziniert (fasciné) habe, dass er nun ganz verwirrt (doute) sei.127 Die hier mit ‚fasciner‘ zusammengefasste Wirkung der sokratischen Fragetechnik wird bei Platon durch drei Begriffe aus dem Bereich der Magie („góeteúeis“, „pharmátteis“, „atechnos katepátheis“) beschrieben: O Sokrates, ich habe schon gehört, ehe ich noch mit dir zusammengekommen bin, daß du allemal so selbst in Verwirrung [aporeís] bist und auch andere in Verwirrung [aporeís] bringst. Auch jetzt kommt mir vor, daß du mich bezauberst [góeteúeis] und mir etwas antust [pharmátteis] und mich offenbar besprichst [atechnos katepátheis], daß ich voll Verwirrung [meston aporías] geworden bin, und du dünkst mich vollkommen, wenn ich auch etwas scherzen darf, in der Gestalt und auch sonst jenem breiten Seefisch, dem Krampfrochen [nárke], zu gleichen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahe kommt und ihn berührt, erstarren [narkan]. Und so dünkt mich, hast auch du mir jetzt etwas ähnliches angetan daß ich erstarre [narkan]. Denn in der Tat, an Seele und Leib bin ich erstarrt [narko] und weiß dir nichts zu antworten [...].128

Platon verwendet in den Dialogen wiederholt Ableitungen der genannten Begriffe als Beinamen des Sokrates: Das Schimpfwort ‚góes‘ steht für einen raffinierten Betrüger, ‚pharmákeus‘ bezeichnet einen Menschen, der bestimmte Mittel mit heilender oder schädigender Wirkung anwendet.129 Ein nahezu identischer Katalog an Beinamen dient in Platons Symposion (203c) dazu, die überwältigende Wirkung des Eros zu charakterisieren; lediglich ist hier das dritte Attribut, die Wirkung der Rede (atechnos katepátheis), durch ihr philosophisches Pendant, die Sophistik, ersetzt: Eros sei, so die Rede Diotimas, ein Hexer (góes), Zauberer (pharmákeus) und Sophist (sophistes). Menon unterstellt Sokrates mit der metaphorischen Verwendung dieser abwertenden Begriffe Scharlatanerie und Manipulation. Er tut dies, um die eigene Verwirrung und argumentative Ausweglosigkeit (aporía) zu verbergen und die argumentative Überlegenheit seines Gegenübers in Misskredit zu bringen. Menons Diskreditierung des Sokrates in philosophischer Hinsicht sind drei Versuche Menons vorausgegangen, das Wesen der Tugend (areté) zu bestimmen. Jeder dieser Versuche wurde durch Nachfragen des Sokrates als widersprüchlich und unhaltbar bloßgestellt. Derart öffentlich auf dem ihm vertrauten Terrain der Tugendlehre düpiert, reagiert Menon aggressiv: Er steigt aus dem philo127 „Depuis que j’ai conversé avec toi, dit Menon à Socrate, tu as fasciné mon esprit au point que je suis tout rempli de doute.“ (Chevrier: Socrate, S. 128). 128 Wenn nicht anders angegeben wird nach der Übersetzung Schleiermachers zitiert (Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. von G. Eigler. Darmstadt 31990). 129 Vgl. Burkert, W.: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Nürnberg 1962, S. 135; Derrida, J.: Dissemination, hg. von P. Engelmann, übersetzt von H.-D. Gondek. Wien 1995, S. 131f.

42

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

sophischen Diskurs aus, um durch Verspottung und rhetorische Finten die Kontrolle über den philosophisch verlorenen Disput wiederzuerlangen.130 Neben der Bezeichnung Sokrates’ als Scharlatan betrifft dies seinen Vergleich mit dem elektrische Spannung aussendenden Zitterrochen (nárke), der durch die etymologische Verwandtschaft mit der Selbstbeschreibung Menons als gelähmt (narkan) eingeführt wird. Das physiologische Pendant zu Menons kognitiv-emotionalem Zustand ist Lähmung. Noch im versuchten Überspielen der Aporie erweist Platon Menon durch diesen klanglich-etymologischen Zusammenhang eher als Rhetoriker und weniger als Philosoph. Die Manipulation, die Menon Sokrates unterstellt, geht von den eigenen, durch Sokrates exponierten, Irrtümern aus.131 Die Passage ist exemplarisch für das dialektische Verfahren des sokratischen Denkens, insofern sie den charakteristischen Null- und Kipp-Punkt eines Dialogs zum Gegenstand hat.132 Das Vorwissen wird durch fortgesetztes Nachfragen von Sokrates als bloßes Scheinwissen entlarvt, um so bei seinem Gegenüber eine – häufig mit Scham verbundene – Bedürftigkeit aufzudecken; eine Bedürftigkeit nach Erkenntnis, mit anderen Worten: eine Eros-Haltung. Die Destruktion der Vorurteile hat idealiter einen motivationalen Charakter: Statt Wissen abzurufen soll sie Nachdenken aktiviert. Wird jedoch das Potential zur dialogischen Selbstaufklärung nicht genutzt, ist der Verwirrte, darauf spielt die Zauber-Metaphorik an, durch Sokrates im epistemologischen Sinne fasziniert. Die Überwindung der faszinationsaffinen Aporie beruht auf Reaktivierung (anámnesis) eigener Gedankentätigkeit, nicht auf Belehrung oder Überredung. Menon spricht am kritischen Kipp-Punkt des Dialogs den drohenden Verlust der Selbstkontrolle in der Faszination durch Sokrates an, der physiologisch als narkotische Lähmung, affektiv als Scham bzw. aggressive Schamabwehr, kognitiv als Verwirrung beschrieben wird. Während im Fortgang dieses Dialogs die eingeschaltete Exemplifizierung der sokratischen Gesprächstechnik an einem dritten Teilnehmer Menon zur Anamnesis seines Wissens und damit zu einer Überwindung der aporía (Ausweglosigkeit) führt, wird an anderer Stelle, in der berühmten Rede des Alkibiades im Symposion, eine existentiell vertiefte Situation unüberwindbarer Irritation und inconstantia durch Sokrates beschrieben: Thema des Symposion-Dialogs ist das Wesen und Wirken des Eros, verstanden als asymmetrisches Verlangen nach Vollkommenheit.133 Sinnlicher Eros fungiert hierbei als anschauliche Metapher für die Sehnsucht nach Erkenntnis. Konzeptionell hängen der platonische Eros-Begriff und die aporetische Situation eng zusammen: 130 131 132 133

Klein, J.: A commentary on Plato’s „Meno“. Chicago 1965, S. 89. Huber, C. E.: Anamnesis bei Plato. München 1964, S. 310. Ebd., S. 307 – 310. Erler, M.: Platon. Grundriss der Geschichte der Philosophie, hg. von H. Holzhey, Bd. 2,2. Basel 2007, S. 196.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

43

Aporie als Bewusstwerdung eines eigenen Mangels ist Voraussetzung für Eros als Sehnsucht nach dessen Behebung. Alkibiades, der schöne und erfolgreiche Jüngling, vermag nur im Rausch Zeugnis von diesem beschämenden Mangel und von seiner Eros-Faszination durch Sokrates abzulegen. Mit anderen Begriffen und Metaphern wird hier eine ähnliche, aber intensiver erlebte Erfahrung wie im Menon-Dialog beschrieben. Neben Verwirrung, Lähmung, Scham und Aggression wird in der Rede des Alkibiades die von Menon durch Spott abgewehrte absolute Asymmetrie der erotischen Bedürftigkeit angesprochen, die Alkibiades an Sokrates bindet. Alkibiades’ Lob ist ein Lob der sokratischen Argumentationstechnik, die ebenso wie Musik die gesamte Person einzunehmen vermag. Die faszinierende Wirkung der sokratischen Gesprächstechnik beruht nicht auf der Brillanz des Vortrags, sondern auf der argumentativen Kraft des Logos: Oder [bist du] etwa kein Flötenspieler? Wohl ein weit bewundernswürdigerer [thaumasióteros] als jener [Satyr Marsyas]! Jener nämlich bezauberte [ékélei] mit dem Instrument die Menschen durch die Gewalt seines Mundes und so noch jetzt, wer seine Werke vorträgt. [...] Du aber zeichnest dich um soviel vor jenem aus, als du ohne Instrument [aneu organon] durch bloße Worte [psilois lógois] dasselbe ausrichtest. [...] Hört aber einer dich selbst oder von einem anderen deine Reden vorgetragen, wenn auch der Vortragende wenig bedeutet, sei es nun Weib oder Mann, wer sie hört, oder Knabe, alle sind wir wie außer uns [ekpeplegménoi] und ganz davon hingerissen [katechómetha]. Ich wenigstens, ihr Männer, [...] wollte es euch auch mit Schwüren bekräftigen, was mir selbst dieses Mannes Reden angetan haben und noch jetzt antun. Denn weit heftiger als den vom Korybantentanz Ergriffenen pocht mir, wenn ich ihn höre, das Herz, und Tränen werden mir ausgepreßt von seinen Reden; auch sehe ich, daß es vielen andern ebenso ergeht. Wenn ich dagegen den Perikles hörte oder andere gute Redner, dachte ich wohl, daß sie gut sprächen, dergleichen begegnete mir aber nichts, noch geriet meine Seele in Unruhe darüber und in Unwillen, daß ich mich in einem knechtischen Zustand befände. Von diesen Marsyas aber bin ich oft so bewegt worden, daß ich glaubte, es lohnte nicht zu leben, wenn ich so bliebe, wie ich wäre. [...] Denn er nötigt [anankázei] mich einzugestehen, daß mir selbst noch gar vieles mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge. Mit Gewalt also, wie vor den Sirenen die Ohren verstopfend, fliehe ich aufs eiligste, um nur nicht immer sitzen zu bleiben und neben diesem alt zu werden. Und mit diesem allein unter allen Menschen ist mir begegnet, was einer nicht in mir suchen sollte, daß ich mich vor irgend jemand schämen [aischýnesthai] könnte; indes vor diesem allein schäme ich mich doch. [...] Also laufe ich ihm davon und fliehe, und wenn ich ihn wiedersehe, schäme ich mich wegen des Eingestandenen und wollte oft lieber sehen, er lebte gar nicht; geschähe es aber etwa, so weiß ich gewiß, daß mir das noch bei weitem schmerzlicher sein würde, so daß ich gar nicht weiß wie ich es halten soll mit dem Menschen. (215b–216c)

44

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Die innere Erschütterung und Verwirrung des Alkibiades wird von Gefühlen der Erniedrigung und von vergeblichen Versuchen, sich dem Einfluss des Sokrates zu entziehen, begleitet. Als affektive Leitbegriffe werden thaumázein (Staunen, Verwunderung), ekplexis (Außer-Sich-Sein, Bestürzung) und aischýne (Scham bzw. Schande) genannt, die für einen völligen Verlust des Kontroll- und Orientierungsvermögens stehen.134 Physiologische Symptome dieses Zustandes sind Unruhe, Herzklopfen, Schmerzempfinden, Tränenfluss und Schwindelgefühl. Analog zu Menons Vergleich mit einem Zitterrochen wählt Alkibiades zur Veranschaulichung der Faszination sokratischer Rede das Bild des Natternbisses (217e). Beide Metaphern rekurrieren auf die konzeptionelle Metapher ‚natural force‘, während die Vergleiche aus dem Bereich der Musik (Flötenspiel, Tanz der Korybanten, Sirenengesang), ähnlich den Magie- bzw. Betrugs-Metaphern in Menon, auf eine Konzeptualisierung der emotionalen Erfahrung als ‚magic‘ und ‚mental force‘ verweisen. Allerdings unterscheidet sich der rhetorische Status der sprachlichen Metaphorik: Alkibiades gebraucht die genannten Vergleiche ausdrücklich nicht zur Denunziation Sokrates’, sondern zur Verdeutlichung seiner Aussage (215a). Gleich am Beginn seiner Rede vergleicht Alkibiades Sokrates bzw. dessen Rede mit Silenen-Statuetten, die hinter einem abgeschmackten Äußeren Götterbilder verbergen. Damit führt er die emotionale Erfahrung auf eine bestimmte Objektqualität und deren Wahrnehmungsmodus zurück, nämlich einen Außen-Innen-Widerspruch, der als Widerspruch von Schein und Sein interpretiert wird, und ein daraus folgendes Bewertungsproblem im Sinne der inconstantia epistemologischer Faszination. Der schöne Jüngling fühlt sich – wider Erwarten und für den zeitgenössischen Leser die „Höhe der Paradoxie“135 – von dem hässlichen Alten gewaltsam angezogen, nachdem er dessen verborgene Schönheit erblickt hat (218c–219e). Diese Diskrepanz von Erscheinung und Wesen widerspricht dem griechischen Ideal der Kalokagathie und wirkt auf Alkibiades überwältigend: Ob aber jemand, wenn er [Sokrates] ernsthaft war und sich auftat, die Götterbilder gesehen hat, die er in sich trägt, das weiß ich nicht. Ich habe sie aber einmal gesehen, und so göttlich und golden und überaus schön und bewundernswürdig [thaumastá] kamen sie mir vor, daß ich glaubte, auf der Stelle alles tun zu müssen, was nur Sokrates wünschte. (216e–217a)

134 Mette, H. J.: ‚Schauen‘ und ‚Staunen‘, in: Glotta 39 (1961), S. 49 – 71, hier S. 69, Konstan, D.: The emotions of the ancient Greeks. Studies in Aristotle and classical literature. Toronto, Buffalo, London 2006, S. 142; Lada, I.: Emotion and meaning in Tragic Performance, in: Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond, hg. von M. S. Silk. Oxford u. a. 1996, S. 397 – 414, hier S. 399. 135 Jaeger, W.: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2. Berlin 21954, S. 269.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

45

Da diese Faszination des Sokrates oder dieses Begehren (eros) des Alkibiades hinter dessen Eitelkeit eine eklatante Bedürftigkeit sichtbar werden lässt, verwirrt und beschämt sie ihn zutiefst und deckt insofern seine innere ‚Hässlichkeit‘ auf.136 Der für den sokratischen Dialog charakteristische Kunstgriff der „Spaltung und Verdoppelung“137 der Personen wird hier existentiell, denn die Faszinationserfahrung der silenischen Doppelnatur Sokrates’ spaltet Alkibiades. Sie stellt dadurch nicht nur, wie bei Menon, die Scheinkohärenz gewussten Wissens, sondern die gesamte In-Dividualität der Person in Frage. Sokrates nötigt den erfolgverwöhnten Jüngling zu größten Anstrengungen, um ein neues Selbstverständnis zu konfigurieren. Damit wird ‚divided self‘ als die neben ‚force‘ entscheidende konzeptionelle Metapher für Faszination erkennbar.138 Die Spaltung bewirkende hybride Natur des Sokrates wird von Platon durch Vergleiche mit Mischwesen (Silen, Marsyas, Sirenen) unterstrichen. Sie entspricht darin nicht nur Platons Begriff des Eros, der dem Mythos zufolge ein aus Mangel (penía) und Fülle (poros) geborenes Begehren ist (203b–e), sondern ebenso der für Sokrates charakteristischen sprachlichen Handlungsform der strategischen Verstellung (eironeía, 216e): Mit der Ironie der Unwissenheit fasziniert Sokrates seine Gesprächspartner, indem er einerseits ihrer Eitelkeit Gelegenheit gibt, Wissen zur Schau zu stellen, sie andererseits durch Nachfragen zu einer Kapitulation und Revision dieses Wissens im Modus des Nachdenkens nötigt. So wie in Platons Eros-Programm Mangel und Fülle sind in der ironischen Gesprächsführung die Aporie (aporía) der Vor-Urteile und der Progress des Selbstdenkens (anámnesis) programmatisch aufeinander verwiesen. Dies trifft auch für die ‚wirkungsästhetisch‘ korrelierende Faszination zu: In der Aporie verliert der Gesprächspartner die argumentative Kontrolle über die Situation. Kann er diese nicht durch einen argumentativen ‚Gegenschlag‘ wiedergewinnen, gleicht dies einer Niederlage; daher seine Beschämung und Aggressivität. Ihm droht Manipulation, das heißt Verblendung, da er unfähig ist, die vorgebrachten widerstreitenden Aussagen selbst zu prüfen; dies entspricht der epistemologischen Faszination im Sinne Kants. Die Überwindung der Aporie durch Rückgewinn der argumentativen Kontrolle entspricht als ein ‚erotischer‘ Progress hin zu einer Fülle an Selbstgedachtem konzeptionell

136 Das Wort ‚aischyne‘ (‚Scham‘) hängt etymologisch mit ‚aischron‘ (‚hässlich‘) zusammen, vgl. Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, hg. von E. Heitsch und C. W. Müller, Bd. 6,3. Göttingen 2004, S. 294. 137 Apelt, O.: Platonische Aufsätze. Leipzig, Berlin 1912, S. 98. 138 Entsprechend der von Kövecses: Metaphor, 3f. vorgeschlagenen konzeptionellen Metaphern für spezifische Emotionen dürften für die dort nicht berücksichtigte emotionale Nuance der Faszination vor allem die Bildspender „mental/natural force“, „magic“ und „divided self “ charakteristisch sein.

46

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

ästhetischer Faszination.139 Im programmatischen Unterschied zur bloß ansteckenden und insofern täuschenden Wirkung sophistischer Rhetorik lässt sich die faszinierende Wirkung der sokratischen Ironie als ein Sog veranschau­ lichen, der aus dem Gesprächspartner neue Gedanken und Vorstellungen hervortreibt. Sokrates’ herausfordernde Zurückhaltung von Wissen gleicht einer Projektionsfläche, die in der faszinierten Nötigung zur Selbstüberschreitung des aporetischen Kipp-Punktes aus seinem Gesprächspartner alles ‚herausholt‘. Die hybride Struktur ist der Kunstgriff des Denkstil-Erotikers Sokrates zur Faszination seiner Zuhörer, ihm Folge leistend selbst zu denken. Da Platon kein eigenes Begriffswort dafür hat, umschreibt er die Faszinationserfahrung der Athener Jugend durch Emotionsbegriffe, Körperreaktionen, vor allem jedoch durch Metaphern und Vergleiche. Diese sind strukturell zum einen dem Konzept äußerer Krafteinwirkung, zum anderen dem Konzept der silenischen Doppelnatur zugehörig. Der Vergleich Sokrates mit der Doppelnatur des Silens erlangt im 16. Jahrhundert als christlich interpretierte Text- und Weltdeutungsmetapher größere Bedeutung. In semiotischer Hinsicht steht er, ähnlich wie seine negativ konnotierte Umkehrung als Vanitas, für eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat.140 An zwei Stellen bringen die Dialoge Platons den traditionellen Faszinationsbegriff des Schadenszaubers scherzhaft mit der drohenden Aporie in Zusammenhang: zum einen durch den terminus technicus des Blickzaubers baskanía, zum anderen durch den mythologischen Faszinationstopos der Gorgo Medusa.141 Eine metaphorische Assoziation des für eine reale Gefahr gehaltenen bösen Blicks mit dem Erkenntnisdilemma der Aporie scheint dem stilistisch versierten Platon offenbar angebracht. In einem früheren Abschnitt des Symposion wird die Reaktion des Sokrates auf die Lobrede des Tragödiendichters Agathon über die Vorzüge und die Vollkommenheit des Eros wiedergegeben (198b–199a). Sokrates heuchelt hier höchste Anerkennung: Agathons Eros-Rede habe jeden Einwand unmöglich gemacht, weshalb er davon absehe, mit Agathon in dieser Sache zu diskutieren. Den Zustand, den Agathons Rede, allerdings nur vorgeblich, in ihm ausgelöst habe, umreißt Sokrates mit genau jenen emotionsbezogenen Schlüsselbegriffen, die später dem – allerdings tatsächlich von Sokrates – faszinierten Alkibiades in den Mund gelegt werden: 139 W. Long sieht in Platons Eros-Begriffs „the connotation of aesthetic fascination“ enthalten (Long, W.: Eros, in: The Dictionary of Philosophy, hg. von D. D. Runes. New York 1942, S. 97). 140 Vgl. Müller, W. G.: Das Problem von Schein und Sein in Erasmus’ „Sileni Alcibia­ dis“ und Shakespeares „Macbeth“ in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 15 (1991), S. 1 – 18, hier S. 2. 141 Zur Motivtradition des Medusa-Effekts siehe Baumbach, S.: Medusa’s gaze and the aesthetics of fascination, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie (2011), 2, S. 225 – 245, sowie Heinrich: Das Floß.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

47

Verwirrung (aporía), Staunen (thaumázein), Bestürzung (ekplexis), Scham (aischos), dazu das die Unwiderstehlichkeit hervorhebende unerfüllbare Verlangen zu fliehen. Sokrates entwirft sich hier, in ironischer, das heißt dialog­ strategischer Verstellung, als ein von Agathons Rede Faszinierter. Dieses Lob des Sokrates betriff jedoch nur den rhetorischen Anschein der Rede (dóxa), nicht dessen Inneres, den Gedankengang. Platon unterscheidet hier scharf zwischen dem sokratischen, auf Gedankenaktivierung beruhenden Dialogverfahren und der suggestiv-ansteckenden Überredungstechnik der Sophisten, zu denen er Agathon rechnet. Die der sokratischen Ironie entgegenstehende sophistische Redetechnik zielt auf täuschende Faszination, ohne diese in einen Gedankenprozess (anámnesis) zu überführen. Sich hier, dem Gegenstand adäquat, sophistischer Mittel bedienend gipfelt Sokrates’ Scheinlob des Agathon in einem Wortspiel, das die Wirkung von dessen Rede mit der rhetorischen Schlagkraft von dessen Lehrer Gorgias gleichsetzt: „Mir ward bange, Agathon möchte das Gorgische Haupt, das gewaltige im Reden, am Ende seiner Reden gegen meine Rede loslassen und mich selbst zum Steine verstummen machen.“ (198c) Ausgehend von der bloßen Klangähnlichkeit zwischen dem Sophisten Gorgias und dem personifizierten bösen Blick der mythologischen Gorgo charakterisiert Platon die Agathon-Rede ironisch als faszinierend im Sinne des Schadenszaubers. Der zweite fascinatio-Verweis findet sich im Dialog Phaidon; er gilt als einer der frühsten Belege des baskanía-Begriffs überhaupt.142 Platon gebraucht den Begriff entsprechend der weit verbreiteten Vorstellung, Lob und Bewunderung können Neid und damit den bösen Blick auf die gelobte Person lenken. Sokrates wird hier von Platon im Dialog mit Freunden beschrieben, deren Vertrauen in die (antirhetorische) Kraft des Logos er stärken möchte. Überzeugend widerlegt er ihre Einwände, was einen der Freunde zu einem Ausruf des Staunens und der Bewunderung veranlasst. Davon angesteckt will ein zweiter der Freunde, Kebes, auf eine Verteidigung seiner gegen den Logos vorgebrachten Einwände verzichten und Sokrates damit diskussionslos das Feld überlassen. Sokrates weist jedoch dessen Lob zurück und fordert Kebes auf, den entscheidenden Eros-Prozess der Wahrheitssuche (anámnesis) nicht zu gefährden, sondern den argumentativen Zweikampf fortzusetzen: ‚Guter Freund‘, sagte Sokrates, ‚keine großen Worte bitte, damit nicht ein böser Zauber [baskanía] das Argument, das ja erst noch formuliert werden muß [tòn lógon tòn méllouta ésesthai], in sein Gegenteil verkehrt. Aber das überlassen wir dem Gott; wir aber sollten, wie bei Homer beschrieben, im Kampf Mann gegen Mann untersuchen, ob an dem, was du sagst, wirklich etwas dran ist.‘ (95b)143 142 Rakoczy: Böser Blick, S. 122. 143 Hier zitiert nach der genaueren Übersetzung in Platon: Werke. Übersetzung, Bd. 1,4, S. 95.

48

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Kebes, der zu einer ungeprüften Annahme der Meinung des Sokrates bereit ist, wird durch den Verweis auf den bösen Blick und damit auf den Schaden durch Verblendung zurechtgewiesen: Da er auf ein eigenes Nachdenken verzichtet, leiste er Trugschlüssen, wie sie von Agathon oder den Sophisten bekannt sind, Vorschub. Platon spielt mit der Erwähnung der baskanía, von der nach antiker Vorstellung insbesondere Kinder betroffen sind, auf eine Leitmetaphorik sokratischer Wahrheitssuche, den Geburtsvorgang, an. Sokrates betont etwa im Dialog Theaitetos (150a), dass er kein Kuppler der Wahrheit sei, sondern seinem Gesprächspartner lediglich – durch Faszination – bei der Geburt von Wahrheit assistiere. Wenn also in Phaidon Kebes am Kipp-Punkt des Dialogs aufgeben und Sokrates kampflos zustimmen will, droht gleichsam unter der Geburt der Wahrheit die tödliche baskanía des Vor-Urteils. Platon verwendet hier den traditionellen Begriff des Schadenszaubers, um die verderblichen Folgen der ungeprüften Annahme einer Meinung zu veranschaulichen. Seine stilistische Assoziation der drohenden Täuschung und Manipulation am Irritations- und möglichen Kipp-Punkt der Aporie mit dem Begriff bzw. mit dem mythologischen Topos der magischen fascinatio hat die Funktion, die Ansteckungsgefahren des Rhetorischen auszustellen. In dieser Verwendungsweise von baskanía zeichnet sich punktuell die Metaphorisierung des Begriffswortes im Sinne des späteren epistemologischen Faszinationsbegriffs ab. Dies zeigt, dass die oben erläuterte patristische Deutung von fascinatio in Gal 3,1 als metaphorischer Wortgebrauch weniger originell als begriffsgeschichtlich folgenreich war; nicht zuletzt aufgrund des dogmatischen Gewichts, den dieser metaphorische Gebrauch im christlichen Kontext besaß. 1.2.3  Applizierung des fascinatio-Begriffs auf Sokrates durch Marsilio Ficino Erst als im 15. Jahrhundert Marsilio Ficino die sinnliche Variante des Eros-Begriffs mit dem negativ konnotierten Begriffswort fascinatio verbindet, kommt es erstmals und ausnahmsweise zu einer metaphorischen Anwendung des Begriffswortes ‚fascinatio‘ auf den Denkstil-Erotiker Sokrates. Als Übersetzer und Kommentator des Gesamtwerkes Platons ist Ficino der entscheidende Vermittler platonischen Denkens an das 16. und 17. Jahrhundert. Sein in „produktiver Originalität“144 in sieben Reden verfasster lateinischer Symposion-Kommentar De Amore (1484) berücksichtigt das gesamte Spektrum der Liebe: von der metaphysischen Spekulation bis zur sinnlichen Praxis. Grundprinzip Amors sei die Anziehung („tractum, qui et amor est“, VI, 2), die von den Augen ausgeht und nach dem Modell der selektiven Gravitation erklärt 144 Wurm, A.: Platonicus Amor. Lesarten der Liebe bei Platon, Plotin und Ficino. Berlin, New York 2008, S. 6.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

49

wird.145 Dadurch gelangt eine Qualität oder Materie in die Seele, wo sie eine Hinwendung auf ihren Ausgangsort motiviert. Bei der himmlischen Liebe (amor celeste) entspricht dies der Anamnesis-Theorie Platons. In der siebenten, durch ihre medizinisch-anthropologischen Ausführungen deutlich über Platon hinausgehenden Rede erläutert Ficino auf Basis der zeitgenössischen Humoralpathologie das Prinzip der Anziehung für den abgewerteten Bereich der sinnlichen Liebe (amor vulgaris): Für diesen verwendet er erstmals das Begriffswort fascinatio. Begrifflich hält Ficinos De Amore die Beziehung Sokrates’ zu Alkibiades und anderen Jünglingen Athens aus dem Bereich des amor vulgaris heraus. Die Anziehungskräfte, die hier eine Rolle spielen, werden nicht als triebhafte fascinatio, sondern als subtile amor socraticus bezeichnet: Diese dient der Hinführung zu metaphysischer Schönheit, allerdings müsse Sokrates, um an dieses Ziel zu gelangen, auf Mittel der Sinnlichkeit zurückgreifen. Da weder Gesetze, Gewalt noch Mahnungen die durch den Umgang mit zügellosen Menschen („flagitiosorum contagione“) verderbten Gemüter („perturbatus animus“ VII, 16) der Jünglinge bessern, bleibt Sokrates nur der direkte Umgang bzw. das Liebesverhältnis („Socratis consuetudo“ VII, 16) mit ihnen. Aus diesem Grund verstellt er sich und übernimmt ihre Rede- und Lebensgewohnheiten. Platons Denkfigur der epistemologischen Faszination ist hier auf wenig mehr als das Verb ‚tenere‘ (‚festhalten‘, ‚fesseln‘, ‚beherrschen‘) reduziert: Die Jugend, die der Sinnenlust zuneigt, lässt sich nur durch die Lockspeise des Vergnügens fesseln („Ad voluptatem prona iuventus sola volupate tenetur“ VII, 16). Zunächst lockt („monet“) Sokrates sie durch Zuneigungen an, dann nimmt er sie in strenge Zucht. Wie Alkibiades bezeuge, liebten („dilectus fuerit“) die Jünglinge Sokrates, den wahrhaft Liebenden („verus amator“), weitaus mehr als dieser sie. Die mit dem amor socraticus verbundene Vorstellung einer strategischen erotischen Verstellung macht verständlich, weshalb Ficino in der siebenten Rede von De Amore den Beinamen „fascinator“ direkt auf Sokrates beziehen kann. Er tut dies in der Auslegung der oben erläuterten Lobrede des Alkibiades, die an die frühere Rede Diotimas über die Natur des Eros anschließt. Sokrates sei, so Alkibiades bei Ficino, ein „Incantator, fascinator, veneficus atque sophista“ (VII, 2), da er mehr als andere berühre („mulcere“). Bei diesen vier Beinamen des Sokrates handelt es sich um Attribute, die Diotima vorher, in der sechsten Rede von De Amore, dem Gott Amor zugesprochen hatte. Ficino ergänzt damit in seiner lateinischen Übersetzung die drei im griechischen Original des Symposion genannten Beinamen ‚Zauberer‘, ‚Giftmischer‘ und ‚Sophist‘ („góes kaì pharmakeùs kaì sophistes“, 203c) um einen weiteren, den des Faszinierenden: Amor ist nun ein 145 Im Folgenden zitiert in der Übersetzung von K. P. Hasse (Ficino, M.: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, hg. und eingeleitet von P. Richard Blum. Hamburg 31994).

50

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

„incantator fascinatorque, [...], veneficus atque sophista“ (VI, 9). Ficino verdoppelt in der Übersetzung also das griechische Wort ‚Zauberer‘ (‚góes‘) und unterscheidet dabei zwischen Wortzauber und Blickzauber („incantator fascinatorque“). In der nachfolgenden Auslegung der Rede Diotimas durch Ficino werden die ersten drei Beinamen unter dem Oberbegriff „magus“ diskutiert, nur der vierte Beiname „sophista“ wird separat behandelt (VI, 10). Die Wahl der Magie als Bildspender für die Metaphorik der Liebe wird dabei ausdrücklich aus der konzeptionellen Metapher der Attraktion abgeleitet: Amor werde deshalb auch ‚magus‘ genannt, weil Liebe so wie Zauberei auf Anziehung beruhe: „Die Wirkung der Magie besteht in der Anziehung [attractio], welche ein Gegenstand auf einen anderen auf Grund einer bestimmten Wesensverwandtschaft [cognatione nature] ausübt.“146 Ficinos Neueinführung des traditionell negativ konnotierten fascinatio-Begriffs in das platonische Eros-Konzept lässt sich in Rücksicht auf die naturwissenschaftliche Erläuterung der (abgewerteten) sinnlichen Liebe in Buch VII von De Amore plausibel machen. Während aber die sinnliche Liebe eine wirkliche, das heißt verderbliche fascinatio ist, der anteilig über den fascinator-Beinamen auch Sokrates zugeordnet wird (insofern dieser die pure Sinnlichkeit als ein Mittel der Verstellung zu Gunsten der Anamnesis gebraucht), wird der platonische Liebesbegriff selbst, der von Diotima vorgestellt wird, lediglich vergleichsweise mit der Wirkung von Zauberblicken (fascinatio), Zaubersprüchen und Zaubertränken („amoris opus fascinationibus incantationibus veneficiis expleatur“ VI, 10) in Verbindung gebracht: Amor wirkt anziehend wie eine fascinatio, ist aber keine. Ficino hat also in seinem Kommentar zu Platons Symposion das griechische Wort ‚góes‘ unter Verwendung des – in mittelalterlicher Tradition dem Teufel zustehenden – fascinator-Beinamens verdoppelt, um in der Gesamt­komposition von De Amore Platons Eros-Theorie mit der neuplatonischen Liebestheorie und der zeit­genössischen Medizin in einen begrifflichen Zusammenhang bringen zu können.147 Ficinos Bezeichnung des Sokrates als fascinator bleibt für lange Zeit eine Ausnahme; für die Frühe Neuzeit war die Semantik des Wortes zu negativ, um mit dem auch als figura Christi gedeuteten Sokrates vereinbar zu sein. In der für das 18. und frühe 19. Jahrhundert maßgeblichen Philosophiegeschichte Johann Jakob Bruckers, die seit 1731 in mehrfach erweiterten und übersetzten Auflagen erschien, wird Sokrates traditionell als derjenige dargestellt, der durch strategische Unwissenheit die Jugend Athens zur Wahrheit führt und so dem verderblichen Einfluss der Sophisten entzieht. In der lateinischen (1742) und englischen Fassung (1792) von Bruckers Philosophiegeschichte fallen 146 „Magice opus est attractio rei unius ab alia ex quadam cognatione nature.“, VI, 10 (ebd., S. 242f.). 147 Zu Ficinos Konzeption und der frühen Rezeption seiner Sokrates-Darstellung siehe Degen: Sokrates fasziniert, S. 23 – 26.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

51

in diesem Zusammenhang Wortformen von fascinatio; bezeichnenderweise nicht auf Sokrates, sondern – entsprechend der beiden erläuterten Verweise auf Schadenszauber bei Platon – auf die Sophisten und ihre Wirkung bezogen.148 Eine deutsche Fassung von Bruckers Philosophiegeschichte spricht hinsichtlich der Sophisten von einem ‚Verleiten‘, hinsichtlich Sokrates’ von einem ‚Einnehmen‘ und ‚An-Sich-Ziehen‘ der Jugend.149 Seine Feinde nennen Sokrates einen „tückischen, falschen, zweyzüngigen Mann“150. Der für das deutsche Sokrates-Bild des 19. Jahrhunderts einflussreiche Johann Georg Hamann verwendet in seinen Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759), in denen neben anderen Brucker als Gewährsmann genannt wird, den fascinatio-Begriff nicht. Allerdings greift er, um die Wirkung der auf Unwissenheit beruhenden „Einfälle“ des Sokrates auf die Sophisten zu charakterisieren, auf den Medusa-Topos zurück.151 Hamann hebt, daran wird später Nietzsche anschließen, das Moment der strategischen Verstellung, die auf die Vorlieben der Athener abgestimmt und dadurch erfolgreich war, im Sinne der sokratischen Ironie hervor: Sokrates‘ Wirkung beruhe auf einer „für den Zustand seines Volkes und seiner Zeit“152 „ausgerechnet[en]“ Unwissenheit, mit der er die athenische „Lustseuche“ der Neugier bediente, um sie zugleich geistig herauszufordern. Er kam ihren Bedürfnissen, nämlich der Neugier und dem Mitteilungsdrang, soweit entgegen – dies ist der entscheidende, sinnlich-emotional adressierende Zug der sokratischen Ironie –, dass sie sich dem Nachgeben dieses eigenen Bedürfnisses, allerdings eben zu den logos-Bedingungen des Sokrates, nicht entziehen konnten. Hamann sieht klar den lustökonomischen Wirkungsmechanismus der Faszination, der zugleich gewährt und fordert: „es muste ihnen also gefallen, gefragt zu werden“153. Auf diese Weise „lockte [er] seine Mitbürger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt“154. Die effektive Faszinationsstrategie der tak­ti­schen „Herunterlassung“ zu den Bedürfnissen des Adressaten, wie Sokrates sie durch Ironie vollzieht, wird von Hamann in seiner auszugsweisen Übersetzung der philo­so­phi­schen Réflexions René de Rapins sprachlich herausgearbeitet: 148 Vgl. Brucker, J. J.: Historia Critica Philosophiae [...], Bd. 1. Leipzig 1742, S. 533 sowie Brucker, J. J.: The history of philosophy [...], Bd. 1. Dublin 1792, S. 174f: „In order to dissipate the fascination which these pretenders to wisdom had spread over the minds of youth, Socrates daily employed himself, after his peculiar manner, in perplexing them with questions.“ 149 Brucker, J. J.: Kurtze Fragen aus der philosophischen Historie [...], Bd. 1. Leipzig 1731, S. 436. 150 Ebd., S. 437. 151 Hamann, J. G.: Sämtliche Werke, hg. von J. Nadler, Bd. 2. Wien 1949 – 1957, S. 73 (im Original hervorgehoben). 152 Ebd., S. 76. 153 Ebd., S. 77 (Hervorhebung A.D.). 154 Ebd. (Hervorhebungen im Original).

52

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Er [Sokrates] ließ denen, die er wieder legen wollte, soviel Vortheil über sich gewinnen, als sie wollten, um sie mit desto mehr Ansehen zu überführen, je weniger er sich desselben zu bedienen schien. Er erwarb sich eine unumschränkte Gewalt über ihre Urtheile durch die Herunterlassung, die er gegen sie bewies: dadurch, daß er seine Meynung an sich hielt, nöthigte er andere, sie anzunehmen.155

Hamann ist es auch, darauf werde ich im vierten Teil dieses Buches zurückkommen, der am energischsten eine Transformation des Habitus des Sokrates in einen literarischen Faszinationsstil reflektierte: „Ich habe über den Sokrates auf eine sokratische Art geschrieben“156, was als „Schleyer“ veran­schau­licht wird. Hamanns Vorstellung eines durch adäquate Bedürfnisadressierung aus dem Verborgenen Hervorlockens wird für die Anwendung des Begriffswortes ‚Faszi­nation‘ auf Sokrates seit dem 19. Jahrhundert ausschlaggebend. 1.2.4  Faszination als Diskrepanz-Effekt in Nietzsches Sokrates-Bild Konzeptioneller Höhepunkt der Anwendung des Faszinations-Begriffs auf Sokrates im 19. Jahrhundert ist Friedrich Nietzsche. In der 1888 entstandenen Götzen-Dämmerung verwendet Nietzsche innerhalb des argumentativen Kerntextes Das Problem des Sokrates auf wenigen Seiten sechsmal Formen von ‚fasciniren‘, um die Wirkung des Sokrates auf das aristokratische Athen zu beschreiben. Spätestens hier ist die Denkfigur der Faszination, wie sie prototypisch anhand der Rede des Menon und des Alkibiades entwickelt wurde, stabil mit dem Begriffswort fascinatio zu einem Begriff intensiven, partiell ambivalenten Erlebens verbunden. Insofern dieses Erleben mit einer Situation der Aporie verbunden ist, trägt es Züge im engeren Sinne epistemologischer, insofern es Gedankentätigkeit motiviert, trägt es Züge ästhetischer Faszination. Nietzsches Faszinationsbegriff ist eingebettet in seine Theorie der Dekadenz. Die vielfältige Auseinandersetzung Nietzsches mit Sokrates, die um 1869 mit den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie einsetzt und bis in das Jahr 1888 anhält, kann hier nur erwähnt werden: Mit Sokrates verbindet Nietzsche Hass und Bewunderung, an ihm exponiert er wesentliche Probleme seines eigenen Denkens.157 Die Verwendung des Wortes ‚Faszination‘ lässt sich zeitlich viel enger eingrenzen: Von den 26 Belegen für Wortformen von ‚fasciniren‘ in Nietzsches Gesamtwerk entfallen 21 auf die philosophisch äußerst fruchtbare Spanne zwischen Herbst 1887 und Dezember 1888. Erst für diese Zeit kann von einer begrifflichen Profilierung des Wortes ‚Faszination‘ bei ihm gesprochen werden, 155 Ebd., Bd. 4, S. 50 (Hervorhe­bungen A.D.). 156 Ebd., Bd. 2, S. 61. 157 Schmidt, H. J.: Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild. Meisenheim a. Glan 1969, S. 320.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

53

die nicht zufällig mit der Konjunktur seines für das Spätwerk zentralen Begriffs der ‚Décadence‘ zusammenfällt.158 Nietzsches komplexer, auf seine Gegenwart projizierter psycho-physiologischer Dekadenz-Begriff betrifft einen Zustand des kollektiven Niedergangs, der verlorenen Instinktsicherheit, Vitalität und Totalität, an deren Stelle die Regulative von Moral und Rationalität treten. Historisch wird ein solcher Kulturzustand an Sokrates, dann vor allem an dem aufkommenden Christentum festgemacht, ebenso stehen Romantik und das ausgehende 19. Jahrhundert im Zeichen der Décadence. In Das Problem des Sokrates wird an Sokrates die für den späten Nietzsche vordringliche Frage nach dem Verhältnis von Leben und Philosophie diskutiert. Die von Hegel eingeführte optimistische Deutung des sokratischen Denkens als geistes- und kulturgeschichtliche Zäsur wird von Nietzsche als Wende zum Verfall, als verhängnisvoller, bis in die Gegenwart nachwirkender Umbruch zum Lebensfeindlichen interpretiert.159 Die Griechen verloren ihre ursprüngliche instinktsichere Weisheit, fortan grassierten selbst in der Aristokratie Triebexzess und Instinktanarchie. Um diese einzudämmen, bedurfte es, wie Sokrates an sich erfahren habe, eines „Gegentyrannen“160, nämlich der „Vernünftigkeit um jeden Preis“161, deren Mittel Dialektik hieß. Sokrates, der zur Dialektik griff, um sich unter Kontrolle zu bekommen, gilt Nietzsche als „Verfalls-Symptom[]“162, als exemplarischer „Niedergangs-Typ[]“163, als ein bloß vermeintlicher Überwinder der Dekadenz, insofern er „über sich Herr“ wurde.164 Das Problem des Sokrates sei, dass seine als alternativlos verstandene „Nothwehr“165, „absurd-vernünftig zu sein“166, selbst Ausdruck der Dekadenz ist, mithin diese radikal beschränkt, aber nicht überwindet. Der Vorwurf der Täuschung und Verblendung trifft allerdings nicht, wie bei Platon und in der neuzeitlichen Rezeption, die sophistische Rhetorik, sondern die sokratische Dialektik. Nietzsches Kulturzustand der Décadence und Platons Gesprächspunkt der Aporie markieren in individueller oder kollektiver Hinsicht einen faszinationsaffinen Kipp-Punkt, dessen Überschreitung nach Maßgabe des 158 Zum Dekadenzbegriff bei Nietzsche vgl. Borchmeyer, D.: Nietzsches Begriff der Decadence, in: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, hg. von M. Pfister. Passau 1989, S. 84 – 95; Nietzsche-Wörterbuch, hg. von der Nietzsche Research Group unter Leitung von P. von Tongeren, G. Schank, H. Siemens, Bd. 1. Berlin u. a. 2004, S. 540 – 563. 159 Gründer, K.: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte. Göttingen 1982, S. 108. 160 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 71 (im Original gesperrt). 161 Ebd., S. 72. 162 Ebd., S. 68. 163 Ebd., S. 66 (im Original gesperrt). 164 Ebd., S. 71 (Hervorhebung im Original); vgl. Schmidt: Nietzsche, S. 299. 165 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 70 (im Original gesperrt). 166 Ebd., S. 72 (im Original teilweise gesperrt).

54

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Sokrates in Nietzsches Rationalismus- und Moralitätskritik negativ eingeschätzt wird. Nietzsche führt eine Reihe von Eigenschaften und Merkmalen des Sokrates an, die gegen seinen Erfolg in Athen sprachen: physiologische (Hässlichkeit), biologische (Hybridisierung), ethische (Gleichsetzung von Vernunft, Tugend und Glück), stilistische (Dialektik) und soziologische (niedere Herkunft) – in dieser Hinsicht hatte Sokrates also „alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich“167. Umso bemerkenswerter sind die Gründe, weshalb der „Hanswurst“ Sokrates dennoch die Athener für sich gewinnen konnte. Mit diesen Gründen expliziert Nietzsche zugleich sein Verständnis von Faszination: „es bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte“.168 Er nennt zwei Gründe: Sokrates „fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte“, und er „fascinirte als dieser extreme Fall“ von Triebanarchie, der in seiner radikalen Selbstbeherrschung qua Rationalität zugleich ein Versprechen ihrer Überwindung einschloss. Die erste Begründung Nietzsches fasst im Sinne des oben erwähnten Phaidon-Zitats die Dialektik des sokratischen Gesprächs als einen „Ringkampf “ (95b) auf, wodurch Sokrates der Triebdisposition der Griechen entgegenkam. Er bediente ihren agonalen Trieb und empfahl sich zugleich der Anarchie ihrer Triebe als Regulierungsinstanz. Er faszinierte, weil seine hybride Natur kein Ausnahmefall war, sondern sich unter den Griechen „überall im Stillen“ vorbereitete. Diese zweite Begründung geht von einer hellsichtigen Zeit- und Kulturanalyse des Sokrates aus: Diese habe ihn die eigene „Degenerescenz“ als einen lediglich exponierten Fall eines allgemeinen Verfalls begreifen lassen, woraus er schlussfolgerte, dass sein radikaler „Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung“ auch allgemein Zustimmung finden werde: Sokrates faszinierte die Athener, weil er ihnen als exemplarischer Kranker zugleich „ein Arzt, ein Heiland zu sein [schien]“.169 Er offerierte Dialektik als „sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff “170, sein „schonungsloses Werkzeug“171, das ein „Nachgeben an die Instinkte, an’s Unbewusste“172 hemmte. Nietzsches Konzeption von Faszination als adressatenbezogene Doppelstrategie der Triebbefriedigung (Agon) und Triebregulierung (Dialektik) verstärkt die psychologische Ausrichtung des epistemologischen Faszinationsbegriffs. Sokrates faszinierte, weil seine Spaltung in Triebanarchie und radikale Selbstkontrolle einer verborgenen Disposition der Athener (Triebanarchie) entsprach und zugleich eine Radikalkur derselben (Dialektik) versprach. Während Platon und die Tradition dem hässlichen Äußeren des Sokrates das Gött167 168 169 170 171 172

Ebd., S. 69. Ebd., S. 71 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 72. Ebd., S. 71. Ebd., S. 70. Ebd., S. 72.

1.2  Faszination am Beispiel der Sokrates-Rezeption

55

liche seiner Seele gegenüberstellte, kehrt Nietzsche, hier deutlich von Hamann abweichend, diesen platonischen Idealismus radikal um: Sokrates wie potentiell alle Griechen bargen „alle schlimmen Laster und Begierden in sich“:173 Das „monstrum in animo war die allgemeine Gefahr“.174 Sokrates konnte die Griechen faszinieren, weil er bei ihnen eine ihm ähnliche Triebanarchie „errieth“: „Er sah hinter seine vornehmen Athener.“175 Die zunächst kontraintuitive Faszinationskraft des Sokrates in der Lesart Nietzsches beruht letztlich auf einer asymmetrischen Gleichheit: Sokrates exponierte, was bei seinen Gesprächspartnern latent vorlag: „Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste“ dessen, was „damals die allgemeine Noth zu werden anfieng“.176 Nicht ihrer Doppelstrategie, sondern des falschen Lösungsansatzes wegen bewertet Nietzsche die Faszination des Sokrates höchst ambivalent. Die Annahme, strikte Vernünftigkeit könne „Lösung“ oder „Arzt“177 der Dekadenz, das heißt der kulturgeschichtlichen Aporie, sein, ist irrig, da sie die entfesselte Sinnlichkeit verdrängt, anstatt sie in eine Balance zu bringen. Nicht in Das Problem des Sokrates, sondern in einem Fragment von 1885 bringt Nietzsche seine Freude darüber zum Ausdruck, die ironische Hybridität des Sokrates als Ursache von dessen Faszinationskraft („Zauber“) erkannt zu haben. Er radikalisiert dabei die traditionelle Doppelnatur von Äußerem und Innerem, Mittel und Zweck des sokratischen Habitus, indem er das Innere weiter spaltet und der ironischen Natur des Sokrates in Überbietung der faustischen Natur drei Seelen in einer Brust gibt: Immer ironice: es ist eine köstliche Empfindung, einem solchen wahrhaftigen Denker zuzusehn. Aber es ist noch angenehmer, zu entdecken, daß dies Alles Vordergrund ist, und daß er im Grunde etwas Anderes will und es auf sehr verwegene Weise will. Ich glaube, daß der Zauber des Sokrates der war: er hatte eine Seele und dahinter noch eine und dahinter noch eine.178

Anders als in den epistemologischen Faszinationskonzeptionen des 18. Jahrhunderts betrifft die Diskrepanz hier den Faszinierenden und nicht den Faszinierten, wobei aber, wie gezeigt, Nietzsche für die Faszinationswirkung letztlich eine asymmetrische Übereinstimmung der Dispositionen voraussetzt. Nietzsche führt in diesem Fragment zusätzlich zur dialektischen Doppelnatur des sokratischen Denkens als einem bloßen Oberflächenphänomen das verborgene Wollen des Sokrates an. Er nimmt damit eine zweite Spaltung vor, da er den verborgenen Willen gegen den ironisch-gespaltenen Denkstil des 173 Ebd., S. 69 (Hervorhebung A.D.). 174 Ebd., S. 71 (Hervorhebung A.D.). 175 Ebd. (Hervorhebung im Original). 176 Ebd. 177 Ebd., S. 72. 178 Ebd., Bd. 11, S. 440 (Hervorhebung im Original).

56

1  Begriffsgeschichte: Von der physischen zur epistemologischen Faszination

Sokrates ausspielt: Dem ‚Wahrhaftigen‘ seines Denkens im Vordergrund stehe „etwas Anderes“, ein nicht näher bezeichnetes ‚Verwegenes‘ seines Wollens, als die eigentliche Absicht des Sokrates gegenüber. In dieser dreifachen Spaltung, die sich freilich auf die Opposition von Denken und Wollen zurückstellen lässt, liege die Ursache für die Faszinationskraft des Sokrates. In Nietzsches Das Problem des Sokrates hat die seit Platon nach­vollziehbare Denk­figur des Fasziniertwerdens durch Sokrates einen Namen bekommen. Dieser Name ist einer Begriffstradition entlehnt, die als terminus technicus des Schadenszaubers über viele Jahrhunderte lang allenfalls dazu diente, das Gegenprinzip des sokra­tischen Gesprächs, die rhetorische Ansteckung durch sophistische Überredung, zu bezeichnen. Der von Platon über Ficino und Hamann bis zu Nietzsche reichende diachrone Vergleich der jeweiligen synchronen Rela­tionen zwischen dem Gebrauch des Begriffswortes fascinatio und der Denkfigur Faszination erweist zum einen die starken semantischen Modifikationen des Begriffswortes ‚Faszination‘, zum anderen gewährt er ein genaueres konzeptionelles Verständnis jener Wahrnehmungs- und Erlebnisqualität, die in der Moderne als Fas­zination bezeichnet wird. Aus den seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als proto­typische Faszinationssituationen aufgefassten Beschreibungen der Wirkung des So­krates kann ein komplexes emotionales Profil (Staunen, Bewunderung, Lust, Bestür­zung, Scham, Abwehr) und eine Wirkungs­konzeption (adressierte lustökonomische Doppelstrategie von sinnlicher Gewährung und kognitiver Herausforderung) von Fas­zi­nation gewonnen werden. Abhängig davon, welche Perspektive auf das motivationale Potential der inconstantia-Situation eines möglichen Kippens der argu­mentativen Ausweglosigkeit (aporía) in ein eigen­ ständiges Auffinden von Wahrheit (anámnesis) eingenommen wird, lassen sich diese Faszinations­beschreibungen entweder der epistemologischen Faszination (Erkenntnismangel, mit Unlust) im Bild der Läh­mung oder aber einer als-ob-epistemologischen, das heißt ästhetischen Faszination (Er­kennt­nisfülle, mit Lust) im Bild des Sogs zuordnen.

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination 2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff Der doppelte Durchgang durch die Begriffsgeschichte von Faszination hat die Zeit um 1800 als Transformationsphase bestimmt, in der neben dem psychologisch begründeten episte­mologischen Begriff ein ästhetisches Verständnis von Faszination entstand. Eine solche Übertragung des Begriffs auf ästhetisches Erleben wurde durch die nachhaltige Aufwertung der Imagination im Verlauf des 18. Jahrhunderts und durch den Umstand, dass das epistemologische Defizit der Sinnestäuschung und Mehrdeutigkeit in der von Erkenntnisund Entscheidungsdruck freigestellten Situation des Ästhetischen im Modus des Als-Ob lustvoll ist, begünstigt. Dieser Prozess soll im Folgenden für die ästhetische Diskussion um 1800 in vier Schritten genauer beschrieben werden. Zunächst wird das am Ende von Kapitel 1.1 erwähnte epistemologische Verständnis von Faszination in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht genauer und im Zusammenhang seines anthropologischen Denkens erläutert. In einem zweiten Schritt wird die Möglichkeit diskutiert, ein ästhetisches Verständnis von Faszination im Rahmen der Kritik der Urteilskraft Kants, insbesondere in Hinblick auf den Begriff der ästhetischen Idee, zu entwickeln. In einem dritten Schritt stelle ich die Einführung des Faszinationsbegriffs in die ästhetiktheoretische Diskussion des Schönen und des Erhabenen durch Dugald Stewart und Archibald Alison vor. Abschließend werden, in Anlehnung an Walter Benjamins Begriff des Geheimnisses und an Johann Wolfgang Goe­thes Symbol-Begriff, literarische Beschreibungen von Faszinationserleben bei Goethe und deren darstellungstechnische Implikationen diskutiert. 2.1.1  Aufmerksamkeit und Sinnestäuschung bei Baumgarten und Kant Kants Definition von ‚Bezauberung‘ als fascinatio in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie einen rationalen Zugang verfolgt, das Moment der Aufmerksamkeitsbindung und der emotionalen Qualität hervorhebt und weil sie in einem komplexen DOI 10.1515/9783110527308-003

58

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

begriffs­syste­matischen Zusammenhang steht.1 Bis auf eine Ausnahme kennt Kant das Begriffswort fascinatio nur als Bezeichnung für eine defizitäre Erkenntnis, nämlich für einen die Aufmerksamkeit fokussierenden unauflöslichen Urteilswiderspruch hinsichtlich einer Sinneswahrnehmung. Unter Aufmerksamkeit (attentio) versteht Kant in der Anthropologie ein willentliches Bewusstwerden eigener Vorstellungen.2 Damit notwendig verbunden ist das Abblenden anderer Vorstellungen, das Kant in der Tradition Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers als Abstraktion bezeichnet.3 Aufmerken wie Abstrahieren werden als komplementäre Handlungen begriffen. Für beide Vermögen unterscheidet Kant in seinen ab 1772/ 73 alljährlich gehaltenen Vorlesungen über Anthropologie zwischen einer „willkührliche[n]“ und „unwillkührliche[n]“ Form.4 Das unwillkürliche Aufmerken wird dabei als defizitär aufgefasst, da es keiner freien Handlungsmotivation durch die Vernunft entspringt und damit nicht dem immanenten Zweck des MenschSeins entspricht. Mangelnde Verfügungsgewalt über die eigene Aufmerksamkeit, die sich nicht zuletzt in ihrer geradezu zwanghaften Ausrichtung auf eine Vorstellung zeigt, bezeichnet Kant auch als hypochondrisch: Hypochondrische Leute haben den Fehler, daß sie durch die unwillkürliche Aufmercksamkeit worauf attendiren, und sie sich gerne was aus dem Gemüth schlagen wollten, wenn sie nur könnten. [...] Wenn die Hypochondrischen was gehört, oder gesehen haben, so geht ihnen das immer im Kopf herum, und es plagt sie beständig Z. E. wenn sie bey einer Hinrichtung zugegen sind. Es ist nicht zu befürchten, daß sie auch eine Mißethat begehen, sondern es ist der Fehler ihrer Willkühr, die nicht Macht hat zu abstrahiren.5

In Zusammenhang seiner anthropologischen Vorlesung geht Kant auch auf Verfahren der Aufmerksamkeitserregung in der Rhetorik und Ästhetik ein, so auf den Kontrast: Er definiert den Kontrast als „die Aufmerksamkeit erregende Nebeneinanderstellung einander widerwärtiger Sinnesvorstellungen unter 1

2 3 4 5

Kants Faszinations-Begriff ist bislang nicht rezipiert worden. Eine Ausnahme bildet Barbara Thums, die auf Kants Konzeption in Zusammenhang der Differenzierung zwischen Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis eingeht (Thums, B.: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008, S. 108). – Vgl. auch: Degen, A.: Ästhetische Faszination nach Kant, in: Baisch, M./Degen, A./Lüdtke, J. (Hg.): Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Freiburg 2013, S. 265 – 302. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 131. Meier, G. F.: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Teil II. Halle 21754 [Nachdruck Hildesheim, New York 1976], § 314, S. 117; vgl. Thums: Aufmerksamkeit, S. 151f. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,1, S. 264. Diese Unterscheidung findet sich schon bei Christian Wolff (Thums: Aufmerksamkeit, S. 138). „Anthropologie Friedländer“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,1, S. 489).

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

59

einem und demselben Begriffe“6. Eine Steigerung des Kontrastes und damit der Aufmerksamkeitserregung wird erreicht, wenn nicht nur „widerwärtige“, sondern einander widerstreitende Vorstellungen unter einen Begriff gestellt werden: „Contraste worin Wiedersprüche sind [...] ziehen die Aufmerksamkeit an sich“7. Bei solchen „wiedersprechenden Contrasten, wo 2 Dinge vereinigt werden, deren eines dem andern entgegengesezt ist“8, gerät die epistemologische Kohärenzbildung an ihre Grenzen. Ein solcher „Contrast ist allemahl schädlich und muß verhütet werden“. Das epistemologische Verdikt gegen den Widerspruch beschäftigt Kant nicht nur im Fall des Kontrastes, bei dem der Widerspruch objektseitig gegeben ist, sondern weitaus stärker in Hinsicht auf einander widersprechende Erkenntnisurteile im Subjekt. In der frühen Abhandlung Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) geht Kant gemäß des sensualistischen Axioms von einer sich selbst reproduzierenden Lust im Erleben der eigenen Seelentätigkeit aus, die später – in ästhetischen Zusammenhängen – auch für seine Denkfigur des freien Spiels zentral werden wird:9 „Die Seele eines jeden Menschen ist selbst in dem gesundesten Zustande geschäftig“10. Diese grundsätzliche Disposition zur psychischen Geschäftigkeit betrifft insbesondere die Einbildungskraft, der hier nicht nur eine die Elemente der Sinneswahrnehmung konfigurierende, sondern darüber hinaus eine produktive (dichtende) Funktion zugeschrieben wird. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Bilder von Dingen, die nicht gegenwärtig sind, zu malen, oder auch an der Vorstellung gegenwärtiger Dinge einige unvollkommene Ähnlichkeit zu vollenden durch einen oder andern chimärischen Zug, den die schöpferische Dichtungsfähigkeit mit in die Empfindung einzeichnet.11

In einer der bildenden Kunst entlehnten Metaphorik wird die charakteristische Geschäftigkeit der gesunden Seele als entweder eine Vergegenwärtigung abwesender oder eine Komplettierung gegenwärtig nur reduziert wahrnehm6

„Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd.7, S. 162). 7 „Anthropologie Collins“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,1, S. 65, Hervorhebung im Original). 8 Ebd., S. 290. 9 Vgl. Menninghaus, W.: „Ein Gefühl der Beförderung des Lebens“. Kants Reformulierung des Topos „lebhafter Vorstellung“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von A. Avanessian, W. Menninghaus und J. Völker. Zürich, Berlin 2009, S. 77 – 94. 10 „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 264); zum Moralsensualismus Kants siehe Recki, B.: Kant. Vernunftgewirkte Gefühle, in: Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, hg. von H. Landweer und U. Renz. Berlin u. a. 2008, S. 459 – 477, hier S. 463f. 11 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 264.

60

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

barer Dinge beschrieben. Diese Seelentätigkeit wirke sich im Schlaf nachhaltiger aus als im Wachzustand, da im Wachen die „lebhaften sinnlichen Eindrücke“ die „zärtere[n] Bilder der Chimären verdunkeln“12. Kant geht von unterschiedlichen Graden der Kontrollierbarkeit des chimärischen Zugs der Einbildungskraft aus, die er in ein Spektrum von gesund bis krank einordnet. In einem gesunden Seelenzustand ist die Einbildung durch das Subjekt jederzeit aufhebbar, untersteht also seiner freien Verfügungsgewalt. Dieses später von Kant als „Illusion“ bezeichnete, durch das Bewusstsein kontrollierte und insofern freie Oszillieren der Einbildungskraft im Als-Ob-Modus zwischen sinnlicher Erkenntnis und Chimäre wirke, da es der menschlichen Disposition zur psychischen Geschäftigkeit zwanglos entgegenkomme, unterhaltend: Wenn wir nach dem Erwachen in einer lässigen und sanften Zerstreuung liegen, so zeichnet unsere Einbildung die unregelmäßigen Figuren etwa der Bettvorhänge, oder gewisser Flecke einer nahen Wand zu Menschengestalten aus mit einer scheinbaren Richtigkeit, welche uns auf eine nicht unangenehme Art unterhält, wovon wir aber das Blendwerk den Augenblick, wenn wir wollen, zerstreuen. Wir träumen alsdann nur zum Theil und haben die Chimäre in unserer Gewalt.13

Steigt jedoch der chimärische Anteil, entgleitet dieses freie Blendwerk der Sinne der Kontrolle. In Absetzung zur „gewöhnlichen Verblendung“ beschreibt Kant diesen Selbstbetrug in den Sinnesempfindungen als graduelle „Verrückung“. Insbesondere unter Einfluss emotionaler Spannung kann sich diese von einer – wie später für die epistemologische Faszination beschrieben – bloßen Gemütsschwäche zu einem manifesten Krankheitszustand steigern:14 Geschieht etwas dem [d. h. der unterhaltenden Zerstreuung] Ähnliches in einem höheren Grade, ohne daß die Aufmerksamkeit des Wachenden das Blendwerk in der täuschenden Einbildung abzusondern vermag, so läßt diese Verkehrtheit einen Phantasten vermuthen. Dieser Selbstbetrug in den Empfindungen ist übrigens sehr gemein, und so lange er nur mittelmäßig ist, wird er mit einer solchen Benennung verschont, obzwar, wenn eine Leidenschaft hinzukommt, dieselbe Gemüthsschwäche in wirkliche Phantasterei ausarten kann. Sonst [bei einem lediglich mittelmäßigen Grad des Selbstbetrugs] sehen durch eine gewöhnliche Verblendung die Menschen nicht, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vormalt [...].15 12 Ebd. 13 Ebd., S. 265 (Hervorhebung im Original). 14 In „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“ fehlt noch die systematische Unterscheidung zwischen Krankheit und Schwäche, wie sie dann in Kants „Anthropologie“ nach Maßgabe der Tolerierbarkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gemacht wird (Brandt, R.: Kritischer Kommentar zu Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798). Hamburg 1999, S. 287). 15 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 265.

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

61

So meine etwa ein leidenschaftlicher Naturaliensammler in bestimmten Gesteinsstrukturen die Silhouette einer Stadt oder ein Frommer in der fleckigen Struktur des Marmors die Passionsgeschichte zu erkennen. Hier wäre nicht mehr von einer kontrollierten, bloß unterhaltenden Zerstreuung zu sprechen, vielmehr von einer defizitären Schwäche des Gemüts, bei der die Erkenntniskräfte durch eine Chimäre „bezaubert“16 werden. In Zusammenhang mit Kants Beschreibungs- und Klassifizierungsversuchen der verschiedenen Formen solcher Sinnestäuschung begegnet der Faszinationsbegriff in lateinischer Form erstmals in den Entwürfen zur Vorlesung über Anthropologie. Diese folgen weithin dem Kapitel „Psychologia empirica“ aus Baumgartens Metaphysica (1739). Baumgarten geht, allerdings ohne das Wort fascinatio zu verwenden, in Paragraph 547 der Metaphysica auf das „Blendwerk der Sinne“ (Praestigiae) ein. Hinsichtlich der möglichen Verfahren zur Täuschung der Sinneswahrnehmung (artifica fallendorum sensuum) unterscheidet er je nach Wirkungseffekt zwischen nachhaltigen (efficaces) und wirkungslosen (inefficaces) Manipulationsverfahren.17 In seinen Entwürfen für das Colleg über Anthropologie aus den 1770er Jahren fügt Kant dem Oberbegriff „Betrug der Sinne“ die Stichworte „Praestigiae (Blendwerk) (Zauberwerk)“18 an und unterscheidet nach Baumgarten zwischen Schein als Betrug (fallaciae) und als Illusion (illusiones). Dem Hinweis „Die ihre reflexion nicht von der Empfindung unterscheiden [...], betriegen sich leicht [...] und werden leicht betrogen“ folgen als Zusätze die Nennung verschiedener Affekte sowie die Wortfolge „Fascinatio. Augenverblendniß. Behext.“ Der bei Kant hier erstmals vorkommende Begriff fascinatio wird in einem weiteren Zusatz durch ein Experiment illustriert, bei dem einem mehrfach herumgewirbelten und dann auf den Boden gelegten Hahn ein Strich vom Schnabel aus gezogen wird, worauf dieser in hypnoseähnliche Starre verfalle.19 Die Ursache dafür sei in einer Verwechslung innerer und äußerer Empfindungen zu suchen: Der Hahn liege still „indem er glaubt angebunden zu sein“20. 16 Ebd. 17 Aus A. G. Baumgartens „Metaphysica“, abgedruckt in der Auflage von 1757 in Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 16; vgl. auch die Übersetzung von § 547 durch G. F. Meier: „Ein Kunstgrif [!] die Sinne zu betrügen ist ein Blendwerk der Sinne (praestigiae) oder ein Gaukelwerk; wenn aus demselben in der That ein Betrug entsteht, so ist es ein kräftiges (efficaces), wo aber nicht, ein unkräftiges (inefficaces).“ (Baumgarten, A. G.: Metaphysik. Ins Deutsche übersetzt von G. F. Meier, nach dem Text der zweiten, von J. A. Eberhard besorgten Ausgabe 1783. Jena 2004, S. 124, Hervorhebungen im Original). 18 „Entwürfe zu dem Colleg über Anthropologie aus den 70er und 80er Jahren“: Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 684 (Hervorhebung im Original). 19 Ebd. Als „Experimentum mirabile de imaginatione gallinae“ wurde das Experiment 1646 durch Athanasius Kircher allgemein bekannt gemacht. 20 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 15, S 123.

62

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Kants Verständnis der Sinneserkenntnis von Baumgarten her zeigt sich auch in Mitschriften zu seinen Metaphysik-Vorlesungen. Diesen zufolge liegt ein „Betrug der Sinne“ (fallacia sensuum) immer dann vor, „wenn wir unser subjectives Urtheil fälschlich für objectiv halten“21. Generell geht Kant davon aus, dass Fehler in Zusammenhang der sinnlichen Erkenntnis nicht auf die Sinnesorgane, sondern auf den die Sinnesempfindungen im Zusammenspiel mit der Einbildungskraft konfigurierenden Verstand zurückzuführen sind.22 „Die Sinne betrügen nicht. [...] nicht weil sie immer richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht urtheilen; weshalb der Irrthum immer nur dem Verstande zu Last fällt.“23 Als Grund für derartige Irrtümer, etwa ein bloßes zeitliches Nacheinander als einen kausalen Zusammenhang aufzufassen, nennt eine Vorlesungsmitschrift neben Baumgartens Begriff des Vorurteils (praejudicium) auch die bei Baumgarten fehlende zweisprachige Bezeichnung „Fascination Behexung“24. Kant versteht hier somit unter Faszination einen Trugschluss in der sinnlichen Erkenntnis. Im Entwurf seiner Opponentenrede zur Dissertation des neu auf den Königsberger Poetik-Lehrstuhl berufenen Johann Gottlieb Kreutzfeld wendet Kant 1777 die Unterscheidung von Täuschung und Illusion auf die Wirkung von Dichtung an. Der Dichter stehe grundsätzlich in einem anderen Verhältnis zum Sinnenschein als der Philosoph. In ästhetischen Zusammenhängen (Poesie) entspreche der täuschende Schein deshalb einer Illusion und nicht, wie Kreutzfeld in der Tradition Platons behauptet hatte, einem Betrug. Während der Sinnenschein im Modus des Betrugs mit der Aufdeckung desselben abbreche und zu gefallen aufhöre, bleibe eine Illusion auch in Kenntnis ihrer bloßen Scheinhaftigkeit erhalten und vermöge weiterhin zu erfreuen. In der Beschreibung der Wirkung von Poesie greift Kants lateinische Rede den Begriff der Faszination auf: Die Dichter „lassen ja nichts unversucht, was den Geist in Bewegung bringen und durch die vereinten Kräfte der Sinneseindrücke bezaubern [fascinare] kann“25. In einer ähnlichen, wenn 21 „Metaphysik Dohna“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 28, S. 673); vgl. auch „Kritik der reinen Vernunft“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 328). 22 Grundsätzlich wird als Leistung der Einbildungskraft die „Anschauung und die Zusammensetzung des Mannigfaltigen derselben“, als Leistung des Verstandes der „Begriff als Vorstellung der Einheit dieser Zusammensetzung“ angesehen (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 287). 23 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 146. „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urtheil über denselben, so fern er gedacht wird.“ („Kritik der reinen Vernunft“; Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 188). 24 „Metaphysik Dohna“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 28, S. 673). 25 „Hi [poetae] enim nihil inexpertum relinqventes, qvod motum mentis ciere et vi unita sensationum fascinare possit [...].“ Aus „Entwurf zu einer Opponenten-Rede“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 923), deutsche Übersetzung hier und im

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

63

auch nicht explizit von Faszination sprechenden Passage heißt es: Der frei spielende Schein der Dichtung „erhält zugleich den Geist in angenehmer Bewegung, auf dem Grenzgebiet zwischen Irrtum und Wahrheit gleichsam fluktuierend“26. Kants Begriff von Faszination ließe sich von dieser Parallelstelle her in seiner Anwendung auf ästhetische Erfahrung als eine für den Geist angenehme fluktuierende Bewegung zwischen Schein und Wahrheit im Modus des Als-Ob paraphrasieren. Je nachdem, ob in erkenntnistheoretischen oder ästhetischen Zusammenhängen verwendet, schwanken diese frühen Belege für die Verwendung des Begriffswort ‚Faszination‘ zwischen Fehlurteil und Illusion. 2.1.2  fascinatio: Definition, Vergleich, anthropologische Anmerkung Kants 1798 veröffentlichte Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist weniger allgemeine Menschenkunde als systematische Psychologie und Verhaltenslehre. Im Sinne des Vernunftpostulats ist sie auf eine Selbstoptimierung des Menschen als „freihandelnde[s] Wesen“27 ausgerichtet und insofern ‚pragmatisch‘; der gesamte Bereich des Physiologischen bleibt diesem Verständnis folgend weitgehend ausgespart. Paragraph 13 der Anthropologie behandelt in Zusammenhang der Erkenntnis­vermögen auch das „künstliche[] Spiel mit dem Sinnenschein“, das nach drei Formen unterschieden wird: Täuschung (illusio), Betrug (fraus) und Bezauberung (fascinatio). Diese werden hier als Manipulationsverfahren bzw. Erkenntnisdefizite, jedoch nicht – im Unterschied etwa zu Kants Versuch über die Krankheiten des Kopfes – als Krankheit diskutiert. Kant versteht unter Schein eine Wahr­nehmungsform, in der „der Verstand mit seinen einen Gegenstand bestimmenden Urtheilen jederzeit im Spiele [ist], obzwar er in Gefahr ist das subjective für objectiv zu nehmen“28. Dieses Spiel kann frei, das Folgenden nach Schmidt, B. A.: Eine bisher unbekannte lateinische Rede Kants über Sinnestäuschung und poetische Fiktion, in: Kant-Studien 16 (1911), S. 5 – 21, hier S. 17; (Hervorhebungen A.D.). 26 „sed illudens [nihilo] cum non sit nisi veritas phaenomenon, perspecta re ipsa nihilo minus durat et simul animum in erroris ac veritatis confiniis qvasi fluctuantem svaviter movet [...]“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 907; Hervorhe­bungen A.D.). 27 „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 119). 28 „Metaphysische Anfangsgründe der Natur“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 555). Zum Verständnis von ‚Schein‘ in Absetzung zu ‚Erscheinung‘: „Der Schein ist der Grund zu einem irrigen Urtheil aus subjectiven Ursachen, die fälschlich für objectiv gehalten werden; Erscheinung ist aber gar kein Urtheil, sondern blos empirische Anschauung, die durch Reflexion und den daraus entspringenden Verstan-

64

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

heißt vom Bewusstsein kontrolliert und unabhängig von objektbezogenen Interessen, oder unfrei, das heißt durch objektbezogene Interessen veranlasst, verlaufen. Die Begriffsbestimmungen hinsichtlich eines künstlich Ins-SpielBringens der Erkenntnisurteile schließen an die erwähnte Differenzierung der Lusteffekte an: Kann der Sinnenschein auch nach Durchschauung desselben als lustvoll-unterhaltendes Spiel fortgeführt werden, liegt Täuschung bzw. Illusion vor; etwa bei perspektivischen Bilddarstellungen oder bei vorteilhafter Kleidung.29 Bricht das lustvoll-unterhaltende Spiel mit Entdeckung der Täuschung ab, liege hingegen Betrug vor; Kant führt als Beispiele naturalistisch bemalte Statuen oder die Wirkung von Schminke an. Jeweils ausschlaggebend ist, ob der Lusteffekt nach der bewussten Unterscheidung zwischen Sein und Schein des Gegenstandes erhalten bleibt oder nicht. In Abgrenzung dazu steht das Begriffswort ‚Bezauberung‘, das synonym mit dem Begriffswort ‚fascinatio‘ verwendet und mit einer rationalen Konzeption von Faszination verbunden wird. Innerhalb der Systematik Kants steht sein scharf profilierter Begriff von Faszination für das Unvermögen, hinsichtlich eines Gegenstandes eine sichere Scheidung zwischen Sein und Schein vornehmen zu können. Die Sinnestäuschung bricht weder als erkannter Betrug ab, noch lässt sie sich als Illusion kontrolliert fortführen.30 Sie gestaltet sich vielmehr als ein unauflösliches Widerspiel von Urteilen, etwa so, dass man – wie es für die Variante der „Augenverblendnis“ (praestigiae) heißt – „genöthigt wird, etwas auf das Zeugnis der Augen für wirklich zu halten, ob es zwar von eben demselben Subject durch seinen Verstand für unmöglich erklärt wird“31. Dieses spezifische Verständnis von Faszination wird von Kant in vier Schritten entfaltet: Einer allgemeinen Definition folgen ein Vergleich der Wirkung von Faszination, eine anthropologische Erläuterung derselben sowie einige Beispiele samt einer lustökonomischen Bilanz. A. Allgemeine Definition: Bezauberung (fascinatio) in einem sonst gesunden Gemüthszustand ist ein Blendwerk der Sinne, von dem man sagt, daß es nicht mit natürlichen Dingen zugehe: weil das Urtheil, daß ein Gegenstand (oder eine Beschaffenheit desselben) sei, bei desbegriff zur inneren Erfahrung und hiemit [!] Wahrheit wird.“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 142). Prinzipiell können, wie Kant eingangs feststellt, die den Verstand täuschenden sinnlichen Vorstellungen natürlichen oder künstlichen Ursprungs sein. 29 Vgl. in der „Anthropologie Pillau“: „Man kann alles das Illusionen nennen wo eine Verbindung zwischen dem Verstande und dem Scheine statt findet.“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,2, S. 745). 30 Die in der Kreutzfeld-Rede durch ‚fascinare‘ beschriebene Normalform ästhetischer Erfahrung wäre demzufolge als illusio anzusehen. 31 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 149 (Hervorhebung A.D.).

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

65

darauf verwandter Attention, mit dem Urtheil, daß er nicht (oder anders gestaltet) sei, unwiderstehlich wechselt, – der Sinn also sich selbst zu widersprechen scheint [...].32

Kant spricht gleich zu Beginn dem Phänomen der Faszination das angeblich Übernatürliche als einen bloßen Schein ab; vielmehr beruhe es auf einem nicht durchschauten Urteilskonflikt in Hinblick auf eine Sinneswahrnehmung. Sogenannte Bezauberung oder fascinatio interessiert ihn also weder als Magie noch als Ausdruck einer psychischen Krankheit, sondern als epistemologische Fehlleistung, deren Ursache zu klären ist. Faszination ist ein defizitärer Spezialfall sinnlicher Erkenntnis, bei dem jeder Versuch, die diskrepanten Urteile hinsichtlich der Existenz oder Beschaffenheit eines Gegenstandes unter einen Begriff zu bringen, scheitert; das Urteilsvermögen findet kein Paradigma, dem sich die wechselnden Urteile widerspruchsfrei subsumieren lassen.33 Der permanente Wechsel der Urteile erweist sich in zweifacher Hinsicht als „unwiderstehlich“: Er erlaubt kein stabiles Urteil über den Gegenstand und er macht es so dem auf Erkenntnis angewiesenen Subjekt unmöglich, seine Aufmerksamkeit von diesem Gegenstand abzuziehen. Nur im epistemologischen Dilemma der Faszination, dieser Aspekt wird von Kant gegenüber anderen epistemologischen Begriffen von Faszination hervorgehoben, ist die Aufmerksamkeit derart angespannt fokussiert, während sie im Modus der Illusion angenehm unterhalten, im Modus des entdeckten Betrugs abgewiesen wird. B. Vergleich der Wirkung von Faszination: [weil das eine Urteil mit dem anderen Urteil unwiderstehlich wechselt;] wie ein Vogel, der gegen den Spiegel, in dem er sich selbst sieht, flattert und ihn bald für einen wirklichen Vogel bald nicht dafür hält.34

Die epistemologische Aporie, in der man sich im Fall der Faszination befindet, vergleicht Kant mit einem Vogel, der angesichts eines Spiegels den Widerspruch zwischen dem (subjektiven) visuellen Urteil ‚Artgenosse‘ und dem (objektiven) haptischen Urteil ‚harte Fläche‘ nicht aufzulösen vermag und

32 Ebd., S. 150 (Hervorhebungen im Original). 33 Vgl.: „Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumirt [...], bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß reflectirend“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 179). 34 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 150.

66

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

deshalb unablässig neu gegen den Spiegel prallt.35 Der Vogelvergleich unterstreicht das Unfreie, weil aufgrund eingeschränkter Urteilsfähigkeit nicht Behebbare dieser Form der Täuschung. Zugleich lässt der Vergleich nach den Motiven für die trotz steter Falsifizierung immer wieder ansetzenden Annäherungsversuche an das Spiegelbild fragen. Kants Beschreibung wie die verhaltensbiologischen Rahmenannahmen legen nahe, dass das Motiv des Vogels in der mit dem Urteil ‚Artgenosse‘ in Aussicht gestellten Triebbefriedigung (aggressive Konkurrenz), also einer objektbezogenen sinnlichen Lust, liegt, die so groß sein muss, dass sie die stete Unlust des Aufpralls mehr als wettmacht. C. Anthropologische Erläuterung des Begriffs: Dieses Spiel mit Menschen, daß sie ihren eigenen Sinnen nicht trauen, findet vornehmlich bey solchen statt, die durch Leidenschaft stark angegriffen werden.36

Kant versucht hier, eine psychologische Erklärung zu Ursachen und Folgen dieser Faszination zu geben. Faszinierbarkeit korreliere mit einer niedrigen emotionalen Selbstkontrolle und hat eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der eigenen Erkenntnistätigkeit zur Folge. Faszination ist – im Unterschied zu einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen infolge einer Zweckmäßigkeitserfahrung in ästhetischer Rahmung – eine verunsichernde Erfahrung der Unzweckmäßigkeit der Erkenntnisvermögen, und zwar im außerästhetischen Ernstfall einer versuchten, aber misslingenden Erkenntnis eines Gegenstandes. Zwar bezeichnet Kant die inconstantia der Urteile als ein „Spiel“ der Erkenntniskräfte, jedoch ist dieses ein unfreies Spiel, in dem der Mensch nicht Subjekt, sondern Objekt ist. Um das wesentliche Faszinationsmerkmal „Spiel mit Menschen“ im Zusammenhang der Philosophie Kants profilieren zu können, ist zunächst eine nähere Bestimmung seines Spiel-Begriffs nötig. Diese führt, über die Unterscheidung von freiem und unfreiem Spiel, zur Frage nach den außerhalb des Bewusstseins liegenden Vorstellungen. Kant greift dabei, in der Tradition Johann Georg Sulzers, auf den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulent werdenden Begriff der dunklen Vorstellungen zurück. 35 Kants Vogelvergleich unterscheidet sich von Leibniz’ Vergleich der täuschenden Wirkung eines Gemäldes mit einem Hund, der sein eigenes Spiegelbild anbellt. Bei Leibniz unterliegt der Hund einer anhaltenden Täuschung, das heißt einem stabilen Fehlurteil, bei Kant wechselt der Vogel aufgrund des Aufpralls zwischen widersprüchlichen Urteilen; nur für diesen Fall spricht Kant von Faszination (Leibniz, G. W.: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, mit Einleitung und mit Anmerkungen versehen von E. Cassirer. Hamburg 1996, S. 103). 36 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 150 (Hervorhebung im Original).

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

67

2.1.3  Exkurs: Zum Begriff der dunklen Vorstellungen bei Kant und Sulzer ‚Spiel‘ ist eine von Kant häufig und vielseitig eingesetzte Denkfigur.37 Sie steht für eine intrinsisch motivierte Handlung, das heißt für eine „Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist“38. In diesem Sinne spricht Kant von Glücks-, Ton- oder Gedankenspielen, ebenso vom Spiel der Erkenntnisvermögen, der Vorstellungen, der Empfindungen oder der Affekte. Das als eine freie und für sich zweckhafte Tätigkeit vorgestellte Spiel ist eng mit dem Begriff der Lust verbunden. Deren sensualistisch bestimmter Maßstab ist die freie Aktivierung der Lebensfunktionen, mit anderen Worten: die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit der eigenen Vermögen freigestellt von einem bestimmten Zweck, das heißt spielend, zu erfahren: „Alles wechselnde freie Spiel der Empfindungen (die keine Absicht zum Grunde haben) vergnügt, weil es das Gefühl der Gesundheit befördert“39. Neben einem freien Spiel kennt Kant auch ein unfreies Spiel, das durch das Subjekt nur teilweise oder überhaupt nicht kontrolliert werden kann. Hierzu gehören insbesondere die physiologischen Lebensprozesse: So wird etwa die animalische Funktionsweise des Menschen als „ein continuirliches Spiel des Antagonismus“40 von Schmerz und Vergnügen beschrieben. Der Belebungseffekt wird dabei durch den Aspekt der Nötigung, dem ein solches unfreies Spiel unterliegt, eingeschränkt. Während das freie Spiel jederzeit vom Subjekt willentlich abgebrochen werden kann, erlebt sich der Mensch im unfreien Spiel als Objekt von willentlich kaum kontrollierbaren Kräften. Zu diesen gehören neben den physiologischen Lebensprozessen die sogenannten dunklen Vorstellungen, die kaum oder nicht bewusst sind. In Paragraph 5 der Anthropologie geht Kant kurz auf den ansonsten ausgeklammerten Problemkomplex der „Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein“, ein. Obwohl „das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen“41 sei, meint Kant sich einer ausführlichen Behandlung des schwierigen Themas mit dem Hinweis entheben zu können, dass es nicht Gegenstand einer pragmatischen, sondern einer physiologischen Anthropologie sei. Zu den 37 Brandt: Kritischer Kommentar, S. 67. – Zu dem für Kants Ästhetik des Schönen zentralen Begriff des ‚freien Spiels‘ vgl. im Folgenden Kapitel 2.2. 38 „Kritik der Urtheilskraft“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 304); zu ‚angenehm‘ vgl.: „Vergnügen ist eine Lust durch den Sinn, und was diesen belustigt, heißt angenehm.“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 230). 39 „Kritik der Urtheilskraft“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 331, Hervorhebung A.D.); vgl. auch: „Warum ist das Spiel (vornehmlich um Geld) so anziehend [...]. Weil es der Zustand eines unablässig wechselnden Fürchtens und Hoffens ist.“ („Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 232, Hervorhebungen A.D.). 40 „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 231). 41 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 136 (Hervorhebung im Original).

68

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

in der Tradition Leibniz’ und Baumgartens als ‚dunkel‘ bezeichneten Vorstellungen zählen vor allem solche „Sinnenanschauungen und Empfindungen“42, die aufgrund der Größe, Geschwindigkeit oder Komplexität eines Objekts am Rand oder außerhalb des Bewusstseinsfeldes liegen.43 Diese lassen sich nur in ihrem „passiven Theile als Spiel der Empfindungen“44 wahrnehmen. Sie sind aber dennoch „auf der großen Karte unseres Gemüths“45 eingezeichnet und für das Lust-Unlust-System wie für das Begehrungsvermögen von großer Bedeutung. Das Nichtbewusste beeinflusst nicht zuletzt die Einbildungskraft, sowohl im kontrollierten (freies Spiel) als auch im unkontrollierten (unfreies Spiel) Modus: Wir spielen nämlich oft mit dunkelen Vorstellungen und haben ein Interesse beliebte oder unbeliebte Gegenstände vor der Einbildungskraft in Schatten zu stellen; öfter aber noch sind wir selbst ein Spiel dunkeler Vorstellungen, und unser Verstand vermag nicht sich wider die Ungereimtheiten zu retten, in die ihn der Einfluß derselben versetzt, ob er sie gleich als Täuschung anerkennt.46

An der Fähigkeit, den Einfluss solcher nicht bewusster Vorstellungen auf die Urteilsbildung von Seiten des Verstandes zu kontrollieren, erweist sich für Kant die Gemütsstärke eines Menschen: Eine solche Gemütsstärke ist im Fall der fascinatio gerade nicht gegeben. Analog zum kontrollierten bzw. unkontrollierten Einfluss dunkler Vorstellungen auf den Verstand heißt es an anderer Stelle: „Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns.“47 Dunkle Vorstellungen, Phantasie und fascinatio kommen – in außerästhetischer Hinsicht – für Kant also darin überein, dass sie die Willensfreiheit des Subjekts einschränken, weil sich der Verstand nicht „wider die Ungereimtheiten zu retten“ vermag. Mit diesem, in der Buchfassung der Kant’schen Anthropologie im Vergleich mit den Vorlesungen knapp behandelten Thema der dunklen Vorstellungen schließt Kant an Johann Georg Sulzers zunächst auf Französisch publizierten Aufsatz Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zu42 Ebd., S. 135. 43 In der „Anthropologie Friedländer“ zählt Kant ausdrücklich auch die Vorurteile zu den dunklen Vorstellungen: „Ehe der Mensch ein Urtheil fällt, welches bestimmt ist, so fällt er schon im voraus im Duncklen ein vorläufiges Urtheil. Dieses leitet ihn um etwas zu suchen [...]“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,1, S. 481). 44 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 136. 45 Ebd., S. 135 (Hervorhebung im Original). 46 Ebd., S. 136 (Hervorhebungen A.D.). Dies wird ähnlich auch in den Vorlesungen behandelt, etwa in der „Anthropologie Friedländer“: „Auf der andern Seite mercken wir auch, daß der Mensch ein Spiel der Dunckelheit ist.“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,1, S. 481). 47 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 175. – Vgl. Kants Anmerkungen zum optimal-schönen Anblick eines lodernden Feuers in Kapitel 2.2.

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

69

weilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet (1759) an.48 Sulzers Abhandlung, die auf eine „Theorie der Fehlleistungen“49 hinausläuft, ist wegweisend für das wachsende Interesse an Phänomenen des Unbewussten und Unwillkürlichen im späten 18. Jahrhundert.50 Eigenen wie der Literatur entnommenen Beispielen folgend werden dunkle Vorstellungen von Sulzer als durchaus einflussreiche Handlungs- und Urteilsgründe anerkannt und in ihrer Funktionsweise ansatzweise erklärt.51 Handlungen, die „gegen den bestimmtesten Willen“52 ausgeführt werden, können aus einer Konkurrenz von bewussten und unbewussten Motiven abgeleitet werden: „alle Kräfte der Seele können sich auf zweyerley Art äußern; auf eine deutliche und so, daß wir wissen was wir thun [...], oder auf eine dunkle Art und so, daß wir selbst nicht wissen, wie die Sache in uns vorgeht.“53 Diese dunklen Handlungsgründe der Seele (Vorstellungen, Urteile, Empfindungen, Verlangen, Abscheu) bezeichnet Sulzer, einer breiten psychologisch-ästhetischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts folgend, als die „Ich weiß nicht was“ (je ne sais quoi) im Empfinden.54 Durch eine solche Doppelbindung des Verstandes an Bewusstes und Nichtbewusstes komme es dazu, dass „zwey entgegengesetzte Urtheile zu gleicher Zeit statt finden können“55 oder „beyde Willen [...] neben einander zu gleicher Zeit vorhanden sind“56. Als „vollkommenes Bild“57 dieser „Sclaverey“, die viel „Aehnlichkeit mit 48 Brandt: Kritischer Kommentar, S. 157, sowie Brandt, R./Stark, W.: Einleitung, in: Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25, S. VII–CLI, hier S. XXXVIf. 49 Riedel, W.: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Schings, H.-J. (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 410 – 439, hier S. 419. 50 Die Abhandlung erschien 1773 auf Deutsch. Zur Bedeutung des Aufsatzes innerhalb der Diskussion des Unbewussten und Unwillkürlichen Ende des 18. Jahrhunderts siehe Riedel: Erkennen, S. 410ff. 51 Sulzer verweist auf Montaignes Essay „De la force de l’imagination“. Der Essay diskutiert zahlreiche Beispiele für die Macht, die die Imagination auf Körper und Geist anderer ausüben kann. 52 Sulzer, J. G.: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet, in: Ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, S. 99 – 121, hier S. 105. 53 Ebd., S. 108. 54 Zur soziokulturellen und psychologisch-ästhetischen Tradition des Begriffs vgl. Scholar, R.: The je-ne-sais-quoi in early modern Europe. Encounters with a certain something. Oxford 2005. 55 Sulzer: Erklärung, S. 105. 56 Ebd., S. 106. 57 Ebd., S. 102.

70

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Bezauberungen“ aufweise, führt Sulzer auch einen für die Neuzeit klassischen Topos verderblicher Faszination an, die hypnotisierende Wirkung der Klapperschlange: So wie der Anblick des geöffneten Mauls einer Klapperschlange Vögel angeblich dazu zwinge, wider Willen und unter großem Geschrei sich aus der Baumkrone in das Maul zu begeben, könnten die dunklen Vorstellungen das menschliche Bewusstsein zu eigentlich ungewollten Handlungen oder Urteilen nötigen. Im Unterschied zu Kant, der in der Nachfolge Leibniz’ dunkle Vorstellungen in erster Linie aus Wahrnehmungen außerhalb des Aufmerksamkeitsfokus ableitet (petites perceptiones), führt der stärker individualpsychologisch argumentierende Sulzer diese auf Erlebnisspuren aus der Vergangenheit zurück: namentlich auf „eine Idee oder auf einen Vorfall“, die bzw. der „sich von den Jahren unsrer Kindheit herschreib[t]“.58 Als Beispiele für Fehlleistungen, die aus der Konkurrenz willkürlicher und unwillkürlicher Handlungs- und Urteilsimpulse entstehen, werden Phänomene wie Angststarre, ansteckendes Gähnen oder heftige psychophysische Reaktionen auf „recht lebhafte Erzählung[en]“59 genannt. Sulzer betont, dass diese Fehlleistungen nicht mit dem trivialen Fall einer unter Affekteinwirkung auftretenden Änderung des Willens zu verwechseln seien. Vielmehr liege hier ein wirklicher „Knoten“60 vor, das heißt ein Widerspruch in den willentlichen Urteilen oder Strebungen. Dadurch könne beispielsweise, hier schließt Kants fascinatio-Begriff an, gleichzeitig „dieselbe Sache für wirklich und eingebildet“61 gehalten werden. 2.1.4  fascinatio: Beispiele und lustökonomische Bilanz Kant übernimmt für seinen Faszinationsbegriff aus Sulzers Theorie der Fehlleistungen jenen Bereich, der mit einer widersprüchlichen Bewertung von Sinneswahrnehmung zusammenhängt („ihren eigenen Sinnen nicht trauen“), und überführt diesen in das vermögenspsychologische Modell eines mit der Erfahrung von Unzweckmäßigkeit verbundenen Widerspiels. Dieses Widerspiel ist, wie erläutert, zugleich ein vernunftwidriges „Spiel mit Menschen“, zu dem es aufgrund einer defizitären emotionalen Disposition kommt: Es findet nämlich „vornehmlich bey solchen statt, die durch Leidenschaft stark angegriffen werden“. Grundsätzlich unterscheidet Kant zwischen drei Formen von Emotionalität: Gefühl, Affekt und Leidenschaft.62 Nur als Gefühl, das heißt in der reflexiven Erfahrung der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der eigenen Vermögen als Lust bzw. Unlust, ist für Kant 58 59 60 61 62

Ebd., S. 110. Ebd., S. 102. Ebd., S. 105. Ebd., S. 107. Recki: Kant, S. 460 – 62.

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

71

Emotionalität rehabilitiert. Affekt und Leidenschaft gelten hingegen als vernunftwidrige Formen der Handlungsmotivation: Ein Affekt wird als akuter, mit Überlegung nicht zu vereinbarender emotionaler Rausch der Lust oder Unlust bestimmt und im Bild eines alle Dämme durchbrechenden Wassers veranschaulicht. Im Unterschied zum bloß episodischen Charakter des Affekts steht Leidenschaft für eine habituelle Störung der Urteils- und Handlungsfreiheit, die in einer kontinuierlichen Beziehung zum Begehrungsvermögen steht.63 Leidenschaft lässt sich sehr wohl, anders als Affekte, mit Verstandestätigkeit vereinbaren. Sie wird von Kant als eine „Bezauberung“64 bezeichnet und im Bild eines Stromes, der sich immer tiefer in sein Flussbett eingräbt, veranschaulicht. Mit der Korrelation von Leidenschaft und Faszinierbarkeit in Kants Faszinationsbegriff wird letztere in enge Beziehung zum Begehrungsvermögen gestellt. D. Beispiele und lustökonomische Bilanz Kants Nennung von Beispielen für Faszination lässt erkennen, dass die fragliche Fehlleistung nicht generell, sondern nur in Hinsicht auf bestimmte Objekte vorliegt. Seine Beispiele lassen sich entsprechend der jeweiligen Ursache für den wahrnehmungsbezogenen Urteilskonflikt nach Begehren (Liebe macht blind), Naivität (suggestive Tricks) und Autorität (religiöses Dogma) unterscheiden. Bemerkenswert ist das in einer Fußnote diskutierte Beispiel für Faszination infolge vernunftwidriger Abhängigkeit von Autorität, da es einen semiotischen Zugang zu Kants Faszinationsbegriff eröffnet. Ausgehend von der etymologischen Hypothese über die Ableitung des Wortes ‚Hexe‘ aus der Einsetzungsformel des Abendmahls („Hoc est corpus meum“) bringt Kant Faszination mit einem zentralen Dogma des Katholizismus, der Transsubstantiationslehre, in Verbindung. Nach katholischem Verständnis verwandelt sich die Hostie während der Eucharistiefeier nicht symbolisch, sondern real in den Leib Christi.65 Den in diesem Zusammenhang theologisch vieldiskutierten Widerspruch zwischen Anschauung und Dogma interpretiert Kant als faszinationsgenerierende Urteilsdiskrepanz: Die Feier der Eucharistie vermag zu faszinieren, da hierbei „der Gläubige mit leiblichen Augen [die Hostie] als eine kleine Scheibe Brod sieht“, diese „nach Aussprechung derselben [d. h. der Messformel] aber mit geistigen Augen als den Leib eines Menschen zu sehen verbunden wird“66. 63 Vgl. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 252f. und 265f. sowie Newmark: Passion, S. 220. 64 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 266. 65 Iserloh, E.: Abendmahl III/3. Römisch-katholische Kirche, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 1. Berlin 1977, S. 122 – 131. 66 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 150f. (Hervorhebungen im Original, letzte Hervorhebung A.D.).

