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German Pages 231 [232] Year 1995
Ästhetik im Widerstreit Herausgegeben von Wolfgang Welsch und Christine Pries
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Acta humaniora
Ästhetik hat heute Konjunktur, von der Philosophie bis zum Alltag. Die wissenschaftliche Reflexion aber muß die Ambivalenz dieser Tendenz thematisieren. Die offenkundigen Asthetisierungsprozesse sind zugleich mit Anästhetisierungseffekten verbunden. Heutige Ästhetik muß auf diese Doppelfigur achten und daher „Ästhetik im Widerstreit" sein: im Widerstreit zwischen Ästhetisierung und Anästhetisierung, Autonomie und Entgrenzung, Fundamentalität und Oberflächlichkeit. „Widerstreit" ist die zentrale Kategorie im Werk von Jean-François Lyotard. Auch seine ästhetischen Überlegungen zielen auf dieses Phänomen. Daher wurden Experten verschiedener Disziplinen um Beiträge zu einer „Ästhetik im Widerstreit" mit Blick auf das Werk von Lyotard gebeten. Die Skala der Stellungnahmen reicht von Anschlüssen über Weiterführungen bis zu Kontroversen und Gegenreden. Ein Ästhetik-Band, der nicht umstandslos auf der Welle der Ästhetisierung reitet, sondern an der Verbindung von Ästhetik und Kritik festhält und unsere „Zeit der Ästhetik" auf den Begriff zu bringen sucht, indem er ihr zugleich ins Gewissen redet.
Ästhetik im Widerstreit Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard Herausgegeben von Wolfgang Welsch und Christine Pries Mit Beiträgen von H. Danuser, J. Früchtl, M. Geier H.-J. Lenger, J.-F. Lyotard, Ch. Pries H.U. Reck, B.H.F. Taureck, J.Vogl A. Wellmer, W. Welsch, J. Zimmermann
yci Acta humaniora
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ästhetik im Widerstreit: Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard / hrsg. von Wolfgang Welsch und Christine Pries. Mit Beitr. von H. Danuser... Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1991 ISBN 3-527-17719-1 NE: Welsch, Wolfgang [Hrsg.]; Danuser, Hermann
© VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim (Bundesrepublik Deutschland), 1991 Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Gedruckt auf säurefreiem Papier Satz: Filmsatz Unger & Sommer GmbH, D-6940 Weinheim Druck: Progressdruck GmbH, D-6720 Speyer Bindung: Verlagsbuchbinderei Georg Kränkl, D-6148 Heppenheim Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Einleitung 1 Wolfgang Welsch und Christine Pries 1.
Positionen
Die Vorschrift 27 Jean-François Lyotard Adorno, die Moderne und das Erhabene 45 Albrecht Wellmer Ästhetik und Anästhetik 67 Wolfgang Welsch 2. Musik, Malerei,
Literatur
Rationalität und Zufall — John Cage und die experimentelle Musik in Europa 91 Hermann Danuser Bilder des Erhabenen — Zur Aktualität des Diskurses über Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer" 107 Jörg Zimmermann Der Betrachter als Produzent? Zur Kunst der Rezeption im Zeitalter technischer Medien 129 Hans Ulrich Reck
Inhalt
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Grenze der Gemeinschaft. Undarstellbarkeit bei Kafka 143 Joseph Vogl
3. Anschlüsse und
Befragungen
„Königsberger Avantgarde", oder: Wie modern war Immanuel Kant? Christine Pries Unverfügbarkeit des Zeitlichen, Zeitlichkeit des Unverfügbaren Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Montaigne bis zu Lyotard und Michel Tournier 165 Bernhard H. F. Taureck Ich lüge immer. Unterwegs zu einer Ästhetik der Paradoxien 177 Manfred Geier Das Spiel der Vernunft und der Ernst der Kritik Eine Erkundung Lyotards 191 Josef Früchtl Ohne Bilder. Uber Versuche, das Entsetzlichste zu entziffern 203 Hans-Joachim Lenger
Personenregister 217 Kurzbiographien der Autoren 223
Einleitung Wolfgang Welsch und Christine Pries
I. Die neue Prominenz des Ästhetischen 1. Licht- und Schattenseiten Ästhetik hat Konjunktur. Dieser Befund ist ebenso ambivalent wie seine Formulierung. Denn zwar ist Ästhetik in der Philosophie wie in der Lebenswelt, in der Wissenschaft wie im Alltag prominent geworden, aber die Licht- und Schattenseiten dieser Ästhetisierung liegen so dicht beieinander, daß sie oft kaum zu unterscheiden sind. Auffallend viele der gegenwärtigen Philosophen sind ästhetische Denker. Die Zeit in Gedanken zu fassen, das scheint heute weniger zu erfordern, daß man sie auf den Begriff bringt, als daß man ihre Wahrnehmung leistet. Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen daher Philosophen, die ausgesprochene Wahrnehmungs-Experten sind — ob es sich nun (um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen) um Derrida, Lyotard oder Baudrillard aus dem ,postmodernen' Lager oder um Goodman, Feyerabend und Rorty aus dem ,postanalytischen' Spektrum oder — im deutschen Raum — um Marquard und Blumenberg oder Kamper und Sloterdijk handelt. Und doch wird sich schwerlich jemand finden, der die ästhetischen Akzente all dieser Positionen einhellig als positiv zu verbuchen bereit wäre. Dafür sind sie erstens schon untereinander zu divergent. Zu Baudrillards Indifferenz-Ästhetik beispielsweise stehen diejenigen Konzepte, für die Ästhetik an Differenz gebunden ist (Lyotard, Marquard, u.a.), in einem eklatanten Gegensatz. Zweitens halten manche Beobachter des gegenwärtigen Ästhetisierungstrends die Sensibilisierungsgewinne, die mit der Aktivierung ästhetischer Potenzen inmitten der Philosophie verbunden sind, eher für eine Gefahr als für einen Gewinn: Es möge zwar stimmen, daß man alle Verbindlichkeiten einer einleuchtenden ästhetischen Kritik unterziehen kann — aber hätte man nicht eben deshalb Anlaß, solch ästhetische Befragung zu unterlassen? Drittens bestehen Probleme der Kommunizierbarkeit und Nachvollziehbarkeit: Möglicherweise bringen die
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ästhetischen Denker unsere Zeit tatsächlich treffend auf den ,Begriff', indem sie sich an Wahrnehmungen orientieren — aber wem nützt das, wo unsere durch Wissenschaft und Reflexion bestimmte Kultur begriffs-fixiert ist und Wahrnehmungsaufschlüsse gar nicht aufzunehmen vermag? Droht durch solch ästhetische Akzentuierung des Denkens nicht ein neuerliches Abgleiten in Irrationalismus? In Alltag und Lebenswelt treten die Ambivalenzen der Ästhetisierung noch krasser zutage. Unübersehbar herrscht gegenwärtig ein Ästhetik-Boom — vom Konsumverhalten über das individuelle Styling bis hin zur Stadtgestaltung. Die erregende Frage, ob Cointreau mit Eis, Orangensaft oder einem dezenten Augenaufschlag zu trinken sei, das postmoderne Facelifting unserer innerstädtischen Einkaufszonen und das Erblühen von Beauty-Farms auch außerhalb der Metropolen belegen eine Tendenz zur Ästhetisierung; aber dieser Trend bringt keineswegs nur interessante und schöne, sondern ebensosehr feiste und obszöne, aufgeblähte und verzerrte, zombiehafte und überdrehte Gesichter hervor — von den fraktalen, androgynen und virtuellen ganz zu schweigen. Hält man sich zudem vor Augen, daß diese Verschönerungsaktionen eine Welt mit Glanz versehen, die real möglicherweise auf den ökologischen Kollaps zusteuert, so wird die Ambivalenz des Prozesses vollends evident. Schönheit und Verderben hängen seit jeher eng zusammen — Narziß und Dorian Gray belegen dies, und ,Belladonna' ist der Name der Tollkirsche. Zudem besteht der Verdacht, daß die schönen Subjekte in der schönen neuen Welt weniger zur Kompetenz der Sinne befreit als vielmehr steuerbar und beherrschbar, gerechtigkeits-indifferent und sozial unsensibel sein werden. Ähnliches zeigt sich im Blick auf den ökonomischen Bereich. Auch hier ist Ästhetik in den Vordergrund gerückt. Nicht nur, daß die Werbung Umsatzzahlen zu erhöhen versteht, indem sie ein ,Recht auf Ästhetik' proklamiert, und daß es zunehmend die .sensiblen' Manager sind, die eine gute Presse haben, sondern immer häufiger wird Wirtschaft in toto als Kunst dargestellt und anempfohlen. Titel wie ,Wirtschaft als Kultur' zielen über die vergleichsweise harmlose Feigenblatt-Strategie von gestern hinaus, wo Industrieunternehmen zum Zweck der Akzeptanzsteigerung Kultursponsoring betrieben. Heute erklärt man die Ökonomie selbst ohne Umschweife zur eigentlichen Kultur. Konsequent betrachtet man die moderne Kunst dann als avantgardistisch einzig in dem Sinn, daß sie Formen fortgeschrittenen Wirtschaftens vorweggenommen habe. 1990 hat eine Inseratenserie der Deutschen Bundesbank zur Einführung der neuen Hundertmarkscheine mit dem Portrait Clara Schumanns das Schema vorexerziert. Der ehedem auf das virtuose Klavierspiel der Künstlerin bezogene Satz „Die Kenner Europas waren vereint in der Verehrung ihres Spiels" wurde flugs fiskalisch umgemünzt: „Auch das internationale Zusammenspiel der einzelnen Notenbanken, insbesondere der europäischen, verlangt nach sensibler Virtuosi-
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tät." Längst sind die Zeiten von Kunst als Aktie überholt, heute begreift man die Aktie als Kunst; auch derlei Fortschritt' gehört zur gegenwärtigen Ästhetisierung. Eine umfassende Asthetisierung — von den Panoramen der Philosophie über die Spiralen der Lebenswelt bis hin zu den Kursbewegungen der Ökonomie — ist also unübersehbar, zugleich aber machen sich neben den Sonnenseiten des Prozesses (die man durch Stichworte wie ,Freiheitsgewinn', .Erweiterung des Darstellungsrepertoires' oder ,visuelle Emanzipation' benennen kann) auch seine Schattenseiten bemerkbar. Mit der Asthetisierung geht offenbar eine Anästhetisierung einher, deren Wirkungen gerade nicht sensibilisierender, sondern betäubender Art sind. Dieser Ambivalenz müßte heutige Ästhetik sich stellen. Sie darf die Dialektik dessen, was man gemeinhin allzu einseitig und blauäugig als ,Asthetisierung' registriert, nicht übersehen. Sie muß die spannungsreiche Doppelfigur von Asthetisierung und Anästhetisierung ins Auge fassen und in diesem Sinn ,Ästhetik im Widerstreit' sein.
2. Auf dem Weg zu einem ästhetischen Wirklichkeitsparadigma? Fragt man nach den tieferen Gründen der aktuellen Konjunktur des Ästhetischen, so stößt man auf erstaunlich allgemeine und gewichtige Motive. Der gegenwärtige Vorrang ästhetischer Denkweisen dürfte darin begründet liegen, daß sie in besonderer Weise geeignet sind, heutige Wirklichkeit zu begreifen. Das hat zunächst mit einem in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Wandel der Wirklichkeit zu tun. Unsere heutige Auffassung von Wirklichkeit ist — in der Wissenschaft wie im Alltag — ihren Grundannahmen nach stark ästhetisch geprägt. Man könnte geradezu vermuten, daß nach dem ontologischen, bewußtseinsphilosophischen und sprachlichen Paradigma heute der Ubergang zu einem vierten, dem ästhetischen Paradigma — daß also nach ,linguistic turn' und .pragmatic turn' nunmehr ein ,aesthetic turn' — ansteht. Dies läßt sich zunächst an drei hervorstechenden Merkmalen des neuen Wirklichkeitsverständnisses belegen: Konstitutionscharakter, Pluralität und Offenheit. Sie machen zugleich deutlich, wie tiefgehend und weitreichend die Gründe sind, die zur aktuellen Prominenz des Ästhetischen führen.
a) Konstitutionscharakter von Wirklichkeit Seit Kants theoretischer Philosophie ist im Prinzip, seit Nietzsche ist weithin und seit Feyerabend, Goodman und Rorty ist allgemein anerkannt, daß Wirklichkeit nicht gegeben, sondern gemacht ist, daß unser Erkennen nicht vom Typus der Wiedergabe, sondern vom Typus der Erzeugung ist. Ein Objektivis-
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mus strenger Observanz ist in allen Bereichen zu einer indiskutablen Position geworden. Diese Konstitution von Wirklichkeit erweist sich bei näherer Betrachtung als ästhetischer Prozeß. Erstens deshalb, weil es sich um eine Form von poiesis, von Hervorbringung, handelt; zweitens, weil diese poiesis mit spezifisch fiktionalen Mitteln erfolgt, nämlich durch Grundbilder, Anschauungsformen, Metaphern, Stile, Phantasmen, Projektionen. Eine solcherart konstituierte Wirklichkeit hat daher drittens allenthalben kunstverwandte Züge. In der heutigen medialen Welt nimmt sie zudem auch weithin explizit eine bildhafte Verfassung an. Wirklichkeit erweist sich somit als ästhetisch in jederlei Sinn: als poietisch konstituiert, als fiktional geformt, als kunstartig verfaßt und als bildhaft geprägt.
b) Pluralität Aus dem prinzipiellen Konstitutionscharakter der Wirklichkeit folgt die Pluralität der konkreten Wirklichkeitsformen. Da eine einheitlich verbindliche Aufbaunorm fehlt, muß man von Anfang an mit einer Vielheit von Wirklichkeiten rechnen, und diese kann auch nicht nachträglich durch Bemessung an ,der Wirklichkeit' — die es eben nicht gibt — aufgehoben werden. Aus dem gleichen Grund handelt es sich bei dieser Vielheit nicht um eine ,schöne' Vielfalt auf einheitlicher Basis, sondern (zumindest teilweise) um einschneidend, ja radikal differente Bildungen. Aus dieser pluralen Wirklichkeitsverfassung resultiert eine weitere Affinität zur Ästhetik. Denn wenn solche Pluralität ein Vorbild hat, dann an der Kunst, war diese doch seit jeher in einem dezidierten Sinne plural, was spätestens in der Moderne offenkundig geworden ist. Man könnte die Kunst geradezu als eine Art Schulungsfeld in Sachen Pluralität betrachten. An ihr läßt sich lernen, daß Pluralität das Gegenteil von Beliebigkeit bedeutet, daß es vielmehr darauf ankommt, jeweils der Spezifität der unterschiedlichen Paradigmen und ihrer eigentümlichen Gestaltungslogik Rechnung zu tragen. Just dadurch ist man gegen den Elementarfehler gefeit, der in einer Situation der Pluralität droht und darin bestünde, daß man Kriterien eines Typs zu Kriterien auch aller anderen Typen erhöbe und so ein strukturelles — und möglicherweise immenses — Unrecht beginge. Wenn sich Wirklichkeit heute insgesamt als plural konstituiert erweist, so daß es in allen Wirklichkeitssphären auf den Eigensinn, das Eigenrecht und die Eigenlogik der unterschiedlichen Ansätze zu achten gilt, dann ist es geradezu selbstverständlich, daß die Kunst — als klassische Modellsphäre solcher Pluralität — für eine solche Wirklichkeit paradigmatische Funktion gewinnt. So ergibt sich über die im Hinblick auf den Konstitutionscharakter festgestellte Analogie hinaus eine weitere Vorbildfunktion des Ästhetischen. Während sich
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die erstere Entsprechung auf die Analogie zwischen Wirklichkeitstypen und Kunstgebilden bezog, betrifft die jetzt aufgewiesene Analogie das Verhältnis dieser Typen bzw. Gebilde zueinander. Beide Aspekte machen verständlich, warum eine von der plural verfaßten Kunst her entwickelte Ästhetik heute auch über die Kunst und den engeren Sinn von ,Ästhetik' hinaus als wahrnehmungsbezogene Elementarlehre für eine plural verstandene Wirklichkeit und die nötige Umgangsweise mit dieser Bedeutung erlangt.
c) Offenheit des Ganzen Drittens besteht eine ästhetische Prävalenz auch hinsichtlich der Vorstellung des Ganzen, die angesichts solcher Pluralität erforderlich wird. Nietzsche hat den Menschen einmal als „Baugenie" charakterisiert, „dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden". 1 Das ist zunächst eine Beschreibung einzelner Wirklichkeitskonstitutionen. Sie läßt sich aber auf das heute gebotene Bild des Ganzen hin erweitern. Das Ganze kann — da nicht erst die Inhalte, sondern schon die Bereichsdefinitionen der einzelnen Paradigmen konfligieren — nicht mehr die Form eines schiedlich einteilbaren Puzzles haben, sondern muß als Gewebe aus unterschiedlichen Bildungen gedacht werden, die einander ergänzen und überlappen, aber auch durchdringen oder bestreiten und umdeuten können. Das Ganze ist als Komplexion schwebender Architekturen vorzustellen. Die angemessene Haltung gegenüber diesem Ganzen besteht in einem Sicheinlassen auf die schwebenden Gebilde. Fortan gilt es, auf schwankenden Fundamenten und in einer Gesamtverfassung der Unüberschaubarkeit und Offenheit etwas Rechtes zustandezubringen. Auch dafür ist eine Überlegung Nietzsches aufschlußreich: In Menschliches, Allzumenschliches sagte er von der neuen Befindlichkeit: „Freilich gehörte hierzu [...] ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele." Einem solchen Menschen würde „als der wünschenswerteste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen".2
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Friedrich Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 1, S. 873-890, hier S. 882. Friedrich Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches I", in: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 54 f.
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— Wobei nur die kleine, aber wichtige Modifikation hinzuzufügen wäre, daß es wohl eher als auf ein Schweben über Menschen, Sitten etc. auf ein Schweben inmitten der Menschen, Sitten etc. ankäme — gerade so, wie Nietzsche selbst in der Fröhlichen Wissenschaft einmal dafür plädiert hat, sich „inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins" zu bewegen.3 Ästhetisch signiert ist unser Bild von Wirklichkeit also auf allen Ebenen: von der Konstitution über die Pluralität bis hin zur offenen Verfassung des Ganzen. Ästhetisch geprägt müssen dann auch die Konturen unseres Verhaltens sein, wenn wir bereit sein wollen, uns dieser Wirklichkeit zu stellen und gerecht zu werden.
d) Die Kongruenz von Wissenschaft und Kunst Ein besonders aufschlußreiches Indiz der neuen Konstellation ist darüber hinaus die in den letzten Jahren gewonnene Einsicht in die Homologie von Wissenschaft und Kunst. Für viele wurde die neue Prominenz des Ästhetischen gerade dadurch erkennbar, daß sie in der traditionellen Gegensphäre zur Kunst, in der Wissenschaft — und dabei just in der .harten', der Naturwissenschaft — zutage trat. Methodisch bewußte Naturwissenschaftler sagen uns seit längerer Zeit, daß die Wissenschaft die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern konstruiert, und sie sind heute zunehmend auf die gewichtige Rolle aufmerksam geworden, die ästhetischen Momenten dabei zukommt. Beispielsweise hat man die Modellfunktion ästhetischer Vorstellungen (von der Kreismetaphorik der antiken Astronomie bis zu den imaginativen Anteilen in der modernen Rede vom ,Big Bang') neu zu würdigen gelernt. Auch den ästhetischen Komponenten der wissenschaftlichen Heuristik wird inzwischen die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, seit beispielsweise Watson in seinem Bericht über die Entschlüsselung der DNS-Struktur beschrieb, welche Rolle dabei die Erwartung spielte, daß die Lösung äußerst elegant werde sein müssen: Nur das Selektionskriterium Eleganz hat es ihm erlaubt, inmitten der großen Palette theoretisch möglicher Lösungen in angemessener Zeit die richtige zu finden. 4 Schließlich werden derzeit Theorien entwickelt, wonach wissenschaftliche Revolutionen insgesamt als Brüche im ästhetischen Kanon zu begreifen sind. 5
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Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft", in: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 373 (12). Vgl. James D. Watson, Die Doppel-Helix. Ein persönlicher Bericht über die Entdeckung der DNS-Struktur, Reinbek bei Hamburg 1969. Vgl. James W. McAllister, „Truth and Beauty in Scientific Reason", in: Synthese 78 (1989), S. 25-51.
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Der Paradigmenwechsel, von dem man (entgegen der naiven Annahme eines kontinuierlichen Fortschritts) seit Kuhns Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen zu sprechen sich angewöhnt hat, ist im Grunde ein Wechsel in der ästhetischen Präferenz. Von hier aus läßt sich eine Brücke zu Paul Feyerabends These von der Wissenschaft als Kunst schlagen. Feyerabend hat darauf hingewiesen, daß die Wissenschaft im Grunde nicht anders verfährt als die Kunst. Hier wie dort ist eine Unterschiedlichkeit von Stilformen ausschlaggebend: „Auch sie [sc. die Wissenschaften] haben eine Fülle von Stilen entwickelt, Prüfungsstile eingeschlossen, und die Entwicklung von einem Stil zum anderen ist der Entwicklung, sagen wir, von der Antike zum gotischen Stil durchaus analog." 6 Wirklichkeit und Wahrheit — diese wissenschaftlichen Leitkategorien par excellence — sind durchaus stilrelativ: „Untersucht man nämlich, was ein bestimmter Denkstil unter diesen Dingen versteht, dann trifft man nicht auf etwas, was jenseits des Denkstils liegt, sondern auf seine eigenen grundlegenden Annahmen: Wahrheit ist, was der Denkstil sagt, daß Wahrheit sei." 7 In diesem Sinn kann man sagen, daß die Wissenschaften im Prinzip nichts anderes als Künste sind — nur daß sie mit anderen Mitteln arbeiten.8 e) Mediale Wirklichkeit Hinsichtlich des ästhetischen Charakters unserer Wirklichkeit ist schließlich noch ein letzter, in jüngster Zeit besonders wichtig gewordener Punkt anzusprechen. Wirklichkeit ist heute in zuvor unbekanntem Ausmaß technologischmedial konstituiert, und das heißt noch einmal: spezifisch ästhetisch imprägniert. Die Neuen Technologien bestimmen die Wirklichkeit nicht erst post festum, indem sie etwa ihre Vermittlung leisten, sondern ihre Vorgaben sind als Bestimmungsgrößen zunehmend schon in die primäre Wirklichkeitsbildung eingegangen — von den Materialtechnologien bis hin zur televisionären Sozialisation der Individuen. Ästhetik — und zumal eine im geschilderten Sinne erweiterte, also nicht bloß auf die Kunst, sondern gerade auch auf die Wahrnehmung der Realität im allgemeinen bezogene Ästhetik — kann sich heute der Frage nicht verschließen, was das Vordringen der Neuen Technologien für unsere Sensibilität und Wahrnehmung bedeutet. Offensichtlich erweitern diese Technologien unsere Wahrnehmungskapazitäten nicht nur, sondern übersteigen bzw. unterlaufen sie auch. Auch hier geht Ästhetisierung mit Anästhetisierung einher.
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Paul Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M. 1984, S. 76. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 78.
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Die neue Prominenz des Ästhetischen hat also nicht bloß oberflächliche, sondern auch prinzipielle Gründe. Sie entspricht dem geschilderten Wandel der Wirklichkeit. Zugleich dürfte deutlich geworden sein: D e r ästhetische Charakter dieser Wirklichkeit hat nicht nur viele Facetten, sondern schließt auch Gegenwendigkeiten und Widersprüche ein. Wenn Ästhetik von einer peripheren zu einer zentralen Disziplin geworden ist, so gerade als ,Ästhetik im Widerstreit'.
II. Lyotard In dem hiermit umrissenen Feld kommt dem Denken und den Arbeiten von Jean-François Lyotard besondere Bedeutung zu. Lyotards Denken ist in einem fundamentalen Sinne ästhetisch, und seine Arbeiten berühren — sowohl vorausdenkend wie kritisch — sämtliche Aspekte der aktuellen Ästhetik-Diskussion.
1. Zu Lyotards Ästhetik-Konzeption Daß Jean-François Lyotard ein ästhetischer Denker genannt werden kann, ist seit seinem ersten großen Buch — Discours, figure (Paris 1971) — offensichtlich. In späteren Schriften hat Lyotard sich zudem ausführlich mit einzelnen Künstlern befaßt — mit Duchamp beispielsweise oder mit Newman und Buren oder neuerdings mit Adami und Arakawa. 9 Als Einstiegspunkt diente ihm dabei die abstrakte Kunst. Inzwischen bezieht Lyotard aber auch die figürliche Kunst in seine Überlegungen ein. a) Von der Darstellung zum Undarstellbaren, von der Form zur materiellen Präsenz Entscheidend in der modernen Kunst — von Lyotard auch „Avantgarde" (im weitesten Sinne) genannt — ist ihm zufolge die „Präsenz" von etwas, was „außerhalb jeder möglichen Darstellung liegt". 1 0 Damit ist kein übersinnliches Jen9
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Vgl. Jean-François Lyotard, Die TRANSformatoren DUCHAMP, Stuttgart 1986; ders., „Der Augenblick, Newman", in: Zeit — Die vierte Dimension in der Kunst, hrsg. von Michel Baudson, Weinheim 1985, S. 99-105; ders., „Das Erhabene und die Avantgarde", in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 159-187; ders., Que peindre? Adami, Arakawa, Buren, Paris 1987; teilw. übers, in: ders., Über Daniel Buren, Stuttgart 1987. „Das Undarstellbare — wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries", in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hrsg. von Christine Pries, Weinheim 1989, S. 319-347, hier S. 323.
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seits (Gott o. ä.) gemeint, das transzendent wäre, sondern ein kunstimmanenter Prozeß, der mit dem Zurücktreten der Form in der modernen Kunst einsetzt. Jede „Darstellung", so Lyotard, bestand der traditionellen Ästhetik zufolge in einer „ F o r m g e b u n g der Materie". 11 Für die moderne Kunst aber ist die „Beherrschung von Formen nicht mehr vorrangige Aufgabe". 12 Diese Kunst experimentiert vielmehr mit den überlieferten Bestandteilen der Kunst. Sie wendet sich von der Form ab und sucht sich der undarstellbaren Materie zu nähern. Der „wesentliche Einsatz" der Avantgardekunst „liegt darin, sehen zu lassen, daß es Unsichtbares im Sichtbaren gibt". 13 Mit dieser Hinterfragung des ,Gegebenen' stellt die Kunst den Ansatz der Ästhetik selbst in Frage. Lyotard bemüht sich daher, die traditionelle Ästhetik auf eine „Ästhetik der unberechenbaren materiellen Präsenz" hin zu erweitern. 14
b) Aisthetik als erweiterte Ästhetik Dabei ist vor allem wichtig, daß Lyotard das Ästhetische bewußt wieder im alten, weiten Sinn von ,aisthesis' versteht — gegen die moderne Einschränkung auf die Kunst. Diese Erweiterung, die für die gegenwärtige Relevanz des Ästhetischen insgesamt charakteristisch ist, betrifft bei Lyotard noch die Perspektive auf die Kunst selber. Indem die Kunst sich dem Undarstellbaren zuwendet, problematisiert sie die Wahrnehmung. Sie bearbeitet insbesondere deren Grundvoraussetzung, die „Bedingungen von Raum und Zeit". 15 Das ästhetische Gefühl ist für Lyotard zuallererst „der bescheidenste und reinste Modus einer Empfänglichkeit für Raum und Zeit (als notwendige Formen der aistbesis)".16
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Jean-François Lyotard, „Nach dem Erhabenen, Zustand der Ästhetik", in: ders., Das Inhumane, a.a.O., S. 2 3 1 - 2 4 4 , hier S. 232. Jean-François Lyotard, Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 47. Jean-François Lyotard, „Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit", in: ders. mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 9 1 - 1 0 2 , hier S. 98; rep. in: Das Inhumane, a.a.O., S. 2 0 7 - 2 2 2 , hier S. 218. Jean-François Lyotard, „Konservierung und Farbe", in: Das Inhumane, a.a.O., S. 2 4 5 - 2 5 7 , hier S. 255. „So etwas wie .Kommunikation ... ohne Kommunikation'", in: Das Inhumane, a.a.O., S. 1 8 9 - 2 0 6 , hier S. 201. Ebd., S. 193. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß Lyotard die Zeit als eines der heute zentralen und entscheidenden Themen ansieht, vgl. „Vorwort. Vom Humanen", in: Das Inhumane, a.a.O., S. 1 1 - 2 1 , hier S. 1 3 f .
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c) Neue Technologien und Wahrnehmung In diesem Kontext eines weiten, wahrnehmungsbezogenen Begriffs von Ästhetik und der Problematik von Raum und Zeit ist auch Lyotards Thematisierung der Neuen Technologien zu sehen. So hat er als Organisator der Ausstellung les Immatériaux (Paris 1985) einerseits versucht, die Neuen Technologien künstlerisch' fruchtbar zu machen und mögliche technologische Erweiterungen unseres Wahrnehmungsfeldes zu reflektieren. Andererseits wollte die Ausstellung aber auch für das sensibilisieren, was unserer Wahrnehmung durch die Neuen Technologien widerfährt. Ebenso zielen etliche von Lyotards jüngeren Schriften auf eine kritische Befragung der Anästhetisierungseffekte der Neuen Technologien.17 Indem diese Technologien eine Kognitivierung des Gegebenen betreiben, tragen sie nicht zur Sensibilisierung, sondern zu derjenigen Uniformierung bei, gegen die Lyotards .postmoderne' Philosophie sich insgesamt wendet. d) Philosoph und Maler als Brüder im Experimentieren Lyotards ästhetische Reflexionen bleiben nicht auf die Kunst beschränkt, sondern betreffen zugleich den Kern seiner Philosophie. Diese Verkoppelung ist an zahlreichen Schlüsselpunkten ablesbar. So wurde Lyotard einerseits zum Protagonisten der ästhetischen Kategorie des Erhabenen — die gegenwärtig lebhafte Diskussion um diese alte ästhetische Kategorie verdankt sich zu wesentlichen Teilen Lyotards Intervention18 — , und andererseits hat sich sein Denken dabei auf das kategoriale und im engeren Sinne philosophische Pendant des Erhabenen, auf die Thematik des Ereignisses, zubewegt. Es ist für Lyotards eigenes Philosophieren sehr bezeichnend, wenn er den Maler und den Philosophen als „Brüder im Experimentieren" bezeichnet.19 So wie der Maler nach dem Wesen der Malerei fragt, so sieht sich der Philosoph mit der Frage „Was ist Denken ?" konfrontiert. 20 Beide gehen reflektierend — und das heißt gleichsam ins Ungewisse sich vortastend — vor und versuchen, für etwas Undarstellbares zu sensibilisieren. 17
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Dies wird besonders deutlich in dem Buch Das Inhumane, gerade auch bezüglich des ambivalenten Verhältnisses der Neuen Technologien zu einer Kunst im Zeichen des Erhabenen, die in ihrer Hinterfragung von Raum und Zeit scheinbar ähnliche Anästhetisierungsmomente aufweist. Zum letzteren Punkt vgl. auch Lyotards Ausführungen zum Erhabenen, zum „unbewußten Affekt" und deren Anästhetisierungstendenzen in: Heidegger und „die Juden", Wien 1988, vor allem S. 21-31 und 44-62. Zur Unterscheidung der beiden Arten von Anästhetisierung vgl. die Differenzierung zwischen zwei Arten von Inhumanem, in: „Vorwort. Vom Humanen", a.a.O., S. 13f. Vgl. zur neueren Diskussion den Sammelband Das Erhabene, a. a. O. Lyotard, „Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit", a.a.O., S. 102 bzw. S. 222. Vgl. ebd., S. 101 bzw. S. 222.
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2. Widerstreit, Reflexion und Postmoderne a) Widerstreit Eine Relevanz ästhetischer Momente findet sich in Lyotards Werk — das wird nach dem Vorausgegangenen nicht überraschen — auch dort, wo gar nicht von Kunst und nicht einmal ausdrücklich von Ästhetik die Rede ist. Bei Lyotard wird Ästhetisches auch an .begrifflichen' Schlüsselstellen relevant. 21 Das zeigt sich beispielsweise an der für sein philosophisches Werk zentralen Kategorie des Widerstreits, die sowohl für seine Konzeption von Postmoderne wie für seine Auffassung von Gerechtigkeit ausschlaggebend ist. Der Ausdruck ,Widerstreit' benennt Lyotard zufolge den Punkt, an dem — gemeinhin unbemerkt — Abweichendes unterdrückt und zum Opfer gemacht wird. Ein solcher Widerstreit muß, wenn man um Gerechtigkeit bemüht ist, zunächst einmal wahrgenommen werden. Hierfür bedarf es einer spezifischen Sensibilität. Kraft ihrer vermag man den Widerstreit zu verspüren — und anschließend zum Anwalt des Unterdrückten zu werden, der diesem zur Sprache verhilft. „Ein Widerstreit [ist] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht ein, daß die andere nicht legitim ist. Wendet man dennoch dieselbe Urteilsregel auf beide zugleich an, um ihren Widerstreit gleichsam als Rechtsstreit zu schlichten, so fügt man einer von ihnen Unrecht zu (einer zumindest, und allen beiden, wenn keine diese Regel gelten läßt)." 2 2 — Was bedeutet diese Beschreibung des Widerstreits für die ästhetische Problematik? Ein verbreiteter Fall von Widerstreit ist z. B. dadurch gekennzeichnet, daß die eine Partei noch gar nicht zur Artikulation ihres Ansinnens und ihrer Rechte fähig ist. Man hat vorerst nur ein vages Gefühl, daß sie etwas vorzubringen hätte. Lyotard beschreibt diesen Zustand folgendermaßen: „Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet. [...] Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. ,Man findet keine Worte' usw. Es bedarf einer angestrengten Suche, um die neuen Formations- und Verkettungsregeln für die Sätze aufzuspüren, die dem Widerstreit, der sich im Gefühl zu erkennen gibt, Ausdruck verleihen zu können, wenn man vermeiden will, daß 21
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Das erinnert an Adorno. Wenn Lyotard von diesem gesagt hat: „Sein Denken als solches kehrt sich — und kehrt uns — einer Ästhetik zu" (Lyotard, Heidegger und „die Juden", a.a.O., S. 57), so gilt das gleichermaßen für Lyotards eigene Arbeiten. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 9.
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dieser Widerstreit sogleich von einem Rechtsstreit erstickt wird und der Alarmruf des Gefühls nutzlos war. Für eine Literatur, eine Philosophie und vielleicht sogar eine Politik geht es darum, den Widerstreit zu bezeugen, indem man ihm ein entsprechendes Idiom verschafft." 23 Was zu sagen wäre, kann noch nicht in Sätze gefaßt werden, sondern deutet sich in einem Gefühl an, und zwar sowohl für die betroffene Partei, die noch keine Sprache hat und kein Gehör findet, als auch für den aufmerksamen internen Teilnehmer oder externen Beobachter dieses Konflikts, der nur scheinbar ein Streit, in Wahrheit aber ein Widerstreit ist. Explizit wird der Widerstreit erst in dem Moment, wo eine adäquate Sprache für das gefunden wird, was in den herkömmlichen Idiomen bzw. in dem situativ zur Verfügung stehenden Idiom nicht gesagt werden kann. Die Aufgabe ist, ein dem Widerstreit „entsprechendes Idiom" zu finden.
b) Sensibilität und Reflexivität Für die Philosophie ergibt sich daraus die Aufgabe, die Regeln der an dem Widerstreit beteiligten Diskursarten zu analysieren, ihre Heterogenität herauszuarbeiten und durch das Aufdecken ihres Widerstreits — aufklärend, sensibilisierend und sprachfindend — einem Mehr an Gerechtigkeit zuzuarbeiten.24 Grundvoraussetzung dafür ist eine spezifische Sensibilität. Man muß „empfänglich" sein „für die heterogenen Zwecke, die von den verschiedenen bekannten und unbekannten Diskursarten impliziert werden", und man muß fähig sein, „sie so weit wie möglich zu verfolgen". 25 Dies benennt eine unverzichtbare — und zu entwickelnde — Elementarfunktion von aisthesis. Ihre Durchführung erfordert eine Arbeit an der Sprache, ein Experiment mit der Sprache, bei dem versucht wird, auf noch nicht Geäußertes zu achten und somit vom Undargestellten zu zeugen. Wer solcherart dem Widerstreit zwischen heterogenen Möglichkeiten gerecht werden will, darf keiner festgelegten Regel folgen (weil er sonst unweigerlich gleich wieder ein Unrecht begehen, nämlich eine oder mehrere andere Möglichkeiten unterdrücken würde). Neben der Sensibilität für Undarstellbares ist es diese — seit Kant ästhetisch zu nennende — reflektierende Vorgehensweise, die den Philosophen mit dem Künstler verbindet. In diesem Sinn sind Aufgabe und Ideal des Philosophen doppelt ästhetisch geprägt.
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Ebd., S. 33. Vgl. ebd., z.B. S. 237. Ebd., S. 294.
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c) Ästhetik und Politik Diese Prägung wirkt sich auch in historisch-politischer Hinsicht aus. Wenn Lyotard die (ethische) Frage der Gerechtigkeit so sehr ins Zentrum seiner Philosophie rückt, dann ist es nicht verwunderlich, daß er die Aufgabe des Philosophen immer zugleich als eine politische versteht. 26 Hier wird die Prominenz — und Relevanz — des Ästhetischen noch einmal schlagend deutlich. So geht es bei Lyotards Wiederaufnahme des Kantischen „Geschichtszeichens" nicht um eine „Ästhetisierung der Politik", ganz im Gegenteil: Es ist dieselbe ästhetische Sensibilität und Reflexivität im Spiel wie in der Philosophie. Das Geschichtszeichen läßt sich nur „ästhetisch vernehmen und erklären", und zwar „nachträglich", „in der Unsicherheit", „auf reflexive Weise". 2 7 Aus dieser Perspektive kann heute die tiefe Melancholie gegenüber Auschwitz zum Zeichen einer „Idee der Vernunft" werden, zum Zeichen, „daß diese Idee nicht verloren ist". Und „das ist eine Art und Weise, von dem zu zeugen, was vergessen wird". 2 8
d) Postmoderne und Ästhetik des Widerstands Bekanntlich geht es Lyotard um eine „achtenswerte Postmoderne" — gegen „die elende Erschlaffung" des „Neo-dies, Neo-das, Post-dieses, Post-jenes". 2 9 Entsprechend ist auch Lyotards Ästhetik eine Ästhetik des Widerstands gegen die Beliebigkeit, das Vergessen und die bloß ,schöne' Inszenierung. 30 Seine um das Phänomen des Widerstreits konzentrierte strenge Fassung der neuen Bedeutsamkeit des Ästhetischen hat es Lyotard erlaubt, sich scharf von den gängigen feuilletonistischen, konsumistischen und ästhetizistischen Versionen des Postmodernismus abzugrenzen, wie sie beispielsweise in der von Charles Jencks propagierten Form postmoderner Architektur vorliegen, die für Lyotard allenfalls eine Verfallsform postmoderner Konzepte darstellt: eine eklektizistische Cocktailarchitektur, die bloß noch auf Fun zielt und die aktuelle Version von Kulturindustrie ist. „Der Eklektizismus spricht die Gewohnheiten des Illustriertenlesers an, den Konsumbedarf nach industriellen Standardbildern, den Geist des Supermarkt-Kunden" — so Lyotard in einer schneidenden Kritik. 3 1 Pluralität
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Vgl. z.B. ebd., S. 11 f. „Das Undarstellbare — wider das Vergessen", a.a.O., S. 331. Ebd., S. 332. Der Widerstreit, a.a.O., S. 12. Vgl. Wolfgang Welsch, „Für eine postmoderne Ästhetik des Widerstands", in: ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 157-167. Lyotard, „Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit", a.a.O., S. 100 bzw. S. 221.
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im Sinne des schmerzhaften Widerstreits (Lyotard) versus Pluralismus im Sinn chic-beliebiger Kombination (Jencks) — das bezeichnet die Scheidelinie zwischen achtbarer Postmoderne und konsumistischem Postmodernismus.
e) Das Erhabene und die Ästhetik im Widerstreit Von da aus fällt noch einmal Licht auf den Sinn von Lyotards Thematisierung des Erhabenen. Lyotard widersetzt sich der schönen Verflachung des Subjekts durch eine betäubende Ästhetisierung. Statt dessen plädiert er für eine Ästhetik des Erhabenen, die eher Differenzierungen und sensible Reflexionen erfordert als Vereinheitlichung und Konsum fördert. Das Erhabene, so Lyotard, ist „das Unkonsumierbare". 3 2 Zudem kann das Erhabene als ästhetischer Ausdruck des Widerstreits par excellence angesehen werden. Das gilt von seiner paradoxen Beschaffenheit bis zu seiner Bedeutung für die Problematik des Undarstellbaren. Die Ästhetik des Erhabenen kreiste von Anfang an um das Formlose, das Lyotards Diagnose zufolge, gerade weil es eine Grenzerfahrung innerhalb der modernen Ästhetik darstellt, das Movens der modernen Kunst bildete. Man kann dafür auch sagen: Die Ästhetik des Erhabenen ist eine Ästhetik des Widerstreits zwischen Ästhetik und Anästhetik, oder kürzer: Die Ästhetik des Erhabenen ist eine Ästhetik im Widerstreit. D e r Titel des vorliegenden Sammelbandes,,Ästhetik im Widerstreit', versucht also nicht von ungefähr, die zentrale Kategorie von Lyotards philosophischem Werk — die des Widerstreits — für die Ästhetik fruchtbar zu machen. Nicht nur kommt ästhetischen Momenten im Kontext des Widerstreits außerordentliche Bedeutung zu (sofern man eine geschulte Empfindungsfähigkeit braucht, um die latenten Fälle des Widerstreits erfahren zu können, und dann ästhetischer Reflexivität bedarf, um den Widerstreit artikulieren und dem Unterdrückten zu Sprache und Gerechtigkeit verhelfen zu können), sondern ,Ästhetik im Widerstreit' bezeichnet zugleich den generellen Status heutiger Ästhetik zwischen Ästhetisierung und Anästhetisierung.
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„Das Undarstellbare — wider das Vergessen", a.a.O., S. 340.
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ΙΠ. Überblick über die Beiträge In Hamburg fand vom 15. bis 17. Dezember 1989 die Tagung ,Zeit der Ästhetik' statt, die sich vor dem Hintergrund der neuen Prominenz des Ästhetischen mit Lyotards Ästhetik-Konzeption befaßte. 33 Unter Bezugnahme auf Lyotards Werk (die von Anschluß über Anregung bis zu Kritik reichte) wurde nach Status und Leistungsfähigkeit der Ästhetik für das zeitgenössische Denken und die gegenwärtige Kultur gefragt. Der vorliegende Sammelband enthält ausgewählte Beiträge dieser Tagung. Keineswegs waren zu dieser Veranstaltung nur Apologeten des ÄsthetisierungsTrends eingeladen. Voten von Kritikern waren ebenso gefragt. Gerade weil der gegenwärtigen Ästhetisierung eine Anästhetisierung gesellt ist, wäre bloße Schönrednerei fehl am Platz gewesen. Daß es bei der gegenwärtigen Ästhetisierung auch deren Kehrseiten zu bedenken gilt, daß gerade in dieser Aufmerksamkeit auf anästhetische Momente eine neue Aufgabe und Herausforderung für die gegenwärtige Ästhetik liegt — das ließe sich als gemeinsamer Nenner der hier versammelten Vorträge bezeichnen. ,Ästhetik im Widerstreit' will besagen, daß eine zeitgemäße Ästhetik den Widerstreit von Ästhetisierung und Anästhetisierung als ihr Gegenstandsfeld erkennen und darin intervenieren muß. U m der besseren Übersicht willen haben wir die Beiträge dieses Sammelbandes in drei Sektionen eingeteilt. Die erste Sektion enthält mit den Abendvorträgen drei programmatische Stellungnahmen zur gegenwärtigen Ästhetik. Die zweite Sektion umfaßt kürzere Beiträge, die den Status der Ästhetik heute im Blick auf Kunst und Wirklichkeit überprüfen und sich dabei von Thesen Lyotards anregen lassen. In der dritten Sektion wird direkt an Themen Lyotards angeknüpft.
1. Positionen Jean-François Lyotards Text „Die Vorschrift" kann als Beispiel ästhetischen Denkens gelten. Anhand einer minutiösen und eigenwilligen Lektüre von Kafkas Strafkolonie konfrontiert Lyotard die Kunst mit der Philosophie, wobei er sich
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Veranstalter waren die Hochschule für bildende Künste Hamburg, das Institut Français de Hambourg, die Redaktion der Zeitschrift,Spuren' sowie die Universität Hamburg. Die Organisation wurde von Hans-Joachim Lenger und Jörg Zimmermann besorgt. Die Herausgeber danken den genannten Institutionen und Organisatoren für ihre Initiative und Mühe — gewiß auch im Namen der anderen Autoren dieses Bandes, der ohne diese Vorbereitung nicht hätte zustande kommen können.
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insbesondere einer zentralen, aber bislang ungelösten Frage seines Entwurfs einer Ästhetik der materiellen Präsenz zuwendet: dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. In Kafkas Text arbeitet er das intraitable, das Unnachgiebige, Unbeugsame heraus, das — als Ästhetisches — jedem Gesetz widersteht, auf der anderen Seite aber eine absolute Bedingung der Moral (und Politik) ist. Der Widerstreit von Ethik und Ästhetik manifestiert sich bei Kafka in der Unnachgiebigkeit der Exekutionsmaschine, die, als Vertreterin des (ethischen) Gesetzes, jene ursprüngliche Schuld, die der (ästhetische) Körper im Hinblick auf das reine Gesetz bedeutet, Linie für Linie durch ihre Schrift tilgt, wobei sie ihrerseits nicht anders als ästhetisch vorgehen kann. Hierin liegt nicht nur eine Parallele zu dem, was Lyotard andernorts für die Avantgardekunst beschrieben hat, sondern mit der Ablösung des alten Gesetzes in Kafkas Geschichte wird auch offenbar, daß die ,moderne' Politik, die die Ästhetik der Grausamkeit durch eine Ästhetik der Repräsentation ersetzt, dazu neigt, jenes Unnachgiebige, also die absolute Bedingung der Moral, zu ;vergessen'. Albrecht Wellmer nimmt ein Thema auf, das ebenfalls vom Widerstreit zwischen Ethik und Ästhetik zeugt. Sein Beitrag widmet sich der ästhetischen Kategorie des Erhabenen in Adornos Lesart, auf die sich auch Lyotard in seinen zahlreichen Texten zum Erhabenen immer wieder bezogen hat. Im Gegensatz zu Lyotard geht es Wellmer jedoch darum, das Erhabene bei Adorno innerhalb von dessen „versöhnungsphilosophischer Konstruktion von Kunst" zu interpretieren. Indem er in einer „stereoskopischen Lektüre" Adorno gegen Adorno stark macht, zeigt Wellmer, daß Adorno gerade durch seine Versöhnungskonzeption zu einer einseitig negativistischen, „schwarzen" Sichtweise des Erhabenen kommen mußte, das er als „Konstituens" der modernen Kunst ansah. Diese Variante des Erhabenen sucht Wellmer durch den Nachweis zu widerlegen, daß das Subjekt bei aller Krise des Sinns, die das Erhabene bedeutet, in einer „Welt kommunikativ geteilten Sinns" steht, die ihm gerade durch die Krise bewußt wird. Indem er betont, daß es in keiner Weise um die Aussicht auf eine letzte Versöhnung gehe, weist Wellmer darauf hin, daß zu „jeder geschichtlich möglichen Versöhnung" ein Moment der Entzweiung gehöre. Mit Adorno tritt er für eine „Nachahmung des Naturschönen durch die Kunst" ein, in der die Dinge „in einer nicht mehr finalen Objekthaftigkeit in den Vordergrund" treten und worin der Sturz der Metaphysik nicht bloß als Verlust, sondern auch als Befreiung erkannt wird. In dieser Hinsicht nähert sich Wellmer Lyotards Charakterisierung des postmodernen im Unterschied zum modernen Erhabenen an. Wolfgang Welsch plädiert für eine Erweiterung der Fragestellung der Ästhetik. Deren Begriff sei über die Kunst hinaus auf Wahrnehmungen aller Art zu beziehen, und vor allem sei eine neuartige Aufmerksamkeit auf die Kehrseite alles
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Ästhetischen angezeigt: aufs Anästhetische. Im gegenwärtigen Ästhetisierungstrubel werde zu leicht übersehen, daß gerade diese Asthetisierung, wie Welsch an Beispielen der Stadtgestaltung und der Medialisierung der Lebensverhältnisse zeigt, zu beträchtlichen Anästhetisierungseffekten führt. Umgekehrt könne aber nicht generell für ausgemacht gelten, daß die positiven Aspekte immer auf seiten des Ästhetischen, die negativen hingegen auf Seiten des Anästhetischen lägen. Anästhetisierung könne sich heute vielmehr mancherorts geradezu als Lebensvorteil erweisen. Im Unterschied zur Ästhetisierungs-Euphorie der Moderne (derzufolge beispielsweise der höchste Akt der Vernunft ein ästhetischer Akt, der ästhetische Staat der wahre Staat und universelle Sensibilisierung das Allheilmittel für unsere sozialen, persönlichen oder ökologischen Probleme sein sollte) habe eine zeitgemäße Ästhetik ihre Aufmerksamkeit auf das untilgbare Doppelverhältnis von Ästhetik und Anästhetik, Erschließung und Ausschluß, Gewinn und Verlust zu richten. Systematische Gründe für diese Doppelung werden von Welsch aus der Struktur der Wahrnehmung abgeleitet und an kulturellen Grundbildern erläutert. Schon die Kunst des 20. Jahrhunderts habe sich (insbesondere seit Duchamp) mehr der Anästhetik als der Ästhetik zugewandt. Gegen die moderne Vision einer total-ästhetischen Kultur plädiert Welsch für eine „Kultur des blinden Flecks", die sich der unbeendbaren „Komplexion von Ästhetik und Anästhetik" bewußt ist. Eine solche Ästhetik und die ihr entsprechende Kunst vermöchten der „schwülen Sensitivität einer Aneignungsgesellschaft" entgegenzutreten.
2. Musik, Malerei, Literatur Hermann Danusers Beitrag zu Rationalität und Zufall bei John Cage versteht sich als Aufnahme einiger Anregungen, die von Lyotards Thesen zur avantgardistischen, also experimentellen Kunst und zu Cage ausgehen. Am Beispiel von Boulez und Stockhausen als exponierten Vertretern der „Darmstädter Schule" der fünfziger Jahre zeigt Danuser, daß der Bruch zwischen deren moderner, positiv an Rationalität orientierter und negativ auf Tradition bezogener Kompositionsweise und Cages mehr und mehr am Zufallsprinzip und an radikaler Innovation interessierter Musik bei aller expliziten Kritik aneinander nicht so groß ist, wie gemeinhin aus musikhistorischer Perspektive angenommen wird. Das erweist sich nicht nur an den Kompositionen der,Darmstädter', die sich von Cages Experimenten mit Klang, Material und Zeit anregen und beeinflussen ließen, sondern Cages Werk selbst ist weitaus vielschichtiger, als es zunächst den Anschein hat. Denn neben dem Versuch, die Wahrnehmungsfähigkeiten des Hörers zu aktivieren, indem alle rationalen und traditionellen Vorgaben der modernen Musik weggelassen werden — ein Versuch, den man unter heutigen Prämissen
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als ,postmodern' bezeichnen könnte — , finden sich bei Cage dezidiert moderne Elemente, so z.B. ein Restbestand an Ordnung und Rationalität. Durch solche Feinbetrachtung gelingt es Danuser, am Beispiel von Cage jenes komplexe Verhältnis von Diskrepanz und Kontinuität zwischen Moderne und Postmoderne aufzuzeigen, das Lyotard und andere thematisiert haben. Dabei stellt er vor allem das .Experimentieren' in den Vordergrund, das die moderne Musik insgesamt auszeichnet und das Danuser auch unter den heutigen, veränderten Bedingungen nicht für überholt hält. Im Anschluß und in Absetzung von Lyotards Wiederaufnahme des Kantischen Erhabenen spürt Jörg Zimmermann den „Bildern des Erhabenen und Kriterien eines sensu stricto Undarstellbaren" in der Kunst und im ästhetischen Diskurs der Romantik nach. Wie er am Beispiel der zeitgenössischen Reaktionen, hauptsächlich von Brentano und Kleist, auf Caspar David Friedrichs Mönch am Meer zeigt, treten ästhetischer Diskurs und Bild dabei in ein Spannungsverhältnis. Während einerseits die Geltung des Bildes von seiner diskursiven Erörterung nicht unabhängig ist, wird diese andererseits dem Eigensinn des Bildes nie gerecht. Brentano trägt dem Rechnung, indem er nicht, wie z.B. Schelling, die Kunst in begrifflicher Konstruktion zu einem organischen Ganzen stilisiert und damit verfehlt, sondern in einem komplexen und pluralen Diskurs über Friedrichs Bild unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen läßt. An diesem Beispiel arbeitet Zimmermann eine Dialektik von Bild und Betrachter heraus, die nicht zum Stillstand gebracht werden kann. Der von Brentano notierte „Anspruch" des Betrachters befindet sich mit dem „Abbruch", den die Erwartung des Betrachters durch das Bild erfährt, im Widerstreit. Kleists Reaktion auf Friedrichs Bild fällt ungleich negativer aus. Er radikalisiert das Zwiegespräch zwischen dem Bild (in dem er seine eigene existentielle Situation widergespiegelt sieht) und dem Betrachter dahingehend, daß der Abbruch des Anspruchs des Betrachters zum Abbruch der ästhetischen Reflexion führt. Gleichwohl unternimmt Kleist, wie Zimmermann zeigt, den Versuch, äquivalente Sprach-Bilder für das dem Bild inhärente Undarstellbare zu finden. Nur wenn der ästhetische Diskurs die beunruhigende Dialektik von Anspruch und Abbruch berücksichtigt, kann er Zimmermann zufolge das Bewußtsein für die ästhetische Differenz schärfen. Hans Ulrich Reck weist auf die enge Verknüpfung von avantgardistischer Kunst und alltäglichen Lebensformen in einer technischen Medienkultur hin, die eine zeitgemäße philosophische Ästhetik reflektieren müßte. Lange vor der Erfindung von Computern hat die Kunstgeschichte einen technischen Umgang mit Kunstwerken exerziert, der die Singularität des einzelnen Kunstwerks, zu dessen Erklärung sie angetreten war, reduzierte. Am Beispiel der Rezeption von Masaccio führt Reck vor, daß dies weniger an der technischen Reproduzierbarkeit von
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Kunstwerken als vielmehr an einem ikonographischen Identifizierungsfuror liegt, der das betreffende Werk als „Erfindung der ihre Reproduktion technisch habitualisierenden Kunstgeschichte" erscheinen läßt. Nicht zuletzt dadurch wird die Avantgardekunst in die Banalität des Alltags gezwungen. Die Nähe von Kunst und alltäglicher Lebenswelt zeigt Reck mit Lyotard am Beispiel Duchamps. Der Experimentalcharakter von Duchamps Kunst führt zu einer Erprobung vielfältiger Perspektiven. Dem entspricht in der Lebenswelt der selbstironische Umgang mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Dies muß nicht als Authentizitätsverlust (Verlust der Aura) beklagt werden, sondern kann als Wandel der Kultur in Richtung auf eine „Kunst der Rezeption" jenseits der Kategorien von Produktion und Rezeption verstanden werden. Lyotards Ästhetikbegriff ist Reck zufolge dieser technischen Gesamtmedienkultur angemessen, weil er nicht auf bloße Simulation, sondern auf Dissimulation, auf eine Aktivierung der Wahrnehmung und auf Widerstandspotentiale setzt. Dieses Asthetikverständnis, das jeglicher „subjektiv kontrollierten Repräsentation des Realen" mißtraut, führt von der Avantgardekunst in den Alltag. Ebenso wie Jean-François Lyotard befaßt sich auch Joseph Vogl in seinem Beitrag mit einem Text von Kafka. Anhand des späten Erzählfragmentes Beim Bau der Chinesischen Mauer stellt Vogl die Frage nach der Gemeinschaft und ihrer Darstellung bzw. Darstellbarkeit. In Anlehnung an Derridas Rousseau-Lektüre behandelt er dieses Thema jenseits der bloßen Dichotomie von natürlicher', mythologischer Gemeinschaft und,kultivierter', politisch repräsentierter Gesellschaft mit Blick auf die „Grenze" zwischen beiden — eine Grenze, die sich immer wieder verwischt. Kafkas Text bildet die Folie für diesen komplexen Zusammenhang. Die Dialektik von Vollendung und Nichtvollendung „beim Bau der Chinesischen Mauer" kann metaphorisch als Symbol einer Gemeinschaft verstanden werden, die sich durch den Bau gerade nicht symbolisieren kann und die als Einheit ohne Repräsentanz und Totalität die Differenz nicht nivelliert. Der Bau der Chinesischen Mauer führt eine Grenzziehung vor, die sich selbst zurücknimmt, wobei die Grenze, die auf kein Jenseits, keinen Mangel und kein Scheitern mehr verweist, der eigentliche Ort der Gemeinschaft ist, und zwar nicht als Rand, der eine Einheit umschließt, sondern als „innere Differenz", die Vielheiten freisetzt. Kafkas Denken der Gemeinschaft, die sich in ihrer Nichtdarstellung konstituiert und sich damit immer wieder selbst transzendiert (was sich, wie Vogl zeigt, in Kafkas späten Texten u. a. in einer „Entwerkung" [Nancy] niederschlägt), ist im Rahmen seiner „literarischen Ethik" politisch zu verstehen: als Widerstand gegen jegliche nationale, staatliche, mythologische oder ökonomische Uberformung von Gemeinschaft.
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3. Anschlüsse und Befragungen Lyotards Anwendung der Kantischen Kategorie des Erhabenen (die Kant ausdrücklich Naturerfahrungen vorbehalten hatte) auf die Kunst hat viel Widerspruch hervorgerufen. Christine Pries geht in ihrem Beitrag der Frage nach, inwieweit dieser Widerspruch berechtigt ist. Sie analysiert das Verhältnis des Erhabenen bei Kant und Lyotard und sucht herauszuarbeiten, daß Lyotard Kant weitaus getreuer bleibt und daß Kant seinerseits viel moderner ist, als gemeinhin angenommen wird. Lyotards scheinbare Modifikationen des Kantischen Begriffs — seine Rede vom Ereignis, von der Regelsuche, seine Konzentration auf die Kunst, seine Ablehnung symbolisch-pathetischer Darstellungen und seine Horizontalisierung des bei Kant noch als ,Erhebung' erscheinenden zweipoligen und zwiespältigen Gefühls des Erhabenen — sind Pries zufolge mit Kantischen Positionen gut vereinbar. Sie verändern diese Positionen nicht, sondern vereindeutigen sie. Diese Vereindeutigung hält Pries nicht nur angesichts der offenkundigen Ambivalenz des Erhabenen bei Kant (nicht von ungefähr konnten die Romantiker das Kantische Erhabene in eine ganz andere Richtung weiterentwickeln), sondern auch aufgrund der veränderten Situation in unserem Jahrhundert für unabdingbar. Entscheidend ist, daß das Mathematisch-Erhabene bei Kant wie bei Lyotard ein Wahrnehmungsproblem bedeutet, das die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit als Grundlagen der aisthesis in Frage stellt. Hierin liegt das kritische Potential der Kategorie des Erhabenen, das Naturerfahrung bei Kant und Kunsterfahrung bei Lyotard verbindet und jegliche Harmonisierung des Erhabenen verbietet. Lyotards Thematisierung der Zeit und der Zeitlichkeit nimmt Bernhard H.F. Taureck zum Anlaß, den unterschiedlichen Theorien der Zeitlichkeit in der französischen Tradition nachzuspüren. Dabei arbeitet er zwei Hauptströmungen heraus, wie das „Menschsein in der Zeit" gedacht wird: einerseits im Versuch, das Individuum so sehr an den zeitlichen Wechsel anzugleichen, daß sein „Ich" sich auflöst — diese Richtung wird, wie Taureck zeigt, von Villon, Montaigne und Rousseau eröffnet und von Bergson und Merleau-Ponty im 20. Jahrhundert theoretisch ausgearbeitet. Das Verhältnis zur Zeit ist hier das einer ästhetischen Praktik. Der andere Ansatz, der Taureck zufolge eher einer existenzkritischen Diagnostik gleichkommt und von Descartes, Pascal und Sartre vertreten wird, sucht umgekehrt ein stabiles Bewußtsein gegen den Wechsel der Zeit zu etablieren. In Lyotards Überlegungen zum erhabenen „Ereignis" sieht Taureck einen Versuch, beide Traditionen zu verbinden, wobei jedoch in Abkehr von beiden Traditionslinien die Unverfügbarkeit des Zeitlichen (bzw. die Zeitlichkeit des Unverfügbaren) in den Vordergrund tritt und mit der „Uberwindung des Repräsentationismus" die Welt nicht mehr als bloßes Abbild des Ewigen gedacht wird.
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Das hat eine Drehung des „vertikalen metaphysischen Anspruchs auf extramundane Begründung des Mundanen" ins „Horizontale" zur Folge. Taureck vermißt bei Lyotard jedoch die theoretische Fundierung seiner ästhetisch exemplifizierten Umgangsweise mit dem erhabenen Augenblick und zeigt an Char und Beckett, wie das in der Zeit Seiende als Zeit selbst erscheinen kann und wie bei Leopardi und in Tourniers artistischer Inszenierung der Prozeß des Kunstwerks das „Geschieht es?" Lyotards „in die Zeit bringt". Manfred Geier nimmt die gegenwärtig in allen Bereichen prominente Diskussion um die logische Struktur antinomischer Dilemmata auf, die Lyotard im Postmodernen Wissen und im Widerstreit formuliert hat, und führt uns in die Abgründe der Selbstreferenz der Sprache und der daraus resultierenden Paradoxien und Aporien, die das logische Denken provozieren. In der Tradition lassen sich, so Geier, zwei Wege nachzeichnen, wie mit derartigen Paradoxa umzugehen sei. Sie sind noch heute unverändert aktuell. Da ist einerseits eine vom Eristiker Eubulides (von ihm stammt die berühmte Wahrheitsantinomie „Alle Kreter lügen") und von Zenon ausgehende, bis zu Habermas und Apel sich fortsetzende Strategie; andererseits eine Linie, die von Aristoteles' Sophistischen Widerlegungen über die mittelalterliche Logica Magna bis zu Lyotards Widerstreit führt. Wie Geier zeigt, versucht der erste Weg, Wahrheitsantinomien als performative Widersprüche zu entlarven und mit diesem „abschreckenden Beispiel" die fundamentalen Geltungsansprüche vernünftiger Kommunikation zu untermauern. Dagegen will der aristotelische Lösungsweg das Lügnerparadox durch Unterscheidung allgemeiner und einzelner Aussagen oder — in Lyotards Fall — durch Zulassung widersprüchlicher Aussagen in einer Zeitfolge ohne fundamentale Geltungsansprüche auflösen, wobei die Einführung unterschiedlicher Zeitpunkte die Auflösung der logischen Kontradiktion in eine konträre Opposition erlaubt. Geier hält beide Wege für „ungehbar" und favorisiert einen von Wittgenstein inspirierten „ästhetischen Weg", der die künstlerischen Reize solch philosophischer Antinomien zu schätzen weiß. Ausgehend von der Frage, wie ein Fundament der Kritik als „Spiel der Vernunft" zu denken möglich ist, behandelt Josef Früchtl die Konstruktion und das Verhältnis der einzelnen Rationalitätstypen bei Habermas und Lyotard, wobei er beide gleichsam gegeneinander ausspielt, aber auch Parallelen herausarbeitet. Gegen Habermas' Modell eines Mobiles unterschiedlicher Rationalitätsformen, die verschiedenen Geltungsansprüchen gehorchen, wendet Früchtl ein, daß die einzelnen Rationalitätstypen zwar nicht intern, aber doch untereinander in Konflikt geraten können und daß insbesondere Mischformen von Geltungsansprüchen, wie sie etwa im ästhetischen und ethischen Diskurs vorliegen, im Habermasschen Modell nicht berücksichtigt werden können. Bei Lyotard, der den
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Konfliktfall der einzelnen Diskursarten im Widerstreit radikal herausgearbeitet hat, sind, so Früchtl, diese Mischformen ebenfalls ein Problem, weil er die Heterogenität der einzelnen Diskursarten überspitzt. Die vielfachen Ubergänge zwischen ihnen und ihr intrinsisches Aufeinanderangewiesensein seien unübersehbar. Überdies laufe Lyotard durch die Leugnung einer Metasprache, die diese Ubergänge regeln könne, Gefahr, daß aus der kritischen Idee von Gerechtigkeit, für die er eintritt, bloße Gleichgültigkeit resultiert. Die Existenz von Ubergängen sucht Früchtl bei Lyotard selbst zu belegen, wobei er hervorhebt, daß solche Ubergänge zwar nicht notwendig an einen Metadiskurs gebunden sind, daß aber die Vernunft „als formale und mobile Einheit" gerade durch solche Ubergänge kritische Maßstäbe garantiert. Hans-Joachim Lenger schließt in seinem Beitrag an Lyotards Verwendung des Kantischen Terminus „Geschichtszeichen" — als einer Version des Gefühls des Erhabenen — in bezug auf Auschwitz an. In der Frage, die er diesbezüglich an Lyotard stellt, geht es um die Distanz, die nötig ist, um vom Entsetzlichen Zeugnis ablegen zu können, und die zugleich die Sicherheit garantiert, die für die Möglichkeit des erhabenen Gefühls unabdingbar ist. Entscheidend ist dabei das Problem der Darstellung, die, wie Lenger im Anschluß an Adorno schreibt, zumal mit Blick auf Auschwitz „zum Entsetzlichsten" wird. Lenger sucht nachzuweisen, daß mit der Distanz bereits in Kants Konzeption des Erhabenen, die Lyotard gegen Hegels dialektische Darstellungsstrategie ins Feld führt, eine Darstellung und damit eine Tilgung der Schuld gegenüber dem Entsetzlichsten vorliegt. Diese Darstellung sei zwar nur minimal — schließlich geht es Kant ja gerade darum darzustellen, daß etwas undarstellbar ist — , sie bewirke aber eine grundlegende Ambivalenz des Kantischen Erhabenen, die sich zum einen darin niederschlägt, daß Kant auch auf Beispiele für das Erhabene, die nicht der Natur entstammen (wie z. B. den Krieg), rekurrieren kann, und die sich zum anderen in der Beherrschung der Zeit manifestiert, wie sie mit der Distanznahme im Erhabenen verbunden ist. Lenger wirft daher die Frage auf, ob nicht, wenn Distanz und Schuld unauflöslich miteinander verbunden sind, die Konzeption des Erhabenen in Richtung auf das Verschwinden der Distanz, auf eine sprachliche Kindheit hin überstiegen werden müßte, damit der zentrale Widerstreit zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit des Zeugnisses angemessen zum Ausdruck gebracht werden könne. *
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Adorno hat einmal gesagt: „Was etwa den gegenwärtigen Geisteswissenschaften als ihre immanente Unzulänglichkeit: ihr Mangel an Geist vorzuwerfen ist, das ist stets fast zugleich Mangel an ästhetischem Sinn." 3 4 Dagegen plädierte er dafür, „Differenziertheit" als „eine ästhetische Kategorie sowohl wie eine der Erkenntnis" zur Geltung zu bringen. 35 — Die Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard suchen auch dieser Maxime Adornos zu folgen.
34 35
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 344. Ebd.
1. Positionen
Die Vorschrift Jean-François Lyotard
Kafkas Text In der Strafkolonie soll mir als Prätext dienen, um einige Bedeutungen von praescribere vor Augen zu führen: voranschreiben oder als Titel schreiben, vorschreiben und, im Spätlateinischen, vorherschreiben, vorzeichnen. Nicht zu vergessen die vulgärlateinische Bedeutung von praescriptio, die Grenze, von der sich unser Begriff prescription im Code civil ableitet, was die Möglichkeit bezeichnet, „nach Verstreichen einer bestimmten zeitlichen Frist und unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen, einen Anspruch zu erwerben oder abzuweisen". Das englische prescription umfaßt mehr oder weniger alle diese unterschiedlichen Nuancen, während das Deutsche genau unterscheidet zwischen der Vorschrift, der Verordnung, der Anordnung und der Verjährung eines Anspruchs oder einer Schuld nach einer bestimmten Frist. Die gewaltige Kraft und einfache Klarheit des Kafkaschen Textes bedürfen auch hier keines weiteren Kommentares. Ein Kommentar entkräftigt vielmehr deren Wirkung. Dem habe ich mich zu fügen. Ich kann als Entschuldigung nur vorbringen, in diesen Seiten voll glühender Halluzinationen einen Klang zu vernehmen, den ich auch vernehmbar machen will: ein Echo dessen, was man auch das Unnachgiebige, Unbeugsame (l'intraitable) genannt hat. Das soll heißen, daß das Unnachgiebige, das, was jedem Gesetz widersteht, auch eine absolute Bedingung der Moral ist und so auch ein wenig Bedingung dessen, was daraus im Politischen wird. Der Offizier beschreibt dem abendländischen Reisenden auf Französisch den Exekutionsapparat und das Funktionieren seiner verschiedenen Teile, das bewegliche Bett, das Räderwerk des sogenannten Zeichners, die gläserne Egge mit ihren Nadeln und Wasserröhrchen. Die Maschine schreibt den Urteilsspruch auf den Leib des Verurteilten, verso und recto, oder sticht ihn vielmehr in seinen Körper ein, bis er schließlich verblutet. Den Gnadenstoß versetzt ihm ein langer eiserner Stachel (der einzige des Apparates), der ihm die Stirn durchbohrt. Danach wälzt das Bett den gefolterten Körper in eine Grube. Der Offizier beschreibt, die Maschine schreibt. Der Offizier beschreibt die Maschine, die Maschine schreibt das Urteil. Auf die Beschreibung komme ich später zurück. Betrachten wir zunächst die Inschrift.
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Die Maschine führt das Programm für die dem Urteilsspruch entsprechende Inschrift, das in das Räderwerk eingelegt wird, blind aus. Das Räderwerk wäre sozusagen das tote Gedächtnis, der Speicher eines Computers, der Text des Programms das lebendige Gedächtnis, die Eingabe. Danach drückt man auf die Starr-Taste der Klaviatur. Die Maschine ist nicht etwa blind, weil sie nicht lesen könnte, sondern weil sie nur die in der Sprache des früheren Kommandanten geschriebenen Vorschriften lesen kann, kurz gesagt, zu kurz vielleicht, nur die Vorschriften des alten Gesetzes. Der Offizier liebt die Maschine, weil er das alte Gesetz liebt und weil die Maschine der Ausführungsapparat des alten Gesetzes ist. Eine künstliche Intelligenz, deren Gedächtnis nur in der alten Sprache operieren kann. Der Offizier steht ganz im Dienst dieses Apparates. In seiner Tasche trägt er die Blätter mit allen Zeichnungen, die all jenen Vorschriften entsprechen, die einzig und allein das alte Gesetz bilden. Ein Wartungsingenieur, so könnte man meinen. Diese Linien hießen im Spätlateinischen praescripta, vorgezeichnete Linien, so etwas wie Skizzen: Linien, die die Ausführung bestimmen. Das ist eine späte und offensichtlich schwächere Bedeutung von praescribere, im räumlichen und — wenn man so sagen kann — ästhetischen Sinn. Die Hand, wie man ja auch von der Hand des Henkers spricht, in diesem Fall die Egge, überträgt diese Linien auf den Leib des Verurteilten. In der Ausführung ihres Werkes folgt sie dem Modell oder dem Muster der Linien, die der frühere Kommandant auf die Blätter vorgezeichnet hat, die der Offizier in der Tasche trägt. Sie exekutiert im doppelten Sinne des Wortes. Das Lateinische sagt dafür auch perimere. Perimere heißt nur deshalb töten, weil es zunächst bedeutet, etwas ganz zu erwerben, völlig wegzunehmen oder zur Gänze aufzukaufen. Die Egge vollzieht unwidersprochen, unwiderruflich bis zum Ende den Freikauf von der Schuld, die der Verurteilte auf sich geladen hat. Der Verurteilte bezahlt mit seinem Blut, mit seiner ganzen Person, bis zur Erschöpfung — er bezahlt mit seinem Leben für das Vergessen und die Verletzung der Autorität der Vorschrift. Hier stoßen wir wieder auf den ursprünglichen Sinn von praescribere und praescriptio: voranschreiben, quasi überschreiben und ansinnen. Das Gebot des früheren Kommandanten ist ein präskriptiver Satz. Seine Form lautet: mach dies, mach das nicht etc. Hier müßte man die Modalitäten der Vorschrift analysieren. Ich bezeichne mit dem Buchstaben D alle jene Modalitäten, die die Rechte und Pflichten auffächern und differenzieren: die Verpflichtung, das Verbot, das Erlaubte und Geduldete. Unterliegt man der Vorschrift, so ist man ihr Empfänger oder Adressat, hat also Pflichten. Wenn man den anderen diese oder jene Modalität auferlegen kann, so ist man in der Position des Senders oder desjenigen, der die Vorschrift ausspricht, man übt das Recht aus zu verpflichten, zu verbieten, zu erlauben etc. Das Vorgezeichnete, das praescriptum, nach dessen Vorgaben die Maschine die eigentliche inscriptio ausführt, ist die ästhetische Umsetzung der Vorschrift, die sich als Befehl aus dem alten Gesetz ableitet.
