109 99 1MB
German Pages 296 S [483] Year 2016
Roland Lange
Stöberhai Harz Krimi
Prolibris Verlag
Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2016 Tel.: 0561/7 66 44 9 – 0, Fax: 0561/7 66 44 9 – 29 Umschlagfoto: © dk-fotowelt, Fotolia E-Book: Prolibris Verlag ISBN »E-Book«: 978-3-95475-137-2 Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich. ISBN: 978-3-95475-127-3 www.prolibris-verlag.de www.facebook.de/Prolibris
Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog Donnerstag, 16. August 1990, 23 Uhr Bis zum Sperrgebiet waren es drei Kilometer. Vor knapp einer halben Stunde war der Mann aufgebrochen. Mit seinem Fahrrad und dem kleinen Anhänger war er über Feldwege hierhergefahren. Hatte sich mitsamt seinem Gefährt durch die Sträucher gezwängt, die das Gebiet umgrenzten. Wie letzte Nacht und schon viele Nächte davor. Es war ein gottverlassenes Fleckchen Erde, das sich vor ihm ausbreitete. Einen Zaun oder andere Absperrmaßnahmen gab es nicht. Der sowjetische Truppenübungsplatz in der Döberitzer Heide umfasste ein riesiges Areal, das an wenigen Stellen halbwegs gut gesichert war. Der Zutritt sollte meist nur mit Schildern am Wegrand verwehrt werden, das war’s. Hier, in seinem Revier, gab es seit fast zehn Jahren keine militärischen Aktivitäten mehr. Die Natur hatte längst verloren gegangenes Terrain zurückerobert und ein Paradies für Rot- und Rehwild, für Hase, Kaninchen, Fuchs, Dachs und Marder geschaffen. Gut für den Mann, denn der nahezu unerschöpfliche Wildreichtum sicherte ihm einen Nebenverdienst, der ihm half, zusammen mit seiner kargen Frührente einigermaßen über die Runden zu kommen. Seine Abnehmer waren
verschwiegen und zahlten recht ordentlich für Pelze und frisches Wildbret. In Gedanken versunken, aber mit festem Schritt, schob der Mann das Rad mit dem Anhänger neben sich her. Aufsitzen und fahren konnte er in diesem unwegsamen Gelände nicht. Keine zehn Minuten mehr, dann würde er die ersten seiner Fallen erreichen. Zielsicher steuerte er darauf zu. Trotz der Dunkelheit. Er brauchte kein Licht zur Orientierung. Er hätte den Weg auch mit geschlossenen Augen gefunden, so oft war er ihn schon gegangen. Es würde Regen geben. Schon bald. Er konnte es riechen. Ein Aufblitzen ließ den Mann in der Bewegung innehalten. Er fuhr herum und blickte in die Richtung, in der er den Lichtpunkt wahrgenommen hatte. Das kurze Aufleuchten wiederholte sich. Einmal, zweimal, dreimal, in regelmäßiger, schneller Abfolge. Wie ein … Ein Signal? Klar und deutlich war es dort hinten vor der schwarzen gezackten Baumkulisse unter dem wolkenverhangenen Nachthimmel zu erkennen. Es war ein Signal! Er begriff es in dem Moment, als das Blinken gleich darauf rechts, ein gehöriges Stück abseits der ersten Lichtquelle, beantwortet wurde. Erneut leuchtete es viermal schnell hintereinander auf. Dann blieb es dunkel. Dafür nahm er ein Geräusch wahr, das der schwache Wind zu ihm hinübertrug. Ganz leise
erst, wurde es von Sekunde zu Sekunde kräftiger, schwoll an und wieder ab, und das anfangs diffuse Brummen wandelte sich allmählich zum Motorengeräusch. Der Dieselmotor eines Lkws, das erkannte der Mann auch über die Entfernung hinweg. Und dieser Lkw rumpelte mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch die Finsternis. Der Mann schob sein Fahrrad hinüber zu einer dürren, windschiefen Birke und lehnte es gegen den Stamm des Baumes. Dann hob er das teure, lichtempfindliche Fernglas, ein Relikt aus besseren Zeiten, das ihm vor der Brust baumelte, an seine Augen und suchte nach der Stelle, wo er das erste Signal wahrgenommen hatte. Kurz darauf kam die Silhouette eines breiten, kastenförmigen Lastwagens in sein Blickfeld. Es war ein Armeelaster, so viel stand für ihn angesichts mehrerer offenkundiger Details sofort fest. Er hatte lange genug mit militärischem Gerät zu tun gehabt, um zu wissen, was er sah. Der Lkw, der sich einige Augenblicke später von links näherte, war ebenfalls kein ziviles Fahrzeug. Der Mann ahnte, dass diejenigen, die einander dort drüben in der Senke begegneten, etwas Illegales im Sinn haben mussten. Unter normalen Umständen hätte er sich vermutlich nichts dabei gedacht, auf einem Truppenübungsplatz Armeefahrzeuge zu entdecken. Aber das waren keine normalen Umstände. Nicht in dieser Einöde, aus der sich
die Sowjets längst zurückgezogen hatten. Einen Moment zögerte der Mann, dann lief er los. Nahezu lautlos bahnte er sich seinen Weg über den von alten Fahrspuren, Buckeln und kleinen, tückischen Mulden übersäten Untergrund. Seine Schritte wurden vom weichen, grasbedeckten Sandboden gedämpft. Er huschte zwischen Ginstersträuchern, verkrüppelten Stieleichen, Birken und pilzbefallenem Totholz hindurch auf den Treffpunkt der Lkws zu. Im Schutz der Dunkelheit würde er so nahe wie möglich an die Fahrzeuge herankommen und hinter einem Busch oder in einer Bodenwelle in Deckung gehen. Auf keinen Fall wollte er verpassen, was da vorn passieren würde. Er wollte wissen, was die Typen vorhatten. Allein schon um sicherzugehen, dass seine eigenen Geschäfte dadurch nicht beeinträchtigt würden. Als der Mann die Senke erreichte, stellte er enttäuscht fest, dass er von den Lkws noch mehr als hundert Meter entfernt war, die er nicht unbemerkt überwinden konnte. Eine lang gestreckte baum- und strauchlose Ebene lag vor ihm, an deren Ende die beiden Lastwagen standen, die Ladeflächen einander zugewandt. Direkt dahinter stieg das Gelände sanft an. Aus dicht stehenden Sträuchern ragten die steinernen Ruinen eines alten Schuppens heraus. Jeder Versuch, sich dem Geschehen weiter zu
nähern, musste scheitern. Man würde ihn entdecken. Ernüchtert presste der Mann einen leisen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Er fand einen halbwegs geschützten Platz nur wenige Schritte entfernt. Dort konnte er trotz der nächtlichen Stille in diesem gottverlassenen Landstrich vermutlich kaum etwas von dem hören, was gesprochen wurde. Aber er hatte wenigstens einen guten Überblick. Er ging hinter den Ginstersträuchern auf den Bauch, stützte sich mit den Ellenbogen am Boden ab und setzte das Fernglas an die Augen. Dann wartete er. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er zwei Uniformierte aus dem Fahrerhaus des rechten Lkws steigen sah. Sie liefen an der ihm zugewandten Seite am Lastwagen entlang nach hinten. Einer der beiden schaltete einen seitlich am Aufbau befestigten Scheinwerfer an. Augenblicklich wurden die Lkw-Rückseiten und die Fläche dazwischen in grelles Licht getaucht. Jetzt erkannte der Mann deutlich, was er bereits vermutet hatte: Die zwei waren russische Soldaten. Der eine ein Hauptmann und der andere ein Major, wenn ihn sein Blick nicht täuschte. Fehlten noch die Insassen des zweiten Lasters, eindeutig ein Fahrzeug aus dem Fuhrpark der Nationalen Volksarmee. Seine ehemaligen Kameraden also! Waren sie etwa hierhergekommen, um Geschäfte mit den ungeliebten Waffenbrüdern zu machen? Einiges deutete darauf hin. Vermutlich hatten die sowjetischen Offiziere diesen Platz für ein
gefahrloses Zusammentreffen ausgekundschaftet und darüber hinaus ihren deutschen Geschäftspartnern über die sowjetischen Richtfunkverbindungen auch die Zufahrt mitgeteilt, auf der man unkontrolliert ins sowjetische Sperrgebiet einfahren konnte. Aus eigener Erfahrung wusste der Mann, dass die Kommunikation zwischen NVA-Soldaten und Russen auf diesem Weg möglich war, auch früher schon. Als noch nicht das Chaos regierte, wie in diesen Tagen des Umbruchs. Er schnaubte verächtlich, und da sich die deutschen Genossen mit dem Aussteigen Zeit ließen, konzentrierte er sich auf die Russen. Die öffneten gerade die Plane ihres Lkws und enthüllten eine fast bis unter das Dach mit Kisten vollgepackte Ladefläche. Die beiden Volksarmisten nahm er erst wahr, als sie im Rücken der Russen auftauchten. Die vier begrüßten einander freundschaftlich. Und so, als kenne man sich. Genau, wie er es vermutet hatte. Plötzlich machte einer der beiden Deutschen, ein Major, einen kleinen Schritt von den anderen weg. Er wandte sich von ihnen ab und ließ seine Augen forschend über die Ebene wandern. Es schien, als habe er irgendetwas Verdächtiges bemerkt. Als der Offizier in seine Richtung blickte, verschlug es dem Mann in seinem Versteck den Atem. Er kannte das Gesicht – das Gesicht einer Bestie, von der er gehofft hatte, sie niemals wieder sehen zu müssen! Das verlogen freundliche Grinsen, das
starr und maskenhaft die Mundpartie dieses Sadisten umrahmte, hatte sich schmerzhaft in seine Seele eingebrannt. Dazu die kalten Augen, durchdringend und ständig lauernd, so wie jetzt, als sie die Senke absuchten. Ausgerechnet hier musste er dem Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit wieder begegnen, dem Wassermann, wie er wegen seiner perfiden Verhör- und Foltermethoden genannt wurde. Er selbst hatte die Spezialbehandlung des Wassermanns erfahren, nachdem er als Grenzsoldat unter Spionageverdacht geraten war. Er hatte damals Tagebuch geführt und darin leichtsinnigerweise dienstliche Details, aber auch seine geheimen Zweifel an Sinn und Rechtmäßigkeit der Grenzsicherung aufgeschrieben. Ein schwerer Fehler, der ihm fünf Jahre Knast in Schwedt eingebracht hatte. Nach seiner Entlassung war er ein gebrochener Mann gewesen. Sein Leben lag in Trümmern. Ohne jede Zukunftsperspektive. Die Arme des Mannes begannen zu zittern, und sein Brustkorb verengte sich schmerzhaft. Hatte er eben noch ganz ruhig geatmet, so schnappte er jetzt nach Luft, glaubte, jeden Moment ersticken zu müssen. Eine plötzliche Kälte zog durch seine Finger und lähmte sie. Das Fernglas drohte ihm aus den Händen zu gleiten. »Ruhig! Ganz ruhig«, rief er sich stumm zur Besinnung. »Es ist vorbei. Er kann dir nichts tun! Nicht mehr!«
Es dauerte vielleicht eine Minute, dann hatte er sich wieder in der Gewalt und konnte dem Geschehen auf dem Platz weiter folgen. Er hörte Stimmengemurmel, sah die olivgrünen Kisten, die von einer Ladefläche zur anderen wechselten. Eine wurde gerade von den Russen auf dem Boden abgesetzt und geöffnet. Die beiden NVA-Offiziere beugten sich darüber. Und nahmen je eine Pistole heraus! Dann ein Päckchen, das sie öffneten, um ihm Munition zu entnehmen und die Waffen zu laden und sie auf die Russen zu richten. Die wichen erschrocken zurück. Darauf schallendes Lachen der Volksarmisten, die sich anscheinend einen Spaß mit ihren Geschäftspartnern erlaubt hatten, denn schon im nächsten Moment wandten sie sich von den Russen ab, zielten auf die Mauerreste im Hintergrund und feuerten. Als seien die Schüsse ein Startaufruf, tauchte wie aus dem Nichts ein Mann in Zivil hinter den Ruinen auf. Er brüllte wie ein Berserker, stürzte auf die Soldaten zu und schoss auf sie. Einer der beiden Russen ging getroffen zu Boden, während der andere seine Waffe zog und auf den Angreifer zielte. Mit angehaltenem Atem verfolgte der Beobachter im Schutze der Ginstersträucher die Attacke. Er sah den Zivilisten zusammenbrechen und den getroffenen Russen, der Deckung suchend über den Boden robbte. Plötzlich erschienen zwei weitere Personen im Blickfeld seines Fernglases.
Ebenfalls Männer in Zivil, die hinter dem Mauerrest verharrt haben mussten und die, so wie es aussah, jetzt ihrem Freund helfen wollten. Sie waren mit ein paar schnellen Sätzen bei ihm, beugten sich hinunter, packten ihn bei den Armen, wollten ihn hinter die Mauer in Sicherheit ziehen. Wieder fielen Schüsse. Zwei, drei, vier ... Die beiden Männer brachen getroffen zusammen, noch bevor sie mit ihrem Freund die schützende Mauer erreichen konnten. Der Beobachter brauchte einen Moment, ehe er begriff, dass die beiden NVA-Soldaten die Schüsse abgegeben hatten. Mit den Pistolen, die sie kurz zuvor aus der Kiste genommen hatten. Aber es war noch nicht zu Ende: Die Volksarmisten wagten sich aus der Deckung hinter der Motorhaube ihres Lkws hervor, legten nun auf die beiden Russen an und feuerten die Waffen erneut ab. Der Mann mit dem Fernglas zuckte zusammen, Herzschlag und Atmung beschleunigten sich. Reflexartig schloss er die Augen. Nur für eine Sekunde. Dann starrte er wieder auf die Deutschen, die zu ihren Geschäftspartnern hinübergingen und sich mit leichten Fußtritten gegen ihre leblosen Körper davon überzeugten, dass sie tot waren. Danach richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Zivilisten. Der Beobachter wandte sein Fernglas ebenfalls dorthin. Zwei der Männer lagen noch da, wo sie zusammengebrochen waren. Der
dritte Zivilist, der auf den Russen geschossen hatte, fehlte. War es ihm gelungen, zwischen den Ruinen und dem undurchdringlichen Gestrüpp zu entwischen? Das Verhalten der NVA-Offiziere deutete darauf hin. Einen Augenblick lang irrten sie suchend umher, dann tauchten sie in das nahe Unterholz ein. Der Beobachter machte sich keine Illusionen. Der Flüchtige hatte kaum eine Chance, auch wenn er nur leicht verletzt sein sollte. Der Major und dessen Kumpan würden ihn fassen und ebenso kaltblütig hinrichten, wie die anderen Beteiligten an dem nächtlichen Stelldichein. Zehn Minuten mochten vergangen sein, als die Volksarmisten wieder auf der Bildfläche erschienen. Hatten sie den Geflohenen erwischt? Es war kein Schuss gefallen. Aber sie fühlten sich eindeutig nicht mehr bedroht, denn sie drückten den toten Russen die Pistolen in die Hand, mit denen sie noch vor Kurzem das Blutbad angerichtet hatten. Gleich darauf luden sie eilig die restlichen Kisten mit Waffen und Munition auf ihren Lkw und wenig später waren sie mit ihrer Beute in der Dunkelheit verschwunden. Etliche Minuten blieb der Mann noch wie benommen hinter dem Busch liegen, dann drückte er sich hoch in den Stand. Er wandte sich von der grausamen Kulisse ab und ging langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Mit jedem Schritt ließ seine Anspannung etwas nach. Gleichzeitig verfiel er in dumpfes
Grübeln. Was sollte er jetzt machen? Einfach so tun, als sei nichts geschehen? Da hinten lagen vier Männer, kaltblütig erschossen von zwei NVA-Offizieren. Einer der Mörder war sein ehemaliger Peiniger, dem er nichts sehnlicher wünschte, als den Tod – einen qualvollen Tod! Sollte er die Täter einfach so davonkommen lassen? Er konnte seine Beobachtungen der Polizei melden. Aber was dann? Er befand sich auf einem russischen Truppenübungsplatz. Im Sperrgebiet! Verbotenes Terrain! Alles andere als gute Voraussetzungen für ihn. Er würde sich Fragen gefallen lassen müssen. Unangenehme Fragen. Schon einmal hatte er für seine Gutgläubigkeit, für seine Naivität bitter bezahlt! Trotzdem, es musste doch eine Möglichkeit geben! Eine anonyme Anzeige vielleicht? »Stoj!« Die Stimme riss den Mann aus seinen Gedanken und ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Wie erstarrt blieb er stehen. Erst nach einigen Sekunden wagte er es, sich vorsichtig umzublicken. Aus dem Gebüsch zu seiner Rechten schälte sich eine Person, kam mit vorgehaltener Pistole auf ihn zu. Der Zivilist, der den NVA-Offizieren entkommen war! Der Kerl sah erbärmlich aus – verschwitzt, die Haare wirr, die Jacke zerrissen. Seine Hose war voller Blut, und er zog das linke Bein nach. Die Schusswunde! »Du musst mir helfen«, presste der Verletzte
mit kehligem Akzent hervor. Ein Russe! »Aber ich ...« »Nicht reden. Nur helfen«, schnitt ihm der Russe mit verzerrter Miene das Wort ab und fuchtelte mit der Pistole. »Du bringst mich zu meinem Auto. Sofort! Hast du kapiert?« Der Mann nickte. Was sollte er anderes tun? Er legte sich den freien Arm des Russen über die Schulter und umfasste seine Hüfte. »Wohin?« Wenigstens das musste er wissen. »Da.« Der Verletzte deutete mit seiner Pistole auf ein unbestimmtes Ziel. Er setzte sich in Bewegung. Der Russe hing schwer an ihm. Zu schwer. Das würde er nicht lange durchhalten. Plötzlich hatte der Mann eine Idee. Er wechselte die Richtung. »Halt!«, brüllte der Russe sofort und hielt ihm die Pistole unter die Nase. »Nicht dahin! Was soll das?« Der Mann schluckte trocken. »Ich ... ich habe ein Fahrrad mit einem Anhänger«, stammelte er nervös. Sein Herz raste. Er zwang sich, sein Hände auszustrecken und beschwichtigend auf und ab zu bewegen, um die Harmlosigkeit seines Vorhabens zu unterstreichen. »Gleich da vorne steht es. Nur ein paar Meter.« Der Russe musterte ihn scharf. Nach einigen Augenblicken nickte er. »Gut. Aber keine Tricks, hörst du?« Der Mann atmete erleichtert auf. Er bugsierte den Verletzten zum Hänger und half ihm
hinein. Dann ließ er sich von dem Russen zu dessen Auto dirigieren. Über einen Kilometer entfernt. Ein schwarzer Mercedes stand am Wegrand. Mit Automatikgetriebe, wie der Mann erkennen konnte, als er dem Russen die Autotür öffnete. Ohne Frage von Vorteil, wenn man mit so einer Wunde noch fahren wollte. Dennoch hatte er Zweifel, ob der Verletzte sein Ziel je erreichen würde. Wo immer es auch liegen mochte. Er wollte dem Russen beim Einsteigen helfen, doch der wehrte seine Hand ab und hielt ihm stattdessen die Pistole entgegen. »Umdrehen, Hände auf das Wagendach!«, forderte er schroff. Der Mann zuckte erschrocken zusammen, zögerte. Als er den Pistolenlauf zwischen seinen Rippen spürte, gehorchte er. Gleich darauf tastete der Russe seinen Oberkörper ab, durchsuchte Hose und Jacke, fischte seinen Ausweis heraus und ließ ihn in der eigenen Hosentasche verschwinden. Danach schien er zufrieden und zog ihn vom Auto weg. Mit schmerzverzerrter Miene ließ er sich auf den Fahrersitz sinken. »Was du heute gesehen und erlebt hast, ist nie passiert, verstehst du?«, mahnte ihn der Russe zum Abschied eindringlich. »Du wirst niemandem etwas sagen. Wenn doch, werde ich dich finden. Und dann ...« Der Mann nickte. Er hatte verstanden. Noch während er dem davonfahrenden Mercedes
hinterhersah, fielen die ersten Regentropfen und verdichteten sich binnen Sekunden zu einem monotonen Rauschen.