72

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Kant führt in diesem Fall Faszination auf das Widerspiel von Erfahrungs­wissen und Dogma zurück, das dem Gläubigen zugunsten der geistigen Augen des Glaubens die leiblichen Augen der Erfahrung ‚verbindet‘. In semiotischer Hinsicht lässt sich Faszination somit als ein Oszillieren zwischen zeichenhafter Repräsentanz (die Hostie ist Symbol Christi) und Realpräsenz (die Hostie ist Leib Christi) interpretieren. Dieses Oszillieren verläuft nicht im Als-Ob-Modus des durchschauten Sinnenscheins (illusio), sondern im epistemologisch defizitären Real-Modus eines als undurchschaubar erlebten Sinnenscheins (fascinatio). Am Ende seiner Begriffsexplikation geht Kant auf den emotionalen Charakter und auf Gründe für die Attraktivität von Faszination ein. Faszination wird als eine Variante von Verwunderung aufgefasst und damit dem emotionalen Bereich des admiratio-stupor-Spektrums zugeordnet: Es scheint, das Gefühl der Verwunderung über etwas Unerhörtes habe an sich selbst viel Anlockendes für den Schwachen: nicht blos weil ihm auf einmal neue Aussichten eröffnet werden, sondern weil er dadurch von dem ihm lästigen Gebrauch der Vernunft losgesprochen zu sein, dagegen Andere in der Unwissenheit sich gleich zu machen verleitet wird.67

Diese Bestimmung schließt an die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts üblich werdende Unterscheidung von Staunen nach Bewunderung und Verwunderung an.68 Verwunderung wird von Kant traditionell als emotionale Reaktion nicht auf eine Handlungsintention, sondern auf eine Beurteilung verstanden. Ihr liege ein „Contraste in dem Ungewöhnlichen unserer Erfahrung“69 zugrunde. Das Gefühl der Verwunderung ist sowohl mit Lust als auch mit Unlust verbunden, da das – an sich zweckgemäße und insofern lustvolle – natürliche Gedankenspiel des Erkennens hier nur vermittels einer vorübergehenden Hemmung desselben (Unlust) eintritt.70 Lust in der „Verwunderung über etwas Unerhörtes“ tritt hingegen immer dann auf, wenn der Wechsel zwischen Hemmung und Erregung des Gedankenspiels „einen Prospect zur Hoffnung eines neuen Gesetzes der Natur verspricht“71. Sobald man aber „gewahr wird, daß dieser Gegenstand nicht so seyn kann wie er scheint“, droht der Erkenntnislust eine Frustration. Im 67 Ebd. 68 Die Unterscheidung geht auf Henry Homes „Elements of Criticism“ (1762) zurück und wurde von Johann Georg Sulzer ins Deutsche übertragen (Bewundrung, in: Sulzer, J. G.: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Band 1. Leipzig 1771, S. 164f.). 69 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,2, S. 811. 70 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 218. Kants Definition der Verwunderung folgt dem gleichen sensualistischen Modell eines die Zweckmäßigkeit der Erkenntnis- und Gemütskräfte spürbar machenden und deshalb angenehmen Umschwungs von Hemmung zu Entladung wie die Definition der Rührung als Gefühlsqualität des Erhabenen. Bei der Verwunderung betrifft der Umschwung das „Gedankenspiel“, bei der Rührung hingegen die „Lebenskraft“. 71 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,2, S. 812.

2.1  Sinnestäuschung: Kants epistemologischer Faszinations-Begriff

73

Fall der epistemologischen Faszination tritt aber zugleich mit der Erkenntnis stimulierenden Verwunderung immer wieder eine Frustration der Erkenntnislust ein, da, wie am Vogel-Vergleich erläutert, die erfahrungs- oder vernunftbasierte Erkenntnis des „Unerhörten“ immer wieder durch einen leidenschaftsbedingten Schein irritiert wird, ohne dass es zu einer Stabilisierung eines der beiden widersprüchlichen Urteile kommt. Als prozessual vorgestellte epistemologische Aporie fortgesetzter Erkenntnisaussicht und Erkenntnisfrustration führt dies zu einer Unlusterfahrung an sich selbst, die aber durch eine große (leidenschaftsbedingte) objektbezogene Lust balanciert wird, so dass der Prozess anhält. Der hier aufgemachten Differenz zwischen Verwunderung und Faszination ist Kants Unterscheidung des prinzipiell erklärbaren Naturwunders (Erkenntnismotivation) vom übernatürlichen, das heißt prinzipiell unerklärlichen Wunder (Erkenntnisfrustration) analog: Dadurch wird auch das innere Phänomen des menschlichen Verstandes begreiflich: warum sogenannte d. i. genugsam beglaubigte, obwohl widersinnische Erscheinungen, oder sich hervorthuende unerwartete und von den bis dahin bekannten Naturgesetzen abweichende Beschaffenheiten der Dinge, mit Begierde aufgefaßt werden und das Gemüth ermuntern, so lange als sie dennoch für natürlich gehalten werden, da es hingegen durch die Ankündigung eines wahren Wunders niedergeschlagen wird. Denn die erstere eröffnen eine Aussicht in einen neuen Erwerb von Nahrung für die Vernunft; sie machen nämlich Hoffnung, neue Naturgesetze zu entdecken; das zweite dagegen erregt Besorgniß, auch das Zutrauen zu den schon für bekannt angenommenen zu verlieren.72

Wie bei einem prinzipiell als unerklärlich angesehenen Phänomen (‚wahres Wunder‘) führt Faszination nicht zu einer Ermunterung des Gemüts, sondern im Gegenteil zu einer Erschütterung des Zutrauens in die menschliche Erkenntnisfähigkeit. Fasziniert erfährt der Mensch seine Erkenntnisvermögen als unzweckmäßig für eine Erkenntnis der Welt: „Wenn aber die Vernunft um die Erfahrungsgesetze gebracht wird, so ist sie in einer solchen bezauberten Welt weiter zu gar nichts Nutze [...].“73 Im Rahmen der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht führt Kant derartige Erkenntnisdefizite auf eine Schwäche oder auf eine Krankheit des Gemüts zurück. Der Unterschied zwischen Schwäche und Krankheit bemisst sich nach dem jeweiligen Grad, „nicht hin72 „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 88, Hervorhebungen A.D.). Der Beginn des entsprechenden Absatzes korrespondiert mit den Faszinationsbeispielen der „Anthropologie“: „Es ist eine gewöhnliche Ausflucht derjenigen, welche den [L]eichtgläubigen magische Künste vorgaukeln, oder sie solche wenigstens im Allgemeinen wollen glaubend machen, daß sie sich auf das Geständniß der Naturforscher von ihrer Unwissenheit berufen.“ 73 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 88.

74

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

reichende Gewalt über sich selbst [zu haben]“74. Faszination wird von Kant ausdrücklich als eine Schwäche, nicht als eine Krankheit des Gemüts angesehen.75 Insofern kann von einem moderaten Begriff epistemologischer Faszination gesprochen werden, da diese als bloß punktueller Ausfall einer sonst „hinreichende[n] Gewalt über sich selbst“ aufgefasst wird. Die dann vorliegende Unauflösbarkeit der Diskrepanz zwischen dem, was ich dem Augenschein nach sehe, und dem, was ich aufgrund von Erfahrungen oder sanktioniertem Wissen für wahr halte, nötigt mich, meine Aufmerksamkeit ganz auf das unerhörte Objekt auszurichten, ohne dabei weder zu einem stabilen Urteil noch zu einer sicheren Urteilsbasis zu finden. Vielmehr „verleitet“ das Faszinationserleben den geistig „Schwachen“, sich als generell „losgesprochen“ von Widerspruchsfreiheit und damit von dem ihm „lästigen Gebrauch der Vernunft“ zu betrachten. Diese Suspension von vernunftgemäßen Urteilen ist für den Gemütsschwachen mit einer Lust der Entlastung verbunden, die neben der (immer wieder frustrierten) Erkenntnislust der Verwunderung und vor allem der leidenschaftsbedingten Lust am Objekt bzw. an dem, was das Objekt zu sein scheint, die epistemologischen Unlusterfahrungen balanciert bzw. nivelliert, so dass der epistemologisch defizitäre Zustand des faszinierenden Widerspiels der Urteile im undurchschauten, das heißt im nicht ästhetisch gerahmten Sinnenschein anhält. Diese deutlich negativ konnotierte, da die Unmöglichkeit sinnlicher Erkenntnis und die Suspension von einem souveränen Gebrauch der Vernunft fühlbar machende epistemologische Faszination ist strukturell und lustökonomisch von jenem positiv konnotierten Verständnis von Faszination zu unterscheiden, das für den modernen Gebrauch des Begriffs, insbesondere in ästhetischen Zusammenhängen, kennzeichnend ist. Versucht man, einen solchen positiv konnotierten Begriff von Faszination im Rahmen der Philosophie Kants zu entwickeln, ist man auf die Denkfigur des freien Spiels verwiesen, das im Unterschied zu dem die Aufmerksamkeit nötigenden Widerspiel bei der epistemologischen Faszination mit einer ästhetischen Erfahrung epistemologischer Zweckmäßigkeit verbunden ist, die an sich lustvoll ist und dadurch eine freie und anhaltende Zuwendung von Aufmerksamkeit auf das Objekt befördert. 74 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 202; vgl. Brandt: Kritischer Kommentar, S. 289. Auch das Abstraktionsvermögen gilt als Gemütsstärke (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 132). 75 Eine empirische Beschreibung solcher Gemütsschwäche im Zusammenhang der Temperamentenlehre bieten die „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“: „Da er [der Cholerische] in dieser schlauen Aufmerksamkeit durchaus kalt Blut bedarf und nicht durch Liebe, Mitleiden und Theilnehmung seines Herzens sich muß blenden lassen, so wird er auch vielen Thorheiten und Verdrießlichkeiten entgehen, in welche ein Sanguinischer geräth, der durch seine unmittelbare Empfindung bezaubert wird.“ („Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 223).

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

75

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft Kant hatte in seiner Replik auf Kreutzfelds Dissertation darauf hingewiesen, dass Kunstwerke, vor allem Dichtungen, nicht als betrügender, sondern spielender Sinnenschein (illusio) anzusehen sind, weil sie ein Bewusstsein ihres Als-Ob-Charakters voraussetzen. Als faszinierend wurde dabei unter Verwendung der lateinischen Wortform das vereinte Wirken der Kräfte der Sinnesempfindungen bezeichnet, das gemeinsam mit einer Bewegung des Geistes von Kant als der eigentliche Zweck von Dichtung angegeben wird. Das illudierende Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand ist im Fall der Kunst unterhaltend, frei und – da es ihre Zweckmäßigkeit im Unterschied zur epistemologischen Faszination nicht in Frage stellt, sondern bestätigt – lustvoll. Wenn im Folgenden drei Vorschläge diskutiert werden, im Rahmen der Ästhetik Kants einen Begriff ästhetischer Faszination zu entwickeln, ist von den Voraussetzungen des illusio-Begriffs und nicht von den Voraussetzungen des Unzweckmäßigkeit anzeigenden, deshalb mit epistemologischer Unlust verbundenen fascinatio-Begriffs auszugehen. Abgesehen von der Formulierung in der Kreutzfeld-Rede hat Kant den Begriff ‚Faszination‘ nicht auf ästhetisches Erleben (im modernen Sinne) angewandt. 2.2.1  Formale Ästhetik: Lustökonomie des Schönen und des Erhabenen Kants Transzendentalästhetik geht nicht von bestimmten Objekteigenschaften aus, sondern von dem subjektiven Gefühl, das mit dem zweckfreien Gebrauch der eigenen Erkenntnisvermögen in der sinnlichen Wahrnehmung eines Objektes verbunden ist. Dieses Gefühl betrifft die spontane „Stimmung der Erkenntnißkräfte“76 Einbildungskraft und Verstand zueinander. Dies meint nicht ihre Zusammen-Stimmung im Erkenntnisprozess eines Gegenstandes, sondern ihre Zusammen-Stimmung zu einer möglichen „Erkenntniß überhaupt“. Die Stimmung der Erkenntniskräfte meint die Art und Weise, wie „ein gegebener Gegenstand vermittelst der Sinne die Einbildungskraft zur Zusammensetzung des Mannigfaltigen, diese aber den Verstand zur Einheit desselben in Begriffen in Thätigkeit bringt“. Diese zwischen Anschauung und Begriff vermittelnde Tätigkeit, bei der die diversen Anschauungselemente nach Merkmalen unterschieden und in Klassen zusammengefasst werden, nennt Kant Schematisieren. Freigestellt von ihrem eigentlichen Erkenntniszweck wird in ästhetischer Einstellung die prinzipielle Zweckhaftigkeit dieser beiden Erkenntnisvermögen zueinander spürbar, das heißt in Form eines psychischen Gesamterlebnisses bestätigt. Dieses Gefühl einer interagierenden Zusam76 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 238.

76

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

men-Stimmung, ohne in einen wirklichen Erkenntnisprozess eingebunden zu sein, versteht Kant als ein ästhetisches und den Menschen belebendes. Es ist ein zweckmäßiges, im ästhetischen Modus jedoch von Zwecken freigestelltes, wechselseitiges und intrinsisch motiviertes Schematisieren, das Kant in den Begriff eines freien Spiels fasst. Damit meint er das „innere Verhältniß zur Belebung (einer durch die andere)“ zwischen einerseits der Einbildungs­kraft, die die mannigfaltigen Elemente zu einer sinnlichen Anschauung konfiguriert, und andererseits des Verstandes, der diese Konfiguration klassifizierend auf Begriffe zu bringen versucht. Insofern sich das Subjekt bei einem harmonischen Verhältnis dieser Interaktion als zur Erkenntnis prinzipiell befähigt, zugleich aber frei von der Notwendigkeit, bestimmt urteilen, das heißt Sinneseindrücke begrifflich fixieren zu müssen, erlebt, sind derartige ästhetische Urteile Reflexionsurteile. Kants aristotelisch gegründete Ästhetik argumentiert lustbezogen. Die Zweckmäßigkeit der eigenen Erkenntnisvermögen im spielerischen Ausagieren ihrer Fähigkeiten zu erleben, ohne dass ihnen objektbezogen eine Erkenntnis abverlangt wird, ist an sich lustvoll. Diese Lust, die den ästhetischen Prozess aufrecht erhält und verlängert, entspringt weder einer sinnlichen Lust noch irgendeinem Interesse am Objekt, auch ist sie keine Lust an der Erkenntnis desselben, sondern vielmehr Lust an der unmittelbar erfahrenen Gewissheit, fähig zu sein, Sinnesdaten konfigurieren und mit Begriffen verbinden zu können. Diese Reflexionslust ist ein Gefühl der Zusammen-Stimmung, sowohl der beiden Erkenntnisvermögen zueinander als auch in ihrem Verhältnis zur Welt, die – im deutlichen Unterschied zum fortgesetzten Irritationseffekt der epistemologischen Faszination – hierin als eine prinzipiell erkennbare erlebt wird.77 Durch die Freistellung von Zwecken kann die „Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen“78, weshalb – im optimalen Fall – das dazu Anlass gebende Objekt „uns jederzeit neu“ erscheint und man „seines Anblicks nicht überdrüssig“ wird. Diese lustökonomische Denkfigur einer intrinsischen Interaktion der Erkenntnisvermögen, die als Elaboration des faszinierenden Wirkens der vereinten Kräfte der Sinnesempfindungen in der Kreutzfeld-Rede angesehen werden kann, spielt für die Möglichkeit, einen Begriff ästhetischer Faszination im Sinne Kants zu entwickeln, eine zentrale Rolle. Da nur in der sinnlichen Anschauung von Objekten diese Zweckmäßigkeit zweckfrei erlebt werden kann, verbindet sich die lustvolle „Harmonie der Erkenntnisvermögen“ mit der „Vorstellung des Gegenstandes“79. In Wahrheit 77 Sinnliche Lust am Angenehmen und intellektuelle Lust am Guten sind praktisch. Die ästhetische Lust entspringt hingegen aus einer subjektiven Zweckmäßigkeitserfahrung. Ihre Kausalität besteht darin, den ästhetischen Zustand ohne weitere Absicht zu erhalten (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 222). 78 Ebd., S. 243. 79 Ebd., S. 218.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

77

aber „[ist] Schönheit kein Begriff vom Objekt“80, sondern meint das Verhältnis der interagierenden Erkenntnisvermögen zueinander. Kants Kritik der Urteilskraft unterscheidet zwei prinzipielle Fälle eines solchen ästhetischen Selbstbezugs: den – im Sinne der eben dargelegten Beschreibung – ästhetischen Normalfall des Schönen und den Ausnahmefall des Erhabenen. Entweder gelingt die zweckfrei-zweckmäßige Interaktion von sinnlicher Einbildungskraft und Verstand spontan – dieses Gefühl wird ‚das Schöne‘ genannt –, oder sie gelingt nicht: Im letztgenannten Fall bricht das freie Spiel der Erkenntniskräfte ab, mit zwei möglichen Konsequenzen: Entweder wird der ästhetische Modus des Zweckfrei-Zweckmäßigen in Richtung des Zweckhaft-Zweckmäßigen (eigentliche Erkenntnis eines Objektes) oder in Richtung einer Unzweckmäßigkeitserfahrung (epistemologische Defizienz) gänzlich verlassen, oder aber – nur dieser Fall wird in der Kritik der Urteilskraft diskutiert – der ästhetische Modus wird in eine Erfahrung der intellektuellen Freiheit von aller Sinnlichkeit (Vernunft) überführt: Dieses Gefühl wird ‚das Erhabene‘ genannt. Beim Erhabenen erfährt sich das Subjekt, im Kollabieren des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand, in seiner für ein Vernunftwesen zweckgemäßen Fähigkeit, sich unabhängig von einer sinnlich-empirischen Anschaubarkeit auf ideelle Konzepte, etwa Unendlichkeit, Humanität oder Tugend, beziehen zu können. Im Fall des Schönen (gelingendes Zusammenspiel der auf Anschaubares ausgerichteten sinnlichen Erkenntnisvermögen) wie im Fall des Erhabenen (misslingendes und darin die Souveränität der Vernunft exponierendes Zusammenspiel) bedarf es eines veranlassenden Gegenstandes. Diese objektive Veranlassung führt beim Schönen zu einer Hinwendung und zunehmenden Fokussierung des Objektes (weil die Tätigkeit von Einbildungskraft und Verstand sich in der Anschauung desselben lustvoll verstärkt), während sie beim Erhabenen eine Abwendung vom Objekt infolge des unlustvollen Kollabierens der Erkenntnisfähigkeit und des Einspringens der Vernunft zur Folge hat: Nicht der Gegenstand, sondern die unsinnliche Idee ist erhaben.81 Während das Schöne Sache des Geschmacksurteils ist, ist das Erhabene deshalb mit einer starken Bewegung des Geistes verbunden. In diesen beiden möglichen Fällen einer Wahrnehmung von Welt bekommen wir die „Faßlichkeit der Natur“82 vorbegrifflich, das heißt als ein undeutliches Gefühl, zu spüren: im Schönen als gelingende Fasslichkeit, insoweit Natur als „Form“ konfiguriert werden kann, im Erhabenen hingegen als misslingende Fasslichkeit, insoweit Natur als „Unform“ wahrgenommen werden kann, die zu keinem Ganzen 80 Ebd., S. 290. 81 Man kann nur sagen, „daß der Gegenstand zur Darstellung einer Erhabenheit tauglich sei, die im Gemüthe angetroffen werden kann; denn das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft“ (ebd., S. 245). 82 Ebd., S. 187.

78

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

konfiguriert werden kann. Dabei ist nicht nur das Gefühl des Schönen eine Erfahrung prinzipieller Zweckmäßigkeit, nämlich in Hinblick auf die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von objektiver Erkenntnis, sondern auch das Gefühl des Erhabenen: dieses allerdings eine solche, die im Gegenteil zum Schönen die prinzipielle Fähigkeit zur Freiheit des Vernunftwesens Mensch von allen Objektbezügen erleben lässt: Die Empfänglichkeit einer Lust aus der Reflexion über die Formen der Sachen (der Natur sowohl als der Kunst) bezeichnet aber nicht allein eine Zweckmäßigkeit der Objecte in Verhältniß auf die reflectirende Urtheilskraft, gemäß dem Naturbegriffe, am Subject, sondern auch umgekehrt des Subjects in Ansehung der Gegenstände, ihrer Form, ja selbst ihrer Unform nach, zufolge dem Freiheitsbegriffe; und dadurch geschieht es: daß das ästhetische Urtheil nicht bloß als Geschmacksurtheil auf das Schöne, sondern auch, als aus einem Geistesgefühl entsprungenes, auf das Erhabene bezogen wird, und so jene Kritik der ästhetischen Urtheilskraft in zwei diesen gemäße Haupttheile zerfallen muß.83

Kants formaler Begriff des Schönen betrifft, wie hier prägnant zusammengefasst, also keine schönen Gegenstände, Kunstwerke, Menschen oder Landschaften im Sinne einer Objekteigenschaft, sondern vielmehr das Vermögen, selbst eine große Menge von Wahrnehmungselementen als ein Ganzes, das heißt als Form, zusammenfassen zu können. Eine solche ästhetische Erfahrung von Form lässt Zweckmäßigkeit nach dem Begriff der Natur als einen harmonischen Wahrnehmungsprozess erlebbar werden, die ästhetische Erfahrung einer Unform lässt Zweckmäßigkeit nach dem Begriff der Freiheit nur als gewaltsamen Umschlag aus dem disharmonischen Bereich sinnlicher Erkenntnis in den Bereich der Ideen erlebbar werden. Wie eingangs erläutert hat die Reflexion über Form im Fall des Schönen, da mit einer lustvollen Stimmigkeitserfahrung verbunden, die Tendenz, sich aus sich selbst zu erhalten. Diese mit einer stetigen, da für diese Erfahrung unerlässlichen Aufmerksamkeitshinwendung zum Objekt verbundene Reflexionslust im Geschmacksurteil des Schönen kann als das ästhetische Pendant zu jener unfreien Nötigung der Aufmerksamkeit angesehen werden, die Kants Begriff epistemologischer Faszination aus einer, die Unlust an der permanenten Unzweckmäßigkeitserfahrung aufwiegenden, sinnlichen Lust an dem Objekt ableitet. Das Verweilen als prozessinhärente Perpetuierungstendenz des Schönen wird von Kant formal verglichen (das heißt in Analogie gesetzt) mit der anhaltenden Aufmerksamkeitsbindung, die infolge fortgesetzter Reizung des Subjekts durch sinnliche Empfindung, etwa Farbe oder Ton, befördert wird. Die Differenz zwischen ästhetischem Urteil und sinnlicher Empfindung wird dabei als Differenz von Aktivität und von Passivität des Gemüts ausgewiesen: 83 Ebd., S. 192 (Hervorhebung im Original).

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

79

Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproducirt: welches derjenigen Verweilung analogisch (aber doch mit ihr nicht einerlei) ist, da ein Reiz in der Vorstellung des Gegenstandes die Aufmerksamkeit wiederholentlich erweckt, wobei das Gemüth passiv ist.84

Der Prozess des freien Spiels der Erkenntnisvermögen und die Wirkung eines Sinnesreizes sind sich darin ähnlich (aber nicht verwandt), dass beide zu einer verweilenden Aufmerksamkeitsbindung an ein Objekt führen, wobei diese Bindung nur im Fall des ästhetischen Urteils des Schönen „sich selbst stärkt“, während im anderen Fall eine objektseitige Reizung notwendig ist.85 Unter einem Reiz versteht Kant eine physische, etwa durch Schall oder Lichtwellen verursachte Beeinflussung. Diese kann zwar einen gewissen „Beitrag zum ästhetischen allgemeinen Wohlgefallen“86 leisten, wird jedoch, da das Gemüt nur von außen erregend, vom Schönen als einem subjektiven „contemplativ[en]“87, das heißt „reinen“ Geschmacksurteil kategorial unterschieden.88 Die als freies Spiel vorgestellte Eigenaktivität des Gemüts stärkt sich infolge einer subjektiven Zweckmäßigkeitserfahrung selbst, ist also ein lustökonomisch autarkes und stabiles und deshalb auf Dauer gestelltes Geschehen, während die Lust am Reiz direkt vom Objekt abhängt. Damit sind wesentliche Begriffe und Denkfiguren der Ästhetik Kants vorgestellt, die bei der Frage nach der Möglichkeit, im Rahmen der Kritik der Urteilskraft einen Begriff ästhetischer Faszination zu entwickeln, eine Rolle spielen. Zunächst werden zwei Ansätze zu einer solchen Begriffsbildung in der Forschung diskutiert, anschließend wird eine eigene Konzeption ästhetischer Faszination nach Kant vorgestellt. 2.2.2  Diskussion: Faszination des Hässlichen und des Erhabenen, interpretiert nach dem Modell des Schönen Ausgehend von der „Analytik des Schönen“ versucht Dieter Lohmar die Möglichkeit eines reinen Geschmacksurteils des Hässlichen im Rahmen der Kritik der Urteilskraft herzuleiten. Dabei bezeichnet er das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand als Faszination. Diese mache sich als eine „selbsttätige Fes84 Ebd., S. 222 (erste Hervorhebung im Original, andere A.D.). 85 Ebd. Auf die sinnlichen Empfindungen (Reize) übertragen entspricht der Verweilungstendenz das Angenehme: „Was unmittelbar (durch den Sinn) mich antreibt meinen Zustand zu verlassen (aus ihm herauszugehen): ist mir unangenehm – es schmerzt mich; was eben so mich antreibt, ihn zu erhalten (in ihm zu bleiben); ist mir angenehm, es vergnügt mich.“ (Ebd., S. 231). 86 Ebd., S. 223. 87 Ebd., S. 222. 88 Ebd., S. 224f.

80

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

selung an den Gegenstand“89 bemerkbar. Der Begriff der Faszination steht hier zunächst gemäß des theoretischen Modells des Schönen für die kaum bewusste, gleichwohl „bemerkbare[] Eigenschaft des Spiels, sich zu perpetuieren“90. Lohmars eigentliches Interesse gilt jedoch der Applizierung dieses Modells auf andere denkbare Modi einer Interaktion der beiden Erkenntniskräfte, so dass er außer von einem harmonischen Spiel im Fall des Schönen und einem Widerspiel im Fall des Erhabenen auch von einem bei Kant nicht vorkommenden disharmonischen Spiel im Fall des gelegentlich erwähnten Hässlichen spricht. Dieses sei zwar mit Unlust verbunden, besitze aber dennoch eine inhärente Perpetuierungstendenz:91 „Wir erliegen der Faszination des Häßlichen ebenso wie der Faszination des Schönen. Wir können uns nicht losreißen. Das Spiel als Spiel ist in beiden Fällen, Schönheit und Häßlichkeit, durch Faszination gekennzeichnet.“92 Es sei kein Hinweis darauf zu finden, dass Kant das Hässliche als ein Hindernis für das freie Spiel der Gemütskräfte angesehen habe, spricht Kant doch hinsichtlich des Geschmacks ausdrücklich von einem „Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse“93. Ein solches disharmonisches Streitoder Widerspiel von Einbildungskraft und Verstand im Fall des Hässlichen sei nur, so Lohmar, auf den ersten Blick „fragiler“94 als das harmonische Zusammenspiel. Es kann sich aus Gründen, die im Objekt liegen, beenden, muss es aber nicht. Die immanente Dynamik eines solchen Widerspiels werde von Kant am ausführlichsten für das Erhabene beschrieben, wo sie im Widerstreit von Anziehung und Abstoßung dramatisch ausfällt: Indem, so Kants berühmte Beschreibung der Erhabenheitserfahrung, „das Gemüth von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird“95, enthält „das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust als vielmehr Bewunderung oder Achtung“ und verdient, „negative Lust genannt zu werden“. Beim Hässlichen falle diese agonale Dynamik weniger dramatisch als beim Erhabenen aus und entspreche weithin der des Schönen. Das Abstoßende betreffe – anders als beim Erhabenen – vor allem außerästhetische Vorstellungen, etwa wenn etwas unangenehm oder unmoralisch ist. 89 Lohmar, D.: Das Geschmacksurteil über das faszinierend Häßliche, in: Parret, H. (Hg.): Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’ esthétique de Kant. Berlin, New York 1998, S. 498 – 512, hier S. 511. 90 Ebd., S. 510. 91 Ebd., S. 505. 92 Ebd., S. 511. 93 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 211 (Hervorhebung im Original); vgl. auch Ebd., S. 279: „Der Anspruch eines ästhetischen Urteils auf allgemeine Gültigkeit [...] bedarf [...] einer Deduktion, [...] welche über die Exposition desselben noch hinzukommen muß, wenn es nämlich ein Wohlgefallen oder Mißfallen an der Form des Objekts betrifft.“ (Hervorhebungen im Original). 94 Lohmar: Das Geschmacksurteil, S. 507. 95 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 245.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

81

Aus dem disharmonischen Spiel von Einbildungskraft und Verstand beim Hässlichen resultiert, nach dem Modell des Erhabenen, zunächst Unlust, die jedoch – anders als beim Erhabenen, nicht durch das Einspringen der Vernunft ausgeglichen werde. Der entscheidende argumentative Schritt, mit dem sich Lohmar gegen Einwände seitens der Forschung zur Möglichkeit eines sich nicht selbst beendenden disharmonischen Spiels verteidigt, ist, dass sich die Annahme, die Lust sei der Motor des freien Spiels – was impliziert, dass Unlust zu einem Hindernis dieses Spiels wird –, nach Kants Konzeption nicht aufrecht erhalten lasse.96 Die Unlust aus der misslingenden Interaktion im Fall des Hässlichen schlage motivational überhaupt nicht zu Buche. Lohmar führt dazu eine Unterscheidung zwischen einer beim Schönen, aber auch beim Hässlichen vorliegenden spontanen Lust am Spiel, die motivational entscheidend sei, und einer resultativen Lust (beim Schönen) oder Unlust (beim Hässlichen) im Spiel ein: Das Spiel als sich selbst erhaltender Prozeß hängt dabei in seiner Selbsttätigkeit nicht von der ‚Stimmung‘ (Lust oder Unlust) des ästhetischen Gefühls ab. Die sich in ihm äußernde Spontaneität des Gemüts kann nicht von dem Gefühlsresultat abhängen, denn andernfalls wäre sie passiv.97

Nur die Lust am Spiel wird als „Selbsttätigkeit“ aufgefasst und aus einer „ruhelose[n] Spontaneität unserer Vermögen“ abgeleitet, während die resultative Lust bzw. Unlust im Spiel zwar für das charakteristische Gefühl beim Hässlichen verantwortlich, für die Frage von Abbruch oder Fortsetzung aber prinzipiell irrelevant sei. Allerdings kann die entscheidende Frage, weshalb eine disharmonische Interaktion, wie sie für das Hässliche angesetzt wird, sich selbst zu reproduzieren vermag, letztlich nicht plausibel beantwortet werden.98 Lohmar schränkt das „Kriterium“99 Faszination nicht auf das Schöne und Hässliche ein, sondern sieht es immer dann gegeben, wenn „die Erkenntnis- und Gemütskräfte des Menschen in einen Zustand versetzt“ werden, „der sich ‚eine gewisse Zeit lang‘ selbst in Gang erhält“. Dies könne bei reinen Geschmacksurteilen wie dem Schönen oder dem Hässlichen der Fall sein, aber auch bei solchen Geschmacksurteilen, bei denen Fragen des Unangenehmen, Interessan96 Lohmar: Das Geschmacksurteil, S. 504. 97 Lohmar: Das Geschmacksurteil, S. 509. 98 Zur Kritik an Lohmars Vorschlag vgl. Brandt, R.: Zur Logik des ästhetischen Urteils, in: Parret, H. (Hg.): Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’ esthétique de Kant. Berlin, New York 1998, S. 229 – 245 sowie Kreis, G.: Hässlichkeit – Ihr Fehlen in Kants Ästhetik als Garantie der Autonomie ästhetischer Erfahrung, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. 3, hg. von V. Gerhardt, R.-P. Horstmann und R. Schumacher. Berlin, New York 2001, S. 571 – 579, hier S. 575 und Recki, B.: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt a. M. 2001, S. 53. 99 Lohmar: Das Geschmacksurteil, S. 511.

82

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

ten oder des moralisch Anstößigen wie etwa im Fall des Bösen, Ekligen oder Grausamen in die rein ästhetische Beurteilung hineinwirken. In allen Fällen, wo die sinnliche Präsenz eines Objektes Anlass dazu gibt, das Gemüt – mit welchen ästhetischen, pathologischen oder intellektuellen Motiven auch immer – in seiner „rastlosen Spontaneität“100 andauernd agieren zu lassen, wäre nach Lohmar von Faszination zu sprechen; gleich ob das Agieren mit Lust oder Unlust verbunden ist. Wie es zu einer solchen faszinationskonstitutiven Spontaneität unabhängig von einer resultativen Lust kommen kann, bleibt ungeklärt. Birgit Recki verwendet einen Begriff von Faszination, um den spezifischen Bewegungscharakter im Gefühl des Erhabenen auf den Punkt zu bringen. Wie erläutert setzt das Gefühl des Erhabenen die Unmöglichkeit voraus, eine angeschaute Menge von Elementen „in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung“101 konfigurieren zu können. Dies ist mit Unlust verbunden. Allerdings ist die damit verbundene Erfahrung, etwas denken zu können, das keiner sinnlichen Anschauung entspricht, als geistige Freiheitserfahrung lustvoll. Das den Rahmen des reinen Geschmacksurteils sprengende „Geistesgefühl“102 des Erhabenen resultiert aus einer „Gewalt“103, welche die Vernunft auf die Erkenntnisvermögen ausübt. Für Kants Konzeption der Erhabenheitserfahrung bietet Recki eine Lesart an, die das Gewaltmoment der Vernunft zugunsten eines Balance-Modells abschwächt. Dadurch wird es möglich, die das Gefühl des Erhabenen bestimmende „Widerspruchseinheit aus Lust und Unlust“ als ein „dramatisches Gefühl der Faszination“104 zu beschreiben. Recki versteht das Erhabene Kants als den „klassischen Fall einer Faszination“105, jedoch ohne zu klären, wovon hier die Faszination ausgeht: von der – negierten – Sinnlichkeit oder von der als überlegene Gewalt erfahrenen Vernunft.106 Eine Interpretation des Gefühls des Erhabenen als Faszinationserleben lässt sich in emotionaler Hinsicht zwar mit der von Kant angeführten negativen Lust der „Bewunderung oder Achtung“107 vereinbaren, hat aber zur Folge, dass das „Gefühl der Faszination“ in Konkurrenz zu dem von Kant als erhabenheitsspezifisch angeführten „Gefühl der Rührung“108 tritt. Rührung ist im 100 101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 510. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 246. Ebd., S. 192. Ebd., S. 265. Recki: Ästhetik, S. 201. Recki: Kant, S. 474 (Hervorhebung im Original). Kant betont, dass im Unterschied zum Schönen kein Gegenstand erhaben genannt werden kann. Der Gegenstand dient lediglich der Versinnlichung, das heißt der „Darstellung einer Erhabenheit“; diese selbst ist „in uns“ anzutreffen (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 245). 107 Ebd. 108 Ebd., S. 226.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

83

Unterschied zum durativen Charakter von Faszination resultativ; sie wird von Kant als eine dem Schönen fremde „Annehmlichkeit“109 bestimmt, die – temporal unumkehrbar – „nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft bewirkt wird“. Grundlage für Reckis Interpretation des Gefühls des Erhabenen als Faszination ist Kants Vergleich des Erhabenheitserlebens mit einem „schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen eben desselben Objects“110. Allerdings ähnelt diese Bewegung „(vornehmlich in ihrem Anfange)“ einer „Erschütterung“, sie hat also ein temporales Verlaufsprofil. Recki versteht das faszinierende Gefühl des Erhabenen als „agonale Reflexion“111 der Gemütskräfte, das heißt als ein simultanes und letztlich anhaltendes Geschehen. Das Gefühl des Erhabenen sei „selbst von Grund auf ambivalent“112, da es „auf diesem Oszillieren zwischen Widerstreit und Vereinbarkeit der Extreme von Sinnlichkeit und Sinn“ beruhe. Dies korrespondiert mit Kants Zusammendenken des ausdrücklich als Nicht-Spiel, sondern „Ernst“113, begriffenen misslingenden Interagierens von Einbildungskraft und Verstand einerseits und dem „Spiel der Gemüthskräfte“114 Einbildungskraft und Vernunft andererseits. Dies ließe sich mit Recki als eine „agonale Reflexion“115 oder auch als ein Oszillieren auffassen und mit Bemerkungen Kants wie die, dass „das Gemüth von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen“116 werde, vereinbaren. Allerdings stehen Unzweckmäßigkeitserfahrung (sinnlichkeitsbezogene Unlust) und Zweckmäßigkeitserfahrung (vernunftbezogene Lust) weniger in einem Simultaneitäts- als in einem Kausalverhältnis, das heißt das Erhabenheitserleben in der Anschauung von wilder Natur wird von Kant letztlich als ein resultativer und nicht oszillierender Prozess vorgestellt, bei dem Stimmigkeit durch einen „Contrast“117 vermittelt wird: Die „indirecte“118 Lust an der Vernunft setzt die Unlust an der Sinnlichkeit voraus. Kant spricht sogar von einem „reinen Wohlgefallen“119 am Erhabenen, das in summa nicht ambivalent, sondern lustvoll ist. Die Unzweckmäßigkeitserfahrung wird lustökonomisch durch die daraus folgende Zweckmäßigkeitserfahrung weniger balanciert, was sich als faszinierendes Oszillieren beschreiben ließe, 109 Ebd. 110 Ebd., Bd. 5, S. 258; vgl. Recki: Ästhetik, S. 201. 111 Recki: Kant, S. 474. 112 Recki: Ästhetik, S. 202. 113 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 245. 114 Ebd., S. 258. 115 Recki: Kant, S. 474. 116 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 245. 117 Die widerstreitenden Vermögen werden von Kant „selbst durch ihren Contrast als harmonisch vorgestellt“ (ebd., S. 258). 118 Ebd., S. 245. 119 Ebd., S. 279.

84

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

als dominiert, das heißt der Prozess ist unumkehrbar und nicht andauernd: „Das Überschwengliche für die Einbildungskraft (bis zu welchem sie in der Auffassung der Anschauung getrieben wird) ist [...] für die Idee der Vernunft [...] in eben dem Maße wiederum anziehend, als es für die bloße Sinnlichkeit abstoßend war.“120 Eine Faszination bewirkende oszillierende Gegenbewegung von der Vernunft hin zur Sinnlichkeit wäre nicht plausibel, da das „Gemüth die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird“121. Die dominante Lust an der ästhetischen Vernunfterfahrung lässt das Subjekt in der Anschauung wilder Natur eine solche „Gemüthsstimmung“ der erhabenen „Erschütterung“, „Ergießung“ und „Rührung“ suchen, die in ihrer Verlaufsform wenig Gemeinsamkeiten mit dem andauernden und mit anschaulichen Vorstellungen verbundenen Erleben von Faszination aufweist. 2.2.3  Ästhetische Idee: Faszination des Schönen, interpretiert ​nach dem Modell des Erhabenen Ausgehend von Kants Denkfigur des selbstreproduzierenden Charakters des freien Spiels von Einbildungskraft (Zusammenfassen von Elementen in der Anschauung) und Verstand (begriffsloses Schematisieren derselben) soll nun eine Konzeption von Faszination in zwei Varianten, nämlich für den Fall ästhetischer Anschauung und für den Fall ästhetischer Vorstellung, entwickelt werden.122 Die mit der Analytik des Schönen und der Analytik des Erhabenen dichotomische Anlage der Kritik der Urteilskraft, die eine Konsequenz des Urteilsgegensatzes von Form vs. Formlosigkeit ist, verdeckt, dass Kant durchaus eine Skala unterschiedlicher Intensitätsgrade ästhetischen Erlebens kennt: Denn die „Stimmung der Erkenntnißkräfte hat nach Verschiedenheit der Objecte, die gegeben werden, eine verschiedene Proportion“123. Dabei ist eine Proportion rezeptionsästhetisch die „zuträglichste für beide Gemüthskräfte“ in Hinblick auf das „innere Verhältniß zur Belebung (einer durch die andere)“. Die Pole dieser Skala lassen sich als (erhabene) 120 Ebd., S. 258 (Hervorhebungen A.D.). 121 Ebd., S. 246. 122 Ähnlich wie Lohmer und Christel Fricke, für die „das Verhältnis des Verstandes zum Schönen eher das einer anhaltenden Faszination und Neugier als das einer Entmutigung“ ist (Fricke, Ch.: Freies Spiel und Form der Zweckmäßigkeit in Kants Ästhetik. Zur Frage nach dem schönen Gegenstand, in: Franke, U. (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“. Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 16 (Sonderheft 2000), S. 45 – 64, hier S. 54), gehe ich vom freien Spiel der Erkenntniskräfte aus. 123 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 238.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

85

Formlosigkeit einerseits und unterkomplex-regelmäßige schöne Form andererseits bestimmen. In der „Allgemeinen Anmerkung“ zur Analytik des Schönen geht Kant auf Fragen der Regelmäßigkeit, das heißt Verstandes­ affinität der als schön beurteilten Objekte ein. Da die faszinationskonstitutive selbstreproduzierende Lust nicht aus Eigenschaften eines Objekts, sondern aus dem sich spontan einstellenden freien Spiel, das heißt der spürbaren Interaktionsstimmigkeit in der Wahrnehmung eines Objektes, resultiert, fällt sie bei großer Regelmäßigkeit, das heißt bei hoher Verstandesaffinität der Anschauungselemente, geringer aus als bei einer weniger hohen. „Alles Steif-Regelmäßige“124, etwa Symmetrie, „gewährt“ den Erkenntnisvermögen „keine lange Unterhaltung“, da es deren Vermögen zur Ein-Stimmung kaum herausfordert. Kant kennt somit also ein defizitäres, weil die Erkenntnisvermögen unterforderndes und deshalb mit einem geringen Lusteffekt verbundenes Schönes, das keinesfalls fasziniert. Zwar wirkt im außerästhetischen Fall bezweckter Erkenntnis eine hohe Regelmäßigkeit, da leicht zusammenzufassen und begrifflich zu fixieren, lustvoll. Im ästhetischen Fall hingegen, wo umgekehrt „der Verstand der Einbildungskraft [...] zu Diensten“125 ist, wirkt sie als eine unterkomplexe Mannigfaltigkeit wenig herausfordernd auf den Verstand und kaum belebend auf das Gemüt, sondern langweilig und einem Zwang vergleichbar:126 Aber wo nur ein freies Spiel der Vorstellungskräfte (doch unter der Bedingung, daß der Verstand dabei keinen Anstoß leide) unterhalten werden soll, in Lustgärten, Stubenverzierung, allerlei geschmackvollem Geräthe u.d.gl., wird die Regelmäßigkeit, die sich als Zwang ankündigt, so viel möglich vermieden [...].127

Eine komplexe Mannigfaltigkeit hingegen, wie sie etwa – so Kants Beispiel – der Anblick eines tropischen Urwaldes in hohem Maße bietet, fordert die Erkenntnisvermögen lustvoll und damit anhaltend heraus. Die Konfiguration einer solchen Mannigfaltigkeit zu einem Anschauungsganzen verläuft zwar ressourcenintensiv, gewährt dadurch jedoch eine sehr viel spürbarere Bestätigung der Zweckmäßigkeit der Erkenntnisvermögen und somit eine größere Lust. Dies begründet die inhärente Tendenz, diesen Zustand zu perpetuieren:128 „Dagegen ist das, womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu, und man wird seines Anblicks nicht überdrüssig.“129 Der Grenzwert dieses Optimal-Schönen ist das Scheitern der Konfi124 Ebd., S. 242. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 242f. 127 Ebd., S. 242. 128 Die „an Mannigfaltigkeiten bis zur Üppigkeit verschwenderische Natur“ gibt dem „Geschmacke für beständig Nahrung“, ebd., S. 243. 129 Ebd.

86

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

gurierbarkeit, das heißt das Erleben von Formlosigkeit: der Wechsel vom belebend-schönen Anblick des Urwaldes zum erschütternd-erhabenen Anblick eines Gebirges oder Meeres, also das Kippen des freien Spiels in den gewaltsamen Ernst der ganz anderen, nämlich gegensinnlichen Zweckmäßigkeitserfahrung des Erhabenen. Ästhetische Faszination ließe sich, für den Fall der ästhetischen Anschauung, demzufolge als das Gefühl des Optimal-Schönen angesichts einer herausfordernd komplexen, letztlich aber spielend prozessierbaren Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungselementen bestimmen: etwa, so weitere Beispiele Kants, beim Anblick von Lustgärten oder Stubenverzierungen oder auch eines die Phantasie anregenden lodernden Feuers.130 Der Erörterung des Schönen und des Erhabenen lässt Kant eine erläuternde „Deduction der reinen ästhetischen Urtheile“ folgen, in deren zweiter Hälfte er sich ausführlich zum Spezifikum ästhetischen Erlebens von Kunst äußert. Sogenannte „schöne Kunst“ wird in Absetzung von schöner Natur einerseits und von anderen menschlichen Produkten andererseits behandelt. In Analogie zum Schönen der Natur und in Abgrenzung zu anderen menschlichen Produkten („mechanische Kunst“) gefällt „schöne Kunst“ nicht aufgrund der „Hervorbringung eines bestimmten Objects“131, sondern ausschließlich aufgrund der sich selbst reproduzierenden Lust im Reflexionsurteil, das heißt aufgrund eines sich einstellenden Stimmigkeitsgefühls der interagierenden Erkenntniskräfte. Während die ästhetische Beurteilung von Natur aber nur deren formhafte oder formlose Anschauung betrifft, wird bei Kunstwerken – die als Produkte immer mit einem Zweck und einem diesem zugrunde liegenden Begriff verbunden sind, jedoch in ästhetischer Einstellung nicht auf diesen hin, sondern allein auf das subjektive Stimmigkeitsgefühl hin beurteilt werden – nicht der künstlerisch dargestellte Gegenstand, sondern die Art und Weise seiner Darstellung beurteilt; mit anderen Worten: die Art und Weise der Vorstellung, die sich in der Rezeption einer künstlerischen Darstellung ergibt: „Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge.“132 Da also das ästhetische Urteil kein dargestelltes Ding, sondern die Art und Weise seiner Darstellung betrifft, kann auch Hässliches als Darstellung schön vorgestellt werden. Eine schöne Vorstellung eines – von Natur aus schönen oder hässlichen – Gegenstandes 130 Kant unterscheidet (komplex) schöne Gegenstände von (komplex) schönen „Aussichten auf Gegenstände“, bei denen, z. B. aufgrund einer Entfernung, Gegenstände undeutlich erscheinen und dadurch die Einbildungskraft zu einer nicht nur zusammenfassenden, sondern produktiven Beschäftigung anregen. Die dadurch entstehenden „eigentlichen Phantasieen“ im Anblick einer undeutlichen Mannigfaltigkeit veranlassen die Aufmerksamkeit in besonderer Weise, an solchen Gegenständen wie etwa Kaminfeuern oder rieselnden Bächen „zu haften“ (ebd.); vgl. hierzu auch Kapitel 2.3. 131 Ebd., S. 306. 132 Ebd., S. 311 (Hervorhebungen im Original).

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

87

ist „eigentlich nur die Form der Darstellung“133; und zwar der Darstellung eines impliziten Begriffs, der dem Kunstwerk als Zweck zugrunde liegt und der bloß durch die Darstellung mitteilbar wird. Ästhetisch wird das Kunstwerk in Hinblick auf die Zweckmäßigkeitserfahrung bei der „schönen Vorstellung von einem Ding“ beurteilt, die sich als Lust bemerkbar macht. Nur dann ist Kunst schön (und nicht, wie etwa Tafelmusik bei heiterer Geselligkeit, bloß angenehm), wenn dieses Gefühl der Lust aus dem freien Stimmigkeitsgefühl der interagierenden Erkenntniskräfte (und nicht bloß aus angenehmen Empfindungen) resultiert:134 So „ist die ästhetische Kunst als schöne Kunst eine solche, die die reflectirende Urtheilskraft und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaße hat“135. Die Begriffsbildungen und Beispiele, die Kant in der systematischen Entfaltung seines vom Schönen der Natur abgesetzten Begriffs der „schönen Kunst“ vorstellt, machen deutlich, dass dieser nicht einem traditionellen Verständnis von schöner Kunst entspricht, sondern sehr viel enger gefasst ist. Kant grenzt „schöne Kunst“ nicht nur von mechanischer Kunst (wie etwa Handwerk) und von angenehmer Kunst (wie etwa gesellige Unterhaltung), sondern auch von „bloß“ geschmackvoller Kunst (wie etwa konventionelle Gemälde) ab: Geschmack wird von Kant als zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung schöner Kunst verstanden, mit anderen Worten: Es gibt geschmackvolle Kunst, die nicht schön ist. Geschmack betrifft die „Form der Darstellung“, er ist eine Frage des Maßes und der Angemessenheit, für sich genommen aber nicht mehr als ein „Vehikel der Mittheilung“136. Geschmack ist ein Beurteilungsvermögen und als ein solches erlernbar.137 Kunst, die „recht nett und elegant“138 ist oder eine „gefällige Form“ hat, zeugt von Geschmack, ist aber nicht schön im Sinne Kants. Zur Schönheit fehlt ihr „Genie“ bzw. „Geist“ – im Bemühen um einen Ausgleich zwischen produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive verwendet Kant beide Begriffe weithin synonym. Im Unterschied zu Geschmack ist Genie bzw. Geist ein „productives Vermögen“139; nämlich entweder eine „Sache der Eingebung [d. h. produktionsästhetisch: Genie], oder eines freien Schwunges der Gemüthskräfte [d. h. rezeptionsästhetisch: Geist]“140. Bereits hier deutet sich an, dass Kants Begriff der „schönen Kunst“ gerade nicht auf eine Darstellung des Schönen – das bleibt der bloß geschmackvollen Kunst vorbehalten –, sondern auf eine schö133 Ebd., S. 312. 134 Ebd., S. 305f. 135 Ebd., S. 306. 136 Ebd., S. 313. 137 Ebd. 138 Ebd. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 312 (Klammereinfügungen A.D.).

88

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

ne Darstellung bzw. Vorstellung des Erhabenen hinausläuft. In gewisser Weise kehrt die Dichotomie des Schönen und des Erhabenen in der „Deduktion“ als Dichotomie von Geschmack und Geist bzw. Genie wieder, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass im eigentlich schönen, das heißt genial-schönen Kunstwerk (schöner) Geschmack und (quasi-erhabener) Geist zusammenwirken. Im Gegensatz zum Geschmack, der aus regelgeleiteter Nachahmung entsteht, ist Genie ein „Talent (Naturgabe)“141, und zwar ein Talent, „welches der Kunst die Regel giebt“. Die geniespezifische Originalität dieser Regel ist nicht willkürlich, sondern verdankt sich der Natur des Genies. Kant ist es darum zu beweisen, dass „schöne Künste nothwendig als Künste des Genies betrachtet werden müssen“142. Da keine Anschauung, sondern eine Vorstellung betreffend, wird – anders als beim Erhabenen – die Frage des Zusammengehens von Sinnlichkeit (Einbildungskraft) und Vernunft (Genie bzw. Geist) in der schönen Darstellung zum zentralen Thema von Kants Nachdenken über schöne Kunst. Genie und Geschmack sind nicht Eigenschaften von einem Produkt, sondern „Eigenschaften an einem Producte“143. Sie werden erst im ästhetischen Umgang des Produzenten oder des Rezipienten mit diesem Produkt virulent. Genie bzw. Geist bezeichnet die Wirkungsfunktion der Einbildungskraft als „Stoff “, Geschmack die Wirkungsfunktion des Verstandes als „Form“. Das Genie liefert „reichen Stoff zu Producten der schönen Kunst“144, während die „Verarbeitung desselben und die Form“ Sache des Geschmacks ist. Im Unterschied zu angenehmer oder bloß geschmackvoller Kunst bietet genial-schöne Kunst aufgrund ihrer Geistigkeit nicht nur „augenblickliche Unterhaltung“, sondern „einen bleibenden Stoff zum Nachdenken oder Nachsagen“145, das ist: Sie vermag zu faszinieren. Als Faszinations­merkmale können Dauer („bleibend“), Ungeklärtheit („Stoff “) und sich auf diese beziehende intellektuelle und ästhetische Beschäftigung („Nachdenken oder Nachsagen“) festgehalten werden. Wenn im Folgenden ästhetische Faszination als adäquater Erlebnismodus genial-schöner Kunst erläutert wird, sei daran erinnert, dass Kants Begriff der schönen Kunst aufgrund seiner Kopplung an den Genie-Begriff sehr eingeschränkt ist. Nur solche Werke gelten als schön, die originell sind und rezeptionsgeschichtlich Maßstäbe gesetzt haben, indem sie Ideen derart Ausdruck verleihen, dass diese selbst bei voranschreitender kultureller Entwicklung einhellig und anhaltend Beifall finden. Eine mustergültige Originalität lässt sich außerdem daran erkennen, dass Kunstwerke andere Künstler nicht zur Nachahmung, sondern zum Gefühl ihrer „eigenen Originalität aufgeweckt“ 141 142 143 144 145

Ebd., S. 307. Ebd. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 319. Ebd., S. 310. Ebd., S. 305.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

89

haben.146 Genial-schöne Kunst ist demzufolge als eine „seltene Erscheinung anzusehen“147, desselben auch Faszination. Kant schließt nicht nur die meisten Werke der Dichtung, Rhetorik, Musik, bildenden Kunst, Architektur, Gartenkunst, des Theaters und des Tanzes als mehr oder weniger bloß geschmackvoll aus dem Faszinationsbereich schöner Kunst aus, sondern auch jene künstlichen Produkte, die wie Stubenverzierungen oder Lustgärten im Rahmen der Analytik des Schönen aufgrund ihrer optimal-schönen Mannigfaltigkeit als in der Anschauung faszinierend bezeichnet wurden.148 Obgleich beide Formen ästhetischer Faszination, die der Anschauung und die der Vorstellung, auf einem sich selbst reproduzierenden Spiel der Erkenntniskräfte beruhen, ist jene Faszination, die das Genial-Schöne einer künstlerisch evozierten Vorstellung eines Dings ausübt, aufgrund der damit verbundenen geistigen Aktivierung von einer ganz anderen psychisch-kognitiven Intensität als jene Wahrnehmungsfaszination, die bei einer mannigfaltigen Anschauung erlebt wird. Ähnlich wie bei dieser lässt sich auch für den Bereich schöner Kunst hinsichtlich des Zusammenwirkens von Genie bzw. Geist und Geschmack eine Skala verschiedener Stimmigkeitsgrade der Interaktion von Einbildungskraft und Verstand annehmen, wobei wiederum eine „Proportion“149 der Gemütskräfte die „zuträglichste“ für die „Belebung“ dieser Interaktion, das heißt mit dem höchsten Faszinationspotential ausgestattet, ist. Das eine Ende dieser Skala markiert eine durch das Reglement des Geschmacks gefesselte Einbildungskraft, wodurch lediglich nette, elegante, zierliche, manierierte u.ä. Werke „ohne Geist“ entstehen („Geschmack ohne Genie“150), das andere Ende markiert eine entfesselte Einbildungskraft, die „anzupassen“151 an die Möglichkeiten des Verstandes dem urteilenden Geschmack nicht gelungen ist. Die Einbildungskraft bringt hier „nichts als Unsinn“152 bzw. „originalen Unsinn“153 hervor („Genie ohne Geschmack“154). In der Mitte, weil den Gemütskräften am zuträglichsten, steht das genial-schöne Kunstwerk, in dessen Vorstellung sich Genie bzw. Geist (als Funktion der Einbildungskraft) und Geschmack (als Funktion des Verstandes) „im Widerstreite“155, jedoch zweckmäßig, verbinden. Trotz der großen Bedeutung, die Kants Genie-Konzeption der produktiven „Einbildungskraft in ihrer Freiheit“156 einräumt, bleibt diese aufgrund 146 Ebd., S. 318 u. 319. 147 Ebd., S. 318. 148 Vgl. Kants Diskussion der verschiedenen schönen Künste in § 51. 149 Ebd., S. 238. 150 Ebd., S. 313. 151 Ebd., S. 319. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 308. 154 Ebd., S. 313. 155 Ebd., S. 319. 156 Ebd., S. 317.

90

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

seines im Grundsatz rationalistischen Ästhetikverständnisses letztlich stets der „Gesetzmäßigkeit des Verstandes“, das heißt dem Geschmack, untergeordnet: Der Geschmack ist so wie die Urtheilskraft überhaupt die Disciplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen; zugleich aber giebt er diesem eine Leitung, worüber und bis wie weit es sich verbreiten soll, um zweckmäßig zu bleiben; und, indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle hineinbringt, macht er die Ideen haltbar [...].157

Der Geschmack als Form-Prinzip greift nicht nur bändigend in das freie Agieren der Einbildungskraft ein, vielmehr ermöglicht er, indem er deren konfuse „Gedankenfülle“ ordnet und leitet, das diese dauerhaft zu einem Potential werden kann, durch das der Rezipient die ausgedrückte Idee weniger empfangen als generieren kann. Aus systematischen Gründen wie aufgrund der besonderen Wirkung, die Kant genial-schöner Kunst zuspricht („dauernden zugleich auch allgemeinen Beifall[]“158, „bleibenden Stoff zum Nachdenken oder Nachsagen“159), lässt sich für diese „zuträglichste“ Proportion zwischen den wirkungsästhetisch defizitären Extremen einer geschmackvoll-geistlosen und einer geschmacklos-unsinnigen Kunst das wirkungsästhetische Optimum der Faszination ansetzen. Wie dieses faszinationsgenerierende Interagieren zwischen Einbildungskraft und Verstand vorzustellen ist, erläutert Kant in Paragraph 49 anhand der „Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen“. Wiederum ist die vorderhand produktionsästhetische Argumentation im Sinne des Genie-Begriffs mit der impliziten rezeptionsästhetischen Perspektive im Sinne des Geist-Begriffs zusammenzudenken.160 Das Werk eines Genies hat und braucht Geist, da seine Entstehung wie seine Rezeption mit einer besonderen intellektuellen Aktivität verbunden ist: Genial-schöne Kunstwerke sind also in doppelter Hinsicht „Geistesproducte[]“161. Kant diskutiert in Paragraph 49 „Genie“ vermögenspsychologisch als „Geist“. Seine Frage, „was man hier unter Geist versteht?“162, wird aus zwei Perspektiven beantwortet: zunächst in Hinblick auf das Gemüt (Seele), dann in Hinblick auf das Intellegible (Ideen). „Geist, in ästhetischer Bedeutung“ wird als das die Seele „belebende Prinzip“163 definiert. Das Mittel, wodurch dem Geist eine Belebung der Seele möglich wird, ist „Stoff “. Über diesen, von der Einbildungskraft gelieferten Stoff heißt es 157 Ebd., S. 319. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 305. 160 Vgl.: „Auf solche Weise ist das Product eines Genies [...] ein Beispiel [...] der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird“ (ebd., S. 318). 161 Ebd. 162 Ebd., S. 313. 163 Ebd.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

91

später, es handle sich um einen „reichhaltigen unentwickelten Stoff “164, und zwar reichhaltig und unentwickelt „für den Verstand“. Dieser vom Verstand zu strukturierende reichhaltige Stoff, den der Geist zur Belebung der Gemütskräfte „anwendet“165, versetzt dieselben „zweckmäßig in Schwung“166. Darunter ist nichts anderes zu verstehen als ein „Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt“. Damit ist das Wirkungsmodell ästhetischer Faszination gegeben: Durch einen „reichhaltigen unentwickelten Stoff “ werden die Gemütskräfte (Einbildungskraft und Verstand) in eine ihren Zwecken gemäße, sich deshalb reproduzierende und die Seele belebende Interaktionsdynamik versetzt. Die Beschäftigung mit dem Stoff ist lustökonomisch dauerhaft, zumindest solange der Stoff „dem Verstande spielend Nahrung zu verschaffen“167 vermag. Mit einem zweiten, sozusagen ‚von oben‘ ausgehenden konzeptionellen Zugriff bestimmt Kant das Prinzip des Geistes im Kunstwerk als das „Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“. Darstellung bedeutet „Versinnlichung“168 von an sich Unsinnlichem. Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.169

Der von Kant hier neu eingeführte Begriff der „ästhetischen Ideen“ ist ausdrücklich „Gegenstück (Pendant)“170 zum Begriff der Vernunftideen. Im Unterschied zu den bestimmten Begriffen des Verstandes, denen stets eine Anschauung (Erfahrung) adäquat ist, sind Vernunftideen Begriffe der Vernunft, denen keinerlei „Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“; das heißt Begriffe wie Unendlichkeit, Schöpfung oder Tugend. Umgekehrt ist eine ästhetische Idee eine solche „Vorstellung der Einbildungskraft“, der kein „bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann“. Kant stattet in dem für sein Kunstverständnis zentralen Begriff der ästhetischen Idee die Einbildungskraft, die als ein „productives Erkenntnisvermögen“ zur Unterhaltung eine „andere Natur“ zu schaffen vermag, mit der Fähigkeit aus, uns im ästhetischen Spiel „Freiheit [...] fühlen“ zu lassen. Da die Einbildungskraft in ästhetischer Rahmung nicht dem empirischen „Gesetze der Assoziation“ verpflichtet 164 Ebd., S. 317. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 313. 167 Ebd., S. 321. 168 Ebd., S. 351. 169 Ebd., S. 313f. 170 Hier und im Folgenden ebd., S. 314.

92

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

ist, sondern es ihr durch Analogiesetzung möglich ist, auch Vorstellungen über alle empirische Erfahrung hinaus, nämlich „nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen“, in einem Kunstwerk zu versinnlichen und dadurch mitzuteilen, ermöglicht sie es uns, unsere Freiheit als Vernunftwesen nicht nur zu wissen, sondern ästhetisch zu erleben. Dieses mitteilbare Fühlbarwerden bezeichnet das Proprium der ästhetischen Ideen gegenüber den Vernunftideen. In der Anwendung von „analogischen Gesetzen“ durch die Einbildungskraft kann ein der empirischen Erfahrungs- und Anschauungswelt entliehener Stoff „von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden“. Eine ästhetische Idee meint also eine Korrelation von Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit, von Sinnlichkeit und Vernunft durch Analogie.171 Die analogische Verarbeitung des empirischen Stoffs durch die frei agierende Einbildungskraft setzt den auf Erfahrungsbegriffe ausgerichteten Verstand in seinem Bemühen um eine adäquate begriffliche Strukturierung in Beschäftigung. Da einer ästhetischen Idee aber niemals ein bestimmter Begriff des Verstandes vollständig adäquat sein kann, wird der Verstand durch die ästhetische Idee, die nichts anderes ist als eine analogische „Vorstellung der Einbildungskraft“, veranlasst, „viel zu denken“; – allerdings ohne jede Aussicht, damit jemals an ein Ende zu kommen, das heißt die Idee vollständig auf einen Begriff bringen zu können. Unter der Hand referiert Kant mit der Bestimmung der ästhetischen Idee als einer Vorstellung der Einbildungskraft, „die viel zu denken veranlaßt“, eine bestimmte rhetorisch-stilistische Begriffs­tradition des Erhabenen, die seit dem antiken Autor Ps-Longin als Erhabenheit der Gedanken bezeichnet wird.172 Bei diesem Erhabenheitskonzept geht es, ähnlich wie bei der ästhetischen Idee, um einen die Seele belebenden geistigen Widerhall in der Erfahrung sprachlicher Äußerungen. In Kants Konzeption versucht die ästhetische Idee sich dem, was prinzipiell unmöglich ist und was in der „Analytik des Erhabenen“ für den Fall formloser Anschauung von Empirie nur durch erschütternde Negation indirekt erfahrbar wird, durch analogische Vorstellungen, das heißt durch die „innern Anschauungen“173, zumindest anzunähern. Insbesondere der „Dichter wagt es, Vernunft­ideen [...] vermittelst einer Einbildungskraft, die dem Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständig-

171 Vgl. Kants Ausführung zur symbolischen Darstellung: „Da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urtheilskraft demjenigen, was sie im Schematisiren beobachtet, bloß analogisch, d.i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt“ (ebd., S. 351). 172 Vgl. die Diskussion des Erhabenheitskonzeptes Ps-Longins in Kapitel 3.3. 173 Ebd., S. 314.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

93

keit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet“174. Genial-schöne Kunst versucht, nicht direkt, sondern als faszinierendes Potential eines rezeptionsästhetischen Prozesses ad infinitum, „einer Darstellung der Vernunftbegriffe (intellectuellen Ideen) nahe zu kommen“175. Durch diese – sich als (letztlich uneinlösbares) Lustpotential zeitlich abbildende – immanente Totalität der ästhetischen Idee, die das rezeptionsästhetische Gefühl des Schönen in das erhabenere, weil „Geistesgefühl“176 des Fasziniertseins verstetigt, kann ein Kunstwerk der notwendig unanschaulichen Vernunft­ idee zumindest den „Anschein einer objectiven Realität“177 geben. Dies ist wirkungsästhetisch höchst relevant. Strikt gelesen entspricht Kants Verständnis der ästhetischen Idee, nicht zuletzt nach Ausweis der von ihm angegebenen Beispiele, der dreigliedrigen Zeichenstruktur eines frühneuzeitlichen Emblems. Das Emblem besteht aus einer Inscriptio (Motto), einer Pictura (Bild) und einer Subscriptio (Auslegung).178 Der Vernunftbegriff ließe sich demzufolge als Inscriptio und die anschauliche Vorstellung als verschriftlichte Pictura auffassen, zusätzliche Attribute oder Aussagen in der Darstellung übernehmen die Funktion einer Subscriptio. Bei der ästhetischen Idee besteht, so Kant, zwischen Einbildungskraft und Verstand zwar eine „Einstimmung zum Begriffe“179 (Inscriptio), allerdings liefert die Einbildungskraft über den möglichen Bedeutungsumfang des Begriffs (Subscriptio) hinaus mit der anschaulichen Vorstellung (Pictura) dem um Deutlichkeit bemühten Verstand einen faszinierenden „Stoff “. Der in epistemologischer Hinsicht problematische, da (allzu) reichhaltige und unentwickelte Stoff führt in ästhetischer Hinsicht zu einer „Belebung der Erkenntnißkräfte“180. Die Beschäftigung mit der ästhetischen Idee des (sprachlichen) Kunstwerks ist für Kant jedoch mehr als ein bloßes „Spiel mit Ideen“. Sie wird für den Verstand zu einem „Geschäft“, das heißt zu einer nicht nur unterhaltenden, sondern herausfordernden und einträglichen, mithin „würdigen“ Beschäftigung: 174 Ebd. 175 Ebd. 176 So beschreibt Kant die erhabene Wirkung von Natur, ebd., S. 192. 177 Ebd., S. 314. 178 Das aus inscriptio (Motto), pictura (Bild) und einer nicht immer vollständig ausgeführten subscriptio (Auslegung) bestehende Emblem dient der „Darstellung eines abstrakten Sachverhalts mittels eines Gegenstands der sinnlich wahrnehmbaren Welt“. Die mitunter als Rätsel interpretierte Spannung zwischen inscriptio und pictura „hat die Funktion, den Leser an der Ausdeutung teilhaben zu lassen.“ (Mödersheim, S.: Emblem, Emblematik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 2. Darmstadt 1994, Sp. 1098 – 1108, hier Sp. 1098f.). 179 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 317. 180 Ebd.

94

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Der Dichter dagegen verspricht wenig und kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an, leistet aber etwas, was eines Geschäftes würdig ist, nämlich dem Verstande spielend Nahrung zu verschaffen, und seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben zu geben.181

Dies kommt, wie die gesamte Konzeption der ästhetischen Idee, vollgültig nur im Bereich der Dichtung aufgrund der Begriffsförmigkeit ihres Materials zum Tragen. Die Herausforderung der strukturierenden Tätigkeit des Verstandes durch den „reichhaltigen unentwickelten Stoff “ der nach Vernunftideen greifenden Einbildungskraft, der für „sich allein“ mehr „zu denken veranlaßt“, als sich „in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt“, belebt nicht nur das Gemüt, sondern erweitert durch die auf den Begriff (Inscriptio) rückapplizierte Semantik der anschaulichen Vorstellung (Pictura) den konnotativen Umfang dieses Begriffs: Wenn nun einem Begriffe [Inscriptio] eine Vorstellung der Einbildungskraft [Pictura] unterlegt wird, die zu seiner Darstellung [Subscriptio] gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegränzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellectueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.182

Diese psychisch-kognitive Aktivierungs- und Involvierungsdynamik wird veranlasst durch die anschauliche Vorstellung in ihrem, per darstellungstechnischer Analogierelation erzwungenen, Miss-Verhältnis zu einem (unanschaulichen) Vernunftbegriff. Im Bemühen um eine semantische Vereinbarung von Vorstellung und Begriff produziert die Einbildungskraft des Rezipienten weitere verwandte Vorstellungen, zu deren Strukturierung der Verstand mehr, „obzwar auf unentwickelte Art“183, zu denken genötigt wird, als sich „in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken“ lässt. Die Faszination, die eine ästhetische Idee ausübt, beruht also darauf, dass sie infolge einer Analogiebehauptung dem Gemüt eine „Aussicht in ein unabsehbares Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“. Dieses Feld durch das hypothetische Ansetzen semantischer Paradigmen zu strukturieren, ist für den Verstand lustvoll, weil dabei zum einen die Fähigkeiten der Erkenntniskräfte fühlbar werden, zum anderen weil diese Strukturierung frei von jedem Ergebnisdruck verläuft. Dabei wird jedoch, da die ästhetische Idee keine logische Darstellung einer Vernunftidee ist, das Verständnis derselben ästhetisch, das heißt unbestimmt, nämlich als ein erlebtes Gefühl, erweitert. Anders als in der faszinierenden optimal-schönen 181 Ebd., S. 321. 182 Ebd., S. 314f. (Klammereinfügungen A.D.). 183 Hier und im Folgenden ebd., S. 315.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

95

Anschauung von Natur wird also in der weitaus faszinierenderen Vorstellung genial-schöner Kunst das „freie[] Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes“184 ausgeführt. Die wenigen Beispiele, an denen Kant genial-schöne Kunst als Darstellung ästhetischer Ideen erläutert, sind alle der Dichtung entnommen und gehören ihren Bildtopoi nach in den Bereich des Erhabenen. Sie lassen außerdem erkennen, dass Kants Begriff der ästhetischen Idee sich einem eher rationalistischen Verständnis von Kunst verdankt, folgen sie doch einer emblematischen bzw. allegorischen Bildlogik.185 Unter anderem führt Kant folgenden Vergleich von Sonnenaufgang und Tugend an: ‚Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt.‘ Das Bewußtsein der Tugend, wenn man sich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften versetzt, verbreitet im Gemüthe eine Menge erhabener und beruhigender Gefühle und eine gränzenlose Aussicht in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem bestimmten Begriffe angemessen ist, völlig erreicht.186

Wohltuende Ruhe als Folge von Tugend ist in dieser ästhetischen Idee in Analogie gesetzt zum Licht der aufgehenden Sonne. Um diese Analogie ästhetisch zu verstehen, muss ein semantischer Abgleich zwischen dem Begriffsumfang von ‚Tugend‘ und der Vorstellung der aufgehenden Sonne erfolgen, was zahlreiche weitere Vorstellungen, Assoziationen und Gefühle beim Rezipienten aufruft, ohne dass diese begrifflich festgelegt werden könnten. Anders gesagt, das Interagieren von Einbildungskraft und Verstand im ästhetischen Verstehen dieses Verses hat den Charakter eines spielerischen Erprobens möglicher gemeinsamer semantischer Paradigmen von ‚Tugend‘ und der Vorstellung der aufgehenden Sonne. Aus der ästhetischen Idee – hier der Versinnlichung von Tugend (Inscriptio) hinsichtlich ihrer wohltuenden Wirkung (Subscriptio) vermittels der analogischen Vorstellung von der Wirkung der aufgehenden Sonne (Pictura) – resultiert, so Kants Erläuterung, eine „Menge erhabener und beruhigender Gefühle“187. Diese „Menge“ an Gefühlen verdankt sich dem Anschauungsbild der Sonne, dessen Konnotationen im Verhältnis zu ‚Tugend‘ den Verstand nach gemeinsamen semantischen Merkmalen suchen lässt. Das Verhältnis von Anschaulichem und Unanschaulichem ist immer ein bloß analogisches, weshalb Kant die Vorstellung der Einbildungskraft eine 184 Ebd., S. 321. 185 Ich folge hier Wolfgang Heise („Kritik der ästhetischen Urteilskraft“. Kants Schönheitsbegriff: Weltanschauliche Bedeutsamkeit und utopischer Gehalt, in: Ders.: Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung und Ästhetik in Deutschland 1750 – 1850. Berlin 1990, S. 307 – 398, hier S. 390), der die Differenz zwischen Kants rationalistischer Konzeption der ästhetischen Idee und Goethes Begriff des die Sache selbst offenbarenden Symbols betont. 186 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 316. 187 Ebd.

96

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

dem Vernunftbegriff bloß „beigestellte Vorstellung“188 nennt. Diese syntagmatische ‚Beistellung‘ als ein formales Verfahren evoziert jedoch Geist, nämlich eine „Mannigfaltigkeit von Theilvorstellungen“: Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigestellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.189

Das Gefühl des spontanen Hinzudenkens von viel Unnennbarem im unabschließbaren zweckfreien Prozess des Paradigmen bildenden und verwerfenden semantischen Abgleichens von Begriff und Anschauung ist nichts anderes als das Gefühl des Fasziniertseins durch eine unüberschaubare „Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen“. Die faszinierende Kombination von „Mannigfaltigkeit“ und Begriff in der ästhetischen Idee provoziert die Einbildungskraft, im „freien Gebrauche“ der mannigfaltigen „Theilvorstellungen“ vieles, was begriffssprachlich nicht bezeichnet werden kann‚ „hinzu[zu]denken“. Das Hinzugedachte ist durch den Rezipienten selbst generiert, jedoch geschieht dies nicht völlig willkürlich, sondern entlang der „Buchstaben“ jener notwendig diskrepanten Kombination von Begriff und Anschauung. Faszination lässt sich im Rahmen der Kritik der Urteilskraft somit als ein belebendes, geistig anregendes und involvierendes Gefühl im ästhetischen Erleben von Kunst beschreiben, das aus einem die Zweckmäßigkeit der eigenen Vermögen erlebbar machenden, damit sich unablässig selbst reproduzierenden Strukturierungsprozess differenter, in ein Syntagma der Analogie gesetzter Semantiken von Begriffen und Anschauungen resultiert. Zwar wird Faszination von Kant, insofern es sich um das Gefühl des Mehr- und Hinzudenkens handelt, als emotionales Profil eines kognitiven Prozesses bestimmt, jedoch ist dieser Prozess ausdrücklich begrifflich unbestimmt und in starkem Maße auf Anschauungen, also bildhaft-imaginativ, ausgerichtet. Das durch hypothetische Paradigmenbildung immer wieder neu Hinzugedachte ist ein „Unnennbares“, weshalb Faszinationserleben nichts mit einem Verstehen von Kunst in einem rational-analytischen Sinn zu tun hat. Grundsätzlich bleibt in Kants Konzeption des reinen Geschmacksurteils der Bereich der Empfindung als reizend ausgeschlossen: Die Sinnlichkeit der „Buchstaben“, das heißt die Materialität des wahrgenommenen Darstellungsmediums beispielsweise in Gestalt von „Sprachrichtigkeit“, „Prosodie“ und „Sylbenmaß“190, wird in der wirkungsäs188 Ebd.; Kant spricht auch vom „Unterlegen“ einer Vorstellung (ebd., S. 295). 189 Ebd., S. 316. 190 Ebd., S. 304.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

97

thetischen Konzeption der ästhetischen Idee nicht berücksichtigt und fällt als Faszinationspotential von Dichtung aus. Der Vorbehalt wird an Kants Diskussion der Musik deutlich, die zwar stärker als etwa Dichtung (unter Ausklammerung der Materialität der Signifikanten) bewege, aber dies nur ganz vorübergehend. Sie vermag „durch lauter Empfindungen ohne Begriffe“191 zu wirken, wodurch aber nichts „zum Nachdenken übrig“ bleibt. Eine prosodisch-metrisch informierte Kombination von Empfindungen ohne und mit Begriffen bei der Poesie bleibt ausgespart. Dies schlägt sich auch in der Auswahl und Behandlung der literarischen Beispiele Kants für die ästhetische Idee nieder, die lediglich hinsichtlich der Tropen, aber weder metrischen noch prosodischen oder stilistisch diskutiert werden, obgleich diese Wirkungspotentiale zweifelsohne lustöko­nomischen Einfluss auf die Schematisierungstätigkeit des Verstandes haben. Es scheint dadurch fast zwingend, dass Kant in seinen Beispielen auf vergleichsweise konventionelle und begrifflich durchschaubare, das heißt leicht schematisierbare Emblem-Konstruktionen und nicht etwa auf die wirkungsästhetisch sehr viel ressourcenintensiveren kühnen Metaphern Klopstocks zurückgreift. Der Prozess des Hinzudenkens und damit ästhetische Faszination insgesamt muss zu Kants Bedingungen vergleichsweise energie- und emotionsarm, das heißt unsinnlich verlaufen: als eine ästhetische Faszination, die den Geist und weniger die ‚Tiefenperson‘ des Rezipienten fasziniert. Abschließend soll anhand eines weiteren Beispiels Kants der Frage nach den darstellungstechnischen Bedingungen der Möglichkeit von ästhetischer Faszination nachgegangen werden: Wie muss eine künstlerische Darstellung beschaffen sein, damit sie im ästhetischen Erleben der Einbildungskraft in der Aktualisierung der Darstellung als Vorstellung größtmögliche Freiheitslust und dem Verstand größtmögliche Strukturierungslust verschafft? Diese Frage führt zurück auf den „Widerstreite beiderlei Eigenschaften an einem Producte“192, nämlich der Eigenschaft Geist als der Wirkungsfunktion der Einbildungskraft als Stoff und der Eigenschaft Geschmack als der Wirkungsfunktion des Verstandes als Form. Im Gefühl des durch Analog-Setzung forcierten Hinzudenkens von viel Unnennbarem zu einem Begriff verbindet sich, so Kant in der zuletzt zitierten Passage, der „bloße Buchstabe“ mit „Geist“. Es geht also um das Verhältnis der Ordnung der Buchstaben zur Freiheit des Verbindungen stiftenden Geistes. Als herausragendes Beispiel für die Darstellung einer ästhetischen Idee zitiert Kant in einer Fußnote den klassischen Topos der verschleierten Göttin Isis als Sinnbild des Naturganzen: Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter 191 Ebd., S. 328. 192 Ebd., S. 319.

98

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Natur): ‚Ich bin alles, was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt‘.193

Kants Selbstkorrektur am Beginn dieser Fußnote unterstreicht zum einen, dass es ihm in erster Linie um die Frage der Darstellung (bzw. des Ausdrucks), nicht des Dargestellten zu tun ist, zum anderen, dass jene sogenannte „schöne Kunst“, insofern sie ein wirkungsästhetisch dem Dargestellten adäquater Ausdruck ist, als sinnliche Darstellung von Ideen nichts anderes sein kann als eine ideenadäquate, und das heißt: erhabene Darstellung. Die gravierende Frage nach dem Wie einer Versinnlichung von Unsinnlichem hatte Kant mit den „analogischen Gesetzen“194 beantwortet, die hier dem Vernunftbegriff der Natur (Inscriptio) das mit mannigfaltigen Teilvorstellungen verbundene Bild der verschleierten Göttin (Pictura) „beistellen“ lassen. Die Tempelaufschrift in der Funktion einer Subscriptio führt in Form einer Selbstaussage der Natur bzw. der Göttin Isis beide Elemente des Analogieverhältnisses in einer jeweils spezifisch adäquaten Weise syntaktisch zusammen, was notwendig ein semantisch-stilistisches Missverhältnis zur Folge hat. Was die Totalität der Natur an und für sich ist, kann nicht unmittelbar veranschaulicht, sondern nur begrifflich bezeichnet werden: „Ich bin alles, was da ist, was da war, und was da sein wird“. Was die Idee der Natur für Menschen ist, kann hingegen anschaulich, nämlich im Analogie-Bild des Schleiers, das ein Bild epistemologischer Defizienz ist, dargestellt werden: „meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt“. Die Kombination der beiden Sätze in einer Satzverbindung ist antithetisch: Der zeitlichen Unendlichkeit der Natur steht die Sterblichkeit des Menschen, der ontologischen Allpräsenz der Natur steht deren begrenzte Erkennbarkeit durch den Menschen gegenüber. Als adäquater „Ausdruck“ ihrer Aussage sind die beiden miteinander verbundenen Sätze aber auch formal diskrepant; – insofern bezeichnen sie nicht nur die Diskrepanz der Analogie von Naturidee und Isis-Bild semantisch, sondern versinnlichen diese in der Materialität der Sprache in weitaus ‚empfindsamerer‘ Weise, worauf Kant jedoch, wie bei seinen anderen Beispielen, nicht eingeht. Der erste Satz, durch mehrere Nebensätze untergliedert, zeichnet sich im Unterschied zum zweiten Satz durch eine markante rhetorisch-klangliche Wiederholungsstruktur aus, die rhythmisch zum Anapäst neigt und rhetorisch als Klimax aufgefasst werden kann. Das Subjekt steht in diesem Satz in Erststellung, alle Attribute beziehen sich auf das finite Verb, das die eigentliche Satzaussage enthält. Im Unterschied dazu ist im zweiten, eine Negation bezeichnenden Satz das Subjekt dem finiten Verb und dem – grammatisch auf das Subjekt des ersten Satzes verweisenden – Objekt nachgestellt. Das Missverhältnis von Naturganzem und menschlicher Erkenntnis, das sich in ein Missverhältnis von Vernunftidee und Anschauung übersetzen lässt, wird also 193 Ebd., S. 316. 194 Ebd., S. 314.

2.2   Ästhetische Idee: Faszination in Kants Kritik der Urteilskraft

99

durch ein semantisch-stilistisches Missverhältnis dargestellt, das heißt ästhetisch adäquat erlebbar. Um beide Aussagen im Sinne einer formalen ‚Beistellung‘ von Begriff und Anschauung – hier durch die semantisch prekäre, da tendenziell adversative Verwendung der Konjunktion ‚und‘ veranlasst – als den selben Sachverhalt betreffend zusammendenken zu können, werden Einbildungskraft und Verstand in erheblichem Maße angeregt, „viel Unnennbares hinzu [zu] denken“. Nur weil der Geschmack für eine angemessene grammatisch-stilistische Ordnung der „Buchstaben“ sorgt, kann sich Geist mit ihnen verbinden. Ohne einen solchen grammatisch-stilistischen „Mechanismus“195 des Geschmacks würde, wie Kant anmerkt, der frei agierende Geist „gar keinen Körper haben und gänzlich verdunsten“. Nur weil die Ordnung der Signifikanten geschmackvoll, das heißt für den Rezipienten leicht prozessierbar ist, kann die weitaus ressourcenintensivere Beschäftigung des Geistes mit den Signifikaten, das heißt die paradigmenbildende spielende Arbeit am (erhabenen) Missverhältnis der Analogie, balanciert werden. Damit wäre der dem Begriff der ästhetischen Idee inhärente Begriff der ästhetischen Faszination auch semiotisch aufgeklärt. In Hinblick auf Kants prominentes Isis-Beispiel tritt hinzu, dass das entscheidende Anschauungselement, der für den Menschen nicht aufzudeckende Schleier, ein Symbol ist; ein Symbol nicht nur des Missverhältnisses menschlicher Erkenntnisfähigkeit gegenüber der Totalität von Natur, sondern ebenso des Missverhältnisses der bloß analogisch verfahrenden ästhetischen Idee und damit letztlich auch Symbol ästhetischer Faszination. Der Schleier ist, in ästhetischer Hinsicht, die Bedingung der Möglichkeit eines freien Spiels der Einbildungskraft: Ihm entspricht, sprachlich transformiert, die rätselhafte „Aufschrift über dem Tempel“. Während also der Schleier epistemologisch die Unmöglichkeit, die Natur ganz erkennen zu können, darstellt, ermöglicht er in ästhetischer Hinsicht, die epistemologisch abgesprochene Fähigkeit zur Totalität im Gefühl, „viel zu denken“, zu erleben. Der Schleier als semitransparente Hülle verdeckt nicht einfach nur die Göttin Isis, sondern provoziert das Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen, weil im Blick auf den Schleier zwei Raumgrenzen bzw. Objekte optisch überlagert und damit zwei diskrepante Semantiken ineinander verschränkt werden. Als insofern divided self besitzt der Schleier, dies sei in Rücksicht auf die Begriffsgeschichte von Faszination ergänzt, formal die Eros-Struktur des Sokrates.196 Ästhetisch ist der Schleier Imaginationsstimulus, er ermöglicht kein Weniger, wie in epistemologischer Hinsicht, sondern ein Mehr gegenüber dem unverschleierten Anblick: Nur der Schleier lässt – wenn auch nur unbestimmt – „viel Unnennbares hinzu denken“, nur durch die Verschleierung wird Faszination möglich.197 Die Faszination, die das unendliche Missverhältnis von 195 Ebd., S. 304 (im Original ist „Mechanismus” hervorgehoben). 196 Vgl. Kapitel 1.2. 197 Hegel merkt an, dass es in einer antiken Weiterführung der Tempelaufschrift heißt: „Aber, heißt es in jener Inschrift weiter, ‚die Frucht meines Leibes ist Helios‘. Dieses

100

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Naturganzem und menschlicher Erkenntnis dank der adäquat verschränkenden Darstellungsweise in der geheimnisvollen „Aufschrift“ ausübt, lässt die Einbildungskraft in einem Kunstwerk (wie etwa der „Aufschrift“) lustvoll erleben, was in der Anschauung der Natur nur als erhabene Erschütterung und Negation von Sinnlichkeit erfahren werden kann.

2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison Kant entwirft mit dem Begriff der ästhetischen Idee und der ihr eigenen Wirkung implizit eine umfassende Konzeption von ästhetischer Faszination, ohne dafür den Begriffsnamen ‚Faszination‘ zu verwenden. Diesen setzt er vielmehr zur Bezeichnung eines Defizits in der vernunftgerechten Verarbeitung von Sinneswahrnehmung an. Eine tatsächliche Applizierung des traditionell negativ konnotierten Begriffsnamens auf wirkungsästhetische Phänomene, die jenseits der frühneuzeitlichen Diskussion unaufgeklärter Sinnestäuschungen als frei gewollte mit Lust verbunden sind, findet sich genau zwanzig Jahre nach Erscheinen der Kritik der Urteilskraft im zweiten Teil der 1810 publizierten Philosophical Essays des schottischen Philosophen Dugald Stewart. Es dürfte sich hierbei um den historisch frühsten Beleg für eine begriffliche Verwendungsweise einer Wortform von ‚Faszination‘ bzw. ‚fascination‘ in ästhetiktheoretischen Zusammenhängen handeln. Stewart ist ein Vertreter der realistisch-empiristisch ausgerichteten schottischen Erkenntnistheorie, der es darum geht, Prozesse des menschlichen Geistes im Sinne einer rationalen Mechanik zu beschreiben und erklären.198 Im Unterschied zu Kants Transzendentalästhetik geht Stewarts Behandlung ästhetischer Fragen von konkreten Wahrnehmungserfahrungen und Objekteigenschaften aus. Seine Philosophical Essays schauen dabei auf die ungewöhnlich breite, das gesamte 18. Jahrhundert bestimmende Diskussion wirkungsäsnoch verborgene Wesen spricht also die Klarheit, die Sonne, das sich selbst Klarwerden, die geistige Sonne aus als den Sohn, der aus ihr geboren werde.“ (Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: Ders.: Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 16. Frankfurt a. M. 1969, S. 442, Hervorhebung im Original). Dies betrifft streng genommen nur den Blick der Erkenntnis auf den Schleier bzw. auf die geheimnisvolle Aufschrift, während der ästhetische Blick nichts anderes als Faszination gebiert – mit Kants, auf eine Vignette mit der Darstellung des Isis-Tempels bezogenen Worten: einen „heiligen Schauer“, der „das Gemüth zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 316). 198 Mittelstraß, J.: Stewart, Dugald, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von J. Mittelstraß. Bd. 4. Stuttgart, Weimar 2004, S. 92f.

2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison

101

thetischer Fragen zurück, die er referiert, systematisiert und hinsichtlich ihres abweichenden Begriffsgebrauchs reflektiert. Seine Behandlung des Schönen, des Erhabenen und des Anmutigen zielt ausdrücklich nicht darauf, den zahlreichen bisherigen Systematisierungs- und Erklärungsansätzen englischer und französischer Autoren einen eigenen hinzuzufügen, vielmehr bemüht er sich, die vorhandenen Erklärungen und Kategorisierungen zusammenzuführen und sprachkritisch zu interpretieren.199 Es gehe ihm, wie Stewart im zweiten Teil der Essays im Zusammenhang des Erhabenen schreibt, nicht darum, die Prinzipien zu untersuchen, aufgrund derer die verschiedenen Bestandteile von Erhabenheit den Geist erfreuen, sondern jene Ideenverbindungen [associations] zu verfolgen, die dafür sorgten, dass auf alle diese der gemeinsame Name Erhabenheit angewandt wurde; sowie den Einfluss dieses gemeinsamen Namens in der Rückwirkung auf die Einbildungskraft und den Geschmack zu erläutern.200

Das besondere Interesse Stewarts an Fragen der Genese und des Gebrauchs von Begriffsnamen gibt der von ihm vorgenommenen Einführung des als magisch oder defizitär diskreditierten Wortes fascination in die ästhetische Begriffsbildung seiner Zeit ein doppeltes Gewicht. Seine Verwendung des Begriffsnamens fascination im Kapitel „On the Beautiful“ ist frei von jeder magischen, erotischen oder pathologischen Implikation; vielmehr geht es darum, den Wirkungsmechanismus einer bestimmten Variante des Schönen psychologisch genauer zu beschreiben. Zunächst verwendet Stewart im Kapitel „On the Beautiful“ eine Ableitung des Verbs fascinate in einem rein beschreibenden Sinne, um die außerordentliche Wirkung von Poesie hervorzuheben. Ausgehend von der Farbe und der visuellen Wahrnehmung als dem originären Anwendungsbereich des Schönheitsbegriffs wird anhand eines Gedichtes die Übertragung des Begriffs der Schönheit auf andere, nicht anschaulich-bildhafte Bereiche der Wirkung von Poesie erläutert: Der Gebrauch des gleichen Wortes [das Schöne] wird unmerklich erweitet von jenen [poetischen] Bildern, die zugleich das charakteristische Merkmal und den faszinierendsten Zauber [most fascinating charm] der Poesie ausmachen, auf die zahllosen anderen Quellen der Freude, die sie eröffnet.201 199 Hipple, W. J.: The Aesthetics of Dugald Stewart. Culmination of a Tradition, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 14 (1955), 1, S. 77 – 96, hier S. 77 u. 81f. 200 „[It] is not to investigate the principles on which the various elements of Sublimity give pleasure to the Mind; but to trace the associations, in consequence of which the common name of Sublimity has been applied to all of them; and to illustrate the influence of this common name in re-acting on the Imagination and the Taste [...].“ (Stewart, D.: Philosophical Essays. Edinburgh 1810, S. 410; deutsche Übersetzung A.D.). 201 „[...] so the same word is insensibly extended from those images which form at once the characteristical feature, and the most fascinating charm of poetry, to the number-

102

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Als most fascinating charm bezeichnet Stewart hier die gattungsspezifische, intensive und uneingeschränkt positiv konnotierte Wirkung sprachlicher Bilder und Metaphern in einem lyrischen Gedicht. Die dabei aufgeführten Merkmale ‚Zusammenhang mit Anschauung‘, ‚intensive Wirkung‘ und ‚positive Valenz‘ kennzeichnen auch die in einem begrifflichen Zusammenhang stehende Verwendung einer Wortform von fascinate einige Seiten später. In einem Abschnitt, der sich mit unterschiedlichen Verwendungsweisen des Schönheitsbegriffs innerhalb der ästhetischen Diskussion beschäftigt („Disquisition on the Word Beauty“), geht Stewart nach der Bewunderung (admiration) der Augen für die Schönheit der Farbe und der Form eines Gegenstandes auf eine dritte Variante von Schönheit ein, die aus der Bewegung eines Gegenstandes resultiert. Die „beauty of motion“ sei nicht als eine bloße Modifikation der Schönheit der Form aufzufassen, da sie über eine einzigartige, der Bewegung spezifische Wirkungskomponente verfüge, die Stewart als ein „zusätzliches Interesse“ („additional interest“) bezeichnet. Anschließend an Henry Homes Elements of Criticism (1762) bezeichnet Stewart diese durch ein „zusätzliches Interesse“ verstärkte Schönheit der Bewegung als grace (‚Grazie‘ bzw. ‚Anmut‘), wobei er die ältere Wortbedeutung (‚Gnade‘) als „unbekannte Ursache“ in die Erläuterung des wirkungsästhetischen Begriffs einbezieht. Im Anschluss an die Feststellung, dass Schönheit in der Bewegung insbesondere am menschlichen Körper hervortrete, heißt es:202 In diesen Fällen [d. h. bei Bewegungen von Menschen], bringt sie [die schöne Bewegung] jene intensive Wirkung hervor, die wir aufgrund ihrer unbekannten Ursache als Anmut [grace] bezeichnen; – eine Wirkung, die in einem nicht unbedeutenden Grad von dem zusätzlichen Interesse abzuhängen scheint, welches aus der flüchtigen und vergänglichen Existenz der angenehmen Form entspringt.203

Die ästhetische Wirkung von Bewegung wird hier als eine Wahrnehmungsfolge schnell wechselnder Formen des sich bewegenden Gegenstandes vorgestellt. Das Flüchtige und Variantenreiche in der Wahrnehmung dieser bewegten Formen bestimmt die weiteren Ausführungen zum Begriff der Anmut (grace). Die nur im Fall einer Bewegung zum Gefühl des Schönen hinzutretende Wirkungskomponente des Interesses wird auf ein gewisses, zunächst less other sources of delight which it opens.” (Ebd., S. 324; Hervorhebung im Original, deutsche Übersetzung A.D.). 202 Im Kapitel „Motion and Force“ erläutert Home, dass eine Bewegung nicht als einzelner Körper, sondern wie eine endlose Zahl („endless number moving together“; Home, H.: Elements of Criticism. Edinburgh 41769, S. 249) von sich gemeinsam in Ordnung und Regelmäßigkeit bewegenden Körpern wahrgenommen werde. 203 „In these cases, it [the beauty of motion] produces that powerful effect, to the un­ known cause of which we give the name of grace; – an effect which seems to depend, in no inconsiderable degree, on the additional interest which the pleasing form derives from its fugitive and evanescent existence“ (Stewart: Philosophical Essays, S. 234; Hervorhebung im Original, hier und im Folgenden deutsche Übersetzung A.D.).