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Ich spreche hier aus zweierlei Gründen unterschiedlicher Gewichtung von ästhetisch. Zum einen — und das ist der weniger gewichtige Grund — muß die Vorschrift des früheren Kommandanten, jeweils von den einzelnen "Worten ausgehend, in Linien übertragen, umgeschrieben werden, denen der Zeichner zu folgen hat. In diesem Zusammenhang müßte man also über die Beziehung von Buchstabe und Zeichnung nachdenken. Nichts garantiert uns nämlich, dem Kafkaschen Text zufolge, daß es sich bei der in der Strafkolonie gebräuchlichen Schrift um eine alphabetische Schrift handelt. Wäre diese Schrift eine, wie es heißt, ideogrammatische Schrift wie die chinesische Schrift oder die ägyptischen Hieroglyphen, so stünde sie in enger Beziehung zum Bild(zeichen) und bedürfte womöglich nicht einmal einer Umschrift. Ästhetisch ist hier also in einem edlen Sinn zu verstehen. Edel deshalb, weil man vor allem durch die zen-buddhistische Uberlieferung weiß, daß die Gestaltung eines Zeichens mit Pinsel und Tinte vom Zeichner-Schreiber eine Art Askese, innere Entleerung verlangt, einen Zustand, der jegliche Leidenschaft oder idiosynkratische Absicht ausschließt. Ein ästhetischer Zustand der Leere, der Abwesenheit gegenüber allem, was sozusagen nicht im Geiste des einzuschreibenden Zeichens steht. Der Körper des Schreibers muß sich durch Kasteiung von der Schuld zu leben, zu empfinden und zu wollen freikaufen. Die Ästhetik, um die es hier geht, eliminiert das, was wir Ästhetik, das Hereinbrechen des Sinnlichen, nennen. Kafka jedoch verfolgt einen anderen Weg als denjenigen, den die Bilder-Schrift eröffnet hat; ich führe dies also nicht weiter aus. Es gibt jedoch einen guten und einschlägigen Grund, die Arbeit der Maschine als ästhetisch zu bezeichnen. Denn was hier auf dem Spiel steht, ist die Übertragung der verbalen Formulierung des Gesetzes in dessen körperlichen Ausdruck. Freud würde vielleicht von einer Umwandlung von Wortvorstellungen in Dingvorstellungen sprechen. Aber hier geht es um mehr als um Vorstellungen, mehr selbst als um Dingvorstellungen. Im Grunde ist es etwas anderes als Vorstellung, als Halluzination, Traum, Phobie etc. Wenn man in dem von Freud aufgestellten Katalog von Symptomen nachsieht, dann wäre das acting out, das Agieren, die Aktualisierung in der Übertragung eine mögliche Annäherung an das, was dem Verurteilten widerfährt. Der Körper führt das Gesetz augenblicklich, in actu an sich selbst aus. So wie das Handgelenk oder die Oberlippe des Hysterikers erstarrt oder in seinen Handflächen Stigmata bluten. Freud spricht an irgendeiner Stelle vom besonderen Vorzug, den der Körper bei der Einschreibung des Unbewußten genießt. Und dieses Privileg heißt Hypochondrie. Der Körper — aber was heißt das schon: der Körper} — exponiert sich, nicht nur, um die Schuld, das heißt die unerträgliche Wunscherfüllung auszudrücken, sondern auch, um diese Schuld mit seinem Leben zu bezahlen. Der Tod ist der extremste Zustand der körperlichen Störungen. Ich erinnere an die Kette von deren leidenschaftlichen Grün-
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den: In allen Neurosen lassen sich das hysterische Symptom wie auch die Somatisierung nachweisen: Die Hypochondrie ist stets mit der Melancholie, einem unwiderruflichen Verlust des Liebesobjektes verbunden; der Körper gibt sich die Schuld für diesen Verlust, er nimmt jedenfalls diese Selbstanklage, Selbstvorwürfe auf sich, er versucht, die Schuld für diesen Verlust durch sein Leiden freizukaufen, sie einzulösen, indem er an sein nichtswürdiges, vergängliches Wesen erinnert. Warum soll man dieses Geflecht von Motiven, dieses memento mori ästhetisch nennen ? Ästhetisch sein (im Sinne der ersten Kritik von Kant) bedeutet dasein, hier und jetzt, heißt, im Raum-Zeitlichen und dem Raum-Zeitlichen eines etwas ausgesetzt sein, das uns vor jedem Begriff und sogar jeder Vorstellung berührt. Dieses vor kennen wir natürlich nicht, denn es ist da, bevor man da ist. Es ist wie die Geburt und die Kindheit, die da sind, bevor man da ist. Das da, um das es hier geht, ist der Körper. Nicht ich komme zur Welt, nicht ich werde geboren. Ich selbst, ich komme erst danach zur Welt, mit der Sprache, genau dann, wenn ich die Kindheit verlasse. Meine Angelegenheiten werden schon verhandelt, entschieden sein, bevor ich dafür einstehen kann. Und zwar unwiderruflich: denn diese Kindheit, dieser Körper, dieses Unbewußte bleiben mein ganzes Leben über da. Wenn mir das Gesetz mit dem Selbst und der Sprache zukommt, dann ist es schon zu spät. Die Dinge haben schon einen Lauf genommen. Und das Gesetz wird mit seiner Wendung der Dinge jene erste nicht auslöschen können — jene erste Be-rührung (touche). Die Ästhetik betrifft diese erste Be-rührung, die mich berührte, als ich nicht da war. Hier ist nicht der Ort, um diese negative Ästhetik, die jede bedeutende Kunst, jede Schrift bestimmt, aber erst mit der modernen Kunst und Literatur offen zutage tritt, zu entwickeln. Die Verpflichtung der negativen Ästhetik, ihre konstitutive Vorschrift lautet, sich mit den Mitteln des Sinnlichen der unmerklichen Be-rührung zu entledigen, ihre Schuld zu begleichen. Hinsichtlich des Gesetzes ist diese Be-rührung zwangsläufig eine Schuld. Ort und Augenblick der Be-rührung liegen in einem wilden, unberührten, umherstreifenden, dem Gesetz fremden Raum-Zeitlichen. Insofern also diese Berührung weiterhin besteht, ist diese schuldige Wildheit oder Herumstreiferei in dieser un-vordenklichen Raum-Zeit als Macht des Körpers immer da. Wenn das Gesetz nicht nur verkündet, sondern auch befolgt sein will, so muß es den Widerstand dieser Schuld oder diese von Geburt an bestehende Kraft der Schuld brechen. Das will heißen, daß diese Schuld uns zukommt, weil wir ganz einfach geboren werden, bevor wir zum Gesetz geboren werden. Für das Gesetz ist der Körper zuviel. Die Ästhetik, selbst die negative Ästhetik, wie ich sie verstehe, reicht nicht aus, um die Schuld, die der Körper als Raum-Zeit der Be-rührung ist, zu begleichen. In gewisser Hinsicht erhöht sie sogar die Schuld. Zumindest
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wiederholt sie den unzähmbaren Akt der Kindheit-Geburt. An dieser Treue ist die Kunst schuld. Es obliegt jedoch dem Gesetz, sich um dieses Zuviel an Körper zu kümmern. Soll das Gesetz ausgeführt werden, so muß auch es sich auf dem Körper wie eine Be-rührung einschreiben. Der Körper, den ich meine, hat keinen Sinn für das Gesetz, er vernimmt nichts, er ist ein tauber Adressat, denn er gehört nicht zur Bestimmungsordnung des D gemäß der Pflichten und Rechte. Er müßte gemäß seiner eigenen grausamen Ästhetik be-riihrt werden. Es müßte angeschnitten, das heißt geschnitten und aufgeritzt werden. Auch das Spätlateinische intani inare geht zurück auf tangere, das Be-rühren, ein An-rühren, ein Danach-Greifen. Die Schrift, die heilige Schrift müßte auf den Körper, über den sie nicht verfügen kann, wie eine wilde Be-rührung eingeschrieben werden. Erst durch diese von der Vorschrift vorgeschriebene Inschrift erhält dieser Körper die Weihe. Diese Inschrift muß den Körper als das gesetzlose Wilde vernichten. Nur sein Tod kann ihn von der Schuld erlösen, sie sühnen. Erlösung verlangt Verjährung/Verwirkung. Wir sprechen von Blutschuld. Aber es gibt zweierlei Blut, nämlich sanguis und cruor, den Lebenssaft der Adern und das vergossene Blut. Der Lebenssaft speist den Leib. Er verleiht der Haut jene unendlich ineinander übergehenden Nuancen, die den Maler und Philosophen zur Verzweiflung treiben: den bläulichen, blaßroten Ton, die Blässe, Fahlheit oder rosige Frische. Immaterielle Materie. Diese Unschuld des Fleisches ist ein Verstoß gegen das Gesetz, der gesühnt werden muß. Cruor bedeutet Blutvergießen. Die Buße ist die Grausamkeit, crudelitas gegen fidelitas. Theater der Grausamkeit, genau das ist die Maschine der Strafkolonie, nämlich Ästhetik des vergossenen Blutes, wie es das ethische Gesetz bei seiner Ausführung fordert. Zwischen der ersten und der zweiten und letzten Be-rührung durch die einritzende Egge oder das Gesetz ändert die Ästhetik ihre Richtung und ihren Sinn. Nun ist sie auf und im gefolterten Körper des Verurteilten, steht im Dienste des alten Gesetzes. Der Reisende fragt den Offizier: „Kennt er [der Verurteilte] sein Urteil?" ,„Nein', sagte der Offizier." Der Reisende insistiert: „Er kennt sein eigenes Urteil nicht?" — ,„Nein', sagte der Offizier wieder."1 Und hier fügt Kafka folgende Regieanweisung ein: ,„Nein', sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage." (Ebd.) Der Vollstrecker des Gesetzes weiß, daß der unschuldige Körper um
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Franz Kafka, „In der Strafkolonie", in: ders., Sämtliche Erzählungen, hrsg. von Paul Raabe, Frankfurt a.M. 1988, S. 100-123, hier S. 104. - Im folgenden alle Seitenangaben im laufenden Text.
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das Gesetz nicht weiß — im Sinne der Erkenntnis — , nicht wissen kann, wenn es ihm nicht bis aufs Blut eingeritzt wird. Sein Wissen um etwas ist nur insofern ein Wissen, als sapere auskosten (savourer) bedeutet: für das Ästhetische empfänglich, be-rührt sein. Nach diesem Schweigen fügt der Offizier tatsächlich hinzu: „Es wäre nutzlos, es [das Urteil] ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib." (Ebd.) Der Reisende gibt sich damit nicht zufrieden: ,„Aber daß er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch?' — ,Auch nicht', sagte der Offizier [...], als erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen." (Ebd.) Der Reisende, der Abendländer, vergessen wir dies nicht, insistiert: „Dann weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde?" Antwort des Offiziers: „Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen." Und auch hier wird wiederum ein Spiel oder eine Stimmung angewiesen: „,Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen', sagte der Offizier [...], als rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen." (Ebd.) Der Offizier weiß, daß sein officium, sein Amt und somit die Aufgabe der Maschine, das heißt, die Notwendigkeit, die für das Gesetz besteht, den Körper zu Tode zu stechen, ihn um der eigenen Exekution willen zu exekutieren, auf Gründen beruht, die dem Abendländer entgehen (insaisissable). Der Abendländer nämlich hat das Blut vergessen. Er glaubt, den Körper in einer Inkarnation bereits ein für alle Male gesühnt zu haben. Durch ein Gesetz, das zwar um den Preis des vergossenen Blutes, des cruor, Fleisch geworden ist, aber ein für alle Mal. Wie unbeschwert das Abendland doch mit dem Gesetz umgeht, wie sehr ihm doch die Grausamkeit fehlt. Das einzige, was das Abendland von der Grausamkeit wissen will, ist die Frage, wie man mit ihr umgeht: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Der Reisende antwortet tatsächlich empört: „Er muß doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen." (Ebd.) Der Offizier verliert schließlich ob solch blinder Verkennung, wenngleich er sie kennt und erkennt, die Geduld; es ist die Verkennung des Verbrechens, das der unschuldige Körper ist, das Verkennen, daß das Rechts- und Pflicht-Subjekt, das Subjekt D, eben dieses Körpers wegen niemals erlangt werden kann; der Offizier nimmt also den Reisenden beim Arm, zeigt auf den Verurteilten, der in völliger Komplizenschaft mit dem Offizier strammsteht, und erklärt ihm folgendes: „Ich bin hier in der Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner Jugend. Denn ich stand auch dem früheren Kommandanten in allen Strafsachen zur Seite und kenne auch den Apparat am besten. Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos." (Ebd.) Ich würde hieraus gern ein „Schlußwort" machen, aber es steht am Anfang. Die Schuld ist zweifellos, weil wir be-rührt wurden, „bevor" das Gesetz uns berührt. Das Gesetz kann uns nur wieder be-rühren, nachträglich bearbeiten (re-
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toucher). Die nachträgliche Berührung retuschiert nur, wenn sie endgültigen Charakter hat. Das heißt, wenn sie den Widerstreit zwischen dem „davor", das der Körper ist, und dem „danach" des Gesetzes beendet. Ich spreche von Widerstreit; es gibt kein Gericht, das diesen Konflikt zwischen Ästhetik und Ethik aufgreifen und über ihn entscheiden könnte. Eine disputatio wäre hier nur Trug. Der Körper argumentiert nicht: „Hätte ich den Mann zuerst vorgerufen und ausgefragt, so wäre nur Verwirrung entstanden. Er hätte gelogen, hätte, wenn es mir gelungen wäre, die Lügen zu widerlegen, diese durch neue Lügen ersetzt und so fort. Jetzt aber halte ich ihn und lasse ihn nicht mehr." (S. 105) Der Widerstreit zwischen Körper und Gesetz kann nicht in einen Rechtsstreit umgewandelt werden. Allein das Opfer des Körpers verleiht der Heiligkeit des Gesetzes Dauer. Die Opfer-Exekution muß, ohne Widerspruch und begründetes Urteil, automatisch bei jeder frevelhaften Geburt erneut stattfinden. Die Grausamkeit wird maschinell sein. Der Verurteilte wird nicht in eine(r) andere(n) Welt (g)er(r)ettet, sein Leichnam wird in die Grube, das Massengrab geworfen. So wird das Gesetz bejaht und in der Welt bestätigt. Soll das Gesetz zur Ausführung gelangen, so wird es in den Körper einschneidend eingreifen: mit den Mitteln des Körpers, aber gegen sie gerichtet. Mit dem Blut, auf daß es fließt und rinnt. Das, was der Offizier beschreibt, ist die absolute Bedingung der Moral: ihre Grausamkeit der Unschuld gegenüber. Diese Unschuld ist zweifellos die Sünde, denn sie weiß nicht um Gut und Böse. Sie ist nicht jenseits, sondern diesseits. Das Gesetz schreibt vor, aber nicht im Sinne von voranschreiben (als Titel/Kopf oder Uberschrift). Die Vor(her)schrift, das was vorher kommt, ist nicht das Gebot, sondern die Geburt oder die Kindheit, der ästhetische Körper. Dies ist dermaßen lange im voraus, diesseits eingeschrieben, daß das Gesetz selbst sich nur einschreiben kann, indem es auf dem Körper eine Inschrift auffrischt, die derjenigen, die ihn begründete, analog ist, wenn es diese Inschrift erneut in den Körper einschreibt. Das Gesetz ist immer ein Nach-Wort zum Körper. Es versucht, seine Rede dem sanguis, was schon Vorwort ist, voranzustellen, ein Vorwort zu diesem Vorwort zu sein. Dadurch verwandelt es das sanguis in cruor, ein Blut, das zu Tode gerinnt. Das Gegenteil einer Transsubstantiation. Nehmen wir die praescripta wieder auf, die Skizzen auf den Blättern des früheren Kommandanten, die der Offizier in seiner Tasche trägt und nach denen er sich richtet, um das Räderwerk des Zeichners so einzustellen, daß es die Egge in Bewegung setzt, damit diese schließlich die Buchstaben des Gesetzes in den Körper eingraviert. Der Moral geht es nicht um das Blutvergießen. Die Grausamkeit muß sich darbieten, exponieren. Das ist ihre Bühne, ihre Ästhetik. Der Körper wird hierbei räumlich als Oberfläche erfaßt, in die die Buchstaben des Gesetzes grausam hineingeschnitten werden. Aber auch die Zeit des Körpers muß auf-gefangen und
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vom Gebot, seiner nachträglichen Bearbeitung, berührt werden. Das Gesetz fordert zwar den Tod einer schuldigen Unschuld, aber es fordert ebenso eine TodesZeit, eine Agonie der Unschuld. Der Offizier zeigt dem Reisenden die Blätter mit den praescripta, den vorgegebenen Zeichnungen des früheren Kommandanten, die dazu dienen, die Bewegungen der Egge zu programmieren. „Der Reisende hätte gerne etwas Anerkennendes gesagt, aber er sah nur labyrinthartige, einander vielfach kreuzende Linien, die so dicht das Papier bedeckten, daß man nur mit Mühe die weißen Zwischenräume erkannte." (S. 107) Der Reisende bekennt, daß er nichts entziffern kann. Der Offizier sagt daraufhin lachend: ,Ja, [...] es ist keine Schönschrift für Schulkinder. Man muß lange darin lesen." (Ebd.) Dies ist keine Schrift, die man lesen soll, die man zu lesen gibt, um lesen zu lernen. Das Kind kann sie mit den Augen nicht entziffern. Aber gerade diese Unentzifferbarkeit wird sie in besonderem Maße, ausschließlich und unwiderruflich für die Kindheit, wie ich sie verstehe, für die frevlerische Unschuld des Körpers also, entzifferbar machen. Dies ist eine Schrift, die nicht gelesen zu werden braucht und niemals gelesen werden wird — ein (Schrift)Zug, der empfunden werden soll, ein Leidenszug. Das Durcheinander, die für das Auge verwirrenden Linien des Schriftzuges, sollen die Leidenszeit des Körpers während der Einritzung verlängern. Der Offizier erklärt dem Reisenden: „Es darf natürlich keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zieraten die eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmt." (Ebd.) Der Artikel des alten Gesetzes, der dem Verurteilten bei der Exekution — der der Reisende (und der Leser Kafkas) beiwohnt — auf den Leib geschrieben wird, lautet in der Tat knapp: „Ehre deinen Vorgesetzten!" (S. 104) Gäbe es nur diesen einen Text, so würde es nicht lange dauern, bis man ihn um den Körper herum eingeritzt hätte. Würde der Körper überhaupt daran sterben ? Das ist vorstellbar. Unsere abendländischen Hinrichtungen verfahren im Prinzip nach diesem Schnellverfahren. Das alte Gesetz dagegen verlangt einen Aufschub von zwölf Stunden. Was erwartet es von dem post-scriptum ? Warum diese Verzögerung im Einschreiben, warum wird der Gesetzestext bis zur Unleserlichkeit mit den Verzierungen überladen? Das Gesetz verlangt und erwartet eine andere Art des Entzifferns. Der Offizier beschreibt die Agonie der Verurteilten: „Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde ! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Einblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gese-
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hen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung." Dann „spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube" (S. 108). Nach der Berechnung des Markus-Evangeliums wird Jesus zur dritten Stunde gekreuzigt, bricht die Dunkelheit zur sechsten Stunde herein, haucht Jesus seine Seele zur neunten Stunde aus. Sechs Stunden sind nötig, damit die Wunden das Gesetz entziffern können, während, wie der Offizier es sagt, „nichts weiter geschieht". Die Agonie selbst, der Kampf des Körpers gegen das Gesetz, setzt mit der sechsten Stunde aus, und wenn danach nichts mehr weiter geschieht, dann deswegen, weil die Be-rührung (re-touche) des Gebotes, seine Markierung (re-marque) die Marke der ursprünglichen Be-rührung gelöscht hat. Die unvordenkliche aisthesis, aus der der unschuldige Körper seinen wilden Widerstand jeder Anschuldigung, jedem Urteil gegenüber schöpft, wird sozusagen zerstört. Die ersten sechs Stunden sind dem Widerstand gewidmet und vielleicht verloren. Dieser Widerstand, dessen Kraft außerhalb des Gesetzes bleibt, weil sie vor ihm — diesseits — liegt, ist, wie wir zu sagen pflegen, forasticus (frz. farouche, aus altfrz. forasche, A. d. U.), also fremd und erbittert zugleich. Was wir so harmlos „moralische Erziehung" nennen, entspricht dieser Tortur. Keine „éducation sentimentale" also. Das Gefühl ist entweder schlecht erzogen oder tot. Es ist, als würde nicht das Gesetz, sondern der Körper diese Frist benötigen, die das Gesetz erfordert, um entziffert werden zu können, weil der Körper die Geisel einer für jede Gerechtigkeit blinden Be-rührung bleibt. Das Rechtsvokabular versteht unter „prescription extinctive" eine „besondere Art von Pflichtenthebung". Sie beruht auf zwei Bedingungen: „die vom Gesetz vorgeschriebenen Bedingungen", die hier auf den Blättern eingeschrieben stehen, die dem Offizier vom alten Kommandanten hinterlassen wurden. In D-Ausdrücken formuliert, ist die Vorschrift aber auch, ich sagte es schon, eine Art, etwas „mittels einer bestimmten Zeitfrist zu erwerben, um sich zu befreien". Die Vorschrift ist ein D-Satz, der seine Autorität auf Dauer gründet. Ein ununterbrochener Besitz (von dreißig Jahren) gilt als Eigentum, wenn es um dessen Erwerbung geht. Was nun die Tilgung einer Schuld betrifft, gelten ein ununterbrochener Dienst (nehme ich an; ich sage Dienst in Ermangelung eines Besseren), eine spontane Unterwerfung, irgendeine Form von Abtrag (passibilité), ebenso ununterbrochen, als Begleichung der Schuld. Diese Bedeutung des Wortes „Vorschrift", die auf deutsch Verjährung (dt. im Original) heißt, das heißt das Tilgen des Verbrechens durch die Zeit, kann sogar auf die Bestrafung des Verbrechens angewendet werden. Wir reden geläufig von Verjährung, sobald eine Frist verstrichen ist, die das Verbrechen unwiderruflich vergangen und die Strafe unanwendbar werden läßt.
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In der Strafkolonie, zumindest so wie der Offizier sie sich wünscht, gibt es eine solche Verjährung nie; das Gesetz bleibt in allen Fällen unverjährbar, das heißt immer anwendbar. Das Verbrechen ist unverjährbar, weil es immer die preinscriptio einer aisthesis bezeugt, der das D, die Rechte und Pflichten gleichgültig sind. Die Anwendung des Gesetzes enthält immer die gleiche extingierende Vorschrift: zwölf Stunden Agonie, um die sichere Schuld zu begleichen. Diese besteht darin, nicht zuerst in das Gesetz hineingeboren zu sein, sondern in die aisthesis und durch sie. Im Einschreibprogramm der Maschine sind die Arabesken, die Vorschrift dieser Vorschrift (im Sinne von Verjährung, A.d.U.), der Befehl zu einer solchen Frist. Warum schreibt das alte Gesetz vor, daß seine Ausführung, seine Einritzung in den schuldigen Körper auf diese Weise verzögert wird? Warum kein schneller Tod ? Deswegen, weil der Tod auf die Geburt eifersüchtig ist. Oder anders gesagt: auf den Körper. Oder noch anders: Die Ethik ist auf die Ästhetik eifersüchtig. Das Gesetz ist eifersüchtig, weil es an zweiter Stelle kommt und weil der sanguis nicht auf es gewartet hat, um „frei" herumzukreisen. Der Körper hat seine Zeit noch vor dem Eintritt des Gesetzes erlebt, in der er auf nichts antworten muß, da er nicht angesprochen wurde. Diese primäre Zeit muß auch bezahlt werden. Auf diese Art wird der Nachteil des Gesetzes beseitigt. Das Gesetz muß für den Körper ein Zuviel an Tod sein, weil der Körper gegenüber dem Gesetz den Vorteil eines Zuviel an Geburt genießt. Die Einritzung des Körpers durch das Gesetz muß so sein, daß sie die Entscheidung verzögert. Der Abstand zwischen Entscheidung (décision) und Einritzung (incision) wiederholt den Abstand zwischen der ästhetischen und ethischen Geburt und annulliert ihn zugleich. Er wiederholt ihn, weil er den Körper durch das Leiden an seinen Wunden innerhalb der Ästhetik behält, er annulliert ihn, weil diese Ästhetik der Grausamkeit nun im Namen der Ethik ihren Ort und ihre Zeit hat. In den letzten sechs Stunden wird das Gesetz den ersten Rang bekommen, nicht nur wie es selbst es beansprucht, sondern wie der Körper es versteht. Er kann es nur um den Preis des vergossenen Blutes entziffern. Und nur auf diese Art ist das Gesetz entzifferbar. In den Augen des körperlosen Gesetzes, das heißt des Reisenden oder des neuen Kommandanten, bleibt es unentzifferbar, wie die unentwirrbaren Zeichnungen auf den Blättern des alten Kommandanten. Auch der Offizier, der diese Blätter lesen kann und die Maschine bedient, weiß, daß diese Lektüre nichts ist, hinsichtlich des Gesetzes keinen Wert hat. Damit er aufhören kann, der eifrige Diener des Gesetzes und seiner Maschine zu sein, muß sein Körper von den Spitzen der Egge zerfleischt werden. So würde er zum Opfer des Gesetzes oder vielmehr: zu dessen Untertan (suppôt) werden. Offiziant des Gesetzes zu sein, ist nicht gerecht. Man muß dessen leidendes Opfer sein. Aus diesem Grunde wird er sich, wie man weiß, unter die Egge legen, nachdem er den Zeichner auf das Programm eingestellt hat, das dem Artikel entspricht,
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gegen den er verstößt, indem er dem Gesetz dient. Und dieser Artikel lautet: „Sei gerecht!" Wir müssen also einräumen, daß das Gesetz den Körper braucht, daß es seine eigene Verspätung dem Körper gegenüber und dessen Widerstand braucht, um sich einschreiben, das heißt vollzogen werden zu können, und daß es nicht ohne Grausamkeit gerecht sein kann. Ohne Blutvergießen ist das Gesetz nicht entzifferbar, ist es also überhaupt nicht, existiert es nicht. Und diese für sich selbst notwendige Grausamkeit ist auch die Ehre, die das Gesetz dem Körper erweist — seine Art, eine prae-inscriptio, die älter ist als seine Inschrift, anzuerkennen, schließlich seine Art, der aisthesis gegenüber gerecht zu sein, die nicht aus ihm geboren wurde. Eine Art eifersüchtige Gerechtigkeit, die deswegen gerecht ist, weil sie eifersüchtig ist. Im Lateinischen heißt jener Teil der Kriegsbeute, die dem siegreichen Gott oder Feldherrn zugeteilt wird, bevor die Sieger sich das Ganze teilen, praemium. Dieser Anteil wird also von der Verteilung ausgenommen. Die ästhetische Kindheit, von der ich rede, ist ein Teil, welcher der Teilung von gut und böse nicht angehört. Sie bleibt von der D-Anrede ausgenommen. Indem der Vollzug des Gesetzes diesen ausgesparten Teil einritzt, stempelt er ihn im Namen der Teilung und als deren Titel (praescriptum) ab. So wird der Körper, der durch seine praeinscriptio ausgenommen wird, im Prinzip wieder der Vorschrift des Gesetzes untergeordnet. Er wird abgestempelt, ausgelöscht und abgeschrieben. Als Praemium war er (zu) keinem D bestimmt. Der Sieger oder Gott oder Dämon, für den und durch den er aufgespart wurde, ist die aisthesis. Als unteilbar widersetzte er sich der Vorschrift der Gerechtigkeit, unbehandelbar und unbeugbar (intraitable). Mit dieser Schwierigkeit, mit diesem dem Körper zugefügten Unrecht, erhebt sich die Frage der Gemeinschaft und des Politischen. Wir sehen nicht, wie wir aus der Aporie herauskommen könnten. Der alte Kommandant und sein Offizier und Offiziant etablieren das, was ich die absolute Bedingung der Moral genannt habe, so daß die Neueinschreibung des Unbeugbaren (intraitable) im Namen der Gerechtigkeit und unter deren Titel (praescriptum) nur scheiternd gelingen kann. Dem Offizier ist die Aporie bekannt, und dennoch versteift er sich darauf. Das kommt daher, daß er zugibt, daß die Gerechtigkeit hinsichtlich der prae-inscriptio, die der singuläre Körper ist, dessen sie sich bemächtigt, ungerecht ist. Würde sie aber auf ihr notwendig folterndes Einschreiben verzichten, indem sie sich durch irgendeinen Habeas Corpus einschüchtern ließe, dann würde die Gerechtigkeit — so denkt er — ganz einfach nicht stattfinden. Hinsichtlich der Vorschrift, die das Gesetz ist, wäre sie dann ungerecht. Das Gesetz schreibt nicht nur vor, was gemacht werden soll, es schreibt auch vor, daß es gemacht werde. Die D-Sätze, die es im Namen der jurisscriptio schreibt, verlangen ein Agieren im Sinne einer scriptio in actu. Der Akt unterscheidet sich vom Code durch das Vorhandensein der Einschreibfläche.
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Das Gesetz wird auf Papier geschrieben, der Gerechtigkeitsakt hingegen auf das Reale. Die Maschine verwirklicht die Umschrift vom einen zum anderen. Und das Reale ist notwendigerweise das, was ihm unschuldig widersteht, da es nicht an seine Adresse gerichtet ist. Das Delirium von Kafkas Offizier ist der Ausdruck jener absolut aporetischen Bedingung der Moral. Die Ausführung der Gerechtigkeit, deren Bestimmung im Prinzip das Ausradieren einer Straftat ist, muß automatisch ein Unrecht, ein tödliches Unrecht bewirken. Dieses Unrecht tritt nicht bloß gelegentlich auf, sondern ist für das Wesen der Moral konstitutiv, insofern sie ein Agieren ist. Dieses Unrecht ist nicht dem Gesetz zuzuschreiben. Letzteres kann es weder behandeln noch wiedergutmachen, da es sich darauf stützt. Noch einmal: Es ist seine Bedingung im Sinne von Bedingung der Möglichkeit, aber auch im Sinne der menschlichen conditio, der condition humaine. Hier handelt es sich allerdings um eine unmenschliche conditio, um eine condition inhumaine. Diese Aporie findet des weiteren Ausdruck in einem Ordnungsbereich, dessen Relevanz und Bedeutung ich hervorzuheben versucht habe — nämlich in der Ordnung der Zeit. Ich habe gesagt, daß die Zeit der Agonie erforderlich sei als eine Kompensation der Zeit der Unschuld, das heißt des In-Genuß-Kommens des praemium, „vor" und außerhalb des Teilungsgesetzes. Da es aber darum geht, das Gesetz durch den Körper agieren zu lassen, muß dieser Akt, der widersprüchlich ist (weil die Gerechtigkeit ein Unrecht zur Folge hat), in der Ordnung der Zeit, die zusammen mit dem Raum der Ordnungsbereich des Aktes ist, seinen Ausdruck finden. Dies geschieht auf eine zeitlich aporetische Art, in einer unmöglichen Verdrehung der Zeiten. Ich verweise hier ohne weitere Erläuterung auf die dritte Kantische Antinomie der ersten Kritik, wobei ich offen gestehe, daß sie nicht ganz auf der gleichen widersprüchlichen Grundlage beruht wie die von Kafka. Der Augenblick, wo die Gerechtigkeit als Aktualisierung des Gesetzes sich in den Körper einschreibt, dem sie Unrecht zufügt, ja ihn sogar einer Tortur aussetzt, kann nicht situiert werden. Er besteht einerseits aus der Begegnung von End- und Anfangszeit und andererseits aus jener Zeit, die weder einmal begonnen hat noch jemals enden wird. Die Gerechtigkeit, so wie die Maschine sie ausführt, setzt einer Ungerechtigkeit ein Ende, und zwar dem identifizierbaren Verbrechen, dessen der Verurteilte sich schuldig gemacht hat. Indem sie ihn diese Schuld bezahlen läßt, wird er vom Begangenen gereinigt und für eine von dieser Vergangenheit losgelöste Tat vorbereitet. Er wird im Grunde davon emanzipiert. Hannah Arendt hat auf diesen Aspekt des Beginns, des Neuen, der Geburt häufig hingewiesen, der, wie sie schreibt, das freie Handeln und insbesondere die Freiheit des Urteils enthält. Diese Zeit der Erneuerung begegnet aber in Kafkas Problematik einer Zeit ganz anderer Art, nämlich der prae-inscriptio der aisthesis als Körper in seiner Vorzeitigkeit gegenüber dem Gesetz. Was ich hier Geburt oder Kindheit ge-
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nannt habe, hat auf den ersten Blick nichts mit der Geburt zu tun, die dem freien Handeln nach Kant oder Arendt innewohnt. In der Perspektive der reflektierenden Vernunft ist im Gegenteil der prä-moralische, a-moralische Körper einer unaufhebbaren Heteronomie deswegen ausgesetzt, weil er seine Konstituierung der Tatsache verdankt, daß er berührt worden ist, bevor er noch etwas davon erfahren und eine Antwort auf die Berührung geben konnte, bevor er sie also verantworten konnte. Und wenn ich nun sage „berührt worden ist", werde ich nicht einmal dem zeitlichen Status dieser Empfänglichkeit gerecht, die man eher zeitlos nennen würde — zumindest wenn man Zeitlichkeit und Chronologie verwechselt. Sagen wir lieber, daß die Heteronomie des Körpers, die von der Egge der Gerechtigkeit ein zweites Mal berührt wird, von der Sukzessivität von Ursache und Wirkung nichts versteht, und ebensowenig von der unvorhergesehenen Zeitlichkeit, in der eine Kausalität ohne Ursache (d. h. eine Kausalität, die durch nichts erwirkt wurde) stattfindet, die der Freiheit eigen ist. Die Heteronomie des Körpers versteht weder etwas von der physischen noch von der ethischen Zeit, denn die aisthesis, die sie beherrscht, ist weder verbunden und verbindend (im Sinne des Intelligiblen) noch entbunden und verbindend (im Sinne der Verantwortung). Das ist die Paradoxie der Körperzeit. Die Paradoxie dieser Zeit besteht darin, daß sie keinerlei Verkettung zugeordnet ist, insofern der Körper durch seine Nichtzugehörigkeit zu sich selbst, durch seine primäre Enteignung konstituiert wird. Das ist es, so denke ich, was Freud meinte, als er schrieb: „Die Vorgänge des Systems UbW sind zeitlos." 2 Ich denke auch, daß er sich in dieser Angelegenheit schlecht ausdrückte. Diese Prozesse sind zeitlos im Sinne der Zeit als Kette und Verkettung. Die Zeit ist aber auch Stase. Ich sage also, daß der prä-intelligible und prä-moralische Körper bereits berührt worden ist, und sage es wieder, indem ich vom Präfix prä Gebrauch mache, was eben die lateinische Sprache mit dem Wort prae-mium auch meint, und zwar einen Vor-Kauf, eine vor jeder Teilung stattfindende Hypothek. In Wahrheit aber ist diese preordinatio zur aisthesis die ästhetische Unterordnung selbst, und diese ist gefeit gegen jede Veränderung durch die Dauer. Sie ist unvorschreibbar. Ich würde ihr nicht einmal Permanenz zuschreiben. Noch würde ich sie als primär bezeichnen, da sie sich in keine Sukzessivität einschreibt, in der das Sekundäre auf sie folgen würde. Akzeptieren wir ihre Paradoxie: Wenn sie stattfindet, gibt es noch keine Verkettungszeit. Zur sechsten Stunde streift und durchdringt die Gerechtigkeit den gemarterten Körper. Es ist die Begegnung der Zeit der Erlösung und des Neubeginns mit 2
Sigmund Freud, „Die metapsychologischen Schriften von 1915", in: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Bd. III, Frankfurt a.M. 1975, S. 6 9 - 2 1 2 , hier S. 145.
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der Zeit der Insistenz oder des Bleibens (sistance) des Unvertragbaren, des Unbehandelbaren. Der Offizier beschreibt (jetzt sind wir bei der Beschreibung), wie die großen Hinrichtungsfeste zur Zeit des alten Kommandanten waren. Die ganze Bevölkerung der Kolonie war wie im Amphitheater auf den Dünen um die Maschine versammelt, es herrschte Stille, das leidenschaftliche Interesse zwang den Offizier und seine Wache, diejenigen fernzuhalten, die aus der Nähe sehen wollten, wie die Gerechtigkeit den Körper des Verurteilten streifte. ,,[A]lle wußten: jetzt geschieht Gerechtigkeit", sagt der Offizier (S. 111). Auf den weisen Befehl des Kommandanten hin genossen jedoch die Kinder das Privileg, näher kommen zu dürfen. Der Offizier beschreibt dem Reisenden die Szene mit folgenden Worten: „oft hockte ich dort, zwei kleine Kinder rechts und links in meinen Armen. Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was für Zeiten, mein Kamerad!" (S. l l l f . ) Lassen wir die kleinen Kinder. Man errät die Relevanz, die doppelte Relevanz des ihnen eingeräumten Privilegs mühelos: Kindheit der Freiheit, Kindheit des Körpers. Der Offizier ist selbst dieses zweistirnige Kind. Das Entzücken, zu dem das alte Gesetz ihnen privilegierten Zugang erlaubt, ist ex-akt, das heißt im Akte selbst, der Augenblick, wo beide Kindheiten sich vermengen. Ein Strahl entspringt dieser Begegnung, und dieser Strahl ist die Gerechtigkeit selbst. Das Gesetz schreibt sich in einer Schrift, das der Körper entziffern kann: blutende Wunden. Die Gerechtigkeit ist „endlich erreicht", weil in diesem Augenblick das Retuschieren, die Berührung des Körpers durch die spitzen Schreibnadeln des Gesetzes die instante oder insistierende Be-rührung löscht, die seine prae-inscriptio ist und Widerstand leistete. Die Gerechtigkeit ist aber auch „schon vergehend", weil die Retusche dieser zweiten Be-rührung tödlich ist, insofern sie auslöschende Wirkung hat. Wie könnte eine aisthesis oder ihr Analogon — die Gravur des Gesetzes — durch das, was sie berührt, entzifferbar sein, wenn diese Berührung das konstituiert, was sie berührt? Der ästhetische Körper war keine Einschreibfläche für die Berührung; für die zweite Berührung aber wird er eine, und das allein genügt, um ihn abzuschreiben. Deshalb verwirklicht sich die Gerechtigkeit nur vorübergehend. Sie schreibt sich vor im dreifachen Sinne des Wortes: Sie ist imperativ, sie wurde im voraus durch ihre Umschweife in Körperschrift umgeschrieben, und sie schreibt sich zu spät ein, um ausführbar zu sein. Die Maschine wenigstens, als sie noch allgemein gebilligt wurde, das heißt in der alten Zeit, bot der Gemeinschaft Gelegenheit zur Parusie der Gerechtigkeit. Ich sagte vorhin, daß man sie in Zeit und Raum nicht orten könne. An diesem Ort, auf den kahlen Hügeln in der Wüste, die die Gemeinschaft in Erwartung ihres Gesetzes bevölkert, kann die Gerechtigkeit sich nicht verkörpern, kann sie
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nicht wohnen. Die Gerechtigkeit ist ein flüchtiger Glanz auf dem Gesicht des Gemarterten, der fast schon tot ist und endlich gerechtfertigt. Woraufhin die Politik, das heißt der neue Kommandant auf den Plan tritt. Die Politik verabscheut die Maschine und die Grausamkeit. Der neue Kommandant hält öffentlich Beratung ab. Die Politik tagt, die neue Gerechtigkeit gibt Anlaß und Gelegenheit zur disputatio, zu Klage und Verteidigung, zum Gericht, zur Achtung der Menschenrechte, selbst in der Verurteilung und Strafanwendung. Die neue Autorität verwandelt den neugierigen Forschungsreisenden in einen internationalen Experten, der die Gerichts- und Strafverfahren nach kolonialem Brauch überprüfen und sein Urteil darüber abgeben soll, ein Urteil, das nur äußerst ungünstig ausfallen kann. Der Reisende spricht die Sprache, in der die Menschenrechte abgefaßt wurden. Die vom Theater der Grausamkeit bedingungslos ausgeschlossenen Frauen werden zu den politischen Angelegenheiten zugelassen. Ihre zarten Taschentücher ersetzen den verschmutzten Filzstumpf, in den der Sterbende wie unzählige andere vor ihm, außer sich vor Schmerzen, immer wieder beißt. Mit diesen Taschentüchlein verwischen die Damen jeden Anflug von Grausamkeit, ersticken sie jeden Verdacht, im Bunde mit der Grausamkeit zu stehen. Als der alte Kommandant stirbt, verweigert man seinem Leichnam eine feierliche Bestattung. Sein Grab ist in einem (vermutlich von den Damen) hochtrabend „Teehaus" genannten Bistro unter einem Tisch versteckt; hier verkehren die Hafenarbeiter, „armes gedemütigtes Volk", wie Kafka schreibt. Die Grabinschrift prophezeit nachdrücklich die Wiederauferstehung des Verstorbenen: „Glaubet und wartet!" In der Inschrift heißt es auch, daß die treuen Anhänger des alten Gesetzes „jetzt keinen Namen tragen dürfen" (S. 122). Sehr viele Zeichen also — die ich nur streife, obwohl sie eine Analyse verdienten, viele Anzeichen also dafür, daß das neue Gebot, das Politische, sich schon durchgesetzt und das alte zum Verstummen gebracht hat — es dazu verurteilt hat, heimlich, anonym und in Erwartung zu agieren. Zeichen somit auch dafür, daß die Gemeinschaft derer, die sich um des grausamen Vorbeizuges der Gerechtigkeit willen um die Maschine versammelten, kleiner geworden ist. Das Band der Gemeinschaft wird von nun an anders geknüpft, nämlich durch Beratung und Toleranz. Dies alles sind also auch Zeichen dafür, daß die Egge sowie die Blätter mit den Verzierungen, die der neue Mensch nicht mehr zu entziffern vermag, schon ausgedient haben. Das alles ist dem Offizier bekannt, denn er beschreibt es. D o c h leistet er noch Widerstand, kraft seines Körperwiderstands. Er bittet den Reisenden, an den Sitzungen des neuen Rates teilzunehmen und dem neuen Kommandanten durch die Antworten auf seine Fragen keine Gelegenheit zu bieten, das alte Gerichtsverfahren offiziell zu verurteilen. Er bittet ihn sogar, seine „unerschütterliche Meinung" (S. 116) über die Gerechtigkeit dieses Verfahrens hinauszubrüllen oder auch nur ein paar Worte zu flüstern, das könnte schon genügen.
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Ich kann die zweifache Bitte, deren Verlauf der Offizier inszeniert, halluzinierend antizipiert, hier nicht detailliert analysieren. Es wäre jedoch von wesentlicher Bedeutung, der widersprüchlichen, wenn nicht sogar schizophrenen Logik nachzuspüren, welche die Uberzeugungsstrategie des Offiziers dem Reisenden gegenüber bestimmt. Es ist nur zu klar, daß er um das, was derjenige ist, an den er sich wendet, nicht wissen will, obwohl er es nur zu gut weiß. Mehr noch als in den melancholischen Beschreibungen offenbart sich im Delirium dieser Rede das Motiv einer Verwirrung, vor allem aber einer erschreckenden Leere. Es ist die Leere des Körpers, der erkennt, daß ihn das Gesetz für immer vergessen hat. Die Angst vor dieser Präskription, im Sinne der (der neuen — modernen — Zeit verdankten) Verjährung, erfaßt den Offizier, und er legt sich, nachdem er den Verurteilten vom Bett vertrieben hat, selbst auf dieses Rechts-Bett. Vorher hat er den Zeichner so eingestellt, daß die Egge die Vorschrift aller Vorschriften, das Gesetz selbst, mit allen dazu erforderlichen Verzierungen auf seinen Körper einschreiben kann: „Sei gerecht!" (S. 118) N u r so, durch eine vollkommene Tautologie, bewahrheitet sich tatsächlich das Gesetz, indem es nämlich in actu ausgeführt wird. Damit die Vorschrift des Gerecht-Seins wirksam wird, muß sie, wie alle Gesetzesartikel, in den Körper eingraviert werden. „Sei gerecht" ist jedoch eine Vorschrift von allgemeiner Gültigkeit. Sie eignet sich nicht dazu, ein einzelnes Vergehen zu bestrafen. Wohl aber eignen ihr insofern alle Vergehen, als sie auf deren Wesen, auf die „zweifellose Schuld", „vor" dem Gesetz, außerhalb des Gesetzes „geboren zu sein" anwendbar ist. Der unfehlbare Offizier hat einzig diese zweifellose Schuld auf sich geladen. Indem er sich dem Automatismus der Sanktion unterwirft, wird er ein letztes Mal die Gerechtigkeit der Vorschrift an seinem eigenen exemplarischen Fall verifizieren, und zwar weil er exemplarisch ist. Dergestalt ist die Tautologie: Indem der Offizier auf seinen Körper, auf diese reine Unschuld, die Rechtsvorschrift des Gerecht-Seins einschreibt, wird er sicherstellen, daß die Vorschrift gerecht ist. Gebot und Sanktion werden nämlich gerade auf die Unschuld angewendet. D e r Offizier beendet also sein Offizium und unterwirft sich der grausamen Ästhetik des ethischen Gesetzes. Die Maschine begreift dies offensichtlich und führt das hierzu Notwendige sponte sua aus. Dann geht sie bekanntlich in Trümmer, die Zahnräder werden aus dem Zeichner geschleudert. D e m Offizier bleibt die Agonie, die sein schuldiger Körper dem Gesetz schuldet, versagt. Auch der flüchtige Augenblick, da die reine Heiligkeit um seine Augen strahlen soll, bleibt ihm versagt. D e r eiserne Stachel dringt durch den Schädel, versetzt ihm den Todesstoß, und die defekte Egge hält einen aufgespießten Körper über der Grube in der Schwebe. Es wäre demnach wahr, daß das Gesetz den Körper vergessen hat, daß die Gerechtigkeit sich nicht bewahrheitet hat, es wäre also wahr, daß das neue Gesetz
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schon gesiegt hat, das des grausamen Apparates in keiner Weise bedarf, um zu agieren. Mit Adornos Worten: In Wahrheit ist der Tod selbst schon tot. Aber das wäre zu schnell gefolgert. Ich möchte abschließend vielmehr der Frage nachgehen, die den Körper des Offiziers in der Schwebe läßt. Kann die Politik, in der Form, wie sie die Griechen und Römer einst praktiziert und sie die Amerikaner und Franzosen vor 200 Jahren wieder aufgenommen haben, sich tatsächlich nur um den Preis des Vergessens einrichten — des Vergessens der absoluten Bedingung der Moral, der Grausamkeit nämlich ? Wenn das Gesetz das ihm absolut Fremde außer acht läßt, wenn es das, was ich hier den Körper der aisthesis, an anderer Stelle das Unnachgiebige (intraitable) genannt habe, vergißt, entzieht es sich dann tatsächlich seiner Bestimmung als Transzendenz und hebt somit die Grundlage seiner Wirksamkeit auf? Oder war dies ein Wahn, war dies der anti-moderne, reaktionäre, der (sprechen wir doch aus, was uns gesagt wurde) faschistoide Wahn? Liegt nicht die Wahrheit des Gesetzes vielmehr darin — wie der moderne Kommandant es denkt — , sich als Titel und in der Eigenschaft als Vor-Satz (praescriptum), als Axiom des Teilens einzuschreiben, worüber sprachbegabte Wesen — den Pflichten Untertan, den Rechten Treuhänder — nach langer Beratung übereingekommen sind ? Besteht die Gerechtigkeit nicht zur Gänze in dem Meta-Prinzip, demzufolge sich das Teilen auf alles erstrecken und für jeden und alle so vorteilhaft wie möglich sein soll? Worüber demzufolge auch ein jeder und alle einzig zu richten haben. Müssen das Gute und das Böse nicht als das verstanden werden, was den Interessen und Erwartungen eines jeden und aller entspricht bzw. nicht entspricht ? Sind das Gute und das Böse nicht das einzige, was bei der Frage der Gerechtigkeit auf dem Spiel steht? Oder muß man schlußendlich zwischen der Gerechtigkeit des alten und des neuen Kommandanten unterscheiden und beide getrennt beibehalten? Die eine für die Moral und ihre Ästhetik der Grausamkeit, die andere für die Politik und ihre Ästhetik der Repräsentation geeignet ? Aber in welchem Verhältnis würden diese beiden Gerechtigkeiten dann zueinander stehen ? Wird es das Verhältnis des Straffälligen zum Staatsbürger sein, ist dies nicht schon der Fall? Ist dieses Verhältnis selbst überhaupt gerecht?
Aus dem Französischen von Jean-Pierre Dubost
Adorno, die Moderne und das Erhabene Albrecht Wellmer
I „Wahrheit hat Kunst als Schein des Scheinlosen", resümiert Adorno in einer zentralen Passage der Ästhetischen Theorie.1 An anderer Stelle sagt er: „Im Aufgang eines Nicht-Seienden, als ob es wäre, hat die Frage nach der Wahrheit der Kunst ihren Anstoß." 2 Und: „Weil aber der Kunst ihre Utopie, das noch nicht Seiende, schwarz verhängt ist, bleibt sie durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes verdrängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der ungewiß ist, ob sie wird [...]. Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, verhießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird." 3 Diese Sätze enthalten den Kern von Adornos versöhnungsphilosophischer Interpretation des Kunstschönen. Das Kunstwerk hat seinen Wahrheitsgehalt darin, daß es zur „Spiegelschrift" eines schwarz verhüllten Absoluten, zur Spiegelschrift der Versöhnung wird. 4 Hierin ist es zugleich Schein des Scheinlosen, eines Nichtseienden, Schein einer Epiphanie des Absoluten. 5 Dieser Schein einer Epiphanie des Absoluten gehört zur Struktur der „genuinen ästhetischen Erfahrung den authentischen Kunstwerken gegenüber"; 6 der Wahrheitsgehalt der Kunst ist von ihrem Scheincharakter unabtrennbar. Der konstitutive Zusammenhang zwischen Wahrheit und Schein der Kunstwerke bestimmt zwei apore1
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Theodor W. Adorno, „Ästhetische Theorie", in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, S. 199 (im folgenden zitiert als AT). Ä% S. 128. Ebd., S. 204f. Vgl. Theodor W. Adorno, „Minima Moralia", in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1980, S. 281. Vgl. ÄT, S. 159. Ebd.
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tische Konstellationen, die nach Adorno für die Kunst der Moderne charakteristisch sind: Die erste dieser aporetischen Konstellationen betrifft das Verhältnis von Kunst und Philosophie, die zweite ist innerästhetischer Art: Sie betrifft die Möglichkeit einer authentischen Kunst in einem Zustand vollendeter Negativität. Die aporetische Konstellation von Kunst und Philosophie meint Adorno, wenn er sagt: „Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables."7 Das, was die im emphatischen Jetzt sich verlierende ästhetische Erfahrung „hat", ist die Anschauung der Welt im Lichte der Erlösung; aber befangen im ästhetischen Schein, versteht die ästhetische Erfahrung nicht den verweisenden Bezug des Kunstwerks auf ein Nicht-Präsentes, noch nicht Seiendes, will heißen, sie versteht den Schein nicht, dem sie erliegt. Deshalb muß ihr die philosophische Reflexion zu Hilfe kommen; nur diese kann der ästhetischen Erfahrung sagen, was sie erfährt, kann im ästhetischen Schein die Spiegelschrift des Absoluten entziffern und hierdurch den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks, als das der ästhetischen Erfahrung qua Erfahrung Inkommensurable, zur Sprache bringen. Indes kann die Philosophie der ästhetischen Erfahrung auch wieder nicht wirklich sagen, was sie ihr zu sagen versucht; ans Medium des identifizierenden Begriffs gebunden, kann sie das Absolute — ein Nicht-Seiendes, das doch nicht Nichts sein soll — nur umkreisen, auf es hindeuten, als den nicht sichtbaren und nicht denkbaren Fluchtpunkt alles Denk- und Sagbaren indirekt, ex negativo, sichtbar zu machen versuchen. Anders als bei Kant ist für Adorno nicht nur die Darstellbarkeit, sondern auch die Denkbarkeit des Absoluten problematisch geworden. Deshalb bedarf die Philosophie der Kunst ebensosehr, wie die Kunst der Philosophie bedarf. Beide verhalten sich zueinander wie Anschauung und Begriff in der Kantischen Philosophie, nur daß das Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff hier die Sphäre der Ideen, das Absolute betrifft, das sich der Anschauung ebenso entzieht wie dem Begriff. Nur im aporetischen Verweisungszusammenhang von ästhetischer Erfahrung und philosophischem Begriff wird die schwache Spur eines scheinlos Absoluten sichtbar. Die zweite der aporetischen Konstellationen, von denen ich sprach, ist eine der künstlerischen Produktion selbst. Der konstitutive Zusammenhang zwischen Wahrheit und Schein des Kunstwerks wird in der Moderne zunehmend zu einem innerästhetischen Problem, an dem die Kunst um ihrer Authentizität willen sich abzuarbeiten genötigt wird und das gleichsam das Gesetz ihres Fortschreitens in sich enthält. Was die philosophische Reflexion der ästhetischen Erfahrung als Blindheit ankreidet, beunruhigt die künstlerische Produktion als ästhetisches Problem von innen her; um der Wahrheit willen wird sie zur Revol-
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Ebd., S. 191.
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te gegen den ästhetischen Schein getrieben, dem sie doch nicht entrinnen kann. Wahrheit und Schein bezeichnen die zwei Pole dessen, was Adorno ästhetische „Stimmigkeit" nennt; aber Wahrheit und Schein widerstreiten einander zugleich. Die große Kunst will wahr sein, so Adornos These; ästhetisches „Stimm e n " ist nur unter der Bedingung solcher Wahrheit möglich — deshalb muß die Kunst sich gegen den ästhetischen Schein kehren, gegen alles, was an ihr illusionär ist. Gleichwohl versucht sie vergeblich, ihren Scheincharakter loszuwerden, da das, was sie als Kunst ausmacht, ästhetische Stimmigkeit, untrennbar ist vom ästhetischen Schein. Dies ist die Antinomie der modernen Kunst, die zugleich insgeheim ihr Bewegungsgesetz bestimmt.
II Indem der Bezug auf ein Absolutes, das „schwarz verhüllt" ist, zum Bewegungsgesetz der modernen Kunst wird, wird diese — für Adorno — zu einer Kunst des Erhabenen. Hierauf ist verschiedentlich hingewiesen worden, zuletzt ausführlich von Wolfgang Welsch. 8 „Das Erhabene", sagt Adorno, „das Kant der Natur vorbehielt, wurde nach ihm zum geschichtlichen Konstituens von Kunst selber. Das Erhabene zieht die Demarkationslinie zu dem, was später Kunstgewerbe h i e ß . " 9 Im Gegensatz zu Welsch glaube ich aber, daß die Kategorie des Erhabenen bei Adorno eine zentrale Stelle innerhalb seiner versöhnungsphilosophischen Konstruktion der Kunst besetzt hält; diese ist als versöhnungsphilosophische Konstruktion der Kunst zugleich eine Ästhetik des Erhabenen. Dies bedeutet zugleich, daß das Schöne und das Erhabene bei Adorno einander nicht in der gleichen Weise entgegengesetzt sind wie bei Kant; eher sind die beiden Kategorien einander entgegengesetzt wie die zwei Pole ästhetischer Stimmigkeit, wie Wahrheit und Schein. Statt dessen könnte man auch sagen, daß das Erhabene bei Adorno eine Möglichkeitsbedingung dessen bezeichnet, was in der modernen Kunst noch Schönheit genannt werden mag; es wird zum Konstituens des Kunstschönen. Dieser in der Tat zentrale Gedanke Adornos hat etwas Einleuchtendes; man wird ihn aber nicht durch eine einfache Operation aus dem versöhnungsphilosophischen Kontext herauslösen können, in dem Adorno ihn entwickelt hat. Will man ihn jenseits dieses Kontexts fruchtbar machen — und ich stimme mit Lyotard und Welsch darin überein, daß er nur so sich fruchtbar machen ließe — , so muß man das Koordinatensystem von Adornos Ästhetik im
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Wolfgang Welsch, „Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen", in: Das Erhabene, hrsg. von Christine Pries, Weinheim 1989. Ä% S. 293.
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Ganzen in Bewegung versetzen. Ich habe früher einmal von der Notwendigkeit einer „stereoskopischen" Lektüre Adornos gesprochen. 1 0 Die folgenden Überlegungen sind der Versuch einer solchen stereoskopischen Lektüre Adornos am Beispiel seiner Kategorie des Erhabenen. Zentral für Adornos Interpretation des Erhabenen ist, daß dieses zum Konstituens der modernen Kunst nur werden konnte, indem sich zugleich „die Zusammensetzung der Kategorie erhaben" veränderte. 11 „Durch ihre Transplantation in die Kunst wird die Kantische Bestimmung des Erhabenen über sich hinausgetrieben." 12 Zur Erläuterung knüpft Adorno an den berühmten Ausspruch Napoleons an, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei nur ein Schritt: „An Ort und Stelle", so Adorno, „meinte der Satz grandiosen Stil, pathetischen Vortrag, der, durchs Mißverhältnis zwischen seinem Anspruch und seiner möglichen Erfüllung, meist durch ein sich einschleichendes Pedestres, Komik bewirke. Aber das an Entgleisungen Visierte trägt im Begriff des Erhabenen selbst sich zu. Erhaben sollte die Größe des Menschen als eines Geistigen und Naturbezwingenden sein. Enthüllt sich jedoch die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewußtsein des Menschen von seiner Naturhaftigkeit, so verändert sich die Zusammensetzung der Kategorie erhaben. Sie war selbst in ihrer Kantischen Version von der Nichtigkeit des Menschen tingiert; an ihr, der Hinfälligkeit des empirischen Einzelwesens, sollte die Ewigkeit seiner allgemeinen Bestimmung, des Geistes aufgehen. Wird jedoch Geist selbst auf sein naturhaftes Maß gebracht, so ist in ihm die Vernichtung des Individuums nicht länger positiv aufgehoben. Durch den Triumph des Intelligiblen im Einzelnen, der geistig dem Tod standhält, plustert er sich auf, als wäre er, Träger des Geistes, trotz allem absolut. Das überantwortet ihn der Komik. Dem Tragischen selbst schreibt avancierte Kunst die Komödie, Erhabenes und Spiel konvergieren." 13 Das Motiv der Natur im Geist bezeichnet die zentrale Pointe von Adornos Kritik an Kants Unterscheidung zwischen der empirischen und der intelligiblen Welt. Adorno hat diese Kritik insbesondere in den „Meditationen zur Metaphysik" der Negativen Dialektik entwickelt. Kants Begriff des Intelligiblen, so zeigt Adorno dort, ist unvereinbar mit dem Begriff eines Geistes, der an individuierte Einzelwesen, und daher an Leib und Sprache gebunden ist. Insofern wäre der Begriff des Intelligiblen, wäre der Begriff eines intelligiblen Ich eine bloße „Luftspiegelung" des Denkens; nicht nur ohne empirische Realität, sondern brüchig schon als bloß Gedachtes. Hierin liegt nach Adorno das Wahrheitsmoment der
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Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Moderne", in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 44. ÄT, S. 295. Ebd. Ebd., S. 295.
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empiristischen und naturalistischen Aufklärung. Was Adorno am Begriff des Intelligiblen gleichwohl zu retten versucht, ist die Utopie eines versöhnten Geistes, das Absolute aber, der in sich die Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit, eines Reichs der Zwecke beschließen müßte, ist, wie schon betont, für Adorno ein aporetischer Begriff „einzig negativ zu denken". Das „Eingedenken der Natur im Subjekt", das schon die Dialektik der Aufklärung als Figur der Versöhnung von Geist und Natur postulierte, wird beim späten Adorno, in seinem Versuch einer kritischen Rettung von Kants kritischer Metaphysik, doppeldeutig: Es steht für die überschwengliche Hoffnung auf die Resurrektion einer im Medium des Geistes mit sich versöhnten Natur ebenso wie für die Natur verfallenheit des Geistes. In der zuletzt zitierten Passage aus der Ästhetischen Theorie geht es um letzteres, um die Naturverfallenheit, die Hinfälligkeit des Geistes. Was bei Kant als intelligible Sphäre der Naturverfallenheit der empirischen Einzelwesen entzogen bleibt, enthüllt sich als selber naturverfallen. Nicht die intelligible Welt ist das Umgreifende eines an Sprache und Leib gebundenen endlichen Geistes, sondern eine sinnfremde Natur; gleichsam ein Abgrund, der sich inmitten der Welt sprachlich erschlossenen Sinns öffnet, ein Abgrund des Sinns. Adorno rehabilitiert die Kategorie des Erhabenen aus dem Geiste Becketts. Die Erfahrung der Hinfälligkeit des empirischen Subjekts, der Uberforderung seiner Vermögen, wird jetzt zur Erfahrung der Hinfälligkeit des intelligiblen Subjekts selbst. Auf den Prozeß, der diesem in Becketts „Endspiel mit der Subjektivität" 14 gemacht wird, spielt Adorno an, wenn er auf die Konvergenz von Tragödie und Komödie, von Erhabenem und Spiel in der avancierten Kunst verweist. Wie kann aber aus der Destruktion der Kantischen Polarität von endlichem und intelligiblem Ich, an der ja nach Kant allein das Gefühl des Erhabenen sich entzünden kann, ein neues Erhabenes, das Erhabene der modernen Kunst resultieren ? Adorno gibt auf diese Frage zwei Antworten: eine Antwort aus dem Horizont eines versöhnungsphilosophischen Begriffs der Moderne, eine andere aus dem Horizont eines postmetaphysischen Begriffs der Moderne. Beide Antworten berühren sich in der Idee des „Standhaltens", in der das Pathos von Kants Begriff des Erhabenen nachhallt. Für Adorno bezeichnen im übrigen die beiden Antworten nur zwei verschiedene Aspekte einer einzigen Antwort; es bedarf einer stereoskopischen Lektüre, um in dieser einen Antwort zwei verschiedene Antworten sichtbar zu machen. Der ersten, versöhnungsphilosophischen Antwort Adornos zufolge wäre der Ort des modernen Erhabenen die ins Unermeßliche gewachsene Spannung zwischen der Realität und einer schwarz verhüllten Utopie, zwischen einem Zu-
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Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität, Stuttgart 1981.
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stand vollendeter Negativität und dem Zustand der Erlösung. Hier, so könnte man sagen, ist es das Kunstwerk, das, indem es die Negativität der Wirklichkeit ungemildert in sich hineinläßt, der Ubermacht einer sinnlosen Realität im Namen eines noch nicht seienden Absoluten, des versöhnten Geistes, standhält. In einer Formulierung Adornos: „Um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich verkaufen wollen, jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz." 15 Daß es hier wirklich um das Erhabene der modernen Kunst geht, erhellt aus einer anderen Formulierung Adornos: „Erbe des Erhabenen ist die ungemilderte Negativität, nackt und scheinlos wie einmal der Schein des Erhabenen es verhieß." 16 Die zweite Antwort Adornos auf die oben gestellte Frage lokalisiert demgegenüber das Erhabene der modernen Kunst im Spannungsfeld zwischen der „Explosion metaphysischen Sinns" 17 in der Moderne und der Emanzipation des Subjekts. Die beiden Pole dieses Spannungsfeldes bezeichnen zwei Seiten dessen, was Adorno auch als „Fortschritt des Bewußtseins" in der Moderne thematisiert. Hier geht es nicht um die Dialektik von Subjektivierung und Verdinglichung, um die Dialektik der Aufklärung also, und daher auch nicht um die Polarität von vollendeter Negativität und versöhntem Geist; es geht vielmehr um den Preis, den die von Tradition und Konvention sich emanzipierenden Subjekte für ihre Emanzipation zu zahlen haben: Es geht um den internen Zusammenhang zwischen dem Verlust objektiv verbürgten Sinns und der Emanzipation der Subjekte. Es ist diese zweite Antwort Adornos, an die ich anknüpfen möchte. Hierbei übergehe ich, daß Adorno selbst, und zwar über die These vom dialektischen Zusammenhang zwischen Subjektivierung und Verdinglichung, die „Explosion metaphysischen Sinns" mit der geschichtlichen Herbeiführung eines Zustande vollendeter Negativität begrifflich kurzgeschlossen hat. Ich habe diesen begrifflichen Kurzschluß, durch welchen Adornos Philosophieren gewissermaßen unter einen versöhnungsphilosophischen Systemzwang gerät, an anderer Stelle kritisiert. 18 Adorno hat keinen angemessenen Begriff sprachlicher Intersubjektivität entwickelt, der es ihm erlaubt hätte, die Entzauberung der Welt — die „Explosion metaphysischen Sinns" — mit der Möglichkeit eines Gewinns an kommunikativer Rationalität zu verknüpfen. Sobald man aber die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung zuläßt — die Argumente dafür finden sich vor allem bei Habermas — , erweisen sich die beiden Antworten Adornos als durch15
À% S. 65.
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Ebd., S. 296. Vgl. Theodor W. Adorno, „Noten zur Literatur", in: Gesammelte Frankfurt a.M. 1974, S. 282. Vgl. Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung", a.a.O.
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Schriften,
Bd. 11,
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aus verschieden. Die zweite Antwort, richtig verstanden, impliziert nicht die erste, versöhnungsphilosophische; vielmehr enthält sie Elemente eines postmetaphysischen Begriffs des Erhabenen, durch welchen Adornos Ästhetische Theorie sich einer kommunikationstheoretischen Deutung öffnet. Eine solche Deutung wird freilich auch der ersten Antwort Adornos, der versöhnungsphilosophischen, einen neuen Sinn geben können: Der Zustand vollendeter Negativität, der einem schwarz verhüllten Absoluten korrespondiert, ist der Zustand der Welt nach der Explosion des metaphysischen Sinns, einer Welt, die von Versöhnung abgeschnitten ist; aber dies Abgeschnittensein von Versöhnung, richtig ins Auge gefaßt, ist nicht die Katastrophe des Geistes, als die Adorno es verstand. Es bezeichnet vielmehr den Aggregatzustand eines als endlich sich erfassenden Geistes, der, in seine Endlichkeit sich vertiefend, zugleich seine Potentiale als die einer kommunikativen Vernunft neu entdecken und entfalten könnte. Retrospektiv ließe Adornos Kritik des identifizierenden Denkens sich lesen als das Exerzitium einer solchen Neuentdeckung und Neuentfaltung des endlichen Geistes als kommunikativer Vernunft.
ΠΙ Adorno sprach von einer „Transplantation" des Erhabenen in die Kunst; einer Bewegung zur Moderne hin, die er am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzen läßt. 19 Das Eindringen des Erhabenen in die Kunst bringt diese in „ansteigenden Konflikt mit dem Geschmack", also mit dem Desiderat des „Schönen" im Sinne des Kantischen Geschmackurteils. Drei Bestimmungen des Kunsterhabenen, in denen es den Desideraten des Geschmacks zuwiderläuft, tauchen bei Adorno immer wieder auf: eine energetische, eine strukturelle und eine entwicklungslogische; alle drei Bestimmungen berühren sich in der Tat mit Merkmalen des Erhabenen im Sinne Kants. Unter energetischen Gesichtspunkten erscheint das Kunsterhabene als schockierend, ergreifend, erschütternd, überwältigend. Versteht man den Augenblick der ästhetischen Erfahrung als den einer verdichteten Präsenz, durch welche das Zeitkontinuum der gewöhnlichen Erfahrung suspendiert wird, so tritt hier ein Stück Gewaltsamkeit hinzu, das in den Binnenraum der ästhetischen Distanz einbricht und das Subjekt, je nachdem, aus sich herausschleudert, in einen Schwindel oder in Unruhe oder in Erschütterung versetzt. Freilich geschieht dies unter Bedingungen ästhetischer Distanz: Ästhetisch ist die Erschütterung,
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Vgl. ÄT, S. 292.
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das Aus-sich-Heraustreten des Ich nur, wo dieses zugleich in gespanntester Konzentration bei sich bleibt. „Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung, sondern der äußersten Anspannung; das bewahrt Erschütterung, übrigens ein unwillkürliches Verhalten, vor der Regression. Kant hat in seiner Ästhetik des Erhabenen die Kraft des Subjekts als dessen Bedingung getreu dargestellt." 20 Strukturell betrachtet ist das Kunsterhabene die Negation ungebrochener ästhetischer Synthesis, das heißt der bruchlosen Durchdringung von Sinnlichem und Geistigem im Sinne des idealistischen Schönheitsbegriffs. Negation der schönen Form also, des Maßes, der Balance, der widerspruchslosen Einheit, der Harmonie, letztlich: des schönen Scheins. „Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne", sagt Adorno. 21 In ihnen kommt im Kunstwerk eine Wirklichkeit zur Erscheinung, die sich Desideraten eines sinnvollen Zusammenhangs nicht mehr fügt. Das Kontingente, das Sinnfremde, das Absurde, das aus dem Universum sprachlichen Sinns Ausgeschlossene, weil Disparate, Nicht-Integrierbare, gleichsam der sinnferne Untergrund sprachlich erschlossenen Sinns — all dieses läßt die moderne Kunst in „ungemilderter Negativität", wie Adorno sagt, in sich hinein und macht hierdurch „Bruchstellen" sichtbar, „den Riß durch die Seele und durchs Ganze der Welt", wie Monika Steinhauser es am Beispiel von Bildern Caspar David Friedrichs formuliert hat. 22 Die Kunst öffnet sich einer Erfahrung der Welt, die sich nicht mehr auf einen letzten, übergreifenden Sinn hin auslegt, sondern den Einbruch des Sinnfremden in die Welt sprachlich erschlossenen Sinns, den Abgrund des Sinnfernen inmitten der Welt des Sinns aushält. Nicht durch Versöhnung der Widersprüche, sondern dadurch, daß sie diese zur Sprache bringt, 23 durch die „Kommunikation des Unkommunizierbaren", lichtet die Kunst das Dunkel der Welt, wird sie als erhabene zur schönen, zur Quelle ästhetischer Lust. „Daß die finstersten Momente der Kunst etwas wie Lust bereiten sollen, ist nichts anderes, als daß Kunst und ein richtiges Bewußtsein von ihr Glück einzig noch in der Fähigkeit des Standhaltens finden. Dies Glück strahlt von innen her in die sinnliche Erscheinung. Wie in stimmigen Kunstwerken Geist noch dem sprödesten Phänomen sich mitteilt, es gleichsam sinnlich errettet, so lockt seit Baudelaire das Finstere als Antithese zum Betrug der sinnlichen Fassade von Kultur auch sinnlich. Mehr Lust ist bei der Dissonanz als bei der Konsonanz; das läßt dem Hedonismus Maß für Maß widerfahren." 24 20 21 22
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Ebd., S. 364. Ebd., S. 41. Monika Steinhauser, „Im Bild des Erhabenen", in: Merkur 487/88, Sept./Okt. 1989, S. 824. Ä% S. 294. Ebd., S. 66f.
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Unter entwicklungslogischen Gesichtspunkten schließlich bezeichnet das Eindringen des Erhabenen in die Kunst eine Tendenz zu fortschreitender Vergeistigung der modernen Kunst. Diese Tendenz zur Vergeistigung korrespondiert einem Eindringen sinnferner Materialschichten in die Kunst, gleichsam einer Tendenz zur £wigeistigung. Die Öffnung der Kunst gegenüber dem Geistfremden, gegenüber der sinnfernen Rückseite der Welt sprachlich erschlossenen Sinns, bedeutet zugleich ein Anwachsen ihrer konstruktiven und reflexiven Züge. In ihnen bekundet sich die Kraft eines emanzipierten Subjekts, das sich ungeschützt durch ästhetische Konventionen der Erfahrung des Nicht-Identischen überläßt, um sie ästhetisch zu objektivieren. Vergeistigung bedeutet daher zugleich ein Anwachsen der Spannung zwischen geistigen und geistfernen, zwischen konstruktiven und mimetischen, zwischen reflexiven und „elementarischen" Zügen in der modernen Kunst. Für Adorno ist die moderne Kunst, sowohl in ihren einzelnen Produktionen als auch im Spannungsfeld ihrer Produktionen insgesamt, der Prozeß, der sich zwischen diesen beiden Polen, dem Geistigen und dem Geistfernen, abspielt. „Das Rimbaudsche Postulat des radikal Modernen ist eines von Kunst, die in der Spannung von spleen et idéal, von Vergeistigung und Obsession durchs Geistferne sich bewegt. Der Primat des Geistes in der Kunst und das Eindringen des zuvor Tabuierten sind zwei Seiten des gleichen Sachverhalts [...] Vergeistigung vollzieht sich nicht durch Ideen, welche die Kunst bekundet, sondern durch die Kraft, mit der sie intentionslose und ideenfeindliche Schichten durchdringt. Nicht zuletzt darum lockt das Verfemte und Verbotene das künstlerische Ingenium. Die neue Kunst von Vergeistigung verhindert, wie die banausische Kultur es will, mit dem Wahren, Schönen und Guten weiter sich zu beflecken." 25
Adorno entwirft hier eine Perspektive, aus der die moderne Kunst als die ästhetische Realisierung dessen erscheint, was Kant im Begriff des Erhabenen meinte: „Kants Theorie des Erhabenen antizipiert am Naturschönen jene Vergeistigung, die Kunst erst leistet. Was an der Natur erhaben sei, ist bei ihm nichts anderes als eben die Autonomie des Geistes angesichts der Ubermacht des sinnlichen Daseins, und sie setzt erst im vergeistigten Kunstwerk sich durch." 2 6 Wenn Adorno hier von der Autonomie des Geistes spricht, dann müssen wir freilich seine Kritik an Kants Begriff des Intelligiblen, und daher auch an Kants Begriff des Erhabenen, mit hinzudenken. Ich werde später auf die Frage zurückkommen, was diese Einschränkung bedeutet. Vorerst sei nur bemerkt, daß Adorno hier durchaus vom Geist als endlichem, von dem seiner Naturhaftigkeit bewußten Geiste spricht. In den offiziellen Lesarten Adornos wird für gewöhn-
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Ebd., S. 144. Ebd., S. 143.
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lieh verdeckt, daß Adorno in seiner Theorie der ästhetischen Moderne — im Gegensatz zu zentralen Thesen der Dialektik der Aufklärung — einen internen Zusammenhang konstruiert zwischen der Emanzipation des modernen Subjekts, dem Zerfall verbindlicher ästhetischer Konventionen und Traditionen, und einem sich schärfenden Bewußtsein des Geistes von seiner Naturhaftigkeit. Der Fortschritt des Bewußtseins, in dem der Sturz der Metaphysik sich ankündigt, bedeutet einen Fortschritt des Geistes zum Bewußtsein der eigenen Naturhaftigkeit. Die moderne Kunst ist das Eingedenken der Natur im Subjekt, gebunden an die Kraft eines Subjekts, das der Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit standzuhalten vermag. „Die Entfesselung des Elementarischen war eins mit der Emanzipation des Subjekts und damit dem Selbstbewußtsein des Geistes. Es vergeistigt als Natur die Kunst. Ihr Geist ist Selbstbesinnung auf sein eigenes Naturhaftes. Je mehr Kunst ein Nichtidentisches, unmittelbar dem Geist Entgegengesetztes in sich hineinnimmt, desto mehr muß sie sich vergeistigen. Umgekehrt hat Vergeistigung ihrerseits der Kunst zugeführt, was, sinnlich nicht wohlgefällig und abstoßend, dieser zuvor tabu war; das sensuell nicht Angenehme hat Affinität zum Geist." 2 7
Ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen dem Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst und den emanzipatorischen Impulsen der Moderne wird an dieser Stelle sichtbar. Die „Entgrenzung" der Kunst, die Adorno unter dem Titel ihrer „Vergeistigung" analysiert, korrespondiert jener Entgrenzung der Diskurse, die Habermas in der kommunikativen Verflüssigung von Traditionen, in der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt konstatiert hat. Mehr noch: Beide Prozesse stehen unter einem Gesetz anwachsender Individuierung, durch welche allein jener Zerfall objektiv verbindlichen Sinns kompensiert werden kann, welcher die Bedingung der Emanzipation der Subjekte — in moralischer und kognitiver nicht weniger als in ästhetischer Hinsicht — ist. Unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von ästhetischem Sinn ist Vergeistigung der Kunst daher zugleich der Name für eine „ansteigende Individuierung" des je einzelnen Kunstwerks. Die experimentellen, konstruktiven und reflexiven Züge der modernen Kunst sind das Medium solcher Individuierung bei Adorno, ganz ähnlich wie die experimentellen, diskursiven und reflexiven Züge einer rationalisierten Lebenswelt das Medium einer sozialen Individuierung bei Habermas sind. Im Subtext der Ästhetischen Theorie, und zwar genau an jenen Stellen, an denen Adorno das Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst analysiert, zeichnet sich eine Alternative zur These vom dialektischen Zusammenhang zwischen Subjektivierung und Verdinglichung ab, also zur Grundthese der Dialektik der Aufklärung; wollte man die Umrisse dieser Alternative benennen, so könnte
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Ebd., S. 292.