1. Mehr als 25 Jahre später, Frühling »Ist das Ihr Vater?« Die raue Stimme ließ Jana erschrocken zusammenzucken. Sie war so tief in ihre Andacht versunken gewesen, dass sie die Person nicht bemerkt hatte, die hinter sie getreten war. Einen Moment verharrte sie, dann drehte sie sich langsam um. Zwei wache Augen in einem faltigen, unrasierten Männergesicht blickten sie unter buschigen Brauen hinweg neugierig an. »Was ...?« Sie spürte ein Kratzen im Hals und räusperte sich. »Was haben Sie gesagt?« »Ich habe gefragt, ob das Ihr Vater ist.« Der Mann deutete mit einem Kopfnicken zu dem kleinen Emailleschild, auf dem ein Männerportrait zu sehen war und das in Augenhöhe mit einer Schraube am Stamm der alten Buche befestigt war. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte Jana feindselig. »Tut mir leid. Sie haben natürlich Recht. War nur so ein Gedanke, als ich Sie vor dem Foto stehen sah. Scheint mir eine Art Gedenkstätte zu sein. Nicht gerade alltäglich, mitten im Wald, das müssen Sie zugeben.«
Der Mann wirkte keineswegs betreten. Ungerührt stand er da, die Hände in den Taschen seiner schlammfarbenen Vintage-Jacke vergraben, und musterte Jana neugierig. Er war schlank und gut einen Meter neunzig groß und machte einen auffallend vitalen Eindruck. Graue Locken kräuselten an den Seiten und im Nacken unter einer schwarzen Strickmütze hervor. Jana schätzte den Mann auf sechzig Jahre, vielleicht auch etwas jünger. »Schleichen Sie sich immer so an?« Sie verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust. »Wer sind Sie überhaupt?« Der Mann zog die Hände aus den Taschen und hob sie entschuldigend in die Höhe. »Ich bitte nochmals um Verzeihung! Es war wirklich nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken.« Er grinste verlegen. »Mein Name ist Vetter, Ulrich Vetter. Und …« Er wurde von einem schwarzbrauen Fellknäuel unterbrochen, das aus dem Gestrüpp gewuselt kam und auf kurzen, krummen Beinen hechelnd auf Jana zutrippelte. Der Rauhaardackel setzte sich vor sie hin und blickte bettelnd zu ihr hoch. Dann ließ er ein heiseres Kläffen ertönen. »Hey, wo kommst du denn her?«, rief Jana entzückt aus und beugte sich zu dem kleinen Kerl hinab. Dabei blickte sie Ulrich Vetter fragend an. »Ist das Ihrer?« Er nickte und zog missbilligend die Stirn kraus. »Aus, Otto! Bei Fuß!«, rief er dem Hund zu, der seinen Befehl ignorierte.
»Otto?« »Richtig. Mein alter Wegbegleiter Otto. Und wie heißen Sie?« »Jana Schuchart«, antwortete sie automatisch, während sie dem Dackel sanft über Kopf und Rücken streichelte, was der mit leisem Fiepen und freudigem Schwanzwedeln quittierte. »Und Sie lassen ihn einfach so hier im Wald herumstreunen?«, fragte sie. »Ich meine, er ist doch ein Jagdhund, oder?« Vetter grinste gequält. »Schon. Aber vor dem braucht kein Karnickel oder Dachs mehr Angst haben. Otto ist in einem Alter, wo er froh ist, dass ihn seine Füße überhaupt noch tragen, das sieht man ja. Ich fürchte, seine Tage sind gezählt.« Er stieß einen herzergreifenden Seufzer aus. »Immerhin hat er seinen guten Geschmack was Frauen betrifft noch nicht verloren. Er mag Sie.« Jana schaute ihr Gegenüber skeptisch an. »Ach, wirklich?« Dann musste sie unwillkürlich lachen. »Da habe ich wohl richtig Glück gehabt.« Vetter lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Männerportrait am Baumstamm. »Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet: Ist das Ihr Vater?« Jana nickte und schenkte dem leicht verblassten Foto, das einen Mann in der Paradeuniform der Roten Armee zeigte, einen sehnsüchtigen Blick. »Ein russischer Offizier?«
Wieder nickte sie. »Er ist tot, vermute ich.« Sie wandte sich von dem Foto ab. Ihre Haltung versteifte sich. Kalt blickte sie Vetter in die Augen. Otto, der Dackel, spürte den plötzlichen Stimmungsumschwung und verzog sich ängstlich hinter die Beine seines Herrchens. »Sie haben mir meine Frage auch noch nicht beantwortet, Herr Vetter«, sagte sie schneidend. »Was haben Sie hier zu suchen? Was wollen Sie von mir?« Ulrich Vetter antwortete nicht sofort. Er presste die Lippen zusammen, blickte zu Boden. Nach einem Augenblick hob er wieder den Kopf, sah ihr direkt in die Augen. »Also gut, Frau Schuchart, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich bin Ihnen hierher gefolgt, nachdem Sie das Haus Ihrer Mutter verlassen haben.« »Sie sind mir ... Was?« Jana machte erschrocken einen Schritt von ihm weg. »Sie müssen keine Angst haben.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Es ist nicht, was Sie denken.« »Was dann? Kennen Sie meine Mutter?« Vetter schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne sie nicht. Nicht persönlich. Ich bin Journalist, verstehen Sie? Und ich wollte mit ihr sprechen. Eine spontane Entscheidung. Ich hatte mich nicht angekündigt. Als ich ankam, sah ich sie gerade in ihr Auto steigen und wegfahren. Ich glaube jedenfalls, dass es Ihre Mutter war. Sie
hatte es sehr eilig, wie mir schien. Ich habe gezögert, wusste nicht, ob ich ihr hinterherfahren sollte. Dann sah ich Sie aus dem Häuschen kommen. Ich habe mir gedacht, wenn schon nicht die Mutter, dann kann mir vielleicht die Tochter ein paar Fragen beantworten. Ich habe gehofft, dass Sie die Tochter sind.« Er grinste verlegen. »Deshalb bin ich Ihnen gefolgt. Ohne zu ahnen, wohin Sie mich führen.« Jana nahm augenblicklich eine Abwehrhaltung ein. »Journalist? Was wollen Sie von mir?« Immerhin, kein Vergewaltiger! Sonst hätte er sich wohl kaum erst vorgestellt und wäre auch nicht mit Hund im Wald unterwegs. Trotzdem eine Unverschämtheit von dem Mann, ihr heimlich nachzustellen! Vetter ignorierte ihre Frage. »Ihr Vater war Jegor Antonowitsch Andrejew, Offizier der sowjetischen Streitkräfte in der DDR«, entgegnete er gelassen. Sie riss überrascht die Augen auf. »Woher ... woher wissen Sie das?«, stammelte sie verwirrt. Etwas rieb an ihrem Bein. Sie blickte nach unten. Otto hatte sich wieder aus der Deckung getraut und schmiegte sich an sie. Jana ging in die Hocke, streichelte den Hund. Er fühlte sich warm an. Ihre Anspannung löste sich. »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater?«, fragte Vetter sanft. »Wie ist er gestorben? Warum diese Gedenkstätte? Sein Grab, wo ist es?«
Jana blickte zu ihm hoch, ohne aufzuhören, Otto zu streicheln. »Es gibt kein Grab. Jedenfalls nicht hier in Deutschland.« In ihren Augen lag ein feuchter Schimmer. »Fast immer, wenn ich meine Mutter besuche, mache ich auch einen Abstecher hierher. Ich rede mit ihm, lade meinen Kummer ab. Auch wenn ich nur eine vage Erinnerung an ihn habe, es hilft mir.« »Sie wohnen nicht bei Ihrer Mutter?« »Oh Gott, nein!«, stieß sie aus. »Ich bin weggezogen, als ich volljährig war. Ich habe studiert. Architektur. Nebenbei habe ich gejobbt. Um meine Mutter nicht anbetteln zu müssen. Heute wohne ich in Uelzen. Kleine Wohnung, schlecht bezahlte Arbeit im Fitnesscenter.« Sie grinste. »Wenn Sie zufällig jemanden kennen, der ein lukratives Angebot für eine qualifizierte Architektin hat, lassen Sie es mich wissen.« »Sie verstehen sich nicht sonderlich mit Ihrer Mutter«, vermutete Ulrich Vetter. Ein wütendes Funkeln lag plötzlich in Janas Augen. »Stimmt. Ich komme nicht mit ihr klar. Mit ihrem trostlosen Leben.« »Weil sie arm ist?« Jana lachte bitter auf: »Arm? Nein, Geld hat sie genug. Ihre Witwenrente ist mehr als ausreichend. Trotzdem verschwendet sie ihr Leben. Sie kauft sich ständig unnütze Dinge, geht Beziehungen ein, die kurz darauf wieder in die Brüche gehen ...« Sie unterbrach sich,
runzelte die Stirn und fragte sich, was sie eigentlich dazu trieb, mit ihm über all das zu sprechen, was sie seit Jahren allein mit sich herumtrug. Vielleicht war es leichter, mit einem Fremden darüber zu reden, den sie wohl nie wieder sehen würde? Sie warf einen mitleidigen Blick auf Otto, den Dackel, der es sich mittlerweile zwischen ihr und Vetter auf dem Boden gemütlich gemacht hatte und vor sich hindöste. »Mutter hat Papa vergessen«, begann sie. »Zwei Jahre nach seinem Tod hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Sie ist Wolgadeutsche, wissen Sie? Und sie kannte damals einen Kerl, der ihr geholfen hat, das bei den Behörden zu regeln. Es ging erstaunlich reibungslos über die Bühne. Jetzt heißen wir beide Schuchart. Das ist Mutters Geburtsname. Nicht einmal sein Name ist mir von Papa geblieben. Bald danach sind wir hier nach Stendal gezogen. In das kleine Haus, in dem sie immer noch wohnt. Acht Jahre alt war ich da. Aber selbst wenn wir nicht umgezogen wären, es gibt kein Grab, an dem ich mich an Vater erinnern könnte. Seinen Leichnam haben sie zu seiner Familie nach Russland überführt. Ganz offiziell. Seine Dienststelle hat sich darum gekümmert. Ich habe das damals alles nicht begriffen, fühlte nur, wie sehr er mir fehlte und habe nach einer Möglichkeit gesucht, mich an ihn zu erinnern.« Sie beugte sich vor und streichelte sanft über das verblasste Foto. »Und dann habe ich eines
Tages diesen Platz gefunden und ihn zu meinem Andachtsort gemacht.« »Was wissen Sie über den Tod Ihres Vaters?«, unterbrach Vetter sie. »Sie waren damals noch sehr klein. Was hat Ihnen Ihre Mutter erzählt?« »Er hatte einen Unfall. Während eines Diensteinsatzes ist er tödlich verunglückt.« Jana ließ von dem Bild ab und blickte zu Boden. »Soldat ist ein gefährlicher Beruf, hat Mutter mal gesagt. Das klang so, als habe sie damals immer mit seinem Tod gerechnet.« Vetter nickte. Ihr schien es, als habe er genau diese Antwort erwartet. »Hatten Sie nie das Bedürfnis, das Grab Ihres Vaters zu besuchen?«, fragte er. »Vielleicht sogar ganz nach Russland zu gehen? In seine Heimat?« »Mutter wollte nicht zurück, sie hat das Land nie gemocht. Das ist bis heute so. Und ich ...« Jana blickte an ihm vorbei auf einen imaginären Punkt irgendwo zwischen den Bäumen und schien zu überlegen. Sekunden später schüttelte sie den Kopf. »Nein, daran habe ich keinen Tag gedacht. Mein Traumland ist Norwegen. Außerdem kenne ich die Heimat meines Vaters nicht. War nie dort. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ich trage einen deutschen Namen. So ist das nun mal. Ich habe zwar überlegt, ob ich den Namen meines Vaters wieder annehmen und die Entscheidung meiner Mutter rückgängig machen soll. Aber hätte das was geändert?
Meinem Vater wäre ich dadurch nicht näher gewesen. Er ist hier, an meiner Gedenkstätte. Sonst nirgends. Ich finde ihn weder durch einen Namen noch in irgendeinem Grab in einem fremden Land.« »Wo er vielleicht gar nicht beerdigt ist«, ergänzte Ulrich Vetter. »Wer weiß, ob die sterblichen Überreste Ihres Vaters jemals in seiner Heimat angekommen sind. Einen Sarg hat man wohl an seine Familie geschickt. Die Frage ist nur, was sich darin befand.« Jana zuckte zurück. »Was? Wie meinen Sie das?« Er sog vernehmlich die Luft durch die Nase ein. »Ich denke, ich sollte Ihnen jetzt meinen Teil der Geschichte erzählen«, sagte er. »Wie Sie schon wissen, ich bin Journalist. Freier Journalist. Hauptsächlich mache ich Reportagen über brisante Politik- und Wirtschaftsthemen. Für verschiedene Magazine. Auch über Dinge, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben. Ich beschäftige mich schon seit einer Weile mit dem illegalen Waffenhandel in Deutschland. Ein Thema, das mich bis in die Wendezeit zurückgeführt hat. Und in dem Zusammenhang bin ich auf ein Ereignis aufmerksam geworden, bei dem Ihr Vater ins Spiel kommt. Ein Waffengeschäft auf einem sowjetischen Truppenübungsplatz, bei dem er ...« Weiter kam Vetter nicht. Wie eine Furie stürzte sich Jana plötzlich auf ihn, gab ihm
einen Stoß, sodass er stolperte und rücklings zu Boden fiel. Einer Rachegöttin gleich stand sie über ihm, deutete mit dem Finger auf seinen Oberkörper. »Mein Vater war kein Verbrecher«, stieß sie drohend aus. »Er hat nicht mit Waffen gehandelt! Sagen Sie so etwas nie wieder!« Ihr Atem ging schnell und stoßweise. »Wer sind Sie wirklich? Staatsschutz? Irgend so ein mieser Spitzel?« »Reden Sie keinen Unsinn, verdammt! Und hören Sie mir doch erst mal bis zum Ende zu!« Vetter rappelte sich ächzend hoch, während Otto, der Dackel, laut kläffend um ihn herumscharwenzelte. Jana trat einen Schritt zur Seite, ließ Vetter aufstehen. »Was ich Ihnen eigentlich mitteilen wollte«, knurrte er und klopfte sich Laub und Waldboden von Jacke und Hose, »ist etwas anderes. Bei diesem Waffen... bei dieser Sache auf dem Truppenübungsplatz muss es einen Zwischenfall gegeben haben. Etwas ist aus dem Ruder gelaufen. Es kam zu einer Schießerei, in deren Verlauf auch Ihr Vater getötet wurde. Ermordet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ihr Vater war. Wie es scheint, hat es seitens der sowjetischen Militärführung keine Ermittlungen gegeben. Obwohl ich Informationen besitze, denen zufolge die Sowjets durchaus von dem Vorfall wussten. Deshalb wollte ich mit Ihrer Mutter sprechen. Um von ihr zu erfahren, ob sie die Wahrheit kennt oder ob man ihr damals ein Märchen aufgetischt hat.«
»Das ist nicht wahr. Sie lügen.« Jana drohte die Stimme zu versagen. Ihre Augenlider flackerten. Ihr ganzer Körper befand sich in Aufruhr. Gleichzeitig spürte sie sich eingezwängt in ein imaginäres Korsett, dass es ihr unmöglich machte, sich zu bewegen. Vetter schüttelte traurig den Kopf. »Ich belüge Sie nicht. Leider.« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche. »Hier, meine Adresse. Wenn Sie wirklich am Schicksal Ihres Vaters interessiert sind, sollten Sie mich besuchen. Dann kann ich Ihnen beweisen, dass ich die Wahrheit sage.« Sie nahm die Karte und starrte sie eine Weile an, ohne wirklich etwas darauf zu erkennen. Schließlich fragte sie tonlos: »Wissen Sie, wer meinen Vater ermordet hat?« Vetter zögerte, blickte an ihr vorbei ins Leere, schien zu überlegen. »Rufen Sie mich an«, sagte er dann aber nur und wandte sich seinem Dackel zu. »Los, Otto, es wird Zeit, dass wir gehen. Wir haben die Dame schon lange genug belästigt.« An Jana gerichtet sagte er: »Ich hoffe, wir sehen uns, Frau Schuchart. Machen Sie’s gut. Ach übrigens, es wäre besser, wenn Sie niemandem von unserem Gespräch erzählen.« Jana nickte geistesabwesend, ihre Augen fest auf die Visitenkarte geheftet. Sie registrierte seine Worte, auch dass er sich umdrehte und ging. Wirklich bewusst wurde es ihr jedoch nicht. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit
einem Unbekannten. Einem Mörder. Dem Mörder ihres Vaters.
2. Es war so weit. Hauptkommissar Ingo Behrends stand im Schlafzimmer vor seinem Bett und starrte auf die gepackte Reisetasche, die sich tief in die Daunendecke drückte. Für die nächsten Wochen würde er nicht mehr hier schlafen. Daran war seine Frau Katrin nicht ganz unschuldig. Einen flüchtigen Moment lang dachte er, dass sie vielleicht sogar froh war, sein Schnarchen für längere Zeit nicht neben sich ertragen zu müssen, so engagiert, wie sie sich um einen schnellen Operationstermin und die nachfolgende Reha für ihn bemüht hatte. »Blödsinn!«, rief er sich noch im selben Augenblick leise zur Ordnung. Er wusste sehr gut, wie nötig der Eingriff war, dem er sich in der Uniklinik in Göttingen unterziehen sollte. Die alte Schussverletzung hatte ihm im zurückliegenden Jahr zunehmend Probleme bereitet. Die Schmerzen hatten sich nicht mal mehr mit Tabletten vollständig unterdrücken lassen. Außerdem hatte auch Maike ihm immer und immer wieder gesagt, dass es so nicht weitergehen könne. Jedes Mal, wenn sie in sein Büro gekommen war und er mit aschfahlem Gesicht gekrümmt hinter seinem Schreibtisch gehockt hatte, war ihre Miene ein wenig sorgenvoller geworden. »Du kannst so nicht
mehr arbeiten«, hatte sie ihn ermahnt. »Du wirst zunehmend zum Risiko. Für dich und deine Kollegen.« »So ein Quatsch«, hatte er wütend abgewehrt und gleichzeitig gewusst, dass es stimmte, was sie sagte. Die Polizei konnte keine kranken Beamten gebrauchen. Schon gar nicht, wenn es bei einem Einsatz hart auf hart kommen sollte. Schließlich hatte Katrin die Reißleine gezogen und Nägel mit Köpfen gemacht. Erstaunlich, dass seine Frau überhaupt so lange stillgehalten hatte. Als Arzthelferin war sie, wenn es um das Thema Gesundheit ging, diejenige, die in ihrer Beziehung das Sagen hatte – ob es sich um die Therapie einer einfachen Erkältung handelte oder eben darum, auf einer überfälligen Operation zu bestehen. »Kommst du? Wir müssen los!«, tönte es von unten aus dem Hausflur. Katrin stand bereit, um ihn nach Göttingen zu chauffieren. Er würde sich nicht einmal mehr selbst hinter das Steuer setzen dürfen. Lächerlich! Noch war er Herr seiner Sinne und Gliedmaßen. Aber er wollte darüber nicht diskutieren und ließ ihr den Willen. »Ja, Moment. Bin gleich da!«, rief er zurück. So recht konnte er sich nicht entschließen, die Tasche zu nehmen und hinunterzugehen. Er hasste das Kranksein. Und Krankenhäuser ganz besonders. Dieser elende Geruch, diese Mischung aus Desinfektionsmitteln,
Hilflosigkeit und Schwäche, die in den Zimmern hing. Die blass-grauen Gestalten, die in Bademänteln und Jogging-Anzügen über die Flure schlichen. Damals, als er sich im Harz die Kugel eingefangen hatte, da war alles ganz schnell gegangen. Von seiner Einlieferung ins Krankenhaus hatte er nichts mitbekommen. Dieses Mal war es anders. Ihm war genug Zeit geblieben, über das nachzudenken, was ihm bevorstand. Und das lag ihm wie ein Granitblock im Magen. Da half es auch nicht, mantramäßig zu wiederholen, dass die Operation absolut notwendig war. Er seufzte, griff endlich die Tasche und verließ das Zimmer. Mit einem sehnsüchtigen Blick zurück auf sein Bett zog er die Tür ins Schloss. »Eigentlich wäre das mit der Reha doch wirklich nicht nötig gewesen«, maulte Behrends, nachdem er etwa die Hälfte des Weges, tief in den Beifahrersitz gekauert, schweigend vor sich hingebrütet hatte. »Ein, zwei Wochen Erholung zu Hause hätten es nach der Operation auch getan.« Katrin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Ich verstehe nicht, warum du immer und immer wieder davon anfängst. Ich dachte, das hätten wir längst geklärt.« Längst geklärt ist gut, dachte Behrends. Katrin hatte die Sache mehr oder weniger vorangetrieben, auch wenn es letztlich sein Hausarzt gewesen war, der ihm die
Notwendigkeit einer Rehabilitationsmaßnahme erläutert hatte. Dabei war verdächtig oft das Wort Diät gefallen, ein Begriff, der ihm gar nicht zugesagt hatte. »Außerdem hat Marina dir doch erklärt, dass die Kirchberg-Klinik eher ein Vier-SterneHotel ist als ein Krankenhaus«, fuhr Katrin fort. »Und Bad Lauterberg liegt gleich um die Ecke. An der Nordsee oder in Bayern könnte ich dich nicht so oft besuchen.« Marina Hegenscheidt, die Chefin des Schwarzen Bären, hatte vor der Übernahme des Gasthauses als Leiterin des Küchen-Teams in der Kirchberg-Klinik gearbeitet und wusste nur das Beste darüber zu berichten. Was hätte er dem entgegensetzen sollen? »Na ja, ja ...« Behrends rutschte noch etwas tiefer in seinen Sitz. Vier-Sterne-Hotel traf schon irgendwie zu. Davon hatte er sich zusammen mit Katrin vor einer Woche bei einer Stippvisite in der Klinik überzeugen können. Trotzdem wollte keine Begeisterung bei ihm aufkommen. Dem stand eindeutig das Reha-Programm entgegen, das ihn erwartete. »Wer übernimmt jetzt eigentlich deine Vertretung in der Inspektion?«, lenkte ihn Katrin von seinen dumpfen Gedanken ab. Noch so ein wunder Punkt, an den sie mit ihrer Frage rührte. Seine Leute, führungslos! Über Wochen! Nicht dass er sich für unersetzlich hielt. Aber er war immerhin der Chef des K1, des Kommissariats für die dicken
Brocken, die Kapitaldelikte. Das war keine Frittenbude, in der er arbeitete. Verbrechensaufklärung erforderte andere Fähigkeiten, als Bratwürste auf dem Grill hin und her zu schieben. Durchsetzungsfähigkeit, Organisationstalent, Geduld, darauf kam es an. Und auf Erfahrung! Erfahrung war überhaupt das Wichtigste. Wer aus seinem Team brachte die schon mit? Maike noch am ehesten. Und Tim. Für die zwei sprach auch, dass sie sich schon oft im Außendienst bewährt hatten. Nicht solche Büromenschen waren wie Richard. Er hatte sie dem Chef, Kriminaldirektor Liebig, als seine Vertretung vorgeschlagen. Liebig hatte sich nach einigem Hin und Her für Tim Seidel entschieden. Das war vorgestern gewesen, seinem letzten Tag in der Inspektion. »Tim vertritt mich«, antwortete Behrends knapp. »Nicht Maike?«, wunderte sich Katrin. Es klang ein wenig wie Protest. »Sagtest du nicht, Maike würde das machen?« Katrin kannte Maike de Baer. Besser als die anderen aus seinem Team. Die beiden Frauen waren sich sympathisch, das wusste er. »Der Chef hat sich für Tim entschieden«, gab er knapp zurück. »Konnte ich nichts machen.« Vielleicht würde es ja gut gehen mit seinem jungen Kollegen. Es war lange Zeit ruhig gewesen in ihrem Revier. Keine komplizierten Fälle, alles eindeutige Geschichten. Vielleicht
würde es so bleiben, bis er wieder an Bord war. Er konnte es nur hoffen – für Tim. Die markanten Gebäude der Göttinger Uniklinik tauchten links vor ihnen auf, nachdem sie in die Robert-Koch-Straße eingebogen waren. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Behrends seufzte leise in sich hinein. Warum ausgerechnet ich, dachte er.