2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison

103

temporal beschriebenes Spannungsverhältnis zwischen sinnlicher und kognitiver Verarbeitung der Wahrnehmungsfolge zurückgeführt: „das Gedächtnis verweilt sehnend bei dem Zauber, welcher geflohen ist, während das Auge durch die Erwartung dessen, was folgt, fasziniert wird [is fascinated]“204. Infolge der Bewegung kommt es zu keinem stabilen Wahrnehmungseindruck, sondern zu einer kontinuierlichen Folge mannigfaltiger Wahrnehmungsmomente eines Gegenstandes. Diese verleihen dem ästhetischen Erleben aufgrund der unterschiedlich verlaufenden perzeptiven und kognitiven Prozesse eine emotional gefärbte Spannung zwischen einerseits sehnendem Verweilen an der aktuellen Wahrnehmungsform und andererseits fasziniertem Erwarten der nächstfolgenden. Die angeschaute Bewegung treibt mithin die Lusteffekte in der Wahrnehmungsverarbeitung vermögensspezifisch auseinander, da die Einbildungskraft („das Auge“) Lust aus der Reizung durch immer neue Formen, der Verstand („das Gedächtnis“) hingegen Lust aus der abgleichenden Verarbeitung der wahrgenommenen Form gewinnt. In diesem Erklärungsmodell für die Anmut von Bewegungen wird die Komponente Faszination wiederum der sinnlichen (visuellen) Wahrnehmung zugeordnet. Gegenüber der zuerst behandelten Belegstelle bei Stewart tritt hier zu den Faszinationsmerkmalen ‚Anschaulichkeit‘, ‚intensive Wirkung‘ und ‚positive Valenz‘ das Moment der Erwartung (expectation) eines Neuen hervor, wodurch die Aufmerksamkeit qua Einbildungskraft – gegenläufig zu dem, womit der Verstand beschäftigt ist – ganz auf das sich bewegende Objekt ausgerichtet ist. Stewarts Erklärungsmodell für die, verglichen mit der Schönheit von Farbe und Form, besonders intensive Wirkung der Bewegung beruht also im Kern auf einer gewissen Spannung in der insgesamt stimmigen, da anders kein Gefühl der Schönheit zulassenden Arbeitsweise der sinnlichen und der geistigen Erkenntnisvermögen. Darin liegt eine gewisse Ähnlichkeit zum freien Spiel in Kants optimal-schöner Anschauung von komplexer Mannigfaltigkeit, allerdings mit dem Unterschied, dass bei Kant, der meist von statischen Objekten ausgeht, die Dynamik keiner Objekteigenschaft, sondern einem Reflexionsprozess im Subjekt entspringt, das heißt bei ihm die herausfordernde Mannigfaltigkeit nicht aus einer Wahrnehmungsfolge abgeleitet wird, also nicht temporal ist. In Stewarts Begriff der Anmut (grace) trägt die kognitiv strukturierte Komponente des Interesses, die durch die Spannung von zärtlichem Verweilen und fasziniertem Erwarten emotional getönt ist, in das grundlegende Gefühl der Bewunderung (admiration) und des Vergnügens (pleasure) am Schönen eine bewegungsspezifische Wirkungskomponente hinein. Ähnlich wie bei Kants komplexer Mannigfaltigkeit wirkt die dynamische Mannigfaltigkeit in Stewarts Begriff der faszinierenden Anmut luststeigernd, das heißt optimal schön. 204 Ebd.: „[...] the memory dwelling fondly on the charm which has fled, while the eye is fascinated with the expectation of what is to follow.“

104

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Anschließend an die Erläuterung der Wirkungsqualität der Anmut gibt Stewart einige Beispiele für eine solche Schönheit der Bewegung. Dabei wird die dem Sehsinn bzw. der Einbildungskraft zugeordnete Erwartungskomponente der Faszination tentativ als möglicher Begriffsname zur Bezeichnung der spezifischen Gesamtwirkung von Anmut appliziert: Eine Faszination [fascination] oder etwas dem Ähnliches wird erlebt, wenn wir auf die Wellenbewegung einer Fahne im Wind schauen, oder auf die Windungen und Verschlingungen einer Rauchsäule oder die kurze Schönheit und Pracht von Feuerwerken inmitten der Dunkelheit der Nacht. Bei der menschlichen Figur jedoch resultiert die bezaubernde Kraft [enchanting power] der anmutigen Bewegung wahrscheinlich hauptsächlich aus dem lebendigen Ausdruck, den sie zeigt – ein immer wieder neuer und vielgestaltiger Ausdruck des Geschmacks und der geistigen Gewandheit.205

Stewarts Beispiele für anmutig bewegte Objekte sind ähnlich schon im Kapitel „Dignity and Grace“ in Henry Homes Elements of Criticism (1762) zu finden, dort freilich ohne jede Verbindung zu einer Wortform von „fascination“. Da Stewart schöne Bewegungen des Menschen im Unterschied zu schönen Bewegungen von unbelebten Objekten als einen „lebendigen Ausdruck“ auffasst, führt er neben Geschmack die bei Kant der genial-schönen Kunst vorbehaltene Kategorie des Geistes an: Für ihn ist die anmutige Bewegung eines Menschen ein „lebendiger Ausdruck“ auch eines geistigen, jedoch nicht unbedingt genialen Vermögens desselben, womit er in seiner begrifflichen Neufassung von Faszination als Erlebnisqualität von Anmut als einer Schönheit der Bewegung eine gewisse Verbindung zu geistiger Aktivität impliziert. Stewarts Beispiele für Faszinationserleben, insbesondere die Beschreibung der wehenden Fahne und der aufsteigenden Rauchsäule als Wellenbewegung und Windung, schließen nicht zuletzt an den Versuch des englischen Malers und Kunsttheoretikers William Hogarths an, den Begriff der Schönheit und den Begriff der Anmut durch spezifisch geformte Linien zu veranschaulichen. Hogarth, den Stewarts Essays einige Seiten nach der Einführung des Faszinationsbegriffs referieren, setzt sich in seiner Analysis of Beauty (1753) das Ziel, die allenthalben als unbegreifliches Geheimnis angesehene Wirkung des Schönen einer rationalen Klärung zuführen.206 Er versteht eine solche Analyse des Schönen als eine „Wissenschaft der Mannichfaltigkeit, so205 Ebd.: „A fascination, somewhat analogous to this, is experienced when we look at the undulations of a flag streaming to the wind; – at the wreathings and convolutions of a column of smoke; – or at the momentary beauties and splendours of fireworks, amid the darkness of night. In the human figure, however, the enchanting power of graceful motion is probably owing chiefly to the living expression which it exhibits; – an expression ever renewed and ever varied, – of taste and of mental elegance.“ 206 Hogarth beklagt im Vorwort, „Je ne sçai quoi“ sei ein modischer Ausdruck für Anmut geworden (Hogarth, W.: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden

2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison

105

wohl in der Form, als auch in der Bewegung“. Auch für Hogarth steigt der Grad der Schönheit proportional zur Mannigfaltigkeit der als Ganzheit konfigurierbaren Elemente. Er versucht diese unterschiedlichen Grade mannigfaltiger Ganzheit durch verschiedene Komplexitätsgrade (Mannigfaltigkeit) einer Liniengestalt (Einheit) zu veranschaulichen und zu erläutern. Dabei unterscheidet er zwischen einer Anschauungsganzheit der Form (Schönheit) und einer Anschauungsganzheit der Bewegung (Anmut). Die idealtypische Darstellung der Idee des Schönen als maximal komplexe Anschauungsganzheit der Form sieht Hogarth im 7. Kapitel der Analysis of Beauty in der (zweidimensionalen) Wellenlinie gegeben: Ihre Gestalt entspricht dem flächig interpretierten Anblick eines gleichmäßig um einen gläsernen Zylinder gewundenen Drahtes. Die idealtypische Darstellung der Idee der Anmut als maximal komplexe Anschauungsganzheit der räumlichen Bewegung sieht er in der (dreidimensional konzipierten) Schlangenlinie gegeben: Ihre Gestalt entspricht dem flächig interpretierten Anblick eines Drahtes, der um einen langsam spitz auslaufenden gläsernen Kegel gewunden ist. Im Unterschied zu älteren, in vielem ähnlichen Versuchen, die Idee der Schönheit zu veranschaulichen, unterscheidet Hogarth somit die gleichförmige Wellenlinie als Symbol der (zweidimensional vorgestellten) Schönheit (schöne Form) von der ungleichförmigen Schlangenlinie als Symbol der (dreidimensional vorgestellten) Anmut (schöne Bewegung). Beide Linientypen werden von ihm in graduellen Varianten veranschaulicht und diskutiert. Gemäß der „Wissenschaft von der Mannichfaltigkeit“ vermag die Schlangenlinie, optimaler als die Wellenlinie, wegen „ihrer zugleich auf verschiedene Seiten gerichteten wellenförmigen und gewundenen Figur“ und ihrer „so sehr verschiedentlichen Windungen (ob sie gleich nur eine einzelne Linie ist) mannichfaltige in sich haltende Dinge einschließ[en]“207. Im 10. Kapitel der Analysis behandelt Hogarth schließlich die Frage, wie sich die optimal-schöne, das heißt anmutige Schlangenlinie mit anderen wellenförmigen Schönheitslinien kombinieren lässt; etwa als eine Linie, die sich um ein an seinen spitz auslaufenden Enden gebogenes Horn windet. Diese aus Wellen- und Schlangenlinie kombinierte Linie bezeichnet er, dies wird meist übersehen, als erhaben, nämlich als das „Erhabene in der Form“208 („the sublime in form“). Hogarth versteht also, anders als etwa Edmund Burke oder auch Kant in Hinblick auf die Anschauung von Natur, in der Tradition der Diskussion erhabener Kunst das Verhältnis zwischen Schönem und Erhabenem nicht als Gegensatz-, sondern als Steigerungsverhältnis. Die Verbindung von Schlangen- und Wellenlinie wird für ihn zum Sinnbild höchster, nämlich erhabener Schönheit, die nicht Begriffe von dem Geschmack festzuhalten, übersetzt von C. Mylius. London 1754, S. 11). 207 Ebd., S. 24f. 208 Ebd., S. 35.

106

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

nur „die Einbildungskraft angenehm beschäftiget und das Auge ergetzet, sondern es auch zugleich von der Größe und Mannichfaltigkeit unterrichtet“209 und vor allem in menschlichen Bewegungen zum Ausdruck kommt. Eine solche, eine ungeheure Mannigfaltigkeit als Einheit konfigurierende Linie, die ihrer Gestalt nach der wehenden Fahne oder der aufsteigenden Rauchsäule in Stewarts Beispielen gleicht, wird von Hogarth auch als „Linie des Reizes“210 bezeichnet. Mit Stewarts 1810 im Rahmen seiner Reformulierung der Schönheitsdiskurse des 18. Jahrhunderts vorgenommener Begriffsbildung ließe sich die in einer solchen erhaben bewegten „Linie des Reizes“ veranschaulichte Wirkung als ästhetische Faszination bezeichnen. Ein Jahr nach den Philosophical Essays von Stewart erschien im Jahr 1811 eine Neuauflage der erstmals 1790 publizierten Essays on the Nature and Principles of Taste des schottischen Philosophen Archibald Alison. Diese Auflage war um einen zweiten Teil erweitert, der sich unter anderem mit der Schönheit und Erhabenheit von Bewegung und mit der Schönheit menschlicher Körperbewegungen beschäftigt. Alison gilt als einflussreicher Vertreter der Assoziationstheorie, ihn und Dugald Stewart verband eine jahrzehntelange enge Freundschaft.211 Alison führt, wie er an zahlreichen Beispielen aus Kunst und Natur sprachlich eindrucksvoll illustriert, das Gefühl des Schönen und des Erhabenen auf Imaginationsprozesse zurück, die durch Assoziationen in der Wahrnehmung bestimmter Objekte ausgelöst werden. Die wahrgenommenen Objekte selbst dienen dabei lediglich als Andeutung oder Spur („hint“), durch die die Einbildungskraft veranlasst wird, thematisch anschließbare Vorstellungen im Gedächtnis aufzufinden.212 Diese assoziierten Vorstellungen und nicht die wahrgenommenen Objekte selbst machen das jeweilige ästhetische Gefühl aus. Im deutlichen Unterschied zu Stewarts Konzeption der Anmut geht es bei Alison also darum, den Prozess der sinnlichen Wahrnehmung in einen Prozess der Imagination zu überführen, der freilich weiterhin auf Objekte ausgerichtet bleibt. Nicht jedoch die Objekte selbst sind schön oder erhaben, sondern die mit ihrer situativen Wahrnehmung und deren Emotionswerten verbundenen Vorstellungen, die wiederum aus persönlichen Erfahrungen, beruflichen Kenntnissen, aus Dichtung, Geschichte, Nationalgefühl, Natur und anderen Quellen stammen und den ästhetischen Erlebniswert des

209 Ebd., S. 36f. 210 Ebd., S. 37. 211 Macintyre, G.: Dugald Stewart. The Pride and Ornament of Scotland. Brighton 2003, S. 34. – Zur Assoziationstheorie Alisons vgl. die Diskussion in Lobsien, E.: Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik. München 1999, S. 77 – 89. 212 Alison, A.: Essays on the Nature and Principles of Taste. Edinburgh 1790, S. 42.

2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison

107

sinnlich Wahrgenommenen auf die eine oder andere Weise bestimmen.213 Der Assoziationsprozess muss spontan und frei verlaufen, er setzt einen Zustand der Kontemplation und der Ungestörtheit von zweckgerichteter Gedankentätigkeit voraus. Im Kapitel über die „Natur des Gefühls des Schönen und des Erhabenen“ in der Erstauflage seiner Essays on the Nature and Principles of Taste von 1790 beschreibt Alison diesen Prozess des freien Assoziierens in der Wahrnehmung von Objekten auf eine Weise, die an Faszinationserleben denken lässt. Sie weist zudem gewisse sprachliche Ähnlichkeiten mit Kants im selben Jahr publizierter Beschreibung der Wirkung von ästhetischen Ideen auf. Alison spricht nicht von Faszination, vielmehr verwendet er den konventionellen Begriff charm: In diesem entspannten Zustand des Träumens, wenn wir unseren Vorstellungen folgen anstatt sie anzuleiten, geschieht es tatsächlich, dass die tiefsten Gefühle der Schönheit und Erhabenheit spürbar werden; dass unsere Herzen mit Empfindungen anschwellen, die auszudrücken die Sprache zu schwach ist; und dass, in der Tiefe des Schweigens und Erstaunens, wir dem Zauber [charm], der uns fesselt, das schmeichelhafteste Zeichen unserer Zustimmung entrichten.214

In ästhetischer Einstellung, dem „entspannten Zustand des Träumens“, lässt das Subjekt eine gewisse Aufgabe der Selbstkontrolle bewusst zu, es unterwirft sich der Führung durch Vorstellungen (conceptions) der Einbildungskraft, was jedoch mit einer psychischen und geistigen Aktivität einhergeht. Diese Erfahrung einer Bezauberung oder eben Faszination ist nicht nur mit tiefen Empfindungen und Bewegungen des Gemüts und mit Staunen (astonishment) verbunden, sondern fesselt die Aufmerksamkeit und wird als außerordentlich lustvoll erlebt. Diese als Gefühl der Schönheit und Erhabenheit bezeichneten Empfindungen lassen sich begriffssprachlich nicht adäquat wiedergeben. Einige Seiten zuvor diskutiert Alison am Beispiel einer als schön qualifizierten abendlichen Herbstlandschaft die Ursache für das Entstehen spezifischer ästhetischer Empfindungen. So kann der Anblick jener Herbstlandschaft, die von der zwischen dunklen Wolkenformationen untergehenden Sonne derart prächtig angestrahlt wird, dass sie „vielleicht besser als jede andere in der Welt

213 Roberts, H.: ‚Trains of Fascinating and of Endless Imagery‘. Associationist Art Criticism Before 1850, in: Victorian Periodicals Newsletter 10 (1977), 3, S. 91 – 105, hier S. 93. 214 „It is then, indeed, in this powerless state of reverie, when we are carried on by our conceptions, not guiding them, that the deepest emotions of beauty or sublimity are felt, that our hearts swell with feelings which language is too weak to express, and that in the depth of silence and astonishment we pay to the charm that enthrals us, the most flattering mark of our applause“ (Alison: Essays,1790, S. 42; deutsche Übersetzung hier und im Folgenden A.D.).

108

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

geeignet ist, die Imagination mit Entzücken zu erfüllen“215, durch Nebenumstände in der Wahrnehmung, etwa dem Geläut einer Abendglocke, in ihrem Gefühlseindruck verstärkt oder modifiziert werden. Durch diese Nebenumstände werden „zusätzliche Vorstellungen, die auf diese Weise der Imagina­tion suggeriert werden“216, evoziert. Zwar seien diese im Fall des Abendgeläuts in der Herbstlandschaft Bilder der Melancholie und Trauer, doch tragen sie in angenehmer Weise dazu bei, „mit jenem feierlichen und besinnlichen Zustand des Geistes übereinzustimmen, der beinah unwiderstehlich durch diese bezaubernde Szenerie [charming scene] erzeugt wird“217. Auch hier ist also sinnliche Wahrnehmung direkt mit geistiger Tätigkeit verbunden. Einzelne Wahrnehmungselemente innerhalb einer Anschauung vermögen, insofern sie mit spezifischen Assoziationen verbunden sind, dem ästhetischen Gesamteindruck einen besonderen emotionalen und geistigen Erlebnisgehalt zu geben. In der im Jahr 1815 publizierten Auflage von Alisons Essays wird wie in allen folgenden innerhalb dieser ausführlichen Beschreibung eines Assoziationsund Imaginationsprozesses lediglich ein Wort geändert: Statt als „charming scene“ wird nun die auf einzigartige Weise die Imagination stimulierende abendliche Herbstlandschaft als „fascinating scene“ bezeichnet. Diese durch den Austausch des Wortes markierte sprachliche Verbindung von hohem Imaginationspotential und Faszination ist, wie der Blick in das Schlusskapitel des 1811 erschienenen zweiten Teils der Essays erkennen lässt, kein Zufall, sondern nähert sich einer begriffsförmigen Verwendung an. Seine Gesamtkonzeption der assoziativen Verknüpfungen, die durch verschiedene Landschaftssituationen evoziert werden, zusammenfassend, verwendet Alison das Wort ‚fascinating‘, um die Wirkung einer schier endlosen Imaginationsdynamik zu bezeichnen, die ausdrücklich und in starkem Maße eine geistige Beschäftigung mit Ideen der Vernunft einschließt: Keine dieser Erscheinungsformen von Landschaft ist ungeeignet, in uns sittliche Gefühle zu erwecken und uns, wenn einmal der Schlüssel zu unserer Einbildungskraft getroffen ist, zu faszinierenden und endlosen Vorstellungsreihen [trains of fascinating and of endless imagery] zu führen; und, im genussvollen Erleben derselben, unsere Brust entweder mit Gedanken von geistiger Vollkommenheit zu erleuchten oder sie in Wunschvorstellungen des sittlich Guten zu schmelzen.218 215 Ebd., S. 30: „[...] which serves perhaps better than any other in the world, to satiate the imagination with delight“. 216 Ebd.: „Is it not in the additional images which are thus suggested to the imagination? indeed, of melancholy and sadness, but which still are pleasing, and which serve most wonderfully to accord with that solemn and pensive state of the mind which is almost irresistibly produced by this charming scene“. 217 Ebd. 218 „There is not one of these features of scenery which is not fitted to awaken us to moral emotion; to lead us, when once the key of our imagination is struck, to trains of fas-

2.3   Reiz und Imagination: Ästhetische Faszination bei Stewart und Alison

109

Ungeachtet der kategorialen Zuordnung der abendlichen Herbstlandschaft zum Schönen werden die beiden referierten Beschreibungen Alisons von faszinierender Imagination durch Begriffe und Metaphern dominiert, die dem Bereich des Erhabenen der Gedanken in der Tradition Ps-Longins zugeordnet werden können: Inadäquatheit begrifflicher Sprache, Schweigen, Erstaunen, Erweckung, Feierlichkeit, unwiderstehliche Wirkung und ein Zustrom sittlicher Gefühle und vernunftbezogener Gedanken. Ausdrücklich wird in der letztgenannten Passage das erhabene Erleben der „faszinierenden und endlosen Vorstellungsreihen“ als lustvoll charakterisiert. Faszinierend ist, so lässt sich Alisons Begriffsgebrauch resümieren, der situativ gestimmte Anblick eines Objektes dann, wenn er den Betrachter in einem kontemplativen Zustand spontan zu einem anhaltenden und freien Assoziationsprozess veranlasst, der ihn mit vielfältigen Vorstellungen und Gedanken erfüllt und bewegt. Faszination steht somit für das lustvolle Erleben einer starken assoziativen Imaginationsaktivität. In diesen konzeptionellen Rahmen lassen sich auch die wenigen weiteren Passagen in Alisons Essays einordnen, in denen Wortformen von fascinate verwendet werden: um die Wirkung menschlicher Gesten auf der Bühne oder um die erhabene Würde der Tragödien Corneilles, die das Leben nicht nachahmen, sondern die Einbildungskraft anregen und Leidenschaften erwecken wollen, zu charakterisieren.219 Dies gilt auch für die schon in der Auflage von 1790 enthaltene Anmerkung hinsichtlich einer zu düsteren und melancholischen Gedanken neigenden Charakterdisposition: In dieser Disposition selbst liege nämlich ein „gewisser geheimer und faszinierender Zauber“220 verborgen, da aller Schmerz, den solche Gedanken mit sich bringen, durch das Vergnügen an der „Wirksamkeit des Geistes selbst“, die sich in solchen Gedanken zeigt, mehr als kompensiert werde. Auch hier bezeichnet Alison mit „fascinating“ ein lustvolles Erleben einer starken Imaginations- und Gedankentätigkeit. Betrachtet man die Verwendung von Formen des Verbs fascinate in der ersten und zweiten Auflage von Alisons Essays on the Nature and Principles of Taste (1790, 1811) in einem Zusammenhang mit Stewarts Begriff ästhetischer Faszination in seinen Philosophical Essays (1810) und mit Kants epistemologischer Faszination in der Anthropologie in pragmaticinating and of endless imagery; and in the indulgence of them to make our bosoms either glow with conceptions of mental excellence, or melt in the dreams of moral good.“ (Alison, A.: Essays on the Nature and Principles of Taste. Edinburgh 1811, S. 437; hier und im Folgenden deutsche Übersetzung A.D.). 219 „the most approved and fascinating gestures“; „a tone of commanding, and even of fascinating dignity“ (Alison: Essays, 1811, S. 375 u. 156). 220 Ebd., S. 164: „we have still a belief that there is some secret and fascinating charm in the disposition which they indulge, and that, in this operation of mind itself, they find a pleasure which more than compensates for all the pain which the character of their thoughts may bring“.

110

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

scher Hinsicht (1798) sowie mit seiner unbezeichnet gebliebenen Konzeption ästhetischer Faszination in der Kritik der Urteilskraft (1790), lässt sich die Zeit um 1800 als derjenige Zeitraum bestimmen, in dem der bis dato aus religiösen oder erkenntnistheoretischen Gründen negativ konnotierte Begriffsname ‚Faszination‘ erstmals aus dem Diskursbereich der Magie und Psychologie in den Diskursbereich der Ästhetik übertragen und dabei weitgehend aufgewertet wurde. So offen und tentativ diese neue begriffsförmige Verwendung der Metapher ‚Faszination‘ in ästhetischer Hinsicht bei Stewart und Alison auch noch ist, lassen sich doch, auch in Rücksicht auf Kants Kritik der Urteilskraft, einige Merkmale festhalten: Ästhetische Faszination steht in Zusammenhang mit Anschauung oder Imagination, mit einem dynamischen Prozess und mit einer intensiven Vorstellungs- und Gedankentätigkeit, die andauernd auf die stimulierende Wahrnehmung eines Objektes ausgerichtet ist. Das Erleben ästhetischer Faszination ist hochgradig lustvoll, es verbindet Merkmale des Schönen und des Erhabenen.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe Wenn die Darstellung der beginnenden konzeptionellen Profilierung und begrifflichen Fixierung einer bestimmten ästhetischen Wirkungsqualität als Faszination im Anschluss an Kant, Stewart und Alison abschließend auf einige Passagen bei Johann Wolfgang Goethe eingeht, ist damit ein Wechsel vom philosophischen zum literarischen Diskurs verbunden. Ebenso wenig wie Kant, von seiner Kreutzfeld-Replik abgesehen, verwendet Goethe das Wort ‚Faszination‘ in ästhetischer Hinsicht. Allerdings findet sich in seinem literarischen Werk und in den Briefen eine Reihe von Beschreibungen intensiver ästhetischer Wirkung, die als Faszinationserleben angesehen werden kann. 2.4.1  Sinnenschein und zwiespältige Semantik: Rosalien-Episode Im zweiten Teil der Italienischen Reise, der 1817 und damit dreißig Jahre nach dem einschneidenden biographischen Erlebnis erschien, berichtet Goethe unter dem 6. April 1787 von einem Besuch des Wallfahrtsortes der heiligen Rosalie, der Schutzpatronin von Palermo. Der Andachtsraum der sizilianischen Heiligen befindet sich in einer unverkleideten Felsgrotte des Monte Pelegrino, die zugleich als Chorraum einer vor der Höhle errichteten Kirche fungiert. Goethes Beschreibung lässt seine Ich-Figur durch die doppelte Sichtschranke einer Messingverzierung und eines dahinter angebrachten fein ziselierten Drahtgitters auf die Marmorstatue der Heiligen vor einem Altar blicken.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

111

Durch das feine Drahtgitter und die schwache Beleuchtung ist die Statue der aufgestützt liegenden Heiligen nur undeutlich zu erkennen. Umso mehr wird, wie bei einem Schleier, die Imagination des männlichen Betrachters angeregt: Ich sah durch die Öffnungen eines großen, aus Messing getriebenen Laubwerks, Lampen unter dem Altar hervorschimmern, kniete ganz nahe davor hin und blickte durch die Öffnungen. Es war inwendig noch ein Gitterwerk von feinem geflochtenen Messing-Draht vorgezogen, so daß man nur wie durch einen Flor den Gegenstand dahinter unterscheiden konnte. Ein schönes Frauenzimmer erblickt’ ich bei dem Schein einiger stiller Lampen.221

Die „wie durch einen Flor“ durch die doppelte Sichtschranke in einen intimen Innenraum blickende Ich-Figur hält die Statue für eine wirkliche, sich unbeobachtet wähnende Frau. Diese scheint, die „Augen halb geschlossen“, weniger zu schlafen als in unbekümmert-lasziver Haltung dazuliegen. Das, mit Kant zu sprechen, Begehrungs­vermögen des männlichen Betrachters manipuliert – begünstigt von dem Schlüsselloch-Blick durch das Drahtgitter und von der „schimmern[den]“ Beleuchtung – die sinnliche Erkenntnis der „so gefällig und natürlich gearbeitet[en]“ Statue, so dass es zu einer Sinnestäuschung im Sinne von Kants Begriff der epistemologischen Faszination kommt. Der Urteilswiderspruch zwischen dem Wissen um die Heiligenstatue und dem kontradiktorischen Wahrnehmungsbild eines „schönen Frauenzimmers“ fesselt die Aufmerksamkeit: „Sie lag wie in einer Art von Entzückung, die Augen halb geschlossen, den Kopf nachlässig auf die recht Hand gelegt, die mit vielen Ringen geschmückt war.“222 Kurz darauf kippt jedoch diese von Leidenschaft genährte wirkliche Sinnestäuschung in das dominierende Bewusstsein der Künstlichkeit des Angeschauten und damit in den vernunftkontrollierten Modus einer ästhetischen Illusion. Dies wird literarisch durch den Tempuswechsel markiert, der das Wahrnehmungs-„Bild“ von einst von der Beschaffenheit der Statue unterscheidet: „Ich konnte das Bild nicht genug betrachten; es schien mir ganz besondere Reize zu haben. Ihr Gewand ist aus einem vergoldeten Blech getrieben“223. Die Illusion beruht, im Unterschied zum Urteilsdilemma der epistemologischen Faszination, auf einem durchschauten Schein, das heißt auf dem Als-Ob-Bewusstsein des Irrealis: „man glaubt sie müßte Atem holen und sich bewegen“. Der durchschaute Schein der Illusion führt nicht zum Abbruch des Imaginationsspiels, sondern verlängert dieses zu einer an sich lustvollen ästhetischen Faszination, die den Betrachter über viele Stunden in der Felsengrotte festhält: „ich konnte mich nur mit Schwierigkeit 221 Goethe, J. W.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. H. Birus und F. Apel. Frankfurt a. M. 1985 – 2013, hier Abt. 1, Bd. 15,1. Italienische Reise, hg. von Ch. Michel und H.-G. Dewitz. Frankfurt a. M. 1993, S. 256f. 222 Hier und im Folgenden: Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 257. 223 Hervorhebungen A.D.

112

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

von diesem Orte losreißen“. Die ästhetische Faszination geht nicht so sehr von der täuschend nachgeahmten, die Imagination stimulierenden Statue hinter dem verhüllenden „Flor“ aus „Messing-Draht“, sondern von dem semantischen Kontrast zwischen dem heiligen Ort und der erotischen Phantasie aus: „Ich überließ mich ganz der reizenden Illusion der Gestalt und des Ortes“. Das damit verbundene Gedankenspiel deutet Goethe durch weitere Kontraste an: dem Kontrast zwischen dem verklungenen „Gesang der Geistlichen“, dem rieselnden Wasser und der „große[n] Stille“ im Raum, zwischen dem „Flitterputz des [...] Gottesdienstes“ und „seiner natürlichen Einfalt“, zwischen der „große[n] Reinlichkeit“ und der „wilden Höhle“. Ästhetisch faszinierend ist also nicht ein ungeklärter Status des angeschauten Objekts als Statue oder als Frau, sondern der mit dem durchaus geklärten Objekt verbundene illudierende Widerstreit von Vorstellungen, der aus dem mit einem „Lilienstengel“ geschmückten „schöne[n] Bild der Heiligen“ immer wieder die begehrte „Gestalt der schönen Schläferin hervorbrachte“. Die zwiespältige Semantik des Sinnenscheins wird durch die lautliche Parallele der „schönen Schläferin“ zum amourösen Topos der schönen Schäferin in Goethes Darstellung selbst durchscheinend verhüllt dargestellt. Die faszinierende Zweideutigkeit der Semantisierung des quasi verschleierten Anblicks der Heiligen-Statue hat eine Parallele in der Figur der Ottilie in Goethes Roman Wahlverwandtschaften von 1809. Gerade die kindliche Scham Ottilies wirkt aus männlicher Sicht unwiderstehlich, wie Walter Benjamin unterstreicht: „Denn eben das, was als ein Zeichen innerer Reinheit gedacht wird, ist der Begierde das Willkommenste.“224 Benjamin sieht diese Zweideutigkeit Ottilies im christlichen Reinheitssymbol der Lilie reflektiert. Die weiße Farbe und strenge Form ihres Blütenkelches stehen in einem Gegensatz zum betörenden Duft, den die Lilie verströmt. Goethes Darstellung des Faszinationserlebens in der Italienischen Reise belässt es bei einem, mögliche Gründe zur Scham andeutenden, Gedankenstrich und der offenen Referenz des „genug“.225 Die „Gestalt der schönen Schläferin […], auch einem geübten Auge noch reizend, – genug, ich konnte mich nur mit Schwierigkeit von diesem Orte losreißen“226. Deutlicher, wenngleich in der literarischen Darstellung der erlebten Faszination weniger adäquat, ist Goethes 1788 anonym publizierter Aufsatz Rosaliens Heiligthum. Goethe spricht hier mit der Sinnestäuschung angesichts der Statue einen daraus folgenden möglichen Anlass zu Scham an: „Daß ich also nach diesem Zeugniß [eines französischen Berichts über die täuschende Wirkung der Statue] mich des Eindrucks, den jenes leblose Bild auf 224 Benjamin, W.: Goethes Wahlverwandtschaften, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1977, S. 63 – 135, hier S. 110. 225 Kim, H.-J.: Der Schein des Seins. Zur Symbolik des Schleiers in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Tübingen 2005, S. 175f. 226 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 258.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

113

mich gemacht, nicht schämen darf.“227 Dass der scheinbar lebendige Eindruck der Statue zugleich ein höchst erotischer ist, wirkt gerade in seiner Diskrepanz zur Heiligkeit von Ort und Person ästhetisch faszinierend. 2.4.2  Geheimnis, Problem, Symbol Die Faszination des Blicks durch das Drahtgitter und der andeutenden Schreibweise Goethes beruhen nicht auf einem Unvermögen, zu einer sicheren Erkenntnis über das Gesehene bzw. Gemeinte zu kommen (epistemologische Faszination), sondern auf dem Vergnügen, mit dem Sinnenschein des grundsätzlich Erkannten oder des frei von Erkenntnisnotwendigkeit Seienden das eigene Vermögen zur und in der semantischen Strukturierung diverser Vorstellungen und Gedanken zu erleben. Bedingung der Möglichkeit, derart ästhetische Faszination im spielenden Schein der Vorstellungen erleben zu können, ist eine anschauliche Undeutlichkeit oder semantische Diskrepanz im Sinne von begriffsprachlicher Nichtexpliziertheit oder Nicht­explizierbarkeit. Der Flor und das geflochtene Gitterwerk sind wie der Schleier der Isis in Kants Kritik der Urteilskraft228 visuell strukturierte Symbole solcher imaginationsstimulierender schöner Undeutlichkeit, Mehrdeutigkeit oder Diskrepanz, denen als literarische Darstellungsverfahren in Goe­ thes Rosalien-Episode etwa der Gebrauch von Metaphern, ein elliptischer Stil, besagte Klangassoziation oder der Gedankenstrich entsprechen. Das ästhetische Faszination motivierende Vergnügen kann, wie in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts weithin der Fall, auf das Erleben einer geistig-psychischen Aktivierung infolge von eine solche Aktivierung herausfordernden Darstellungseffekten zurückgeführt werden. Dabei stehen, je nach theoretischer Basis, eher prozessual ausgerichtete Erklärungsmodelle wie die Reflexionslust bei Kant neben eher resultativ ausgerichteten Modellen wie Sulzers Lust an der Auflösung: Der Ursprung alles Vergnügens ist in der Thätigkeit unsers Geistes zu suchen […]. Diese empfinden wir nur bey Hindernissen, bey gegen einander laufenden Vorstellungen, beym Streit der Elemente, die auf uns würken. Da bemüht sich der Geist die Ordnung wieder herzustellen: je schneller und vollkommener dieses geschieht, wenn nur vorher die Anstrengung aufs höchste gestiegen ist, je größer ist das Vergnügen.229

Resultative Erklärungsmodelle implizieren zumeist, wie bei Sulzer, einen Ergebnisdeterminismus: Es geht darum, dass mehr oder weniger „die Ord227 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 18, S. 201. 228 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 316; vgl. auch Kapitel 2.1. 229 Artikel „Auflösung“ in Sulzer: Allgemeine Theorie, Bd. 1, S. 86.

114

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

nung wieder hergestellt“ wird; prozessuale Modelle sind ergebnisoffen bzw. ergebnis­los. Dem resultativen Modell entspricht das Rätsel, dem prozessualen das Geheimnis. Ein Rätsel lässt sich durch „Scharfsinnigkeit“ lösen: Das „Räthselhafte in einer Schrift“, so Kant, ist „dem Leser nicht unwillkommen: weil ihm dadurch seine eigene Scharfsinnigkeit fühlbar wird, das Dunkele in klare Begriffe aufzulösen“230. Das Geheimnis hingegen ist rezeptionsästhetisch prinzipiell offen, es lässt zahllose Schematisierungen zu, ohne eine zu prädestinieren. Das Geheimnis lässt sich somit nicht objektiv lösen, sondern nur, subjektiv und notwendig parikular, vollziehen.231 Es provoziert beim Rezipienten die Intention auf eine Lösung, ohne eine wirklich abschließende Lösung und damit Ab-Lösung zuzulassen.232 Insofern es dadurch Aufmerksamkeit anhaltend bindet und dem Geist beständig Beschäftigung verschafft, vermag nur das Geheimnis im eigentlichen Sinne zu faszinieren. Walter Benjamin versteht die Semitransparenz des Schleiers, damit zugleich des Flors und des feinen Gittergeflechts, als konzeptionelle Metapher des Geheimnisses.233 Das Geheimnis sei das „Unlösbare“234, es bilde, hier folgt er dem Symbolbegriff des späten Goe­ the, den „Kern des Symbols“235. Wenn Goethe das Symbol als eine uneinholbare und damit „unendlich wirksam[e]“ Versinnlichung einer Idee versteht, nähert er sich Kants Begriff der ästhetischen Idee – und damit dem diesem impliziten Begriff der ästhetischen Faszination – an: Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt, und selbst in allen Sprachen ausgesprochen doch unaussprechlich bleibe.236 230 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 137. 231 Benjamin, W.: Über das Rätsel und das Geheimnis, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 17 – 18, hier S. 18. 232 Benjamin nennt in seiner Metaphysik des Schönen die Ablösung des Geheimnisses „Offenbarung“ (Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 130). 233 „Die Allegorie kennt viele Rätsel, aber kein Geheimnis. Das Rätsel ist ein Bruchstück, welches mit einem anderen Bruchstück, das zu ihm passt, ein Ganzes macht. Das Geheimnis sprach man seit jeher im Bilde des Schleiers an, der ein alter Komplize der Ferne ist.“ (Benjamin, W.: Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien. Gesammelte Schriften. Bd. 5,1, hg. von R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1982, S. 461). 234 Benjamin: Über das Rätsel, S. 17. 235 Ebd. 236 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 13, S. 207 (Hervorhebungen A.D.). Zu Goe­ thes Bestimmung des Symbols ist seine komplementäre Bestimmung der Allegorie mitzulesen, die wirkungsästhetisch als leere Form ausgebremst wird. Sie ist, im Unterschied zur inspirierenden Kraft des Symbols, als bloße Illustration der Idee nicht faszinierend: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei“.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

115

Allerdings bleibt in Goethes metaphorischer Rede von der Verwandlung der Idee in ein unendlich wirksames Bild, im Unterschied zu Kants bloß analogischer Relation zwischen Idee und Anschauung, unbestimmter, wie beide sich zueinander verhalten. Goethes literarische Verwendung von Symbolen zeigt, dass bei ihm der Sinnlichkeit der Darstellung selbst, das heißt der geformten Materialität des jeweiligen Darstellungsmediums, ein weitaus größeres semantisches Gewicht zukommt als in dem bloß verstandesmäßigen Schematisierungs-Prozess der in Analogie setzenden Darstellung bei Kant.237 Anders als in dessen Konzeption des reinen Reflexionsurteils hat bei Goethe die Sinnlichkeit der Empfindung teil an der Bedeutsamkeit des Angeschauten. In Benjamins Abhandlung Goethes Wahlverwandtschaften (1924/25) wird in Abgrenzung zum Sinnenschein als Betrug eine Metaphysik des Scheins der Schönheit als Aufscheinen der Versöhnung entworfen. Sich implizit und explizit an Kants ästhetische Idee als einer „Lehre, daß ein Relationscharakter die Grundlage der Schönheit sei“238, anlehnend, kulminiert sie im Begriff des Geheimnisses; mit diesem entfernt sich Benjamin von Kant. Als ein Geheimnis, in dem das Schöne zur Anschaubarkeit gelangt, wird das Kunstwerk wirkungs­ ästhe­tisch „unausweichlich“: Mag daher Schein sonst überall Trug sein – der schöne Schein ist die Hülle vor dem notwendig Verhülltesten. Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle. [...] Niemals noch wurde ein wahres Kunstwerk erfaßt, denn wo es unausweichlich als Geheimnis sich darstellte.239

Die Anschauung des Schönen als relationale Einstimmung im Schein, deren „göttliche[r] Seinsgrund“ im Geheimnis liege, sei „nicht die überflüssige Verhüllung der Dinge an sich, sondern die notwendige von Dingen für uns“240. Das Geheimnis, das die Dinge für uns als verhüllte nicht nur anschaubar, sondern „unausweichlich“ macht, ist eine ebenso dramatische wie ontologisch generalisierende Umschreibung dessen, was fasziniert. Die Faszination des unausweichlichen Geheimnisses verbindet (semantische) Defizienz und (sinnliche) Attraktivität. Weder die – dem Schleier gleichende – anschauliche Hülle 237 Vgl. Kapitel 2.1. Eine Ausnahme bildet das Isis-Beispiel in Paragraph 49 der „Kritik der Urteilskraft“, wobei aber Kant gerade auf das sprachliche Darstellungsverfahren der „Aufschrift über dem Tempel“ nicht eingeht. 238 Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 130. Mit „Relationscharakter“ meint Benjamin offenbar zunächst den vermögens-„psychologischen“ der stimmig spielenden Erkenntnisvermögen; er intendiert aber eine „sehr viel höhere Sphäre“ dieses Relationscharakters, die dem nach Kant nur analogisch und näherungsweise darstellbaren Verhältnis von Anschaulichkeit und Vernunftidee im genial-schönen Kunstwerk (vgl. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 314) entsprechen dürfte. 239 Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 130. 240 Ebd.

116

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

(Sinnlichkeit) noch das unanschauliche Verhüllte (Idee) macht das Schöne eines Kunstwerkes aus; es ist vielmehr das Verhältnis beider im Schein des Schönen, das heißt als Potential von Versöhnung. Das Schöne macht, so Benjamin, nicht die Idee selbst sinnlich erlebbar, sondern die Unerreichbarkeit, das heißt das Geheimnis der Idee. Im Unterschied zu Kant wählt Benjamin somit zur Bezeichnung dieser spezifischen Wirkungsqualität des Schönen einen eigenen Begriff: nicht den auch möglichen der Faszination, sondern, weniger rezipienten- als objektbezogen perspektivierend, den Begriff des Geheimnisses. Es gibt keine Wahrheit des Kunstwerkes außerhalb des Scheins, das heißt außerhalb der Sinnlichkeit der Darstellung, mithin: außerhalb des Geheimnisses. Das Geheimnis als „Kern des Symbols“241 fasziniert als Anschauung des Schönen: Es ist rezeptionsästhetisch „unausweichlich“, weil es, im Unterschied zum Rätsel, ein AnSich-Selbst-Vollziehen erfordert. Trotz der Nähe zu Kants Begriff der ästhetischen Idee – etwa wenn Benjamin Goethes Einsicht in die „Unenthüllbarkeit“ zitiert: „‚Die Schönheit kann nie über sich selbst deutlich werden‘“242 – folgt der Mehr-Hamann-als-Kant-Leser Benjamin in seiner Auslegung des Symbol-Begriffs des Mehr-Hamann-als-Kant-Lesers Goethe mit dem Begriff des Geheimnisses stärker Hamann als Kant.243 Das Geheimnis „echter“ Kunst lässt sich für Benjamin analog dem „Ideal des Problems“ in der Philosophie verstehen. Kunstwerke sind „Gebilde, die, ohne Frage zu sein, zum Ideal des Problems die tiefste Affinität haben“244: Wenn es also erlaubt ist zu sagen alles Schöne beziehe sich irgendwie auf das Wahre und sein virtueller Ort in der Philosophie sei bestimmbar, so heißt dies, in jedem wahren Kunstwerk lasse eine Erscheinung von dem Ideal des Problems sich auffinden.245

Benjamin weist darauf hin, dass Goethe 1797 in der literarischen Aufbereitung seiner Italienreise den Aufmerksamkeitsfokus vom „Merkwürdige[n]“ auf das „Bedeutende“ des Erlebten zu lenken begann, nachdem er, wie Goethe selbst schreibt, bemerkt habe, dass zu seiner Verwunderung auch Gegenstände, die an sich wenig poetisch seien, eine „gewisse poetische Stimmung in ihm geweckt hätten“.246 Dies veranlasste ihn, so Goethe weiter, sie als „eigentlich 241 Benjamin: Über das Rätsel, S. 17. 242 Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 132. 243 Die beiden zentralen sprachtheoretischen Aufsätze Benjamins „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ und „Die Aufgabe des Übersetzers“ sind stark durch J. G. Hamanns Sprachtheologie inspiriert; vgl. dazu im Folgenden Kapitel 4.4. 244 Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, S. 108. 245 Ebd., S. 109. 246 Ebd., S. 89.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

117

symbolisch“ aufzufassen. Seinen eigenen Begriff des Geheimnisses vorbereitend, reformuliert Benjamin dieses Verständnis Goethes vom Symbolischen als von etwas, „worin die unauflösliche und notwendige Bindung eines Wahrheitsgehaltes an einen Sachgehalt erscheint“247. Goethe verleiht in seiner dem Modell des Bildungsromans verpflichteten Italienischen Reise der Marmormaske der Medusa am Palast Rondanini in Rom die Faszinationskraft eines Symbols (der Faszination). In der mythologischen Tradition ist das Haupt der Medusa ein zentraler Topos nicht nur des Schrecklichen, sondern auch der magischen Faszination, da der Anblick des grauenvoll starrenden Gesichtes den Betrachter zu Stein erstarren lässt.248 Der Topos nimmt auch in der Diskussion der anthropologischen Grundlagen psychischer und ästhetischer Phänomene während des 18. Jahrhunderts eine prominente Position ein.249 In einer programmatischen Umdeutung der passivierenden und schädigenden Wirkung des Hauptes der Medusa in ein Symbol ästhetischer Faszination beschreibt Goethe die semantische Diskrepanz, die sich ihm im Anblick des zugleich lebensecht erscheinenden und tot starrenden Gesichtes bot. Dieser Anblick habe sich über Jahrzehnte immer wieder anregend auf seine Gedankentätigkeit ausgewirkt. Entscheidend für das Geheimnis der Medusenmaske sei die Materialität des Darstellungsmediums, der „Zauber des Marmors“250, das „edle Halbdurchsichtige des gilblichen, der Fleischfarbe sich nähernden Steins“. Dies alles gehe, wie Goethe anmerkt, selbst bei einem guten Abguss verloren; in Gips wirke sie nur „tot“. In der Druckfassung der Italienischen Reise (1816/17) heißt es anlässlich des ersten römischen Aufenthaltes über die Medusenmaske, dass in ihrer „hohen und schönen Gesichtsform, über Lebensgröße, das ängstliche Starren des Todes unsäglich trefflich ausgedrückt“251 sei. Schon da rechnet der Ich-Erzähler die Plastik zu jenen „besten Sachen“ der Stadt, deren Eindruck sich bei wiederholter Betrachtung immer mehr steigere: weil das „erste Staunen sich in ein Mitleben und reineres Gefühl des Wertes der 247 Ebd. 248 Zur Motivtradition und Ästhetik des Medusa-Effekts siehe Baumbach: Medusa’s gaze. 249 Vgl. etwa Moses Mendelssohns Bemerkung über den Reiz des Riskanten und Gefährlichen: „Die Gefahr selbst hat einen solchen Reiz für den Menschen, daß ein jeder sich bestrebt, einen geringern, oder größern Grad derselben in der Nähe kennen zu lernen. [...] Allein auch wo die Gefahr unüberwindlich ist, hat sie noch immer etwas Reizendes für die Seele, und ich glaube, wenn [...] das Haupt der Medusa zu sehen wäre; so würde zwar ein jeder die Gefahr scheuen, und die Augen wegwenden, aber sicherlich einen mächtigen Reiz zu widerstehen, und gleichsam mit sich selbst zu kämpfen haben.“ (Mendelssohn, M.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von M. Brocke, D. Krochmalnik, E. J. Engel u. a., Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 387f.). 250 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 162. 251 Ebd., S. 161.

118

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Sache auslöst“. Anlässlich seiner Wiederbegegnung mit der Medusenmaske auf der Rückreise heißt es über deren Faszinationskraft: „ein wundersames Werk, das, den Zwiespalt zwischen Tod und Leben, zwischen Schmerz und Wollust ausdrückend, einen unnennbaren Reiz wie irgend ein anderes Problem über uns ausübt“252. Im Unterschied zu einigen zuvor beschriebenen Landschaftsaquarellen, deren „zauberisch[e]“253 Wirkung von der „atmosphärischen Beleuchtung“ ausgeht, beruhe die gravierendere Wirkung der Medusenmaske gerade nicht auf dem Illusionseffekt der mimetischen Darstellung selbst, sondern auf einer in dieser aufscheinenden, somit sinnlich gebundenen Mehrdeutigkeit. Diese entspricht dem für das Spätwerk Goethes charakteristischen „Offenhalten des Phänomenalen“254. Als schließlich der 76-jährige Goethe in Weimar die Übereignung eines Abgusses der „unvergleichlichen Meduse“255 erwartet, schildert er dem Freund Carl Friedrich Zelter bewegt seine Faszination: Diesen Anblick, der keineswegs versteinerte sondern den Kunstsinn höchlich und herrlich belebte, entbehrte ich nun seit vierzig Jahren, wie so manches andere Große und Schöne. [...] sage nur soviel: daß ich durch diese sehnlich gehoffte Gegenwart über die Maßen glücklich bin und nur wünschte daß uns beiden verliehen wäre sie zusammen [zu] betrachten.256.

Goethes Vergleich des phänomenalen „Zwiespalts“ der Medusenmaske mit einem „unnennbaren Reiz wie irgend ein anderes Problem“257 ist nicht zufällig; dies zeigt eine Parallelstelle in Wilhelm Meisters Wanderjahren (1821/29), welche die Erfahrung des reizenden „Zwiespalt[s]“ intellektuell, als das „tätige Leben“ im Denken, fasst: „Man sagt: zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig tätige Leben, in Ruhe gedacht.“258 Indem hier eine Ein-Stimmung nur negativ, als problema, als das Ganze eines unabschließbaren Beschäftigungsprozesses („ewig tätige Leben, in Ruhe ge­ dacht“) bestimmt wird, zeigt sich jene konzeptuelle Verwandtschaft zwischen dem Geheimnis des Schönen und dem Problem, auf die Benjamin hinweist. Dabei ist die Faszinationskraft des Bildlich-Anschaulichen größer als die des 252 Ebd., S. 586 (Hervorhebung A.D.). 253 Ebd., S. 585. 254 Breithaupt, F.: Jenseits der Bilder. Goethes Politik der Wahrnehmung. Freiburg i. B. 2000, S. 78. Ernst Osterkamp (Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991, S. 226) unterstreicht das Misstrauen des späten Goethe gegenüber dem Anspruch, das Angeschaute in seiner Konkretheit adäquat in Worte fassen zu können. 255 Brief Goethes an den Kronprinzen Ludwig von Bayern vom 6. 7. 1825 (Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 10, 1, S. 285). 256 Brief Goethes an Zelter vom 21. 1. 1826 (ebd., S. 354). 257 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 586. 258 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 10, S. 584.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

119

Rationalen: „Der denkende Mensch hat die wunderliche Eigenschaft, daß er an die Stelle, wo das unaufgelös’te Problem liegt, gerne ein Phantasiebild hinfabelt, das er nicht los werden kann, wenn das Problem auch aufgelös’t und die Wahrheit am Tage ist.“259 Von einer solchen größeren Faszinationskraft des Bildhaft-Anschaulichen her behandelt Goethe in der Italienischen Reise auch sein ästhetisches Bildungsprogramm im Angesicht des ausbrechenden Vesuvs. Noch in Rom weilend hatte seine Ich-Figur indigniert die touristische Attraktivität des aktiven Vulkans mit dem neuzeitlichen Faszinations-Topos der Klapperschlange verglichen, deren geöffnetes Maul angeblich eine magische Anziehung auf Beutetiere ausübt: „Diese Naturerscheinung hat wirklich etwas Klapperschlangenartiges und zieht die Menschen unwiderstehlich an.“260 Der auf den 2. Juni 1787 datierte eigene Bericht aus Neapel nähert sich in der Darstellung des Vulkanausbruchs dem Symbolischen an, insofern er situativ-phänomenologisch Anschauung und Problem verbindet. Goethe ist Gast bei der aus Deutschland gebürtigen Herzogin von Giovine, die „wohlgestaltete junge Dame“261 empfängt ihn am Abend in einem hochgelegenen Zimmer ihres Schlosses. Sein Gespräch mit der Herzogin, die – selbst schreibend – auf die Töchter adliger Familien im emphatischen Sinne bildend zu wirken beabsichtigt, behandelt die Frage, wie die deutsche Literatur der jüngeren Zeit sich „zu einer freieren, weit umherblickenden Humanität gebildet“262 hat. Namentlich „Herders Bemühungen, und was ihnen ähnelte“ (hier dürfte Goethe auch sein eigenes Werk meinen), sowie die populärphilosophischen Schriften Christian Garves finden die Zustimmung der Herzogin. Zwar kenne ein „solches Gespräch“, wie der Reisebericht vermerkt, „keine Grenzen“, doch wurde es, als die Gast­ geberin unerwartet einen Fensterladen aufstößt, durch den Anblick des „unglaublichen Bildes“263 des ausbrechenden Vulkans unterbrochen: Wir standen an einem Fenster des oberen Geschosses, der Vesuv gerade vor uns; die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheuere, feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet. Von da herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluten und glühenden Dünsten; übrigens Meer und Erde, Fels und Wachstum deutlich in der Abenddämmerung, klar friedlich, in einer zauberhaften Ruhe.

259 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 13, S. 151. 260 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 154. 261 Ebd., S. 368. 262 Ebd. 263 Ebd., S. 369f.

120

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

Der sichere, weil erhöhte und eingerahmt-distanzierte Blick aus dem Fenster erlaubt, die entfesselten Urkräfte trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Wirkungen „mit einem Blick zu übersehen“ und als eine Anschauungseinheit – als Totalität dessen, was Natur heißt, – zu konfigurieren: Dies alles mit einem Blick zu übersehen und den hinter dem Bergrücken hervortretenden Vollmond als die Erfüllung des wunderbarsten Bildes zu schauen, mußte wohl Erstaunen erregen. / Dies alles konnte von diesem Standpunkt das Auge mit einmal fassen, und wenn es auch die einzelnen Gegenstände zu mustern nicht im Stande war, so verlor es doch niemals den Eindruck des großen Ganzen.

Die imaginativ-kognitive Aktivierung, die mit dem Gefühl der Faszination in diesem Blick verbunden ist, wird in der Beschreibung der sich langsam zum Meer wälzenden Lava unmittelbar eingelöst: War unser Gespräch durch dieses Schauspiel unterbrochen, so nahm es eine desto gemütlichere Wendung. Wir hatten nun einen Text vor uns welchen Jahrtausende zu kommentieren nicht hinreichen. Je mehr die Nacht wuchs desto mehr schien die Gegend an Klarheit zu gewinnen [...].264

Der zunächst sprachlos machende Anblick gewinnt in der ästhetischen Rahmung des Schlossfensters an „Klarheit“ und wirkt belebend auf das Gemüt: Er gibt, im scharfen Kontrast zum Tosen der elementaren Natur, dem wieder aufgenommenen Gespräch über den kulturellen Bildungsgang der Deutschen eine „gemütlichere Wendung“. Goethe greift mit diesem Fensterblick den Faszinationstopos der Kontrast- oder Kehrseitenrelation von größter Fruchtbarkeit und größter Zerstörungskraft, der sich für viele Italienreisende mit der Landschaft um den Vesuv verbindet, auf und wendet ihn ins Geschichtsphilosophische.265 Der kulturphilosophische Gegenstand des Gesprächs, die ungewöhnliche Text-Metaphorik in der Beschreibung des Fensterblicks und die im Hintergrund stehende verbreitete Revolutionssymbolik des Vulkanausbruchs266 verleihen der Passage eine latente historische Semantik. Nicht durch Konvention oder Analogiesetzung, sondern aus der beschriebenen 264 Ebd., S. 369. 265 Degen: Ästhetische Faszination, erläutert, S. 117f. So schreibt etwa Charles Dupaty 1785: „Dunkel und Glanz; öde, verlassene, schaudervolle Natur, und lachende, beseelte, fruchtbare Natur; die Reihe des Todes und des Lebens neben einander!/Wie ich mich an diesen Contrasten geweidet hatte [...].“ (Dupaty, Ch.: Briefe über Italien vom Jahr 1785, aus dem Französischen von G. Forster. Bd. 2, Mainz 1790, S. 178); vgl. dazu auch Platons Faszinations-Konzept der silenischen Doppelnatur des Sokrates in Kapitel 1.2. 266 Zum Vulkan als Kollektivsymbol der Französischen Revolution vgl. Link, J.: Die Revolution im System der Kollektivsymbolik. Elemente einer Grammatik interdiskursiver Ereignisse, in: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. 1 (1986), 2, S. 5 – 23.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

121

Anschauungssituation heraus macht Goethe mit der Überlagerung von Lava und Text, Naturanschauung und Kulturdialog, Umwälzung und Evolution, Zerstörung und Humanisierung seine Beschreibung des Fensterblicks zu einem komplexen Symbol in statu nascendi. Da dessen Bedeutung weder durch einen Kommentar noch durch Konvention festgelegt ist, vermag die Beschreibung ebenso wie einst das Beschriebene zu faszinieren: Die Erlebnisqualität des Blicks auf die Lava wird adäquat überführt in eine faszinierende Darstellungsweise. Diese exemplifiziert wirkungsästhetisch, wie „Herders Bemühungen, und was ihnen ähnelte“, praktisch werden, damit die Menschheit, statt zerstörerischen Umwälzungen zu erliegen, „zu einer freieren, weit umher­ blickenden [!] Humanität gebildet“267 wird. Goethes Metaphorisierung der Naturumwälzung als unendlich geistreicher Text folgt dem Topos vom Buch der Natur, der sich als optimistisches Pendant zur Schleier-Symbolik des Isis-Topos in der Lesart Kants interpretieren lässt: Veranschaulicht dieser die letztlich unaufhebbare Verborgenheit des Naturganzen, perspektiviert Goethe im Gegenteil das Erkenntnis Anregende und nicht zuletzt Humanisierende der verborgenen Natur. Gleiches gilt für den „Text vor uns“ als Symbol: Ohne Verhüllung im Sinnlichen keine Faszination, keine Anregung, keine Humanisierung; das Unverhüllte (Idee des Textes) wäre das Wirkungslose. Der Blick auf den sich langsam vom Vulkan zum Meer268 bewegenden Lavastrom wird in dieser gleichermaßen symbolischen wie dichtungsprogrammatischen Darstellung zu einem Blick auf die verschleierte und dadurch wirkungsmächtige, da Kommentierung anregende Natur. Ähnlich wie bei der Rosalien-Episode kann die faszinierte Ich-Figur kaum vom Anblick des solche Gedanken-Unterhaltung gewährenden und damit Humanisierung befördernden Gegenstandes scheiden: „Ich vergaß wie spät es war so daß sie mich zuletzt [darauf ] aufmerksam machte“269. 2.4.3  Faszination als Nicht-Scheiden-Können: Zu Goethes Faust  Eine an das von Goethe umgedeutete Faszinationssymbol der Medusa Rondanini anschließende Darstellung ästhetischer Faszination findet sich gegen Ende des ersten Teils von Goethes Faust (1808) in der Walpurgisnacht-Szene. Auch hier wird ästhetische Faszination von Verblendung und von Magie abgehoben. Bei dieser Faszinationserfahrung geht es um die letztlich in eine Entscheidung überführte gedankliche Nachwirkung eines semantischen „Zwie267 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 368. 268 Hier darf auch an die zeitgenössisch breit geführte Diskussion zwischen vulkanistischer und neptunistischer Gesteinstheorie erinnert werden, an der sich Goethe beteiligte. 269 Ebd., S. 370 (Klammereinschub A.D.).

122

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

spalts“, der sich für Faust mit dem Anblick einer nächtlichen Erscheinung verbindet. Auf diesen „Schlüsseltext“270 in Goethes Tragödie sei abschließend eingegangen, da er zentrale Aspekte ästhetischer Faszination enthält. In der Gesamtkonzeption des Dramas markiert die Faszination Fausts am Ende der ihn an die satanische Sphäre sinnlich-sexueller Bedürfnisse fesselnden Walpurgisnacht den ent­scheidenden Wendepunkt; die verdrängte Schuld an Gretchens Tod wird erkannt. Gegen Ende der Walpurgisnacht-Szene berichtet Faust Mephisto zunächst entzückt von einer verführerischen Tänzerin, bis er sich selbst unterbricht. Seine Aufmerksamkeit wird unvermittelt von den Spukbildern der „Schönen“ ab- und auf eine Erscheinung hingelenkt, die außerhalb des wilden nächtlichen Treibens steht. Während Goethe in der Rosalien-Episode beide Topoi verbindet, setzt er hier der verführerischen Frau („in einer Schäferstunde“) die reine Frau („blasses, schönes Kind“) entgegen. Von deren Erscheinung wird er wider Erwarten völlig eingenommen: Faust: Dann sah’ ich – Mephistopheles: Was? Faust: Mephisto, siehst du dort Ein blasses, schönes Kind allein und ferne stehen? Sie schiebt sich langsam nur vom Ort, Sie scheint mit geschloss’nen Füßen zu gehen. Ich muß bekennen, daß mir deucht, Daß sie dem guten Gretchen gleicht. Mephistopheles: Laß das nur stehn! Dabei wird’s niemand wohl. Es ist ein Zauberbild, ist leblos, ein Idol. Ihm zu begegnen ist nicht gut; Vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut, Und er wird fast in Stein verkehrt, Von der Meduse hast du ja gehört. Faust: Fürwahr es sind die Augen einer Toten, Die eine liebende Hand nicht schloß.

270 Metscher, Th.: Welttheater und Geschichtsprozeß. Zu Goethes „Faust“. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 314.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

123

Das ist die Brust, die Gretchen mir geboten, Das ist der süße Leib, den ich genoß. Mephistopheles: Das ist die Zauberei, du leicht verführter Tor! Denn jedem kommt sie wie ein Liebchen vor. Faust: Welch eine Wonne! welch ein Leiden! Ich kann von diesem Blick nicht scheiden. Wie sonderbar muß diesen schönen Hals Ein einzig rotes Schnürchen schmücken, Nicht breiter als ein Messerrücken!271

Obgleich es sich bei der nächtlichen Tänzerin wie bei der Erscheinung jenes „Kindes“, das ihn an Gretchen erinnert, um Zauberei und Blendwerk handelt, ist die Wirkung gegenteilig. Sprachlich markiert durch den Tempuswechsel tritt vor das aufreizende Spukbild der Tänzerin, mit dem Mephisto Faust sein Gretchen-Erlebnis vergessen machen möchte, die Erscheinung des „blassen, schönen Kindes“ wie ein „Gegentraum“272. In ironischer Selbstanzeige seiner manipulativen Fähigkeiten273 versucht Mephisto daraufhin, Faust von der irritierenden Erscheinung abzubringen, indem er, jedes Referenzpotential (ästhetischer) Illusion durchstreichend, von ihrer Unwirklichkeit auf ihre prinzipielle Bedeutungslosigkeit schließt: Die Erscheinung, die bei Faust Erinnerungen an Gretchen weckt, sei bloßes „Zauberbild“, ein leb- und bedeutungsloses „Idol“, das mit Verweis auf den magischen Faszinations-Topos der Medusa bekanntlich „niemand[em] wohl“ tue. Der so hervorgekehrte Status der Erscheinung als bloßes Zauberbild ist für Faust aber irrelevant; es geht nicht darum, dass das Idol nicht Gretchen ist, sondern dass es seine Aufmerksamkeit deshalb gefangen nimmt, weil etwas an ihm widersprüchlich erscheint. Entscheidend ist nicht die ontologische Diskrepanz von Schein und Sein, sondern eine irritierende und – solange es bloß „Idol“ und nicht Gretchen ist – faszinierende semantische Diskrepanz. Diese besteht für Faust in dreifacher Hinsicht: Das „blasse, schöne Kind“ „scheint mit geschloss’nen Füßen zu gehen“; es besitzt zwar den „süßen Leib“ Gretchens, zugleich aber die „Augen einer Toten“, und es veranlasst ihn, den „schönen Hals“ mit der „sonderbar[en]“ Vorstellung eines „einzig rote[n] Schnürchen[s]“ zu verknüpfen; dessen Vergleich mit einem „Messerrücken“ deutet auf eine Enthauptung. Die lebensnahe Erinnerung der Erscheinung 271 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 7,1, S. 179. 272 Kommentar von Albrecht Schöne in: Ebd., Abt. 1, Bd. 7,2, S. 360. 273 Metscher: Welttheater, S. 120.

124

2  Konzeption: Von der epistemologischen zur ästhetischen Faszination

an die verlassene Geliebte ist auf diskrepante Weise mit Anzeichen ihres Todes verbunden, was Faust aus dem wilden nächtlichen Treiben reißt und, ungeachtet der Einrede Mephistos, ihn zum Nachdenken in der sinnlichen Anschauung der Erscheinung anregt. Das Fasziniertsein Fausts wird von Goethe in zweifacher Hinsicht als ein Nicht-Scheiden-Können konzeptualisiert: Faust kann sich von dem Anblick der nächtlichen Erscheinung nicht lösen, weil er den Widerspruch von Freude (Leben) und Leiden (Tod) in der Erscheinung nicht unterscheiden kann. Diese beiden Aspekte des Nicht-Scheiden-Könnens werden formelhaft in ein Verspaar gefasst und metrisch und durch den Reim aufeinander verwiesen: Welch eine Wonne! welch ein Leiden! Ich kann von diesem Blick nicht scheiden.

Der erste, grammatisch und semantisch ‚gespaltene‘ Vers lässt auch an Goethes Beschreibung der Wirkung der Medusa Rondanini denken: „den Zwiespalt zwischen Tod und Leben, zwischen Schmerz und Wollust ausdrückend, einen unnennbaren Reiz wie irgend ein anderes Problem über uns ausübt“274. Der zweite Vers formuliert explizit Fausts Faszinationserfahrung der unwillkürlichen Aufmerksamkeitsbindung. Vergleicht man beide Verse mit der für das gesamte Drama zentralen Wett- und Wunschformel des schönen Augenblicks, fällt eine semantische und formale Kontrastrelation zwischen beiden auf, die kaum zufällig sein dürfte. Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!275

Goethe reflektiert in der Faszinationsformel des Nicht-Scheiden-Könnens zugleich abgrenzend das Verweilen im Schönen als Motiv und Telos des gesamten Dramas. Neben der lexikalischen Parallele von „Augenblick“ und „Blick“ fällt die thematische Übereinstimmung in umgekehrter Anordnung auf: Jeweils ein Vers mit einer Handlung Fausts ist mit einem Vers, der eine ästhetische Erlebnisqualität bezeichnet, verbunden. In beiden Verspaaren wird die Erlebnisqualität in Form zweier Ausrufe ausgedrückt: Im Fall der Faszinationsformel bilden beide Ausrufe konsequenterweise einen semantischen „Zwiespalt“: Wonne vs. Leiden, im Fall der Wett- und Wunschformel des Schönen bezeichnen sie hingegen ein Kausalverhältnis der Stimmigkeit: verweilen, weil es schön ist. Beide Formeln charakterisieren die ästhetische Erleb­nisqualität in temporaler Hinsicht als Andauern einer Situation (des Verweilens oder des Nicht-Scheiden-Könnens), jedoch mit entgegengesetztem Vektor: bei der Faszination das Unvermögen, sich dem Gegenwärtigen entziehen zu können, 274 Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 15,1, S. 586. Darauf weist auch Schönes Kommentar (ebd., Abt. 1, Bd. 7,2, S. 361) hin. 275 Ebd., Abt. 1, Bd. 7,1, S. 76.

2.4  Geheimnis und Problem: Ästhetische Faszination bei Goethe

125

beim Schönen der künftige Wunsch, einen gegenwärtigen Zustand andauern zu lassen. Beide Formen ästhetischen Erlebens lassen sich als ein Heraustreten aus der Sukzession der Zeit auffassen. Fausts Faszinationserleben des Nicht-Scheiden-Könnens führt bald über den ästhetischen Bereich hinaus: Schon sein „Ich muß bekennen“ meldet eine Dring­lichkeit an, die nicht nur gegen Mephistos Rede von der „Lust zum Wahn“276 immunisiert, sondern seine Faszination grundsätzlich von Kants lustvollem Hinzudenken in der Vorstellung einer ästhetischen Idee wie auch von Ali­sons Imaginationskette, Benjamins Geheimnis oder Goethes Rede vom „ewig tätige[n] Leben, in Ruhe gedacht“277, unterscheidet. Faust bringt die faszinierende semantische Diskrepanz in der nächtlichen Erscheinung auf einen Begriff, indem er sie als Gretchens Not und seine Schuld deutet. Als er erstmals wieder nach der Faszinationsbeschreibung und dem folgenden langen Intermezzo des „Wal­pur­gisnachtstraums“ am Morgen eines „trüben Tages“ zu Wort kommt, hat er die faszinierende Erscheinung trotz aller „abgeschmackten Zerstreuungen“278 Mephistos nicht vergessen, im Gegenteil. Er hat sie als Gretchens Not und seine Schuld gedeutet und insofern eine Scheidung im doppelten Sinne – als gültige, zudem akute Ent-Scheidung für eine kohärente Bedeutung und damit zugleich als eine Lösung aus der Konstellation des ästhetischen Spiels – herbeigeführt. Faust verlässt, motiviert durch das assoziations- und gedankenstimulierende Faszinationserleben der angeschauten Diskrepanz, den Bereich des Sinnenscheins, um praktisch zu werden. Fausts subjektiv verbindliche Deutung der nächtlichen Erscheinung in Form einer transästhetischen Entscheidung setzt deren Geheimnischarakter aber nicht in den Modus eines gelösten Rätsels: Die Entscheidung, die das faszinierende Objekt als kohärent konkretisiert, geht im Unterschied zum Rätsel vom Subjekt aus.279 Im faszinierten Hinzudenken vollzieht sie keine gegebene Lösung nach, sondern stellt eine solche bereit.

276 277 278 279

Ebd., S. 180. Ebd., Abt. 1, Bd. 10, S. 584. Ebd., Abt. 1, Bd. 7,1, S. 188. Zum Begriff der Konkretisation vgl. Roman Ingarden: „Die Konkretisation des literarischen Werkes ist also selbst noch schematisch, aber – wenn man so sagen darf – weniger als das betreffende Werk selbst.“; zitiert nach Warning, R. (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 41994, S. 44.

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien 3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles Mit der Diskussion von Geheimnis und Symbol bei Goethe ist die Frage nach den sprachlichen Verfahren, durch die Faszination nicht nur beschrieben und dargestellt, sondern rezeptionsseitig bewirkt werden kann, angesprochen. Diese Frage wird im dritten und vierten Teil des Buches im Vordergrund stehen. Zunächst werden für die Antike, anschließend für das 18. Jahrhundert wichtige Konzeptionen und Erklärungsmodelle sprachlich-literarischer Wirkung hinsichtlich ihrer Berücksichtigung von Faszinationserleben erläutert. Diese rhetorisch, stiltheoretisch, poetologisch oder philosophisch ausgerichteten Konzeptionen und Modelle vermitteln selbst keine Theorien ästhetischer Faszination. Sie diskutieren aber, mit verschiedenen Begriffen und von unterschiedlichen theoretischen Vor­aussetzungen aus, sprachlich-literarische Darstellungsverfahren, Er­­lebens­ver­läufe und Wirkungsqualitäten, die für Faszination charakteristisch sind. Im Zentrum des Faszinationserlebens steht, so ließe sich heuristisch formulieren, eine kognitiv-imaginative Aktivierung, die – im Modus der Illusion – auf ein semantisch Problematisches reagiert. Insbesondere wer­den zwei Fragen im Hintergrund der stil- und poetikgeschichtlichen Diskussion steh­en: Wodurch erhält der kognitive Prozess der Zeichenverarbeitung eine emotio­nale Qua­li­tät? Und woher stammt die Lust, die das Faszinationserleben dauerhaft mo­tiviert? Für die Antike wird, als Grundbaustein von Wirkungs- und Verfremdungs­effekten, zunächst die psychologische Wirkungstheorie der Metapher nach der Rhe­torik des Aristoteles vorgestellt, gefolgt von einigen Passagen der stiltheore­tischen Abhandlung De elocutione eines als Demetrios bezeichneten unbekannten Autors. Abschließend wird ausführlich auf die für die ästhetische Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts außerordentlich einflussreiche Konzeption des Erhabenen der Gedanken in der anonymen, irrtümlich Longin zugeschriebenen spätantiken Abhandlung Vom Erhabenen (Peri Hypsous) eingegangen, in der das bei Aristoteles er­klärte Wirkungsmoment sprachlich induzierten Staunens auf ein Maximum gestei­gert wird. Rhetorisch-stilistische Verfahren, die in diesen drei Kapiteln in ihren je­wei­ligen Erklärungszusammenhängen erläutert DOI 10.1515/9783110527308-004

128

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

werden, sind semantische Über­tragung (Tropus), Verknappung, Entgegensetzung sowie Andeutung und Emphase. 3.1.1  Lust an der Metapher durch Ähnlichmachen Aristoteles behandelt im 3. Buch seiner Rhetorik verschiedene, terminologisch nur teilweise ausgewiesene semantische Figuren wie Vergleich, Metapher, Synekdoche, Allegorie („Rätsel“), Hyperbel, Pleonasmus und Emphase hinsichtlich ihrer Funktion in der politischen oder juridischen Rede. Im Unter­schied zu Aristoteles’ Behandlung der Tropen in der Poetik steht in der Rhetorik weniger das Verfahren des übertragenen Wortgebrauchs selbst als dessen Pragmatik, das heißt die psychologische Wirkung auf die Hörer, im Vordergrund, wobei diese in Abgrenzung zu einer ästhetischen Kommunikationssituation (Dichtung) für den taktischen Einsatz in der öffentlichen Prosarede diskutiert wird. Dabei erhält der Gebrauch von Tropen zwar eine wirkungsstrategische Schlüsselbedeutung, die semantischen Lizenzen der Übertragung sind aber weitaus enger als bei Dichtung. Entscheidend für die Behandlung der semantischen Figuren in der Rhetorik ist, dass Aristoteles die Übertragung von Wörtern oder Wortgruppen aus anderen Bedeutungsfeldern nicht als rhetorischen Schmuck, sondern als sprachliches Pendant des rhetorischen Argumentierens (Enthymem) behandelt. So wie der rhetorische Beweis einen logischen Zusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion behauptet, so behaupten Metaphern und andere Tropen einen gewissen semantischen Zusammenhang zwischen Wörtern unterschiedlicher Bedeutungsbereiche (Isotopien1). Der Fokus der Metapherntheorie der Rhetorik liegt somit auf der argumentativen Funktionalität und dem kognitiven Stimulierungspotential von Tropen: Es geht Aristoteles um die „sprachliche Form und die Anordnung“ dessen, was „mit dem Gedanken zusammenhängt“ (1403a37)2. Die Definition der Metapher (im weiteren Sinne)3 als „Übertragung [epiphorà] eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird)“ 1

2 3

Isotopie ist die „Bedeutungsbeziehung zwischen den Lexemen eines Textes, die auf semantischer Äquivalenz beruht und erklärt wird als wiederholtes Vorkommen von Semen (Semrekurrenz) in unterschiedlichen lexikalischen Einheiten des Textes“. Pätzold, J.: Isotopie, in: Metzler Lexikon Sprache, hg. von H. Glück. Stuttgart, Weimar 32005, S. 297. Alle Angaben aus der „Rhetorik“ folgen Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Ch. Rapp. Halbbd. 1. Berlin 2002. Diese Definition wird oft als (zu) weit angesehen und umfasst nach heutigem Verständnis eher Tropen allgemein (Rolf, E.: Metaphertheorien. Typologie, Darstellung, Bibliographie. Berlin, New York 2005, S. 27).

3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles

129

(1457b)4 übernimmt er für die Rhetorik aus dem 21. Kapitel seiner Poetik. Auch wird die dort gemachte Unterscheidung von vier Formen der Metapher in der Rhetorik zugrunde gelegt: a) Übertragung von der Gattung auf die Art: der allgemeinere Ausdruck ‚Stillstehen‘ wird in der Rede über Schiffe statt des konkreten isotopen Ausdrucks ‚Vor-Anker-Liegen‘ gewählt; b) Übertragung von der Art auf die Gattung: der konkrete hyperbolische Ausdruck ‚zehntausend‘ wird statt des allgemeineren Ausdrucks ‚viel‘ gewählt; c) Übertragung von der Art auf die Art: ein konkreter Ausdruck wird statt eines anderen konkreten isotopen Ausdrucks verwendet; d) Übertragung nach der Analogie: ein Glied aus einer Relation wird statt des entsprechenden Gliedes einer analogen Relation verwendet: Da die Trinkschale ein Attribut des Gottes Dionysos und der Schild ein Attribut des Gottes Ares ist, folgt die Benennung der Trinkschale als ‚Schild des Dionysos‘ nach dem Prinzip der Analogie; diese setzt eine komplexe kognitiv-imaginative Operation voraus. Von Aristoteles wird eine Bildung von Metaphern nach diesem Analogie-Prinzip bevorzugt, vermutlich weil dessen relationale Struktur dem Begründungsverhältnis des rhetorischen Beweises ähnelt. Grundsätzlich unterscheidet Aristoteles in der Verwendung von Wörtern den üblichen Ausdruck (verbum proprium) vom Fremdwort, vom übertragen gebrauchten Ausdruck (Tropus), von der Zusammensetzung und vom Neologismus (1404b27 – 35). Für die pragmatische Redesituation etwa einer politischen oder einer Gerichtsverhandlung kommen jedoch nur übliche und übertragen gebrauchte Ausdrücke in Frage, da Fremdwort, Zusammensetzung und Neologismus durch Überforderung die Mitteilungsfunktion gefährden können. Die Metapher, verstanden als außergewöhnliche Verwendung eines gewöhnlichen Ausdrucks, nimmt eine Mittelstellung zwischen der üblichen und einer elaborierten Ausdrucksweise ein. Die semantische Übertragung darf – diese Einschränkung gilt allerdings nur, wenn das Substitut nicht genannt wird (Metapher in absentia) – „nicht von weither“ (1405a36) vorgenommen werden, da sie sonst unverständlich wirkt. Ebenso sollte die Übertragung aber auch nicht habituiert sein (konventionelle Metapher), da dann der kognitiv-imaginativ stimulierende Abweichungseffekt ausfällt. Da es dem Redner, anders als dem Dichter, um einen unmittelbaren Erfolg seiner Rede geht, muss er, um verständlich und nicht vorderhand manipulativ zu wirken, seine Rede so „unmerklich komponieren“, dass der Anschein des „natürlichen 4

Alle Angaben aus der „Poetik“ folgen Aristoteles: Poetik, übersetzt und erläutert von A. Schmitt. Berlin 2008. Aristoteles geht im Rahmen seiner Kategorien-Lehre davon aus, dass bestimmte Wörter bestimmten Dingen zugeordnet sind; weitere jüngere Übersetzungsvarianten des für die konzeptionelle Interpretation der aristotelischen Theorie zentralen Begriffs epiphorà wären ‚Einführung‘, ‚Anwendung‘, ‚Herantragen‘ eines fremden bzw. anderswohin gehörenden Wortes (Rolf: Metaphertheorien, S. 22f.).

130

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

Redens“ (1404b20) gewahrt bleibt. Während bei der gebundenen Rede der Dichtung die Wirkung durch Lautstärke, Tonfall und Rhythmus erheblich gesteigert werden kann, bleibt der Prosarede als Intensivierungsmittel nur der Tropus. Um den Anschein „natürlichen Redens“ zu wahren, muss die Schwierigkeit der Metaphern an der Umgangssprache orientiert sein. Eine Bedeutungsverdopplung (Pleonasmus) wie etwa „weiße Milch“ kann, da sie auffällt, in einer Dichtung angebracht sein; in der Rede sei sie kontraproduktiv, da sie die faktuale Referenz des Gesagten abblendet. (1406a12 – 15). Für die Frage nach historischen Basiskonzepten zur lustökonomischen Bestimmung jenes psychologischen Effektes, der für das Erleben ästhetischer Faszination verantwortlich ist, ist das aristotelische Wirkungsmodell der Metapher von vorrangigem Interesse. Im Unterschied zu Klang, Rhythmus oder Intonation wirken Tropen für Aristoteles weniger affektiv als kognitiv; allerdings ist dieser kognitive Effekt der Abweichung mit einem bestimmten emotionalen Profil verbunden. Aristoteles gibt dieses mit thaumázein (Irritation, Staunen, Verwunderung, Bewunderung) an. In gebundener Rede werde durch Rhythmus und Klang „die Aufmerksamkeit auf das Ähnliche, wann es wieder kommen wird“ (1408b24), gelenkt. Da jedoch, das führt Aristoteles nicht explizit aus, die Zuhörer auch in semantischer Hinsicht ihre Aufmerksamkeit auf isotope Anschlussfähigkeit im Sinne von Kohärenzstrukturen ausrichten, kann durch eine gewisse Erschwerung der semantischen Anschlussfähigkeit der erwähnte Effekt erzielt werden. Im Unterschied zu Klang und Rhythmus gebundener Rede, deren Wirkungseffekt aus einer artifiziellen Verdichtung von formalen Wiederholungsstrukturen resultiert, beruht die Wirkung der Metapher auf einer kalkulierten Irritation semantischer Wiederholungsstrukturen, mit anderen Worten: auf einer Enttäuschung von Erwartung. Durch die Einführung eines Wortes in einen für dessen Semantik ungewöhnlichen Kontext schert die Metapher aus der Isotopie der Wortfolge aus. Da sie die Erwartung des Rezipienten zwar in syntaktischer, aber nicht in semantischer Hinsicht bestätigt, wird sie zu einem sprachlichen Ereignis. Der Zuhörer scheint im Zugleich von lexikalischer Bekanntheit und syntaktischer Passgenauigkeit einerseits und fehlender semantischer Anschlussfähigkeit andererseits die Kontrolle über die Aussage zu verlieren; indem er zugleich versteht – die Wörter sind geläufig – und nicht versteht – ihre Kombination ist ungewöhnlich –, wird er zu einer Reaktion genötigt: Dass „einem etwas widerfährt“ (1410b33), ist für Aristoteles die Beschreibung des Ereignisses Metapher. Emotional wird diese Erfahrung dem admiratio-stupor-Spektrum zugeordnet.5 Stilistisch adäquat erläutert und exemplifiziert Aristoteles diese Wirkung der Metapher durch eine Analogierelation mit der Erfahrung sozialer Fremdheit:

5

Vgl. oben Kapitel 1.2.

3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles

131

Was nämlich den Menschen gegenüber den Fremden und den Mitbürgern widerfährt, dasselbe erfahren sie auch hinsichtlich der sprachlichen Form. Deswegen muss man die gebräuchliche Sprache fremdartig machen. Man ist nämlich Bewunderer [thaumástai] der entlegenen Dinge, das Bewun­derns­werte [thaumástón] aber ist angenehm. (1404b8 – 14)

Der semantischen Struktur einer Rede vergleichbar besteht die soziale Struktur der Polis in Erwartungen im Sinne einer „Einschränkung des Möglichkeitsspielraums“6. Ein Verstoß gegen eine solche Erwartungsstruktur exponiert sich als Ereignis.7 Wie der Fremde zum Polisbürger verhält sich die Metapher zum semantischen Kontext: „denn das Abweichen erweckt den Anschein des Erhabeneren [semnotéran]“ (1404b7): Die spürbare, da Irritation und Staunen hervorrufende Abweichung von der semantischen Erwartungsstruktur ist die wirkungsästhetische Minimalbedingung einer Metapher, ohne die es zu einem rezeptiven Klärungsversuch nicht kommen kann. Dieser Nexus von sprachlicher Herausforderung und kognitiv-emotionaler Stimulierung liegt dem Erleben von Faszination zugrunde. Nicht zufällig rückversichert sich auch der russische Formalist Viktor Šklovskij am Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner begrifflichen Konstitution von ‚Verfremdung‘ als „Verfahren der erschwerten Form“ bei der aristotelischen Metapherntheorie. Wie Aristoteles bloß punktuell und moderat geht es Šklovskij radikaler um eine Darstellungsweise, die die „Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert“8 und so – faszinationsästhetisch gesprochen – beihilft, die emotional-mentale Nachhallzeit zu verlängern und das ästhetische Erleben sättigungsresistenter zu machen. Durch einen Verstoß gegen die semantische Anschlussfähigkeit erzielt also die Metapher einen Effekt, der völlig unabhängig von der affektiven Bedeutung der kurrenten Aussage einen eigenen, formgenerierten kognitiv-emotionalen Akzent setzt. Je begrenzter der semantische Möglichkeitsspielraum ist und je eindeutiger sich der Kontext zu einer „erwartbaren Einheit einer Sachlage zusammen-

6

7 8

Luhmann, N.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, S. 398. Zur literaturwissenschaftlichen Anwendung des strukturalistischen Ereignisbegriffs vgl. Kremer, D.: Ereignis und Struktur, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hg. von H. Brackert und J. Stückrath. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 517 – 532. Luhmann: Soziale Systeme, S. 413. Šklovskij, V.: Die Kunst als Verfahren, in: Texte der russischen Formalisten. Bd. 1, hg. von J. Striedter. München 1969, S. 3 – 35, hier S. 15. Auf das Fremdartigmachen bei Aristoteles verweist Šklovskij am Ende seines thematisch ähnlich ausgerichteten Aufsatzes „Die Auferweckung des Wortes“ (in: Texte der russischen Formalisten. Bd. 2, hg. von J. Striedter, W.-D. Stempel und I. Paulmann. München 1972, S. 2 – 17, hier S. 15).

132

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

schließt“9, desto markanter hebt sich eine Metapher als „semantische Anomalie“ ab. Verbunden mit einem Wechsel von Rede zu Dichtung wird die semiotisch-psychologische Komplexion von semantischer Anomalie, Ereignishaftigkeit, thaumázein und kognitiver Stimulierung einige Jahrhunderte später die Grundlage der Erhabenheits-Theorie Ps-Longins bilden, auf die ich anschließend eingehen werde. Aristoteles konzipiert die Irritation durch die Metapher als moderate Ressourcenakquirierung, die auf eine Assimilation qua Analogiebildung gerichtet ist. Dieser Prozess muss sich aber, diese Bedingung ergibt sich aus der lustökonomischen Funktionalität der Metapher, gleichsam wie von selbst und ohne große Anstrengung vollziehen; Aristoteles spricht von einer „Art von Lernerfolg“ (1410b27). Die Metapher (wie andere Tropen auch) ist aus diesem Grund mehr als ein Schmuck: Da sie, indem sie geistig anregend ist, dem als natürlich angesetzten Bedürfnis des Menschen nach Erkenntnis (seinem Telos) entspricht (1410b7f.), kommt die Verwendung moderater Metaphern ‚gut an‘: Ausgangspunkt soll für uns dies Folgende sein: Leicht zu lernen ist nämlich von Natur aus für alle angenehm, die Nomen aber bezeichnen etwas, so dass alle die Nomen, die für uns einen Lernprozess bewirken, am angenehmsten sind. Nun sind die fremdartigen Ausdrücke unverständlich, die üblichen kennen wir aber schon, die Metapher hingegen bewirkt dies (den Lernprozess) am ehesten. Wenn nämlich einer das Alter eine Stoppel nennt, bewirkt er das Lernen und das Verstehen durch die Gattung; beides nämlich ist Verblühtes. (1410b9 – 15)

Infolge der syntaktischen Passgenauigkeit behauptet die Metapher (Stoppel) einen semantischen Zusammenhang mit ihrem Kontext (Lebensphasen des Menschen), der aber nicht unmittelbar einsichtig ist: Deshalb macht sie eine „Suche erforderlich“ (1410b23). Diese Suche, die dem Schematisieren bei Kant ähnelt, kommt mit dem Finden einer begrifflichen Schnittmenge zwischen den diversen semantischen Merkmalen beider Wörter („Verblühtes“) zu einem Ende. Nur wenn dieser Prozess „leicht“ verläuft, wird er durch die motivationale Basis der menschlichen Psyche intrinsisch balanciert: Nur „was für uns ein schnelles Lernen bewirkt“ (1410b21f.), ist „von Natur aus“ lustvoll. Für Aristoteles verbindet die Form der Metapher das konstitutive kognitive Kriterium der sprachlichen Klarheit mit dem motivational förderlichen emotionalen Kriterium des Abweichenden auf optimale Weise.10 Das qua Abweichung Außergewöhnliche schränkt die sprachliche Klarheit nur scheinbar ein, in Wahrheit initiiert es einen kognitiv-imaginativen Aktivierungsprozess und 9

Stierle, K.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975, S. 152. 10 Rapp, Ch.: Kommentar, in: Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Ch. Rapp. Halbbd. 2. Berlin 2002, S. 840.

3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles

133

garantiert zusätzlich Aufmerksamkeit und emotionale Intensität: „das Klare und Angenehme und Fremdartige enthält in höchstem Maße die Metapher“ (1405a8f.). Ein solches lustökonomisches Optimum liegt weder bei habituierten Metaphern noch bei kühnen Metaphern vor, so dass beide als Intensivierungsmittel für die öffentliche Rede nicht in Frage kommen. Um einen aufwändigen Erkenntnisprozess, wie er zum Verstehen einer kühnen Metapher notwendig wäre, hinreichend motivieren zu können, bedürfte es neben der syntaktischen Passgenauigkeit weiterer Wiederholungsstrukturen sowie einer von unmittelbarer Verstehensnotwendigkeit entbindenden ästhetischen Rahmung. Eine moderat zu verstehende Metapher wie ‚Stoppel‘ für das herbstliche ‚Lebensalter‘ „behauptet“ durch ihre Grammatikalität eine Identität verschiedener Isotopien und provoziert damit eine (leicht auflösbare) Diskrepanz11: „dass dieses jenes sei; folglich sucht auch die Seele [...] danach“ (1410b18f.). Das Prinzip der Metapher, wie es Aristoteles hier beschreibt, ist weniger Substitution als Analogiebildung.12 Vergleichbar einer Montage isotopisch diskrepanter Wörter oder Wortgruppen zieht die Metapher, indem sie „dieses“ als „jenes“ ausweist, verschiedene Bedeutungsbereiche zusammen und forciert so eine Musterung der semantischen Merkmale auf partielle Gemeinsamkeit.13 In gesteigertem Maße gilt dies für eine Kombination von Metaphern, die Aristoteles in seiner Poetik unter der Bezeichnung „Rätsel“14 behandelt: „Denn das Wesen des Rätsels besteht darin, unvereinbare Wörter miteinander zu verknüpfen und hiermit gleichwohl etwas wirklich Vorhandenes zu bezeichnen.“ (1458a25 – 29) Komplementär formuliert die Rhetorik: „Metaphern nämlich geben Rätsel auf “ (1405b5). Die Metapher kann mithin als semantisches Äquivalent zur Satzfigur des Asyndetons interpretiert werden, die Aristoteles mehrfach hinsichtlich des Aussparens von Konjunktionen anspricht. Die (syntaktisch) „unverbundenen Formulierungen“ haben die „Eigentümlichkeit“, durch Reduzierung des semiotischen Aufwandes die Aussage scheinbar 11 Vgl. „Man muss aber auch immer dann, wenn ein Wort etwas Widersprüchliches zu bedeuten scheint, prüfen, wie viele Bedeutungen es in dem jeweiligen Ausdruck haben kann [...].“ (Aristoteles: Poetik, S. 39). 12 Rolf: Metaphertheorien, S. 77. Vgl. hierzu Kants auf Analogiebildung basierenden Begriff der ästhetischen Idee in Kapitel 2.2. 13 „Die Elemente der Montage werden ihrem ursprünglichen Gebrauchs- oder Kommunikations­zusammenhang entnommen und dabei mehr oder weniger fragmentiert, deformiert oder destruiert. In einem zweiten Schritt werden sie mit anderen Teilen gleicher oder anderer Herkunft neu zusammengesetzt.“ ( Jäger, G.: Montage, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, hg. von H. Fricke. Berlin, New York 2000, S. 631 – 633, hier S. 631). 14 Die Identifikation dieser Form des sprachlichen „Rätsels“ als Allegorie scheint mir fraglich, da in der Allegorie die allegorisch verwendeten Wörter hinsichtlich ihrer Isotopie untereinander vereinbar sind.

134

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

zu erweitern: „In der gleichen Zeit scheint nämlich vieles gesagt zu werden“; die Konjunktion macht „das Viele zu Einem, so dass, wenn sie weggenommen wird, offenbar im Gegenteil eines vieles sein wird“ (1413b32 – 34).15 Analog zu diesem syntaktisch bedingten semantischen Offenhalten im asyndetischen Stil macht die Metapher, indem sie mehrere Bedeutungsbereiche verschränkt, eine Aussage semantisch gehaltvoller: Die ‚Kompatibilität des Inkompatiblen‘ ist nicht einfach gegeben, sondern dem Empfänger, der sie immer neu realisieren muß, als Leistung aufgegeben. Am Kontext liegt es, mehr noch als am Substitut selbst, wie weit die Relation zwischen Substitut und Substituenten ausgeschöpft werden kann.16

Die Verbindung von Irritation, kognitiver Nötigung und semantischer Erweiterung im Verstehen von Metaphern wird in den von mir später diskutierten Wirkungskonzepten der unmarkiert allegorischen Bilderrede nach Ps-Demetrios und des Erhabenen der Gedanken nach Ps-Longin konzeptionell zu einer Erfahrung ästhetischer Gewalt gesteigert. Die gewaltsame geistig-emotionale Aktivierung ist die Erscheinungsform einer durch kognitive Komplexität herausgeforderten Lust, die aus einer Erwartungserfüllung nicht-semantischer Strukturen (wie Grammatikalität oder Rhythmus) einerseits und dem kognitiven Klärungsprozess des unerwartet Unverständlichen qua Analogiebildungsoperationen andererseits resultiert. Eine solche Gewalt spielt auch, im Modus anhaltender unwillkürlicher Aufmerksamkeitsbindung, für das Erleben ästhetischer Faszination eine Rolle. Die aufgezeigte motivationale Struktur der Metapher aus Irritation (Nicht-Verstehen) und Aktivierung (Verstehen) erweist die von Aristoteles vorgenommene Grenzziehung zwischen Metapher und sprachlicher Doppeldeutigkeit, wie sie in Dichtung und Wahrsagerei Verwendung findet, als bedeutsam. Diese Grenzziehung könnte erstaunen, ließe sich doch auch die Metapher als doppeldeutig auffassen. Dies ist aber, im Rahmen der aristotelischen Konzeption, gerade nicht der Fall, da sie als markierte Störung von Kohärenz einen Verstehensprozess auslöst, der schnell zu Eindeutigkeit führt. Da hingegen Doppeldeutigkeit kontextkohärent ist, kommt es zu keinem semantischen Abweichungseffekt und damit zu keiner geistigen Aktivierung. Der Zuhörer wird nicht irritiert, sondern getäuscht: „denn wenn man viel darum herum redet, schafft das Täuschung, und den Zuhörern widerfährt dasselbe wie den meisten bei den Wahrsagern: wenn sie nämlich Doppeldeutiges hören, stimmen sie beifällig zu.“ (1407a36 – 38). Pointiert heißt dies: Das unmittelbare Nicht-Verstehen der Metapher garantiert rezeptionsseitig eine Aktivierung ei15 Vgl. Rapp: Kommentar, S. 949: „wer asyndetische Formulierungen einzusetzen weiß, vermittelt den Fehlschluss beim Hörer, mehr gesagt zu haben, als wenn er Konjunktionen benutzt hätte“. 16 Stierle: Text als Handlung, S. 174f.