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man sagen, daß an die Stelle eines dialektischen Zusammenhangs zwischen Subjektivierung und Verdinglichung ein interner Zusammenhang zwischen ästhetischer, kognitiver und moralisch-praktischer Aufklärung tritt. Moderne Kunst, moderne Wissenschaft und Philosophie und die mit einer universalistischen Moral verknüpfte moderne Demokratie rücken in ein Verhältnis wechselseitiger Korrespondenzen und Ergänzungen: Ästhetische, kognitive und moralisch-praktische Aufklärung werden faßbar als die verschiedenen Felder, in die sich der emanzipatorische Impuls der Moderne verzweigt hat, ohne daß in dieser Verzweigung und der mit ihr einhergehenden Differenzierung der Wert- und Rationalitätssphären schon ein Sieg der instrumentellen Vernunft gesehen werden dürfte. Rückt man aber die Vergeistigung der Kunst in einen solchen Zusammenhang, setzt man also die Emanzipation der Subjekte im Sinne Adornos in Relation zur Veränderung kommunikativer Beziehungen zwischen Subjekten in einer post-traditionalen Gesellschaft, so liegt es nahe, in der Assimilation geistferner Erfahrungs- und Realitätsschichten durch die moderne Kunst zugleich ein Potential der Öffnung von kommunikativen Beziehungen und des Selbstverständnisses ästhetischer Rezipienten in Richtung auf die sinnfernen, tabuierten, ausgegrenzten und disparaten Momente ihrer Erfahrung zu sehen. Die Emanzipation der Kunst stünde in Relation zu einer möglichen kommunikativen Verflüssigung der gesellschaftlichen Beziehungen und der Selbstverhältnisse von Individuen: nicht als deren Vorschein, sondern als deren Korrelat, ebenso Medium wie auch Manifestation jenes Fortschritts des Bewußtseins, den Adorno immer wieder mit dem Eindringen des Erhabenen in die moderne Kunst verknüpft. Die drei Merkmale des modernen Erhabenen, so wie ich sie bei Adorno unterschieden finde, bezeichnen insgesamt eine Bewegung der Selbsttranszendenz der Kunst unter Bedingungen ihrer Autonomie. In technischer Hinsicht bedeutet dies einen beständigen Zwang zur Innovation, durch welchen die Bewegung der Kunst mit derjenigen der kapitalistischen Warenproduktion kommuniziert. „Explosion ist eine ihrer Invarianten", sagt Adorno, „antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wirbel." 28 Im Zwang zur Innovation kommt aber zugleich die Nötigung zum Ausdruck, immer wieder die Grenze dessen zu überschreiten, was die Kunst jeweils geworden ist, das heißt aber: den existierenden Begriff der Kunst zu überschreiten, so wie er sich in ihren zum Kulturgut neutralisierten Produktionen abgelagert hat. Kunst war niemals bloß schöner Schein; aber unter Bedingungen ihrer Autonomie muß sie das Mehr, das sie immer schon war, in ihre eigene, das heißt ästhetische Regie nehmen. Sie muß an ihrem eigenen Begriff, sie muß an den Grenzen ihrer Autonomie rütteln, sofern sie jenem emphatischen Anspruch genügen will, den sie an sich
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Ebd., S. 41.
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selbst stellen muß, solange sie überhaupt ästhetischen Sinn erzeugen und nicht zur Reproduktion des Immergleichen herunterkommen will. In den Avantgardebewegungen der modernen Kunst ist diese Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst vielfach mißverstanden worden als Forderung nach einer Entkunstung der Kunst, nach Aufhebung der Kunst im Leben. Noch Adorno meinte — und genau an dieser Stelle wird seine Philosophie der Kunst zur Philosophie der Versöhnung —, „die geschichtliche Perspektive eines Untergangs der Kunst" sei „die Idee eines jeden einzelnen" Kunstwerks.29 Da Adorno aber wußte, daß ein von der Kunst selbst inszenierter „Untergang" der Kunst unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen keinesfalls jene letzte Aufhebung der Kunst = Versöhnung, sondern nur Anpassung ans Bestehende bedeuten könnte, insistierte er zugleich, rebus sie stantibus, auf der Autonomie der Kunst als Bedingung ihrer fortdauernden „Methexis an Versöhnung". Indessen scheint die Alternative als solche falsch zu sein: So wenig wir die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst aus der Perspektive einer letzten Versöhnung deuten können, so wenig können wir sie überhaupt als Imperativ einer Selbstaufhebung der Kunst im Leben deuten. Der entgrenzende Impuls der Kunst wäre vielmehr mit ihrer Autonomie zusammenzudenken; nicht als Impuls, der auf eine magische Verwandlung der Gesellschaft im Ganzen zielt, sondern als Impuls, durch den allein das der Kunst eigentümliche Potential zur immer erneuten magischen Verwandlung der Welt am Leben erhalten werden kann. Kann sich dieser entgrenzende Impuls nicht auf ein absolutes Jenseits: die Welt im Stande der Erlösung, richten, so müssen Transzendenz und Immanenz, Negation und Affirmation in ihm zusammengedacht werden: Entgrenzung und Verwandlung der Welt als Selbst-Uberschreitung und Selbst-Affirmation eines endlichen Geistes. Wenn man die Selbstüberschreitung der Kunst nicht auf eine letzte Selbstüberschreitung hin auslegt, so verliert auch Adornos These eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen authentischer Kunst und Massenkultur in der fortgeschrittenen Moderne ihre philosophische Grundlage. In Adornos Gleichungen „authentische Kunst = Negation = Wahrheit" und „Massenkultur = Affirmation = Lüge" steckt ein Stück philosophischer Präformation der ästhetischen Kritik, die einer vorbehaltlosen ästhetischen Erfahrung nicht standhält. Eine Kunst, deren entgrenzender Impuls nicht das ganz Andere, Versöhnung, meint, sondern sich kritisch und affirmativ zugleich auf die geschichtliche Welt zurückwendet, aus der er stammt, wird auch keine festen Grenzen zwischen „höherer" und „niederer" Kultur akzeptieren können. Daß diese in Wirklichkeit häufig diffusen, variablen und durchlässigen Grenzen in der fortgeschrittenen Moderne zugleich die Grenzen zwischen dem ästhetisch potentiell Gelungenen und dem
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Ebd., S. 199.
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ästhetisch a priori Mißlungenen seien, zwischen dem Authentischen und dem Nicht-Authentischen, zwischen Wahrheit und Lüge ist eine geschichtsphilosophische Annahme, die durch ästhetische Erfahrung nicht wirklich gedeckt ist. Deshalb können auch diese Grenzen für die avancierte Kunst zur Provokation werden, sie zu überschreiten. 30 Die Nötigung zur Selbstüberschreitung der Kunst ist, wie gesagt, mit ihrer fortdauernden Autonomie zusammenzudenken. Nur als autonome kann die Kunst jenes über den bloß schönen Schein hinausschießende Mehr noch erzeugen, durch welches für Augenblicke die Welt im Stande ihrer Entzauberung verzaubert, die ausgetrockneten Flußläufe sprachlicher Kommunikation überflutet und die Sinngehäuse der alltäglichen Welt zum Erzittern gebracht werden mögen. Dieses Mehr haben wir bisher mit Adorno als Erhabenes — im Gegensatz zum bloß (formal) Schönen — , als Geistiges — im Gegensatz zum bloß sinnlich Wohlgefälligen — , als schockhaft Ergreifendes — im Gegensatz zum bloß Geschmackvollen — charakterisiert. Nun ist aber bereits bei Kant im Begriff des Kunstschönen ein solches Mehr mitgedacht: Das Kunstschöne als Ausdruck ästhetischer Ideen fällt ja keineswegs zusammen mit dem Schönen im Sinne der Analytik des reinen Geschmackurteils. „Geist" ist schon bei Kant die Kategorie, durch die er das Kunstschöne vom bloß Geschmackvollen unterscheidet. Selbst die Idee einer Kommunikation des Unkommunizierbaren, der Darstellung eines Nicht-Darstellbaren, wie sie bei Adorno — und nach Adorno bei Lyotard — als Charakteristikum des Kunsterhabenen auftritt, ist bereits in Kants Idee des Kunstschönen impliziert. Andererseits scheint es gute Gründe dafür zu geben, daß bei Kant, was die Kunst betrifft, der Begriff des Schönen gegenüber dem des Erhabenen leitend bleibt: Kunstwerke sind, als gemachte, weder grenzen- noch formlos und auch keine Gegenstände realer Furcht; was auch immer an ihnen erhaben genannt werden mag, sie scheinen doch, als begrenzte Objekte, unter Bedingungen zu stehen, unter denen ästhetische Lust zunächst einmal die am Geformten, als Lust am Schönen sein wird. Auch bei Adorno bleibt die Kategorie des Schönen insofern leitend, als die Realisierung des Kunsterhabenen an die Bedingung ästhetischer Stimmigkeit geknüpft bleibt; das Erhabene bedeutet eine Modifikation, eine Intensivierung des Schönen, nicht dessen reale Negation wie bei Kant. Wir sollten deshalb, in einem letzten Schritt, noch einmal genauer fragen, worin bei Adorno, jenseits aller formalen Analogien, das Recht zur Anknüpfung an Kants Begriff des Erhabenen begründet sein könnte.
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Soviel ist wahr an der postmodernistischen Infragestellung der Grenzziehungen zwischen „hoher" und „niederer" Kunst, zwischen Avantgarde und Massenkultur.
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IV Ich hatte früher behauptet, daß Adorno die Kategorie des Erhabenen aus dem Geiste Becketts rehabilitiert. In Becketts Endspiel wird in Adornos Deutung die Explosion des metaphysischen Sinns ästhetisch objektiviert, nämlich als ästhetische „Konstruktion der Sinnlosigkeit". Solche ästhetische Konstruktion der Sinnlosigkeit ist der Ort des Standhaltens gegenüber der Ubermacht der Negativität, der Ort des Erhabenen. Das Einfallstor für das Erhabene in der modernen Kunst ist nicht ein Absolutes, das nicht darstellbar ist (also ein Absolutes im Sinne Kants), sondern das Verschwinden des Absoluten, der Tod Gottes. In zwei bekannten Formulierungen hat Nietzsche das Erhabene auf das „Entsetzliche" und das „Unverständliche" bezogen; 31 dem entspricht bei Baudelaire das Bild des Abgrunds. Das Entsetzliche, das Unverständliche, der Abgrund — diese Worte bezeichnen nicht mehr eine übermächtige, schreckeneinflößende, unermeßliche Natur, die unterm Blick des intelligiblen Subjekts doch klein wird; sie bezeichnen vielmehr eine Natur, die auch das intelligible Subjekt und seine geschichtliche Welt noch umgreift: Der Abgrund ist ein Abgrund der Sinnferne inmitten des sprachlichen Sinns. Dieser Abgrund bezeichnet ein negatives Absolutes, das Nichts, gleichsam die Leerstelle, die das Absolute der Metaphysik hinterlassen hat. Wie schon in der Paulinischen Theologie ist bei Adorno der Name dieses negativ Absoluten der Tod. Der Tod als Letztes ist die Krise des Sinns; und zwar als Krise des metaphysischen Sinns zugleich die Krise alles sprachlichen Sinns, da durch die Explosion des metaphysischen Sinns zugleich alle diejenigen für das Leben des sprachlichen Sinns konstitutiven Bedingungen in Frage gestellt werden, durch welche das Leben des sprachlichen Sinns mit den Ideen der Wahrheit, der Autonomie und der Vernunft verknüpft ist. Es ist diese Nietzschesche Perspektive, die Adorno sich zu eigen macht und die er zugleich als unerträglich zurückweist; in dieser zugleich affirmativen und kritischen Stellung zu Nietzsche wird er zum Versöhnungsphilosophen. Dramatisch heißt es in der Negativen Dialektik: „Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie" — hier ist natürlich Heidegger gemeint — „positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken." 32 Für Adorno bedeutet dies, wie schon früher betont, daß das Standhalten gegenüber der Negativität des Daseins nur im Namen eines Absoluten möglich ist, das zwar schwarz verhüllt, aber doch nicht Nichts ist. Zwischen
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Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. 1, hrsg. von Karl Schlechta, Darmstadt 1960, S. 49 und 238. Theodor W. Adorno, „Negative Dialektik", in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1973, S. 364.
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Sein und Nichtsein des Absoluten bleibt ein unendlich dünner Spalt, durch den ein schwacher Lichtschimmer fällt: Licht von einem Absoluten, das erst werden soll. Und was für das Absolute gilt, gilt ebenso für das Ich: Auch dessen Nichtigkeit, Korrelat der Explosion metaphysischen Sinns, soll nicht das letzte Wort sein. Das Wort „Ich" ist der Name einer utopischen Hoffnung; ihm korrespondiert nichts Seiendes; erst im Stande der Erlösung dürften die Menschen „Ich" zu sich sagen. Dies ist die aporetische Konstellation, in der das Erhabene bei Adorno seinen versöhnungsphilosophischen Ort hat. Was bleibt von diesem Begriff, wenn man die versöhnungsphilosophische Spitze von Adornos Philosophie kappt, wenn man die Wurzelfäden durchschneidet, durch die diese Philosophie sich aus einem abwesenden Absoluten nährt? Konstitutiv für das Erhabene in all seinen Varianten ist eine Polarität, eine produktive Spannung zwischen einem virtuell bedrohten, in seinen Vermögen überforderten, in Schwindel versetzten Ich und einem gerade in dieser Erfahrung der Fragilität, des Schreckens, des Schwindels lustvoll sich affirmierenden Ich. Kant deutete diese Polarität als die von empirischem und intelligiblem Ich. Indes ist leicht zu sehen, daß es, zumindest wo es um die Kunst geht, eines intelligiblen Ich, im Kantischen Sinne, daß es der Idee des Absoluten nicht bedarf, um jene Polarität begreiflich zu machen. Denn in der gelungenen ästhetischen Artikulation des Negativen, der „Macht der Negativität", erfahren die Subjekte ja unmittelbar ihre artikulative, weltbildende und kommunikative Macht gegenüber dieser Macht der Negativität. Deshalb kann die Erfahrung der Negativität hier in ästhetische Lust sich verwandeln. So hat es schon Nietzsche gesehen: In der gelingenden ästhetischen Artikulation des Sinnlosen und Grauenvollen verwandelt das Entsetzen sich in ästhetische Lust. Und im Grunde sieht Adorno es ebenso: Die Lust des Erhabenen ist das Glück des Standhaltens, der Kommunikation des Unkommunizierbaren. Die Idee der Versöhnung fällt aus dieser Gleichung heraus. Es ist also gar nicht die Kategorie des modernen Erhabenen, die der Idee der Versöhnung bedarf; vielmehr ist es Adornos radikaler Begriff der Negativität, der auf Versöhnung als sein Korrelat verweist. Adornos Opposition gegen Nietzsche betrifft nicht die Ästhetik, sondern die Ethik. Nietzsche hatte seine Destruktion der Metaphysik zugleich als seine Destruktion der Ideen der Wahrheit und des moralisch Guten verstanden. Hiergegen opponiert Adorno: Im Namen jener Ideen postuliert er am Ende der Negativen Dialektik „Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes". In seinem Versuch einer kritischen Rettung der Metaphysik bleibt Adorno aber in eigentümlicher Weise den Prämissen von Nietzsches Destruktion der Metaphysik verhaftet. Er muß daher, um der Idee der Wahrheit und des richtigen Lebens willen und gleichsam in einem Gestus ohnmächtigen Protests, gegen Nietzsche behaupten, daß der Bezug der Geschichte auf einen ihr jenseitigen Ort der Versöhnung trotz allem die Wahrheit der Metaphysik sei; demgegenüber hatte Nietzsche mit guten
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Argumenten behauptet, dieser Ort der Versöhnung jenseits der Geschichte könne nur das Nirwana sein. Indes handelt es sich letztlich um eine falsche Alternative; beide, These wie Gegenthese, Nietzsches anti-moralische Affirmation der Endlichkeit wie Adornos negativistische Rückkehr zur Theologie, bleiben, wie sich zeigen läßt, den problematischen Prämissen der neuzeitlichen Subjektphilosophie verhaftet. Erst deren Destruktion erlaubt es, für das, was Kant im Begriff des Intelligiblen dachte, einen Ort jenseits der Metaphysik zu finden und hierdurch zugleich die falsche Alternative zu überwinden, die sich in der Opposition Adornos gegen Nietzsche auftut. Hierauf komme ich gleich zurück. Was hat dies aber mit den Problemen der Ästhetik, mit dem Problem des Erhabenen zu tun ? Nur soviel, daß in Frage steht, wie denn das ästhetische Subjekt, das die Erfahrung des Erhabenen macht, in der Welt des kommunikativ geteilten Sinns steht. Kants Antwort ist klar: Im Gefühl des Erhabenen empfinden die Subjekte ihre Freiheit als moralische Subjekte. Nietzsche und Adorno sehen hierin eine metaphysische Illusion oder, was auf dasselbe hinausläuft, eine bürgerliche Ideologie. Nur ihre Konsequenzen sind verschieden: Während Nietzsche die Ideen der Wahrheit und Freiheit verabschiedet, versucht Adorno, sie als utopische Hoffnung zu retten. Dies ist die falsche Alternative, von der ich oben gesprochen habe; nämlich die Alternative von Ästhetizismus und Messianismus. Es ist eine falsche Alternative, die Bedeutung und den Rang des Ästhetischen und daher den Ort der Kunst in der Moderne betreffend. Wir können daher den Begriff eines modernen Erhabenen, oder den Ort des Erhabenen in der ästhetischen Moderne, nicht wirklich klären, ohne diese falsche Alternative aufzulösen. Dies bringt mich zurück zu der Frage, wie sich für das, was Kant im Begriff des Intelligiblen dachte, ein Ort jenseits der Metaphysik finden ließe. In gewissem Sinne, so denke ich, hatte Adorno recht, wenn er für das Absolute, wenn er für das intelligible Ich, einen Ort zwischen Sein und Nicht-Sein suchte. Die Subjekt-Objekt-Dialektik aber ließ hier als ein Drittes nur die Idee eines künftigen Seins zu. Schon Kant aber hatte, und zwar vor jeder kritischen Metaphysik, jenen Ort zwischen Sein und Nicht-Sein überzeugender als den eines praktischen Seins bestimmt: Es „gibt" Freiheit in der Welt, sofern wir nur unter der Idee der Freiheit handeln können. Dies Sein der Freiheit bezeichnet keinen Zustand der Versöhnung, es bezeichnet vielmehr einen Seinsmodus der Welt sprachlich erschlossenen Sinns, durch welchen diese objektivierender Erkenntnis im strikten Sinn unzugänglich bleiben muß, ihr als ein Nicht-Sein erscheinen muß. Bei Kant bleibt dieser fruchtbare Gedanke freilich noch eingehüllt in ein Gewebe bewußtseinsphilosophischer Voraussetzungen; erst die neuere Philosophie — ich denke vor allem an Heidegger, Wittgenstein und die amerikanischen Pragmatisten — hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Kantischen Gedanken sprachphilosophisch zu reformulieren und hierdurch zugleich zu verallgemeinern. Der Gedanke besagt dann — und so findet er sich in besonders kla-
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rer Form bei Habermas —, daß das Sein des sprachlichen Sinns, der Freiheit, der Wahrheit, der Vernunft ein performatives Sein ist, ein Sein, das sich erst in der performativen Einstellung sprachlich kommunizierender Subjekte konstituiert und nur in ihr sich erhält. Habermas hat dieses performative Sein der Sprache durch ein Netzwerk von Geltungsansprüchen, Unterstellungen und Anerkennungsbeziehungen charakterisiert, die für sprachliche Kommunikation konstitutiv sind. Wir können sprachlich nicht kommunizieren, ohne einander als sprach- und handlungsfähige Wesen anzuerkennen; umgekehrt ist es eben diese wechselseitige Anerkennung als sprach- und handlungsfähiger Wesen, die für unsere Sprach- und Handlungsfähigkeit konstitutiv ist. Hierzu gehört die Vertauschbarkeit der Perspektiven von „Ich" und „Du" : Nur im Medium der Anerkennung durch andere kann ich — als der Andere des Anderen — auf mich selbst zurückkommen, kann ich mich als ein Ich verstehen, dem seine Handlungen zugerechnet und dem Rationalität zugemutet wird. Wir können ferner sprachlich nicht kommunizieren, ohne wechselseitig Geltungsansprüche zu erheben, die ihrem Sinne nach zugleich kontextgebunden und kontexttranszendierend sind, die also in ihrer Kontextualität zugleich unbedingt sind, so könnte man sagen, an eine ideale — im Sinne einer unbegrenzten — Kommunikationsgemeinschaft richten. Man könnte das performative Sein des sprachlichen Sinns am Beispiel des Verstehens von Äußerungen und Texten bzw. am Zusammenhang zwischen Bedeutung und Geltung verdeutlichen. Dies ist das Feld, in dem sich in der modernen Sprachphilosophie — bei Wittgenstein nicht weniger als etwa bei Gadamer — die Kritik am objektivistischen Mißverständnis des Seins des sprachlichen Sinns zuerst entzündet hat. Sowohl Gadamers These vom Moment der Applikation im Verstehen als auch Wittgensteins Erläuterung der Bedeutung von Worten durch ihren Gebrauch in der Sprache verweisen auf das performative Sein des sprachlichen Sinns: Diesen „gibt" es nur aus der Perspektive von Sprechern, die sich in der Sprache miteinander über etwas verständigen, gleichsam aus einer an Geltung orientierten Gebrauchsperspektive. Sprachlicher Sinn bildet und erhält sich im Gelingen und Mißlingen sprachlicher Kommunikation; freilich gibt es keine — dem performativen Sein der Sprache entzogenen — externen Maßstäbe solchen Gelingens oder Mißlingens. Was es gibt, sind nur die internen Korrektive der sprachlichen Praxis selbst: Das Gelingen sprachlicher Kommunikation muß sich außerhalb ihres eigenen Kontextes und aus der Perspektive Dritter, also im Zusammenhang des Lebens ebenso wie vor dem Forum einer prinzipiell nicht begrenzbaren Kommunikationsgemeinschaft, bewähren. Durch die Idee der Wahrheit ist ein kritischer Maßstab in die Welt sprachlichen Sinns eingebaut; ein kritischer Maßstab aber, der weder ein ideales Sein jenseits der Sprache noch eine ideale Form sprachlicher Verständigung meint, sondern der nichts als die selbst-transzendierende Kraft der in einer Sprache jeweils verkörperten Vernunft
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bezeichnet. Was wir im Vollzug der sprachlichen Kommunikation unterstellen: Die Möglichkeit der Verständigung und die Transparenz des Sinns darf nicht als Vorschein einer „letzten" Verständigung, eines vollständig transparent gewordenen Sinns, einer letzten Versöhnung mißverstanden werden. Dies Mißverständnis vielmehr ist die Metaphysik: eine objektivistische Fehldeutung des performativen Seins des sprachlichen Sinns; vielleicht auch — so jedenfalls sieht es Derrida — ein transzendentaler Schein, der dem Leben des sprachlichen Sinns anhaftet. Das performative Sein des sprachlichen Sinns ist die Sphäre dessen, was Kant das Intelligible nannte. Dies Reich des Intelligiblen — wenn wir hier weiterhin den Kantischen Ausdruck verwenden wollen — ist in der Tat ein Reich jenseits der Natur, sofern wir unter „Natur" das objektivierbare Sein im Sinne Kants verstehen. Zugleich aber ist es ein Teil der Natur, weil es an die Intersubjektivität endlicher „natürlicher" Wesen geknüpft ist. Das performative Sein des Geistes und mit ihm das Reich des Intelligiblen ist endlich, vom Tode begrenzt. Ihm fehlt die messianische Kraft, das Dunkel der Welt im Ganzen zu erhellen, die Erfahrungen der Kontingenz, der moralischen oder existentiellen Sinnlosigkeit, des Scheiterns, des unauflösbaren Konflikts oder der Zerbrechlichkeit des Subjekts und aller intersubjektiven Beziehungen in einem höheren oder „Meta"-Sinn aufzuheben. Das intelligible Subjekt ist nur als empirisches Subjekt, zerbrechlich selbst in seiner Subjekthaftigkeit, vom Tode bedroht und ohne Hoffnung auf Erlösung. Gleichwohl existiert dies empirische Subjekt als empirisches Subjekt, als individuiertes Ich, nur sofern es in die „intelligible" Welt sprachlichen Sinns hineingewachsen ist und in ihr sich hält; ausgesetzt den Forderungen von Vernunft und Moral, die für sein Subjekt-Sein konstitutiv sind und denen es sich niemals ganz entziehen kann, ohne die Bedingungen seiner empirischen Existenz, als der eines individuierten Ich, in Frage zu stellen. Die Menschen sind also wirklich Bürger zweier Welten; nur daß die intelligible Welt, das heißt die öffentliche, intersubjektive Welt sprachlich erschlossenen Sinns, von der Welt der Natur umschlossen wird, mit Heidegger könnte man sagen: von der Erde „durchragt" wird. Die „Erde" soll hier stehen ebenso für das Sinnliche am sprachlichen Sinn, den sinnlichen Boden des Sinns, wie für das Andere des Sinns, das Abgründige des Sinns. Das Andere des Sinns — Natur — ist der Boden und der Abgrund der sinnhaft erschlossenen Welt. 33 Die Natur selbst hat den Doppelcharakter 33
Christoph Menke-Eggers {Die Souveränität der Kunst, Frankfurt a.M. 1988) bezieht die Doppelfigur „Grund-Abgrund" auf das „Schöne („Das Schöne, das wir als Grund wie Abgrund unserer ästhetischen Verstehensversuche erfahren . . . " , S. 167). Hiermit ist die These verknüpft, daß „die ästhetische Negativitätserfahrung [...] die Subversion der Möglichkeit zu verstehender Erfahrung selbst zur Erfahrung" bringt (S. 240). Die ästhetische Erfahrung selbst bedeutet die Krise des Sinns. Meine Differenz zu Menke-Eggers' brillanten Überlegungen betrifft die Konstruktion des Verhältnisses zwischen ästhetischer Negativität und kommunikativ geteiltem Sinn.
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des Versöhnenden und des Abgründigen. Als Abgrund des Sinns aber ist sie eine ständige Bedrohung der Welt kommunikativ geteilten Sinns, das Mal ihrer Fragilität. Wenn man noch an einem Begriff des Erhabenen festhalten will, der irgend mit dem Kantischen zusammenhängt, so wäre hier, wenn irgendwo, der O r t des Erhabenen in der modernen Kunst. D e r Gegensatz, die Polarität, die unauflösbare Spannung, an der das Gefühl des Erhabenen sich entzünden kann, wäre eine im intelligiblen Subjekt selbst; nämlich die Spannung zwischen einem Abgrund von Sinnferne oder Widersinn, der das intelligible Subjekt der Sprache als nichtig sich erfahren läßt, und dessen Standhalten gegenüber der Ubermacht der Negativität, durch welches es noch die Erfahrung seiner Nichtigkeit in die Welt kommunikativ geteilten Sinns aufhebt und hierin über die eigene Nichtigkeit sich erhebt. D e r O r t des Erhabenen wäre nicht der Gegensatz zwischen dem empirischen und intelligiblen Ich, nicht der Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, sondern ein Gegensatz im „intelligiblen" Ich selbst: Dieses ist nichtig und erhaben zugleich. In den „Malen der Zerrüttung", die nach Adorno das „Echtheitssiegel" der ästhetischen Moderne sind, spricht die Kunst aus, daß die Welt nicht mehr zu einem Sinnganzen sich zusammenfügen läßt. Indem sie es aber ästhetisch tut, Medium einer reflexiven Lust, bringt sie zugleich die endliche Welt des kommunikativen Sinns zum Erglühen, bringt ihre Farben zum Leuchten. Und indem sie das Endliche, das Abgebrochene, das Abgründige des Sinns und seiner sprachlichen Subjekte in ästhetischen Sinn verwandelt, wirkt sie zugleich erhellend auf die Welt sprachlichen Sinns zurück. Es sind ja die gewöhnlichen Subjekte, Bewohner einer Tagwelt sprachlich erschlossenen, kommunikativ geteilten Sinns, die ästhetische Erfahrungen machen. Treten sie für Augenblicke aus dem Zeitund Sinnkontinuum dieser Tagwelt heraus, so kehren sie auch wieder dorthin zurück; was ihnen ästhetisch geschieht, geschieht ihnen immer auch als Subjekten einer kommunikativen Praxis, auf welche die ästhetische Erfahrung erhellend, erweiternd, sinnbildend und sinn-erschütternd zurückwirkt. Die Kunst ist ein Teil der intelligiblen Welt, wodurch diese zu ihren Rändern und Abgründen hin sich öffnet, Eingedenken der Natur im Subjekt; indem sie den Schrecken des Sinnfernen in ästhetische Lust verwandelt, erweitert sie zugleich die Grenzen des sprachlichen Sinns. Wenn man freilich das Erhabene der modernen Kunst nicht mehr aus einem Horizont antizipierter Versöhnung versteht, so wird zugleich fraglich, ob man wirklich die authentische moderne Kunst mit einer Kunst des Erhabenen gleichsetzen darf. In Wirklichkeit ist ja das Ineinander von ekstatischen und kontemplativen Momenten, das die ästhetische Erfahrung auszeichnet, nicht gebunden daran, daß im Kunstwerk das Unverständliche als das Schreckliche vergegenwärtigt und gebannt wird. Kommunikation des Unkommunizierbaren, Darstellung eines nicht Darstellbaren sind vielmehr Merkmale der Kunst, in welchen sie alle
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Aspekte möglicher Welterfahrung umgreift. Die welterschließende, vergegenwärtigende und erfahrungsverändernde Kraft der Kunst äußert sich darin, daß sie den in der alltäglichen Erfahrung zerstreuten Sinn sammelt, verdichtet und transformiert, dem Ungreifbaren und Flüchtigen zur Dauer verhilft, das der Sprache sich Entziehende zur Sprache bringt, das nicht Gesehene sichtbar und das nicht Gehörte hörbar macht. Insofern hat sie es immer gleichsam mit der Rückseite der Welt sprachlich erschlossenen Sinns zu tun. Indes ist das Sinnferne, das Kontingente, ist der Abgrund des Sinns nicht nur das „Unverständliche als das Schreckliche", sondern zugleich Natur als ein Ort möglichen Glücks. Im Abgrund des Sinnfernen, der sich inmitten der Welt sprachlichen Sinns auftut, wartet auch die Lust. Schrecken und Lust der Endlichkeit sind nicht ohne einander; hierin hatte Nietzsche gegen Adorno recht. Worin Adorno gegen Nietzsche recht hat, das ist, daß die Welt des sprachlichen Sinns, wenn das Geflecht intersubjektiver Anerkennung zerreißt, zur Hölle werden muß. Es ist eine Möglichkeit, die wir niemals ausschließen können, sondern gegen die wir nur die in der Welt sprachlichen Sinns trotz ihrer Fragilität beschlossene Kraft der Versöhnung aufbieten können, eine Kraft, die heute nur noch in den Institutionen und Gewohnheiten post-konventioneller demokratischer Lebensformen sich erhalten und erneuern kann. Indem Adorno den Zustand der modernen Welt vom Grenzfall Auschwitz her als einen Zustand vollendeter Negativität konstruierte, hat er aber gerade jene Kräfte der Versöhnung verfehlt, die nach der „Explosion metaphysischen Sinns" allein verhindern können, daß die Welt sich dem Bilde von Auschwitz angleicht: Die Hoffnung auf totale Versöhnung entwertet jede geschichtlich mögliche Versöhnung. Zu dieser aber, der geschichtlich möglichen Versöhnung, gehört ein Moment der Entzweiung hinzu: kein Glück der Freiheit ohne Polarität von Versöhnung und Entzweiung, von Lust und Schmerz des Nicht-Identischen. Adorno wollte diese Wahrheit Hölderlins und Hegels nur als Wahrheit über die Kunst akzeptieren; deshalb konnte er in der ästhetischen Dissonanz nur die virtuelle Negation der realen Dissonanzen sehen, ein „standhaltendes Negieren", durch welches die Kunst für ihn zur erhabenen wurde. Wenn man dagegen, wie ich es hier versucht habe, Adornos Begriff des modernen Erhabenen von dem von Adorno selbst betonten Zusammenhang zwischen der „Explosion metaphysischen Sinns" und der Emanzipation des Subjektes her rekonstruiert, dann läßt sich die These, die moderne Kunst sei erhaben, das heißt von der Grundfarbe schwarz, nicht länger aufrechterhalten. Gewiß, die Kunst im Zeitalter einer nach-metaphysischen Moderne befindet sich unwiderruflich jenseits eines Begriffs von Schönheit, der das sinnliche Scheinen der Idee, der einen höheren Sinn, eine letzte Versöhnung der Widersprüche meint. In diesem Sinne mag das Erhabene zum Konstituens aller modernen — oder postmodernen — Kunst geworden sein. Ein so verstandenes Erhabenes aber muß nicht von der Grundfarbe schwarz sein — sowenig wie der Verzicht auf eine letzte
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Versöhnung Verzweiflung bedeutet. Daß in der ästhetischen Konstruktion der Sinnlosigkeit „Erhabenes und Spiel konvergieren", wie Adorno sagt, könnte auch in einem anderen Sinne verstanden werden als bei Adorno, der diesen Gedanken auf die schwarze Komik Becketts bezieht. Etwa so, daß die Kunst das Spiel der Welt zur Erscheinung bringt, den Geschichtsraum in einen Naturraum zurückverwandelt und hierin die Abgründigkeit des sprachlichen Sinns nicht nur in ihrer Negativität, sondern zugleich in ihrer Produktivität erfahrbar macht. Die Erfahrung solcher Kunst könnte die ekstatische Erfahrung einer Überschreitung des Sinns sein: Kunst als Nachahmung des Naturschönen. Innerhalb der modernen Musik gibt es eine Traditionslinie, die Debussy mit Strawinsky, Messiaen und Ligeti verbindet; eine Traditionslinie, mit der Adorno, der präokkupiert war durch die deutsch-österreichische Tradition eines dynamisch-expressiven Konstruktivismus, nie so recht etwas anzufangen wußte. Der tiefere Grund mag sein, daß Adorno an einer Hegeischen Bestimmung der Musik festhielt, wonach die Wurzel der Musik der expressive menschliche Sprachlaut, die menschliche Lautgeste ist.34 Charakteristisch für die Musik jener anderen Traditionslinie ist aber, daß in ihr, um mit Hegel zu reden, nicht die „Sphäre der subjektiven Innerlichkeit" sich in Tönen entäußert, daß nicht das Subjekt, sondern daß die Dinge zum Tönen gebracht werden, die Welt als Klangraum ersteht. Gegenüber der Finalität einer subjektzentrierten Zeitlichkeit treten Farbe, rhythmische Komplexität und Räumlichkeit der Musik hier in einer nicht mehr finalen Objekthaftigkeit in den Vordergrund; der Naturraum der Geschichte wird hörbar gemacht, Musik tendenziell zur Nachahmung des Naturschönen — und sei es eines mathematisch-technisch erzeugten, d. h. bereits künstlichen „Naturschönen" wie der Fraktale im Falle Ligetis.35 Und doch genügt auch diese Musik allen Desideraten des Modernen im Sinne Adornos: Sie ist hochgradig konstruktiv und individuiert in ihrer Sprache und ihren technischen Verfahren; und sie hat der Musik ganz neue Erfahrungs- und Materialschichten erschlossen, insbesondere solche aus außer-europäischen Kulturen. Im übrigen sind die Grenzlinien zwischen den beiden genannten Traditionen der modernen Musik längst unscharf geworden; ich habe sie vor allem deshalb unterschieden, weil Adorno dazu neigte, die eine der beiden aus dem Kanon der modernen Kunst auszugrenzen. An solchen Stellen zeigt sich, daß die Ästhetik der Negativität am Ende auch mit einer ästhetischen — und nicht nur mit einer philosophischen —
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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Vorlesungen über die Ästhetik III", in: Werke, Bd. 15 (Theorie-Werkausgabe), Frankfurt a.M. 1970, S. 144f., 149-152. Vgl. Denys Bouliane, „Stilisierte Emotion. György Ligeti im Gespräch", in: Musik-Texte 28/29, März 1989. Denis Bouliane, „Geronnene Zeit und Narration. György Ligeti im Gespräch", in: Neue Zeitschrift für Musik, Mai 1988.
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Blickverengung verknüpft ist. Das ließe sich auch an anderen Beispielen zeigen; notorisch ist Adornos schiefes Verhältnis zum Jazz und zum Film. Freilich stammt die Idee einer Nachahmung des Naturschönen durch die Kunst von Adorno selbst. Man könnte versucht sein zu sagen, daß alle Elemente einer nachmetaphysischen Ästhetik der Moderne bei Adorno versammelt sind, nur in einer durch die Optik der Versöhnungsphilosophie verzerrten Anordnung. Seine Ästhetik ist ein Zögern auf der Schwelle, populär gesagt, zur Postmoderne, ernsthafter gesagt, zu einem nachmetaphysischen Begriff der Moderne. Den Ästhetiken der Postmoderne ist sie immer noch überlegen. Aber fruchtbar machen läßt sie sich heute nur noch, wenn man sie entschlossen verfremdet; oder anders gesagt, wenn man sie über jene Schwelle stößt, auf der sie zögert: die Schwelle zu einer nachmetaphysischen Moderne. Dies wäre eine Moderne, die im Sturz der Metaphysik nicht nur den Verlust, sondern auch die Befreiung erkennt: die Befreiung von der Illusion und dem Terror eines irgend objektivierbaren letzten und umfassenden Sinns; eine Moderne, die der Metaphysik um so weniger bedürfte, je mehr sie die Wahrheit der Metaphysik in den Strukturen ihrer Weltlichkeit aufgehoben hätte.
Ästhetik und Anästhetik* Wolfgang Welsch
Fragestellung Was ich im folgenden darstellen möchte, ist mehr die Skizze eines Vorhabens als bereits dessen Ausführung. Aus Gründen, die ich darlegen werde, scheint mir heute eine Akzentverlagerung der Ästhetik angebracht. Die Ästhetik sollte — so meine These — nicht n u r Ästhetisches, sondern die Doppelfigur von Ästhetischem u n d Anästhetischem ins Auge fassen. Natürlich sollte ich vorweg erst einmal angeben, was ich unter ,Ästhetik' und .Anästhetik' verstehe.,Vorweg' heißt freilich auch: bloß ungefähr. D e n n vorweg kann man bloß Vorbegriffe geben. Es ist das Eigentümliche philosophischer Reflexionen, daß sie ihre Ausgangsbegriffe in Bewegung, oft gar in Taumel versetzen und z u m Umschlag bringen. ,Dialektik' war von Piaton bis A d o r n o das Wort dafür. Wer vorweg mehr als Ausgangspunkte, wer identisch durchzuhaltende Bestimmungen zu geben vermöchte, der könnte sich die Überlegungen und sollte den anderen einen Vortrag ersparen. Ich meine dies auch als Entschuldigung oder Warnung. Ich werde nicht einen Begriff von Ästhetik und einen von Anästhetik aufstellen, sondern ich werde in der Folge zeigen, mit welch unterschiedlichen Facetten und Anwendungsflächen man in diesem Phänomenfeld rechnen m u ß — wenn man sachgerecht operieren will. .Ästhetik' war zunächst — seit 1750 — der Titel einer philosophischen Disziplin, die ein Wissen vom Sinnenhaften anstrebte und daher von Baumgarten, ihrem Gründungsvater, als episteme aisthetike — k u r z .Ästhetik' — bezeichnet wurde. 1 Demgegenüber ist es nachher zu einer Verengung vorwiegend auf die
* Eine frühere Fassung dieses Textes ist erschienen in: Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 9-40. 1 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, lat./dt. übers, und hrsg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, S. 86 bzw. 87 (CXVI).
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Kunst oder gar nur aufs Schöne gekommen. Diese Verengung wäre meines Erachtens heute rückgängig zu machen. Ich möchte Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, von sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen und künstlerischen. Des weiteren ist eine aktuelle Begriffsverschiebung zu beachten: ,Ästhetik' bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr nur die wissenschaftliche Thematisierung sinnenhafter Phänomene, sondern die Struktur dieser Phänomene selbst. Wenn wir von der Ästhetik des Tanzes, des Vogelflugs oder des Automobils sprechen, so denken wir nicht an Lehrbücher, sondern an diese Bewegungen oder Objekte als solche. Ein Gleiten der Bedeutung (das für die Sphäre des Ästhetischen vielleicht insgesamt charakteristisch ist) 2 war schon bei Baumgarten festzustellen, denn während er zunächst die Ästhetik als Wissenschaft vom Sinnenhaften angesetzt hatte, bestimmte er sie nachher als selbst „sinnliche Erkenntnis", ja sogar als „schönes Denken" („ars pulchre cogitandi"). Mittlerweile ist uns der umgekehrte Ubergang vertraut geworden — der zu Ästhetik als Moment der Realien (oder Immaterialien) selbst. ,Anästhetik' verwende ich als Gegenbegriff zu ,Ästhetik'. ,Anästhetik' meint jenen Zustand, wo die Elementarbedingung des Ästhetischen — die Empfindungsfähigkeit — aufgehoben ist. Während die Ästhetik das Empfinden stark macht, thematisiert Anästhetik die Empfindungslosigkeit — im Sinn eines Verlusts, einer Unterbindung oder der Unmöglichkeit von Sensibilität, und auch dies auf allen Niveaus: von der physischen Stumpfheit bis zur geistigen Blindheit. Anästhetik hat es, kurz gesagt, mit der Kehrseite der Ästhetik zu tun. Daher ist Anästhetik von drei anderen benachbarten Positionen zu unterscheiden. Sie ist erstens keine Anti-Ästhetik: Sie verwirft die Dimension des Ästhetischen nicht pauschal. Zweitens geht es ihr nicht um das Un-Ästhetische — also um das nach ästhetischen Kriterien als negativ Qualifizierte. Und drittens hat sie es nicht einfachhin mit Nicht-Ästhetischem zu tun, das keinerlei Bezug zu ästhetischen Fragen hätte. Unter dem Titel des Anästhetischen geht es vielmehr um das grenzgängerische Doppel der Ästhetik selbst. Dabei betont Anästhetik die Elementarschicht der aisthesis. ,Aisthesis' ist ja ein doppeldeutiger Ausdruck, kann Empfindung oder Wahrnehmung, Gefühl oder Erkenntnis, sensation oder perception meinen. Und während die Ästhetik in ihrer traditionellen Ausformung meist nur den kognitiven Pol betonte, bezieht sich Anästhetik, wie ich sie hier in die ästhetische Diskussion einführen möchte, primär auf die Empfindung. Das ist nicht erst in der Philosophie, sondern schon in der Medizin so: Durch Anästhesie schaltet man die Empfindungs-
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Nr. 77.
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fähigkeit aus — und der Wegfall des höheren, des erkenntnishaften Wahrnehmens erweist sich als bloße Folge davon. Anästhetik problematisiert also die Elementarschicht des Ästhetischen, seine Bedingung und Grenze. Und wie alle Grenzen, so ist auch diese nicht bloß negativ. Auch das gilt schon medizinisch: Man anästhesiert, um ästhetische Pein zu ersparen. Und selbst dort, wo keine Pein vorliegt, sondern wo es um Lust geht, kann Anästhetik gar zum höheren, positiven Ziel werden. Stoiker beispielsweise tun es lieber ohne Lust. Und nicht wenige eigentliche Ästhetiker (Mystiker oder Erotiker) streben nach einem Uberstieg der Lust in einen „anderen Zustand" — der dann doch wohl eine Art anästhetischer Zustand sein muß? Ästhetik und Anästhetik werden nicht einfach als Positiv und Negativ zu verrechnen sein — weder im photographischen noch im wertenden Sinn. Anästhetik reicht vom Nullphänomen bis zu einem Hyperphänomen des Ästhetischen. Daher wird es, während die meisten heute von Ästhetisierung reden, gut sein, auf diese Grenze und somit auf das Doppel von Ästhetik und Anästhetik zu achten. 3
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Jüngst hat sich auch Odo Marquard des Begriffspaares ,Ästhetik' und ,Anästhetik' bedient (Odo Marquard, Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Pader-
born 1989). Marquard unterscheidet zwei Weisen der Verkoppelung dieser Begriffe, eine positive und eine negative. Die positive formuliert zugleich ein Gebot für die philosophische Ästhetik: Sie soll nicht nur die ästhetische Kunst, sondern auch die nicht-ästhetische Wirklichkeit in den Blick nehmen. Dadurch kann die philosophische Ästhetik über die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit wachen und so der negativen Verkoppelung von Ästhetik und Anästhetik entgegentreten, die dann eintritt, wenn die Ästhetisierung über die Kunst hinaus auf die Wirklichkeit übergreift, was deshalb Anästhetisierung zur Konsequenz hat, weil in einer ästhetisch unifizierten Wirklichkeit alle Differenzen verschwinden und somit die Möglichkeit von Wahrnehmung und ästhetischer Erfahrung dahinfällt. — Marquards Konstruktion scheint mir auf einer äquivoken Verwendung des Terminus ,ästhetisch' zu beruhen. Zunächst wird der Ausdruck im Sinn künstlerischen Gelingens gebraucht, aber sobald diese Ästhetisierung sich erfüllt (ja durch Umformung der Wirklichkeit sich gar über-erfüllt), wird dagegen plötzlich ein anderer Sinn des Ausdrucks ,ästhetisch', ein wahrnehmungslogischer nämlich, der auf Differenzbedürftigkeit abhebt, ins Feld geführt. Zudem ist sowohl die Grundannahme, nur ein einziger Begriff von Kunst (,ästhetische Kunst') sei legitim, wie auch umgekehrt die pauschale Ablehnung von Wirklichkeitswirkungen der Kunst ersichtlich dogmatisch. Der wichtigste Einwand aber wäre folgender: Marquard plädiert selbst für eine (von ihm allerdings nicht als solche benannte) dritte Weise der Verkoppelung von Ästhetik und Anästhetik, indem er die Kunst als schönes Narkotikum gegenüber der unschön-schmerzvollen Wirklichkeit empfiehlt. Ästhetische Kunst soll uns angesichts einer Welt anästhesieren, die uns ohne solche Entlastung als skandalös und veränderungsbedürftig (als alles andere denn die beste aller Welten) erscheinen müßte. — Meine Überlegungen setzen anders an.
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Von diesem ungleichen und unlöslichen Paar also, von Ästhetik und Anästhetik will ich sprechen — von diesem Bündnis, das man nicht im Sinn einer klaren und fixen Teilung behandeln oder beenden kann, sondern bei dem man allenthalben auf Verflechtungen, Umschläge und Dialektiken wird achten müssen. Ich würde gerne herausfinden, was es mit diesem Paar auf sich hat — warum die beiden zusammentreten und warum sie nicht voneinander lassen können. Ich habe meine Überlegungen in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil gebe ich eine gegenwarts-phänomenologische, im zweiten Teil eine historische Einführung zum genannten Problem, das ich im dritten Teil dann unter systematischen Gesichtspunkten behandeln möchte. — Zunächst also einige Gegenwartsbeobachtungen, die geeignet sind, mit dem genannten Paar und seiner Dialektik vertraut zu machen.
I. Gegenwarts-phänomenologischer Teil: Aktuelle Formen einer Dialektik von Ästhetik und Anästhetik 1. Der Umschlag gegenwärtiger Ästhetisierung in Anästhetisierung Gegenwärtig sprechen alle von Ästhetik. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, und die Wissenschaftler intonieren es in Feuilletons und Festschriften: daß wir einen Ästhetik-Boom erleben, daß wir in einer Zeit der Ästhetisierung leben — vom Konsumverhalten über das individuelle Styling bis hin zur Stadtgestaltung, also quer durch die ganze Lebenswelt oder, wie man neuerdings auch sagt, die ,Kulturgesellschaft'. Wenn ich statt dessen von Anästhetik spreche, so nicht, um etwas anderes zu sagen als die anderen, sondern gerade im Blick auf diese Ästhetisierung. Ich meine nämlich, daß sie — was ihre engagierten Lobredner übersehen — in eine gigantische Anästhetisierung umschlägt. Man betrachte nur einmal das postmoderne' Facelifting unserer bundesrepublikanischen Großstädte, insbesondere ihrer Einkaufszonen. Hier erfolgt zweifellos eine immense Ästhetisierung — eine den Konsum ankurbelnde Ästhetisierung. Aber am Ende entsteht bei aller chicen Aufgeregtheit und gekonnten Inszenierung doch wieder nur Eintönigkeit. Das nenne ich einen Fall von A «-ästhetisierung erstens deshalb, weil sich die meisten dieser konsum-inszenatorischen Dekorationsbauten, wenn man sie einmal im Detail betrachtet, als ausgesprochen leer, zombiehaft und für ein verwei-
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lendes Anschauen unerträglich erweisen — und eben für diese Wahrnehmung von Faktur und Details wird man auch systematisch desensibilisiert. Die gestalterischen Elemente sollen gar nicht als solche wahrgenommen werden, sondern sollen eine Stimmungslage der Stimulation zu schönem Leben und Konsum erzeugen. Die ästhetischen Werte machen als Animationswerte Sinn. Zu dieser Desensibilisierung für die ästhetischen Fakten (die angesichts von deren Dürftigkeit auch bitter nötig ist) kommt zweitens eine Anästhetisierung auf der psychischen Ebene hinzu. Die Stimulation zielt auf immer neue Wirbel der Aufgeregtheit durch Kleinereignisse oder Nichtereignisse. Früher hatte solche Anregung kontemplationsfördernden Zweck. Kant beispielsweise schrieb, die Einbildungskraft werde beim Anblick veränderlicher Gestalten — etwa „eines Kaminfeuers, oder eines rieselnden Baches" — in ein „freies Spiel" der Phantasie versetzt und zu autonomen Bildungen angeregt; 4 und Leonardo da Vinci hat in der Federzeichnung eines alten, in die Betrachtung von Wasserstrudeln versunkenen Mannes solch sinnender Nachdenklichkeit bildhaften Ausdruck gegeben.5 Im postmodern-konsumatorischen Ambiente aber haben die Anregungen einen anderen Sinn. Sie erzeugen leerlaufende Euphorie und einen Zustand trancehafter Unbetreffbarkeit. Coolness — diese neue Tugend der achtziger Jahre — ist ein Signum der neuen Anästhetik: Es geht um Unbetreffbarkeit, um Empfindungslosigkeit auf drogenhaft hohem Anregungsniveau. Ästhetische Animation geschieht als Narkose — im doppelten Sinn von Berauschung wie Betäubung. Asthetisierung — ich wiederhole die Formel — erfolgt als Anästhetisierung. Bedenkt man nun aber, daß ein solcher Umschlag von Asthetisierung in Anästhetisierung keineswegs spezifisch postmodern ist, sondern ebenso schon mit den großen Ästhetisierungs-Bemühungen der modernen Gestaltung verbunden war — in der Megalopolis der modernen Architektur war für die natürlichen Sinnesbedürfnisse des Menschen kein Platz mehr, den Sinnen blieb vielmehr nur die Wahl zwischen Verkümmerung oder Mutation („Verrecke, Vogel, oder werde zur Flugmaschine") — , so erkennt man, daß es mehr als einen punktuellen Umschlag von Ästhetik zu Anästhetik, daß es vielmehr eine generelle Dialektik des Ästhetischen zu begreifen gelten wird. Läßt sich der Mechanismus dieser Dialektik (von der in Analogie zur Dialektik der Aufklärung zu sprechen·wäre) herausfinden? Auch ist nicht zu übersehen: Die genannte Ästhetisierung geht über den engeren ästhetischen Bereich weit hinaus. Sie ist zugleich mit einer sozialen Anästhetisierung verbunden: mit einer zunehmenden Desensibilisierung für die gesellschaftlichen Kehrseiten einer ästhetisch narkotisierten Zweidrittel-Gesellschaft. 4 5
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Β 73. Leonardo da Vinci, Federzeichnung, ca. 1513 (Royal Library at Windsor Castle, 12579 r).
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2. Anästhetik in der neuen, medialen Wirklichkeit Ich gehe zu einem weiteren Punkt über. Längst vor aller architektonisch oder künstlerisch induzierten Anästhetisierung nötigt die Verfaßtheit heutiger Wirklichkeit zur Thematisierung anästhetischer Tendenzen. Das ergibt sich erstens aus der zunehmenden Bildwerdung der Wirklichkeit (also angesichts der guten Gründe, die Enzensberger hatte, als er meinte, die BILD-Zeitung sei, sofern sie diesen Trend zur Bildlichkeit früh schon erfaßte und gar programmatisch zum Titelwort — Bild-Zeitung — erhob, so etwas wie ein avantgardistisches Kunstwerk). 6 Die Bildlichkeit dieser medialen Welt enthält — so meine These — drastische Anästhetisierungs-Potentiale. Denn der Aufstieg der medialen Bildwelt zur eigentlichen Wirklichkeit begünstigt — allein schon wegen ihrer bequemen Zugänglichkeit und universellen Verfügbarkeit — die Umformung des Menschen zur Monade im Sinn eines sowohl bildervollen wie fensterlosen Individuums. Ein solcher Zusammenhang von Bilderfülle und Fensterlosigkeit ist der Philosophie seit Leibniz — dem Protagonisten des Monaden-Theorems und der Logik der Telekommunikation — vertraut: Wer bildervoll ist, der braucht keine Fenster mehr, er hat schon alles (hat es zumindest zur Verfügung). Und so bewegen sich die Menschen heute dank telekommunikativer Totalausrüstung auf eine monadische Vollendung zu, entwickeln sich zu televisionären Monolithen. Umgekehrt werden sie dadurch zunehmend kontakt- und fühllos gegenüber der ehedem eigentlichen,,konkreten' Wirklichkeit, die inzwischen zur uneigentlichen, sekundären, scheinhaft-farblosen Realität herabgesunken ist. Diese Anästhetisierung gegenüber der Realität von einst ist die Kehrseite des Aufstiegs der neuen, der Tele-Ontologie. Manche bezeichnen das als technologischen Fortschritt. Effekte sozialer Desensibilisierung kommen hinzu. In einer Welt zunehmender Medialität existiert Mitleid vornehmlich als zeichenhaftes Gefühl von Bildschirmpersonen, wird Ethik zum telegenen Zitat und gibt es Solidarität primär als gemeinsames Benutzerverhalten einer televisionären Solidargemeinschaft. (In der Realität wäre solche Solidarität ja ungleich schwieriger zu praktizieren — zu schwierig. Wie leicht konnte man sich am Bildschirm über die Freiheitsausbrüche in der DDR freuen, wie schwer kam man hingegen mit den Realfolgen schon tags darauf in Berlin, eine Woche später auch in anderen bundesdeutschen Städten zurecht.)
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Vgl. Hans Magnus Enzensberger, „Der Triumph der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit", in: Merkur 420, 1983, S. 651-659.
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Ich versuche ein erstes Zwischen-Resümee: Architektonisch wie medial deutet sich ein teuflisches, aber anscheinend realistisches Gesetz an. Seine Formel wäre: Je mehr Ästhetik, desto mehr Anästhetik. Nehmen Sie nur noch hinzu, wie derzeit auch im privaten und intimen Bereich das Grundgesetz der Medienwelt, die Ablösung der Wirklichkeit durch ihre simulatorische Uberbietung, auf dem Vormarsch ist. Die Sexualität scheint heute in ihren avancierten Formen immer mehr zu einem Vollzug zwischen Video-Animation und Prothesen-Aktivität zu werden. Künftig entsteht der bacchantische Taumel, von dem Hegel einst geistbezogen gesprochen hatte, in einem simulatorischen Schaltkreis, in dem fürwahr — so Hegel — „kein Glied nicht trunken ist" und in dem auch jede Lücke — und auch davon fehlt keine irgendwelcher Art — geschlossen wird. Technische Apotheose auch hier. Jeder von uns eine Monade, im Vollbesitz aller Potenzen einer androgyn vollequipierten Welt: Tele-Orgasmus. Ubertreibe ich? Vielleicht. Aber man vergesse nicht: Übertreibung ist ein Prinzip der Wirklichkeit. Die morgige Wirklichkeit wird die Ubertreibung der heutigen sein — das ist es, was man Entwicklung' nennt.
3. Anästhetisierung — nur Verlust oder auch Rettung des Ästhetischen? N u r : Die Lage ist insgesamt weitaus uneindeutiger, als ich sie bislang geschildert habe. Die Anästhetisierung ist nicht nur und gewiß nicht überall als Negativum gegenüber einem Positivum namens Ästhetisierung zu verbuchen. Vielmehr ist auch sie — zumindest teilweise — positiv zu verstehen. Schon mein letztes Beispiel — der elektronische Garten der Lüste, in dem jegliche Sexualform verfügbar ist — könnte eine positive Vermutung nahelegen. Handelt es sich nicht um eine Art elektronischer Einlösung des erotischen Paradieses? (Und Einlösungen geschehen nie genau so, wie man sie sich gedacht hat; man darf schon froh sein, wenn die Heilsvisionen nicht direkt als Unheilsrealitäten zur Welt kommen.) Ist nicht zumindest der Universalitäts- und Verfügbarkeits-Vorteil gegenüber dem kleinen Anästhetisierungs-Nachteil als immens anzuerkennen ? „Interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio" — so hat man einst die Seinsweise Gottes charakterisiert. 7 Wird uns heute nicht telekommunikativ ähnliches zuteil? In meinem Beispiel: Alle erotischen Wünsche und ästhetischen Hoffnungen der Vergangenheit erlangen in der Welt der Telekom-
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Boethius, Trost der Philosophie, hrsg. und übers, von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon, Zürich 21949, S. 262 f. (5. Buch, 6. p.).
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munikation instantané Erfüllbarkeit. Anästhetische Simulation als Hypererotik der Zukunft — welche Vision (und mit welchen Vorteilen im Zeitalter von Aids)! Sollte Anästhetik am Ende generell als Hyperästhetik zu begreifen sein, als Erfüllung und Ubererfüllung aller ästhetischen Desiderate von einst?
4. Anästhetisierung als Lebensvorteil in einer technologisch veränderten Welt Ich gehe zu einem scheinbar noch einmal ganz anderen Punkt über. Anästhetik ist in der blank-technischen Realität zu einem obligaten Thema geworden, seit uns allen — mit dem 26. April 1986, dem Tag von Tschernobyl — bewußt wurde, daß die elementaren Bedrohungen unserer Gegenwart anästhetischer Art sind. Sinnlich kann man sie nicht mehr wahrnehmen, erst ihre Schäden betreffen — sprich: zerfressen — auch die Sinnlichkeit. Während man mit dem Kind in der Sonne spielte — ihm etwas ehedem Gutes zu tun glaubte —, hat man zu seiner Verstrahlung beigetragen. Gewiß gab es immer schon Nichtwahrnehmbares jenseits der Sinne, aber neuartig (und bösartig) an der gegenwärtigen Situation ist, daß auf unsere Sinne in deren eigenem Bereich nicht mehr Verlaß ist — und das mit drastischen Folgen. Früher, als die neue Wissenschaft des 17. Jahrhunderts den Sinnen alle objektive Wahrheit absprach — gerade genuin sinnliche Prädikate wie Farben oder Gerüche, sogar Wärme- oder Kälteempfindungen, sollten plötzlich ohne alle objektive Wahrheit sein —, da wurde ihnen doch andererseits wenigstens eine subjektive Wahrheit belassen, ja ausdrücklich attestiert. Darin, daß die Sinne uns über Leibzustände, über subjektive Zuträglichkeiten und Abträglichkeiten, über Nutzen und Schaden für uns als Lebewesen korrekt informieren, sollte ihre Verläßlichkeit und ihr eigentlicher Wert liegen. Aber die entwickelte Neuzeit ist — in ihrer gegenwärtigen, mikroelektronischen Metastase namens technologisches Zeitalter' — auch darüber hinausgegangen. Heute geben uns die Sinne nicht einmal über solche Zuträglichkeiten und Abträglichkeiten mehr zuverlässig Bescheid. Inzwischen ist ein entsprechendes Vertrauen in die Sinne — von der Kernenergie (dieser für die Sinne, wie eine infame Werbung sagte, „saubersten Energie") bis zum Supermarkt — nicht bloß antiquiert, sondern zur Falle geworden. Was uns angenehm ist, macht uns kaputt. Die Technologisierung hat die Wirklichkeit (die ,Natur' von ehedem) so sehr verändert, daß unsere vergleichsweise trägen, naturkonservativen (und das heißt auf eine immer weniger
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noch bestehende Wirklichkeit geeichten) Sinne nicht bloß unzuverlässig, sondern kontraproduktiv, zu Agenten des Falschen geworden sind. 8 , 9 Angesichts dieser Situation könnte einem, anästhetisch zu sein, gar zum Vorteil gereichen: Man würde nicht mehr zum Schädlichen verführt und glaubte sich nicht irrigerweise dort, wo die Sinne Sicherheit vermelden, auch tatsächlich sicher.,Anästhetik als Lebensvorteil' — dies bringt das Peinigende und Paradoxe unserer Situation auf eine Formel. Geht es — während die idealistische und romantische Tradition uns seit 200 Jahren das Ästhetischwerden als Vollendung des Menschen und der Gesellschaft angepriesen hat und während die geläufigen Theorien der Ästhetik noch immer auf Sensibilisierung setzen — inzwischen in Wahrheit um Desensibilisierung, ist Anästhetisierung zu einer positiven Aufgabe geworden ? Man kann nicht daran vorbei: In einer Welt der Reizüberflutung ist Anästhetisierung lebensnotwendig geworden. Man kann nur überleben, indem man sich für vieles unempfindlich macht. Schier wie ein Stoiker muß man sich wappnen und panzern, um nicht vom Chaos der Reize verschlissen zu werden. Konzentration — im Alltag wie im Museum — verlangt heute enorme Abwehrleistungen; ästhetische Einstellungen sind nur noch via Anästhetik zu realisieren. W i r müssen heute dem Gedanken nahetreten, daß Strategien der Anästhetisierung sogar Rettungspotentiale fürs Ästhetische selbst enthalten. Ich will (mit der gebotenen Mischung aus Ironie und Hoffnung) ein Beispiel anführen, das Beispiel einer medialen Simulations-Strategie zur Rettung sämtlicher Sehenswürdigkeiten unserer Welt vor ihrer drohenden massentouristischen Zerstörung denkbar — also eine effiziente Gegenstrategie gegen die Realdialektik der Schönheit, die darin besteht, daß das Schöne attraktiv ist und die Menschen dieser Attraktion auch folgen, mithin massenweise das Schöne aufsuchen und so auf Dauer den Gegenstand ihrer schönen Liebe zerstören. Vereinzelt gibt es heute schon qualitativ hochwertiges Videomaterial von touristischen Attraktionen. Jack Lang beispielsweise hat zur Schonung der Loire-
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Ulrich Beck hofft auf die Möglichkeit, die sinnlich verlorengegangene „Wahrnehmbarkeit der Gefahren" kulturell wieder herzustellen. So gewänne man „die Kompetenz des eigenen Urteils zurück" (Ulrich Beck, Gegengifte. Die organisierte UnverantwortlichkeiU Frankfurt a.M. 1988, S. 293). Wenn die einst so aufregende Diagnose Wolfgang Fritz Haugs von der warenästhetischen Pervertierung und Instrumentalisierung der Sinnlichkeit (vgl. Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M. 1977) heute etwas antiquiert anmutet, so liegt das nicht daran, daß sie widerlegt worden wäre, sondern daß sie von der Wirklichkeit verstärkend überholt wurde. Es bedarf gar nicht mehr einer manipulatorischen Ausnützung unserer Sinnlichkeit, um sie gegen unsere Interessen arbeiten zu lassen, dies geschieht vielmehr von allein.
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Schlösser vor den notorischen Omnibus-Karawanen eine interaktive Videodisk finanziert, die eine aufwendige und umfassende Führungstournee anbietet — zum Gebrauch im eigenen Wohnzimmer. Dieses Verfahren könnte man — etwa der UNESCO — zu globaler Anwendung empfehlen. Stellen Sie sich vor: Jeder Haushalt erhielte telekommunikativ Zugriff auf weltweit sämtliche Sehenswürdigkeiten; von staatlicher Seite würde die Versorgung garantiert und auch das entsprechende Equipment bereitgestellt (man muß ja nicht gleich an die Aufnahme derartiger Videorechte in den Katalog der Menschenrechte denken). Die Folgen wären offenbar wundervoll: uneingeschränkter Genuß aller Erlebnisqualitäten sämtlicher Stätten für alle Menschen zu jeder Zeit bei vollkommener Verschonung der betreffenden Orte vor massentouristischer Belastung; dadurch Abwendung der endgültigen Zerstörung dieser Kultstätten; in der Folge sogar Rekulturalisierungs-Chancen der touristisch schon weithin verwüsteten Regionen; zudem Reduzierung der immensen Umweltbelastung durch Verkehr; im ganzen also ein hocheffizienter Beitrag zum Fortleben der Menschheit auf höchstem kulturellen Niveau — und natürlich auch ein Beitrag zum Frieden, global wie regional: Florenz beispielsweise könnte sofort abrüsten — die vor 500 Jahren dort geborene Idee des uomo universale wäre televisionär finalmente Wirklichkeit geworden. 10 Gewiß kann ein solches Therapieverfahren — die Verlegung des Massentourismus ins medial voll ausgerüstete Eigenheim — nur funktionieren, wenn der Unterschied von Original und Simulation für die meisten Menschen schon keinen Unterschied mehr macht. Diese Bedingung aber ist zunehmend erfüllt. Für die Mehrzahl sind — etwa bei Kunstwerken — die Originale gegenüber ihren Simulationen schon heute bloß noch enttäuschend. Daher ist die Aussicht realistisch, daß gerade forcierte Anästhetisierung (und vielleicht sie allein) die Rettung ästhetischer Originalität zu leisten vermöchte — zumindest in solchen Fällen. Ich meine das durchaus ernst. Ich verkenne die Scheußlichkeit des Verfahrens nicht, aber es könnte das einzig praktikable sein — während alle anderen, alle konventionellen Verfahren dies auf Dauer nicht
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Natürlich wäre (während die Fünfjahrespläne der östlichen Hemisphäre im Verschwinden begriffen sind) an ein weltweites Fünfjahresprogramm des Videowechsels zu denken. Auf den Videos der ersten Generation kann ja ob der zunächst noch vorhandenen Touristenmassen nur relativ wenig von den Kultstätten zu sehen sein; das könnte sich erst in der zweiten Generation ändern (um in der dritten dann vielleicht schon zu weit zu gehen — denn welcher ehemalige Tourist ertrüge tatsächlich die Menschenleere, nach der er sich angeblich sehnt?); am besten wäre es also wohl, gleich weitergehende Möglichkeiten individueller Modulation einzubauen: stufenlose Variabilität beispielsweise zwischen Menschenfülle und Menschenleere, Morgenrot und Mittagslicht, Normalblick und Froschperspektive usw.
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sind, sondern die Zerstörung nur verstärken. — A m Ende mag es sich hier wie auch sonst bei operativen Therapien verhalten: Anästhesie dient — richtig angewandt — der Gesundheit. Wie weitgehend die Bequemlichkeitsvorteile des Surrogats — die Vorteile einer bloß medialen Präsentation anstelle der anstrengenden Wirklichkeit — heute schon genutzt werden, zeigt ein in den U S A kommerziell vertriebener Artikel, das sogenannte ,Video-Baby'. Es handelt sich um ein 8-Minuten-Band mit interaktiven Komponenten. D e r Benutzer hat sein Wunschbaby — Geburtszertifikat und Gesundheitsattest sind der Packung beigefügt — vor sich auf dem Bildschirm, kann sich dort also ungestört an ihm erfreuen und mit ihm auch kommunizieren. Es reagiert beispielsweise auf Sätze wie „Iß den Brei", „Lächle Mammi an" — und man kann sich denken: Die Folgsamkeit dieses Kindes ist vollkommen. A m Ende der acht Minuten kann man es dann auch noch in den Schlaf singen. 1 1 Auf der Verpackung steht: „Die volle, reiche Erfahrung der Elternschaft ohne das Durcheinander und die Lästigkeit der wirklichen Dinge ! Lieben Sie Kinder, haben aber keine Zeit, sich um sie zu kümmern? ,Video-Baby' ist für Sie!" Man sieht: Die mögliche Abkoppelung eines reibungslos funktionierenden ästhetisch-anästhetischen Szenarios von der immer (und im Fall von Babys natürlich besonders) widerspenstigen Realität wird heute schon vollendet genützt — vollendet scheußlich und vollendet signifikant zugleich. Diese Beispiel- und Problemreihe aus den gegenwärtigen Zeitläuften soll fürs erste genügen. Dreierlei wollte ich deutlich machen: daß wir heute auf verschiedenen Ebenen Ubergänge von Ästhetisierung in Anästhetisierung antreffen; daß dabei keineswegs generell sicher ist, daß die positiven Aspekte einzig bei der Ästhetisierung, die negativen hingegen bei der Anästhetisierung liegen; und daß eine Ästhetik unserer Zeit solchen Fragen sich stellen, daß sie Anästhetik zu einem zentralen Gegenstand ihrer Überlegungen machen sollte. Solche Anästhetik ist gewiß noch kein gesichertes Thema einer Disziplin, sondern vorerst ein Problem-Fokus, der zwischen Hölle und Paradies, Untergang und Ausweg, Unerträglichkeit und Unsäglichkeit schillert. Sicher scheint mir nur, daß heute in Sachen Ästhetik primär von Anästhetik zu sprechen wäre. Unsicher ist, wie das geschehen kann. Denn das Vorhaben trägt offenkundig paradoxe Züge. Wie kann man im Kontext von Ästhetik von Anästhetik sprechen, wie praktisch für Anästhetisches sensibilisieren? Solche Paradoxien sind nicht nur zuzugeben, sondern zu unterstreichen. Man muß sie heute bewußt auf sich nehmen — andernfalls passieren sie einem.
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Zitiert nach: Hans Ulrich Reck, „Imitieren? Klar, immer. Aber wie?", in: Basler Magazin, Nr. 47, 25.11.1989, S. 1-5, hier S. 2.
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Die logischen Einwürfe der philosophischen Zunft gegen ein solches Unterfangen sind nicht zu ignorieren, man sollte ihnen aber auch nicht umstandslos willfahren. Adorno hat einmal gesagt, wo „die Berufung auf Vernunft am promptesten eintritt" (und das ist beim logischen Exorzismus gegenüber Paradoxien gewiß der Fall), da könne man sicher sein, daß es „um die Apologie der Unvernunft" gehe.12 Diese Mahnung wäre zu beherzigen. Logische Eindeutigkeit um jeden Preis ist das Schibboleth, für das sicherheits-versessenes Denken, indem es auf nichts anderes mehr achtet, am Ende — gleichsam objektiv verhöhnt — den Preis seiner Irrelevanz bezahlen muß. Dem würde ich gerne entgehen. Man wird sagen: um den Preis anderer Illusionen. — Mag sein. *
Man wird bemerkt — vielleicht auch kritisch vermerkt — haben, daß ich im Vorausgegangenen die Ausdrücke .ästhetisch' und ,anästhetisch' nicht stets im gleichen Sinn verwendet und daß ich sie überdies auf unterschiedliche Phänomentypen bezogen habe.,Ästhetisch' konnte sich eng aufs Schöne oder weit auf Empfindung überhaupt beziehen, und ,anästhetisch' wies auf sehr unterschiedliche Empfindungslosigkeiten hin, auf soziale Unempfindlichkeit ebenso wie auf das Unempfindlichwerden für den Unterschied von Original und Simulation. Solch unterschiedliche Bedeutungen sind meines Erachtens zwar auseinanderzuhalten, aber auch zu erhalten, nicht namens einer Hauptbedeutung oder um eines terminologischen Saubermännertums willen zu eliminieren. Für den Umgang mit Ausdrücken wie ,ästhetisch' oder ,anästhetisch' ist, kurz gesagt, eine Orientierung an dem, was Wittgenstein .Familienähnlichkeit' nannte, hilfreich und nötig. Die semantischen Typen weisen Überschneidungen auf, ohne einem ,Wesen' zu folgen. Das Interessante sind die Unterschiede.
II. Historischer Teil: Ästhetik und Anästhetik in der Tradition, insbesondere der Moderne Im zweiten, historischen Teil will ich nun fragen, wie die Tradition mit diesem Doppel von Ästhetik und Anästhetik umgegangen ist. Mein Augenmerk gilt dabei insbesondere der Moderne als derjenigen Epoche, gegenüber deren Intentionen wir heute allgemein Veränderungen vorzunehmen Anlaß haben.
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Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1973, S. 88.
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Während die vorausgegangenen Epochen (exemplarisch in Gestalt der Metaphysik) das Heil des Menschen in einer Ubersteigung der Sphäre des Sinnlichen auf die des Ubersinnlichen hin suchten 13 — der metaphysische Weg des Menschen führt von Ästhetik zu Anästhetik — , hat die Moderne dementgegen die Ästhetik als Modell und Ideal des Menschen proklamiert. Ihr zufolge ist volles Menschsein nur durch vollendete Ästhetisierung zu erreichen. Die Ästhetik war eben nicht bloß irgendeine neue wissenschaftliche Disziplin der Aufklärung, sondern eine ihrer größten Hoffnungen. Am ästhetischen Wesen sollten — seit circa 1750 — Mensch und Welt genesen. Der „felix aestheticus" wurde zum neuen Idealtyp des Menschen erklärt; der „ästhetische Staat" rückte in den Rang des wahrhaften Staates auf; sogar von der Philosophie des Geistes hieß es bald, sie müsse eine „ästhetische Philosophie" sein, weil „der höchste Akt der Vernunft" ein „ästhetischer A k t " sei. 1 4 Alles Heil, das man früher in Anästhetisierung gesucht hatte, sollte nun in Ästhetisierung liegen. Anästhetik hingegen galt bloß noch als Name eines Defizits, als Signatur einer falschen Gesellschaft des Zwangs. Gegen sie hißte die Ästhetik die Flagge der Freiheit. An diesem ästhetischen Traum hielt die Moderne selbst dort noch fest, wo eine Vollendung der Gesellschaft durch Ästhetisierung längst unglaubhaft geworden war. Das ästhetische Phantasma der Moderne verschiebt, erneuert oder transformiert sich — nur verschwinden will es nicht. Es verschiebt sich beispielsweise zu Wagners Idee der Erlösung durch ein ,Gesamtkunstwerk', das nun zwar nicht mehr alle Schichten der Gesellschaft, aber doch wenigstens — sozusagen stellvertretend — alle Gattungen der Kunst umfassen und vereinigen soll; es erneuert sich in den Bestrebungen von Werkbund und Bauhaus, die — gegen die industrielle Barbarisierung gewandt — noch einmal eine künstlerische Durchgestaltung der Gesellschaft im ganzen versuchen (wobei sie freilich ihrerseits ästhetischen Vereinseitigungen Vorschub leisten, die bald die Grenze zur ästhetischen Barbarei überschreiten werden); und es transformiert sich schließlich in die Sensibilisierungs-Programme der sechziger und siebziger Jahre, die
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Der Metaphysik geht es geradezu definitorisch um den Aufstieg von der sinnlichen Wesenheit, der ousia, zur über-sinnlichen, zur an-ästhetischen Wesenheit; schon Piaton spricht von anaistheta eide und sagt von ihnen, daß sie allein noetisch zugänglich sind (Timaios, 51 d). Vgl. Friedrich Schiller, „Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen" (in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München 6 1980, S. 570-669, hier 27. Brief, S. 66) sowie das ,älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus' (Mythologie der Vernunft. Hegels ,ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus', hrsg. von Christoph Jamme und Helmut Schneider, Frankfurt a.M. 1984, S. 11-14, hier S. 12).