3. Das verträumte Fachwerkschlösschen mit seinen Erkern und dem Turm als auffälligem Blickfang lag in dem südharzer Städtchen Bad Sachsa beschaulich auf einer kleinen Anhöhe, inmitten dicht an dicht stehender alter Laubbäume. Die Ziegel des steilen, verwinkelten Daches glänzten in der Mittagssonne. Jana fuhr langsam unter den ausladenden Ästen der alten Eichen und Kastanien die Auffahrt hinauf. Hinter der silbergrauen Limousine, die vor einem Nebengebäude parkte, stellte sie ihr Motorrad ab. Sie ging nicht sofort zur Haustür hinüber, sondern betrachtete einen Moment nachdenklich das Gebäude mit seinen verspielten Holzverzierungen und den bunten, bleiverglasten Fenstern. Der prächtige Jugendstil-Bau faszinierte sie. Gleichzeitig fragte sie sich aber, wozu der Mann eine Villa bewohnte, in der gut und gerne drei Familien untergekommen wären. Oder vier, rechnete man das Nebengebäude dazu. Soweit sie wusste, lebte der Russe allein. Er schien über ausreichend Geld zu verfügen, um sich solch ein Anwesen leisten zu können und dazu die Leute, die Haus und Park in Schuss hielten. Aus den Gewinnen, die sein unscheinbares Lokal abwarf, das ebenfalls in dieser
verschlafenen Kleinstadt stand? Schwer vorstellbar, hier mit russischer Hausmannskost ordentlich Kasse zu machen. Zumal das Gagarin, so der Name des Ladens, immer erst um siebzehn Uhr öffnete. An sechs Tagen in der Woche. Mittwochs war Ruhetag. Heute also. Vor einer halben Stunde hatte sie vor der verschlossenen Restauranttür gestanden. Gestern Abend war Jana im Harz angekommen. Recht spät und ohne sich vorher um eine Unterkunft gekümmert zu haben. Irgendwo in Bad Sachsa würde sie schon etwas finden, hatte sie gehofft. Wenigstens für die erste Nacht. Danach hatte sie weitersehen wollen. Noch bevor sie die Kurstadt erreicht hatte, war ihr am Straßenrand das Schild einer Frühstückspension aufgefallen, das nach Steina wies, einem kleinen Ort, nur wenige Kilometer von Bad Sachsa entfernt. Pension Waldesruh hieß das Haus. In fetten roten Blockbuchstaben hatte »Biker willkommen!« unter dem Pensionsnamen gestanden und für Jana den Ausschlag gegeben, dort nach einem freien Zimmer zu fragen. Mit Erfolg. Vier Wochen waren mittlerweile vergangen, seit sie Ulrich Vetter, dem Journalisten, das erste Mal begegnet war. Vier Wochen, in denen sie so orientierungslos gewesen war, wie selten zuvor in ihrem Leben. Vetter hatte ein kleines Stück der verklärenden Patina vom Bild ihres Vaters gekratzt. Was da zum Vorschein zu kommen schien, hatte sie erschüttert, und sie war sich lange nicht sicher
gewesen, ob sie sein Angebot annehmen sollte, ihr das vollständige Bild darunter zu zeigen. Warum die Begegnung mit ihm nicht einfach vergessen und alles lassen, wie es war, hatte sie sich gefragt. Es machte ihren Vater nicht wieder lebendig, wenn sie an die Vergangenheit rührte. Nach und nach war ihr klargeworden, dass es nicht funktionieren würde. Also hatte sie Vetter besucht. Seitdem wusste sie, dass der Journalist sie nicht belogen hatte und ihr Vater zusammen mit drei anderen Männern tatsächlich während eines heimlichen Waffengeschäftes Opfer eines kaltblütigen Mordes geworden war. Und mehr noch: Es gab einen weiteren Beteiligten, der das Massaker überlebt hatte und, so Vetters Vermutung, vielleicht sogar handfeste Beweise für das Verbrechen besaß. Wenn der Mann redete, könnte er helfen, die Täter aufzuspüren und als Zeuge dazu beitragen, dass sie für eine Tat angeklagt und hoffentlich auch verurteilt würden, deren Aufklärung seinerzeit offensichtlich vertuscht worden war. Aus Gründen, über die auch Vetter nur spekulieren konnte. Der Zeuge war Leo Adam, vor dessen Haus sie gerade stand. Jana stieg die Betonstufen zur Eingangstür hinauf und betätigte die Klingel. Im Hausinneren ertönte ein Dreiklang, der an ein Glockengeläut erinnerte. Noch mit dem letzten Ton wurde die Tür aufgerissen und eine
grobschlächtig wirkende Frau trat ihr entgegen. Unter einer Kittelschürze, die sich um ihren Bauch spannte, lugten nackte Beine hervor, die in blassblauen Segeltuchschuhen steckten. Ihr schwarz gefärbtes Haar war streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Dutt gebunden. Die Frau hatte ein aufgedunsenes rotes Gesicht. Ein feines Netz lilafarbener Äderchen durchzog ihre Wangen. »Ja, bitte?«, fragte sie abweisend. »Ich bin Jana Schuchart und möchte Herrn Adam sprechen«, entgegnete Jana. »In welcher Angelegenheit?« »Das möchte ich ihm gern selbst sagen.« Die Frau schnaubte und blinzelte feindselig. »Warten Sie hier«, sagte sie nach einer kurzen Pause, drehte sich um und verschwand im Hausinneren. Jana musste sich gut zwei Minuten gedulden, dann kam ein Mann den Flur entlanggeschlurft. »Was wollen Sie?«, fragte er schroff, als er sie erreicht hatte. Ein unangenehmer Alkoholdunst schlug ihr entgegen. »Ich erwarte keinen Besuch.« Der stämmige Mann hatte ein schwammiges Gesicht, seine Wangen wiesen die gleichen feinen Äderchen und die ungesunde rote Gesichtsfarbe auf wie die der Frau. Er sah heruntergekommen aus. Schüttere aschblonde Haare standen wirr von seinem Kopf ab, ein fadenscheiniger, ausgeleierter beiger Strickpullover schlackerte um seine Hüften und
hing ihm bis über den Hintern. Darunter trug er eine verwaschene schwarze Cordhose, seine Füße steckten in Filzpantoffeln von undefinierbarer Farbe. Sie wiederholte ihren Namen und fragte, nicht sicher, ob sie den Hausherrn vor sich hatte: »Sind Sie Herr Adam?« Sein Aussehen entsprach ganz und gar nicht dem, was sie sich unter einem Restaurant- und Villenbesitzer vorstellte. Anstatt zu antworten, musterte er sie abschätzig von oben bis unten. Dann blickte er an ihr vorbei nach draußen. Dorthin, wo ihre Maschine stand. »Na ja, von den Zeugen Jehovas scheinen Sie jedenfalls nicht zu sein«, stellte er brummend fest. »Oder ist die Motorradkluft jetzt ihre neue Masche?« Der Mann schien Humor zu haben. Immerhin. »Ja, ich bin Leo Adam«, fügte er etwas versöhnlicher hinzu. »Also, was führt Sie zu mir?« Jana entschied sich, nicht lange um den heißen Brei herumzureden: »Ich möchte mit Ihnen über etwas sprechen, was sich im August 1990 ereignet hat. In der Döberitzer Heide. Und Sie haben daran teilgenommen. Sie haben ...« Weiter kam sie nicht. »Hat dieser verfluchte Schmierfink Sie geschickt?«, brüllte der Russe ohne Vorwarnung los. »Glaubt er, ich lasse mich breitschlagen, wenn er seine junge Assistentin vorbeischickt? Sagen Sie ihm, die
Masche zieht nicht! Nicht bei mir! Ich habe ihm nichts zu sagen! Und jetzt hauen Sie ab!« Ehe Jana reagieren konnte, hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Völlig überrumpelt stand sie da und hörte das leise Schlappen seiner Pantoffeln, das sich langsam entfernte. Natürlich! Adam kannte den Journalisten. Vetter hatte ihr von seiner Kontaktaufnahme mit dem Russen erzählt, die ebenfalls in einen Rauswurf gemündet war. Kein Wunder, dass der jetzt die falschen Schlüsse zog. Sie holte tief Luft. So einfach würde sie sich trotzdem nicht abservieren lassen! Wütend hämmerte sie mit der Faust gegen das hölzerne Türblatt. »He! Machen Sie auf, verdammt!«, rief sie. »Es geht um meinen Vater! Er war einer der Toten!« Plötzlich Stille im Flur. Sekundenlang. Dann kam das Schlappen wieder näher. Adam öffnete die Tür einen Spalt, steckte seinen Kopf heraus. »Ihr Vater?«, fragte er vorsichtig. »Ja, mein Vater. Major Jegor Antonowitsch Andrejew.« Er verzog keine Miene, aber Jana glaubte, ein Aufflackern in seinen Augen gesehen zu haben, als sie den Namen genannt hatte. »Sie sagten, Sie heißen Jana Schuchart«, erinnerte er sie. »Richtig.« Sie nickte. »Und wenn Sie mich reinlassen, erkläre ich es Ihnen, Herr Adam.« Der Russe zögerte, musterte sie mit einem Blick, den sie nicht zu deuten wusste.
Schließlich trat er zurück und gab die Tür frei. »Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas mit dieser ... dieser Sache zu tun habe?«, fragte er, als er vor Jana her einen düsteren Flur entlangschlurfte. Jana lachte kurz auf. »Ich weiß ein wenig von dem, was damals passiert ist«, erwiderte sie. »Und aus Ihrer Reaktion schließe ich, dass etwas Wahres daran ist.« »Der Journalist«, folgerte er missmutig. »Sie kennen ihn, schätze ich. Woher?« »Wir sind uns zufällig begegnet und ins Gespräch gekommen.« Sie hoffte, Adam würde sich mit der Erklärung zufriedengeben. Ihre kleine Gedenkstätte im Wald ging ihn nichts an. Der Russe beließ es dabei und führte sie in einen Raum von riesigen Ausmaßen – zumindest für ein Wohnzimmer. Doch trotz seiner Größe und der vier hohen Fenster wirkte es dunkel und erdrückend auf Jana. Die Einrichtung schien alles Licht zu schlucken. Sie war in Brauntönen gehalten, bestand überwiegend aus rustikalen Eichenmöbeln, die ähnlich alt zu sein schienen wie die Villa selbst. Der Dielenfußboden wurde von durchgetretenen, rostroten Teppichen bedeckt, die Decke war holzvertäfelt, ebenso ein Teil der Wände. Den Rest zierten Strukturtapeten mit breiten Bordüren. Zentrum des Zimmers bildete eine Polstergarnitur mit einem gut zwei Meter langen Tisch, in dessen Platte hässliche
grüne Fliesen eingelassen waren. Darum herum standen eine schwere Couch und drei dazu passende Sessel, deren schwarzbrauner Lederbezug an manchen Stellen abgewetzt war. Auf einen der Sessel steuerte Adam zu und ließ sich hineinfallen. Er versank tief in den Polstern. Mit einer jovialen Handbewegung forderte er Jana auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Dann widmete er sich der zur Hälfte gefüllten Wodkaflasche und dem Wasserglas neben ihm auf dem Tisch. »Möchten Sie auch was trinken?«, fragte der Russe und schwenkte die Flasche leicht in Janas Richtung. Sie lehnte kopfschüttelnd ab. Daraufhin goss er sich das Glas drei viertel voll und nahm einen kräftigen Schluck. »Medizin«, brummte er, »gegen meine Rückenschmerzen.« »Verstehe.« Jana nickte. Für wie dumm hielt der Mann sie? »Also, Frau Schuchart«, sagte er gönnerhaft, »wie kann ich Ihnen denn nun helfen?« »Sie waren damals auf diesem Truppenübungsplatz dabei, als mein Vater getötet wurde«, konfrontierte Jana ihn sofort mit ihrem Wissen. »Sie sind entkommen. Ich verstehe nicht, warum Sie all die Jahre geschwiegen haben. Sie haben die Täter doch gesehen! Wissen Sie, dass ich mit einer Lüge aufgewachsen bin? Weil das Verbrechen ganz
offensichtlich vertuscht wurde! Ist Ihnen klar, wie schlimm es ist, nach mehr als fünfundzwanzig Jahren zu erfahren, dass der Vater, von dem man glaubte, er sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, ermordet wurde? Und dann womöglich einfach irgendwo verscharrt? Ohne Beerdigung? Würdelos, wie ein räudiger Hund?« Adam zeigte keine Regung. Janas Vorwürfe schienen ihn kaltzulassen. »Ich will, dass die Dinge aufgeklärt werden«, schloss Jana. »Besser spät, als gar nicht. Ich bin nicht hier, um Sie anzuklagen, sondern um Sie um Ihre Hilfe zu bitten.« Der Russe nahm einen weiteren tiefen Schluck. Er machte keine Anstalten, ihr zu widersprechen oder sich zu rechtfertigen. Stattdessen fragte er: »Wie soll ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann? Vielleicht arbeiten Sie ja doch für diesen Reporter und graben nur in der Vergangenheit, um eine aufregende Geschichte zu bekommen, die Sie teuer verkaufen können. Sie sollten mir etwas über sich erzählen. Dann sehen wir weiter, Jana Schuchart. Schuchart ... Das ist nicht der Name Ihres Vaters.« Jana hatte gehofft, schneller ans Ziel zu gelangen. Aber wie es aussah, musste sie wohl diesen Umweg gehen. »Nein, ist er nicht. Schuchart ist der Mädchenname meiner Mutter. Nach dem Tod meines Vaters hat sie ihn wieder angenommen.« Der Russe nickte
zustimmend. Fast schien es, als habe er die Antwort erwartet. »Seitdem ist das auch mein Name. Ich war zu klein, um selbst bestimmen zu können, wie ich heißen will.« »Wenn Sie alt genug gewesen wären, für welchen Namen hätten Sie sich entschieden?«, hakte Adam nach. »Hm, vermutlich für den Namen meines Vaters«, antwortete sie zögernd. »Und wie haben Sie es geschafft, in Deutschland zu bleiben, Sie und Ihre Mutter?« Jana lächelte. »Es gab Wege und Möglichkeiten. Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Adam. Sie sind Russe und leben auch hier. Unter einem Namen, der nicht gerade russisch klingt.« »Gut gekontert, Tatjana Jegorowna.« Er grinste anerkennend. »Tatjana stimmt doch, oder? Jana ist nur die kurze Form.« Sie nickte, etwas irritiert über die Anrede. Dann sah sie, wie er sein Glas leerte und es sofort wieder vollschenkte. »Wenn Sie etwas anderes trinken möchten, können Sie sich ruhig etwas drüben aus der Küche holen. Wasser oder Cola. Irgendwas von dem Zeug muss im Kühlschrank stehen.« Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Meine Haushälterin kann Sie leider nicht mehr bedienen. Sie ist schon gegangen.« Die Frau, die ihr vorhin geöffnet hatte, vermutete Jana. Sie sah, dass er keinerlei Anstalten machte, sich aus seinem Sessel zu
erheben, um sie persönlich zu bewirten. Ein unhöfliches Benehmen, das sie bewegte, der Aufforderung nicht nachzukommen. »Nein, danke, ich habe keinen Durst.« Adam gab einen leisen Grunzlaut von sich und trank. »Was treiben Sie so, Tatjana Jegorowna?«, fragte er dann. »Verheiratet scheinen Sie nicht zu sein. Oder doch? Haben Sie Kinder? Wie alt sind Sie? Womit verdienen Sie Ihren Unterhalt?« Jana fiel auf, dass seine Stimme schleppender wurde. Oder bildetet sie es sich nur ein? »Ganz schön viele Fragen«, entgegnete sie. »Und auf alle sollten Sie mir eine Antwort geben.« Sie verstand. Sie wollte etwas von dem Russen, also musste sie ihm etwas dafür geben. Er war nicht bereit, seine Informationen zu verschenken. »Ich werde dieses Jahr einunddreißig«, begann sie zögernd, »Ende Juli. Sternzeichen Löwe, falls Sie das interessiert. Es heißt, Löwen-Menschen seien loyal, stolz und optimistisch, aber auch egozentrisch, autoritär und eitel.« Sie lächelte. »Ich weiß nicht, vielleicht bin ich all das ja, obwohl ich mich ganz anders sehe. Optimistisch, das stimmt allerdings.« »Sonst wärst du wohl kaum hier, Tatjana Jegorowna«, bestätigte Adam müde und genehmigte sich einen weiteren großen Schluck Wodka. Wie selbstverständlich war er vom Sie
zum Du gewechselt. Er wedelte leicht mit der freien Hand, wie ein Herrscher auf seinem Thron. »Weiter. Erzähl weiter.« »Ich bin mit achtzehn von zu Hause weg. Direkt nach dem Abitur. Habe Architektur studiert. Mit einem miserablen Abschluss. Na ja, vermutlich habe ich deshalb keine feste Anstellung, sondern schlage mich mit verschiedenen Jobs durchs Leben. Ich wohne allein in einer kleinen Wohnung in Uelzen. Die Witwe in der Wohnung unter mir kümmert sich um meine Goldfische, wenn ich nicht zu Hause bin. Zurzeit arbeite ich in einem Fitnessstudio. Gelegentlich gebe ich Kurse in Selbstverteidigung.« »Kein Leben, das dir gefällt«, stellte der Russe mit schwerer Zunge fest. Seine Worte berührten sie unangenehm. War sie so leicht zu durchschauen? »Wenn ich in den Bergen bin, gefällt es mir schon«, entgegnet sie trotzig. »Klettern. Freeclimbing. In Norwegen. Das ist mein Ding. So oft es geht, fahre ich dorthin. Irgendwann vielleicht für immer.« »Du solltest heiraten.« Adam füllte sein Glas auf. Der Flascheninhalt neigte sich in atemberaubender Geschwindigkeit dem Ende zu. Jana schüttelte vehement den Kopf. »Niemals! Ich habe mich gerade von meinem Freund getrennt. Es war eine Katastrophe.« »Aber Familie ist wichtig. Gibt dir Schutz
und Sicherheit.« Jana antwortete nicht sofort. Ein feiner Schmerz durchzog ihren Brustkorb, und eine Wand baute sich in ihr auf. Ein Schutzwall. Wie immer, wenn sie auf dieses Thema angesprochen wurde. »Ich brauche das nicht«, erwiderte sie schroff. »Ich habe das nie wirklich erlebt. Familie, ein Zuhause. Vielleicht, als ich klein war und Vater noch lebte. Ich erinnere mich nur dunkel an die Zeit, als wir noch eine richtige Familie waren. Nein, mir fehlt nichts ...« Sie zögerte einen Atemzug lang. »Doch, mein Vater«, gab sie dann zu, »der hat mir immer gefehlt. Bis heute ist das so. Nach seinem Tod hatte meine Mutter mehrere Beziehungen, die alle nicht gehalten haben. Schutz und Sicherheit? Das können Sie vergessen.« Sie schnaubte verächtlich. »Über meinen Vater hat Mutter nur selten gesprochen«, fuhr sie fort. »Das meiste, was ich von ihm weiß, beruht auf den Geschichten, die mir seine ehemaligen Kameraden erzählt haben, solange wir noch in der Garnison in Wünsdorf gewohnt haben und bevor sie Deutschland in Richtung Russland wieder verlassen mussten. Wenn die Männer von Jegor Antonowitsch sprachen, dann nur von einem guten und verlässlichen Freund, einem, den sich jedes Mädchen als Vater wünscht. In ihren Geschichten war er ein Held, ein Mann, der immer für seine Familie und seine Tochter da war. Das ist es, was ich von ihm weiß. Und es
gefällt mir. Aber dann muss ich hören, dass er bei einem Waffengeschäft ermordet und dieser Mord nie gesühnt worden ist. Ich kann das nicht einfach so hinnehmen!« Zorn kochte in ihr hoch. »Du siehst ... siehst ihr so ähnlich«, murmelte Adam plötzlich. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Jana, nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Wem sehe ich ähnlich?« Statt ihr zu antworten, sah er sie nur an. Sie stellte fest, dass seine Augen feucht schimmerten. Gleich darauf löste sich eine Träne und lief ihm über die Wange. Er wischte sie ab und wandte seinen Blick von Jana. Einem tiefen Seufzer ließ er gleich danach einen kaum unterdrückten Rülpser folgen. Es wurde Zeit, dass er ihr endlich etwas über das Geschehen auf dem Truppenübungsplatz verriet, ehe er ganz wegklappte. »Herr Adam, was ist damals auf dem Truppenübungsplatz geschehen? Bitte sagen Sie es mir! Sie waren doch dabei. Wer hat meinen Vater getötet? War es der mit dem Spitznamen Wassermann?« Der Russe reagierte nicht. Er starrte vor sich hin und schien dabei immer tiefer in seinem Sessel zu versinken. Jana stand auf, machte einen Schritt zu ihm hin, rüttelte ihn an der Schulter. »Bitte!«, stieß sie energisch aus. Unendlich langsam und, wie es schien, unter Aufbietung all seiner Kräfte hob er seinen