3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles

135

genen Denkens, das automatisierte Verstehen der – in ihrer Zweitbedeutung allerdings nicht erkannten – doppeldeutigen Formulierung macht sie zu einer Täuschung, da sie epistemologisch leer und pragmatisch fatal ist. Aristoteles demonstriert dies an der Prophezeiung „Wenn er den Halys überschritten hat, wird Kroisos ein großes Reich zerstören“. Eine solche Konklusion, die jede Deutungsvariante bestätigt, verhält sich pragmatisch umgekehrt zu einer Aussage, die aufgrund einer semantischen Inkohärenz in keinem Fall zutrifft und deshalb einen Reflexionsprozess provoziert. „Auch weil überhaupt die Wahrscheinlichkeit von Fehlern geringer ist, sprechen die Seher durch die Gattungsbegriffe der Sache“ (1407b1 – 4). Während die Metapher klärt, indem sie die semantische Erwartung enttäuscht, täuscht die Doppeldeutigkeit, die als Merkmal von Dichtung und Orakel gilt, indem sie viele Erwartungen bestätigt. Die der Irritation entgegenarbeitende kognitive Aktivierung zielt darauf, durch eine eigenmächtige Ähnlichkeitszuweisung seitens des Zuhörers zwischen den semantischen Merkmalen von Wörtern bzw. Begriffsrelationen ein Paradigma aufzufinden, das Kohärenz qua Analogie ermöglicht. Die Ähnlichkeitszuweisung soll, damit die notwendige Fremdheitsschwelle gegeben ist, „vom Eigentümlichen und nicht Offenkundigen“ ausgehen. Sie ist immer selektiv, wobei für die Frage des schnellen Erkennens bzw. Zuweisens solcher Ähnlichkeit nicht die semantische Verwandtschaft zwischen Metapher und Kontext, sondern die Größe einer semantischen Schnittmenge zwischen beiden Begriffen entscheidend ist.17 So geht in Aristoteles’ Beispiel das nach dem Analogie-Prinzip verwendete Wort ‚Stoppel‘ als Metapher für ‚spätes Lebensalter‘ von einer Ähnlichkeit zwischen der Relation Vegetationszeit – Stoppel und der Relation Lebenszeit – hohes Alter aus und rechnet damit, dass der Zuhörer das gemeinsame Paradigma von Stoppel und hohem Alter („Verblühtes“) schnell erkennt: ‚Stoppel‘ ist „in gewisser Hinsicht dasselbe“ wie ‚Lebensalter‘. Zwar konzipiert Aristoteles die Lust am Verstehen der Metapher resultativ – das schnelle Erkennen einer semantischen Schnittmenge bzw. eines Paradigmas ist entscheidend –, doch rechnet er durchaus mit einem gewissen prozesshaften Interagieren beider Isotopien, die „das Oszillierende der Grenzen dieser Gemeinsamkeit“18 ausmacht und der Metapher eine zusätzliche Lebendigkeit verleiht. Deshalb nämlich muss die Wahl des übertragen gebrauchten Wortes dem Kontext angemessen sein: „Ferner verhält es sich nicht gleich, 17 „Die Metapher ist dann gelungen, wenn trotz der Distanz zwischen Sach- und Bildbereich eine gut verständliche Gemeinsamkeit nachgewiesen wird“ (Rapp: Kommentar, S. 912). Stierle (Text als Handlung, S. 156) macht die Prägnanz einer Metapher von drei Faktoren abhängig: Größe der kategorialen Distanz zwischen Metapherund Kontextisotopie, Größe der gemeinsamen semantischen Merkmale beider, Grad der Exklusivität dieser Merkmale. 18 Ebd., S. 174.

136

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

wenn dieser oder jener Ausdruck (dieselbe Sache) bezeichnet, so dass man auch so das eine als schöner und hässlicher als das andere annehmen muss.“ Die Metaphern müssen deshalb vom „Schönen entweder in der Stimme oder in der Wirkung oder im Aussehen oder in einer anderen sinnlichen Wahrnehmung“ (1405b17 – 19) genommen werden. Aufgrund dieses oszillierenden Interaktionsprozesses auch jener semantischen Merkmale der Metapher und ihres (neuen) Kontextes, die nicht dem aufzusuchenden Paradigma zugehören sondern unvereinbar bleiben, bedeutet es „einen Unterschied, ob man ‚rosenfingrige Morgenröte‘ sagt oder ‚purpurfingrige‘ oder, noch schlechter, ‚rotfingrige‘“ (1405b19 – 21). Da also nicht nur die gemeinsamen, sondern sämtliche semantische Merkmale des substituierenden Wortes und seines (neuen) Kontextes auf die psychologische Verarbeitung der Metapher einwirken, ist das Kriterium des „Schönen“ in der Wahl der Metapher für Aristoteles relevant. In Zusammenhang damit wird die unterschiedliche Fähigkeit von Wörtern angesprochen, eine „Sache vor Augen zu führen“ (1405b13). Schönheit und Evidenz der Ähnlichkeit, das heißt die Leichtigkeit im Finden einer semantischen Schnittmenge, steigen, wenn zu einer rein begrifflichen Analogie zwischen Relationen eine bildliche Gemeinsamkeit tritt. ‚Stoppel‘ als Metapher für ‚Alter‘ ist auch deshalb evident, weil ‚Stoppel‘ in gewisser Weise die „Gestaltqualität“19 eines ausgedünnten, im Welken und Vergehen begriffenen Feldes assoziieren lässt, die der bildlichen Konnotation des Abstraktums ‚Alter‘ als ausgezehrter, gebeugter Mensch mit faltiger Haut und schütterem Haarwuchs ähnlich ist. Die Anschaulichkeit bzw. Visualisierbarkeit des semantischen Paradigmas von Metapher und Kontext erleichtert nicht nur dessen Auffinden, sondern macht es semantisch fülliger. Aristoteles nennt das Vor-Augen-Führen einer Sache durch den übertragenen Wortgebrauch als Bedingung für gelungene Metaphern, was in älterer Terminologie auch als „malende Metapher“20 wiedergegeben wird. 19 Stierle (ebd., S. 160) spricht hinsichtlich der Analogie von ‚Schale des Dionysos‘ und ‚Schild des Ares‘ von einer Kongruenz der „Gestaltqualität“ (Rundung), die Aristoteles in seiner Metapherdefinition nach dem Analogie-Prinzip übergangen habe. Generell ist strittig, wie entscheidend das Kriterium der Anschaulichkeit bzw. Ikonizität für den Metaphernbegriff ist. Der von Rapp: Kommentar, S. 909 abschließend gemachte Vorschlag, im Einklang mit modernen, nicht ikonischen Metaphertheorien das von Aristoteles angeführte Kriterium des Vor-Augen-Führens selbst als bloße Metapher für rein kognitive Vorgänge, die „keiner quasi-sinnlichen oder imaginativen Vermögen“ bedürfen, aufzufassen, ist wenig überzeugend; zu deutlich weist die mehrfach wiederholte Bemerkung, Anschaulichkeit resultiere vor allem aus solchen Metaphern, die etwas „in einer Aktivität Befindliches“ (1411b26) bezeichnen, auf das Imaginationsvermögen. Wie etwa der Vergleich eines ‚guten Mannes‘ mit einem Quadrat (1411b27f.) zeigt, sind für Aristoteles auch nicht anschauliche Metaphern möglich, allerdings weniger erfolgversprechend. 20 So Aristoteles: Schriften zur Rhetorik und Poetik. Bd. 1, Rhetorik, übersetzt von K. L. Roth. Stuttgart 1833, S. 260 (zu 1411b6).

3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles

137

„Ich sage nämlich von allem dem, dass es vor Augen führt, was etwas in einer Aktivität Befindliches bezeichnet“ (1411b25f.), weshalb es sich empfiehlt, alles „Unbelebte durch die Metapher belebt zu machen“ (1412b33f.). Dass das Aktivitätskriterium durchaus weit gefasst und alle Formen von Prozessualität einschließend betrachtet wird, belegt die von Aristoteles nach der Stoppel-Alter-Analogie gebildete Formulierung „in der vollen Blüte seiner Jahre stehend“ (1411b28f.). Weniger ‚vor Augen führend‘ bzw. malend und damit imaginativ weniger wirksam wäre hingegen der Vergleich eines ‚guten Mannes‘ mit der Vorstellung eines Quadrats (als geometrischer Figur der Vollkommenheit). 3.1.2  Reichtum an Gedanken durch Verknappung und Entgegensetzung Das kognitive Erklärungsmodell für die Lust an der Metapher zeigt, dass Aristoteles das Prinzip der übertragenen Verwendung von Wörtern nicht nur als Frage der „sprachlichen Form“ ansieht, sondern als intellektuelle Leistung. Das Finden adäquater Metaphern durch den Autor einer Rede und ihr schnelles Verstehen durch den Zuhörer zeugen von der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Anschauungen und Begriffen eine Schnittmenge gemeinsamer semantischer Merkmale zu erkennen. Wer kühne, das heißt im eigentlichen Wortsinn „geistreiche“ (ta ásteīa)21 Metaphern verstehen will, muss in der Lage sein, „über vieles hinweg zusammenzuschauen und von weither Schlüsse zu ziehen“ (1357a4). Das Geistreiche als Zusammenschau und Zusammenziehung des Vielen in semantischen Paradigmen meint nichts anderes als ein sprachliches Potential zu reicher Gedankentätigkeit, das zugleich, insofern die Gedanken per Metaphorik mit Anschaulichkeit verbunden sind, ein Potential zu reicher Imaginationstätigkeit ist: Deshalb stellt die von Aristoteles lustökonomisch austarierte Denkfigur des Geistreichen einen Grundbaustein jeder Faszinationspoetik dar. Mit dem philosophischen Anspruch des Zusammenschauens, um „auch in den weit auseinander liegenden Dingen das Ähnliche zu erkennen“ (1412a12f.), führt Aristoteles die Theorie der Metapher ansatzweise aus dem Bereich der rhetorischen Pragmatik und eröffnet eine Perspektive auf eine unterschiedlich ausgeprägte Analogiefindungs- bzw. Paradigmenbildungskompetenz. Der Vergleich der rhetorischen Praxis mit der Philosophie anlässlich der kühnen Metapher deutet im Unterschied zur ubiquitär verwendbaren Metapher die Notwendigkeit einer Expertise im Modus des Geistreichen an.22 Es geht Aristoteles hierbei um Analogien, die nicht mehr ohne weiteres zu er21 ta ásteīa (von astós: Städter, Bürger) meint eine gewandte, schlagfertig-gefällige Ausdrucksweise. „Die so benannte Eigenschaft der Rede und ihrer Teile ist die Wirkung einer Fähigkeit, die in den Bereich der Begabungen fällt und durch Übung erhalten und vertieft“ wird (Rapp: Kommentar, S. 838). 22 Ebd., S. 911.

138

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

kennen sind: etwa das Auffinden jenes semantischen Paradigmas, unter der ein Schiedsrichter (Gattung ‚menschliches Lebewesen‘) und ein Altar (Gattung ‚Bauwerk‘) als analog betrachtet werden können: „zu beidem fliehe nämlich der, dem Unrecht geschieht“ (1412a13f.). Eine weitgehende Lizenz zur Kühnheit ist der Metapher freilich nur im Rahmen von Dichtung gewährt. Aristoteles fasst die Metapher als Pendant zu dem im 2. Buch der Rhetorik eingehend diskutierten gedanklichen Überzeugungsmittel des Enthymems auf. Das Enthymem ist ein rhetorisches Beweisverfahren und als ein solches das Kernkonzept der Rhetorik. Es besteht aus Sentenzen, die einen Bedingungsoder Begründungszusammenhang konfigurieren:23 „Wenn der Krieg Ursache für die gegenwärtigen Übel ist, dann muss man die Dinge mit Frieden wieder in Ordnung bringen“ (1397a11f.). Prämissen sind die allgemeinen Feststellungen, dass Krieg Ordnung zerstört und Frieden Ordnung erhält; aus diesen lebensweltlich plausiblen Annahmen heraus erhält die Konklusion Beweis­ charakter und in der Rede argumentatives Gewicht.24 Derartige rhetorische Beweise erheben den Anspruch einer Regel im Sinne eines wahrscheinlichen Zusammenhanges.25 Die logische Überzeugungsgewalt des im Enthymem vorgeführten, durch Auslassung von Prämissen oder bestimmten Begründungsaspekten modellierbaren Beweisverfahrens, das auf einer Kombination von Sentenzen beruht, hat in der Metapher ein verknapptes sprachliches Pendant. Allerdings wird bei der Metapher das Erkennen nicht entlang eines Beweisverfahrens durch den Redner, sondern selbstständig durch den Zuhörer vollzogen. So wenig wie die Metapher darf das Entyhmem weder offenkundig noch „von weither“ geholt sein (1395b25), um durch ein balanciertes Verhältnis von Aufmerksamkeitsbindung und Lust überzeugend zu wirken: Deswegen kommen von den Enthymemen weder die oberflächlichen gut an – denn ‚oberflächlich‘ nenne wir die für jeden offenkundigen und die, die keinerlei Suche erforderlich machen – noch die, die, wenn sie ausgesprochen sind, unverständlich bleiben, sondern die (kommen gut an), bei denen sich das Verstehen entweder gleich, wenn sie ausgesprochen werden, einstellt, auch wenn es zuvor nicht vorhanden war, oder die, bei denen der Gedanke nur wenig später folgt. (1410b21 – 27)

Grundbaustein des Enthymems sind Sentenzen. Die Verwendung von Sentenzen ist generell vorteilhaft, weil die Rede dadurch der „ungebildeten Geistesart der Zuhörer“ Anlässe zu Lust verschafft, insofern vorgängige Meinungen in der Sentenz eine generalisierende Bestätigung finden: Die Zuhörer „freuen sich nämlich, wenn man zufällig etwas von denjenigen Meinungen im Allgemei23 „Das also ist eine Sentenz; wenn man aber den Grund und das Warum hinzusetzt, ist das Ganze ein Enthymem“ (1394a30f.). 24 Rapp: Kommentar, S. 71f. 25 Ebd., S. 231.

3.1  Stimulierung durch Abweichendes: Die Metapher bei Aristoteles

139

nen sagt, die jene im Besonderen haben“ (1395b2f.). Die Leistung der Sentenz liegt also darin, durch eine allgemeingültige, dem eigentlichen Redegegenstand gegenüber unspezifische Aussage einem breiteren Meinungsspektrum zu entsprechen. Die Sentenz hat eine fokussierende Wirkung; sie spricht viele an, da sie als Schema viele Einzelüberzeugungen zu bestätigen vermag. Darin ist sie mit der Leistung der Metapher vergleichbar, insofern diese, ungeachtet der abweichenden Meinungen der Zuhörer hinsichtlich des verhandelten Gegenstandes, alle in ähnlicher Weise lustvoll anspricht. Sentenz wie Metapher sind für die pragmatische Rede erfolgversprechend, weil sie als Redeformen des Paradigmatischen unabhängig des verhandelten Gegenstandes die Disparatheit der Zuhörermeinungen koordinieren und in einer für die Überzeugungsintention vorteilhafte Weise fokussieren können. Aristoteles vergleicht diese massenpsychologisch zweckmäßige Redeweise mit der Wirkung von Schattenmalerei. Unter Schattenmalerei (skiagraphia) versteht man eine Maltechnik, bei der verschiedene Farb-, Licht- und Schattenwerte einer Kontur nebeneinander gesetzt werden, so dass diese, allerdings nur aus größerer Distanz, sich wechselseitig plastisch zur Geltung bringen.26 Aus der Nähe betrachtet wirken solche Gemälde hingegen verwirrend. Wie bei der Schattenmalerei sei deshalb bei der – vor allem politischen – Rede ein sprachliches Abrücken vom Spezifischen erfolgversprechend: „je größer nämlich die Menge ist, um so entfernter muss der Betrachterstandpunkt sein“ (1414a7f.). Sentenz und Enthymem leisten dies durch die Allgemeingültigkeit ihrer Aussage, Metaphern durch die semantische Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem. Das Geistreiche als bestimmendes Hintergrundkonzept des 3. Buches der Rhetorik bezeichnet den spezifischen Wirkungs- und Lusteffekt für den Bereich der pragmatischen Rede in Absetzung von Dichtung. Geistreich, also reich an der für das Verstehen vorausgesetzten Gedankentätigkeit sind semantische Verschränkungen und Übertragungen in Form von Metaphern, Vergleichen, Rätseln, Sentenzen, Sprichwörtern, Hyperbeln, Emphasen oder kalauernden Wortspielen vor allem dann, wenn die bildhafte Rede zusätzlich eine antithetische Struktur aufweist. In diesem Fall liegt eine doppelte Erwartungsenttäuschung vor: Zu der Irritation durch den Wechsel der semantischen Domäne tritt ein (scheinbarer) logischer Widerspruch. Im 11. Kapitel des 3. Buches wird das psychologische Profil des Verstehens geistreicher Rede in dieser Hinsicht präzisiert. Die dafür wirkungsästhetisch konstitutive Erwartungsenttäuschung durch übertragenen Wortgebrauch wird im Fall der antithetisch konstruierten Metapher durch eine „zusätzliche Täuschung“ verstärkt. „Es besteht aber auch das Geistreiche in den meisten Fällen durch eine Metapher und eine zusätzliche Täuschung; denn es wird in höherem Maße deutlich, dass 26 Franz, M.: Von Gorgias bis Lukrez.: Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie. Berlin 1999, S. 97.

140

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

man etwas gelernt hat, wenn es sich (der Erwartung) entgegengesetzt verhält“ (1412a18 – 21). Die Wirkungsqualität wird hier von Aristoteles weniger als ein bloßes Lernen, sondern als ein Selbstgefühl und eine Selbstreflexion in der Tätigkeit beschrieben: Die Seele erkennt in der ‚geistreich‘ verwendeten Metapher die eigene Vorurteilsstruktur. Aristoteles‘ Beschreibung dieser Selbstreflexion ist selbst antithetisch: „die Seele scheint zu sagen: ‚Wie wahr, aber ich irrte mich.‘“ (1412a21f.). Diese doppelte Erwartungsenttäuschung intensiviert die emotionale Empfindung und die kognitive Herausforderung („in höherem Maße deutlich“) und macht dadurch die Wirkung der Metapher komplexer. Bereits im 10. Kapitel des 3. Buches heißt es über den Gebrauch von Tropen, dieser käme besonders gut an, „wenn entgegengesetzt gesprochen“ wird. Aristoteles exemplifiziert dies an dem antithetischen Satz: „weil sie den für die anderen gemeinsamen Frieden als einen gegen ihre eigenen Interessen gerichteten Krieg ansehen“ (1410b29 – 32). Der ‚Krieg gegen sie‘ im zweiten Teil des Satzes substituiert antithetisch den ‚Frieden der anderen‘. Durch diese semantische Spannung der Entgegensetzung der Bildlichkeit wird sprachlich der vom Redner intendierte Perspektivenwechsel der Zuhörer in der Beurteilung der politischen Konfliktsituation adäquat motiviert. Derart antithetisch und im Sinne Aristoteles‘ rhetorisch „geistreich“ ist auch der in Kapitel 2.2. erläuterte Gebrauch des Schleier-Tropus in der Aufschrift über dem Isis-Tempel: „Ich bin alles, was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt“, von der Kant sagt, dass vielleicht „nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden“ sei.27 Diese doppelte Erwartungsenttäuschung durch die Verbindung von semantischem Domänenwechsel und antithetischer Konstruktion wird nicht nur für die intellektuell herausfordernd (geistreich) verwendete Metapher, sondern ebenso für Sentenz und kalauernde oder mehrdeutige Laut- und Sprachspiele bis hin zur semantischen Emphase erläutert. Geistreiche Sentenzen (apophthégmata) „rühren daher, dass sie nicht ausdrücklich sagen, was sie meinen“ (1412a21f.). Auch die scheinbar tautologische Verwendung homonymer Wörter löst einen Irritationseffekt aus, der zu einer lustvollen Verstehensanstrengung führt; diese ist aber nicht auf das Finden partiell semantischer Übereinstimmung, sondern auf das Erkennen semantischer Differenz gerichtet. Hinsichtlich der Verwendung des homonymen, aber antithetisch gebrauchten Wortes arché (Anfang bzw. Herrschaft) in einem Satz heißt es: „Denn zu sagen die arché sei die arché, hat nichts Weises, aber man sagt (eines der beiden) nicht so, sondern in einem anderen Sinn, und man verneint arché nicht in dem Sinn, in dem man es gebracht hat, sondern in einem anderen Sinn“ (1412b7 – 11). Obgleich Aristoteles von Scherzen (schómmata) spricht, setzt die mit dem Erstaunen verbundene Selbstreflexion der Seele 27 Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 316.

3.2  Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione 

141

nur dann ein, wenn das Wortspiel mit einer Wahrheit verbunden ist: Reich an Gedankentätigkeit ist eine Formulierung, wenn etwas gesagt wird, „von dem man nicht erwartete, dass es jemand sagt, und es wurde erkannt, dass es wahr ist“ (1412b7f.). Das Bedingungsgefüge von enttäuschter Erwartung und erkannter Wahrheit wird in Zusammenhang der Konstruktionsformel geistreicher Formulierungen als asyndetisches und antithetisches Prinzip auf den Punkt gebracht. „Die Art der sprachlichen Form also ist von diesen dieselbe; aber je mehr es [in] weniger Worten und entgegengesetzt gesagt wird, umso besser kommt es an. Der Grund aber ist, dass das Lernen durch das Entgegengesetzt-Sein eher, durch das In-wenigen-Worten-Sagen schneller zustande kommt“ (1412b21 – 24). Die Kombination zweier tendenziell gegenläufiger Zeichenverarbeitungsprozesse optimiert den Lern- und Lusteffekt. Durch die Reduzierung der Anzahl zu verstehender Wörter, das heißt durch Reduzierung des semiotischen Aufwandes in der Andeutung erhöht sich zwar die Verarbeitungsgeschwindigkeit, aber auch die Erkenntnisherausforderung: Dadurch wird die Aussage prägnant. Die Entgegensetzung erhöht durch eine komplexe logische Struktur den kognitiven Aufwand, lässt jedoch am Ende die erschlossene Aussage spürbarer hervortreten. Der Verfremdungseffekt von sprachlicher Verknappung und semantischer Entgegensetzung wird ergänzt durch das Relevanzkriterium: „vorausgesetzt, das Gesagte ist wahr und nicht oberflächlich“ (1412b24f.). Aristoteles geht es also nicht um unterhaltsame Wortspiele, sondern um tiefergehende Erkenntnis – seine Konzeption nähert sich darin in manchem dem Erhabenheitsbegriff Ps-Longins an. Er erläutert – unabhängig der Frage des Metapherngebrauchs – die Konstruktionsformel des Geistreichen anhand von Formulierungsvarianten der (wahren) Sentenz „Schön ist es zu sterben, bevor man etwas getan hat, was des Todes würdig ist“. Die inhaltlich gleiche Variante „man soll sterben, ohne einen Fehler begangen zu haben“ ist kürzer, aber nicht geistreich, da sie nicht antithetisch konstruiert ist. Dagegen ist die Formulierung „würdig ist es zu sterben, wenn man zu sterben nicht würdig ist“ (1412b26 – 30) sowohl verknappend als auch antithetisch und bildet damit ein optimales Potential für Gedankentätigkeit.

3.2  Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione  Durch die Veränderung des Anwendungsrahmens von der öffentlichen Rede zu schriftlichen Texten in Prosa- und Versform kommt es in der antiken Rezeption der aristotelischen Metapherntheorie zu einer Umakzentuierung. Nicht mehr das leichte Verstehen der Metapher, sondern die emotionale Erschütterung und selbstreflexive Suchbewegung der Seele gewinnen in den späteren hellenistischen Stiltheorien stärker an Bedeutung. Dies lässt sich im Vergleich

142

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

der psychologischen Diskussion ein und desselben Beispiels für bildhaft-andeutende Rede in Aristoteles‘ Rhetorik und in der Abhandlung De elocutione eines unbekannten, als Ps-Demetrios bezeichneten Autors ablesen. Das 3. Buch der Rhetorik führt als Beleg für eine geistreiche, weil mit doppelter Erwartungsenttäuschung arbeitende Sentenz die dem nachhomerischen Dichter Stesichoros zugeschriebene Wendung „dass ihnen die Zikaden vom Boden her singen werden“ (1412a23f.) an. Sie irritiert die Erwartung, insofern sie bildhaft (die Referenz der Aussage betrifft anderes als Zikaden) und antithetisch (Zikaden singen von Bäumen, nicht vom Boden) ist. Die gleiche „rätselhafte“ Wendung nennt Aristoteles schon im 2. Buch als Beispiel für ein Enthymem, dessen Begründung nicht genannt, sondern nur implizit durch den verwendeten Tropus angedeutet wird. Bei den Dingen, die zwar nicht befremdlich, aber auch nicht klar sind, muss man das Weswegen in möglichst gedrängter Form hinzufügen. Es passen aber in solchen Fällen auch die lakonischen und die rätselhaften Sinnsprüche, wie wenn einer zum Beispiel das sagt, was Stesichoros bei den Einwohnern von Lokri sagte, nämlich dass man nicht übermütig sein soll, damit nicht die Zikaden vom Boden her singen.

Ein solcher Sinnspruch ist weder fremd (es gibt keinen Bruch in der Isotopie wie bei der Metapher) noch klar, denn es bleibt rätselhaft offen, inwiefern das Bild von den Zikaden in Analogie zu einer möglichen Folge des Übermuts der Einwohner von Lokri steht. Das Attribut ‚lakonisch‘ rührt daher, dass dieser Sinnspruch in „gedrängter Form“ und in seinen beiden Teilen (Handlungsanweisung und Begründung) unverbunden konstruiert ist; dies gilt als charakteristisch für die Ausdrucksweise der Einwohner Spartas, auch Lakedaimonier genannt.28 Inhaltlich bezieht sich der Sinnspruch auf die Einwohner der griechischen Kolonie Lokri in Süditalien, die lange mit Sparta verbündet war. Der Sinnspruch des Stesichoros erfüllt alle Bedingungen gedankenreichen Sprechens: Er ist knapp, bildhaft und er enthält eine „zweite Täuschung“, nämlich die jeder Erfahrung widersprechende Behauptung, der Gesang der Zikaden werde als Folge von Übermut nicht aus den Baumkronen, sondern vom Boden zu hören sein. Zudem erhebt er, im Modus eines drohenden Tun-Ergehen-Zusammenhangs, den Anspruch auf eine allgemeingültige Wahrheit. Das Gebot ‚man soll nicht übermütig sein‘ behauptet mit der Konklusion ‚damit die Zikaden nicht vom Boden her singen‘ syntaktisch und argumentativ einen Zusammenhang, der sich logisch und hinsichtlich der Aussage nicht ohne Weiteres erschließt. Der grammatischen Stimmigkeit und dem argumentativen Zusammenschluss beider Teile der Sentenz widerspricht ihre semantische Inkohärenz und Ungeklärtheit. Diese Irritation fordert, auf der von Aristoteles angezeigten lustökonomischen Basis menschlicher Er28 Rapp: Kommentar, S. 738.

3.2  Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione 

143

kenntnis, unmittelbar im Verstehen des Sinnspruchs eine imaginativ-kognitive Klärungsanstrengung heraus, die als Faszinationseffekt aufgefasst werden kann. Heißt es bei Aristoteles über die Metapher, sie „behauptet […], dass dieses jenes sei; folglich sucht auch die Seele […] danach“ (1410b19), so verstärkt der argumentativ-allgemeingültige Anspruch des Enthymems die Kohärenzbehauptung, die nach einem semantischen Paradigma von zwei impliziten Umständen suchen lässt: nämlich nach einer semantischen Schnittmenge zwischen der ungenannten möglichen Folge des kritisierten Verhaltens der Lokrer und der ungenannten möglichen Ursache für das abnorme Verhalten der Zikaden. Es ist kaum abzuschätzen, ob der Sinnspruch des Stesichoros für die Zeitgenossen des Aristoteles leicht verständlich war. Er ist vermutlich so aufzufassen, dass durch ihn die Lokrer, auf deren sprichwörtliche Musikalität die singenden Zikaden bildhaft verweisen (semantisches Paradigma), vor den Folgen ihrer Übergriffe auf benachbarte Städte gewarnt werden sollen, da diese auf sie selbst zurückschlagen werden. Das Singen der Zikaden vom Boden würde nach dieser Lesart andeuten, dass alle Bäume umgehauen und die Lebensgrundlagen der Lokrer vernichtet sind.29 Ähnlich einer Metapher in absentia30 weist der Sinnspruch auf ein gemeinsames außerhalb des Textes stehendes „Blickfeld von Sprecher und Hörer“31, über dessen Gebräuchlichkeit und damit Verständlichkeit sich nur spekulieren lässt. Er ist nicht doppeldeutig (täuschend), sondern befremdlich (gedankenreich), da der zweite Teil sich logisch nicht ohne weiteres an den ersten anschließen lässt, also irritiert. Vergleicht man ihn mit dem gleichfalls prognostischen, von Aristoteles wie erläutert als doppeldeutig und nicht geistreich bezeichneten Orakelspruch „Wenn er den Halys überschritten hat, wird Kroisos ein großes Reich zerstören“ (1407a38f.), wird der Gedanken generierende Wirkungseffekt aus der Verbindung von Übertragung, Verknappung und Entgegensetzung deutlich: Die sprachliche Konstruktion der Doppeldeutigkeit (Orakel über Kroisos) verbirgt den drohenden Charakter der Prognose und beruhigt (fälschlich) den Adressaten, während durch den beschriebenen Wirkungseffekt des Geistreichen (Sinnspruch des Stesichoros) der Adressat aufgeweckt wird. In der im ersten vor- oder ersten nachchristlichen Jahrhundert entstandenen, in peripathetischer Tradition stehenden Abhandlung über den Stil von Prosatexten De elocutione (griech.: Peri hermeneias) wird die Drohung an die Adresse der Lokrer zweimal als Beleg für die außerordentliche Wirkungs29 Redfield, J. M.: The Locrian Maidens. Love and Death in Greek Italy. Princeton, NJ 2003, S. 205f. 30 Da bei einer Metapher in absentia der ersetzte Begriff nicht genannt wird, ist man zum Verständnis auf den satzübergreifenden Kontext verwiesen (Stierle: Text als Handlung, S. 172). 31 Ebd.

144

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

kraft andeutender Rede angeführt.32 Der Autor unterscheidet insgesamt vier Stilarten (charaktéres), die teilweise miteinander kombinierbar sind und hinsichtlich ihres Anwendungsbereiches und ihrer Wirkung unterschieden werden: den einfachen (ischnós), den erhabenen (megaloprepés), den elegant-geschmeidigen (glaphyrós) und den kraftvoll-energischen (deinós) Stil.33 Für den erhabenen Stil von Prosatexten, mit dem der Autor eine von der römischen Dreistillehre unabhängige Tradition der Kopplung von obscuritas und Erhabenheit eröffnet, wird die moderate Verwendung von Metaphern und Allegorien empfohlen.34 Um erhaben (megaloprepés) zu wirken, sollte die Ausdrucksweise prächtig, aufwendig und von der gewöhnlichen Sprache abweichend sein.35 Ermöglicht werde dies durch Metaphern, die ähnlich wie bei Aristoteles diskutiert werden. Sofern Metaphern nicht zu zahlreich verwendet oder zu kühn konstruiert werden und auf einer Analogierelation beruhen, verleihen sie der Sprache Großartigkeit und ‚Zauber‘ („charm“)36, das heißt wörtlich: ein ‚Zusammenwerfen oder -fügen mit Worten‘ („symbállontai tois lógois“). Von der Metapher unterschieden wird in Paragraph 99 die allegorische Ausdrucksweise. Diese sei von besonders eindrücklicher Größe (megaleion), wenn sie, wie bei dem – hier Dionysios, einem Gegner der Lokrer, in den Mund gelegten – Ausspruch ‚die Zikaden werden vom Boden her singen‘, mit einer Drohung verbunden ist.37 In dem darauf folgenden Paragraphen wird die Wirkung dunkel-andeutender Rede genauer beschrieben: Wenn Dionysios seine Meinung direkt geäußert hätte, nämlich dass er das Land der Lokrer verwüsten würde, hätte er mehr Verärgerung und zugleich weniger Würde gezeigt. In dem Satz, den der Sprecher tatsächlich verwendete, sind seine Wörter verhüllt, so wie in einer Allegorie. Jeder dunkel-andeutende Ausdruck wirkt schrecklicher und über die Tragweite seiner Bedeutung werden von ver32 Die Datierung folgt Till, D.: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 71. 33 § 36; aus „De Elecutione“ wird im Folgenden unter Angabe des jeweiligen Paragraphen nach der englischen Übersetzung von W. R. Roberts (Demetrius: On Style. The Greek Text of Demetrius „De Elecutione“ hg. nach dem Paris Manuskript von W. R. Roberts. Cambridge 1902) zitiert. 34 Ausführlich zur Rolle der obscuritas bei Ps-Demetrios vgl. Kustas, G. L.: Studies in Byzantine Rhetoric. Thessaloniki 1973, S. 69ff., zur Neukonzeption von Erhabenheit vgl. Till: Das doppelte Erhabene, S. 68ff. 35 § 77: „The diction used in this style should be grandiose, elaborate, and distinctly out of the ordinary. It will thus possess the needed gravity, whereas usual and current words, though clear, are unimpressive and liable to be held cheap.“ 36 § 78: „.In the first place, then, metaphors must be used; for they impart a special charm and grandeur to style. They should not be numerous, however; […]. Nor yet should they be far-fetched, but natural and based on a true analogy.“ 37 Der Ausspruch wird hier dem Tyrannen Dionysios I. von Syrakus, einem Gegner der Lokrer, zugeschrieben (Redfield: The Locrian Maidens, S. 206).

3.2  Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione 

145

schiedenen Zuhörern unterschiedliche Vermutungen angestellt. Auf der anderen Seite werden Dinge leicht verschmäht, die klar und deutlich sind, gerade so wie Männer, die ihrer Kleidung beraubt sind.38

Durch die andeutende Ausdrucksweise verhüllt der Sprecher seine wirklichen Empfindungen. Zudem verstärkt sie, da der Hörer die implizite Drohung dem Gesagten erst selbstständig entnehmen muss und in ihrer Tragweite nicht genau abschätzen kann, die emotionale Wirkungskraft. Dem entspricht die ausdrückliche Abwertung der für die lateinische Rhetoriktradition maßgeblichen Klarheit (perspicuitas), da diese wirkungsästhetisch unattraktiv, weil mit weniger kognitiver Herausforderung und emotionaler Stimulierung verbunden, ist. Die lustökonomische Attraktivität uneigentlicher Redeweise, die Aristoteles für die moderat gewählte Metapher aus der Erkenntnislust des Menschen herleitet, wird hier in ihrem emotionalen Profil weitaus stärker veranschlagt. Als ausschlaggebend für den Gebrauch dunkel-andeutender Ausdrucksweise werden drei Wirkungsaspekte genannt: Verhüllung der Sprecherintention, kognitiv-imaginative Involvierung des Hörers durch Deutungsnotwendigkeit sowie Unabschließbarkeit des Vermutens aufgrund verschiedener Verständnismöglichkeiten. Als vierter Wirkungsaspekt kommt im konkreten, kein ästhetisches, sondern ein faktual-politisches Setting betreffenden Lokrer-Beispiel der psychologisch durchschlagende emotionale Zwiespalt von einerseits Erkenntnis (Lust hinsichtlich der sprachlichen Darstellung), andererseits erkannter Drohung (Angst hinsichtlich des sprachlich Dargestellten). Dieser Wirkungs­aspekt wird durch den Rezipienten als Gewalt erlebt, wenn – wie im Lokrer-Beispiel – das durch produktive Entfaltung der Andeutung generierte Verstehen mit den eigenen Erwartungen, Werten oder Interessen kollidiert: Der Rezipient wird dabei sprachlich genötigt, etwas mit Lust zu imaginieren, was zu imaginieren er verabscheut. Obgleich der vierte Aspekt unter ästhetischem Vorzeichen schwächer ausfällt, können diese vier Wirkungsaspekte (Verhüllung, Involvierung, Unabschließbarkeit, emotionaler Zwiespalt) auch als Wirkungsaspekte von ästhetischer Faszination angesehen werden. Allerdings würde sich unter ästhetischem Vorzeichen die Frage nach der lustökonomischen Balancierung einer solchen starken Involvierungs- und Verstehensherausforderung per obscuritas etwas anders als bei Aristoteles stellen. Nur ansatzweise reflektiert Ps-Demetrios diese lustökonomische Balancierung, etwa wenn er vor einer zu 38 § 100: „If Dionysius had expressed his meaning directly, saying that he would ravage the Locrian land, he would have shown at once more irritation and less dignity. In the phrase actually used the speaker has shrouded his words, as it were, in allegory. Any darkly-hinting expression is more terror-striking, and its import is variously conjectured by different hearers. On the other hand, things that are clear and plain are apt to be despised, just like men when stripped of their garments“ (deutsche Übersetzung hier und im Folgenden A.D.).

146

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

starken Verrätselung warnt.39 Ein weiterer Unterschied zum Wirkungsmodell der Metapher in der aristotelischen Rhetorik wird darin erkennbar, dass dort der übertragenen Redeweise (Metapher), aufgrund von Erkenntnislust, eine die Zuhörerschaft emotional homogenisierende Funktion zugesprochen wurde, während bei Ps-Demetrios die stärker herausfordernde dunkel-andeutende Redeweise (Allegorie) die Zuhörerschaft aufgrund verschiedener Verstehensmöglichkeiten spaltet: darin liegt, zeitlich abgebildet, ihr andauerndes Involvierungspotential. Ein solcher Wirkungseffekt ist, abgesehen von einer intendierten Angstverstärkung durch Ungewissheit wie im Lokrer-Beispiel, eher für eine von direkter Handlungs­pragmatik entkoppelte (etwa ästhetisch modellierte) Kommunikationssituation charakteristisch. Die faszinationsaffine Korrelation von obscuritas und emotional-kognitiver Wirkungssteigerung wird durch den antiken Autor über das Lokrer-Beispiel hinaus verallgemeinert: „Oft ist der indirekte Ausdruck eindrücklicher als der direkte [...]“40 (§ 104). Dies ist aber nicht mit artifizieller Verrätselung zu verwechseln, da ein hoher kognitiver Dechiffrierungsaufwand die spontane emotionale Eindringlichkeit der dunkel-andeutenden Rede, wie sie auch für mystische Sprache kennzeichnend ist, auslöscht.41 Ps-Demetrios selbst wählt eine bildhaft übertragene Ausdrucksweise, wenn er die Wirkung der Allegorie mit der Wirkung von Dunkelheit und Nacht vergleicht: Beide erregten in ähnlicher Weise Erschütterung (ékplexis) und schauderndes Erstarren (phríke) (§ 101).42 Diese starke emotionale Qualität, die dem Bereich des Erhabenen zugehört, wird hier allein aus der Verwendung einer rhetorischen Form, nämlich dem übertragenen Wortgebrauch im Sinne einer Allegorie, abgeleitet. Da die dunkel-andeutende Drohung gegen die Lokrer von Ps-Demetrios als der Allegorie ähnlich aufgefasst wird, sind auch hier, ungeachtet der eigentlichen Bedeutung, Erschütterung und schauderndes Erstarren als affektive Wirkungsqualität anzusetzen. Diese Umakzentuierung, die das Lokrer-Beispiel der kognitionsbezogen argumentierenden Rhetorik des Aristoteles in der stärker emotionsbezogen ausgerichteten Abhandlung De elocutione erfährt, mar39 Vgl. § 102: „Here again excess must be avoided, lest language become a riddle in our hands [...].“ 40 § 104: „Often the indirect expression is more impressive than the direct [...]“. 41 Zur Wirkungsähnlichkeit zwischen mystischer und allegorischer Sprache § 101. – Grundsätzlich lassen sich zwei Grundtypen literarischer Dunkelheit unterscheiden, die pathetisch-ernste und die artistisch-spielerische Dunkelheit. (M. Fuhrmann: Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: Iser, W. (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Poetik und Hermeneutik. Bd. 2. München 1966, S. 47 – 69, hier S. 50). 42 § 101: „Hence the Mysteries are revealed in an allegorical form in order to inspire such shuddering and awe as are associated with darkness and night. Allegory also is not unlike darkness and night.“

3.2  Wirkungssteigerung durch Dunkelheit: Ps-Demetrios’ De elocutione 

147

kiert ein verändertes Wirkungsverständnis, das die Irritation angesichts von Verfremdung hin zu einer Faszinationsreaktion verstärkt.43 Ein weiteres Mal wird die Drohung gegen die Lokrer von Ps-Demetrios im Kapitel über den kraftvoll-energischen Stil (deinótes) aufgegriffen, um psychologische Effekte in Abhängigkeit von stilistischen Verfahren zu erläutern. Kraftvoll-energischer Stil und erhabener Stil weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf; unterschiedlich ist, neben der größeren Bedeutung der Verknappung für das Energische, vor allem ihre jeweilige gattungsspezifische Zuständigkeit: Der erhabene Stil empfiehlt sich für Epos und Historie, der kraftvoll-energische Stil für die öffentliche Rede.44 Das Lokrer-Beispiel dient dem Autor hier dazu, Wirkungsparallelen zwischen sprachlicher Kürze einerund andeutender Sprache andererseits aufzuzeigen. Verknappende Formulierungen, namentlich die den Spartanern eigene Lakonie, wirken energisch und bezwingen die Zuhörer (§ 242). Ähnliches gilt für übertragen-bildhaften Sprachgebrauch: „Aus diesem Grund sind sinnbildliche Wendungen wirkungsvoller, ähnlich wie kurze Äußerungen. Es ist dann an uns, die eigentliche Bedeutung der kurzen Aussage zu erschließen, so als wenn es eine Art von Rätsel wäre“45 (§ 243). Syntaktische Verknappung und bildhafte Ausdrucksweise kommen darin überein, weniger oder anderes zu sagen, als sie tatsächlich meinen, und so die Imagination zu eigenmächtigen Verstehensanstrengungen herauszufordern. Die Nachdrücklichkeit von syntaktischer Verknappung findet für Ps-Demetrios im plötzlichen Schweigen ihre radikalste und semantisch riskanteste Ausprägung: „Verknappung ist so passend für diesen Stil, dass ein plötzliches Verstummen oft noch wirkungsvoller ist.“ (§ 253)46. Im Fall des Verstummens ist es dem Zuhörer weitgehend überlassen, aus der Geste des plötzlichen Schweigens und dem sprachlichen und situativen Kontext das damit Gemeinte mutmaßend zu erschließen. Generell ist die Steigerung der Wirkungskraft beim kraftvoll-energischen Stil relativ unabhängig von Kriterien sprachlicher Schönheit. Deutlich über Aristoteles’ Lizenz zur Abweichung hinausgehend – und selbst stilistisch mit dem Moment der Erwartungsenttäuschung arbeitend – konstatiert der Autor in Paragraph 254, dass erstaunlicherweise sprachliche 43 Shuger, D. K.: Sacred Rhetoric. The Christian Grand Style in the English Renaissance. Princeton NJ 1987, S. 38; Till: Das doppelte Erhabene, S. 68 geht im Anschluss daran von der These aus, „daß diese ‚andere‘ Tradition der Rhetorik Kriterien für das Erhabene postuliert, die von der Theorie der genera dicendi deutlich unterschieden sind“. 44 Ebd., S. 74. 45 § 243: „For this reason symbolic expressions are forcible, as resembling brief utterances. We are left to infer the chief of the meaning from a short statement, as though it were a sort of riddle“. 46 § 253: „Conciseness is so favourable to this style that a sudden lapse into silence is often yet more forcible, [...]“.

148

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

Dunkelheit (asápheia) rhetorisch von besonderem Wert sei: „Und (so seltsam es scheinen mag) Dunkelheit ruft oft eine starke Wirkung hervor, weil das, was entfernt angedeutet wird, wirkungsvoller ist, während das, was deutlich ausgesagt wird, für wertlos erachtet wird“47. Damit ist die Differenz zu Aristoteles und zur rhetorischen Tugend der perspicuitas auf den Punkt gebracht und zugleich, ganz unabhängig von den sinnlichen Wirkungsqualitäten Metrum und Klang, ein emotionsbezogenes Verständnis gesteigerter Wirksamkeit von Prosasprache etabliert, das nicht zuletzt die Basis von Faszination darstellt: Ästhetische Faszination beruht auf der „starken Wirkung“ dessen, „was entfernt angedeutet wird“: durch andeutend-bildhaften oder durch verknappenden Stil. Genau hier schließt im 18. Jahrhundert Hamanns Faszinationspoetik an. Für das Zustandekommen einer solchen Wirkung gibt es in den Stiltheorie- und Poetiktraditionen unterschiedliche Erklärungsansätze; einer der prominentesten ist die Erhabenheit der Gedanken aus der Feder eines spätantiken Autors.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen  Ästhetische Faszination lässt sich konzeptionell an den Begriff des Erhabenen der Gedanken anschließen. Dieser wurde, mit großer Wirkung auf die Poetik und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts und auch der Moderne, von einem als Longin bezeichneten unbekannten griechischen Autor des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eingeführt. Ps-Longin kennt die neuzeitliche Gegenüberstellung von Erhabenheit und Schönheit nicht. Auch geht es ihm, im Unterschied zu dem im zweiten Teil diskutierten Erhabenheitsbegriff Kants, nicht um Erhabenheit in der Anschauung von Natur, sondern im ästhetischen Erleben sprachlicher Wendungen und literarischer Passagen. Seine Abhandlung Vom Erhabenen (Peri Hypsous) gehört zu denjenigen stil- und dichtungstheoretischen Schriften des Hellenismus, die emotionale Erschütterung und anhaltende kognitiv-imaginative Involvierung des Rezipienten zu einem vorrangigen Wirkungsziel von Dichtung erheben. Im Fall von Peri Hypsous ist dies mit einem der stoischen Philosophie verpflichteten Programm der Wiedergewinnung traditioneller Werte und Verhaltenseinstellungen verbunden, dessen Leitbegriff ‚Seelengröße‘ (megalophrosyne bzw. megalophyía) ist.48 Die noch deutlicher als Ps-Demetrios von der lateinischen Bestimmung des ge47 § 254: „And (strange though it may seem) obscurity often produces force, since what is distantly hinted is more forcible, while what is plainly stated is held cheap“. 48 Ausführlich zu diesem Begriff und seinen philosophisch-religiösen Implikationen Fritz, M.: Vom Erhabenen. Der Traktat „Peri Hypsous“ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011, S. 61.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

149

nus sublime abrückende Neukonzeption von Erhabenheit durch Ps-Longin versucht, anthropologisch-metaphysische Rahmenmodelle, rhetorisch-stilistische Verfahren, psychologische Wirkungsmechanismen und ethische Optimierungseffekte aufeinander zu beziehen.49 In der von Ps-Longin vorgestellten Konzeption wird ästhetische Faszination erstmals greifbar als eine bestimmte Variante von Erhabenheit.50 Ps-Longins Abhandlung, die in platonischer Tradition steht, versteht Erhabenheit als eine überwältigende Erfahrung und nicht als einen bloßen Stileffekt.51 Indem der unbekannte Autor gleich am Beginn der Abhandlung Mängel anderer Schriften zu diesem Thema benennt, umreißt er seinen Gegenstand: die Frage, ob und wie die jeweilige natürliche Veranlagung zum 49 Umfassend geht Till: Das doppelte Erhabene auf die gelehrte Rezeption der Schrift schon seit Mitte des 16. Jahrhunderts ein, im Laufe derer sich das Erhabene Ps-Longins Mitte des 17. Jahrhunderts als ästhetische Kategorie von der römischen Dreistilwie von der hellenistisch-byzantinischen Ideenlehre des Hermogenes emanzipiert (S. 99). Für die neuzeitliche Ästhetik wirkungsmächtig wird sie durch die oft als Wiederentdeckung apostrophierte Übertragung von „Peri hypsous“ ins Französische durch Nicolas Boileau-Despréaux 1674, an die sich im 18. Jahrhundert Übersetzungen u. a. ins Englische und Deutsche anschlossen. Grundsätzlich zur französischen, englischen und vor allem deutschen Rezeption Ps-Longins: Zelle, C.: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1986; Zelle, C.: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995; Strube, W.: Der Begriff des Erhabenen in der deutschsprachigen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Kreimendahl, L. (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Festschrift für G. Gawlick. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 273 – 302. Das anhaltende Interesse an Ps-Longins Theorie betraf vor allem die Aufwertung des Pathos und der starken Affekte, gleich welcher Valenz, sowie die die christliche (vor allem protestantische) Ästhetik stützende Kategorie der erhabenen Simplizität (Till: Das doppelte Erhabene, S. 157) und die damit verbundene nicht-pathetische, sondern wesentlich kognitiv generierte „force energique“ (Boileau-Despréaux, N.: Réflexions critique sur quelques passages du rhéteur Longin, X. 1713, zitiert nach Pfister, F.: Ekstase, in: Reallexikon für Antike und Christentum, hg. von T. Klauser. Bd. 4. Stuttgart 1959, Sp. 944 – 987, hier Sp. 965). 50 Auf den Faszinationsaspekt von Erhabenheit verweist schon die von Boileau-Despréaux vorgenommene Verbindung des für Ästhetik und adlige Kultur des 17. Jahrhunderts zentralen Begriffs des je ne sais quoi (vgl. Scholar: The je-ne-sais-quoi) mit dem Erhabenheitsbegriff Ps-Longins: „Boileau bringt dieses Bedeutungsmoment des Erhabenen, das auf die letzte begriffliche Nichterhellbarkeit der ästhetischen Erfahrung verweist, unübertroffen in der Wendung des je ne scay quoy du Sublime zum Ausdruck“ (Fritz: Vom Erhabenen, S. 169). 51 Russell, D. A.: Introduction, in: ‚Longinus‘: On the sublime. Mit Einleitung und Kommentar hg. von D. A. Russell. Oxford 1964, S. XXXVII. W. Bühler (Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen. Göttingen 1964, S. 14, im Original z. T. hervorgehoben) sieht die „philosophische Vertiefung“, nämlich das „Zurückführen der großen Gedanken auf die seelische Größe“, als das Originelle der Abhandlung an.

150

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

Empfinden von Erhabenheit sprachlich gefördert und gesteigert werden kann (1,1).52 Es geht somit, in primär wirkungsästhetischer Perspektive, um die Optimierung der psychologischen und, wie an späterer Stelle deutlich wird, der sittlichen Natur des Menschen durch bestimmte literarische Darstellungsverfahren. Nicht nur die der Tradition entnommenen Belegstellen, sondern vor allem die ganz auf das individuelle, persönlichkeitsverändernde Erleben von Literatur anstatt, wie bei Aristoteles und teilweise auch bei Ps-Demetrios, auf öffentliches Aushandeln von Entscheidungs­prozessen gerichtete Wirkungsstrategie macht die Schrift zu einem Hauptwerk antiker Dichtungstheorie.53 Dieser von der unmittelbaren sozialen Pragmatik, wie sie die aristotelische Rhetorik bestimmt, abrückende Ansatz impliziert eine grundsätzliche und folgenreiche Weichenstellung, nämlich die Transformation der stofflich-thematisch gebundenen Kategorie des schmuckreichen erhabenen Stils (genus sublime) der römischen Dreistillehre in eine jeweils punktuell gegenstandsadäquate Versinnlichung und Emotionalisierung.54 Die ornatus-Homogenität von Texten wird so zugunsten einzelner Fokalisierungspunkte des ästhetischen Erlebens, die der affektiven oder geistigen Qualität der jeweiligen „Natur der [dargestellten, A.D.] Sache“ (23,4) entsprechen, aufgegeben. Trotz der umfangreichen Abschnitte zu Figurenlehre, Tropen und Satzkomposition ist die Abhandlung weniger Lehrbuch literarischer Stilistik als ethisch-metaphysisch grundierte Theorie der Entstehung und Funktion ästhetischer Emotionen, zu denen auch Faszination gezählt werden kann. Der Begriff der Erhabenheit steht dabei für ein ganzes Spektrum intensiver textgenerierter (nicht benannter) Gefühlserregungen in der – auditiven – Rezeption literarischer und rhetorischer Texte. Das Erleben von Erhabenheit wird durch den Autor nicht nur von stilistisch-formalen Qualitäten, sondern vor allem von der jeweiligen – ethischen – Disposition des Zuhörers abhängig gemacht. Grundsätzlich werden zwei Quellen von Erhabenheit unterschieden: die „Kraft zur gedanklichen Konzeption“, das heißt die Erhabenheit der Gedanken, und das „starke, begeisterte Pathos“ (8,1). Die Relation zwischen diesen beiden Quellen von Erhabenheit ist im Verlauf der Abhandlung nicht immer deutlich auszumachen, häufig interferieren beide. Maßgeblich für Ps-Longins ethisches Hintergrundkonzept wie für das

52 Im Folgenden wird „Peri hypsous“ unter Angabe der Kapitel- und Abschnittnummer zitiert nach Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen, griechisch und deutsch. Übersetzt und hg. von R. Brandt. Darmstadt 1966. 53 Fuhrmann, M.: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung. Darmstadt 1992, S. 162. 54 Till, D.: Rhetorik des Affekts (pathos), in: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 1, hg. von U. Fix, A. Gardt und J. Knape. Berlin 2008, S. 646 – 668, hier S. 652.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

151

Verständnis von Faszination ist jene als „Kraft zur gedanklichen Konzeption“ bezeichnete Quelle von Erhabenheit. Ps-Longin führt sein neues Konzept von Erhabenheit (hypsos) über den emotionalen Wirkungseffekt der Ekstase (ekstasis) ein. Ekstase wird, im Grundsatz wie bei Aristoteles, aus dem Erleben sprachlicher Abweichung hergeleitet. Sie bezeichnet die den ganzen Menschen ergreifende und ihn aus sich herausführende Reaktion auf das Außerordentliche und Übergewaltige (hyperphya) und geht einher mit Bewunderung (thaumázein) und Erschütterung (ékplexis; 1,4).55 Erhabenheit ordnet sich somit emotional in das admiratio-stupor-Spektrum ein. Der Stil vermag das bezeichnete Außerordentliche derart in eine sinnlich-gedanklich erfahrbare Außerordentlichkeit zu transponieren, dass dies für den Zuhörer mit einer Intensitätssteigerung bis zur Ekstase verbunden sein kann. Ekstase bezeichnet hier die psychische Maximalreaktion auf eine außerordentliche sprachliche Darstellung eines außerordentlichen (außersprachlichen) Geschehens. 3.3.1  Doppelcharakter des Erhabenen: Destruktion und Elevation Erhabenheit (hypsos) wird in Kapitel 1 durch Abweichung von dem, was literarisch üblich ist, induziert: Dies gilt produktionsästhetisch („die größten der Dichter und Schriftsteller“), wirkungsästhetisch („führt den Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase“) und kompositorisch („Höhepunkt und Gipfel der Rede“). Veranschaulicht wird sie als vertikale Exponiertheit, nämlich als Spitze (akrós) und herausragender Gipfelpunkt (éxochos) der Rede. In Absetzung von dem durchgehenden Stilcharakter des genus sublime ist diese Konzeption auf ausgewählte Schlüsselstellen begrenzt, die kraft ihrer Intensität den gesamten Text regieren. Das Übergewaltige [hyperphya] nämlich führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall wirkt, was uns erstaunt [thaumásion] und erschüttert [ékplexei], jederzeit stärker als das Überredende und Gefällige, denn ob wir uns überzeugen lassen, hängt meist von uns selber ab, jenes aber übt eine unwiderstehliche Macht [dynasteían] und Gewalt [bían] auf jeden Zuhörer aus und beherrscht uns vollkommen. (1,4)

Insofern das Übergewaltige sich auf den Hörer bezieht, bezeichnet es ein ethisch und metaphysisch zunächst indifferentes Phänomen der Abweichung,56 das im Sinn der rhetorischen Abweichungs-Kategorie der rhetorischen Figur als stilistisch induzierte punktuelle Aufgipfelung und Übersteige55 Kallendorf, C.: Erhabene, das; B I. Antike, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 2. Darmstadt 1994, Sp. 1357 – 1361, hier Sp. 1358. 56 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie, S. 171.

152

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

rung einer bestimmten semantischen Qualität (hyperphya) verstanden werden kann. Diese Wirkung ist – anders als etwa beim sokratischen Dialog – nicht auf argumentative Überzeugung, aber auch nicht – im Sinne der Fremdbeschreibung sophistischer Rhetorik – auf manipulativ-gefällige Überredung zu einer Meinung, sondern auf eine Veränderung des Seelenzustandes mit nur sehr vermittelten Verhaltenskonsequenzen gerichtet. Diese Wirkungsintention ist eingebunden in ein psychisches Optimierungsprogramm mit ethisch-metaphysischen Implikationen (vgl. 9,1). Mit dem Begriff der ekstasis versteht der Autor das Erleben von Erhabenheit als eine Situation des Selbstverlustes, wie sie ähnlich in der Alkibiades-Rede in Platons Symposion beschrieben wird.57 Der dort per Dialogverfahren herbeigeführte Null- und Kipp-Punkt der Aporie findet in Peri Hypsous eine gewisse konzeptionelle Parallele in der überwältigenden Wirkung stilistischer Gipfelpunkte. Grundsätzlich meint ekstasis eine Radikalisierung von thaumázein und ékplexis zu einem „Ausnahmezustand gesteigerter Gefühls- und Seelenerregung“58, bei dem ein klares Bewusstsein zu fehlen scheint. Die „Macht und Gewalt“, die erhabene Wendungen „auf jeden Zuhörer“ ausüben, werden aus einer sprachlichen Befremdung abgeleitet. Das, was außerhalb des Erwartbaren steht, widerfährt dem Zuhörer und hat insofern „eine unwiderstehliche Macht“59. Es regt naturgemäß60 die Seelenkräfte unvergleichlich stärker auf (movere) als das, was überzeugen (docere) oder gefallen (delectare) will, da es „meist von uns selber“ abhängt, „ob wir uns überzeugen lassen“ (1,4). Mit dem unwiderstehlichen „In-Bann-Gezogen-Sein des Hörers“61 durch die Gewalt sprachlicher Befremdung wird in 1,3 erstmals ein Aspekt von Faszination thematisiert. Das hier auf Stileffekte bezogene Argument des Kontrollverlustes wird – auf Phänomene der Natur übertragen – am Ende von Kapitel 35 generalisierend wiederholt: Die erhabene Wirkung bestimmter (in der Abhandlung auch als Symbole für bestimmte erhabene Autoren fungierender) Naturphänomene (große Ströme, der Ozean oder Lichterscheinungen am Himmel)62 beruht darauf, dass sie als Phänomene sui generis außerhalb jeder Regel zu stehen scheinen und daher kategorial unverfügbar wirken. Dagegen unterliegt das, was beherrscht und benutzt werden kann oder 57 Vgl. Pfister: Ekstase, Sp. 965. Ebd. Sp. 944. 58 Ebd. 59 Grundsätzlich gilt der erhabene Stil als „der ‚hypnotischste‘ unter den Stilen“ (Spang, K.: Dreistillehre, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 2. Darmstadt 1994, Sp. 921 – 972, hier Sp. 923). 60 Vgl. „Von der Natur irgendwie geleitet, bewundern wir darum nicht die kleinen Bäche, [...] sondern den Nil und die Donau oder den Rhein“ (35,4). 61 Fritz: Vom Erhabenen, S. 44. 62 So etwa Homer als Ozean (9,14), Platon als Strom (13,1), Demosthenes als Blitz (12,4).

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

153

in seiner Regelhaftigkeit erkannt ist, unserer Verfügungsgewalt und ist von geringer Wirkung: „das Nützliche oder auch das Notwendige ist uns leicht bei der Hand, Bewunderung jedoch erregt immer das Unerwartete [parádoxon]“ (35,4). Die faszinationsaffine Unwiderstehlichkeit des Erhabenen enthält zwei Gewaltmomente mit unterschiedlicher Valenz: Neben der zwingend-erniedrigenden Gewalt (bía) wirkt die weniger negativ konnotierte Gewalt des Herrschenden (dynasteía).63 Dieser Doppelaspekt der Gewalterfahrung wird durch den Autor zu zwei diametralen Beschreibungen des Erhabenheitsgeschehens ausgearbeitet. Diese veranschaulichende Beschreibung der Gewalterfahrung durch sprachliches Fremdmachen unterscheidet Peri Hypsous von vorangegangenen stil- und literaturtheoretischen Schriften. Die bía-bestimmte Phase der Destruktion (1,4) kann unter bestimmten Voraussetzungen in eine dynasteía-bestimmte Phase der Elevation (7,2) überführt werden; nur in diesem Fall wird Erhabenheit erfahren. Beide Phasen sind unterschiedlichen Objekt-Instanzen zugeordnet: Im Fall der Destruktionsphase (bía) ist die Kohärenz des Textes das Objekt von Gewalt, im Fall der Elevationsphase (dynasteía) ist es die Seele des Rezipienten. Gewalt ausübend ist jeweils die sprachliche Abweichung. In der Beschreibung der Destruktion wird die Raummetaphorik der Höhe durch eine Licht- und Bewegungsmetaphorik abgelöst, die nicht die kompositorische Aufgipfelung, sondern die den Textsinn zerschlagende Wirkung betont. Den Vertikalvektor der Höhenmetaphorik umkehrend zersprengt die erhabene Wendung als bía gleich einem Blitz das geordnete Gewebe des Textes: Die Versiertheit im Finden rechter Gedanken und die Anordnung und Ökonomie des Stoffes beobachten wir nicht an ein oder zwei Sätzen, sie ziehen sich durch das ganze Gewebe der Rede und zeigen sich nur bei mühsamem Hinsehen. Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt [dýnamis] des Redners. (1,4)

Erhabenheit manifestiert sich als Kohärenzbruch. Als „gedrängte Gewalt des Redners“ entlädt sie sich im „Gewebe der Rede“ und zerstört die aus planvoller Auffindung (inventio) und regelgeleiteter Anordnung (disposito) geschaffene (semantische) Einheit. Aus der Punktualität des kairos heraus regiert sie das Ganze, indem sie es zersprengt und schlagartig in ein anderes Licht stellt. Der Blitz als Bild maximaler sprachlicher Intensität dürfte dabei an die lumina orationis (Glanzlichter der Rede) als konventionelle Metapher für die Wirkung des ornatus anschließen. Zu den lumina orationis, deren inflationären Ge63 Menninghaus, W.: Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen, in: Poetica 23 (1991), S. 1 – 19, hier S. 2f.

154

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

brauch Quintilian kritisiert, zählen insbesondere die Gedankenfiguren (sententiae), durch die eine Rede Tiefe und Brisanz erhält.64 Das grelle Licht des Blitzes steht mithin für das Geistreiche der erhabenen Wendung und damit der rhetorischen Versiertheit und Regelhaftigkeit gegenüber, von denen eine geringe Wirkung ausgeht: Die Gedanken „zeigen sich“ in einem normgerechten Stil gewöhnlich „nur bei mühsamem Hinsehen“. Das Erhabenheitskonzept weist einen solchen manierierten Einsatz der lumina orationis ab und zieht deren Effekt zu einer funktional kalkulierten („im rechten Moment“) Hyper-Sentenz zusammen. Deren plötzlich losbrechende „gedrängte Gewalt“ zwingt den Rezipienten, im Verstehen des Impliziten den gesamten Text neu zu konfigurieren. Mit nur wenig veränderter Argumentationsperspektive wird an anderer Stelle, nämlich in der Diskussion der rhetorischen Figuren, der Einsatz von Erhabenheit und Pathos als „Gegengift“ und „erstaunliches Hilfsmittel“ (17,2) unterstrichen. Es geht dabei um die schon in der Rhetorik des Aristoteles behandelte Frage, wie dem Argwohn der Zuhörer gegenüber rhetorischen Kniffen vorzubeugen sei. Das von Aristoteles empfohlene Mittel der geistigen Stimulierung durch Metaphern wird hier radikalisiert: „Wodurch hat der Redner [...] die Figur verschleiert? Offenbar gerade durch den Glanz. Denn wie das trübe Licht vor den Strahlen der Sonne schwindet, so werden die rhetorischen Kunstgriffe überschattet, wenn ringsum das Große ausgegossen ist.“ Mit der Destruktion des manifesten Textsinnes ist das „wirklich Erhabene“ (aléthous hypsous 7,2) noch nicht präsent. Dazu kommt es erst, wenn die Gewalt der Destruktion (bía) in eine psychische Aktivierung des Rezipienten transformiert werden kann, die der Autor als gewaltvolle Elevation (dynasteía) der Seele (7,2) beschreibt. Zwischen der Erläuterung der Destruktionsphase (1,3) und der Erläuterung der Elevationsphase (7,2) sind mehrere Kapitel eingeschoben, die sich mit Vorbedingungen des Erhabenheitserlebens beschäftigen. Dazu zählen die Frage, ob Erhabenheit erlernbar oder angeboren ist, sowie die häufigsten Fehler (Schwulst, Steifheit, deplaziertes Pathos). Die Diskussion dieser Fragen gerade an dieser Stelle folgt, wie viele Teile der Abhandlung, 64 Vgl. Cicero: „Das ungefähr sind die Figuren des Gedankens, die einer Rede Glanz verleihen.“ („His fere luminibus inlustrant orationem sententiae“ (Cicero, M. T.: De oratore, lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert u. mit einer Einleitung hg. von H. Merklin. Stuttgart 1976, S. 410). Bei M. F. Quintilian (Institutio oratoria/ Ausbildung des Redners, lateinisch-deutsch. 2 Bde., hg. und übersetzt von H. Rahn. Darmstadt 21988) werden erstmals die Sentenz als Figur der Ausdruckslehre zugeordnet und ihr möglichst eindrucksvoller Einsatz diskutiert: „daß wir Glanzlichter [lumina], die insbesondere als Schlußeffekt verwendet werden, Sentenz nennen“ (VIII, 5,1 – 2). Seit Quintilian werden Knappheit und Schlagkraft für den Begriff bestimmender als philosophisch-moralischer Gehalt (Engels, J.: Sentenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 8. Darmstadt 2007, Sp. 847 – 867, hier Sp. 854f.).

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

155

einem gestischen Prinzip: Nur dann, wenn diese Fragen geklärt bzw. berücksichtigt werden, führt die Destruktion der Kohärenz rezeptionsseitig zu einer psychischen und geistigen Aktivierung, die – wie bei der Metapher – eine eigenmächtige Kohärenzerzeugung zur Folge hat, die Ps-Longin als Seelenaufschwung veranschaulicht. Andernfalls misslingt der Kohärenzbruch und der Text bleibt unverständlich. Die Beschreibung der erfolgreichen psychischen Aktivierung als Seelenaufstieg rekurriert auf die konstruktive Gewalt der Regentschaft (dynasteía) und kehrt den Vektor der Blitzmetapher erneut um: Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen, sie empfängt einen freudigen Auftrieb [anástema] und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber erzeugt. (7,2)

Die Störung der bisherigen Textkohärenz durch die erhabene Wendung erzwingt eine Auferweckung (anástema) der Seelenkräfte des Rezipienten.65 Abhängig von der individuellen Disposition wird das Bewegtwerden (Widerfahrnis) qua Irritation in Eigenbewegung (Erzeugen von Bedeutung) qua Selbstverstehen überführt, die für den Zuhörer mit Lust und – in reflexivem Selbstbezug auf das erfolgreiche Verstehen – mit Stolz verbunden ist. Der Stolz, so die Argumentation des antiken Autors, beruht allerdings auf Enttäuschung, da die von der sprachlichen Abweichung überwältigte Seele meint, jene Neukonfiguration von Bedeutung qua Seelenerweckung aus eigenem Antrieb bewirkt zu haben. Der Impuls aus einer bloß andeutenden oder verkürzten Ausdrucksweise wird in Peri Hypsous als ästhetisch-psychologisches Oszillieren zwischen Mitgeteiltem und Imaginiertem, zwischen explizitem Signifikat und implizitem Signifikat dargestellt. Die erhabene Wendung hörend „empfängt“ die Seele etwas, auf das sie, um es im Gesamtkontext verstehen zu können, durch Gedankentätigkeit reagieren muss: Dadurch kommt es ihr zuletzt vor, als habe sie das im Gehörten Verstandene „selber erzeugt“. Dieses erzeugende Hören ist kein mechanisches Ergänzen, sondern ein produktiver Prozess.66 Die Selbsterzeugung des Verstandenen ist deshalb „von Lust“ erfüllt, weil dabei die Seele ihrer Bestimmung (Idee) gemäß agiert. Bereits hier, in der psychologischen Erklärung des ästhetischen Erlebens von Erhabenheit, folgt Ps-Longin also jener spezifischen Vorstellung 65 Die Aktivierung der Seele entspricht ihrer Natur, wie die Anklänge an die platonische Seelenlehre in Kapitel 35 deutlich machen: Die Natur „hat deshalb unseren Seelen sogleich ein unzähmbares Verlangen eingepflanzt nach allem jeweils Großen und nach dem, was göttlicher ist als wir selbst.“ (35,2). 66 Zur antiken Auffassung von Verstehen als lediglich mechanischem Komplettieren vgl. J. Stenger (Das rhetorische Prinzip der Aussparung bei Theophrast (fr. 696 F), in: Rheinisches Museum für Philologie, 250 (2007), S. 263 – 281, hier S. 273f.); die Figur der Gedankenemphase ist davon ausgenommen.

156

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

einer mimetischen Generierung, die für die gesamte Abhandlung kennzeichnend ist und von Winfried Bühler als „tätiges Einfühlen“ und „fruchtbares Weiterbilden“67, von Reinhard Brandt als „Schaffen aus eigener Natur – nach fremden Vorbild“68 beschrieben wird. Bühler sieht für die Antike zu dieser ästhetischen Konzeption, die Einbildungskraft und Gefühl „auch aktiv bei der Interpretation wirksam“69 werden lässt, keine Parallelen. Der subjektive Faktor ist hier, verglichen mit der aristotelischen Analogieoperation im Verstehen der Metapher, hoch. Der wirkungsästhetische Erfolg von Erhabenheitserfahrung resultiert aus der Lust der Seele, ihre natürliche Bestimmung auszuüben – wenn auch unter Zwang.70 Die Formulierung „als habe sie [die Seele], was sie hörte, selber erzeugt“ weist eine Ähnlichkeit auf mit Quintilians Erklärung für die Lust des Rezipienten am „verborgenen Sinn“ (occultos sensus) von Wörtern: Wenn die Zuhörer „deren Sinn verstanden haben, kosten sie ihren eigenen Scharfsinn aus und freuen sich so, als wären sie nicht als Zuhörer, sondern als die Erfinder daran beteiligt.“71 Das lustvolle Fühlbarwerden der eigenen Fähigkeit, Bedeutung selbständig durch die kognitiv-imaginative Nötigung einer semantischen Anomalie (Metapher, obscuritas, erhabene Wendung) generieren zu können, erklärt nicht nur die Unwiderstehlichkeit des Erhabenen, sondern generell die Faszinationskraft andeutend-verknappter Ausdrucksformen. Ästhetische Faszination ist ein Erfahrungsmodus von Erhabenheit, insofern es den anhaltenden Prozess einer produktiven Verstehensanstrengung bezeichnet, in der sich die Seele in der Beschäftigung mit dem sprachlich versinnlichten Außerordentlichen nach Maßgabe dessen transformiert. Einen solchen psychologischen Transformations- und Assimilationsprozess, wie ihn die Elevationsphase des Erhabenen beschreibt, kennt das traditionelle Konzept des genus sublime nicht.

67 Bühler, W.: Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen. Göttingen 1964, S. 24. 68 Brandt: Einleitung, S. 22. 69 Bühler: Beiträge, S. 24f. (Hervorhebung im Original). 70 „Vor allem dieses: die Natur hat uns, das Menschenwesen, nicht bestimmt zu einem niedrigen gemeinen Tier, sondern in die Lebenswelt und den weiten Kosmos wie in die Szenerie eines großen Festes geführt [...]. Sie hat deshalb unseren Seelen sogleich ein unzähmbares Verlangen [érota] eingepflanzt nach allem jeweils Großen und nach dem, was göttlicher ist als wir selbst.“ (35,2). 71 Quintilian: Institutio, Kap. VIII, 2.21 „gaudent non quasi audierent sed quasi invenerint“; auf diese Parallele weist Russel (‚Longinus‘: On the sublime, S. 84) hin. – An Quintilian dürfte die oben in Kapitel 2.4 angeführte Aussage Kants anknüpfen, dass das „Räthselhafte in einer Schrift“ dem Leser „nicht unwillkommen“ sei, „weil ihm dadurch seine eigene Scharfsinnigkeit fühlbar wird, das Dunkele in klare Begriffe aufzulösen“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 137).

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

157

Ps-Longin veranschaulicht diesen Transformationsprozess der produktiv-verstehenden Seele durch eine Metapher als „Widerhall“72 (apéchema 9,1). Von der Elevationsphase her verstanden meint dies kein Echo (mechanische Resonanz), sondern den aktiven, die Seelenkräfte herausfordernden Versuch einer aktiven Einstimmung. Diese beruht, konzeptionell ähnlich zu Kants Begriff der ästhetischen Idee, auf der lustvollen Anstrengung der Seele, sich zu einer kongenialen Äquivalenz mit dem Außerordentlichen zu befähigen. Die in Kapitel 7,2 psychologisch beschriebene Elevation erfährt in Kapitel 13 von Peri Hypsous eine rezeptionsgeschichtliche Applizierung im Sinne eines kreativen Mimesis-Modells.73 Die literarische Nachahmung großer Dichtung produziere kein „Plagiat“, vielmehr verhalte es sich damit so, wie „wenn man eine schöne Gestalt in einer künstlichen Plastik nachprägt.“ (13,4) Das die Seele herausfordernde Moment dieses Prozesses wird dabei in aller Deutlichkeit als „Kampf “ (13,4) und „gewaltige[r] Wettstreit“ (14,2) zwischen den eigenen Fähigkeiten und den bewunderten Vorbildern beschrieben. Dabei wird die erhabene Elevation – das erzwungene Zu-sich-selber-Kommen der Seele nach Maßgabe des Außerordentlichen – in den Modus der platonischen Ideenlehre gestellt: „Denn treten uns beim Nacheifern jene Gestalten vor Augen und weisen wie Fackeln den Weg, so tragen sie uns gleichsam empor zu den gestaltgewordenen Maßstäben“ (14,1). Damit erhält die poetologische Schrift einen metaphysischen Rahmen. 3.3.2  Faszination des Emphatisch-Angedeuteten Der Beschreibung der Elevation voraus geht die Klärung einer Vorbedingung von Erhabenheit, mit der Ps-Longin das neue Konzept im Sinne der stoischen Philosophie ethisch ausrichtet. Er verwendet dafür ein Gleichnis nach dem Analogie-Prinzip: So wie ein Weiser bewundert wird, wenn er freiwillig auf Reichtum, Ruhm und Macht verzichtet, so bewirkt ein Redner Bewunderung, wenn er auf traditionelle Stilmittel des Reichtums, des Ruhms und der Macht verzichtet. Damit wird auf die Wirkungskraft der semantischen Implizitheit und syntaktischen Verknappung verwiesen. Die als maßgeblich angesetzte Wirkung des Bewundertwerdens (thaumázein) ist hierbei der Vergleichspunkt 72 Teilweise auch übersetzt mit ‚Spiegel‘ (Villwock, J.: Sublime Rhetorik. Zu einigen noologischen Implikationen der Schrift „Vom Erhabenen“, in: Pries, Ch. (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 33 – 53, hier S. 48). 73 Die seit Aristoteles für die Rhetorik wesentliche Mimesis-Lehre konnte sehr unterschiedlich konzipiert werden. Für „Peri Hypsous“ fällt auf, dass mit mímesis etwas „tief ins Seelische Eindringendes“ gemeint ist, das auf den „Geist des Nachzuahmenden“ zielt und diesen im Ergebnis zu überbieten strebt (Bühler: Beiträge, S. 87).

158

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

von sozialem und stilistischem Habitus. Die Argumentation ähnelt der von Aristoteles gegen Dichtung und Wahrsagerei geführten, insofern der sprachlichen Prachtentfaltung des genus sublime ein täuschender und gerade nicht die Gedankentätigkeit des Rezipienten herausfordernder Effekt unterstellt wird. In der gleichen Weise muß man bei großartigen Wendungen in Dichtung und Prosa darauf achten, daß sie nicht nur eine gewisse Scheingestalt von Größe haben, aufgebauscht mit vielen willkürlichen Zutaten, die sich aber, deckt man sie auf, nur als hohles Blendwerk erweisen. (7,1)

Gegen die als bloß äußerlich bezichtigte stilistische Konvention des genus sublime wird die wahre Erhabenheit gestellt, die auf rhetorischem ethos, semantischer Implizitheit und ästhetischer Intuition beruht. Mit der thaumázein-Analogie von Weisheit und Autorschaft wird die wenig später erläuterte „Kraft zur gedanklichen Konzeption“ (8,1) als Hauptquelle des „wirklich Erhabenen“ (aléthous hypsous 7,2) vorbereitet und die ethische Qualität der „Seelengröße“ (megalophyía) für den rhetorisch-ästhetischen Bereich geltend gemacht. Darunter lässt sich mit Martin Fritz die natürliche Disposition eines Menschen zum „Fassen großer Gedanken“ verstehen.74 Diese Disposition gilt es, darin liegt die Programmatik von Peri Hypsous, ästhetisch zu optimieren: „Und wenn sie [die Seelengröße] auch eher eine Sache der Begabung ist, als daß man sie erwerben könnte, so müssen wir trotzdem, soweit möglich, die Seele hierin zur Größe erziehen“ (9,1). Wer Erhabenheit erlebt, erweitert seine seelische Disposition auf eine dem Außerordentlichen (des Stils, der literarischen Vorbilder, der Ideen) adäquatere „Seelengröße“. Gegen „die Oberflächlichkeit, in der wir alle mit wenigen Ausnahmen unser Leben zubringen“ und die „die Naturanlagen“ des Menschen verdirbt (44,1), entwickelt der Autor ein Tiefenkonzept der psychischen Totalinvolvierung und anhaltenden Fas74 Ausführlich dazu Fritz: Vom Erhabenen, S. 80 – 94 sowie S. 64, Anm. 83. Im Unterschied zu Fritz, der neben der ästhetischen vor allem die ethische und religiöse Qualität dieses „heimlichen Zentralbegriffes“ der Abhandlung (S. 61) herausarbeitet und ihn im Anschluss an Schleiermacher mit „Hochsinnigkeit“ übersetzt, wird hier die gängige Übersetzung mit „Seelengröße“ beibehalten. „Hochsinnig ist eine sprachliche Darstellung dann, wenn in ihr die Hochsinnigkeit des Produzenten zum Ausdruck kommt und wenn sie das Potential hat, die Hochsinnigkeit des Rezipienten, seine ästhetisch-religiöse Disposition, anzusprechen.“ (S. 92) Fritz sieht die „eigentümliche ästhetisch-religiöse Fassung“ des Begriffs in engem Zusammenhang mit dem „aus der Stoa herkommenden Konzept eines ethischen ‚hohen Sinns‘“ und Motiven des „platonischen Idealismus“. Er bezeichne einen „Sinn für die Exzellenz des Menschen“ in „seiner ‚Gottverwandtschaft‘“ (S. 93). Diese metaphysische Dimension wird analog zum Eros-Begriff Platons entwickelt, nur dass nicht das Schöne, sondern das Große Ziel des Begehrens ist: Die Seele versteht das Große als „Bild der eigenen Größe“, ihr Streben sei somit immer mit einer Selbstbewertung verbunden: „Im Über-sich-hinaus-Kommen kommt sie zu sich selbst.“ (S. 85).

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

159

zination. Dazu wird im 7. Kapitel der eingangs erläuterte Grundimpuls von Erhabenheit, das objektseitige Außer-jeder-Ordnung-Stehen, im Sinne eines Habituierungs­­aus­schlus­ses enger gefasst. Erhabene Größe evoziert nämlich nur dasjenige stilistisch Außerordentliche, das diese Eigenschaft nicht vorübergehend, sondern permanent besitzt. Neuheit und Fremdheit sind somit keine hinreichenden Bedingungen. Nur dasjenige wirkt erhaben (und faszinierend), das nicht vollständig integrierbar, das heißt ganz verständlich ist, sondern immer wieder aufs Neue zu einer lustvollen Verstehensanstrengung herausfordert. Mit diesem Habituierungsausschluss führt der antike Autor den Aspekt der Faszination in seine Konzeption von Erhabenheit ein: Das nämlich ist in Wirklichkeit groß, was man häufig prüfend betrachten kann und dem man sich doch nur schwer, nein, unmöglich entzieht und dessen Eindruck unauslöschlich im Gedächtnis bleibt. (7,3; Hervorhebung A.D.)

In der Erläuterung des Faszinationsaspekts von wahrer (im Unterschied zu bloß schmückender) Erhabenheit wird die Gewalt der Unwiderstehlichkeit in dreifacher Hinsicht temporal modelliert. Erhaben ist, was 1. auch nach häufiger Betrachtung seine Attraktivität unverändert behält, dem man sich 2. zu keinem Zeitpunkt entziehen kann und das 3. unauslöschlich im Gedächtnis haften bleibt. Dieses temporale Profil bezeichnet die faszinierende Wirkungskomponente im Erleben von Erhabenheit. Das Gewaltmoment wird als Kontrollverlust über Aufmerksamkeit und Gedächtnis psychologisch präzisiert. In diesem temporalen Profil wird die Lust an der Elevation als Sogkraft des Objektes metaphorisiert: Die Wiederholbarkeit des Erhabenheitserlebens am selben Objekt macht seine Faszination aus, der man sich „nur schwer, nein, unmöglich“ entziehen kann und die dafür verantwortlich ist, dass das Objekt „unauslöschlich“ im Gedächtnis bleibt. Faszination resultiert aus Andeutung, das heißt aus einer kalkulierten semiotischen Differenz zwischen Wortlaut und Bedeutung. Erstmals spricht der Autor diese semiotische Differenz in seiner Beschreibung falscher Erhabenheit als allmähliches Abflauen von Wirkung an. Was nicht anhaltend fasziniert, kann nicht wirklich erhaben sein: Wenn jemand, der klug und literarisch gebildet ist, etwas wiederholt anhört und nicht in eine hohe Stimmung versetzt wird und auch beim Überdenken nichts als das gerade Gesagte in seinem Verstand haftet, wenn es im Gegenteil, betrachtest du es nur aufmerksam und lang, absinkt und immer mehr verliert [katexanástasis], dann kann es, nicht länger als der Klang im Ohr bewahrt, kaum etwas wirklich Erhabenes sein. (7,3)

Die Beschreibung des Erhabenheit bloß vortäuschenden Nicht-Faszinierenden geschieht hier bezeichnenderweise nur indirekt, nämlich durch eine die Gedankentätigkeit des Lesers herausfordernde Folge von Negationen. Die Differenz zwischen Wortbedeutung (was das „Ohr bewahrt“) und Sinn (was „beim Überdenken“ im „Verstand haftet“) formuliert semiotisch, was zuvor als

160

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

Bild räumlicher Differenz, die von der Seele in der Elevation überwunden werden muss, veranschaulicht wurde. Ein Text, dessen Eindringlichkeit mit jeder Lektüre abnimmt, ist weder erhaben noch faszinierend. Faszination macht den Unterschied zwischen dem „wirklich Erhabenen“ (7,1) und dem, was „kaum etwas wirklich Erhabenes“ (7,3) ist. Letzteres ist „hohles Blendwerk“ (7,1), da hier die intensivierenden Stilmittel nicht von der Sache her motiviert, sondern als „willkürliche[] Zutaten“ verwendet werden. Pathos kann eine solche bloß akzidentielle Funktion haben.75 In Hinwendung zu einem ästhetischen Wirkungsmodell privilegiert der antike Autor die erschütternde Ekstase der „hohen Stimmung“ gegenüber dem rhetorischen Virtus der perspicuitas. Eine Ausdrucksweise, bei der „nichts als das gerade Gesagte“ haften bleibt, ist nicht erhaben, weil sie nicht zu einem produktiven Umgang nötigt. Diese die Faszinationswirkung begründende Differenz von Wortbedeutung und einer nicht stabilisierbaren, sondern jeweils „selber erzeugt[en]“ Bedeutung wird – als das, was uns „in unseren Gedanken“ „vollkommen beherrscht“ (39,3) – an einer Parallelstelle der Wirkung der Musik gegenüber gestellt, die zu keiner gedanklichen Produktivität herausfordert: die Klänge der Kithara, die für sich allein ganz bedeutungsleer sind, üben durch den Wechsel der Töne, durch ihr Miteinanderschwingen und die harmonische Konsonanz häufig, wie du weißt, einen betörenden Zauber aus; dies jedoch sind nur schattenhafte, unechte Nachahmungen der Überredung, nicht, wie ich sagte, natürliche Kunstäußerungen des Menschen; das Gefüge aber der Worte, dieser bestimmte Zusammenklang der dem Menschen eingeborenen Sprache, der in die Tiefe seiner Seele, nicht nur in die Ohren dringt [...] – glauben wir nicht, daß es uns durch eben diese Eigenschaften betört und zugleich einstimmt in die würdige Größe, in das Erhabene [...] und uns vollkommen beherrscht in unseren Gedanken? (39,2f.)

Musik wirkt durch Affekte: Sie versetzt den Zuhörer „gleichsam außer sich“ und „zwingt“ jeden, „in ihrem Takte zu schreiten und sich ihrer Melodie zu fügen, auch wenn er ganz unmusisch ist“ (39,2). Diese Wirkung ist ‚überredend‘, weil sie sich nicht an die spezifische Natur des Menschen, das Gedanken- und Vorstellungsreservoir seiner Seele, wendet. Die Wirkung erhabener Sprache unterscheidet sich dadurch von der Musik, dass sie nicht „bedeutungsleer[er]“ Klang ist, sondern in die Tiefe der Seele eindringt und dort haften bleibt. Nicht die sinnliche Unmittelbarkeit von Klang, Melodie und Rhythmus, nur 75 Im Hinblick auf eine frühere Schrift zur Erhabenheit von Kaikilios schreibt Ps-Longin: „Sollte er aber angenommen haben, daß diese beiden – das Erhabene und das Pathetische – eine Einheit bilden, daß sie gänzlich zusammengehören und in eins verwachsen sind, so irrt er. Denn es finden sich Arten des Pathos, die durchaus nicht erhaben, sondern niedrig sind [...], und es gibt wiederum viele ganz unpathetische Erscheinungsformen des Erhabenen [...]. [...] Wenn Kaikilios hingegen meinte, das Pathos trage nie zum erhabenen Ausdruck bei [...], so irrt er vollkommen“ (7,2 – 4).

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

161

die dem Geistigen zugehörige Sprache kann der Seele die Lust gewähren, etwas so wahrzunehmen, als habe sie dies „selber erzeugt“. Um den Rezipienten vermittels seiner „eingeborenen Sprache“ zu faszinieren, darf mit dem „Klang im Ohr“ (7,3) nicht alles gesagt sein. Nicht der sinnliche Zauber der Musik, sondern eine Rede, die uns „vollkommen beherrscht in unseren Gedanken“ (Faszination), weil sie mehr sagt als der „Klang im Ohr“, wirkt unwiderstehlich und erhaben. Diese Beschreibung des Faszinations­aspekts von Erhabenheit im 7. und 39. Kapitel folgt dem Modell der Gedankenfigur der Emphase.76 Der rhetorische Begriff ‚Emphase‘ ist schon in der Antike „vergleichsweise unscharf “77. Im engeren Sinne wird darunter eine Gedankenfigur der Andeutung verstanden, die dem Zuhörer indirekt ein bestimmtes Verständnis des Gesagten nahelegt. Quintilian kommt in der Ausbildung zum Redner auf die Gedankenfigur Emphase in Zusammenhang der sprachlichen Durchsichtigkeit als Virtus des Ausdrucks (elocutio) zu sprechen, da sie zu den Redeweisen gehöre, die das Verstehen unterstützten. Allerdings ist diese Funktion bei dieser Gedankenfigur spezifisch eingeschränkt, da „sie nicht bezweckt, daß man versteht, sondern daß man mehr versteht.“78 Für den unscharfen Charakter des als Emphase Bezeichneten ist markant, dass Quintilian sie im achten Buch genau an der Schnittstelle von sprachlicher Durchsichtigkeit (perspicuitas) und sprachlicher Dunkelheit (obscuritas) behandelt. Die Emphase hat Merkmale beider Ausdrucksqualitäten. Ihre Leistung besteht in der raschen, durch minimalen semiotischen Aufwand bewirkten Verdeutlichung des Gemeinten, weil sie „einen tieferen Sinn liefert als den, den die Worte von sich aus bezeichnen“.79 Wir müssten deshalb aus dem Gesagten das Gemeinte „heraushören [accipimus]“80. Die Metaphorik des Heraushörens kommt der Beschreibung der erhabenen Seelentätigkeit als „was sie hörte, selber erzeugt“ in Peri Hypsous nahe. Quintilian unterscheidet zwei Formen der Emphase: Die Emphase, die „mehr bedeutet, als sie sagt“, und die, die durch Abbruch oder vollständiges 76 Kustas: Studies, S. 73 würdigt die Beschreibung des Erhabenheitserlebens in 7,2 als eigenständigen Beitrag zum rhetorischen Begriff der Emphase. Till: Das doppelte Erhabene, S. 91 sieht die Attraktivität der Ps-Longin’schen Schrift für das ausgehende 16. und 17. Jahrhundert in der Anschlussfähigkeit des Emphase-Prinzips an das zeitgenössische neostoizistische Stilideal des Lakonismus. Auch Fritz: Vom Erhabenen, S. 47ff. führt das Erhabenheitskonzept auf die rhetorische Emphase zurück. 77 Michel, G.: Emphase, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von K. Weimar. Bd. 1. Berlin 1997, S. 441 – 443, hier S. 442. 78 „quia non ut intellegatur efficit, sed ut plus intellegatur“ (Quintilian: Institutio, Kap. VIII, 2, 11; Hervorhebung im Original der Übersetzung). 79 „altiorem praebens intellectum quam quem verba per se ipsa declarant“ (ebd., Kap. VIII, 3, 83). 80 Ebd., Kap. VIII, 3, 85; accipio unterstreicht den aktiven Anteil des Empfängers bei der Aufnahme des Dargebotenen (H. Menge: Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch, Teil I. Berlin, München, Wien u. a. 241994) .

162

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

Aussparen „auch das bedeutet, was sie nicht sagt“81: Damit lässt sich auch kalkuliertes Verstummen (aposiópesis), das bei Ps-Demetrios in Paragraph 253 behandelt wurde, als Emphase beschreiben. Der Appell zur eigenständigen Bedeutungsgenerierung ist im zweiten Fall größer als im ersten. Grundsätzlich wird bei der Gedankenfigur der Emphase „aus einer Bemerkung ein versteckter Sinn zutage gefördert“82. Dieser ist nicht, wie bei der Ironie, das Gegenteil des Gesagten, sondern „etwas Verstecktes und dem Spürsinn des Hörers zum Suchen Überlassenes“83. Die ursprüngliche Wortbedeutung von émphasis lässt ein mimetisches Prinzip erkennen, das noch das rhetorische und stilistische Verständnis der Emphase in der hellenistisch-byzantinischen Tradition prägt: George L. Kustas hält die mittelalterliche Definition von Emphase als „mimetic forms of composition“84 für eine der aussagekräftigsten Bestimmungen. Das Verb emphaino bedeutet „drin sehn lassen oder zeigen“85: Etwas wird in oder auf etwas Anderem sichtbar, etwa als Spiegelbild auf dem Wasser. Entsprechend kann das griechische Substantiv émphasis die Bedeutungen haben: 1. „Schein, Erscheinung, das Sichtbare, das Ansehn“86, 2. das, „was sich auf der Oberfläche eines Körpers zeigt“, 3. metaphorisch im Sinne von Nachdruck, Gewicht, „besonders die Kraft des Ausdrucks, der noch mehr bedeutet und in sich ahnen lässt, als er eigentlich ausspricht“. Damit entspricht émphasis der Grundbedeutung nach in visueller Hinsicht dem, was in Peri Hypsous in akustischer Hinsicht durch die Metapher „Widerhall“ (apéchema 9,1) veranschaulicht wird. So wie bei der Emphase lässt die erhabene Wendung etwas in einer großen Seele gleich einem Widerhall sichtbar werden. Die lakonische Bestimmung Ps-Longins, „das Erhabene ist der Widerhall einer großen Seele“ (9,2), ließe sich also auch paraphrasieren als: Erhabenheit ist das, was sich durch émphasis in einer großen Seele zeigt. Quintilian nennt drei Verwendungsfunktionen der Emphase: wenn eine explizite Mitteilung gefährlich ist, wenn sie nicht schicklich ist oder wenn eine bloß andeutende Mitteilung aufgrund von Neuheit und Abwechslung „mehr Genuß“ enthält.87 Überträgt man diese Funktionsbeschreibungen der Emphase aus dem rhetorischen in den stärker poetologischen Diskussionszusammenhang von Peri Hypsous, liegt das „Versteckte“ und „dem Spürsinn des Hörers zum Suchen Überlassene“ letztlich in 81 „altera, quae plus significat quam dicit, altera, quae etiam id, quod non dicit“ (Quintilian: Institutio, Kap. VIII, 3, 83). 82 Ebd., Kap. IX, 2, 64. 83 „sed aliud latens et auditori quasi inveniendum“ (ebd., Kap. IX 2, 65). 84 Kustas: Studies, S. 73 bezieht sich dabei auf eine Formulierung in einem Kommentar zu Hermogenes „De Ideis“ des Philosophen Pletho aus dem 14. Jahrhundert. 85 Passow, F.: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Vierte, durchgängig verbesserte und vielfach vermehrte Ausgabe. Bd. 1. Leipzig 1831, S. 712. 86 Ebd. 87 Quintilian: Institutio, Kap. IX 2, 66.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

163

der Seele selbst. Der antike Autor will die Seele mit „großen Gedanken“ lediglich „schwängern“ (9,1), um sie so zu eigenen Vorstellungen und Gedanken zu stimulieren. Das Verfahren, wie der Rezipient vermittels eines Textes zu „großen Gedanken“ zu gelangen vermag, lässt sich nach dem Vorbild der Emphase als ein Verfahren des Mutmaßens (coniectura) beschreiben: „Das, oberflächlich gesehen, unbedeutende gedanklich-sprachliche signum ist für den aufmerksamen Hörer der untrügliche Ausdruck eines umfassenderen, durch coniectura zu erschließenden Sachverhalts.“88 3.3.3  Erlebnismimetische Funktion der Stilmittel In Kapitel 8 werden, in Absetzung von der Diskussion der einzelnen stilistischen Verfahren, als natürliche Voraussetzungen des Erhabenheitserlebens die „Kraft zur gedanklichen Konzeption“ und das „starke, begeisterte Pathos“ (8,1) genannt, wobei die gedankliche Kraft konstitutiv ist. Nur sie gewährt, im Unterschied zu dem unterstützenden Pathos, der Seele eine Elevation. Das in stilistischer Hinsicht Entscheidende am hypsous-Konzept ist, dass die Wahl der Darstellungsverfahren allein der „Natur der Sache“ (23,4) verpflichtet ist. Diese Bedingung ist wirkungsästhetisch begründet: Der Erhabenheitseffekt sollte, um außerordentlich wirken zu können, auf wenige prägnante Stellen beschränkt sein; denn nach Manier des genus sublime „überall Glocken aufzuhängen ist allzu sehr die Art der Sophisten“ (23,4). Eine angemessene sprachliche Darstellung lässt den Rezipienten im ästhetischen Modus dasjenige emotional und geistig erleben, was Gegenstand der Darstellung ist; dies gilt für Affekte ebenso wie für erhabene Gesinnung. Diese Programmatik der mimetisch motivierten Funktionalität von Stilmitteln für die Generierung einer sachadäquaten Empfindung lässt sich, für den Bereich des Pathos, am Beispiel des Asyndetons aufzeigen. Ps-Longin erläutert im 19. Kapitel an Texten Xenophons und Homers, wie durch asyndetische Darstellung die schnelle, abgehackte Körperbewegung eines tödlichen Zweikampfes oder ein atemnehmendes Entsetzen dargestellt werden können, so dass der Zuhörer das Dargestellte selbst zu erleben meint. Die syntaktischen Konstruktionen beider Belegstellen „drängen heraus und sprudeln gleichsam hervor – fast zu schnell selbst für den Redenden“. Dadurch erhalte der Zuhörer den „Eindruck“ (émphasis), diese Bewegung körperlich mitzuempfinden: „Denn stehen Sätze unverbunden und zugleich in rascher Folge hintereinander, so wird der Eindruck [émphasis] einer lebhaften Bewegung hervorgebracht, die hemmend [émpodíksos] wirkt und zugleich voranstößt [syndióko]“ (19,2). Die sprachliche Versinnlichung 88 Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 451.