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manchen noch immer als aktuell erscheinen, obwohl sie von einer bald zu benennenden Blindheit geschlagen sind. Das moderne Ästhetik-Projekt war im Grunde nur die umgekehrte Einseitigkeit zur metaphysischen Anästhetik-Tendenz. Dagegen scheint es heute geboten, weder einfachhin für Ästhetik noch für Anästhetik zu plädieren, sondern das Augenmerk auf die Verkoppelungen, auf das Wechselspiel und die Verflechtungen von Ästhetik und Anästhetik zu richten. Was läßt sich dafür — das wird nun das Thema des dritten und abschließenden Teiles sein — an sachlichen Gründen, systematischen Nötigungen und Erkenntnischancen benennen ?
III. Systematischer Teil: Das Doppel von Ästhetik und Anästhetik Meine Hauptthese ist, daß die Anästhetik der Ästhetik nicht von außen zustößt, sondern aus ihrem Inneren kommt. Alles Ästhetische ist schon als solches unweigerlich — nur meist ungesehen und unbeachtet — mit Anästhetischem verbunden.
1. Wahrnehmungspsychologische und wahrnehmungsphänomenologische Befunde So hat uns die Gestaltpsychologie gelehrt, daß zu jedem Wahrnehmen ein Nicht-Wahrnehmen gehört und daß solche Selektivität für das Wahrnehmenkönnen konstitutiv ist. Neurophysiologische Untersuchungen haben diesen Zusammenhang inzwischen noch besser verständlich gemacht: Kognitive Systeme können generell nur, weil sie selbstreferentiell geschlossen sind, umweltoffen operieren. Wir sehen nicht, weil wir nicht blind sind, sondern wir sehen, weil wir für das meiste blind sind; und etwas sichtbar zu machen heißt, im gleichen Akt etwas anderes unsichtbar zu machen. — Keine aisthesis ohne anaisthesis. Das gilt nicht nur innerhalb eines Sinnesgebietes, sondern ebenso zwischen den verschiedenen Sinnesgebieten. Das Wahrnehmungsfeld des Sehens beispielsweise ist anders strukturiert als das des Hörens. Während das visuelle Feld eines des Uberblicks, der Uberschau, der Beherrschung ist und eine prinzipiell homogene, isotrope und von einem Punkt aus zu beherrschende Struktur aufweist, ist das Feld des Hörens bipolar verfaßt und ereignishaft strukturiert. Wegen dieser Unterschiedlichkeit bedeutet die Bevorzugung eines Sinnestyps vor den anderen eine nicht bloß ästhetische, sondern zugleich anästhetische Ent-
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Scheidung: Sie drängt die andere Struktur ins Abseits, in die Latenz, oft gar ins Vergessen. Die abendländische Bevorzugung des Sehens ist ein klassischer Fall dafür und ist besonders einschneidend wegen ihrer Fortsetzung im Ideal der Theorie, die ja eben jenes ,Betrachten' ist, das ganz und gar auf Distanz und Uberschau setzt — im Unterschied etwa zum Betroffensein und Involviertsein des Hörens. Infolge dieses Distanz- und Überlegenheitspathos kann sich die Theorie dann auch fatal immun verhalten gegen das, was sie der Realität antut — und das ist nicht wenig. Foucault hat in Überwachen und Strafen gezeigt,15 wie nötig eine Kritik am abendländischen Visualprimat und Panoptismus wäre, denn wo das optische Weltverhältnis regiert, da gerät die Welt zu einer gigantischen Überwachungsanstalt vor dem Auge des Geistes (idealistisch dem Auge der Urania); diese Gesetzlichkeit reicht von den Strafanstalten bis zu den Weltszenarien der Wissenschaft. — Angesichts solcher Wirklichkeitsfolgen von Sinnesentscheidungen und Sinnespräferenzen gälte es, auf die Verkoppelung von Ästhetik und Anästhetik kritisch aufmerksam zu werden. Noch jede Ästhetik hat sich durch ihre Gewinne zu empfehlen gewußt — es käme darauf an, ihrer Verluste gewahr zu werden. Des weiteren ist eine vertikale Ästhetik-Anästhetik-Relation innerhalb einer jeden Wahrnehmungsart zu berücksichtigen. Jeder Wahrnehmungstyp ist zweistufig. Da ist erstens seine Erschließungsleistung mit ihrer spezifischen Typik — beim Sehen etwa die Erschließung des Sichtbaren nach bestimmten Form- und Farbschemata —, und zweitens ist da der einzelne Wahrnehmungsakt — das Sehen dieses Gesichts hier, jener Farbkombination dort. Ich will das erste den horizonthaften, das zweite den aktuellen Sinn des Wahrnehmens nennen. Die Philosophie ist auf die horizonthaften Momente des Wahrnehmens immer sehr aufmerksam gewesen. So hat sie — beispielsweise bei Kant — transzendentale oder reine Anschauungs/brmera von empirischen Anschauungen unterschieden, und sie hat generell auf die Originarität und Unsubstituierbarkeit der Einzelsinne geachtet. Deren originärer Charakter wurde ihr sogar zum Anlaß, einen allgemeinen, trans-sensuellen Wahrnehmungsbegriff zu etablieren, der überall dort zur Anwendung gelangt, wo man es mit ersten, unableitbaren Erschließungsleistungen zu tun hat. In diesem Sinn sprach beispielsweise Aristoteles nicht nur von sinnlicher, sondern auch von ethischer oder politischer Wahrnehmung. 16 Aber über dieser Eröffnungsleistung der Wahrnehmung hat man ein anderes Moment zu wenig beachtet, das für den tatsächlichen Wahrnehmungsvollzug
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Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975; dt.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers, von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI 12, 1143 b 5 sowie Politik, 12, 1253 a 15-18.
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essentiell ist. Die horizonthafte Typik taucht für das aktuelle Wahrnehmen nicht auf, sondern liegt ihm konstitutiv im Rücken. Man sieht sichtbare Gegenstände, nicht das Sehen oder die Sichtbarkeit. Aktuelles Wahrnehmen ist objektbezogen, geht nach vorne und ist genau dadurch effizient. Das bedeutet freilich, daß dem Wahrnehmen selbst eine Art Anästhetik eingeschrieben ist. Seine eigene Spezifität — seine Schemata und Prägungen einschließlich der damit gesetzten Beschränkungen — bleiben ihm eigentümlich verborgen. Und diese interne Anästhetik ist eine notwendige Bedingung seiner extern-ästhetischen Effizienz. Die Folgen dieser internen Anästhetik aber sind tückisch. Man kann sie auf den Generalnenner des Objektivismus bringen. Weil die Spezifität unbewußt bleibt, meinen wir, die Dinge seien einfach so, wie wir sie wahrnehmen. Diese interne Anästhetik der Sinne ist für den objektivistischen Wahrnehmungsglauben konstitutiv. Natürlich kommt es dann auch zu Verkoppelungen interner und externer Anästhetik. Indem das jeweilige Wahrnehmen als objektiv und richtig erscheint, negiert es guten Gewissens die gleichen Rechte anderer oder abweichender Wahrnehmungsformen. Es kann nicht glauben, daß an seine Stelle etwas anderes, gar Besseres treten könnte, daß seine Perspektive überschreitungsbedürftig wäre. So werden Anästhetik und Absolutismus zum Paar. 2. Kulturelle Grundbilder Was ich bislang bezüglich des einfachen Wahrnehmens dargestellt habe, gilt ebenso für höherstufige, inhaltlich aufgeladene Wahrnehmungsformen.17 Gerade die Grundbilder, die unseren Wirklichkeitszugang leiten — unsere ,archetypischen' Schemata (die ich freilich als durchaus kulturelle und soziale Prägungen verstehen möchte) — , sind in drastischer Weise mit einer immanenten Anästhetik verbunden. Sie haben den Anschein der Selbstverständlichkeit und Objektivität nur gewinnen können, weil sie für sich selber blind sind und blind machen. Gerade hier aber wird das Verhältnis von Ästhetik und Anästhetik schmerzlich relevant. Denn wer diese Bilder, die unsere individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit prägen, nicht irgendwann in ihrer Spezifität vor Augen bekommt,
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Meine These ist, daß man die Virulenz anästhetischer Momente nicht an einer einzigen Phänomenstelle festmachen kann, sondern mit sehr unterschiedlichen Auftrittsflächen und Funktionsweisen von Anästhetischem rechnen muß. Das unterscheidet meine Position von derjenigen Jean-François Lyotards, für den Anästhetik generell auf den Entzug eines ,Urphänomens' verweist, das dann seinerseits durch verschiedene Namen wie Kindheit, Materie, Präsenz etc. belegt werden kann.
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der wird, in ihrem undurchschauten Glanz sich sonnend, ein Leben lang nach ihrer Pfeife tanzen müssen. Ich denke etwa daran, wie Bilder von Mann und Frau, von Geschlechtlichkeit und idealem Zusammenleben, die uns in der familiären und sozialen Kindheit eingesenkt wurden, unser Wahrnehmen und Verhalten fortan imprägnieren und bestimmen. Stets handeln wir im Duktus solcher Grundbilder. Gerade als unbewußte sind sie wirksam. Eben indem diese Bilder — die doch ihrer ganzen Art nach ästhetisch sind — die Tarnkappe des Anästhetischen übergezogen haben, also in anästhetische Latenz getreten sind, wurden sie verbindlich', d.h. zwingend. Solche Bilder sind Fallen. Sie haben zugeschnappt, als man an sie sich hielt. Nachher wird man wie Wittgenstein sagen: „Ein Bild hielt uns gefangen. U n d heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen." 1 8 — Aber wie gelangt man ins Nachher, wie kommt man aus diesen Bildern heraus? A m ehesten wohl über Bilderfahrung und Bildarbeit, welche diese vorgängigen Prägungen mühevoll exponiert. Man darf sich dieses Hervorholen nicht zu leicht vorstellen. Denn die Bilder sind untereinander verflochten und stützen sich wechselseitig. In ihrem Dickicht muß man mit lateralen Kraftbeiständen rechnen, sobald das Potential eines dieser Grundbilder bedroht ist. Eine schlagartige Veränderung im Ganzen wird einem in den seltensten Fällen geschenkt, die verbleibende Alternative aber, die sukzessive Durcharbeitung, bleibt schwierig und langwierig. Auch die ästhetische Psychoanalyse hat kein Ende.
3. Moderne Kunst: Anästhetik als Fokus Die Kunst dieses Jahrhunderts arbeitete weithin daran, solche Latenzen aufzubrechen. U n d da es sich um Bilder, also um im Grunde ästhetische Prägungen handelt, liegt hier auch eine besondere Kompetenz künstlerischer Arbeit; bedenkt man zudem, wie sehr die traditionelle Kunst solche Bilder verstärkt und propagiert hat, wird man hierin auch eine Pflicht der Kunst erkennen. Wenn beispielsweise Francis Bacon Velazquez' Porträt von Innozenz X. neu bearbeitet, so auch, um in unserem psychischen und sozialen Bilderhaushalt einen Typus von Machtinszenierung dadurch abzuarbeiten, daß er ihn zum Schreien bringt. Ahnliches gilt von der Kunst von Frauen mit feministischer Zielrichtung. Sie brechen gesellschaftliche Grundbilder oft von Seitenwegen her auf und machen
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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Nr. 115.
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sie dadurch veränderbar. Sie intervenieren (der Verflechtungen übrigens meist sehr bewußt) in unserem psychosozialen Bilderhaushalt. Subversiv ist ihre bildnerische Arbeit, indem sie die emotionalen Valenzen solcher Grundbilder aktivieren und sie damit aus der sicheren Festung ihrer Anästhetik herausholen. 19 Ebenso denke ich an Werke der arte povera. Sie decken auf, wie auch in uns, die wir uns so stolz tabulos geworden wähnen, noch Standards gesellschaftlicher Primärwahrnehmungen — etwa hinsichtlich der Wertigkeit von Materialien — zumindest subkutan wirksam sind. Ähnlich haben schon Jean Dubufett und die art brut mit alternativen Wahrnehmungsformen — von Primitiven, Kindern, psychisch Kranken — operiert. Auch wenn gegenüber der Meinung, hier werde auf ein ursprüngliches Wahrnehmen rekurriert, Skepsis angebracht ist (meist handelt es sich bei dem, was man solcherart als ursprünglich betrachtet, nur um eine Rückprojektion), so lehrt doch die Konfrontation mit derlei abweichenden Perzeptions- und Gestaltungsformen, wie sehr ästhetische Erwartungshaltungen eingeschliffen sind und in ihrer Selbstverständlichkeit durch eine eigentümliche Anästhetik gedeckt werden. Just diese Anästhetik macht aus Spezifität scheinbare Objektivität. Diesen Mechanismus aufzubrechen — nicht eine hypostasierte Ursprünglichkeit — macht das ,Wilde' dieser Kunst aus. Am Ende ist eine anästhetische Grundhaltung — gegen all die schönen und etablierten Angebote des Ästhetischen — die Methode der Wahl zur Aufdeckung der Anästhetik alles Ästhetischen. Daher hat die Kunst dieses Jahrhunderts, der das Ästhetische als solches suspekt geworden war und die den ästhetischen Gewohnheiten — den alltäglichen der Sinne wie den durch Kunsttradition eingeübten — mißtraute, radikale Schnitte gesetzt. Exemplarisch geschah das in jener berühmten Szene aus Buñuels Andalusischem Hund von 1928, wo ein Rasiermesser durch ein Auge schneidet. Und prototypisch repräsentiert die Anästhetik der modernen Kunst Marcel Duchamp, der von seinen ,Readymades' sagte, daß ihre Wahl „nie von einer ästhetischen Lust diktiert wurde", sondern auf einer „Reaktion visueller Indifferenz" beruhte, „bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack [...] in der Tat eine völlige Anästhesie". 20 Da ist mein Thema erstmals bei einer Hauptfigur der Kunst dieses Jahrhunderts Aussage und Bekenntnis geworden. Seither arbeitet die
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Valie Export hat eindringliche Arbeiten in diese Richtung unternommen, und Katharina Sykora erhebt die Forderung nach der „Zerstörung patriarchal codierter Weiblichkeitsbilder" sowie nach einem „feministischen Ikonoklasmus" (Katharina Sykora, „Verletzung — Schnitt — Verschönerung. Filmische Freilegungen", in: Blick-Wechsel.
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von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, hrsg.
von Ines Lindner u.a., Berlin 1989, S. 358-367, hier S. 365 bzw. S. 366). Marcel Duchamp, „Hinsichtlich der ,Readymades"', in: ders., Die Schriften, hrsg. von Serge Stauffer, Zürich 1981, S. 242.
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Kunst an Überschreitungen des Sinnenhaften, am Bruch mit dem Ästhetischen, am Ubergang zu komplexen Doppelbewegungen von Ästhetik und Anästhetik. Das scheint mir geradezu den Pulsschlag und die Relevanz der modernen Kunst auszumachen. Auf diese Kunst muß man die Frage von Ästhetik und Anästhetik nicht erst projizieren — sie bildet längst ihren Nerv.
4. Für eine Kultur des blinden Flecks Vielleicht aber möchte mancher Leser seit einiger Zeit einen Einwand machen: Rede ich in diesem dritten Teil nicht letztlich doch wieder einer Ästhetisierung von allem, einer ästhetischen Eroberung nun auch noch des Anästhetischen und damit einer Art neuer Gesamt-Erlösung durch Ästhetik das Wort — falle ich also nicht erneut ins typisch moderne Projekt der Ästhetik zurück? Ich will eine abschließende Klarstellung versuchen: Gewiß geht es auch in der von mir vorgeschlagenen Perspektive um die Vielfalt ästhetischer Möglichkeiten, Paradigmen und Versionen — aber nicht um ihres akkumulierten Reichtums und einer vollendeten Integration willen, sondern im klaren Bewußtsein ihrer konstitutiven Divergenz und Unversöhnbarkeit, also angesichts des unbeendbaren Doppelverhältnisses von Erschließung und Ausschluß, Gewinn und Verlust, Bekundung und Verdrängung — angesichts dieses ratio essendi alles Ästhetischen. Auf eine Art von Sensibilisierung kommt es also auch mir an: auf die Sensibilisierung für das stets vorhandene Doppelverhältnis von Ästhetischem und Anästhetischem. Die Aufgabe bestünde darin, daß der Ausschluß, der zu jeder ästhetischen Errungenschaft als Kehrseite gehört, nicht in anästhetischer Latenz verbleibt, nicht bewußtlos einfachhin vollzogen wird. Man sollte um dieses Gesetz wissen — um der Folgen willen. Fortan würde man nicht mehr nur die Frage nach den ästhetischen Gewinnen, sondern auch die nach den Verlusten und der Unterdrückung anderer ästhetischer Möglichkeiten stellen. Man würde diese Möglichkeiten zumindest andeutungsweise auch erkennen und skizzieren können; und vor allem wäre man gegen die Gefahr erneuter ästhetischer Verabsolutierung gefeit. Sensibilisierung für das Doppel von Ästhetik und Anästhetik also, darum geht es mir — aber nicht um einer Aneignung des Anästhetischen, sondern um einer größeren Gerechtigkeit ihm gegenüber willen. Im Unterschied zum typisch modernen Traum einer Entfaltung der vollen Möglichkeiten des menschlichen Wesens, der Bildung des Individuums zum uomo universale und der Gesellschaft zum ästhetischen Staat, im Unterschied zu diesem modernen Programm ästhetischer Akkumulation bedürfen wir eher einer Sensibilisierung für Pluralität und Differenz, Einschnitte und Ausschlüsse und der Einsicht in die Unübersteigbarkeit und Unbeendbarkeit der Komplexion von Ästhetik und Anästhetik.
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Gegen die moderne Utopie einer total-ästhetischen Kultur gälte es, eine Kultur des blinden Flecks zu entwickeln. Kritische Kultur müßte darin eine ihrer wichtigsten Aufgaben sehen. Kritisches Philosophieren müßte dem zuarbeiten und müßte zu diesem Zweck bereit sein, auch die eigene leitende Bildlichkeit jeweils kritisch zu befragen. Philosophische Ästhetik hätte Anästhetik zu einem ihrer thematischen Pole zu machen. Eine solcherart der Anästhetik bewußte Ästhetik würde zu einer Schule der Andersheit. Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit wären für sie Grundkategorien. Gegen das Kontinuum des Kommunizierbaren und gegen die schöne Konsumption setzte sie auf Divergenz und Heterogenität. Buñuels Schnitt durch das Auge bleibt aktuell. *
Wenn ein Klassiker der Moderne wie Paul Valéry die Überschreitung der ästhetischen zu einer — wie er sagte — ,ästhesischen' Wahrnehmung forderte, die alle Sinne global und überlegt einbezieht, so scheint mir das nicht genügend zu sein. Es bleibt einer Perspektive des Reichtums und der reinen Positivität des Ästhetischen verhaftet. 21 Spätere Künstler wurden für die fatalen Kehrseiten einer weiterhin nur auf Aneignung ausgerichteten Ästhetisierung sensibler. Sie haben Werke der Verweigerung geschaffen, Werke, deren Aneignung fehlschlägt. Ebenso: Wenn Paul Klee sagte, Kunst gebe nicht das Sichtbare wieder, sondern mache sichtbar, so blieb auch das — wie Valérys Option — unter der Schwelle der neuen Anästhetik. Klee setzt eher jenen Zug der traditionellen Kunst fort, der sich die Darstellung des Unvorstellbaren — des Heiligen Geistes etwa oder der Apokalypse — zutraute, darin aber dem imperialen Gestus unserer Kultur verbunden blieb. Traditionelle Kunst hat uns gemeinhin — im Medium des Scheins — unserer Macht versichert: „Wir können alles zeigen, alles vergegenwärtigen", so lautete die implizite Botschaft. Dies Macht-Phantasma aber zerstiebt heute angesichts der Krise der Industriegesellschaft. Künstler haben es schon lange nicht mehr geteilt. Sie haben .unsichtbare Objekte' geschaffen, Werke der Unbemächtigbarkeit. Ich denke etwa an Walter de Marias Vertikalen Erdkilometer — ein exemplarisches Werk des Entzugs; oder an Werke der Minimal
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Ahnliches gilt für Richard Rortys Idee einer ,ästhetisierten Kultur': „Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, daß wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind. Sie wäre eine Kultur, die gerade dadurch, daß sie zu schätzen weiß, daß alle Prüfsteine solche Artefakte sind, sich die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel setzte" (Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989, S. 99). — Diese Vorstellung bleibt ganz und gar akkumulatorisch.
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art — an diese Maxima von Anästhetik bei minimalem ästhetischem Aufwand; oder auch an manches in den heutigen Tendenzen dekonstruktivistischer Architektur. — In alledem tritt Kunst als Instanz des Anästhetischen der schwülen Sensitivität einer Aneignungsgesellschaft gegenüber. *
Ich habe mich — in diesem Versuch, die Richtung von Überlegungen anzudeuten, die mir heute nötig erscheinen — mehr auf die bildende Kunst als auf die sprachlichen Künste bezogen. Ich finde die entwickelte Perspektive aber auch dort bestätigt und schließe mit Worten aus der Büchner-Preis-Rede von Botho Strauß. Er sagte vom Dichter: „Inmitten der Kommunikation bleibt er [...] zuständig für das Unvermittelte, den Einschlag, den unterbrochenen Kontakt, die Dunkelphase, die Pause. Die Fremdheit." 22
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Botho Strauß, „Die Erde ein Kopf. Rede zum Büchner-Preis 1989", in: DIE ZEIT, Nr. 44, 27.10.1989, S. 65 f., hier S. 65.
2. Musik, Malerei, Literatur
Rationalität und Zufall — John Cage und die experimentelle Musik in Europa Hermann Danuser
Der Ausgangspunkt dieses Beitrags liegt in einem weitverbreiteten Irrtum über das, was mit dem Thema — „Rationalität und Zufall — John Cage und die experimentelle Musik in Europa" — angesprochen ist. Dieser Irrtum besteht in der Annahme, die in der sogenannten Darmstädter Schule zentrierte Entwicklung einer seriellen Musik nach 1950 sei in ihren rationalen Prämissen erst durch den Auftritt John Cages bei den Darmstädter Ferienkursen im Sommer 1958, als Cage den Zufall als primäre Instanz proklamierte, erschüttert worden, weil man habe erfahren müssen, daß die Klangresultate total determinierter und total indeterminierter Musik übereinstimmten, die Anstrengungen der modernen Rationalität mithin, da mit den Ergebnissen des Zufalls identisch, als hohl und überflüssig entlarvt worden seien. Dieses Geschichtsbild, das seine Beliebtheit ebenso einer griffigen Einfachheit wie einer latenten Polemik gegen die Grundlagen der Neuen Musik verdanken dürfte, ist falsch. Mein Versuch einer Korrektur umfaßt vier Aspekte: historisch-chronologische, poetologisch-systematische, terminologische und ästhetische, und ich hoffe, daß dabei einige Berührungspunkte mit Jean-François Lyotards Philosophie einer experimentellen Kunst, die Cage als einen Hauptrepräsentanten versteht, deutlich werden können.
1. Musikgeschichte als Interaktionsprozeß Wenn wir, statt Musikgeschichte als Werkgeschichte zu verstehen, die Handlungen der beteiligten Akteure ins Blickfeld rücken, dann zeigt sie sich uns als ein Prozeß von Konflikten, Verwerfungen, Freund- und Feindschaften mit Zügen ungeahnter Dramatik. Dies gilt seit jeher und ist eine der Grundlagen, von denen die — noch immer populäre — Biographik zehrt. Selten aber dürfte dieser Aspekt spannender und im Blick auf die Kompositionsgeschichte wichtiger gewesen sein als in der europäischen Musikkultur nach 1950, als die serielle Neue Musik wie eine Insel inmitten eines Meeres traditioneller, neoklassizistischer Musik sich zu behaupten hatte und die Darmstädter Akteure — genannt
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seien für die Zeit nach 1952 vor allem Stockhausen, Boulez, Pousseur, Nono und Maderna — als eine richtungsweisende Gruppe auftraten, obwohl ein jeder durchaus eigenständige künstlerische Ziele verfolgte. Die Musikgeschichte der fünfziger Jahre ist in diesem Sinne noch nicht geschrieben. 1 Um sie je schreiben zu können, müßten die einzelnen Schritte, die biographisch-künstlerischen Interaktionen viel umfassender untersucht sein, als es derzeit der Fall ist. Einiges aber läßt sich bereits heute genauer wissen. Cages Darmstädter Auftritt 1958 hätte, wäre er wirklich ein unvorbereitetes, überraschend von außen einbrechendes Ereignis gewesen, keine so folgenreiche musikhistorische Bedeutung erlangen können. Cage aber kam damals nicht zum ersten Mal und schon gar nicht als ein Unbekannter nach Europa. Pierre Boulez zum Beispiel war seit Cages dreimonatigem Pariser Aufenthalt im Jahre 1949 für einige Zeit eng mit ihm befreundet, und der Briefwechsel zwischen den beiden aus den Jahren 1949 bis 1954, der seit kurzem im Druck vorliegt, 2 erzwingt eine Revision der Musikgeschichtsschreibung jener Epoche. Cage kam dann nicht erst 1958 wieder nach Europa, sondern bereits im Jahre 1954 zu Konzerten in Donaueschingen und Köln, der Pianist David Tudor brachte weiterhin noch mehrfach Cagesche Musik in Europa zu Gehör, Texte von ihm wurden in europäischen Zeitschriften publiziert, und umgekehrt setzte sich Cage in Amerika publizistisch und organisatorisch für die Musik seiner jungen europäischen Kollegen ein. In den fünfziger Jahren verband sie also, trotz mancher Entfremdung, ein gewisses, gegen den Strom der Konvention und Tradition gerichtetes Gemeinschaftsgefühl in Sachen Neuer Musik. Cages kompositionsgeschichtliche Bedeutung von 1958 an aber konnte nur aufgrund einer Prädisposition der europäischen Neuen Musik, einer Krise des seriellen Komponierens, zustande kommen, deren „Vorgeschichte" bereits wesentlich von einer Dialektik zwischen Rationalität und Zufall geprägt war.
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Vgl. z. B. Die Musik der fünfziger Jahre. Versuch einer Revision. Sechs Beiträge, hrsg. von Carl Dahlhaus (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 26), Mainz 1985. Musik 50er Jahre, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Dietrich Stern (= Argument-Sonderband AS 42), Berlin 1980. Verf., Die Musik des 20. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. von Carl Dahlhaus, Bd. 7), Laaber 1984, S. 284 ff. Pierre Boulez und John Cage, Correspondance et documents, hrsg. von Jean-Jacques Nattiez in Zusammenarbeit mit Françoise Davoine, Hans Oesch und Robert Piencikowski (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 1), Winterthur 1990.
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2. Klangforschung Ein erstes zentrales Feld, in dem europäische Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg sich mit Cage auseinandersetzten, betraf die Erforschung des — Ton und Geräusch umfassenden — Klanges, welcher sich Cage schon seit den späten dreißiger Jahren gewidmet hatte. Die frühesten Dokumente, die wir von Boulez und Stockhausen über ihn kennen, beziehen sich darauf: Boulez gab am 24. Juni 1949 anläßlich der Pariser Erstaufführung von Cages Sonatas and Interludes für präpariertes Klavier eine Einführung in dieses Werk; Stockhausen erwähnt es erstmals im Arbeitsbericht 1952/53. 3 Cages Klangforschungen mußten von hohem Interesse sein, weil die jungen europäischen Komponisten um und nach 1950 im Willen, auf musiksprachliche Elemente der Vergangenheit zu verzichten und statt dessen eine neue, von Assoziationen freie Morphologie größtmöglicher Reinheit und Absolutheit zu schaffen, sich ebenfalls auf der Suche nach Begründungen der Kategorie Klang befanden, zumal in der naturwissenschaftlich orientierten frühen Elektronischen Musik. Im Unterschied zur später üblich gewordenen europäischen Sicht, die an Cage meist das Amerikanische als ein Fremdes, Traditionsloses hervorhebt — mit negativen oder positiven Vorzeichen — , sieht ihn Boulez im erwähnten Text von 1949 in einer deutlichen Parallelität zu den jungen Europäern, indem er seinen Status als Schüler Arnold Schönbergs und Komponist dodekaphoner Werke betont und sein Bestreben hervorhebt, diese Stufe des Komponierens zu überwinden. Die den Zyklus Sonatas and Interludes bestimmende Verbindung einer ganz neuen Klangwelt durch die Präparation des Klaviers einerseits, bei der Metall-, Gummi- und Holzstücke nach genauer Vorschrift zwischen die einzelnen Saiten geschoben werden, und einer vorklassischen Form mit starren Wiederholungen von Teilen andererseits wird von Boulez allerdings beargwöhnt. Er erkennt darin ein Ineinandergreifen zweier völlig verschiedener Welten und meint, man könne dieses nur unter Rekurs auf eine nicht-musikalische Dialektik begreifen, womit ein Terrain gefährlicher Ambiguitäten beschritten würde. Boulez' Kritik ist weniger eine an einer postmodernen Komposition avant la lettre, als daß sie jenes Auseinander klaffen von Form und Materialstruktur moniert, das er noch weit schärfer an den neoklassizistischen Werken der Schönbergschen Dodekaphonie kritisiert.
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Karlheinz Stockhausen, „Arbeitsbericht 1952/53: Orientierung" [erschienen in Structure 1958/1, Amsterdam], in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1. Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln 1963, S. 33f. Vgl. Carl Dahlhaus, „Neue Musik und Wissenschaft", in: Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität. Ein deutsch-französisches Kolloquium, hrsg. von Kurt Hübner und Jules Vuillemin, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 107ff.
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Notenbeispiel 1: Cage, aus: Sonatas and Interludes Das Experimentelle bezieht sich hier auf die Erkundung neuer Bezirke musikalischen Klangs, die jenseits der herkömmlichen gleichschwebend-temperierten Tonskala liegen und auch den Bereich des Geräuschs umfassen. 1949 erwähnt Boulez übrigens wohlwollend ein von Cage entworfenes, damals allerdings nicht realisiertes Projekt eines Zentrums für experimentelle Musik, in dem Techniker und Musiker bei akustischen Forschungen aller Art zusammenarbeiten sollten, ein Projekt also, das allzu nahe auf sein eigenes, 1974 gegründetes Pariser IRCAM verweist, als daß man die Verwandtschaft übersehen könnte. 4 Die Relevanz dieses — den Begriff des Experimentellen naturwissenschaftsanalog fassenden — Aspektes des Cageschen Schaffens für die jungen Europäer um 1950 kommt, wie erwähnt, auch in dem Text zum Ausdruck, in dem Karlheinz Stockhausen 1952/53 Cage erwähnt. Er stellt ihn hier zwischen Edgard Varese und Pierre Schaeffer, indem er anhand von Music festival für zwei präparierte Klaviere und Construction in metal für eine Schlagzeuggruppe Cages Bedeutung für eine werkspezifische Individualisierung der Klangkategorie hervorhebt — und zwar durchaus im Blick auf sein eigenes damaliges kompositorisches Ziel einer „Übereinstimmung der Formgesetze mit den Bedingungen des Materials" : „Der Komponist [seil. Cage] macht also bei den gegebenen Instrumenten nicht mehr Halt und verwendet sie nicht als etwas Fertiges, unabhängig von der einzelnen Komposition Vorgeformtes, sondern er beginnt, auch den Klang in die Struktur eines Werkes einzubeziehen, die Klangfarben ihrer physikalischen Natur nach zu kom-ponieren in Hinsicht auf die Funktion, die sie in der Form des geplanten Werkes haben sollen." 5
3. Planmäßigkeit und Zufall bei der Vorordnung des musikalischen Materials Will man die Beziehungen zwischen Cage und den europäischen Komponisten der Nachkriegszeit ergründen, dann muß man sich davor hüten, das Klischeebild von Cage als einem clownesken, fernöstlich-angehauchten „Neodadaisten", dem alles Akustische, wie es denn der Zufall bringt, willkommen ist, be-
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Vgl. Jean-Jacques Nattiez, Cage/Boulez: Un chapitre de l'histoire de la musique, Einleitung zu dem in Anm. 2 zitierten Band Correspondance et documents, S. 19. Stockhausen, a. a. O., S. 32.
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denkenlos zu übernehmen. Wie hätte sonst ein radikal der Moderne verpflichteter Komponist wie Pierre Boulez bei seinen Bestrebungen um 1950, das Reihenprinzip zu verallgemeinern und die Idee musikalischer Rationalität integral auf alle Dimensionen des Klangs — Tonhöhe, Dauer, Farbe und Stärke — zu erweitern, ausgerechnet John Cage zum bevorzugten Gesprächs- und Briefpartner wählen können, dem er die wesentlichen innovativen Schritte seiner Forschungen ausführlich mitteilt ? Wir können dies nur verstehen, wenn wir erkennen, daß die Cagesche Idee einer „Befreiung" des musikalischen Materials einen Widerpart hatte in einem — wie immer gearteten — Streben nach „Ordnung". Solange Cages Ordnungswille sich in der numerisch-proportionalen Gliederung der musikalischen Zeit eines Werkes manifestierte, wie es seit den späteren dreißiger Jahren der Fall war, 6 mochte ein Interesse der Europäer naheliegend sein, weil hier das musikalische Material jenseits eines subjektiven Ausdrucksstrebens strukturiert wurde. Und selbst in dem Klavierwerk Music of Changes (1951), einem Schlüsselwerk der Jahrhundertmitte, in dem Cage die numerischen Ordnungen erstmals durch ein planmäßig unterstelltes Zufallsprinzip unter Rückgriff zxiilChing, das chinesische „Buch der Wandlungen", ersetzte, kam der Vorordnung des Materials in Form einer 64 Elemente umfassenden quadratischen Tabelle, die Raum läßt für je 32 Töne und 32 Pausen, eine wesentliche Bedeutung zu. Wie das rationale Procedere der seriellen Organisation, das Boulez damals mit Polyphonie X, Structures für zwei Klaviere und — nur wenig später — Le Marteau sans maître unternahm, ein vorgängiges Schema als Basis der Entfaltung von Rationalität erforderlich machte, so hatte Cage diesem Werk gleichfalls ein Schema zugrunde gelegt, freilich als Basis einer Entfaltung des Zufalls. Das Resultat, ein bis ins Detail ausnotiertes Werk, das dem Interpreten Höchstes, ja Unmögliches abverlangt, begeisterte Boulez in hohem Maße: „Merci", schreibt er an Cage am 1. Oktober 1952, „pour la Music of Changes. Que j'ai beaucoup aimé, et qui m'a fait tellement plaisir à recevoir. J'ai été absolument enchanté par cette évolution de ton style. Et j'y adhère tout à fait. C'est certainement ce que [je] préfère dans tout ce que tu as fait." 7 Daraus ersehen wir, daß es nicht Cages Wendung zum Zufall an sich war, die eine Entfremdung von Boulez bewirkte, sondern erst die weitere Entwicklung seines Komponierens auf der Basis des Zufalls.8
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Cage, London 1981, S. 8 f. Correspondance et documents, a.a.O., S. 199. Vgl. Jean-François Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Aus dem
Vgl. Paul Griffiths,
Französischen übersetzt von Eberhard Kienle und Jutta Kranz, Berlin 1982. Darin erwähnt Lyotard das Cagesche Zufallsprinzip im Zusammenhang einer Erörterung des Zufalls in der Malerei im Aufsatz „Die Malerei als Libido-Dispositiv", ebd., S. 54; darüber hinaus zu Cage vgl. Lyotards Aufsatz „Mehrfache Stille/vielfältiges Schweigen", ebd., S. 95ff.
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Notenbeispiel 2: Cage, aus: Music of Changes Nachdem Boulez durch den (von ihm so genannten) „Tunnel" des integral seriellen Komponierens 1951/52 hindurchgegangen war und sich bei der Ausarbeitung des Marteau sans maître seine Ziele verlagerten, kam es 1953 zur Entfremdung, wenig später zum Bruch mit Cage. Allzu gegensätzlich stellten sich nunmehr beider Ideale dar: auf der einen Seite Cage, der seinen Begriff einer experimentellen Musik in immer neuen und kühneren Schritten exploriert und dabei der Rationalität als Vorgabe des Komponierens eine radikale Absage erteilt, auf der anderen Seite Boulez, der seine Idee einer reflexiven Musik der Moderne weiter entfaltet und dabei an der Instanz einer komplexen Rationalität festhält. Aber wie Cages Zufallsmusik, teilweise gegen den Willen des Autors, noch immer Elemente von Rationalität beinhaltete (die Cage dann in weiteren Projekten zu beseitigen unternahm, bis er bei dem „Nullpunkt" völliger Beliebigkeit der Variations IVangelangt war), entwickelte sich Boulez' Konzept ästhetischer Rationalität in eine Richtung, die ihrerseits Elemente des Zufalls, des Würfeins, mit einbezieht. Bei Boulez' Dritter Klaviersonate (1955-57) ist allerdings die Differenz zu Cage wichtiger als das Gemeinsame, das in einer Delegierung von Entscheidungskompetenz vom Komponisten auf den Interpreten liegt, der so zum Mit-Autor wird. Hier stellt sich die Aleatorik als Erweiterung eines rationalen Konzepts variabler musikalischer Form dar, das virtuell noch immer der auktorialen Kontrolle des Komponisten unterliegt — als komplexe Summe moderner Reflexivität — , bei Cages weiteren experimentellen Antiwerken der fünfziger Jahre dagegen besiegelt der Zufall die Abdankung der Instanz des Komponisten als Quelle musikalischer Sinnstiftung, in Einklang mit Cages — den Hörer radikal emanzipierenden — Adaptation der Zen-Philosophie. In dem (mit der Dritten Klaviersonate zusammenhängenden) Aufsatz Alea9 übt Boulez denn auch harsche Kritik an Cages Konzeption des Zufalls, die er „Zufall aus Versehen" nennt, um ihr seine eigene, an Mallarmés posthumem Livre gewonnene Aleatorik entgegenzustellen.10 In
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Pierre Boulez, „Alea", in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. von Wolfgang Steinecke [Bd. 1], Mainz 1958, S. 44ff. Vgl. auch für weitere Literaturhinweise die Freiburger Antrittsvorlesung des Verfassers „Inspiration, Rationalität, Zufall. Uber musikalische Poetik im 20. Jahrhundert", in: Archiv für Musikwissenschaft, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, 47. Jg. (1990), S. 87 ff. Cage beschreibt dies seinerseits in seinen Gesprächen mit Daniel Charles um 1970 als einen erneut möglichen, aber nicht zum Tragen gekommenen Berührungspunkt zwischen ihm und Boulez. Vgl. For the Birds. John Cage in conversation with Daniel Charles, englische Fassung vorbereitet durch Richard Gardner und hrsg. von Tom Gora und John Cage, Boston-London 1981, S. 180.
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der Tat sind die Œuvres von Boulez und Cage bis heute, gerade wegen ihrer Attraktionspunkte, so divergent geblieben, daß man — sollte man die Kategorien Moderne und Postmoderne in der Musik exemplifizieren — nicht leicht treffendere Beispiele als diese beiden Komponisten finden dürfte. 11
4. Das „losgelassene" Material Auch Karlheinz Stockhausen, der insofern das Gegenteil von Cages anarchischem Modell verkörpert, als seine Musikkonzeptionen in der Regel auf einem tradierten, von auktorialer Herrschaft geprägten Begriff des Schöpfertums beruhen, erweist sich als vielfach von Cage angeregt, sei es nun in der offenen Form des Klavierstücks XI oder später in einer theatralischen Konzeption wie den Originalen. In einem Einführungstext in ein Nachtprogramm des W D R vom Januar 1957, in dem Tudor die Music of Changes spielte, hebt Stockhausen Imaginary Landscape IV (für 12 Radioapparate) und Water Music (komponiert 1952) hervor, also Stücke, die bereits in Richtung des Instrumentalen Theaters weisen und aufgrund ihrer Aktionen mit ungewissem Klangresultat experimentell im späteren Cageschen Sinne sind: ,Jedes Stück Cage's bringt neue Überraschung für den Hörer, und wenn man auch geneigt wäre, ihn ,naiv' zu nennen, ihn nicht ernst zu nehmen, so gäbe es doch keinen Zweifel darüber, daß er ungewöhnlich lebendig ist und Einfälle hat, die nicht auf der Straße liegen. Darüber hinaus gibt es aber sehr Bedeutsames, was auf manche junge europäische Komponisten tiefen Eindruck gemacht hat. Während sich unsere neue Musik immer mehr, unter dem Druck unserer Tradition, zum Kontrollierten, zum Systematischen, bis ins Detail Organisierten hin entwickelt und nicht selten den Eindruck von nicht-isolierten Geflechten elektrisch geladener Drähte macht, an denen man jeden Augenblick einen gewischt kriegen könnte, so zeigt Cage's Entwicklung mehr und mehr eine ganz andere Richtung: Der hervorgebrachte Klang interessiert ihn zunehmend weniger, es kommt ihm auf die Aktion des Spielens an, immer weniger wird rationalisiert, und der Zufall, der gelenkte Zufall spielt eine große Rolle. [...] Hört man solche Musik, so hat sie der augenblicklich avancierten europäischen ein Wesentliches entgegenzustellen: sie erscheint ungezwungener, großzügiger, einfacher; aber auch primitiver, ungeformter, verspielter. Soweit man das heute sagen kann, könnte eine Synthese der beiden Strömungen
11
Vgl. Peter Stacey, Boulez and the Modern Concept, Aldershot 1987. Vgl. andererseits Verf., „Musikalische Zitat- und Collageverfahren im Lichte der (Post-)Moderne-Diskussion", in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1990, München 1990.
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der Quell einer reichen und lebendigen neuen Musik sein, in der zwischen den Extremen des Unkontrollierten und des äußerst Organisierten eine weite Skala von Ordnungsgraden erlebbar würde. Wie sehr Cage auch von uns manchmal belächelt wird im eitlen Selbstbewußtsein unseres hochdifferenzierten musikalischen Standards, so sehr hat er uns doch schon durch seine Streiche heimlich verändert." 1 2 Soweit Stockhausen im Januar 1957, anderthalb Jahre vor dem Auftritt Cages bei den Darmstädter Ferienkursen. Dessen durchschlagende Wirkung gewinnt im Lichte dieses Kommentars vielleicht ebenso an Verständlichkeit wie Luigi Nonos polemische Reaktion gegen die damals aufflammende Cage-Euphorie, die N o n o seine auch von ihm nicht angezweifelte Zugehörigkeit zur „Darmstädter Schule" 1 3 unter scharfem Protest aufkündigen ließ. Da in diesem Rahmen die einzelnen Phasen der experimentellen Zufallskonzepte Cages nicht geschildert werden können, darf ich auf die entsprechenden Kapitel meines Buches über die Musik des 20. Jahrhunderts verweisen, in dem auch die europäische Cage-Rezeption seit den späten fünfziger Jahren anhand des Schaffens von Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Silvano Bussotti und anderen skizziert ist. 1 4 Jene Rezeption war wesentlich auf eine Befreiung, eine „Loslassung" des Materials ausgerichtet, wobei zumal bei Schnebel eine Serialisierung der Materialien als Kompositionsstufe noch immer eine rationale europäische Erbschaft darstellt. 15 Selbst bei den Stücken und Entwürfen der experimentellen Avantgarde besitzt somit in Europa Rationalität für die Verordnung des Materials wie für die musikalische Traditionskritik eine größere Bedeutung als in Amerika, wo bei Cage und Morton Feldman alle Bestrebung auf eine Minimierung des Intentionalen, Reflexiven, Subjektiven hinausläuft.
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Karlheinz Stockhausen, Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles, Bd. 2. Aufsätze 1952-1962 zur musikalischen Praxis, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln 1964, S. 147 f. Vgl. hierzu Verf., Gibt es eine „Darmstädter Schule"?, Vortrag auf dem Deutsch-Sowjetischen Kolloquium Die Musikkultur in der Bundesrepublik Deutschland, Leningrad 1990, Druck i.V. A.a.O., wie Anm. 1, S. 363ff. Vgl. vor allem Dieter Schnebel, „Uber experimentelle Musik und ihre Vermittlung", in: Melos/NZ 2. Jg. (1976), S. 461 ff. Vgl. die Beiträge in der Festschrift SchNeBeL 60, hrsg. von Werner Grünzweig u.a., Hofheim 1990; darin etwa der Aufsatz der Pianistin Marianne Schroeder, „Ein deutscher Cage?", S. 65ff.
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5. Wandlungen des musikalischen Experimentbegriffs Grundlegend verändert hat sich durch Cages Entwicklung einer experimentellen Musik die Bedeutung der Zeit.16 War sie bei Sonatas and Interludes noch Voraussetzung der kompositorischen Prädisposition und Strukturierung eines geschlossenen musikalischen „Werkes", im Blick sowohl auf die Individualisierung der Klangwelt des präparierten Klaviers als auch auf die rhythmische Organisation der Musik selbst, so wird sie später mehr und mehr zur offenen Zeit einer musikalischen Aktionskunst, bei welcher der von der Werkkategorie gestiftete Regelkreis zwischen Komponist, Interpret und Hörer in mannigfachster Weise aufgesprengt wird. Anstelle des Komponisten-Autors, der nach Maßgabe des von ihm geschaffenen Werkes den Interpreten wie den Hörer in seinen Bann zieht, erfahren diese eine Emanzipation, im Zuge deren zumal der Hörer zur letztlich maßgeblichen Instanz erhoben wird, insofern er seine aisthesis als freigesetzte, nicht vom Kunstobjekt bestimmte ästhetische Wahrnehmung zu spielerisch-autonomer Entfaltung bringen kann und soll. Das Klangresultat selbst, nicht länger auktorial definiert, wird zum Gegenstand experimenteller, von Zufallsfaktoren bestimmter Handlung. „Any sounds may occur in any combination and in any continuity", bemerkte Cage zum Begriff einer experimentellen Musik in einer Programmheftnotiz zur New Yorker Uraufführung seines Klavierkonzertes am 15. Mai 1958, bei der David Tudor als Pianist wirkte.
Notenbeispiel 3: Cage, aus: Concerto for Piano and Orchestra Es stellt sich die Frage, ob die Kategorien Moderne und Postmoderne, wie vielfältig sie terminologisch auch erscheinen mögen, zum Verständnis der hier zur Sprache gebrachten Felder experimenteller Musik hilfreich sein können. Es ist immerhin erstaunlich, daß zwei so verschiedene Begriffe experimenteller Musik im Schaffen ein und desselben Künstlers zum Tragen gelangen konnten. Wenn wir die von Jean-François Lyotard, Wolfgang Welsch und Albrecht Wellmer betonte Komplexität des Verhältnisses von Moderne und Postmoderne, das keinesfalls als ein schlichter Gegensatz zu begreifen ist, unseren Überlegungen zugrunde legen, dann lassen sich, so scheint es, einige hervortretende Bestimmungsmerkmale experimenteller Kunst den beiden Kategorien zuordnen. 16
Vgl. Klaus-Wolfgang Niemöller, Wandlungen der Zeitgestalt in der Neuen Musik, Referat auf dem Deutsch-Sowjetischen Kongreß Musik und Zeit, Leningrad 1988, Druck i.V.
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Auf der einen Seite ist Cages frühes Schaffen überwiegend von einer Klangforschung bestimmt gewesen, welche im Sinne eines naturwissenschaftsanalogen Studiums Eigenheiten des Klangs erkundet und ihre Ergebnisse im Blick auf eine rational begründete musikalische Komposition fruchtbar macht. Die zitierten frühen Dokumente von Boulez und Stockhausen zeigen deutlich die eine Richtung der europäischen Rezeption nach Maßgabe einer rationalen Modernität an, die darüber hinaus Nahrung fand an der Verordnung der experimentellen Dispositionen durch Cage in Parallele zur eigenen seriellen Vorordnung des musikalischen Materials. Gewiß bestätigt sich in der frühen seriellen Musik die Max Webersche These von der Rationalisierung als der für Europa spezifischen Entwicklungsform der Musik — und zwar als Erscheinung der Moderne — mit besonderer Deutlichkeit, aber auch hier greift die von Adorno und Horkheimer erkannte Dialektik der Aufklärung, insofern sowohl bei Cages früher Musik als auch bei der seriellen europäischen Musik, und zwar in jeder ihrer Phasen, die Rationalität mit Zufälligem behaftet blieb. Auf der anderen Seite ist Cages Entwicklung in Richtung auf eine Musik des Zufalls, in der das freie, von keinerlei Systemanspruch reglementierte Spiel der Wahrnehmungskräfte des einzelnen Subjekts herrscht, so beschaffen, daß wir sie als besonders markantes Phänomen der Postmoderne — jedenfalls nach amerikanischem Begriffsverständnis — bewerten müssen. Freilich hat sich auch hier die Rationalität, eine Erbschaft der Moderne, nicht völlig abschaffen lassen, und die persistierenden Rudimente des Rationalen mahnen daran, daß die Postmoderne durchsetzt ist mit Elementen der alten Moderne. Dennoch: Die spielerische Freiheit des Subjekts, das Ineinandergreifen von Alltäglichem und Künstlerisch-Gestaltetem, inzwischen auch Cages Öffnung zu historischen Stilgeschichten nach Art der Zitatcollage in seiner Anti-Oper Europera 1&2 — dies alles weist seine Kunst, zumal seine spätere, als eine der Postmoderne aus. Die hohe Zeit einer experimentellen Kunst im Bereich der Musik indessen gehört heute, so scheint es, der Vergangenheit an. Denn in dem Maße, in welchem seit Mitte der siebziger Jahre im Zeichen der traditionalistischen (jener der avantgardistischen geradezu entgegengesetzten) Richtung der Postmoderne die Kategorie des Werkes in all ihren Aspekten restituiert wurde — die Neoromantik ist ihr sichtbarster, aber keineswegs ihr alleiniger Ausdruck — , wurden die Perspektiven experimenteller Kunst beschnitten, wenn diese nicht gar völlig zurückgewiesen wurde. Dabei spielte die Kritik, die Hans Magnus Enzensberger 1962 an der Kategorie des Experimentes formuliert hatte, 17 kaum eine Rolle; ohnehin war sie in der musikästhetischen Diskussion wenig beachtet worden. Das Ende
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Hans Magnus Enzensberger, „Die Aporien der Avantgarde", in: Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt a.M. 4 1976, S. 50 ff.
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ihrer Vormachtstellung unter den Prämissen einer avantgardistischen Ästhetik, das seit rund einem Dutzend Jahren gekommen ist, darf freilich nicht gleichgesetzt werden mit einem faktischen oder gar einem unwiederbringlichen Ende.18 Nicht zufällig wurde damals, am Anfang einer möglich gewordenen Rückschau, der Blick frei sowohl für eine terminologiegeschichtliche Studie zum Begriff „Experiment, experimentelle Musik", die Christoph von Blumröder 1981 vorlegte, 19 als auch für eine historiographische Rekonstruktion, in der Carl Dahlhaus 1982 das Experiment als eine fundamentale Kategorie der Musikgeschichte des mittleren 20. Jahrhunderts entwickelte: „Die skizzierten Merkmale und Eigentümlichkeiten, durch die sich das Paradigma des Experiments von dem des Werkes unterscheidet — die offene Form im Gegensatz zur geschlossenen, die Akzentuierung des Möglichen anstelle des Realisierten und der Entstehungsprozesse statt der Resultate, das Vorzeigen der Materialien und Methoden statt des Verbergens der Kunstmittel und Handgriffe, die Bemühung der Komponisten, in die soziale und politische Lebenspraxis einzugreifen und sich nicht auf Nietzsches Diktum zurückzuziehen, daß die Kunst die einzige Rechtfertigung des Lebens sei, sowie schließlich die Tendenz der Musikkritik, weniger über die ästhetische Plausibilität eines Gebildes als über dessen kompositionsgeschichtliche Implikationen zu urteilen, — bilden insgesamt [...] ein Netzwerk, in dem jedes der Momente mit jedem anderen unmittelbar verknüpft ist, so daß die Behauptung, es handle sich um eine aus einer zentralen Kategorie — eben der des Experiments — deduzierbare Denkform, keine Ubertreibung darstellt." 20 Im Lichte dieser zeitgeschichtlichen Rekonstruktion wird wohl verständlich, warum und inwiefern John Cage während mehrerer Jahrzehnte auf seine europäischen Kollegen einen so vielfältigen, Phasen der Moderne und der Postmoderne gleichermaßen umfassenden Einfluß ausüben konnte. Als Cage nunmehr im Sommer 1990, nach nicht weniger als 32 Jahren, die Internationalen Ferienkurse
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Siehe etwa die Aktivitäten der Münchener Gruppe für Experimentelle Musik; vgl. dazu Michael Kopfermann, „Uber Musik und Theorie im Zusammenhang Experimenteller Musik. Eine Dokumentation", in: Notizbuch 5/6. Musik, hrsg. von Reinhard Kapp, Berlin-Wien 1982, S. 229ff. Christoph von Blumröder, Artikel „Experiment, experimentelle Musik", in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Wiesbaden 1981. Zu Jean-François Lyotards Verständnis experimenteller Kunst vgl. seinen Aufsatz Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, erschienen im gleichnamigen, von Marianne Karbe aus dem Französischen übersetzten Band Lyotards, Berlin 1986, S. 5Iff. Carl Dahlhaus, „Die Krise des Experiments", in: Komponieren heute. Ästhetische, soziologische und pädagogische Fragen, hrsg. von Ekkehard Jost (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Darmstadt, Bd. 23), Mainz u. a. 1983, S. 92.
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für Neue Musik in Darmstadt erstmals wieder besuchte — auf Einladung Friedrich Hommels, der den von seinem Vorgänger Ernst Thomas verhängten Bann gegen ihn aufhob —, da feierten die dort Anwesenden diesen großen Künstler der Avantgarde im Bewußtsein all dessen, was Europa und die Welt ihm an Anregungen und Impulsen verdankt. Gewiß, die Zeichen der Zeit haben sich gewandelt — und nicht unter Auspizien, welche der Avantgarde förderlich wären — , doch die Zukunft ist immer eine offene. In unserer Zeit einer „Neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) erscheinen gegenwärtig, da wir Tag für Tag im politischen Leben erfahren, wie Nicht-Vorstellbares Wirklichkeit wird, die Perspektiven des Experiments auch im Bereich der Musik noch lange nicht erschöpft.
Bilder des Erhabenen — Zur Aktualität des Diskurses über Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer" Jörg Zimmermann
Lyotards These, das Erhabene sei die für die Moderne charakteristische Weise künstlerischer Sensibilität, 1 stützt sich philosophisch vor allem auf Kants Analytik des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft. Die Fortschreibung ihrer Aktualität stößt allerdings auf beträchtliche Schwierigkeiten. So hat Kant das Erhabene bekanntlich nicht an der Erfahrung der Kunst, sondern an der Erfahrung der Natur begründet und exemplifiziert. Während sich Lyotard vor allem für das Problem einer Darstellung von sensu stricto Undarstellbarem interessiert, neigt Kant dazu, die verschiedenen Medien möglicher Darstellung auf die subjektive Repräsentationsebene der Vorstellung zu reduzieren. Auch die Kategorie des Erhabenen droht dadurch ihre im „Ereignis" des Kunstwerks gründende Widerständigkeit zu verlieren: Was bleibt, ist eine bloße „Geistesstimmung", die durch eine „gewisse, die reflektierende Urteilskraft beschäftigende Vorstellung" geweckt wird. 2 Auf die Darstellung des Erhabenen in der Kunst kommt Kant nur ganz beiläufig zu sprechen. Sie erscheint ihm nicht als spezifisches Problem: Eine solche Darstellung sei „immer auf die Bedingungen der Ubereinstimmung mit der Natur eingeschränkt". 3 Dies wirkt wie ein Nachklang des Piatonismus. Ist die Kunst nur ein schlechtes Abbild des Urbildes, das die im Sinne des Erhabenen idealisierte Natur verkörpert? Dieser Ansicht hat schon Schiller in seiner intensiven Auseinandersetzung mit Kant widersprochen: Die Kunst müsse der von der Natur geweckten Emp-
1
Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die Avantgarde" (1983), in: ders., Das Inhu-
mane. Plaudereien
über die Zeit, Wien 1989, S. 166. Vgl. auch Lyotards Essay „Nach
dem Erhabenen, Zustand der Ästhetik" (1987), in: ebd., S. 231-244, und „Das Interesse
des Erhabenen", in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hrsg. von Christine Pries, Weinheim 1989, S. 91-118. 2 3
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Werkausgabe, Bd. 5, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1963, S. 336. Ebd., S. 330.
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findung des Erhabenen „nachhelfen"; gerade in der Kunst biete der Mensch seine ganze Einbildungskraft auf, um „das Sinnlich-Unendliche darzustellen". 4 Ahnlich urteilten die Romantiker. 5 Ihrer Umdeutung der Kantschen Ästhetik des Erhabenen folgt offensichtlich Lyotard. Weil nun Darstellung gegenüber Vorstellung einen höheren Stellenwert beansprucht, erscheint auch die Problemstellung der Kritik der Urteilskraft in einem neuen Licht. Mit Genugtuung verweist Lyotard vor allem auf jenen Passus, in dem Kant im Ubergang von der Denkungsart zur Darstellungsart auf die Möglichkeit einer „bloß negativen Darstellung des Unendlichen" zu sprechen kommt, die gerade durch ihren vollständigen Verzicht auf Anschaulichkeit die Seele im Sinne des Erhabenen zu erweitern vermag. 6 Kant erinnert hier an das alttestamentarische Bilderverbot. Dieses läßt wiederum nur der subjektiven Vorstellung und nicht der objektiven Darstellung Raum: Ohne positiven anschaulichen Gehalt ist zum Beispiel „die Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns". 7 Sie ist also in Bildern absolut undarstellbar. Erst die Kant völlig fremde Umdeutung des Problems negativer Darstellung in Richtung auf die nicht mehr abbildende Reflexionskunst der Moderne erlaubt die in der Tat kühne These, daß der Avantgardismus des 20. Jahrhunderts keimhaft in der Kantschen Ästhetik enthalten sei. 8 Weniger gewaltsam wirkt die Anknüpfung an Kant, wenn sie sich auf jene Zusammenhänge bezieht, in denen von „indirekter Darstellung" die Rede ist. Allerdings bleiben auch hier die Bilder ausgespart, oder vielmehr: sie werden als Sprach-Bilder verstanden. „Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält." 9 Als Beispiel nennt Kant „unsere Erkenntnis von Gott", deren Symbolik nicht zugunsten anthropomorpher Fixierungen aufgehoben werden darf. 10 Bilder sind hier wiederum ausgeschlossen. Zu ihnen und anderem „kindischem Appa-
4
5
Friedrich Schiller, „Über das Erhabene" (nach 1793), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. V, München 1959, S. 800/801. Entscheidend ist die Diskussion des Erhabenen im Horizont der Frage nach dem Verhältnis von Endlichem und Unendlichem in der Kunst. Der Versuch, das Erhabene terminologisch in einen erweiterten Begriff des Schönen zu integrieren, ist im vorliegenden Zusammenhang unwesentlich. Vgl. dazu Dietrich Mathy, „Zur frühromantischen Selbstaufhebung des Erhabenen im Schönen", in: Das Erhabene, a.a.O., S. 143-160.
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Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 365.
7
Ebd. Lyotard, Das Inhumane, a.a.O., S. 174.
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Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 460. Ebd., S. 461.
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rat" 11 als „Zubehör" der Religionen nehmen nur diejenigen Zuflucht, die nicht fähig sind, sich durch den „Schwung einer unbegrenzten Einbildungskraft" zu Ideen zu erheben. 12 Von Bildern ist im übrigen bei Kant kaum die Rede, oder vielmehr: Sein Begriff des Bildes betrifft wiederum primär die Ebene der mentalen Vorstellung und nicht diejenige der transsubjektiven ästhetischen Darstellung. So gelten ihm Bilder als „Produkte des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft", deren Diversität durch den vereinheitlichenden Schematismus der Verstandesbegriffe gebändigt wird.13 Diesem Ansatz entsprechend liegen die Beispiele dafür, wie die Einbildungskraft einem Begriff qua Schema „sein Bild" verschafft, ganz außerhalb der künstlerischen Sphäre.14 In den Passagen der Kritik der Urteilskraft, die Probleme der bildenden Künste streifen, konzentriert sich Kant ganz auf das Bild als Medium des Schönen, das — wie alle anderen Künste auch — die Einbildungskraft „in ein freies und doch zugleich dem Verstände angemessenes Spiel" versetzt und dadurch zu einer nur subjektiv zu beglaubigenden Harmonie der verschiedenen Erkenntnisvermögen beiträgt.15 Im Zeichen des Schönen ist der Begriff des Bildes an den der ästhetisch wirksamen, also nicht nach Regeln des Verstandes rationalisierbaren Form — „Zeichnung", „Gestalt", „Umriß" — gebunden.16 Immerhin ist hier das Problem einer Darstellung von Undarstellbarem als Frage nach den Grenzen der Übersetzbarkeit von Bildern in Begriffe oder von figurativen in diskursive Ordnungen17 angedeutet: „Schön" ist für Kant nicht die in eine mathematische Gleichung transformierbare „Zirkelgestalt", sondern der „kritzlige Umriß", der eine „freie und unbestimmt-zweckmäßige Unterhaltung der Gemütskräfte" ermöglicht.18 Daran erinnert auf seine Weise Lyotard, wenn er ästhetische Bilderfahrung als Empfänglichkeit für begrifflich nicht objektivierbare Timbres und Nuancen bestimmt. 19
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Ebd., S. 366. Ebd. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe, Bd. II, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1963, S. 190. Ebd., S. 189. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 433. Ebd., S. 305. Auf die fragwürdige Koppelung des Begriffs der Form mit dem der Zeichnung, der die Farbe zum bloßen „Reiz" erklärt, sei hier nicht näher eingegangen. Das Beispiel zeigt, wie angeblich transzendentale Einsichten von bestimmten schon etablierten Positionen in der Geschichte des Diskurses abhängig sind, hier von der vor allem durch die Florentinische Renaissance vertretenen Theorie des „disegno". Vgl. dazu Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, Wien 1986, S. 22 ff. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 325/326. Lyotard, Das Inhumane, a. a. O., S. 240.
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Kants Andeutungen zum Begriff des „schönen" Bildes stehen in sachlichem Zusammenhang mit seiner Theorie des ästhetischen Diskurses: Die im Zusammenspiel der verschiedenen Gemütskräfte erfahrene „Dichte" des Kunstwerks ist mit dafür verantwortlich, daß Urteile über das Schöne „nicht bloß nach Begriffen" gefällt und argumentativ gestützt werden können. 20 Auf die spezifischen Bedingungen eines Diskurses über Bilder geht Kant jedoch ebensowenig ein wie auf die Möglichkeit von Bildern des Erhabenen, die dem Problem einer Darstellung von Undarstellbarem im Sinne des am Beispiel der Naturerfahrung geschilderten „Widerstreits" von Einbildungskraft und Vernunft 21 verpflichtet sind. Dies wäre gleichbedeutend mit der Aufkündigung des harmonistisch verstandenen geschlossenen Formbegriffs. „Formlosigkeit" exemplifiziert Kant nicht an der Kunst, sondern an der erhabenen Natur und ihrer Verweisung auf die Welt der Ideen. 22 Nun läßt sich jene Leerstelle der Kantschen Ästhetik am ehesten durch den Hinweis entschuldigen, daß die Bilder des 17. und 18. Jahrhunderts, die damals als Exempel einer Darstellung des Erhabenen gelten konnten, noch gar nicht den Kern des Problems erreichen: Sie zitieren und übersetzen eher schon gängige Topoi, wie sie Kant selbst, in Anlehnung an Burke und Rousseau, als Sprach-Bilder vorführt: „kühne überhangende gleichsam drohende Felsen", „am Himmel sich auftürmende Donnerwolken", „ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl.". 2 3 Erst die Romantik erkennt das dem jeweiligen Medium eigentümliche Darstellungsproblem und sieht es zugleich im emphatischen Lichte der Paradoxie einer Darstellung des Undarstellbaren. Nachfahr der Romantik ist also auch
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Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 294. Gegenüber der berühmten Formel „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt" (ebd., S. 298) wird die Bestimmung „nicht bloß nach Begriffen" der faktischen Verschränkung von Anschauung und Begriff im ästhetischen Diskurs gerecht. Daß Kant mit der intersubjektiven Kraft von Argumenten auch in aestheticis rechnet, zeigt seine Bemerkung, das „uns ungünstige Urteil anderer" könne uns „mit Recht in Ansehung des unsrigen bedenklich machen". Dieser Bezug auf argumentative Konsensbildung im Diskurs revidiert entscheidend die subjektivistische Ausgangsposition. Vgl. dazu Verf., „Das Schöne", in: Philosophie. Ein Grundkurs, hrsg. von Ekkehard Martens und Herbert Schnädelbach, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 358 ff. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 346. Die Architektur behandelt Kant dabei nach Art der „Größenschätzung der Naturdinge" (ebd., S. 338). Die Beispiele aus der religiösen, ethischen und politischen Sphäre werden primär hinsichtlich ihres ideellen Gehalts diskutiert und nicht nach dem „Eigensinn" ihrer medialen Darstellungsform. Ebd., S. 349.
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Lyotard, wenn er von Bildern des Erhabenen verlangt, indirekt oder gar negativ davon Zeugnis abzulegen, „daß es Absolutes gibt". 24 Dem entspricht im übrigen seine These, daß die Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts das zu Ende führen, was in der Romantik begonnen hat, genauer: in jener genuin romantischen Bewegung, deren Modernität im „Fehlen einer stabilen Regelung zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen" begründet ist. 25 Vom Problem der Darstellung eines sensu stricto Undarstellbaren in Bildern des Erhabenen zu unterscheiden ist das Problem der Adäquanz von Anschauung und Begriff im ästhetischen Diskurs. Auch in dieser Hinsicht ist Lyotards Rückwendung zu Kant durch die romantische Lesart der Kritik der Urteilskraft und durch die Vorstellung einer alternativen reflexiven Darstellungsform geprägt, 26 wie sie schon im 18. Jahrhundert Diderot in seinen Berichten über die Pariser Bilder-Salons verwirklicht hat: Es geht um eine Weise des Zugangs zu Bildern, die ihre Andersheit respektiert, also die Grenzen des Diskurses gegenüber dem bedenkt, was sich in seinem ästhetischen Sein der Ordnung des Begriffs entzieht. 27 Die Malerei Vernets ist dafür allerdings kaum der geeignete Widerpart. Erst in der Romantik kommt es zu einer Konstellation, in der eine ihrer Grenzen bewußte Reflexion mit einer Kunst konfrontiert wird, die das Erhabene ihrerseits als spezifisches Darstellungsproblem begreift und dafür eine nicht mehr illustrative bzw. narrative Form zu finden versucht. Ein signifikantes Beispiel für diese Konstellation ist die ästhetische Auseinandersetzung um das 1810 erstmals öffentlich ausgestellte Bild „Der Mönch am
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Lyotard, Das Inhumane, a.a.O., S. 218. Ebd., S. 219. Vgl. die kritischen Bemerkungen zur Form des Philosophierens in Friedrich Schlegels „Athenäums-Fragmenten" (1798), die u.a. „Charakteristiken" als „Kunstwerke der Kritik" fordern, die so idiosynkratisch sind wie die Kunstwerke, die sie zum Gegenstand haben (.Kritische Schriften, München 1964, S. 86). Lyotard rühmt Diderots Fähigkeit, „die Oberfläche der Bilder wie die Tore einer Ausstellung zu öffnen" und auf diese Weise die Ebenen von Realität und Fiktion miteinander zu vermischen {Das Inhumane, a.a.O., S. 254). Die These, daß er damit die Differenz der Ebenen „abschafft", leuchtet jedoch nicht ein. Wie sollten dann Bilder auf singuläre und nicht antizipierbare Weise vom „Undarstellbaren" Zeugnis ablegen können ? Diderots ständige Digressionen zeigen eher Diskrepanzen an, zumal diese Reflexionen der durchschaubaren Bildstrategie des Malers Vernet widersprechen. Der Aufruf an die Maler „Seid dunkel" wirkt daher wie ein Appell an zukünftige Darstellungen des Erhabenen, von denen mit größerem Recht als von Vernet zu behaupten wäre: „Tatsächlich verkünden solche Kompositionen die Größe, Macht, die Erhabenheit der Natur besser als die Natur selbst." („Aus dem ,Salon von 1767'", in: Denis Diderot, Ästhetische Schriften, Bd. II, Berlin-Weimar 1967, S. 115.) Zu Diderots Rede über Bilder vgl. Kofman, a.a.O., S. 20ff.
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Meer" von Caspar David Friedrich. 28 Immerhin wird Friedrich auch von Lyotard im Zusammenhang mit der Frage nach der Genese der Moderne im Zeichen des Erhabenen ausdrücklich genannt, ohne daß diese Erwähnung allerdings näher begründet würde. 29 Das Beispiel zeigt, daß der Geltungsanspruch eines solchen Bildes nicht unabhängig von seiner diskursiven Erörterung deutlich werden kann, wenngleich die Beziehung zwischen Diskurs und Bild widersprüchlich bleibt: Sie unterliegt nicht den Regeln logisch-begrifflicher Subsumption und semiotisch eindeutig explizierbarer Ubersetzung. Wenn Lyotard behauptet, daß die „Schriften der Theoretiker" Sperren sind, die von den Künstlern als „Zeugen des Undarstellbaren" niedergerissen werden, 30 so gilt dies nur für eine bestimmte Form theoretischer Reflexion, etwa jene einer hierarchisch strukturierten Philosophie der Kunst. Was als „darstellbar" oder „undarstellbar" erscheinen kann, ist immer auch von diskursiven Gesichtspunkten abhängig. Sonst wüßte der Künstler nicht einmal, wonach er zu suchen hat und wo die terra incognita beginnt.
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Zur Konzeption und Resonanz der Ausstellung vgl. Helmut Börsch-Supan, „Berlin 1810. Bildende Kunst", in: Kleist-Jahrbuch 1987', Berlin 1987, S. 52-75. Die zeitgenössische Diskussion über das Bild ist vielfach kommentiert worden, wobei jedoch der von Brentano und Arnim verfaßte Ausgangstext nie in seiner vollständigen handschriftlichen Fassung berücksichtigt worden ist. Daraus ergaben sich u.a. Fehlschlüsse hinsichtlich der Bearbeitung des Textes durch Kleist. Diese werden im folgenden durch Rekurs auf eine Fotokopie des Manuskripts korrigiert, die mir freundlicherweise vom Freien Deutschen Hochstift zur Verfügung gestellt worden ist. Als wesentliche Beiträge seien genannt: Helmut Börsch-Supan, „Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs ,Mönch am Meer'", in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Bd. XIX, 1965, S. 63-76; Philip B. Miller, „Anxiety and Abstraction: Kleist and Brentano on Caspar David Friedrich", in: Art Journal 33, 1974, S. 205-210; Barbara Ränsch-Trill, „Caspar David Friedrich's Landschaftsbilder auf dem Hintergrund der ästhetischen Theorie Kants", in: Kunst und Kunsterziehung. Beiträge zur Kunsterziehung) Kunstgeschichte und Ästhetik, hrsg. von Winfried Schmidt, Göttingen 1975, S. 119-133; Bodo Brinkmann, „Zu Heinrich von Kleists ,Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft'", in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 44, 1981, S. 181-187; Jörg Traeger, „,... Als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.' Bildtheoretische Betrachtungen zu einer Metapher von Kleist", in: Kleist-Jahrbuch 1980, Berlin 1982, S. 86-106; Gerhard Kurz, „Vor einem Bild. Zu Clemens Brentanos Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner'", in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1988, Tübingen 1988, S. 128-140. Die eigenen Überlegungen wurden erstmals im Mai 1986 unter dem Titel „Philosophische Reflexionen zu Kleists und Brentanos ,Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft'" im Rahmen einer Vortragsreihe der Freien Universität Berlin zur Diskussion gestellt.
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Lyotard, Das Inhumane, a.a.O., S. 219. Ebd., S. 180 f.
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Lyotards Verknüpfung von Romantik und Modernität ist vor allem in der literaturgeschichtlichen Debatte ein Gemeinplatz. Die Malerei ist spätestens seit dem Surrealismus einbezogen. Die spezifischere Diskussion um die Aktualität des Erhabenen wurde vor allem von Robert Rosenblum intoniert, der in seiner 1975 erschienenen Abhandlung über „die moderne Malerei und die Tradition der Romantik" die Existenz einer „merkwürdigen Nordroute" postuliert, die von Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer" ihren Ausgang nehme und in der „transzendentalen Abstraktion" eines Pollock, Rothko oder Newman kulminiere. 3 1 So glaubt Rosenblum etwa in Friedrichs radikaler Vereinfachung eines symmetrischen Bildaufbaus und Newmans reißverschlußartiger Teilung der Bildfläche die nämliche Anspielung auf Unendlichkeit zu erkennen. 3 2 Die folgende Erörterung versucht demgegenüber, die Frage nach Bildern des Erhabenen und Kriterien der Darstellung eines sensu stricto Undarstellbaren im Diskurs der Romantik selbst zu situieren. In diesem Diskurs sind unterschiedliche Rollen involviert: die des Philosophen, des Kunsthistorikers, des Kunstkritikers ebenso wie die des Künstlers und des nicht professionell geschulten .Liebhabers'. Entsprechend unterschiedlich ist das Vorverständnis der Beteiligten. Die Zuordnung ist jedoch nicht homogen. Gerade die wichtigsten Stimmen, die des Malers selbst und die seiner literarischen Zeitgenossen Brentano, Arnim und Kleist, 3 3 bringen eine Vielzahl von Zugangsweisen zur Sprache und setzen diese kritisch zueinander ins Verhältnis. Wie schon bei Diderot wird ein in seinen Äußerungsformen pluralisierter Diskurs vorgeführt, der zudem noch die Ebenen von Realität und Fiktion miteinander vermischt. Diese Bildreflexion ist
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Robert Rosenblum, Modern Painting and the Northern Romantic Tradition, London 1975. Deutsche Ausgabe: Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik: von C.D. Friedrich zu Mark Rothko, München 1981. Ebd., S. 222. Der in der Folgezeit immer wieder zitierte Text von Heinrich von Kleist erschien unter dem Titel „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft" am 13.10.1810 in den von Kleist herausgegebenen und redigierten „Berliner Abendblättern" (zwölftes Blatt, S. 12 f.). Er ist dort jedoch mit „cb", also den Initialen von Clemens Brentano, gekennzeichnet. Brentanos gegen diese Verfahrensweise eingelegten Protest beantwortet Kleist mit einer am 22.10.1810 in die „Berliner Abendblätter" eingerückten „Erklärung", in denen er seine rigorose Kürzung und Veränderung des ihm zugesandten Manuskripts zu rechtfertigen versucht. Dort erwähnt er auch die Mitarbeit von Achim von Arnim, in dessen Handschrift der letzte Teil des Manuskripts verfaßt ist. Der Ausgangstext wurde in einer fehlerhaften und um eine wichtige Passage gekürzten Fassung erstmals mit der Kennzeichnung „B.A." (= Brentano, Arnim) unter dem Titel „Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von F r i e d r i c h , worauf ein Kapuziner. (Bei einer Kunstausstellung.)" veröffentlicht, und zwar am 28.1.1826 in „Iris. Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen u. Nützlichen", Nr. 20, S. 77 f.