Kopf. »Ja, ich war dabei. Ich habe alles mit angesehen«, sagte er tonlos ins Leere. »Ich ... Es war so schrecklich!« Er zwang sich, Jana anzusehen. »Dein Vater könnte noch leben, wenn ich ... Ich fühle mich so schuldig.« »Aber Sie haben ihn doch nicht getötet«, widersprach Jana. »Sie waren das doch nicht, oder?« Plötzlich kamen Zweifel in ihr auf. Adam schüttelte den Kopf. Er presste die Lippen zusammen. Sein Kinn vibrierte. Fehlte noch, dass der Mann, von der Erinnerung und dem Wodka übermannt, gleich losheulte. »Ich schäme mich so«, jammerte er. Herrgott noch mal!, stöhnte Jana innerlich auf. »Sie müssen sich nicht schämen«, sagte sie und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Jetzt sagen Sie doch endlich, was vorgefallen ist. Nennen Sie mir den Namen des Mörders. Wie heißt der Wassermann mit richtigem Namen? Helfen Sie, dass er vor Gericht gebracht wird. Sie sind ein wichtiger Zeuge. Vermutlich der einzige.« Adam schüttelte heftig den Kopf. »Ich kann nicht«, stieß er aus. »Ich sage vor keinem Gericht aus. Niemals. Es ist zu spät.« »Nichts ist zu spät!« Jana konnte es nicht glauben. Warum wollte er ihr nicht helfen? Wieder nahm Adam diese Kauerstellung in seinem Sessel ein. Wie weggetreten saß er da, und sie spürte, dass es keinen Zweck hatte, weiter auf ihn einzureden. War es das gewesen? Alles umsonst? Ihre ganze Hoffnung zerschellt an einem versoffenen Russen mit
mehr als einem halben Liter Wodka intus, der in seinem Selbstmitleid badete? »Du musst sie dir selber holen«, vernahm sie plötzlich seine leise Stimme aus den Tiefen des Sessels. »Was? Was muss ich mir holen?« »Die Beweise. Ich habe Beweise versteckt.« »Was?«, rief sie überrascht aus. »Was für Beweise?« »Die Mörder ... Damit kannst du sie überführen. Ohne die Beweise kriegst du sie nicht.« »Wo? Wo sind sie?« »Nicht hier.« »Wo dann? Sie müssen sie holen!« Er schüttelte heftig den Kopf, wie ein bockiges Kind. »Das geht nicht! Halt mich da raus. Ich bin ein alter Kerl. Und kaputt vom Wodka. Das siehst du doch, Tatjana Jegorowna. Lass mich in Ruhe, verdammt noch mal!« Adam griff zur Flasche, setzte sie an den Mund und trank. Er machte sich nicht die Mühe, den daumenbreiten Rest erst in sein Glas zu schütten. Jana ließ sich zurück in ihren Sessel sinken und starrte das besoffene Wrack fassungslos an. »Wo muss ich suchen?«, fragte sie nach einer Weile lähmender Stille. Adam drückte sich ächzend ein Stück aus dem Sessel hoch. Es schien, als sammle er seine
verbliebenen Kräfte zu einer letzten Anstrengung. »Grischke. Mein alter Freund Edgar Grischke«, sagte er und zwang sich, deutlich zu sprechen, »hat eine Matrjoschka ... weißt du, was das ist?« Jana nickte. Sie kannte die russischen Puppen. »Darin steckt ein Plan. Der Weg zum Beweis. Gar nicht weit weg. Aber pass gut auf ...«, er fing plötzlich an zu lachen, verschluckte sich, hustete, sein Kopf verfärbte sich tiefrot, »der Ort ... wird ... von Harzhexen ... bewacht.« Kraftlos presste er die Worte heraus. Fast hatte es den Anschein, als müsse er ersticken. Jana ignorierte sein Hexengefasel, hoffte, dass der Russe durchhielt, bis er ihr alle notwendigen Informationen gegeben hatte. »Wo finde ich deinen Freund?« »In Barbis. Er ... er ist Gärtner.« Adam fing sich wieder etwas. »Aber du kannst nicht so einfach zu ihm. Er hat die Puppe in seiner Hütte versteckt, sagt er. Im Wald. Bei den Bienen. Ich muss ihm Bescheid geben, dass du kommst. Sonst rückt er die Matrjoschka nicht raus. Er hat geschworen, die Puppe mit seinem Leben zu verteidigen.« »Wann kann ich zu ihm?«, wollte Jana wissen. Der Russe schaute sie mit weit aufgerissenen Augen entgeistert an. So, als habe sie gerade etwas völlig Verrücktes von sich gegeben. Ein, zwei Sekunden später schien er ihre Frage verstanden zu haben. »Komm am Freitagabend her«, sagte er, bemüht, seine Stimme unter
Kontrolle zu behalten, »dann kann ich dir mehr sagen.« »Warum erst Freitag?«, stieß sie aus. »Weil ich es sage.« Adam ließ seinen Kopf sinken, stierte vor sich hin. Jana nickte. Es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Gut«, murmelte sie und stand auf. »Dann also bis Freitag. Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Adam, ich finde den Weg.« Vermutlich wäre er sowieso nicht aus dem Sessel hochgekommen. In seinem Zustand. »Auf Wiedersehen.« »Warte ...« Sie hielt in der Bewegung inne. »Ja?« »Sei vorsichtig, kleine Tatjana Jegorowna«, brummte er müde. »Wo Beute ist, sind die Wölfe nicht weit.« Schimmerte da durch den alkoholtrüben Schleier vor seinen Augen Angst hindurch? Als Jana die Villa längst hinter sich gelassen hatte, klangen die Abschiedsworte des Russen noch immer in ihr nach.
4. Mittwoch Therapieplan für Ingo Behrends: Atemtherapie, Ergometertraining, »Psychologie des Abnehmens, Teil 1« (Vortrag), Hydrojet-Massage, Blutdruckseminar Teil 2 und »Stressbewältigung« (Vortrag). Mittagessen: gefüllte Kohlroulade an Rahmsauce und Salzkartoffeln (12 Fettpunkte) Ingo Behrends saß bei einem Glas Wasser in dem kleinen Café oberhalb der Klinik und wartete auf Edgar Grischke. Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster, ließ die Augen über die Dächer der Stadt schweifen und hin zu den Harzbergen im Hintergrund wandern. Nach einer Woche konnte er seinem Aufenthalt in der Bad Lauterberger KirchbergKlinik noch immer nicht viel Gutes abgewinnen. Schon der Gedanke an die Quälereien beim Ergometertraining, an die Belastungs-EKGs und all die Übungen und Vorträge, die ihm noch bevorstanden, ließ ihn innerlich schaudern. Da war die angenehme Wassermassage auf dem Hydrojet nur ein müder Trost. Sogar die freie Zeit zwischen den Anwendungen schleppte sich quälend langsam
dahin. Er ging spazieren, las oder zappte sich durch die Fernsehprogramme. Etwas anderes unternahm er schon deshalb nicht, weil seine Mobilität mangels eigenem fahrbaren Untersatz sehr eingeschränkt war. Und hier in einem Café zu sitzen und Mineralwasser zu trinken, war auch nur bedingt amüsant. Immerhin versprach die kommende Stunde mit Edgar Grischke ein bisschen Abwechslung. Mitte letzter Woche, nur wenige Stunden nach seiner Ankunft in der Klinik, hatte er den Mann kennengelernt und sich in den zurückliegenden Tagen noch zwei Mal mit ihm getroffen. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und zwanglos miteinander geplaudert. Grischke war ein sympathischer Zeitgenosse mit einem freundlichen faltenreichen Gesicht, das eingerahmt wurde von dichten, kurz geschnittenen grauen Haaren. Er war nicht sonderlich groß und von eher schmaler Statur. Allerdings trug er einen recht ansehnlichen Bauch vor sich her, der von einer ausgeprägten Lebenslust zeugte. Gleichzeitig waren seine kräftigen Hände mit den rissigen Fingern Beleg dafür, dass er keine harte Arbeit scheute und gewohnt war, anzupacken. Auf knapp siebzig Jahre hatte Behrends den Mann bei ihrem ersten Treffen geschätzt und damit fast richtig gelegen. Grischke stand einen Monat vor seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag. Von Beruf war der Alte passionierter
Teilzeit-Gärtner. Den eigenen Betrieb hatte er bereits vor zehn Jahren auf seinen Sohn überschrieben und sich danach nahezu vollständig aus dem Geschäft zurückgezogen. Natürlich arbeitete er noch mit, widmete sich jedoch hauptsächlich seinen Lieblingsaufgaben. So ließ er es sich nicht nehmen, seine langjährigen Stammkunden und Freunde weiterhin mit frischem Gemüse und Kräutern zu versorgen. Auch der Küchenchef der Kirchberg-Klinik gehörte zu seiner Kundschaft und wurde fast täglich von ihm beliefert. Grischke plante die Touren stets so, dass ihm immer ausreichend Zeit für ein kleines Schwätzchen blieb; mit den neuen Bekanntschaften zum Beispiel, die er auf seinen Lieferfahrten machte. »Na, Herr Hauptkommissar, wie ist das werte Befinden?« Behrends schreckte aus seinen Gedanken hoch und wandte sich der Stimme zu. Unbemerkt war Edgar Grischke an den Tisch getreten und stand breit grinsend vor ihm. »Gut. Mir geht es gut«, antwortete Behrends reflexartig. »Na ja, glücklich sehen Sie nicht gerade aus«, stellte der alte Gärtner fest, zog den freien Stuhl vom Tisch ab und setzte sich. Dann hielt er Behrends zur Begrüßung seine Hand hin. »Guten Tag erst mal.« Behrends ergriff die Hand. »Schön, Sie zu sehen, Herr Grischke.«
Der Alte bestellte bei der herbeigeeilten Kellnerin ein Bier. »Sie wissen ja, Kaffee ist nichts für mich«, entschuldigte er sich schulterzuckend. »Und Sie? Geht es mit Ihrer Therapie voran?« Behrends winkte ab. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Keine Ahnung, wie ich das die nächsten zwei Wochen durchhalten soll. Wenn ich nicht gerade meine Anwendungen habe, langweile ich mich zu Tode.« »Das sehen Sie mal nicht so schwarz«, tröstete ihn Grischke, »die Ärzte und Therapeuten in der Klinik sind wirklich gut. Sie müssen nur etwas Geduld haben. Wenn Sie entlassen werden, können Sie wieder herumspringen, wie ein junges Reh, glauben Sie mir.« Behrends kommentierte die Prophezeiung des Gärtners mit einem dünnen Lächeln. »Und was Ihre Langeweile betrifft, da habe ich mir schon ein paar Sachen überlegt, mit denen ich Sie auf andere Gedanken bringen kann.« »Ach!« Behrends beugte sich interessiert vor. »Was können Sie mir denn so bieten?« Grischke blickte kurz um sich, als müsse er sich vergewissern, dass es keine unliebsamen Mithörer gab. »Bienen und allerfeinste russische Hausmannskost«, raunte er dann verschwörerisch. »Bienen?« Behrends machte eine scherzhafte Drohgeste mit dem Finger. »Sie wollen mich
doch nicht etwa ...?« »Um Himmels willen, nein, Herr Kommissar!« Grischke hatte sofort verstanden, hob abwehrend die Hände und lachte. »Ich will Sie nicht ins Rotlichtmilieu schleppen.« »Sondern?« »Habe ich Ihnen doch schon verraten. Ich bin Hobby-Imker. Meinen Honig nehmen sie in der Klinikküche auch sehr gern. Eigentlich wollte ich Sie nur in mein kleines Reich oben im Wald bei Barbis entführen. Da steht meine bestens ausgestattete Wochenendhütte, dazu meine Bienenstöcke und für Verpflegung ist auch gesorgt«. Er blickte vielsagend sein Bierglas an. »Was ich damit sagen will, man kann es dort richtig gut aushalten. Wenn man mal raus will, zum Beispiel. Sogar mehrere Tage. Wenn Sie möchten, würde ich Ihnen das alles zeigen.« »Tatsächlich? Imker? Ich verstehe.« Behrends musste das irgendwie überhört haben. Oder vergessen. Er konnte eine gewisse Enttäuschung nicht verhehlen. Imkerei und Bienenvölker versprachen, im Gegensatz zu seinem ersten Verdacht, nicht gerade prickelnde Spannung. »Und was ist mit der russischen Hausmannskost? Wollen Sie mir die in Ihrer Hütte servieren?« »Oh nein, das lasse ich lieber! Sonst verhaften Sie mich hinterher noch wegen meiner miserablen Kochkünste.« Grischke griff in die Innentasche seiner speckigen Lederweste,
kramte einen Moment darin herum und zog schließlich ein gefaltetes Stück buntes Papier hervor. Er fummelte es auseinander und schob es Behrends über den Tisch zu. Ein Werbeflyer. »Hier. Das Gagarin. Kennen Sie das?« Behrends schüttelte den Kopf. »Ist das Restaurant von einem guten Freund. Der ist Fan von Juri Gagarin. Sie wissen schon, dem russischen Kosmonauten, der als erster Mensch im Weltraum war. Nach dem hat er sein Lokal benannt. Er betreibt das Gagarin jetzt seit ... warten Sie ... ja, das müssen mittlerweile fünfzehn Jahre sein. War ’ne richtige Spelunke, bevor er nach Bad Sachsa gekommen ist und den Laden von seinem Vorgänger übernommen hat. Da könnten wir doch mal zusammen hinfahren, oder? Natürlich nur, wenn Sie möchten. Die machen dort eine Soljanka, sage ich Ihnen – vom Feinsten!« Grischke leckte sich genüsslich über die Lippen und schmatzte leise. Seine Augen strahlten. »Klingt sehr verlockend. Ich habe zwar noch nie russisch gegessen. Aber warum sollte ich nicht mal was Neues ausprobieren?« »Das ist doch ein Wort!«, freute sich Grischke. »Ich würde Sie abholen. Wie wäre es mit Freitagabend?« Behrends überflog in Gedanken seinen Behandlungsplan. Anwendungen hatte er nur bis Freitagnachmittag, danach wieder am
Montag. Am Samstag und am Sonntagvormittag sollte er jeweils ein einstündiges Ergometertraining absolvieren. Den exakten Zeitpunkt durfte er selbst bestimmen. Katrin würde ihn erst am Samstagnachmittag besuchen. Die restliche Zeit konnte er kommen und gehen, wann er wollte. Wie in einem Hotel. Es kontrollierte niemand, wohin er ging. Hauptsache, er lag morgens wieder in seinem Bett und löste keine Suchaktion aus, weil er die Nacht ohne Erlaubnis außerhalb der Klinik verbracht hatte. Das einzige echte Problem war das mit der Diät. Es gab da diese Liste, die man ihm gleich nach der Eingangsuntersuchung überreicht hatte. Essen und Trinken bis zu einer maximalen Kalorienpunktzahl. Hatte man die erreicht, war Schluss. Was man wann aß, war jedem freigestellt. Und es lag an einem selbst, wie man sich die Mahlzeiten einteilte. Auf den ersten Blick wirkte das einigermaßen erträglich. Sogar die fettreduzierte Mischkost, die man ihm als Mittagessen verordnet hatte, las sich auf dem Speiseplan recht verlockend. Aber es war der blanke Horror! Egal, wie man es drehte, man wurde nicht satt! Behrends dachte kurz darüber nach, ob es wirklich so dramatisch war, wenn er einmal aus der Kalorien-Folterkammer ausbrach. Dann musste er eben tags darauf ein wenig kräftiger in die Ergometer-Pedale treten. Er beschloss, es zu riskieren. »Abgemacht«, sagte er und fügte hinzu: »Ein russisches
Spezialitätenlokal? Ich wusste gar nicht, dass es in dieser Gegend so etwas gibt. Wie kommt Ihr Freund ausgerechnet auf die russische Küche?« »Weil er vermutlich Russe ist«, entgegnete Grischke trocken. Behrends grinste. »Vermutlich? Sicher sind Sie sich da nicht? Obwohl er Ihr Freund ist?« Er glaubte, der Gärtner wolle ihn auf den Arm nehmen. »Na ja, er ist ein ziemlich komischer Kauz«, erwiderte Grischke mit nachdenklicher Miene. »Man weiß nie so recht, woran man bei ihm ist. Seinem Akzent nach ist er Russe, das steht mal fest. Aber wirklich sicher ist das nicht. Allein schon wegen seines Namens. Er selbst macht aus seiner Vergangenheit ein großes Geheimnis, bestätigt keine Vermutung oder bestreitet sie, äußert sich einfach gar nicht dazu. Aus seiner Zeit vor Bad Sachsa weiß selbst ich als sein Freund so gut wie gar nichts. Was sein gegenwärtiges Leben betrifft, ist er allerdings auch nicht sehr mitteilsam. Wenn er sich tatsächlich mal länger mit jemandem unterhält, erzählt er meistens Geschichten. Das kann er – Geschichten erzählen. Nicht mal ich weiß immer, was bei ihm Wahrheit ist und was erfunden. Bis heute nicht.« »Er ist also so eine Art russischer Münchhausen«, stellte Behrends amüsiert fest. Der Mann begann ihn zu interessieren. »Ja, kann man vielleicht so sagen«,
entgegnete Grischke und kratzte sich am Kopf, »und dann auch wieder nicht. Ich denke, seine Geschichten sind nicht komplett erfunden. Vielmehr schmückt er die Wahrheit derart kunstvoll aus, dass man sie nicht oder nur ziemlich schwer erkennt. Es bleiben immer gewisse Zweifel, verstehen Sie?« »Ich glaube schon. Aber wie heißt er denn nun, Ihr Russe?« Behrends warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Sie haben eben angedeutet, dass es da einen Widerspruch zwischen seiner Herkunft und seinem Namen gibt.« Grischke nickte. »Stimmt. Er heißt Adam. Leo Adam.« »Das klingt tatsächlich nicht sehr russisch«, bestätigte Behrends schmunzelnd. »Hat allerdings einen plausiblen Grund. Er war verheiratet. Mit Ruth. Hat ihren Namen angenommen. Sagt er zumindest.« »Hört sich an, als ob Sie daran zweifeln«, wunderte sich Behrends. »Warum?« »Weil wir schon ordentlich einen getankt hatten und er es so ganz nebenbei rausgelassen hat. Also das mit dem Namen. Als ich ihn dann nach seinem Geburtsnamen gefragt habe, war es plötzlich vorbei mit seiner Redseligkeit.« »Aber verheiratet war er. Oder ist das auch ein Märchen?« »Nein, nein, das ist nicht gelogen.« Grischke starrte abwesend auf sein Bierglas und drehte es zwischen seinen Fingern langsam auf dem
Deckel herum. Dann, nach einigen Sekunden des Schweigens, fragte er: »Wissen Sie eigentlich, wie wichtig Bienen für das Überleben der Menschheit sind?« Behrends brauchte einen Moment, ehe er auf den abrupten Themenwechsel reagieren konnte, und nickte. »Ich glaube, ich habe mal darüber gelesen.« Er hätte gern noch mehr über Leo Adam, den Russen, erfahren, aber wie es schien, wollte Grischke jetzt lieber über Bienen reden. Der alte Gärtner hielt ihm tatsächlich einen kleinen Vortrag über Pestizide, Bienensterben und die verheerenden Folgen. Dann erteilte er dem Hauptkommissar einen Schnellkurs in Imkerei, dem Behrends nur mit mäßigem Interesse folgte. Danach war auch das Kapitel abgehandelt, und sie wandten sich der Tagespolitik und anderen allgemeinen Themen zu. Knapp zwei Stunden mochten vergangen sein, als sie sich schließlich vor dem Café voneinander verabschiedeten. Behrends winkte dem Mitsubishi Geländewagen des Gärtners hinterher und schlenderte leise vor sich hin pfeifend zur Klinik zurück. Das Treffen mit dem Alten und die Aussicht auf russische Gaumenfreuden am Freitag hatten seine Laune erheblich gebessert. Nach dem Abendessen duschte Behrends ausgiebig und machte es sich auf dem Bett bequem. Die Nachrichten im Fernsehen hatten eine einschläfernde Wirkung auf ihn. Als sich
sein Smartphone meldete, riss er die Augen auf und sah, wie das Foto eines Mannes bildschirmfüllend eingeblendet wurde. Durch Katrins allabendlichen Anruf abgelenkt, gelang es ihm nicht, den Namen des Mannes unter dem Foto zu entziffern. Von dem, was die Nachrichtensprecherin zu den nachfolgenden Filmaufnahmen sagte, bekam er gerade noch mit, dass ein Journalist fast zu Tode geprügelt worden war. Sekunden später wandte er sich ganz vom Fernseher ab und konzentrierte sich auf das Gespräch mit Katrin. Später, kurz vor dem Einschlafen drängten die Nachrichtenbilder wieder in Behrends’ Bewusstsein: ein zusammengeschlagener Mann, Krankenwagen, etliche Polizeifahrzeuge. Er stöhnte leise auf. Kam es jetzt in Mode, unliebsame Reporter gewaltsam mundtot zu machen? In Deutschland, einem Land, das so viel Wert auf seine Pressefreiheit legte? Wirklich erstaunt wäre er nicht darüber gewesen. Misstrauen, Ressentiments und Hass waren salonfähig geworden, wurden öffentlich ausgelebt. Kein Wunder, dass gewalttätige Übergriffe immer weiter zunahmen und auch die nicht länger verschont blieben, die ihrer Arbeit nachgingen und einigen Verblendeten als Vertreter der sogenannten Lügenpresse galten. Morgen würde er eine Tageszeitung kaufen und nachlesen, was genau passiert war, überlegte Behrends noch. Dann fielen ihm die Augen zu und seine Gedanken lösten sich in
Wohlgefallen auf.