164

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

des Bewegungsschemas des Geschehens induziert eine ähnliche Empfindung beim Zuhörer, da die asyndetische Kombination der kurzen Teilsätze das Verstehen zugleich hemmt und vorantreibt. Das Verfahren der erlebnismimetischen Versinnlichung, das grundsätzlich nicht nur für den Bereich des Pathos, sondern ebenso für den Bereich der Erhabenheit der Gedanken gilt, wird am Beginn des 10. Kapitels reflektiert. So wie „an allen Dingen von Natur gewisse Bestandteile [haften], die schon in ihrer Substanz enthalten sind“ (10,1), soll auch die sprachliche Darstellung in der Wahl der Stilmittel Elemente oder Merkmale des Dargestellten auswählen und kombinieren, so dass dieses sich im Zuhörer zeigt. Dazu ist es für den Autor notwendig, nur die charakteristischen Merkmale des darzustellenden Gegenstandes auszuwählen und diese so zusammenzufügen, dass sie als Einheit so wie „ihre Substanz“ wirken: Daraus wird notwendig für uns folgen, daß eine Ursache für erhabene Dichtung in der Fähigkeit liegt, aus den Elementen die jeweils wichtigsten zu wählen und sie so miteinander zu verbinden, daß ein gleichsam organisches Gebilde entsteht; das eine fasziniert [proságetai, wörtlich: führt heran] den Hörer durch die Wahl der typischen Züge, das andere durch Verdichtung des Gewählten. (10,1).

Die Faszination eines Textes wird hier auf das Kompositionsverfahren charakteristischer Elemente zurückgeführt. Die Beschreibung des Verfahrens lässt im Ansatz an eine Theorie der Montage denken.89 Die Verbindung arbiträrer Schriftzeichen kann mit dem, was sie bezeichnen, nicht substantielle, nur schematische Ähnlichkeit aufweisen. Der um erhabene Darstellung bemühte Autor wählt „typische Züge“ des realen Gegenstandes aus, sucht nach sprachlich-stilistischen Mitteln für die Generierung einer dem realen Gegenstand analogen Wirkung und fügt diese so aneinander, dass ein sprachliches Gebilde von schematischer Ähnlichkeit (Analogie) und vergleichbarer Wirkungsqualität (allerdings nicht -intensität) entsteht. Wie die Beispiele Ps-Longins zeigen, ist die Einhaltung der sprachlichen Norm bei diesem erlebnismimetischen bzw. erlebnisgenerierenden Kompositions­verfahren zweitrangig: Syntaktische oder semantische Brüche sind, um mit dem „organischen Gebilde“ der „Natur der Sache“ stilistisch zu entsprechen, häufig sogar notwendig.90 Wie durch Selektion und Kombinati89 Vgl. N. Hertz (Das Ende des Weges. Aesthetica. Frankfurt a. M. 2001, S. 13 u. 25), der darauf hinweist, dass der Autor wiederholt mit dem Begriffpaar ‚Körper‘ und ‚Fragment‘ spiele. Im 24. Kapitel nimmt Ps-Longin die Montage-Leib-Metapher noch einmal prägnant (und sprachlich exemplifizierend) auf, indem er das Zusammendrängen vieler Menschen bzw. Sprachzeichen zu einer Einheit als ‚körperähnlich‘ (somatoeidesteron) bezeichnet. 90 Anschaulich dazu der Vergleich des Erhabenen mit Naturphänomenen, die getrübt, verunreinigt, von inhomogenem Licht sind: „Von der Natur irgendwie geleitet, bewundern wir darum nicht die kleinen Bäche, beim Zeus, wenn sie auch durchsichtig

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

165

on von Wörtern das Bezeichnete emphatisch generiert werden kann, wird an der Darstellung eines in Sturm geratenen Schiffes bei Homer erläutert. Homer sei es, im Unterschied zu anderen Autoren, gelungen, „nur die widrigsten unter den Begleiterscheinungen bei der Schilderung der Stürme herauszugreifen“ (10,3). Auch der zweite Schritt, die erlebnismimetische Kombination der sprachlichen Elemente, sei bei ihm vorbildlich durchgeführt, denn „durch die Zusammendrängung der Wörter bildet er glänzend das Entsetzliche nach“ (10,6). Als ‚entsetzlich‘ gelten Ps-Longin hier die immer wieder in das Schiff brechenden Wogen, welche die Seeleute in Todesangst versetzen. Homer beschreibt die Situation nicht, sondern stellt sie dar: Er „beschränkt nicht die Gefahr auf einen Moment, sondern zeichnet das Bild [eikonographeó] von Seeleuten, die beim Nahen jeder Woge von neuem in vielfacher Todesgefahr schweben“. Dies gelingt durch Wiederholungen und durch kohärenzwidrige syntaktische Verknappung: Homer „zwingt sogar die Präpositionen, die sonst unvereinbar sind, wider ihre Natur zusammen und verkettet sie miteinander“ (10,6). Diese formale Mimesis der stürmischen See fehlt im Fall der kontrastiv herangezogenen Sturmbeschreibung durch den Dichter Arat. Homer hingegen „prägt fast seiner Sprache das Zeichen der Gefahr auf “. Dieses Stilprinzip der erlebnismimetischen Emphase wird durch Ps-Longin nicht nur an Homer exemplifiziert, sondern in seiner Abhandlung über das Erhabene selbst praktiziert, etwa indem er seine Erläuterungen der erörterten Darstellungsweise Homers annähert.91 Nicht nur führt er in immer neuen Aspekten und Metaphern die gelungene Sturm-Darstellung Homers gegen die misslungene Arats, vielmehr geht er, so wie Homer hinsichtlich des Sturms, in der Erläuterung dieses erlebnismimetischen Darstellungsverfahrens sprachlich „bis an die Grenze des Möglichen“92. Die Übernahme des erlebnismimetischen Verfahrens in die stilästhetische Erläuterung betrifft weite Teile der Abhandlung, nicht zuletzt das Erhabene der Gedanken.93 und nützlich sind, sondern den Nil und die Donau oder den Rhein und noch viel mehr als sie den Ozean. Und über ein Flämmchen hier, das wir selbst anzünden, staunen wir, auch wenn es sein Leuchten rein bewahrt, nicht so sehr wie über jene Feuer des Himmels, die doch häufig ins Dunkel tauchen; auch die Krater des Ätna halten wir für ein größeres Wunder – große Steine und ganze Felsbrocken schleudert er bei seinen Ausbrüchen aus den Tiefen hervor, und manchmal läßt er Ströme jenes erd­ entstammten, willkürlichen Feuers entspringen.“ (35,4). 91 Hertz: Das Ende, S. 17 bemerkt ganz zutreffend, dass Ps-Longin sich bemühe, „seinen Diskurs den Energien seiner Autoren anzugleichen“. Schon Nicolas Boileau hat auf die Anwendung der stilistischen Erhabenheitsverfahren durch den Autor selbst hingewiesen; dies macht die Abhandlung ‚literarischer‘ und reizvoller, aber auch unsystematischer (Hertz: Das Ende, S. 9). 92 Bühler: Beiträge, S. 82. 93 In 9,11 wird etwa eine Homer-Stelle angeführt, die die Kampfeswut Hektors mit der Wildheit Ares vergleicht. Die Beschreibung dieses Vergleiches durch Homer, so

166

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

3.3.4  Erhabene Stimulation der Gedanken: Mehr meinen oder anderes meinen Am Beginn des zentralen 9. Kapitels wird in Hinblick auf das im Hintergrund stehende poetologisch-ethische Optimierungsprogramm des Autors die Wirkung erhabener Ausdrucksweise durch einen Vergleich mit Zeugung veranschaulicht. Zwar sei die Fähigkeit, erhaben zu empfinden, in erster Linie Sache der natürlichen Begabung, doch lasse sich diese verbessern: „so müssen wir trotzdem, soweit möglich, die Seele hierin zur Größe erziehen und sie stets [aeí] mit hohen Gedanken gleichsam schwängern“ (9,1 enkýmon, auch: ‚anschwellen lassen‘). Diese Zeugungs-Metaphorik schließt an den erläuterten temporalen Faszinationsaspekt von Erhabenheit in Kapitel 7 an: Erhabene Wendungen erzeugen also andauernd und mit jeder Wiederholung („aeí“: beständig, immer, stets) eine anschwellende Fülle von Gedanken. Sie garantieren der Seele immer neue Elevationen. Dieses Prinzip der permanenten semantischen Anreicherung der sprachlichen Zeichen durch Involvierung macht den Faszinationsaspekt von Erhabenheit aus. Dass ein solches stilistisches Evozieren ‚hoher Gedanken‘ von Pathosgenerierung zu unterscheiden ist, wird an der Frage der angemessenen literarischen Darstellung göttlicher Allmacht erörtert. Zwar seien jene Bilder (phantásmata), mit denen Homer in der Ilias den Kampf der Götter veranschaulicht, durchaus „übernatürlich“ (hyperphya 9,6) und somit dem Gegenstand angemessen, da sie das Auseinanderbrechen des Kosmos vergegenwärtigen.94 Jedoch habe Homer durch derartige Pathoserzeugung die ringenden „Götter zu Menschen gemacht“ (9,7). Da Götter unsterblich sind, scheint nun durch diesen darstellerischen Missgriff ihr „Unglück ewig [zu währen]“.95 Das an menschlichen Affekten orientierte Darstellungsverfahren ist für die sprachliche Evokation von Göttlichem unangemessen. Homers Darstellung des Götterkampfes fehle „die geziemende Ehrfurcht“, seine Götter wirkten „ganz ungöttlich“. Das Göttliche hingegen, „wie es wirklich ist“, ist „ungetrübt und groß und rein“ (9,8). Im Unterschied zu allem Handeln von Menschen ist göttliches Handeln durch eine äußerlich unsichtbare, unangestrengte Kraft gekennzeichnet, was sprachlich Ps-Longin, fahre gleichfalls wie ein Sturmwind in den Kampf. Ps-Longins Erläuterung dieses Verfahrens wiederum exemplifiziert dieses als grammatisches ‚Hineinfahren‘, indem sie syntaktisch bruchlos in das Homer-Zitat übergeht: Homer sei „selbst so ergriffen, daß er ‚wütet wie Ares, der Lanzenschwinger [...]‘“. 94 „Erblickst du nicht, mein Freund, wie aus der Tiefe die Erde aufbirst – der Tartaros selbst wird entblößt! – wie das All einstürzt und die Welt im Aufruhr klafft [...].“ (9,6). 95 Bühler: Beiträge, S. 31 referiert das Argument vollständig: „wenn die Götter dieselben Leiden wie die Menschen erdulden müssen und sich von ihnen nur durch die Unsterblichkeit unterscheiden, dann sind sie in Wahrheit unglücklicher, da ihre Leiden ja unbegrenzt sind, während die der Menschen mit dem Tod enden.“

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

167

adäquat nachgeahmt werden muss: Nicht sinnliche Kraft (durch Pathos), sondern gedankliche Kraft (durch Andeutung) sei dem Göttlichen angemessen, da es rezeptionsseitig einen erhabenen „Widerhall einer großen Seele“ ermöglicht. Dies gelingt, nach dem Modell der Emphase, durch eine Reduzierung des semiotischen Aufwandes. Ps-Longin hält Homers nicht erhabener Darstellung des Götterkampfes seine tatsächlich erhabene Darstellung göttlicher Macht in der Beschreibung Poseidons in der Ilias entgegen: Dort lässt noch der leichteste Schritt Poseidons Schiffe, Städte, Berge und ganze Landschaften erbeben. Kraftaufwand und Effekt sind hier radikal disproportional und seien insofern dem Göttlichen angemessen. Nicht rhetorischer Aufwand, sondern knappe Beschreibung und schlichter Stil machen die Majestät des Göttlichen adäquat erlebbar.96 Am prägnantesten und folgenreichsten wird die erlebnismimetische Konzeption göttlicher Erhabenheit durch den antiken Autor am Beispiel der Fiat-lux-Formel am Beginn des Alten Testaments erläutert. Mit nur zwei Worten lässt Moses Gott die Welt erschaffen und macht, als stilsicherer Autor der Erhabenheit, durch Verknappung die sich darin darstellende göttliche Allmacht für die Rezipienten emphatisch erlebbar: 97 Auf diese Weise hat auch der Gesetzgeber der Juden, ein außergewöhnlicher Mensch, die Macht des Göttlichen würdig gefaßt und dargestellt, als er gleich am Eingang der Gesetze schrieb: ‚Gott sprach.‘ – was? ‚Es werde Licht, und es ward. Es werde Land, und es ward.‘ (9,9)

Der formale Effekt nötigt den Zuhörer zum imaginativen Nachvollzug des Unvorstellbaren. Die göttlichen Allmachtshandlungen Poseidons und Jehovas werden somit durch eine stilistisch verknappende Beschreibung dieser Handlungen durch Homer und Moses angemessen dargestellt. Der (sprach96 Fritz: Vom Erhabenen, S. 147ff. unterscheidet, ausgehend von den Gottes-Darstellungen vor allem in Kapitel 9, grundsätzlich zwischen einem „Pathetisch-Erhabenen“, das durch schroff-gedrängten Stil gekennzeichnet sei, und einem nicht-pathetischen „Majestätisch-Erhabenen“ (S. 147), das keinen „Bedrängnischarakter“ (S. 155) habe und formal durch einen mehr oder weniger feierlich-ausladenden Stil, inhaltlich vor allem durch die Schilderung göttlicher Größe (S. 147) gekennzeichnet sei. Obgleich weithin auf die gleichen Belegstellen referierend lässt sich die Stilbestimmung des Majestätisch-Erhabenen mit dem von Till herausgearbeiteten Simplizitäts-Konzept nur teilweise vereinbaren. 97 Das Genesis-Zitat, als Beleg aus der jüdisch-christlichen Tradition in der literaturästhetischen Schrift eines nicht-christlichen Autors der Antike eine außerordentliche Ausnahme, dürfte für das Interesse an „Peri hypsos“ in der Frühen Neuzeit entscheidend gewesen sein. Till: Das doppelte Erhabene, S. 193ff. rekonstruiert die kontroverse theologische Deutung dieses Umstandes. Fritz: Vom Erhabenen, S. 49 versteht es als einen Beleg für die Erhabenheitserfahrung der Freude, ohne „Erschütterung“ und „Kontrollverlust“.

168

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

liche) Handlungsaufwand (Poseidons, Jehovas sowie Homers und Moses’) ist gegenüber dem damit erzielten Wirkungseffekt jeweils unverhältnismäßig klein und lässt dadurch die unvergleichliche Gewalt des Göttlichen erlebnismimetisch nachfühlen: als stilistische Nötigung der rezipierenden Seele, sich zu erheben. Wirkungsästhetisch gewendet verfährt die gegen die Konvention des genus sublime verstoßende Verknappung also durchaus der „Natur der [übermenschlichen] Sache“ (23,4) entsprechend, da das Göttliche als das Übersinnliche im Rahmen sinnlicher Sprache prinzipiell nicht anders als emphatisch-andeutend ausgesprochen werden kann. Das Göttliche kann – in der paradoxen Forderung: sprachlich-sinnlich und zugleich dem Göttlichen angemessen – nur indirekt, als ein über die bisherige Fassungskraft erhebender Elevations-„Widerhall“ in der Seele des Rezipienten, zur Darstellung kommen. In der Extremform des situativ markierten Verstummens wird die erlebnis­ mimetische und elevationsappellative Funktion der Gedankenemphase als Darstellungsverfahren von Erhabenheit am Beginn des 9. Kapitels von Peri Hypsous thematisiert. Gegenstandsadäquat paradox lässt der antike Autor, um seine, sich einer akustischen Metapher bedienenden, Bestimmung von Erhabenheit als „Widerhall einer großen Seele“98 zu exemplifizieren, eine Bemerkung zum Verstummen folgen. Diese ist an eine knappe Paraphrase aus der Odyssee Homers, nämlich der Unterweltfahrt (‚To­ten­beschwörung‘) des Odysseus, gebunden: Ich habe schon an anderer Stelle so formuliert: das Erhabene ist der Widerhall einer großen Seele. So erheischt auch die bloße Vorstellung für sich, auch wenn sie stumm bleibt, nur durch eben diese Seelengröße unsere Be­wunderung [thaumaso]: das Schweigen des Aias in der ‚Toten­beschwörung‘ ist in seiner Größe erhabener als alles, was Rede wird.

Diese Passage ist in dreifacher Hinsicht „stumm“: Den argumentativen Übergang zum Thema des Verstummens bzw. Schweigens nimmt Ps-Longin unvermittelt und fast kommentarlos vor und erzwingt so vom Leser eine entsprechende Kombinationsfähigkeit. Zweitens berichtet der nur angedeutete Literaturbeleg aus dem 11. Kapitel der Odyssee davon, wie der von eigener Hand getötete Held Aias auf die Anrede Odysseus’, der in die Unterwelt hinabgestiegen ist, mit ostentativem Schweigen reagiert. Drittens bleibt die Darstellung dieses Schweigens des Aias bei Homer selbst ‚stumm‘; nämlich – abstechend von der umständlich-gewundenen Anrede seitens Odysseus’ – äußerst knapp und unkommentiert. Ps-Longins Erläuterung folgt also Homer erlebnismimetisch, der wiederum, der stummen „Natur der Sache“ entsprechend, das Verhalten des Aias ‚stumm‘, also bloß andeutend und damit rezeptionsseitig zu (erhabener) Gedankentätigkeit anregend, darstellt. Bewunderns­würdig und vorbildlich ist für Ps-Longin also nicht so sehr die 98 Hervorhebung A.D.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

169

schweigende Geste des toten Helden, sondern deren literarische Darstellungsweise durch Homer in dessen sogenannter ‚Totenbeschwörung‘: Deshalb heißt es in Kapitel 9 nicht zufällig: das „Schweigen des Aias in der ‚Totenbeschwörung‘“. Diese erhabene erlebnismimetische Darstellung beweise die literarische Größe Homers.99 Wie schon in Zusammenhang der Diskussion Ps-Demetrios’ und Quintilians (Emphase) erwähnt, kann plötzliches Verstummen – als radikale Verknappung des semiotischen Aufwandes und radikale Herausforderung an die coniectura-Kompetenz des Rezipienten – wirkungsvoller sein als jedes Wort. Das ostentative Verstummen bzw. Schweigen (aposiópesis) kann rhetorisch als Gedankenemphase aufgefasst werden, insofern es, wie im Fall Aias, einer unaussprechlichen Komplexität an Emotionen und Gedanken entspricht. Es evoziert leserseitig Vermutungen und nötigt so die Seele des Rezipienten zu einem „Widerhall“. In der in Peri Hypsous bloß genannten, aber nicht zitierten (weil eben ‚stumm‘ bleibenden) Homer-Passage begegnen sich, folgt man dem Mythos, in Odysseus und Aias der Sieger und der Unterlegene eines früheren Rededuells.100 Zu diesem berühmten Rededuell ist es gekommen, weil die Frage, wem die wertvolle Rüstung des vor Troja gefallenen Achill rechtmäßig zusteht, unter den griechischen Helden strittig war. Das Rededuell selbst wurde in der Antike unterschiedlich bewertet, oft gilt es als Wettstreit von manipulativ eingesetzter rhetorischer Eloquenz (Odysseus) und aufrichtiger, aber ungeschliffener Rede (Aias). Generell sieht sich die Person des Odysseus, darauf macht schon Achill als Idealgestalt des traditionellen Heroentums aufmerksam, dem Vorwurf ausgesetzt, durch skrupellosen Zweckrationalismus, der nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegenüber Verbündeten eingesetzt wird, den griechischen Ehrenkodex zu verletzen.101 Die beschämende Unterle-

99 Köhnken, A.: Darstellungsziele und Erzählstrategien in antiken Texten. Berlin 2006, S. 578, Anm. 18. 100 Ähnlich wie Ps-Longin hinsichtlich der Wiederbegegnung in der Unterwelt rechtfertigt Ovid im 13. Buch der „Metamorphosen“ die Position Aias’ im Rededuell um die Waffen Achills. Einen ausführlichen Überblick der antiken Adaptionen und Interpretationen des Waffenstreits geben Liebsch, D.: Aias, in: Moog-Grünewald, M. (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Der Neue Pauly, Supplemente. Bd 5. Stuttgart 2008, S. 33 – 40 und Schierl, P.: Die Tragödien des Pacuvius. Ein Kommentar zu den Fragmenten mit Einleitung, Text und Übersetzung. Berlin 2006, S. 131ff. Entgegengesetzt zu Ps-Longin verkörpert in der Darstellung der Reden bei Antisthenes, Ch. Eucken zufolge (Der schwache und der starke Logos des Antisthenes, in: Hyperboreus, 3 (1997), S. 251 – 273), Odysseus den Weisen und Aias den Toren. 101 Vgl. Ilias, IX, 312f. und Schlange-Schöningen, H.: Echthra parphrasis: Odysseus, Aias und Palamedes, in: Luther, A. (Hg.): Geschichte und Fiktion in der homerischen Odyssee. München 2006, S. 93 – 106, hier S. 94, Anm. 7.

170

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

genheit Aias’, des – nach Achill – größten Heroen, auf dem ihm unvertrauten Kampfplatz der Rhetorik war der Grund seiner Selbsttötung. Homer stellt die Wiederbegegnung der beiden einstigen Kontrahenten in der Unterwelt in Form einer späteren großspurigen Erzählung des Odysseus dar. In dieser Darstellung Homers wird – das ist die Pointe, auf die Ps-Longins konservatives Programm der ethischen Erneuerung qua Erhabenheit implizit-andeutend aufmerksam macht – der listige Sieger des einstigen Rededuells durch die erhabene Würde, die durch das schweigende Abwenden des Ehrenmanns Aias zum Ausdruck gebracht wird, tief beschämt. Homers erhabene Darstellung der Wiederbegegnung von Odysseus und Aias deutet dies bloß an (bleibt also ‚stumm‘), indem sie gegen die in extenso wiedergegebene ornatusreiche (genus sublime) Rede des Odysseus (Umfang 13 Verse) die extrem knappe Erwähnung (Erhabenheit der Gedanken) von Aias’ Schweigen stellt (Umfang weniger als ein Vers). Insofern folgt Homers Darstellung dieses (zweiten) Rededuells in der Unterwelt dem Modell der Gedankenemphase bzw. der Erhabenheit der Gedanken: Ajas, der an Gestalt und Edeltaten der größte Unter den Danaern war, nach dem tadellosen Achilleus. Diesen redet‘ ich [Odysseus] an, und sagte mit freundlicher Stimme: Ajas, Telamons Sohn, des Herrlichen! mußtest du also Selbst nach dem Tode den Groll forttragen wegen der Rüstung, [...] höre Meine Red‘, und bezwinge den Zorn des erhabenen Herzens. Also sprach ich; er schwieg, und ging in des Erebos Dunkel102

Das hier erneut eingesetzte rhetorische Raffinement des Unterwelt-Fahrers Odysseus verfängt gegenüber der Schweigegeste Aias’ nicht: Diese zu verstehen, bedürfte es einer erhabenheitsfähigen Seelengröße, die Odysseus offenbar nicht besitzt. Durch schmeichelnde, seine eigene Mitschuld am Tod Aias’ auf die Götter abwälzende Rede versucht Odysseus, den Toten zur Aufgabe seines Grolls zu bewegen.103 Dieser reagiert auf den genus sublime des Odysseus mit einem Schweigen, das „in seiner Größe erhabener [ist] als alles, was Rede wird“. Dieser gesamte Verhaltens- und Affektkomplex ist in der Schweigegeste des Aias wie in deren ‚stummen‘ Darstellung durch Homer (und Ps-Longin) mitzudenken: als radikale Forderung an die zu erhabenem Widerhall fähige Gedankentätigkeit der Rezipienten. Das Interesse, 102 Odyssee 11, 543 – 563, zitiert nach Homer: Ilias, Odyssee, in der Übertragung aus dem Griechischen von J. H. Voß. Frankfurt a. M. 1990. 103 „Dennoch hätte mich dort der Zürnende angeredet,/Oder ich ihn; allein mich trieb die Begierde des Herzens,/Auch die Seelen der andern gestorbenen Helden zu schauen.“ Schlange-Schöningen (Echthra, S. 96f.) vermutet, dass Homers Epos Odysseus gegen den Vorwurf der Unredlichkeit im Verhältnis zu Aias zu verteidigen versucht; solche Vorwürfe finden sich etwa in Pindars 7. und 8. Nemeischer Ode.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

171

das gerade diese Passage aus Kapitel 9 in der neuzeitlichen Rezeption des Erhabenheits­konzeptes Ps-Longins gefunden hat, spricht seinerseits für die Faszinationskraft der stilistischen Schweigegeste qua bildlicher Andeutung oder Verknappung.104 Im Unterschied zur Ubiquität des Pathoseffektes folgt die Erhabenheit der Gedanken einem elitären Dichtungsverständnis: „Groß ist natürlicherweise nur die Rede von Menschen mit machtvollen Gedanken. Daher kommt es, daß das Außerordentliche gerade in einer stolzen, weiten Gesinnung keimt.“ (9,3f., Hervorhebung A.D.) Eine bloß andeutende – insofern ‚keimende‘ oder ‚zeugende‘ (9,1) – Sprache fasziniert, da sie eine Bezeichnungsgeste mit undeutlichem Bezeichnungsinhalt ist, der nur von einem kongenialen Rezipienten vermutend nachempfunden werden kann. Mit dem Beispiel des Schweigens, das das programmatische 9. Kapitel zu Erhabenheit der Gedanken eröffnet, lässt sich Faszinationserleben innerhalb des am Anfang von Peri Hypsous mit thaumázein und ékplexis umrissenen emotionalen Spektrums des Erhabenheitserlebens abgrenzen. Dies soll abschließend erläutert werden. Um die Aufmerksamkeit der Leser zu fesseln und auf sein Programm einzustimmen, setzt Ps-Longin mit der Schweigegeste als Beispiel für erhabenen „Widerhall“ eine unerwartete und deutungsbedürftige Aussage als Faszinationsimpuls an den Beginn des Kernkapitels. Eine wirkungsästhetische Parallele zur Aias-Stelle gibt der nächstfolgend diskutierte Literatur­beleg, der nur unvollständig überliefert ist.105 Es handelt sich um die Antwort Alexanders des Großen auf den Rat seines Feldherrn Parmenion, das Friedensangebot der Perser anzunehmen.106 Auf Parmenions Rat „Ich würde annehmen, wenn ich Alexander wäre“ antwortet Alexander „Ich auch, wenn ich Parmenion wäre“ – und lehnt ab.107 Dieses Beispiel soll die These Ps-Longins belegen, dass das „Außerordentliche“ am ehesten in einer „stolzen, weiten Gesinnung keimt“. 104 Die Aias- und die Fiat-lux-Stelle gelten in der frühneuzeitlichen Rezeption als „Standardbeispiele“ für erhabene Simplizität (Till: Das doppelte Erhabene, S. 207). Bei der Aias-Stelle weichen die Bewertungen Aias’ ab. Bühler: Beiträge, S. 16 hält die Wahl des grollenden Aias als Muster­beispiel gedanklicher Erhabenheit für „vielleicht doch nicht ganz selbstverständlich“, ähnlich Menning­haus: Zwischen Überwältigung, S. 2. Fritz: Vom Erhabenen, S. 66 verteidigt im Rückgriff auf die zweite Aias-Stelle und auf den Status des Helden in der Antike dessen „unbedingtes Verlangen“ nach Ehre; für Ps-Longin sei Aias der „Inbegriff des hochsinnig-schroffen Helden“ (ebd., S. 132). 105 An dieser Stelle klafft in der Handschrift eine größere Lücke. 106 Der Überlieferung nach bot der Perserkönig Darius Alexander Geld, ein Teil des Reiches und die Heirat mit seiner Tochter für die Freilassung der Angehörigen und Frieden an. – Zur Diskussion dieser Stelle bei Lessing vgl. Kapitel 4.2. 107 Plutarch: Alexander 29,4, zitiert nach Gehrke, H. J.: Geschichte des Hellenismus. München 1990, S. 17.

172

3  Poetik I: Aspekte von Faszination in antiken Wirkungstheorien

Wiederum wird die Frage der Gesinnung als Frage des adäquaten Verstehens einer andeutenden Ausdrucksweise diskutiert. Ähnlich wie bei der Begegnung von Aias und Odysseus wird die von der pragmatisch-konzessionsbereiten Position seines Feldherrn abgegrenzte Haltung Alexanders als von Prinzipien, also Ideen bestimmte und deshalb erhabene ausgezeichnet. Die erhabene Gesinnung Alexanders wird für den zu Seelengröße disponierten Zuhörer sprachlich, durch die Verbindung von Emphase und paradoxer Antithetik, erfahrbar gemacht. Die sprachliche Verknappung verbindet die Aias- und die Alexander-Stelle mit der Fiat-lux- und der Poseidon-Stelle; insofern gehören alle vier zum Programm der (zwar nicht pathetischen, das heißt aber nicht: emotionslos erlebten) Erhabenheit der Gedanken. Im Unterschied jedoch zur sprachlich schlichten Darstellung der göttlichen Allmacht ist die Aias- wie die Alexander-Stelle in sprachlicher Hinsicht (Schweigen, Antithetik) komplex konstruiert.108 Beide Stellen setzen, um überhaupt verständlich werden zu können, eine Einbeziehung des impliziten Kontextes voraus. Das den vier Beispielen gemeinsame semiotische Simplizitäts-Merkmal lässt sich somit in semantischer Hinsicht differenzieren. Analog zu Quintilians Unterscheidung zwischen der Emphase, die mehr meint, als sie sagt, und der Emphase, die anderes meint, als sie sagt, lässt sich zwischen dem Eindeutigkeit intendierenden Andeutungsverfahren der Fiat-lux- und Poseidon-Stelle und dem Mehrdeutigkeit intendierenden Andeutungsverfahren der Aias- und der Alexander-Stelle differenzieren. Im Eindeutigkeits-Fall wird ein Gefühl unfassbarer Allmacht, im Mehrdeutigkeits-Fall ein Gefühl rätselhafter Unbestimmtheit zum Ausdruck gebracht. Bezeichnet man eine eindeutige Andeutung mit Martin Fritz als Erhabenheit im Modus des Majestätischen, lässt sich das zweite Verfahren, die mehrdeutige Andeutung, als Erhabenheit im Modus des Faszinierenden auffassen. Der, wie erläutert, für den Erhabenheitsbegriff Ps-Longins grundsätzlich – neben dem Schrecken, der Simplizität, dem Majestätischen109 – charakteristische Aspekt der Faszination (in der Attraktivität anhaltend, im Erleben unwiderstehlich, im Gedächtnis haftend) wird durch eine mehrdeutige sprachliche Andeutung zum dominanten Wirkungseffekt. Dem Alleinstellungsmerkmal göttlicher Kraftentfaltung, nämlich „ungetrübt und groß und rein“ (9,8) zu sein, entspricht die semiotische Struktur des Majestätischen als Disproportionalität von Zeichenaufwand und Wirkungseffekt. Die eindeutige Rede des Erhaben-Majestätischen „Es werde Licht, und es 108 Für N. Boileau sind beide Stellen Ausdruck des Heroisch-Erhabenen (vgl. Fritz: Vom Erhabenen, S. 173f.). 109 Die Begriffe stehen für die unterschiedlichen Traditionslinien in der Rezeption von „Peri hypsous“, die von der jüngeren Forschung herausgearbeitet wurden. Zelle: Angenehmes Grauen fokussiert Erschütterung und Schrecken, Till: Das doppelte Erhabene fokussiert Simplizität, Fritz: Vom Erhabenen fokussiert Hochsinnigkeit und das Majestätische.

3.3  Faszination als Aspekt von Erhabenheit: Ps-Longins Vom Erhabenen 

173

ward.“ (9,9) unterscheidet sich von der über die semiotische Disproportionalität hinausgehende Mehrdeutigkeit des Erhaben-Faszinierenden, etwa bei der Schweigegeste des Aias oder bei der paradoxen Reaktion Alexanders.

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

175

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts 4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke Ausgehend von dem im dritten Teil diskutierten semiotisch-ästhetischen Verständnis von Faszination als imaginativ stark involvierende Deutungsakte werden nun im expliziten oder vermittelten Anschluss an Ps-Longin Theorieansätze des 18. Jahrhunderts diskutiert. Im Mittelpunkt stehen Überlegungen Joseph Addisons und Moses Mendelssohns zum Verhältnis von Imagination und Erhabenheit sowie zu der wirkungsästhetischen Überlegenheit unanschaulicher oder dunkler Bildkombinationen. Im dritten Kapitel werden mit der medientheoretischen Diskussion zwischen Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing über das Verhältnis von picturaler Anschaulichkeit und sprachlicher Wirkungsmacht Darstellungsverfahren der Psalmen und moderner Autoren diskutiert und an der Darstellung des Himmels in Klopstocks Messias illustriert. Wichtig sowohl für Mendelssohn als auch für Hamann ist die durch den Schotten Robert Lowth bekannt gemachte Poetik der biblischen Psalmen, die nach dem für moderne Dichtungstheorie zentralen Prinzip des Parallelismus unähnliche Bilder kombiniert. Neben Ps-Longins Begriff des Erhabenen und der Wirkungsmacht sprachlicher Dunkelheit wird die faszinationsaffine Kategorie ‚Imagination‘ eine zentrale Rolle spielen. Entsprechende Darstellungsverfahren (mehrdeutige Zeichen, Kombination nicht isotoper Sprachbilder) werden vorgestellt. Zum Abschluss wird mit Johann Georg Hamanns Poetik der medialen Adressierung der sinnlichen Bedürfnisstruktur des Lesers Faszination erstmals und programmatisch ins Zentrum ästhetischer Überlegungen gerückt. Stilistische Verfahren von Hamanns Poetik der Faszination, die sich auch auf Klopstock und Lowth beruft, sind beispielsweise sokratische Ironie, Lakonie und sprachliche Bildlichkeit. 4.1.1  Schweigegeste und Gedankensog Der Engländer Joseph Addison scheint der erste gewesen zu sein, der Anfang des 18. Jahrhunderts im Anschluss an Ps-Longin dem Schweigen als ‚Widerhall einer großen Seele‘ eine kleine Abhandlung gewidmet hat. Von Interesse DOI 10.1515/9783110527308-005

176

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

ist diese wegen des wirkungsästhetischen Zusammenhangs von Verstummen als radikal verknappender Ausdrucksform, Erhabenheit und deutende Vorstellungsstimulation. Der 1709 im 133. Heft der Wochenschrift The Tatler publizierte Essay Addisons wird durch ein Zitat aus der Rede Ciceros gegen Catilina eingeleitet. Das Zitat hebt die expressive Funktion ostentativen Verstummens durch Entgegensetzung hervor: „Indem sie schweigen, schreien sie es hinaus“ („Dum tacent, clamant“1). Addison erörtert Schweigen nicht als soziokulturelle Praxis der Vertrautheit und Diskretion, sondern als erhabene Sprachhandlung des Verstummens, die außerordentliche Erfahrungen und Zustände von großer emotionaler und geistiger Spannung adäquat darzustellen vermag, nämlich so, dass der Rezipient ähnliche Spannungszustände erlebt. Schweigen ist, wie die Diskussion der entsprechenden Paragraphen von De elocutione gezeigt hat, faszinationsaffin, da seine Bedeutung vollständig situationsabhängig und somit selten eindeutig ist. Die Eingangssentenz des Essays referiert die bei Ps-Longin genannte Qualität des Schweigens als Anzeichen von Seelengröße: „Schweigen ist manchmal bedeutungsvoller und erhabener [sublime] als die eleganteste und ausdrucksvollste Rede und ist häufig Anzeichen einer großen Seele [great mind].“2 Die besondere, eine individuelle Haltung ausdrückende Wirkung des Schweigens tritt Addison zufolge insbesondere dann hervor, wenn Sprechen durch manipulativen Gebrauch, Lüge oder Verleumdung fragwürdig geworden ist. Dies wird an zwei literarischen Beispielen erläutert: der schon von Ps-Longin bekannten Schweigegeste des toten Aias in Homers Odyssee und der Schweigegeste der toten Dido in Vergils Aeneas-Roman. In beiden Fällen reagiert das Schweigen des bzw. der Toten auf ein beschwichtigendes, eigene Mitschuld an der Selbsttötung des bzw. der Angesprochenen leugnendes Reden eines Lebenden. Aias zeigt angesichts der Ausflüchte des listenreichen Odysseus eine „stumme, mürrische Majestät“: Sein Schweigen, so Addison, „hatte (um die Worte Longins zu verwenden) mehr Größe in sich als alles, was er hätte sagen können“. Dieser Vergleich betrifft nicht nur das Schweigen als Ausdruck der verletzten Ehre des tapfersten Helden der Griechen, sondern auch Homers Darstellungsverfahren: Das Schweigen Aias sei von einer größeren Erhabenheit als jede der Reden innerhalb der gesamten Odyssee. In gesteigertem Maße finde eine solche vielsagende Schweigegeste in Vergils Aeneas Verwendung. Als Aeneas im Totenreich seiner von ihm verlassenen Geliebten Dido begegnet und unter Tränen seine Unschuld an ihrem Tod zu bekräftigen versucht, würdigt diese ihn keines Blickes. Voller Verachtung abgewendet, hört sie Aeneas’ Worten zu und schaut dann kurz zu Boden: 1 2

„The Tatler“, Nr. 133 von 1709 wird im Folgenden zitiert nach Bond, D. F. (Hg.): The Tatler, mit einer Einführung und Anmerkungen. Bd. 2. Oxford 1987, S. 269 – 272, hier S. 269 (deutsche Übersetzung hier und im Folgenden A.D.). „Silence is sometimes more significant and sublime than the most noble and most expressive eloquence, and is on many occasions the indication of a great mind.“ (Ebd.).

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

177

so „wie jemand, der seine Beteuerungen vernommen und abgelehnt hat“3, um sich darauf für immer von ihm abzuwenden. Verglichen mit Homer verstärke Vergils Darstellung der Schweigegeste den Ausdruck widerstreitender Gefühle und Gedanken durch Didos Blick auf den Boden, wodurch die Abwendung des Schweigens gleichsam verdoppelt wird. In beiden Epen überdecken die Lebenden in wortreichen Beteuerungen ihre Mitschuld am Tod; vor diesem (sprachlichen) Erfahrungshintergrund manipulativer Rede hebt sich das Schweigen als authentischere, die Komplexität der Gedanken und Gefühle adäquat anzeigende Kommunikation ab. Generell, so Addison, komme die außerordentliche Würde (majesty) und Erhabenheit (sublimity) des Schweigens niemals so vorteilhaft zur Geltung als in der Reaktion auf manipulative Rede und Verleumdung. Das Schweigen gleiche dann einer heroischen Tat, die „Seelengröße“ (great mind) erkennen lasse.4 Neben der ethischen und semiotischen Diskussion des ostentativen Schweigens oder Verstummens rücken einige der Beispiele die wirkungsästhetische Perspektive in den Vordergrund. Eingebunden in eine klimatheoretische Differenzierung der Fähigkeit zu erhabener Elevation führt Addison Berichte über fernöstliche Religionen an, in denen Schweigen Teil öffentlicher Kultpraxis ist. Das Schweigen korreliert mit der Fähigkeit jener Menschen zu „höheren Spannungen des Denkens“ („higher strains of thought“5) und zu „erhebenderer Ekstase“ („more elevated raptures“). Dieses Schweigen sei habitueller Ausdruck des Zuströmens geheimnisvoller, sprachlich nicht auszudrückender Gedanken und Empfindungen: Wenn ihre öffentlichen Anbetungen sich in größter Inbrunst [greatest fervour] befinden und ihre Herzen so hoch heraufgehoben sind wie dies durch Worte nur möglich ist, dann treten für einige Zeit gewisse Unterbrechungen [suspensions] der Laute und der Bewegung ein, in welcher die Seele [mind] sich selbst überlassen ist, um in solchen geheimnisvollen Vorstellungen [secret conceptions] anzuschwellen [to swell], die für jede Äußerung zu groß sind [too big for utterance].6

Die sprachliche Induktion der Ekstase (Worte wirken auf die Seele), die Beschreibung der physisch-emotionalen Intensitätssteigerung (Inbrunst, Erhebung, Stupor) und die verwendete Metaphorik (heraufgehoben werden, anschwellen) stimmen weithin mit Ps-Longins Beschreibung des Erhabenheitserlebens überein. In Addisons wie in Ps-Longins Konzeption erfährt die Seele durch Worte eine Erhebung und geistige Erweiterung, wobei die emotionale Intensität dieses seelischen Transformationsprozesses – bei Ps-Longin als 3 Ebd. 4 Ebd., S. 272. 5 Ebd., S. 269. 6 Ebd., S. 270.

178

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

„Widerhall“, bei Addison als „geheimnisvolle Vorstellungen“ umschrieben – als unaussprechlich gilt. Eine ästhetische Variante erhabenen Schweigens wird in der Beschreibung einer auditiven Imagination deutlich, die Addison aus eigenem Erleben schildert. Als während eines Konzertes „im ganzen Tumult und in der Gärung [ferment] ihrer Harmonie alle Stimmen und Instrumente plötzlich kurz verstummten und nach einer kleinen Pause genauso fortfuhren wie zuvor“7, fühlte er sich von der plötzlichen Unterbrechung der Musik wunderbar entzückt („wonderfully delighted“), da diese in ihm einen Widerhall der Seele im eigentlichen Sinne hervorrief. Dieser ist kein Nachhall des Verklungenen, sondern eine intensivierte Empfindung: „Mir kam es vor [me thought], dass dieser kurze Intervall des Schweigens mehr Musik in sich gehabt hatte als jeder Intervall von gleichem Umfang davor oder danach“8. Hier deutet sich eine wirkungsästhetische Überlegenheit der (in diesem Fall auditiven) Imagination, in der sich die Totalität des sukzessiv Wahrgenommenen zusammenzuziehen vermag, gegenüber der eigentlichen Sinneswahrnehmung an, auf die Addison in einem späteren Essay The Pleasures of the Imagination ausführlich eingehen wird. In seinem Bericht über den Konzertbesuch überträgt Addison die rhetorische Figur des plötzlichen Verstummens (aposiópesis), die er am Ende des Essays ausdrücklich nennt, auf die Wirkungsästhetik von Musik. Der Abbruch der polyphonen Strukturen der Musik provoziert analog der Gedankenemphase eine Reaktion der auditiven Imagination, in der nicht einfach das eben Gehörte noch einmal, sondern dessen Potential an musikalischer Möglichkeit erlebt wird. Die dafür verwendete Metapher der Gärung („ferment“) entspricht in ihrer Verbindung von Temporalität und stofflicher Umwandlung der Metaphorik des seelischen Anschwellens in der mystischen Ekstase. Deutlicher wird der Faszinationsaspekt des erhabenen Verstummens anhand einer Tragödie beschrieben. Am emotionalen Höhepunkt der Handlung könne die Widersprüchlichkeit der Gefühle in einer Person häufig „nicht durch die Kraft der Sprache ausgedrückt werden“9. In diesem Moment sei nichts anmutiger („more graceful“)10 für die Zuschauer, als wenn die Reden und Handlungen der Schauspieler für einige Augenblicke unterbrochen werden. Während dieser Augenblicke des Schweigens „ist das Publikum in einer angenehmen Anspannung fasziniert“11 („the audience fixed in an agreeable suspense“). Es durchlebt, so ließe sich ergänzen, erwartend und angespannt in der eigenen Imagination und Gedankentätigkeit die Ungewissheit und emo7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 271. 10 Zum Begriff ‚grace‘ im Verhältnis zu Faszination vgl. Kapitel 2.3. 11 Bond: The Tatler, S. 271.

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

179

tionale Komplexität der stillgestellten Situation und ihrer Vorgeschichte. Ein solches Faszinationserleben des Publikums lasse sich durch plötzliches Verstummen im Zusammenhang von Trauer, Zorn, Überraschung, Bewunderung oder Erstaunen erzeugen. Addison führt als Beispiel die 1682 publizierte Tragödie Venice Preserved von Thomas Otway an, in deren letzten Akt die Freunde Pierre und Jaffier in einer emotional hochkomplexen Entscheidungssituation verstummen: Um dem unehrenhaften Tod durch Hinrichtung zu entgehen, möchte Pierre seinen Freund, dem er im Voraus vergibt, bitten, ihn zu töten. Doch kann er sich zunächst nicht überwinden, Jaffier diese Bitte vorzutragen, weshalb er sich wortlos und unter Tränen wieder vom Ohr des Freundes abwendet: Die melancholische Stille, die hierauf folgt […], erweckt bei den Zuschauern eine unaussprechliche [inexpressible] Trauer und eine Vorstellung von solch einem wirren Leiden [complicated distress] in der handelnden Figur, dass Worte sie nicht ausdrücken können.12

Addison beschreibt hier den imaginativ-emotionalen Sog der Schweigegeste: Die Zuschauer sind gebannt und fasziniert, dabei aber aktiviert: Trauer und Vorstellungen werden bei ihnen durch den semantischen ‚Unterdruck‘ des Schweigens „erweckt“. Es ist vermutlich kein Zufall, dass Hugo von Hofmannsthal während seiner Arbeit am sogenannten Chandos-Brief, der in starkem Maße ein Text über das Verstummen und über Faszinationserleben ist, sich begeistert einer Neufassung der Tragödie Venice Preserved zuwendet:13 „Plötzlich am Morgen des 15ten [Oktober 1902] hab ich gefühlt daß etwas in mir da ist“14; auf Anhieb schreibt Hofmannsthal die ersten 60 Verse für sein Drama Das gerettete Venedig nieder. Acht Jahre zuvor, nach seiner ersten, ihn anhaltend beeindruckenden Lektüre von Otways Tragödie, nennt er das Schweigen als Grund für sein Interesse: Das Stück stamme „aus der traurigen und merkwürdigen Zeit König Jacob des Zweiten [...], wo die Menschen keinen Ton gehabt haben, um zu sagen, wie unglücklich sie waren. Äußerlich war die Zeit ganz unsentimental, ziemlich gemein, der unsrigen ähnlich“15. In diese Zeit verlegt Hofmannsthal auch seinen Chandos-Brief. 12 Ebd. 13 Zur Faszinationsmotivik in Hofmannsthals Chandos-Brief vgl. A. Degen: Festgezaubert. Positionen zur poetischen Faszination bei Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, in: Hahnemann, A./Weyand, B. (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2009, S. 59 – 89, hier S. 87 – 89. 14 Brief an Arthur Schnitzler vom 23. 10. 1902 (Hofmannsthal, H. von./Schnitzler, A.: Briefwechsel, hg. von Th. Nickl und H. Schnitzler. Frankfurt a. M. 1964, S. 162). 15 Brief an Leopold von Andrian vom 5. 5. 1896 (Hofmannsthal, H. von/Andrian, L. von: Briefwechsel, hg. von W. H. Perl. Frankfurt a. M. 1968 S. 64).

180

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

4.1.2  Lust der Einbildungskraft am Großen Zwei Jahre nach dem wenig beachteten Essay über das Schweigen publizierte Addison im Sommer 1712 in der Wochenschrift The Spectator eine Folge von elf Essays über The Pleasures of the Imagination (Von den Belustigungen der Einbildungskraft)16. Diese Essays hatten maßgeblichen Einfluss auf die Aufwertung der Einbildungskraft in den philosophischen und ästhetischen Diskursen des 18. Jahrhunderts, was letztlich auch das Ästhetischwerden des Begriffs ‚Faszination‘ ermöglicht hat. Plötzliches Schweigen spielt in dieser Essayfolge keine Rolle, allenfalls kann ‚stillness‘ als ein begriffliches Pendant angesehen werden. Dennoch gibt es in beiden Abhandlungen konzeptionelle Gemeinsamkeiten, geht es doch im Essay über das Schweigen und im Essay über die Einbildungskraft um einen psychischen Transformationsprozess, der durch die Wahrnehmung oder Vorstellung eines über die mentalen Kapazitätsgrenzen Hinausgehenden hervorgerufen wird. Übereinstimmungen weist auch das emotionale Spektrum auf, das mit der Erfahrung des Verstummens und dem Anblick oder der Vorstellung von außerordentlicher Größe verbunden ist: Reaktionen auf plötzliches Verstummen werden von Addison durch die Emotionswörter ‚admire‘, ‚wonderfully delighted‘, ‚ graceful‘ und ‚fixed in an agreeable suspense‘ bezeichnet, emotionale Reaktionen auf Großes durch ‚admiration‘, ‚pleasing astonishment‘, ‚delightful stillness‘, ‚stupendous‘ und ‚amazement‘. Unter ‚Einbildungskraft‘ (und dessen Synonym ‚Phantasie‘)17 versteht Addison die Fähigkeit des Geistes (mind), von sichtbaren Gegenständen oder von erinnerten oder durch Bilder, Beschreibungen oder Musik dargestellten Gegenständen eine Vorstellung (idea) zu gewinnen: Im Grundsatz geht es also um Zusammenführung und Konfiguration der Elemente von Sicht- oder Vorstellungsfeldern. Addison unterscheidet dabei zwei Modi der Einbildung: das Vorstellen von sinnlich präsenten Objekten (entspricht näherungsweise Kants ‚Anschauung‘) und das Vorstellen von abwesenden Objekten aus dem Gedächtnis oder vermittels bestimmter Medien wie Bilder, Schrift, Musik oder Orte (entspricht näherungsweise Kants ‚Vorstellung‘). Entscheidend für diese Konzeption von Einbildung ist ihre motivationale Begründung aus der Lust, die aus der erfolgreichen Aktivierung des perzeptiv-imaginativen und mentalen Vermögens resultiert. Der Mensch imaginiert, weil dies als lustvoll erfahren wird. Eine Steigerungsmöglichkeit dieses Vergnügens wird von Addison mit bestimmten Objektqualitäten verbunden: dem Großen, dem Schönen 16 Addisons „The Pleasures of the Imagination“ wird zitiert nach: Smith, G. (Hg.): The Spectator, Bd. 3. New York 1945, S. 276 – 309, die deutsche Übersetzung nach: Von den Belustigungen der Einbildungskraft, in: Der Zuschauer, übersetzt von L. A. V. Gottsched. Zweyte verbesserte Auflage, Theil 6. Leipzig 1751, S. 75 – 126. 17 Zur Bedeutungsgleichheit von imagination und fancy vgl. „The Spectator“ Nr. 411.

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

181

und dem Neuen (bzw. Seltsamen). Diese drei Objektqualitäten werden zwar getrennt erörtert, doch wirken sie im konkreten Imaginationserleben meist zusammen und verstärken so das Vergnügen.18 Die lustvolle Aktivierung der Seele liegt im Fall des Großen der sinnlich präsenten Objekte in der Dehnung und stufenweisen Erweiterung des perzeptiven Vorstellungsvermögens. Bei der Vorstellung abwesender Objekte hat die Lust der Seele einen doppelten Grund: Sie resultiert aus der Vorstellung des Objektes selbst und aus der Angemessenheit der beispielsweise bildlichen oder sprachlichen Darstellung, die die Vorstellung des Objektes veranlasste.19 Das Vergnügen an der Angemessenheit der Darstellung beruht auf Vergleichsrelationen, ist also stärker kognitiv ausgerichtet als die Vorstellung des Objektes selbst. Anders als es die systematische Unterscheidung zwischen physisch-sinnlichen, psychisch-imaginativen und kognitiv-intellektuellen Vergnügen am Anfang der Essays vermuten lassen, räumt Addison dem Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand große Aufmerksamkeit ein; dies gilt insbesondere für die durch Repräsentation stimulierten Vorstellungen: Bei der Imagination eines außerordentlich Großen wird die Kapazität der Einbildungskraft zur Veranschaulichung derart durch den Verstand herausgefordert, dass dies einem Faszinationserleben nahe kommt.20 Im Unterschied zur intellektuellen Anstrengung gleicht die Aktivierung der Einbildungskraft einer „sanften Uebung der Gemüthskräfte“21. Sie verläuft lustbasiert und ohne „Arbeit oder Schwierigkeit“; – lediglich im Versuch, außerordentlich Großes vorzustellen, werden „Schranken“ und ein „Mangel“22 der Einbildungskraft spürbar. Diese Konzeption einer spielerischen Aktivierung der Einbildungskraft umfasst – anders als die nachfolgenden dualistischen Ansätze Edmund Burkes oder Johann Jakob Bodmers bis hin zu Kant – sowohl das „Anschauen der Felder und Wiesen“23 als auch der „allerrauhesten ungebauten Theile der Natur“ ein. Auch der Anblick des Großen in der Natur gewährt, bis zu einer bestimmten Schranke, ein spezifisches Vergnügen, das emotional als angenehmes Erstaunen („pleasing Astonishment“24) und reizende Stille („delightful Stilness“) charakterisiert wird. Dieser emotionale Zustand ist konzeptionell verwandt mit der Erhabenheitserfahrung des Schweigens, beide sind mit einer Deh18 „Wenn aber in solcher Größe […] einige Schönheit oder Seltenheit gefunden wird: so wächst das Vergnügen noch um destomehr, da es von mehr als einem einzigen Ursprunge entsteht.“ Addison: Von den Belustigungen, S. 80. 19 Ebd., S. 89. 20 Anders als bei der ästhetischen Idee in Kants „Kritik der Urteilskraft“ beschreibt Addison die medial vermittelte Vorstellung von Großem als Diktat des Verstandes, nicht der Einbildungskraft. 21 Addison: Von den Belustigungen, S. 78. 22 Ebd., S. 119. 23 Ebd., S. 77. 24 Addison: The Pleasures, S. 279.

182

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

nung bzw. Gärung psychischer Vermögen verbunden. Der Einbildungskraft sei grundsätzlich ein natürliches Vergnügen [delight] in Erblickung dessen, was groß oder unumschränkt ist, eingepflanzet. Unsere Verwunderung, die eine sehr angenehme Bewegung des Gemüthes [very pleasing Motion of the Mind] ist, entsteht augenblicklich, so bald wir irgend ein Ding betrachten, welches in unserer Einbildungskraft einen großen Platz einnimmt25

Addison differenziert an dieser Stelle zwischen dem Großen und dem Unumschränkten, da es ihm um die Gewinnung einer Vorstellung („idea“) sowohl von einer positiven Größe eines Objektes (etwa einem Gebäude) als auch von weiten offenen Räumen (Ausblick in die Ferne) geht: Aus dieser Differenz resultiert die wechselnde Metaphorisierung der Imagination des Großen als zum einen Füllung (der Einbildungskraft durch das Große), zum anderen Selbstverlust (der Einbildungskraft an das Unumschränkte).26 Addisons Beschreibung des Imaginationsprozesses im Falle von „Unermeßlichkeit“ wechselt zwischen Passivität und Aktivität: Zunächst wird die Einbildungskraft vom Großen erfüllt, andererseits „schnappet [sie] gern nach einer Sache, die für deren Fähigkeit zu groß ist.“27 Die Vorstellung eines Großen oder Unumschränkten ist, dies ähnelt dem Elevationsprozess der Seele bei Ps-Longin, psychisch attraktiv, weil es – anders als die Objektqualitäten des Neuen oder Schönen – das psychische Vermögen dauerhaft erweitert. Diese Aktivierung qua Dehnung begründet, weshalb die „Unermeßlichkeit“ eines Ausblicks für die Einbildungskraft zu einem „Bild der Freyheit“ werden kann: Dahingegen ist ein weiter Gesichtskreis ein Bild der Freyheit, allwo das Auge Platz hat, herum zu irren, die Unermeßlichkeit seiner Blicke auszuspähen, und sich selbst unter den mannigfaltigen Gegenständen zu verlieren, die sich seinem Anschauen darstellen. 28

Zwischen der Aktivierung der Einbildungskraft angesichts „solcher unbeschränkter Dinge“29 wie weiter Landschaften, Wüsten oder Gebirge, und dem im Tatler-Essay behandelten Anschwellen der Seele durch geheimnisvolle Vorstellungen oder dem nachhallenden Gären von Polyphonie gibt es konzeptionelle Übereinstimmungen. Wie die mystische Erfahrung zu groß für jeden 25 Addison: Von den Belustigungen, S. 85. 26 Zur Füllungs-Metaphorik vgl. das vorangegangene und das folgende Zitat, zur Verlust-Metaphorik vgl. Addison: Von den Belustigungen, S. 80. 27 Ebd., S. 79; im englischen Original: „our imagination loves to be filled with an object, or to grasp at anything that is too big for its Capacity“ (Addison: The Pleasures, S. 279). 28 Addison: Von den Belustigungen, S. 80. 29 Ebd., S. 79.

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

183

sprachlichen Ausdruck („too big for utterance“30) ist, weist der über die gegebene Fähigkeit der Einbildungskraft hinausgehende Anblick („too big for its Capacity“31) auf eine Unangemessenheit in der – sprachlich-begrifflichen (utterance) wie imaginativ-begrifflichen (idea) – Darstellbarkeit einer Erfahrung. Die Unangemessenheit ist nicht absolut, sondern relativ, denn sie bewirkt einen Assimilationsprozess. Dieser wird psychisch als intensive Aktivierung des geistig-imaginativen Potentials, physisch als Stillstellung (‚silence‘ bzw. ‚stillness‘) erlebt und kann, aufgrund dieser fokussierenden Tendenz, als Aspekt von Faszination in Addisons Imaginationsmodell aufgefasst werden. Eine genaue Parallele zwischen der mystischen Erfahrung im Schweigen und der Vorstellung des Großen zeigt sich in der Verwandtschaft von Imaginations- und Verstandeslust als Reaktion auf visuell bzw. rational Unbegrenztes: „Solche weite und unbestimmte Aussichten si[n]d der Einbildungskraft eben so angenehm, als das Nachsinnen über die Ewigkeit oder Unendlichkeit dem Verstande ist.“32 Beide Prozesse sind, trotz der forcierten Herausforderung der psychischen bzw. intellektuellen Fähigkeiten, für Addison im Vollzug lustvoll.33 Die Ähnlichkeit jener Lusteffekte, die durch eine weite Aussicht oder das Nachdenken über Unendlichkeit hervorgerufen werden, bedeutet aber keine Gleichheit von Verstand und Einbildungskraft. Dies zeigt eine Gegenüberstellung ihrer Leistungsvermögen anhand naturwissenschaftlicher Abhandlungen, das heißt anhand einer schriftlichen verstandesförmigen Darstellung, die die Einbildungskraft zu entsprechenden Vorstellungen stimuliert. Derartige Abhandlungen über Minerale, Pflanzen oder Himmelserscheinungen fesseln („engage“), so Addison in Essay Nr. 420, die Einbildungskraft und den Verstand gleichermaßen. Das Zusammenwirken von Verstand und Einbildungskraft in der textbasierten Vorstellung des außerordentlich Großen beispielsweise des Kosmos wird von Addison in mehreren Schritten beschrieben; dabei geht es stets darum, ob und wie die Einbildungskraft von dem, was der Verstand in permanenten Steigerungsstufen begrifflich vorgibt, noch ein einheitliches, umfassendes Vorstellungsbild generieren kann, so dass man es imaginativ „auf einmal übersehen“ kann. Wenn sich die Einbildungskraft die gesamte Erde mit ihren benachbarten Planeten vorstellt, werde das menschliche 30 31 32 33

Bond: The Tatler, S. 270. Addison: Von den Belustigungen, S. 79, vgl.: The Pleasures, S. 279. Addison: Von den Belustigungen, S. 80. Zur Abgrenzung von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstandestätigkeit vgl. Nr. 411 des „Zuschauer“. – Durch die Tätigkeit der Einbildungskraft können auch „Begriffe erwecket” (ebd., S. 103) werden, die Erweiterung der Gedanken und der Einbildungskraft gehen Hand in Hand (ebd., S. 105). G. Dürbeck (Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 75, Anm. 73) spricht in diesem Zusammenhang von einer problematischen „Intellektualisierung der Imagination“ bei Addison.

184

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Gemüt von „angenehmen Erstaunen“ erfüllt. Wird nun die Einbildungskraft durch den Verstand mit einem größeren Raum konfrontiert, findet sich die Einbildungskraft „mit einer unermeßlichen Aussicht angefüllet, und dehnet sich sehr weit aus, um sie zu begreifen.“ Mit jeder weiteren Steigerung, bei der wir entfernte Fixsterne, die wie „weite Meere von Flammen“ erscheinen, und neue Firmamente und Lichter, die „weiter in diese unergründlichen Tiefen der Himmelsluft versenkt“ sind, entdecken, dehnt sich die Einbildungskraft nach Maßgabe des Verstandes sukzessive aus. Auffallend – und für die Problematik, die sich der Einbildungskraft stellt, charakteristisch – ist, dass Addison in der Beschreibung der immer weiter werdenden kosmischen Dimensionen selbst zu Metaphern greifen muss. Diese Herausforderung der Einbildungskraft, dem begrifflichen Denken in den Abhandlungen durch Gewinnung anschaulicher Vorstellung Folge zu leisten, ist zunächst lustvoll: „Nichts ist der Phantasie angenehmer, als wenn sie sich in ihrer Betrachtung der mancherley Verhältnisse stufenweise erweitert, welche ihre verschiedenen Gegenstände gegeneinander haben“34. Eine solche graduelle Erweiterung der Einbildungskraft geschieht auch in umgekehrter Richtung mit der Vorstellung immer kleinerer Dinge und Materieteilchen, die durch den Verstand in eine ebensolche Unendlichkeit des Voranschreitens wie im Großen geführt wird: „in dem kleinsten Theile dieser kleinen Welt einen unerschöpflichen Vorrath von Materie antreffen, welche zu einem andern Weltgebäude ausgearbeitet werden kann“35. Die Einbildungskraft kann bei der Sukzession ins Unendlich-Große wie ins Unendlich-Kleine dem Verstand solange folgen, solange sie ihre Fähigkeit steigern kann, das an sich Unvorstellbare durch die Vergleichung mit einer Anschauung, also durch ein Ähnlichmachen, zu einer einheitlichen, wenn auch dem Gemeinten nur noch analoge Vorstellung zu konfigurieren: „wenn sie den Körper eines Menschen mit dem Klumpen der ganzen Erde, die Erde mit dem Kreise, welchen sie rund um die Sonne beschreibt, diesen Kreis mit der Sphäre der Fixsterne […] vergleicht.“36 Dieser lustvolle Dehnungs- und Erweiterungsprozess der Einbildungskraft, um Unvorstellbares durch Vergleich mit einer fasslichen Anschauung imaginieren zu können, wird als faszinierende Attraktion erlebt. Allerdings werden der Einbildungskraft bei ihrem Versuch, mit dem Verstand auf seinem Weg in die Unendlichkeit Schritt zu halten, ihre Schranken bald spürbar. Sie wird von der „Unermesslichkeit des leeren Raumes“ „verschlungen“ bzw. „verliert“ das unendlich Kleine „aus dem Gesicht“. In diesem Moment der maximalen Anspannung ihres Vermögens, das Unermessliche in 34 Addison: Von den Belustigungen, S. 117f. , vgl.: The Pleasures, S. 303: „[…] our Imagination finds its Capacity filled with so immense a Prospect, and puts it self upon the Stretch to comprehend it. […] Nothing is more pleasant to the Fancy, than to enlarge it self, by Degrees […].“ 35 Ebd., S. 118. 36 Ebd.

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

185

eine Totalität zusammenzufassen, „fühlet [sie] gewissermaßen eine leere Kluft [Chasm] bey sich“. Diese Kluft, dieser Riss oder Abgrund beim Versuch, per Ähnlichkeit Vorstellung zu ermöglichen, markiert ein Darstellungsproblem. Die Einbildungskraft kann keine einheitliche sinnlich-anschauliche Vorstellung generieren, die der Vorgabe des begrifflichen Denkens adäquat ist. Diese „Kluft“ müsste, wie es ausgesprochen metaphorisch heißt, „mit der Materie eines mehr sinnlichen Klumpens angefüllet werden“. Eine solche steht der Einbildungskraft aber nicht mehr zur Verfügung. Dieser Grenzfall der überforderten Einbildungskraft, der für die Diskussion der Erhabenheitserfahrung im 18. Jahrhundert zentral werden wird, wird von Addison, dem es ja um die verschiedenen Leistungen und Wirkungsfelder der grundsätzlich positiv eingeschätzten Einbildungskraft geht, nicht weiter diskutiert. Ein zweiter Fall des Zusammenwirkens von Verstand und Einbildungskraft wird von Addison für die literarische Darstellung abstrakter Begriffe und Sachverhalte, etwa aus der Ethik oder Kritik, durch Anspielungen, Gleichnisse, Metaphern oder Allegorien beschrieben. Die Einbildungskraft hat, indem sie solche Begriffe, die „nicht unmittelbar von den sichtbaren Theilen der Natur handeln“, durch die Verwendung anschaulicher Begriffe sinnlich vorstellbar macht, erheblichen Anteil an der Verständlichkeit einer Beschreibung und an dem das Weiterlesen motivierenden Vergnügen. Dank der Einbildungskraft wird der Leser „vermögend“, ein „Gebäude von Gedanken“ gleichsam „zu erblicken“: Bey solchen Anspielungen [Allusions] fällt eine Wahrheit, die der Verstand vernimmt, gleichsam auf die Einbildungskraft zurück, wir sind vermögend, in einem Begriffe, etwas den Farben und der Gestalt ähnliches zu sehen, und ein Gebäude von Gedanken zu erblicken, welches auf die Materie gezeichnet ist. Und hierbey empfindet das Gemüth ein sehr großes Vergnügen [a great deal of Satisfaction], indem zwey Theile seines Vermögens zu gleicher Zeit gesättiget werden, wobey der Witz [Fancy] sich bemüht, dem Verstande nachzumalen [is busie in copying after the Understanding], und aus der geistigen Welt, in die materialische Welt zu übertragen.37

Die Verwendung von Anspielungen, Gleichnissen und Metaphern erlaubt es, komplexe Gedanken auf einmal, in einer visuellen Vorstellung, zu erfassen. Addison geht von einer Verstehenserleichterung durch Ähnlichmachen, das heißt durch die Verwendung von Tropen und anschaulichen Anspielungen, aus, weshalb diese auch aus einem bekannten Bereich gewählt werden sollten. Die Analogie muss, ganz im Sinne der aristotelischen Metapherntheorie, treffend und leicht zu erkennen sein. Nur so entsteht jener doppelte Lusteffekt der Verstandes- und der Vorstellungsaktivierung. Entsprechend greift Addison für die Beschreibung des sprachgenerierten Transformationseffekts auf das 37 Ebd., S. 120f.

186

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

seit Ps-Longin tradierte Bildarsenal der Erhabenheit der Gedanken zurück: „Eine edle Metaphor wirft, wenn sie vortheilhaft angebracht wird, einen hellen Schein um sich, und durchblitzet einen ganzen Denkspruch [Sentence].“38 Metaphorik und Bildlichkeit werden hier in aristotelischer Tradition als erhellende, nicht verdunkelnde Stilmittel aufgefasst. 4.1.3  Imaginationssteigerung durch Bildkombination Wenn nicht ein gegebener Gegenstand angeschaut, sondern ein abwesender Gegenstand durch die Tätigkeit der Einbildungskraft vor Augen gestellt wird, tritt, sofern diese Vorstellung nicht aus der Erinnerung, sondern durch eine Repräsentation evoziert wird, als weitere Komponente des Vergnügens der tätigen Einbildungskraft die Entdeckung von Ähnlichkeit hinzu. Sie ist, wie Addison in Essay Nr. 416 schreibt, ein wichtiger Motivationsfaktor, nicht nur im Zusammenhang von Kunst, die als Mimesis konzipiert wird. Verschiedenste Formen der Nachahmung und Imitation wie Malerei, Plastik, literarische Beschreibung, selbst Musik, aber auch alltägliche Ähnlichkeitseffekte etwa bei zweideutigen Reden, Sprachspielen oder beim Hören eines Echos sind lustvoll, weil sie eine „Handlung des Gemüthes [Action of Mind]“39 im Vergleich von Nachahmung und Nachgeahmten hervorbringen. Diese Gemütshandlung wird als imaginative Ergänzung und Modifizierung etwa einer Plastik, Beschreibung oder Situation in Rücksicht auf eine zuzuweisende Ähnlichkeit mit einmal gehabten Vorstellungen verstanden; generell gesteht Addison der Einbildungskraft nicht nur einen reproduzierenden, sondern auch innovativen Umgang mit Vorstellungen zu: Es ist genug, daß wir nur Plätze, Personen, oder Thaten überhaupt gesehen haben, die eine Aehnlichkeit, oder zum mindesten etwas nur einigermaßen gleiches mit demjenigen haben, was wir vorgestellt finden. Denn die Einbildungskraft hat, so bald sie einmal gerührt wird, die Kraft, die besondern Ideen zu erweitern, zu verbinden, und nach eigenem Belieben zu verändern.40

Hierbei nimmt Addison eine einschneidende Umdeutung von (künstlerischer) Nachahmung vor: Diese wird nicht mehr, wie vor allem in platonisch orientierten Traditionszusammenhängen, als mehr oder weniger defizitär gegenüber von Wirklichkeit angesehen, sondern umgekehrt als dieser überlegen aufgefasst. Zum Maßstab wird dabei die ästhetische Wirkung. Das zum Vergnügen an der Wahrnehmungsvorstellung eines Objektes hinzutretende Vergnügen an der Entdeckung von Ähnlichkeit macht Nachahmung gegen38 Ebd., S. 121. 39 Ebd., S. 100. 40 Ebd., S. 98.

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

187

über der unmittelbaren Wahrnehmung von Realität attraktiver. Dies erweist sich erwartungsgemäß vor allem an bildnerischen Medien bzw. Kunstformen, weshalb der Lusteffekt aus Ähnlichkeit bei Plastiken und Malerei groß, bei Dichtung und Musik gering ist: „Denn ein Gemäld hat doch eine wirkliche Aehnlichkeit mit dem Originale: Buchstaben und Sylben aber haben gar nicht die geringste Gleichheit damit.“41 Die aus dem Ähnlichkeitseffekt resultierende höhere Attraktivität der Nachahmung wird von Addison aus einer gezielten Selektion und Kombination von relevanten Aspekten (ideas) abgeleitet. Addison wählt nun für den Vergleich zwischen unmittelbarer Wahrnehmung und Nachahmung nicht die hinsichtlich des Ähnlichkeitseffektes maßgeblichen Bildkünste, sondern Literatur. Worte haben, wenn sie wohl erwählt werden, eine solche Kraft, daß uns eine Beschreibung oftmals vielmehr ergetzet, als der Anblick der Dinge selbst. Der Leser findet in seiner Einbildungskraft, durch die Beyhülfe der Worte, einen mit viel stärkern Farben entworfenen und mehr nach dem Leben geschilderten Entwurf, als wenn er die beschriebene Sache selbst mit Augen sieht. In diesem Falle scheint der Dichter die Natur zu übertreffen […].42

Die sprachliche Nachahmung übertrifft, obgleich aufgrund ihrer Arbitrarität mit einem geringen Ähnlichkeitspotential ausgestattet, in ihrer Wirkungsstärke die direkte Anschauung. Als Begründung gibt Addison an, dass durch die gezielte Selektion der für die Darstellung relevanten Aspekte alles Zufällige und Unwesentliche des nachgeahmten Gegenstandes ausgelassen und die Nachahmung dadurch hinsichtlich der Konzeption des Autors optimiert wird. Das Nachgeahmte wirkt gegenüber der Nachahmung „schwach und welk“: Die Ursache hiervon ist allem Ansehen nach, diese, daß wir bey dem Anblicke eines Dinges selbst, nicht mehr Zeichnung in die Einbildungskraft bekommen, als das Auge in sich fasset; bey der Beschreibung aber, stellet uns der Dichter nach eigenem Belieben einen freyen Anblick dar, und entdecket uns verschiedene Theile, die wir uns entweder gar nicht vermuthet, oder die wir bey dem ersten Anblicke nicht gewahr werden können.43

Im Unterschied zur Malerei ist die literarische Darstellung nicht an das Fassungsvermögen des Auges gebunden. Sie ist aspektreicher und damit dichter und fülliger, anders gesagt: Der Autor gewährt der Einbildungskraft eine größere Lust, indem er ohne Rücksicht auf den Anschauungszusammenhang Wesentliches auswählen und somit prägnanter präsentiert kann. Ohne der Gefahr einer Überdehnung der Aufnahmekapazität der Sinne ausgesetzt zu sein, gewährt er mit dem ‚Entdecken‘ dessen, was der Leser „gar nicht vermutet“ hat oder was er 41 Ebd., S. 99. 42 Ebd., S. 101. 43 Ebd.

188

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

zunächst nicht „gewahr“ werden konnte, eine zusätzliche Aktivität und damit Lust. Obgleich Addison von einer Übertragbarkeit dieses Wirkungskonzeptes auf andere Kunstformen ausgeht, dürfte er kaum zufällig Literatur als Demonstrationsbeispiel gewählt haben, da die Bildkünste Malerei und Plastik auch bei idealisierter Nachahmung aufgrund ihrer ikonischen Zeichen stärker an die nachgeahmte Realität gebunden sind. Während also für Addison die Bildkünste hinsichtlich des Vergnügens an der Entdeckung von Ähnlichkeit der Literatur überlegen sind, kommt der Literatur aufgrund ihrer größeren Freiheit in der Kombination und Verdichtung von Merkmalen und Facetten eines Objektes ein besonders hohes Imaginations- und damit Attraktionspotential zu. Eine Radikalisierung der von Addison in Rücksicht auf die Ansprüche der Einbildungskraft aufgezeigten Überlegenheit der sprachlichen Nachahmung gegenüber der direkten Anschauung findet sich im zweien Teil von Edmund Burkes Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen von 1757. Burke, der im Unterschied zu Addison von einer physiologischen Erklärungsbasis perzeptiv-ästhetischer Phänomene ausgeht, vergleicht im dritten und vierten Abschnitt die Wirkung von Literatur mit der Wirkung von Malerei. Addison war in seiner Essay-Folge von einer Intensivierung des Nachgeahmten durch die unähnliche Literatur ausgegangen, da sie in der Einbildungskraft des Lesers mehr entdecken ließ als er würde sehen können; gleichwohl verstand Addison die literarische Darstellung als Form der ‚Abschilderung‘ von Realität. Burke fasst die bei Addison zurückhaltend formulierte grundsätzliche Differenz zwischen einem Ähnlichkeitsund einem Wirkungsmaßstab schärfer. So heißt es bei ihm in Hinblick auf das Verhältnis von Klarheit (objektbezogen) und Intensität (rezeptionsbezogen): „Es sind verschiedene Dinge, ob man eine Idee klar oder ob man sie für die Einbildungskraft wirkungsvoll [affecting] machen will.“44 Hinsichtlich der Klarheit ist die Malerei der Dichtung überlegen, da sie ein genaueres Abbild des Gegenstandes liefern kann. Dies ist allerdings in wirkungsästhetischer Hinsicht ein Nachteil, da für Burke die bildliche Darstellung eines Gegenstandes den Betrachter – abgesehen von Effekten der künstlerischen Darstellungsweise selbst – höchstens ebenso stark affizieren kann wie es der dargestellte Gegenstand in der Realität vermocht hätte. Eine Beschreibung hingegen könne den Gegenstand zwar nicht annähernd so klar vor Augen stellen wie Malerei, doch ist es ihr möglich, eine stärkere emotionale Wirkung als der gemalte Gegenstand zu erzielen. Dies gilt für die Erregung von Schrecken wie von Begeisterung: 44 Burke, E.: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von F. Bassenge, neu eingeleitet u. hg. von W. Strube. Hamburg 21989, S. 94; das englische Original wird zitiert nach: Burke, E.: On the sublime and beautiful, hg. von Charles W. Eliot. New York 1909 (Hervorhebung im Original).

4.1  Gewalt der Imagination: Addison und Burke

189

Ich wüßte keine Gemälde – schlechte oder gute –, die dieselbe Wirkung hervorbrächten [wie Predigten, Balladen, Erzählungen, Gedichte], – so daß also die Poesie trotz all ihrer Dunkelheit [obscurity] ebensowohl eine allgemeinere wie auch machtvollere Herrschaft über unsere Leidenschaften hat als jene andere Kunst.45

Burkes Erklärungsversuch folgt seinem sensualistischen Erhabenheitsparadigma, welches das Gefühl der Erhabenheit als eine Als-Ob-Bedrohung von Leib und Leben konzipiert: Da Poesie vergleichsweise unanschaulich, das heißt dunkel ist, Dunkelheit aber mit Unbestimmtheit verbunden und diese, da sie keine genaue Situations- und damit Gefahrenabschätzung erlaubt, erfahrungsgemäß stark affiziert, wirke Poesie grundsätzlich emotional intensiver und erhabener. Diesen medialen und wirkungsästhetischen Zusammenhang bringt ein Kommentar Burkes zu einigen Versen aus John Miltons Epos Paradies Lost auf den Punkt. Miltons Verse beschreiben den Tod auf innovative Weise: „In dieser Beschreibung ist alles im höchsten Grade dunkel, ungewiß, verworren, schrecklich und erhaben zugleich.“46 Burke unterzieht einen anderen Ausschnitt aus Miltons Versepos, der das Aussehen des Satans bildreich beschreibt, einer genaueren Analyse. In dieser Beschreibung wird das bei Addison als Imagination stimulierende Aspekteverdichtung aufgezeigte Verfahren zu einer Kombination heterogener Bildbereiche (anschaulicher Isotopien) radikalisiert: Diese macht die Beschreibung des Satans unbestimmt und dunkel und für die Einbildungskraft attraktiv: […] der alle An Wuchs und Haltung, einem Turme gleich Stolz überragte, denn noch hatte seine Gestalt nicht all den frühern Glanz verloren. Er sah wie ein gestürzter hoher Engel, Des Glanzes Übermaß nur war verdunkelt; Wie wenn die eben aufgegangne Sonne Durch nebelhafte Luft des Horizonts Beraubt der hellen Strahlen schimmert oder In düsterer Verdunklung hinterm Mond Ein Zwielicht wirft auf unsrer Erde Hälfte, Mit Furcht vor Wechsel Könige bedrohend.47

Zwar spricht Burke von einem poetischen Gemälde („poetical picture“) des Satans, doch lassen sich die angeführten Metaphern und Vergleiche (hoher Turm, gestürzter Erzengel, Sonnenaufgang hinter Nebel, Zwielicht bewir45 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 96. 46 Ebd., S. 94; „dark, uncertain, confused, terrible, and sublime to the last degree“. 47 Aus dem ersten Gesang von John Miltons „Paradies Lost“ in der Übersetzung von A. Böttger, zitiert nach Burke: Philosophische Untersuchung, S. 96f.

190

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

kende Sonnenfinsternis, Sturz von Königen) zu keiner anschaulichen Einheit verbinden. Diese Unbestimmtheit in der Bildlichkeit macht, so Burke, diese Beschreibung zu einer der erhabensten Darstellungen überhaupt; – mächtiger als bei Ps-Longin und zugleich profaner wird so die bloße Imagination, ungeachtet höherer Ideen, zu einem Erhabenheitskriterium gemacht. Nach Addisons Theorie müsste die Einbildungskraft im Versuch, die verschiedenen semantischen Aspekte zu einer kohärenten Vorstellung zu vereinbaren, einen erheblichen Dehnungsprozess durchlaufen. Ein solches Darstellungsverfahren, das die Dinge „kraft einer ahnungsvollen Dunkelheit in ihr hellstes Licht stell[t]“48, ist Bestandteil einer Poetik der Faszination: Das „hellste[] Licht“ steht für den kognitiv-emotionalen Aktivierungs- und Intensivierungsschub, der mit den Versuchen verbunden ist, das dunkle und verworrene Arrangement sprachlicher Bilder durch semantischen Kohärenz­ abgleich zu verstehen. Bei Miltons Beschreibung des Satans werde, so Burke, das Gemüt „gleichsam außer sich gebracht durch eine Menge großer und verwirrender Bilder – die gerade deshalb Eindruck machen, weil sie gehäuft und verworren sind.“49 Die Kraft der Dichtung liegt in der inkohärenten Kombination von semantischen Einheiten bzw. literarischen Bildern, Montage erhöht das Wirkungsund Faszinationspotential: „Man trenne sie [die sprachlichen Bilder] voneinander, und sie verlieren viel von ihrer Größe; man vereinige sie wieder, und sie verlieren unfehlbar ihre Klarheit.“ Grundsätzlich hält Burke eine durch Bildmontage erzielte Dunkelheit, da erhabenheitsaffin, für affektiv wirksamer als Klarheit; jede „klare Idee“ sei nur eine „kleine Idee“50. Ungeachtet seines sensualistischen Erklärungsansatzes führt Burke als eigentlichen Grund, „weshalb die dunkle Idee, wenn sie uns in geeigneter Weise beigebracht wird, wirkungsvoller sein muß als die klare“51, die „größere Gewalt auf die Phantasie“52 an. Anders als Addison leitet Burke daraus keinen Attraktionswert, sondern Affekterregung ab. Die Möglichkeit, durch die Kombination verschiedener sprachlicher Bilder zu verwirren und imaginativ wie emotional zu involvieren, mache die Überlegenheit der Dichtung aus. Malerei hingegen könne sich dem wirkungsästhetischen Faszinationseffekt von (semantischer) Dunkelheit allen­falls durch Nachahmung von an sich dunklen Gegenständen annähern, ihn aber selbst formal nicht evozieren.

48 Burke: Philosophische Untersuchung, S. 93; „in their strongest light, by the force of a judicious obscurity“. 49 Ebd., S. 97. 50 Ebd., S. 98. 51 Ebd., S. 96. 52 Ebd., S. 97.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

191

4.2  Starren auf Mannigfaltigkeit: Erhabene Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

4.2.1  Erhabenheit und Mannigfaltigkeit bei Mendelssohn Anders als in Burkes Philosophischer Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen und anders auch als in Addisons Essays über die Einbildungskraft steht bei Mendelssohn die Frage des Großen bzw. Erhabenen nicht hinsichtlich der Wahrnehmung von Natur, sondern hinsichtlich seiner sprachlichen Generierung im Vordergrund. Sowohl das genus sublime der Rhetorik als auch das Erhabene der Natur, das Mendelssohn als eine bloße Extension zwar als groß, nicht aber als erhaben versteht, bleiben weitgehend ausgeklammert. Eng an das Konzept der Erhabenheit der Gedanken anschließend, interessieren ihn vor allem solche literarische Verfahren, die dazu geeignet sind, eine intensive und anhaltende Imaginations- und Gedankentätigkeit zu provozieren und so Bewunderung als Sog-Gefühl unerwarteten umfassenden In-Einstimmung-Bringens (Vollkommenheit) zu evozieren. Mendelssohn bringt dafür eine Neukonzeption des Begriffs des Naiven ins Spiel. Neben dem traditionellen Erhabenheitstopos der Seelen­erhebung gewinnt in seinen Beschreibungen des Erlebens von Erhabenheit der Faszination indizierende Aspekt einer anhaltenden Bindung von Aufmerksamkeit an Bedeutung. Das emotionale Profil des Erhabenheitserlebens geht über Bewunderung hinaus und wird mit weiteren Begriffen des admiratio-stupor-Spektrums wie ‚Überraschen‘, ‚Verwunderung‘, ‚Erstaunen‘, ‚Staunen‘ oder ‚An­­stau­nen‘ ausgewiesen. Mendelssohn hat seinen 1758 entstandenen Aufsatz „Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften“ nach der Beschäftigung mit Edmund Burkes Erhabenheitstheorie umgearbeitet und 1771 publiziert. Wenn nicht anders vermerkt liegt der folgenden Vorstellung von Faszinations­ aspekten bei Mendelssohn diese zweite Fassung des Aufsatzes über erhabene und naive Zeichen zugrunde. Mendelssohn versteht Erhabenheit als ein Spürbarwerden einer ungeahnten geistigen Kapazität, die Bewunderung auslöst. Bewunderung ist Ausdruck von Vollkommenheit, die, wie zu zeigen sein wird, als prozessuales Erkennen immanenter Kohärenz des Mannigfaltigen, also als dominant kog­ nitive Aktivität, verstanden wird. Das Neue, das den Faszinationseffekt des Eine-Weile-Stehenbleibens bei einer einzigen Vorstellung bewirkt, entspringt der Seele; sprachlich wird es lediglich stimuliert. Die Seele wird sich im Er­ leben von Erhabenheit auf unvermutete Weise ihrer selbst bewusst:

192

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Das Unermeßlichgroße in derselben [der Seele], das aus Mangel der Vermutung, auch neu scheinen muß, befestiget die Achtsamkeit des Geistes, und schwächet alle ungleichartigen Nebenbegriffe dergestalt, daß die Seele keinen Übergang zu andern Gegenständen findet; sondern diesen eine Weile anstaunet [...]. Wenn dieses Unvermögen, den Gegenstand zu verlassen, eine Zeit lang anhält, so wird ein solcher Zustand des Gemüts das Erstaunen genannt.53

Die Bindung („befestigt“) der Aufmerksamkeit an das Neue geht mit einer Selektion der Vorstellungen einher: Assoziationen „ungleichartiger Nebenbegriffe“ werden abgeblendet. Die unwillkürliche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine einzige Vorstellung wird als Passivierung der Willenskraft beschrieben: Mendelssohn spricht von einem „Unvermögen, den Gegenstand zu verlassen“, das „eine Zeit lang anhält“. Er nennt diesen Zustand ‚Erstaunen‘, meint aber Faszination. Mendelssohn weist dem Erhabenen die Erscheinungsqualität des Plötzlichen zu und vergleicht diese topisch mit einem Blitz. Für den weiteren zeitlichen Verlauf dieser geistig-imaginativen Intensitätserfahrung entwirft er zwei emotionale Modellierungen: Zum einen den Übergang in den eben erwähnten, eine „Zeit lang“ vorhaltenden Gemütszustand des Erstaunens oder Anstaunens, der als Dominantwerden des Faszinationsaspekts von Erhabenheit aufgefasst werden kann. Er vergleicht diese Fokussierung einer einzigen Vorstellung mit der Sonne, „die einsam leuchtet, und durch ihren Glanz alle schwächeren Lichter verdunkelt“54. Eine zweite mögliche zeitliche Modellierung jener Plötzlichkeit besteht in einem Übergang in die „vertraulicheren“ Gefühlsqualitäten der Liebe oder des Mitleids. Wenn die augenblickhafte Bewunderung „durch das Feuer einer sanftern Empfindung genährt wird“55, wenn „wir den Gegenstand lieben, den wir bewundern“, oder aber wenn er durch ein unverdientes Elend unser Mitleiden verdienet; so wechselt die Bewunderung mit der vertraulicheren Empfindung in unserm Gemüte ab; wir wünschen, hoffen und fürchten für den Gegenstand unsrer Liebe oder unsres Mitleidens, und bewundern seine große Seele, die über Hoffnung und Furcht hinweg ist.56

Entscheidend für Mendelssohns Verständnis von Erhabenheit als ein plötzliches Gewahrwerden von Vollkommenheit ist deren formale Konzeption einerseits und ihr Zusammenwirken mit den beiden anderen Komponenten ästhetischen Vergnügens, Schönheit und sinnlich-physiologisches Lustgefühl, andererseits. In den Briefen Über die Empfindungen (1755) wird insbesondere die Differenz zwischen dem formalen Begriff der Vollkommenheit und der 53 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 461 (Hervorhebung im Original); zitiert wird die Fassung von 1771, wesentliche Abweichungen gegenüber der ersten Fassung werden angegeben. 54 Ebd., S. 462. 55 Ebd. 56 Ebd.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

193

Schönheit diskutiert. Schönheit wird als eine durch die Sinne spontan er­fasste „Ordnung“57 definiert, die auch als „Einerlei im Mannigfaltigen“ bezeichnet wird. Schön ist, was „ohne Mühe“ wahrgenommen wird; für komplexe oder „allzuverwickelte[] Ordnung“ gilt dies nicht; sie ist nicht schön. Vollkommenheit hingegen beruht auf einem rationalen Prozess der immanenten Kohärenzbildung dessen, was, sinnlich wahrgenommen, diskrepant erscheint. Im Unterschied zum Schönen erweist sich das Vollkommene als eine in „Übereinstimmung“ und „Einhelligkeit“58 gebrachte heterogene Mannigfaltigkeit. Sie gewährt der Seele „keine Leichtigkeit in der Beschäftigung“. Sie geht von keiner sinnlich umgrenzten Einheit aus, sondern von einer unendlichen Mannigfaltigkeit, deren immanente „allgemeine Verknüpfung der Dinge“59 nicht spontan erfasst, sondern sukzessive erkannt oder entdeckt wird, was als rational-imaginativer Prozess der Klärung lustvoll (attraktiv) wirkt. Da „[z]errüttete Begriffe, Mißhelligkeiten, Widersprüche“60 sowohl gegen die Natur als auch gegen das „ursprüngliche Bedürfnis aller denkenden Wesen“ streiten, geht vom prozessualen „Übereinstimmen des Mannigfaltigen“ der „mächtige Reiz“ aus, „mit welchem die Vollkommenheit alle Geister an sich ziehet“. Dieser Reiz generiert, im Zusammenspiel mit Schönheit und physiologischem Lustempfinden, ästhetische Faszination. Dies ist der Grund, weshalb die unter dem Kohärenzdruck der Vernunft stehende geschäftige Seele im Erleben von Erhabenheit dem „intensiv Große[n]“61 mit „so vieler Begierde nachhänget“. Im ästhetischen Erleben überlagern sich alle drei Formen ästhetischen Vergnügens; im Falle von Musik etwa: die harmonische Spannung der Nerven ist sinnlich-physiologisch angenehm, die „leichten Verhältnisse in den Schwingungen“ werden perzeptiv als schön, die „künstliche Verbindung zwischen den widersinnigsten Übellauten“ wird als Vollkommenheit empfunden.62 Die Notwendigkeit, selbst die größte Komplexität als immanent kohärent vorstellen zu können, wird von Mendelssohn als positive Kraft (Sogwirkung) verstanden, die uns dazu veranlasst, nach Vorstellungen „zu streben“, die „ineinander gegründet“ sind. Damit wird eine dem Schönen unbekannte Prozessualität in der Beschäftigung mit dem Vollkommenen in Anschlag gebracht, da Kohärenz nicht sinnlich offenbar ist, sondern nur „hervorleuchtet“63. Den „mächtigen Reiz“, den das Gebot der Einhelligkeit auf „alle Geister“ ausübt, macht die Anziehungskraft im Erleben von Erhabenheit aus, das nichts anderes als plötzlich entdeckte Kohärenz des Mannigfaltigen ist. Das, was Mendelssohn als Erha57 58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 34. Ebd., S. 60. Ebd., S. 457. Ebd., S. 85. Ebd., S. 67.

194

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

benheitserleben im Modus der Faszination beschreibt, beruht also auf einem Zugleich von angenehm leichter physiologisch-perzeptiver Prozessierung etwa eines Gedichtes und auf einem Hindernis im Verstehen, einer Komplexität oder Inkohärenz von Vorstellungen, die Gedanken und Imagination dazu reizen, einer verborgenen Stimmigkeit gewahr zu werden. Das Prinzip Schönheit garantiert spontane Lust in der Wahrnehmung, das Prinzip Vollkommenheit gewährt dem ästhetischen Erleben Dauer, Intensität und Bedeutsamkeit. Das Zusammenwirken beider konstituiert ästhetische Faszination, die freilich einen stark rationalen Charakter besitzt. Unmittelbar nach Fertigstellung des Erhabenheits-Aufsatzes von 1758 wird Mendelssohn durch die Lektüre von Burkes Untersuchungen zum Erhabenen und Schönen mit einem Erhabenheits-Konzept konfrontiert, das nicht von Vollkommenheit als rationale Stimmigkeitserfahrung, sondern von körperlichen Parametern, nämlich „Gefahr und Schmerz“64, ausgeht. So plausibel Mendelssohn etliche der Beobachtungen Burkes erscheinen, kann ihn die sensualistisch-physiologische Erklärung nicht überzeugen. In Mendelssohns Anmerkungen zu Burkes Schrift lässt sich in Ansätzen nachvollziehen, wie er Burkes Erhabenheits-Begriff des (erschreckenden) Unermesslich-Großen mit seinem Vollkommenheits-Begriff zu vereinbaren sucht. Dies zeigt sich etwa in der Ergänzung, die Mendelssohn hinsichtlich des Blicks in eine „ungeheure Tiefe“ vornimmt. Neben dem von Burke genannten Schwindelgefühl, das aus der Furcht, in die Tiefe „hineinzustürzen“, resultiert, leitet Mendelssohn die „Schönheit dieser Vorstellung“ aus der Mannigfaltigkeit der Gegenstände ab, die als einhellig, nämlich auf einen Blick und damit als „ästhetische[] Vollkommenheit“65 angeschaut werden. Das die Aufmerksamkeit „fessel[nde]“ Große wird im Unterschied zu Burke nicht physiologisch (Beschäftigung der Sehnerven), sondern psychologisch, nämlich als lustvolle Beschäftigung der Seele bis zur Grenze ihrer Kapazität, aber ohne Gefahr einer Sättigung, interpretiert: „Große Gegenstände enthalten eine große Mannigfaltigkeit, und beschäftigen die Vorstellungskraft der Seele fast bis zur Ermüdung.“66 Die Plötzlichkeit des Erhabenen, in der Mendelssohn eine Gemeinsamkeit mit Burke sieht, führt für ihn nicht nur „physice“ zu einem (Faszination markierenden) „Starren“ und „Angaffen“, sondern „[p]neumatice“ dazu, dass die „Auf­merksamkeit rege gemacht“67 wird. In der Folge der Burke-Rezeption Mendelssohns erhält das Unermesslich-Große in der überarbeiteten Fassung von 1771 durch vorgeschaltete Abschnitte eine größere Berücksichtigung, was sich in einer deutlicheren Profilierung des Faszinationsaspektes des Erhabenheitserlebens niederschlägt: 64 65 66 67

Ebd., Bd. 3,1, S. 238. Ebd., S. 242f. Ebd., Bd. 1, S. 248. Ebd., S. 251.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

195

Die Empfindung, welche durch das Erhabene hervorgebracht wird, ist zusammengesetzt. Die Größe fesselt unsere Aufmerksamkeit; und da es die Größe einer Vollkommenheit ist, so hält sich die Seele mit Wohlgefallen an diesem Gegenstande fest, und alle Nebenbegriffe in derselben werden verdunkelt; die Unermeßlichkeit erregt einen süßen Schauer, der uns ganz durchströmt, und die Mannigfaltigkeit verhütet alle Sättigung, und beflügelt die Einbildungskraft, immer weiter und weiter zu dringen. Alle diese Empfindungen vermischen sich in der Seele, fließen in einander, und werden zu einer einzigen Erscheinung, die wir Bewunderung nennen.68

Erhabenheit wird hier als emotional gemischter, aber dominant lustvoller Prozess der Aufmerksamkeitsfokussierung und forcierten Imagination beschrieben. Da der Gegenstand im höchsten Maße mannigfaltig ist, diese Mannigfaltigkeit jedoch nicht nur unermesslich ist, sondern sich in der koordinierenden und strukturierenden Tätigkeit der Einbildungskraft sukzessive zu einer immer komplexeren Kohärenz fügt, kommt es zu keiner Sättigung. Der Prozess verläuft intrinsisch motiviert („beflügelt“). In der Metaphorik wechselt die Faszinations-Beschreibung zwischen Arretierung und dynamischer Progression: Die anschauende Erkenntnis ist lustvoll an den intensiv starken, das heißt ebenso großen wie mannigfaltigen Gegenstand gebunden, während das aus der Anstrengung resultierende gemischte Gefühl, die „Unermeßlichkeit“ in eine Einhelligkeit zu bringen, mit einem „süßen Schauer“ den Körper durchströmt und die Einbildungskraft motiviert, „immer weiter und weiter zu dringen“. Im Anschluss an Ps-Longins Privilegierung der schmucklosen Sprache zum Ausdruck der Erhabenheit im Gedanklichen versteht Mendelssohn im naiven und ungekünstelten Stil das angemessenste Verfahren, Erhabenheit darzustellen, genauer: zu induzieren. Mit einer originellen Begriffsprägung spricht er dabei von ‚naiven Zeichen‘, die auf die Tradition des conceptus praegnans verwiesen werden.69 In der Fähigkeit des naiven Zeichens, beim Rezipienten eine inhomogene Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zu stimulieren, sieht er die „genaue[] Verbindung“70 mit dem Erhabenen: „Wenn durch ein einfältiges Zeichen eine bezeichnete Sache verstanden [Fassung 1758: angedeutet] wird, die selbst wichtig ist, oder von wichtigen Folgen sein kann […] so heißt […] die Bezeichnung naiv.“71 Ein solches inaptisches Zeichen72 wird durch eine verlängerte Wirkungsdauer charakterisiert: Zwar auf einen Blick hin erfasst (primäre Rezeptionszeit), erlaubt es durch die erst in Übereinstimmung zu bringende Fülle der assoziierten Gedanken und Vorstellungen eine längere Be68 Ebd., S. 458 (Hervorhebungen im Original). 69 Henn, C.: Simplizität, Naivität, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und Deutschland. Berlin 1973, S. 232. 70 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 484. 71 Ebd., S. 491 (Hervorhebung im Original). 72 Henn: Simplizität, S. 233.