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also von beträchtlicher Komplexität. In ihrer Nähe zum Phänomen und ihrer flexiblen, vielschichtigen Weise der Argumentation unterscheidet sie sich von einer durch vorgegebene philosophische Kategorien eingeschränkten Thematisierung, wie sie in jener Zeit u. a. Schellings Philosophie der Kunst repräsentiert. Denn es ist Schellings erklärtes Ziel, die Kunst insgesamt als „geschlossenes, organisches und ebenso in allen Teilen notwendiges Ganzes" zu konstruieren. 3 4 Die Darstellung des Erhabenen wird dabei als „Einbildung des Unendlichen in das Endliche" bestimmt. 3 5 Gerade das Kapitel über die Malerei zeigt jedoch, welche Kluft sich zwischen begrifflicher Konstruktion und ästhetischer Exemplifikation auftun kann. Im Einklang mit dem hierarchischen Aufbau seiner Theorie zwingt Schelling die Malerei in ein längst obsolet gewordenes normatives System der Bildgattungen. So repräsentiert das für die neuartige Konzeption des Erhabenen bei Friedrich so wesentliche Genre der Landschaftsmalerei von vornherein eine mindere „Kunststufe", weil es, im Gegensatz etwa zur Historienmalerei, nur auf „empirische Wahrheit" aus sein könne. 3 6 Immerhin gestattet Schelling dem Maler, die Darstellung von Landschaft auch als Hülle zu gebrauchen, „durch die sie eine höhere Wahrheit durchscheinen läßt". Die Idee selbst bleibe jedoch „gestaltlos", und es sei Aufgabe des Betrachters, sie aus dem „formlosen Wesen" herauszufinden. 37 D a ß ein Maler gerade in der Auseinandersetzung mit solcher Formlosigkeit das Erhabene evozieren kann, ist hier allenfalls ex negativo angedeutet. Der Gestus der Schellingschen Begründung ist im übrigen autoritativ; er ignoriert weitgehend den faktischen Widerstreit im ästhetischen Diskurs. Die Diversität des anschaulich Gegebenen wird der in einsamer Spekula-
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Hans-Georg Dewitz, Mitarbeiter an der Kritischen Brentano-Edition des Freien Deutschen Hochstifts, hat mir auf Anfrage mitgeteilt, daß diese bis heute als authentisch geltende veränderte Fassung des Textes von Brentano nicht autorisiert worden ist (Brief an den Verfasser vom 24.8.1990). Der Vergleich mit dem Wortlaut des Manuskripts zeigt, daß damit vor allem die von einigen der Interpreten aus der vermeintlichen Abweichung Kleists abgeleitete Differenz in der Deutung des „Anspruchs", den Friedrichs Bild macht, hinfällig ist. Ausgangspunkt dafür war wohl der irreführende Parallelabdruck der veränderten Fassung des Textes von Brentano und Arnim sowie der Bearbeitung durch Kleist in Helmut Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion, Berlin 1939, S. 181-183. Vgl. Börsch-Supan, „Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs ,Mönch am Meer'", a.a.O., der den Gedanken Brentanos geradezu „ins Gegenteil verkehrt" sieht (S. 74). Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst (auf der Basis von Vorlesungen der Jahre 1802 bis 1805), Darmstadt 1966, S. 1. Ebd., S. 105. Ebd., S. 189. Ebd., S. 188.
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tion beglaubigten Ordnung der Begriffe angepaßt. Dieses durch die Form der Theorie nahegelegte Vorurteil des Denkens hat Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik zu entlarven versucht. Unverkennbar auf Schelling anspielend, heißt es dort: „Der alte unheilbare Krebs der Philosophie kriecht hier rückwärts, daß sie nämlich auf dem entgegengesetzten Irrwege der gemeinen Leute, welche etwas zu begreifen glauben, bloß weil sie es anschauen, umgekehrt das anzuschauen meinen, was sie nur denkt."38 Ganz anders sind die Voraussetzungen, unter denen sich Brentano ästhetisch reflektierend der Malerei zuwendet. Er verhält sich gegenüber dem Anspruch begrifflicher Konstruktion ebenso skeptisch wie gegenüber der aus Kants Kritik der Urteilskraft geläufigen Annahme eines sensus communis aestheticus. Er urteilt als einzelner, im Rückgang auf seine prekäre Subjektivität: „Wenngleich mein ganzes Leben aus einer beständigen Reflexion und Beschauung bestanden hat, so war leider ihr Gegenstand kein besseres Kunstwerk, als meine arme Person, welche mir endlich, beschämt und geärgert, daß ich ihr immer in die Augen sah, den Rücken drehte." 39 Das Scheitern fortwährender Selbstbespiegelung im fremden Werk ist jedoch eher in dessen Eigensinn als in der eigenen Borniertheit begründet. Kein Diskurs kann jenen Sinn erschöpfen, d.h.: „Um ein tüchtiges Urteil über ein einziges Werk zu fällen, welches mehr als ein Selbstbekenntnis sein sollte, [...] müßte man mit der größten Seele den unermeßlichen Kreis der Anschauungen durchlaufen und aufgefaßt haben." 40 Das aber ist ersichtlich unmöglich. Kant allerdings hatte nur gefordert, das eigene Urteil „gleichsam" an die ganze Menschenvernunft zu halten, also „an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile". 41 Solche „Ansinnung von jedermanns Beistimmung" mit Anspruch auf bloß subjektive Allgemeinheit bewegt sich in eigentümlicher Weise zwischen Selbstbekenntnis und objektiv gültiger, generalisierender Behauptung. Brentanos Uberspannung des Problems hat jedoch paradoxerweise zur Folge, daß nunmehr die Instanz des Kunstwerks gestärkt wird: Dessen Anspruch manifestiert sich nicht nur im Scheitern reiner Selbstbespiegelung, sondern auch im Entzug des möglichen Sinnes gegenüber den Ansprüchen eines jedermanns Beistimmung
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Jean Paul, „Vorschule der Ästhetik" (1804), in: ders., Werke, Bd. V, Darmstadt 1967, S. 23. Brief an den Maler Philipp Otto Runge vom 21.1.1810 (Clemens Brentano, Briefe, Bd. II, Nürnberg 1951, S. 12). Vgl. auch Ingrid Mittenzwei, „Kunst als Thema des frühen Brentano", in: Clemens Brentano, hrsg. von Detlev Lüders, Tübingen 1978, S. 192-215. Ebd. Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 389.
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ansinnenden ästhetischen Gemeinsinns. Es geht also um ein Moment der Geltung, das sich gerade in der Erfahrung der Grenze jenes Diskurses zeigt, der sprachlich zu artikulieren und argumentativ zu begründen versucht, „was uns ein Werk zu sagen hat". Demnach legt Brentano nicht — als ultima ratio — ergriffenes Schweigen oder Exklamationen von der Art nahe, in die ein Besucher der Berliner Ausstellung angesichts des Bildes von Friedrich ausbricht: „Groß, unbegreiflich groß!" Der Ausruf ist in eine jener Dialogszenen eingebettet, die uns Brentano selbst als angebliches Protokoll eines „auf die Äußerungen der verschiedenen Beschaue r " lauschenden Beobachters vorführt. 4 2 Die in ihrem vollen und unverderbten Wortlaut noch unpublizierte autographische Fassung des ganzen Textes enthält vier in ihrer Sprechhaltung höchst unterschiedliche Abschnitte: eine gestrichene Eingangspassage, deren letzter Halbsatz unleserlich ist, ein Selbstbekenntnis in auktorialer Rede, eine Folge von sechs dialogisch inszenierten Auftritten diverser Betrachter vor dem Bild sowie als abschließendes Räsonnement eine distanzierend vergleichende Bilddeutung aus der Feder von Brentanos „Herzensbruder" Achim von Arnim. Der Text ist also insgesamt Ausdruck der Heterogenität des Diskurses schon in seiner Schreibform. Entsprechend offen bleibt seine Geltung: Der Autor geht mit seinem Begleiter diskutierend nach Hause, wo er sich „noch befindet und auch in Zukunft anzutreffen sein wird". Für wen, wenn nicht für den mitdenkenden Leser? Die bisher unpublizierte gestrichene Eingangspassage lautet (in vorläufiger eigener Umschrift): „Nichts hat mich seit langer Zeit so wunderbar überrascht als zwei Landschaften des Malers Friedrich von Dresden auf der hiesigen Kunstausstellung. Indem sie durch ihre ungemeine Einzelheit in Inhalt und Ausführung meine ganze Aufmerksamkeit festhalten, indem sie mir eine unwiderstehliche Achtung für die Kraft des Künstlers, solches aufzufassen und machen zu wollen, und eine tiefe Rührung für sein Gemüt, das solches zu malen liebt, einflößten, blieb es mir dennoch unmöglich, das vor diesen Bildern zu empfinden, was er empfunden haben muß, um sie malen zu wollen, und daß ich in der Natur vor solchen Gegenden und Seen doch auch gefühlt habe, was er mir aber nicht wiedergeben konnte, und blieb mir endlich vor diesen Bildern . . . " Brentano konstatiert eine Fremdheit und einen Mangel: die sich entziehende Intention des Malers und die enttäuschte eigene Erwartung. Beides wird als Mitteilung allerdings durch die Streichung wieder zurückgenommen. Nun aber konfrontiert Brentano wie vor ihm Diderot das Bild mit der Realität, und zwar in der Weise, daß er zunächst die Erfahrung des Erhabenen in der Natur zum
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Die Zitate folgen, soweit sie nicht vom Wortlaut des Manuskripts abweichen, dem Abdruck in: Clemens Brentano, Werke in zwei Bänden, Bd. I, München 1972, S. 470-474.
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Ausdruck bringt und erst dann ins Bild eintritt, um sich als Betrachter vor dem Bild mit dem Betrachter im Bild zu identifizieren. Da der Wortlaut dieses Textabschnittes in den Werkausgaben gegenüber dem Manuskript in einer zentralen Wendung verfälscht worden ist, sei er hier vollständig zitiert: „Es ist herrlich, in unendlicher Einsamkeit am Meeresufer unter trübem Himmel auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinzuschauen, und dazu gehört, daß man dahin gegangen, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und seine Stimme doch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, in dem einsamen Geschrei der Vögel vernimmt; dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, den einem die Natur tut. Dieses aber ist vor dem Bild unmöglich, und das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, nämlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild tat, indem es denselben nicht erfüllte; und so wurde ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blickte, die See, fehlte ganz. Dieser wunderbaren Empfindung nun zu begegnen, lauschte ich auf die Äußerungen der verschiedenen Beschauer um mich her, und teile sie als zu diesem Gemälde gehörig mit, das durchaus Dekoration ist, vor welchem eine Handlung vorgehen muß, indem es keine Ruhe gewährt." Der Blick auf die „unbegrenzte Wasserwüste" läßt Brentanos Reflexion unmittelbar mit Kants Ästhetik des Erhabenen assoziieren. Denn das Meer taugt hier gleichermaßen zum Exemplum des Mathematisch-Erhabenen wie des Dynamisch-Erhabenen. Auch belegt es den Konflikt zwischen ästhetischer und teleologischer Betrachtungsweise: Ist das Meer nach Zweckbestimmungen des Verstandes ein „weites Reich von Wassergeschöpfen", so kann es der für das Zweckwidrige eines Eindrucks empfängliche „Augenschein", unterstützt durch das Spiel der Imagination, zu einem „alles zu verschlingen drohenden Abgrund" machen. 43 Den von Kant mit dem Oxymoron einer „negativen Lust" umschriebenen ambivalenten Gefühlszustand steigert Brentano zum Widerstreit von „Anspruch" des Herzens und „Abbruch" der Natur; der sehnliche Wunsch, „hinüberzugehen", wird schroff zurückgewiesen. Distanz zu Kant markiert dagegen der Ubergang von der Erfahrung der Natur zur Erfahrung des Bildes. Dessen Wirkung ist gerade nicht auf „Bedingungen der Ubereinstimmung mit der Natur" 44 eingeschränkt. Die angesichts der realen Natur beschworene Dialektik von Anspruch und Abbruch wird vom Bild nicht reproduziert; es ist kein bloßes Abbild des Erhabenen in der Natur. Der Abbruch, den das Bild dem Herzensanspruch tut, ist anderer Art: Er ist nicht
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Reflex eines vorgängigen Natureindrucks „im Bild", sondern resultiert aus einer quasi-dialogischen Beziehung zwischen Bild und Betrachter. 45 Der Betrachter muß seine Einstellung ändern, weil das Bild eben nicht der Erwartung entspricht. Das bedeutet umgekehrt: Entspräche es der Erwartung, so könnte es seine Schwäche kaum verleugnen; kein Bild vermag das Widerspiel von erhabenem Eindruck und physischer Bedrohung angesichts der realen Natur glaubwürdig zu konservieren. Kant jedenfalls meinte es mit seiner Beschwörung des Ubermaßes an Größe und Macht als Erfahrungsbasis ernst und sah offenbar für die Darstellung solcher Natur in der Kunst ähnlich wie im Falle der Darstellung des Göttlichen nur die Bescheidung mit schlechtem Abglanz. Wer das Erhabene in der unverstellten Macht seiner Wirkung nicht erträgt, nimmt Zuflucht zu „Bildern und kindischem Apparat". 46 Als solcher mochten ihm auch jene Bilder des 17. und 18. Jahrhunderts gelten, die die überlieferten Topoi erhabener Natur eher illustrativ nachzuahmen und mit vertrauten Erzählfolien zu umgeben versuchten. Eben daran nimmt auch Caspar David Friedrich Anstoß. Jedoch sieht er im Problem der Darstellung zugleich eine neue Herausforderung. Er verändert den Darstellungsmodus, indem er das Verhältnis des Subjekts zur Natur unter Bedingungen des Erhabenen im Bild selbst thematisch werden läßt. 47 Die romantische Ästhetik neigte bekanntlich dazu, die in der Kunst artikulierte Subjektivität mit dem Ich des Künstlers gleichzusetzen. Äußerungen des Malers Friedrich weisen in diese Richtung. So sagte er anläßlich der „Betrachtung einer Sammlung von Gemälden", jedes Bild sei „mehr oder weniger eine Charakterstudie dessen, der es gemacht". 48 Also vermuteten Zeitgenossen mit einigem Recht, daß sich Friedrich in der Figur des meditierenden „Mönchs" selbst dargestellt habe. Ein erst kürzlich aufgefundener Auszug eines Briefes des Mahler Friedrichs aus Dresden, über eines seiner Gemähide49 enthüllt allerdings einen allgemeineren Anspruch. Dort ist nur von einem „Mann" die Rede, der „tiefsinnig am Strande geht". Der Hinweis auf eine mögliche Selbstdarstellung und die für narrative Assoziationen ergiebigere Kennzeichnung des Mannes als „Mönch" werden also
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Vgl. hierzu Kurz, „Vor einem Bild", a.a.O., der die Rezeption als notwendiges Moment der Bilderfahrung bezeichnet (S. 133). Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 366. Vgl. wiederum Kurz, „Vor einem Bild", a.a.O., der von der „selbstreflexiven Struktur" des zur Diskussion stehenden Bildes spricht (S. 136). Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, hrsg. von Sigrid Hinz, Berlin 1968, S. 101. Mitgeteilt von Helmut Börsch-Supan in seinem Beitrag „Berlin 1810. Bildende Kunst", a.a.O., S. 74f.
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vermieden. Allerdings deutet Friedrich das transzendierende Moment der Darstellung — den angesichts der Weite des Meeres verstärkten Wunsch „hinüberzugehen" — im Sinne des religiös Erhabenen: „Und sännest D u auch von Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nicht ersinnen, nicht ergründen, das unerforschliche J e n s e i t s ! " 5 0 N u n sagt das Bild nicht auf eindeutige Weise, wie seine Darstellung verstanden werden soll. Wird sein „Eigensinn" nicht mit der Intention des Künstlers identifiziert, so ist dessen Lesart nur eine unter mehreren miteinander konkurrierenden Möglichkeiten der Auslegung. Diese Konsequenz räumt jedenfalls der Text Brentanos ein; die Identifikation des Betrachters vor dem Bild mit dem sinnierenden Mann im Bild kann die vermutete Intention des Künstlers einbeziehen, muß sich jedoch nicht in ihr erschöpfen. Naive Gleichungen gehen nicht auf. Dies gehört zum „Abbruch", den das Bild dem Herzensanspruch des Betrachters tut. Brentano konzentriert sich zunächst auf das Scheitern der Erwartung, daß das Bild jene Erfahrung widerspiegele, die der Betrachter angesichts des Erhabenen in der realen Natur gemacht hat. D o r t schien sich die Weite des Meeres als Medium des „Hinübergehens" nicht der Sehnsucht zu verschließen. Ganz anders im Bild: D e r in seinen eigentümlichen Darstellungsraum eingetretene Betrachter glaubt den Gegenstand seiner Sehnsucht verloren zu haben. Das Meer wirkt wie eine den imaginativen Ubergang verwehrende schwarze Wand, und dieser Gestus wird durch die aufgesetzten weißen Wellenkämme eher noch verstärkt. D o c h macht der Betrachter offensichtlich eine neuartige Erfahrung des Erhabenen, die nunmehr dem Bild eigentümlich ist. Denn die Enttäuschung verwandelt sich in eine „wunderbare Empfindung", die freilich nicht in der Weise aufzulösen ist, wie es Kants Analytik des Erhabenen am Beispiel der Naturerfahrung nahelegt. Das „Zwischen" von Bild und Betrachter bleibt also dunkel. Daher das Bedürfnis, die quasi-dialogische Beziehung zu erweitern und auf „Äußerungen verschiedener Beschauer" zu lauschen, die während der Ausstellung über Friedrichs „Mönch am Meer" diskutieren. Die Dialektik von Anspruch und Abbruch wird dadurch allerdings nicht zum Stillstand gebracht. D e r in diversen Auftritten vorgeführte Diskurs umfaßt oberflächliches Gerede und grüblerische Spekulation gleichermaßen, ohne daß sich der vom Bild entfachte Widerstreit im Konsens der Verständigen verflüchtigen würde. Die ganz verschiedenartigen Äußerungen sind „zu diesem Gemälde gehörig"; ja es erscheint den Akteuren als „Dekoration" für ihr Diskussionsbedürfnis, indem es „keine Ruhe gewährt". Sein Anspruch erfüllt sich gerade dadurch, daß es sich dem fixierenden Zugriff der Betrachter entzieht. Brentano
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kritisiert das Gerede; dies zeigt der unverkennbar parodistische Ton, der aber nicht so durchgängig ist, daß er die Diskussion insgesamt als bloßes Kunstgeschwätz entlarven würde. Die Folge der Äußerungen beginnt mit der unvermeidlichen Frage nach den Bedingungen des ästhetischen Urteils, kantianisch: der Wirkung des Bildes gemäß dem „Vermögen der Lust und Unlust". Der erste Protagonist gibt die zu erwartende Antwort: „unendlich tief und erhaben". Das banausische Mißverständnis der ihn begleitenden Person, die die Tiefe und Erhabenheit des Bildes wörtlich zu nehmen versucht, verdeutlicht nur die Begründungsschwierigkeiten. Andere Äußerungen dokumentieren das Ausweichen vor dem neuartigen, spezifischen Anspruch. Die Kinderfrage „Was stellt das Bild dar?" wird mit topographischen Bestimmungen („Dies ist die See bei Rügen"), Bildungsreminiszenzen („Ossian schlägt vor diesem Bild die Harfe") oder alltagspsychologischen Erklärungen beantwortet. Aufschlußreicher sind die Äußerungen enttäuschter Erwartung: Eine „Erzieherin" vermißt die dem Genre des Bildes gemäße Staffage. Vor allem befremden die Einsamkeit der Mönchsgestalt und die Leere des Bildraums: wenn doch wenigstens „ein Segel herantriebe". — Tatsächlich hatte der Künstler in der Vorzeichnung zwei auf das Ufer zutreibende Schiffe vorgesehen und sie erst später getilgt. 51 Beides — Einsamkeit und Leere — aber sind Insignien des Erhabenen. Im Bilde können sie ihre Wirkung freilich erst entfalten, wenn das bloße Faktum durch eine singuläre ästhetische Ausdrucksform verwandelt wird. Die Privation selbst ist „undarstellbar". Brentano thematisiert das Problem mit Mitteln des Sprachwitzes: So grübelt ein Kunstverständiger darüber, wie ein Künstler „so nasse Dinge so trocken malen will", während ein anderer Betrachter die Produktionsvoraussetzungen als Kreisbewegung beschreibt. Auf die Feststellung, „er weiß doch, was er malt", antwortet er: „Und malt auch, was er weiß, und fühlt es, und denkt es, und malt es." Friedrich selbst hat diese Verschränkung von Wissen, Gefühl und malerischem Können immer wieder betont, aber er erkannte auch, daß der im Bild sich manifestierende Gehalt nicht als Intention vorwegzunehmen ist: „Mir selbst ist was ich darstellen will, und wie ich es darstellen will, auf gewisse Weise ein Räthsel." 52 — Kunstverständige, die inzwischen über nahezu alle relevanten Quellen verfügen, neigen dazu, das Problem der Darstellung als im Prinzip gelöst anzusehen. So meint der führende Friedrich-Forscher Helmut Börsch-Supan, die Natur erscheine in diesem Bild „gleichsam wie ein Bilderrätsel", dessen Sinn sich 51
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Dokumentiert von Börsch-Supan, der das Bild erstmals mit Hilfe von Infrarotaufnahmen untersucht hat („Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs ,Mönch am Meer'", a.a.O., S. 68f.). In dem erwähnten, erst kürzlich aufgefundenen Brief; zit. nach Börsch-Supan, „Berlin 1810. Bildende Kunst", a.a.O., S. 75.
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durch „Mitdenken in dieser Bildersprache" enthülle wie ein „anschaulich gewordener Begriff". 5 3 So zeige etwa der Himmel „einen Widerstreit von Dunkelheit und Licht, was in dieser Sphäre des Religiösen, die der Himmel bei Friedrich stets ist, als göttliche Verheißung von Erlösung und ewigem Leben zu deuten ist". 5 4 Wer den Himmel nicht so erfährt, hat der das Bilderrätsel nicht gelöst? Auf weniger gelehrte Versuche der ,Bildinquisition' scheint jene Bemerkung gemünzt zu sein, die Achim von Arnim einem Mann in den Mund legt, der wie Brentanos Protagonist die Auftritte der Ausstellungsbesucher vor dem Bild beobachtet hat: „Es ist gut, daß die Bilder nicht hören können, sie hätten sich sonst schon längst verschleiert; die Leute gehen gar zu unzüchtig mit ihnen um und sind fest überzeugt, sie ständen hier wegen eines geheimen Verbrechens am Pranger, das die Zuschauer durchaus entdecken müssen." Aber trifft dieser Verdacht nicht auch die zitierte Art von ikonographischer Entschlüsselung? Im Diskurs über das Bild vertritt jener Beobachter im übrigen eine Position, die dem Ausdruck einer einzigartigen „wunderbaren Empfindung" mit deutlicher Reserve begegnet. Sein Urteil ist — mit Schleiermacher gesprochen — nicht divinatorisch, sondern komparativ. Er stellt das Singulare in eine Vergleichsreihe. Was Friedrich den holländischen Malern an Gefühl voraus habe, das büße er ihnen gegenüber an technischer Fertigkeit ein. 5 5 Es ist Arnims persönliche Ansicht; denn Jahre nach diesem Anlaß rühmt er den die Naturszenerie ungleich „realistischer" darstellenden Karl Friedrich Lessing als denjenigen Maler, der erreicht habe, was Friedrich zu malen wünschte. 56 Der von Arnim imaginierte Beobachter im Text lenkt die Aufmerksamkeit auf den Diskurs zurück; denn noch ist die Reflexion des Bildes nicht zum Zentrum des Darstellungsproblems vorgedrungen. „Wer später sich nach den Küstenbewohnern umsähe", nach Gestalten also, die der Vergleich mit holländischen Seestücken erwarten läßt, der „fände immer noch in dem Kapuziner alle Veranlassung, das auszusprechen, was mehrere der Zuschauer in einer überschwenglich allgemeinen Vertraulichkeit allen laut mitgeteilt haben". Die Einsamkeit des Mönchs und der Versuch, sich als Betrachter vor dem Bild mit der Gestalt im Bild zu identifizieren, waren schon Zielpunkt des den insze-
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Börsch-Supan, „Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs ,Mönch am M e e r ' " , a . a . O . , S. 64. Helmut Börsch-Supan, Caspar David Friedrich, München 1973, S. 83. Der Vergleich mit den Bildkonstruktionen der holländischen Landschaftsmalerei ist Gegenstand des Aufsatzes von Michael Brötje, „ D i e Gestaltung der Landschaft im Werk C . D . Friedrichs und in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts", in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 19, 1974, S. 4 3 - 8 8 . Achim und Bettina in ihren Briefen, hrsg. von Werner Vordtriede, Frankfurt a.M. 1961, S. 915 (Brief v o m 18.10.1830).
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nierten Auftritten vorangehenden, in der Ich-Perspektive niedergeschriebenen Textes von Brentano. Ihm korrespondiert eine Reihe von Äußerungen innerhalb der Dialoge, deren Zuordnung dadurch zweideutig wird: Die „Tiefenstruktur" des ganzen Textes stimmt nicht mit der Perspektivierung des Diskurses gemäß den vordergründig zugeteilten Sprecherrollen überein. 57 Dadurch bleibt auch die Verantwortung für das Gesagte in einem eigentümlichen Schwebezustand. Dies entspricht der von der radikalen Romantik verfochtenen Pluralisierung des Ichs, die wiederum ironische Distanz zu aller endgültigen Fixierung voraussetzt. In der Wiedergewinnung eines persönlich zu verantwortenden Standortes liegt andererseits der besondere Einsatz Kleists, dessen Stellungnahme zu Friedrichs Bild beansprucht, „nunmehr ein bestimmtes Urteil auszusprechen". 58 Dieser Anspruch mutet zunächst merkwürdig an, da die erste Hälfte des Kleistschen Textes Brentanos aus der Ich-Perspektive verfaßte Eingangspassage nahezu unverändert übernimmt und darüber hinaus in den neu konzipierten zweiten Teil noch einige Satzfragmente aus den Dialogen einmontiert. Der fremde Anteil gilt Kleist jedoch nur noch als „Buchstabe" — „der Geist aber, und die Verantwortlichkeit dafür, wie er jetzt abgefaßt ist", sei sein Eigentum. 5 9 Die beanspruchte Authentizität ist also mit einem Akt persönlicher Beglaubigung verknüpft. Kleist sieht seine eigene existentielle Situation in Friedrichs Bild widergespiegelt. Oder nur in der Beschreibung des Bildes? Nicht von der Hand zu weisen ist die Möglichkeit, daß Kleist das Bild gar nicht gesehen, sondern nur imaginiert hat. In Kleists Text bricht das Brentano-Zitat an der Stelle ab, an der sich der Protagonist dem Diskurs zuwendet, um das dialogische Zwischenfeld von Bild und Betrachter zu erweitern. Kleist dagegen versteht das Verhältnis weiterhin als ein exklusives und radikalisiert die Zwiesprache mit dem Bild bis zu einem Punkt, an dem — mit Lyotard gesprochen — das Erhabene aufscheint „als Augenblick, der das Chaos der Geschichte unterbricht". 6 0 Dieser Augenblick ist nicht konservierbar. So qualifiziert Kleist schließlich seine „eigenen Empfindungen" als „zu verworren", um im Sinne des beanspruchten „bestimmten Urteils" mitgeteilt werden zu können. Er will sich durch den Diskurs der anderen „belehren" lassen, damit er seine Empfindungen künftig doch noch „ganz auszusprechen wage".
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Diese Vielschichtigkeit verkennt Börsch-Supan, wenn er meint, daß die Dialoge die Reaktion des Berliner Publikums einigermaßen getreu wiedergeben dürften („Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs ,Mönch am Meer'", a.a.O., S. 74). In der schon erwähnten „Erklärung" vom 22.10.1810. Ebd. Vgl. dazu vor allem den Essay „Der Augenblick, Newman" in: Das Inhumane, a. a. O., S. 141-157.
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Wie trügerisch diese Hoffnung ist, zeigen Kleists briefliche Äußerungen zum Problem der Mitteilung von Empfindungen: „Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke." 6 1 — Fragment bleibt auch die Mitteilung der Empfindungen vor Friedrichs Bild oder anläßlich der Imagination seines Bildes. D e r Abbruch, den es seinem Herzensanspruch tut, spiegelt sich im Abbruch einer ästhetischen Reflexion, die das Verworrene nicht gänzlich aufzuklären vermag. Für Kleist ist also auch die Empfindung des Erhabenen sensu stricto „undarstellbar", aber in welchem Sinne? E r erfährt ja das Bild, das „mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse daliegt", als ingeniösen Ausdruck seiner eigenen existentiellen Befindlichkeit, die verallgemeinert die condition humaine ist: die Situation des solus ipse, das mit einer späteren Formel Heideggers erkennen muß: „Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das N i c h t s . " 6 2 D e r letzte Satz, den Kleist von Brentano übernimmt, konstatiert die Vergeblichkeit der durch die Erinnerung an die Erhabenheit des Meeres geweckten Sehnsucht. Friedrichs Darstellung ist nicht von der Art, daß der Betrachter „in prophetischem Schimmer jenseits des Meeres die Küste eines fernen Landes a h n t " . 6 3 Für Kleist jedenfalls bleibt der beherrschende Eindruck der einer Negativität, die durch keinen religiösen oder moralischen Trost zu relativieren ist: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis." Gerade dieser Satz spricht im übrigen dafür, daß Kleist das Bild gar nicht gesehen oder zumindest nicht genau betrachtet hat. Denn Friedrich setzt mit der Kette vom Boden auffliegender und von der Aufhellungszone des Himmels herabschwebender Möwen einen Akzent, der die Verbindung mit anderem Leben und die Hoffnung auf Uberwindung der Einsamkeit zumindest andeutet, wenngleich das Gewicht dieses Zeichens umstritten bleiben muß. Versteht man die Entwicklung des Kleistschen Textes als Reflexionsprozeß, so schlägt die euphorische Gestimmtheit des Eingangssatzes um in das ängstigende Gefühl jenes Solipsismus, dem später Wittgenstein eine paradoxale Wahrheit zugestanden hat: Was der Solipsismus nämlich meine, sei ganz richtig, nur lasse es sich nicht sagen, „sondern es zeigt s i c h " . 6 4 — Darstellung von Undarstell-
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Brief an Ulrike vom 5.2.1801 (Heinrich von Kleist, Werke und Briefe, Bd. IV, Berlin 1978, S. 191). Martin Heidegger, Was ist Metaphysik f (1929), Frankfurt a.M. 1965, S. 35. Eine Formulierung des mit Friedrich befreundeten Philosophen Gotthilf Heinrich Schubert; zit. nach Hans Ost, Einsiedler und Mönche in der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1971, S. 122. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, These 5.62.
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barem: Für Kleist übernimmt Friedrichs Bild die Funktion zu zeigen, „inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit i s t " . 6 5 U b e r Kleists Rezeption der Philosophie seiner Zeit ist viel gestritten worden. 6 6 In seinen Briefen hatte er das Gefühl, „seinem Abgrunde entgegenzugehen", mit der „Verwirrung durch die Sätze einer traurigen Philosophie" verknüpft. 6 7 D e r Name Kants fällt, aber der konkrete Bezugspunkt bleibt unklar. Kleist sieht sein höchstes Ziel endgültig „gesunken"; eine „unaussprechliche Leere" erfüllt sein Inneres, und das Leben — „dieses rätselhafte D i n g " — erscheint ihm wie ein unauflösbarer „Widerspruch": „flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständliches B u c h " . 6 8 Von besonderer Plausibilität ist die These Cassirers, nach der mit der „neueren sogenannten Kantischen Philosophie" Fichtes radikalisierte Selbstreflexion gemeint ist, 6 9 die den Zweifel im Sinne des Solipsismus bis zur Auflösung jedes objektiven Wissens treibt: „Es ist kein Sein. — Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: — Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. — Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt." 7 0 Während bei Fichte das solipsistische Trauma einer wesenlosen Korrelation von Ich und Welt als in sich verschachtelter Bilder zugunsten der Allmachtsphantasie eines Ichs überwunden wird, das in freier Tathandlung ein Nicht-Ich „setzt", um sich unendlich mit ihm zu vermitteln, verharrt Kleist im depressiven Gefühl einer endgültigen „Nichtung" des Seins. Die Formel, die diese existentielle Gestimmtheit ausspricht — „einsamer Mittelpunkt im einsamen Kreis" — , entstammt allerdings einem der von Brentano vorgeführten Dialoge. Dort deu-
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Ebd. Eine Synopsis der verschiedenen Hypothesen gibt Peter Struck, Kleists Wahrheitskrise und ihre frühromantische Quelle, Hannover 1984, wobei sein eigener Lösungsvorschlag (Tiecks Roman William Lovell als Quelle) allerdings wenig zu überzeugen vermag. Brief an Wilhelmine vom 21.7.1801 ( Werke und Briefe, Bd. IV, S. 238). Ebd., S. 242. Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, Berlin 1919 (= Philosophische Vorträge der Kant-Gesellschaft, Nr. 22). Johann Gottlieb Fichte, „Die Bestimmung des Menschen" (1800), in: ders., Ausgewählte Werke, hrsg. von Fritz Medicus, Bd. III, S. 341.
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ten zwei „Herren" Friedrichs Bild in unverkennbar fichteanischer Manier: Der Mönch sei „das Gemüt, das Herz, die Reflexion des ganzen Bildes in sich und über sich". In der Rolle des einsamen Betrachters wird zugleich das Bild-sein des Bildes und das Bild-sein der Welt wie des dieser Welt gegenüberstehenden Subjekts reflektiert. Die Charakterisierung Friedrichs als „Metaphysicus mit dem Pinsel" 71 hat hier ihren signifikantesten Ausdruck gefunden. Jener Dialog antizipiert im übrigen schon Kleists klaustrophobische Deutung des Bildes: Der Mönch „ist die Sache selbst, er ist das Bild, und indem er in diese Gegend wie in einen traurigen Spiegel seiner eigenen Abgeschlossenheit hinein zu träumen scheint, scheint das schifflose einschließende Meer [...] und das öde Sandufer [...] ihn wie eine einsame, von sich selbst weissagende Uferpflanze symbolisch hervorzutreiben". Als Kleist seine „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft" niederschreibt und dabei auf Wendungen Brentanos zurückgreift, ist er nicht mehr weit von jenem äußersten Punkt entfernt, an dem sich seine Existenz nur noch als „Triumphgesang im Augenblick des Todes" glaubt erfüllen zu können, an dem seine „unheilbare Traurigkeit" nur noch die „jauchzende Sorge" kennt, einen Abgrund zu finden, der tief genug ist, um sich hinabzustürzen, um sich das — wie er meint — „allerqualvollste Leben, das je ein Mensch gelebt hat", durch den „herrlichsten und wollüstigsten aller Tode" vergüten zu lassen.72 Für Kleist ist Friedrichs Bild also tatsächlich „negative Darstellung" in dem Sinne, daß der Augenblick des Erhabenen der im Bild antizipierte Augenblick der eigenen Vernichtung ist — äußerste Exstasis, nicht zu überbieten und unumkehrbar. Aber Kleist versteht das Bild nicht nur existentiell; er versucht auch, dem spezifischen Anspruch seiner Darstellungsform gerecht zu werden, indem er Sprach-Bilder entwirft, die das vom Bild evozierte „Undarstellbare" auf eigene Weise zum Ausdruck bringen, ohne als dessen Ubersetzung gelten zu wollen. Die erste dieser Äußerungen — vielzitiert — behauptet von Friedrichs Bild: „Da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären." Diese Metaphorik der Verletzung wurde als Antizipation von Schock-Gesten der ästhetischen Moderne gedeutet. Konkret umschreibt sie den Konflikt eines Betrachters, der die Bildgrenze wegen fehlender Binnenrahmung und mangelnder perspektivischer Zentrierung des Bildraums als bloße Schnittlinie empfindet. Friedrich hat eine Darstellungsform gewählt, die im Sinne einer Ästhetik des Erhabenen den Eindruck von Grenzenlosigkeit erweckt. Der Be71
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Zitiert nach Caspar David Friedrich. Auge und Landschaft. Zeugnisse in Bild und Wort, hrsg. von Gerhard Eimer, Frankfurt a.M. 1974, S. 50. Briefe vom 19. und 21.11.1811 an Marie von Kleist {Werke und Briefe, S. 493/496).
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trachter überschreitet in der Imagination den Rahmen, indem er sich der Einförmigkeit und Uferlosigkeit des dargestellten Landschaftsausschnittes überläßt. Kant hatte diesen Konflikt ohne Bezug auf die Rahmensetzung der Kunst diskutiert, als Widerspruch zwischen der Begrenztheit der Anschauung und der Totalitätsforderung der Vernunft, die selbst vom unendlichen Raum Darstellung verlangt". 73 Solche vergleichsweise nüchterne Analytik wird freilich in Kleists Sprach-Bild von der Negativität des Schmerzes übertönt. Eine präzisere Affinität zum Begriff des mathematisch Erhabenen bei Kant stiftet der der Schnittmetapher folgende merkwürdige Vergleich: „Gleichwohl hat der Maler zweifelsohne eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen; und ich bin überzeugt, daß sich mit seinem Geiste eine Quadratmeile märkischen Sandes darstellen ließe, mit einem Berberitzenstrauch, worauf sich eine Krähe einsam plustert, und daß dies Bild eine wahrhaft Ossiansche oder Kosegartensche Wirkung tun müßte." Läßt man die Anspielung auf damals geläufiges Bildungsgut beiseite, so muß vor allem ein Widerspruch auffallen: Was Kleist als dem Geist des Malers entgegenkommendes Sujet imaginiert, wäre im Medium des Bildes gerade nicht „darstellbar", es sei denn, das Bildfeld selbst würde irreal ins Riesenhafte erweitert. Dennoch verdeutlicht das Sprach-Bild Kleists die Eigenart jener Erfahrung, die Friedrich dem Betrachter zumutet: daß die einsame Gestalt in der evozierten Unendlichkeit des Raumes zu verschwinden droht. Durch eine neuartige Bildkonstruktion gelingt es ihm, dem von Burke, Kant und Schiller vorgeprägten Begriff des Erhabenen als desjenigen, „mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist", 74 zu überzeugendem Ausdruck zu verhelfen. Daß der Konflikt zwischen intellektueller Synthesis des Unendlichen im Begriff und notwendigerweise scheiternder Synthesis in der Anschauung (comprehensio aesthetica) so rein zutage treten kann, hängt wiederum mit anderen Insignien des Erhabenen zusammen, die als privative Bestimmungen — Leere, Dunkelheit, Einsamkeit, Schweigen — den Versuch einer Evokation des Unendlichen unterstützen. Ein letztes Sprach-Bild Kleists bedarf noch der Erläuterung: ,Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eigenen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser malte, so glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen: das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese Art von Landschaftsmalerei beibringen kann." Man hat diesen Satz als ironischen Angriff auf das Bild 75 oder gar als Vorwegnahme der ästhetischen Position des Realismus 76
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Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 341. Ebd., S. 335. Sembdner, Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, a.a.O., S. 184. Katalog der Ausstellung „Caspar David Friedrich", Dresden 1974, S. 28.
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gedeutet. Beides ist eher abwegig. Kaum bestreitbar ist der Rückgriff auf seit der Antike überlieferte Anekdoten von Tieren, die gegenüber Bildern so reagieren, als seien sie mit der dargestellten Realität konfrontiert. Das Heulen der Füchse und Wölfe ist dazu aber wohl nicht der passende Ton. Eher könnte Kleist hier auf „das ganze Schrecken" der Kunst angespielt haben, wie er es in seiner Legende von der heiligen Cäcilie am Beispiel einer Messe beschwört, deren unvergleichliche Wirkung das Gemüt von Bilderstürmern „zerstört und verwirrt", so daß sie fortan immer wieder zu einer bestimmten Stunde „mit einer entsetzlichen und gräßlichen Stimme" das gloria in excelsis deo aus sich heraus schreien müssen. „So mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie, zur eisigen Winterszeit, das Firmament anbrüllen."77 In jedem Falle wählt Kleist auch hier ein Sprach-Bild, das nichts schon Dargestelltes übersetzt, sondern im eigenen Medium ein Äquivalent für die außerordentliche Empfindung zu schaffen versucht, die das Bild zu wecken vermag. Auf solche Weise kann der Diskurs über Bilder das Bewußtsein der ästhetischen Differenz schärfen, so daß die Legitimität der Deutungsversuche gerade darin begründet wäre, einen Anspruch auf Geltung hervortreten zu lassen, der „keine Ruhe gewährt".
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Heinrich von Kleist, „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. Eine Legende"
{Sämtliche Werke, München-Zürich 1961, S. 740).
Der Betrachter als Produzent ? Zur Kunst der Rezeption im Zeitalter technischer Medien Hans Ulrich Reck
Daß in der Epoche einer Wiederentdeckung des Sublimen die historisch-kritische Bestimmung von Kunst in Schwierigkeiten gerät, liegt auf der Hand, rechnet aber auch charakteristisch zur paradoxalen Situation unserer Gegenwart. Paradox erscheint das Verhältnis zwischen einer auf Revokation des Archaischen abzielenden Kunstpraxis, von individuellen .Manieren', und der Durchformung des Alltagslebens mit Inszenierungsformen, die ursprünglich von denjenigen Avantgarden entwickelt worden sind, deren Wirkung auf das gesellschaftliche Leben gewöhnlich nicht akzeptiert wird. Die funktionale These der auf die Selektion von ,schön' und ,häßlich' verpflichteten Selbstregulierung des Kunstsektors überschreibt aus demselben Grund der Kunst als einzige Funktion die der Funktionslosigkeit. 1 Handgreiflichere Formen der Selbstversorgung liefern Kunstmarkt, Großausstellungen, Jubelfeiern und die breit entwickelte Gewöhnung an einen allgemeinen touristischen Verzehr der Verfügbarkeit von Kunst. Wesentlicher für eine perspektivische Erörterung des Verhältnisses von Kunst und Ästhetik ist aber über solche sozialen Veränderungen hinaus die Technisierung der Kunstrezeption, wie sie immer schon von der modernen Kunstgeschichte, seit dem 19. Jahrhundert also, betrieben worden ist. Wenn auch in ihrer eigentlichen Pointe unbemerkt, ist diese Technisierung längst so weit fortgeschritten, daß die strategisch-moralische Diskussion um die Dynamik technisch-simulativer Bild- und Rezeptionsmedien dem Verdikt der unproduktiven Ungleichzeitigkeit verfällt. Inwieweit theoretisch-ästhetische Konzeptionen der Nach-Postmoderne, zum Beispiel die Jean-François Lyotards, mit einem medientheoretischen Verständnis der Alltagskultur zusammengeschlossen werden können, ist Gegenstand dieses Textes wie Stoff der heutigen kulturellen Entwicklung generell. In dem Maße, wie die Theorie der modernen Kunst tradi-
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Vgl. Niklas Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst", in: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1986, S. 6 2 0 - 6 7 2 .
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tional handwerkliche Auffassungen wiederholt und ihre eigene Krise blind gegen die Provokationen der technischen Medienkultur abschottet, muß ein philosophisch reflektierendes Denken zu einem vertieften Verständnis der Irritation führen, daß alle Kultur Medienkultur ist und daß sich hinter dem apokalyptischen Selbstmißverständnis aktueller Kulturtheorien 2 nichts anderes verbirgt als eine Weigerung, den theoretischen Fortschritt in der Beschreibung der Gegenwart nicht nur als Leistung der Wissenschafts-, sondern auch der Alltagskultur anzuerkennen. Dieses Argument wird im folgenden ausgeführt 1. durch einen Nachweis der technischen Manipuliertheit der Kunstgeschichte, 2. durch Hinweise auf die die Avantgarde beerbenden Darstellungsleistungen in der technischen Medienkultur, 3. durch Gedanken zur medientheoretischen Erbschaft in der Kritik des traditionellen Kunstbegriffs und 4. durch den Aufweis eines produktiv möglichen Einbezuges der Lyotardschen Ästhetik in die Rezeption aktueller Medienkultur.
1. Die technische Manipuliertheit der Kunstgeschichte Die Kunstgeschichte ist seit Giorgio Vasaris Tagen als Historiographie des authentisch Einzigartigen konzipiert. Ohne Originarität und Singularität entschwände ihr Material in Ethnographie, zu der aus dieser Sicht sowohl Walter Benjamins These vom Zerfall der Aura 3 wie auch André Malraux' reproduktionstechnische Individualisierung der Kulturgeschichte als Privatalbum je unvereinbarer, heteronomer und — unausgesprochen — plebejischer Neigungsästhetik 4 zu rechnen sein dürften. Aber gerade der Zwang zum Beleg historiographischer Konsensfähigkeit am Material der Kunstentwicklungen hat jene Entwertung der singulären Kunstwerke durch stereotypisierte Rezeption eingeleitet, gegen deren banalisierende Handhabung im alltäglichen ,low-culture' -Bilderverzehr die Kunstgeschichte die Bedeutsamkeit des individuell Originären zu bemühen pflegt. Die mit der Illustration der Kunstgeschichte an der Kunst vorbereitete Entwertung des ästhetischen Werkerlebens, die an die Stelle des Schocks des Originalen die entfremdende Trivialität des affirmativen Wiedererkennens, eine erkennungsdienstliche Identifikation, setzt, ist nicht allein in der unreflektierten
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Vgl. Hans Ulrich Reck, Grenzziehungen. Ästhetiken in aktuellen Kulturtheorien, Würzburg 1991. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), Frankfurt a.M. 1963. Vgl. André Malraux, Das imaginäre Museum (1947), Frankfurt a.M.-New York 1987.
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Reproduktionsweise der Werke vorgeformt, sondern auch im Überhang einer spezifischen Methode angelegt. Mit der Reproduktion strukturell verbunden ist der Vorrang des ikonographischen Identifizierens. Damit aber scheiden weite Bereiche der Kunstproduktion — gerade solche des 20. Jahrhunderts, aber auch schon Rembrandt, Rubens und Goya — aus einer so eng gefaßten Kunstwissenschaft aus. Die Reduktion des Kunstwerks auf Motiv- und Quellengeschichte erweist sich keineswegs als reflektierte, historiographisch abgesicherte Methode, sondern als naiver Tribut an eine ideologisch vorgeblich bekämpfte Technisierung der visuellen Kultur. Das kann belegt werden durch Hinweise auf die systematische Vernachlässigung der materiellen Momente der Herstellung wie der Rezeption von Kunst, der stofflichen Texturen wie der besonderen medialen Logik der jeweiligen Rezeptionsorte. An die Stelle einer Lektüre der visuellen Struktur und stofflichen Textur des Bildes tritt einerseits die Reduktion auf ikonographische Identifikation, andererseits die Ausgrenzung des Nichtsagbaren als des Außerikonographischen ins Reich des mit Bann belegten Schweigens.5 Was Malraux polemisch fordert, erscheint aus der modernen kunstgeschichtlichen Publikations- und später Vorlesungspraxis als Zeugenschaft .contre coeur': die Annihilierung des exklusiv Originären durch Manipulationen des Formats, der Farbigkeit, des Kontextes, der gesamten visuellen Realität des Urbilds. Kein Wunder, daß die objektiv-reale Thematisierung der Kunstwerke im außerikonographischen Bereich an Pseudotheorien und jeweilige individuelle Geschmacksempfindungen, sensualistische Privatsensationen, zurückgebunden wird. An die Stelle eines rezeptionstheoretisch fundierten Arbeitens mit Texturen tritt die Lektüre einer verschiebenden Erinnerung an das, was dem eigenen auratischen Erleben sich als Charakteristisches eingesenkt hat. Damit zerfällt die objektivierbare Lektüre gerade der Panofsky-Richtung allzuoft in eine strategische Vertextlichung des Bildes. Das wirkt auf Bildkontrolle hin, hinter der sich leicht als Motiv die Sentimentalisierung des Bedarfs an Authentizität — soziologisch: Repräsentation humanistischer Selbstbildungsideale — ausmachen läßt. Das wird besonders deutlich an Umbruchfiguren. Als Beleg sei hier auf den Umgang mit dem Œuvre Masaccios verwiesen, der sich für die Exemplifizierung solcher Kunstgeschichte anstelle einer visuell entzifferbaren ästhetischen Struktur der Werke anbietet. Geht es im ,Dreifaltigkeitsfresko' (Florenz, Santa Maria Novella, 1425 oder 1427) gerade nicht um ein zentralperspektivisches, räumlichkeitsmimetisches ,Durchbruchswerk' und ein ästhetisches Formarrangement, sondern umgekehrt um eine damals allein mit innovativen Konstruktionsmitteln herstellbare neue Aussage — an die Stelle der Offenbarung tritt die Einübung in den unter dem Zeichen des .memento mori' vollzogenen praktischen Tugendkanon,
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Vgl. dazu: Reck, a.a.O., Kap. 2.10.
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der die gesellschaftliche Einbindung des Wissens durch die visuell erinnerte eigene Mortalität motiviert6 —, so wird durch die den realen Blickpunkt verzerrende, die Untersicht vor dem Fresko in eine Situation ,en face' umformende Abbildungstechnik eine neue und andere Realität erzeugt. Die Raumarchitektur Masaccios wird in dem Maße als Beleg für das Paradigma der Zentralperspektivität hervorgehoben, wie der Zusammenhang der entscheidenden ikonologischvisuellen Struktur durch Weglassungen verfälscht wird, eine Technik, die verstärkt noch für den Petrus-Zyklus in Santa Maria del Carmine (Florenz) zu beobachten ist. Um Masaccio auf die ihm unterlegte Intention einer antikisierenden Figuration und chiaroscuro'-Klarheit zu verpflichten, greifen zahlreiche Autoren zu fiktiven Detaillierungen.7 In der gepriesenen Kollektivstudie Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte wird Masaccio gar als eigentliches optisches Leitmotiv nobilitiert: 8 Er übernimmt emblematisch für diskursives Lesen, was für die von ihm repräsentierte Epoche zur Einführung in die betrachterpsychologische Struktur des perspektivischen Sehens der .festaiuolo' leistet.9 Die Auseinandersetzung mit einem ausgreifenden Realismusbegriff10 anhand von Masaccio findet kunsthistorisch in Ansätzen noch bei Richard Hamann 11 und Peter Meyer12 statt, nicht mehr bei den formalisierenden Zugriffen von Peter Burke 13 und dem die Grenze zum subjektiv Willfährigen reiner Oberflächenimpressionen überschreitenden Ernst Gombrich. 14 Immerhin bildet
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Vgl. dazu zuletzt angemessen: Alexander Perrig, „Masaccios Trinità und der Sinn der Zentralperspektive", in: Marburger Jahrbuch 21, 1986, S. 11-44. So zum Beispiel Ernst Gombrich, The Heritage of Apelles. Studies in The Art of the Renaissance III, Oxford 1976, Abb. 66 a und b; André Chastel, Die Kunst Italiens, München 1987, S. 185 f. Luciano Bellosi u. a., Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, 2 Bde., Berlin 1987, hier Band 1, S. 2f.; in Band 2, S. 133, wird exemplarisch vorgeführt, was Reproduktionstechnik als ästhetische Erkenntnisform leistet: ikonische Vergleichbarkeit unter vollkommener Angleichung der Vergleichsgesichtspunkte im Bild selbst — eine neue visuelle Realität unter synthetischen Bedingungen. Vgl. Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1977; Pierre Francastel, La Figure et le Lieu. L'Ordre visuel du Quattrocento, Paris 1967. Klaus Herding, „Mimesis und Innovation. Überlegungen zum Begriff des Realismus in der bildenden Kunst", in: Zeichen und Realität, hrsg. von Klaus Oehler, Tübingen 1984, S. 83 ff. Richard Hamann, Geschichte der Kunst, Berlin 1933, S. 392. Peter Meyer, Europäische Kunstgeschichte, Band II: Von der Renaissance bis zur Gegenwart (1947), München 1986, S. 40f. Peter Burke, Die Renaissance in Italien, Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, Berlin 1984, S. 33 f. Ernst H. Gombrich, Geschichte der Kunst, Stuttgart 1977, S. 179 f.
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Gombrich das ganze Dreifaltigkeitsfresko ab, wohingegen Panofsky 1 5 auf den für die Bildaussage und das Paradigma eines neuen Wirklichkeitsverständnisses, damit für die von ihm ohnehin gering geschätzte ikonologische Aktivierung der Rezeption durch präzise Bildformen entscheidenden unteren Teil mit dem transparenten Sarkophag verzichtet, durch den erst die Bildachsen zu einem Signifikationssystem zusammengeschlossen werden. Damit ist kunstgeschichtlich ein Verfahren bestimmend, das von Propagandisten der Moderne für erweiterte Zwecke genutzt wird: Reduktion der Wirklichkeitsaneignung auf die Demonstration eines geometrisch-orthogonalen Raumsystems. Siegfried Giedion 1 6 begnügt sich wie Panofsky mit dem die Raumabstraktion repräsentierenden Bildteil und vereinnahmt Masaccio umstandslos als problemlösenden Architekten. Solche Rückprojektion selektiver Modernitätsinteressen — die im übrigen zugunsten kubistischer Abstraktion 1 7 die eher konstruktivistisch inspirierten Richtungen aus der Historiographie ausschließen — auf Formaspekte ist in der Kunstgeschichte visuell-reproduktiv vorbereitet. Horst W. Janson 1 8 bringt, wohl aus Gründen des Satzspiegels, eine die anstoßenden Wandflächen wegblendende Reproduktion mit einem vertikalen Verlängerungseffekt. Honour/Fleming 1 9 präsentieren zwar eine farbige Gesamtaufnahme, verzichten aber wiederum auf Nachvollziehbarkeit der für die Rezeption entscheidenden Tatsache, daß das Fresko ebenerdig ansetzt, womit die illusionistische Vortäuschung eines realen, d. h. skulpierten Sarkophagen erst die Modellierungskraft des neuen Imaginären, der Unterscheidungsproblematik zwischen sichtbarer und visuell-mimetisch anverwandelter, zwischen realer und imaginativer Welt gewinnt. Auf dem Hintergrund des Kunstzeitschriften- und Restaurationsbooms der letzten Jahre — zugespitzt in der Diskussion über das neue Gesicht von Michelangelos SixtinaDecken-Gemälden, die für eine visuelle Pointierung fotografischer Reproduzierbarkeit effektsicher ausgerichtet worden sind — wird deutlich, was die sich sonst eher hermetisch gebenden Spitzen der Kunstgeschichte schon längst praktizieren. Uberspitzt läßt sich formulieren: Die Kunst ist eine Erfindung der ihre Reproduktion technisch habitualisierenden Kunstgeschichte. Sie erscheint als se-
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Erwin Panofsky, Die Renaissance der europäischen Kunst, Frankfurt a.M. 1979, S. 298. Siegfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur (1941), Zürich 1976, S. 51 f.; wiederholt in: Siegfried Giedion. Der Entwurf einer modernen Tradition, Museum für Gestaltung Zürich, 1989, S. 207. Colin Rowe und Fred Koetter, Collage City, Basel-Boston-Berlin 1984, S. 80ff.; Colin Rowe und Robert Slutzky, Transparenz, 3. erg. Aufl., Basel-Boston-Berlin 1989; Kenneth Frampton, Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte, Stuttgart 1983, S. 130ff., 154ff., 192ff. Horst W. Janson, Kunstgeschichte, neubearb. u. erw. Aufl., Köln 1988, S. 413. Hugh Honour und John Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München 1983, S. 332.
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kundär-authentisches, simulativ-selbstreproduktives Erzeugnis kunsthistorisch aufgebauter Darstellungs- und Beschreibungssysteme. Die Kunstgeschichtsschreibung ist spätestens seit Jacob Burckhardt 20 Bestandteil der technischen Medienkultur. Und wie diese ersetzt sie das originär Authentische durch die Ordnung einer symbolischen, scheinhafte Authentizität produzierenden visuellen Erlebniskonfiguration, aus deren Ordnung die subjektiven Werte des erhebenden Kunsterlebens abgeleitet werden: Nahsicht, Kontextisolierung, Strukturverdeutlichung, Farbmanipulation, Kombinationswillkür, insgesamt: Ereignissammlungen aus dem Blick eines an Reproduktionsvorgaben geschulten Verzeichnungsund Klassifikationsinteresses. Synthetisch erzeugt wird mit technischen Bildern, was dem realen Sehen sich entzieht. Die Komputation der Strukturen, eine Art Digitalisierung der Bilderfassung ,avant la lettre', lassen sich schon in der Handhabung der Abbildungen in Publikationen von Richard Hamann bis zu den Reihen des Fretz & Wasmuth Verlages, von den Künstlermonographien bei Velhagen & Kläsing bis zu den ,Klassikern der Kunst', 21 also lange vor den Errungenschaften des Computers und des Scannings, als bestimmende ästhetische Formen ausmachen. Damit erweisen sich die im Namen eines handwerklich Originalen beanspruchte, definitorisch zwingende Authentizität der Kunst, 22 die Inanspruchnahme der personalen Spuren und Gesten sowohl kunstgeschichtlich wie kunsttheoretisch als provokativer Selbstwiderspruch: simulierte Realität kraft technischer Reproduzierbarkeit als moralische wie ästhetische Basisvorgabe für das Kunsterkennen. Benjamins These vom Aurazerfall dient als Beleg einer Überhöhung der Kunst außerhalb der ihre Rezeption formenden technischen Vermittlungsmedien undl verliert sich im Paradox einer Kunstwahrnehmung, die sich nicht mehr mit der Auralosigkeit apparativer Aneignung, sondern nur mit der synthetisch-technischen Aura der inszenierten Realität koppeln läßt. Die technische Erzeugung von Bildformeln verweist auf eine mythologisch rubrizierende 23 Symbolwelt, die radikalere Zusammenhänge zwischen der avantgardisti-
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Markus Kutter, „Über den Mangel an Programmen hinaus", in: Kanalarbeit. Medienstrategien im Kulturwandel, hrsg. von Hans Ulrich Reck, Basel-Frankfurt a.M. 1988, S. 184-190, hier S. 185. Richard Hamann, Frührenaissance der italienischen Malerei, Jena 1909 (in einer Reihe
des Diederichs Verlags Die Kunst in Bildern)·, Zehn Jahrhunderte Italienische
Malerei,
10 Bde., Fretz & Wasmuth Verlag Zürich 1953 (,Bildet eine Miniatur-Galerie der italienischen Malerei vom Mittelalter bis heute'); Künstler-Monographien, in Verbindung mit anderen hrsg. von D. Knackfuss, Bielefeld-Leipzig, bis 1906 38 Bde.; Klassiker der Kunst, hrsg. unter der Leitung von Paolo Lecaldano, Rizzoli Mailand-Kunstkreis Verlag Luzern 1966 ff. 22 23
So: Michael Langer, Kunst am Nullpunkt. Eine Analyse der Avantgarde im 20. Jahrhundert, Worms 1984, S. 48, 58ff., 73, 89, 91, 102. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 85ff.
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sehen Kritik des Kunstwerks und der auf imitative Strategien verpflichteten Alltagswelt 24 vermuten läßt, als dies eine reaktionäre Aufteilung in authentische Vor- und mediatisierte Nachgeschichte zugestehen möchte. 2 5
2. Kunst, Avantgarde und Medienstrategie Avantgarden haben nur nominalistisch keine Chance mehr. Mißt man sie an Irritation und Deregulierung durch aktiviertes Nichtverstehen, bleiben sie wirksame und gültige Faktoren. Deshalb wird — Triumph der Rache — ihr semantisches Umfeld mit Irrealien aus der Welt des Banalen konnotiert. Avantgardekunst hat ihre Logik prinzipiell im Faszinosum des Verschwindens, einer beiläufigen und bloß rekonstruktiven Anerkennung des Nichtsichtbaren und Nichtbemerkten. Damit eröffnen sie den mit anderen Mitteln auf Banales greifenden Alltagsstrategien ein Feld, das zumindest von der Seite der Repräsentation des Symbolischen her keinen normativen Unterschied zur Reizkraft der sich nominalistisch selber dispensierenden Kunstprozesse gestattet. Das wird von Seiten der Kunstproduzenten allerdings entrüstet zurückgewiesen. Wie aber soll Authentizität individuelles Handeln wenn nicht privilegieren, dann immerhin bezeichnen, wenn die Okkupation von Privilegienversprechen simulativ eine Authentizität erzeugt, die nur noch strategisches Moment ist? Eine Werbung wie die von Lacoste 1988 in Spanien, die ihr Originalgut einzig noch über die Echtheit der Fälschungen behaupten kann, 2 6 entspricht in ihrer Struktur und Komplexität den Transformationsleistungen der Kunst von Marcel Duchamp bis Charlotte Posenenske: setzt der eine die Kunst der Nichtkunst mit den Mitteln
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Reichhaltiges Material: Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen, hrsg. von Jörg Huber, Martin Heller und Hans Ulrich Reck, Basel-Frankfurt a.M. 1989; Hans Ulrich Reck, „Imitieren? Klar, immer. Aber wie?", in: Basler Magazin 47, 1989 (v.a. Ausführungen zu Simulationstechniken anhand des ,Video-Baby'); ders., „Imitationen. Von der echten Lust am Falschen", in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 10, Tübingen 1988, Heft 3, S. 283ff.; ders. (Hrsg.), „Imitation und Mimesis", in: Kunstforum International, Bd. 113, Köln, Mai 1991. So konstruiert Neil Postman seine TV-Kritik, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a.M. 1985; kritisch dazu: Hans Ulrich Reck, „Das Verschwinden der Politik im Showbusiness. Zu Neil Postmans Plädoyer für die Abschaffung der modernen Kultur", in: Merkur 448, Juni 1986, S. 515ff.; außerdem: ders., „Vom Schweigen der Sirenen. Nachwort, Einführungen in ein Thema und Plädoyer für eine Kultur der Differenz", in: Kanalarbeit, a.a.O., S. 338 ff. Hans Ulrich Reck, „Krokodile", in: Imitationen, a.a.O., S. 193ff.
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der individuell lexikalischen Verzeichnung als ethnologische Selbstmodellierung fort, so die andere ihre Uberschreibung der Autorschaft an Rezipienten mit einem soziologischen Studium derjenigen Handlungsformen, die in ihrem künstlerischen Werk als Repräsentationsmomente die Bedeutungen durch Rezeption bestimmen: Serialisierung, Variation, Differenzierung, Improvisation. 27 Gerhard Richters Serie ,19. Oktober 1977' 28 ist ohne die Habitualisierung im Umgang mit fotografischen Bildern und der spezifischen Publikationsform der Pressefotografie nicht denkbar, geht es ihm darin doch um Probleme einer Unschärferelation der Erinnerung. Kontext bei Gerhard Richter ist ein Œuvre, das die Aktivierung der Indifferenz an die multiple Uberwindung moralisch-ideologischer Programme bindet. O b man das als Spiel bezeichnet oder nicht: es erscheint als der technischen Mediatisierung angemessene Vorgabe für das, was an Erinnerungsarbeit geleistet werden muß, wenn man Visualisierung auf die Vergegenwärtigung des technisch bereits Produzierten stützt. Ohne Umweg über den rezeptiven Aufbau derjenigen Signifikanten, die seit den Dramatisierungsformen der theatralischen Mimesis in der griechischen Antike 29 Signifikate von Medienkultur gewesen sind, ist eine zeitgenössische Ästhetik weder zu konzipieren noch für den Bereich der Kunst gehaltvoll zu machen. War nicht gerade die Täuschung über den Status der künstlerischen Besonderung, die Ontologie des Originären, war nicht die Selbstaufhebung der künstlerischen Differenzierungen von Marcel Duchamp bis Joseph Beuys diejenige Leistung von Kunst, welche die Ästhetik des bewußt inszenierten Alltagslebens artikulationsfähig gemacht hat? Dadurch würde allerdings der Konflikt zwischen Kunst und Leben gegenstandslos, lange bevor Kunst als Totalisierung des Lebens sich praktisch in diesem zu realisieren gedenkt. Ist nicht der ästhetische Hedonismus, die bewußte Anverwandlung der Rollenkonzepte anderer, die Pflege der Attitüden, die Selbstinszenierung als ,Dummy' und Doppelgänger von Berühmtheiten, deren Prominenz ihrerseits aus technischer Multiplikation, einem Ritual des authentischen Authentizitätsverzichts, abzuleiten ist, ist nicht die Eigenmanipulation an der Stelle einer aufgehobenen Subjektivitätsbehauptung dasjenige, was die Avantgarde unbemerkt in die Banalität des Alltäglichen
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Nach einer Reihe von Ausstellungen und Beschreibungen nun im Überblick: Charlotte Posenenske, Werkmonographie, Museum für moderne Kunst, Frankfurt a.M. 1990. Gerhard Richter, 18. Oktober 1977, Köln 1989. Vgl. Georg Picht, Kunst und Mythos, Stuttgart 1986, v.a. S. 134ff., 156ff., 220ff., 260ff., 296ff., 344ff., 378ff., 427ff., 510ff.; eine Entfaltung dieses Gedankens, der philosophische Ästhetik, Alltagspoetik und technische Symbolisierungen im Konzept einer Medientheorie vereint, wird demnächst vorgelegt: Hans Ulrich Reck, Mediali· tat. Ästhetische Konstruktionen der Differenz. Wege zu einer Theorie der Medienkultur, Habilitationsschrift, Universität Wuppertal, 1991.
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zwingt, wohingegen die Rückkehr des Sublimen allein noch in der Karikatur als Kunstmarkt und Werbung erträglich ist ? Lächerlich ist nur das Pathos, nicht die vernichtende Selbstironie des Umgangs mit den konkreten Lebensformen. Gewiß ist der Rekurs auf Duchamp für zertrümmernde Banalisierungen riskant, da sein Werk sich auch ikonographisch 3 0 oder linguistisch 3 1 lesen läßt. JeanFrançois Lyotard hat darauf aufmerksam gemacht, 3 2 daß Duchamps Werk als Arrangement zusammensetzbarer Probehandlungen, als Text einer Annäherung, bestimmt werden kann. Die Fortsetzung einer letztlich platonischen Ontologie durch Duchamp interpretiert Lyotard nicht als Bruch mit der Metaphysik der Illusionen, sondern als deren Uberführung in den Vorrang der Erzählungen und Meta-Erzählungen, des Satzes als Figuration derjenigen Denkbarkeiten, die den Status ästhetischer Erfahrungen beispielhaft am Kunstwerk, grundsätzlich an dessen Aneignung durch viel-perspektivische Lektüren erproben. 3 3 Das Setzen auf das Inkommensurable 3 4 und die Dissimulation 3 5 eröffnet an der Stelle der nominalistischen Besiegelung des Eigentlichkeitsverlustes einen neuen Typus von Affirmation: 3 6 Das Gewöhnliche wird zur Signatur eines Unbewußten, dessen ästhetische Brisanz in der Zertrümmerung aller Spiegel-Modelle gründet, das die Repräsentation aufhebt zugunsten einer imaginativen Aktivität und das sich allein durch Paradoxien entfalten kann. 3 7
3. Medientheoretische Erbschaft am Zerfall des Kunstbegriffs Testende Manipulation im Umgang mit dem physischen und psychischen Selbst eröffnet nicht reale Perspektiven auf eine digitalisierende Entgrenzung, an deren Beginn die Suggestion einer totalen Weltwahl steht, 3 8 vulgarisiert in der
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Octavio Paz, Nackte Erscheinung. Das Werk von Marcel Duchamp, Berlin o.J. [1987], S. 116 ff., 168 ff. [Aktaion und Diana]. Thierry de Duve, Pikturaler Nominalismus. Marcel Duchamp. Die Malerei und die Moderne, München 1987. Jean-François Lyotard, Die TRANSformatoren. DUCHAMP, Stuttgart 1986, zum Beispiel S. 133 ff. Ebd., S. 10, 30, 138 ff. Ebd., S. 23. Ebd., S. 59. Ebd., S. 55. Ebd., S. 79. So aber: Martin Burckhardt, „Digitale Metaphysik", in: Merkur 472, Juni 1988, S. 528 ff.
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umfassenden Zugänglichkeit von allem — Realität als abstrakter, totaler, individueller Dezisionismus — , sondern solche eines Wandels im Gefüge der Kultur. Mit der konzentrischen Inszenierungskraft der Bemühungen, Attraktivität anderer auf Selbstdarstellungen zu lenken, wird nicht das Life-Styling einer Elite beschrieben, sondern zunehmend und tiefergreifend ein neues Regulierungsmaß, eine neue universalistische, diesmal konkrete Anerkennungsform: Aufmerksamkeit als Währung, Bindung von Libido anstelle von Kapital, Zeitverzehr und Zeit als Regulierungen der begrenzten Lebensform-Ressourcen. 3 9 Damit erhält eine positiv-affirmative Fassung, was noch Walter Benjamin als Moment des Negativen im Wandel der ästhetischen Formulierungen beanspruchte: Zerfall der Aura als an die undurchschaubare Täuschungskraft des Einzigartigen, Originären gebundene Macht. Die Wirksamkeit des Auratischen scheint bei Benjamin in einer problematischen Doppelung auf. Als primäre Erfahrung der Natur ist sie ein Ferment des Melancholischen in einem strikt existenzphilosophischen Sinn — Erfahrung der Ferne, wie nahe diese auch immer sein mag. Solche positive Ausgangslage wird dagegen in der bürgerlichen Kultur aufgehoben: Wegen der abstrakten, universalen Vermitteltheit von allem und der instrumentellen Kraft der Vergleichgültigung des Konkreten in der leeren Maßform Geld/Kapital wird die Aura zum Produkt affirmativer Vortäuschung, Phantasmagorie der Versprechen gerade kraft abstrakter Gleichgültigkeit des aufgeschobenen Konkreten, des Gebrauchs- und Aneignungsversprechens im schönen Schein. Die Indienstnahme der Kunst als Fundus der Asthetisierung des Politischen entspricht der Abwehr der plebejischen, massenmedialen und technischen Ausdrucksformen von Film und Kino. Benjamin setzt utopisch Film und Kinematographie als Konstruktion einer über Zerstreuung vermittelten emanzipatorischen Aneignung der Apparate identisch. 4 0 Die Apparate machen die Montagedimension des Realen rezipierbar. Vor dem operativen Auge — einem der Apparatur geliehenen Organ — erscheint Realität als Konstruktion. D e r Betrachter wird zum eigentliche Realität Produzierenden. Es ist das Imaginative, das die Ordnung des Realen nach Gesichtspunkten technischer Manipulierbarkeit auseinanderlegt. Dieser Kern des Benjaminschen Gedankens — der in analogisierenden Metaphern als Kernbestand der ästhetischen wie der technischen Entwicklung eher unterstellt denn nachgewiesen wird — kann heute als utopisch wirksame Auffassung gelten. Als historiographisches Moment macht sie dagegen die Niederlage der Emanzipationserwartung an das Kino gegen die Ritualisie-
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Vgl. Georg Franck, „Die neue Währung: Aufmerksamkeit. Zum Einfluß der Hochtechnik auf Zeit und Geld", in: Merkur 486, August 1989, S. 688ff. Kritisch dazu: Hans Ulrich Reck, „Zwischen Kino, Film und Leben. Uber Wahrnehmungszerfall", in: Wider das Unverbindliche. Film, Kino und politische Öffentlichkeit, Jahrbuch CINEMA, Basel-Frankfurt a.M. 1985, S. 10-27, hier S. 20ff.
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rung des kultischen Erlebens deutlich. O b solchem Status des revoziert Banalen als Surrogat oder zwingende Unausweichlichkeit gewandelter Unterhaltungsbedürftigkeiten eine künstlerische Kraft zukomme, ist unwichtig gegenüber der Tatsache, daß ein solches utopisches Konzept genau deshalb sich bewährt, weil seine empirische Prognose die Realität falsch antizipiert hat. Der Wahrheitsgehalt ist an den Zerfall der Sachgehalte in der Welt geknüpft: Damit begründet 41 Benjamin, indirekt, seine metaphysische Fundierung der Aura. An die Stelle einer geschichtsphilosophischen Suggestion des Umschlags der individuellen Rezeption in eine kollektive Autorschaft hat heute eine kontextuelle Perspektive zu treten: Die Kunst der Rezeption verweist auf die Aktivierung der auf das Gesamt der Symbolisierungen und die Funktionsweise des Imaginären bezogenen Aneignungen. Die Qualität von Lyotards Asthetikbegriff scheint mir darin zu liegen, daß er für die Aneignung der ästhetischen Differenzierungskraft der Medienkultur geeignete Momente enthält, die das Ritual des Postmodernismus ebenso sprengen wie die philosophische Fixierung auf die Theorie der Kunst, die Ontologie des Schönen und die subjektive Geschmacksneigung. Daß unter dieser Perspektive dereinst eine interne Kritik an den wieder vitalen Suggestionen des Erhabenen aus einem geschärften Bewußtsein der technischen Medienkultur hervorzugehen hat, ist ein dem beizuordnendes Desiderat.
4. Lyotards Aktivierung der Rezeptionsperspektive Interpretiert Jean-François Lyotard die Provokation Duchamps als Spiel mit dem Paradoxen, das selber nur paradox vollzogen werden kann, dann spricht er darin nicht nur eine wesentliche Konsequenz aus detaillierten und minutiösen Untersuchungen zur objektiven Werkgestalt aus, sondern auch die eines nicht mehr bloß strategischen, sondern prinzipiellen Verzichts auf einen Bezug zu Ordnungen der Macht. Lyotards Vorliebe für konzeptuelle und ideoplastischnominalistische Künstler — neben Duchamp sind dies bisher 4 2 vor allem Daniel Buren, Barnett Newman und Gianfranco Baruchello — ist nicht Moment einer philosophischen Kommentierung des Ästhetischen, sondern einer Auseinandersetzung mit dem alltäglich beschreibbaren, an Momente des Widerstands gebundenen Wandel des Zeichenverhaltens, der kulturellen Codes und Praktiken. Auch in dieser Hinsicht ist Lyotard kein Denker der postulierten Aufhe-
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Walter Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften", in: Gesammelte Schriften, Bd. I.I., Frankfurt a.M. 1974, hier S. 125ff. Laut mündlicher Auskunft Lyotards arbeitet er zur Zeit über das Werk eines zu diesen Richtungen vollkommen gegensätzlichen Malers, Karel Appel.
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bung des Intelligiblen, sondern, konventionell, Philosoph. Die Kraft seiner Gedanken verweist auf empirische Deutungen von Kunstwerken nach Gesichtspunkten, die den Gesamtkontext des Umgangs mit ästhetisch bestimmbaren Zeichensystemen betreffen, also auf Aktivierung der Wahrnehmung hinwirken. Deren Gesamtkontext kann nur die technische Medienkultur sein. Was bereits die Ausstellung ,Les Immatériaux' (1984) zeigte, gilt erst recht für die Schriften: die Unmöglichkeit, Lyotard unter die Simulationstheoretiker einzureihen. Der Begriff des Immateriellen — das machte die Ausstellung als Feld sinnlicher Erfahrungen deutlich — bezieht sich dialektisch auf die Vorgänge des Widerstehens: ,résister' vielleicht als Schlüssel- und Lebensthema Lyotards. Widerstandspotentiale sind ihm Fermente komplexer Spurensicherung durch Aktivierung des Imaginären, kein ontologisches Gut. Nur in radikaler Zertrümmerung des Metaphysischen und Ontologischen, nur durch Einschreibung des Realen in Systeme des Sprechens, nur als Bruch mit den Körpern des Stofflichen kann das Widerstehen weniger als Hoffnungsgut, denn vielmehr: als Erkenntnisperspektive auf einen dezentrierenden Kulturwandel begriffen werden. Deshalb bezieht Lyotard anthropologisch künstlerische Außerungsformen in gestische Artikulationen ein. Konfigurationen repräsentieren nicht ihre Wirklichkeitsausdrücke, sondern illustrieren Erzählungen und die sie voraussetzenden Operatoren der Rezeption. 4 3 Die poetischen Vermögen der Rezeption sind nicht .kommunikativ': Sie kondensieren kein suspendiertes Handeln, sondern werden zur Vergewisserung ihrer imaginären Ordnung angehalten. Deshalb kann die künstlerische Produktion auch als Effekt beschrieben werden, einen Kommentar zu erzeugen, der den poetischen Effekt ersetzt. Ein solcher Operator verwandelt „den Empfänger eines Kunstwerkes in den Sender des Kommentars zu diesem Werk". 4 4 Deshalb ist das Visuelle nicht Ausdruck einer Repräsentation des Realen, sondern strukturiert durch das Unsichtbare, das sich durch die Unterscheidung des Visuellen vom Imaginären reproduziert. Die Struktur des Imaginären liegt deshalb nicht in den Regeln. Diese gelten nur, weil ihre permanente Neu-Erfindung nicht wiederum außerhalb der spontanen Erzeugung geregelt werden kann. Wenn das Zeitalter des Experimentierens durch eine stabile, permanente Umtauschrelation 4 5 sowie durch eine Theorie der Universalkontexturen 46 als Aufhebung des Bruchs zwischen Subjekt und Objekt gekennzeichnet ist, dann erscheint jede
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Jean-François Lyotard, Uber Daniel Buren, Stuttgart 1987, S. 17. Ebd., S. 18. Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschinen, Baden-Baden 1963, S. 27, 34ff.; dazu kürzlich analog: Niklas Luhmann, Paradigm lost. Uber die ethische Reflexion der Moral, Hegel-Preis-Rede 1989, Frankfurt a.M. 1990. Vgl. Gotthard Günther, „Selbstdarstellung im Spiegel Amerikas", in: Philosophie in Selbstdarstellungen II, Hamburg 1975, S. 1 - 7 6 , hier S. 62ff., 67ff.