5. In der Dämmerung des späten Frühsommerabends bog Jana am Freitag auf das Grundstück des Russen ein. Sie war wütend. Dieser Gärtner, Edgar Grischke, der wusste angeblich von nichts und hatte die Existenz einer Matrjoschka, die sich in seinem Besitz befinden sollte, rundweg geleugnet. Heute gegen Mittag hatte sie den Mann angerufen, nachdem ihr die Warterei zu bunt geworden war. Sie war nicht nach Hause zurückgefahren, hatte stattdessen ihren Aufenthalt in der Pension Waldesruh verlängert und sich gestern die Zeit damit vertrieben, ein wenig die Gegend zu erkunden. Je länger sie darüber nachgedacht hatte, desto absurder war ihr Adams Heimlichtuerei vorgekommen. Warum hatte er sie aufgefordert, erst noch einmal zu ihm zu kommen, anstatt sie den Gärtner direkt aufsuchen zu lassen? Immerhin wusste sie jetzt, dass Adam seinen Freund nicht informiert hatte. Vielleicht war alles nur Gerede gewesen, um sie loszuwerden. Oder er hatte sich schon am nächsten Morgen an nichts mehr erinnern können, so besoffen, wie er gewesen war. Nun, das würde sie gleich merken, sollte das Spiel von Neuem losgehen, wenn sie mit ihm zusammentraf. Aber heute würde sie nicht
wieder gehen, ohne etwas in der Hand zu haben. Wenigstens den Namen des Mannes, der ihren Vater getötet hatte! Das Licht der schmiedeeisernen Laternen entlang der gepflasterten Auffahrt geleitete sie hinauf zum Platz vor dem Haus, wo sie wie schon bei ihrem ersten Besuch ihr Motorrad hinter Adams Auto parkte. Nur in einem der vielen Zimmer in der Villa brannte Licht. Es war das Wohnzimmer, soweit sie sich erinnerte. Schnell sprang sie zur Eingangstür hinauf und betätigte die Klingel. Im Haus rührte sich nichts. Auch nachdem sie ein zweites und dann ein drittes Mal geläutet hatte, ließ sich niemand blicken. Weder Adam noch seine Haushälterin. Wütend starrte Jana die Glasornamente im oberen Türdrittel an. Hatte sich dieser Scheißkerl etwa wieder in seinem Sessel volllaufen lassen und war darüber eingeschlafen? Oder stand er an einem der Fenster hinter den Vorhängen, beobachtete sie und wartete nur darauf, dass sie wieder losfuhr? Hatte er gar nicht mehr vor, ihr zu helfen? Dann sollte er es ihr aber auch, verdammt noch mal, direkt ins Gesicht sagen! Jana würde Adam sprechen. Noch heute Abend! Auch wenn sie ihn dafür womöglich erst ins Bad schleifen und seinen Kopf unter die Dusche halten musste. Sie stieg die Stufen wieder hinab, blickte sich um und überlegte, ob sie irgendwie in das Haus gelangen konnte. Langsam schlich sie an den Grundmauern der
Villa entlang. Nachdem sie das Haus zur Hälfte umrundet hatte, bemerkte sie in einer Nische unter der aufgeständerten Holzterrasse eine schmale Tür. Im Dunkel war sie kaum zu sehen, sodass Jana um ein Haar daran vorbeigegangen wäre. Ohne zu zögern, drückte sie die blanke eiserne Klinke herunter. Die Tür war offen! Sollte Adam vergessen haben, sie abzuschließen? Es war nur ein Gefühl, das sie das Schloss näher betrachten ließ. Sofort erkannte sie, dass das Schließblech in der Türzarge verbogen war. Sie strich mit den Fingern über das Metall, spürte die zerkratzte Oberfläche. Ihr Herz begann, heftig zu schlagen. Jemand hatte sich mit Gewalt an der Tür zu schaffen gemacht und sie aufgebrochen! Sie kniff die Augen zusammen, sah noch etwas genauer hin. Schwer einzuschätzen, ob die Kratzer frisch waren. Und wenn, war der Eindringling vielleicht noch im Haus? Waren es sogar mehrere? Sie sollte besser abhauen! Jana zögerte, entschied sich nach ein paar Sekunden, zu bleiben. Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf, nur ein kleines Stück, dann verspürte sie einen Widerstand, als das Türblatt den steinernen Boden berührte. Sofort ließ sie die Klinke los, wollte keine unnötigen Geräusche verursachen. Der offene Spalt reichte ihr, um hindurchzuschlüpfen. Hinter der Tür schlug ihr ein moderiger Geruch entgegen. Vermutlich stand sie im Keller des Hauses. Ihre linke Hand tastete im
Dunkel über das feuchte Mauerwerk, fand einen Schalter und betätigte ihn. Das trübe Licht einer Wandlampe mit ihrer verdreckten Glasabdeckung schaffte es nur mit Not, den Kellerraum auszuleuchten. Sie musste sich vorsehen, nicht über herumstehende Gegenstände oder Unebenheiten im Fußboden zu stolpern. Die Kellerwände waren mit Regalen zugestellt. In einigen stapelten sich Konserven, in anderen Kartons, deren Aufschriften sie nicht entziffern konnte. Dazu kamen unzählige Flaschen. Der Wein liegend in entsprechenden Gestellen, die Spirituosen dicht an dicht stehend. Offenbar benutzte Adam den Keller als Warenlager für sein Restaurant. Für den Eigenbedarf waren diese Mengen selbst für ihn eindeutig zu groß. Sie beließ es bei diesem schnellen ersten Eindruck, hielt die Luft an und lauschte. Nichts. Nur Stille. Trotzdem sollte sie vorsichtig sein. Auf Zehenspitzen schlich sie quer durch den Raum, hin zur Holztreppe am anderen Ende. Nachdem sie die ersten Stufen lautlos überwunden hatte, gab beim nächsten Tritt das Holz unter ihrem Fuß ein wenig nach und verursachte ein leises Knarren. In ihren Ohren klang es fast wie das Bersten eines Baumes, in den soeben der Blitz eingeschlagen hatte. Sie erstarrte vor Schreck, versuchte, sich mit einer Hand an der nasskalten Wand abzustützen, während die andere vergeblich nach einem Geländer tastete. Um ein Haar hätte sie das
Gleichgewicht verloren. Sekunden vergingen, ohne dass sie den nächsten Schritt wagte. Nach wie vor blieb es totenstill. Allmählich legte sich ihre Anspannung. Vermutlich existierten die Einbrecher nur in ihrer Fantasie. Etwas mutiger jetzt setzte sie ihren Weg fort, stieg nach oben, ohne dem Knarren und Ächzen weiter Beachtung zu schenken. Am Ende der Treppe trat sie durch eine offen stehende Tür in einen schlauchartigen Raum, den sie trotz der Dunkelheit sofort erkannte: Der Hausflur. Durch die Verglasung der Eingangstür fiel von draußen spärliches Laternenlicht und ließ die Möbel im Flur zu bedrohlichen Schattenriesen anwachsen. Ein flüchtiger Blick die Treppe hinauf, die ins Obergeschoss führte, dann wandte sie sich nach rechts. Am Ende des Flurs entdeckte sie die Tür zum Wohnzimmer. Davor hielt sie kurz inne, holte tief Luft und klopfte. »Herr Adam, sind Sie da?«, rief sie, als auch nach dem zweiten Klopfen von drinnen keine Aufforderung kam, einzutreten. Sie öffnete die Tür. Binnen weniger Sekunden hatte sie die Situation erfasst. Der hell erleuchtete Raum war völlig verwüstet. Mittendrin sah sie Adam, der in seinem Sessel saß. Die Löcher in seiner Stirn und der Brust, das viele Blut, die merkwürdig schlaffe Haltung und der starr zur Decke gehende, leere Blick sagten alles. Der Russe war tot. Erschossen.
Die Hand vor den Mund geschlagen, starrte Jana auf das grausige Stillleben. Sekundenlang stand sie einfach nur da. Ihr Kopf war wie leer gefegt. Dann kehrten ihre Lebensgeister überfallartig zurück und mit ihnen die Angst. Der Mörder! Er war vor ihr durch die Kellertür gekommen! Womöglich war er noch im Haus! Sie musste sich verstecken! Nein, nicht verstecken! Nur weg! Auf der Stelle verschwinden, ehe der Killer sie zu fassen bekam! In Panik fuhr sie herum, hatte für einen Moment das Gefühl gehabt, jemand stehe hinter ihr. Aber da war niemand. Sie rannte los, durch den dunklen Flur zur Haustür. Sie war abgeschlossen. Der Schlüssel steckte. Sie drehte ihn mit hektischen Handbewegungen, riss die Tür auf und stürzte hinaus, ohne sie hinter sich zu schließen. Blindlings stolperte sie die Betonstufen hinab, hatte Glück, dass sie nicht danebentrat und stürzte. Sie hastete zu ihrem Motorrad. Automatisch riss sie das Topcase auf und streifte sich den Helm über. Eine eingeschliffene Routine, die sie auch in diesem Moment abspulte. Die Handschuhe jedoch ignorierte sie. Ihre Finger zitterten. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihr, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Sie startete die Maschine. Unten auf der Straße drehte sie den Gasgriff bis zum Anschlag auf und schoss die Brandstraße hinunter in Richtung Innenstadt. Nur mit Mühe konnte sie in den Kurven und
Kreiseln einen Sturz verhindern. Dann war sie aus der Stadt heraus. Nach einem Kilometer bog sie auf einen kleinen Waldparkplatz ein, hielt an und stieg ab. Sie zog sich den Helm vom Kopf, ließ ihn achtlos neben ihr Motorrad fallen und stolperte durch die Dunkelheit ein paar Meter weit ins Unterholz. Dort übergab sie sich. Schwer atmend kehrte Jana Minuten später zu ihrer Maschine zurück. Sie saß auf, fuhr aber nicht sofort los, starrte stattdessen ins Leere. Vor ihren Augen spulten sich die Bilder aus Adams Villa in einer Endlosschleife ab. Du musst die Polizei alarmieren! Ihre Hand reagierte nicht auf den Befehl ihres Gehirns. Sie schaffte es nicht, das Smartphone aus der Tasche zu ziehen und den Notruf abzusetzen. Schließlich betätigte sie den Anlasser und setzte ihre Fahrt fort, zurück zu ihrer Pension in Steina. Jana duschte heiß und ausgiebig, dann legte sie sich nur mit Slip und T-Shirt bekleidet ins Bett. Ihre Gedanken kreisten um den toten Russen. Wer hatte ihn umgebracht? Und warum? Waren es Einbrecher gewesen, die das Wohnzimmer verwüstet hatten und von Adam auf frischer Tat ertappt worden waren? Musste er deshalb sterben? Aber hätte er dann so in seinem Sessel gesessen, beinahe als schliefe er? Das alles passte nicht zu einem einfachen Einbruch. Vielmehr schien es, als habe man den Russen in seinem Sessel erschossen, ihn regelrecht
hingerichtet und sich erst dann daran gemacht, die Wohnung zu durchsuchen. Wieder fragte sich Jana, was sie tun sollte. Voraussichtlich würde erst morgen jemand die Leiche entdecken. Frühestens. Wenn sie nicht doch noch die Polizei anrief. Nein, das würde sie nicht tun! Nicht einmal anonym. Sie wollte nicht in etwas hineingezogen werden, das sie nichts anging ... Ging es sie wirklich nichts an? Hatte sie vielleicht mehr mit dem Tod des Mannes zu tun, als sie wahrhaben wollte? Schon als sie unter der Dusche gestanden hatte, war ihr der Gedanke gekommen. Sie hatte ihn zu verscheuchen versucht. Er war immer noch da und verschaffte sich plötzlich wieder Raum. Wie hatte Adam zu ihr gesagt? »Wo Beute ist, sind die Wölfe nicht weit.« Gab es noch jemanden, der hinter den Beweisen für den Mord an ihrem Vater her war? Jemand, der verhindern wollte, dass diese Beweise gefunden wurden und etwas ans Tageslicht kam, was ein Vierteljahrhundert verborgen geblieben war? Hatte Adam deshalb sterben müssen?
6. Freitag Therapieplan für Ingo Behrends: Fango-Massage, Krankengymnastik 3, Ergometertraining, Terraintraining 2, Lungentraining, Kraftausdauer. Mittagessen: Lachs auf Blattspinat an Hummerschaumsauce und Salzkartoffeln (18 Fettpunkte). Die Soljanka war köstlich gewesen! Während Grischke sich noch mit dem Nagel seines kleinen Fingers einen Fleischrest aus den Zahnlücken pulte, widmete sich Behrends nach seinem Verdauungs-Wodka bereits hingebungsvoll dem Dessert. Vor ihm stand Syrniki mit Kirschkompott. Er schob sich einen Happen in den Mund, schloss die Augen und seufzte genussvoll. Gott, war das herrlich: einfach nur Schlemmen, ohne lästiges und immer bedrohliches Kalorienzählen! »Himmlisch«, nuschelte er kauend, »so gut habe ich schon lange nicht mehr gegessen.« Grischke nickte. »Meine Rede. Von guter Küche verstehen die was, die Russen.« »Gut, aber viel zu gehaltvoll«, ergänzte Behrends. »Ich hoffe, Sie erzählen keinem in der Klinik von meinen Sünden.« Er rieb sich
lachend den Bauch. »Sünden? Ich bitte Sie, Herr Kommissar, so einen kleinen Ausrutscher verkraften Sie doch locker!« »Na, ich weiß nicht.« Das Bild der Waage, auf die er am Montag würde steigen müssen, stand ihm plötzlich mahnend vor Augen. Hastig wischte er den Gedanken zur Seite. Warum sich das kulinarische Erlebnis nachträglich mit schlechtem Gewissen vermiesen? »Steht Ihr Freund eigentlich selber in der Küche und kocht?«, fragte er. »Ach was!«, rief Grischke lachend aus. »Leos Kochkünste sind doch sehr überschaubar. Nein, er hat einen Koch angestellt. Früher war Ruth, seine Frau, für die Küche verantwortlich. Sie war es übrigens auch, die ihn auf die Idee mit dem Restaurant gebracht hat. Er kannte die Rezepte, und sie hat die Speisen zubereitet. Leo hat sich um das Geschäftliche gekümmert. Das macht er bis heute.« »Was ist denn mit seiner Frau?«, wollte Behrends wissen. »Haben die zwei sich getrennt? Ich wollte Sie das schon am Mittwoch fragen.« Grischke seufzte. »Das ist eine tragische Geschichte. Ruth ist von einem Auto angefahren und tödlich verletzt worden. Vor einem Jahr. Nachts. Auf der Straße direkt vor dem Gagarin. Fahrerflucht. Der Täter läuft bis heute frei herum. Das müssten Sie doch
wissen. Sie sind bei der Polizei.« »Verkehrsdelikte fallen nicht in mein Ressort. Kann sein, dass ich davon gehört habe. Ich erinnere mich nicht.« »Sie war eine attraktive Frau. Leo war schwer verliebt. All die Jahre, die ich ihn kenne. Ruths Tod hat ihn hart getroffen. Seitdem ist er noch verschrobener geworden.« Der alte Gärtner hob sein Bierglas und leerte es. »Und er säuft. Er hat zwar schon immer dem Wodka zugesprochen. Aber mittlerweile schluckt er mehr, als gesund ist. Manchmal frage ich mich ...« Grischke brach ab und starrte an seinem Gegenüber vorbei ins Leere. Auf seiner Stirn hatten sich grüblerische Falten gebildet. »Was ist?«, fragte Behrends nach einem Moment des Schweigens. »Worüber denken Sie nach?« »Einen Tag nach Ruths Beerdigung hat mir Leo eine Matrjoschka übergeben«, entgegnete Grischke gedankenverloren. »Sie wissen schon, diese russischen Puppen, die so ineinander verschachtelt sind. Ich sollte sie für ihn verstecken und aufbewahren.« »Aha.« Behrends wusste nicht, worauf der Alte hinauswollte. »Und weiter?« »Ehrlich gesagt, damals habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Obwohl er ziemlich geheimnisvoll getan hat. Ich musste ihm versprechen, niemandem von der Puppe zu erzählen.«
»Aber jetzt bereitet Ihnen das Kopfzerbrechen? Wieso?« »Nicht erst jetzt. Ich habe in letzter Zeit schon manchmal darüber nachgedacht, ob diese Puppe irgendwas mit Ruths Tod zu tun haben könnte. Ich meine, vielleicht war der Unfall gar kein Unfall, sondern ein gezielter Anschlag. Könnte doch sein, oder?« »Na, ich weiß nicht«, zweifelte Behrends. »Was bringt Sie denn auf die Idee?« »Hm ...« Grischke zögerte. »Leos Vergangenheit. Ich sagte Ihnen ja, dass er darum ein großes Geheimnis macht. Und da fallen einem schon ein paar Sachen ein, warum das vielleicht so ist. Russen, Mafia ... Außerdem wirkt er auf mich seit dem Unfall immer irgendwie gehetzt ... wenn er sich mal nicht mit seinem Wodka betäubt hat. Und dann hat mich heute Mittag jemand angerufen wegen dieser Puppe. Eine Frau Schubert oder so ähnlich. Sie hat behauptet, Leo habe mir Bescheid geben wollen, damit ich ihr die Matrjoschka aushändige.« »Und? Hat er?«, fragte Behrends. Grischke schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe der Dame gesagt, dass ich nichts von irgendeiner Puppe weiß. Das war’s.« Plötzlich zuckte er mit den Achseln und seine Haltung entspannte sich. »Ach verdammt, ich mache mir manchmal einfach zu viele Sorgen um ihn. Wer weiß, wen er da am Haken hatte und was er im Suff wieder erzählt hat.« Er blickte auf
seine Armbanduhr. Dann rückte er mit seinem Stuhl ein wenig vom Tisch ab und sah sich in der Gaststube um. »Komisch, ich dachte Leo taucht heute noch auf. Eigentlich wollte ich Sie mit ihm bekanntmachen.« Er wandte sich wieder Behrends zu. »Wissen Sie was? Wenn er nicht hierherkommt, dann fahren wir eben zu ihm nach Hause.« »Dafür ist es doch wohl ein bisschen spät, oder? Vermutlich schläft Ihr Russe schon.« Grischke lachte auf. »Leo? Oh nein! Leo ist ein Nachtmensch. Der geht vor ein oder zwei Uhr nicht schlafen. Außer er hat ein Glas Wodka zu viel gekippt. Aber dann schafft er es meist nicht mehr ins Bett und bleibt in seinem Sessel hängen.« »Trotzdem ist es mir unangenehm, dem Mann jetzt noch auf die Pelle zu rücken.« »Blödsinn«, wischte Grischke die Bedenken seines Begleiters vom Tisch. »Aber wenn es Sie beruhigt, kann ich ihn ja vorher anrufen. Falls er sich nicht meldet, lassen wir es.« Während er das sagte, kam die Bedienung mit einem vollen Tablett an ihrem Tisch vorbei. »Warte mal, Ines«, hielt der Alte sie zurück. »Hat Leo irgendwas darüber verlauten lassen, warum er heute nicht hier auftaucht?« »Nee, hat er nicht.« Die Bedienung, eine pummelige Blonde um die vierzig, blieb stehen, behielt aber einen der Tische fest im Blick, vermutlich der, für den die Getränke auf ihrem Tablett bestimmt waren. »Eigentlich
wollte er kommen. Hat er zumindest gesagt. Aber du kennst ihn ja, vielleicht ist er dazu nicht mehr in der Lage.« Sie zwinkerte Grischke kurz zu und ging schnell weiter, ihre Bestellung abliefern. »Das Alkoholproblem Ihres Freundes scheint wohl ein offenes Geheimnis zu sein«, meinte Behrends. Grischke nickte. »Zumindest bei denen, die öfter mit ihm zu tun haben.« Er griff in seine Hosentasche und angelte ein Handy heraus. »So, jetzt rufe ich ihn aber an. Dann sehen wir weiter.« Er wählte und drückte das Gerät ans Ohr. Einige Sekunden vergingen, in denen Grischke darauf wartete, dass am anderen Ende abgenommen wurde. Plötzlich legte sich ein überraschter Ausdruck auf sein Gesicht. »Oh, Entschuldigung, falsch verbunden«, stammelte er und beendete hastig das Gespräch. »Was ist?«, fragte Behrends. Grischke starrte das Handy an, als habe es Zähne und ihn soeben ins Ohr gebissen. »Da hat sich ein Polizist gemeldet«, murmelte er irritiert. »Ein Polizist? Haben Sie versehentlich den Notruf erwischt?« »Quatsch!«, schnappte Grischke. »Das war schon Leos Nummer. Und dann war da ein Polizist dran.« »Hatte der auch einen Namen?«, fragte
Behrends. »Habe ich nicht verstanden. Polizeimeister Soundso ... Komisch. Was will denn die Polizei bei ihm? Um diese Zeit?« Er riss seine Augen vom Handy los und blickte Behrends an. »Wissen Sie was? Wir fahren schnell rüber zu Leo. Ich muss wissen, was da im Busch ist.« Behrends sah das nervöse Flackern in Grischkes Augen. Hatte er selbst noch bis eben nicht die geringste Lust auf einen Besuch bei dem Russen verspürt, so ließ er sich jetzt von der Unruhe des Gärtners anstecken. »Dann mal los«, sagte er nur und winkte die Bedienung herbei, damit sie zahlen konnten. Das grelle blaue Flackern fiel ihnen bereits auf, als sie in die Brandstraße einfuhren. Ein paar Meter weiter, hinter der ersten Kurve, erkannten sie dann deutlich die Warnleuchten mehrerer Polizeiwagen unheilschwanger blinkend die Dunkelheit erhellen. »Verdammt, was ist denn da vorn los?«, entfuhr es Grischke. »Ist das etwa bei ...?« Behrends ahnte, warum sein Begleiter so erschrocken reagierte. »Ja, da wohnt Leo.« Mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal beschleunigte Grischke und steuerte direkt auf den Streifenwagen zu, der die Einfahrt zum Grundstück seines Freundes blockierte. Knapp zwei Meter vor dem Wagen bremste er scharf ab. Die zwei Beamten, die am Heck des
Dienstfahrzeugs gelehnt hatten, sprangen erschrocken zur Seite. Er schaltete den Motor aus, riss die Fahrertür auf und stürzte hinaus. Behrends wusste, was kommen würde, und beeilte sich, Grischke nach draußen zu folgen. Einer der beiden Polizisten sog tief die Luft ein und reckte sich drohend in die Höhe. »Können Sie mir bitte erklären, was das eben sollte?«, fragte er mit scharfer Stimme. Er machte einen Schritt auf Grischke zu, während sein Kollege den Mitsubishi näher in Augenschein nahm. Zeit für Behrends, einzugreifen. »Guten Abend, Kollegen«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln, »ich bin Hauptkommissar Behrends, K1, Northeim. Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?« Der Beamte musterte ihn skeptisch. »Aber Ihre Kollegen sind doch schon vor Ort!« Es war dem Mann anzusehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er zweifelte offensichtlich an Behrends’ Identität. »Dürfte ich Ihren Dienstausweis sehen?« »Tut mir leid«, entgegnete Behrends mit einem entschuldigenden Schulterzucken, »aber den habe ich nicht bei mir.« Er deutete auf Grischke. »Wir beide, mein Freund und ich, wir sind privat unterwegs. Wir wollten den Mann besuchen, der da oben im Haus am Ende der Einfahrt wohnt. Also bitte, was ist hier los?« Der Beamte schüttelte den Kopf. »Bedaure,