196

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

schäftigung (sekundäre Rezeptionszeit). Dabei wird vorausgesetzt, dass diese kohärenzgenerierende Beschäftigung prospektiv verläuft (immanenter Lusteffekt) und durch eine sinnlich-perzeptiv dem Vermögen adäquate Verarbeitbarkeit der Zeichen motivational balanciert ist. Dieser Effekt des naiven Zeichens kann als Faszinationsaspekt aufgefasst werden. Seinetwegen hält Mendelssohn das naive Zeichen für geeignet, das Unermessliche negativ, durch eine Kontur, eine Andeutung und damit durch ein tendenziell unermessliches Imaginationspotential für die Seele darzustellen: „Kein Bild des Erhabenen wird ausgezeichnet; einige Züge werden hyperbolisch vergrößert, und die übrigen unbestimmt gelassen, damit die Einbildungskraft sich in ihre Größe verliere“73. Der imaginationsstimulierende Effekt des naiven Zeichens beruht auf einer Inkohärenz, die faszinierend wirkt: Die Wirkungen des Naiven sind zuförderst ein angenehmes Staunen, ein geringer Grad der Verwunderung, über die unvermutete Wichtigkeit, die unter der Einfalt im Äußerlichen verborgen lag. Wir heften gern unsere Aufmerksamkeit an einen Gegenstand, der uns immer mehr und mehr entdecken läßt, je länger wir uns bei demselben verweilen, der uns gleichsam mehr hält, als er zu versprechen schien. Ist nun dieses innerliche Wichtige ein hoher Grad der Vollkommenheit; so folget das schauernde Gefühl des Erhabenen, das aber mit einer fröhlichen Empfindung verbunden ist, die dem Lachen sehr nahe kommt. Denn die Einfalt des Zeichens macht mit der Wichtigkeit der bezeichneten Sache, oder der Folgen, die daraus fließen, eine Art von Kontrast […].74

Im Unterschied zum Schönen liegt der „mächtige Reiz“ des faszinierenden naiven Zeichens in einer „unvermutete[n] Wichtigkeit“, die „verborgen“ liegt. Das naive Zeichen, in der Konzeption Mendelssohns, funktioniert als Geheimnis: Es stimuliert Imagination. Zwar ist die Aufmerksamkeit auf das Objekt fokussiert, das Entdecken des Verborgenen wird jedoch als Imaginationsproduktion im Rezipienten vorgestellt. Anders als die auf Einstimmung ausgerichtete Widerhall-Metaphorik in Peri Hypsous ist das, was sich im naiven Zeichen verbirgt, letztlich Produkt des ästhetisch empfindenden Subjekts. Markant an dieser Beschreibung von angenehmem, anhaltendem und fixiertem Staunen, das heißt Faszination, ist die grammatische Objektstellung des Rezipienten: Das naive Zeichen steht in der Metaphorik des Gewährens; es wirkt auf die Aufmerksamkeit wie etwas, das „uns immer mehr und mehr entdecken läßt“ und das „uns gleichsam mehr hält“, als es „zu versprechen schien“. Damit ist die motivationale Struktur ästhetischer Faszination benannt. Das Mehr-und-Mehr-Entdecken-Lassen ist trotz der Anstrengung in der Bearbeitung unermesslicher Mannigfaltigkeit, hinter der letztlich das kreative Potential der Imagination steht, ein insgesamt lustvoller Prozess. Deshalb heften wir 73 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 459. 74 Ebd., S. 492.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

197

unsere Aufmerksamkeit „gern“ auf ein solches Zeichen. Das naive Zeichen gewährt der Einbildungskraft in der Vergrößerung einiger weniger Züge gleich einer semantischen Kontur ein grenzenloses Betätigungsfeld. Dies wird von Autoren gezielt genutzt, um die Wirkung ihrer Werke intensiver und nachhaltiger zu machen. Mendelssohn führt Verfahren der metrisch-rhythmischen Abweichungen in der Dichtung an, deren Funktion es ist, den Leser zu faszinieren, insofern sie ihm „vieles zu denken überlassen“: Es ist ein großer Kunstgriff der Dichter, daß sie bei solchen erhabenen Stellen, wo dem Leser vieles zu denken überlassen wird, durch unvollendete Verse, unterbrochene Schlußfälle, oder durch einsilbige Versendungen, die Aufmerksamkeit rege machen. Solche ungeschlossene Kadenzen bringen den Leser nicht völlig zur Ruhe. Er sehnet sich nach dem Schlusse, und findet in dem gegenwärtigen Gedanken Stoff genug, ihn selbst hinzu zu denken.75

Als Beispiel für einen unterbrochenen Schlussfall (Kadenz)76, der als probates Mittel der Erwartungsenttäuschung und Stimulierung von Verwunderung gilt, führt Mendelssohn den letzten Vers des zehnten Gesangs aus Klopstocks Messias an: „Und er neigte sein Haupt, und starb.“ Im prosodischen Zusammenhang lautet der Vers, der den Moment des Todes Christi als des Mittlers zwischen Gott und den Menschen darstellt, so: Mein Gott! mein Gott! warum hast du mich verlassen? Und die Himmel bedeckten ihr Angesicht vor dem Geheimniß! Schnell ergriff ihn, allein zum letztenmale, der Menschheit Ganzes Gefühl. Er rufte mit lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft’s, trank, dürstete! bebte! ward bleicher, blutete! rufte: Vater, in deine Hände befehl’ ich meine Seele! Dann: (Gott Mittler! erbarme dich unser!) Es ist vollendet! Und er neigte sein Haupt, und starb.77

Der letzte Vers lässt durch den abgebrochenen Hexameter und die Lakonie der Aussage den „Leser nicht völlig zur Ruhe“ kommen; dieses Stilmittel löst, dem markierten Schweigen vergleichbar, einen Zustrom an Gedanken aus. Men75 Ebd., S. 465f. 76 Zur Wirkung einer unterbrochenen Kadenz in der Musik vgl. Sulzer: Allgemeine Theorie, Bd. 1, S. 185f.: „Die unterbrochene Cadenz entstehet dadurch, daß die Erwartung eines Schlusses erwekt, das Gehör aber durch einen unerwarteten Accord getäuscht wird […]. Ihre Würkung ist eine Ueberraschung, bey welcher man eine Zeitlang stille steht, dabey aber das Gefühl, daß ein fernerer Aufschluß erfolgen soll, behält. Man kann dadurch das Gefühl einer Verwunderung, eine Frage oder die Erwartung einer Antwort ausdruken.“ 77 Klopstock, F. G.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. Werke, Bd. 4,1. Der Messias, Text, hg. von E. Höpker-Herberg. Berlin, New York 1974, S. 227.

198

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

delssohn führt weitere Involvierungs- und Aktivierungseffekte an, etwa die Verwendung von Antithesen. Den durch Antithesen oder andere Stilmittel provozierten Ähnlichkeitszuweisungen müssen, um erhaben zu wirken, allerdings „fruchtbare Wahrheiten“78 oder eine „würdige Empfindung“ zugrunde liegen. Mendelssohn grenzt damit, wie schon Ps-Longin, das Erhabene der Gedanken vom Angenehmen bloßer Wortspiele ab: „Die zugespitzten Gegen­ sätze, die epigrammatischen Einfälle, der geschraubte und gekünstelte Witz können uns eine Zeitlang belustigen und anmutig unterhalten; aber Bewunderung können sie niemals erregen.“79 Als Beispiel einer durch Antithesen evozierten „fruchtbaren Wahrheit“ führt Mendelssohn unter anderen die in Peri Hypsous nur bruchstückhaft überlieferte Antwort Alexanders des Großen auf den Vorschlag seines Feldherrn Parmenion an: „Die Antwort des Alexanders, als Parmenion zu ihm sagte, ‚ich würde des Darius Anerbiethen annehmen, wenn ich Alexander wäre‘; ‚und ich auch‘, versetzte dieser Prinz, ‚wenn ich Parmenio wäre.‘-“80 Eine Form erhaben-naiver Ausdrucksweise sei auch das – in Zusammenhang des Schweige-Essays von Addison besprochene – „bloße“, „beredte“81 oder „fürchterliche Stillschweigen“82 von Aias oder Dido. Produktionsästhetisch führt Mendelssohn das „beredte Stillschweigen“ auf das Zusammentreffen einer zu großen Anzahl widerstreitender Gefühle und Vorstellungen zurück, die dann im Rezipienten in ähnlicher Weise stimuliert werden. „Die Seele arbeitet unter der Menge von Vorstellungen, die sie im Augenblicke eines heftigen Affekts übereilen; sie drängen sich alle zum Ausbruche, und da der Mund sie nicht alle zugleich aussprechen kann; so stockt er [...].“83 Der psychologischen Erklärung der stockenden Rede als Ausdruck der Unsagbarkeit einer Empfindung, das heißt der Unmöglichkeit, widersprüchliche Vorstellungen zu koordinieren, entspricht das rezeptionsästhetische Verständnis dieses Schweigens, das die „allerglücklichste Wirkung“84 auf das „Gemüt eines aufmerksamen Zuschauers“ tun kann. 4.2.2  Eindeutige und mehrdeutige Andeutung: Der ‚Wink mit der Augenbraue‘ bei Mendelssohn, Addison und Lessing Unter den von Mendelssohn genannten, meist traditionellen Belegstellen für die stilistisch-ästhetische Stimulierung erhaben-faszinierender Wirkung be78 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 482. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 482f. 81 Ebd., S. 470. 82 Ebd., S. 472. 83 Ebd., S. 469. 84 Ebd., S. 471.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

199

findet sich auch der klassische Erhabenheits-Topos vom Wink Jupiters (bzw. Zeus‘ oder Kronions) mit der Augenbraue. Neben der Fiat-lux-Formel, die wegen ihrer biblischen Provenienz und ihrer radikalen Veranschaulichung der Transformation eines minimalen semiotischen Aufwandes („Fiat lux“) in einen maximalen energetischen Effekt (Schöpfung) im 17. und 18. Jahrhundert prominentester Erhabenheit-Topos ist, gewinnt auch der Jupiter-Topos an Verbreitung. Im Unterschied zur Genesis-Stelle rückt er die rezeptive Seite des erhabenen Zeichengebrauchs in den Vordergrund, was ihn leichter an konkrete Kommunikations- oder Darstellungsfragen anschließbar macht. Mendelssohn zitiert ihn, im Anschluss an seine Erläuterung der Fiat-lux-Formel, nach der Ode III,1 des Horaz: „Reges in ipsos imperium est jovis,/Cuncta supercilio moventis. [Über die Könige selbst hat die Macht Jupiter,/Er, der mit seiner Braue das All bewegt]“85. Dies sei, in der Art und Weise der sprachlichen Darstellung, ein „ungemein erhabener Gedanke“: Hätte Horaz die gleiche folgenreiche Zustimmung des Göttervaters weniger visuell anschaulich dargestellt, etwa statt von der sichtbaren Bewegung der Augenbraue von Jupiters Geist (mente) oder Willen (voluntate) gesprochen, wäre ein „Teil seiner Hoheit“ verloren, „indem die konkreten Begriffe in abgesonderte [d. h. abstrakte, A.D.] verwandelt worden“ wären. Die leichte Imagination der sprachlich dargestellten Gesichtsgeste mache deren Erhabenheit im Lesen erlebbar. So „erregen“ die verwendeten visuell vorstellbaren (häufig auch als ‚malend‘ bezeichneten) Begriffe „in unserer Einbildungskraft das erhabene Bild“: „wir sehen den Allmächtigen, wenn man so reden darf, von Angesicht zu Angesicht“86. In Nr. 417 des Spectators greift Joseph Addison innerhalb seiner Essays über die Einbildungskraft den Jupiter-Topos in der Form der Ilias auf, um die Vorbildlichkeit Homers für die literarische Darstellung des Großen zu erläutern. Die Stelle im ersten Gesang der Ilias (Verse 525 – 530) gilt in der Antike als prägnanteste Beschreibung des Wesens des Göttervaters. Im Handlungszusammenhang des Epos zeigt der den ganzen Olymp erschütternde Wink mit der Augenbraue an, dass Jupiter die Bitte der Nymphe Thetis erhört hat und die ehrverletzende Behandlung ihres Sohnes Achilleus durch Agamemnon, den Anführer des griechischen Heeres, dadurch rächen wird, dass er die Seiten wechselt und den Abwehrkampf der Troer gegen die Griechen unterstützt. Das gesamte weitere Geschehen des Epos ist Folge letztlich dieses Winks, dessen Erhabenheit in der Sache durch die Verwendung eines erhabenen Sprachstils unterstrichen wird.87 85 Ebd., S. 463f. Mendelssohn zieht hier Vers 7 und 9 zusammen; die deutsche Übersetzung wird nach M. Mendelssohn: Ästhetische Schriften, eingeleitet und mit Anmerkungen hg. von A. Pollok. Hamburg 2006, S. 315 zitiert. 86 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 464. 87 Homers Ilias. Gesamtkommentar, hg. von J. Latacz. Bd. 1. Erster Gesang (A), Fasc. 2. Berlin 2000, S. 178. Das Senken der Augenbrauen bedeutet Zustimmung.

200

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Solches ist ja meiner Verheißungen unter den Göttern, Heiligstes Pfand, denn nie ist wandelbar, oder betrüglich, Noch unvollendet das Wort, das mit winkendem Haupt ich gewähret. Also sprach, und winkte mit schwärzlichen Brauen Kronion; Und die ambrosischen Locken des Königes wallten ihm vorwärts Von dem unsterblichen Haupt; es erbebten die Höhn des Olympos.88

Obgleich der Wink selbst nicht allein durch inaptischen Zeichengebrauch majestätische Erhabenheit beschreibt, sondern zugleich für ein rhetorisches Ethos der authentischen, verbindlichen und wirksamen Rede (da – durch den Eingriff in den Kampf um Troja – Realität schaffend) einsteht, wird sie bei Ps-Longin nicht erwähnt. Die minimale Andeutung der Zustimmung durch den Göttervater wird in ihren extrem weitreichenden, da den Kriegsverlauf verändernden Folgen von den auf dem Olymp Versammelten auf einen Schlag verstanden. Dieser Stelle kommt in Addisons Essay über die Vergnügungen der Einbildungskraft besonders Gewicht zu, weil sie die einzige ist, in der Addison das Große der Natur mit dem Erhabenen der Gedanke explizit verbindet und damit seine Imaginationstheorie, die – wie gezeigt – primär an der Wahrnehmung großer Natur entwickelt wird, für sprachliche Erhabenheit anschließbar macht. Die perzeptiv-ästhetische Perspektive auf Grenz- und Erweiterungserfahrungen der Einbildungskraft wird so semiotisch modelliert. In der Ilias werde die „Phantasie“ durch „tausenderley wilde Aussichten von großen Wüsten, weiten unbebauten und morastigen Ländern, ungeheuren Wäldern, ungestalten Felsen und jähen Höhen unterhalten“89, ebenso groß sei Homers Schilderung von Schlachten, Menschenmassen, Helden oder Göttern. Überhaupt „erfüllet“ Homer „seine Leser mit hohen [sublime] Begriffen“90. Innerhalb des gesamten Essays wird nur an dieser Stelle der Begriff des Erhabenen (sublime) verwendet.91 Dass Homer als der Dichter des Großen zugleich ein Dichter des Erhabenen (der Gedanken) ist, belegt der Jupiter-Topos: „Nichts kann prächtiger [magnificent] sein“, so Addisons kurzer Kommentar, als der Wink Jupiters mit der Augenbraue:

88 89 90 91

Homer: Ilias, Odyssee, S. 28. Ebd., S. 28. Addison: Von den Belustigungen, S. 106. Fritz: Vom Erhabenen, S. 210f. weist darauf hin, dass Addison in den Essays zur Einbildungskraft strikt zwischen der Erhabenheit, die im Anschluss an Ps-Longin sprachlichen Phänomen zukommt, und dem Großen als Qualität wilder Natur unterscheidet. Diese Unterscheidung wird von Addison im Fall der Epen Homers ansatzweise vermittelt, so wie bereits früher in Addisons Essay Nr. 339 in Hinblick auf Miltons „Paradies Lost“.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

201

Hierauf nicket Saturns Sohn mit schwarzhaarigter Augbraun; Das ambrosische Haar des Königs der Götter erhöht sich Auf dem unsterblichen Haupt und erschüttert den großen Olympus.92

Die semiotische Diskrepanz zwischen minimaler Wahrnehmbarkeit und gewaltiger Konsequenz macht die Geste Jupiters dem erhabenen Schweigen Aias oder der kurzen Unterbrechung am emotionalen Höhepunkt einer Tragödie vergleichbar. Addison verwendet zur Charakterisierung der Dichtung Homers nahezu die gleichen wirkungsästhetischen Schlüsselbegriffe wie in seinem Essay über das Schweigen: Wenn sowohl der Wink Jupiters als auch das Schweigen Aias’ durch die Erhabenheits-Qualitäten ‚greatness‘, ‚sublime‘ und ‚magnificent‘ bzw. ‚majesty‘93 bestimmt werden, zeigt sich darin ein weiteres Mal, dass eine Minimierung des sinnlichen Aufwandes eines Zeichens eine heftige Erregung der Einbildungskraft stimulieren kann. Die in den letzten Teilen von The Pleasures of the Imagination zu beobach­ tende Annäherung des Begriffs der Einbildungskraft an den Erhabenheitsbegriff Ps-Longins zeigt sich auch darin, dass für beide ästhetische Kategorien John Miltons Paradies Lost (1667) als vorbildhaft angesehen wird. Addison hatte Miltons Versepos schon in früheren Ausgaben des Spectators als kongeniale Umsetzung des Ps-Longin’schen Darstellungskonzeptes gewürdigt. Er sei derjenige unter den englischen Dichtern, der die Erhabenheit des Stils in eine genaue Übereinstimmung zur Erhabenheit der Gedanken gebracht habe.94 Miltons größter Vorzug sei, heißt es in Essay Nr. 279, die Erhabenheit seiner Gedanken, worin ihm unter allen Dichtern allenfalls Homer gleichkäme.95 Es ist „für die Einbildungskraft des Menschen unmöglich, sich mit größeren Vorstellungen [greater ideas] auszudehnen [distend]“96, als mit jenen, die Milton im ersten, zweiten und sechsten Buch seiner Dichtung vorbringt. In einer ausführlichen Analyse der Darstellungsweise Miltons in Essay Nr. 339 ordnet Addison die Erzählung über den Krieg zwischen satanischen und himmlischen Mächten im sechsten Buch dem Modus des Pathetisch-Erhabenen, die Erzählung über die Schöpfung 92 Homer: Ilias, Erster Gesang, hier zitiert nach Addison: Von den Belustigungen, S. 106. 93 Essay Nr. 133, in: Bond: The Tatler, S. 270: „There are two instances of silence in the two greatest poets that ever wrote, which have something in them as sublime as any of the speeches in their whole works. The first is that of Ajax [...]. Ulysses [...] makes his submission to him with a humility next to adoration, which the other passes over with dumb sullen majesty, and such a silence, as (to use the words of Longinus) had more greatness in it than anything he could have spoken.“; sowie Addison: The Pleasures, S. 295: „Homer’s Epithets generally mark out what is great [...]. Nothing can be more Magnificent than the Figure Jupiter makes in the first Iliad [...]. [...] In a word, Homer fills his Readers with Sublime Ideas [...].“ (Hervorhebungen A.D.). 94 Essay Nr. 285, in: Smith: The Spectator, Bd. 2, S. 352. 95 Essay Nr. 279, in: Ebd., S. 331. 96 Ebd.

202

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

im siebenten Buch dem Modus des pathosarmen Gedankenerhabenen zu. Beide Darstellungsweisen veranschaulicht er durch erhabene Naturszenen: Im Unterschied zum sechsten Buch, das einem tosenden Meer gleiche, werde im siebenten Buch die „Einbildungskraft, gleich einem Meere, wenn es still ist“, gerührt und auf diese Weise „das Gemüth des Lesers [eingenommen], ohne darinnen etwas hervorzubringen, welches einem Aufstande, oder einer Bewegung gleich ist“.97Addison zieht in dieser Charakterisierung der Darstellungsweise Miltons die Erhabenheit der Gedanken, das Schweigen und die Stimulierung der Einbildungskraft zusammen. Er bedient sich dabei des gleichen klimatheoretischen Arguments wie im Essay über das Schweigen hinsichtlich der religiösen Ekstase, insofern er Miltons Geschick würdigt, die „hohen Ausdrücke der morgenländischen Dichtkunst gehörig zu mildern“, da diese nur solchen Lesern zuträglich seien, „deren Einbildungskraft zu einem höhern Grade erhaben [set to an higher Pitch]“98 sind als die derjenigen in kälteren Regionen der Erde. Genau diesen Zusammenhang zwischen „morgenländischer Dichtkunst“ und den Grenzen der Einbildungskraft (von Mitteleuropäern) wird Mendelssohn fünfzig Jahre später im Austausch mit Lessing aufgreifen und ihn, wenn auch zunächst zögerlich, als Basis ästhetischer Innovation in der zeitgenössischen Literatur medientheoretisch legitimieren. Von der morgenländischen Dichtung lernen heißt für Mendelssohn, die Einbildungskraft derart herauszufordern, dass ästhetische Faszination erlebt werden kann.99 Noch aufschlussreicher für die Rekonstruktion der Herausbildung des Konzeptes ästhetischer Faszination im 18. Jahrhundert ist die Verwendung des Jupiter-Topos in einem Brief Gotthold Ephraim Lessings an Mendelssohn im August 1757. Lessing nimmt hier anhand des Horaz-Zitats der Ode III,1 „Cuncta supercilio moventis“ eine semiotische Präzisierung des Erhabenheitsbegriffs vor, deren Parameter für eine Differenzierung der Erhabenheitsmodi des Majestätischen und des Faszinierenden angewandt werden können. Mendelssohn hatte sich am 4. August 1757 mit einer Vorfassung seines Erhabenheits-Aufsatzes an Lessing gewandt, da er Abgrenzungsprobleme zwischen seinem neu angesetzten Begriff des Naiven und dem etablierten Begriff des Erhabenen Longin’scher Provenienz sah: „Ich habe das Naive dem Schwulste entgegen gesetzt, und gesagt, es bestünde in Zeichen, die kleiner sind, als die bezeichnete Sache.“100 Genau dies sei aber, wie er anhand des Jupiter-Topos illustriert, bekanntlich der semiotische Schlüssel der Erhabenheit: „‚Cuncta 97 Essay Nr. 339, in: Der Zuschauer, Bd 5, S. 90; vgl. „the seventh [book] affects the imagination like the ocean in a calm, and fills the mind of the reader, without producing in it any thing like tumult or agitation“ (Smith: The Spectator, Bd. 3, S. 58). 98 Ebd. 99 Vgl. das folgende Kapitel 4.3. 100 Lessing, G. E.: Werke und Briefe. Bd. 11,1. Briefe von und an Lessing, 1743 – 1770, hg. von H. Kiesel. Frankfurt a. M. 1987, S. 225.

4.2  Fülle, Mehrdeutigkeit und naives Zeichen bei Mendelssohn

203

supercilio moventis‘ ist ein Ausdruck, der an Erhabenheit unstreitig das ‚fiat lux‘ bei weitem übertrifft. […]. Allein nach meiner Definition würde dieser Ausdruck naiv sein; kann dieses zugegeben werden?“ Lessing versucht am 18. August eine Klärung, indem er das Naive als rhetorische Figur vom Erhabenen als Gedankenfigur unterscheidet. Das Naive sei keine eigene ästhetische Wirkungsqualität, sondern bloße Ausdrucksweise, zu der stets etwas anderes, etwa Erhabenes, Satirisches oder Lächerliches, hinzutreten müsse. Es ist wahr, etwas Erhabnes auszudrücken, muß man so wenig Worte aufwenden, als möglich; es geschieht also freilich oft, daß das Erhabne zugleich naiv ist; aber die Naivität ist deswegen nicht ein wesentlicher Charakter des Erhabnen. ‚Cuncta supercilio moventis‘ ist erhaben, aber nicht naiv. Die Antwort des griechischen Feldherrn, als man ihm von der Menge der persischen Pfeile, wodurch die Sonne verdunkelt würde, sprach: wir werden also im Schatten fechten, ist erhaben und naiv.101

Lessing unterscheidet zwischen semiotisch unaufwendigen und eindeutigen Ausdrücken (erhaben) einerseits und unaufwendigen und mehrdeutigen Ausdrücken (naiv-erhaben) andererseits. Zur ersten Gruppe lässt sich neben dem brieflich verhandelten Jupiter-Topos die Fiat-lux-Formel zählen. Zur zweiten Gruppe kann neben der von Lessing angeführten Antwort eines griechischen Feldherrn auch das Schweigen des Aias oder die gleichfalls bei Ps-Longin (und Mendelssohn) angeführte Antwort Alexanders des Großen auf den Vorschlag seines Feldherrn Parmenion gezählt werden.102 Im ersten Fall, so Lessing, „sagen die Zeichen gleich so viel, als sie sagen wollen, nicht mehr und nicht weniger“, im zweiten Fall des naiv ausgedrückten Erhabenen „aber scheinen die Zeichen weniger zu sagen, ja sogar etwas anders“, als sie meinen. Der Wink mit der Augenbraue ist, so minimal die Zeichengestalt auch ausfällt, in seiner Aussage eindeutig; er bedarf keiner aktiven Verstehensanstrengung. Anders verhält es sich mit dem Schweigen Aias‘ oder der antithetischen Antwort des Feldherrn bzw. Alexanders des Großen; die Bedeutungen dieser Aussagen sind mehrdeutig und missverständlich, zumindest solange, wie man nicht durch Einbeziehung der Redesituation, Vorgeschichte, des Habitus des Sprechers oder anderer Kontextfaktoren seitens des Rezipienten die Unbestimmtheit reduziert. Diese Binnendifferenzierung Lessings zwischen einem Erhabenen und einem Naiv-Erhabenen lässt sich zu einer semiotischen Unterscheidung des Majestätischen vom Faszinierenden

101 Ebd., S. 238 (Hervorhebung im Original). 102 Der Überlieferung nach antwortete Alexander der Große, als Parmenion ihm mit der Bemerkung „Ich würde annehmen, wenn ich Alexander wäre“ die Zustimmung empfahl, mit „Ich auch, wenn ich Parmenion wäre“, und lehnte ab (Plutarch: Alexander 29,4, zitiert nach Gehrke, H. J.: Geschichte des Hellenismus. München 1990, S. 17).

204

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

anwenden.103 Als faszinierend wird eine Zeichenkonfiguration dann empfunden, wenn sie aufgrund der Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der Zeichen eine heterogene Fülle von Assoziationen und Gedanken hervorbringt. Um eine sprachpragmatische Eindeutigkeit bzw. Kohärenz dieser Zeichen herzustellen, um verstehen zu können, bedarf es nicht nur einer komplettierenden Imagination, sondern einer zwischen verschiedenen Redepositionen, semantischen Perspektiven oder Bildbedeutungen kombinierenden Agilität, zu der es einer weitaus höheren Aktivierung der Seelenkräfte und stärkeren Imaginationstätigkeit bedarf.

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock im Gespräch 4.3.1  Anschauung und Bildbrüche: Mendelssohns Anmerkungen zu Lessings Laokoon-Entwurf Ein Gefühl der Faszination, das durch die imaginationsstimulierende Leistung eines partiell dunklen, sogenannten naiven Zeichens, eines Zeichens, das progressiv „mehr hält, als [es] zu versprechen“104 scheint, im Leser oder Hörer entsteht, beschäftigte Mendelssohn auch in seinen Anmerkungen zu Lessings Entwurf des Laokoon-Aufsatzes. Lessing hatte in diesem Entwurf u. a. eine medientheoretisch argumentierende Grundunterscheidung zwischen dem mimetischen Darstellungsverfahren der Malerei und der Dichtung vorgenommen: Malerei wirke durch ein auf einmal überschautes Nebeneinander von (natürlichen) Zeichen und könne deshalb vorzugsweise Körper im Raum darstellen. Dichtung hingegen wirke durch ein sukzessiv wahrgenommenes Nacheinander von (arbiträren) Zeichen und könne deshalb vorzugsweise Handlungen darstellen. Aus dieser Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten leitet Lessing ab, dass Dichtung „in ihr[en] fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen“105 kann. Vom Dichter sei deshalb diejenige Eigenschaft darzustellen, die eine sinnliche Gesamtvorstellung des jeweils relevanten Aspektes des Körpers in der Vorstellung des Lesers zu wecken vermag: Homer habe stets „für Ein Ding nur Einen Zug“106 dargestellt 103 Vgl. Kapitel 3.3 sowie die Bemerkung Lessings in seinem Entwurf des Laokoon-Aufsatzes, dass „die Augenbraunen derjenige Theil des Gesichtes sind, in welchem sich der stärkste Ausdruck der Majestät äußert“. (Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 252). 104 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 492. 105 Ebd., Bd. 2, S. 235 (Hervorhebung im Original). 106 Ebd., Bd. 2, S. 236.

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

205

und das andere der Einbildungskraft überlassen. Sind dennoch ‚mehrzügige‘ Beschreibungen nötig, müssen sie nacheinander, das heißt als eine „Geschichte“107, dargestellt werden. Gegen Lessings rigorose Verbannung des nur der Malerei zugestandenen Prinzips des Zugleichs (ohne Handlung) aus der Dichtung gibt Mendelssohn in seinen Anmerkungen 1762/63 zu bedenken, dass dafür aber gelungene Beispiele vorliegen: Wie hätte Homer die Hässlichkeit des Thersites ‚malend‘ beschreiben können, ohne „nebeneinander seyende Theile sehen zu lassen, die nicht übereinstimmen“108? Wenn dies beim Hässlichen möglich sei, „warum nicht auch in Ansehung der Schönheit?“109 Damit spricht Mendelssohn indirekt jenes mehrere Aspekte oder Isotopien kombinierende Beschreiben an, auf das Burke in seiner Untersuchung zum Erhabenen und Schönen eingegangen war.110 Solange, so Mendelssohns vorläufige lustökonomische Einschränkung, nicht die „Imagination zu sehr arbeiten muß, aus den Theilen ein Ganzes zusamen zu setzen“111, habe für ihn der „Dichter auch einiges Recht auf das Nebeneinanderexistirende“: Die Einbildungskraft müsse nur die mannigfaltigen Züge schnell zu einer Einheit verbinden können, andernfalls verliere sie die Lust zur Beschäftigung mit der Darstellung. Die notwendige Unbestimmtheit und Imaginationsbedürftigkeit der jeweils nur einen einzelnen Zug anschaulich darstellenden Zeitkunst Dichtung prädestiniert diese, Lessing zufolge, zur Darstellung von solchen Gegenständen, die per se unbestimmt sind: „Und eben daher, weil der Dichter seine Wesen nur mit einem Zuge schildert, kann er Wesen schildern, die nicht bestimmt sind, bloße Wesen der Einbildung.“112 Unbestimmtes finde in der notwendig relativ unbestimmt nachahmenden Dichtung die adäquate Darstellungsform, da hier die Einbildungskraft in produktiverer Weise an der Entstehung von Vorstellungen Anteil nimmt als in der (realistischen) Malerei. Mendelssohn stimmt Lessing hierin zu, möchte aber – ganz im Sinne der aristotelischen Metapherntheorie argumentierend – die Qualität der poetischen Darstellung noch immer von der Leichtigkeit der imaginativen Komplettierung abhängig machen: „aber der Dichter ist desto vollkomener, je bestimter seine Bilder sind, je leichter es der Imagination wird, die ausgelassene Züge hinzu zu denken, und sich von den erdichteten Wesen nette und ausführliche Begriffe zu machen.“113 Während in der Antike sprachbasierte Bilder, die „sich der Imagination nicht ausführlich darstellen“, selten waren, fällt eine solche imagina107 Ebd., Bd. 2, S. 237. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Vgl. Kapitel 4.2. 111 Ebd., S. 241. 112 Ebd. 113 Ebd.

206

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

tive Komplettierung bei der Darstellung sinnlich unbestimmter Wesen (etwa Gottes) in den Dichtungen neuzeitlicher Autoren wie Milton oder Klopstock schwer. Dies wird von Mendelssohn zunächst als Defizit aufgefasst: Aber alle erdichtete Wesen des Milton sind von dieser Beschaffenheit. Die Gewalt, die wir anwenden, sie uns in ihrer Vollständigkeit vorzustellen, scheinet unsere Einbildungskraft zu ermüden. Ihr erster Anblik frappirt ungemein, und erregt eine Art von Erstaunen, die dem Erhabenen eigen ist. Aber ihre Wirkung ist so anhaltend nicht; denn so bald wir uns erholen, und mit unserer Einbildungskraft geschäftig zu seyn anfangen; so fühlen wir das Unvermögen sie auszubilden nur gar zu deutlich, und sie fangen an unangenehm zu werden.114

Statt sie zu faszinieren wirkt sich eine solche darstellungstechnische Überforderung der Einbildungskraft auf diese demotivierend aus. Deshalb sei auch die Wirkung von Miltons aus disparaten Bildelementen zusammengesetzten Wesen „so anhaltend nicht“, da sie unser Vermögen, diese imaginativ als Ganzheit „auszubilden“, überfordern und „unangenehm“ werden. Wiederum wird, zunächst in Lessings Entwurf, in diesem Zusammenhang der Jupiter-Topos in seiner imaginationsstimulierenden Wirkung diskutiert. Die hohe Qualität der literarischen Darstellungsweise Homers, die die unbenannten Züge Jupiters unschwer imaginativ zu ergänzen erlaubt, habe darin einen praktischen Beweis gefunden, dass sie als Vorlage für eine raumkünstlerische Darstellung des Gottes durch den Bildhauer Pheidias gedient hat. Überhaupt „nährten“ sich die antiken Bildkünstler „mit dem Geiste des Dichters, sie füllten ihre Einbildungskraft mit seinen erhabensten Zügen, […] und so wurden ihre Werke Abdrücke der Homerischen“115. Die bis heute vorbildliche Leistung Homers liege in einer solchen „sympathetische[n] Erhöhung unsrer Einbildungskraft“116. Lessing vergleicht daraufhin die erhabene Darstellung Jupiters durch Homer mit der nicht minder erhabenen, aber hinsichtlich der imaginativen Konfigurierbarkeit ganz anders verfahrenden Darstellung des christlichen Gottes in Klopstocks Messias: Sprach der ewige Vater, und wandte sein ernstes Gesichte Gegen den Messias: Ich breite mein Haupt durch die Himmel, Meinen Arm durch die Unendlichkeit aus und sag: Ich bin ewig!117

Klopstocks Darstellung sei zwar in ihrer visuellen Unbestimmtheit dem dargestellten Gegenstand (Gott) weitaus adäquater als Homers Beschreibung, allerdings erlaube sie dem Rezipienten nicht, sie als eine Einheit vorzustellen. Ein Haupt, das sich durch den gesamten Himmel, ein Arm, der sich durch die Unendlichkeit ausbreitet, ist grundsätzlich unanschaulich. Klopstocks Dar114 115 116 117

Ebd., S. 245. Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. Klopstock: Werke, Abt. Werke 4, 3, S. 6.

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

207

stellung könne deshalb, so Lessings Überlegungen zur intermedialen Übersetzbarkeit, auf einen bildenden Künstler keinen großen Eindruck machen. Anders als Homer habe Klopstock das Göttliche „aus keinem mahlerischen Gesichtspunkte genommen“118. Mendelssohns ausführlicher Kommentar zu dieser Argumentation geht zunächst von einer produktionsästhetischen Differenz aus: Homer habe beim Schreiben ein vollständiges Bild seines Gottes vor Augen haben können, von dem er dann die wesentlichsten Züge abstrahierte. Klopstock hingegen hat sich beim Schreiben Gott nicht bildhaft vorstellen können, seine Darstellung ist deshalb unanschaulich und dunkel. Er habe „gar kein nettes Gemälde“ vor Augen gehabt: „Die Theile des Bildes, die er nicht beschreibet, sind so vague, so dunkel, daß sie gar nicht hinzu gedacht werden können.“ Dies gelte generell für fast alle „miltonischen und Kloppstokischen Malereyen“. Was Milton oder Klopstock nicht ausdrücklich beschreibt, müsse für die Einbildungskraft des Lesers „unbestimt“ bleiben. Auch dies bewertet Mendelssohn zunächst als einen Mangel: Die „wilde und unbestimte Idee“119, die Klopstocks Darstellung zugrunde liege, sei nicht zu vergleichen mit der „wohlgedachten, und der gesunden Vernunft gemäßen Idee“ Homers. Wenn, so Mendelssohn, aber Lessing die Darstellungsweise Klopstocks dennoch als „angemessener“ auffasst, so sei dies auf die Antithetik der sprachlichen Bildlichkeit zurückzuführen. Damit kehrt Mendelssohn seine Urteilsperspektive um: Der die Darstellung Gottes durch Klopstock ganz unanschaulich (das heißt malerisch nicht darstellbar) machende Widerspruch zwischen endlichem Haupt und unendlichem Himmel bzw. endlichem Arm und Unendlichkeit eröffne einen Imaginationsprozess, der nicht komplettierend, sondern als unabschließbar verläuft. In dieser Hinsicht ist das ästhetische Erleben bei Klopstock dem göttlichen Gegenstand tatsächlich angemessener als bei Homer. Sie sagen jene Vorstellung ist der Majestät Gottes angemessener. Es kann seyn. Vielleicht deswegen, weil sie alles Körperliche so gleich durch einen Widerspruch aufhebt, und gleichsam verschwinden läßt. Ein Haupt, das durch die Himmel; ein Arm, der durch die Unendlichkeit gehet. Sinnlicher konte der Dichter das ungereimte Ding, eine unendliche Figur, nicht beschreiben, als wenn er die Merkmale selbst sich einander widersprechen läßt.120

Die Unvereinbarkeit der Sprachbilder macht die Unsinnlichkeit Gottes sinnlich erfahrbar und ist insofern ästhetisch plausibel. Als adäquate Darstellung des inhärenten Widerspruchs (das „ungereimte Ding“), etwas, das „unendlich[]“ ist, als „Figur“ darzustellen, weist auf den Faszinationsaspekt des einfache Anschaulichkeit verweigernden ‚montierenden‘ Verfahrens Klopstocks. Die „Antithese“, die Mendelssohn in Klopstocks Darstellung Gottes würdigt, setzt einen 118 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 252. 119 Ebd., S. 253. 120 Ebd.

208

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

gedanklichen Prozess, ähnlich wie bei einer prägnanten „Sentenz“121 in Gang: „Aber die Beschreibung des Kloppst. muß vom Declamator nothwendig gelesen werden, wie eine Sentenz, das heißt, sie läßt sich so wenig tanzen, als malen.“122 War für Mendelssohn zunächst die Qualität eines Dichters umso höher, „je bestimter seine Bilder sind, je leichter es der Imagination wird, die ausgelassene Züge hinzu zu denken“123, so gelangt er über die Auseinandersetzung mit der Gottesdarstellung Klopstocks zu einem Neuverständnis des medialen Spezifikums von Dichtung in Absetzung zu den Bildkünsten. Mendelssohn gibt das Kriterium der imaginativ leicht komplettierbaren Anschauungseinheit auf. Stattdessen bestimmt er in den Schlusspassagen seiner Anmerkungen zu Lessings Laokoon-Entwurf nun den Faszinationsaspekt der Unbestimmtheit und damit Unabschließbarkeit der imaginativen Beschäftigung als dichtungsspezifische Wirkungsqualität. Er stützt sich bei dieser Neubewertung auf die bahnbrechenden stilistisch-ästhetischen Analysen althebräischer Psalmdichtung, die der englische Philologe Robert Lowth in einer Reihe von Vorlesungen über die Heilige Poesie der Hebräer (Praelectiones Academicae de Sacra Poesi Hebraeorum) vorgenommen und 1753 publiziert hatte. Mendelssohn hatte 1757 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste eine umfangreiche Rezension der Vorträge Lowths veröffentlicht. Lowth hatte unter anderem auf den grammatikalisch-semantischen Parallelismus als poetisches Verfahren der metrisch nicht geregelten reimlosen Psalmdichtung hingewiesen. Durch diesen werden disparate sprachliche Bildbereiche aufgrund formaler Ähnlichkeit der Satz- bzw. Versglieder aufeinander bezogen, so dass im Verstehen der Psalmen ein imaginations- und gedankenintensives Aufsuchen gemeinsamer semantischer Paradigmen (der Analogie, Opposition oder Varianz) zwischen den disparaten Bildern angeregt wird. Mendelssohn führt nun, von der Lektüre Lowths beeindruckt, in seinen Anmerkungen zu Lessings Entwurf die Merkmale „unregelmäßig im Ganzen“ und „kühn aber unmalerisch in der Ausbildung“124 als spezifische Kennzeichen der hebräischen Dichtung gegenüber der europäischen an. Die „Hebräer“ hätten, „vermöge ihrer Religion“125, ein Dichtungsverständnis, das in keiner Weise auf eine (isotop) einheitliche Anschaulichkeit ausgerichtet sei. Sie entspreche deshalb – in Hinsicht auf Lessings Bemühen um eine medienästhetische Abgrenzung von Dichtung und Malerei – den Darstellungsmöglichkeiten der generell anschaulich weithin unbestimmten Dichtung sehr genau. Die Idee einer (imaginativ) anschaulichen Ganzheit sei der Zeitkunst Dichtung nämlich nicht eigentümlich, sondern lediglich aus den bildenden Künsten auf sie übertragen worden: 121 Ebd., S. 254. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 245. 124 Ebd., S. 254. 125 Ebd.

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

209

denn da die Begriffe in der Dichtkunst auf einander folgen; so sehen wir so leicht die Nothwendigkeit nicht ein, diese mannigfaltigen Theile zusamen als ein schönes Ganze [!] zu betrachten, und in ihrer Verbindung zu übersehen. Hingegen ist bey der Malerey und Bildhauerkunst, die die Begriffe zusamen als ein Ganzes darstellen, das Ganze auch immer das erste, worauf wir sehen.126

Für die Dichtung als Zeitkunst wird damit die Kombination heterogener, sich zu keiner einheitlichen Anschauung fügender Bildelemente konstitutiv: „Wer an keine Verbindung der Künste denkt, und die Poesie ganz allein vor Augen hat, wird in einer Schilderung Züge vereinigen, die sich einander sehr fremde sind.“127 Lessings Überlegungen zu Klopstocks Gottesdarstellung radikalisierend, wird von Mendelssohn hier nicht nur die Reduzierung der Darstellung auf wenige Züge (Erhabenheitsmodus des Majestätischen), sondern die Kombination solcher Züge, „die sich einander sehr fremde sind“128 (Erhabenheitsmodus des Faszinierenden), zum adäquaten Darstellungsverfahren von Dichtung erklärt. Das Anregen der Imagination durch eine verfremdende, eine isotope Bildlichkeit störende Kombination diskrepanter Semantiken kann Faszination bewirken. Lowth folgend führt Mendelssohn die verfremdende Verlebendigung von Dingen oder die Verinnerlichung äußerlicher Merkmale als Beispiele für eine imaginationsstimulierende Dichtung an: die kühne Metapher „Pfeil trunken vom Blute“, oder die direkte Anrede an das „Schwerdt Gottes“: „Kehre in die Scheide zurük! raste allda!“. Ein solches Verfahren sei „unmalerisch“ und „kühn“ und zeichne die neueren Dichter wie Milton und Klopstock aus, die darin den „Orientaliern“129 folgten. Mendelssohn versucht eine Beschreibung des ästhetischen Erlebens solcher das imaginative Anschauungsvermögen herausfordernden ‚spekulativen‘ Dichtung: Endlich verlieren sich unsere Dichter ganz und gar in das Unsichtbare, in das Reich der Spekulation, wohin ihnen keine andere Kunst folgen kann, wo nur Schattenbilder vor unsern Augen scherzen, und verschwinden, bevor wir ihre wahre Gestalt erkennen, wo wir uns also begnügen müssen nur einige Züge zu berühren, und alles übrige wie in einen Äther zerfließen und unkentbar werden zu lassen130

Das Auftauchen und rasche Verschwinden von ‚scherzenden‘ und ‚zerfließenden‘ „Schattenbildern“ in der Einbildungskraft des Rezipienten, das das Erleben von Dichtung von allen anderen Künsten unterscheide, ähnelt der Wahrnehmung des Schönen in der Bewegung, die Dugald Stewart 1810 in 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 255. 130 Ebd.

210

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

den Philosophical Essays ausdrücklich als ‚faszinierend‘ bezeichnet.131 Während es sich bei Stewart aber um die Beschreibung der Konfigurationsdynamik der Einbildungskraft in einer tatsächlichen sinnlichen Wahrnehmung handelt, beschreibt Mendelssohn den Faszinationsaspekt in der versuchten sprachstimulierten Einbildung einer anschaulichen Vorstellung: Trotz Mendelssohns Neubewertung derartiger Dichtungseffekte infolge seiner zustimmenden Rezeption der hebräischen Poetik klingt im Sich-Begnügen-Müssen mit einer unkenntlichen statt erkannten „Gestalt“ der imaginierten Bilder eher Enttäuschung als Faszination an. Das Moment der intensiven Erwartung des Neuen, mit dem Stewarts „is fascinated“132 verbunden ist, fehlt. 4.3.2  Faszinierende Bildmontage, sinnlicher Kohärenzdruck: Klopstocks Messias  Das von Mendelssohn und Lessing am Beispiel Klopstocks diskutierte Darstellungsverfahren kombinierter, sich zu keiner anschaulichen Einheit fügender Bildelemente soll an einer Passage aus dem ersten Gesang von Klopstocks Versepos Messias in der Fassung von 1748 genauer erläutert werden. Beschrieben wird der Himmel als Sitz Gottes, ein erhabener, sich einer adäquaten Anschaulichkeit per se verschließender und insofern Darstellungsverfahren und Imaginationskraft in besonderer Weise herausfordernder Gegenstand. Klopstock greift dabei auf eine Kombination verschiedener diskrepanter Bild­ elemente zurück: 1 2 3 4 5 6 7 8

Mitten in dieser Versammlung der Sonnen erhebt sich der Himmel, Rund, unermeßlich, das Urbild der Welten, die Fülle Aller sichtbaren Schönheit, die sich, gleich flüchtigen Bächen, Um ihn, durch den unendlichen Raum nachahmend, ergiesset. Also dreht er sich, unter dem Ewigen, um sich selber. Indem er wandelt, ertönen von ihm, auf Flügeln der Winde, An die Gestaden der Sonnen die sphärischen Harmonien Hoch hinüber. […]133

Die Beschreibung des Himmels ist, obgleich sie durch Raumangaben Anschaulichkeit suggeriert („Mitten in dieser […] erhebt sich der Himmel“) kalkuliert unanschaulich: Sie lässt sich nicht zu einer isotopen Einheit zusammenfügen und ist in wesentlichen Aussagen widersprüchlich. Kalkuliert ist das Verfahren insofern, als das Göttliche hier durchaus angemessen dem sinnlichen 131 Vgl. Kapitel 2.3. 132 Stewart: Philosophical Essays, S. 234: „[...] the memory dwelling fondly on the charm which has fled, while the eye is fascinated with the expectation of what is to follow“. 133 Klopstock: Werke, Abt. Werke 4,3, S. 9.

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

211

Maßstab des Anschaulichen entzogen wird und nur in einzelnen, flüchtigen „Schattenbildern“ imaginiert werden kann. Der ‚Himmel‘ als grammatisches Subjekt wird, hinsichtlich der zugehörigen finiten Verben, personifiziert: Er „erhebt sich“, „dreht sich“ und lässt durch diese Bewegung („wandeln“) Harmonien „ertönen“. Das semantische Paradigma ‚menschliche Gestalt‘ lässt sich allerdings in keiner Weise mit den in Vers 2 attributiv aufgeführten Vollkommenheitsqualitäten Einheit („rund“), extensive räumliche Unendlichkeit („unermeßlich“), intensive räumliche Unendlichkeit („Fülle“) und zeitliche Unendlichkeit („Urbild der Welten“) zu einer Anschauung vereinbaren. Das durch die verwendeten Verbformen nahegelegte semantische Paradigma ‚Irdisches/Sinnliches‘ wird dadurch negiert. Die Fülle ist Fülle „aller sichtbaren Schönheit“, die verglichen wird mit „flüchtigen Bächen“, in denen sie sich „ergiesset“. Sichtbare Schönheit, die Metapher der Bäche wie auch die späteren Metaphern ‚Flügel der Winde‘ und ‚Gestade der Sonne‘ reaktualisieren das Paradigma ‚Irdisches/Sinnliches‘. Damit wird das Wort „Himmel“ zweideutig: Neben der Bedeutung ‚unendlicher Raum des Göttlichen‘ wird nun auch die Bedeutung ‚sichtbarer Raum über der Erde mit Wolken‘ aktualisiert, dem sich neben dem Wind auch der Bildbereich des Wassers oder Wasserkreislaufes („ergiessen“, „Bäche“, „Gestade“) zuordnen lassen. Unsinnliche Vollkommenheitsqualitäten und kosmische Bilder sind also verschränkt mit sinnlichen und irdischen Bildern. Das Paradigma des ‚Irdischen/Sinnlichen‘ als Bildspender für das Unvergleichliche (des Himmels, der Fülle, der Harmonien, der Sonnen) besteht aus verschiedenen Bildelementen. „Fülle“ und „Bäche“ verbindet zwar das gemeinsame Sem ‚ergießen‘, doch „Gestade der Sonnen“ ist schon eine absolute Metapher: Ein gemeinsames Sem von ‚Gestade‘ und ‚Sonnen‘ lässt sich nur textimmanent aus der im „ergiessen“ verbundenen Reihe des ‚Irdischen/ Sinnlichen‘ und ‚Kosmischen‘ rekonstruieren. Dem Ergießen der „Fülle/Aller sichtbaren Schönheit“ wird durch die eingefügte adverbiale Bestimmung „durch den unendlichen Raum nachahmend“ die Anschaulichkeit des „gleich flüchtigen Bächen“ genommen; zudem besteht bei Vers 4 eine grammatikalische Mehrdeutigkeit zwischen einer räumlichen Lesart (Wo ergießen?: „durch den unendlichen Raum“) und einer modalen Lesart (Wie ergießen?: „den unendlichen Raum nachahmend“): Einen unendlichen Raum zu durchqueren ist unmöglich. Wie lässt sich aber im Ergießen der Fülle der Schönheit ein solcher unendlicher Raum ‚nachahmen‘? Doch wohl nur so, als dass in der Nachahmung der Unendlichkeit durch die Fülle der „sichtbaren Schönheit“ sich diese Fülle als unendliche Fülle sinnlich und als unendlicher Prozess zur Darstellung bringt. Die anthropomorph konnotierten Handlungssequenzen des Himmels werden, durch den koordinierenden Anfang von Vers 5 („also“ im alten Sinne von: ‚auf diese Weise‘) und 6 („indem“) zu einer einzigen Handlung des Er-

212

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

hebens, Drehens und Wandelns zusammengezogen, die in ihren simultanen Aspekten und Wirkungen beschrieben wird: Der Himmel „erhebt sich“, „also dreht er sich […] um sich selber“, und „indem er wandelt, ertönen von ihm“ Harmonien. Der Himmel und dessen poetische Darstellung beschreiben, zumal gegenüber dem Verharren der Sonnen und des „Ewigen“, eine andauernde unendliche Bewegung. Diese wirkt, als Ergießen sichtbarer Schönheit, nach unten und, als Ertönen akustischer Schönheit, nach oben. Damit werden, genau gelesen, sämtliche Aussagen der Verse 2 bis 8 gegen ihre logische Antithetik grammatikalisch in ein Äquivalenzverhältnis zu Vers 1 gezwungen: Sie sind nichts anderes als semantische Varianten zu: „Mitten in dieser Versammlung der Sonnen erhebt sich der Himmel“. Dieser grammatikalisch motivierten Gleichsetzung aller Abläufe zu einem einzigen Handlungsgeschehen widerspricht aber das Anschaulichkeit suggerierende und zugleich negierende (und so Imaginationsmomente stimulierende) Verwirrspiel der hier geradezu kumulativ auftretenden raum- und richtungsangebenden Präpositionen und Adverbien: „mitten“, „um ihn“, „durch“, „unter“, „um sich“, „von ihm“, „auf “, „an“, „hoch hinüber“. Bereits die ersten beiden Verse stehen in dieser Hinsicht antithetisch zueinander: Der punktförmigen Zentrierung („Mitten in dieser Versammlung“) widerspricht das folgende räumliche Unendlichkeitsattribut „unermeßlich“. Ähnliches gilt auch in vertikaler Hinsicht: Der sich aus der „Versammlung der Sonnen“ erhebende Himmel hat am Ende dieser Passage die „Gestaden der Sonnen“ „hoch“ über sich. Durch die solcherart unanschauliche Lokalisierungswut gibt Klopstocks Darstellungsverfahren dem Himmel eine Dynamik der unendlichen Wandlungen, von denen sichtbare und hörbare Wirkungen ausgehen. Das Oszillieren der verschiedenen Bildbereiche zwischen Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit, auf das Mendelssohns Imaginations-Metaphorik des raschen Auftauchens und Verschwindens von unkenntlichen „Schattenbildern“ gut passt, wird durch die vage syntaktische Koordination der Satzelemente kaum stabilisiert. Im Gegenteil, zur Unübersichtlichkeit der Bildbereiche tritt eine grammatikalische Unübersichtlichkeit, so dass die einzelnen Satzteile als tendenziell selbstständige Abschnitte wahrgenommen werden. Die grammatische Form strukturiert die Bedeutungszuordnung nur reduziert. Dem Auseinandertriften der einzelnen Elemente des Textes stehen jedoch massiv die akustischen Äquivalenzrelationen des Metrums und des Klangs bzw. die visuelle Abbildung in geordneter Versform gegenüber. Entscheidend für den Kohärenzdruck, den Metrum und Klang auf die disparate Semantik und die offene Bedeutungsassoziation der Satzelemente ausüben, sind die in ihrer sprachlichen Realisierung leicht variierenden Hexameterverse. Hinzu treten Vokalhäufungen, beispielsweise von –u/–ü, die als markante Lautäquivalenz die vier Vollkommenheitsqualitäten im 2. Vers verbinden: „rund“, „unermeßlich“, „Urbild“, „Fülle“. Die überaus spannungsreiche, zwischen verschiedenen

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

213

Bildbereichen permanent wechselnde und tendenziell asyndetisch angeordnete Semantik dieser Verszeilen wirkt kaum verständlich. Dennoch wird ein als Faszination erlebter semantischer Koordinierungs- und Verstehensprozess der einzelnen Satzelemente mit entsprechend reger Gedanken- und Imaginationstätigkeit durch den hohen klanglich-rhythmischen Stimmigkeitseindruck motiviert: Diese sinnliche Seite der Verse balanciert den hohen kognitiv-imaginativen Ressourcenaufwand und treibt im ästhetischen Erleben der Verse den versuchten semantisch-syntaktischen Abgleich zu immer neuen, in ihrem Wechselspiel faszinierenden Bildvorstellungen. Ein genaueres lustökonomisches Beschreibungsmodell dieser ästhetischen Faszination findet sich bei Johann Georg Hamann. 4.3.3  Assoziationskalkül der Ode: Mendelssohns Von der lyrischen Poesie  Die im Zentrum des Faszinationserlebens stehende Imaginationsstimulation aufgrund der versuchten, durch formale Stimmigkeitseffekte motivierten Koordination disparater Bildbereiche wird, im Rekurs auf die Poetik der Psalmen, von Moses Mendelssohn in einem späten Entwurf Von der Lyrischen Poesie von 1778 diskutiert. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um ein psychologisch orientiertes gattungstheoretisches Modell, das die Operationen bei der semantischen Paradigmenbildung im ästhetischen Erleben von Lyrik, unterschieden nach den Dichtungsarten Lied, Elegie und Ode, zu beschreiben versucht. Die sinnliche Dimension von Klang und Rhythmus wird kaum berücksichtigt. Mendelssohn stellt seiner Erörterung der lyrischen Dichtungsarten eine psychologische Theorie der Aufmerksamkeit voran, die von verschiedenen Formen der Vorstellungs- und Begriffsverknüpfung ausgeht. Grundsätzlich können Begriffe in der „RealVerbindung“134 ihrer Abfolge im Text oder aber in der „IdealVerbindung“ ihrer logischen oder assoziativ zugewiesenen Zugehörigkeit betrachtet werden. Die „IdealVerbindung“ wird noch einmal nach dem Modus ‚Kausalität‘ („als Grund und Folge, d. i. RazionalVerbindung“) und dem Modus ‚Ähnlichkeit‘ („durch Gemeinschaft der Merkmaale, welches die Verbindung der Einbildungskraft ausmacht“, auch „ImaginazionsVerbindung“ genannt) differenziert: Dies entspricht in etwa der Unterscheidung von metonymischer (RazionalVerbindung) und metaphorischer Relation (ImaginazionsVerbindung) zwischen den Begriffen. Darüber hinaus lässt sich Mendelssohns Begriff der RealVerbindung mit dem strukturalistischen Begriff der syntagmatischen Verbindung, sein Begriff der IdeenVerbindung mit dem der paradigmatischen Verbindung vergleichen. Ferdinand de Saussure bestimmt Anfang des 20. Jahrhunderts 134 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 3,1, S. 335 (Hervorhebungen im Original).

214

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Syntagma und Paradigma als „zwei Arten unserer geistigen Tätigkeit“135 beim Verstehen, wobei er 1916 noch von linearen und assoziativen Beziehungen von Wörtern spricht: Einerseits gehen die Worte infolge ihrer Verkettung beim Ablauf irgendwelcher Aussagen Beziehungen unter sich ein, die auf dem linearen Charakter der Sprache beruhen […]. […] Andererseits aber assoziieren sich außerhalb des gesprochenen Satzes die Wörter, die irgend etwas unter sich gemein haben, im Gedächtnis, und so bilden sich Gruppen, innerhalb derer sehr verschiedene Beziehungen herrschen.136

Mendelssohn korreliert die Dominanz einer bestimmten Art und Weise, Verbindungen zwischen Begriffen herzustellen, mit einem bestimmten Bewusstseinszustand. Er unterscheidet dabei zwischen klarem Bewusstsein, Meditation, Traum und Schlaf. Intensives ästhetisches Erleben wird dem Zustand des Traumes zugeordnet, der von ImaginazionsVerbindungen zwischen Begriffen dominiert werde, das heißt von Verbindungen nach der „Gemeinschaft der Merkmaale (Aehnlichkeit, Gleichheit u. s. w.)“137. Das lyrische Gedicht allgemein (Lied, Elegie, Ode) wird als eine Darstellung von unwillkürlichen Veränderungen im Gemüt eines stark involvierten Rezipienten („Antheil den wir daran nehmen“) bestimmt. In einem solchen Zustand sei die „subjektive Gewalt“ über die eigene Aufmerksamkeit stark eingeschränkt; hingegen die „Stärke der unfreien Aufmerksamkeit“ infolge der „Gewalt der Theilnehmung“ (Empfindung, Gemütsbewegung) am Gedicht groß. Wenn Mendelssohn von einer „objektive[n] Gewalt“ spricht, welche die „Vorstellungen selbst auf die Aufmerksamkeit“ ausüben, umschreibt er einen Aspekt von ästhetischer Faszination. In einem lyrischen Gedicht sei die „unfreie Aufmerksamkeit“ infolge der Anteilnahme, die mit der Zuweisung von Äquivalenzen (ImaginazionsVerbindungen) verbunden ist, hoch. Mendelssohn geht dabei grundsätzlich von einer Gleichartigkeit der psychischen Abläufe bei Autor und Rezipienten aus. Seiner eigenen Empfindung gemäß kalkuliere der Autor die Begriffsfolge seines Gedichtes so, dass sie zu einer eben solchen seelischen Anteilnahme durch den Zuhörer führt. Involvierung fasst er nicht stofflich-motivisch, sondern formal: Eine emotionale Involvierung wird durch eine „Begebenheit“ in der Sprache veranlasst. Die Veranlassung [zur Theilnehmung] ist allezeit eine Begebenheit in der RealVerbindung der Dinge. Diese kann also mit dargestellt werden. […] Die Folge der Begriffe auf einander geschieht nach der Verbindung der Theil­nehmung. Bei jedem Fortschritt eine kurze, oder längere, Abschweifung in gleichartige Nebenbegriffe.138 135 Saussure, F. de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin, New York3 2001, S. 147. 136 Ebd. 137 Hier und im Folgenden: Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 3,1, S. 335. 138 Ebd., S. 337.

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

215

Der Dichter (analog der Zuhörer) unterliegt, wie es für die lyrische Gattung der Ode heißt, der „Gewalt des Affekts“139. Mit jedem im zeitlichen Nacheinander neuen Begriff werden, vom Hauptbegriff des Gedichtes aus betrachtet, semantische „Abschweifungen“ in „gleichartige Nebenbegriffe“ (bildhafte Veranschaulichungen) vorgenommen. Werden die Nebenbegriffe in der ImaginazionsVerbindung durch ihre „Aehnlichkeit“ mit dem jeweiligen Hauptbegriff des Gedichtes koordiniert (1. Fall) oder ist die emotionale Anteilnahme am Hauptbegriff des Gedichtes sehr groß (2. Fall), erfolgt eine „Rückkehr“ von den imaginativen Abschweifungen zur Abfolge der Hauptbegriffe. Andernfalls ende das Gedicht in seiner Wirkung. Eine nicht durch emotionale oder imaginative Anteilnahme (Affekt oder Assoziation), sondern absichtsvoll durch den Dichter vorgenommene Rückkehr zum thematisch-motivischen Kern (Hauptbegriff ) des Gedichtes, zerstört den Prozess der Bildung semantischer Paradigmen und damit das Gedicht. Die Rückkehr [aus den Nebenbegriffen zum Hauptbegriff ] geschieht durch Gemeinschaft der Merkmaale [semantisches Paradigma], oder durch die Gewalt der HauptTheilnehmung, die in der Seele herrscht; niemals durch Vorsatz, noch weniger durch die Realverbindung. Sobald die Haupttheilnehmung nicht mehr lebhaft genug ist in Worte sich zu ergießen; so schließt sich das lyrische Gedicht.140

Das lyrische Gedicht muss so angelegt sein, dass es psychisch und kognitiv aktiviert; seine Ordnung erschließt sich nicht nach werkbezogenen, sondern ausschließlich wirkungsästhetischen Begriffen der Vollkommenheit: im Sinne eines ästhetischen Kohärenzbildungsprozesses, der eine Fülle sinnlicher Merkmale (des Klangs, der Bildlichkeit, des Rhythmus) in eine prospektive Zusammenstimmung bringt. Voraussetzung eines solchen ästhetischen Handelns ist eine (scheinbare) Unverbundenheit der Elemente: „Daher die Sprünge, die plötzlichen Übergänge, die versteckte Ordnung.“141 Diese bilden Angriffspunkte für Gefühl, Sinne und Imagination, um in Tätigkeit zu kommen: Die Sprünge, plötzlichen Übergänge, die versteckte Ordnung bilden gleichsam die erhaben-wilde Landschaft des Gedichtes, die in eine semantische Einheit zu fügen für die Imagination lustvoll ist. Die Gattungen Elegie und Ode lassen sich vom Lied u. a. dadurch unterscheiden, dass bei ihnen die Teilnahme bestimmt und affektiv sei und semantische Abschweifungen unterschiedlicher Art vorkommen; bei der Ode sei beides ausgeprägter als bei der Elegie. Die Ode werde gänzlich durch ein Zusammenwirken der „Gewalt des Affekts“142 einerseits und großer „Lebhaftigkeit der Einbil139 Ebd., S. 338. 140 Ebd., S. 337 (Hervorhebung A.D.). 141 Ebd. 142 Ebd., S. 338.

216

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

dungen“143 anderseits bestimmt, was als Verzückung und Begeisterung erlebt wird. Die Lebhaftigkeit könne – das wäre der unvollendeten Kadenz in Mendelssohns Erhabenheitsaufsatz vergleichbar144 – durch eine nicht rückgeführte Abschweifung im Schlussteil noch gesteigert werden. Das Kalkül der „versteckten Ordnung“ geht auf ästhetische Faszination, nämlich auf die „Stärke der unfreien Aufmerksamkeit“. Bei der Ode ist diese durch das Zusammenwirken von sinnlich-affektiver Involvierung und imaginativ-kognitiver Ähnlichkeitszuweisungen bis zu einem Maximum gesteigert. Insbesondere am Schluss der Ode könne es vorkommen, dass „die Bilder und Begriffe, welche der Dichter auf dem Nebengange antrift, wichtig genug sind ihn von dem Hauptgegenstande völlig abzuführen“145. Mendelssohn erläutert dies am Beispiel der hebräischen Poesie. In Psalm 133, der im Folgenden hinsichtlich seines Faszinationspotentials nach Maßgabe der Theorie Mendelssohns analysiert wird, wird der „Hauptbegriff “, dass Eintracht unter Brüdern dem Familienverband auf lange Zeit Glück bringen wird, durch zwei nicht isotope Bilder veranschaulicht. Der Psalm, von Mendelssohn als Ode aufgefasst, endet mit einem Rückgang („leben“, „Lebensfreude“) aus diesen beiden Bilderkomplexen („Ausschweifungen“) zum „Hauptbegriff “. Wie dieser mit den beiden Bildkomplexen in einen semantischen Zusammenhang zu bringen ist, bleibt dem Rezipienten überlassen: Sieh! wie fein, wie lieblich ist es, Wenn in Eintracht Brüder leben! Wie vom Haupte köstlich Salböl Fleußet in den Bart herab; Aarons ehrenhaften Bart, Wallend auf des Kleides Borte; Wie auf Hermon Morgenthau, Thau auf Zions Berge träufelt. Dort befiehlt der Ewge Segen, Lebensfreude hin, auf ewig.146

Die Vergleichspartikel „wie“ am Strophenanfang erlauben, die beiden Bildkomplexe als Gleichnisse der Eingangssentenz aufzufassen. Dies wie vor allem die metrischen und gewisse grammatikalische Äquivalenzen semantisieren eine Kohärenz zwischen den drei nicht isotopen Textteilen, das heißt dem „Hauptbegriff “ und den beiden Bildkomplexen, die auch als subscriptio und picturae 143 144 145 146

Ebd., S. 336. Vgl. Kapitel 4.2. Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 3,1, S. 339. Ebd., S. 340f. (im Original ohne Absätze).

4.3  Bildbruch und Imaginationsverbindung: Mendelssohn, Lessing, Lowth und Klopstock

217

(Salböl, Morgentau) bezeichnet werden können.147 Allerdings verläuft die zweite pictura nur über zwei Verse, da trotz der Lokalisierung „dort“ die beiden letzten Verse des Psalms wieder stärker auf den „Hauptbegriff “ der beiden Eingangsverse zurückführen. Der vierfüßige Trochäus der Verse ist relativ regelmäßig realisiert, die Kadenzen wechseln allerdings unregelmäßig; zahlreiche lautliche Äquivalenzen (z. B. ö- und a-Laute in der ersten pictura) verstärken die akustische Stim­migkeit. Auch die metrisch-syntaktische Parallele in den beiden picturae-Gliedern hinsichtlich der Position des Subjektes „Salböl“ bzw. „Morgenthau“ jeweils am Ende des ersten Verses, und in der Position des zu­ gehörigen Prädikates („fleußen“, „träufeln“) jeweils im zweiten Vers verstärkt die formalen Äquivalenzen. Diese relativ hohe formale Stimmigkeit, die Kohärenz semantisiert, motiviert dazu, semantische Zusammenhänge zwischen dem „Hauptbegriff “ und den beiden Bildkomplexen herzustellen. Dies geschieht im ästhetischen Erleben der Verszeilen assoziativ über das Konstruieren semantischer Paradigmen, das heißt von Schnittmengen der Seme der drei Textteile. Mit Mendelssohns Worten: Über Ähnlichkeitsrelationen werden die vom Autor intendierten ImaginazionsVerbindungen zwischen „Hauptbegriff “ (subscriptio) und den beiden Bildkomplexen (picturae) aufgesucht: So wie „Salböl“ vom Haupt über den Bart bis zum Rand des Kleides fließt, fällt „Morgenthau“ herab auf den Berg Hermon. Beide Flüssigkeiten sind kostbar, weil selten und in ihrer Wirkung erwünscht. Die semantischen Paradigmen der beiden picturae ließen sich, zusammengezogen, so umschreiben: seltene Flüssigkeit mit angenehmen, erwünschten Folgen, die beim langsamen Herabfließen in die darunter liegende Substanz (Bart, Berg) eindringt, so dass die erwünschte Wirkung lange vorhält. Versteht man das langsame Herabfließen und Eindringen in den beiden picturae sowie die Generationenfolge in der subscriptio jeweils metonymisch für vergehende Zeit, so bilden die beiden picturae (Salböl und Bart, Morgentau und Berg) mit der Eingangssentenz (Eintracht unter Brüdern) ein Paradigma: erwünschtes seltenes Ereignis mit lange vorhaltender Wirkung. Nicht die hier vorgenommenen analytischen, sondern die unter dem Kohärenzdruck sinnlicher Stimmigkeit sich im Hören des Psalms assoziierend-ima­gi­nierend vollziehenden Bedeutungsverschiebungen der denotativen Wortbedeutungen und Satzaussagen hin zu der per ImaginazionsVerbindung (Paradigmenbildung) latenten Gesamtkohärenz der Textteile lassen sich als faszinierend bezeichnen. In dem anfänglichen „Zustand der Betäubung“148 durch den „TotalEindruck“ 147 Link, J.: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. München6 1997, S. 167f. unterscheidet nach dem Modell des Emblems für Zeichenkomplexe (Symbole), die aus mehreren Teileinheiten sinnhaft verbunden sind, die Elemente pictura (isotoper visualisierbarer Zeichenkomplex) und erläuternde subscriptio (isomorphe Zeichengruppe). 148 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 3,1, S. 341 (Hervorhebung im Original).

218

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

des Gedichtes findet die Seele „einen Uebergang auf einen besondern Umstand“, der sie auf die übrigen Teile führt („Verwirrung“), bis die Seele ihre „völlige Aufmerksamkeit auf die Theile“ richtet und deren „Ordnung“ erkennt. Mendelssohn versteht das lyrische Gedicht als semiotische Transformation bestimmter emotionaler Prozesse, die dem Rezipienten als akustisches Script für das Empfinden eben dieser Prozesse dienen kann. Das lyrische Gedicht solle „die Veränderungen darstellen, die in einem von der Theilnehmung beherrschten Gemüthe vorgehen“149. Folgt man dieser über den Darstellungsbegriff vermittelten Relation zwischen Textstruktur und psychischem Erleben, so wäre die hier moderat vermittelte Kombination zweier differenter Bildisotopien mit einer Sentenz als Darstellung der im intensiven ästhetischen Erleben („Theilnehmung“) durchzuführenden kognitiv-imaginativen Operationen aufzufassen, bei der diese semantischen Einheiten durch Paradigmenbildung koordiniert werden. Das Erleben dieser Operationen des latenten Mehr- und-Andersverstehens kann im Anschluss an die bei Kant, Stewart und Alison gegebenen Erläuterungen als Faszination bezeichnet werden. Die Anordnung der drei Textteile verändert die Semantik der Wörter und jedes dieser Teile dadurch, dass sie im (durch die sinnliche Einheitserfahrung lustökonomisch balancierten) Bestreben nach einer Gesamtkohärenz in semantische Ähnlichkeitsbeziehungen („ImaginazionsVerbindungen“) zu anderen Textteilen gestellt werden und von jenen semantischen Anteilen, die außerhalb der Ähnlichkeitsrelation liegen, partiell affiziert werden: etwa die Eingangssentenz von der Sinnlichkeit und von der Vertikalstruktur des zeitlichen Verlaufs in den Bildkomplexen, oder die lautlich unterstützte Ähnlichkeitsrelation zwischen „Haupt“ und dem Berg „Hermon“, die das Imaginationspotential beider Wortsemantiken im Gedicht wechselseitig affiziert. Diese durch die vielfältigen semantischen Ähnlichkeitsrelationen der Wörter und Sätze entstehenden latenten Mehrdeutigkeiten machen die Faszination des Gedichtes aus. Diese Begriff-Bild-Komposition des 133. Psalms kann entsprechend der Rezension, die Mendelssohn zu Lowths Abhandlung über hebräische Poesie angefertigt hat, als Gleichnis aufgefasst werden. Für dieses wird ein mittlerer Schwierigkeitsgrad bei der Kohärenzbildung empfohlen, denn Gleichnisse sollen weder leicht verständlich noch unverständlich sein, sondern „den Leser eine Zeitlang angenehm“ unterhalten und sein „Gemüth angenehm beschäfftig[en]“150: „Daher sind diejenigen Gleichnisse von der dritten Art die vollkommensten, welche von der verglichenen Sache überhaupt betrachtet, völlig unterschieden sind, in einigen Umständen aber, mit derselben etwas ähnliches haben.“151 Dies dürfte den Bildkompositionen des 133. Psalms entsprechen. Ein höheres Faszinationspotential ist, bei entsprechend starker sinnlicher Einheitsempfin149 Ebd., S. 336 (Hervorhebung im Original). 150 Ebd., Bd. 4, S. 35. 151 Ebd. (Hervorhebungen A.D.).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

219

dung, jenen bei Lowth angeführten kühnen Gleichnissen zuzuordnen, die zur Darstellung von Erhabenheit, insbesondere der Gottes, dienen. Sie bringen, ganz im Sinne der erläuterten Laokoon-Diskussion von Lessing und Mendelssohn, eine prinzipielle Unangemessenheit der Sprache dem Gegenstand gegenüber dadurch zur Darstellung, dass die semantische Schnittmenge der Bildkomplexe mit dem „Hauptbegriff “ sehr gering ausfällt („nicht immer anpassend“152) und die sprachlichen Bilder angeblich zur „Deutlichkeit nichts beytragen“. Nicht als ein möglicher Beitrag zur „Deutlichkeit“ des Gemeinten, sondern als undeutliches, aber sinnlich höchst affines Attraktionspotential für das Empfinden wird die weitaus gewagter gehandhabte Bildlichkeit in der Sprachphilosophie Johann Georg Hamanns angesehen. Sie verbindet die wichtigsten Aspekte von Faszinationserleben und kann als eine erste komplexere Konzeption und praktische Darstellung von Faszination in ästhetischer Hinsicht angesehen werden.

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination Ohne dafür den Begriffsnamen ‚Faszination‘ in Anspruch nehmen zu können umreißt Johann Georg Hamann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einer seiner philosophisch-theologischen Programmatik adäquaten unsystematisch-essayistischen, ironischen und andeutenden Darstellungsweise eine Konzeption von Faszination, die im Sinne des älteren Ästhetikverständnisses die sinnliche Erkenntnis als ganze betrifft.153 Er geht dabei allerdings in starkem Maße von einem sprachlichen Zeichenbegriff und von stiltheoretischen und literaturästhetischen Überlegungen aus. Im Unterschied zu Kant versteht Hamann das Ästhetische gerade nicht unter dem Vorzeichen eines zweckfreien Gebrauchs der sinnlichen Erkenntnisvermögen, sondern als sinnliche Verwirklichung einer zweckhaften Äußerungshandlung, die durch philosophische, wissenschaftliche oder künstlerische Wahrnehmung und Erkenntnis von Natur, von Geschichte oder von Kunstwerken verstanden, oder genauer: hermeneutisch erschlossen werden kann. Das Verstehen von natürlichen, historischen oder literarischen Phänomenen als sinnlich wahrnehmbare Zeichen verläuft weitgehend nach den gleichen Prinzipien eines von der konkreten Wahrnehmungssituation ausgehenden interpretierenden Erkennens. Aufgrund der sensualistischen Basis seines Denkens räumt der Aufklärer Hamann dem Bereich der menschlichen Sinnlichkeit, 152 Ebd. 153 Eine kürzere Fassung dieses Kapitels erschien als Degen, A.: Faszination und Sympathie. Zur Begründung einer Ästhetik der Faszination durch Johann Georg Hamann, in: Hillebrandt, C./Kampmann, E. (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014, S. 66 – 95.

220

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

angefangen bei dunklen Trieben und Körperfunktionen über Leidenschaft und Affekt bis hin zu Empfindung und Reiz, eine weitaus größere Bedeutung ein als etwa Mendelssohn, Lessing oder Kant. Infolge der zentralen Rolle des Sinnlichen für die Erkenntnis der Welt, die sich für Hamann nicht anders vollziehen kann als in einem Sprechen über die Welt, wird Faszination bei ihm erstmals nicht bloß als einer von mehreren Aspekten oder Momenten ästhetischer Wirkung diskutiert, sondern zum semiotisch-medial reflektierten Grundmodell maximaler Wirkung erhoben. Mit Hamanns Ästhetik der medialen Adressierung wird, ungeachtet ihrer theologischen Implikationen, Faszination erstmals und programmatisch ins Zentrum ästhetischer Erfahrung gerückt. Ausgangspunkt von Hamanns philosophisch-theologischer Sprach- und Dichtungstheorie ist die Annahme, dass alles Denken einer Sprache und jede Kommunikation eines Mediums bedarf. Ohne Versinnlichung, das heißt Darstellung, kann eine Idee weder bewusst werden noch kommuniziert werden. Allerdings ist mit der Versinnlichung eine mediale Transformation der Idee in eine ihr unähnliche, aber adressatenadäquate Gestalt verbunden, was Hamann theologisch als Herunterlassung qua Schöpfung, sprach- und medienphilosophisch als Verwandlung, Übersetzung oder Metaschematismus bezeichnet. Diesem produktionsästhetischen Konzept einer Anpassung der Idee an das Bedingungsgefüge eines darstellenden Mediums oder Zeichensystems entspricht rezeptionsästhetisch das Konzept der Faszination. Dessen Grundmerkmale sind Attraktivität infolge Bedürfnisadäquatheit zum Rezipienten, das heißt Adressierung seiner sinnlichen und geistigen Lustpotentiale, und Obscuritas des Gemeinten, das heißt notwendige Verstellung (sokratische Ironie) oder Entäußerung der Idee qua Darstellung in einem Medium, wobei dies die Erkenntnislust befeuert. Je elastischer die sinnliche Ent-Äußerung der Idee hinsichtlich ihrer ‚Anwendbarkeit‘ für die Bedürfnisse des Rezipienten ausfällt, desto passgenauer kann sie sinnlich wirken, desto ergänzungsbedürftiger und damit imaginativ-kognitiv stimulierender fällt der Prozess ihres Verstehens aus. Bedeutung stellt sich für Hamann immer situativ-konkret für einen phänomenal involvierten Rezipienten her: im textimmanenten und intertextuellen Zusammenwirken größerer Zeicheneinheiten (Wörter, Phrasen, sprachliche Bilder) und im semantischen Kohäsionseffekt aufgrund formaler Parallelen. 4.4.1  Kommunikationsmodell Faszination: Adressierung der Bedürfnisstruktur Hamanns Einwand gegen die sprachvergessene Vernunftgläubigkeit der zeitgenössischen Philosophie resultiert aus der Einsicht, dass „das ganze Vermögen zu

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

221

denken auf Sprache [beruht]“154. Da sich Wert und Glaubwürdigkeit von Wörtern und Wortverbindungen niemals ‚rein‘, sondern nur in Hinblick auf frühere Bedeutungen (Intertextualität) und aktuellen Sprachgebrauch bestimmen lassen, kann auch über Vernunft nicht abstrakt-allgemein, sondern nur konkret und partiell undeutlich gesprochen werden. Ähnlich wie bei Geld entspricht der ‚Nennwert‘ von Wörtern nicht ihrem aktuellen ‚Tauschwert‘. Hamann versteht die notwendige Untrennbarkeit von sinnen- und vernunftbezogenem Bereich in jeder Form von Sprache nicht als Defizit, sondern Vorzug. In der Materialität eines Zeichensystems, das heißt in der Sinnlichkeit der Signifikanten, entspricht Sprache den Bedingungen der menschlichen Sinneswahrnehmung. Sprache transportiert für Hamann keine vorgängige Bedeutung, sondern erlaubt, eine Bedeutung kontext- und situationsgebunden und zu den individuellen Bedingungen des Wahrnehmenden gewinnen zu können: Dafür verwendet Hamann auch den theologischen Begriff der Offenbarung.155 Die Einsicht, dass eine Idee semiotisch übersetzt werden muss, um gedacht und kommuniziert werden zu können, begründet die von Hamann spezifisch modellierte zeitgenössische Fundamentalanalogie von menschlicher und göttlicher Sprache:156 „Gott ein Schriftsteller! – – [...] Die Eingebung dieses Buchs [der Heiligen Schrift] ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes.“157 Gott hat sich somit dreifach in der Welt versinnlicht: in der Schöpfung, in Christus und in der Heiligen Schrift. Nur infolge solcher „Herunterlassung“ in ein Darstellungsmedium vermag die Intention des Schriftstellers (Gott) für die Rezipienten (Menschheit) fasslich und wirksam zu werden: ohne Übersetzung keine Anrede der menschlichen Sinne. So werden für Hamann, nach Maßgabe der typologischen Bildstruktur der Bibel, auch Natur und Geschichte als Zeichensysteme Gottes lesbar.158 „Jedes Phoenomenon des natürl. und bürgerl. Lebens, 154 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 286 („Metakritik über den Purismum der Vernunft“). 155 Vgl.: „Erfahrung und Offenbarung sind einerley“ (Hamann, J. G.: Briefwechsel. Bd. 1 – 3 hg. von W. Ziesemer und A. Henkel. Wiesbaden 1955 – 1957; Bd. 4 – 7, hg. von A. Henkel. Wiesbaden 1959, Frankfurt a. M. 1965 – 1979. Bd. 5, S. 265, Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 14. 11. 1784). 156 Anregung zu einer Analogisierung von Schöpfungs- und Sprachhandeln fand Hamann bei seinem Königsberger Lehrer Martin Knutzen (Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift. Königsberg 1747). Der Begriff der ‚Herunterlassung‘ Gottes in die Welt begegnet dort ebenso wie die daraus abgeleitete Ermunterung und Anreizung der Aufmerksamkeit, dem sich derart verhüllt offenbarenden Gott nachzuforschen. 157 Hamann, J. G.: Londoner Schriften, hg. von O. Bayer und B. Weissenborn. München 1993, S. 59 („Ueber die Auslegung der heil. Schrift“). 158 Ausgehend von der Bibel legt Hamann Geschichte typologisch aus, das heißt er „deutet ein im Wortsinn vorläufiges Ereignis auf ein kommendes, es erfüllendes Ereignis

222

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

jede Erscheinung der sichtbaren Welt ist nichts als eine Wand, hinter der Er steht, ein Fenster, wodurch Er sieht, ein Gitter, wodurch Er guckt“159 Hamanns Konzeption einer radikalen Adressierung allen Sprachhandelns wird darin deutlich, dass die Herunterlassung in ein (natürliches, historisches, künstlerisches) Medium für ihn nicht nur eine Selbstdarstellung des Übersinnlichen im Sinnlichen ist, sondern zugleich als Selbstentäußerung des Übersinnlichen aufgefasst wird. Um der Wirksamkeit seiner Mitteilung willen lässt Gott „sich zu der Blindheit Adams herunter“160. Als Autor begibt er sich, bis zur Unkenntlichkeit eines Triebwesens entstellt, auf das Niveau seiner Adressaten, um diesen für sich gewinnen, das heißt ihn faszinieren zu können. „Gott hat sich so viel möglich bequemt und zu der Menschen Neigung[en] v Begriffe, ja selbst Vorurtheile v Schwachheit[en] herunter gelassen“.161 Diese „Accommodation“162 der Idee an das Fassungsvermögen des Adressaten umschreibt Hamann als Übersetzung, Verwandlung, Verstellung, Maskierung oder Einkleidung. Dadurch wird die übermittelte Idee sinnlich und kognitiv attraktiv, zugleich verliert sie an Deutlichkeit. Aus diesem Doppeleffekt der Versinnlichung resultiert ihre Faszinationskraft. In dem Maße, in dem der Autor – das meint sokratische Ironie – sich in der Art und Weise seiner Darstellung die „Denkungsart“ seines Adressaten ‚anzieht‘, wird er für diesen unwiderstehlich ‚anziehend‘: „Göttlich ist es [...], die Schwachheiten der Schwachen anzuziehen und sich ihrer Denkungsart so wenig als ihres Fleisches und Blutes, zu seiner Tracht zu schämen“163. Damit ist das Faszinationskalkül verbunden, dass, indem der Autor den sinnlichen (Belebung) und geistigen (Erkenntnis) Bedürfnissen des Rezipienten entgegen kommt, er diesen motiviert, dem Autor und dessen Denkungsart auch unter Schwierigkeiten zu folgen oder zumindest nicht abzulassen, dies zu versuchen. Ästhetische Faszination beruht auf diesem Doppeleffekt der ‚Anziehung‘ und dessen dialektischem Kalkül. vor“ (Gründer, K.: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns „Biblische Betrachtungen“ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg [u. a.] 1958, S. 117). Der typologischen Geschichtsauslegung liegt ein Denken in semantischen Analogien zugrunde, entsprechend der biblischen Typologie, bei welcher sich die Ähnlichkeit im Verschiedenen aus dem heilsgeschichtlichen Bezug, deren strukturierendes Zentrum Christus ist (ebd., S. 138), ableitet. 159 Brief Hamanns an Johann Gotthelf Lindner vom 22. Juni 1759 (Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 352). 160 Hamann: Londoner Schriften, S. 77 („Biblische Betrachtung[en] eines Christen“). 161 Ebd., S. 68. 162 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 213 („Aesthetica in nuce“). Der Begriff ist in der zeitgenössischen Theologie für die Anpassung der Verkündigung an die Rezeptionsvoraussetzungen der Zuhörer gängig ( J. G. Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. von S.-A. Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 134). 163 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 145 („Klaggedicht“; Hervorhebung A.D.).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

223

Die Welt als sinnliche Darstellung einer Sprachhandlung Gottes (Gott sprach: Es werde Licht – und es ward) ist damit, wie Hamanns Aesthetica in nuce 1762 paradox formuliert, ein zweifacher „Beweiß“: Beweis nämlich „der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung“164. Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe! Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung! Ein Wunder von solcher unendlichen Ruhe, die GOTT dem Nichts gleich macht [...]; aber zugleich von solcher unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß! –165

In der Rede, im literarischen Werk wie in der Schöpfung beweist sich der Urheber zwar als souverän, zugleich wird aber das Resultat seines darstellenden Sprachhandelns der Idee ganz unähnlich: „Dialecte“. Deshalb ist jede Darstellung zugleich herrlich und leer, erfüllt von einer „unendlichen Ruhe“. Deshalb hat sich, mit seiner Selbst-Darstellung qua Schöpfung, „GOTT dem Nichts gleich“ gemacht und zugleich dieses – unvergleichbar mit der Idee – Nichts des sinnlich Präsenten mit einer „unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt“, ausgestattet: eben mit jener Faszinationskraft, die dazu verleitet, das mannigfaltige Nichts des Sinnlichen paradigmatisierend zu bedeutsamen Zeichen der Idee zusammenzuführen. In der Sprache kommen Materialität und Idee in eine Verbindung. Ihr geheimnisvoller semiotischer Doppelcharakter ist Grundlage von Erkenntnis und das Medium, in dem Geistiges erfahrbar, bewusst und kommunizierbar wird. 1759 schrieb Hamann an Gottlob Immanuel Lindner: Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte – wie die Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels biß zum andern sich erstreckt. [...] Zwischen einer Ideé unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. Was für ein unbegreiflich Land verknüpft gleichwohl diese so von einander entfernte Dinge? Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gemacht werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und Demuth – daß er die Tiefen seiner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt.166

Die „Ideé“ und ihre Artikulation in der Alltagssprache sind durch das „unbegreiflich Land“ der Übersetzung von Geist in Sinnlichkeit ähnlich mitei164 Ebd., S. 204 („Aesthetica in nuce“). 165 Ebd. 166 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 393 (Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. 8. 1759).

224

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

nander verbunden wie der (ewige) Himmel mit der (zeitlichen) Erde. Die poesis menschlichen Sprechens vollzieht diese Transformation als eine „Einkleidung“ der „Gedanken“ in „willkürliche[] Zeichen“, die poesis göttlichen Sprechens als ein ‚Einhauchen‘ der „Geheimniße“ und der „Weisheit“ Gottes in die Beschränktheit „[m]enschliche[r] Begriffe“. Hamann bezeichnet den Transformationsprozess des Sinnlichwerdens der Idee auch als Metaschematismus (Verwandlung, Umwandlung).167 Hinsichtlich seiner Gewaltfunktion der taktischen Anpassung an den Adressaten, um dessen Abwehr zu brechen und ihn motivational auf das eigene Prinzip auszurichten, ist die Redefigur des Metaschematismus mit der sokratischen Ironie vergleichbar: Beide beruhen auf einer taktischen Verstellung; der Metaschematiker verführt wie der Denkstil-Erotiker Sokrates dadurch, dass er sich seinem Adressaten akkommodiert.168 In einer das Theorem des Metaschematisierens drastisch exemplifizierenden Bildlichkeit veranschaulicht Hamann in Leser und Kunstrichter den schöpferischen Akt der sprachlichen Versinnlichung der Idee in der idiomatischen Wendung ‚Kälber machen‘. Dabei ist die Autorhandlung ganz auf die „Idee des Lesers“, also auf die Adressierung, ausgerichtet: Ist der Autor mit der Schöpfung seiner Muse oder Gehülfin, welche die Idee des Lesers ist, fertig, die er aus Himmel und Erde zusammensetzt [...]: so machen sie Kälber, und bitten die Kunstrichter von allen vier Winden zu Gaste [...].169

In der Wendung ‚Kälber machen‘ verbinden sich die Vorstellungen von Literatur als einerseits Zeugung und andererseits Erbrechen von früher Gelesenem.170 Die erste Bedeutung akzentuiert das Originär-Schöpferische, die 167 Zum Begriff im Allgemeinen wie speziell bei Hamann vgl. Büchsel, E.: Metaschematismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 5. Basel, Stuttgart 1980, Sp. 1299 – 1300. Hamann verwendet den Begriff im Anschluss an Paulus, um „dem Gegner unerwartet zur eigenen Verteidigung durch gleichzeitiges Entwenden seiner Waffen in dessen Rüstung zu erscheinen und nun die Nachfolge der eigenen Haltung zu fordern“ (Ernst, P.: Hamann und Bengel. Ein Aufriß ihrer Werk- und Lebensbeziehungen als Abriß wesentlicher Hamann-Züge. Gumbinnen 1935, S. 85). – Der Begriff ist eine Generalisierung des u. a. auch bei Kant für die Vermittlung von Idee und Anschauung im 18. Jahrhundert üblichen Begriffs des Schematisierens; vgl. hierzu Kapitel 2.2. 168 Vgl. „Wo der Schulweise Schlüsse spinnt, und der Hofsirach Einfälle näht, ist die Schreibart des Liebhabers Leidenschaft und Wendung. Unter allen seinen Redefiguren bedient er sich am glücklichsten, so viel ich weiß, derjenigen, welche in den vertraulichen Briefen eines Originalautors Metaschematismus genannt wird.“ (Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 150, „Kreuzzüge des Philologen. Nachschrift“). Mit dem Originalautor ist Paulus gemeint, der in 1. Kor. 4,6 das Wort ‚metaschematisieren‘ in seiner griechischen Form verwendet. 169 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 349. 170 Zu ‚Kälber machen‘ als Ausdruck für ‚sich übergeben‘ vgl.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. 2, hg. von J. Ch. Adelung, D. W. Sol-

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

225

zweite Bedeutung das – für Hamanns Sprachphilosophie ebenso wichtige – Reformulierende (als Zitat oder Nachahmung) jeder Schreib- und Lektürehandlung. Die entscheidende Pointe, die Hamann der Fundamentalanalogie von Schöpfung und menschlicher Sprache gibt, ist dieser Überwältigungs- und Fesselungseffekt der Faszination. Durch die Akkommodation der Idee an die Bedürfnisstruktur des Adressaten wird diese nicht nur verwirklicht, sondern wirksam: „Glücklich ist der Autor, welcher sagen darf: Wenn ich schwach bin, so bin ich stark!“171 Dies lässt sich sokratisch, christologisch und medienästhetisch interpretieren. Die Klarheit der Idee muss aufgegeben werden, um eine lustökonomisch effektive Bindung des Adressaten zu ermöglichen: Sprachliche obscuritas kann zum sinnlichen und kognitiven Attraktionspotential werden. Die Attraktivität der „Einkleidung“ ermöglicht das zeitlich gedehnte Offenbarwerden der Idee. Die – nach der Schöpfung zweite – Versinnlichung Gottes in Christus wird von Hamann 1759 in einem anderen Brief an Lindner als Exempel kalkulierter Faszinationsstimulierung beschrieben: Freylich schuf er uns nach Seinem Bilde – weil wir dies verloren, nahm er unser eigen Bild an – Fleisch und Blut, wie die Kinder haben, lernte weinen – lallen – reden – dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern.172

Faszination wirkt als Akkommodation durch die sinnliche Nachahmung des Adressaten („Idee des Lesers“173), um diesen „aufzumuntern“, den Urheber geistig nachzuahmen. Die „Entäußerung“ der Idee durch „Einkleidung“ in ein Zeichensystem verwandelt die Idee in ein attraktives „Geheimniß[]“, das den derart Angesprochenen zu einem hermeneutischen Wortwechsel mit dem Autor „aufzumuntern“ vermag: „Schriftsteller und Leser sind zwo Hälften, deren Bedürfnisse sich aufeinander beziehen, und ein gemeinschaftliches Ziel ihrer Vereinigung haben [...].“174 Dass es Hamann mit dem Theorem der produktionsästhetischen „Herunterlassung“ in das „unbegreiflich Land“175 sinnlicher Attraktivität um ein allgemeines Erklärungsmodell von Wirkung geht, zeigen seine Faszinationsallegorien aus der griechischen Mythologie. Die Eros-Struktur der Faszination, die der sich wechselseitig nachahmenden communicatio tau und F. X. Schönberger. Wien 1811, Sp. 1466f. 171 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 117 („Kreuzzüge des Philologen. Dem Leser unter der Rose!“). 172 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 394 (Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. 8. 1759; erste und letzte Hervorhebung A.D., die anderen im Original). 173 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 348 („Leser und Kunstrichter“). 174 Ebd., S. 347. 175 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 393 (Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. 8. 1759).