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Aktivität als Kunst (techné). 47 Denn der stetig mögliche Abbruch der Besonderung erlaubt eine fließende Verbindung dessen, was vordem in Produktion und Rezeption geschieden war. Daß es nicht um die Unbeweglichkeit der Modelle, sondern die Beweglichkeit der stofflichen Bildträger 48 geht — Malerei als Beispiel des Experimentierens — , belegt, daß Lyotard nicht so sehr an Simulation als vielmehr an Dissimulation interessiert ist. Die inszenatorische Verbergung des Realen besagt mehr über das Funktionieren des Phantasmagorischen und die Zirkulation des Symbolischen im Kontext des Kulturwandels — der nicht nur Abstraktionszuwachs liefert, sondern heute auch Re-Konkretisierbarkeit anhäuft — als die poetisch verzögernde Beschwörung eines vorgreifenden, aber gänzlich unbestimmten Phantasmatischen. Lyotards Bestimmungen des modernen Malerei-Objektes als eines Energieflusses 49 verweisen trotz der vitalistischen Konnotationen stärker auf Ecos Konzept des ,Offenen Kunstwerks' als auf Heideggers Ursprungsontologie. Lyotard bestimmt das Gegenwärtige als „schier unendliche Karriere" des Kommentars, des „Sätzebildens bis an die Grenze des Möglichen". 5 0 Die Kategorie des Möglichen bestimmt das Poetische als Kraft, bestehende und geleistete Experimente zu übersteigen. Das Experimentelle bezieht sich nicht auf die beschriebenen Modelle, sondern auf dasjenige, was durch Nicht-Geregeltheit sich vollzieht. In ein solch vages und offenes Feld greift Theorie als Transformation der Werke in Kommentierung ein, 5 1 weil nur diese die ästhetische Bewegung in Fluß hält. Experimentell kann dies nur sein durch eine Relativierung des Anspruchs, über eine angemessene Beschreibbarkeit dieser Transformation zu verfügen. Lyotards Überlegenheit über seine postmodernistischen Zeitgenossen scheint mir in der Konsequenz zu liegen, mit der er diese Kommentierung an die Grunderfahrungen des Entzugs, und zwar in einem analytischen Sinne, bindet. Er kämpfe — gerichtet gegen das simulatorische Pathos der ,totalen Informationsgesellschaft' — für die Arbeit an der Nicht-Kommunizierbarkeit, der Nicht-Mitteilbarkeit, für die „Artikulation von möglichen neuen Sätzen", 5 2 gegen die instrumentelle Reduktion von Denken und Sprechen auf Information und, nebenbei gesagt, digitalisierte Prädikation. Lyotards explizite Abneigung gegen die Idee des Ästhetischen 53 betrifft das Ästhetische
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Jean-François Lyotard, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 8. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 89. Jean-François Lyotard, Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 70. Vgl. ebd., S. 84; ganz ähnlich: Jean-François Lyotard, Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 79 ff. Vgl. Lyotard, Philosophie, a. a. O., S. 105. Vgl. Lyotard, Streifzüge, a. a. O., S. 85.
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als subjektiv kontrollierte Repräsentation des Realen. Nichts spricht dagegen, einen Begriff des Ästhetischen vorzuschlagen, der Lyotards Insistieren auf dem Nicht-Identischen und der Nicht-Kommunikabilität als Voraussetzung allen Denkens teilt: Widerstandsvorgabe dafür, neue Sätze als Möglichkeiten der interpretierenden Bezugnahme entwickeln zu können. Nichts spricht dagegen, Lyotards Diagnose, die zeitgenössischen Künstler arbeiteten daran, „nicht die Bedeutungen zu dekonstruieren, sondern die Sensibilitäten zu erweitern", 5 4 auch und gerade auf das Feld imaginativer Alltagsverhaltensweisen, Rollenkonzeptionen und Inszenierungsformeln auszuweiten. Im Sinne einer analytischen Lektüre dieses Satzes sind alle Individuen nicht nur Fermente einer Bezugnahme auf das sie tragende Geflecht der Handlungen und Interdependenzen — das Transpersonale als Nachfolger des Subjektbegriffs in den Universalkontexturen — , sondern auch Künstler. Daß diese Bestimmung Lyotards im riskanten, spätromantisch affizierten Feld am weitesten von Entgrenzungspostulaten wie denen von Beuys entfernt ist, macht seine Bedeutung für eine medienkulturelle Konzeption des Technisch-Ästhetischen aus. Nichts spricht dagegen, Lyotard als zeitgenössischen Denker einer kritischen Ästhetik für die Beschreibung der Medienkultur zu nutzen. Die Anwendungsfälle einer Kunst der Rezeption liegen in der Fallirne des Lyotardschen Ästhetikbegriffs, der Nicht-Identität von Repräsentation und Sprechen. Deren Voraussetzungen heben die Divergenz von Produktion und Rezeption auf. In der Unmöglichkeit solcher Divergenz gründet die Kunst der Rezeption als Aktivierung des Imaginativen im Vorfeld möglicher Sätze. Sie dehnt die ästhetische Verdichtung der künstlerischen Poetiken auf die Anwendung medientechnischer Artikulation generell aus.
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Lyotard, Philosophie, a. a. O., S. 94.
Grenze der Gemeinschaft Undarstellbarkeit bei Kafka Joseph Vogl
Die Unauffindbarkeit von Gemeinschaft spricht nicht gegen ihr Dasein. Denn die politische Antinomie von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft", die seit der Romantik die sozialen Formationen als Zusammenbruch anfänglicher Vertrautheit erscheinen läßt, 1 umreißt zugleich den Ort eines Denkens, das sein Motiv aus dem Widerstand gegen jene Antinomie selbst bezieht, aus dem Widerstand gegen die Kultivierung verlorener Ursprünglichkeit ebenso wie gegen die kontraktuelle Repräsentation des sozialen Feldes. Angesichts eines Verfalls utopischen Denkens tritt gerade in Kafkas späteren Texten das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft in eine neue und besondere Konstellation. Indizien für dieses geschärfte Interesse liegen nicht nur in dessen Überlegungen zu einer antifamilialen Pädagogik, in seiner Anteilnahme an ostjüdischen Gemeinschaftsformen und an zionistischen Siedlungs- und Landbauprojekten, in der sozialen Emphase mancher seiner Erzählungen seit 1917, sondern selbst in veränderten Erzählformen: Die progrediente und interaktive Bewegung des Erzählens wird abgelöst durch die Statik des Berichts, und an die Stelle des vereinzelten und suggestiven „er" tritt — wie in den Fragmenten zum Motivkreis der Chinesischen Mauer, in den Forschungen eines Hundes oder in Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse — ein namenloses „ich", das sich als Mitglied und sprechender Exponent einer Gemeinschaft begreift. Die Frage nach der Darstellbarkeit von Gemeinschaft zieht hier die Konsequenzen aus totalitären Uberformungen, die als Identitätszwang und Schismogenese den Ort des abgesonderten Einzelnen und seine Integration definieren und zum Bewegungsgesetz von Kafkas literarischer Reflexion geworden sind; und sie antwortet auf eine Erfahrung des Mangels und des Verlusts, die nie den Weg regressiver Utopien nimmt. Kafkas literarisches Konzept einer Gemeinschaft, die sich nicht mit den politischen Manifesta-
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Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Nachdruck der 8. Aufl. (1935) Darmstadt 1963. Vgl. auch die analogen Begriffe „Vergemeinschaftung" und „Vergesellschaftung" bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956, S. 29 ff.
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tionen von Nation, Volk, Staatswesen, Klasse, Partei oder Kongregation deckt, besteht im wesentlichen in der Suche nach Gemeinschaft, das heißt, sie besteht in der Suche nach einer Darstellung, die zugleich Band der Gemeinsamkeit und Differenz der Individuen ist; eine Gemeinsamkeit, die zugleich trennt, und eine Separation, die zugleich vereint und gerade dadurch weder in einem antagonistischen Gesellschaftsmodell noch in mystifikatorischer Verschmelzung, weder in einem Band gesteigerter Innerlichkeit noch in autoritärer Unterwerfung, weder in tödlicher Sublimierung noch in vertraglicher Sicherung, weder in organischer Einheit noch in staatlicher Organisation gerinnt. Gemeinschaft meint damit eine Erfahrung, in der der Einzelne nicht vor der Gemeinschaft existiert und umgekehrt. Sie bezeichnet eine Gleichursprünglichkeit, die ebensowenig einer vorgängigen Natur wie einer nachträglichen Kulturform zuzuschlagen ist, eine Frage, die in den Schriften Rousseaus zuerst ausgewiesen ist. Wie Rousseaus Naturmenschen' für sich und ohne Kommunikation existieren und gerade darum nicht voneinander getrennt und isoliert werden können, so setzt sie der „Gesellschaftszustand" einer Trennung aus, die zugleich ihre Gemeinsamkeit darstellt; 2 und wenn der ideale ,Urvertrag' zwischen natürlichen und arbiträren Vereinbarungen vermittelt, so kann er diese Schwelle nur überschreiten, indem er auf ihr verharrt, und ist damit keinesfalls als Vertrag im Sinne eines Kontrakts bürgerlicher Kontrahenten begreifbar.3 Derridas Lektüre von Rousseaus Essai sur l'origine des langues hat deutlich gemacht, wie die unbeständige und unfaßbare Grenze zwischen zeitloser Natur und Gesellschaft immer schon überschritten wird, indem man sie berührt, und damit eine Geschichte des Verfalls einleitet; wie zugleich aber diese Grenze bereits die reine Ursprünglichkeit substituiert und selbst nur als Ubergang vom Ursprung zur Genese, als Prozeß der Entstehung des Menschen wie der Gesellschaft verstehbar ist. Diese Grenze ist weder Natur noch Gesellschaft, sie markiert vielmehr ein „Beinahe" der Gesellschaft, das die ursprüngliche Dispersion neben und zusammen mit der gesellschaftlichen Ordnung festhält. 4 Die Frage nach Gemeinschaft bezieht sich daher weder auf Gesetze und Institutionen noch auf eine gesteigerte Innerlichkeit des Einsseins oder auf eine unverbildete Natur, sie stellt sich vielmehr an dieser flüchtigen Grenze, auf der der ursprüngliche Naturzustand — der, wie Rousseau schreibt, „nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird" 5 — bereits abwesend ist und die Degenerationsge-
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Jean-Luc Nancy, Die undarstellbarbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 66. Jean-Jacques Rousseau, „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts", in: Politische Schriften, Bd. 1, München 1977, S. 62 u. 72 f. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 457 u. 433-436. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l'inégalité, München 1984, S. 47.
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schichte bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft doch noch nicht begonnen hat, sie stellt sich an jener Grenze, die einen plötzlichen und kategorialen Sprung ebenso wie einen endlosen Ubergang meint. Dies erklärt auch das Pathos, mit dem der zweite Teil der Abhandlung über die „Ungleichheit" beginnt: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft." 6 Das Pathos der Grenzziehung: einerseits nämlich die ungebundenen, sprachlosen und nomadischen ,Wilden', „ohne Kunstfleiß, ohne Sprache, ohne Wohnsitz, ohne Krieg und ohne Verbindung", andererseits die Depravationen des bürgerlichen Gemeinwesens, Seßhaftigkeit, Parzellierung des Landes, Aneignung des Bodens, begriffliche Sprache.7 Die Grenzziehung, an der die Frage nach Gemeinschaft zwischen Nicht-Existenz und Niedergang akut wird, ist daher doppelter Natur. Sie betrifft den Bruch zwischen dem unvermessenen Land und dem in sich gegliederten und angeeigneten Territorium ebenso wie denjenigen, der den unartikulierten ,Schrei der Natur' von der artikulierten Sprache trennt; an der Grenze des Ursprungs, der reinen Präsenz, bedeutet diese Verräumlichung (des Landes, der Artikulation) den Beginn der Gesellschaft, deren Schicksal sich angesichts eines notwendigen Verfalls8 in der Art des Verhältnisses von Repräsentant und Repräsentiertem entscheidet. Dabei erscheint dies keineswegs als bloße Parallelisierung; Symbolisierung und territoriale Bestimmung gehen unmittelbar ineinander über, Gesellschaft konstituiert sich in einer signifikanten Topographie und in einer topographischen Signifikanz. Die erste Grenze, die das Land durchschneidet und den Laut aus sich heraus und in Differenz zu sich treten läßt, ist der Anfang einer symbolischen — und das heißt auch: einer politischen — Ordnung, die ihrer katastrophalen, denaturierenden Tendenz nur dort begegnet, wo sich die Repräsentation zugunsten ihres Ursprungs zurücknimmt und sich selbst angesichts der nachbarlich versammelten Individuen annulliert: „Denn wo sich der Vertretene (représenté) befindet, gibt es keinen Vertretenden (représentant) mehr." 9 Diese systematische Verknüpfung von Territorialität und Code, die den Grenzraum zwischen Kultur und Natur zugleich setzt und schwinden läßt und Rousseau zu einem ersten Zeugen strukturalistischer Ethnologie und politischer Anthropologie werden ließ, ergibt den Rahmen, in dem der ausgeschlossene und verlorene Ursprung als Traum seiner Wiederkehr eine Geschichte des
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Ebd., S. 173. Ebd., S. 161 u. 187-189. Vgl. Rousseau, „Vom Gesellschaftsvertrag", a.a.O., S. 152: „Wie der menschliche Körper beginnt der politische Körper mit seiner Geburt zu sterben und trägt die Gründe seines Verfalls in sich." Ebd., S. 156.
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Verfalls begleitet, einen Rahmen, in dem sich Rousseaus Figur einer sich selbst gegenwärtigen Gemeinschaft und das Gegebene eines entfremdeten Gesellschaftszustands gegenseitig Kontur verschaffen. Und doch ist jene Grenze als Moment reiner Differenz vielleicht niemals überschritten, oder besser: Vielleicht wird sie immer überschritten und im Uberschreiten immer wieder gesetzt und bezeichnet damit — im Widerstand gegen Rousseaus eigene Metaphysik und diesseits der Oppositionen von Ursprung und Verfall, Präsenz und Repräsentation — einen kritischen Ort, an dem sich die Entstehung von Gemeinschaft gerade als Dekomposition ihrer Darstellung immer von neuem vollzieht. Wie kein anderes kulturhistorisches Motiv zeigt die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel den Zusammenhang von Sprechen und Lokalisierung, Zeichen und Topos, von Territorialität, Signifikanz und Gemeinschaft. Dabei geht es in dieser Geschichte nicht nur um den Bruch zwischen ursprünglicher Einheit und Zersplitterung, sondern vor allem um die Darstellung dieser Einheit, deren Zentrum, Name und Symbol jener Turm werden sollte: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reicht, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder" (Gen 11,4). Der Verlust von Gemeinsamkeit im Versuch ihrer Darstellung — gerade dieses Motiv wird von Rousseau illustrativ aufgegriffen, wenn er in der labilen Phase des Bruchs und des Ubergangs mit den ersten Gesellschaften immer wieder auch eine „gemeinsame Sprache" untergehen sieht; 1 0 und das gleiche Motiv wird bereits in Goethes Wanderjahren auf eigentümliche Weise verkehrt. Die Apologie der Wanderschaft wendet hier den Blick vom Grundbesitz, vom „Ergreifen und Behaupten des Raums", in dem sich das „allgemeine patriotische Gefühl unmittelbar auf den Boden gründet", zum weiten und unbegrenzten Land, „von Nomaden durchzogen", und faßt schließlich den Leitspruch der Wanderer — „Ubi homines sunt modi sunt" — in ein Bild, das sich durch die gänzliche Umwertung der Babel-Geschichte auszeichnet: „Nun beschaue man den Erdball [...] und hefte den Blick auf das feste Land und staune, wie es mit einem sich wimmelnd durchkreuzenden Ameisengeschlecht übergössen ist. Hiezu hat Gott der Herr selbst Anlaß gegeben, indem er, den babylonischen Turmbau verhindernd, das Menschengeschlecht in alle Welt zerstreute. Lasset uns ihn darum preisen, denn dieser Segen ist auf alle Geschlechter übergegangen." 11 Der unvollendete Bau als Voraussetzung einer universalen Gemeinschaft, die Zersplitterung als Bedingung des „Weltbunds", 12 der Weltbürgerschaft: Der Spielraum dieses Motivs, der den unvollendeten Bau und die Vielheit der Sprachen als An-
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Derrida, a.a.O., S. 436. Johann Wolfgang von Goethe, „Wilhelm Meisters Wanderjahre", in: Werke, Bd. 8, hrsg. von Erich Trunz, München 1981, S. 311 u. 384-386. Ebd., S. 390.
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stoß des Niedergangs ebenso wie der Restitution einer neuen Gemeinschaft entwirft, ergibt damit die Folie, auf der die Gleichsinnigkeit von Bauen und Sprechen, von Territorium und Repräsentation in einigen von Kafkas Erzählfragmenten zu begreifen wäre. Vielleicht erklärt diese Ambivalenz des Motivs die Unsicherheit ebenso wie die Entschiedenheit, mit der der Babelturm in Kafkas Texten erscheint und nicht zuletzt auf den Mauerbau in China bezogen wird. Im Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer wird diese Vergleichbarkeit sehr genau erwogen, und zwar in zwei Momenten: zunächst die „große Mauer" als „sicheres Fundament für einen neuen Babelturm", also die Konstruktion eines tatsächlichen Bauwerks, das sich auf dem abgezirkelten Territorium erheben soll; sodann aber die Metaphorisierung dieses Unternehmens, das schließlich nur „in geistiger Hinsicht" zu verstehen sei und vor allem die Zusammenfassung der „Volkskraft in einem kräftigen neuen Werk" meine, d. h. deren Symbolisierung durch ein repräsentatives Faktum. 13 Wenn damit zwar, wie der Erzähler bemerkt, das imperiale Projekt des Mauerbaus hinsichtlich seiner „Leistungen" „wenig hinter dem Turmbau von Babel" zurücksteht, hinsichtlich seiner „Gottgefälligkeit" allerdings „geradezu das Gegenteil jenes Baues" darstellt, so reflektiert dieser Einwand beide Aspekte: der endlose Prozeß des Mauerbaus, wie er durch die Verlaufsform des Titels {Beim Bau ...), wie durch das eigenartige „System des Teilbaues" (SE, S. 289) signalisiert wird, unterläuft das Projekt der Vollendung; und ebenso sträubt sich gerade diese immer unvollendete Mauer, „die doch etwas Tatsächliches war, Ergebnis der Mühe und des Lebens von Hunderttausenden", gegen ihre eindeutige Symbolisierung, wie sie in den ,,nebelhafte[n] Pläne[n]" jenes Vergleichs zwischen Mauerbau und Turmbau, Turmbau und Volkseinheit vorgesehen ist. Vollendung und Nicht-Vollendung, Symbolisierung und Nicht-Symbolisierung — in dieser Verdoppelung wäre die Zwecksetzung des Mauerbaus zu vermuten, wie sie Kafkas Text mit der Parallelisierung von Territorialität, Gemeinschaft und Repräsentation am Beispiel dieser Grenze, am Beispiel dieser Mauer aufsucht. Denn am Ende all der Überlegungen über Zweck und Ursprung der Mauer und ihrer besonderen Bauweise steht die Einsicht in etwas völlig Unverständliches, in etwas „Unzweckmäßiges", das den Blick von den Argumenten des Erzählers auf die ästhetische Motivation des Textes selbst lenkt: „Bleibt also nur die Folgerung, daß die Führerschaft den Teilbau beabsichtigte. Aber der Teilbau war nur ein Notbehelf und unzweckmäßig. Bleibt die Folgerung, daß die Führerschaft etwas Unzweckmäßiges wollte. — Sonderbare Folgerung!" (SE, S. 293) Das heißt also: Der Mauerbau wird von seiner Vollendung getrieben und erstrebt in seiner Bauweise gerade das Gegenteil;
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Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hrsg. von Paul Raabe, N e w York-Frankfurt a.M.-Hamburg 1970, S. 291-293 (im folgenden zitiert als SE).
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und er vollzieht sich als Symbol einer Gemeinschaft, die er gerade nicht symbolisieren kann. So heißt es in einer Passage, die den mystifikatorischen Symbolwert des Bauwerks wie keine andere erfahrbar macht, die .Wiederkehr' der Gemeinschaft empfiehlt und sich gerade mit ihrer Emphase, mit ihrer organologischen Metaphorik den Vorwurf völkischer Tendenz zugezogen hat: „Einheit! Einheit ! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China." (SE, S. 291) Zugleich aber repräsentiert dieser Bau gerade das Gegenteil und wird auch zum Dokument jener babylonischen „Verwirrung", die die Metaphern des Bauens, der Fundamentierung, der Mauer in Gegenrichtung zur Verschmelzung wendet und neben der Einheit die Verstreuung behauptet: „Das menschliche Wesen, leichtfertig in seinem Grund, von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine Fesselung; fesselt es sich selbst, wird es bald wahnsinnig an den Fesseln zu rütteln anfangen und Mauer, Kette und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerreißen." (SE, S. 292) Immer wieder also kehrt der Text an diesen Ausgangspunkt zurück. Das Werk besteht in der Vollendung des Baus wie in seiner Verhinderung; der Mauerbau ist Symbol der Einheit wie der Dispersion; und er ist „Tatsächliches" ebenso wie Repräsentatives und daher Symbol und kein Symbol, Darstellung und keine Darstellung, er ist die Konstruktion einer Grenze, die sich selbst zurücknimmt und als gleichsam gestrichelte Linie jene Unterschiede zugleich setzt und verwischt. Nicht von ungefähr also führt der Mauerbau umgehend zur Frage nach den ,,staatliche[n] und volkliche[n] Einrichtungen" und insbesondere nach der Institution des ,,Kaisertum[s]" (SE, S. 294), an der sich nicht nur die Verdoppelung von Einheit und Dispersion, sondern auch die gegenläufige Bewegung von Symbolisierung und Desymbolisierung wiederholt. Wie die am Mauerbau Beteiligten „nicht aufhörten darüber [über den Bau] nachzudenken" (SE, S. 290) und doch — wie der Erzähler — zu keinem Ende kommen, so gilt das Denken des Volkes „nur dem Kaiser", dieser Einrichtung, die sich doch in „einzigartiger Unklarheit" darstellt (SE, S. 294 f.). Vor allem aber setzt sich dieses Denken in scharfer Analogie zum Bild jenes Turms von Babel fort und treibt dabei auch hier die Merkmale sozialer Repräsentanz hervor: Im „Volk" hat dieses Kaisertum „seine letzten Stützen" und wächst zugleich „groß durch alle Stockwerke der Welt" auf (SE, S. 295). Und gerade damit fällt dieses Bild in die beiden Hälften auseinander, die einerseits der symbolischen Ordnung, andererseits dem Tatsächlichen zugehören; denn tatsächlich ist die Hauptstadt nur ein „Punkt", der kaiserliche Palast nur ein „Pünktchen", und der „lebendige Kaiser", ein „Mensch wie wir", liegt ganz alltäglich auf seinem alltäglichen Ruhebett, „ähnlich wie wir" (SE, S. 295) Genaugenommen ist daher der Kaiser weder Symbol noch Person, er ist beides zugleich und keines von beiden, als Person abwesend im Symbol und umgekehrt, er ist das Epizentrum der Symbolisierung, erscheint wirklich
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nur in einem fortlaufenden Wechsel von Präsenz und Absenz und wird damit zu einer Öffnung, in der die Geschichte, die Historie versiegt. Tote Kaiser werden verehrt, lebende zu den toten gerechnet, und so gibt es eine gemeinsame Geschichte des Kaisers und des Volkes nur in der Negation dieser Geschichte selbst: „Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und der nur noch im Liede lebt, hat vor kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der Priester vor dem Altare verliest", und: „So verfährt das Volk mit den vergangenen, die gegenwärtigen Herrscher aber mischt es unter die Toten." (SE, S. 296 f.) Das Kaisertum repräsentiert also jenen Ubergang selbst, in dem das Symbolische sich aufrichtet und verschwindet und im Augenblick seiner Differenz verharrt, in einer Differenz, die den symbolischen Bezug auf die repräsentative Instanz, auf den Kaiser, auf das Zentrum des Reiches, auf die „Mitte der Welt" (SE, S. 296) unterbricht und sich — wie in der berühmten Legende von der „kaiserlichen Botschaft" — als nie ankommende Ankunft artikuliert. Wenn also der Berichterstatter bei aller .Kaisertreue' das Fazit nahelegt, „daß wir im Grunde gar keinen Kaiser haben" (SE, S. 298), so markieren die ausbleibende Botschaft und die Leerstelle des Kaisers keinen schrecklichen Mangel, und so sperrt sich der Text selbst gegen Interpretationen, die die Ferne des Absoluten, des Numinosen, der Macht, des Gesetzes, des Glaubens, des Ursprungs und damit die Frage der Vergegenwärtigung zu ihrem wichtigsten Anliegen gemacht haben. Der Kaiser ist kein Glaubensproblem, die zurückgelassene Leere nicht Freiraum einer unlenkbaren Fatalität, die chinesische Mauer repräsentiert keine kollektive nationale Identität, der Bericht des Erzählers keine Sinnsuche, und der Mauerbau ist weder ein bescheidener und defizienter Weg zum Absoluten noch ein Projekt scheiternder Vermittlung. Wie in kaum einem anderen Text Kafkas ist gerade hier die Unvollendbarkeit vom Stigma des Scheiterns gereinigt und die Frage selbst verkehrt: Es geht nicht um Vollendung, sondern um ihre Verhinderung; nicht um Einheit, sondern um Dispersion; nicht um den großen und einzigen Kaiser, sondern um seine Demontage; nicht ums Symbol, sondern um seine Auslöschung. In den Fluchtlinien dieser Prozesse, die die Ferne des Kaisers und die Dezentrierung des Zentrums bewirken, stehen damit zwei Resultate: einerseits ein „gewissermaßen freies unbeherrschtes Leben", in dem die Herrschaft des einen Gesetzes durch eine Vielzahl unfixierter, überlieferter, ungesetzlicher und immer neu zur Disposition stehender Maximen und Leitlinien abgelöst wurde, die als „Weisung und Warnung" — und nicht als Imperative — die Geschichte des Volkes begleiten (SE, S. 298); und andererseits eine Gemeinschaft, die sich durch die Abwesenheit des Kaisers, durch die Vereitelung ihrer Repräsentation, durch die „Schwäche der Vorstellungs- oder Glaubenskraft" konstituiert und gerade in dieser Schwäche, in dieser Negation „eines der wichtigsten Einigungsmittel unseres Volkes" behauptet (SE, S. 298 f.). Und dieses negative Projekt führt unmittelbar auf den Mauerbau zurück. Denn dieser Bau ist weder ok-
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troyierter Auftrag noch bloßes Mittel: „Unschuldige Nordvölker, die glaubten, ihn verursacht zu haben, verehrungswürdiger, unschuldiger Kaiser, der glaubte, er hätte ihn angeordnet. Wir vom Mauerbau wissen es anders und schweigen." (SE, S. 294) Wie der „Beschluß" zum Bau dieser Mauer „seit jeher" bestand und sich wie der Ursprung des Volkes im Dunkel verliert, so ist der Mauerbau selbst gleichursprünglich mit dem Projekt der Gemeinschaft, identisch mit deren Teleologie und nur in dieser Hinsicht metaphorischer Natur. Hier stellt sich Kafkas Frage nach Gemeinschaft in ihrer klarsten Form: ihre Bestimmung ohne Bezug auf repräsentative Inkarnationen wie Staat, Gott, Kaiser, Gesetz; Konstitution eines gemeinschaftlichen Zusammenhangs ohne Vermittlung durch eine Totalität; Exposition einer Einheit ohne Nivellierung der Differenz; Versammlung der Individuen ohne Identitätszwang. Die Mauer, die Grenze wird damit zum Ort der Gemeinschaft schlechthin. Als „Werk", als „Volkswerk" (SE, S. 292f.) besteht ihr Zweck in der Nicht-Vollendung; dieser Mauerbau ist — entgegen jeder Ahnung von Scheitern und Abbruch — die aktive ,Entwerkung' 14 ihres Resultats, der Einheit, der Repräsentation, und verfolgt damit eine Teleologie ohne Endzweck. Und gerade in dieser aktiven Unterbrechung des ,Werks', in dieser .Entwertung', in dieser Fragmentierung, in diesem „Unzweckmäßigen" findet die Gemeinschaft statt. Sie ist damit gegeben und nicht gegeben; sie sucht ihre Einheit und sieht gerade in dieser nicht die Vollendung ihrer Geschichte; Unvollendetbleiben ist nicht ihr Mangel, sondern ihr Prinzip; sie ist keine Entität und stirbt mit ihrer Hypostasierung in der Verschmelzung ebenso wie mit ihrer repräsentativen Darstellung; und ihr Aufbau ist im engsten Sinn des Wortes dekonstruktiv. Darum wird jene Mauer, jene Grenze zu einem Limes in doppelter Hinsicht: Grenze des Reichs und des Volkes und zugleich ein Grenzwert, der von diesem Reich und diesem Volk niemals erreicht und erfüllt werden wird. Das „unendliche China", dessen Größe von „keinem Märchen" gespiegelt und von „keinem Himmel" umspannt werden kann (SE, S. 291, 295), zeigt sich damit als ein grenzenloses Reich der Grenze, in einem Ubergang von Zentrum und Peripherie, Saum und Territorium. Die Grenze ist nicht sein äußerer Rand, durch den es sich als Einheit setzt, sondern eine immanente Differenz, durch die es sich als unabgeschlossene Serie von Vielheiten erschließt: „Der Dialekt der Nachbarprovinz ist von dem unseren wesentlich verschieden, und dies drückt sich auch in gewissen Formen der Schriftsprache aus, die für uns einen altertümlichen Charakter haben." (SE, S. 297) Diese Zersplitterung meint nicht nur einen Zusammenhang, der sich gerade über die Setzung dialektaler Unterschiede und schließ-
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Zum Begriff der ,Entwerkung' vgl. Nancy, a.a.O., S. 69ff.; Maurice Blanchot, La com-
munauté
inavouable,
Paris 1983, S. 57.
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lieh durch zeitliche und räumliche Brüche konstituiert; sie vollzieht vor allem eine Interiorisierung jener Grenze als einer Bruchlinie zwischen Präsenz und Absenz, ursprünglicher Einheit und Dispersion. Nicht wirklich ein Schutz gegen jene nomadenhaften, ortlosen und sprachlosen „Nordvölker", die mit ihren unartikulierten, dohlenhaften Lauten an Rousseaus Naturmenschen erinnern, 1 5 wird die große fragmentierte Mauer von den Nomaden vielleicht zerstört (SE, S. 289), vielleicht diffundiert, und nur das unbegrenzte, weite Land selbst ist die reine Differenz, der verräumlichte Grenzsaum, an dem sie sich schließlich verlieren: „[...] zu groß ist das Land und läßt sie nicht zu uns, in die leere Luft werden sie sich verrennen." (SE, S. 294) Sprung und endloser Ubergang zugleich: Die Gemeinschaft besteht also in der Dynamik dieses Ubergangs und folgt einer ununterbrochenen Bewegung an den Brüchen entlang. Sie steht immer an der Schwelle zwischen nomadischer Verstreutheit und Einheit, sie vereinzelt die Singularitäten, die Dialekte, die Individuen und konstituiert sie in einer Gemeinsamkeit, die sich gerade in einer permanenten Revision ihrer einheitlichen Darstellung — durch einen Kaiser, durch eine Mauer, durch eine Sprache — darstellt. Das „Volk" ist anwesend und nicht anwesend, es ist immer versammelt und sich selbst gegenwärtig und doch zu keiner Einheit verschmolzen, es konstituiert sich durch die Auflösung des sozialen Zusammenhangs und wird souverän gerade durch die Aushöhlung jeder souveränen Instanz. An dieser Grenze der Unentschiedenheit zwischen Vollendung und Fragment, Einheit und Dispersion, topographischer Fixierung und atopischer Unbestimmtheit findet die Gemeinschaft ihren immanenten Auftrag darin, sich auf sich selbst hin zu transzendieren und damit in ein Außen zu treten, in dem die einzelnen, die Singularitäten, gemeinsam erscheinen und dennoch keineswegs repräsentiert oder aufgehoben sind. Kafkas Erzähler spricht dies ganz klar aus: Es gibt in diesem Volk kaum eine stärkere Sehnsucht, als das „Kaisertum aus der Pekinger Versunkenheit in aller Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit an seine Untertanenbrust zu ziehen, die doch nichts besseres will, als einmal diese Berührung zu fühlen und an ihr zu vergehen" (SE, S. 299) — und gerade deswegen, so scheint es, tut dieses Volk in Wirklichkeit nichts weniger als das.
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„Keine viel verfeinerte Sprache als die der Krähen" schreibt Rousseau den Naturmenschen zu (Diskurs über die Ungleichheit, a.a.O., S. 181). — Ähnlich Kafka in einem Fragment desselben Motivkreises (Ein altes Blatt, SE, S. 130): „Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Untereinander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen [...]."
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Ich breche die Interpretation ab. Kafkas Denken der Gemeinschaft, so ließe sich zusammenfassen, umkreist also drei strukturelle Momente, die die Bildlichkeit und die immanente Programmatik seiner späten Texte bestimmen: 1. eine Entäußerung, die nicht in der Vollendung, nicht in der Totalität eines Werks kulminiert und aufgehoben ist, sondern die aktive Entwerkung ihres Resultats darstellt; 2. eine Desymbolisierung, die das Kräftefeld zwischen Macht und Symbolbildung freilegt und den symbolischen Bezug zu einem Topos — dem Gesetz, dem Vater, dem Staat — in einer unabgeschlossenen Dialektik unterbricht; und 3. die Interiorisierung der Grenze, die auf der Schwelle von Präsenz und Repräsentation, Einheit und Verstreuung die Undarstellbarkeit der Gemeinschaft zwischen technologischer Bewerkstelligung und Verschmelzung festzuhalten versucht. — Dieses Denken der Gemeinschaft ist damit Inbegriff der Opposition und ihre Undarstellbarkeit die radikale Seite politischer Symbolik. Mit dieser Form der Undarstellbarkeit hat Kafka ein gegenstandsloses Versprechen erinnert, den Verfall utopischen Denkens mit Bildverbot und der Intensität des Atopischen beantwortet und damit das Epizentrum seiner literarischen Ethik markiert. Gerade in dieser unspezifischen Öffnung, in dieser Unvollendbarkeit errichtet sich das Postulat nach einer Gemeinschaft, die nie existiert hat und nie existieren wird, deren Figur aber als eine Bedingung sozialer Erfahrung erscheint, ihren Widerstand gegen die repräsentative — nationale, staatliche, mythologische, ökonomische — Uberformung der Gemeinschaft formuliert und vielleicht das entscheidende Motiv dafür abgibt, noch an einer Idee gemeinschaftlichen Lebens festzuhalten. „Ringsum schlafen die Menschen", heißt es in dem kurzen Nachlaßtext Nachts von 1920. „Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, daß sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach, ausgestreckt oder geduckt auf Matratzen, in Tüchern, unter Decken, in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde, hingeworfen, wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend." (SE, S. 309)
3. Anschlüsse und Befragungen
„Königsberger Avantgarde", oder: Wie modern war Immanuel Kant? Christine Pñes
Immanuel Kant, so lautet die gängige Meinung, war zwar ein großer Aufklärer — aber das bedeutet zugleich: E r war rational-verknöchert, moralin-vertrocknet und den schönen Seiten des Lebens abgeneigt. Wie anders wäre es beispielsweise zu erklären, daß er seine Ästhetik als „Kritik der reflektierenden Urteilskraft" bezeichnet, darin nach einem apriorischen Prinzip dieser Urteilskraft sucht und letztlich mehr von Moral als von Kunst redet ? Kein Wunder, so spottet so mancher (Hegelianer), der arme Kerl habe ja nie im Leben auch nur ein anständiges Kunstwerk zu Gesicht bekommen. U m so mehr muß es erstaunen, daß ausgerechnet ein Franzose — ein Vertreter jenes Volkes also, das hierzulande als Inbegriff des Schöngeistigen gilt und an dessen Philosophen moniert wird, daß sie sich auf die Kunst bis zur Verwischung der Grenzen der Disziplinen einlassen —, daß also ausgerechnet der französische Philosoph Jean-François Lyotard (und er ist nicht einmal der einzige) ausdrücklich auf Kants Ästhetik rekurriert, und das nicht etwa, um die röhrenden Hirsche in deutschen Wohnzimmern zu erklären, sondern um über die zeitgenössische Kunst nachzudenken. Die künstlerischen Avantgarden dieses Jahrhunderts, so Lyotards These, waren keimhaft schon in Kants Ästhetik des Erhabenen enthalten. 1 Die Zeit ist zu knapp, um Lyotards Überlegungen zum Erhabenen und zur Avantgarde zu referieren. Sie dürften hinlänglich bekannt sein. N u r einige Erklärungen und Ergänzungen scheinen mir geboten, bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme: der als Wahrnehmung verstandenen Ästhetik und der Arbeit an den Anschauungsformen von Raum und Zeit, die dieser Ästhetik zugrunde liegen. Das Erhabene ist ein gemischtes Gefühl. Es besteht aus zwei Komponenten, die gegensätzlicher kaum sein könnten: aus Lust und Unlust. Die Unlust entsteht in einer ersten Phase, in der die Einbildungskraft als sinnliches Vermögen
1
Vgl. z.B. Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die Avantgarde", in: ders., Das In-
humane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 159-187, hier S. 174.
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an dem Versuch scheitert, die absolut großen oder mächtigen Naturphänomene, mit denen sie sich konfrontiert sieht, darzustellen. In einer zweiten Phase kommt es dann doch zu einem Lustgefühl, weil anläßlich des Scheiterns der Einbildungskraft ein übersinnliches Vermögen im Subjekt entdeckt wird, das noch größer und noch mächtiger ist als die betreffenden Naturphänomene: die Vernunft — Inbegriff des Absoluten schlechthin. Dieser Wechsel von Unlust zu Lust ist jedoch nicht als bloßer dialektischer Umschlag des Negativen ins Positive zu verstehen, denn das Scheitern der Einbildungskraft und die es begleitende Unlust bleiben im Lustgefühl präsent (und das ist entscheidend). Kant spricht von einem „schnellwechselnden Abstoßen" und „Anziehen", um auf die Verquickung der beiden Gefühlsmomente hinzuweisen. 2 Warum scheitert die Einbildungskraft ? Für das Mathematisch-Erhabene, also jenes Erhabene, welches die Größe betrifft, beschreibt Kant den Vorgang sehr genau. Deshalb möchte ich mich hauptsächlich darauf beziehen. 3 Die Einbildungskraft scheitert bei dem Versuch, ein Naturphänomen als Form aufzufassen — anders formuliert: Der Gegenstand, dem sie sich gegenübersieht, ist so groß, daß sie ihn nicht auf Anhieb als Ganzes wahrnehmen, zu einem Bild synthetisieren kann. Von daher erscheint er ihr als „formlos und ungestalt", wie Kant schreibt (KUK, Β 132). Die Grundbedingung für das Wahrnehmen eines Gegenstandes als Form ist das „Durchlaufen und Zusammennehmen" seiner einzelnen Teile, wie Kant es bereits in der „transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" in der Kritik der reinen Vernunft beschrieben hatte 4 und worauf er in der „Analytik des Erhabenen", also in der Kritik der Urteilskraft, erneut zu sprechen kommt. In der ersten Kritik konstituierte jenes „Durchlaufen und Zusammennehmen" die „Synthesis der Apprehension in der Anschauung", also die grundlegendste der für die Erkenntnis notwendigen drei Synthesen. Dieses „Durchlaufen und Zusammennehmen" ist bereits für die einfache Wahrnehmung einer Form kon-
2
3
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Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (im folgenden: KUK), Β 98; vgl. entsprechend Β 75. Zudem liegt der Fall im Dynamisch-Erhabenen ganz anders. Die Unlust ist nicht in dem durch ihre Endlichkeit bedingten Versagen der Einbildungskraft als Darstellungsvermögen begründet, sondern anscheinend — Kant ist hier auffallend weniger deutlich — in der Angst davor, sich besonders mächtige oder furchterregende Gegenstände vorzustellen. Das Lustmoment entsteht auch hier im Entdecken der Vernunft als dem übersinnlichen Vermögen, dem keine sinnliche Macht etwas anhaben kann, also im Bewußtsein der Sicherheit und Distanz. Diese „Distanzierung" von furchterregenden Bildern ist in der Tradition geradezu ein Topos des Erhabenen — und zwar gerade in bezug auf die Kunst. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (im folgenden: KRV), A 99.
„Königsberger Avantgarde",
oder: Wie modern war Immanuel Kant?
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stitutiv. Im Fall des Erhabenen scheitert also — so können wir nun sagen — bereits das reibungslose Wahrnehmen des Gegenstandes als Form. „Mit dem Auffassen", also dem „Durchlaufen", „hat es", wie Kant schreibt, „keine Not, denn damit kann man ins Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je weiter die Auffassung fortrückt [...]. Denn wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daß die zuerst aufgefaßten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben, indes daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt, so verliert sie auf einer Seite ebensoviel, als sie auf der anderen gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann" (KUK, Β 87). Sofern diese grundlegende „Zusammenfassung" scheitert, tangiert die „Analytik des Erhabenen" also auch die in der Kritik der reinen Vernunft entworfene Wahrnehmungslehre. Damit wirft das Erhabene ein Problem hinsichtlich der Anschauungsformen von Raum und Zeit auf, die Kant zufolge jeder Anschauung zugrunde liegen. Das Unlustgefühl im Erhabenen zeugt von einem Zeitproblem: Der betreffende Gegenstand kann nicht mehr auf Anhieb, wie in einem Augenblick also, „durchlaufen" und „zusammengenommen" werden, wie es die Kritik der reinen Vernunft propagiert hatte, sondern er zerfällt gleichsam in seine Einzelteile. Das Gefühl des Erhabenen zeigt gleichsam negativ, daß jeder gelungenen Wahrnehmung einer Form eine Zeitsynthese zugrunde liegt, eine gewaltsame Verdichtung der Einzelmomente zu einem Moment — nur bleibt diese im Normalfall unbemerkt (vgl. KUK, Β 99 f.). Die „Analytik des Erhabenen" handelt von Gegenständen, die die in der Kritik der reinen Vernunft etablierte Wahrnehmungslehre in Frage stellen, weil sie den dort konstruierten menschlichen Wahrnehmungsapparat übersteigen. Im Erhabenen eröffnet sich ein Horizont ,jenseits der Wahrnehmung', der gleichwohl wahrgenommen, nämlich gefühlt wird. Kant sieht sich hier gezwungen, hinter die Wahrnehmungslehre der Kritik der reinen Vernunft zurückzugehen. Im Gefühl des Erhabenen wird deutlich, wie die dort als grundlegend angenommene Wahrnehmung einer Form überhaupt zustande kommt. 5 Was, so werden Sie sich fragen, haben diese Wahrnehmungsprobleme anläßlich des Erhabenen mit der Kunst der Avantgarden zu tun, inwiefern ist diese in der „Analytik des Erhabenen" „keimhaft enthalten" ? Gewiß, die von Lyotard als Beispiel angeführten Bilder von Barnett Newman sind überdurchschnittlich
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In diesem Zusammenhang wäre auch zu fragen, ob Kant in der „Analytik des Erhabenen" nicht sogar hinter die in der Kritik der reinen Vernunft als Grundpfeiler der „transzendentalen Ästhetik" aufgebauten reinen Anschauungs/orme« von Raum und Zeit selbst zurückgehen muß. Die Behandlung dieser Frage würde allerdings den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.
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groß, aber so groß, daß der Einbildungskraft die Synthese mißlingen würde, wohl kaum. Ist nicht die Annahme, daß der von Kant anläßlich von Naturphänomenen beschriebene Mechanismus des Erhabenen sich in der von Menschen gemachten Kunst nachvollziehen lasse, von vornherein verfehlt ? Ist die Verbindung des Erhabenen mit der Avantgarde nicht bloß auf der Basis einer Uminterpretation oder Umgewichtung des Erhabenen möglich? In der Tat — aber durchaus anders, als es vordergründig erscheint. Die bloße Verbindung des Kantischen Erhabenen mit der Avantgardekunst läßt manche deutsche Kant-Ausleger und Avantgarde-Spezialisten erschaudern und den Vorwurf erheben, Lyotard könne Kant nicht genau gelesen haben, denn Kant habe die Kunst doch ausdrücklich von der Ästhetik des Erhabenen ausgeschlossen und habe damit recht, denn es sei unerklärlich, wie man vor einem Kunstwerk jene Mischung aus Schrecken und Bewunderung empfinden könne, wie sie für das Gefühl des Erhabenen charakteristisch ist. Solche Einlassungen — sie werden z.B. von Christa Bürger vertreten 6 — offenbaren nicht nur, daß die betreffenden Autoren die Tradition des Erhabenen zu wenig berücksichtigen (in der Kant eher eine Ausnahme bildet), sondern sie sind nicht einmal von Kant her ohne weiteres haltbar. 7 Vielmehr erweisen sich gerade Kants Gründe für den Ausschluß der Kunst als für eine heutige Kunst des Erhabenen ausgesprochen aufschlußreich. In der Tat scheint Kant in seiner „Analytik des Erhabenen" die Kunst ausdrücklich von seinen Überlegungen auszuschließen: „Wenn das ästhetische Urteil rein [ . . . ] [sein] soll, [muß] man nicht das Erhabene an Kunstprodukten [...], sondern an der rohen Natur [ . . . ] aufzeigen." 8 Ohne auf Kants eigene Inkonsequenz eingehen zu wollen — denn wer würde die Pyramiden und den Petersdom, die er als Beispiele für das Erhabene anführt, allen Ernstes als Naturphänomene (noch dazu der „rohen Natur") bezeichnen — , gilt es hier, Kants Kunstbegriff näher zu untersuchen, denn er ist es, der den Ausschluß der Kunst aus der „Analytik des Erhabenen" bedingt. Dazu nur zwei Punkte, der eine ,inner- ', der andere ,außerkantisch' : Für Kant liegt jeder menschlichen Kunst, jedem „Kunstprodukt", wie er sagt, ein Zweck und damit ein Begriff zugrunde. Insofern ist Kunst kein möglicher Gegenstand eines ästhetischen Urteils, da dieses im Unterschied zum erkenntnis-
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Vgl. Christa Bürger, „Moderne als Postmoderne: Jean-François Lyotard", in: Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, hrsg. von Christa und Peter Bürger, Frankfurt a.M. 1987, S. 122-143. Überdies scheinen sie sich auf das Dynamisch-Erhabene zu beziehen, das von Lyotard aus guten Gründen kaum berücksichtigt wird und das, wie gesagt, ganz anders motiviert ist als das Mathematisch-Erhabene. KUK, Β 88f.; vgl. entsprechend Β 76.
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orientierten Verstandesurteil gerade vom Begriff unabhängig sein soll. Von daher erscheint der Ausschluß der Kunst vom ästhetischen Gefühl des Erhabenen als konsequent. Er müßte freilich, logisch betrachtet, auch das andere ästhetische Gefühl, das Gefühl des Schönen, betreffen, aber diese Konsequenz zieht Kant nicht. Hinsichtlich der schönen Kunst scheint er vielmehr von der Vorstellung auszugehen, daß der zugrundeliegende Zweck dort so wenig erkennbar ist, daß er der für das Schöne charakteristischen „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" keinen Abbruch tue. Dann ist aber völlig unerfindlich, warum das nicht ebenso für die erhabene Kunst gelten soll. Durch diesen Kunstbegriff erweist sich Kant als Kind seiner Zeit. Und hierin liegt auch der zweite Grund, warum Kant die Kunst von seinen Überlegungen zum Erhabenen ausschließt. Die Kritik der Urteilskraft ist 1790 erschienen, also gegen Ende eines Jahrhunderts, das wie kein zweites von der Diskussion um das Erhabene — und zwar gerade in bezug auf die Kunst — geprägt war. Um so erstaunlicher ist es, daß Kant, der ansonsten immer sehr präzis auf zeitgenössische Diskussionen eingeht, bezüglich des Erhabenen einzig Burke erwähnt, der einem ganz anderen Diskussionszusammenhang angehört. Kant dürfte dafür Gründe gehabt haben. Zu bedenken wäre beispielsweise, was in jener Zeit als erhabene Kunst galt: Abbildungen furchterregender Szenen auf monumentalen Olschinken in der Bildenden Kunst oder heroische Berichte von Alpenreisen, die Kant (und das ist meines Wissens der einzige Hinweis in der Kritik der Urteilskraft, daß er die Diskussion um erhabene Kunst überhaupt zur Kenntnis genommen hat) kurzerhand als „pathetische Beschreibungen" abtut (KUK, Β 111). Ich will nicht behaupten, daß Kant sich wirklich darüber im klaren war, wie wenig diese „Darstellungen" der „negativen Darstellung" genügen, die für das Erhabene charakteristisch ist und für die er das jüdische Bilderverbot als Beispiel anführt. Gleichwohl gibt uns seine dezidierte Ablehnung der „pathetischen Beschreibungen" und sein Eintreten für die „Einfalt" als erhabenes Stilideal (KUK, Β 126) einen Hinweis darauf, worum es sich beim Erhabenen in der Kunst heute handeln könnte und worum es sich eben gerade nicht handeln kann. Man hat Grund, die prospektive Seite von Kants Ablehnung zu betrachten. Ich hatte gesagt, daß Lyotard Kants Erhabenes gewissermaßen uminterpretiert. Das hat nichts damit zu tun, daß er — scheinbar gegen Kant — das Erhabene auf die Kunst bezieht. (Auch seine Umbenennung der Kantischen Vermögen in sprachphilosophische Termini spielt dabei keine Rolle.) Und wenn Lyotard zumindest zu Beginn seiner Überlegungen zum Erhabenen und der Kunst dieses Jahrhunderts hauptsächlich von der abstrakten Kunst spricht und sich dabei ausdrücklich auf Kants Beispiel des Bilderverbots bezieht, so mag dies eher als ein direkter Anschluß an Kant denn als dessen Uminterpretation erscheinen. Doch auch das wäre eine falsche Fährte. Denn die abstrakte Kunst hat Lyotard lediglich als Einstieg in die Problematik gedient, inzwischen bedient er sich durchaus auch
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figuraler Kunst, um das aufzuzeigen, worum es ihm beim Erhabenen geht : das Undarstellbare, die Materie, die Präsenz. — Worin also besteht Lyotards Uminterpretation oder Umgewichtung des Kantischen Erhabenen genau ? Fünf Punkte dazu. Bekanntlich bezieht Lyotard das Gefühl des Erhabenen erstens auf das „Ereignis" des Kunstwerks. Das gemischte Gefühl entspricht der Frage des „Geschieht es ?", wobei die Unlust der Angst entspricht, daß nichts geschehen könnte, die Lust hingegen der Freude darüber, daß doch etwas geschieht. 9 Nun, so wird mancher achselzuckend konstatieren, das gelte ja wohl für jedes Kunstwerk, das sei alte Genieästhetik, die bekannte Unlust vor dem leeren Blatt Papier und die darauf folgende Inspiration, warum muß man dafür das Erhabene bemühen ? Doch das wäre zu vordergründig gedacht. Gerade hier gilt es zu beachten, daß es sich beim Gefühl des Erhabenen nicht einfach um einen mehr oder weniger dialektischen Umschlag vom Negativen ins Positive handelt, sondern daß sich beide Gefühlskomponenten mischen, wie schon Kant betont hatte. Doch wie soll man sich dieses gemischte Gefühl vorstellen ? Was bleibt vom beunruhigenden „Geschieht es ?" erhalten, sobald das Kunstwerk erst einmal ,da', „geschehen" ist ? Hier kommt ein zweites Moment ins Spiel, mit dem Lyotard die Avantgardekunst zu charakterisieren sucht: Regelhinterfragung und Regelsuche, wie er das nennt. Das negative Gefühlsmoment kann sich nur dann erhalten, wenn sich das Kunstwerk nicht in eine Harmonie auflöst, die glatt gefällt, sondern sich immer wieder gleichsam selbst in Frage stellt, den Betrachter und auch den Produzenten über seine Identität in Unsicherheit läßt. Es bleibt unbestimmt. Daher ja auch die Dauerfrage hinsichtlich der modernen Kunst, ob das überhaupt noch Kunst sei. Gerade indem das Werk bestehende Regeln der Kunst hinterfragt und keine neuen bestimmt, kann es auf jene undarstellbare Präsenz, auf jenes ,Absolute', von dem Lyotard spricht, negativ verweisen. Womit w i r wieder bei Kant sind: Es gelingt nie, diese Präsenz in der Kunst darzustellen, aber gerade dadurch erweist sie sich, weil sie gleichwohl gefühlt wird, als permanent irritierendes Moment innerhalb des Kunstwerks. Das aber ist beileibe nicht in jedem Kunstwerk der Fall. Zur Verdeutlichung des eben Gesagten erscheint es mir drittens hilfreich, die Produktions-, die Rezeptions- und die Werkebene „selbst", wenn ich so sagen darf, zu unterscheiden. Bei Lyotard gehen diese Ebenen häufig ineinander über. Dafür mag es Gründe geben, es hat aber auch Verwirrung gestiftet. Der produzierende Künstler spielt, wie Lyotard schreibt, mit seinem Werk auf ein Undarstellbares an. Es gelingt ihm nie, es darzustellen, aber er nähert sich ihm durch die Hinterfragung seines eigenen Metiers und den Versuch, es 9
Die Angst vor dem Ausbleiben des Ereignisses, der drohende Mangel, scheint eher auf Burke als auf Kant zurückzugehen. Sie ist jedoch mit Kants ,Nicht-Darstellung' vereinbar. Überdies zeigt die ausdrückliche Zweiteilung des erhabenen Gefühls bei Lyotard, daß er sich weiterhin in großem Maße auf Kant bezieht.
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neu zu bestimmen. Er versucht nicht, das Undarstellbare darzustellen, sondern lediglich zu zeigen, daß es Undarstellbares gibt. Er sitzt vor seiner leeren Leinwand und empfindet die Angst, daß nichts geschehen könnte — gerade weil es keine verbindliche Regel gibt, die sein Tun leiten könnte —, und dann geschieht doch etwas'. Das, so könnte man wie gesagt annehmen, ist alte Genieästhetik. Der Künstler empfängt, ohne daß er weiß woher, eine Inspiration usw. Dabei wird aber nicht deutlich, warum ihn das „Geschieht es ?" bleibend beunruhigen sollte. Wie steht es mit dem Rezipienten — auf den Kant seine Betrachtungen zum Erhabenen ja besonders konzentriert —, wenn er vor einem solchen Werk steht? Nun, ich denke, man muß sich das so vorstellen, daß er erschrickt, weil er mit dem, was er sieht, auf Anhieb nichts anfangen kann, es ist gänzlich unbestimmt — denn auch der Rezipient verfügt über keine Regel, was Kunst sei und wie sie zu interpretieren ist. Gleichwohl ist das Kunstwerk ,da' und setzt den Reflexionsapparat des Betrachters in Gang. Im zweiten oder dritten Anlauf wird er dann einen ,Sinn', vielleicht sogar ein Undarstellbares in diesem Kunstwerk entdecken. Diese Konzeption der Rezeption von erhabener Kunst ist zwar weniger traditionell, aber doch nicht minder konventionell. Hier wird auf den Schock des Ungewohnten gesetzt, aber auch hierdurch wird eigentlich nicht erklärt, wie das beunruhigende Fragezeichen des „Geschieht es?" permanent fortwirken kann. Ich glaube, daß die entscheidende Ebene die Werkebene selber ist, als deren bloßer Reflex etwaige Gefühle des Produzenten oder Rezipienten anzusehen sind. Hier geschieht die eigentliche Umwertung oder Uminterpretation des Erhabenen. Schon Adorno gibt einen Hinweis darauf, wenn er von der „Invasion des Erhabenen in die Kunst" spricht. 1 0 Im Kunstwerk selbst wird der Konflikt, von dem das Erhabene zeugt, ausgetragen, bis hin zu der eben erwähnten Frage, ob es sich überhaupt noch um ein Kunstwerk handelt. Der Begriff der Kunst und das faktisch Dargestellte, Form und Material, oder wie immer man die beiden widerstreitenden Pole nennen mag, konfligieren in einer Weise, die das Werk selbst in sich erschüttert, es als Werk in Frage stellt. Und doch: es ist ein Werk. Das zweipolige Gefühl des Erhabenen ist in die Struktur des Kunstwerks selbst eingewandert. Es geht also weder primär um eine Genieästhetik noch um eine erhabene Rezeptionsästhetik, sondern darum, sich einem Werk auszusetzen, das das Erhabene strukturell in sich selbst trägt. 11 Das bedeutet keine Objektivierung des Erhabenen: Die betreffenden Werke sind nicht,objektiver' als die Naturphänomene, die bei Kant das Gefühl des Erhabenen hervorrufen.
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Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 292. Wobei, das sei nur nebenbei bemerkt, die Ermächtigung des Subjekts, um die es im Erhabenen eigentlich geht, sehr viel deutlicher wird als in der .humaneren' Genieoder Rezeptionsästhetik, die dazu geführt haben, daß das Erhabene als ästhetische Ermächtigung des Subjekts interpretiert wurde.
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Mit dieser Veränderung gegenüber der Tradition ist viertens eine weitere Veränderung verbunden, die mir gerade aus heutiger Sicht entscheidend und historisch notwendig erscheint und auf die Kants Verurteilung der „pathetischen Beschreibungen" bereits vorausgewiesen hat: Eine zeitgemäße „Ästhetik des Erhabenen" zielt in keiner Weise mehr auf Pathos, auf die Darstellung erhabener Sujets, auf Symbolisierungen des Absoluten oder bombastische Monumentalinszenierungen. Derartige Auffassungen des Erhabenen sind Erbe der Romantik, in der das Erhabene zum „höchsten Schönen" erklärt und dadurch der ihm eigenen Sprengkraft beraubt wurde. Derartige Auffassungen des Erhabenen haben sich — um das zum Ende in aller Deutlichkeit zu sagen — mit dem Nationalsozialismus ein für alle Male diskreditiert. Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn man heute vom Erhabenen spricht, noch dazu in bezug auf die Kunst, in der symbolische oder ähnliche „Darstellungen" des Absoluten besonders naheliegen. 12 In dieser Hinsicht muß fünftens und letztens ein weiterer Punkt zur Kenntnis genommen werden: die horizontale Umstrukturierung des Erhabenen, die sich bei Adorno angelegt und bei Lyotard explizit durchgeführt findet. Auch die Romantiker — auch das darf nicht vergessen werden — waren Kant-Interpreten. Ihre vertikale Überhöhung der zweiten Phase des erhabenen Gefühls ist eine mögliche Auslegung des Kantischen Erhabenen — Lyotards horizontale Auslegung ist die andere. Kants Bestimmung des Absoluten als Vernunft legt den Triumph im Gefühl des Erhabenen, also eine Hierarchisierung, einen Aufstieg von der Phase der Unlust zur Phase der Lust, vom Endlichen zum Unendlichen, vom Diesseits zum Jenseits, von der Erde zu den Sternen nahe, mit anderen Worten: ein Beenden der Dialektik zugunsten des zweiten Pols. Diese Vertikalisierung innerhalb des Erhabenen aber gilt es heute zu vermeiden. Denn durch sie wird das kritische Potential, das im Scheitern der Einbildungskraft liegt, metaphysisch neutralisiert, und die Grenzerfahrung des Erhabenen pervertiert zum Größenwahn. Es kann und darf nicht (mehr) darum gehen, das Absolute zu affirmieren, es mit möglichst viel Pathos darzustellen 13 oder gar Handlungsanweisungen aus dem Anteil der praktischen Vernunft im
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Und das ist einer der Hauptgründe, diesen Kunstgriff will ich gerne eingestehen, warum ich nur vom Mathematisch-Erhabenen gesprochen habe, das solche „Bilder" eher verbietet als das Dynamisch-Erhabene, in dem es um Kraft, Macht und Gewalt geht. Diese Pervertierung der Kunst im Zeichen eines falsch verstandenen Erhabenen hat Adorno im Auge, wenn er Kants Ausschluß der Kunst vom Erhabenen lobt (vgl. Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 295). — Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß die Kunst, wenn sie danach strebt, das Erhabene direkt darzustellen,,falsch' werden muß, und in bezug auf eine solche Kunst erweist sich Kants Ausschluß des Erhabenen geradezu als hellsichtig.
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Erhabenen abzuleiten. Dagegen gilt es, nicht nur die Lust, sondern auch die Unlust im erhabenen Gefühl ernst zu nehmen. N u r so wird das undarstellbare Moment im Erhabenen nicht hypostasiert, sondern behält es kritische Sprengkraft. Lyotard ist daher bemüht, das Undarstellbare, das ,Absolute', wenn man so will, horizontal, als einen unendlichen Horizont im Endlichen, im Diesseits auszubuchstabieren und es nicht in ein Jenseits oder ans Firmament zu projizieren. 1 4 Die Grenzerfahrung, die Erschütterung, die Krise, also die erste Phase des Erhabenen, darf nicht durch den unendlichen Horizont, der in der zweiten Phase aufscheint, neutralisiert werden. Das Lustmoment im Erhabenen bleibt bei Lyotard negativ geprägt. Es verdankt sich einer Art Minimalisierung: Das Undarstellbare wird nicht mehr, wie z. B. bei Kant, als Vernunft bestimmt — zumindest nicht in seinen Überlegungen zur Kunst — , sondern es bleibt unbestimmt, ein Horizont. Angesichts der Krise, der Angst, daß nichts mehr geschehen könnte, besteht das positive Moment, also die zweite Komponente des Erhabenen, lediglich in dem Umstand, daß etwas ist und nicht vielmehr nichts. 1 5 Wie hat man sich nun dieses kritische Potential des Erhabenen, das ich so hervorgehoben habe, vorzustellen, weniger theoretisch formuliert und um diesen Ausführungen wenigstens zum Schluß noch einen konkreten Zug zu geben: Was bedeutet die Regelhinterfragung im Zeichen des Erhabenen praktisch für die Kunst? Regelhinterfragung bedeutet Hinterfragen dessen, was vorgegeben ist. In diese Richtung interpretiert Lyotard den Experimentalcharakter der Avantgardekunst. 1 6 Sie stellt das in Frage, was bisher für selbstverständlich galt, z. B. die Formen, in denen wir überhaupt etwas wahrnehmen. Hier können wir direkt an Kants Mathematisch-Erhabenes anschließen, denn wie wir gesehen haben, muß Kant diesbezüglich hinter die Formen unserer räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung zurückgehen. Die „Ästhetik des Erhabenen" offenbart einen Bruch mit unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Indem die Avantgardekunst
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Vgl. dagegen Wolfgang Welsch, „Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen", in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hrsg. von Christine Pries, Weinheim 1989, S. 185-213, der nachzuweisen sucht, daß sich die Horizontalität zwar bei Adorno findet, daß Lyotard jedoch dahinter in eine Art Vertikalität zurückfällt. Ähnliches gilt für Adorno, wo die „ungemilderte Negativität" — „Erbe des Erhabenen" (Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 296), ich würde sagen: negativer Pol — im Kunstwerk nur noch durch die Tatsache positiv aufgefangen zu werden scheint, daß es sich überhaupt um ein Werk handelt. Wobei, und auch dies sei abschließend noch einmal deutlich vermerkt, es Lyotard keineswegs darum geht, die Avantgardekunst nur dadurch zu charakterisieren, noch darum, sie als eindeutig definierte historische Bewegung verstanden zu wissen.
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das Raum- und Zeitraster, das für jede „Darstellung", jede Wahrnehmung einer „Form" konstitutiv ist, zu erweitern und zu verändern sucht und andere Wahrnehmungsweisen erprobt, bearbeitet sie auch jenes Undarstellbare, jenen unendlichen Horizont, den alle Darstellung und alle Form immer verfehlen müssen und den sie gewissermaßen verdecken: das, was Lyotard neuerdings — klassisch philosophisch als das, was der Form vorausgeht — die „Materie" nennt. 1 7 Mit der „Ästhetik des Erhabenen" geht es also, und da wird mancher Zuhörer enttäuscht sein, ebensowenig wie bei Kant nicht unbedingt um eine „Philosophie der Kunst", zumindest nicht primär, sondern eher um eine „Ästhetik" im alten Sinne von Wahrnehmung. Und zwar um eine Ästhetik, die noch anästhetische Phänomene, also diejenigen, die unsere Wahrnehmung übersteigen oder unterlaufen, miteinschließt. 18 Die Kunst ist eines der Felder, auf dem mit der Wahrnehmung experimentiert wird, und die Philosophie kann z. B. durch eine Ästhetik des Erhabenen darüber nachdenken. Das soll nicht bedeuten, daß die Kunst zur Magd der Philosophie wird, denn aus der „Ästhetik des Erhabenen" lassen sich, so hoffe ich jedenfalls, auch weniger theoretische Gesichtspunkte als hier geschehen, nämlich ganz praktische Anregungen für die Kunst gewinnen. Das Erhabene darzustellen, das kann (und darf) ihr nie gelingen. Es gibt „das Erhabene" nicht, sondern nur ein erhabenes Gefühl angesichts eines gänzlich unbestimmten Undarstellbaren oder ,Absoluten'. 19 Und danach kann die Kunst durchaus streben. Diese ,negative Regel' findet sich schon in Kants Analytik zumindest des MathematischErhabenen angelegt, und in dieser Hinsicht erweist sich Kant als höchst moderner — als ebenso „avantgardistischer" wie postmoderner — Denker.
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Gerade angesichts der zeitgenössischen Entwicklung der Neuen Technologien, die unsere Wahrnehmungsformen auf andere Weise destabilisieren, scheint mir dieses Experimentieren mit neuen Wahrnehmungsweisen angebracht zu sein. Vgl. den Beitrag von Wolfgang Welsch in diesem Band, S. 67-87. Lyotard spricht anläßlich des Erhabenen neben „Anästhetik" auch von „negativer Ästhetik". Jeder Bestimmungsversuch des Undarstellbaren bzw. ,Absoluten' muß in die Irre gehen — zumal wenn man berücksichtigt, wie sehr Kant die Subjektivität des erhabenen Gefühls hervorhebt und wie vorsichtig sich noch seine Bestimmung des Absoluten als subjektives Vermögen der Vernunft gegenüber anderen Bestimmungsversuchen ausnimmt — , weil ein bestimmtes Erhabenes im Prinzip darstellbar und objektivierbar ist.
Unverfügbarkeit des Zeitlichen, Zeitlichkeit des Unverfügbaren Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Montaigne bis zu Lyotard und Michel Tournier
Bernhard H. F. Taureck Für Cha
I Die Franzosen, sie suchen alle nach einem, nach der Zeit hinter der Zeit, nach Zeit unter dem Augenschein von Zeit: chrónos to próton sòma, die Zeit ist der ursprüngliche (eigentliche) Körper, soll Heraklit laut Sextus Empiricus (Adv. math. 523, 20, nicht bei Diels-Kranz) gesagt haben. Zur Einstimmung sei noch aus des Dichters Worten bei Goethe zitiert: „So gib mir auch die Zeiten wieder, Da ich noch selbst im Werden war, Da sich ein Quell gedrängter Lieder Ununterbrochen neu gebar, Da Nebel mir die Welt verhüllten, Die Knospe Wunder noch versprach, Da ich die tausend Blumen brach, Die alle Täler reichlich füllten. Ich hatte nichts und doch genug: Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug." 1
Im 15. Jahrhundert schreib François Villon die vielgeschätzte Refrainzeile: „Mais où sont les neiges d'antan?"
Villon ist es auch, der die Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft in einen Vierzeiler verdichtete: Ich, François, dort und dort geboren. Und wenn ich am Galgen hängen werde, wird mein Hals wissen, was mein Hintern wiegt:
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Johann Wolfgang Goethe, Faust, Vorspiel auf dem Theater.
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,Je suis François [...] Né de Paris emprès Pontoise, Et de la corde d'une toise Saura mon col que mon cul poise." Bin, war, werde gewesen sein. Und was war, wird elegisch noch einmal evoziert im Bewußtsein, daß es dahingeschmolzen ist. Im folgenden Jahrhundert schrieb Montaigne. Er zeichnet nicht das Sein, sondern das Ubergehen. Alles ist eigentlich eine Schaukel, ein Wechselspiel, dem auch noch die Heraklitische Ordnung von Maß und Logos abgeht: „Die Welt ist nur eine ewige Schaukel. In ihr schaukeln alle Dinge [...]. Die Beständigkeit ist selber nur ein langsameres Schaukeln. Ich vermag mich meines Gegenstandes nicht zu vergewissern. Es verhält sich unsicher und schwankend in einer natürlichen Trunkenheit. Ich nehme ihn in diesem Punkt, wie er ist im Augenblick, wo ich an ihm Gefallen habe. Ich male nicht das Sein, ich male das Ubergehen (le passage): aber nicht von einem Alter zu einem anderen oder, wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von Minute zu Minute." 2 Montaigne, von der traditionellen Philosophiegeschichte als der Entdecker der Individualität verzeichnet, d. h. als der, der nicht mehr nur die typisierten Egogestalten der Antike und der auch nicht eine letztbegründende Subjektivität zur Sprache bringt, könnte, wenn die Zeichen nicht trügen, als der fortschrittlichste Philosoph der Gegenwart zählen, die 500 Jahre zwischen Montaigne und dem 21. Jahrhundert sind schnell überbrückt. Foucault oder Clément Rosset votieren für Montaigne. Alle überbietend, sagte Lacan im elften Seminarband: „Ich möchte Ihnen zeigen, daß Montaigne tatsächlich derjenige ist, der nicht um einen Skeptizismus kreist, sondern um den lebendigen Augenblick der aphánisis [Verschwinden] des Subjekts. Und darin ist er fruchtbar, darin ist er ewiger Führer." 3
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„Le monde n'est qu'une branloire perenne. Toutes choses y branlent sans cesse [...] La constance mesme n'est autre chose qu'un branle plus languissant. Je ne puis asseurer mon object. Il va trouble et chancelant, d'une yvresse naturelle. Je le prens en ce point, comme il est, en l'instant que je m'amuse à luy. Je ne peints pas l'estre. Je peints le passage: non un passage d'aage en autre, ou, comme diet le peuple, de sept en sept ans, mais de jour en jour, de minute en minute" (Michel Eyquem de Montaigne, Essais ΙΠ, 2, hrsg. von M. Rat, Bd. II, Paris 1962, S. 222). ,Je voudrais vous montrer que Montaigne est vraiment celui qui s'est centré, non pas autour d'un scepticisme, mais autour du moment vivant de l'aphanisis du sujet. Et c'est en cela qu'il est fécond, qu'il est guide éternel" (Jacques Lacan, Le séminaire XI, Paris 1973, S. 203).
Unverfügbarkeit des Zeitlichen, Teitlichkeit des Unverfügbaren
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Montaigne zeigt uns also das Verschwinden des Subjekts. Montaigne lebt die Passage, die Ubergänglichkeit des Innerweltlichen. Er lebt die Zeitlichkeit des Innerweltlichen bzw. die Weltzugewandtheit des Zeitlichen. Es seien einige Namen und Positionen erwähnt, die zu den Inkubationsbedingungen der recherche-du-temps-Experimente der Franzosen des 20. Jahrhunderts gehören. Erwähnt sei zunächst Descartes, um die Leidenschaft für das Transzendente zu belegen im Kontrast zu Villon und Montaigne. Für Descartes bedeutet Zeit diskontinuierliche Folge von Augenblicken. Daß wir Menschen leben, Dauer gewinnen, beweist in seinem Urteil die Existenz Gottes, der ihn in fortdauernder Schöpfung (creatio continua) jeden Moment neu erschafft. In der bloßen Zeit müßten wir in jedem Augenblick sterben, wir wüßten uns nicht zu erhalten. 4 N u n zu Blaise Pascal. Pascal sah eine Welt, die im Kunstwerk geordnet ist, außerhalb der Kunst jedoch Chaos und Unendlichkeit bietet. Uber eine mögliche Zeitlichkeit der Kunst bemerkt er nichts, dafür einiges Relevante über die Zeit außerhalb der Kunst. Zu den „Gemälden gibt es nur einen unteilbaren Punkt, der der wahre O r t ist: die anderen sind zu nah, zu weit, zu hoch oder zu niedrig. Die Perspektive bezeichnet ihn in der Malkunst. Aber im Bereich der Wahrheit und in der Moral, wer wird ihn da markieren?" 5 D e r Mensch überhaupt sei „eine Kloake von Ungewißheit", und: „Uberall sehe ich nur Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom und einen Schatten einschließen, der nur einen unwiederbringlichen Augenblick lang dauert. Alles, was ich weiß, ist, daß ich bald sterben muß; aber was ich am meisten nicht kenne, ist dieser Tod selbst, den ich nicht vermeiden k a n n . " 6 Der dogmatische Schlummer der Scholastiker ist dahin. Es wird mehr, erheblich mehr gewußt. Mit Descartes schlug die Stunde der Naturwissenschaft, aber das Resultat ist Desorientierung: „Da ich zu viel sehe, um zu leugnen und zu wenig, um sicher zu sein, befinde ich mich in einem bedauernswerten Zustand." 7 Bietet der Dichter Villon eine elegische Sicht des Vergangenen und eine humoristische seiner tödlichen Zukunft — der Hals wird am Galgen das Gewicht des Hinterns wissen — , schmiegt sich der noch humanistisch gepanzerte Montaigne-Diskurs dem Existieren als Ubergehen in einer desobjektivierten Zeit an, will Descartes aus Zeitabgründen sich selbst retten, so insistiert Pascal
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Vgl. René Descartes, 3. Meditation und Prinzipien I, Nr. 21. Blaise Pascal, Pensées, hrsg. von F. Kaplan, Paris 1982, Nr. 205. ,Je ne vois que des infinités de toutes parts, qui m'enferment comme un atome et comme une ombre qui ne dure qu'un instant sans retour. Tout ce que je connais est que je dois bientôt mourir; mais ce que j'ignore le plus est cette mort même que je ne saurais éviter" (ebd., Nr. 52). Ebd., Nr. 80.