das darf ich Ihnen nicht sagen. Und es wäre besser, wenn Sie jetzt umkehrten und wieder gingen. Sie behindern unsere Arbeit.« »Verdammt, ich will wissen, was mit Leo ist!«, fuhr Grischke wütend dazwischen. »Das ist doch ein Leichenwagen, der da oben vor dem Haus steht, oder irre ich mich?« Auch Behrends hatte den Wagen schon bemerkt. »Ja, sieht ganz so aus«, sagte er. »Trotzdem, kommen Sie. Das bringt jetzt nichts.« Er fasste Grischke am Arm, um ihn vor unbedachten Äußerungen oder Handlungen zu bewahren. »Ingo?« Behrends ließ seinen Kopf herumschnellen. Die Stimme kam vom Grundstück her und sie gehörte zu Maike de Baer, die sich mit schnellen Schritten näherte. Sie musste hinter den beiden Männern gestanden haben, die zweifellos zu dem Leichenwagen gehörten. »Was machst du denn hier?«, rief sie ihm entgegen. »Ich denke, du bist in der Klinik!« Behrends überstieg das Absperrband und ging auf Maike zu. Grischke folgte ihm. Die Streifenbeamten ließen es geschehen. »Maike, was ist passiert?«, fragte er, als sie sich im Lichtkegel einer der schmiedeeisernen Laternen gegenüberstanden. Sie zögerte mit der Antwort, blickte über seine Schulter zu dem Mann direkt hinter ihm. »Er gehört zu mir«, sagte Behrends, »Edgar Grischke und ein guter Freund von Leo Adam,
der in der Villa da wohnt. Wir wollten ihn besuchen. Ist ihm was zugestoßen?« Behrends wusste, wie überflüssig die Frage war. Maike war hier, und es stand ein Leichenwagen vor dem Haus. Sie zog bedauernd die Schultern hoch. »Tut mir leid, Herr Grischke«, sagte sie, an Behrends’ Begleiter gewandt, »aber Herr Adam ist tot. Er wurde ermordet.« »Ermordet? Das ist ... aber wieso ...?« Grischke taumelte leicht, wirkte wie ein angeschlagener Boxer. »Wer hat das getan?« »Wir wissen es nicht«, entgegnete Maike und sah Behrends dabei fragend an, so als erwarte sie von ihm eine Antwort. »Und wie ist er ...« »Wer sind Sie denn?« Der Frau, die ihn gerade mit scharfer Stimme unterbrochen hatte, war er noch nie begegnet. Unbemerkt hatte sie sich ihnen genähert und baute sich jetzt herausfordernd neben Maike auf. Sie war schlank und trug ein elegantes, ihre Figur betonendes, hellgraues Kostüm. Eine weiße Bluse unterstrich das Braun ihrer Haut, ein Braun, das Behrends an Milchkaffee erinnerte. Vor allen Dingen aber war sie fast einen Kopf größer als Maike, sogar ein paar Zentimeter größer als er selbst. Als sie ihren Kopf für einen flüchtigen Moment zu Maike hindrehte, sah er, dass sie ihre langen schwarzen Haare im Nacken mit einer
Klammer zu einem Zopf gebändigt hatte. Eine vorwitzige Locke hatte sich aus der Umklammerung gelöst und tanzte frech auf ihrer Schläfe. Schwer zu sagen, wie alt die Frau war. Dreißig? Oder vierzig? Vermutlich irgendwo dazwischen. Er starrte sie an, als sei sie eine Sinnestäuschung. »Das ist Hauptkommissar Behrends«, stellte Maike ihn vor. »Ach, tatsächlich?« Ein leicht ironisches Lächeln umspielte die Lippen der dunkelhäutigen Frau. In einer eleganten Bewegung streckte sie ihm ihre feingliedrige Hand entgegen. »Schön, Sie kennenzulernen.« Sie hatte einen unerwartet kräftigen Händedruck. Behrends räusperte sich, spürte seinen trockenen Hals. »Und Sie, wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« »Hauptkommissarin Naima Azzouzi. Ich leite hier die Ermittlungen. Frau de Baer wird Sie vermutlich schon darüber in Kenntnis gesetzt haben, warum wir hier sind.« Sie warf Maike einen kurzen verärgerten Seitenblick zu. »Sie? Sie leiten die Ermittlungen?«, fragte Behrends irritiert. »Richtig. Stört Sie etwas daran?« Ihre schwarzen Augen funkelten herausfordernd. »Aber ich dachte ...« »Frau Azzouzi ist im Rahmen einer Personalentwicklungsmaßnahme von der Polizeiinspektion Nienburg zu uns versetzt worden«, sagte Maike schnell. Sie spürte das
gefährliche Knistern zwischen Behrends und der neuen Kollegin. »Der Chef hat entschieden, dass sie dich vertritt, während du deine Reha machst.« »Ich dachte, Tim sollte für mich einspringen. So war es mit Liebig abgesprochen!«, erwiderte er patzig. Der Zauber, den die sinnliche Schönheit der Frau beim ersten Anblick auf ihn ausgeübt hatte, war von einer Sekunde zur anderen verflogen. In seinem Inneren regte sich Widerstand. Sie war ein Eindringling, jemand, der sein Team an sich reißen wollte! »Könnten Sie bitte Ihre Befindlichkeiten später in Ihrer Freizeit austauschen?«, ging Naima Azzouzi schroff dazwischen. »Wir haben zu tun, Frau de Baer. Im Haus da oben liegt ein Toter, wie Sie wissen. Ach, Herr Behrends, in dem Zusammenhang eine Frage: Was machen Sie eigentlich hier? Sollten Sie sich nicht in einer Klinik in Bad Lauterberg aufhalten und auskurieren?« Behrends lächelte süffisant. »Sollte ich. Wenn ich meine Anwendungen habe. Allerdings hält mich niemand davon ab, die Zeit dazwischen zu gestalten, wie es mir gefällt. Also habe ich mich entschlossen, zusammen mit Herrn Grischke«, er legte seinem Begleiter eine Hand auf die Schulter, »dessen Freund Leo Adam zu besuchen. Vorher waren wir in Adams Restaurant und haben ein köstliches Abendessen zu uns genommen.«
»Das ist ja schön für Sie, meine Herren«, entgegnete Naima Azzouzi kühl. Sie ließ ihren Blick zwischen Behrends und Grischke hin und her wandern. »Aber da Sie ja nun wissen, was mit Herrn Adam passiert ist, möchte ich Sie bitten, den Tatort zu verlassen. Falls wir noch Fragen an Sie haben, melden wir uns bei Ihnen.« Behrends schluckte trocken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so abgefertigt worden zu sein. Er hatte einige giftige Erwiderungen auf der Zunge, hütete sich jedoch, sie auszusprechen. Instinktiv spürte er, dass er sich auf einem Feld voller Minen bewegte, die ihm um die Ohren fliegen würden, sobald er ein falsches Wort von sich gab. Sie hatte hier nun einmal das Sagen. Es war besser, diesen Umstand nicht infrage zu stellen. Zumindest nicht in diesem Augenblick und solange nicht, bis er wusste, mit wem genau er es bei dieser Frau zu tun hatte. »Darf ich denn, bevor wir gehen, noch erfahren, wie Herr Adam genau zu Tode gekommen ist und ob es schon Hinweise auf den Täter gibt?«, fragte er vorsichtig. Hauptkommissarin Azzouzi schüttelte bedauernd den Kopf. »Herr Behrends, von mir werden Sie keine Details erfahren«, entgegnete sie mit gefährlich sanfter Stimme. »Sie haben mit dem Fall nichts zu schaffen, sind noch nicht mal dienstlich hier. Also bitte, gehen Sie jetzt besser und lassen uns in Ruhe weitermachen.«
Sie deutete zum Absperrband unten an der Einfahrt. Behrends schob die Hände in seine Hosentaschen und presste die Lippen zusammen. Wütend starrte er Naima Azzouzi in die dunklen Augen. Sie hielt seinem Blick stand. Nach ein paar Sekunden entspannte sich seine Haltung. »Tja, also dann, weiterhin frohes Schaffen.« Mit einem süffisanten Grinsen griff er den immer noch konsternierten Grischke an den Arm. »Kommen Sie«, sagte er und zog ihn mit sich. Als sie das Absperrband erreicht hatten, drehte er sich um. »Ruf mich an, Maike«, rief er seiner Kollegin hinterher, »sobald du irgendwann mal wieder ein bisschen Freizeit hast!«
7. Samstag Therapieplan für Ingo Behrends: Ergometertraining Mittagessen: Spaghetti Bolognese mit frischen Kräutern (12 Fettpunkte) Die quäkende Melodie seines Smartphones riss Behrends aus dem Schlaf. Es dauerte einen Moment, ehe er sich orientiert hatte. Dann begriff er, dass er nicht in seinem Bett zu Hause lag, sondern auf einer komfortablen Matratze in der Bad Lauterberger Kirchberg-Klinik. Ein schneller Blick auf seinen Reisewecker: kurz vor zehn! Er hatte verschlafen! Das Frühstück konnte er vergessen. Egal, er verspürte sowieso keinen Hunger. Die Nachwirkungen der Soljanka. Er warf die Bettdecke zurück und richtete sich mit Schwung auf. Ein heftiger Schmerz durchzuckte seine Hüfte. Jetzt wusste er wieder, warum er sich in der Klinik aufhielt. Auf wackeligen Beinen schwankte er zum Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch, über dessen Lehne er letzte Nacht seine Jacke gehängt hatte. Er zog das Smartphone, das unermüdlich vor sich hin dudelte, aus der
Seitentasche. Maike! Triumphierend grinste er das Display an. Gutes Mädchen! Sie ließ ihn nicht so im Regen stehen wie diese AzzouziTussi! »Hallo Maike«, krächzte er in das Gerät, »schön, dass du dich so schnell meldest! Hast du etwa frei? Bist du zu Hause?« »Blödsinn«, knurrte es ihm aus dem kleinen Lautsprecher entgegen, »du weißt selbst, wie das läuft, wenn wir einen Mord am Hals haben. Deine Stellvertreterin macht zudem richtig Dampf, das kann ich dir sagen.« »Und da traust du dich, mich anzurufen?« Ein leises Kichern am anderen Ende. »Mit Erlaubnis von Frau Azzouzi. Sie würde gern ein paar Auskünfte über den Mann haben, der in deiner Begleitung war, Adresse und so weiter.« »Hätte sie mich nicht selbst anrufen können?« »Hm ...« Maike zögerte. »Vermutlich möchte sie sich dir gegenüber erst mal etwas zurückhalten«, sagte sie dann. »Ich denke, ihr hattet keinen so guten gemeinsamen Start gestern.« »Das kannst du laut sagen«, maulte Behrends. »Was glaubt die denn, wer sie ist? Behandelt mich von oben herab, wie einen Polizeianwärter, der Stroh im Kopf hat! Meint die, sie ist was Besseres?« »Quatsch! Sie ist okay und ihre Arbeit macht sie wirklich gut. Zumindest legt sie sich ordentlich ins Zeug. Aber du musst sie
verstehen. Sie hat es nicht leicht.« »Tatsächlich?« Behrends grinste triumphierend das gerahmte Landschaftsfoto über dem Schreibtisch an. »Na ja, so ist das eben, wenn sie ein Fachkommissariat leiten will. Die Polizei ist kein Ponyhof.« »Darum geht es nicht, Ingo.« Er hörte, dass sie ungehalten wurde. »Es hängt mit ihrer Herkunft zusammen.« »Oh Gott!«, stöhnte Behrends. »Ich ahne was. Beamtin mit Migrationshintergrund wittert überall rassistische Anfeindungen. Ist es das etwa? Woher stammt sie überhaupt?« »Ihre Familie ist aus Marokko ausgewandert. Aber sie ist bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen, hat einen deutschen Pass, aber das hat sie in der Vergangenheit leider nicht vor beleidigenden Kommentaren geschützt. Nicht mal bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Ja, wahrscheinlich ist sie in der Hinsicht etwas dünnhäutig.« »Muss sie mir jetzt leidtun? Sie ist doch nicht die Erste und Einzige! Wir haben Türken im Polizeikorps und Inder und was weiß ich, welche Landsleute sonst noch. Die sind auch damit fertiggeworden, ohne sich gegenüber den Kollegen so herablassend zu verhalten.« »Du hast ja Recht«, pflichtete Maike ihm bei, »nur kommt bei Frau Azzouzi noch hinzu, dass ihre Eltern, na ja, sagen wir, zur gesellschaftlichen Elite gehören. Ihre Mutter ist Oberärztin in der Eilenriede-Klinik in
Hannover, ihr Vater Physiker mit einer Professur an der Leibnitz-Universität. Du kannst dir denken, was da gemunkelt wird: Die Azzouzi hat sich bei der Polizei nur dank ihrer einflussreichen Eltern hochgemogelt, und noch Schlimmeres. Ihre familiäre Herkunft bietet reichlich Munition für Vorurteile. Dagegen versucht sie, sich zu behaupten. Mit harter Arbeit und indem sie ihre Positionen klar und selbstbewusst vertritt.« »Wirkt auf mich eher arrogant und kein bisschen kollegial«, maulte Behrends. »Sei nicht so voreilig in deinem Urteil. Du kennst sie nicht.« Behrends lachte auf. »Aber du! Wie lange arbeitet ihr zusammen? Eine Woche? Und da weißt du natürlich schon genau, wie die Dame tickt! Ich bitte dich, Maike, das ist jetzt nicht dein Ernst.« »Wir sind vom Chef informiert worden, bevor sie angefangen hat. Zu ihrem und unserem Glück. Vermutlich hätten wir sonst ähnlich reagiert wie du. Aber davon abgesehen, erinnere dich bitte mal daran, wie schwer du dich getan hast, als du zu uns nach Northeim gekommen bist. War nicht immer einfach mit dir.« Behrends schluckte. Er wusste, worauf sie anspielte. Es war nur ein kleiner Stich, aber einer, der ihm wehtat. Seufzend ging er ein paar Schritte zu einem der beiden Sessel am Fenster und ließ sich hineinfallen. »Okay,
Maike, ihr müsst mit der Kollegin zusammenarbeiten, nicht ich. Im Moment interessiert mich auch viel mehr, wie ihr vorankommt. Kannst du mir ein paar Details verraten oder wirst du überwacht?« »Red keinen Stuss«, schnappte Maike, »niemand kontrolliert mich. Aber warum interessierst du dich so für den Fall? Schalt doch einfach mal ab, sieh zu, dass du wieder fit wirst, und lass uns die Arbeit machen. Wir packen das schon.« »Daran zweifle ich nicht, Maike. Es ist ein rein persönliches Interesse. Mein Bekannter, der gestern Abend bei mir war, hat mir einiges von Leo Adam erzählt. Er wollte mich dem Russen vorstellen, und kurz bevor es dazu kommt, wird der Mann ermordet. Jetzt bin ich natürlich neugierig, kannst du das verstehen?« Maike antwortete nicht sofort. Behrends sah sie vor seinem geistigen Auge, wie sie mit sich kämpfte und überlegte, was sie ihm sagen durfte und was nicht. »Also gut«, antwortete sie nach einer Weile, »ich kann mich darauf verlassen, dass du für dich behältst, was ich dir jetzt sage, ja? Kein Wort zu diesem ...« »Grischke. Edgar Grischke«, half ihr Behrends. »Ich bitte dich, Maike, hast du schon vergessen, dass ich Polizist bin? Ich kenne die Regeln.« Ein leiser Seufzer am anderen Ende. »Na schön. Also, zunächst mal ist der Geburtsname des Opfers Leonid Sergejewitsch Poljakow. Bei
seiner Heirat hat er den Namen seiner Frau angenommen: Adam. Wir haben herausgefunden, dass er bis zur Wende der sowjetischen Botschaft in Bonn angehörte. Kurz vor der Wiedervereinigung ist er untergetaucht. Der Attaché, den wir kontaktiert haben, konnte uns weder über die Gründe etwas sagen noch über seinen Verbleib. Was genau er in den fünfundzwanzig Jahren danach getrieben hat, entzieht sich also im Moment noch unserer Kenntnis. Hundert Prozent sicher ist nur, dass er in den letzten Jahren sein Spezialitätenrestaurant, das Gagarin, betrieben hat. Möglicherweise ist er nach seinem Verschwinden bei einer dieser Organisationen untergekommen, die seinerzeit fahnenflüchtige Sowjetoffiziere vor dem KGB geschützt hat. Hinweise auf solche Gruppen gibt es genug. Diese Leute haben dafür gesorgt, dass ihre Klientel an Papiere gekommen ist, die ihnen einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland ermöglicht haben.« »Du meinst, Papiere, die ihre deutsche Abstammung belegen? Deutsche Urgroßmutter oder so was?« Maike lachte auf. »Ja, so was in der Art. Vielleicht hat eine solche Vereinigung Poljakow nicht nur die richtigen Dokumente verschafft, sondern ihm auch für eine gewisse Zeit Unterschlupf gewährt. Und jetzt spinne ich meine Gedanken einfach mal weiter: Diese Gruppe geht neben ihren vermeintlich humanitären Aufgaben noch Unternehmungen
in weniger ehrenvollen Bereichen nach. Poljakow entwickelt sich aus ihr heraus zum dubiosen Geschäftemacher, nutzt deren Netzwerke. Später lernt er dann seine mittlerweile verstorbene Frau kennen, eröffnet mit ihr das Gagarin und nimmt bei der Heirat ihren Namen an. Das ist zwar immer noch nicht sehr verbreitet, aber für einen Ausländer vielleicht keine schlechte Wahl. Er könnte es aber auch getan haben, um seine wahre Identität zu verschleiern.« »Und hinter der Fassade des Restaurants hat er seine krummen Geschäfte betrieben«, ergänzte Behrends. »Bis zu seinem Ableben, das damit möglicherweise in direktem Zusammenhang steht. Willst du das damit andeuten?« »Wäre das so abwegig?«, fragte Maike zurück. »Ist auf jeden Fall eine interessante Theorie, die du da aufstellst«, stimmte Behrends zu. »Habt ihr denn schon irgendwas, das deine Vermutungen untermauern könnte? Zeugen, Tatverdächtige ...?« »Mann, Behrends! Du leitest nicht die Ermittlungen!« Sie klang beleidigt, hatte sich aber sofort wieder im Griff. »Also gut, es gibt eine Zeugin. Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft. Die ist mit ihrem Hund, so einer kleinen Promenadenmischung, Gassi gegangen und beinahe von einer Person über den Haufen gefahren worden, die mit einem
Motorrad Adams Grundstück verlassen hat. Die Dame war geschockt und ist stinksauer zu Adam hoch, um sich bei ihm über seinen rüpelhaften Besucher zu beschweren. Sie entdeckt, dass die Haustür offen steht, klingelt aber trotzdem. Weil sich das so gehört und man nicht einfach in fremde Wohnungen eindringt, hat sie gesagt. Dann, als keiner kommt, um sie in Empfang zu nehmen, geht sie doch hinein und findet Adam tot in seinem Sessel sitzend. Daraufhin alarmiert sie die Polizei.« »Erkannt hat sie den Fahrer vermutlich nicht.« »Nein. Er trug eine dunkle Motorradkombi und einen Helm.« »Kennzeichen? Fahrzeugtyp?« »Fehlanzeige. Ging ihr alles zu schnell. Außerdem hat sie keine Ahnung von Motorrädern. War aber wohl eine recht große Maschine. Schwarz oder dunkelblau. Woran sie sich allerdings erinnert, ist eine auffällige Lackierung auf dem Helm. Sie meinte, es habe ausgesehen wie Flammen.« »Und dieser Typ auf dem Motorrad könnte der Täter sein?« »Gut möglich. Der Mord und die Beobachtung der Zeugin, das passt zeitlich in etwa zusammen.« »Ein Einbrecher, der von Adam auf frischer Tat überrascht worden ist? Und dann hat der den Russen umgebracht? Wie wurde er denn
getötet?« »Erschossen. Er wurde erschossen.« »Hat jemand die Schüsse gehört? Eure Zeugin vielleicht?«, hakte Behrends nach. »Nein, hat sie nicht. Und es spricht auch einiges gegen die Theorie vom überraschten Einbrecher. Wir haben Adam nämlich tot in seinem Fernsehsessel sitzend vorgefunden. Aus nächster Nähe erschossen. Möglich, dass er vorher gefoltert wurde. Es gibt ein paar Hinweise darauf. Genaueres wissen wir aber erst, wenn wir den Befund der Rechtsmedizin haben. Der Täter wird eine Pistole mit Schalldämpfer benutzt haben. Niemand aus der unmittelbaren Nachbarschaft hat Schüsse gehört.« »Und Schreie? Du hast gerade von Folter gesprochen. Ich meine, so was geht doch sicher nicht geräuschlos ab.« »Nichts. Niemand will etwas bemerkt haben ... Was übrigens noch gegen einen typischen Einbrecher spricht«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort, »ist die Tatsache, dass weder Geld, noch Wertgegenstände gestohlen wurden. Wer immer das war, er hat etwas Bestimmtes gesucht und dafür die gesamte Wohnung auf den Kopf gestellt. Sämtliche Räume wurden durchwühlt.« »Wie ist der Mörder denn ins Haus gekommen?« »Wir nehmen an, durch den Keller. Das billige Schloss der einfachen Holztür war
aufgebrochen.« »Fingerabdrücke?« »Haben wir. Aber nur an den Türen und keine Übereinstimmungen in der Datei. Stammen vermutlich nicht vom Täter.« »Was sonst noch?« Er hörte im Hintergrund eine Stimme. Dann Maike, wie sie sagte: »Moment, Frau Azzouzi, ich habe ihn gerade an der Strippe ... ja, ich teile Ihnen die Kontaktdaten sofort mit.« Eine Tür fiel ins Schloss. »Ist sie wieder weg?«, fragte Behrends. »Ist sie.« Es entstand eine kurze Pause, ehe Maike sagte: »Also los, dann klär mich mal über deinen Begleiter von gestern Abend auf.« »Hältst du mich weiter auf dem Laufenden?«, fragte Behrends, nachdem er ihr die gewünschten Informationen gegeben hatte. »Bitte«, schob er nach, als sie nicht sofort reagierte. »Herrgott, Ingo!« Sie seufzte entnervt. »Du bringst mich damit ganz schön in die Zwickmühle.« »Ich weiß. Ist doch auch nur ... ach, verdammt, mir geht diese dämliche Klinik auf den Geist. Therapien, Training, Vorträge, Krankengymnastik, ständig Blutdruckmessen. Diesen ganzen Mist. Und zwischendurch ziellos durch die Stadt latschen.« Er hörte sie kichern. »Was ist daran so lustig?« »Ich stelle mir gerade vor, wie du mit dem
Medizinball herumturnst. Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann.« Behrends atmete erleichtert auf. »Danke. Ich wusste, du lässt mich nicht hängen.« »Schon gut. Aber versprich mir eins, Ingo. Fang nicht an, vor lauter Langeweile auf eigene Faust zu ermitteln.« »Wie kommst du denn darauf?«, gab er entrüstet zurück. Sie ging nicht auf seine Frage ein. »Mach’s gut. Ich melde mich wieder.« Und schon hatte sie aufgelegt.