226

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

von Autor und Leser, Gott und Mensch zugrunde liegt, tritt mit den Wörtern ‚Gunstbezeigung‘ und ‚Buhlerin‘ im Brief an Lindner deutlich hervor: Auch die Heyden hatten ein Wörtchen von diesen Geheimnißen, in ihre Mythologie einzuflechten, vernommen. Jupiter verwandelte sich um die Gunstbezeigungen seiner rechtmäßigen Gemalinn zu genüßen, in einen elenden, von Regen träufenden, zitternden und halbtodten Guckuck [...] Als ein schöner Stier, als ein Adler, Schwan und güldener Regen theilte sich Jupiter seinen Bulerinnen mit.176

Das „Wörtchen von diesen Geheimnißen“ heißt Faszination. Stier, Adler, Schwan, Goldregen sowie die Gestalt eines Kuckucks sind Transformationen Jupiters in bedürfnisadäquate Sinnlichkeit, um sich der oder dem Geliebten in einer jeweils wirksamen und attraktiven Gestalt „mittheilen“ und sie oder ihn dadurch an sich binden zu können. Um derart gerade in seiner Originalität wirken zu können, muss der Genie-Autor (der Antike darin schwesterlich verwandt und von ihrer bildreichen Sinnlichkeit befruchtet) um sein selbstverliebtes Publikum werben. Nur durch sein liebendes Entgegenkommen wird der Autor, wie es in Leser und Kunstrichter heißt, zu einem „Magus“, der das Publikum zu einer Nachahmung des Neuen und Herausfordernden zu faszinieren vermag: Wenn das Publicum ein Pfau ist; so muß sich ein Schriftsteller, der gefallen und die letzte Gunst erobern will, in die Füße und in die Stimme des Publici verlieben. Ist er ein Magus, und nennt die Antike seine Schwester und seine Braut, so verwandelt er sich in die lächerliche Gestalt eines Kuckucks, die der grosse ZEUS annimmt, wenn er Autor werden will.177

Die zu einer Nachahmung, die alle Begriffe des Publikums übersteigt, ‚aufmunternde‘ Faszination lässt sich als ästhetisches Pendant zum maieutischen Dialogverfahren des Sokrates auffassen.178 So wählt Hamann gegenüber seinen unaufgeklärten aufgeklärten Freunden Johann Christoph Berens und Im176 Ebd., S. 394. 177 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 348 („Leser und Kunstrichter“). 178 Maieutik ist „die Kunst, dem Gesprächspartner durch Fragen und Antwort zu helfen, latentes, unbewußtes Wissen von innen herauszuholen und zur Sprache zu bringen.“ (Renaud, F.: Maieutik, Begriff, Darstellung, Wirkungsgeschichte, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 5. Darmstadt 2001, Sp. 727 – 733, hier Sp. 727). Hamann unternimmt den Versuch einer radikalen Neubegründung dieses Verfahrens aus dem Geist der Typologie: „Um die Leser zu geistiger Selbsttätigkeit zu zwingen, entwickelt er mit den Mitteln von Ironie und Analogiebildung einen Stil äußerster Verkürzung, der seinen Gehalt erst in der Entschlüsselungsarbeit des Lesers offenbart“ (Hagemann, T.: Maieutik, christliche, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 5. Darmstadt 2001, Sp. 733 – 736, hier Sp. 734).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

227

manuel Kant die Maske eines sokratischen Darstellungsverfahrens, um sie zur Einsicht ihrer Irrtümer zu bewegen: Er [Sokrates] ließ denen, die er wieder legen wollte, soviel Vortheil über sich gewinnen, als sie wollten, um sie mit desto mehr Ansehen zu überführen, je weniger er sich desselben zu bedienen schien. Er erwarb sich eine unumschränkte Gewalt über ihre Urtheile durch die Herunterlassung, die er gegen sie bewies: dadurch, daß er seine Meynung an sich hielt, nöthigte er andere, sie anzunehmen.179

Die sokratische Ironie versteht Hamann als eine „Herunterlassung“, durch die er seine Gesprächspartner zur Revision ihres Standpunktes „nöthigte“. Sein Schweigen, verstanden als ein An-Sich-Halten positiven Wissens im Stellen von Fragen, verleiht ihm „unumschränkte Gewalt“ über das Publikum. Diesen Effekt versucht Hamann stilistisch durch Verknappung, übertragene Redeweise und Zitatmontage nachzugestalten. Die maieutische Faszinationsstrategie entspricht in der Aesthetica in nuce Hamanns Deutung der Selbst-Darstellung Gottes in Sinnlichkeit (Welt) als Ausdrucksrede von überwältigender „Zuthätigkeit“, das heißt faszinierender Adressierung: Die verborgene Totalität des Autors in der unfassbaren Partikularität der Elemente seines Werks (Erscheinungen und Ereignisse der Welt) wirke als „Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß! –“180 Der Autor Gott fasziniert nicht durch die lexikalische Bedeutung seiner Worte bzw. Handlungen, sondern durch die Konnotationen, die diese im Kontext und in der konkreten Situation für den Angesprochenen annehmen. Seine schweigende, das heißt dunkel-andeutende Anrede qua Natur, Geschichte und Heiliger Schrift ist eine sinnliche, bildhaft-analogische, metaschematisierende ‚Aufmunterung‘; eine ‚Aufmunterung‘ dazu, dem schweigenden, genauer: dem implizit sprechenden Autor durch die Deutung seiner sinnlichen Sprache nachzuforschen. Hamann kann deshalb mit der ironischen Bescheidenheitsgeste eines Faszinationsästhetikers sagen: „eine stumme Mimik war das ganze Spiel meiner Autorschaft.“181 4.4.2  Stilmodell Faszination: Lakonismus, Bildlichkeit, Montage Die Arbitrarität von Sprachzeichen ist für Hamann nicht strittig, aber sekundär, da rein abstrakt. Im situativen Verstehen wird das Thetische (‚Nennwert‘) des 179 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 50 (René de Rapins „Betrachtungen über die Philosophie“ in der Übersetzung Hamanns; Hervorhebungen A.D.). 180 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 204 („Aesthetica in nuce“). 181 Hamann: Briefwechsel, Bd. 7, S. 9 (Brief an Franz Kaspar Bucholtz vom 6. 9. 1786, Hervorhebung im Original).

228

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Gedruckten überlagert von der Bedeutsamkeit der Wörter (‚Tauschwert‘), die aus ihrer Anordnung (Stil) und aus den Kenntnissen, Erfahrungen und Erwartungen des jeweiligen Lesers resultiert: „Mein Gedrucktes besteht aus bloßem Text, zu deßen Verstande die Noten fehlen, welche aus zufälligen auditis, visis et lectis et oblitis bestehen, und eine stumme Mimik war das ganze Spiel meiner Autorschaft.“182 Ein Text bleibt abstrakt, solange er nicht im Licht individueller Lektüre nach Ort, Zeit und Erfahrung konkretisiert wird. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten vergleicht Hamann die ‚Einfärbung‘ einer Äußerung bzw. der Wahrheit durch den jeweiligen konkreten Hörer mit Licht, das durch die jeweilige reflektierende Oberfläche eingefärbt, aber auch sichtbar wird: Ueberdem leidet jeder Satz, wenn er auch aus einem Munde und Herzen quillt, unendlich viel Nebenbegriffe, welche ihm die geben, so ihn annehmen, auf eben die Art als die Lichtstrahlen diese oder jene Farbe werden nach der Fläche, von der sie in unser Auge zurück fallen. 183

In Abhängigkeit davon, wie elastisch das Affinitätspotential des Darstellungsverfahrens hinsichtlich einer solchen Bedeutsamkeitserfahrung angelegt ist, kann die Darstellung der Idee zu einer persönlichen „Anwendung“184 der Stil­ figuren durch einen Leser, der sie „im analysiren auf sich deuten will“, motivieren. ‚Anwendung‘ ist das rezeptionsästhetische Pendant zu ‚Herunterlassung‘. Ausschlaggebend ist dabei die Faszinationskraft der sinnlichen Attraktion und kognitiven Herausforderung. Diese hält den Leser beständig oder immer wieder neu dazu an, sich einer individuellen, situativ evidenten Auflösung (Offenbarung) der (bis zum Extremfall des Schweigens) undeutlichen Aussage auszusetzen: „Mit dieser Anwendung auf sich selbst, wird jede Neugierde zur Weisheit“185. Eine deutliche Abgrenzung des Lesens als Faszination gegenüber einem Lesen als studium zeigt Hamanns Umkehrung einer Maxime des Theologen und Philologen Johann Albrecht Bengel für das Lesen der Bibel. Für Bengel geht der Impuls zu einer vertiefenden Beschäftigung mit dem Text vom Bemühen des Lesers aus, für Hamann hingegen vom Text und von dessen spontaner Affinität zur Bedürfnisstruktur des Lesers. Nach Hamann fasziniert diese Attraktivität des Textes den Leser derart, dass dieser sich mehr und mehr in das Bedeutungspotential des Textes vertieft: „Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem Buch von ihm geschrieben stehet, desto mehr wächst der Ey-

182 Ebd. (Hervorhebung im Original). 183 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 72 („Sokratische Denkwürdigkeiten“). 184 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 396 (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 18. 8. 1759). 185 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 270 (Beitrag zur „Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitung“ vom 10. 2. 1764).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

229

fer zum Buchstaben des Wortes.“186 Die Intensität der ästhetischen Erfahrung ist abhängig vom Darstellungsverfahren: Semantische Offenheit, etwa durch bildhafte oder verknappende Sprache, begünstigt sie. An anderer Stelle unterscheidet Hamann in ähnlicher Hinsicht zwischen der eigentlichen und isolierten „Bezeichnung“ einer (sprachlichen) Handlung und ihren möglichen individuellen „Bedeutungen“ als kontextuell eingebundenes und situativ erfahrenes Phänomen. Die Bedeutungsbildung einer (sprachlichen) Handlung unabhängig von ihrer eigentlichen (lexikalischen) „Bezeichnung“ ist nicht manifest. Sie verläuft, wie etwa im Fall des typologischen Verständnisses der Bibel oder, davon ausgehend, der Geschichte, als Prozess einer Paradigmenbildung. Dabei werden Phänomene, Wörter oder Handlungen, die in bestimmter Hinsicht als ähnlich angesehen werden, nach Maßgabe eines Totalitätskonzeptes (etwa das Werk oder der Heils-„Plan“ Gottes) zusammengeordnet. Zu ihrer Eigenbedeutung (Bezeichnung) tritt dadurch, wie Hamann in Ein fliegender Brief ausführt, eine aus ihrer Stellung (innerhalb des Ganzen) resultierende Bedeutung: Jede [auch sprachliche] Handlung ist ausser ihrer ursprünglichen, natürlichen, materiellen und mechanischen Bezeichnung noch mancherley figürlicher, förmlicher, tropischer und typischer Bedeutungen fähig, welche zwar eben so wenig, als die Absichten und Gesinnungen des Handelnden, begucket und betastet werden können, aber, wie alle intellectuelle und moralische Eindrücke, ohne sinnlichen Ausdruck, keiner Mittheilung noch Fortpflanzung empfänglich sind.187

Die abstrakte und isolierte „Bezeichnung“ (Singular) einer (sprachlichen) Handlung ist nicht mit ihren aus dem Zusammenhang wahrnehmbaren, insofern angewandten „Bedeutungen“ (Plural) identisch. Diese ergeben sich erst aus der je individuellen Erfahrung einer Handlung in ihrer latenten Stellung innerhalb der Totalität (der Welt, der Geschichte, des Werkes), die auf Ähnlichkeit mit anderen Handlungen beruht; diese Ähnlichkeitsmerkmale können figürlicher, formaler, tropischer oder typischer Art sein. Die eine gewisse Mehrdeutigkeit generierende „Fähig[keit]“ einer (sprachlichen) Handlung zu solchen konkreten und angewandten Bedeutungen neben der abstrakten „Bezeichnung“, die nicht manifest („beguckt und betastet“) sind, ist davon abhängig, wie „empfänglich“ der Rezipient für eine individuelle „Fortpflanzung“ 186 „Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te [Wendest du dich ganz dem Text zu, wendet sich die Sache ganz an dich; A.D.]. Es ist ein hýsteron próteron [Figur der verkehrten Reihenfolge] in dieser Sentenz. Das erste muß das letzte. Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem Buch von ihm geschrieben stehet; desto mehr wächst der Eyfer zum Buchstaben des Wortes.“ (Hamann: Briefwechsel, Bd. 2, S. 9, Brief an den Bruder vom 12. 2. 1760). 187 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 366 („Ein fliegender Brief “. Erste Fassung; Hervorhebungen A.D.).

230

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

des „sinnlichen Ausdruck[s]“, das heißt für das Erspüren von Ähnlichkeitsrelationen, ist. Diese für Hamanns Geschichts- und Sprachverständnis entscheidenden, latent semantisierenden Relationen durch die Anordnung (den Stil) sind „mehr subjective als objective Verhältnisse“. Dennoch werden sie nicht willkürlich, sondern gemäß ihres Erfahrenwerdens und ihrer „Anwendung“ durch das Subjekt angesetzt. „Überhaupt“, heißt es in Hamanns zehnter Anmerkung zur deutschen Übersetzung der Abhandlung Über den Styl (1753) des Comte de Buffon, sind alle Phänomene des Styls mehr subjective als objective Verhältnisse, welche sich ohne die Öconomie des Plans eben so wenig als Farbe ohne Licht schätzen lassen; denn das künstlichste und nüchternste Gefühl eines Blindgebornen bleibt bey einer differentia specifica der Oberfläche stehen […]. Das Licht der Wahrheit liegt also im anschauenden Auge, und die Offenbarung der Gegenstände geschieht durch einen unmittelbaren Actum gesunder Empfänglichkeit, die nach ähnlichen Gesetzen den Plan der Mittheilung außer sich vollzieht.188

Die „Offenbarung“ der Idee hängt von einem „unmittelbaren Actum gesunder Empfänglichkeit“ des Lesers für die „Phänomene des Styls“ ab. Diese Empfänglichkeit ist aktives Handeln, nämlich eine coniectura der Stilelemente aufgrund von wahrgenommenen Ähnlichkeiten.189 Dabei „vollzieht“ der Leser durch seine Sinne (das heißt „außer sich“) den impliziten „Plan“190 der Mitteilung. Das heißt, die Bedeutung der einzelnen Stilphänomene konfiguriert sich erst in der phänomenalen Anordnung ihres Wahrgenommenwerdens durch ein konkretes Subjekt. Die „Öconomie des Plans“ meint die Um-Deutung der einzelnen Elemente durch die Totalität ihrer Anordnung: „Sie wißen“, schreibt Hamann an Herder, „daß diese unbekante Figur [des Metaschematisierens] eine meiner Lieblings Vortheile im Schreiben ist, besonders in demjenigen Stück, was ich Oeconomie des Plans nenne und in der Poesie die Fabel heist“191. Sie verdankt sich der Prägnanz (imaginativ-kognitiven Fruchtbarkeit) möglicher Kohäsion und Zusammenordnung (Stil) im ästhetischen Erleben. Durch Stil erhalten Wörter und Sätze (und Handlungen) in Hin188 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 423 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“). 189 „Das, oberflächlich gesehen, unbedeutende gedanklich-sprachliche signum ist für den aufmerksamen Hörer der untrügliche Ausdruck eines umfassenderen, durch coniectura zu erschließenden Sachverhalts.“ (Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 451). 190 Unter ‚Plan‘ lässt sich hier die „nach einer bestimmten Absicht gemachte Vertheilung der Haupttheile eines Ganzen“ verstehen (Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 778). 191 Hamann: Briefwechsel, Bd. 3, S. 215 (Brief an Johann Gottfried Herder vom 28. 1. 1776; Hervorhebung im Original).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

231

blick auf den „Plan“ andere „Bedeutungen“ als ihre ursprüngliche oder mechanische „Bezeichnung“ angibt. Was Hamann hier beschreibt, ist ein rezeptionsästhetisch verankertes hermeneutisches Verfahren auf der Grundlage der subjektiv wahrgenommenen Sinnlichkeit des Stils. Der „Plan der Mitteilung“ realisiert sich immer nur in einer konkreten Sprachhandlung als ästhetische Erfahrung des (bei Hamann durchaus persönlich und historisch konkret gedachten) Subjektes. Die von Erscheinungsqualität und Kontextualität und nicht vom lexikalischen Wortver­stand ausgehende Poetik der Faszination bleibt nicht wie das „Gefühl eines Blindgebornen [...] bey einer differentia specifica der Oberfläche“ stehen, sondern empfindet und entdeckt im persönlichsten Einsatz latente Ähnlichkeiten als Tiefenstruktur des Stils.192 Dieser Mehraufwand des Anders-Verstehens durch Anordnung muss durch jene Lust balanciert werden, die aus der adressierten Versinnlichung resultiert. Durch die Bedienung seiner Bedürfnisstruktur wird das „anschauende[] Auge“ des Lesers fasziniert, aus der beschränkten Position seines Formempfindens („alle Phänomenen des Styls“) heraus hinsichtlich des Textes ein spezifisches „Licht der Wahrheit“ auszuprägen. Er konkretisiert so den immer nur potentiell gegebenen „Plan der Mitteilung“ als eine individuell bedeutsame Erfahrung von Wahrheit. Die coniectura der „Phänomene des Styls“ hinsichtlich potentieller „figürlicher, förmlicher, tropischer und typischer Bedeutungen“ privilegiert den sinnlich-ästhetischen Erscheinungscharakter der Zeichen in ihrer Anordnung gegenüber der isolierten lexikalischen Bedeutung. Deshalb muss sich – übertragen auf den ‚Stil‘ Gottes – der über das Ausbleiben verlässlicher Zeichen göttlicher Nähe verzweifelnde Physiognomiker Lavater in Zürich von dem befreundeten Hamann über den „Geschmack an Zeichen“193 aufklären lassen. Der Lutheraner empfiehlt dem Reformierten eine Diät der Sinnlichkeit, nämlich „mehr Umgang mit Fressern und Weinsäufern“194: Ihnen von Grund meiner Seele zu sagen, ist mein ganzes Christenthum [...] ein Geschmack an Zeichen, und an den Elementen des Wassers, des Brods, des Weins. Hier ist Fülle für Hunger und Durst – eine Fülle, die nicht bloß, wie das Gesetz [des alten Bundes], einen Schatten der zukünftigen Güter hat, sondern das Abbild [eikón] der Güter selbst, in so fern selbige, durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt, gegenwärtig und anschaulich gemacht werden können; denn das téleion

192 Was Hamann hier meint, bringt eine Bemerkung Lichtenbergs auf den Punkt: „Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge. Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat, der sieht [alles] in allem.“ (Lichtenberg, G. F.: Schriften und Briefe. Bd. 1. Sudelbücher. München [u. a.] 1968, S. 512). 193 Hamann: Briefwechsel, Bd. 4, S. 6 (Brief an Johann Caspar Lavater vom 18. 1. 1778; Hervorhebung A.D.). 194 Ebd.

232

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

liegt jenseits. Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stückund Flickwerk [...].195

Die (aus christlicher Sicht) heilsgeschichtliche Differenz zwischen Judentum (unter dem Gesetz) und Christentum (in der Gnade durch die Menschwerdung) wird von Hamann semiotisch gedeutet: als Differenz zwischen einem Verständnis der Sinnenwelt als eines bloßen „Schatten“ der künftigen Güter und ihrem Verständnis als eines vorgreifenden „Abbildes“ der künftigen Güter: das Zeichen als Schatten oder aber als Abbild des Gemeinten. Damit korreliert der Gegensatz zwischen einer Abwesenheit („zukünftig[]“) oder Präsenz („gegenwärtig“) des Signifikats im Signifikanten.196 Hamanns physiologische Metaphorik „Geschmack an Zeichen“ gibt an, dass das existentielle Verlangen des Menschen („Hunger und Durst“) nach „Gewißheit oder Autopsie“197 (das heißt nach der „Fülle“ der Güter) hinsichtlich der Präsenz Gottes (das téleion198 der Wahrheit) sich im Wissen um den Heils-Plan Gottes ästhetisch antizipierend erfüllt. Anders gesagt: Lavater wird die Andeutungen Gottes in der Anordnung der Sinnenwelt entdecken, sobald er sich gestattet, sinnlich zu sein; denn dies ist die Faszinationssprache Gottes. Im Wissen um die Herunterlassungen sind alle sinnlichen Phänomene erfahrbare und insofern „gegenwärtig[e]“ Darstellungen Gottes. Der Schlüssel für ihre konnotative Bedeutung ist der in Christus bestätigte Heils-„Plan der Mittheilung“. Der Faszinationscharakter dieser verdunkelnden Selbstdarstellung des ‚Autors‘ wird in der paradoxen Verbindung von „Spiegel“ und „Rätsel“ bezeichnet: Die Abspiegelung des Autors im Medium (Welt) garantiert seine unmittelbare, aber rätselhafte Erfahrbarkeit. Im Unterschied zum deutlich-fasslichen, aber nicht durch die sinnlich-konkrete Erfahrung semantisierten (und insofern 195 Ebd. (kursive Hervorhebungen im Original, gesperrte Hervorhebung A.D.: im Original auf Griechisch, nach Hebr 10,1). Im Grundverständnis der Passage folge ich Bayer, O.: „Geschmack an Zeichen“. Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 53 (2011) H. 1, S. 1 – 15. 196 Hamann unterscheidet richtigen und falschen Glauben wiederholt anhand des jeweiligen Umgangs mit Zeichen. Im fünften seiner „Hierophantischen Briefe“ referiert er Lavaters „Physiognomische Versuche zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“, wo „Abgötterey“ als ein Genuss an „Worten ohne Sinn“, an „Äußerlichkeiten ohne Kraft“, an „Körpern ohne Geist“ und an „Gestalt und Form ohne beseelendes Wesen“ bestimmt werde, sowie umgekehrt „Schwärmerey“ als „Geistigkeit ohne Körper“ (Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 158). 197 Hamann: Briefwechsel, Bd. 4, S. 5 (Brief an Johann Caspar Lavater vom 18. 1. 1778). 198 Im außerbiblischen Sprachgebrauch bedeutet ‚téleios‘ zunächst ‚vollständig‘ und ‚vollendet‘, ebenso ‚verwirklicht‘. Im Neuen Testament bezeichnet es in diesem Sinne auch die ‚Ganzheit‘, das ‚Vollständigsein‘ (Delling, G.: téleios, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hg. von G. Friedrich. Bd. 8. Stuttgart [u. a.] 1969, S. 68 – 79).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

233

fernen) Zeichen als „Schatten“ (vgl. Kants Symbolbegriff ) sind beim Zeichen als „Abbild“ Signifikant und Signifikat nicht zu trennen (vgl. Goethes Symbolbegriff ):199 Das Zeichen, von dem Hamann hier spricht, ist „kein Symbol, das die Sache repräsentierte und damit von ihr immer noch in einer bestimmten Weise unterschieden wäre, sondern das, was sie differenzlos präsentiert.“200 Diese sinnliche Präsenz des téleion (dies gilt für jedes Sprachhandeln) ist im Zeichen als Abbild nur um den Preis des Undeutlichen zu haben; – während, so Hamann, der Deutlichkeit des (jüdischen) Gesetzes die konkrete Erfahrbarkeit fehlt. Das Ganze und Vollständige der Idee (téleion) „durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt“, meint: die notwendige Dunkelheit einer medialisierten Idee. Diese ist in der Darstellung nicht manifest, sondern kann nur in der Anwendung der Zeichen in ihrer sinnlichen Erfahrung durch das Subjekt gewonnen werden. Eine Darstellungsweise, die um den Preis der Latenz einer solchen Anwendung entgegen­kommt, kann Faszinationsstil genannt werden. Die Gegenüberstellung von Zeichen als (deutlichem) „Schatten“ oder (dunklem) „Spiegel“ richtet sich im zeitgenössischen Diskurszusammenhang weniger gegen das Judentum als gegen das Sprachverständnis und die Darstellungspraxis der Anhänger der rationalistischen Aufklärung. Der „wässerichen Deutlichkeit“201 und „klaren Durchsichtigkeit“ einer systematischen, erschöpfenden und deutlichen Schreibweise, durch die das „ganze Verdienst des Styls [...] vereitelt“ wird, fehlt das Attraktionspotential der (Zusammenordnung und die Applizierbarkeit ermöglichenden) semantischen Offenheit. Damit sinkt die Motivation für ein kognitiv-imaginatives Deutungshandeln. Die Sprache des Rationalismus stimmt in ihrer Deutlichkeit mit dem Gesetzesglauben des Judentums überein und steht dem Faszinationsstil entgegen. Ein Leser mit „Geschmack an Zeichen“202 folgt keinem Regelwerk, sondern investiert in nichts als „Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk“. Der Systemstil ist gegenüber dem Faszinationsstil wirkungsästhetisch defizitär, da er zu keiner eigenständigen Aktivität und Ausprägung von Gedanken stimuliert.203 Ihm fehlen Imaginationssog und Verstehenseros des Fragmentarischen und Bildhaften. Hamann vergleicht gegenüber Kant (seinen) Faszinationsstil und (dessen) Systemstil mit der Bewegungsform von Heuschrecke und Blindschleiche: 199 Zu Kants Begriff des Symbols vgl. Kapitel 2.2, zu Goethes Begriff des Symbols Kapitel 2.4. 200 Bayer: „Geschmack an Zeichen“, S. 11. 201 Hamann: Werke, Bd. 4, S. 410 („Fragment eines Programm’s“). 202 Hamann: Briefwechsel, Bd. 4, S. 6 (Brief an Johann Caspar Lavater vom 18. 1. 1778). 203 „Gedult Ideen zu entwickeln muß man Leser lehren und kann bey Schriftstellern von Selbstprüfung zum voraus setzen. Spinnen und ihrem Bewunderer Spinoza ist die geometrische Bauart natürlich? Können wir alle Systematiker seyn? Und wo blieben die Seidenwürmer [...]?“ (Hamann: Briefwechsel, Bd. 2, S. 203f. (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 29. 3. 1763).

234

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Jedes Thier hat im denken und schreiben seinen Gang. Der eine geht in Sätzen und Bogen wie eine Heuschrecke; der andere in einer zusammenhängenden Verbindung wie eine Blindschleiche im Fahrgleise, der Sicherheit wegen, die sein Bau nöthig haben soll. Der eine gerade, der andere krumm.204

In Absetzung zu einem bloßen Nachvollziehen des Geschriebenen versteht Hamann Lesen als deutendes Eingreifen in den Text infolge einer Verblüffung; er rechnet mit „Lesern, die nicht nur dasjenige einsehen, worüber man schreibt, sondern auch was man zu verstehen geben will“205. Die Faszination durch Adressierung und Anders-Verstehen bewirkt eine Aktivierung der Imaginations- und Kombinationstätigkeit und ermöglicht so eine nicht fixierbare, sondern rezeptionsseitig hergestellte, insofern im ästhetischen Erleben präsente Wahrheit. Faszination bedeutet für Hamann die Fokussierung eines Objekts im Prozess der semantischen Erschließung durch die aktive Herstellung von Ähnlichkeitsrelationen. Die „Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel“206, sie „ist eine Aequation einer unbekannten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß“. Analog zu der durch den faszinierten ‚Leser‘ im Erfahrungsprozess der Lektüre nachzuahmenden Selbstdarstellung Gottes in der Natur heißt es in Hamanns Aesthetica in nuce: wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserem Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil.207

Die „Turbatverse“ (vermengte Elemente metrisch geregelter Dichtung) und „disiecti membra poetae“ (die zerstückten Glieder des Dichters, das heißt dessen dunkle Rede) und damit die Verborgenheit des Autors (Gottes) in seiner Darstellung sprachlich „nachzuahmen“ heißt gerade nicht, dass der Poet deutlich wird – diesem seinen Gegen­stand verfehlenden Trugschluss unterliege der Systemstil der Aufklärungsphilosophie. Hamann, der durchaus am Begriff der Wahrheit festhält, sucht den epistemologischen Ausweg nicht gegen die Undeutlichkeit, sondern in der Undeutlichkeit der Sprache. Der Poet versucht in seiner Nachahmung vielmehr, das Vermögen des Menschen zur eigenständigen, erhellenden Verknüpfung des Disparaten durch ein bestimmtes stilistisches Kalkül zu erhöhen: „Gedult Ideen zu entwickeln muß man Leser lehren“208, 204 Ebd., Bd. 1, S. 379 (Brief an Immanuel Kant vom 27. 7. 1759). 205 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 133 („Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache“). 206 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 450 (Brief an Immanuel Kant aus dem Jahr 1759). 207 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 198f. („Aesthetica in nuce“). 208 Hamann: Briefwechsel, Bd. 2, S. 203 (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 29. 3. 1763).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

235

so dass sie auch „dasjenige einsehen, [...] was man zu verstehen geben will“209. Die Nachahmung der Verworrenheit der Natur in der Poesie darf deshalb selbst nicht bedeutungssetzend sein, sondern muss vielmehr erfahrbar machen, wie disparate Elemente durch den Leser „in Geschick zu bringen“ sind.210 Der ‚kühne‘ Poet schreibt so, dass der Leser zu poetisieren veranlasst wird: „Du bist selbst der Mann der Fabel“211. Nicht trotz, sondern wegen seines Fragmentund Rätselcharakters ist ein solcher andeutender Stil adressatenadäquat; – weil menschliche „Sinne und Leidenschaften [nichts als Bilder] reden und verstehen. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“212 Je sinnlicher, bildhafter, individueller und fragmentarischer der Stil, desto universaler, nachdrücklicher und faszinierender wirkt er. Dieses Programm einer Poetik der Faszination und deren Stilmittel werden in zurückhaltender Form von Goethe, markanter dann von den Frühromantikern aufgenommen, säkularisiert und an die Moderne weitergereicht. Die große rezeptionsästhetische Lizenz, die Hamann durch die Elastizität seines dunklen Stils dem Leser gewährt, ermöglicht und erfordert eine Anwendung der manifesten Textaussage auf die individuelle Situation des Lesers. Erst dadurch erhält der Text seine eigentliche Bedeutung, denn der Autor habe nur „Zeilen zu pflanzen, deren Wachsthum von Sonne, Boden und Wetter abhängt“213. In einem epistemologisch wie poetologisch aufschlussreichen Rekurs auf Augustinus Überlegungen zur Bildhaftigkeit und erhabenen Simplizität der Schöpfungsworte des Alten Testaments und deren Vorbildfunktion für das eigene Schreiben erläutert Hamann sein Verständnis von Wahrheit einerseits und Deutungsoffenheit andererseits: „Er [Augustinus] nimmt an, daß die Wahrheit bestehen könne mit der größten Mannigfaltigkeit der Meynungen über eine einzige und dieselbe Sache [...]“. Meinungen sind konkrete Anwendungen der einen Wahrheit, wie sie in 209 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 133 („Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache“). 210 Der Tatbestand der Sprachverwirrung trägt bei Hamann auch positive Züge: „Die Verwirrung der Sprache ist eine Geschichte, ein Phaenomenon, ein fortdauerndes Wunder und ein Gleichnis, wodurch Gott noch immer fortfährt mit uns zu reden.“ (Hamann: Londoner Schriften, S. 282; „Biblische Betrachtung[en] eines Christen“). 211 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 396 (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 18. 8. 1759). 212 Ebd., Bd. 2, S. 197. Das ist ein zentrales Argument Hamanns, das auch den Stil der Heiligen Schrift als der dritten Herunterlassung Gottes erklärt: „Die Schrift kann mit uns M[enschen] nicht anders red[en] als in Gleichnissen, weil alle unsere Erkenntnis sinnlich, figürlich, v der Verstand und die Vernunft die Bilder der äußerl. Dinge allenthalb[en] zu Allegorien und Zeichen abstrakter, geistiger und höherer Begriffe macht.“ (Hamann: Londoner Schriften, S. 219; „Biblische Betrachtung[en] eines Christen“). 213 Hamann: Briefwechsel, Bd. 2, S. 129 (Brief an Moses Mendelssohn vom 11. 2. 1762, Hervorhebungen im Original).

236

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

den unterschiedlichen Lesarten von Welt sichtbar werden. Stilistisch-ästhetisch gewendet und dem Erhabenheitsbegriffs Ps-Longins folgend, bedeutet dies, dass die Reduktion sprachlicher Explizitheit bis hin zu einem Quasi-Schweigen das Deutungspotential einer Aussage erhöht; die differierenden Meinungen sind der impliziten Wahrheit adäquat, ohne ihr ganz zu entsprechen. Hamann versteht eine stilistische Tendenz zum „Tiefschweigen“214 der Aussage mit Augustinus nicht als Manko, sondern als Vorteil. Sprachliche obscuritas interessiert ihn nicht als Folge des Sündenfalls oder Ausdruck einer Sprachskepsis, sondern im Gegenteil als eine erfolgversprechende Strategie, die Anwendbarkeit und damit Wirksamkeit einer Wahrheit um den Preis ihrer Perspektivität zu erhöhen. In einer von Hamann im lateinischen Original zitierten Passage aus den Bekenntnissen des Augustinus heißt es hinsichtlich der sprachlichen Darstellung des Schöpfungswortes ‚Es werde Licht‘ durch den Geschichtsschreiber Moses: [...] so hätte ich gewünscht, es wäre mir von dir [mein Gott] solche Redegabe und solche Kunst, die Worte zu wählen, verliehen worden, daß die, die noch nicht begreifen können, wie Gott schafft, das Gesagte doch nicht als ihre Fassungskraft übersteigend von sich gewiesen haben würden, und daß die, die es schon begreifen, in den wenigen Worten deines Knechtes jeden wahren Gedanken, zu dem sie nachsinnend gelangt, wiedergefunden hätten, und hätte ein anderer im Lichte der Wahrheit anderes erschaut, er auch dieses aus denselben Worten hätte herauslesen können.215

Wer, so Hamanns erkenntnistheoretischer Kommentar zu der Augustinus-Passage, als Anhänger des philosophischen bzw. naturwissenschaftlichen Systems beispielsweise von Descartes oder von Newton „die Natur in dem geborgten Lichte dieses oder jenes Systems ansehen“216 würde, fände „gleichwol in den kurzen Worten des begeisterten Geschichtsschreibers [des Schöpfungsberichtes] Spuren einer mögl. Erklärung nach seinen Schooßlehren [den jeweils favorisierten Prinzipien]“. Die Bildhaftigkeit und Verknappung in der Darstellung des Schöpfungswortes durch Moses erlaubt eine breitere Vereinbarkeit mit den verschiedensten philosophischen Anschauungen, die dadurch, wie es 1759 in einem Brief heißt, die Wahrheit, das heißt die Idee des Autors, perspektivisch unterschiedlich einkleiden, das heißt darstellen:217 214 Es gelte, Gottes „Tiefschweigen nachzuahmen, weil unser Vielreden Ihn nicht zum Wort kommen läßt“ (Hamann: Briefwechsel, Bd. 5, S. 142, Brief an Johann Caspar Lavater vom 2. 5. 1784; Hervorhebung im Original). 215 Deutsche Übersetzung aus dem 26. Kapitel des 12. Buches zitiert nach Augustinus, A.: Bekenntnisse, eingeleitet und übertragen von W. Thimme. München 1992, S. 358. 216 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 335 (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 1. 6. 1759). 217 In dieser Hinsicht wäre Josef Simons (Philosophie als Verdeutlichung. Abhandlungen zu Erkennen, Sprache und Handeln. Berlin 2010, S. 231) Resümee der Sprach-

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

237

Die Wahrheit ist also einem Saamenkorn gleich, dem der Mensch einen Leib giebt wie er will; und dieser Leib der Wahrheit bekommt wiederum durch den Ausdruck ein Kleid nach eines jeden Geschmack, oder nach den Gesetzen der Mode.218

Hamann empfiehlt aus diesem Grund gegen das aufklärerische Credo der perspicuitas, dass „Klarheit in einen unbestimmten vieldeutigen Sinn“219 verwandelt werden sollte. Ähnlich heißt es in einer von Hamann verantworteten Übersetzung der Abhandlung des Comte de Buffon Über den Styl hinsichtlich sprachlicher Schönheit, oder eben Faszinationskraft: „ein schöner Styl wird es in der That nur durch die unendliche Fülle von Wahrheiten, die er darbietet“220. Hamanns theologisch-epistemologisch erweiterte Faszinationspoetik beruht auf dem Prinzip des Asyndetischen und bildlich Übertragenen. Beides reduziert den semiotischen Aufwand und erweitert den Interpretationsraum. „Kürze“, so Elisabeth Büchsels pointierte Zusammenfassung der stilistischen Konsequenz, die Hamann aus seiner Augustinus-Lektüre zieht, „ist Sinnfülle – denn je mehr man sagt, desto mehr schließt man aus“221. In der gedankenaktivierenden Nötigung zum kombinatorischen Anders-Verstehen liegt die formale Überlegenheit der Kürze wie der Bildhaftigkeit und Zitat-Montage gegenüber einer explizierenden oder systematisch abhandelnden Schreibweise. In der Maske des Sokrates, der über den dunklen Stil des Herakles spricht, vergleicht Hamann seinen durch Intertexte, kryptische Adressierungen, Themenwechsel, sprachliche Bilder, rhetorische Figuren und idiomatische Wendungen äußerst inkohärenten Stil mit „einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten“222. Dies erfordere Leser, „welche schwimmen könnten“. Der schwimmende Leser ist ein durch Faszination zum Schwimmen motivierter Leser. Voraussetzung philosophie Hamanns noch zu radikalisieren. Das „Andersverstehen“ ist für Hamann „nicht nur“, sondern überhaupt keine „Schwäche“: „Reden ist immer Übersetzen in die Vorstellungswelt eines anderen, ein Sich-hinwegnehmen gegenüber der Freiheit des anderen, die so erst möglich wird. Das Entschei­den­de ist, daß das Andersverstehen für Hamann also nicht nur eine Schwäche des menschlichen sprachlichen Verhaltens ist. Ihm steht kein demgegenüber ,idealer‘ Sprachbegriff eines göttlichen Logos mehr gegenüber, in dem identisches Verstehen garantiert und der das nachzuahmende Vorbild wäre“ (Hervorhebung im Original). 218 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 335 (Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 1. 6. 1759, Hervorhebungen im Original). 219 Ebd., S. 336. 220 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 424 (Buffon-Übersetzung „Über den Styl“). 221 Büchsel, E.: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J. G. Hamann. Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel. Gießen [u. a.] 1988, S. 211. 222 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 61 („Sokratische Denkwürdigkeiten“).

238

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

dafür ist, dass die verwendeten Stilmittel für Geist und Empfindung attraktiv sind, das heißt treffen (wie Pfeile) und haften bleiben (wie Nägel): Der Zitate und sprachliche Bilder montierende „Rhapsodist [...] hat Satz und Satz zusammengerechnet, wie man die Pfeile auf einem Schlachtfelde zählt; und seine Figuren abgezirkelt, wie man die Nägel zu einem Gezelt abmißt“223. Ein solcher Autor „hat gelesen, beobachtet, gedacht, angenehme Worte gesucht und gefunden“. Er gebraucht die Zitate wie ‚aufgelesene‘ „Pfeile“, um zu treffen, und die „Nägel“, um rhetorische „Figuren“ abzustecken, über denen der Leser sein „Gezelt“ – seinen individuellen, transitorischen Totalitätsentwurf der Textbedeutung – errichten kann. Ein „Gezelt“ über den sprachlich nur abgesteckten Bedeutungsraum errichtend, wird der Leser selbst zum Genius. In dieser Hinsicht wirkt – um einen weiteren, von der Leitmetapher der Eheschließung (Einwohnung und Fruchtbarkeit) bestimmten Vergleich für eine souveräne Autor-Leser-Kommunikation aufzunehmen – bereits der Titel eines Werkes wie ein mikrokosmischer Saame, ein orphisches Ey, worinn die Muse Gezelt und Hütte für ihren Genius bereitet hat, der aus seiner Gebärmutter herauskommt, wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und sich freut, wie ein Held zu laufen nach dem Ziel seines geflügelten Sinns [...].224

Das „Ziel“ des ‚laufenden‘ Lesers entspricht dem téleion des Rätsels im Brief Hamanns an Lavater; sein ‚Herauskommen‘ als „Genius“ und seine Freude am ‚Lauf ‘ veranschaulichen das Fasziniertsein durch das, was im offenen Text als bloßes Imaginations- oder Deutungspotential („Saame“, „Ey“) angelegt ist. In dieser stark rezeptionsästhetisch ausgerichteten Poetik ist die Bedeutungsgenerierung aber nicht völlig willkürlich; sie hängt vielmehr vom Erfahrungspotential des Stils als eines natürlichen Zeichens des Autors ab. Im Unterschied zu Kant ordnet Hamann in der an Kant gerichteten Metakritik über den Purismum der Vernunft das Ästhetische der Sprache ihrer Materialität zu, während er den Sinn aus der lexikalischen Bedeutung und der stilistischen Einsetzung der Sprachzeichen als logisches Vermögen auffasst:225 Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und 223 Ebd., S. 217 („Aesthetica in nuce“). 224 Ebd., Bd. 3, S. 373 („Ein fliegender Brief “. Erste Fassung). 225 Für Kants Ästhetik ist nicht die Sinnesempfindung, sondern die Reflexion Richtmaß: „Die allgemeine Mittheilbarkeit einer Lust führt es schon in ihrem Begriffe mit sich, daß diese nicht eine Lust des Genusses aus bloßer Empfindung, sondern der Reflexion sein müsse“ (Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 306); vgl. auch Kapitel 2.2.

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

239

Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen.226

Das Verhältnis zwischen dem ästhetischen und dem logischen Vermögen der Wörter ist arbiträr, „in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen [des Gesichts oder Gehörs] gehört, bestimmt wird“227. So jedoch wie sich die Windrichtung an der Stellung des Wetterhahns oder die Sonne auf der Wasseroberfläche eines dunklen Gefäßes sich als natürliche Zeichen erkennen lassen, lässt sich für Hamann auch an der Materialität der Sprachzeichen, insbesondere durch ihre Anordnung (Stil), Geistiges wahrnehmen.228 Sprache als adressierte Autorhandlung ist arbiträres und natürliches Zeichen, sie hat thesei- und physei-Charakter.229 Eine in diesem Sinne physiognomische Beziehung zwischen dem Geist des Sprechers und seinem Stil und Gebrauch der Sprache, die sich gleichwohl nur in Andeutungen verrät, nimmt Hamann sowohl in individueller als auch in kollektiver Hinsicht an. Deshalb „müssen auch die Absichten und Gesinnungen eines Schriftstellers [...] sich durch die Einkleidung und den Ausdruck seiner Gedanken offenbaren, oder wenigstens verrathen.“230 Jedes „Reden ist übersetzen“231, insofern dabei per Zeichen Übersinnliches in Sinnliches und Sinnliches in Übersinnliches transformiert wird, nämlich „Gedanken in Worte“, „Sachen in Namen“ und „Bilder in Zeichen“. Für den Bereich des individuellen Sprachgebrauchs wird der Umkehrprozess zum Übersetzen, das Verstehen, von Hamann als Gebären der Bedeutung aus der situativen Erfahrung von Sprache, das heißt auch: aus ihrer Physiognomie (Einkleidung), veranschaulicht: „Der Vortrag macht eben so oft die Sache; als das Kleid den Mann. Jede Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Innhalt durch Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen, und offenbar werden muß.“232 Die Materialität und Anordnung der Signifikanten, ihr Stil, wird als „inhaltstranszendente[r] Inhalt[]“233 zu einem individuell erfahrenen Schlüssel ihrer Bedeutung. Diese konnotative Funktion des sprachlichen Materials und der Anordnung, die als sinnliche Bereiche von Sprache lustökonomisch entscheidend für die Faszinationswirkung sind, geht bei einer Übersetzung in eine andere Sprache 226 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 288 („Metakritik über den Purismum der Vernunft“). 227 Ebd. 228 Beide Beispiele Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 203 („Aesthetica in nuce“). 229 Simon, J.: Einleitung, in: J. G. Hamann: Schriften zur Sprache. Frankfurt a. M. 1967, S. 7 – 80, hier S. 23; Menninghaus, W.: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a. M. 1980, S. 213. 230 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 366 („Ein fliegender Brief “. Erste Fassung). 231 Ebd., Bd. 2, S. 199 („Aesthetica in nuce“). 232 Ebd., Bd. 4, S. 456 („Über das Spinozabüchlein Friedrich Heinrich Jacobis“). 233 Menninghaus: Walter Benjamins Theorie, S. 211.

240

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

weitgehend verloren. In den frühen, von Hamanns Englandaufenthalt geprägten Biblische Betrachtungen eines Christen heißt es: Man sieht wie schwer es [ist] die Figuren und Idiotismen einer Sprache in die andere zu überbring[en] ν je mehr die Denkungsart der Völker verschieden ist, zu desto mehr Abweichung[en] v. Ersetzung[en] oder Aequationen, daß ich so rede, ist man gezwungen.234

In seiner sechsten Anmerkung zu Buffons Abhandlung Über den Styl bezeichnet Hamann die von ihm favorisierte Darstellungsweise als „Laconismus und stylus atrox poetischer Bilderschrift“235. „Laconismus“ steht für eine stark verknappende und verdichtende schmuck- und kommentarlose Ausdrucksweise.236 Für den rhetorischen genus atrox (auch genus vehemens) sind allgemein ein gehemmt-heftiger Stil, paradoxe Redefiguren wie Zeugma oder Chiasmus, die gehäufte Verwendung von Metaphern sowie kynischer Humor, Kürze, emphatische obscuritas und ‚hämmernde‘ Kommata charakteristisch.237 Hamann bezieht diese Stileigenschaften insbesondere auf „poetische[] Bilderschrift“, das heißt auf die Verwendung von Tropen, Topoi, Vergleichen, Analogien oder typologischen Ähnlichkeiten aller Art. Bei sprachlichen Bildern überlagern sich zwei Zeichenfunktionen, da hier Wörter (arbiträres Zeichen) auf eine konkrete Sachvorstellung verweisen, die ihrerseits als ein auf Ähnlichkeit beruhender Zeichenträger (ikonisches Zeichen) für eine weitere Verweisfunktion dient.238 Die ikonische Verweisfunktion der „Bilderschrift“, auf die es Hamann in diesem Zusammenhang ankommt, ist immer nur partiell und beruht auf einer Zuweisungshandlung, dem Finden oder Behaupten von Ähnlichkeit. Grundsätzlich sind sprachliche Bilder in einem hohen Maße imaginationsanregend und interpretationsbedürftig, das macht sie faszinierend. Im Zusammenwirken mit den anderen genannten stilistischen Merkmalen (Lakonismus, stylus atrox) entautomatisieren sie im Lesen das Verstehen und regen im Modus der coniectura (des vermutenden Zusammenziehens) in hohem Maße das Assoziations- und Denkvermögen an. Die Suche nach Ähnlichkeiten und semantischen Schnittmengen lässt den Leser „günstige Vermuthung[en]“239 zwischen den Textelementen (‚Inseln‘) herstellen. Die Faszinationskraft solcher, wie es 234 Hamann: Londoner Schriften, S. 70 („Biblische Betrachtung[en] eines Christen“). 235 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 421 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“). 236 Bees, R.: Lakonismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Darmstadt 2001, Sp. 17 – 22, hier Sp. 17. 237 Jørgensen, S.-A.: Zu Hamanns Stil, in: Johann Georg Hamann, hg. von R. Wild. Darmstadt 1978, S. 372 – 390, hier S. 377. 238 Köller, W.: Sinnbilder für Sprache. Metaphorische Alternativen zur begrifflichen Erschließung von Sprache. Berlin, Boston 2012, S. 44. 239 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 423 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

241

in Hamanns Anmerkung zu Buffon heißt, „Sparsamkeit der Worte“ resultiert aus ihrer kohärenzgebotenen Ergänzungsbedürftigkeit, die der Erkenntnislust durch ein hohes Potential figürlicher, formeller, tropischer und typischer240 Bedeutungen dient: Eine heilige Sparsamkeit der Worte giebt mehrentheils eine günstige Vermu­ thung für eine Baarschaft der Gedanken und für einen verborgenen Schatz des Herzens ab; weil Reichtum und Verschwendung, Tiefsinn und Schwatzhaftigkeit schwerlich mit einander bestehen können.241

Die beiden Metaphern „Baarschaft der Gedanken“242 und „verborgene[r] Schatz des Herzens“ lassen sich durch ‚spontane Assoziationstätigkeit‘ und ‚Annahme unbewusster Empfindungen und Vorstellungen‘ paraphrasieren. Versteht man dies als Beschreibung von Hamanns Faszinationspoetik, so ist diese durch impliziten „Reichtum“ und aufzudeckenden „Tiefsinn“ charakterisiert. Sie kann als die durch „heilige Sparsamkeit der Worte“ bewirkte und gelenkte „günstige Vermuthung“ beschrieben werden, bei der im konjekturalen Abgleich von unterstellten Ähnlichkeiten der Leser zu einer unüberschaubaren Fülle von Assoziationen, Gedanken und Vorstellungen angeregt wird. Die Lust, die diesen ressourcenintensiven Prozess vorantreibt, leitet Hamann zum einen aus der dem Menschen als Sinnenwesen adäquaten Sinnlichkeit des Darstellungsmediums (Klang, Rhythmus, Bild- bzw. Anschaulichkeit), zum zweiten aus dem Erkenntnisprozess des Vermutens selbst, zum dritten aus der Adressierung – in Schriftlichkeit kaum anders als durch semantische Offenheit zu ermöglichen – und damit persönlichen Anwendbarkeit ab. Die Faszination durch den „Laconismus und stylus atrox poetischer Bilderschrift“243 wird von Hamann, bezogen auf die „ausgestorbene Sprache der Natur“244 und ihre Wiedererweckung, in der Aesthetica in nuce mit dem Begriff der „Magie“ angesprochen. Die auf die poetologische Vorbildfunktion der hebräischen Dichtung anspielenden ästhetischen „Kreuzzüge nach den Morgenländern“245 und die „Wiederherstellung ihrer Magie“ werden dort im Rekurs auf Francis Bacons De augmentis scientiarum erläutert. Bacon – der 240 Ebd., Bd. 3, S. 366 („Ein fliegender Brief “. Erste Fassung). 241 Ebd., Bd. 4, S. 423 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“). 242 ‚Barschaft‘ bedeutet ‚Bereitschaft‘, vgl. Grammatisch-kritisches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 738. 243 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 421 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“). 244 Ebd., Bd. 2, S. 211 („Aesthetica in nuce“). 245 Ebd. Die „Morgenländer“ stehen für einen bildhaften Sprachstil, vgl.: „Meine Briefe sind vielleicht schwer, weil ich elliptisch wie ein Griech, und allegorisch wie ein Morgenländer schreibe.“ (Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 396, Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 18. 8. 1759).

242

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

als Empiriker von Hamann vor den Abstraktionen des zeitgenössischen Rationalismus geschätzt wurde – war an Magie nicht als Zauberei interessiert, sondern als einem Denken in Analogien. Er versteht, und mit ihm Hamann, Magie als angewandte Metaphysik und Wissenschaft von den Formen und ihren Zweck­ursachen.246 „Die Magie“, zitiert Hamann Bacon in einer Fußnote, „beschäftigt sich hauptsächlich damit, Übereinstimmungen im Grundriß und Bau zwischen der Welt der Natur und der des Menschen wahrzunehmen.“247 Diese seien keine bloßen Ähnlichkeiten („similitudines“), sondern lediglich medial und semiotisch unterschiedliche Darstellungen ein und derselben Idee, nämlich dieselben „Fußstapfen der Natur oder Zeichen“ („naturae vestigia aut signacula“). Ein solches epistemologisches, das heißt hermeneutisches, sowie poetologisch anwendbares Prinzip der motivierten Ähnlichkeit, bei dem das Sinnliche (Signifikant) also nicht nur ikonisches, sondern auch indexikalisches Zeichen des Unsinnlichen (Signifikat) ist, meint und praktiziert auch Hamann in seinen Schriften: Die Analogie des Menschen zum Schöpfer ertheilt allen Kreaturen ihr Gehalt und ihr Gepräge [...]. Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren GOttes in unserm Gemüth ist; desto fähiger sind wir Seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen. Jeder Eindruck der Natur in dem Menschen ist nicht nur Andenken, sondern ein Unterpfand der Grundwahrheit [...]. Jede Gegenwürkung des Menschen in die Kreatur ist Brief und Siegel von unserm Antheil in der Göttlichen Natur [...].248

Das Hintergrundkonzept (die „Idee“ des Ebenbildes), nach dem eine Anordnung (Stil) von Signifikanten als Totalität zu verstehen (ästhetisch zu erleben) ist und dadurch konnotativ bedeutsam wird (vgl. „Öconomie des Plans“249), vermittelt sich im Prozess des Verstehens (Erlebens). Ästhetisch adaptiert entspricht der sinnliche „Eindruck“ des Darstellungsmediums (Natur) auf den Menschen und dessen geistig-verstehende „Gegenwürkung“ dem (generalisierten) Faszinationsmodell primärer (als sinnliche Adressierung) und reaktiver (als geistige Nötigung zum Verstehen) Nachahmung. Dies wird, in den Sokratischen Denkwürdigkeiten durch die Maske des Sokrates, von Hamann auf die eigene Schreibweise bezogen: 246 Jørgensen, S.-A.: Hamann, Bacon, and Tradition, in: Orbis Litterarum 16 (1961), S. 48 – 73, hier S. 68. 247 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 211 („Aesthetica in nuce“); Hamann zitiert Bacon auf Latein, die deutsche Übersetzung folgt Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 128. 248 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 206f. („Aesthetica in nuce“; Hervorhebungen A.D.). 249 Ebd., Bd. 4, S. 423 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

243

Die Analogie war die Seele seiner Schlüsse, und er gab ihnen die Ironie zu ihrem Leibe. Ungewißheit und Zuversicht mögen mir so eigenthümlich seyn als sie wollen; so müssen sie hier doch als ästhetische Nachahmungen betrachtet werden.250

Die hier vorgenommene prozessuale Übersetzung der Eros-Struktur (Mangel und Fülle) als „Ungewißheit und Zuversicht“ bezeichnet präzis die Position der emotionalen Ambivalenz des Faszinationserlebens innerhalb des admiratio-stupor-Spektrums. Wie Hamann in der Aesthetica mit einem Bacon-Zitat belegt, versteht dieser – und Hamann selbst – unter „Magie“ also die „Wissenschaft von der Übereinstimmung aller Dinge [scientiam consensuum rerum vniuersalium]“251. Dies setzt für den Leser (Naturforscher) in hohem Maße eine Fähigkeit voraus, Ähnlichkeiten zu erkennen bzw. zuzuweisen; das heißt: Paradigmen bilden zu können. Hamann empfiehlt deshalb nicht zufällig als „Richtweg“ zu einer in diesem Sinne magischen (das heißt faszinierenden) Schreibweise semantisch übertreibende Bilder, nämlich die „Hyperbel“.252 Die Hyperbel als rhetorische Figur verletzt, oft in Verbindung mit anderen Tropen oder weiteren rhetorischen Figuren, die Glaubwürdigkeit einer Aussage zugunsten ihrer Anschaulichkeit und Nachdrücklichkeit; sie regt dadurch Imagination und Affekte der Zuhörer in hohem Maße an.253 Hamann meint, in Bacons Stil, der „etwas scharfsinniges und schimmerndes an sich“254 habe und eher „Aufgaben zum Nachdenken als Sätze, denen man folgen kann“, anbiete und sich außerdem häufig mythologischer Bilder bediene, eine solche magische Schreibweise vorgeprägt zu finden. Mit dieser Beschreibung des magischen Stils nennt Hamann mit dem Schimmernden, dem Problematischen und dem Bildhaften drei stimulusbezogene Aspekte ästhetischer Faszination. Für den lakonischen, bildhaft-montierenden Stil Hamanns gilt, dass die pragmatische Bedeutung der Wörter, Sätze, Zitate und Sprachbilder nicht fixiert ist, sondern sich wesentlich situativ und kontextuell ergibt: „Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.“255 Die Montage ist nur eine Extremform eines offenen Stils, dessen Wirkungskalkül davon ausgeht, dass der „Werth“ der Wörter „wandelbar“ ist in Abhängigkeit „von der Stelle, so sie stehen“, und von „Ort und Zeit“ der Rezeption. Wie Naturwissenschaftler Körper in „allerhand 250 Ebd., Bd. 2, S. 61 („Sokratische Denkwürdigkeiten“). 251 Ebd., S. 211 („Aesthetica in nuce“); Hamann zitiert Bacon auf Latein, die deutsche Übersetzung folgt Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 128. 252 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 211 („Aesthetica in nuce“). 253 Naschert, G.: Hyperbel, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 4. Darmstadt 1998, Sp. 115 – 122, hier Sp. 115. 254 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 64 (René de Rapin „Betrachtungen über die Philosophie“ in der Übersetzung Hamanns). 255 Ebd., Bd. 2, S. 71 („Sokratische Denkwürdigkeiten“).

244

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

willkührliche Verbindungen mit anderen Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen“256, so erzwingt der Autor durch die scheinbar willkürliche Anordnung (den Stil) der Montage von Textelementen „künstliche Erfahrungen“ für den Rezipienten: Er muss zwischen den Inseln schwimmen, er muss Übereinstimmungen herstellen: So erzwingt Form Bedeutungsgenerierung. „Ich habe“, so Hamann die sprachphilosophische Versuchsreihe seiner Sokratischen Denkwürdigkeiten (1758) reflektierend, „des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Ueberschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen“257. Ist Magie für Bacon (nach Hamann) die „Wissenschaft von der Übereinstimmung aller Dinge“, liegt die magische Wirkung eines Textes im sinnlichen Empfinden jener „Energie“ und in der „künstlichen Erfahrung“, die aus der „günstige[n] Vermuthung“ von latenten Parallelen resultiert: syntaktischen, metrischen, lautlichen, grammatikalischen Parallelen, sowie semantischen Parallelen wie etwa figürlichen, tropischen und typischen. Die Lust im Empfinden dieser „Energie“ ist ein Movens des Faszinationserlebens. Je offener die semantische Assoziation der Textelemente ist, desto intensiver und länger verläuft die Faszination, vorausgesetzt das sinnliche Attraktionspotential bleibt erhalten und eine persönliche Anwendung der Darstellung ist möglich. Insofern ist das Verstehensbedürfnis der ästhetischen Faszination keine analytische oder zweckfreie Operation, sondern immer an sinnliches Erleben des Gegenstandes und an persönliches Interesse gebunden. Hamann unterstreicht, dass die latenten Verstehensbrücken des Parallelismus, das heißt das Semantischwerden formaler Ähnlichkeiten, eine individuelle und situative Angelegenheit ist. Es setzt voraus, „eigenhändig nachzuschlagen; weil kein Parallelismus ohne relative Vergleichung erkannt werden kann, jede Antwort und Auflösung in den Bedingungen ihrer vorausgesetzten Frage oder Aufgabe gegründet“258 ist. Am Ende der Aesthetica in nuce (1762) geht Hamann auf Poesie im engeren Sinne, nämlich die freirhythmische Odendichtung Klopstocks, ein. Diese hält er trotz ihrer „prosaische[n] Schreibart für ein Muster von klaßischer Vollkommenheit“259, das heißt für ein Muster faszinierenden Sprachgebrauchs: denn Klopstock sei es, wie Hamann an anderer Stelle schreibt, gelungen, „den widrigdeutschen Gerichtsstyl in einen Minnesänger zu verwandeln, und das Gekreisch einer Harpyie in eine Sirenenstimme“260. In der Aesthetica bezieht Hamann (wie ja zur gleichen Zeit auch Mendelssohn) Klopstocks avantgardistische Schreibweise auf die Poetik der Psalmdichtung, wobei er sich auf die 256 Ebd. 257 Ebd. (Hervorhebungen A.D.). 258 Ebd., Bd. 3, S. 371 („Ein fliegender Brief “. Zweite Fassung). 259 Ebd., Bd. 2, S. 215 („Aesthetica in nuce“). 260 Ebd., Bd. 4, S. 410 („Fragment eines Programm’s“, Hervorhebungen im Original).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

245

Vorlesungen Robert Lowths über die althebräische Dichtung „De sacra poesi Hebraeorvm“ von 1753 stützt und aus dem Kommentar des deutschen Orientalisten Johann David Michaelis zu dessen Lowth-Übersetzung (1758/61) zitiert:261 Das freye Gebäude, welches sich Klopstock, dieser große Wiederhersteller des lyrischen Gesanges, erlaubet, ist vermuthlich an Archaismus, welcher die rätzelhafte Mechanick der heiligen Poesie bey den Hebräern glücklich nachahmt, in welcher man nach der scharfsinnigen Beobachtung der gründlichsten Kunstrichter unserer Zeit nichts mehr wahrnimmt als „eine künstliche Prose in alle kleine Theile ihrer Perioden aufgelöst, deren jede man als einen einzelnen Vers eines besondern Sylbenmaaßes ansehen kann; und diese Betrachtungen oder Empfindungen der ältesten und heiligsten Dichter scheinen sich von selbst [...] in symmetrische Zeilen geordnet zu haben [...].“262

Hamann geht von dem bei Klopstock fehlenden lautlichen Ähnlichkeitsprinzip des Reimes aus, um – in Anlehnung an Bacons Magie der Übereinstimmung – den Parallelismus als allgemeines strukturelles Verfahren zu erläutern, durch das auch eine scheinbar „prosaische Schreibweise“ poetisch wird. Durch „unsere neueste Dichtung“263 „scheinen“, so Hamann, Reim und Metrum und damit die Poetizität der Dichtung überhaupt „einer drohenden Lebensgefahr ausgesetzt zu seyn“. Hamann versteht mit Lowth den Reim jedoch als eine bloße Variante der Paronomasie, das heißt einer „Zusammenstellung von mindestens zwei Wortkörpern mit gleichem oder ähnlichem Klang, aber unterschiedlicher Bedeutung“264. „Wem“, so Hamann weiter, „das Joch des Reims zu schwer fällt, ist dadurch noch nicht berechtigt, das Talent desselben zu verfolgen“265. Der Reim „schleichet sich [...] ins Herz“, „stützt und ziert die Harmonie“ und „leimt die Rede ins Gedächtnis“266. Das „Talent“, das heißt die originäre Leistung des Reims liegt neben der sinnlich-emotionalen Eingängigkeit und der Unterstützung des Gedächtnisses vor allem in einem Anordnungseffekt, nämlich der latenten Behauptung semantischer Ähnlichkeit aufgrund manifester formaler Ähnlichkeit. Diese sozusagen ma261 Die – von Hamann heftig kritisierten – Anmerkungen des Übersetzers Michaelis (Lowth, R.: De sacra poesi Hebraeorvm. Praelectiones Academicae Oxonii habitae [...]. Notas et epimetra adiecit I. D. Michaelis. 2 Teile. Göttingen 1758/61) ließen Lowths Werk „zweistimmig“ werden (Bultmann, Ch.: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999, S. 75). 262 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 215 („Aesthetica in nuce“). 263 Ebd., S. 214. 264 Czapla, R. G.: Paronomasie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 6. Darmstadt 2003, Sp. 649 – 652, hier Sp. 649. 265 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 214f. („Aesthetica in nuce“). 266 Ebd., S. 215. Hamann zitiert hier aus einer Elegie von Ludwig Heinrich von Nicolay.

246

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

gische, weil gegen den Wortsinn analogisierende Leistung des Reims, nämlich zwei bedeutungsdifferente Wörter aufgrund ihrer formalen Ähnlichkeit zu koordinieren, bezeichnet August Wilhelm Schlegel später als die „paarende Kraft des Reimes“267. Dieses, bei Hamann am Beispiel des Reims erläuterte, Ähnlichkeitsprinzip des – in der althebräischen Dichtung besonders augenfälligen – Parallelismus wird zweihundert Jahre später durch den Strukturalisten Roman Jakobson generalisierend aufgegriffen: „Der Reim ist nur ein besonderer, verdichteter Fall einer viel allgemeineren, wir können sogar sagen: einer viel grundlegenderen Problematik in der Dichtung, nämlich der des Parallelismus.“268 Hamann deutet ein solches generalisierendes Verständnis an, wenn er vom „Joch“ und „Talent“ des Reimes spricht. „Joch“ als Bild des Zusammenspannens verweist zugleich, als deutsche Übersetzung von griechisch ‚Zeugma‘, auf eine rhetorische Auslassungsfigur: Diese zeichnet sich durch eine syntaktisch oder semantisch inkongruente Koordination von Satzgliedern aus, meist mit einer komischen Funktion.269 Dies kann durchaus auch als Charakterisierung der analogisch konzipierten und ironisch durchgeführten Schreibweise Hamanns aufgefasst werden, die als Prosastil in Ermangelung von markanten Rhythmus- und Klangeffekten stark auf sprachliche Komik als Lustpotential setzt. Die nun von Hamann im Blick auf Klopstocks reimlose freirhythmische Dichtung (und seinen eigenen Stil) konstatierte Abwerfung der Last des Reims unter Beibehaltung von dessen „Talent“ kann im Sinne einer solchen anderen Koordinationsfunktion (Parallelismus) verstanden werden, die aber nicht metrisch und lautlich geregelt ist. Diese Art von „Magie“ der Ähnlichkeit oder Übereinstimmung ist es, der Hamann in den Anordnungen der Elemente der Natur, der Geschichte und der Dichtung (nach dem sich darin als Schöpfung, Menschwerdung und Heiliger Schrift offenbarten Maßstab des Glaubens) nachspürt, um in diesen die Andeutung des auktorial Gemeinten ‚günstig zu vermuten‘. Für Hamann hat Klopstock, „dieser große Wiederhersteller des lyrischen Gesanges“270, zwar den Reim, nicht aber dessen „Talent“ zur latenten semantischen Übereinstimmung von formähnlichen Textelementen aufgegeben. 267 Schlegel, A. W.: Vorlesungen über die romantische Literatur. Italiänische Poesie, in: Ders.: Vorlesungen über Ästhetik (1803 – 1827), hg. von G. Braungart, Textzusammenstellung von E. Behler. Paderborn, München 2007, S. 144 – 193, hier S. 163. 268 Jakobson, R.: Linguistik und Poetik, in: Ders.: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. Bd. 1. Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. von H. Birus und S. Donat. Berlin, New York 2007, S. 155 – 216, hier S. 188. 269 Krapinger, G.: Zeugma, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding. Bd. 9. Darmstadt 2009, Sp. 1504 – 1511, hier Sp. 1504f. 270 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 215 („Aesthetica in nuce“).

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

247

Vielmehr scheint Klopstock mit seinem „freye[n] Gebäude“271 der Dichtung die „rätzelhafte Mechanick der heiligen Poesie bey den Hebräern glücklich nach [zuahmen]“. Für die reimlose, metrisch nicht geregelte Psalmdichtung sind, wie Lowths Analysen zeigen, nicht Metrum oder Reim, sondern bildhafte Sprache und Parallelismus die entscheidenden Merkmale von Poetizität.272 In gedrängten rhythmisierten Sätzen fügt die Psalmdichtung in einem Vers oder einer Periode semantisch analoge, variierende oder entgegengesetzte Bilder aneinander. „Das meiste“, so Lowth, drücken die hebräischen Seher zuerst kurz und einfach aus, ohne es mit Einzelheiten zu illustrieren, ohne es mit Beiwörtern [...] zu schmücken. Den Schmuck fügen sie nachträglich hinzu, indem sie das Gesagte wiederholen, variieren, steigern [...].273

Es sei „Absicht und Vermögen der bildlichen Redeweise, durch irgendwoher übertragene Bilder Dinge teils anschaulicher und deutlicher, teils auch größer und erhabener auszudrücken“274. Die besondere Erhabenheit der Bilderrede der Psalmen resultiert aus der isotopischen Unverbundenheit der Sprachbilder, die durch formale Übereinstimmungen in der Anordnung semantisch koordiniert werden. Durch die Parallelordnung der Bilder werden die eigentlichen Aussagen mehrperspektivisch dargestellt, was einen Deutungsraum öffnet, „in dem sich das Verstehen hin und her bewegen kann“275. Diese semantisch koordinierende Funktion formaler Ähnlichkeiten, die die Bedeutung der einzelnen Elemente je nach Anordnung verändert, sieht Hamann in Golgatha und Scheblimini! bei laut- und bildsprachlichen Phänomenen ebenso wie bei geschichtlichen (Typologie) Phänomenen gegeben: wenn sowohl in der Redsprache dieselben Laute, als in verschiedenen hieroglyphischen Tafeln dieselbe Bilder öfters vorkommen, aber immer in anderer Verbindung, wodurch sie ihre Bedeutung vervielfältigen: so ließe sich diese Beobachtung auch auf die Geschichte anwenden [...].276

271 Ebd. 272 Utzschneider, H.: Die Inszenierung des Gestaltlosen. Alttestamentliche Gottesbilder diesseits und jenseits des Bilderverbots, in: Ders.: Gottes Vorstellung. Untersuchung zur literarischen Ästhetik und ästhetischen Theologie des Alten Testaments. Stuttgart 2007, S. 316 – 327, hier S. 318. 273 Lowth: De sacra poesi, S. 57, zitiert in der deutschen Übersetzung nach Fritz: Vom Erhabenen, S. 422. 274 Ebd., S. 62, zitiert in der deutschen Übersetzung nach Fritz: Vom Erhabenen, S. 429. 275 Wagner, A.: Der Parallelismus membrorum zwischen poetischer Form und Denkfigur, in: Ders. (Hg.): Parallelismus membrorum. Göttingen 2007, S. 1 – 26, hier S. 17. 276 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 310f. („Golgatha und Scheblimini!“).

248

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

In der Wiederholungsstrukturen bildenden Anordnung der Laute, Bilder oder Ereignisse als natürliche Zeichen des Autors und im individuellen Auffinden von Ähnlichkeiten innerhalb dieser Anordnung durch den Leser kommt es zu einer sinnlich ermöglichten communicatio beider. Diese von Hamann in seiner Diskussion der Reimlosigkeit Klopstocks erkannte bedeutungsgenerierende – das heißt latente, nur in der individuellen Anwendung erlebbare, insofern magische – Faszinationskraft der formalen Ähnlichkeitsbeziehungen der sinnlich gegebenen Anordnung fasst Jakobson in den durch Lowths Untersuchung der Psalmendichtung popularisierten Begriff des Parallelismus. Jakobson tut dies unter anderem durch ein längeres Zitat des englischen Lyrikers Gerard Manley Hopkins von 1867: Die Struktur der Dichtung ist die eines fortgesetzten Parallelismus, von den technischen sogenannten Parallelismen der hebräischen Dichtung und den Antiphonen der Kirchenmusik zu den verwickelten Versen im Griechischen, Italienischen oder Englischen. Aber Parallelismus gibt es notwendigerweise in zwei Arten – eine, bei der die Gegenüberstellung klar markiert ist, und eine, bei der sie eher transitorisch oder chromatisch ist. Nur die erste Art, also die des markierten Parallelismus, betrifft die Struktur des Verses – im Rhythmus, der Wiederkehr bestimmter Silbenfolgen, im Metrum, der Wiederkehr bestim­mter Rhythmus­ folgen, in der Alliteration, der Assonanz und dem Reim. Nun liegt die Kraft der Wiederkehr darin, eine zweite Wiederkehr oder einen zweiten Parallelismus der Wörter oder der Gedanken hervorzurufen, und, grob gesprochen und eher der Tendenz als einem unabänderlichen Resultat entsprechend, ruft der deutlicher markierte Parallelismus in einer Struktur, ob durch Wortwahl oder Betonung, den deutlicher markierten Parallelismus in den Wörtern und im Sinn hervor. [...] Zur markierten oder abrupten Sorte des Parallelismus gehören die Metapher, der Vergleich, die Parabel, und so weiter, bei denen die Wirkung durch eine Ähnlichkeit zwischen den Dingen gesucht wird, und die Antithese, der Kontrast, und so weiter, bei denen sie durch Unähnlichkeit gesucht wird. 277

„Kurz“, so Jakobsons Zusammenfassung Hopkins, eine Äquivalenz im Klang, deren Abbildung auf die Sequenz deren konstitutives Prinzip darstellt, schließt unweigerlich auch eine semantische Äquivalenz mit ein, und auf jeder linguistischen Ebene provoziert jede Konstituente einer solchen Sequenz eine der beiden korrelierenden Erfahrungen.278

Entscheidend für Hamanns Theorie der Bedeutungsgewinnung aus der Form (dem Stil) wie für den Faszinationsbegriff generell ist das, was Hopkins als „die Kraft der Wiederkehr“ manifester Parallelen bezeichnet, die eine „zweite Wiederkehr [...] der Wörter oder der Gedanken“ hervorruft. Die situativ-konkrete 277 Aus G. M. Hopkins’ „Die poetische Diktion“ wird zitiert nach Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 188. 278 Ebd.

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

249

Zusammenordnung der Wörter oder Gedanken im individuellen Erleben (von Text, Natur oder Geschichte) ist somit nicht völlig willkürlich, sondern folgt, darauf beharrt Hamann bei allen rezeptionsästhetischen Lizenzen, bestimmten (sinnlichen) Kohäsionsangeboten der Wiederkehr, das heißt Anordnung: Deshalb ist der Stil, und nicht die manifeste Aussage, „ein Contrefait“279 – nicht nur des Autors, sondern auch des Lesers. Der „metrische Parallelismus der Verszeilen oder die lautliche Gleichartigkeit der Reimwörter legt“, so Jakobson, „die Frage nach der semantischen Similarität und Gegensätzlichkeit besonders nahe“280. Gleiches gilt für andere, etwa grammatische Parallelstrukturen. Hamann denkt dies als analogische oder typologische Parallelstrukturen etwa in Hinblick auf sprachlicher Bildlichkeit oder Zitatmontagen. Faszinationserleben, das heißt die „günstige Vermuthung für eine Baarschaft der Gedanken“ (Hamann), resultiert aus den „eher transitorisch[en] oder chromatisch[en]“ (Hopkins) Effekten latenter semantischer Koordinationsversuche, die durch das sinnliche Erleben der „klar markiert[en]“ formalen Parallelen der Anordnung (des Stils) motiviert werden. Insofern „[prägt] der wahre Styl Gedanken aus“281 Voraussetzung ist, dass die Lust aus sinnlicher Empfindung, Gedankentätigkeit und persönlicher Anwendung groß genug ist, den Leser für diese gedankenreiche Koordinationsversuche zu faszinieren. Im Sinne des Parallelismus, das heißt der Magie der Übereinstimmung, stellt der ‚kühne Poet‘ in seinem Werk dar, wie die „disiecti membra poetae“282 der Welt „in Geschick“ zu bringen sind. Er reicht, um einer nachdrücklicheren Wirkung willen, keine ausgestreckte Hand, sondern die „geballte Faust“283, die „in eine flache Hand zu entfalten“ dem fas­zi­nierten Leser überlassen bleibt. Hamann versteht somit, im Unterschied zur rationalistischen Ästhetik, das Sinnlichwerden der Idee als kommunikativen Gewinn durch Wirksamkeit: Die Idee wird rezeptionsästhetisch attraktiv, weil sie als mediale Darstellung den Sinnesorganen und als dadurch dunkel und undeutlich Gewordenes dem Erkenntnisvermögen Lust verschafft. Dies ist die lustökonomische Basis jeder Faszinationsästhetik. Durch eine kalkulierte Doppelstrategie von Lust und Zwang weiß sie den ästhetisch Erlebenden anhaltend zu beschäftigen: Indem der Autor durch die Darstellung seiner Idee die Bedürfnisse seines Adressaten sinnlich nachahmt, nötig er diesen qua Lust aus der Bedürfnisbefriedigung dazu, den Autor und dessen Idee geistig nachzuahmen: durch Aktivierung von Imaginationen, Gedanken und diesen assoziierten Gefühlen. 279 „Stylus homo est (ein Contrefait)“ (Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 459; „Über das Spinozabüchlein Friedrich Heinrich Jacobis“). 280 Aus Roman Jakobsons Aufsatz „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen“, zitiert nach Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 171. 281 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 423 (Buffon-Übersetzung „Über den Styl“). 282 Ebd., Bd. 2, S. 198f. („Aesthetica in nuce“). 283 Ebd., Bd. 3, S. 289 („Metakritik über den Purismum der Vernunft“).

250

4  Poetik II: Aspekte von Faszination in Wirkungstheorien des 18. Jahrhunderts

Je höher der Lusteffekt ausfällt, desto mehr an geistiger Herausforderung kann dem Leser zugemutet werden, ohne dass die lustökonomische Basis des ästhetischen Modus aufgehoben wird: Im literaturhistorischen Kontext Hamanns stehen Klopstocks Oden für eine Maximalauslastung dieses Wirkungsmodells von Faszination im Medium Sprache. Je elastischer die manifeste Äußerung durch sprachliche Verknappung, Unverbundenheit und Bildlichkeit hinsichtlich einer semantischen ‚Anwendbarkeit‘ konzipiert ist, desto individueller kann sie adaptiert werden, desto ergänzungsbedürftiger und damit wirkungsästhetisch stimulierender fällt sie aus. Bedeutung stellt sich für Hamann immer situativ-konkret für den durch die Sinnlichkeit des Gegenstandes involvierten Rezipienten her: im textimmanenten und intertextuellen Zusammenwirken größerer Zeicheneinheiten (Wörter, Phrasen, sprachliche Bilder) und in der semantischen Koordination durch Ähnlichkeitsmerkmale. Ästhetische Faszination ist die Lust aus der anhaltenden Beschäftigung mit einem sinnlich reizvollen, in seiner Bedeutung unbestimmten Gegenstand. Die hohe Affinität der sinnlichen Seite der Zeichen bei gleichzeitiger Unbestimmtheit ihrer Gesamtbedeutung motiviert den Wahrnehmenden, in Andeutungen Bedeutsamkeiten zu vermuten. Eine Darstellungsweise, die einer solchen ästhetischen Anwendbarkeit entgegen­kommt, kann Faszinationsstil genannt werden. Je sinnlicher, bildhafter, charakteristischer und fragmentarischer der Stil, desto universaler, nachdrücklicher und faszinierender kann er wirken. Sofern man Goethes Zeugnis in Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit folgen darf, hat Hamanns Stil zumindest einige Leser nachhaltig zu faszinieren vermocht. Hamann sei allen stets ein großes Geheimnis gewesen: „Indessen fühlte ich wohl, daß mir in Hamanns Schriften etwas zusagte, dem ich mich überließ, ohne zu wissen, woher es komme und wohin es führe.“284 Diese faszinierende „Finsternis“ im Stil des „tiefdenkenden gründlichen“285 Hamann stellt Goethe dem „blendenden Zeitgeiste“ entgegen: Durch eine „wunderbare Gesamtheit seines Stils“ habe Hamann versucht, das „Unmögliche“ zu leisten. Dafür habe er die „tiefsten geheimsten Anschauungen, wo sich Natur und Geist im Verborgenen begegnen“286, ebenso verwendet wie „erleuchtende Verstandesblitze, die aus einem solchen Zusammentreffen hervorstrahlen“, „bedeutende Bilder“ und „andringende Sprüche“. Das Verfahren intertextueller Anspielungen und Verweise nennt Goethe, auf die Faszina­tionsmetaphorik des Oszillierens zurückgreifend, ein „zweideutiges Doppellicht, das uns höchst angenehm erscheint“287, gleichwohl unter Verzicht dessen, „was man gewöhnlich Verstehen nennt“. Goethe charakterisiert 284 285 286 287

Goethe: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 14, S. 446 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 558. Ebd., S. 560. Ebd., S. 561.

4.4  Hamanns Begründung einer Poetik der Faszination

251

den „Sibyllinischen Stil“288 der Schriften Hamanns, der ihrer Breitenwirkung allerdings entgegenstehe, durch die wirkungsästhetische Qualität des für sein eigenes Spätwerk bestimmenden Konzeptes des Symbolischen als ein anhaltendes Faszinationspotential: „Jedesmal wenn man sie aufschlägt, glaubt man etwas Neues zu finden, weil der einer jeden Stelle inwohnende Sinn uns auf eine vielfache Weise berührt und aufregt.“289

288 Ebd., S. 558. 289 Ebd., S. 561. Vgl. auch Kapitel 2.4.

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

253

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht Weshalb vermag die Wirkung eines Kunstwerkes, eines literarischen Textes etwa, derart zu überwältigen, dass wir nicht mehr von ihm loskommen? Weshalb werden wir seiner nicht überdrüssig, verlieren nicht wie sonst irgendwann Lust und Interesse? [E]ine Macht streckt ihre Hand aus und faßt uns an und wir erliegen – wer ist denn diese enorme Macht? Was ist es, das einen da anrührt, bewegt, packt, fesselt, in Bann zwingt, ergreift, verwandelt, aufwühlt, verzaubert – was wirkt da, was ist das gemeinsam Mächtige dieser so unterschiedlichen Texte?1

Die Frage nach der Ursache ästhetischer Wirkung, die Franz Fühmann hier in Hinblick auf Matthias Claudius‘ Abendlied, Jean Pauls Die unsichtbare Loge und James Joyces Ulysses stellt, wurde in den vier Teilen dieses Buches für einen bestimmten Bereich innerhalb des von Fühmann aufgefächerten Spektrums emotionaler Reaktionen auf Literatur erörtert: für das, was zu fesseln und in den Bann zu zwingen vermag, was ergreift, verwandelt und verzaubert – für die poetische Motivation von Faszination. Ästhetische Faszination lässt sich als ein anhaltender Imaginations- und Strukturierungsprozess definieren. Dieser reagiert auf ein semantisches Oszillieren, das heißt auf eine Mehrdeutigkeit, Unbestimmbarkeit oder Diskrepanz in der kategorialen Zuordnung oder Bewertung einer sinnlich hoch affinen, weil einem sensitiven Vermögen optimal korrelierenden Wahrnehmung oder zeichenbasierten Vorstellung innerhalb einer als grundsätzlich kontrollierbar eingeschätzten Situation. Im Durchgang durch die Begriffsgeschichte von ‚Faszination‘ wurde diese Konzeption einer ästhetischen Erfahrung auf die epistemologische Variante des alten fascinatio-Begriffs zurückgeführt. Diese wurde, so eine der Leitthesen der Untersuchung, seit der Spätantike neben der älteren physiologischen Konzeption von Schadenszauber, die von einem physischen Transfer schädigender Substanzen ausgeht, als gelehrte Erklärung für diverse Phänomene der Täuschung, Manipulation oder Attraktion diskutiert. Eine Symbolisierung und folgenreiche philosophische Problematisierung erfuhr die Konzeption der epistemologischen Faszination in der Figur des Denkstil-Ero1

F. Fühmann: Das mythische Element in der Literatur, in: Ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze. 1964 – 1981. Rostock2 1986, S. 82 – 140, hier S. 87f.

DOI 10.1515/9783110527308-006

254

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

tikers Sokrates, dem die konzeptionelle Metapher des divided self entspricht. Kernkonzept der epistemologischen Faszination ist das oszillierende Widerspiel von Schein und Sein (inconstantia-Merkmal), wodurch Faszination zum Inbegriff nicht durchschauter sensitiv-kognitiver Täuschung und Verführung wurde. Diese epistemologische Konzeption, die ich auf den übertragenen Gebrauch des alten Faszinationsbegriffs seitens der Kirchenväter zurückgeführt habe, bestimmte in Verbindung mit einer seit dem Hochmittelalter nachweisbaren voluntativen Konzeption von Faszination als einer rein psychisch-imaginativen Beeinflussung weithin die wissenschaftliche Diskus­sion von schwarzer Magie und natürlicher Magie während der Frühen Neuzeit. Im Zuge der Aufklärung wurde Faszination als wissenschaft­liches Problem obsolet. Der Begriff konnte deshalb in seiner epistemologischen Prägung in der Zeit um 1800 für die Beschreibung einer bestimmten Form ästhetischer Wirkung übernommen werden: Dies wurde im zweiten Teil der Untersuchung an Kants Begriff der ästhetischen Idee in konzeptioneller Hinsicht, an Dugald Stewarts und Archibald Alisons Essays in terminologischer Hinsicht und an Goethes Symbol-Begriff sowie an einigen seiner literarischen Texte in poetologischer Hinsicht nachgezeichnet. Mit der Übertragung des Faszinations­begriffs in das Feld des Ästhetischen erfuhr dieser im Laufe des 19. Jahrhunderts eine starke Aufwertung, die den modernen Begriffsgebrauch von Faszination bis heute bestimmt. Dieses begriffsgeschichtlich abgegrenzte und anschließend konzeptionell entfaltete formale Verständnis von Faszination habe ich der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt, die sich in ihrem dritten und vierten Teil einigen stilistisch-rhetorischen Verfahren und Theorien widmete, die Aspekte von Faszinationserleben berücksichtigen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Ästhetik wird, so meine These, Faszination bei Johann Georg Hamann medientheoretisch und rezeptionsästhetisch reflektiert und zu einem stilistisch-poetologischen Leitkonzept erhoben. Ästhetische Faszination entsteht aus dem Gefühl einer gravierenden Divergenz zwischen der sinnlichen Perfektion und Affinität eines Objektes und seiner problematischen Erkenntnis oder Bewertung.2 Faszinationserleben ist lustvoll, es hat eine dominant, aber nicht ausschließlich positive Valenz. Es besitzt einen hohen kognitiven Anteil und zeichnet sich vor anderen ästhetischen Emotionen durch eine anhaltende oder immer wieder aufs Neue reaktivierbare Wirkung und damit durch eine weitgehende Sättigungsresistenz aus. Diese beruht auf dem psychisch-kognitiv anregenden und insofern belebenden Gefühl, sich ästhetisch und damit ergebnis- und handlungsentlastet mit Diskrepanzen in der eigenen Schematisierung von Welt und in der kategorialen Zuordnung eigener Vorstellungen und Erfahrungsmuster zu beschäftigen: Was in sinnlicher Hinsicht als meinen Vermögen adäquat erscheint, lässt sich epis2

Zu diesem Doppelaspekt vgl. die Erläuterungen zu Hamanns Poetik in Kapitel 4.4.

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

255

temologisch nicht auf einen Nenner bringen und damit semantisch-evaluativ nicht ruhig stellen.3 Es ist dieses fortwährende Beschäftigtwerden des strukturierenden Denkens mit sich selbst in der sinnlichen Wahrnehmung oder Imagination eines Objektes, welches das faszinierte Subjekt, ungeachtet seiner anhaltenden Aufmerksamkeitsbindung, dem Objekt gegenüber eigentümlich kalt und distanziert bleiben lässt. Als Faszinierter bin ich weniger der Welt als vielmehr mir und meinen (als partiell inadäquat erfahrenen) Ordnungsschemata von Welt zugewandt. Faszination bedarf zwar immer eines sinnlich stimulierenden Wahrnehmungsobjektes, das involvierende Aktivierungspotential und dessen Lusteffekt betreffen aber wesentlich die Kategorien des Subjekts. Von Gewalt­erfahrung kann nur metaphorisch gesprochen werden: in Hinblick auf eine grundsätzlich kontrollierte und erwünschte, weil an sich lustvolle sinnliche Nötigung zu einem fortgesetzten Mustern und Abgleichen meiner Erfahrungs- und Wissenskategorien, das unerwartete – partiell auch unerwünschte oder tabuisierte – Vorstellungen, Erinnerungen und Bewertungen assoziativ ins Bewusstsein einströmen lässt. Faszination beruht, dem hier zugrunde gelegten formalen Begriffsverständnis folgend, auf einer – in der Kunst kalkuliert induzierten – Divergenzerfahrung hinsichtlich der optimalen Prozessierbarkeit eines sinnlichen Arrangements einerseits und der inadäquaten Prozessierbarkeit seiner Bedeutungs- und Schematazuordnung andererseits. Dies lässt sich als eine ästhetisch spezifizierende Beschreibung der unter anderen von Edmund Burke festgehaltenen Beobachtung verstehen, dass eine „dunkle Idee, wenn sie uns in geeigneter Weise beigebracht wird, wirkungsvoller sein muß als die klare“4, da sie eine „größere Gewalt auf die Phantasie“ ausübt. Im Anschluss an die erläuterte Unterscheidung Kants zwischen dem Schönen in der Anschauung und dem Schönen in der Vorstellung kann eine bloß perzeptionsbezogene Faszination (im Konfigurieren der Wahrnehmungsreize etwa von Lichtreflexen auf bewegtem Wasser oder bei einer flatternden Fahne) von der in den vier Teilen dieses Buches vornehmlich diskutierten imaginations- und reflexionsbezogenen Faszination (im wahrnehmungs- oder zeichenbasierten Konfigurieren und Konstituieren von Bedeutung, etwa bei Bildern oder Texten) unterschieden werden.5 Der letztgenannte der beiden Modi ästhetischer Faszination verläuft emotional und kognitiv gravierender und ist kunst- wie medienästhetisch weitaus relevanter: In diesem Fall kann etwas sinnlich bzw. medial-semiotisch als Einheit wahrgenommen, nicht aber als eine solche Einheit semantisiert und bestehenden Erfahrungs- und Wissenskategorien klar zugeordnet werden. Bezogen auf Schriftsprache lässt, mit 3 4 5

Vgl. zu diesem Doppelaspekt auch Adornos Bemerkung, „Faszination“ beruhe auf einem „geheimen Einverständnis“ (Adorno u. a.: Dialektik, S. 264). Burke: Philosophische Untersuchung, S. 96f.; vgl. Kapitel 4.1. Vgl. zu Kant Kapitel 2.2.3.

256

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

Kants Worten, die imaginations- und reflexionsbezogene Faszination im Prozess der verstehenden Restrukturierung „viel Unnennbares hinzu denken [...], dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet“6. Ästhetikgeschichtlich schließt der erste Modus (perzeptionsbezogene Faszination), wie Stewarts Einführung eines rein ästhetischen Faszinationsbegriffs um 1800 zeigte, zwar an die Tradition des Schönen in der Bewegung (Anmut) an, weist aber eine (zeitliche) Diskrepanz auf: „das Gedächtnis verweilt sehnend bei dem Zauber, welcher geflohen ist“, während „das Auge durch die Erwartung dessen, was folgt, fasziniert wird [is fascinated]“7. Für den vorwiegend diskutierten zweiten Modus – Faszination in der semantischen Konfiguration und Evaluation eines Objektes – bot sich der literaturbezogene Begriff des Erhabenen der Idee als Basistheorie an. In einer den Faszinationsaspekt akzentuierenden Adaption durch Moses Mendelssohn lautet dessen Paraphrase: Die Größe fesselt unsere Aufmerksamkeit; und da es die Größe einer Vollkommenheit ist, so hält sich die Seele mit Wohlgefallen an diesem Gegenstande fest, und alle Nebenbegriffe in derselben werden verdunkelt; die Unermeßlichkeit erregt einen süßen Schauer, der uns ganz durchströmt, und die Mannigfaltigkeit verhütet alle Sättigung, und beflügelt die Einbildungskraft, immer weiter und weiter zu dringen. Alle diese Empfindungen vermischen sich in der Seele, fließen in einander, und werden zu einer einzigen Erscheinung, die wir Bewunderung nennen.8

Eine deutlicher assoziationspsychologisch ausfallende Formulierung des auch in Ps-Longins Schweigegeste9, Addisons Ferment-Metaphorik10 oder Mendelssohns Begriff des naiven Zeichens11 hervortretenden Imaginationsaspektes von Erhabenheit findet sich 1788 bei Carl Grosse: Die feinsten Sensationen geben oft zu den erhabensten Gedanken, die gelindesten Empfindungen zu Aufwallungen Anlaß, die ihrer Mutter nicht gleichen. Die Seele fügt ihnen ihre Glieder erst an, und gestaltet den unfruchtbaren Klumpen; sie legt den Keim in ihn, der ihn aufblähet; homogene Theile, ähnliche Bilder hängen sich an ihn an, und der Körper erwächst.12 6

Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 316. – Vgl. auch die Ausführungen zu Mendelssohns Begriff des naiven Zeichens in Kapitel 4.2. 7 Stewart: Philosophical Essays, S. 234 (deutsche Übersetzung sowie Hervorhebungen A.D.), vgl. Kapitel 2.3. 8 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 458 (alle Hervorhebungen A.D.). 9 Vgl. Kapitel 3.3. 10 Vgl. Kapitel 4.1. 11 Vgl. Kapitel 4.2. 12 Grosse, C.: Über das Erhabene, mit einem Nachwort hg. von C. Zelle. St. Ingbert 1990, S. 23 (Hervorhebungen A.D.). Hamann fasst das Assoziationsvermögen als

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

257

Faszinationserleben ist, wie die angeführten Zitate Stewarts, Mendelssohns und Grosses noch einmal zeigen, im Sinne des inconstantia-Merkmals der epistemologischen Begriffstradition grundsätzlich an Bewegung gebunden. Diese Bewegung vollzieht sich aber im ersten Modus von Faszination (perzeptionsbezogen) im Äußeren (Objekt), im zweiten Modus von Faszination (reflexions- und imaginationsbezogen) im Inneren (Subjekt), wo sie „trains of fascinating and of endless imagery“13 hervorruft. Im Unterschied etwa zu Rührung ist Faszination kein Pathos-, sondern ein Tiefenkonzept, denn sie „beflügelt die Einbildungskraft, immer weiter und weiter zu dringen“14. Sie ist gekennzeichnet durch einen fortgesetzten semantischen Koordinierungsprozess und, damit einhergehend, durch eine Aktivierung des Erkenntnisvermögens. Faszinationserleben lässt sich als das Gefühl umschreiben, imaginativ-kognitiv außerordentlich angeregt einen durch sensitives Stimmigkeitserleben geschmeidig gemachten semantischen Oszillationsprozess zu durchlaufen. Das Gefühl entsteht, wenn die damit verbundene Restrukturierung von kategorialen Zuordnungen gedehnt, aber progressiv und damit intrinsisch lustbasiert verläuft. Dieser assoziationsaktivierende Kohärenzbildungsprozess vollzieht sich als mutmaßende Koordination disparat erscheinender semantischer Einheiten (Isotopien) und betrifft eher die Makrostruktur als die Mikrostruktur einer (sprachlichen) Zeichenfolge oder eines Vorstellungsensembles. Semantische Oszillation heißt, dass durch eine von sensitiver Lusterfahrung forcierte Paradigmenbildung die semantisch disparat erscheinenden Bereiche unter Aufgebot aller imaginativ-kognitiver Ressourcen (Wissen, Erfahrung, Sprach- und Begriffsschemata, Assoziationsund Konklusionsvermögen) als – in gewisser Hinsicht – ebenso stimmig wie die sinnliche Wahrnehmung des Objektes erprobt und zu verstehensförmigen Äquivalenzrelationen koordiniert werden, ohne dass dieser Prozess gänzlich abgeschlossen werden kann. Der einen faszinierenden Sog wechselnder Vorstellungen erzeugende kognitive Kohärenzbildungsdruck, der im Sinne der im dritten Teil der Untersuchung erläuterten aristo­telischen Pragmatik der Metapher auf Erkenntnislust zurückgeführt werden kann, wird durch hohe formale Stimmigkeitserfahrung sensitiv (oder auch, wie etwa bei Hamanns heilsgeschichtlicher Lesart von Ereignissen, durch ein unabweisbares Erwartungsvorurteil psychologisch) präfiguriert. Das Gefühl des Fasziniertseins wird umso eher empfunden, je stärker eine derart ressourcenaufwendige (aber ergebnis­ entlastete, weil ästhetische) Verstehensbewegung durch die Prozessierungslust an einem sensitiv perfekten und rezipientenaffinen Objekt unterstützt wird. „Baarschaft der Gedanken“ und „verborgenen Schatz des Herzens“ (Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 423), vgl. Kapitel 4.4. 13 Alison: Essays, S. 437, vgl. Kapitel 2.3. Alisons Formulierung bedient sich einer ähnlichen Metaphorik wie Grosse. 14 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 458.

258

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

Bei­spiele für ein erhöhtes Faszinationspotential auf mikrostruktureller Ebene wären beispielsweise in rhythmisch-lautlicher Hinsicht passgenaue kühne Metaphern („Ein Pferd starb weltenlang. Die Wiesen knien.“15) oder der Küsse-Bisse-Reim in Heinrich von Kleists Tragödie „Penthesilea“, dessen semantische Dimension durch den Handlungsverlauf aufgebaut wird. Hinsichtlich der makrostrukturellen Ebene weisen Texte wie die im vierten Teil der Untersuchung analysierte Darstellung des Himmels in Klopstocks Messias, die lyrischen Bildmontagen Georg Trakls oder Johannes Bobrowskis, die Parabeltexte Kafkas, der metaphern- und bildreiche Prosastil Herta Müllers oder Heiner Müllers ein hohes Faszinationspotential auf, ebenso Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde“16 oder Leonardos Gemälde Mona Lisa17 sowie Filme Andrej Tarkovskijs oder Videoclips der Rock-Band Rammstein. Heterogen montierte anschau­ungs­orien­tierte Isotopien (etwa sprachliche Bilder18) haben aufgrund eines größeren Deutungsspektrums und einer komplexeren Involvierung der mentalen Bildassoziation vermutlich ein höheres Faszinationspotential als nicht visualisierbare Isotopien. Neben der in diesem Buch vorrangig in formaler Hinsicht behandelten Denkfigur der Faszination dürften auch inhaltliche Merkmale, vor allem die Frage der subjektiv-lebensweltlichen Relevanz (unabhängig der Als-Ob-Situation der ästhetischen Rezeption) von Signifikaten, den Grad des Faszinationserlebens mitbestimmen.19 Umgekehrt ist keinesfalls alles, was semantisch mehrdeutig, obskur oder unverständlich erscheint, per se faszinierend. Voraussetzung von Faszinationserleben ist, dass (visualisierbare) Isotopien in konzeptionell oder referentiell ungewöhnlich 15 Aus Georg Kulkas Gedicht „Für ein Pferd“ von 1920 (Kulka, G.: Werke, hg. von G. Sauder. München 1987, S. 42). 16 Für Nietzsche („Ecce homo. Warum ich so klug bin“) liegt in der zugleich „schauerlichen und süssen Unendlichkeit“ dieser Oper eine „gefährliche[] Fascination“ (Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 289.). 17 Sigmund Freud zufolge „fasziniert“ das Gemälde, weil das Lächeln der Mona Lisa „zwei verschiedene Elemente vereinig[t]“, die das „Liebesleben des Weibes beherrschen“, nämlich „Reserve“ und „Verführung“, eine „hingebungsvolle[] Zärtlichkeit“ und eine „rücksichtslos heischende[], den Mann wie etwas Fremdes verzehrende[] Sinnlichkeit“ (Freud, S.: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), in: Ders.: Studienausgabe, Bd. 10. Bildende Kunst und Literatur, hg. von A. Mitscherlich, A. Richards und J. Strachey. Frankfurt a. M. 1969, S. 87 – 159, hier S. 134). 18 Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, S. 165 versteht unter sprachlichen Bildern eine „kohärente Gruppe“ von Sprachzeichen, deren Signifikat „durch einen komplexen visuellen Signifikanten dargestellt werden kann“. 19 In der empirischen Psychologie werden Gewalt, Sexualität, Konkurrenz und Kooperation als vermutlich hoch faszinationsaffine Inhalte des sozialen Bereichs genannt (Kaplan u. a.: The experience, S. 184). H. U. Seeber unterscheidet folgende Faszinationsbereiche: das Böse, Rätselhafte und Hässliche, den Warenfetischismus, den Bereich von Glamour und Showbusiness sowie persönliches Charisma (Seeber: Literarische Faszination, S. 108ff.).