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am meisten nicht auf Lösungen, sondern auf Problemen. Es gibt eine Pensée, die scharf eine Entfremdung innerhalb des alltäglichen Zeitvollzugs diagnostiziert: „Wir halten uns niemals an die gegenwärtige Zeit. Wir nehmen die Zukunft als etwas vorweg, das zu langsam dauert, gleichsam, um ihren Lauf zu beschleunigen. Oder wir rufen uns die Vergangenheit zurück, um sie als zu schnelle anzuhalten: so unvorsichtig irren wir durch die Zeiten, die nicht die unseren sind und denken überhaupt nicht an die einzige uns gehörende Zeit. Und so eitel sind wir, daß wir an die Zeiten denken, die nichts sind und gedankenlos der einzigen entgehen, die zugrunde liegt. Das geschieht, weil die Gegenwart uns gewöhnlich verletzt. Wir verbergen sie vor unserem Blick, weil sie uns traurig macht. Und wenn sie uns angenehm ist, trauern wir, daß sie vor unseren Augen entflieht. Wir versuchen, sie durch die Zukunft zu halten und meinen, über die Dinge zu verfügen, die nicht in unserer Macht stehen, für eine Zeit, die zu erreichen wir in keiner Weise eine Sicherheit haben. Jeder prüfe seine Vorstellungen, er wird sie alle mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft beschäftigt finden. Wir denken fast überhaupt nicht an die Gegenwart; und, falls wir daran denken, so ist es nur, um von ihr das Licht zu nehmen, um über die Zukunft zu verfügen. Die Gegenwart ist niemals unser Ziel: die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsere Mittel; die Zukunft ist ausschließlich unser Ziel: so leben wir niemals, sondern hoffen zu leben; und indem wir uns immer darauf einstellen, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, daß wir es niemals werden." 8 Das klingt wie eine Vorwegnahme des strukturellen Verschobenwerdens der Präsenz, d. h. wie eine Antizipation der Derrida-différance. A b e r es klingt nur so. Pascals Argumentation soll zeigen, daß Gegenwart illusionär wird, weil und solange wir in eine imaginär bleibende Zukunft ausgreifen bzw. dem Verfließen unserer eigenen Lebenszeit zuschauen. Es wird eine vielleicht korrigierbare Nei-
„Nous ne nous tenons jamais au temps présent. Nous anticipons l'avenir comme trop lent à venir, comme pour hâter sons cours; ou nous rappelons le passé pour l'arrêter comme trop prompt: si imprudents, que nous errons dans les temps qui ne sont pas nôtres, et ne pensons point au seul qui nous appartient; et si vains, que nous songeons à ceux qui ne sont rien, et échappons sans réflexion le seul qui subsiste. C'est que le présent, d'ordinaire, nous blesse. Nous le cachons à notre vue, parce qu'il nous afflige. Et s'il nous est agréable, nous regrettons de le voir échapper. Nous tâchons de le soutenir par l'avenir, et pensons à disposer les choses qui ne sont pas en notre puissance, pour un temps où nous n'avons aucune assurance d'arriver. Que chacun examine ses pensées, il les trouvera toutes occupées au passé ou à l'avenir. Nous ne pensons presque point au présent; et, si nous y pensons, ce n'est que pour en prendre la lumière pour disposer de l'avenir. Le présent n'est jamais notre fin: le passé et le présent sont nos moyens; le seul avenir est notre fin. Ainsi nous ne vivons jamais, mais nous espérons de vivre; et, nous disposant toujours à être heureux, il est inévitable que nous ne le soyons jamais" (ebd., Nr. 225).
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gung der Menschen beschrieben. Für Derrida hingegen bleibt Gegenwart illusionär, weil ihr Aufschub unabhängig von unseren Intentionen geschieht. 9 Es darf zusammengefaßt behauptet werden: Die französische Tradition liefert offenbar zwei einander ausschließende Möglichkeiten, das Menschsein in der Zeit zu situieren. Nennen wir sie nach ihren Erstformulierern Montaige bzw. Pascal den Montaigne- bzw. Pascal-Weg, dann kann wie folgt unterschieden werden: Montaigne versucht, eine maximale Angleichung des Individuums an den zeitlichen Wechsel zu denken, während Pascal darin nur Verfehlung und Verfallensein an etwas Nichtiges erblicken kann. Etwas präziser formuliert ergibt sich: Montaigne-Weg
Pascal-Weg
Angleichung des Ich an den wahrnehmbaren zeitlichen Wechsel um den Preis eines Verzichts auf eine Ego-Substanz und unter Einschluß der Bejahung des eigenen Todes.
Die Angleichung des Ich an den Wechsel geschieht im imaginären Besitzergreifen einer Zukunft, deren Resultat das Erleiden des Todes in einem nicht wirklich zur Gegenwart erbrachten Leben ist.
Montaigne spricht von der Erfahrung, sich mit dem eigenen Tod „vertraut werden zu lassen" (s'aprivoiser de la mort). Dagegen steht die Schärfe Pascals: „Das einzige, was uns über unser Elend tröstet, ist die Ablenkung, und gleichwohl ist die Ablenkung [divertissement] unser größtes Elend. Denn sie vor allem hindert uns daran, an uns zu denken und läßt uns selbst unmerklich verlieren [ . . . ] und bewirkt, daß wir unmerklich beim Tod ankommen." 1 0 Beide Wege wurden richtungweisend. Sicherlich wäre es falsch, alle Zeitbegriffe der französischen denkerischen Tradition ausschließlich beiden Wegen zuzuordnen. Beide Wege bilden aber Richtungen, die auch von anderen eingeschlagen wurden. Der Montaigne-Weg ist ästhetisch und aisthesisbestimmt, sofern er eine Bejahung des wahrnehmbaren Wechsels einschließt. Der Pascal-Weg heiße existenzkritisch. Der Montaigne-Weg, den Villon schon vor Montaigne gegangen war, beschreitet später auch /./. Rousseau. Er schrieb in der 5. promenade seiner Spätschrift Les rêveries du promeneur solitaire: „Die Gegenwart dauert beständig an, jedoch ohne Markierung ihrer Dauer, ohne Spur von Abfolge, ohne die geringste Empfindung weder von Mangel, noch von Genuß, noch von Vergnügen oder Leiden, noch von Wunsch oder Furcht. All das betrifft nur noch unsere Existenz."11 9 10
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Vgl. Bernhard H.F. Taureck, Philosophie und Metaphilosophie, Cuxhaven 1989, Nr. VII. „La seule chose qui nous console de nos misères est le divertissement, et cependant c'est la plus grande de nos misères. Car c'est cela qui nous empêche principalement de songer à nous, et qui nous fait perdre insensiblement [...] et nous fait arriver insensiblement à la mort" (Pascal, a.a.O., Nr. 255). Jean-Jacques Rousseau, Les rêveries du promeneur solitaire, hrsg. von H. Roddier, Paris 1960, S. 68.
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Bernhard H. F. Taureck
Rousseau betont, daß es sich bei dieser individuellen Existenzerfahrung um einen Zustand handelt, zu dessen Bedingung eine sozial bestimmte Einsamkeit gehört. Im ganzen bezeichnet der aisthesisbestimmte Montaigne-Weg traditionell nicht so sehr eine Theorie, sondern eine Praktik, d. h. die Einübung des Individuums im Wechsel begegnender Zustände, für das Montaigne insgesamt das Cicero- (bzw. Platon-)Motiv wählte „philosopher, c'est apprendre à mourir". Aber auch der existenzkritische Pascal-Weg ist nicht so sehr eine Theorie, sondern eine Diagnostik: kritische Diagnostik einer Praktik des Verfehlens von Möglichkeiten durch illusionär-imaginären Ausgriff in Zukunft.
Π In der französischen Philosophie unseres Jahrhunderts ändert sich die Situation. Zwar bleiben die beiden Wege der Montaigne-Praktik bzw. der Pascal-Diagnostik als solche nutzbar, aber neu tritt nun hinzu, daß sie von theoretisch-philosophischen Entwürfen eingemeindet werden. Die Montaigne-Praktik wird zunächst von der Bergsonschen Zeitlehre — wonach Zeit real ist im Modus nicht vergehender Vergangenheit — eingemeindet. Später greift die Phänomenologie Merleau-Pontys zum zweiten Mal theoretisch in die Montaigne-Praktik ein: Für Merleau-Ponty ist die existierende Subjektivität Zeit, und zwar als Geschehen von Retentionen und Protentionen. Die Pascal-Diagnostik wird als Theorie von Sartre fortgesetzt, der die Zukunft als Zeitlichkeit des Bewußtseins gegen Husserls Auszeichnung des ,Jetzt" setzt: ,Je pense, donc d'étais"; das Sein ist Vergangenwerden und Bewußtsein Protention. Was geschieht nun bei Lyotard im Hinblick auf eine Theorie der Zeitlichkeit ? Er schreibt: „Das Unausdrückbare liegt nicht in einem Fernen, in einer anderen Welt, einer anderen Zeit, sondern darin, daß es (etwas) eintritt [...] Daß hier und jetzt dieses Bild da ist statt nichts, das ist das, was erhaben ist." 1 2
Der Anspruch dieser Bemerkung ist prima facie klar: Die metaphysische Frage „pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien ? " 1 3 wird aus dem vertikalen metaphysischen Anspruch auf extramundane Begründung ins Horizontale gedreht. Das Kontingente ist nicht vollendet. Es steht immer etwas aus, dessen Eintreffen aber unverfügbar ist. Die Zeitlichkeit bedeutet die Tatsache der Unver-
12 13
Jean-François Lyotard, Lïinhumain. Causeries sur le temps, Paris 1988, S. 105. Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, Nr. 7.
Unverfügbarkeit
des Zeitlichen, Zeitlichkeit des Unverfügbaren
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fügbarkeit gegenüber dem Eintreten dessen, was im Geschehen des Kontingenten aussteht. Das Unverfügbare ist zeitlich (d.h. nicht ein außerzeitliches weltbegründendes Sein), und das Zeitliche ist unverfügbar, d. h. nicht durch antizipierende Protentionen einholbar. Das Ereignis tritt ein. Um diese Konzeption philosophisch zu würdigen, reicht die soeben gelieferte Beschreibung nicht aus. Was bei Lyotard geschieht, ist vielmehr 1. sowohl eine Kombination der Montaigne-Praktik mit der Pascal-Diagnostik als auch 2. ein innerweltlich gewendeter Cartesianismus der creatio continua. Zu 1.: Mit der Drehung der vertikal-extramundanen metaphysischen Fundierung soll eine Kombination des Montaigne- mit dem Pascal-Weg erreicht werden. Das ist so verstehbar: Die Ereignisse — es handelt sich bei Lyotard um zeichenförmige Ereignisse von Sprachäußerungen bzw. hier um Gemälde — werden stets verknüpft. An die Stelle eines substantiellen ego der Verknüpfungen tritt das enchaînement, was der „passage" bei Montaigne entspricht. Lyotard eignet sich zugleich — ob nun explizit intendiert oder nicht — die kritische Pascal-Diagnostik an, wonach mit dem Vorgreifen in eine strukturell imaginäre Zukunft das Gegenwartsgeschehen verfehlt wird. Lyotard beherzigt die Pascal-Kritik: Das „Ob" des Eintreffens bleibt offen. Die Kombination des Montaigne- und Pascal-Weges soll es zugleich ermöglichen, einer zentralen Forderung aller französischen Gegenwartsphilosophen gerecht zu werden, nämlich der Forderung nach Überwindung des Repräsentationismus. Das Mundane soll davon befreit werden, ein unvollkommenes Abbild des Ewigen zu werden. Es geht um Ereignis und Präsentation statt um Re-präsentation. Wenn die Möglichkeit, daß etwas und nicht nichts eintritt, das Sublime heißen soll, dann ist das Extramundane nur noch als Spur im Mundanen zugelassen. Wie zuvor in der Schrift aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert „Peri hypsous" besteht keinerlei repräsentationistischer Verweisungszusammenhang mehr vom Mundanen auf Extramundanes. 14 Allerdings entsteht eine Hypothek: Die innerweltliche Signifikanten- oder Ereignisreihe wird, indem sie „sublim" genannt wird, quasi-metaphysisch aufgeladen. Damit ist der zweite Aspekt berührt, die innerweltlich gewendete creatiocontinua-Doktrin. Lyotards Zeitlehre kann als kombinierende Fortsetzung der Beschreibung oder Kritik von Praktiken des Umgangs mit Zeit verstanden wer-
14
Vgl. Bernhard H.F. Taureck, „Wo steht Lyotard?", in: Jean-François Lyotard, hrsg. von Walter Reese-Schäfer und Bernhard H.F. Taureck, Cuxhaven 1989, S. 201 f.
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Bernhard H. F. Taureck
den. Ebenso jedoch bildet sie eine Theorie dessen, wozu Descartes die creatiocontinua-Doktrin entworfen hatte. Die Diskontinuität der Zeit, so einst Descartes, der Abgrund der Leere, die sich an jeden Augenblick anzuschließen droht, wird erst durch göttliche Einwirkung zur Dauer. Lyotard trägt dieses metaphysische Konstrukt ab. Was bleibt übrig? Eine Zeit, in der Kontinuität objektiv den Modus einer Ankünftigkeit besitzt und subjektiv Unentschiedenheit über das Ankommen. Die Zeit ist nicht wieder so diskontinuierlich wie bei Descartes, aber auch nicht so kontinuierlich gedacht wie von Bergson, Husserl, Sartre oder Merleau-Ponty. Lyotard nähert sich auch hier einem anderen Denker. Einem Denker, der die Cartesische Diskontinuität der Zeit für eine Theorie der Intersubjektivität zu nutzen versucht: Emmanuel Lévinas, der schreibt: „Die Zukunft, das ist der Andere. Die Beziehung auf die Zukunft, das ist selber die Beziehung auf den Anderen. Von Zeit in einem Subjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu reden, das erscheint uns unmöglich." 15
Lyotard protestiert auch immer gegen eine kapitalistische Verfehlung authentischer Zeit. Gegen ein Zeitverständnis als Kalkulierbarkeit von Kosten und Gewinn. Bergson hatte als erster versucht, die Cartesische Zeitlehre der creatio continua zu entzaubern. Ihr rationeller Gehalt sei die physikalisch-mechanistische Zerlegung der Bewegung in räumlich gefaßte Teile.16 Sartre hatte diesem Befund die kapitalismuskritische Diagnose hinzugefügt.17 Was bleibt übrig bei, was bleibt übrig für Lyotard, der die Bergsonsche und Sartresche Descartes-Kritik positiv voraussetzt ? Mit Sicherheit die Erbschaft der Montaigne- und Pascal-Traditionen, und das heißt: die Beschreibungen von Praktiken im Umgang mit Zeit. Daß diese Praktik ästhetisch ist, d.h. am Beispiel etwa der antigeometrischen Malerei Barnett Newmans erfolgt, bildet kein Element für einen Einwand. Die Frage ist nur: Wo bleibt die Theorie dafür? Ist sie identisch mit der Konzeption der différends, wonach Ereignisse Satzvorkommnisse darstellen, für die es, sofern sie eintreten, stets eine sie bindende Diskursart gibt ? Steht die Theorie — im Unterschied zur Beschreibung von Zeitpraktiken — noch aus? Oder soll Lyotards Pointe im Hinblick auf die Unverfügbarkeit der Zeit darin liegen, daß jene theoriebestimmten Eingemeindungen an den Wechsel der Zeit bzw. der Pascal-Diagnostik zurückgenommen werden sollen? Handelt es sich auch hier um eine Entlarvung unglaubwürdig gewordener Meta-Diskurse (incrédulité à l'égard des métarécits)?
15
Emmanuel Lévinas, Le temps et l'autre [1948], Paris 2 1985, S. 64.
16
Henri Bergson, L'évolution créatrice. Œuvres, Paris 1959, S. 513.
17
Jean-Paul Sartre, „Questions de méthode", in: Critique de la raison dialectique, Bd. I, Paris 1985, S. 76, Anm.
Unverfügbarkeit
des Zeitlichen, Zeitlichkeit des Unverfügbaren
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in Offene Fragen, die vorerst bewirken, daß das Wort der Dichter authentischer bleibt als der philosophische Diskurs, auch wenn er dasselbe meint. Wir kehren also abschließend zu den Dichtern zurück. „Wie soll man leben ohne Unbekanntes vor sich ? [...] Geboren aus dem Ruf des Werdens und der Angst vor der Erinnerung, wird das Gedicht, sich aus seinem Schlamm- und Sternenschacht erhebend, fast schweigend bezeugen, daß es in sich nichts ist, was nicht auch wirklich anderswo existierte in dieser rebellischen und einsamen Welt der Widersprüche." 18
René Char sagt auch: „Mein Gedicht ist mein künftiger Atem." 1 9 Zwischen 1947 und 1949 notierte Samuel Beckett in einem Gedicht: „Was würde ich tun ohne diese Welt ohne Gesicht ohne Fragen wo Sein nur einen Augenblick dauert wo jeder Augenblick ins Leere fließt und ins Vergessen gewesen zu sein ohne diese Welt wo am Ende Körper und Schatten zusammen verschlungen werden."20
In Warten auf Godot bemerkt Estragon einmal zu Vladimir: „Unterdessen wollen wir uns ganz ruhig unterhalten, da wir ja unfähig sind zu schweigen." Vladimir antwortet in dieser kleinen Metakommunikation über das stille SichEreignenlassen des Sprechens: „Das stimmt, wir sind unerschöpflich." R. Char und S. Beckett zeugen also vom Gedicht als von einem Geschehen an der Grenze des Augenblicks, wo Gegenwart zum Schatten und der Schatten des Künftigen zur Gegenwart wird, bis daß beides, wie Beckett sagt, verschlungen wird, corps et ombre. Aber die dichterischen Sprachereignisse sind nicht nur an den Augenblicksgrenzen, sie erscheinen als die Augenblicksgrenzen selbst. Das aber, so würde aus Lyotard folgen, ist undarstellbar, impresentable. Eine Sehnsucht mag da aufkommen, ein desiderium. Wonach? „Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, Ins Leben ziehen die einzigste Gestalt?" 21
18 19 20
21
René Char, Œuvres completes, Paris 1983, S. 247. „Mon poème est mon sufflè futur" (ebd., S. 1246). Samuel Beckett: „que ferais-je sans ce monde sans visage sans questions/où être ne dure qu'un instant où chaque instant/verse dans le vide dans l'oubli d'avoir été/sans cette onde où à la fin/corps et ombre s'engloutissent" (Samuel Beckett, Gedichte, zweisprachig, dt. von E. Hesse und E. Tophoven, München 1976, S. 88 f.). Johann Wolfgang Goethe, Faust II, Verse 7438 f.
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D e r Anschluß an die Metaphysik ist verwehrt, denn, so Lyotards Pointe, Metaphysik hat sich in Kapitalismus transformiert und „la métaphysique du capital [ . . . ] est une technologie du temps". 2 2 Desiderium wonach? Nach einem Schauplatz, wo zwei Bahnen sich kreuzen: die zur Romantik gestutzte Metaphysik und die Bahn des sublim Innerweltlichen oder des innerweltlich Sublimen. Es ist klar, wer den großen Kreuzungspunkt, den großen Labyrinthort beider darstellt, es ist Nietzsche. Von dem aber soll hier geschwiegen werden. Nietzsche, so Paul Valéry, sei keine Nahrung, er sei ein Aufputschmittel. Es sei erwogen, daß beide Bahnen — romantisch gestutzte Metaphysik und innerweltlich Sublimes — vielleicht auch Farben eines einzigen Spektrums sein können. Da würde — in einer ersten Vermutung — Giacomo Leopardi eine und Michel Tournier eine andere Valeur einnehmen. Leopardi exponiert sich in seinen Pensieri Nr. 58 ganz als Exponent einer Pascal und Kant abgelauschten Rhetorik des Erhabenen als Gewißheit der Überlegenheit des menschlichen Geistes gegenüber der raumzeitlichen Unendlichkeit: „immaginarsi il numero dei mondi infinito, e l'universo infinito, e sentire che l'animo e il desiderio nostro sarebbe ancora più grande." In Leopardis Lyrik geschieht das Umgekehrte: Das gedehnte repräsentationistische Band zwischen Natur und mens humana wird zerschnitten; das intelligible Subjekt verschwindet — ähnlich wie in der Montaigne-Praktik — vor bzw. in der spatio-temporalen Unendlichkeit: „Così tra questa immensità s'annega il pensier m i o : / E il naufragar m'è dolce in questo mare." 2 3 1989 publizierte Michel Tournier sein Le médianoche amoureux. Contes et nouvelles. Darin begegnet uns ein neuer Künstler-Typus, Bildhauer und Tänzer in einem. Aus Sand und Wasser formt er Skulpturen am Ufer der französischen Atlantikküste. Während die steigende Flut seine Skulpturen wegleckt, umtanzt er diesen Vorgang. Tournier schreibt u.a.: „Er war besessen vom Problem der Zeit [Le problème du temps l'obsédait]. Der Tanz, die Kunst des Augenblicks, ephemer von Natur, hinterläßt keine Spur und erlaubt keinerlei Einwurzelung in irgendeiner Kontinuität. Die Skulptur, Kunst der Ewigkeit, trotzt der Zeit [...] Meine Skulpturen aus Sand leben [...] und der Beweis dafür ist, daß sie sterben. Das ist das Gegenteil der Friedhofsstatue, die ewig, weil ohne Leben ist." 24 Wenn die Flut ihre Destruktion der Skulpturen vollbringt, beginnt der Künstler seinen Tanz: „Ich zelebriere die pathetische Fragilität des Lebens", ruft der BildhauerTänzer. 2 5 22 23 24 25
Lyotard, a.a.O., S. 118. Schlußzeilen von Leopardis Gedicht „L'infinito". Michel Tournier, Le médianoche amoureux. Contes et nouvelles, Paris 1989, S. 27. ,Je célèbre la pathétique fragilité de la vie" (ebd., S. 28).
Unverfügbarkeit
des Zeitlichen, Zeitlichkeit des
Unverfügbaren
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Tournier inszeniert damit den Montaigne-Weg der individuellen Anpassung an den zeitlichen Wechsel als occurence esthétique, als happening of art, allerdings mit dem stark repräsentationistischen Effekt der Nachahmung eines kosmischen Geschehens. Was bei Leopardi geschah, die Preisgabe der intelligiblen Subjektivität in die Unendlichkeit der Naturzeit, gleichsam das sublime Fest der Dezentrierung, wird nun artistisch inszeniert, d.h. gerät zur repräsentationistischen Spiegelung der zerstörerischen Flut im Tanz. Tournier rechtfertigt den Künstler allgemein ohne Rückgriff auf Repräsentationismen: Die Gesellschaft sei „vom Tode bedroht durch die Kräfte der Ordnung und der Organisation, die auf ihr lasten. Jede Macht — politische, polizeiliche oder administrative — ist konservativ. Wenn sie durch nichts ins Gleichgewicht gebracht wird [...] dann gäbe es nichts Menschliches mehr". 26 Und dieses Menschliche bezeichnet Tournier ebenso transhumanistisch wie Lyotard: ein Unvorhersehbares, ein Schöpferisches. „Ii n'y aura plus d'humain, c'est-à-dire d'imprévu, de créatif parmi les hommes."27 Ohne das „Arrive-t'il?", das das Kunstwerkgeschehen in die Zeit bringt, näherten wir uns, so Michel Tournier, dem Ameisen- oder Termitenstaat. Schließen wir mit einer Stelle aus Woody Allen, einem Lob des Ameisenstaates und einem Zurückschrecken vor ihm aus ästhetischen Bedenken: „Er war der Meinung, nur in einem System ohne jede ökonomische Ungerechtigkeit könne es wahre Freiheit geben, und führte als Modellgesellschaft den Ameisenstaat an. Er konnte Ameisen stundenlang zusehen und grübelte immer wieder gedankenverloren: ,Sie leben wirklich harmonisch. Wenn bloß ihre Frauen hübscher wären, hätten sie es geschafft.'"28 *
Nachbemerkung Die voranstehenden Überlegungen versuchen im Grunde nichts anderes, als für eine gewisse Zeit jenes Dilemma der Zeitbegriffe vergessen zu lassen, das besagt: Für Beobachter außerhalb der Zeit wird Zeit zu Raum; für Teilnehmer innerhalb der Zeit wird Zeit restlos zu etwas, das keinerlei Objektivitätsansprüche mehr enthält (McTaggart, Ayer). Die skizzierten Linien der Zeitpraktiken und -theorien der französischen Entwicklung geraten, so gesehen, ambivalent: Sie erscheinen als vorkritisches Idyll — aber auch als Ressourcen zur Bewältigung jenes Dilemmas. Pereat dilemma temporis, fiat temporis ars!
26 27 28
Tournier, a.a.O., S. 160. Ebd., S. 160. Woody Allen, „So war Nadelmann", in: ders., Nebenwirkungen,
München 1981, S. 12.
Ich lüge immer Unterwegs zu einer Ästhetik der Paradoxien Manfred Geier „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten." Ludwig Wittgenstein
„Bevor ich zu sprechen beginne, möchte ich gern noch etwas sagen" . . . Meine Damen und Herren ! Mit dieser vorbereitenden Bemerkung, die sich selbst widerstreitet, weil ich ja schon gesprochen habe, als ich äußerte, ich wollte zuvor gern noch etwas sagen, bin ich bereits mitten im Thema. Nebenbei gesagt, war es nicht meine Aussage, mit der ich begonnen habe. Mit der sich selbst aufhebenden Vorbemerkung — „Bevor ich zu sprechen beginne, möchte ich gern noch etwas sagen" — habe ich den Eröffnungssatz eines Buches zitiert, mit dem uns der amerikanische Logikprofessor Raymond Smullyan in die abgründigen Regionen des Selbstbezugs verführt. Allerdings ist Smullyan nicht der Urheber dieses Satzes. Er zitiert ihn aus einem Kompendium selten gebrauchter Phrasen, das der Computerwissenschaftler Saul Gorn zusammengestellt hat, ohne jedoch seine Quellen anzugeben. 1 — „Bevor ich zu sprechen beginne, möchte ich gern noch etwas sagen" ist also nicht nur performativ paradox, weil sich Inhalt und Ereignis der Äußerung widerstreiten, vergleichbar jener paradoxen Absichtserklärung, mit der Lyotard 1981 einen Vortrag über Regeln und Paradoxa begann: „Ich möchte keinen Vortrag halten." 2 Die Aussage ist auch ein Beispiel jenes verwirrenden Spiels zwischen einem ich-sagenden Sprecher, der von seinen Absichten zu sprechen scheint, und einer sprachlichen Form, die sich im unüberschaubaren Feld zitathafter Verweise verliert, im unauflösbaren Uberschneiden eigenen und fremden Sprechens. Und noch ein drittes Problem läßt sich an dieser harmlosen Äußerung entfalten, die wie alle Antinomien die kuriose Fähigkeit besitzt, sich gelegentlich als ungleich weniger belanglos erweisen zu können, als sie aussieht. Wie steht es um
1 2
Raymond Smullyan, Simplicius und der Baum, Frankfurt a.M. 1989, S. 11. Jean-François Lyotard, „Regeln und Paradoxa", in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 97-107, hier S. 97.
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Manfred
Geier
das Spannungsverhältnis zwischen einer einzelnen, konkreten Äußerung, die sagt, was sie sagt, und dem allgemeinen Problem, auf das sie exemplarisch verweist ? Ein neuer Widerstreit also (er gehört philosophiegeschichtlich mit zu den ältesten): Diese einzelne Äußerung sagt mehr, als sie sagt. Als Paradigma weist sie über sich hinaus auf ein allgemeines Phänomen, das gegenwärtig in der Luft zu liegen scheint, sich jedoch nicht als Einheit fassen läßt, sondern nur in der Vielheit verschiedener Singularitäten vorscheint. Ich meine das weitverbreitete Interesse an paradoxen Rätseln, das sich eine neue philosophisch-literarische Form geschaffen hat, die Spielart der „philosophical fiction" nämlich, in der philosophische Reflexion logischer Probleme, geistreiche kleine Erzählungen verwirrender Geschichten und Dekonstruktion illusionärer Trugbilder phantasievoll zusammenspielen. Nicht allein Jean-François Lyotard ist ein Meister dieser Form. Ich denke auch an solche Bücher wie The Mind's I von Douglas Hofstadter und Daniel Dennett, Einsicht ins Ich mit dem Untertitel: „Fantasien und Reflexionen über Selbst und Seele". Ganz zu schweigen von Hofstadters Frühwerk Godei, Escher, Bach, jenem endlos geflochtenen Band selbstreflexiver Verknotungen und paradox-surrealer Phantasien. Niemand konnte voraussehen, daß dieses voluminöse Buch ein solcher Kassenerfolg werden würde. Jetzt gibt es schon ganze Taschenbuchreihen, Fischer-Logo z.B., für den „Spielraum im Kopf", auf den die Werbestrategen abzielen. Paradoxien, Antinomien, Aporien, Dilemmata: Was vor noch nicht allzu langer Zeit in schizophrene Erkrankungen zu führen schien (ich erinnere an die durch Bateson, Watzlawick und Laing herausgearbeiteten double-bind-Strukturen und Beziehungsfallen) oder, wie die sich selbst fressende Oreboro-Schlange, als ein Symbol des äußersten Bösen galt, dient einer ständig wachsenden Gemeinde, die auch das Spiel mit dem Computer beherrscht, zur aufreizenden und unterhaltsamen Provokation des logischen Denkens. Widersprüchliche Streitfragen, zweifelhafte Rätsel, abenteuerliche Fangfragen, selbstreferentielle Schleifen, logische Traumreisen, listige Kopfnüsse. Martin Gardner, Raymond Smullyan, Nicholas Falletta, Douglas Hofstadter, Patrick Hughes u.a. 3 bringen, wie es die Verlagsprogramme anpreisen, „unsere grauen Zellen spielerisch in Schwung". Klett-Cotta verlegt tausend Seiten Metamagicum, Hofstadters Versuch, auf paradoxe Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur paradoxe Antworten zu geben. Auch neuere Einführungen in das philosophische
3
Vgl. Douglas Hofstadter, Godei, Escher, Bach, Stuttgart 1985; Douglas Hofstadter und Daniel Dennett, Einsicht ins Ich, Stuttgart 1986; Douglas Hofstadter, Metamagicum, Stuttgart 1988; Martin Gardner, Fads and Fallacies, New York 1952; Martin Gardner,
Science: Good, Bad, and Bogus, Buffalo 1981; Raymond Smullyan, Alice im Frankfurt a.M. 1988; Nicholas Falletta, Paradoxon,
hes und George Brecht, Die Scheinwelt
Rätselland,
Frankfurt a.M. 1988; Patrick Hug-
des Paradoxons, Braunschweig 1978.
Ich lüge
immer
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Denken knüpfen nicht mehr bei dem an, was die großen Philosophen uns als Wissen anbieten, sondern bei den paradoxen Rätselfragen, die uns ins Reich des Unbekannten und Paralogischen verführen. An wissenschaftlicher und philosophischer Argumentation arbeiten heißt heute, ich zitiere Lyotard, „das Paradoxon suchen und es durch neue Spielregeln des Raisonnements zu legitimieren". 4 Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Begeisterung, mit der sich Vertreter eines autopoietischen Organisationsmodells auf antinomische Zirkel stürzen, um das Funktionieren sich selbst organisierender Systeme durch Spielregeln eines „circulus virtuosus" oder „circulus fructuosus" legitimieren zu können. 5 Wenn ich Lyotard recht verstehe, so sieht er all diese Phänomene als Symptome einer postmodernen Entwicklung, deren Erkenntnis- und Denkbewegungen nicht mehr dem nomothetischen Modell einer widerspruchslosen Ordnung oder „besten Performanz" folgen, sondern sich einer Paralogie des Widerstreits ausliefern, die nichts Bekanntes, sondern Unbekanntes und Unlösbares hervorbringt. Bereits 1978 hat Lyotard in einem Interview, in dem es auch um Zenons Paradoxie des nicht-fliegen-könnenden fliegenden Pfeils ging, festgestellt: „Man kommt nur voran, wenn man das, was man denkt, im Verhältnis zu dem, was man zu denken hat, so paradox wie möglich werden läßt." 6 Auch dialektisches Denken verliert in dieser Situation zunehmend seinen Reiz. Die Figur eines lösenden und aufhebenden Einerseits-Andererseits, Sowohl-als-auch, der von Hegel bis Adorno gefolgt wurde, von Schelling bis Habermas, von Schleiermacher bis Manfred Frank, ist nicht mehr recht befriedigend. Man vertraut diesen Lösungsversuchen, die auf ein versöhnliches Resultat zielen, nicht mehr und unterwirft sich statt dessen der Suprematie des Unlösbaren. Diese Unterwerfung erscheint dabei auch wie eine geschickte Strategie, die angesichts der real bestehenden Dilemmata nicht zur Verzweiflung führt, sondern sich ihnen mit Lust und List ausliefert, um sie, und sei es auch nur im „Spielraum des Kopfes", bewältigen zu können. Handelt es sich dabei um ernstzunehmende Strategien ? Oder geht es hier nur um geistreiche, humanwissenschaftlich wie politisch jedoch unverantwortliche, gar abwegig kalauerartige Spielereien, die den widerstreitenden Problemen ausweichen, denen wir uns heute konfrontiert sehen ? Ist das philosophisch-literarische Spiel mit den Paradoxien und logischen Dilemmata mehr als bloße Beschäf4 5
6
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz-Wien 1986, S. 158. Vgl. Francisco Varela, „Der kreative Zirkel", in: Die erfundene Wirklichkeit, hrsg. von Paul Watzlawick, München 1981, S. 16-38. Jean-François Lyotard, „Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken", in: ders., Philosophie und Malerei im Tjeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 25-49, hier S. 28.
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Manfred. Geier
tigungstherapie abstrakter Köpfe, die nur von abstrakten Problemen gefesselt werden und vor den Abgründen der Verzweiflung zurückschrecken? *
Meine Damen und Herren, ich kann und will auf diese Fragen heute keine Antworten zu geben versuchen. Und ich möchte auch nicht näher eingehen auf jene Denker, für die das Entdecken antinomischer Verstrickungen Anlaß zu tiefster Verzweiflung war. Statt dessen will ich zwei Traditionsströme rekapitulieren, die innerhalb unserer europäischen Geistesgeschichte charakteristisch sind für zwei alternative Lösungsstrategien angesichts sprachlogischer Antinomien, die sich gegenwärtig noch genauso unversöhnlich entgegenstehen wie im Moment ihrer ersten Konfrontation. Ich meine die eine Tradition, deren Weg vom eristischen Logiker Eubulides, dem wir auch die Erfindung der berühmten Lügner-Antinomie verdanken, bis hin zur Diskursethik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas reicht; und ich denke an die andere Tradition, die mit den Sophistischen Widerlegungen des Aristoteles beginnt und in Jean-François Lyotard einen späten Fürsprecher hat, auch wenn dieser hinsichtlich der Debatte zwischen Aristoteles und den Sophisten um die Relevanz von Paradoxien sich öffentlich als Sophist zu verstehen gab. 7 Beide Wege will ich als unbegehbar zu bedenken geben. Auf der Suche nach einer Lösung des antinomisch Unlösbaren taucht am Horizont die Möglichkeit eines ästhetischen Denkens auf, für das Wittgensteins Diktum das Motto lieferte: „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten." Das Scheitern logischer Lösungsversuche öffnet den Raum des Ästhetischen. In seiner Perspektive erscheinen die beiden Wege, auf die ich Sie heute führe, als Etappen einer Vorgeschichte, die vor jener „Zeit der Ästhetik" liegt, in die einzutreten uns Lyotard in diesen Tagen eines gemeinsamen Gesprächs eingeladen hat. Der erste Weg: Eubulides und seine modernen Nachfolger. Eubulides aus Milet, ein Grieche des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, wird allgemein den Eristikern zugerechnet, den „Streithähnen", die im Namen von Eris, der Göttin „Streit" und „Zwietracht", der Zwillingsschwester des Kriegsgottes Ares, ihre paradoxen Probleme in die philosophische Diskussion einwerfen, um ihre Gegner zu verwirren und in einen unlösbaren Widerstreit zu verführen, der nicht entscheidbar ist. Die berühmteste, auch geistesgeschichtlich wirksamste Paradoxie, die Eubulides ins Sprachspiel der Philosophen 8 eingeführt hat, ist die semantische Wahrheitsantinomie, später bekannt geworden als Antinomie des lügen-
7 8
Vgl. Lyotard, „Regeln und Paradoxa", a.a.O., S. 101. Vgl. Manfred Geier, Das Sprachspiel der Philosophen. Von Parmenides his Wittgenstein, Reinbek bei Hamburg 1989, Kapitel II, S. 63-109; Manfred Geier, „Wenn es wahr ist, ist es nicht wahr", in: Spuren 30/31, 1989, S. 22-25.
Ich lüge immer
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den Kreters, der all seine Aussagen als Lügen qualifiziert: „Ich lüge immer", „ich lüge hiermit", „dieser Satz ist nicht wahr". Sage ich damit die Wahrheit oder ist das selbst eine Lüge ? Die Antwort ist katastrophal. Das logische Denken führt uns dabei nämlich weder zu einem auflösbaren Widerspruch noch zu einer korrigierbaren Falschheitsbehauptung. Es zwingt uns zur unausweichlichen Anerkennung einer Antinomie, in deren Falle wir uns gefangen sehen. Die klassische Logik zwingt uns nämlich, hier eine Aussage zugleich mit ihrer Negation als wahr beweisen zu können. A und nicht-A. Wenn nämlich das Urteil des Kreters, daß alle Kreter immer lügen, wahr wäre, so würde auch er lügen, also etwas Falsches sagen; wenn jedoch sein Urteil gelogen wäre, so würden die Kreter, er selbst Inbegriffen, die Wahrheit sagen. Also: Wenn es wahr ist, dann ist es nicht wahr; wenn es nicht wahr ist, dann ist es wahr. Die beiden dominierenden Wahrheitswerte „wahr" und „falsch" sehen sich plötzlich einer ununterbrochenen Umkehrung ausgeliefert, einer reversiblen Extermination, die ihren Wert infrage stellt. Im Innern des harmlosen Satzes „ich lüge hiermit" verbirgt sich ein beweisbarer Widerspruch, eine eristische Kontradiktion, die logisch oder dialektisch nicht zu beheben ist. Es gibt hier keinen berechenbaren oder feststellbaren Sinn mehr, wenn „Sinn" die Möglichkeit von Aussagen meint, wahr oder falsch sein zu können. Diese semantische Wahrheitsantinomie mag auf den ersten Blick wie eine bloße Spitzfindigkeit erscheinen. Die Gegner des Eubulides haben sie schon bald als unnütze „Gedankenakrobatik" abgewertet, als einen listig verschlungenen Schluß, der nur in gedankenlose Verlegenheit versetzen will und zum sinnlosen Hader führt. Diese Abwehr des eristischen Sprach- und Denkspiels übersieht jedoch die eigentliche Intention des Eubulides. Denn der Streit, den dieser anzettelt, will mehr als bloß verwirren. Der beweisbare Widerspruch wird nicht erfunden, um ihn zu affirmieren. Im Gegenteil. Eubulides führt ihn als Figur einer reductio ad absurdum ins Feld, als eine unhaltbare Aussage, die gerade aufgrund ihrer unlösbaren kontradiktorischen Form die Aufmerksamkeit auf eine zugrundeliegende ethische und logische Fundamentalstruktur lenkt, die frei von Lüge und Unwahrheit ist, die durch die Möglichkeit falscher Aussagen nicht verunreinigt ist und sich dem dialektischen Widerspiel von wahr und falsch entzieht. Die Wahrheitsantinomie dient dazu, durch eine reductio ad absurdum die Untugend des Lügens zurückzuweisen und die Realität des Falschen zu irrealisieren. Eubulides gehört nicht zufällig zur Schule des Eukleides von Megara, über den uns Diogenes Laertius so informiert hat : „Er lehrte, das Gute sei Eins, mit vielen Namen benannt : bald nannte er es Einsicht, bald Gott, anderswo wiederum Vernunft und so weiter. Das dem Guten Entgegengesetzte aber ließ er nicht gelten." 9
9
Diogenes Laertius, Leben und Meinungen S. 126.
berühmter Philosophen, Hamburg
2
1967,
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Manfred. Geier
Auch das Aufzeigen von unhaltbaren Widersprüchen diente diesem zentralen Zweck. Die Mannigfaltigkeit dessen, was dem Einen Guten entgegensteht, wurde geleugnet, indem seine Annahme als antinomisch vorgeführt wurde. Besonders an der Lüge ließ es sich zeigen. Um sie als unvernünftige Irrealität zu entlarven, um ihren Geltungsanspruch zurückzuweisen und nichtig werden zu lassen, wird antinomisch argumentiert: Wer die Irrealität der Lüge behauptet, muß sich selbst dem Vorwurf des Lügens aussetzen, um ihn im gleichen Atemzug zurückzuweisen. Genau das tat Eubulides durch seine Erfindung des „lügenden Arguments". Er benutzt die Selbstbezüglichkeit des „ich lüge hiermit" als ein negatives Mittel, um die Eine Wahrheit als das Eine Gute um so heller erstrahlen zu lassen. Der „Lügner" widerlegte sich selbst, weil er zu einem Widerspruch führt, der schon aus rein logischen Gründen unerträglich und unhaltbar ist. Übrigens verfolgte auch Zenon mit seinen Antinomien der Zeit eine ähnliche Absicht. Sie werden entwickelt, um das Phänomen ständiger Veränderung als vordergründigen Schein zurückzuweisen und damit die Konzentration auf das Eine ungewordene, unveränderliche und unvergängliche Sein zu lenken, das im Zentrum der Lehre seines Lehrers Parmenides stand. Auch die Megariker, zu denen Eubulides gehört, räsonierten in dieser Tradition des Weisen aus Elea, den immer nur eins interessiert hat, das Sein als ein Selbiges, demgegenüber die Erfahrung von Alternativen, Differenzen und Entgegensetzungen als unklar und trügerisch disqualifiziert wurde. Uberspringen wir Jahrtausende und sehen uns jetzt die Lösungsstrategien der modernen Megariker an. Ich meine Denker wie Apel und Habermas, die auf der Suche nach fundamentalen Geltungsansprüchen vernünftiger Kommunikation die Antinomie des lügenden Kreters mit der gleichen Intention wie Eubulides behandeln. Sie wird vorgeführt, um ihre widerstreitende Struktur als Verletzung grundlegender, auf einverständigen Konsens zielender Diskursregeln zu disqualifizieren und nichtig werden zu lassen. Die Antinomie des „ich lüge hiermit" löst sich auf in der untragbaren Unvernunft eines Lügners, der von vornherein jeden denkbaren Konsens boykottiert. „Worauf beruht also die Unmöglichkeit zu sagen: ,Ich lüge hiermit'?" fragt Apel und antwortet: „Die Lüge kann nicht sprachlich explizit vollzogen werden; und dieser Umstand deutet offenbar darauf hin, daß sie gegen eine normative Bedingung der Möglichkeit gültiger Kommunikationsakte überhaupt verstößt." 10 In ihrer paradoxen Form, die sich diesbezüglich in Frage stellt, verletzt sie jene Aufrichtigkeits- und Wahrhaftigkeitsbedingungen, die für alle gelingenden Sprechakte idealtypisch vorausgesetzt oder
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Karl-Otto Apel, „Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen", in: Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 1976, S. 10-173, hier S. 113.
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unterstellt werden müssen. Insofern muß sie als Pervertierungsform aller nur denkbaren Sprechakte betrachtet und verurteilt werden. Der kretische Lügner hat es uns ex negativo vorgeführt. Apel kommentiert ihn so: „Der Satz ,ich lüge jetzt' führt — transzendentalpragmatisch interpretiert — nicht deshalb in eine Paradoxie, weil Sätze keine selbstbezügliche Bedeutung haben dürften, sondern deshalb, weil er den Versuch darstellt, die Verneinung der Aufrichtigkeitsbedingung als einer normativen Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation noch im Medium der Kommunikation zu vollziehen." 11 Dieser Versuch muß, Apel zufolge, scheitern. Man kann nicht in intersubjektiv gültiger Form die grundlegenden Normen der Kommunikation verneinen, ohne dabei verrückt zu werden und sich aus dem allgemeinen Kommunikationszusammenhang zu entfernen. So besteht also die Pointe des Lügners als eines „performativen Widerspruchs" gerade darin, daß er, transzendentalpragmatisch oder diskursethisch interpretiert, eine solche verrückte Lebensform reduktiv ad absurdum führt und uns auf die geltenden Fundamentalnormen verständigungsorientierter Rede orientiert. Er führt uns die „transzendentale Nötigung" 12 vor Augen, der wir als Sprecher unterliegen sollen, sobald wir miteinander vernünftig argumentieren wollen. Er zeigt uns das präsupponierte Ideal, dem wir immer schon und unausweichlich nachfolgen müssen, jene Fundamentalnorm, die von den Megarikern als das Gute gemeint war, benannt als Einsicht, Gott, Vernunft. Der zweite Weg der Gegenspieler: Aristoteles und seine Nachfolger, zu denen ich auch Lyotard zähle, zumindest hinsichtlich seiner Diskussion der logischen Struktur antinomischer Dilemmata, die er in Der Widerstreit geführt hat. „Eubulides lag auch mit Aristoteles in Streit und hatte vieles an ihm auszusetzen", heißt es bei Diogenes Laertius. Wo liegt der Grund dieses Streits ? Darauf kann ein Blick in die Sophistischen Widerlegungen antworten, in denen sich Aristoteles auch mit dem antinomischen Argument des lügenden Kreters auseinandersetzt und eine erste folgenreiche Lösung vorschlägt, deren Spur wir auch in Lyotards Widerstreit noch lesen können. Aristoteles zählt es zu jener Art von sophistischen Fangstricken, die ihre Ursache im ungeklärten Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem haben, von „schlechthin und in gewisser Weise". Ich zitiere: „Darauf daß etwas schlechthin oder nur beziehungsweise und nicht eigentlich gemeint ist, fußen die Fehlschlüsse, wenn das vom Teil gemeinte als schlechthin gemeint gefaßt wird. Z. B. wenn der Inder, der ganz schwarz ist, an den Zähnen
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Ebd., S. 162. Jürgen Habermas, „Was heißt Universalpragmatik?", in: Sprachpragmatik und Philosophie, a.a.O., S. 174-272, hier S. 175; vgl. Jürgen Habermas, „Diskursethik — Notizen zu einem Begründungsprogramm", in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S. 5 3 - 1 2 5 , hier S. 99 ff.
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weiß ist, soll er folgerichtig weiß und nicht weiß sein." 1 3 Mit diesem Hinweis, der die logische Kontradiktion in eine konträre Opposition überführt, um sie dadurch aufzulösen, gilt auch der Lügner als erledigt. Bejahung und Verneinung, Wahrheit und Falschheit werden ihm nicht schlechthin zugeschrieben, sondern nur in gewisser Hinsicht. Die Lösung: Ein Volk wie die Kreter kann zwar allgemein als verlogen bezeichnet werden; aber das widerspricht nicht der Möglichkeit eines einzelnen Kreters, auch einmal die Wahrheit sagen zu können. (Auf diese Möglichkeit vertraut auch der Heilige Paulus, wenn er in seinem Pastoralbrief an Titus vor der Verlogenheit und unchristlichen Moral der Kreter warnt und dafür den kretischen Propheten Epimenides als wahrhaften und aufrichtigen Zeugen zitiert: „Alle Kreter lügen.") 1 4 Allgemeines und Einzelnes werden auseinandergezogen, um das selbstbezügliche „ich lüge" als Fehlschluß zu entlarven. Aristoteles schreibt: „Es ist derselbe Schluß, wenn einer zugleich Wahres und Falsches sagen soll. Weil man aber nicht leicht sehen kann, was von beiden schlechthin gelten soll, ob daß man Wahres, oder ob daß man Falsches aussagt, so erscheint der Fall schwierig. Aber es steht nichts im Wege, daß ein und derselbe Mensch schlechthin lügenhaft, aber beziehentlich bei einer Aussage wahrhaftig ist." 1 5 Diese Lösung ist einigermaßen erstaunlich. Sie hat etwas von der Gewalttätigkeit des großen aristotelischen Schülers an sich, der den berühmten gordischen Knoten nicht löst, sondern zerschlägt. Allerdings hat Aristoteles dabei weniger durchschlagenden Erfolg. Eubulides hatte mehrere gute und stichhaltige Gründe, mit Aristoteles in Streit zu liegen und vieles an ihm auszusetzen. Ich verweise nur auf die offensichtliche Unfähigkeit des Aristoteles, im Rahmen seiner Logik das antinomische Widerspiel des lügenden Arguments überhaupt verstehen zu können. Indem er einfach feststellt, daß die einzelne Aussage „ich lüge" wahr sein kann im schlechthin Falschen, entzieht er sich von vornherein der eristischen Frage, die von den beiden alternativen Annahmen möglicher Wahrheit oder Falschheit der Aussage ausgeht und dann auf die Konsequenzen intendiert, die sich daraus für den Wahrheitswert des „Lügners" ergeben. Mit seiner Trennung von Allgemeinem und Einzelnem geht Aristoteles dem Problem aus dem Weg, das er zu lösen versucht. Denn die Frage des Eubulides impliziert doch gerade, daß der Satz „ich lüge" nicht aus dem allgemeinen Bereich des möglicherweise Falschen heraus zu isolieren ist. Das macht seinen Reiz aus und ist für die Provokation verantwortlich, die er als logisches Rätsel ausübt.
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Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, Leipzig 1918, S. 8. Vgl. Die Epistel S. Pauli: An Titum I, 12. Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, a.a.O., S. 55.
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Überspringen wir auch jetzt wieder mehr als zweitausend Jahre und sehen uns die Lösung an, die Lyotard als Behandlung antinomischer Denk- und Sprachfallen vorschlägt. Sie ist ganz und gar aristotelisch, auch wenn sich die Intentionen noch so sehr unterscheiden. Allerdings greift Lyotard dabei nicht auf ein räumliches Phänomen wie den schwarzen Inder mit den weißen Zähnen zurück. E r führt statt dessen einen Zeitfaktor ein. 1 6 Die Totalität, auf die sich die einzelne Aussage des lügenden Kreters — „alle Kreter lügen" — bezieht, wird als serielle Abfolge innerhalb eines sprachlichen Universums begriffen, das durch Zeitlichkeit charakterisiert ist, durch früher, jetzt und später. Das „ich lüge" erhält einen Zeitindex, der es verhindert, daß die Aussage sich auf den gleichen Zeitpunkt bezieht, in dem sie geschieht. Die selbstimplikative Kontradiktion wird so in ein konträr Entgegengesetztes innerhalb eines seriellen Diskursuniversums transformiert und verliert damit ihre antinomische Struktur. „Ich lüge": das meint, um akzeptabel zu sein, soviel wie: ich habe früher gelogen / ich werde später lügen. D e r paradoxe Satz wird nicht als logische Mißbildung eliminiert, sondern als sinnvolle Aussage in der zeitlichen Abfolge aufeinanderfolgender Äußerungsakte entparadoxiert, orientiert an der aristotelischen Argumentation, die ebenfalls mit dem Zeitindikator „zugleich" spielt: „Da nun aber unmöglich der Widerspruch zugleich von demselben Gegenstande mit Wahrheit ausgesagt werden kann, so kann offenbar auch das Konträre (tanantia) nicht demselben Gegenstande zugleich zukommen." {Metaphysik, Viertes Buch 6; 4.) 1 7 (In der mittelalterlichen Logica Magna des Paulus Venetus wird diese Regel als zeitliche transcasus-Lösung rezitiert: „Diese Meinung besagt, daß, wenn Sokrates sagt ,Sokrates· sagt Falsches', das Wort sagt, obwohl es im Präsens steht, doch für die Zeit des Augenblicks aufgefaßt werden soll, welcher der Zeit des Aussprechens unmittelbar vorausgeht." 1 8 Die Äußerung „Sokrates sagt Falsches" heißt dann soviel wie: „Sokrates hat früher Falsches gesagt", und hat, so verstanden, ihre antinomische Verwirrung verloren.) Auch Lyotard entparadoxiert das „ich lüge", indem er Äußerung und Ausgesagtes auf zwei verschiedene Zeitpunkte früher/später im Kontinuum sprachlicher Bewegung verteilt. Die mittelalterliche transcasus-Lösung wird integriert in ein Sprachkonzept, das auf die zeitliche Abfolge einzelner Sprachspielzüge intendiert, die aufeinander folgen, sei es auf geregelte oder, was Lyotard postmodern favorisiert, auf unvorhersehbare, unberechenbare und heterogene Art und Weise, geleitet einzig von dem
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Vgl. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, bes. S. 2Iff. und 128ff. Vgl., gegen Lyotard argumentierend, Manfred Frank, Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt a.M. 1988, S. 84 ff. Paulus Venetus, Logica Magna, zitiert nach J. M. Bochenski, Formale Logik, FreiburgMünchen 41978, S. 280.
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Wunder, daß nicht alles gesagt ist, daß ein neuer Satz geschieht und nicht vielmehr nichts. 19 Grob gesagt lassen sich also die beiden alternativen Wege, die ich heute überpointiert rekapituliert habe, etwa so charakterisieren: Der eine Weg, von Eubulides eröffnet und von modernen Diskursethikern beschritten, führt die Wahrheitsantinomie nur als ein abschreckendes Beispiel vor, dessen erhellende Bedeutung im Verweis auf eine Geltungsbasis sinnvoller Kommunikation liegt, die selbst frei von Antinomien sein soll. Das lügende Argument ist ir-rational, irreal, un-schicklich und a-logisch, weil es gegen die Vernunftideen opponiert, die nomothetisch vollkommen in Ordnung sein müssen, wenn verständigungsorientiertes Handeln gelingen soll. Und der andere Weg, von Aristoteles zuerst beschritten und von Lyotard weiterverfolgt, führt in ein Diskursuniversum aufeinanderfolgender Äußerungen, die keinem totalitären und fundamentalen Geltungsanspruch unterliegen, keiner universal schlichtenden Autorität unterworfen sind, sondern immer wieder geschehen in der Abfolge einer zeitlichen Reihung und sprachlichen Verkettung, die auch konträren Äußerungen ihren Spielraum lassen. Durch Zeit löst sich logische Kontradiktion in konträre Opposition auf. Bemerkenswert scheint mir in beiden Fällen, die sich gegenwärtig genauso widerstreiten wie zu Beginn dieser Debatte, daß sie sich beide, trotz aller Unversöhnlichkeit, gleichermaßen provoziert fühlen durch antinomische Fallen und Fangstricke, denen sie sich nicht ausliefern wollen. Uberspitzt gesagt: Beide halten der antinomischen Herausforderung nicht stand. Sie versuchen sie zu bewältigen, sei es durch den vertrauensvollen Rückgriff auf eine ideale Struktur konsensorientierter Kommunikation vernünftiger Subjekte, sei es durch die Anerkennung einer Verkettung vereinzelter sprachlicher Äußerungen, die sich ereignen als jeweils augenblickliche Momente einer seriellen, zeitlichen Reihe. *
Meine Damen und Herren! Mir bleibt hier nicht die Zeit, um mich kritisch-argumentativ mit beiden Wegen auseinanderzusetzen. Erlauben Sie mir, nach so vielen vergröbernden Formulierungen, nun auch diese: Ich halte sie beide für unbegehbar oder, vorsichtiger formuliert: Ich glaube, daß man auf beiden Wegen nur stolpern und fallen kann. Das Problem der Antinomien und Paradoxien ist analytisch unlösbar. Statt für diesen Verdacht Argumente ins Spiel zu bringen, möchte ich abschließend nur einige wenige erhellende Hinweise zitie-
19
Vgl. Jean-François Lyotard, ,,,Nach' Wittgenstein", in: ders., Grabmal des len, Graz-Wien 1985, S. 68-74, hier S. 73.
Intellektuel-
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ren, die Ludwig Wittgenstein angesichts antinomischer Dilemmata gegeben hat. E r hat sie weder zu entschärfen oder zu verbieten versucht durch den idealistischen Rekurs auf eine letzte Geltungsbasis vernünftiger Kommunikation; noch hat er sie aufzulösen versucht in das zeitlich organisierte Spiel heterogener oder bloß konträrer Äußerungen. Er hat keine Lösung vorgeschlagen, sondern viele Winke gegeben. Mit ihnen wollte er uns darauf aufmerksam machen, worin der beunruhigende und tiefe „Witz" antinomischer Rätsel bestehen kann, die uns solange provozieren werden, solange wir unsere Sprache als das wichtig nehmen, was sie ist: „Die Sprache ist ein Labyrinth von Wegen. Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer anderen zur selben Stelle und kennst dich nicht mehr aus." 2 0 Für den philosophischen Wanderer, dessen Gedanken vom Gehen auf labyrinthischen Wegen abhängen und auf „langen und verwickelten Fahrten" 2 1 entstehen, stehen die Antinomien da wie irrlichternde Wegweiser, welche die sprachlichen Orte anzeigen, an denen wir uns nicht mehr auskennen. Die Richtung, in die sie weisen, kann weder der Weg einer universal- oder transzendentalpragmatischen Fundamentalisierung sein noch der Fortschritt einer transcasuellen Verzeitlichung. Sie eröffnet statt dessen eine Reihe „halbwegser" 2 2 Bilder, gleichsam unvollständige Landschaftsskizzen, welche den Lauf des philosophischen Gedankens als Arbeit des Künstlers lesen lassen. Denn Wittgensteins Hinweise lassen sich verstehen wie ästhetisch-zeigende Aktionen, obwohl meist formuliert mit den Mitteln des logisch-sagenden Raisonnements. 2 3 Auch die Verhexungen des Verstandes, mit denen sich Wittgenstein ein Leben lang herumplagt, sind nicht ohne künstlerischen Reiz. Zum Ende also einige Skizzierungen Wittgensteins, für die uns nicht zuletzt Lyotards Postmodernismus, angeregt auch durch die philosophischen Untersuchungen des philosophisch Ruhelosen, den Sinn geschärft hat. In ihrer ästhetischen Form, die nicht vor dem sprachlichen Gesetz verharrt, um es mit kindlicher Unschuld herauszufordern, 24 sondern die Sprache und ihre Logik durchquert und von verschiedenen Richtungen her berührt, sind diese kleinen Skizzen provokativer (und befreiender) als alle analytischen Anstrengungen, die in der langen Geschichte des philosophischen Sprachspiels die antinomischen Rätsel vergeblich aufzulösen bestrebt waren und sich dabei nur in Sackgassen verloren.
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Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen 203", in: Schriften, Frankfurt a.M. 1960, S. 382. Wittgenstein, „Vorwort Philosophische Untersuchungen", ebd., S. 285. Ebd. Vgl. Chris Bezzel, Wittgenstein zur Einführung, Hamburg 1988. Vgl. Jean-François Lyotard, „Die Vorschrift", in diesem Band S. 27-43.
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„Nach" Wittgenstein bleibt die Aufgabe, die philosophische Untersuchung der antinomischen Widersprüche von jenen Hindernissen zu befreien, die paradoxerweise als ihre Lösungsversuche auftraten, und die Philosophie ästhetisch werden zu lassen. — Man könnte sich fragen: Welche Rolle kann ein Satz wie „ich lüge immer" im menschlichen Leben spielen ? und da kann man sich Verschiedenes vorstellen. 25 — Schadet der Widerspruch, der entsteht, wenn Einer sagt: „Ich lüge. — Also lüge ich nicht. — Also lüge ich. — etc."? Ich meine: ist unsere Sprache dadurch weniger brauchbar, daß man in diesem Fall aus einem Satz nach den gewöhnlichen Regeln sein Gegenteil und daraus wieder ihn folgern kann ? — der Satz selbst ist unbrauchbar, und ebenso dieses Schlüsseziehen; aber warum soll man es nicht tun? 26 — Interesse erhält so ein Widerspruch nur dadurch, daß er Menschen gequält hat und dadurch zeigt, wie aus der Sprache quälende Probleme wachsen können; und was für Dinge uns quälen können.27 — Einer kommt zu Leuten und sagt: „Ich lüge immer." Sie antworten: „Nun, dann können wir dir trauen!" — Aber könnte er meinen, was er sagte? Gibt es nicht ein Gefühl: man sei unfähig, etwas wirklich Wahres zu sagen; sei es was immer. „Ich lüge immer!" — Nun, und wie war's mit diesem Satz? — „Der war auch gelogen !" — Aber dann lügst du also nicht immer ! — „Doch, alles ist gelogen!" Wir würden vielleicht von diesem Menschen sagen, er meint mit „wahr" und mit „lügen" nicht dasselbe, was wir meinen. Er meine vielleicht so etwas wie: was er sage, flimmere; oder nichts komme wirklich von Herzen. Man könnte auch sagen: sein „ich lüge immer" war eigentlich keine Behauptung. Eher war es ein Ausruf.28 — Ich möchte nicht so sehr fragen „Was müssen wir tun, um einen Widerspruch zu vermeiden?", als „Was sollen wir tun, wenn wir zu einem Widerspruch gelangt sind?" 29
25
Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen the Foundations of Mathematics, Oxford 1967, V-30.
26
Ebd., I, Anhang 1-12. Ebd., I, Anhang 1-13. Ebd., III-58. Ludwig Wittgenstein, „Zettel 688", in: ders., Schriften
27 28 29
der Mathematik/Remarks
on
5, Frankfurt a.M. 1970, S. 424.
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— Ein Widerspruch verhindert mich, im Sprachspiel zur Tat zu kommen. Nehmen wir aber an, das Sprachspiel bestünde eben darin, mich fortwährend von einem Entschluß in den entgegengesetzten zu werfen! Ein Widerspruch ist nicht als Katastrophe aufzufassen, sondern als eine Mauer, die uns anzeigt, daß wir hier nicht weiter können. 30 — Der Widerspruch. Warum grad dies eine Gespenst? Das ist doch sehr verdächtig. Der Widerspruch könnte als Wink der Götter aufgefaßt werden, daß ich handeln soll und nicht überlegen. 31 Lassen wir es zum Schluß bei diesem göttlichen Wink, dem wir hier und jetzt nur schwerlich folgen können. Nutzen wir statt dessen die verbleibende Zeit, um zur antinomischen Verwirrung gemeinsam noch etwas beitragen zu können, auch wenn wir dabei keinen Konsens erreichen werden. Und scheuen wir uns auch nicht vor dem Unsinn, auf den uns die Paradoxien zu lauschen zwingen! Die „Zeit der Ästhetik" liefert uns dafür Gründe und Anregungen genug.
30
31
Wittgenstein, „Zettel 687", ebd.
Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, III-56.
Das Spiel der Vernunft und der Ernst der Kritik Eine Erkundung Lyotards Josef Früchtl
A m Anfang, so belehrt schon Piaton die Philosophen, steht das Erstaunen. In den Schriften Jean-François Lyotards stößt der Leser, zumal wenn er philosophisch in Frankfurt zur Schule gegangen ist, oft auf erstaunliche, merkwürdige und verwunderliche Sätze. Zu den erstaunlichsten gehören die folgenden: „Die Sache ist gut, aber die Argumente sind es nicht. D e r Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muß also zu einer Idee und einer Praxis der Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist" {PW, S. 190). 1 „Die Sache" ist die von Jürgen Habermas, der Luhmannschen Theorie des stabilen Systems mit der Diskurstheorie ein Hindernis entgegenzusetzen. In der Terminologie Lyotards ist es die gute Sache der „Gerechtigkeit". Sie verfügt aber, so die Einschränkung, über schlechte Argumente, wenn sie sich auf den Wert und die Idee des Konsenses beruft. Bemerkenswert, ja verwunderlich ist an jenen Sätzen nicht nur die Ubereinstimmung im Ziel, die dem bundesrepublikanischen Verfechter der Ideale der Französischen Revolution entgegenwinkt, nachdem ein paar Jahre des geistigen Stellungskrieges mit den französischen Renegaten ins Land gegangen sind, sondern es ist auch die argumentative Tonlage, die aufhorchen läßt. Die gerechte Sache wird offensichtlich dem Wert von (möglichst guten) Argumenten überantwortet. Zu den zeitgenössischen und situativen, von Frankfurter Besonderheiten gekennzeichneten Bedingungen, unter denen sich die Rezeption Lyotards zunächst einmal als erstaunlich ausnimmt, gehört auch jene, daß sich innerhalb des Projektes einer kritischen Theorie die Diskussion mittlerweile verschoben hat in eine Richtung mit dem Wegweiser: ,Von Habermas weiter zu Adorno'. Adornos Philosophie bewahrt nämlich selbst dann noch einen vertretbaren Sinn, wenn sie kommuni-
1
Lyotards Schriften werden nach folgenden Abkürzungen zitiert: PW — Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz-Wien 1986; G — „Grundlagenkrise", in: neue hefte für philosophie, 1986, Heft 26, S. 1-33; W - Der Widerstreit, 2. korrig. Aufl., München 1989; E — Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988; St — Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989.
Josef Früchtl
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kationstheoretisch mit überzeugenden Einwänden kritisiert wird. 2 Die MetaKritik greift alte Intentionen auf und verhält sich gegenüber allem neugierig, was den sprachphilosophischen Paradigmenwechsel mitvollzieht und ihm gegenüber zugleich reserviert bleibt. Die Philosophie Lyotards kommt dieser Neugierde entgegen. An der Gerechtigkeit als einem aktuellen und unverdächtigen Wert festzuhalten und zugleich von der Legitimierung durch den Konsens loszubinden, scheint zumindest insofern einen wunden Punkt bei Habermas zu berühren, als Zweifel daran angemeldet werden, ob es ihm gelingt, Maßstäbe der Kritik ohne Fundamentalismus zu formulieren, kritische Unbedingtheit ohne Letztbegründung zu erreichen. 3 Diese Zweifel werden von Lyotard noch verschärft. Kritik auf den Bedingungen des Konsenses, den eingebauten kritisierbaren Geltungsansprüchen, zu gründen ist „weder möglich noch ratsam" {PW, S. 188), und das nicht deshalb, weil es ein Zuwenig, sondern schon ein Zuviel an Fundamentalismus einschließt. Anstatt mich ohne Umschweife nun Lyotards Alternative zuzuwenden (bei der der Frankfurter Philosoph sich wunderte, wenn sie ihm nicht als Relativismus entgegenträte), möchte ich aber zunächst auf einen anderen Punkt der Habermasschen Theorie eingehen, auf einen Punkt, für den sich auch Lyotard zuständig erklärt und der ohne weitere Umschweife auf das Fundamentalproblem, das Problem des Fundaments der Kritik, zurückführt. Ich meine den Topos — denn dazu ist er inzwischen geworden — vom Spiel der Vernunft. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist Gesellschafts- und Rationalitätstheorie in einem. Sie behauptet, daß „die Kritik des unvollständigen Charakters der als Verdinglichung auftretenden Rationalisierung ein Ergänzungsverhältnis von kognitiv-instrumenteller Rationalität einerseits, moralisch-praktischer und ästhetisch-expressiver Rationalität andererseits als den Maßstab zu Bewußtsein bringt, der dem ... kommunikativen Handeln selbst innewohnt". 4 Die Kritik an kapitalistischen Gesellschaften, in denen, dem gesamten Weber-Marxis-
2
3
Vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 2 1989 (mit einem Nachwort), S. 388; vgl. auch Josef Früchtl, „Die positive Entzauberung der Frankfurter Schule", in: Philosophische Rundschau, 35. Jg., 1988, Heft 1/2, S. 33-41. Vgl. Herbert Schnädelbach, „Transformation der Kritischen Theorie", in: Kommuni-
katives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas'„Theorie des kommunikativen
Handelns",
hrsg. von Axel Honneth und Hans Joas, Frankfurt a.M. 1986, S. 34; Seyla Benhabib, „Kritik des ,postmodernen Wissens' — eine Auseinandersetzung mit Jean-François
Lyotard", in: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, hrsg. von Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 120. 4
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen 3 1985,
S. 485.
Handelns,
Bd. 1, Frankfurt a.M.
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mus zufolge, das Muster der Rationalisierung dadurch bestimmt ist, daß sich die kognitiv-instrumentelle Rationalität einseitig, ganz wörtlich ,auf Kosten' aller anderen Rationalitätsformen durchsetzt, orientiert sich an einem Maßstab, dem alltagspraktischen verständigungsorientierten Handeln, in dem die Rationalitätsformen sich ergänzen statt sich zu isolieren. Dieses Ergänzungsverhältnis beschreibt Habermas auch als „Ausgleich", als „gleichgewichtiges Zusammenspiel", 5 sogar mit der poetischen Metapher von einem „Mobile", das sich hartnäckig verhakt hat und wieder in Bewegung gesetzt werden sollte. 6 Für das von Habermas normativ ausgezeichnete mobile Verhältnis der Rationalitätsformen zueinander entsteht aber ein Folgeproblem gerade dann, wenn es nicht unter der Dominanz einer Rationalitätsform stillgestellt wird. Trotz und gerade wegen des Zusammenspiels kann es nämlich zum Konflikt kommen, dann nämlich, wenn die einzelnen Formen der Rationalität ein und denselben Beurteilungsfall aus der ihnen eigenen, jeweils verschiedenen Perspektive ansehen, mit dem ihnen je eigenen Geltungsanspruch bzw. ihrer je eigenen Begründungsweise Stellung nehmen. Zum Konflikt kommt es noch nicht in dem Fall, in dem — im Anschluß an Habermas und nicht im Widerspruch zu ihm — für jede einzelne Rationalitätsform die Notwendigkeit des Zusammenspiels mit allen oder einigen anderen behauptet wird. D a ß der theoretische Diskurs von nicht-theoretischen Vorentscheidungen, von Fragestellungen und Untersuchungsstrategien abhängt; daß der praktische Diskurs in der Situationsbeschreibung und der Frage der Mittelverwendung auf deskriptives Wissen und auf die ästhetische Beseitigung von Kommunikationssperren, sei es mit der subjektiven wie der sozialen Welt, angewiesen ist; daß schließlich die ästhetische Kritik — wie ich später ausführen werde — das Zusammenspiel der Rationalitätsformen selber noch einmal vorführt — das alles ist unproblematisch, weil eine jede einzelne Rationalitätsform doch unter dem Primat eines Geltungsanspruchs oder einer Begründungsweise steht. 7 Das Mobile „Vernunft" verhakt sich hier zwar nicht, aber es wird am Ende — mit der angedeuteten Ausnahme — doch auch stillgestellt. Anders ist es, wenn die Geltungsansprüche und Begründungsweisen selber aneinandergeraten; wenn es also nicht um den Primat innerhalb einer Rationalitätsform, sondern zwischen ihnen geht. Hier müssen gesellschaftliche Rahmenbedin-
5 6
7
Ebd., S. 112. Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S. 26. Vgl. Martin Seel, „Die zwei Bedeutungen .kommunikativer Rationalität'. Bemerkungen zu Habermas' Kritik der pluralen Vernunft", in: Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 59ff.; Jürgen Habermas, „Entgegnung", in: Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 343.
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gungen festlegen, ob eine Rationalitätsform und — wenn ja — welche das Entscheidungsprivileg für sich beanspruchen darf. In kapitalistischen Gesellschaften (im übrigen auch in den real existierenden sozialistischen) nimmt, wie gesagt, die kognitiv-instrumentelle Rationalität dieses Recht für sich in Anspruch. O b in einer Stadt ein neues Hochhaus, ob in Frankfurt der „Campanile" gebaut wird oder nicht, hängt am wenigsten von ästhetischen Argumenten ab. Sie liefern in praktischen Zusammenhängen Luxus-Begründungen, die erst dann greifen, wenn die materiellen Lebensbedürfnisse erfüllt sind. Der Ästhetizist mag sich, so nüchtern es irgend geht, für technische Innovationen begeistern, unbeschadet der phallischen Symbolik als Liebhaber graziler Türme werben, sie doppeldeutig als Fingerzeig für Himmelsstürmer empfehlen, er mag von den Spiegelfassaden schwärmen, durch die an Sommertagen die Wolken ziehen wie durch ein Bild im Bild von René Magritte, sich von den detailversessenen Hymnen an ein kolossales New York inspirieren lassen, die Reinhart Wolf im Großbildformat fotografisch festgehalten hat, er mag im Taumel seiner Rede sich schließlich vom imaginären Rausch der Metropole anstecken lassen und von Baudelaire über Walter Benjamin zu Botho Strauß und sicherheitshalber gleich wieder zurück extemporieren — handfeste ökonomische und soziale Gründe werden allemal die Oberhand behalten. Schwierig aber wird es, wenn sich kein Primat einer Begründungsweise aufdrängt. Dann kommt es, bei genügend Öffentlichkeit, zu einem Skandal. Faßbinder hat ihn z.B. mit seinem Stück Der Müll, die Stadt und der Tod geliefert. Moralische und ästhetische Argumentation prallen unversöhnlich aufeinander. Es sind auch andere Argumente mit im Spiel, der Machtkampf verschiedener Interessengruppen, die nicht vorhandene Normalität der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen und die mangelnde Sensibilität gegenüber Ängsten. Aber feder- und stoßführend sind die moralische und die ästhetische Argumentation. Der Äußerung ,Dieses Stück ist schön, gut, gelungen (und deshalb spielenswert)' steht schlicht und unschlichtbar gegenüber ,Es ist moralisch verwerflich (und deshalb nicht spielenswert)'. Handelt es sich hier nun im Sinne Lyotards um einen „Widerstreit", um einen „Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt" (U? S. 9)? Ein Widerstreit ist für Lyotard ein Konflikt, der sich zwischen Sätzen, ihren „Regelsystemen" und zwischen „Diskursarten" einstellt. Als Regelsysteme von Sätzen zählt Lyotard auf: „Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen, Befehlen usw." {W, S. 10), als Diskursarten unter anderem: „der pädagogische Diskurs, der Dialog, die Tragödie, das Lied, die Technik" (W, S. 217). Obwohl die erste Definition den Widerstreit mißverständlich und vielleicht verräterischerweise als einen von „Argumentationen" vorstellt, wäre der von mir an der Habermasschen Rationalitätstheorie demonstrierte Konfliktfall bei Lyotard als einer zwischen Diskursarten einzuordnen. Sie sind bei Habermas
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zwar auf das Argumentieren spezialisiert, bedienen sich aber doch, wie für die ästhetische Diskursart am leichtesten einsehbar, aller möglichen Satz-Regelsysteme, vom Fragen über das Beschreiben und Erzählen bis zum Zeigen. D e r Widerstreit zwischen zwei Diskursarten entsteht, weil beide mit gleichem, je eigenem Recht auftreten und eine auf beide anwendbare Urteilsregel fehlt, die übergeordnetes Recht sprechen könnte. Es fehlt, mit anderen Worten, ein Metadiskurs. Zielt die — in der Terminologie Lyotards (vgl. W, S. 217) — ethische bzw. — in der Terminologie von Habermas — moralische Diskursart auf Gerechtigkeit, so die ästhetische auf innovative und sensible Wahrnehmung (vgl. G, S. 24) bzw. auf die Stimmigkeit einer Welterschließung. 8 Könnte das Urteil zu Faßbinders Theaterstück aus ethischer Perspektive lauten: .Dieses Stück ist schlecht, weil es in seinem Gehalt ein allen Menschen gleichermaßen zustehendes Recht, die Menschenwürde, verletzt', so aus ästhetischer Perspektive: ,Es ist gut, weil es eine neue Sicht der Dinge bietet, weil es die Menschenwürde noch in ihrer zynisch zur Schau gestellten Perversion als Idee traurig errettet'. Aber noch einmal: Handelt es sich hier um einen „Widerstreit"? Sicher in dem Sinn, daß der Streit nicht angemessen entschieden werden kann. Aber warum nicht ? Weil beide Diskursarten nach je verschiedenen, absolut unvergleichlichen, heterogenen (Spiel-)Regeln funktionieren ? Bezogen auf die Satz-Regelsysteme sieht Lyotard die Heterogenität gemildert, da ihnen durch eine jeweilige Diskursart eine Zweckbestimmung aufgedrückt wird. Argumentieren, Erzählen, Zeigen, Befehlen usw. sind z.B. im pädagogischen Diskurs auf Belehrung hin ausgerichtet. Diese finale Ausrichtung gibt es aber zwischen den Diskursarten nicht. Zwischen ihnen wird das Fehlen einer übergeordneten Regel daher eklatant, „selbst", so Lyotard, „wenn sie vom gleichen Satz ausgehen. An den mitleidsheischenden tragischen Satz: ,Welch eitler Schmuck sind diese Schleier, die mich bedrücken!' knüpft ein Techniker mit der Suche nach leichten Textilien und einer nüchternen Kleidungsmode an (und lacht dabei über seine Kundin oder mit ihr)" ( W, S. 216). Da die Regeln, nach denen in der tragischen und der technischen Diskursart gespielt wird, ganz unterschiedlich sind — in der einen geht es um Katharsis, in der anderen um Problemlösung — , führt die Verwechslung zu den bekannten Effekten der Komödie. Aber jede der beiden Diskursarten kann mit gleichem Recht, dem Recht der jeweiligen Spielregeln, von demselben Satz ausgehen. Nun gilt dies aber offensichtlich nur in abstracto. In konkreten Zusammenhängen ist das Verständnis eines Satzes bzw. einer Äußerung eingebettet in ein kontextuelles Vorverständnis, dem eine Verwechslung der Diskursarten über-
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Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 243ff.; ders., in: Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 344.