8. Alles war plötzlich anders! Anders, als geplant. Grischke, der Gärtner, hatte behauptet, nichts von einer Matrjoschka zu wissen und Adam war tot. Ermordet! Gestern, am Samstag, hatte Jana den ganzen Vormittag in ihrem Pensionszimmer gesessen und nachgedacht, wer Adam umgebracht haben könnte und was der Mord an dem Russen für sie selbst bedeutete. »Wo Beute ist, sind die Wölfe nicht weit.« Auch am Tag, nachdem sie den Mann tot aufgefunden hatte, waren ihr seine Worte nicht aus dem Kopf gegangen. Aber wer waren diese Wölfe? Und wo lauerten sie? Gab es sie überhaupt oder waren es Hirngespinste, aus der Angst geboren? Sie hatte die Nachrichten verfolgt, in der Hoffnung, ein paar Informationen zu den polizeilichen Ermittlungen zu erhalten, die ihr helfen würden, eine Entscheidung zu treffen. Vergeblich. Alles, was es bisher zu dem Mord zu berichten gab, beschränkte sich auf vage Vermutungen. Dann hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie noch einmal zu dem Gärtner fahren solle, um ihn um die Puppe zu bitten. Eine schwachsinnige Idee, die sie sogleich wieder verworfen hatte. Sie hätte sie nach Adams Ermordung in allergrößte Schwierigkeiten bringen können.Als sie
schließlich nach Bad Lauterberg gefahren war, um sich eine Taschenlampe zu kaufen und beim Griechen, den man ihr empfohlen hatte, etwas zum Mittag zu essen, hatte ihr Entschluss bereits festgestanden. Sie würde sich die Puppe holen. Ohne Grischkes Erlaubnis. Sie war überzeugt, die Matrjoschka in der Waldhütte des Gärtners zu finden. Und damit die Beweise oder was immer sich darin befinden mochte. Sie wollte nicht glauben, dass der Russe sie belogen hatte. Mittlerweile war sie so sehr von der Idee besessen, den Mörder ihres Vaters ausfindig zu machen, dass sie nichts unversucht lassen wollte. Sie konnte nicht mehr zurück. Nach einem Souflaki mit Reis und Pommes frites hatte sie sich vor dem Lokal eine Zigarette angezündet und einige Minuten rauchend in die Schaufenster der Ladenzeile auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestarrt. Danach hatte sie sich auf den Weg gemacht, die Hütte des Gärtners zu suchen. Beiderseits der Ortschaft Barbis war sie durch die Feldmark gefahren, an verschiedenen Stellen ein Stück in den Wald hinein und ohne Erfolg wieder zurück. Ein freundlicher Bauer hatte ihr schließlich den Weg erklärt. Jana hatte ihn an einem Acker neben seinem Trecker stehen sehen und ihn auf gut Glück angesprochen. Der Mann kannte sowohl Grischke als auch die Hütte mit den Bienenstöcken. Sie war, der Beschreibung des Bauern
folgend, den Königshagener Ring hinaufgefahren, dann den Wirtschaftsweg, der zu einem Wäldchen führte, hatte den Teich zur Linken und gleich darauf den Schafstall zur Rechten passiert. Kurz darauf hatte sie ihre Maschine am Weg abgestellt und war die grasbewachsene Zufahrt hinuntergegangen, bis zu einer Lichtung. Mit einem flüchtigen Blick auf die Blockhütte am hinteren Rand der grasbewachsenen Fläche war sie wieder umgekehrt. Sie kannte jetzt ihr Ziel. In der Nacht würde sie wiederkommen. Jana schob ihr Motorrad ein Stück ins Unterholz, wo es vom Wirtschaftsweg her nicht zu sehen war. Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht war sie doch erst heute Morgen losgefahren. Noch vor Sonneaufgang. Ihren Plan, in völliger Dunkelheit in das Haus einzubrechen, hatte sie fallengelassen. Sie brauchte zumindest ein wenig Tageslicht, um sich auf dem unbekannten Terrain zurechtzufinden. Zwar hatte sie ihre Taschenlampe dabei, sie aber außerhalb der Hütte einzusetzen, kam nicht infrage. Wenn alles glattging und sie die Puppe schnell fand, konnte sie unbemerkt wieder verschwinden, bevor erste Frühaufsteher mit ihren Hunden die Gegend unsicher machten. Jana warf einen letzten prüfenden Blick auf ihr Motorrad. Du hast nichts zu befürchten, es wird klappen, redete sie sich ein, um ihr vor Aufregung pochendes Herz zu beruhigen. Du
brichst nur in eine Hütte im Wald ein, nicht in ein Wohnhaus. Als ob das einen Unterschied machte, erhob eine innere Stimme Einspruch. Sie ignorierte sie. Flink huschte sie zurück zur Zufahrt. Von dort ging sie weiter zur Lichtung, die sich schon nach wenigen Metern vor ihr auftat. Ein dünner Nebelschleier lag über der Wiese. Direkt gegenüber an der Baumgrenze stand die Blockhütte im Dämmerlicht. Sie kam ihr in diesem Augenblick riesig vor. Als Jana die Lichtung im Schutz der Bäume umrundet hatte und sich ihrem Ziel von der Seite her näherte, erkannte sie nicht weit entfernt die Bienenstöcke in der Dämmerung. Sie waren dicht an dicht am Rande des angrenzenden Waldes aufgereiht, mit der Lichtung durch einen schmalen Pfad verbunden. Jana blieb kurz stehen und lauschte. Kein Summen der emsigen Tiere war zu hören. Irgendwann hatte sie einmal gelesen, dass Bienen, ähnlich dem Menschen, Nachtruhe hielten. Aber nur bis die ersten Sonnenstrahlen die Luft erwärmten, dann würden sie ihre Arbeit aufnehmen. Jana setzte sich wieder in Bewegung und näherte sich lautlos dem Gebäude. Sie ließ ihre Augen kurz über die Vorderfront gleiten, dann bog sie um die Ecke nach hinten. Erst jetzt sah sie den schwarzen Flachdach-Anbau, der rechtwinklig gegen die Rückfront gesetzt war und stabil genug wirkte, um allen Wettereinflüssen zu trotzen. Mit etwa fünf bis sechs Metern Länge war er nicht viel kürzer als
die Blockhütte selbst. Fast zur Hälfte ragte er in den Wald hinein. Langsam umrundete Jana das Gebäude, immer dicht an die Wand gedrückt. Es gab drei Türen. Die Haupteingangstür und zwei weitere im Anbau. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie verschlossen. Massive Holzläden vor den Fenstern, mit Flacheisen verriegelt und durch Vorhängeschlösser gesichert, machten diese Einstiegsmöglichkeit ebenfalls zunichte. Möglich, dass irgendwo ein Schlüssel versteckt ist, überlegte Jana und begann sofort, die infrage kommenden Ecken, Nischen und Hohlräume zu untersuchen. Ohne Erfolg. Grischke schien jemand zu sein, der auf Nummer sicher ging. Auch gut, dann musste sie eine Lösung finden. Mit Gewalt? Die Haupttür war mit einem modernen Zylinderschloss ausgestattet. Die beiden Türen im Anbau hingegen besaßen alte Kastenschlösser. Mit einem der Inbusschlüssel aus ihrer Werkzeugtasche dürfte es kein Problem sein, sie zu knacken. Sie hatte so etwas schon einmal erfolgreich versucht, vor Jahren, zu Hause. Warum sollte es ihr nicht wieder gelingen? Wenig später hatte sie das kleine Werkzeugset aus dem Stauraum unter dem Sitz ihres Motorrades geholt und nach kaum einer Minute eins der beiden Schlösser aufgebrochen. Sie nickte zufrieden. Es war
einfacher gegangen als erwartet. Behutsam zog sie die Tür auf, die leise in ihren Angeln quietschte. Dann machte sie zwei Schritte in den Raum hinein und holte die kleine Taschenlampe aus der Innentasche ihrer Motorradjacke. Jana schaltete die Lampe an und ließ den Lichtkegel zur Orientierung durch den Raum und über Geräte und Einrichtungsgegenstände gleiten. Als sie den Durchgang zur Blockhütte entdeckte, seufzte sie erleichtert auf. Sie hatte auf eine entsprechende Tür gehofft. Sekunden später stellte sie fest, dass Grischke wohl doch nicht so vorsichtig war, wie sie angenommen hatte. Die Tür war unverschlossen. Sie öffnete sie und trat hindurch. Gleich neben ihr an der Wand fand Jana einen Lichtschalter. Sie musste nicht befürchten, dass das Licht nach draußen drang und ihre Anwesenheit verriet. Das verhinderten die Fensterläden. Als die rustikale sechsflammige Hängeleuchte rechts von ihr aufleuchtete, erkannte sie, dass die Blockhütte aus einem einzigen riesigen Raum bestand. Der Wohnbereich war mit massiven Landhausmöbeln ausgestattet. Zu einem knorrigen Eichentisch mit vier schweren Küchenstühlen gesellte sich ein wuchtiger Bauernschrank mit Aufsatzvitrine und Sprossenfenstern. Ein Sofa im selben Stil, eine Kommode und ein schwarzer eiserner Kaminofen vervollständigten das Ensemble. Zwei kurzflorige Teppiche, alt und verblasst,
bedeckten den Großteil der Holzdielen. Jana wandte sich nach links, dem kleineren Küchenbereich zu, der vom Licht der Hängeleuchte nur spärlich erhellt wurde. Es gab einen separaten Schalter, der eine Leuchtstoffröhre aufflammen ließ, als sie ihn drückte. Die kleine Einbauzeile bot alle Annehmlichkeiten einer modernen Küche: Kühlschrank, Backofen, Kochfeld, Spülmaschine, Mikrowelle, Spülbecken und Arbeitsfläche, die Ausstattung war komplett. Nicht eben üblich für eine abseits gelegene Hütte im Wald, fand Jana. Alles, was sie sah, machte auf sie den Eindruck, als ziehe sich der Gärtner nicht nur für ein paar Stunden hierher zurück, sondern auch für ein Wochenende, an dem er ausspannte, allein, mit seiner Ehefrau oder ...? Jana schüttelte den Kopf und kicherte leise in sich hinein. Sie musste ihre Fantasie im Zaum halten. Es konnte ihr doch vollkommen egal sein, was der Mann hier drinnen trieb. Wichtig war, dass sie die Matrjoschka fand. Am besten fing sie gleich damit an, die Küchenzeile zu durchsuchen. Eine Viertelstunde später stand sie mitten im Raum und starrte ins Leere. Sie hatte die Hände hinter ihrem Kopf verschränkt, ließ ihre Arme aber kurz darauf langsam wieder sinken. Eine hilflose Geste, die ihre ganze Enttäuschung ausdrückte. Nichts. Keine Matrjoschka. Nur Lebensmittel, noch haltbar oder wenige Tage vor dem Verfallsdatum,
Bücher, Fachzeitschriften über Bienenzucht, ein paar CDs neben einer kompakten Stereoanlage und Getränke. Hauptsächlich Spirituosen und Wein. Grischke ließ es sich offensichtlich richtig gutgehen, wenn er sich hier einquartierte. Aber wo hatte er die Puppe versteckt, verdammt noch mal! Irgendwo musste sie doch sein! Oder hatte Adam sie doch zum Narren gehalten? Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Die Matrjoschka existierte und mit ihr die Antworten auf ihre Fragen. Sie hatte nur nicht richtig gesucht. Sie musste genauer hinsehen. Plötzlich entdeckte sie den Spalt! Oder vielmehr glaubte sie, es sei ein Spalt. Eine dünne dunkle Linie, die sich kaum vom Holz abhob und waagerecht zur Oberkante der Kommode an der Wand entlanglief. Ungefähr auf gleicher Höhe. Nur unterbrochen von der Vase und den beiden Glasschalen, die auf der Kommode standen. Jana nahm die Linie als eine Art Unregelmäßigkeit wahr, die ihr vermutlich von keiner anderen Stelle im Raum aus aufgefallen wäre. Vielleicht war es aber auch nur eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch den Lichteinfall und den Schatten, den die Kommode erzeugte. Sie würde es gleich wissen. Mit zwei, drei Schritten war sie bei der Kommode. Ein kurzer Blick genügte. Auf gut einem halben Meter Länge lief tatsächlich ein
Spalt an der Wand entlang. An den beiden Enden schien er sich nach unten zum Fußboden hin fortzusetzen. Es musste eine Tür sein, eine Klappe, irgendeine Öffnung, die sich hinter der Kommode verbarg, da war Jana sicher. Sie zog das Möbelstück von der Wand weg und tatsächlich kam dahinter eine Tür zum Vorschein, die mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert war. Sie machte sich nicht die Mühe, den Schlüssel zu suchen, sondern griff nach dem eisernen Schürhaken aus dem Ofenbesteck neben sich. Den schob sie durch den Bügel des Schlosses und hatte es mit einem kraftvollen Ruck geknackt. Dann ging sie in die Hocke und zog die Tür auf. Der kleine, in die Wand eingelassene Schrank beherbergte neben der Matrjoschka auch eine Schreckschusspistole. Sehr überrascht war Jana darüber nicht. Über die transparenten Plastiktütchen hingegen schon. »Da schau mal einer an«, murmelte sie amüsiert, »der Herr lässt es hier oben aber ordentlich krachen.« Sie holte eine der Tüten heraus, um den Inhalt genauer zu betrachten. Zweifellos, das graugrüne zerkleinerte Pflanzenzeugs darin war Cannabis! Zog sich der Gärtner doch tatsächlich hin und wieder heimlich einen Joint rein. Oder handelte er sogar damit? Von wegen, nur Bienenzüchter! Der Typ hatte es faustdick hinter den Ohren! Sie legte den
Beutel zurück. Die Drogen interessierten sie nicht. Nur die Matrjoschka. In dem Moment, als sie nach der Puppe griff, hörte sie ein metallisches Kratzen. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Das Kratzen kam von der Eingangstür. Sie verstand sofort. Jemand schob einen Schlüssel in das Schloss. Grischke? Was wollte der um diese Zeit hier? Warum hatte sie ihn nicht früher bemerkt? Zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Zu spät auch, um die Flucht durch die Tür zum Anbau anzutreten und nach hinten in den Wald zu verschwinden. Im nächsten Augenblick würde Grischke oder wer immer einen Schlüssel besaß, im hell erleuchteten Zimmer stehen. Jana drückte sich hinter die Kommode und machte sich so klein, wie sie konnte. Nicht das beste Versteck, aber vielleicht reichte es für das Überraschungsmoment. Das musste sie ausnutzen. Der Schürhaken, den sie immer noch in der Hand hielt, diente ihr als Stütze. Und wenn nötig, konnte sie sich damit verteidigen. Der Blick zur Eingangstür war ihr versperrt, sie hörte jedoch, wie die Tür geöffnet wurde, jemand eintrat und sofort wieder stehenblieb. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille, dann erneut Schritte, die jetzt durch den Teppich gedämpft wurden. Sie näherten sich der Kommode, begleitet von erregtem Schnaufen. Unwillkürlich klammerten sich Janas Finger fester um den Griff des Schürhakens. Ihre
Muskeln spannten sich. Alle ihre Sinne konzentrierten sich auf die Person, die jeden Moment in ihrem Blickfeld auftauchen musste. Sie hob den Haken in die Höhe, nur ein kleines Stück – dann stand der Mann vor ihr.