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

259

disparater Anordnung vorliegen, sie in sensitiver wie semiotischer Hinsicht jedoch perfekt prozessierbar sind und ihre Signifikate als subjektiv relevant evaluiert werden: Klangvolle Nonsensgedichte, zufallsgenerierte Wortfolgen, Romane mit fehlenden Buchseiten oder Filme mit verzerrter Tonspur verfügen über ein geringes Faszinationspotential. Der semantisch oszillierende makrostrukturelle Klärungsprozess einerseits und die durch diesen veranlasste Nötigung zur Bildung semantischer Äquivalenzen andererseits (sensitiver Kohärenzbildungsdruck aufgrund formaler Ähnlichkeitsstruktur) haben einen gegenläufigen Charakter. Das durch sensitive Perfektion forcierte Ähnlichmachen-Müssen der disparaten Isotopien (Inkohärenz) sucht einen Ausweg in der semantischen Modifizierbarkeit der denotativen Bedeutung der verwendeten Zeichen. Eine solche Motivation, Wörter oder ganze Passagen anders als entsprechend ihrer lexikalisierten Bedeutung zu verstehen, kann beispielsweise auf die aus epistemologischer Sicht problematische „Faszination zurück[geführt werden], die die Analogie zwischen zwei ähnlichen Strukturen in unserer Sprache auf uns ausüben kann“20. Der semantisch restrukturierende Oszillationsprozess erzeugt im ästhetisch freigestellten Verstehenwollen eine durch die Anordnung hervorgerufene latente Mehrdeutigkeit der Zeichen, insofern die Analogie der Strukturen auch semantische Analogien qua Paradigmenbildung nahelegt und entsprechend das assoziative Sprach- und Weltwissen aktiviert.21 In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Faszination etwas Unbekanntes in einer eigentlich bekannten Domäne anzeigt; hier nämlich ein Andersverstehen von an sich verständlichen Zeichen bzw. Zeichenensembles. Faszination wird dabei weniger durch eine schnell zugewiesene semantische Äquivalenz stimuliert als durch eine – einen (unter semantischem Kohärenzdruck hinsichtlich der Signifikate und sensitiver Stimmigkeit hinsichtlich der Signifikanten) assoziations- und gedankenreichen Prozess der Äquivalenzkonjektur erzwingende – konstatierte semantische Disparatheit. Dies gilt letztlich – darüber versucht Hamann Kant aufzuklären – nicht nur für ein poetisches, sondern ähnlich auch für ein philosophisches Sprachverstehen: Deshalb kann, aus umgekehrter Blickrichtung, Wittgenstein das logische Kohärenzbestreben der Philosophie als einen „Kampf gegen die Faszination, die die Ausdrucksformen auf uns ausüben“22, beschreiben. Faszination ist eine emotionale Reaktion auf eine gedanken- und imaginationsstimulierende kognitiv-evaluative Herausforderung durch eine Sinneswahrnehmung oder zeichenbasierte Vorstellung in ästhetischer Einstellung, das heißt lustbasiert und in der Annahme einer prinzipiellen Kontrollierbar20 Wittgenstein, L.: Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Frankfurt a. M. 1984, S. 50. 21 Vgl. die Adaption des Magie-Begriffs F. Bacons bei Hamann in Kapitel 4.4. 22 Wittgenstein: Das Blaue Buch, S. 51.

260

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

keit der Situation. Die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden oder zeichenbasiert Imaginierenden ist dabei anhaltend und unwillkürlich an das stimulierende Objekt gebunden. Solange ich fasziniert bin, bin ich mit einer Sache – in Wahrheit mit meiner Schematisierung von Welt – nicht fertig. Das Versprechen der Faszination ist, einer Sache auf Dauer nicht überdrüssig zu werden; es ist größer (lustvoller) als das finalisierende Versprechen der Erwartungserfüllung. Da die Lust an der Faszination aus dem Prozess selbst resultiert, kennt Faszinationserleben keine Ungeduld; das unterscheidet es von Spannung. Die Sättigungsresistenz, das heißt die Wiederholbarkeit des ästhetischen Erlebens am selben Objekt, ist ein Merkmal von Faszination; sie hat Teil an dem Gefühl, sich dem Objekt nicht entziehen zu können. In Anlehnung an das im dritten Teil behandelte Konzept der Erhabenheit der Idee, das Grundaspekte von Faszination enthält, ist dasjenige faszinierend, „was man häufig prüfend betrachten kann und dem man sich doch nur schwer, nein, unmöglich entzieht und dessen Eindruck unauslöschlich im Gedächtnis bleibt“23. Dies gilt auch für die intendierte wirkungsintensive Inadäquatheit von semiotischem Aufwand und kommunikativer Bedeutung, wie sie bei Ps-Longin und bei Mendelssohn diskutiert wird: Lessing unterscheidet, wie gezeigt, im Sinne Ps-Longins andeutend-eindeutige von andeutend-mehrdeutigen Zeichen, wobei vor allem letzteren eine faszinierende Qualität zukommt.24 Das Anhaltende und Involvierende der intrinsischen Aufmerksamkeitsbindung privilegiert die emotionale Wirkungsstrategie von Faszination insbesondere in Situationen gesteigerter Aufmerksamkeitskonkurrenz, wie dies etwa im Bereich von Marketing-Ästhetik oder der Massenmedien der Fall ist. Der wirkungsästhetische Mehrwert von Faszination liegt dabei weniger in der Anlaufphase der Rezeption (selektierende Aufmerksamkeitszuwendung), als in der Auslaufphase. Die lustvolle Involvierung wird über die primäre Rezeptionszeit hinaus aufrecht erhalten. Der vergleichsweise hohe kognitive Anteil im Erleben von Faszination verbindet diese mit anderen Emotionen des admiratio-stupor-Spektrums wie Überraschung, Staunen oder Verwunderung. Diese können als unterschiedlich modulierte Reaktionsformen auf Neues oder Ungewisses aufgefasst werden.25 Der Faszination am nächsten kommt vermutlich Verwunderung, insofern diese nach Kant „einen Prospect zur Hoffnung“ auf eine neue Einsicht „verspricht“26. Ähnlich hat, so Hans Blumenberg, die obscuritas eines Textes nur dann einen ästhetischen Reiz, wenn „die Beschäftigung mit dem Gegenstand die Aussicht auf Erhellung wachhalten“ kann: „Genuß bietet das Auffin23 24 25 26

Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen, § 7, 3. Vgl. Kapitel 4.2. Zum emotionalen Profil vgl. Kapitel 1.2. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25,2, S. 812.

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

261

den immer neuer Konfigurationen, eine Art ‚experimentelle‘ Hermeneutik.“27 In einem solchen unabschließbaren Konfigurieren von (kohärenter) Bedeutung ist das eingangs begriffsgeschichtlich exponierte inconstantia-Merkmal von Faszination konzeptionell enthalten. In der damit verbundenen ästhetischen Verwandlung von Nichtverstehen in Assoziationslust und imaginativ-gedankliche Fülle kann das vielbeschworene ‚Verzaubernde‘ der Faszination gesehen werden. Ästhetisches Erleben von Kunst wie von Natur ist grundsätzlich und auch im Fall von Faszination intrinsisch motiviert. Ungeachtet einer aus der Hintergrundmetapher ‚Wirkung‘ sich ableitenden Faszinationsmetaphorik der Gewalt (wie Bindung, Fesselung, Überwältigung oder Unwiderstehlichkeit) ist es ein Surplus an Lust, das Faszinationserleben ermöglicht und auf Dauer – selbst gegen Abwehrreaktionen (etwa infolge einer Evaluierung bestimmter Objektinhalte) – aufrechterhält. Im Zuge der Faszinationspoetik Hamanns habe ich auf die kalkulierte Verknüpfung zweier ästhetischer Effekte hingewiesen, die – unter Ausklammerung der theologischen Implikationen Hamanns – sich auf die Formel bringen lässt: Perfekte Adressierung nötigt den Rezipienten zu unablässiger Nachbildung. Hamanns Autor ahmt den Leser (dessen sensitiv-kognitive Vermögen) nach, um diesen (konzeptionell-hermeneutisch) „zu Seiner Nachahmung aufzumuntern“28. Diese sensitiv-kognitive Adressierung stellt die lustökonomische Basis des Faszinationserlebens dar. Indem der Autor seine (vorsprachliche) Aussageintention medial transformiert, d. h. der sinnlichen und erkenntnisbezogenen Bedürfnisstruktur des Rezipienten entsprechend darstellt, motiviert er diesen intrinsisch, das heißt durch die im ästhetischen Erleben dieser Versinnlichung erfahrene Prozesslust an der Befriedigung seiner Bedürfnisse dazu, sich in das Problematische der Darstellung involvieren zu lassen. Davon ausgehend lassen sich für das Erleben ästhetischer Faszination heuristisch vier Lustkomponenten unterscheiden: – die Lust an der optimalen sinnlichen Prozessierbarkeit, beispielsweise die sensitive Lust am Rhythmus, am Klang, aber auch an Spannung oder Bildlichkeit – die (ästhetisch freigestellte) Erkenntnislust aus dem durch Verstehenshürden spürbar werdenden, sich sukzessive vollziehenden semantischen Koordinations- und Klärungsprozess von Diskrepanzen und Mehrdeutigkeiten; ein leicht verständlicher Text ist in dieser Hinsicht weniger lustvoll – die inhaltsbezogene Lust oder Unlust, die aus der jeweiligen thematisch-konzeptionellen Involvierung beim Bilden semantischer Paradigmen und den damit verbundenen Imaginationen, Erfahrungen, Emotionen, Bewertungen resultiert 27 Hans Blumenberg in der Diskussion (Iser, W. (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Poetik und Hermeneutik. Bd. 2. München 1966, S. 447). 28 Hamann: Briefwechsel, Bd. 1, S. 394.

262

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

– die Reflexionslust an dem Gefühl, sensitiv, kognitiv, imaginativ und emotional adäquat sowie ergebnis- und folgeentlastet (Als-Ob-Modus des Ästhetischen) aktiviert zu sein; das aus den anderen Lustbeträgen resultierende Selbstgefühl der in Aktivität versetzten Vermögen Faszination wird im ästhetischen Erleben eines Objektes vor allem dann dominant, wenn die erste und zweite Lustkomponente hoch ist. Eine eventuell mit der dritten Komponente erfahrene Unlust kann durch die drei anderen Komponenten spannungsvoll (intensivierend) balanciert werden. Hamanns Faszinationspoetik reflektiert insbesondere das Verhältnis zwischen der ersten und zweiten Komponente, nämlich inwiefern radikale Versinnlichung ein Verstehen schwächt oder befördert.29 Die nachdrücklichere Wirkung, die der Autor der stiltheoretischen Abhandlung De elocutione einer nur bildhaft-andeutenden statt expliziten Drohung zuspricht, resultiert aus einer hohen ersten und zweiten Lustkomponente und einer Unlust im Falle der dritten Komponente.30 Mendelssohns halbherziges Eingeständnis, dass Klopstocks Bildmontagen wirkungsästhetisch effizienter sind als eine ‚malende‘ Anschau­lichkeit, gewichtet vor allem die zweite und vierte Lustkomponente.31 Neben der Erkenntnislust, die durch die ungewisse Bewertung des Objektes herausgefordert wird, ist es vor allem die erste Lustkomponente, die jene faszinationstypische Fokussierung eines Objektes veranlasst. Die von Fühmann eingangs erwähnte „enorme Macht“, die im ästhetischen Erleben die Hand nach uns ausstreckt und uns zu bannen scheint, ist eine Verbindung dieser Lustkomponenten. Da aufgrund der verschiedenen Lustkomponenten auch solche Gegenstände lustvoll rezipiert werden können, die das spontane Verstehen des Rezipienten überfordern oder deren Inhalte – weil mit negativen Emotionen oder Bewertungen verbunden – abgelehnt werden, kann Faszination als Zwang und Gewalt erscheinen. Wenn in einem solchen Fall die Unlust, die aus dem Unvermögen oder aus bestimmten Inhalten resultiert, durch hohe sinnliche Affinität und Perfektion des Gegenstandes lustökonomisch balanciert wird, tritt das Gefühl einer fesselnden Faszination wider Willen besonders eklatant hervor. Das textstilistisch generierte Potential von Faszination als dem ästhetischen Gefühl, einen durch sensitives Stimmigkeitserleben motivierten ungewöhnlich ressourcenaufwendigen konjekturalen Klärungs- und Kohärenzbildungsprozess zu durchlaufen, soll an dem kurzen Gedicht Schädelbasislektion von Durs Grünbein erläutert werden.32 Das 1991 publizierte Gedicht zeigt hinsichtlich der Materialität der Signifikanten einen in sensitiver Hinsicht hohen Perfektionsgrad (hohe Äquivalenzdichte von Verslänge, Rhythmus und 29 30 31 32

Vgl. Kapitel 4.4. Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. Kapitel 4.3. Grünbein, D.: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a. M. 1991, S. 139.

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

263

Klang, bildliche Sequenzen), zugleich erscheint es hochgradig obskur (disparat verschränkte Isotopien, gestörte Anschaulichkeit, asyndetischer, teilweise elliptischer Stil, Neologismus). Unterm Nachtrand hervor Tauch ich stumm mir entgegen. In mir rauscht es. Mein Ohr Geht spazieren im Regen. Eine Stimme (nicht meine) Bleibt zurück, monoton. Dann ein Ruck, Knochen, Steine. ... Schädelbasislektion.

Zur sensitiven Stimmigkeit trägt der doppelte Kreuzreim, dessen betonte Silben viermal auf -o- und je zweimal auf -e- bzw. -ei- lauten, bei, des Weiteren Assonanzen und ein regelmäßiger Wechsel von, je nach Kadenz, sechs- bzw. siebensilbigen Versen mit einem trochäischen Auftakt. Das Metrum kann in der – nicht regelmäßig realisierten – Grundform als Kombination zweier Kretizi33 aufgefasst werden, die bei weiblicher Kadenz um eine Silbe am Versende erweitert werden. Insbesondere die über das Versende fortgeführte Regelmäßigkeit des dreisilbigen Versfußes im ersten (männliche Kadenz) und zweiten Vers (weibliche Kadenz) verleiht dem Rhythmus vom Anfang des Textes an einen hämmernd-treibenden Charakter. Dieser ist, im Verbindung mit den sperrig ineinander verschränkten Isotopien, wesentlich für die faszinierende Sogwirkung des Gedichtes verantwortlich. Der metrisch geregelte Rhythmus wird erst mit der letzten Silbe des zweiten Verses (weibliche Kadenz) variiert. Ab dem dritten Vers ist der erste Kretikus jeweils voll ausgebildet, während die Betonungen in der zweiten Vershälfte unterschiedlich ausfallen. Im sechsten Vers werden beide Kretizi wieder wie im ersten Vers rhythmisch vollständig realisiert. Die durch Assonanzen, Reim und Rhythmus evozierte hohe akustische Stimmigkeit, die visuell durch eine blockartige Anordnung der Verse abgebildet wird, forciert im ästhetischen Erleben einen kognitions- und imaginationsaktivierenden Kohärenz­bildungs­druck. Die beiden Eingangsverse lassen ansatzweise, von der finiten Verbform her, eine Tauchbewegung vorstellen. Diese lässt sich aber, darin der im Kapitel 4.3 untersuchten Passage aus Klopstocks Messias nicht unähnlich, weder räumlich-anschaulich noch hinsichtlich der Subjekt-Objekt-Relation klar bestimmen: „Unterm Nachtrand hervor/Tauch ich stumm mir entgegen.“ Es folgen weitere Orts- und Richtungsangaben („unterm [...] hervor“, „mir entgegen“, „in mir“, „im Regen“, „bleibt zurück“), die in ihrer Zusammenstellung den Eindruck einer starken, aber abstrakt blei33 Der Kretikus ist ein dreisilbiger Versfuß, im Deutschen realisiert als Betonungsfolge von: betont, unbetont, betont.

264

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

benden Bewegung evozieren. Im weiteren Versuch, den grammatisch korrekt kombinierten Signifikanten ein kohärentes Signifikat zuzuweisen, interagieren im ästhetischen Erleben die verschiedenen nicht isotopen semantischen Felder der Wörter und Wortgruppen. Die diskrepanten Isotopien sind derart ineinander verfügt, dass kaum nach eigentlichem und übertragenem Wortgebrauch oder Bildspender und -empfänger gefragt werden kann. Die Wörter und Wortgruppen lassen sich jedoch bestimmten semantischen Paradigmen zuordnen, beispielsweise dem Paradigma ‚Rede‘ („stumm“, „Ohr“, „Stimme“, „monoton“), dem Paradigma ‚Anatomie‘ („Knochen“, „Schädelbasis[]“), dem Paradigma ‚bewegtes Wasser‘ („Regen“, „rauschen“) und dem Paradigma ‚körperliche Bewegung‘ („tauch[en]“, „spazieren“, „bleibt zurück“, „Ruck“); andere Paradigmen wären ebenso möglich. Die Schlusszeile des Gedichtes exemplifiziert das bildbrechende Fusionsverfahren des gesamten Gedichtes, indem sie die beiden Komposita ‚Schädelbasis‘ und ‚Basislektion‘ zu einem Neologismus verbinden und so auf der Signifikantenebene jene ‚Fraktur‘ darstellen, die vermutlich das Thema des Gedichtes ist. Als Gesamtaussage des derart sein Signifikat versinnlichenden Gedichtes kann ein Unfall („ein Ruck, Knochen, Steine“) und dessen prägende (Erinnerungs-)Spur am bzw. im Kopf im Sinne einer „[...]basislektion“ angenommen werden. Das Gedicht vollzieht eine thematische Engführung, da die physische Einprägung (Fraktur) und die psychisch Einprägung (Lektion) dasselbe Körperteil betreffen. Der Neologismus „Schädelbasislektion“ exemplifiziert in seiner divided-self-Struktur nicht nur das Thema des Gedichtes, sondern ist zugleich Bild seines montierenden Darstellungsverfahrens. Dieses ermöglicht im Zusammenspiel mit dem geschlossenen Klang- und Rhythmuseindruck ein hohes Faszinationspotential. In der Diskussion von Faszinationsaspekten in Wirkungstheorien der Antike und des 18. Jahrhunderts im dritten und vierten Teil der Untersuchung wurde wiederholt auf das Auffinden semantischer Parallelen und die Bildung entsprechender Paradigmen hingewiesen: so bei der aristotelischen Metapherntheorie, bei Kants Begriff der ästhe­tischen Idee, bei Goethes Symbolbegriff, Addisons Anschaulichmachen des Un­anschaulichen, Lowths Prinzip des Parallelismus in der Psalmdichtung, Mendelssohns Begriff der „ImaginazionsVerbindung“, vor allem bei Hamanns universaler Koordination der natürlichen und historischen Phänomene als (göttliche) Bilderrede. Zur markierten „Sorte des Parallelismus“, schreibt Roman Jakobson 1960, „gehören die Metapher, der Vergleich, die Parabel, und so weiter, bei denen die Wirkung durch eine Ähnlichkeit zwischen den Dingen gesucht wird, und die Antithese, der Kontrast, und so weiter, bei denen sie durch Unähnlichkeit gesucht wird.“34 Grundsätzlich ist das semantische Koordinieren von Phänomenen zu Paradigmen, darauf weist Giorgio Agamben 2008 hin, eine Erkenntnisform, die we34 Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 188.

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

265

der induktiv noch de­duktiv, sondern analogisch verfährt: von der Partikularität eines Phänomens zur Partikularität eines anderen Phänomens.35 „Weder ist die Idee ein anderes Seiendes, das dem Wahrnehmbaren unterlegt wird, noch koinzidiert sie mit ihm: sie ist das Wahrnehmbare, sofern es als Paradigma behandelt wird, das heißt im Medium seiner Intelligibilität.“36 Analogien bestehen nicht, sondern werden durch Paradigmenbildung zugewiesen: Dies macht (sprachliche) Bildlichkeit und andere Verfahren der aktiven semantischen Koordination imaginativ reich und kognitiv herausfordernd. Indem das Analogieverfahren der Paradigmenbildung „jeden einzelnen Fall in das Exemplar einer allgemeinen Regel, die a priori zu formulieren unmöglich bleibt“37, verwandelt, macht sie, so Agamben, „eine Serie von Phänomenen intelligibel“38. Auch in dieser Hinsicht ist im Falle von Faszinationserleben die sinnliche Präsenz des Objektes Voraussetzung für dessen Verstehen. Phänomen- oder Zeichenensembles müssen in ihrem Zusammenhang (als Stil) betrachtet werden, damit ihre „versteckte Ordnung“39 zur Wirkung kommt. Deshalb muss, so Aristoteles, wer „geistreich“ verstehen will, „über vieles hinweg zusam­men­ zuschauen und von weither Schlüsse zu ziehen“40 fähig sein. Hamann leitet daraus das faszinierende Zusammenbinden und erkennende Anders-Verstehen von Wörtern oder Phänomenen aufgrund ihrer Anordnung, das heißt die semantisierende Kraft des Stils, ab. Durs Grünbein weist darauf hin, dass „Schwingungswert und Stellenwert des in den Vers gebundenen Wortes“ 41 ein­ander bedingen. Auf die prinzipielle semantische Paradigmenfähigkeit aufeinanderfolgender Ereignisse zielt Jakobson, wenn er mit Goethe – und im Geist von Hamanns Bacon-Lektüre: Magie ist die „Wissenschaft von der Übereinstimmung aller Dinge“42 – bemerkt: „Alles Ver­gängliche ist nur ein Gleichnis“43. Jakobson berührt damit die Struktur von syntagmatischer Relation (Kontiguität) einer- und paradigmatischer Relation (Similarität) andererseits: In der Dichtung strebt nicht nur die phonologische Sequenz, sondern ebenso jede Sequenz aus semantischen Einheiten nach der Etablierung einer Gleichung.

35 Agamben, G.: Was ist ein Paradigma?, in: Ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a. M. 2009, S. 9 – 40, hier S. 37. 36 Ebd., S. 31. 37 Ebd., S. 26 (Hervorhebungen im Original). 38 Ebd., S. 37. 39 Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 3,1, S. 337; vgl. Kapitel 4.3. 40 Aristoteles: Rhetorik, S. 25; vgl. Kapitel 3.1. 41 Grünbein, D.: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010, S. 53. 42 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 128; vgl. Kapitel 4.4. 43 Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 191.

266

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

Die Überlagerung der Kontiguität durch die Similarität verleiht der Dichtung ihr durchgängig symbolisches, vielfältiges, polysemantisches Wesen [...].

Die stilistische Exponierung des polysemantischen Wesens von Dichtung steigert das Wirkungspotential von Faszination. Kohärenzbildung (in Hinblick auf die Makrostruktur) und Bedeutungsverschiebung (in Hinblick auf Paradigmenbildung) sind komplementäre semantische Prozesse, die qua Imagination und Assoziation ästhetische Faszination als semantisches Oszillieren oder ‚Verzauberung‘ erleben lassen. Verwandelt sich ein Gedicht, wie Jan Mukařovský 1938 zu den surrealistischen Gedichten Vítězslav Nezvals bemerkt, durch „den Zauber der Bedeutungs­verschiebungen“ in ein „Geheimnis“44, dann tritt es, mit Grünbeins Beschreibung der Sättigungsresistenz des Faszinierenden zu sprechen, auf der Stelle und tut so, als hätte es nie ein Verstehen gegeben, es treibt die Worte dorthin, wo sie behalten werden, wo eine Stimme sie murmelnd noch einmal und noch einmal wiederholen muß... selbst dann noch, wenn ein Teil von ihnen (oder das Ganze) längst als verstanden gilt.45

Denn, so wäre wiederum mit Mukařovský im Sinne der lustökonomischen Balance der Faszinationspoetik fortzufahren, dichterische Rätsel werden nicht gestellt, um gelöst zu werden, sondern um durch ihre Rätselhaftigkeit dichterisch zu wirken; der vom Rätsel-Gedicht ausgelöste Assoziationsprozeß kann beim Leser zu anderen Ergebnissen führen als sie der Dichter subjektiv voraussetzte.46

Zu den Stilmitteln, die das polysemantische Wesen der Dichtung exponieren, gehören Hamanns „Laconismus und stylus atrox poetischer Bilderschrift“47, überhaupt die verschiedenen Formen bildhaften und übertragenen Sprachgebrauchs, der Verschränkung verschiedener Bedeutungsebenen, der Verknappung, Aussparung und syntaktischen Polyvalenz, auch der semantischen Entge­gensetzungen, ebenso Darstellungsverfahren der Andeutung oder der Gedanken­emphase, wie sie im dritten und vierten Teil diskutierte wurden. Im wissenschaftlichen Diskurs, dies haben die vorgestellten Theoreme gezeigt, wird ästhetische Faszination kaum explizit begrifflich, sondern meist in 44 Mukařovský, J.: Semantische Analyse des dichterischen Werkes: Nezvals „Absoluter Totengräber“, in: Ders.: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. München 1974, S. 263 – 286, hier S. 267. 45 Aus Grünbeins Kommentar zum Beitrag „Gedichte und Teillösungen“ von Peter Waterhouse, in: Grünbein, D./Oleschinski, B./Waterhouse, P.: Die Schweizer Korrektur. Basel 1995, S. 62. 46 Mukařovský: Semantische Analyse, S. 280. 47 Hamann: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 421 (Hamanns Anmerkungen zur Buffon-Übersetzung „Über den Styl“), vgl. Kapitel 4.4.

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

267

Form einer Denkfigur reflektiert. Dies gilt weithin auch noch für das 19. und 20. Jahrhundert. In der vorbegrifflichen Reflexion von Faszinationserleben wird, darauf soll abschließend eingegangen werden, die spezifische Objektund Erlebnisqualität von Faszination insbesondere durch zwei Metaphern veranschaulicht: Schleier und Sog. Diesen kommt der Status von konzeptionellen Metaphern zu.48 Die räumlich strukturierte Metapher des Schleiers veranschaulicht die charakteristische Objektqualität faszinationsstimulierender Gegenstände oder Si­tu­ationen: Semitransparenz, das heißt oszillierende Mehrdeutigkeit, Diskrepanz, Ambiguität. Beim Blicken auf und durch den Schleier verschränken sich zwei visuelle Objektbereiche (oder, semiotisch gesprochen, zwei Bedeutungsebenen): der semitransparente Schleier und das dahinterliegende Verschleierte. Der Schleier als Verhüllendes steht auch etymologisch hinter der rhetorischen obscuritas, die weniger das Dunkle als das Dämmrige, Zwielichtige meint.49 Er ist ein klassischer Topos für den Zeichencharakter von Sprache, insbesondere für andeutende, ge­heimnisvolle, bildhafte Sprache, und für deren wirkungsästhetische Überlegenheit gegenüber deutlichen Aussagen. Ps-Demetrios spielt im Bild der lächerlichen nackten Männer darauf an. Bei Kant (Isis-Tempel) und Goethe (Rosalien-Episode) wird die Bildlichkeit des Schleiers diskutiert, für Hamann ist die Schöpfung das Gitter, durch das hindurch Gott im Sinnlichen erkannt werden kann. Demgegenüber veranschaulicht die zeitlich strukturierte Metapher des Sogs die charakteristische Erlebnisqualität von Faszination: die anhaltende Fokussierung eines Objektes, die mit einer intrinsischen Aktivierung wechselnder Vorstellungen und Gedanken einhergeht, also das mental Anregende, Herausfordernde, auch Hervortreibende, wie es den auf ‚geistreiches‘ Sprechen ausgerichteten Stilkonzepten des Erhabenen der Idee, der Lakonie und der Gedankenemphase zugrunde liegt. „Sogfaszination“50 legt die Bedürfnisstruktur der ästhetisch Faszinierten frei. Vergleichbar einem Wirbel im Wasser beruht der äußerlich starr erscheinende Sog der Faszination – die anhaltende Aufmerksamkeitsbindung – auf 48 Vorstellungen und Deutungsmuster, nicht zuletzt von emotionalen Erfahrungen, basieren grundsätzlich auf metaphorischen Konzepten (vgl. Lakoff u. a.: Leben in Metaphern). 49 Fuhrmann: Obscuritas, S. 50. 50 Vgl. Heinrich, K.: Sog. Zur aktuellen Mythenfaszination. Interview von H. Kurnitzky, in: Niemandsland, Zeitschrift zwischen den Kulturen 1 (1987), 3, S. 84 – 93, hier S. 91: „Um dieser Sogfaszination willen wird unendlich viel in Kauf genommen“. Heinrich geht in psychoanalytischer, nicht ästhetischer Hinsicht mehrfach auf den Zusammenhang von Faszination, Sog und Sucht ein. Dem Süchtigen gelinge die „Balance von Haben und Gehabt-Werden“ nicht mehr. Sobald er in die regressive Dynamik des Sogs hineinkommt, fühle er sich in gefährlicher Weise von seiner Sucht befreit (Heinrich, K.: Sucht und Sog. Zur Analyse einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegungsform, in: Ders.: Reden und kleine Schriften. Bd. 1. Anfangen mit Freud. Frankfurt a. M. 1997, S. 39 – 68, hier S. 54ff.).

268

Resümee: Faszination in poetischer Hinsicht

einer mitreißenden imaginativ-kognitiven Dynamik. Deren Kraft (Lustkomponenten) resultiert aus dem scheinbaren Abbau der Unterdruck-Spannung von sinnlich perfekter und semantisch-kognitiv unsicherer Prozessierung. Das faszinierende Objekt ist nur sinnlich-imaginativer Stimulus und bleibt außen vor: Die unwillkürlich in den Faszinierten einströmenden disparaten Vorstellungen verdanken sich seinen Erfahrungen, Kenntnissen, Bewertungen und begrifflichen Schemata.

Verzeichnis der zitierten Literatur

269

Verzeichnis der zitierten Literatur Abbas, Ackbar: Dialectic of Deception, in: Public Culture 11 (1999), S. 347 –363. Abbas, Ackbar: On Fascination: Walter Benjamin’s Images, in: New German Critique 48 (1989), S. 43 – 62. Addison, Joseph: The Pleasures of the Imagination, in: The Spectator, Bd. 3, hg. von Gregory Smith. New York 1945, S. 276 – 309. Addison, Joseph: Von den Belustigungen der Einbildungskraft, in: Der Zuschauer, übersetzt von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Zweyte verbesserte Auflage, Theil 6. Leipzig 1751, S. 75 – 126. Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1981. Agamben, Giorgio: Was ist ein Paradigma? in: Ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a. M. 2009. Albert, Karl: Griechische Religion und platonische Philosophie. Hamburg 1980. Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Bd. 2. Nach der Cölner Urschrift, hg. von Hermann Stadler. Münster 1920. Albertus Magnus, Opera omnia. Paris 1882ff. Algazel: Algazel’s Metaphysics, hg. von Joseph Thomas Muckle. Toronto 1933. Alison, Archibald: Essays on the Nature and Principles of Taste. Edinburgh 1811. Alison, Archibald: Essays on the Nature and Principles of Taste. Edinburgh 1790. Apelt, Otto: Platonische Aufsätze. Leipzig, Berlin 1912. Aristoteles: Poetik, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008. Aristoteles: Schriften zur Rhetorik und Poetik, Bd. 1, Rhetorik, übersetzt von Karl Ludwig Roth. Stuttgart 1833. Aristoteles: Rhetorik, Halbbd. 1, übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Berlin 2002. Asmuth, Bernhard: Der Beitrag der klassischen Rhetorik zum Thema Verständlichkeit, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 28, hg. von Gerd Antos. Tübingen 2009, S. 1 – 28. Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. Stuttgart, Weimar 2000 – 2005. Augustinus, Aurelius: Bekenntnisse, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. München 1992. Avicenna: Liber de Anima seu Sextus de naturalibus, IV–V, hg. von Simone van Riet. Louvain 1968. Bacon, Francis: The Works, hg. von James Spedding u. a. London 1857 – 1874 [Nachdruck 1963]. Baisch, Martin: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman, in: Kasten, Ingrid (Hg.): Machtvolle Gefühle. Berlin, New York 2010, S. 139 – 166. Basilius: Opera Omnia. Patrologia Graeca, Bd. 31. Paris 1857.

270

Verzeichnis der zitierten Literatur

Baumbach, Sibylle: Literature and Fascination. Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2015. Baumbach, Sibylle: Medusa’s gaze and the aesthetics of fascination, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie (2011), 2, S. 225 – 245. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysik. Ins Deutsche übersetzt von Georg Friedrich Meier, nach dem Text der zweiten, von Johann August Eberhard besorgten Ausgabe 1783. Jena 2004. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Lateinisch-Deutsch, übersetzt und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983. Bayer, Oswald: „Geschmack an Zeichen“. Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 53 (2011) H. 1, S. 1 – 15. Bees, Robert: Lakonismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2001, Sp. 17 – 22. Benjamin, Walter: Über das Rätsel und das Geheimnis, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 17 – 18. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien. Gesammelte Schriften, Bd. 5,1, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1982. Benjamin, Walter: Goethes Wahlverwandtschaften, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1977, S. 63 – 135. Bernfeld, Siegfried: Über Faszination, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften 14 (1928), S. 76 – 87. Betz, Hans Dieter: Galatians. A Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia. Philadelphia 1988. Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung. Stuttgart 1984. Berto, Rita/ Baroni, Maria Rosa/ Zainaghi, Alessandra u. a.: An exploratory study of the effect of high and low fascination environments on attentional fatigue, in: Journal of Environmental Psychology 30 (2010), S. 494 – 500. Bleuler, Eugen: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. Halle 1906. Bojashieff, Zotscho: Die frühgriechische Philosophie als Phänomen der Kultur. Würzburg 1995. Borchmeyer, Dieter: Nietzsches Begriff der Decadence, in: Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne, hg. von Manfred Pfister. Passau 1989, S. 84 – 95. Bond, Donald F. (Hg.): The Tatler, mit einer Einführung und Anmerkungen, Bd. 2. Oxford 1987. Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1798). Hamburg 1999. Brandt, Reinhard: Zur Logik des ästhetischen Urteils, in: Parret, Herman (Hg.): Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’ esthétique de Kant. Berlin, New York 1998, S. 229 – 245. Brandt, Reinhard: Einleitung, in: Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen, griechisch und deutsch. Übersetzt und hg. von Reinhard Brandt. Darmstadt 1966, S. 11 – 26. Brandt, Reinhard/ Stark, Werner: Einleitung, in: I. Kant: Gesammelte Schriften, Bd. 25, Kant’s Vorlesungen. Berlin 1997, S. VII–CLI.

Verzeichnis der zitierten Literatur

271

Breithaupt, Fritz: Jenseits der Bilder. Goethes Politik der Wahrnehmung. Freiburg i. B. 2000. Brucker, Johann Jakob: The history of philosophy [...], Bd. 1. Dublin 1792. Brucker, Johann Jakob: Historia Critica Philosophiae [...], Bd. 1. Leipzig 1742. Brucker, Johann Jakob: Kurtze Fragen aus der philosophischen Historie [...], Bd. 1. Leipzig 1731. Büchsel, Elfriede: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J. G. Hamann. Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel. Gießen 1988. Büchsel, Elfriede: Metaschematismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel, Stuttgart 1980, Sp. 1299 – 1300. Bühler, Winfried: Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen. Göttingen 1964. Bultmann, Christoph: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999. Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge, neu eingeleitet u. hg. von Werner Strube. Hamburg 21989. Burke, Edmund: On the sublime and beautiful, hg. von Charles W. Eliot. New York 1909. Burkert, Walter: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon. Nürnberg 1962. Burnet, John: Greek Philosophy. Thales to Plato. London 1914. Ceglia, Francesco Paolo de: „It’s not true, but I believe it“. Discussions on jettatura in Naples between the End of the Eighteenth and Beginning of the Nineteenth Centuries, in: Journal of the History of Ideas 72 (2011) H. 1, S. 75 – 97. Chambers, Ephraim: Cyclopædia, or, An universal Dictionary of Arts and Sciences, Bd. 1. London 1728. Chevrier, Edmond: Socrate, sa vie et ses doctrines, in: Journal d’agriculture, sciences, lettres et arts 51 (1861), S. 116 – 138. Cicero, Marcus Tullius: De oratore, lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert u. mit einer Einleitung hg. von Harald Merklin. Stuttgart 1976. Connor, Steven: Fascination, skin, and the screen, in: Critical Quarterly 40 (1998) H. 1, S. 9 – 24. Culianu, Ioan Petru: Eros and Magic in the Renaissance. Chicago 1987. Curzon, Henry: The universal library, or, compleat summary of science, Bd. 1. London 1716. Czapla, Ralf Georg: Paronomasie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2003, Sp. 649 – 652. Degen, Andreas: Faszination und Sympathie. Zur Begründung einer Ästhetik der Faszination durch Johann Georg Hamann, in: Hillebrandt, Claudia/ Kampmann, Elisabeth (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014, S. 66 – 95. Degen, Andreas: Ästhetische Faszination nach Kant, in: Baisch, Martin/ Degen, Andreas/ Lüdtke, Jana (Hg.): Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Freiburg 2013, S. 265 – 302. Degen, Andreas: Ästhetische Faszination, erläutert an Reisebeschreibungen vom Vesuv, in: Peitsch, Helmut (Hg.): Reisen um 1800. München 2012, S. 107 – 124. Degen, Andreas: Concepts of Fascination, from Democritus to Kant, in: Journal of the History of Ideas 73 (2012) H. 3, S. 371 – 393.

272

Verzeichnis der zitierten Literatur

Degen, Andreas: Sokrates fasziniert. Zu Begriff und Metaphorik der Faszination (Platon, Ficino, Nietzsche), in: Archiv für Begriffsgeschichte 53 (2012), S. 9 – 31. Degen, Andreas: Festgezaubert. Positionen zur poetischen Faszination bei Ludwig Tieck, E.T.A. Hoffmann und in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, in: Hahnemann, Andy/ Weyand, Björn (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2009, S. 59 – 89. Delaurenti, Béatrice: La fascination et l’action à distance. Questions médiévales (1230 – 1370), in: Médiévales 50 (2006), S. 137 – 154. Delling, Gerhard: téleios, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 8, hg. von Gerhard Friedrich. Stuttgart u. a. 1969, S. 68 – 79. Delling, Gerhard: báskaino, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, hg. von Gerhard Kittel. Stuttgart 1933, S. 595f. Derrida, Jacques: Dissemination, hg. von Peter Engelmann, übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Wien 1995. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Klaus Hammacher. Hamburg 1996. Dickie, Matthew W.: The Fathers of Church and the Evil Eye, in: Byzantine Magic, hg. von Henry Maguire. Washington 1995. Doel, Marieke J. E. van den/ Hanegraaff, Wouter J.: Imagination, in: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, Bd. 2, hg. von Wouter J. Hanegraaf. Leiden 2005, S. 606 – 616. Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch. Bern, Stuttgart, Toronto 111987. Douglas, James: On the philosophy of the mind. Edinburgh 1839. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien u. a. 31996. Dürbeck, Gabriele: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998. Dundes, Alan (Hg.): The Evil Eye. A Casebook. Madison 1992. Dupaty, Charles: Briefe über Italien vom Jahr 1785, aus dem Französischen von Georg Forster. Bd. 2. Mainz 1790. Eisenberger, Herbert: Demokrits Vorstellung vom Sein und Wirken der Götter, in: Rheinisches Museum 113 (1970), S. 141 – 158. Ekman, Paul: All emotions are basic, in: The nature of emotion. Fundamental questions, ed. by Paul Ekman, Richard J. Davidson. New York 1994, S. 15 – 19. Elliott, John H.: Paul, Galatians, and the Evil Eye, in: The social world of the New Testament. Insights and models, hg. von Jerome H. Neyrey, Eric C. Stewart. Peabody, MA 2008. Encyclopédie, hg. von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert, Bd. 6. Paris, Geneve, Neuchâtel 1756. Engels, Johannes: Sentenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2007, Sp. 847 – 867. Enzyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik, hg. von Adolf Dannemann, Hans Schober, Eduard Schulze. Halle a. S. 1911, S. 536. Erler, Michael: Platon. Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 2,2, hg. von Helmut Holzhey. Basel 2007. Ernst, Paul: Hamann und Bengel. Ein Aufriß ihrer Werk- und Lebensbeziehungen als Abriß wesentlicher Hamann-Züge. Gumbinnen 1935. Eucken, Christoph: Der schwache und der starke Logos des Antisthenes, in: Hyperboreus 3 (1997), S. 251 – 273.

Verzeichnis der zitierten Literatur

273

Fainsilber, Lynn/ Ortony, Andrew: Metaphorical uses of language in the expression of emotions, in: Metaphor and Symbolic Activity 2 (1987), S. 239 – 250. Fanger, Claire: Things done wisely by a wise enchanter. Negotiating the power of words in the thirteenth century, in: Esoterica 1 (1999), S. 97 – 132. Ficino, Marsilio: Platonic Theology, Bd. 4, übersetzt von Michael J. B. Allen, hg. von James Hankins. Cambridge, Mass. 2004. Ficino, Marsilio: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, hg. und eingeleitet von P. Richard Blum. Hamburg 31994. Fiehler, Reinhard: Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Kommunikation. Berlin, New York 1990. Franz, Michael: Von Gorgias bis Lukrez.: Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie. Berlin 1999. Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910), in: Ders.: Studienausgabe, Bd. 10. Bildende Kunst und Literatur, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt a. M. 1969, S. 87 – 159. Fricke, Christel: Freies Spiel und Form der Zweckmäßigkeit in Kants Ästhetik. Zur Frage nach dem schönen Gegenstand, in: Franke, Ursula (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“. Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 16 (Sonderheft 2000), S. 45 – 64. Frijda, Nico Henri: The emotions. Cambridge 1986. Fritz, Martin: Vom Erhabenen. Der Traktat „Peri Hypsous“ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur, in: Ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze. 1964 – 1981. Rostock 21986, S. 82 – 140. Fuhrmann, Manfred: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘ Eine Einführung. Darmstadt 1992. Fuhrmann, Manfred: Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, in: Iser, Wolfgang (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Poetik und Hermeneutik, Bd. 2. München 1966, S. 47 – 69. Furetière, Antoine: Dictionnaire universel, Bd. 2. La Haye 1690. Gehrke, Hans Joachim: Geschichte des Hellenismus. München 1990. Gibbs, Raymond W./ Orden, Guy C. van: Are emotional expressions intentional? A self-organizational approach, in: Consciousness and Emotion 4 (2003) S. 1 – 16. Goclenius, Rodolphus: Lexicon philosophicum. Frankfurt 1613. Godet, Alain: „Nun was ist die Imagination anderst als ein Sonn im Menschen“. Studien zu einem Zentralbegriff des magischen Denkens. Basel 1982. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. Hendrik Birus und Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1985 – 2013. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, hg. von Johann Christoph Adelung, Dietrich Wilhelm Soltau und Franz Xaver Schönberger. Wien 1811. Gregory, Joshua C.: Magic, Fascination, and Suggestion, in: Folklore 63 (1952), S. 143 – 151. Grosse, Carl: Über das Erhabene, mit einem Nachwort hg. von Carsten Zelle. St. Ingbert 1990.

274

Verzeichnis der zitierten Literatur

Grünbein, Durs: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010. Grünbein, Durs/ Oleschinski, Brigitte/ Waterhouse, Peter: Die Schweizer Korrektur. Basel 1995. Grünbein, Durs: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt a. M. 1991. Gründer, Karlfried: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte. Göttingen 1982. Gründer, Karlfried: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns „Biblische Betrachtungen“ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg u. a. 1958. Hacking, Ian: Vom Gedächtnis der Begriffe, in: Schulte, Joachim/ Wenzel, Uwe (Hg.): Was ist ein philosophisches Problem? Frankfurt a. M. 2001, S. 72 – 86. Hagemann, Tim: Maieutik, christliche, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2001, Sp. 733 – 736. Hahnemann, Andy/ Weyand, Björn: Faszination. Zur Anziehungskraft eines Begriffs, in: Dies. (Hg.): Faszination. Historische Konjunkturen und heuristische Tragweite eines Begriffs. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2009, S. 7 – 32. Hamann, Johann Georg: Londoner Schriften, hg. von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn. München 1993. Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1993. Hamann, Johann Georg: Briefwechsel, Bd. 1 – 3, hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955 – 1957; Bd. 4 – 7, hg. von Arthur Henkel. Wiesbaden 1959, Frankfurt a. M. 1965 – 1979. Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Josef Nadler. Wien 1949 – 1957. Hamilton, John T.: Soliciting Darkness: Pindar, Obscurity, and the Classical Tradition. Cambridge, Mass. 2003. Haring, Claus/ Leickert, Karl Heinz: Wörterbuch der Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete. Stuttgart, New York 1968. Hasse, Dag Nikolaus: Avicenna’s „De Anima“ in the Latin West. The Formation of a Peripatetic Philosophy of the Soul 1160 – 1300. London 2000. Haug, Wolfgang Fritz: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M. 1971. Hauschild, Thomas: Der Böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin 1982. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: Ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 16, hg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969. Heinrich, Klaus: Das Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang. Basel, Frankfurt a. M. 1995. Heinrich, Klaus: Sucht und Sog. Zur Analyse einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegungsform, in: Ders.: Reden und kleine Schriften, Bd. 1. Anfangen mit Freud. Frankfurt a. M. 1997, S. 39 – 68. Heinrich, Klaus: Sog. Zur aktuellen Mythenfaszination. Interview von H. Kurnitzky, in: Niemandsland, Zeitschrift zwischen den Kulturen 1 (1987) H. 3, S. 84 – 93. Heise, Wolfgang: „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“. Kants Schönheitsbegriff: Weltanschauliche Bedeutsamkeit und utopischer Gehalt, in: Ders.: Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung und Ästhetik in Deutschland 1750 – 1850. Berlin 1990, S. 307 – 398.

Verzeichnis der zitierten Literatur

275

Henn, Claudia: Simplizität, Naivität, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und Deutschland. Berlin 1973. Hertz, Neil: Das Ende des Weges. Aesthetica. Frankfurt a. M. 2001. Hieronymus, Sophronius Eusebius: Opera Omnia. Patrologia Latina, Bd. 26. Paris 1845. Hipple, Walter J.: The Aesthetics of Dugald Stewart. Culmination of a Tradition, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 14 (1955) H. 1, S. 77 – 96. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel, Stuttgart 1971 – 2007. Hofmannsthal, Hugo von/ Andrian, Leopold von: Briefwechsel, hg. von Walter H. Perl. Frankfurt a. M. 1968. Hofmannsthal, Hugo von/ Schnitzler, Arthur: Briefwechsel, hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1964. Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzuhalten, übersetzt von Christlob Mylius. London 1754. Home, Henry: Elements of Criticism. Edinburgh 41769. Homer: Ilias, Odyssee, in der Übertragung aus dem Griechischen von Johann Heinrich Voß. Frankfurt a. M. 1990. Huber, Carlo E.: Anamnesis bei Plato. München 1964. Hupka, Ralph B./ Zaleski, Zbigniew/ Otto, Jürgen u. a.: Anger, envy, fear, and jealousy as felt in the body. A five-nation study, in: Cross-Cultural Research 30 (1996), S. 243 – 264. Imschoot, Tom Van: Surviving Fascination, in: Image [&] Narrative 14 (2013) H. 3, S. 151 – 168. Iser, Wolfgang (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Poetik und Hermeneutik, Bd. 2. München 1966. Iserloh, Erwin: Abendmahl III/3. Römisch-katholische Kirche, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1. Berlin 1977, S. 122 – 131. Izard, Carroll E.: Human emotions. Emotions, personality, and psychotherapy. New York u. a. 1977. Jäger, Georg: Montage, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. von Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 631 – 633. Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2. Berlin 21954. Johnson, Samuel: A Dictionary of the English Language, Bd. 1. London 1755. Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik, in: Ders.: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe, Bd. 1. Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. von Hendrik Birus und Sebastian Donat. Berlin, New York 2007, S. 155 – 216. Jørgensen, Sven-Aage: Zu Hamanns Stil, in: Johann Georg Hamann, hg. von Reiner Wild. Darmstadt 1978, S. 372 – 390. Jørgensen, Sven-Aage: Hamann, Bacon, and Tradition, in: Orbis Litterarum 16 (1961), S. 48 – 73. Kallendorf, Craig: Erhabene, das; B I. Antike, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 1994, Sp. 1357 – 1361. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe. Berlin 1900ff. Kaplan, Stephen: The restorative benefits of nature. Toward an integrative framework, in: Journal of Environmental Psychology 15 (1995), S. 169 – 182. Kaplan, Stephen/ Kaplan, Rachel: The experience of nature. A psychological perspective. New York 1989.

276

Verzeichnis der zitierten Literatur

Kaplan, Stephen: Attention and fascination. The search for cognitive clarity, in: Kaplan, Stephen/ Kaplan, Rachel (Hg.): Humanscape. Environments for people. Belmont, CA 1978, S. 84 – 90. Kim, Hee-Ju: Der Schein des Seins. Zur Symbolik des Schleiers in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Tübingen 2005. Klein, Jacob: A commentary on Plato’s „Meno“. Chicago 1965. Kliche, Dieter: Ästhetische Pathologie. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2000), S. 197 – 230. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Berlin, New York 1974ff. Knutzen, Martin: Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift. Königsberg 1747. Köhnken, Adolf: Darstellungsziele und Erzählstrategien in antiken Texten. Berlin 2006. Köller, Wilhelm: Sinnbilder für Sprache. Metaphorische Alternativen zur begrifflichen Erschließung von Sprache. Berlin, Boston 2012. Kövecses, Zoltán: Metaphor and emotion. Language, culture, and body in human feeling. Cambridge 2000. Konstan, David: The emotions of the ancient Greeks. Studies in Aristotle and classical literature. Toronto, Buffalo, London 2006. Krapinger, Gernot: Zeugma, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2009, Sp. 1504 – 1511. Kreis, Guido: Hässlichkeit – Ihr Fehlen in Kants Ästhetik als Garantie der Autonomie ästhetischer Erfahrung, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 3, hg. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher. Berlin, New York 2001, S. 571 – 579. Kremer, Detlef: Ereignis und Struktur, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 517 – 532. Kristeller, Paul Oskar: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt a. M. 1972. Kulka, Georg: Werke, hg. von Gerhard Sauder. München 1987. Kustas, George L.: Studies in Byzantine Rhetoric. Thessaloniki 1973. Kutschera, Franz von: Platons Philosophie. Paderborn 2002. Lada, Ismene: Emotion and meaning in Tragic Performance, in: Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond, hg. von Michael Stephen Silk. Oxford u. a. 1996. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 22000. Latacz, Joachim (Hg.): Homers Ilias. Gesamtkommentar, Bd. 1. Erster Gesang (A), Fasc. 2. Berlin 2000. Laurent, François: Histoire du droit des gens et des relations internationales. Gand 1850. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, mit Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Ernst Cassirer. Hamburg 1996. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe, Bd. 11,1. Briefe von und an Lessing, 1743 – 1770, hg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt a. M. 1987. Lichtenberg, Georg Christoph.: Schriften und Briefe, Bd. 1. Sudelbücher. München [u. a.] 1968. Liebsch, Dimitri: Aias, in: Moog-Grünewald, Maria (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Der Neue Pauly, Supplemente, Bd 5. Stuttgart 2008.

Verzeichnis der zitierten Literatur

277

Limberis, Vasiliki: The Eyes infected by Evil. Basil of Caesarea’s Homily ‘On Envy‘, in: Havard Theological Review 84 (1991), S. 163 – 184. Lindberg, David C.: Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler. Chicago 1976. Link, Jürgen: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis. München 61997. Link, Jürgen: Die Revolution im System der Kollektivsymbolik. Elemente einer Grammatik interdiskursiver Ereignisse, in: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. 1 (1986), 2, S. 5 – 23. Link, Luther: The Devil. A Mask without a Face. London 1995. Lobsien, Eckhard: Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik. München 1999. Lohmar, Dieter: Das Geschmacksurteil über das faszinierend Häßliche, in: Parret, Herman (Hg.): Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’ esthétique de Kant. Berlin, New York 1998, S. 498 – 512. Long, Wilbur: Eros, in: The Dictionary of Philosophy, hg. von Dagobert D. Runes. New York 1942. Lotter, Konrad: Faszination, in: Lexikon der Ästhetik, hg. von Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter. München 1992. Lowth, Robert: De sacra poesi Hebraeorvm. Praelectiones Academicae Oxonii habitae [...]. Notas et epimetra adiecit I. D. Michaelis. 2 Teile. Göttingen 1758 und 1761. Lüdtke, Jana/ Jäkel, Anne /Ordonez Acuna, Daniela: Self reported fascination experiences. Approaches to an unexplored emotion, in: Baisch, Martin/ Degen, Andreas/ Lüdtke, Jana (Hg.): Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit. Freiburg 2013, S. 309 – 344. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984. Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 40, 1. Abt. Weimar 1911. MacDonald Ross, George: Okkulte Strömungen, in: Philosophie des 17. Jahrhunderts. Allgemeine Themen, Iberische Halbinsel, Italien, Bd. 1, hg. von Jean-Pierre Schobinger. Basel 1998. McDougall, William: An Introduction to Social Psychology. New York 292003. Macintyre, Gordon: Dugald Stewart. The Pride and Ornament of Scotland. Brighton 2003. Maier, Heinrich: Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung. Tübingen 1913. Mangold, Wilhelm: Voltaires Rechtsstreit mit dem Königlichen Schutzjuden Hirschel 1751. Prozeßakten des Königlichen Preußischen Hausarchivs. Berlin 1905. Mansfeld, Jaap (Hg.): Die Vorsokratiker. Griechisch / Deutsch. Stuttgart 1987. Matuschek, Stefan: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991. Mavor, William Fordyce: Universal history, ancient and modern, Bd. 3. London 1804. Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Teil II. Halle 21754 [Nachdruck Hildesheim, New York 1976]. Meisen, Karl: Der böse Blick und anderer Schadenzauber in Glaube und Brauch der alten Völker und in frühchristlicher Zeit, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 1 (1950), S. 144 – 177. Mendelssohn, Moses: Ästhetische Schriften, eingeleitet und mit Anmerkungen hg. von Anne Pollok. Hamburg 2006. Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Michael Brocke, Daniel Krochmalnik, Eva J. Engel u. a. Stuttgart‑Bad Cannstatt 1971ff.

278

Verzeichnis der zitierten Literatur

Menge, Hermann: Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch, Teil I. Berlin, München, Wien u. a. 241994. Menninghaus, Winfried: „Ein Gefühl der Beförderung des Lebens“. Kants Reformulierung des Topos „lebhafter Vorstellung“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker. Zürich, Berlin 2009, S. 77 – 94. Menninghaus, Winfried: Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen, in: Poetica 23 (1991), S. 1 – 19. Menninghaus, Winfried: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a. M. 1980. Metscher, Thomas: Welttheater und Geschichtsprozeß. Zu Goethes „Faust“. Frankfurt a. M. u. a. 2003. Mette, Hans Joachim: ‚Schauen‘ und ‚Staunen‘, in: Glotta 39 (1961) S. 49 – 71. Metzler-Lexikon Ästhetik, hg. von Achim Trebeß. Stuttgart, Weimar 2006. Michel, Georg: Emphase, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar. Berlin 1997, S. 441 – 443. Mittelstraß, Jürgen: Stewart, Dugald, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, hg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar 2004. Mödersheim, Sabine: Emblem, Emblematik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 1994, Sp. 1098 – 1108. Müller, Ernst: Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Begriffsgeschichte im Umbruch, hg. von Ernst Müller. Hamburg 2005, S. 9 – 20. Müller, Ernst/ Schmieder, Falko: Begriffsgeschichte in den Naturwissenschaften. Die historische Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Workshop vom 9. bis 10. Februar 2007 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, in: Archiv für Begriffsgeschichte 49 (2007), S. 210 – 214. Müller, Wolfgang G.: Das Problem von Schein und Sein in Erasmus’ „Sileni Alcibiadis“ und Shakespeares „Macbeth“, in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 15 (1991), S. 1 – 18. Mukařovský, Jan: Semantische Analyse des dichterischen Werkes: Nezvals „Absoluter Totengräber“, in: Ders.: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. München 1974, S. 263 – 286. Naschert, Guido: Hyperbel, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 1998, Sp. 115 – 122. Newmark, Catherine: Passion, Affekt, Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München, Berlin u. a. 1999. Nietzsche-Wörterbuch, hg. von der Nietzsche Research Group unter Leitung von Paul von Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens, Bd. 1. Berlin, New Yoek 2004. Nikolaou, Theodor: Der Neid bei Johannes Chrysostom. Unter der Berücksichtigung der griechischen Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Bonn 1969. Nortmeyer, Isolde: faszinieren, in: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 5, hg. von Gerhard Strauß u. a. Berlin, New York 2004, S. 733 – 737. Nusser, Karl-Heinz: Neid, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24. Berlin, New York 1994, S. 246 – 254. Ortony, Andrew/ Clore, Gerald L./ Foss, Mark A.: The referential structure of the affective lexicon, in: Cognitive Science. A Multidisciplinary Journal 11 (1987), S. 341 – 364.

Verzeichnis der zitierten Literatur

279

Ortony, Andrew: Why metaphors are necessary and not just nice, in: Educational Theory 25 (1975) S. 45 – 53. Osborne, Catherine: Eros unveiled. Plato and the god of love. Oxford 1994. Osterkamp, Ernst: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Leipzig 1917. Pätzold, Jörg: Isotopie, in: Metzler Lexikon Sprache, hg. von Helmut Glück. Stuttgart, Weimar 32005. Passow, Franz: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Vierte, durchgängig verbesserte und vielfach vermehrte Ausgabe, Bd. 1. Leipzig 1831. Perkins, William: A Commentary, or Exposition Upon the Five First Chapters of the Epistle to the Galatians. New York 1989. Pfister, Friedrich: Ekstase, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 4, hg. von Theodor Klauser. Stuttgart 1959, Sp. 944 – 987. Piché, David (Hg.): La Condamnation Parisienne de 1277. Texte Latin, Traduction, Introduction et Commentaire. Paris 1999. Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, hg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller. Göttingen 1994ff. Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 3 1990. Plutchik, Robert: Emotions. A general psychoevolutionary theory, in: Approaches to emotion, hg. von Klaus R. Scherer, Paul Ekman. Hillsdale, NJ 1984, S. 197 – 219. Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen, griechisch und deutsch. Übersetzt und hg. von Reinhard Brandt. Darmstadt 1966. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutio oratoria/ Ausbildung des Redners, lateinisch-deutsch. 2 Bde., hg. und übersetzt von Helmut Rahn. Darmstadt 21988. Rakoczy, Thomas: Böser Blick, Macht des Auges und Neid der Götter. Eine Untersuchung zur Kraft des Blickes in der griechischen Literatur. Tübingen 1996. Rapp, Christof: Kommentar, in: Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Ch. Rapp. Halbbd. 2. Berlin 2002. Recki, Birgit: Kant. Vernunftgewirkte Gefühle, in: Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer und Ursula Renz. Berlin, New York 2008, S. 459 – 477. Recki, Birgit: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant. Frankfurt a. M. 2001. Redfield, James M.: The Locrian Maidens. Love and Death in Greek Italy. Princeton, NJ 2003. Renaud, François.: Maieutik, Begriff, Darstellung, Wirkungsgeschichte, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2001, Sp. 727 – 733. Riedel, Wolfgang: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Schings, Hans-Jürgen (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 410 – 439. Rimé, Bernard/ Delfosse, Céline/ Corsini, Susanna: Emotional fascination. Responses to viewing pictures of September 11 attacks, in: Cognition & Emotion 19 (2005), S. 923 – 932.

280

Verzeichnis der zitierten Literatur

Roberts, Helene: ‚Trains of Fascinating and of Endless Imagery‘. Associationist Art Criticism Before 1850, in: Victorian Periodicals Newsletter 10 (1977) H. 3, S. 91 – 105. Roberts, William Rhys: Demetrius: On Style. The Greek Text of Demetrius „De Elecutione“, hg. nach dem Paris Manuskript von William Rhys Roberts. Cambridge 1902. Roger Bacon: The Opus Majus, Bd. 1, hg. von John Henry Bridges,. Oxford 1897. Rolf, Eckard: Metaphertheorien. Typologie, Darstellung, Bibliographie. Berlin, New York 2005. Rosenwein, Barbara H.: Emotion words, in: Le sujet de l’emotion au Moyen Âge, hg. von Damien Boquet, Piroska Nagy. Paris 2009, S. 93 – 106. Rothacker, Erich: Die Schichten der Persönlichkeit. Bonn 51952. Russell, Donald Andrew: Introduction, in: ‚Longinus‘: On the sublime. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Donald Andrew Russell. Oxford 1964. Saint Chrysostom: Saint Chrysostom’s Homilies on Galatians, Ephesians, Philippians […], hg. Philip Schaff. Whitefish 2004. Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris 1976. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin, New York 32001. Scherer, Klaus R.: What are emotions? And how can they be measured? in: Social Science Information 44 (2005), S. 695 – 729. Schierl, Petra: Die Tragödien des Pacuvius. Ein Kommentar zu den Fragmenten mit Einleitung, Text und Übersetzung. Berlin 2006. Šklovskij, Viktor: Die Auferweckung des Wortes, in: Texte der russischen Formalisten, Bd. 2, hg. von Jurij Striedter, Wolf-Dieter Stempel und Inge Paulmann. München 1972, S. 2 – 17. Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren, in: Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, hg. von Jurij Striedter. München 1969, S. 3 – 35. Schlange-Schöningen, Hans: Echthra parphrasis: Odysseus, Aias und Palamedes, in: Luther, Andreas (Hg.): Geschichte und Fiktion in der homerischen Odyssee. München 2006, S. 93 – 106. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über die romantische Literatur. Italiänische Poesie, in: Ders.: Vorlesungen über Ästhetik (1803 – 1827), hg. von Georg Braungart, Textzusammenstellung von Ernst Behler. Paderborn, München 2007, S. 144 – 193. Schmidt, Bernhard Adolf: Eine bisher unbekannte lateinische Rede Kants über Sinnestäuschung und poetische Fiktion, in: Kant-Studien 16 (1911), S. 5 – 21. Schmidt, Hermann Josef: Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild. Meisenheim a. Glan 1969. Schmitz, Hans: Über einen Fall ‚Pathologischer Faszination‘, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 76 (1926), S. 261 – 270. Scholar, Richard: The je-ne-sais-quoi in early modern Europe. Encounters with a certain something. Oxford 2005. Seeber, Hans Ulrich: Literarische Faszination in England um 1900. Heidelberg 2012. Seeber, Hans Ulrich: Ästhetik der Faszination? Überlegungen und Beispiele, in: Anglia – Zeitschrift für englische Philologie 128 (2010) H. 2, S. 197 – 224. Seel, Martin: Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports, in: Gerhardt, Volker/ Wirkus, Bernd (Hg.): Sport und Ästhetik. Tagung der dvs-Sektion Sportphilosophie vom 25.–27.6.1992 in Köln. Sankt Augustin 1995, S. 113 –125. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1991. Seligmann, Siegfried: Der böse Blick und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens aller Zeiten und Völker, Bd. 1 und 2. Berlin 1910.

Verzeichnis der zitierten Literatur

281

Shuger, Deborah Kuller: Sacred Rhetoric. The Christian Grand Style in the English Renaissance. Princeton, NJ 1987. Simon, Josef: Philosophie als Verdeutlichung. Abhandlungen zu Erkennen, Sprache und Handeln. Berlin 2010. Simon, Josef: Einleitung, in: Johann Georg Hamann: Schriften zur Sprache. Frankfurt a. M. 1967, S. 7 – 80. Sitzler-Osing, Dorothea: Sünde I. Religionsgeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32. Berlin, New York 2001. Smith, Gregory (Hg.): The Spectator, Bd. 3. New York 1945. Spang, Kurt: Dreistillehre, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, hg. von Gerd Ueding,. Darmstadt 1994, Sp. 921 – 972. Stenger, Jan: Das rhetorische Prinzip der Aussparung bei Theophrast (fr. 696 F), in: Rheinisches Museum für Philologie 250 (2007), S. 263 – 281. Stewart, Dugald: Philosophical Essays. Edinburgh 1810. Stierle, Karlheinz: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975. Storm, Christine / Storm, Tom: A taxonomic study of the vocabulary of emotions, in: Journal of Personality and Social Psychology 53 (1987), S. 805 – 816. Strube, Werner: Der Begriff des Erhabenen in der deutschsprachigen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Kreimendahl, Lothar (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Festschrift für Günter Gawlick. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 273 – 302. Strube, Werner: Ästhetische Illusion. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts. Bochum 1971. Sulzer, Johann Georg: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet, in: Ders.: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, S. 99 – 121. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Leipzig 1771 – 1774. Temple, William: Works. Complete in four Volumes, Bd. 3. London 1814. Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden, hg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Markus H. Wörner. Darmstadt 1996. Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. Till, Dietmar: Rhetorik des Affekts (pathos), in: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, Bd. 1, hg. von Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape. Berlin 2008, S. 646 – 668. Till, Dietmar: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. Toepfer, Georg: Vorwort, in: Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1. Stuttgart 2011, S. VII–XXXIX. Tritt, Karin: Emotion und ihre soziale Konstruktion. Frankfurt a. M. 1992. Türcke, Christoph: Faszination, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, hg. von Wolfgang Fritz Haug. Hamburg 1999, Sp. 186 – 193. Uhl, Karl: Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung. Wien, München 2000. Utzschneider, Helmut: Die Inszenierung des Gestaltlosen. Alttestamentliche Gottesbilder diesseits und jenseits des Bilderverbots, in: Ders.: Gottes Vorstellung. Untersuchung

282

Verzeichnis der zitierten Literatur

zur literarischen Ästhetik und ästhetischen Theologie des Alten Testaments. Stuttgart 2007, S. 316 – 327. Villwock, Jörg: Sublime Rhetorik. Zu einigen noologischen Implikationen der Schrift „Vom Erhabenen“, in: Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 33 – 53. Wagner, Andreas: Der Parallelismus membrorum zwischen poetischer Form und Denkfigur, in: Ders. (Hg.): Parallelismus membrorum. Göttingen 2007, S. 1 – 26. Walde, Alois: Lateinisches etymologisches Wörterbuch. 3. neubearbeitete Auflage von Johann Baptiste Hofmann, Bd. 1. Heidelberg 1938. Walde, Christine/ Brandt, Rüdiger/ Fröhlich, Jürgen u. a.: Obscuritas, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. von Gerd Ueding. Darmstadt 2003, Sp. 358 – 383. Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 41994. Webster’s II New College Dictionary. Boston 32005. Weingart, Brigitte: Faszinieren, in: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, hg. von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann. Köln, Weimar, Wien 2015, S. 209 – 224. Weingart, Brigitte: Contact at a Distance. The Topology of Fascination, in: Weber, Julia/ Campe, Rüdiger (Hg.): Rethinking Emotion. Interiority and Exteriority in Premodern, Modern, and Contemporary Thought. Berlin, Boston 2014, S. 72 – 100. Weingart, Brigitte: Faszinationsanalyse, in: Echterhoff, Gerald/ Eggers, Michael (Hg.): Der Stoff, an dem wir hängen. Faszination und Selektion von Material in den Kulturwissenschaften. Würzburg 2002, S. 19 – 29. Weiss, Allen S.: An Eye for an I: On the Art of Fascination, in: Recent Film Theory in Europe 51 (1986), S. 87 – 95. Wittgenstein, Ludwig: Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Frankfurt a. M. 1984. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg 21955. Wurm, Achim: Platonicus Amor. Lesarten der Liebe bei Platon, Plotin und Ficino. Berlin, New York 2008. Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart, Weimar 1995. Zelle, Carsten: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1986.

Personenregister

283

Personenregister Abbas, Ackbar 6, 34 f. Addison, Joseph 10, 175 – 191, 198 – 202, 256, 264 Adorno, Theodor W. 35, 255 Agamben, Giorgio 264 f. Agathon 46 – 48 Al Ghazali 22 Albertus Magnus 23, 29 Alexander der Große 171 – 173, 198, 203 Alison, Archibald 4, 10, 57, 106 – 110, 125, 218, 254, 257 Alkibiades 39 f., 42 – 46, 49, 52, 152 Arat (Aratos von Soloi) 165 Aristoteles 10, 21 – 24, 36, 38, 127 – 148, 150 f., 154, 157 f., 185 f., 257, 264 f. Augustinus 235 – 237 Avicenna 21 – 25, 27, 29 f. Bacon, Francis 27 f., 241 – 245, 259, 265 Bacon, Roger 24 f.

Barthez, Paul-Joseph 29 f.

Basilius der Große 16, 19 Baumbach, Sibylle 7 Baumgarten, Alexander Gottlieb 9, 31, 58, 61 f., 68

Bengel, Johann Albrecht 228

Benjamin, Walter 57, 112, 114 – 118, 125 Berens, Johann Christoph 226 Bernfeld, Siegfried 34 Blanchot, Maurice 34 Bleuler, Eugen 36 f. Blumenberg, Hans 260 Bobrowski, Johannes 258 Bodmer, Johann Jakob 181 Brandt, Reinhard 156 Brucker, Johann Jakob 50 f. Bruno, Giordano 25 Büchsel, Elisabeth 237 Bühler, Winfried 156 Buffon, Comte de 230, 237, 240 f.

Burke, Edmund 10, 105, 181, 188 – 191, 194, 205, 255 Catilina 176 Chambers, Ephraim 21 Chevrier, Edmond 40 Cicero 36, 38, 154, 176 Claudius, Matthias 253 Connor, Steven 5 Corneille, Pierre 109 Demokrit 15 Descartes, René 36, 38, 236 Dionysios 144 f. Ficino, Marsilio 25 f., 33, 40, 48 – 50, 56 Freud, Sigmund 34, 258 Fritz, Martin 158 Fühmann, Franz 253, 262 Furetière, Antoine 29 Garve, Christian 119 Goclenius, Rudolph 28 Goethe, Johann Wolfgang 10, 57, 95, 110 – 125, 127, 233, 235, 250, 254, 264 f., 267 Gorgias 47 Grosse, Carl 256 f. Grünbein, Durs 262, 265f. Hamann, Johann Georg 9 f., 33, 51 f., 55 f., 116, 148, 175, 213, 219 251, 254, 256 f., 259, 261 f., 264 – 267 Haug, Wolfgang Fritz 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 53, 99 Heinrich, Klaus 6, 34, 267 Herakles 237 Herder, Johann Gottfried 119, 121, 230 Hieronymus 18 f. Hirschel, Abraham 26 f. Hofmannsthal, Hugo von 179

Hogarth, William 10, 104 – 106 Home, Henry 102, 104

284

Personenregister

Homer 15, 47, 152, 163, 165 – 170, 176 f., 199 – 201, 204 – 207 Hopkins, Gerard Manley 248 f. Horaz 199, 202 Izard, Carroll E. 3 Jakobson, Roman 246, 248 f., 264 f. Jean Paul 29, 253 Johannes Chrysostomos 18 Joyce, James 253 Kafka, Franz 258 Kant, Immanuel 10, 29 – 31, 45, 57 – 68, 70 – 100, 103 – 105, 107, 109 – 111, 113 – 117, 121, 125, 132, 140, 148, 156 f., 180 f., 218 – 220, 224, 227, 233, 238, 254 f., 259 f., 264, 267 Kaplan, Stephen u. Rachel 5, 258 Kleist, Heinrich von 258 Klopstock, Friedrich Gottlieb 18, 97, 175, 197, 206 – 210, 212, 244 – 248, 250, 258, 262 f. Kövecses, Zoltán 39 Kreutzfeld, Johann Gottlieb 62, 75 f., 110 Kroisos 135, 143 Kustas, George L. 162 Lavater, Johann Caspar 231 – 233, 238 Leibniz, Gottfried Wilhelm 66, 68, 70 Leonardo da Vinci 258 Lessing, Gotthold Ephraim 10, 175, 202 – 210, 219 f., 260 Lindner, Gottlob Immanuel 223, 225 f. Lohmar, Dieter 79 – 82 Lotter, Konrad 34 Lowth, Robert 10, 175, 208 f., 218 f., 245, 247 f., 269 Luther, Martin 20 McDougall, William 37 Meier, Georg Friedrich 58 Mendelssohn, Moses 10, 117, 175, 191 – 199, 202 – 210, 212 – 220, 244, 256 f., 260, 262, 264 Michaelis, Johann David 245 Milton, John 189 f., 200 – 202, 206 f., 209 Moses 167 f., 236, Mukařovský, Jan 266 Müller, Herta 258 Müller, Heiner 258 Müntzer, Thomas 20 Nezval, Vítězslav 266

Nietzsche, Friedrich 32 f., 51 – 56, 258 Oresme, Nicole 24 Otto, Rudolf 33 Otway, Thomas 179 Parmenion 171, 198, 203 Paulus 17 – 19, 224 Perkins, William 21 Pheidias 206 Platon 12, 15, 25, 32 f., 38 – 42, 45 – 51, 53 f., 56, 62, 152, 155, 157 f., 186 Plinius 24, 29 Ps-Demetrios 10, 127, 134, 141 – 148, 150, 162, 169, 267 Ps-Longin 10, 92, 109, 127, 132, 134, 141, 148 – 173, 175 – 177, 182, 186, 190, 195, 198, 200 – 203, 236, 256, 260 Quintilian 154, 156, 161 f., 169, 172 Rapin, René de 51 Recki, Birgit 82 f. Robert Grosseteste 23 Rothacker, Erich 33 f. Sartre, Jean-Paul 34 Saussure, Ferdinand de 213 Scherer, Klaus R. 3, 37 Šklovskij, Viktor 131 Schlegel, August Wilhelm 246 Seeber, Hans Ulrich 6 f., 258 Seel, Martin 6 Sokrates 12, 32 f., 35, 40 – 56, 99, 120, 152, 175, 220, 222, 224 – 228, 237, 242, 244, 254 Stesichoros 142 f. Stewart, Dugald 10, 57, 100 – 106, 109 f., 209 f., 218, 254, 256 f. Strube, Werner 34 Sulzer, Johann Georg 10, 66 – 70, 113, 197 Tarkovskij, Andrej 258 Temple, William 28 Thomas von Aquin 23 Trakl, Georg 258 Türcke, Christoph 35 Vergil 24, 176 f. Voltaire 26 f. Wagner, Richard 258 Wittgenstein, Ludwig 259 Xenophon 163 Zelter, Carl Friedrich 118 Zwingli, Huldrych 20

Sachregister

285

Sachregister abweichend (regelmäßig, fremd, außerordentlich, Anomalie; vgl. ‚Erhabenheit‘, ‚Metapher‘, ‚Staunen‘) 7, 60, 73, 85, 102, 127, 129 – 135, 141 f., 144, 147, 151 – 153, 155 f., 159, 171, 180 f., 197, 208 f. admiratio-stupor-Spektrum (emotionales Spektrum; vgl. ‚Staunen‘) 31, 38, 72, 130, 151, 161, 180, 191, 243, 253, 260 Adressierung 51 f., 54, 56, 143, 175, 220, 222, 224 f., 227, 231, 234 f., 237, 239, 241 f., 249, 261 ästhetische Idee (vgl. ‚geistreich‘, ‚Symbol‘) 57, 91 – 97, 99 f., 107, 114 – 116, 125, 157, 181, 254, 264 Affekt (Pathos, Leidenschaft; vgl. ‚Emotion‘) 9, 13, 15, 21, 27 – 30, 33, 36 – 38, 42, 44, 60 f., 66, 70 f., 73, 111, 146, 150, 154, 160, 163 f., 166, 170, 189 f., 202, 215, 220, 235, 243, 257 Aias (vgl. ‚Schweigen‘) 168 – 173, 176, 198, 201, 203 Allegorie (Emblem) 93 – 95, 97 f., 114, 128, 133 f., 144 – 146, 185, 217, 225, 235, 241 Ambivalenz (Ambiguität) 2 – 4, 7, 9, 52, 55, 83, 243, 267 Analogie 78 f., 86, 92, 94 – 99, 115, 129 f., 132 – 138, 142, 144, 157, 164, 184 f., 208, 221 f., 225 – 227, 240, 242 f., 246, 249, 259, 265 Andeutung (Anspielung, Allusion; vgl. ‚Fülle‘, ‚Prägnanz‘) 106, 112 f., 128, 141 – 148, 155 f., 159, 161 f., 167 f., 171 f., 185, 195 f., 200, 227, 232, 235, 239, 246, 250, 260, 262, 266 f. anhaltend (bleibend, andauernd; vgl. ‚haften bleiben‘) 1 f., 4, 9, 31, 66, 74, 78, 82 – 85, 88, 90, 109 f., 114, 134,

146, 148, 156, 158 f., 166, 172, 179, 191, 196, 206, 249 – 251, 253 – 255, 259 f., 267 Anmut (Grazie) 101 – 106, 178, 180, 198, 256 Anpassung (Akkommodation) 219 f., 222, 224 f. anschwellen (erzeugen, keimen, gären, schwängern, gebären, Samen; vgl. ‚offenbaren‘, ‚Prägnanz‘, ‚produktiv‘) 48, 107 f., 155 f., 160 f., 163, 166, 171, 177 – 179, 182, 224, 237 – 239, 248, 256 f., 259 Aporie (vgl. ‚oszillieren‘, ‚Paradoxon‘, ‚Spaltung‘, ‚Widerstreit‘) 41 – 43, 45, 48, 52 f., 55 f., 65, 73, 152 aptisch (inaptisch) 195, 200 asyndetisch 133 f., 141, 163 f., 213, 237, 263 Attraktion (Attraktivität; vgl. ‚Eros‘, ‚Sättigung‘, ‚unwiderstehlich‘) 12, 50, 115, 119, 145, 159, 172, 182, 184, 188 – 190, 219 f., 222, 225 f., 228, 233, 244, 249, 253 Aufmerksamkeit (vgl. ‚Attraktion‘, ‚haften bleiben‘, ‚Starre‘) 1 f., 5 – 7, 9, 13, 31, 33 – 35, 37, 57 f., 60, 65, 70, 74, 78 f., 86, 100, 107, 111, 114, 122 – 124, 130, 134, 159, 171, 191 f., 194 – 198, 213 f., 216, 218, 255 f., 259 f., 267 Aussicht, unermessliche u. ä. (prospektiv; vgl. ‚anhaltend‘, ‚Mannigfaltigkeit‘) 72 f., 92, 94 f., 183 f., 196, 200, 215, 232, 260 Bewunderung (vgl. ‚admiratio-stupor-Spektrum‘, ‚Staunen‘, ‚Verwunderung‘) 3, 31, 38, 43 f., 47, 56, 72, 80, 82, 102 f., 130 f., 151 – 153, 157, 168, 179, 191 f., 195, 198, 256

286

Sachregister

Bild (Abbild, eidōla, species) 15, 24, 225, 231 – 233, 242 Bild (imago, imagery) 4, 25, 34, 59, 60, 108 f., 114 f., 119, 122 f., 166, 211, 256–258 Bild (Sinnbild, Tropus, pictura; vgl. ‚Metapher‘, ‚Symbol‘) 93 – 95, 97 f., 101 f., 105, 128 – 130, 134, 139 f., 142 f., 147, 175, 182, 186, 189 f., 205, 207, 211 – 213, 224, 227, 229, 235 – 242, 243, 247 – 250, 258, 261 f., 264, 266 f. Blendwerk (Trug; vgl. ‚Schein‘, ‚Täuschung‘) 11, 41, 44, 48, 60 – 65, 75, 115, 123, 158, 160, 230, 234 Blickzauber (böser Blick, Schadenszauber; vgl. ‚fascinatio‘) 12 – 18, 22 f., 26 – 28, 30, 46 – 48, 50 f., 56, 253 Blitz (vgl. ‚Fiat-lux-Formel‘, ‚Licht‘) 119, 152 – 155, 186, 192, 250 divided self (vgl. ‚Spaltung‘) ékplexis (Überraschung, Erschütterung) 38, 40, 44, 47, 73, 83 f., 86, 100, 141, 146, 148, 151 f., 160, 167, 171 f., 179, 191, 201, 260 Emotion (vgl. ‚Affekt‘) 3 f., 12, 20, 25 f., 31 – 33, 35 – 40, 44 – 46, 56, 70 – 72, 96, 103, 106 f., 130 – 133, 145 f., 150 f., 171 f., 177 – 181, 189, 191 f., 214 f., 253, 259 – 261 Emphase (Nachdrücklichkeit; vgl. ‚hyperbolisch‘) 8, 128, 133 f., 147, 155, 161 – 163, 165, 167 – 170, 172, 235, 243, 262, 266 f. Erhabenheit (vgl. ‚Aussicht‘, ‚Mannigfaltigkeit‘) 4, 8, 10, 57, 72, 74 f., 77 – 86, 88, 92 f., 95, 97 – 101, 105 – 107, 109 f., 127, 131 f., 134, 140 f., 144, 146 – 178, 181, 185 f., 188 – 203, 205 f., 209 f., 215 f., 219, 235 f., 247, 256, 260, 267 Eros (Amor; vgl. ‚Attraktion‘, ‚haften bleiben‘, ‚unwiderstehlich‘) 12, 41 – 43, 45 – 50, 99, 112 f., 156, 225, 243 fascinatio (vgl. ‚Blickzauber‘) 1, 11 – 14, 16 – 26, 28 f., 32, 40, 47 – 52, 56 – 58, 61 – 65, 68, 70, 72, 75, 253 Faszination (epistemologische F.) 10, 13 f., 18 – 21, 29 – 33, 44 f., 48 f., 52,

54 – 57, 65, 72 – 78, 109, 111, 113, 253 f., 257 Faszination (physische F.) 9 f., 13, 23, 27 f. Faszination (voluntative F.) 13 f., 22 – 25, 27, 29, 31, 254 Faust 10, 55, 121–125 Fiat-lux-Formel (Es werde Licht; vgl. ‚Licht‘, ‚Blitz‘) 167, 171 f., 199, 203, 223, 236 Fülle (vgl. ‚Andeutung‘, ‚anschwellen‘, ‚Prägnanz‘, ‚produktiv‘) 2, 18, 45, 56, 90, 136, 166, 182, 184, 187, 195, 204, 210 – 212, 223, 231 f., 237, 241, 243, 261 Geheimnis 1, 57, 100, 104, 114 – 118, 125, 177 f., 196, 223, 266 f. geistreich (gedankenreich, viel zu denken veranlasst; vgl. ‚anhaltend‘, ‚anschwellen‘, ‚Fülle‘, ‚Prägnanz‘) 91 f., 94, 96, 99, 121, 137, 139 – 143, 154, 249, 259, 265, 267, Gewalt (fesseln, zwingen, widerfahren; vgl. ‚haften bleiben‘, ‚Medusa‘, ‚Starre‘, ‚unwiderstehlich‘) 1 f., 5, 9, 12, 25, 28, 34 f., 43 f., 47, 49, 52, 58, 60, 70, 74, 78, 82, 86, 89, 107, 111, 122, 130 f., 134, 138, 145, 151 – 155, 159, 171, 183, 190, 194 f., 206, 214 f., 224 f., 217, 253, 255 f., 261 f. Gott (Götter, Schöpfer, Jehova) 16 – 19, 33, 47, 54, 115, 156, 166 – 168, 170, 172, 197, 200, 206 – 211, 219, 221 – 227, 229, 231 f., 234 – 237, 242, 264, 267, haften bleiben (verweilen, perpetuieren, nicht entziehen; vgl. ‚anhaltend‘, ‚Attraktion‘, ‚Aufmerksamkeit‘, ‚Gewalt‘, ‚Problem‘, ‚Sättigung‘, ‚Starre‘, ‚unwiderstehlich‘) 44, 50 f., 78 – 80, 85, 103, 124, 159 f., 172, 191 f., 196, 238, 260 hyperbolisch (vgl. ‚Bild‘, ‚Emphase‘) 128 f., 139, 196, 243 Illusion (vgl. ‚Schein‘, ‚Täuschung‘) 20, 34, 60 – 65, 72, 75, 111 f., 118, 123, 127 Inconstantia-Merkmal (vgl. ‚oszillieren‘, ‚Widerstreit‘) 19 f., 29 – 32, 42, 44, 56, 66, 254, 257, 261 Ironie 45 – 47, 51, 55, 162, 175, 219 f., 222, 224, 226 f., 243

Sachregister

Isis 97 – 100, 113, 115, 121, 140, 267 Isotopie 128 – 130, 133, 135, 142, 175, 189, 205, 208 – 210, 216 – 218, 247, 257 – 259, 263 f. je ne sais quoi (vgl. ‚Unbestimmtheit‘) 69, 104, 149 Jupiter (Zeus, Kronion) 199 – 203, 206, 226 Klapperschlange (vgl. ‚Attraktion‘, ‚Gewalt‘) 70, 119 Kleidung (vgl. ‚Schleier‘) 64, 145, 222 – 225, 236 f., 239 kleines Zeichen (naives Zeichen, kleine Idee) 190 f., 195 – 198, 202 – 204, 256 Lakonismus 142, 147, 161 f., 175, 197, 240, 243, 267 Licht (lumina orationis, vgl. ‚Blitz‘, ‚Fiat-Lux-Formel‘, ‚geistreich‘, ‚Sentenz‘) 153 f., 164, 189, 190, 192, 228, 230 f., 236, 250, 267 lustökonomisch (selbstreproduzierende Lust) 4, 10, 51, 56, 59, 61, 64, 74, 76, 79, 83 – 86, 89, 91, 96 f., 130, 132 f., 137, 142, 145, 205, 213, 218, 225, 239, 249 f., 261 f., 266 Mannigfaltigkeit (vgl. ‚Aussicht‘, ‚Erhabenheit‘) 62, 75 f., 85 f., 89, 96, 98, 103 – 106, 120, 182, 191, 193 – 196, 205, 209, 223, 235, 256 Materialität des Mediums (Versinnlichung) 82, 91, 95 – 98, 114 f., 117, 150, 163 f., 220 – 225, 231, 238, 239, 261 f., 266 Medusa (vgl. ‚Gewalt‘, ‚Starre‘) 7, 46, 51, 117 f., 121, 123 f. Metapher (vgl. ‚Bild‘, ‚geistreich‘) 1, 2, 8, 12, 19, 32, 35, 38 – 40, 42 – 46, 50, 102, 109 f., 113 f., 127 – 146, 153 – 157, 162, 164 f., 168, 184 f., 189, 205, 211, 231, 238, 240, 248, 257 f., 261, 264 Metapher (konzeptionelle M.) 39, 44 f., 50, 114, 254, Metapher (kühne M.) 97, 133, 137 f., 144, 208 f., 219, 234 f., 257 f., 267 Metaphorisierung 11, 31, 48, 121, 159, 182

287

Mimesis (Nachahmung, Nachbildung) 9, 88, 109, 112, 118, 156 f., 160, 162 – 165, 167 – 169, 186 – 188, 190, 204 f., 210 f., 225 f., 234 f., 242 f., 245, 249, 261 Montage 133, 164, 190, 207, 227, 237 f., 243 f., 249, 258, 262, 264 morgenländisch (hebräisch, byzantinisch; vgl. auch ‚Psalm‘) 162, 202, 208, 210, 216, 218, 234, 241, 245 – 248 Musik (Flöte, ertönen) 43 f., 87, 89, 97, 160 f., 178, 180, 186 f., 193, 197, 210 – 212, 248 naives Zeichen (vgl. ‚kleines Zeichen‘) Neid 13 – 18, 20, 27 f., 30, 47 Obscuritas (sprachliche Dunkelheit) 8, 19, 114, 144 – 146, 148, 156, 161, 175, 186, 189 f., 192, 207, 220, 225, 227, 232 f., 236, 240, 249, 260, 267, 258, 262 Odysseus (Ulysses) 168 – 170, 172, 176, 201 offenbaren (vgl. ‚anschwellen‘, ‚produktiv‘) 95, 114, 193, 221, 223, 225 f., 228, 230, 239 oszillieren (vgl. ‚Aporie‘, ‘ Inconstantia-Merkmal‘, ‚Schleier‘, ‚Spaltung‘, ‚Widerstreit‘) 20, 32, 60, 72, 83 f., 135 f., 155, 212, 250, 253 f., 257, 259, 266 f. Paradigmenbildung (vgl. ‚schematisieren‘, ‚Vermutung‘) 65, 94 – 96, 99, 135 – 139, 143, 208, 211, 213 – 215, 217 f., 223, 229, 243, 257, 259, 261, 264 – 266 Paradoxon (Antithetik; vgl. ‚Aporie‘) 7, 44, 68 f., 98, 139 – 142, 153, 168, 172 f., 203, 207, 212, 223, 232, 240 Parallelismus (vgl. ‚Paradigmenbildung‘) 175, 208, 244 – 249, 264 Pathos (vgl. ‚Affekt‘) Plastik (Statue) 44, 64, 110 – 113, 117, 157, 186 – 188 Prägnanz (sprachliche Fruchtbarkeit; vgl. ‚Andeutung‘, ‚anschwellen‘, ‚Fülle‘, ‚geistreich‘) 135, 141, 156, 163 f., 187, 195, 198 f., 208, 230, 238, 256

288

Sachregister

Problem (vgl. ‚haften bleiben‘, ‚geistreich‘) 44, 52 f., 116, 118 f., 124, 127, 243, 254, 259, 261 produktiv (Produkt; vgl. ‚anschwellen‘, ‚offenbaren‘) 59, 86 – 91, 97, 102, 108, 145, 148, 155 – 157, 160, 202, 205 Psalm (vgl. ‚morgenländisch‘) 175, 208, 213, 216 – 218, 244, 247, 264 Rätsel 6 f., 35, 93, 99, 114, 116, 125, 128, 133, 139, 142, 146 f., 156, 172, 231 – 233, 235, 238, 245, 247, 266 Rührung (movere) 3 f., 9, 72, 82, 84, 152, 199, 202 f., 257 Sättigung (vgl. ‚anhaltend‘, ‚Attraktion‘, ‚haften bleiben‘) 131, 185, 194 f., 254, 256, 260, 266 Scham 42 – 45, 47, 56, 112 f., 169 f., 222 Schein (vgl. ‚Blendwerk‘, ‚Illusion‘, ‚Täuschung‘) 6, 21, 32, 42, 44, 47, 61 – 65, 72 – 75, 111 – 113, 115 f., 123, 125, 134, 140, 158, 162, 186, 203, 222, 245, 250, 254 schematisieren (Metaschematismus; vgl. ‚Paradigmenbildung‘, ‚Vermutung‘) 2, 75 f., 84, 92, 97, 114 f., 132, 220, 224, 227, 230, 254, 260 Schleier (Flor, Gitter, Hülle; vgl. ‚Kleidung‘, ‚oszillieren‘) 97 – 116, 121, 140, 144 f., 154, 222, 267, Schweigen (Verstummen, Stille, aposiópesis; vgl. ‚Aias‘) 47, 107, 109, 112, 147, 162, 168 – 173, 175 – 181, 183, 197 f., 201 – 203, 227 f., 236, 256 Sentenz (Sinnspruch, Denkspruch; vgl. ‚geistreich‘, ‚Licht‘) 138 – 143, 154, 176, 186, 208, 216 – 218, 229 Sirenen (vgl. ‚unwiderstehlich‘) 43 – 45, 244 Sog (Zustrom) 1, 46, 56, 109, 159, 177, 179, 191, 193, 197, 257, 263, 267 f. Spaltung (divided self, Doppelnatur, Doppelaspekt, vgl. ‚Aporie‘, ‚oszillieren‘) 7, 33, 39, 45 f., 54 – 56, 69, 99, 120, 222, 249 f., 250, 254 f., 264 Spiegel (vgl. ‚Widerhall‘) 65 f., 157, 162, 223, 231 – 233 Starre (Lähmung, gebannt, stupor; vgl. ‚admiratio-stupor-Spektrum‘, ‚Aufmerk-

samkeit‘, ‚Gewalt‘, ‚haften bleiben‘, ‚Staunen‘, ‚unwiderstehlich‘) 2, 7, 31 f., 34 – 36, 38, 41 – 43, 56, 61, 70, 117, 122, 146, 152, 177, 179, 194, 253, 262, 267 Staunen (thaumázein, vgl. ‚abweichend‘, ‚admiratio-stupor-Spektrum‘, ‚Bewunderung‘, ‚Starre‘, ‚Verwunderung‘) 3, 38, 43 f., 47, 56, 72, 107, 109, 117, 120, 127, 130 – 132, 134, 140, 151 f., 157 f., 165, 168, 171, 179, 181, 184, 191 f., 196, 206, 260 Symbol (vgl. ‚ästhetische Idee‘) 6, 57, 71 f., 92, 95, 99, 105, 112 – 117, 119, 121, 127, 147, 152, 217, 251, 253 f., 264, 266 Täuschung (Chimäre, vgl. ‚Blendwerk‘, ‚Schein‘) 6, 11, 13 f., 17 – 21, 29 – 31, 46 – 48, 53, 57, 59 – 64, 66, 68, 100, 111 f., 134 f., 139, 142 f., 158 f., 253 f. Teufel (Satan, Mephisto) 14, 16, 18, 20 f., 27, 31, 50, 122 – 125, 189 f., 201 Unbestimmtheit (Ungewissheit; vgl. je ne sais quoi) 1, 2, 4, 9, 94, 96, 99, 115, 146, 172, 178, 183, 189 f., 196, 198, 203 – 206, 208, 237, 243, 250, 253, 260, 266 unwiderstehlich (vgl. ‚anhaltend‘, ‚Attraktion‘, ‚Eros‘, ‚haften bleiben‘, ‚Klapperschlange‘, ‚Sirenen‘, ‚Starre‘) 1 f., 32, 47, 65, 108 f., 112, 117, 119, 151 – 153, 156, 159, 161, 172, 222, 261 Vermutung (Suche, Mutmaßung, coniectura; vgl. ‚Paradigmenbildung‘, ‚schematisieren‘) 95, 132, 138, 143, 145, 147, 162 f., 169, 171, 192, 208, 230 f., 240 f., 244, 246, 249 f., 257, 259, 262 Verwunderung (vgl. ‚admiratio-stupor-Spektrum‘, ‚Bewunderung‘, ‚Staunen‘) 31, 38, 44, 72 – 74, 116, 130, 182, 191, 196 f., 260 Widerhall (vgl. ‚Spiegel‘) 92, 157, 162, 167 – 170, 175, 178, 196 Widerstreit (Widerspiel; vgl. ‚Aporie‘, ‚Inconstantia-Merkmal‘, ‚oszillieren‘) 6, 30, 59, 64, 70, 72, 74, 80, 83, 89, 97, 112, 177, 198, 254