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haupt erst ihren komischen Effekt verdankt. Die Kundin könnte gar nicht über das — gewollte oder ungewollte — Mißverständnis des Textilienverkäufers lachen, wenn sie sich nicht der Abweichung ihrer Äußerung vom Normalfall bewußt wäre; wer geht schon in eine Boutique und zitiert einen wenn auch assoziativ naheliegenden Vers aus einer Tragödie in der Absicht, ein neues Schleierhütchen zu kaufen. Ebensowenig könnten wir über einen technisch denkenden Theaterbesucher lachen, der sich durch den Vers aufgefordert fühlt, mit ein paar leichten Textilien auf die Bühne zu springen, wenn wir dieses Verhalten nicht als Abweichung vom Normalfall einordnen würden. Alte hermeneutische und pragmatistische Einsichten kommen hier zur Geltung. Zum richtigen Verständnis eines Satzes gehört auch das richtige Verständnis der Situation. Das Verständnis einer Äußerung nach verschiedenen Diskursarten, also ein Widerstreit, wird erst dann zu einem praktischen wie theoretischen Problem, wenn es den Normalfall nicht gibt. Das bedeutet dreierlei: Der Widerstreit ist ein Grenzfall; er wird erst zum Problem, wenn die Diskursarten — und sie sind ja vor allem interessant — unter Geltungsgesichtspunkten aufeinander bezogen sind und wenn sie einen gemeinsamen referentiellen Bezugspunkt, in Lyotards Beispiel einen Satz, als Ausgangspunkt der Interpretation haben. Die Erläuterung dieser drei Merkmale an dem von mir angerissenen Konfliktfall der ästhetischen und moralischen Diskursart führt nun zu gewissen Erweiterungen. Grenzfall ist jener Konflikt so sehr, daß er sich zum Skandal ausgewachsen hat. Der gemeinsame referentielle Bezugspunkt ist ein Theaterstück, das als Ganzes nur verstanden werden kann, indem man sich auf die einzelnen Sätze bezieht und umgekehrt. Entscheidend ist der gemeinsame Bezug auf den Geltungsaspekt. Er findet nicht nur in äußerlicher Weise statt, insofern man die Urteilsregel der einen, hier der moralischen Diskursart, auf die andere, die ästhetische, anwendet und dieser somit ein „Unrecht" zufügt ( W, S. 9). Sondern die ästhetische Diskursart ist intrinsisch auf die moralische bezogen. Das ist schon daran erkennbar, daß sie, sobald sie ihr Urteil näher begründet, dies mit moralischen Elementen tut. ,Das Stück ist gut, weil es die Menschenwürde noch in ihrer Perversion als Idee traurig errettet.' Die ästhetische Diskursart wehrt eine Einmischung in dem Moment ab, in dem die moralische Diskursart sich als dominant aufspielt, aber innerlich ist sie auf Einmischung geradezu angelegt. Das kann ebenso mit Bezug auf die kognitive Diskursart geltend gemacht werden. Ohne jenes Wissen, das geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung zugehört, ist eine exemplarische ästhetische Wertschätzung der Idee der Menschenwürde nicht möglich. Kants grundlegende Konzeption des ästhetischen Urteils wird so diskurs- und rationalitätstheoretisch transformiert. Das ästhetische Urteil, einmal als Spiel der „Erkenntnisvermögen" ausgezeichnet, behält diese Auszeichnung auch unter den veränderten Rahmenbedingungen bei. Keine der Diskursarten oder Vernunftformen, die innerhalb der ästhetischen Diskursart oder Ver-
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nunftform im Spiel sind, dominiert dieses Spiel. Diese Auszeichnung muß allerdings sogleich dahingehend eingeschränkt werden, daß sie nicht wahrheitsästhetisch übersteigert werden darf. Aus der eigentümlichen holistischen Rationalität des ästhetischen Urteils ist nicht zu folgern, daß sie Hypererkenntnisse vermittelt. Die transformierte Konzeption des ästhetischen Urteils bedarf aber zumindest zweier Berichtigungen, einer auf Seiten Kants und einer auf Seiten von Habermas. Als Spiel der Rationalitätsformen ist die ästhetische Rationalität nicht mehr „rein" im Kantischen Sinn. Sie grenzt das „Begehrungsvermögen" in Gestalt des „Angenehmen" und des „Guten" nicht aus, sondern integriert es in das Spiel, das nunmehr nicht mehr nur eines der „Erkenntnisvermögen", sondern der „Gemütsvermögen" ist und den Akzent auf die Steigerung des „Lebensgefühls" setzt. 9 Als Zusammenspiel der Geltungsansprüche ist die ästhetische Rationalität auch im Habermasschen Sinn in gewisser Weise unrein. Da im Anschluß an die Sprechakttheorie nur die drei Geltungsansprüche von propositionaler Wahrheit, normativer Richtigkeit und subjektiver Wahrhaftigkeit zugelassen sind und die Zuordnung der ästhetischen Rationalität zum Wahrhaftigkeitsanspruch über einen ersten Versuch nicht hinauskommt, verbleibt für sie nur eine schwer zu operationalisierende Mischform, deren Abgrenzung zu den anderen Geltungsaspekten unklar ist. A m auffälligsten ist das im Vergleich mit dem ethischen Diskurs, also derjenigen Form der praktischen Vernunft, die zwischen der pragmatischen und der moralischen zu stehen kommt. D e r ethische Diskurs thematisiert die Fragen des guten Lebens, sucht Antworten darauf, welches Leben man eigentlich führen will, Antworten, die mit der jeweiligen Biographie eines Individuums verwoben sind. Obwohl keine kulturell allgemeinen oder gar universalen Geltungsansprüche zur Prüfung anstehen, ist gleichwohl von einem Diskurs die Rede, „weil auch hier die Argumentationsschritte nicht idiosynkratisch sein dürfen, sondern intersubjektiv nachvollziehbar sein müssen". 1 0 D a auch die ästhetische „Kritik" mit dieser Argumentationsform beschrieben werden kann, gilt für sie der Diskursstatus nicht minder. D e r ethische Diskurs teilt mit dem ästhetischen darüber hinaus aber auch, daß er nur als Zusammenspiel der anderen Diskurse konzipierbar, seinem Geltungsanspruch nach ebenso oder fast ebenso abgeleitet ist. Gravierende Lebensentscheidungen erfordern, sich über die eigenen Neigungen und Interessen klarzuwerden und dabei die objektiven, deskriptiv beschreibbaren Umstände miteinzubeziehen: Soll ich als Professor für Philosophie oder als Genforscher das Rätsel lösen, was die Welt im inner-
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Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 1-5. Jürgen Habermas, Zum pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, Manuskript 1989, S. 17; vgl. dagegen ders., Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., S. 41.
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sten zusammenhält? Oder soll ich gleich den friedfertigen Beruf des Gärtners wählen ? Soll ich mit dieser Frau zusammenleben oder doch lieber mit der anderen? Die Beantwortung speziell der letzteren Frage dürfte am weitesten nach dem Muster der ästhetischen Begründungsweise verfahren, denn sie wird immer wieder auch das Objekt, die besondere Frau, ihr Aussehen, das sprachlos macht, eben ihre Schönheit als Grund für die Entscheidung zur Geltung bringen. Welch eminente Rolle die Literatur in diesem Klärungsprozeß spielt, ist jedem belesenen Sinn- und Ariadnesucher evident. Keiner nimmt literarisch seine Lebensgeschichte auf sich, ohne sie schreibend erst zu rechtfertigen, und das heißt, ohne sie umzuschreiben. Vielleicht schreibt im Grunde jeder Schriftsteller, frei nach Peter Weiss, seine Wunschautobiographie. 11 Der unter dem Geltungsaspekt sekundäre Status des ethischen wie des ästhetischen Diskurses gibt jedenfalls Anlaß zu kritischen Rückfragen an die sprechakttheoretischen Voraussetzungen der Habermasschen Theorie. 12 Die diskurs- und rationalitätstheoretisch transformierte Kantische Konzeption des ästhetischen Urteils wirft aber auch schärferes Licht auf die Theorie Lyotards. Vor allem ist es die These von der Heterogenität der Diskursarten, die revisionsbedürftig erscheint. Ein solcher Einwand würde Lyotard vor dem Hintergrund der Kritik der Urteilskraft nicht überraschen, wendet er seinerseits gegen sie doch ein, daß sie mit dem Gedanken der Affinität und des Ubergangs zwischen den Vernunftformen „das Ereignis der Spaltung stark [abschwächt], zu stark" (£, S. 112). Trotzdem ist es keine billige Retourkutsche, den Einwand der Abschwächung in umgekehrter Form an Lyotard zurückzuschicken. Es scheint mir deskriptiv falsch, das Verhältnis der Vernunftformen zueinander und speziell innerhalb der ästhetischen wie der ethischen Vernunftform nicht als ein Zusammenspiel zu beschreiben. Die Regeln, nach denen in den verschiedenen Diskursen gespielt bzw. geurteilt wird, sind sowenig absolut verschieden, daß sie in manchen Diskursen sogar weitgehend übereinstimmen. Darüber läßt sich natür-
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Vgl. Josef Früchtl, „Das absurd unverschämte Ich. Zur Selbstrettung des Herbert Achternbusch", in: Literaturmagazin 24, 1989, S. 99-108. So hält Seel nicht Sprechhandlungen, sondern allein Weisen der Begründung zur Unterscheidung von Rationalitätstypen für geeignet (vgl. Kommunikatives Handeln, S. 57). Karl-Otto Apel nimmt den „Sinn-Anspruch" zu den drei sprechakttheoretisch zugelassenen Geltungsansprüchen hinzu (vgl. „Die Herausforderung der totalen Vernunftkritik und das Programm einer philosophischen Theorie der Rationalitäts-
typen", in: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Stuttgart 1988, S. 29). Eine größere Vielfalt der Geltungsansprüche strebt auch Albrecht Wellmer an (vgl. „Was ist eine pragmatische Bedeutungs-
theorie?", in: Zwischenbetrachtungen zum 60. Geburtstag,
im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas
hrsg. von Axel Honneth u.a., Frankfurt a.M. 1989, S. 318-370).
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lieh lange ein mehr oder weniger trefflicher Streit führen. U m ihn etwas abzukürzen, suche ich, für meine These bei Lyotard selbst fündig zu werden. Als erstes ist mir das Statement willkommen, das sich im Anhang der ersten deutschen Ausgabe des Postmodernen Wissens findet: „Die Gerechtigkeit wäre folgende: der Vielfalt und Unübersetzbarkeit der ineinander verschachtelten Sprachspiele ihre Autonomie, ihre Spezifität zuzuerkennen . . . ; mit einer Regel, die trotzdem eine allgemeine Regel wäre, nämlich ,laßt spielen . . . und laßt uns in Ruhe spielen'." 13 Die Lyotardsche Regel der Gerechtigkeit schreibt vor, jedem Sprachspiel seine eigene Regel zuzuerkennen. Da die Sprachspiele aber auch ineinander verschachtelt sind, ist die Frage erlaubt, warum nicht auch sie untereinander nach einer Regel spielen sollen. Die Frage drängt sich, leicht spezifiziert, auch an einer anderen Stelle auf: „Im gewöhnlichen Gebrauch des Diskurses, etwa in einer Diskussion zwischen zwei Freunden, bieten die Gesprächspartner alles auf, indem sie von einer Aussage zur anderen das Spiel wechseln. Frage, Bitte, Behauptung und Erzählung werden durcheinander in die Schlacht geworfen. Diese ist nicht ohne Regel, die aber die größte Wandelbarkeit der Aussagen erlaubt und unterstützt" (PW, S. 61). In der Terminologie des Widerstreits zählt Lyotard hier Satz-Regelsysteme auf, zwischen denen relativ problemlos gewechselt werden kann, weil sie der final strukturierenden Regel der Diskursart des Dialogs unterstellt sind, den anderen zu überzeugen oder zu überreden. Warum aber soll es nicht auch eine Regel geben, die zwischen den Diskursarten einen Wechsel erlaubt und unterstützt ? Gibt es sie nicht — so wäre die Frage in einem indirekten Beweis zu beantworten — , dann verspielt Lyotard leicht den Maßstab der Kritik. Keine der voneinander isolierten Diskursarten kann dann von einer anderen oder einer übergeordneten kritisiert werden. Das Resultat wäre ein „ästhetischer Diskurs" im weiteren Sinn, bei dem es nicht mehr auf Ernsthaftigkeit und Argumentation ankommt, sondern auf das „Blühen vieler Blumen", die mit Gleichgültigkeit einhergehende gleiche Gültigkeit der Meinungen. 1 4 Doch gibt es bei Lyotard offensichtlich eine Instanz, die die Gerechtigkeitsregel erläßt. Es ist Lyotard selber als Inkarnation jenes „Reeders" oder „Admirals", der zwischen den „Inseln" der Diskursarten navigiert, um „paradoxerweise" zu erklären, daß sie inkommensurabel seien (W S. 225). Die Paradoxie und damit die Aufrechterhaltung der Idee der Verständigung über Geltungsansprüche ist unvermeidlich, solange Gerechtigkeit und Gleichgültigkeit nicht dasselbe meinen. Das bedeutet aber auch, daß die Idee der Gerechtigkeit von der des Konsenses nicht so absolut loszulösen ist, wie Lyotard das plakativ in Aussicht stellt. Auch die Konstatie-
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Zit. in: Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 2 1988, S. 33. Karl-Otto Apel, in: Denken, das an der Zeit ist, Hrsg. von Florian Rotzer, Frankfurt a.M. 1987, S. 71.
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rung eines Widerstreits, sei es von Seiten der streitenden Parteien oder eines Richters, muß einvernehmlich erfolgen. Und auch der Konsens über den Dissens bleibt ein Konsens. 1 5 Lyotards Paradoxie verschwindet schließlich, wenn die Ubergänge zwischen den Diskursarten hervortreten, die er selber bahnt. „Als ich elf oder zwölf war", so beginnt Lyotard seine „Streifzüge" durch die eigene intellektuelle Biographie, „wollte ich Mönch werden . . . , Maler oder Historiker" (St, S. 15). Die drei Berufsbilder haben den Philosophen weder als Theoretiker noch als Praktiker noch einmal losgelassen. Der Junge, der sämtliche Romane Dostojewskis gelesen hatte, lebte nicht nur im Klassenkämpfer, dem Mitglied von „Socialisme ou Barbarie" fort, der in „mönchischem Gehorsam" (St, S. 43) alles vernachlässigte, was nicht mit den Zielen der Gruppe zu tun hatte, sondern auch Der Widerstreit zehrt von einem „mönchischen Status" (St, S. 19). Die Erniedrigung und Beleidigung, die durch die Sprache selbst unvermeidlicherweise verübt wird, soll dem Schweigen und allen Harmonisierungsbestrebungen entrissen werden. Die Religion ist der Grund, der Boden der Moral noch für den postmodernen Sprachphilosophen. Aber Lyotard schematisiert und verallgemeinert damit seine intellektuelle Selbsterkundung. Den drei genannten Berufsbildern entsprechen die Größen „Gesetz", „ F o r m " und „Ereignis" und die Bereiche von Ethik, Ästhetik und Politik. Doch möchte Lyotard zeigen, „daß alle drei Größen mit der gleichen Kraft, wenn auch nicht gleichermaßen präsent, in den drei Bereichen wirksam und nicht zu umgehen sind" (St, S. 21). Besonders auffällig ist das an jener Größe, die Lyotard im Anschluß an Heidegger „Ereignis" nennt. U m es wahrzunehmen, muß man das Bewußtsein „reinigen" (St, S. 44). Das gilt für den Mönch wie den Maler (Cézanne) und den Historiker. Die „Empfänglichkeit" für das Geringfügige, die Wahrnehmung eines Einzelfalls, also eine ästhetische Wahrnehmung (vgl. St, S. 27), setzt mönchische „Askese" voraus (St, S. 44). Diese ethisch-ästhetische Erkenntnishaltung, die einen Spötter an die unbefleckte Empfängnis denken läßt, realisiert sich in jeder Diskursart aber auf verschiedene Weise. Während sich, ganz kantianisch, beim moralisch Handelnden ein Gefühl der Achtung für das Gesetz einstellt, genießt der Künstler oder ästhetisch Wahr-
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Vgl. Wolfgang Welsch, „Vernunft im Übergang", in: Jean-François Lyotard, hrsg. von Walter Reese-Schäfer und Bernhard H.F. Taureck, Cuxhaven 1989, S. 13, 18ff.; Manfred Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt a.M. 1988. Lyotard kritisiert im übrigen, was für Habermas selbstverständlich ist, daß „der Konsens nur ein Zustand der Diskussion und nicht ihr Ziel ist" (PW, S. 190). Auch für Habermas stellt sich der Konsens nur als „transitorische Einheit" her, ja, es gilt: ,Je mehr Diskurs, um so mehr Widerspruch und Differenz" (Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1988, S. 180).
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nehmende die Lust eines Formenspiels (vgl. St, S. 73 f.). Die Diskursarten bleiben getrennt, und das Gesetzes-, Form- und Ereignis-Prinzip ist doch in jeder von ihnen wirksam. Einen Übergang zwischen den Diskursen zu behaupten m u ß also keineswegs die Regentschaft eines Metadiskurses nach sich ziehen. „Es gibt überhaupt keine Metadiskurse; denn jeder Diskurs ist sozusagen unmittelbar zu Gott." U n d Habermas setzt hinzu: „Das kann nicht weiter erstaunen." 1 6 Erstaunen kann es nur, wenn man zu geschwind Deutsch und zu andächtig Französisch redet, die formalpragmatischen Voraussetzungen, den „Gott" in jedem Diskurs als so omnipotent erachtend, daß alle Einzelregeln von ihm festgelegt seien. Die Vernunft glänzt vielmehr durch formale und mobile Einheit. Martin Seel nennt sie „interrationale Urteilskraft", 1 7 Wolfgang Welsch „transversale Vernunft". 1 8 Freilich m u ß zum Schluß auch noch gesagt werden: Wenn das Zusammenspiel der Vernunft den Maßstab der Kritik liefert und der Ubergang zwischen den Vernunftformen von einer der Argumentation vorausliegenden Instanz, einer argumentationstheoretisch nicht einholbaren „Kraft" abhängt, dann bleibt der kritische Maßstab auf ein Moment von Irrationalität verwiesen. „Vernunft geschieht" 19 — immer auch, m u ß hinzugefügt werden. Als Postscriptum möchte ich einem Admiral nach dem Bild Lyotards drei Merksätze in das Logbuch schreiben: Wer die Vernunft nicht allseitig spielen läßt, kann nicht im Ernst Kritik üben. Wer sie nur in Ruhe spielen läßt, nimmt sie nicht ernst. Zum Spiel der Vernunft gehört, daß sie weiß, wann es ernst wird.
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Habermas, in: Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 343. Seel, in: Kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 67. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, a.a.O., S. 295ff. Ebd., S. 308.
Ohne Bilder Über Versuche, das Entsetzlichste zu entziffern Hans-Joachim Lenger
Ich werde versuchen, über eine begrenzte, aber — wie ich vermute — in gewisser Hinsicht unüberschaubare Frage zu sprechen, nämlich über die Distanz. Jene Distanz, von der Kant sagt, sie sei unabdingbar, um einem Gefühl einen Raum und eine Zeit zu öffnen, das als „Erhabenes" im ästhetischen Apparat der Ersten Kritik keine Aufnahme hatte finden können. U m diesem Gefühl Aufnahme gewähren zu können, muß die Einbildungskraft ihrer Freiheit beraubt werden oder diese Freiheit aufopfern: und zwar, wie Kant schreibt, um darin eine Macht zu gewinnen, die größer als diejenige ist, die sie opfert. Aber dieses Opfer gelingt deshalb nur aus einer spezifischen Distanz oder aus dem Reservoir einer spezifischen Sicherheit heraus. Nicht ich bin Opfer, sondern ich opfere. Kant schreibt in der Kritik der Urteilskraft: „Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tiefbeschatteter, zum schwermütigen Nachdenken einladender Einöden u. s. w. ergreift, ist, bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen . . . " 1 Ich habe hier Kants Voraussetzung eines Wissens um Sicherheit vorangestellt, um meine Frage an Jean-François Lyotard vorbereiten zu können. Sie wird sich nämlich um diese „Distanz" zu bewegen suchen, aus der das Wissen des Zuschauers um die Sicherheit entspringt, in welcher allein er sich der Erschütterung des Erhabenen aussetzen kann. Meine Frage betrifft damit zugleich das Problem des Zeugnisses, das im Mittelpunkt des Widerstreits steht. In welcher Weise kann der Zuschauer Zeugnis ablegen? Kann er überhaupt Zeugnis ablegen, wo er doch dem Entsetzlichen nicht verfiel (oder ihm entrann) und deshalb — in einem unbestimmten Sinn des Heillosen, den Lyotard im Widerstreit einbrechen läßt — nicht „Opfer" wurde ? Wird das „Opfer" deshalb ebenso undarstellbar bleiben wie das, was ihm widerfuhr? Und was hieße es für den Zuschauer, dieses Undarstellbare dennoch bezeugen zu wollen?
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Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1974, S. 195.
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Wenn ich Lyotard richtig verstehe, so berührt sich für ihn das Problem des Erhabenen mit dem des Zeugnisses an jenem Punkt, an dem es um eine Darstellung des Undarstellbaren geht. Immer wieder und intensiv beruft er sich auf Adorno: Dessen „Denken als solches", heißt es etwa in Heidegger und „die Juden", „kehrt sich — und kehrt uns — einer Ästhetik zu. Einer Ästhetik des ,Nach Auschwitz', und in einer technisch-wissenschaftlichen Welt. Wollte man fragen: warum eine Ästhetik? warum diese einzigartige Hinwendung zu den Künsten, zur Musik?, so lautete die Antwort: weil die Frage des Zerfalls die Frage nach dem Nicht-Sinnlichen, oder wie ich sagte, einer Anästhesie, ist". 2 An dieser Stelle aber erlaube ich mir, die Philosophie zu verlassen und mich auf die Medizin zu berufen. Konfrontiert mit den ungemilderten körperlichen und seelischen Leiden jener, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Opfer der Nationalsozialisten wurden; medizinisch und psychiatrisch hilflos gegenüber dem, was Mediziner dann das „KZ-Syndrom" nannten, um ihrer Sprachlosigkeit doch wenigstens einen Namen zu geben, begann die polnische Zeitschrift Przeglad Lekarski, zu deutsch: Medizinische Rundschau, in den 60er Jahren mit einer Befragung ehemaliger KZ-Häftlinge, deren Ergebnisse in einer Reihe von Sonderheften unter dem Titel Die Auschwitz-Hefte veröffentlicht und vor kurzem vom Hamburger Institut für Sozialforschung teilweise auch auf Deutsch zugänglich gemacht wurden. Die Auschwitz-Hefte sind als Versuch von polnischen Ärzten, Psychoanalytikern und Therapeuten entstanden, die grauenhafte Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu untersuchen, um jenen medizinische Hilfe leisten zu können, die deren Opfer wurden und überlebten. Aber darin besteht auch etwas von der inneren Aporie der Texte, die die Zeitschrift veröffentlicht hat. Die Berichte, die sie versammelte und in denen, protokollarisch fast, das immer einzelne Entsetzliche an ein immer einzelnes anderes gereiht wird, sprechen — in dieser nicht systematisierbaren Vereinzelung des Grauens — zugleich immer vom Gleichen. Davon, daß keine Situation im Lager berechenbar oder kalkulierbar war: daß es ein räumliches oder zeitliches Regelsystem nicht gab, dem sich zu unterwerfen die Aussichten auf ein mögliches Uberleben wenigstens hätte erhöhen können. Der Tod in den Lagern war allgegenwärtig, der Tod in das vermeintliche Leben ohne Rest übergegangen und so ununterscheidbar von ihm geworden, daß sich nicht einmal jene Distanz herstellen ließ, die der Kantsche Begriff der „Furcht" noch voraussetzt; so daß „in Auschwitz leben" bedeutete, nicht mehr am Leben zu sein. Wie also sollten die Uberlebenden sprechen können, als die polnische Zeitschrift sie befragte? Einer von ihnen, Aloizy Fros,
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Jean-François Lyotard, Heidegger und „die Juden", Wien 1988, S. 57i.
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schrieb an die Redaktion der Zeitschrift: „Ich weiß nicht, ob meine Äußerungen einen bescheidenen Beitrag zum Thema liefern können. Daß man darüber sprechen muß, halte ich für notwendig, schon allein deshalb, weil ich bei Gesprächen über Erlebnisse aus dem Lager oft beobachte, daß viele Menschen — auch wenn sie das nie laut sagen — der Ansicht sind, daß die Uberlebenden in gewisser Weise die Toten verraten haben." 3 Ich werde an dieser Stelle das Entsetzliche nicht zu ermessen suchen, das sich in den Sätzen Aloizy Fros' anzeigt: Verpflichtung zu einem Zeugnis, das sich vom Gefühl der Schuld, überlebt zu haben und bezeugen zu können, doch nicht mehr ablösen läßt. Ich werde ebensowenig der Frage nachgehen, ob dieses Gefühl der Schuld, das Fros für ein Schweigen selbst der Uberlebenden verantwortlich macht, nicht noch im Innern des Lyotardschen Widerstreits einen Abgrund öffnet. Statt dessen will ich an einen anderen Text erinnern, der diesen Begriff der Schuld gegen die Möglichkeit eines Denkens und einer Kunst „nach Auschwitz" gerichtet hat. Ich erinnere also an Theodor W. Adorno. An einer Stelle der Negativen Dialektik scheint es zwar zunächst, als wolle Adorno ein Diktum widerrufen, das als Mißverständnis ausgebeutet, in der Zwischenzeit etwa zum geflügelten Wort des Feuilletons hatte werden können. Dieses Diktum hatte die Möglichkeit in Frage gestellt, „nach Auschwitz" noch ein Gedicht schreiben zu können, dessen ästhetische Stimmigkeit nicht auf dem Grund eines fundamentalen Vergessens, einer unnennbaren Schuld ruhen würde. Adorno hatte deshalb nahegelegt, alle ästhetische Stimmigkeit „nach Auschwitz" ihrerseits als Indiz eines Vergessens zu entziffern, das — als Indiz am Stimmigen — das Stimmige selbst der Unwahrheit überführe. Nun aber, in der Negativen Dialektik, erfolgt ein zweites Diktum, ein Widerruf, der jedoch das Widerrufene nur präzisiert und damit bestätigt; Adorno schreibt: „Weil aber der Einzelne, in der Welt, deren Gesetz der universale individuelle Vorteil ist, gar nichts anderes hat als dies gleichgültig gewordene Selbst, ist der Vollzug der altvertrauten Tendenz zugleich das Entsetzlichste; daraus führt so wenig etwas hinaus wie aus der elektrisch geladenen Stacheldrahtumfriedung der Lager. Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürger-
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Aloizy Fros, in: Die Auschwitz-Hefte, Bd. I, Texte der poln. Zeitschrift „Przegljd Lekarski" über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hrsg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung. Aus dem Poln. übersetzt von Jochen August. Weinheim-Basel 1987, S. 14.
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liehen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten." 4 Zweimal, so als müsse dessen unauflösbare Agonie markiert werden, führt Adornos Text den Begriff des „Rechts" ein. Das perennierende Leiden habe „Recht" auf Ausdruck; und das, wo doch zugleich fraglich geworden ist, ob sich „nach Auschwitz" noch leben lasse, ob es dürfe, wer zufällig entrann und „rechtens" hätte umgebracht werden müssen. Wenn sich also Lyotards Denken eines „Widerstreits" auf Adorno berufen kann, wo er das Problem einer Kunst und eines Denkens „nach Auschwitz" aufwirft und dabei die Negative Dialektik gleichsam über sich hinaustreibt, dann deshalb, weil der Verpflichtung, Auschwitz bezeugen zu müssen, wie auch der Möglichkeit, Auschwitz bezeugen zu können, von jenem Gefühl der Schuld widerstritten werden kann, Auschwitz überlebt zu haben. Ich denke, an dieser Stelle nicht erneut jenem Mißverständnis zuvorkommen zu müssen, das den Begriff der Schuld, um die es hier geht, sozusagen im landläufigen Sinn verwenden wollte. Es geht um jenes drastische Gefühl, wie Adorno schreibt, das die Möglichkeit des Zeugnisses allein aus der Distanz ermöglicht, die von den Opfern der Gaskammern trennt. Deshalb aber ist das Zeugnis in einem bestimmten Sinn auch nicht möglich. Oder genauer: Das, was bezeugt werden müßte, entzieht sich unablässig selbst dem, der es aus der Distanz des Entronnenen zu formulieren suchte. Und dies läßt alles Sprechen und alle Kunst „nach Auschwitz" an jenem „drastischen Gefühl" zuschanden werden, das Adorno benennt. Denn wo selbst noch die Uberlebenden, die entrannen, ihr Entrinnen als eine „Schuld" erfahren, dem Gesetz der SS entgangen zu sein, da ist um so unhintergehbarer alle Rede derer schuldbeladen, die ihrer Herkunft wegen diesem Gesetz nicht verfallen wären, nicht verfallen konnten — verdankt sich diese Rede doch einem Gesetz der SS, das ihre Schuldlosigkeit zweifelsfrei gemacht hatte. Zweierlei Recht also, und dies irreduzibel. Der Widerstreit, der — Lyotard zufolge — das Denken und die Kunst „nach Auschwitz" gleichwohl vor die Verpflichtung dieses unmöglichen Zeugnisses stellt, besteht in jener Inkommensurabilität zweier Regelsysteme, zweier Rechtsetzungen, die in keiner dritten, auch nicht dem Postulat einer gemeinsamen Teilhabe am Intelligiblen, geschlichtet werden könnte. In bewundernswerter Weise hatte Lyotard deshalb den dritten Satz, in dem sich die Dialektik zum „Resultat" einer Synthesis zu verdichten sucht, als erschlichenen Satz decouvriert. Denn dieser Satz verdankt sich, woran Lyotard mit Derrida erinnert,5 jenem „schönen Tod", den der Kampf des ge-
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Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1973, S. 355 f. „Als Modell illustriert .Auschwitz' nicht die Dialektik, auch nicht die negative. Diese rüttelt die Gestalten des Begriffs, die aus der Resultats-Regel hervorgehen, durcheinander und befreit die Namen, die als Illustrationen der einzelnen Bewegungsphasen des
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doppelten Selbstbewußtseins in Hegels Phänomenologie durchläuft, um sich in die dialektische Beziehung von Herr und Knecht, in das Gefüge der Anerkennung also, zu entlassen. Aber dieser „schöne Tod" Hegels war deshalb auch immer schon der simulierte Tod einer Dialektik gewesen. Moment einer Produktion, die in den Tod investiert, um den Mehrwert einer Herrschaft zu produzieren, läßt er jenen Tod vergessen, in den nicht investiert werden kann, weil er keinen „Sinn" abwirft. Hegels Gedanke macht also notwendig vor jenem Selbstverlust Halt, in dem der Gedanke desselben seiner selbst verlustig ginge. Darin liegt jenes Moment eines Nicht-Wahren, das jede Dialektik des Begriffs durchlaufen und ausbeuten muß, um ihre Wahrheit allererst begründen und diskursiv ausweisen zu können. Darin liegt zugleich, anders formuliert, die irreduzible Grenze, die der anamnetischen Arbeit des Begriffs gesetzt ist. Vielleicht ließe sich deshalb die These erhärten, daß solche Simulation des Todes (deren Dialektik im übrigen noch die Marxsche Rede von einer „Herrschaft toter Arbeit" determinieren wird 6 ) sich als Simulation nur über einer stillschweigenden Voraussetzung hatte erheben können, die sich transzendentalphilosophisch im Kantschen Imperativ bedeutet hatte. So daß die dialektische Differenz der Anerkennung stets schon aus einer anderen, verschwiegenen Differenz hervorgegangen wäre, die in der ersten nicht darstellbar wäre. Wo sich, kantisch, die Vernunft ihren Gegenstand vorschreibt, ohne als mögliche Erkenntnis auf die sinnlichen Gegebenheiten von Natur abzusehen — im Reich intelligibler Zwecke also, die weder Investition noch Nutzen kennen — , hätte sich die Spur jener Scheu zumindest kenntlich gehalten, deren Negativität sowohl den Begriff wie das Bild innezuhalten veranlaßte. „Denn die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit", schreibt Kant 7 , „schneidet aller positiven Darstellung gänzlich den Weg ab: das moralische Gesetz aber ist an sich selbst in uns hinreichend und ursprünglich bestimmend, so daß es nicht einmal erlaubt, uns nach einem Bestim-
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der und befreit die Namen, die als Illustrationen der einzelnen Bewegungsphasen des Begriffs gelten. Die Idee des Modells entspricht der Verkehrung der Bestimmung der Dialektik: Das Modell ist der Name einer Art Meta-Erfahrung, in der die Dialektik auf ein nicht negierbares Negatives träfe und in der Unmöglichkeit verharrte, es in einem ,Resultat' zu verdoppeln. In der die Wunde des Geistes nicht vernarbte. In der, wie Derrida schreibt, ,die Investition in den Tod sich nicht gänzlich amortisierte'." (Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 155.) „Die Herrschaft des Kapitals über den Arbeiter ist daher die Herrschaft der Sache über den Mensch, der toten Arbeit über die lebendige, des Produkts über den Produzenten, da ja in der Tat die Waren, die zu Herrschaftsmitteln [...] über die Arbeiter werden, blosse Resultate des Produktionsprozesses, die Produkte desselben sind." (Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt a.M. 1979, S. 17.) Kant, a.a.O., S. 202.
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mungsgrund außer demselben umzusehen." Der Kategorische Imperativ, der im Gefühl des Erhabenen nur an die Undarstellbarkeit seines Bestimmungsgrundes erinnert wird, hätte die Gemeinschaft intelligibler Wesen, die sich bei Kant als Teilhabe am moralischen Gesetz bestimmt, als Differenz „vor" aller dialektischen Differenz gegen das Letzte, Entsetzlichste verwahrt. Worin besteht dieses Entsetzlichste ? In ihm wurde der Ubergang von einer „Herrschaft toter Arbeit", wie Marx noch sagen konnte, zur Vernichtung durch Arbeit oder aber zu einer Arbeit der Vernichtung selbst vollzogen, die deshalb Arbeit nicht mehr ist. Jene Tendenz, deren Vollzug Adorno zufolge das Entsetzlichste ist, bestünde also im unwiderstehlichen Willen zu einer bildhaften oder diskursiven Darstellung dessen, worüber das Bilderverbot verhängt war. Diese Darstellung, die sich in einer linearen Diachronie verteilen und anamnetisch aus ihr sammeln würde, beschriebe die Figur eines Willens zur Macht; der Logos dieser Darstellung, der Bruch des Verbots ginge aus einem Vergessen hervor, von dem Lyotard sagt, es sei immer schon das Vergessen dieses Vergessens. Gottlos, weil mit dem Ermächtigungsgesetz des Begriffs ausgestattet; heillos taumelnd, weil von der Sucht zur Darstellung des Namenlosen getrieben; in sich gespiegelt noch da, wo sie in der Immanenz einer Frage nach der Seins-Vergessenheit verbleiben muß, wäre diese Vergessenheit zweiter Ordnung, die deshalb eine erste auch nicht kennt, die Tilgung einer Differenz, die auch schon getilgt sein muß, um ein kantisch Erhabenes als undarstellbar sich darstellen lassen zu können. Kants Problemtitel für diese Darstellung ist der einer Subreption: einer Bewegung, die sich auf den Umwegen des Darstellbaren an das Undarstellbare gleichsam herantastet, „heranschleicht", um sich an einem bestimmten Punkt abstürzen zu lassen. Seine Kritik der „Verwechslung einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte" 8 markiert jenen Punkt, an dem die Einbildungskraft an der Unmöglichkeit zerbrechen soll, das Unendliche vorstellen zu können; an dem die „Stimme der Vernunft" 9 nämlich alle Möglichkeit verwirft, die Differenz zu tilgen, sie also zum Moment einer Arbeit am Sinn zu machen. Deshalb ist Kants Begriff der Freiheit autonom und wird keineswegs dialektisch erarbeitet wie jener Mehrwert, der die sinnliche Gestalt des Gebrauchswerts durchlaufen haben muß, um zu sich zu finden. Und doch dürfte sich bereits im Spiel dieser Verwechslung von Objekt und Idee, das Kants Bewegung der Subreption eröffnet haben muß, um das Undarstellbare als undarstellbar darstellen zu können, jene Logik produktiver Darstellung versucherisch geltend gemacht haben, von deren Tendenz Adorno dann sagen wird, ihr Voll-
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Ebd., S. 180. Ebd., S. 176.
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zug sei das Entsetzlichste. Dieses Spiel der Verwechslung nämlich simuliert das Elementare, vollzieht sich aus jener Distanz einer Sicherheit des Zuschauers, die das Erhabene voraussetzen muß, um in ihm das Gefühl der Freiheit hervorzurufen, und ist damit, wie Kant selbst schreibt, produktiv. Das Erhabene, der Widerstreit von Einbildungskraft und Vernunft, empfängt nämlich nicht nur, wie wir an zentraler Stelle erfahren, sondern bringt etwas hervor: „ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben"; 10 die Unermeßlichkeit der Natur, so Kant an anderer Stelle, „entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen".11 Und deshalb wird sich eine prekäre Frage in die Problematik der subreptiven Verwechslung von Objekt und Idee dort einschreiben, wo sich die Bewegung einer Aufopferung der Einbildungskraft und die Undarstellbarkeit des Opfers kantisch in eine Ökonomie des Machtzuwachses überführen, die der Einbildungskraft zuteil wird: „Dadurch bekommt sie eine Erweiterung und Macht, welche größer ist, als die, welche sie aufopfert, deren Grund aber ihr selbst verborgen ist, statt dessen sie die Aufopferung oder die Beraubung, und zugleich die Ursache fühlt, der sie unterworfen wird." 12 Also entriete bereits der Kantsche Begriff des Erhabenen nicht völlig jener Attitüde einer Inszenierung, einer Produktion, einer Entdeckung, einer Repräsentation und eines Resultats ? Einer Attitüde, die ihm auch eine tiefe Unentscheidbarkeit oder Ambivalenz eintrüge, die sich bei Hegel dann entscheiden will? Kants „Hochachtung für den Krieger" etwa schließt Tugenden des Friedens ein, und zwar, „weil daran die Unbezwinglichkeit seines Gemüts durch Gefahr erkannt wird. Daher mag man noch so viel in der Vergleichung des Staatsmanns mit dem Feldherrn über die Vorzüglichkeit der Achtung, die einer vor dem andern verdient, streiten: das ästhetische Urteil entscheidet für den letzteren. Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volkes, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können ...". 1 3 Ambivalent ist Kants Begriff des Erhabenen, weil er Ereignisse in seinem Bezirk versammelt, die sich einer Inszenierung, einer kriegerischen etwa, verdanken und in diesem Sinn Ereignis nicht sind, sondern Darstellung. Daß der Feldherr Zuschauer einer Schlacht im gleichen Sinn wäre wie jener Kantsche Betrachter des aufgewühlten Ozeans oder hoch sich auftürmender Gebirgsmassive, könnte nur behaupten, wer jenem Trug aufsäße, den Kant in anderem Zusammenhang als transzendentalen Schein durchschaute. Zwar will Kant den Krieg, 10 11 12 13
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
182. 186. 195. 187.
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um ihn unter das ästhetische Urteil fallen lassen zu können, jener Ordnung und Heiligachtung bürgerlicher Rechte unterstellt sehen, die dessen Hegung heißt; wäre er anders doch nur blindes Gemetzel, das nicht einmal jene Distanz zuließe, auf welche der Zuschauer angewiesen ist. Diese Hegung des Krieges jedoch war bloßes Herrenrecht. So auch die Distanz, die der Feldherr zu seinen Truppen hielt, deren elementares Gemetzel er inszenierte: eine Distanz, die Kant nicht zu befragen scheint, wenn er den Krieger umstandslos mit dem Feldherrn identifiziert. Ambivalent bleibt also der Begriff des Opfers. Stets muß, um die Anmaßung der Einbildungskraft opfern zu können, ein Opfer gebracht werden, das vergessen worden sein muß, um eine ästhetische Gemeinschaft postulieren zu können, die ihre Einbildungskraft opfert. Stets muß, um gewärtigen zu können, was das Maß jeder Inszenierung sprengt, schon eine Szene errichtet gewesen sein, in der „das Gemüt in sich auf die Stimme der Vernunft" hören könnte. 1 4 Anders formuliert, entspringt Kants Stimme der Vernunft einer ursprünglichen Differenz, die das „Ich opfere" aus der Unvordenklichkeit des Opfers auf sich zukommen läßt und in solcher Zukunft eine Distanz errichtet, die die Möglichkeit der ästhetischen Gemeinschaft eröffnet. Sie erhebt sich also über dem ursprünglichen Vergessen eines Opfers, dessen sich das autonome „Ich" nie inne war und deshalb auch nie wird erinnern können. Die Stimme der Vernunft würde so eine Gemeinschaft be-stimmen, die sich nur um den Preis dieses ursprünglichen Vergessens ins Werk setzen ließe; eines Vergessens, das ihr die Sicherheit in einer Kontinuität der Zeit gewährt, die das Opfer undarstellbar macht und den Augenblick des Opfers auf Distanz hält. 1 5 Wenn also im Gefolge jener Diskussion, die Lyotards Rekurs auf den Begriff des Erhabenen auslöste, auf eine Differenz zwischen den erhabenen Insignien der Macht und jener Erschütterung der Einbildungskraft verwiesen wird, die an das moralische Gesetz in uns mahne, so findet dieser Hinweis seine Notwendigkeit nicht erst „nach Auschwitz", sondern bereits in der Kantschen Konstruk-
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Ebd., S. 176. Diese Entnäherung des Nahen, die das Projekt der (auch ästhetischen) Gemeinschaft an diesem Punkt durchlaufen muß, in die Problematik einer „undarstellbaren Gemeinschaft" überführt zu haben, gehört zu den großen Verdiensten Jean-Luc Nancys; in seiner Auseinandersetzung mit Georges Bataille heißt es deshalb: „Zur Verachtung jedoch, die Bataille alsbald für die Niedrigkeit der faschistischen Rädelsführer und ihrer Gepflogenheiten empfand, kam die Erfahrung, daß jene Sehnsucht nach einem In-Eins-Sein zugleich dem Wunsch nach einem Todeswerk entsprach. Wie man weiß, war er von der Idee besessen, das Schicksal der geheimen Gemeinschaft von Acéphale müsse mit einem Menschenopfer besiegelt werden. Er hatte sicher da bereits begriffen, daß, wie er später schrieb, die Wahrheit des Sakrifizium letztlich den Selbstmord des
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tion selbst. Jene Distanz, jene Sicherheit, die bei Kant Voraussetzung des Erhabenen ist, verbirgt ja nicht in erster Linie das sozusagen soziologische Problem, das ich in der Metapher eines Herrenrechts der Feldherren andeutete. Näher noch tut sich die Frage nach der Zeit auf, nach jenem „Zu früh" und jenem „Zu spät", die den Augenblick differieren lassen müssen, „bevor" sich eine Präsenz des Erhabenen als Darstellung des Undarstellbaren in ihm suggerieren kann. Es ist jene Zeit, deren Beherrschung mich hat wissen lassen, in Sicherheit zu sein, wie Kant über den Zuschauer schreibt. Welche Zeit aber; und welches Wissen? Soweit ich sehe, bewegt sich meine Frage damit auf einen äußerst prekären Punkt zu. Sie wird sich nämlich auf die Vermutung stützen müssen, daß diese Zeit stets schon beherrscht sein muß, um ein Wissen um Sicherheit produziert haben zu können. Zeit einer Aneignung, Zeit einer téchne, die das Elementarische unterworfen haben muß, um es als „erhaben" gewärtigen zu können, handelt es sich um die Zeit des Selben, die sich reserviert hat. Sie läßt das Erhabene — Zeit des Andern — im Gefüge dieser reservierten Selbstsicherheit vergessen oder immer erst später einbrechen: Das kann sie sich aus der Reserve gleichsam leisten. Jene Phantasmatik eines Ursprungs der Stimme, der „an sich selbst in uns hinreichend und ursprünglich bestimmend" sei, mich in sicherer Distanz vom Opfer hält und noch in der Aufopferung der Einbildungskraft er-hält, ginge so aus der téchne eines Vergessens der Differenz hervor, das Reserven stets schon anlegt. Technisches Vergessen also noch „vor" einem Vergessen, das „sodann" in der Erinnerung seinen dialektischen Widerpart finden könnte. Darin besteht auch das Drama, das Kants Analytik des Erhabenen beschreibt. Es wiederholt einen Widerstreit der Zeit, der sich im Unvordenklichen anzeigt, um ihn im „erhabenen Augenblick" schlichten zu können. Denn es will den Augenblick jener Erschütterung, die sich im Erhabenen mitteilt, im Gefüge einer sukzessiven Zeitreihe als undarstellbar darstellen, aber doch darstellen. Ist die Zeitreihe der Anschauung eine „objektive Bewegung in der Einbildung und ein Progressus", so kontrastiert Kant dies mit einem Phantasma der Präsenz:
Opferpriesters verlangt. Durch den Tod könnte dieser sich mit dem Sein des Opfers vereinen, das in das blutige Geheimnis des gemeinsamen Lebens eingedrungen ist. Er begriff so auch, daß diese eigentlich göttliche Wahrheit — die Wahrheit des Todes in seinem Wirken und als Auferstehung — nicht die Wahrheit der Gemeinschaft der endlichen Wesen darstellt, sondern einen vielmehr in das Unendliche der Immanenz stößt. Doch trifft man nicht auf das Grauen, es ist noch jenseits des Grauens, es ist die völlige Absurdität — sozusagen die fatale Torheit — des Todeswerkes des Todes, wenn man es als das Werk des gemeinsamen Lebens betrachtet." 0ean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 42.) Die Frage, die sich hier aufdrängt, würde lauten: Kündigt sich in der Problematik des Opfers, das die Ästhetik des Erhabenen durchläuft, nicht früh schon die Möglichkeit dieses Grauens an?
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„die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Sukzessiv-aufgefaßten in einen Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt, und das Zugleicbsein anschaulich macht. Sie ist also (da die Zeitfolge eine Bedingung des innern Sinnes und einer Anschauung ist) eine subjektive Bewegung der Einbildungskraft, wodurch sie dem innern Sinne Gewalt antut, die desto merklicher sein muß, je größer das Quantum ist, welches die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammenfaßt." 16 Kants Konstruktion des Erhabenen soll also in technischen Kategorien einer zeitlichen Sukzession und einer zeitlosen Zusammenfassung ihrer Quanten die Negativität dessen wahren, was nicht Korrelat einer Positivität oder Anschauung sein kann. Die Technik dieser progressiven Akkumulation und ihr kalkulierter Absturz in die uneinholbare Regression des „Zugleichseins" zeitigt sich um so erschütternder, je größere Quanten sie „zuvor" akkumulierte. Téchne der Zeit: Beherrschung jenes irreduziblen „Zuvor" also, das nie Gegenwart war, und Kontrolle einer Gewalt, die sich in der Wiederholung dieser ursprünglichen Differenz als „Zugleich" simuliert, entlädt, wiederholt. Eine Wiederholung, Simulation und Entladung jedoch, die sich nur im Szenario des Erhabenen entlädt und wiederholt, in einer Darstellung oder Repräsentation also: Tilgung jener Differenz, die sich schon in der unaufhebbaren Differenz des „Opfers" anzeigte. Sollte sich also erweisen, daß das Erhabene nur im Ausgang von einer téchne der Zeit sich ereignen kann, so ließe sich auch jener Ubergang vom Ereignis des Erhabenen (in der Natur) zur Inszenierung des Erhabenen (in einer Kultur des Kriegs etwa) rekonstruieren, der sich Kants Reflexion unabweisbar aufnötigte. Fundiert in dieser téchne der Zeit, würde sie bedeuten, daß die Differenz immer schon getilgt sein muß, um das Erhabene gewärtigen zu können, und daß selbst noch die Differenz von Natur und Kultur von dieser Tilgung ihren Ausgang nimmt. Einer Tilgung, die das Erhabene in die letzthin terroristische Inszenierung entlassen wird, deren Vollzug das Entsetzlichste ist, weil sie in die Vernichtung allen Gedenkens an das Unvordenkliche selbst übergehen wird. Daraus scheint sich die Behutsamkeit zu erklären, mit der Adornos Ästhetische Theorie darauf insistierte, das Ereignis zu wahren und nicht den Versuch seiner Inszenierung statthaben zu lassen: „Etwas an Kants Konstruktion des Erhabenen widersteht dem Einwand, er hätte es bloß darum dem Naturgefühl reserviert, weil er große subjektive Kunst noch nicht erfahren habe. Bewußtlos drückt seine Lehre aus, das Erhabene sei mit dem Scheincharakter der Kunst nicht vereinbar; ähnlich vielleicht wie Haydn auf Beethoven reagierte, den er den Großmogul nannte. Als die bürgerliche Kunst nach dem Erhabenen die
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Kant, a.a.O., S. 182.
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Hand ausstreckte und dadurch zu sich selbst kam, war ihr bereits die Bewegung des Erhabenen auf seine Negation hin einbeschrieben."17 „Negation des Erhabenen", gleichwohl eine dialektische Kategorie. Sie müßte auf jenen spekulativen Zug hin befragt werden, in dem Adorno erste Natur von zweiter noch zu unterscheiden suchte, und zwar, um im falschen Ganzen trotz alledem eine Widerstandslinie in jenen negativen Horizont von Versöhnung einzuschreiben, ohne den das Denken in pure Verzweiflung stürzen würde. Adornos Betonung jenes Moments in Kants Analytik des Erhabenen, das ihren undarstellbaren Gegenstand der Natur reserviert, ist einerseits also offenkundig widerständisch. Als Reserve, als ökonomische Kategorie aber verdankt sie sich andererseits selbst noch — so meine Vermutung — einer téchne der Zeit, die das Ereignis auch im Modus des Erhabenen nur in jener Raum-Zeit sich ereignen lassen kann, die sie als sichere Distanz des Selben zuvor hergestellt und vorbereitet hat. Kant, schreibt Adorno, hat „reserviert" ; aber deshalb war das Bilderverbot durchkreuzt schon im erhabenen Naturgefühl, auf das sich Adorno zurückziehen möchte. Das Problem, das sich also abzeichnet und die Frage vorbereitet, die ich an Jean-François Lyotard richten möchte, läßt sich deshalb von zwei Seiten her formulieren. Einerseits wird Lyotards Anmerkung gefolgt werden müssen, Adornos Lektüre der Kantschen Vermögen lasse an einigen Stellen jene Härte vermissen, in der sich das Schöne vom Erhabenen absetze.18 Andererseits stellt sich die Frage nach jener téchne der Zeit, jener Bildung von Reserve und Sinn, aus der die Kantsche Kategorie des „Erhabenen" selbst erst denk-möglich wird. Ist nicht auch sie — wie rudimentär immer — in eine Logik der Produktion eingelassen, die Lyotard in Hegels Text zuvor rekonstruierbar hatte werden lassen? Einerseits mag also Adornos Rede von einer Differenz erster und zweiter Natur, die dies reflektiert, noch allzu spekulativ in jenen — wenn auch negativen — Horizont von Versöhnung eingeschrieben sein, den zu wahren ihn die „Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes" 19 verhält. Andererseits bliebe gleichwohl auch ein Begriff des Erhabenen zu befragen, der sich im Anschluß an Kant der spezifischen téchne, den technischen Reserven von Distanz und Sicherheit als Voraussetzungen des Erhabenen, der „ursprünglichen Differenz des Opfers" nicht mehr öffnen wollte. „Reflektierte Menschen", so schreibt Adorno in jenen Meditationen der Negativen Dialektik, die „Nach Auschwitz" überschrieben sind,20 „und Künstler,
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Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 295 f. Vgl. Lyotard, Heidegger, a.a.O., S. 57. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 400. Ebd., S. 356.
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haben nicht selten ein Gefühl des nicht ganz Dabeiseins, nicht Mitspielens aufgezeichnet; als ob sie gar nicht sie selber wären, sondern eine Art Zuschauer. [...] Das Unmenschliche daran, die Fähigkeit, im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben, ist am Ende eben das Humane, dessen Ideologen dagegen sich sträuben. Nicht entrât es aller Plausibilität, daß jenes Teil, das so sich verhält, das unsterbliche sei." Was aber, wenn meine Möglichkeit, mich zu distanzieren, von jener Schuld nicht mehr ablösbar wäre, die darin besteht, vom Gesetz der SS immer schon freigesprochen gewesen zu sein ? Wenn diese Schuld darin bestünde, meine beschauliche Distanz dem Gesetz der Täter zu verdanken, das ein „Wir" unwiderruflich zerstörte ? Wenn diese Schuld, die sich deshalb in keiner Gemeinsamkeit eines „Wir" mehr feststellen ließe, aus diesem Grund des Fehlens eines jeden Grundes auch unabtragbar wäre ? Wenn also jeder Versuch, sie zu tilgen und, wie Lyotard sagt, Zeugnis vom Entsetzlichsten abzulegen, nur noch die Unabtragbarkeit der Schuld bezeugen könnte ? Vom Erhabenen wäre dann in dessen Kantischer Prägung nicht mehr zu sprechen. Setzt es doch immer, wie Kant schreibt, „schon ein anderes Gefühl, nämlich das seiner übersinnlichen Bestimmung voraus : welches, so dunkel es auch sein mag, eine moralische Grundlage hat" ; 2 1 setzt es doch ein „Wir" voraus. Nicht mehr das Gesetz könnte dann als moralische Grundlage in Erinnerung gebracht werden, sondern nur noch, daß es gebrochen wurde. Kants Voraussetzung wäre in jene Leere ausgesetzt, die der Bruch des Gesetzes unwiderruflich hinterließ. Und dieser Versuch einer Erinnerung daran, daß das Gesetz gebrochen und das Vergessen vergessen wurde, müßte zugleich, wie in einem katatonischen Absturz des Denkens, der Kategorie des Erhabenen jene Spur der Distanz entziehen, in der Kant wie auch Lyotard der ästhetischen Gemeinschaft Sicherheit gewährten. Auflösung der Reserve also: Dieser äußerste Versuch einer Erinnerung als einer Entäußerung würde — wie in einer letzten Anstrengung — den Zusammenbruch der Einbildungskraft, der sich im Erhabenen bedeutete, noch gegen die Konstruktion des Erhabenen selbst kehren: Aufopferung dieser téchne der Aufopferung. Kann also die Kategorie des Erhabenen, die Adorno wie auch Lyotard in die Frage des Ästhetischen „nach Auschwitz" einbrechen lassen, nur noch als Chiffre für etwas gelesen werden, das sich der Kategorie wie einer Matrix bedient, aber nur, um an etwas erinnern zu können, das einer Erinnerung auch im „Erhabenen" nicht zugänglich ist und nie zugänglich war? Jener Kindheit vielleicht, die doch gerade aller Sicherheit einer Distanz entbehrt, welche die Sprache noch zu bieten schien ? Einer Kindheit, die das Ausgesetzt-Sein „selbst" wäre ? Einer Kindheit, die deshalb aber auch sprachlos, weder des Spiels der Einbildungskraft noch ihrer Aufopferung fähig wäre?
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Kant, a.a.O., S. 223.
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Sollte sich am Horizont der Frage, vor die Lyotard uns mit Adorno stellt, diese Exposition einer Sprachlosigkeit abzeichnen, die selbst noch das Erhabene verausgabt, so gälte gegen den Versuch, es trotz alledem kategorial festzuhalten, jenes Verdikt, mit dem Lyotard seinen Aufsatz Nach dem Erhabenen, Zustand der Ästhetik ausklingen ließ: „So betrachtet wird die Theorie, die ästhetische Theorie als der Versuch erschienen sein, mit dem der Geist sich der Wörter, der Materie, die diese bilden, und schließlich der Materie schlechthin zu entledigen sucht. Glücklicherweise hat dieser Versuch keinerlei Aussicht auf Erfolg. Der Sache entledigt man sich nicht. Immer vergessen, ist sie unvergeßlich."22 Die Frage, die ich an Jean-François Lyotard richten wollte, läßt sich damit formulieren. Denn lautet der geheime, unablösbare Doppelgänger seines Satzes über das Erhabene nicht auch: immer entschuldet, ist es unentschuldbar?
22
Jean-François Lyotard, Das Inhumane,
Wien 1989, S. 244.
Personenregister Die kursiven Seitenzahlen verweisen auf die Anmerkungen
Adami, Valerio 8 Adorno, Theodor W. 11, 16, 22, 23, 43, 45-60, 63-67, 78, 103, 161, 162, 163, 179, 191, 204-206, 208, 213, 215 Allen, Woody 175 Apel, Karl-Otto 21, 180, 182, 183, 198, 199 Appel, Karel 139 Arakawa, Shusaku 8 Arendt, Hannah 38, 39 Aristoteles 21, 81, 180, 183, 184, 186 Arnim, Achim von 112, 113, 114, 116, 121 August, Jochen 205 Ayer, Alfred J. 175 Bacon, Francis 83 Barthes, Roland 134 Baruchello, Gianfranco 139 Bataille, Georges 210 Bateson, Gregory 178 Baudelaire, Charles 52, 58, 194 Baudrillard, Jean 1 Baudson, Michel 8 Baumgarten, Alexander Gottlieb 67, 68 Baxandall, Michael 132 Beck, Ulrich 75 Beckett, Samuel 21, 49, 58, 65, 172 Beethoven, Ludwig van 212 Bellosi, Luciano 132 Benhabib, Seyla 192 Benjamin, Walter 130, 134, 138, 139, 194 Bergson, Henri 20, 170, 172
Beuys, Joseph 136, 141 Bezzel, Chris 187 Blanchot, Maurice 150 Blumenberg, Hans 1 Blumröder, Christoph von 104 Bochenski, Joseph Maria 185 Boethius 73 Börsch-Supan, Helmut 112, 114, 118, 120, 121, 122 Boulez, Pierre 17, 92-94, 96, 97, 99, 103 Bouliane, Denys 65 Brecht, George 178 Brentano, Clemens 18, 112, 113, 114, 115-117, 119-125 Brinkmann, Bodo 112 Brötje, Michael 121 Buñuel, Luis 84, 86 Burckhardt, Jacob 134 Burckhardt, Martin 137 Buren, Daniel 8, 139 Bürger, Christa 158 Bürger, Peter 158 Burke, Peter 110, 126, 132, 159, 160 Bussotti, Silvano 100 Cage, John 17, 18, 91-94, 96, 97, 99-101, 103, 104 Cassirer, Ernst 124 Cézanne, Paul 200 Char, René 21, 173 Charles, Daniel 97 Chastel, André 132 Cicero 170 Colli, Giorgio 5
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Personenregister
Dahlhaus, Carl 92, 93, 104 Danuser, Hermann 17, 18, 91-105 Davoine, Françoise 92 Debussy, Claude 65 Dennett, Daniel 178 Derrida, Jacques 1, 19, 62, 144, 146, 168, 169, 206 Descartes, René 20, 167, 172 Dewitz, Hans-Georg 114 Diderot, Denis 111, 113, 116 Diogenes Laertius 181, 183 Dostojewski, Fjodor M. 200 Dubost, Jean-Pierre 43 Dubufett, Jean 84 Duchamp, Marcel 8, 17, 19, 84, 135-137, 139 Du ve, Thierry de 137 Eco, Umberto 141 Eggebrecht, Hans Heinrich 97, 104 Eimer, Gerhard 125 Enzensberger, Hans Magnus 72, 103 Epimenides 184 Eubulides 21, 180-182, 184, 186 Eukleides von Megara 181 Export, Valie 84 Falletta, Nicholas 178 Faßbinder, Rainer Werner 194, 195 Feldman, Morton 100 Feyerabend, Paul 1, 3, 7 Fichte, Johann Gottlieb 124 Fleming, John 133 Foucault, Michel 81, 166 Frampton, Kenneth 133 Francastel, Pierre 132 Franck, Georg 138 Frank, Manfred 179, 185, 200 Freud, Sigmund 29, 39 Fricke, Gerhard 79 Friedrich, Caspar David 18, 52, 107, 112-114, 116, 118-120, 122-126 Fros, Aloizy 205 Früchtl, Josef 21, 22, 191-201, 192, 198 Gadamer, Hans-Georg 61 Gardner, Martin 178
Gardner, Richard 97 Gegenschatz, Ernst 73 Geier, Manfred 21, 177-189, 180 Gethmann-Siefert, Annemarie 198 Giedion, Siegfried 133 Gigon, Olof 73 Goethe, Johann Wolfgang von 146, 165, 173 Gombrich, Ernst 132, 133 Goodman, Nelson 1, 3 Göpfert, Herbert G. 79 Gora, Tom 97 Gorn, Samuel 177 Goya, Francisco de 131 Griffiths, Paul 96 Grünzweig, Werner 100 Gumbrecht, Hans Ulrich 129 Günther, Gotthard 140 Habermas, Jürgen 21, 50, 54, 61, 105, 179, 180, 182, 183, 191-195, 197, 200, 201 Hamann, Richard 132, 134 Haug, Wolfgang Fritz 75 Haydn, Joseph 212 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 64, 65, 73, 179, 207, 209, 213 Heidegger, Martin 58, 60, 62, 123, 141, 200 Heister, Hanns-Werner 92 Heller, Martin 135 Heraklit 165 Herding, Klaus 132 Hinz, Sigrid 118 Hofstadter, Douglas 178 Hölderlin, Friedrich 64 Hommel, Friedrich 105 Honneth, Axel 192, 198 Honour, Hugh 133 Horkheimer, Max 103 Huber, Jörg 135 Hübner, Kurt 93 Hughes, Patrick 178 Husserl, Edmund 170, 172 Huyssen, Andreas 192 Innozenz X. 83
Personenregister Jamme, Christoph 79 Janson, Horst W. 133 Jean Paul 115 Jencks, Charles 13, 14 Joas, Hans 192 Jost, Ekkehard 104 Kafka, Franz 15, 16, 19, 27, 29, 31, 34, 38, 41, 143, 147, 149-152 Kagel, Mauricio 100 Kamper, Dietmar 1 Kant, Immanuel 3, 12, 20, 22, 30, 39, 46, 47-49, 51-53, 57-60, 62, 71, 81, 107-111, 115, 117-119, 124, 126, 155-164, 174, 196, 197, 203, 207-214 Kaplan, F. 167 Kapp, Reinhard 104 Karbe, Marianne 104 Kienle, Eberhard 96 Klee, Paul 86 Kleist, Heinrich von 18, 112, 113, 114, 122-127 Knackfuss, D. 134 Koetter, Fred 133 Kofman, Sarah 109, 111 Kopfermann, Michael 104 Kranz, Jutta 96 Kuhn, Thomas S. 7 Kurz, Gerhard 112, 118 Kutter, Markus 134 Lacan, Jacques 166 Laing, Ronald D. 178 Lang, Jack 75 Langer, Michael 134 Lecaldano, Paolo 134 Leibniz, Gottfried Wilhelm 72, 170 Lenger, Hans-Joachim 15, 22, 203-215 Leonardo da Vinci 71 Leopardi, Giacomo 21, 174, 175 Lessing, Karl Friedrich 121 Lévinas, Emmanuel 172 Ligeti, György 65 Lindner, Ines 84 Lüders, Detlev 115 Luhmann, Niklas 129, 140
219
Lyotard, Jean-François 1, 8-11, 13-23, 21, 27-43, 47, 57, 82, 91, 96, 101, 104, 107-109, 111-113, 122, 129, 137, 139-141, 155, 157, 158-160, 162-165, 170-175, 177-180, 183, 185-187, 191, 192, 194-196, 198-201, 203, 204, 206, 207, 208, 210, 213-215 McTaggart, John McTaggart Allis 175 Maderna, Bruno 92 Magritte, René 194 Mallarmé, Stéphane 97 Malraux, André 130, 131 Maria, Walter de 86 Marquard, Odo 1, 69 Martens, Ekkehard 110 Marx, Karl 207, 208 Masaccio 18, 131-133 Mathy, Dietrich 108 McAllister, James W. 6 Medicus, Fritz 124 Menke-Eggers, Christoph 62 Merleau-Ponty, Maurice 20, 170, 172 Messiaen, Olivier 65 Meyer, Peter 132 Michelangelo Buonarotti 133 Miller, Philip B. 112 Mitscherlich, Alexander 39 Mittenzwei, Ingrid 115 Montaigne, Michel 20, 165-167, 169-171, 174, 175 Montinari, Mazzino 5 Nancy, Jean-Luc 19, 144, 150, 210, 211 Napoleon Bonaparte 48 Nattiez, Jean-Jacques 92, 94 Newman, Barnett 8, 113, 139, 157, 172 Niemöller, Klaus-Wolfgang 101 Nietzsche, Friedrich 3, 5, 6, 58-60, 64, 174 Nono, Luigi 92, 100 Oehler, Klaus 132 Oesch, Hans 92 Ost, Hans 123
220
Personenregister
Paetzold, Heinz 67 Panofsky, Erwin 131, 133 Parmenides 182 Pascal, Blaise 20, 167-171, 174 Paulus Venetus 185 Paz, Octavio 137 Perrig, Alexander 132 Pfeiffer, K. Ludwig 129 Picht, Georg 136 Piencikowski, Robert 92 Piaton 67, 79, 170, 191 Pollock, Jackson 113 Posenenske, Charlotte 135, 136 Postman, Neil 135 Pousseur, Henri 92 Pries, Christine 1-23, 8, 20, 47, 107, 155-164, 163 Raabe, Paul 31, 147 RänschTrill, Barbara 112 Rat, M. 166 Reck, Hans Ulrich 18, 19, 77, 129-142, 130, 131, 134-136 Reese-Schäfer, Walter 171, 200 Rembrandt 131 Richards, Angela 39 Richter, Gerhard 136 Roddier, H. 169 Rorty, Richard 1, 3, 86 Rosenblum, Robert 113 Rosset, Clement 166 Rothko, Mark 113 Rötzer, Florian 199 Rousseau, Jean-Jacques 19, 20, 110, 144-146, 151, 169, 170 Rowe, Colin 133 Rubens, Peter Paul 131 Runge, Philipp Otto 115 Sartre, Jean-Paul 20, 170, 172 Schaeffer, Pierre 94 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 18, 114, 115, 179 Scherpe, Klaus R. 192 Schiller, Friedrich 79, 107, 108, 126 Schlechta, Karl 58 Schlegel, Friedrich I I I
Schleiermacher, Friedrich 121, 179 Schmidt, Winfried 112 Schnädelbach, Herbert 110, 192 Schnebel, Dieter 93, 100 Schneider, Helmut 79 Schönberg, Arnold 93 Schroeder, Marianne 100 Schubert, Gotthilf Heinrich 123 Schumann, Clara 2 Schwab, Gabriele 49 Seel, Martin 193, 198, 201 Seiner, Walter 81 Sembdner, Helmut 114, 126 Sextus Empiricus 165 Sloterdijk, Peter 1 Slutzky, Robert 133 Smullyan, Raymond 177, 178 Sokrates 185 Stacey, Peter 99 Stauffer, Serge 84 Steinecke, Wolfgang 97 Steinhauser, Monika 52 Stern, Dietrich 92 Stockhausen, Karlheinz 17, 92-94, 99, 100, 103 Strachey, James 39 Strauß, Botho 87, 194 Strawinsky, Igor 65 Struck, Peter 124 Sykora, Katharina 84 Taureck, Bernhard H. F. 20, 21, 165-175, 169, 171, 200 Thomas, Ernst 105 Tieck, Ludwig 124 Tönnies, Ferdinand 143 Tournier, Michel 21, 165, 174, 175 Traeger, Jörg 112 Trunz, Erich 146 Tudor, David 92, 99, 101 Valéry, Paul 86, 174 Varela, Francisco 179 Varese, Edgard 94 Vasari, Giorgio 130 Velazquez, Diego 83
Personenregister Vernet, Claude Joseph 111 Villon, François 20, 165, 167, 169 Vogl, Joseph 19,143-152 Vordtriede, Werner 121 Vuillemin, Jules 93 Wagner, Richard 79 Watson, James D. 6 Watzlawick, Paul 178, 179 Weber, Max 103, 143 Weischedel, Wilhelm 107, 209
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Weiss, Peter 198 Wellmer, Albrecht 16, 45-66, 48, 50, 101, 198 Welsch, Wolfgang 1-23, 13, 16, 17, 47, 67-87, 101, 163, 164, 199, 200, 201 Wittgenstein, Ludwig 21, 60, 61, 68, 78, 83, 123, 177, 187, 188, 189 Wolf, Reinhart 194 Zenon 21, 179, 182 Zimmermann, Jörg 15, 18, 107-127
Kurzbiographien der Autoren Hermann Danuser, geb. 1946, Ordinarius für Musikwissenschaft an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i.Br. Veröffentlichungen: Die Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber 1984; Gustav Mahler: Das Lied von der Erde, München 1985; Gustav Mahler und seine Zeit, Laaber 1991; (Hrsg. u.a.) Gattungen der Musik und ihre Klassiker, Laaber 1988; (Hrsg. u.a.) Sowjetische Musik im Licht der Perestroika, Laaber 1990; (Hrsg. u.a.) Sergej Prokofjew, Laaber 1990; (Hrsg. u.a.) Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, Laaber 1991. Josef Früchtl, geb. 1954, Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Frankfurt/M. Veröffentlichungen: Mimesis — Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg 1986; (Hrsg. zusammen mit Marina Calloni) Geist wider den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, Frankfurt/M. 1990. Manfred Geier, geb. 1943, api. Prof. Dr. phil., seit 1982 Lehrtätigkeit an der Universität Hannover, Fachgebiet: Theoretische Linguistik. Veröffentlichungen: Linguistischer Strukturalismus als Sprachkompetenztheorie, Marburg 1973; Kulturhistorische Sprachanalysen, Köln 1979; Methoden der Sprachund Literaturwissenschaft, München 1983; Doktor Ubu und ich, RheinbachMerzbach 1983; Die Schrift und die Tradition, München 1985; Linguistische Analyse und literarische Praxis, Tübingen 1986; Das Sprachspiel der Philosophen, Reinbek 1989. Hans-Joachim Lenger, geb. 1952, Prof., Lehrbeauftragter für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg; verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Spuren. Jean-François Lyotard, geb. 1924, lehrt Philosophie an der Universität Irvine (Kalifornien). Veröffentlichungen: La phénoménologie, Paris 1954; Discours, figure, Paris 1971; Ökonomie des Wunsches, Bremen 1984; Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986; Das postmoderne Wissen, Graz —Wien 1986; Que peindre? Adami, Arakawa, Buren, Paris 1987; Die TRANSformatoren DUCHAMP, Stuttgart 1987; Der Widerstreit, München 1987; Postmoderne für Kinder, Wien 1987; Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988; Heidegger und ,die Juden', Wien 1988; Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989; Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989.
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Kurzbiographie der Autoren
Christine Pries, geb. 1961, Studium der Philosophie und Germanistik in Hamburg, Tübingen und Paris, Wissenschaftspublizistin, Lyotard-Ubersetzerin, arbeitet derzeit in Berlin an einer philosophischen Dissertation zum Erhabenen bei Kant und Lyotard. Veröffentlichungen: (Hrsg.) Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989; mehrere Aufsätze zum Thema. Hans Ulrich Reck, geb. 1953, Dr. phil., Philosoph und Kunstwissenschaftler, Dozent für Kunstgeschichte, visuelle Kommunikation, Architektur und Design an der Höheren Schule für Gestaltung Basel. Veröffentlichungen: Grenzziehungen. Ästhetiken in aktuellen Kulturtheorien, Würzburg 1991; (Hrsg.) Kanalarbeit. Medienstrategien im Kulturwandel, Frankfurt/M. 1988; (Hrsg. zusammen mit Bazon Brock) Stilwandel, Köln 1986; (Hrsg. u. a.) Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen, Frankfurt/M. 1989. Bernhard H. F. Taureck, Privatdozent für Philosophie an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Französische Philosophie im 20. Jahrhundert, Reinbek 1988; Philosophie und Metaphilosophie. Studien zwischen Antike und (Postmoderne, Cuxhaven 1989; Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie und ihre Folgen, Hamburg 1989; (Hrsg. zusammen mit W. ReeseSchäfer) Jean-François Lyotard, Cuxhaven 1989; (Hrsg.) Philosophie und Psychoanalyse: Lacan in der Diskussion, Frankfurt/M. 1991. Joseph Vogl, geb. 1957, Studium der Neueren deutschen Literatur, Philosophie, Linguistik und Geschichte in München und Paris. Veröffentlichungen: (Hrsg., zusammen mit Th. Anz) Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918, München 1982; Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik (im Druck). Albrecht Wellmer, geb. 1933, Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Zur Dialektik von Moderne undPostmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1985; Ethik und Dialog, Frankfurt/M. 1986; Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt/M. 1991; (Hrsg. zusammen mit A. Honneth) Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin 1986; (Hrsg. u.a.) Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989.
Kurzbiographie der Autoren
225
Wolfgang Welsch, geb. 1946, Professor für Philosophie an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987; Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, 3 1991; Postmoderne — Pluralität als ethischer und politischer Wert, Köln 1988; Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990; La terra e l'opera d'arte, Ferrara 1991 ; La condition esthétique de la postmodernité et l'avenir de la création, Paris 1991; (Hrsg.) Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988. Jörg Zimmermann, geb. 1946, Professor für Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft im Fachbereich Kunst und Design der Fachhochschule Hannover, Privatdozent für Philosophie an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1975; Sprachanalytische Ästhetik, Stuttgart 1980; Francis Bacon: Kreuzigung, Frankfurt/M. 21987; (Hrsg.) Sprache und Welterfahrung, München 1978; (Hrsg.) Das Naturbild des Menschen, München 1982; (Hrsg.) Lichtenberg — Streifzüge der Phantasie, Hamburg 1988.