9. Sonntag Therapieplan für Ingo Behrends: Ergometertraining. Mittagessen: Wildschweinbraten in Gemüserahm mit Rosenkohl und Salzkartoffeln (13 Fettpunkte) Zum wiederholten Mal blickte Behrends auf seine Armbanduhr. Gut vierzig Minuten war Grischke mittlerweile überfällig. Im Foyer der Klinik hatten sie sich treffen, zum Parkplatz am Ende der Weinbergstraße hinauffahren und dann zu einer Wanderung zum Bismarkturm aufbrechen wollen. Gestern Nachmittag hatte der alte Gärtner angerufen und Behrends gefragt, ob er Lust auf einen kleinen Fußmarsch hätte. Sein neuer Freund hatte ihn richtiggehend gedrängt, diesen Ausflug mit ihm zu unternehmen. Er wolle einen klaren Kopf bekommen, hatte er gesagt. Nach dem schrecklichen Mord und der Befragung durch die Polizei müsse er einfach mal raus. Außerdem brauche er jemanden zum Reden. Behrends war nahe daran gewesen, die Sache mit einer fadenscheinigen Ausrede abzubiegen. Aber Katrin, mit der er durch die Bad
Lauterberger City spaziert war, als Grischke anrief, hatte ihn ermutigt, zuzusagen. Sie wusste zu dem Zeitpunkt bereits über alles Bescheid, was am Vortag geschehen war, und konnte sich gut in die Seelenlage des Alten einfühlen. Er dürfe den Mann jetzt nicht hängen lassen, war ihr Fazit. Sein halbherzig nachgeschobener Einwand, so eine Wanderung sei sicher zu anstrengend und schade seiner Genesung mehr, als sie ihm guttue, war an ihr abgeprallt wie an einer Gummiwand. »Behrends, das schadet dir nicht«, hatte sie augenzwinkernd gekontert, »im Gegenteil. Glaub mir, ich kann das beurteilen.« Vermutlich stimmte das, immerhin war sie Arzthelferin und in medizinischen Dingen nicht völlig ahnungslos. Ganz sicher aber merkte sie genau, wenn ihr Mann sich vor irgendetwas drücken wollte. Und das ließ sie ihn spüren, indem sie ihn mit Nachnamen ansprach. Das tat sie immer, wenn sie ihn nicht ernst nahm. Also hatte Behrends seinen Widerstand aufgegeben und für die Wanderung sogar seine Stunde auf dem Ergometer verschoben. Um acht Uhr heute Morgen waren sie verabredet gewesen. Für einen Sonntag eine ziemlich unchristliche Zeit, wie er fand. Aber Grischke hatte gemeint, die Schönheit und Ruhe der Harzer Natur könne man nur frühmorgens in vollen Zügen genießen. Auch diese Kröte hatte Behrends geschluckt. Jetzt stand er da und wartete. Und wer nicht kam,
war Edgar Grischke. Weitere fünf Minuten ließ er verstreichen, dann ging er zurück auf sein Zimmer. Irgendwo verbarg sich dort ein Zettel mit Grischkes Handynummer. Er hatte sie bei ihrer ersten Begegnung notiert, um sie später in seinem Smartphone abzuspeichern. Ein Fehler, damit zu warten. Das musste er sich eingestehen, als er das halbe Zimmer auf den Kopf gestellt hatte, ohne den Zettel zu finden. Behrends gab die Suche auf und forschte stattdessen im Internet nach Grischkes Festnetznummer. Mittlerweile war er mit dem Smartphone – seinem ersten bisher – nach über einem Jahr Gewöhnungsphase leidlich vertraut. Schon nach wenigen Tipp- und Wischbewegungen zauberte er die gewünschte Nummer auf das Display. Als er gewählt hatte und nach viermaligem Läuten am anderen Ende abgehoben wurde, meldete sich ein Mann namens Michael Grischke. Vermutlich der Sohn. Behrends war nicht weiter verwundert, wusste er doch, dass der Senior mit seiner Frau, den Kindern und Enkelkindern unter einem Dach wohnte. In einem Mehrfamilienhaus direkt gegenüber der Gärtnerei. Vielleicht schloss das die gemeinsame Telefonnutzung mit ein, huschte ein flüchtiger Gedanke durch seinen Kopf. »Hier Behrends«, sagte er, »ich hätte gern Edgar Grischke gesprochen.« »Das ist mein Vater. Aber er müsste doch
längst bei Ihnen sein!« Grischke junior schien überrascht. »Haben Sie sich verpasst?« »Unmöglich. Ich habe seit kurz vor acht Uhr im Foyer der Klinik gewartet. Dort wollten wir uns treffen.« Behrends zögerte einen Atemzug lang, dann fragte er: »Wann ist Ihr Vater denn von zu Hause losgefahren?« »Moment, warten Sie.« Der Sohn rief jemandem etwas zu. Er musste seine Hand auf die Sprechmuschel gelegt haben. Behrends hörte die Stimme nur gedämpft und undeutlich, dann aber wieder klar. »Meine Mutter sagt, er ist schon gegen fünf aus dem Haus. Wollte vorher noch nach seinen Bienen sehen. Und Sie sind sicher, dass Sie sich nicht verfehlt haben?« »Ganz sicher«, räumte Behrends jeden Zweifel aus. »Verdammt!« »Was ist?« Auch wenn es nur ein Wort war, konnte er dennoch die Unruhe heraushören. »Ich weiß nicht«, entgegnete Grischke Junior, »aber da stimmt was nicht. Ich habe kein gutes Gefühl.« »Gibt es einen Grund für Ihre Sorge?« »Nein, keinen konkreten. Trotzdem.« »Warum rufen Sie ihn nicht an?«, fragte Behrends. »Er hat doch ein Handy.« Kurzes Auflachen am anderen Ende. »Richtig, hat er. Allerdings liegt das hier neben mir auf dem Tisch. Er hat es vergessen. Mal wieder.
Ich frage mich, wozu er so ein Ding überhaupt besitzt!« Erneut legte sich eine Hand über die Sprechmuschel. Die undeutlichen Wortfetzen, die gleich danach an Behrends’ Ohr gelangten, klangen aufgeregt und auch ein wenig wütend. Es dauerte einen Moment, dann sprach der Sohn wieder mit ihm. »Vielleicht ist ja irgendwas mit seinen Bienen, und er kommt nicht von der Hütte weg, keine Ahnung«, sagte er in bemüht gelassenem Ton. »Ich fahre da jetzt hoch und sehe mal nach. Wenn Sie wollen, kann ich Sie abholen und mitnehmen. Ist kein großer Umweg.« »Ja klar, warum nicht«, antwortete Behrends. Immer noch besser, als sich allein in der Klinik zu langweilen. Davon abgesehen – es interessierte ihn natürlich auch, warum der Alte nicht aufgetaucht war. Auf dem Weg zur Hütte hinauf hatte er sich auf den ersten Kilometern mit Michael Grischke ein wenig bekanntgemacht, dann hatten sie geschwiegen und ihre Vermutungen über den Verbleib des Alten für sich behalten. Erst als sie jetzt in den Grasweg einbogen und den Mitsubishi Geländewagen auf der Lichtung zwischen den Bäumen hindurch schimmern sahen, brach der Sohn das Schweigen. »Sein Wagen. Was macht er denn noch hier?«, fragte er mit besorgter Stimme, und Behrends machte sich auf eine böse Überraschung gefasst. Er betrat nach dem Junior die imposante Blockhütte. Dabei verschwand er fast
vollständig hinter dem Rücken des bulligen Zwei-Meter-Mannes mit der Halbglatze. Vom Aussehen her hatte der Sohn mit seinem Vater so gar nichts gemein, sah man einmal von den rissigen Arbeiterpranken und der freundlichen Augenpartie ab. Die Läden vor einem der Fenster waren geöffnet worden. Spärliches Tageslicht fiel in die Hütte. Der große Raum wirkte düster, die Konturen der Einrichtungsgegenstände verschwammen. Einen Moment lang kam es Behrends vor, als betrete er eine verräucherte Spelunke. Seine Nase registrierte einen süßlichherben Geruch, und er wusste sofort, womit er es zu tun hatte. Diese Mischung aus verbranntem Tabak und Cannabis war ihm schon einige Male in seinem Berufsleben untergekommen. Dann entdeckte er Edgar Grischke. Leicht zur Seite gekippt saß er in einer Ecke des wuchtigen Sofas, hinten von einem Kissen und seitlich von der dick gepolsterten Armlehne gestützt. Um seinen Kopf trug er einen Verband, der linke Arm hing schlaff nach unten, während er in der rechten Hand ein fast leeres Whiskyglas hielt. Die Flasche, aus der er sich bedient hatte, stand zu seinen Füßen auf dem Boden. Grischke starrte vor sich hin, schien nicht bemerkt zu haben, dass jemand eingetreten war. Erst als sein Sohn aufstöhnte und auf ihn zustürzte, hob er den Kopf. »Mensch, Papa, was ist denn hier los?«, rief Grischke junior erschrocken aus. »Was ist
passiert? Was hast du gemacht?« »Ich ...? Ach, ich ... es ist nichts weiter. Nur ein kleiner Unfall. Nichts Schlimmes.« Der Alte klang fahrig, seine Worte leicht verwaschen. Behrends trat in den Raum hinein, machte ein paar Schritte auf Grischke und seinen Sohn zu. Der Junior hatte sich über seinen Vater gebeugt und fummelte, begleitet von dessen leisem Wimmern, am Kopfverband herum. Behrends warf einen Blick in den Aschenbecher. Zwei Kippen. Eine Filterzigarette, eine Selbstgedrehte. Hatte Grischke den Joint geraucht? Als Mittel gegen den Kopfschmerz? Und dazu noch Whisky? Keine gute Mischung, fand er. Er ließ die Einrichtung der Hütte kurz auf sich wirken. Etwas Auffälliges konnte er nicht entdecken. Eine leere Colaflasche auf der Küchenzeile neben der Spüle. Ungewöhnlich? Wohl kaum. Ein Erste-Hilfe-Kasten auf dem Tisch vor der Couch, daneben der Aschenbecher. Hinten, neben dem Kaminofen, die kleine Kommode. Sie ragte schräg in das Zimmer und unterbrach die ansonsten vorherrschende Ordnung und Symmetrie. Dahinter eine Klappe oder Tür, die etwas offen stand. Alles in allem nichts, was sein Misstrauen erregte, von dem Cannabisgeruch einmal abgesehen. »Au! Verflucht, pass doch auf!«, brüllte Grischke plötzlich. Der Sohn war gegen den Arm seines Vaters gestoßen. »Was hast du da? Lass mal sehen.«
»Nichts habe ich da, gar nichts!« Er entriss dem Sohn mit einer hastigen Bewegung seinen Arm und verzog umgehend das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. »Nichts? Von wegen nichts!« Grischke junior schnaubte ungehalten. Der Alte stöhnte auf. »Mein Gott, ich bin nur gestolpert. Über diesen verfluchten Teppich. Und mit dem Arm gegen die Tischkante geknallt. Dabei hat der Kopf dann auch noch was abgekriegt. Das ist alles.« »Du musst sofort ins Krankenhaus! Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.« »Blödsinn! Nur eine Prellung und eine Schramme an der Stirn. Mach bloß keinen Aufstand. Sagen Sie doch auch mal was!« Er blickte hilfesuchend an seinem Sohn vorbei auf Behrends, den er erst jetzt wahrzunehmen schien. »Haben Sie sich den Verband selbst angelegt?«, fragte Behrends und suchte nach einer Erklärung für das, was er sah. Etwas passte nicht. »Ja sicher doch! Wer denn sonst?« Der Alte wirkte gereizt. Das war nicht der Beistand, den er sich erhofft hatte. Behrends kratzte sich im Nacken. Das hatte Grischke nicht selbst gemacht. Nicht so sauber und akkurat und schon gar nicht mit einem kaputten Arm. Dazu die beiden Kippen. Es war noch jemand anderes in der Hütte gewesen, jede Wette. Aber warum log der
Alte? Wegen seines Sohnes? Hatte er etwas vor ihm zu verbergen? Die zweite Person – eine Frau, eine heimliche Geliebte, die sich nur morgens in aller Herrgottsfrühe freimachen konnte? Der dritte Frühling? Ein harmloses Gerangel der zwei mit schmerzhaften Folgen? Oder vielleicht doch ein Kampf? »Sie glauben mir wohl nicht«, bohrte sich die Stimme des alten Gärtners in seine Gedanken. »Natürlich glaube ich Ihnen«, antwortete Behrends, »wenn Sie das sagen.« Der Junior hatte sich von seinem Vater abgewandt und ging zu der schief stehenden Kommode hinüber, beugte sich darüber und zog die Tür dahinter so weit auf, dass sie die Rückwand der Kommode berührte. Er warf einen Blick in den Hohlraum hinter der Tür und wandte sich im nächsten Moment wieder seinem Vater zu. »Papa, wo ist denn die ...?« Weiter kam er nicht. Der Alte katapultierte sich mit einer überraschend gewandten Bewegung aus seiner Sofaecke in die Höhe. »Ich denke, ich bin wieder so weit in Ordnung, dass ich nach Hause fahren kann«, unterbrach er seinen verblüfften Sohn mit harter Stimme. Dabei warf er ihm einen warnenden Blick zu, der Behrends nicht entging. Grischke junior zögerte, wusste offensichtlich nicht sofort, wie er reagieren sollte. Dann aber nickte er. »Ist in Ordnung, Papa. Ich nehme dich in meinem Wagen mit. Den Mitsubishi
holen wir später.« »Ich kann den fahren«, zischte der Alte, fing aber im selben Moment an zu schwanken. Er musste sich wieder setzen. »So viel dazu.« Der Junior seufzte und fasste seinen Vater an den unverletzten Arm. »Du fährst bei mir mit. Keine Widerrede.« »Und wenn ich mit dem Wagen hinter Ihnen herfahre?«, bot Behrends an und machte einen Schritt auf das Sofa und die beiden Männer zu. Dabei streifte sein Blick die Tischkante. Er bemerkte den rotbraunen Fleck. Blut? Schon möglich, dass Grischke mit dem Kopf daran geschlagen war. Aber bis dahin reichte der Teppich nicht. Eben noch hatte der Alte behauptet, er sei darüber gestolpert. »Gute Idee, Herr Behrends«, stimmte Grischke junior zu, »so machen wir es.« Mit den Worten schloss er die Tür hinter der Kommode, sodass nur noch ein schmaler, waagerechter Spalt in der Wand zu sehen war. Dann schob er die Kommode in ihre alte Position zurück und wandte sich wieder seinem Vater zu. Behrends’ Blick blieb noch einen kurzen, nachdenklichen Moment an der Kommode hängen. Die Tür in der Wand wurde jetzt vollständig von dem Möbelstück verdeckt. Wer von ihrer Existenz nichts wusste, würde sie nur schwer bemerken, wenn überhaupt. Ein ideales Versteck. Aber wofür, fragte er sich.
10. Grischke junior hatte seinen Vater zu Hause abgeliefert und Behrends danach zurück zur Klinik gefahren. Es hatte die Frau des Alten erschüttert, ihren Mann in einem derart ramponierten Zustand zu sehen, und sie hatte ihn sofort in ihre Obhut genommen. Ein klärendes Wort mit ihm zu wechseln, war Behrends nicht mehr vergönnt gewesen. Auch der Junior hatte sich auf der Fahrt zur Klinik ausgesprochen einsilbig gegeben. Was für ein Tag, dachte Behrends und starrte, vor dem Fenster seines Zimmers stehend, die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, nach draußen in den Garten. Es war mittlerweile halb zwölf, die Frühlingssonne stand hoch über Blumen, Sträuchern und Bäumen der Außenanlage, die ihre ganze verschwenderische Pracht entfaltet hatten und vor Lebenskraft strotzten. Es war Zeit zum Mittagessen. Aber er verspürte keinen Hunger. Er wusste gar nicht, was er überhaupt verspürte. War es die Enttäuschung über den verpassten Ausflug oder doch eher Erleichterung darüber, dass der Kelch an ihm vorübergegangen war? Empfand er Mitleid mit Grischke, dem eigentlich Leidtragenden des versauten Vormittags, oder Ärger, nicht zu wissen, was genau in der Hütte vorgefallen
war? Ja, ein wenig Ärger war sicherlich dabei. Weil der Alte ihn behandelt hatte, wie einen völlig Fremden. Nach allem, was er zusammen mit dem Mann in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft schon erlebt hatte, fand er das nicht in Ordnung. Allerdings wurde der Ärger überlagert von den Fragen, die ihm im Kopf herumkreisten, seitdem er Grischkes Blockhütte betreten hatte. Er wusste, alles, was er gesehen und gehört hatte, ging ihn nichts an. Trotzdem, er konnte sich nicht dagegen wehren. Seine Gedanken folgten einem eingefahrenen, berufsbedingten Muster und ließen sich nicht so einfach abstellen. Der Geruch des Joints, die beiden Kippen, der sauber angelegte Kopfverband und sogar die Colaflasche – trank Grischke überhaupt Cola? –, das waren keine zwingenden Hinweise auf verdächtige Handlungen oder auf eine zweite Person, die sich in der Hütte aufgehalten hatte. Aber sie machten Behrends zumindest skeptisch. Und dann war da ja auch noch diese unausgesprochene Aufforderung des alten Grischke an seinen Sohn, die Klappe zu halten – in welchem Zusammenhang war das gleich passiert? Ja, genau, der Junior hatte durch die geöffnete Tür hinter der Kommode geschaut. Danach hatte er etwas sagen wollen, hatte vielleicht etwas entdeckt, was nicht so war, wie es sein sollte. Na und, fragte sich Behrends, was bedeutet
das schon? Was vermutest du denn? Ein Verbrechen, weil der Alte kifft, möglicherweise in Gesellschaft? Was soll’s! Menschenskind, du wirst einem alten Mann wie Grischke doch seine kleinen Freuden gönnen. Und überhaupt – so dicke bist du nun auch wieder nicht mit ihm, dass er und sein Sohn dich in ihre privaten Geheimnisse blicken lassen. Akzeptier das einfach! Doch genau das konnte Behrends nicht, trotz der stummen Mahnungen, die er an sich selbst richtete. Die ganze Geschichte kam ihm komisch vor. Und er wusste auch warum: Er brachte sie wie selbstverständlich in Verbindung mit dem Mord an Adam. Grischkes bestem Freund. Erklären konnte er es nicht, aber eine innere Stimme, drängend und hartnäckig, nötigte ihm diese Verbindung regelrecht auf. Behrends seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Unzufrieden tigerte er im Zimmer hin und her. Er hätte nach draußen gehen, sich in die Sonne setzen, mit irgendjemandem quatschen und so auf andere Gedanken kommen können. Es fand sich immer wer, der auf der Suche nach Gesellschaft zwischen den Rabatten herumstreunte. Er könnte sich aber auch aufs Bett legen, in einem Buch lesen oder ein Stündchen die Augen schließen. Einfach abschalten. Ging aber nicht, der Mordfall Poljakow, wie er ihn für sich nannte, ließ ihm diese Ruhe nicht. Stattdessen griff er zu seinem Smartphone und wählte Maikes Nummer. Die
private, aus Höflichkeit, weil sie ja nicht zwangsläufig an einem Sonntag am Schreibtisch sitzen müsste, trotz der laufenden Ermittlungen im aktuellen Fall. Saß sie auch nicht. Stattdessen war sie mit Tim Seidel unterwegs. Die zwei kamen von der Befragung eines Getränkespediteurs, der das Gagarin belieferte. Diese Azzouzi hielt sie ganz schön auf Trab. Zugegeben, das hätte er auch von ihnen gefordert – vollen Einsatz. Die Aufklärung eines Mordes verlangte das. Es war nur komisch, dass jetzt jemand anderes die Zügel in der Hand hielt. Schwer, das zu akzeptieren. »Und, Ingo? Was willst du wissen? Oder meldest du dich einfach so, um uns einen schönen Sonntag zu wünschen?« Sie klang gestresst. Im Hintergrund murmelte Tim irgendetwas. Etwas Unanständiges, vermutete Behrends. »Was hat er gesagt? Meint er etwa mich?«, hakte er sicherheitshalber nach. »Nicht dich. Den Sonntagsfahrer vor mir«, nölte Seidel. Maike hatte ihr Handy auf laut gestellt, damit er mithören konnte. Behrends war das nicht recht, er hatte gehofft, sie würde ihren kleinen Informationsaustausch für sich behalten. Aber offensichtlich hatte sie Tim längst eingeweiht. Andererseits – Seidel war ihm gegenüber absolut loyal, ein guter Typ, kein Korinthenkacker und Erbsenzähler, der sofort
zu der Azzouzi rennen und petzen würde. »Gibt es schon neue Erkenntnisse im Fall Poljakow«, fragte er deshalb rundheraus. »Wir waren gestern bei deinem Freund Grischke. Wirklich weiterhelfen konnte der uns auch nicht«, erklärte Seidel. »Hat er dir sicher schon erzählt.« »Nein, hat er nicht. Keine Gelegenheit.« Das war es nicht, worüber er mit seinen Mitarbeitern reden wollte. »Sag mir was Neues, Tim, irgendwas, das ich noch nicht weiß ... Na los, komm schon!« Seidel stöhnte auf. »Mein Gott, Ingo! Maike hat Recht, du bist wirklich eine alte Nervensäge. Warum hältst du dich nicht einfach raus und lässt uns machen?« »Das habe ich Maike schon gesagt«, nörgelte Behrends beleidigt, »ich bin als Grischkes Freund quasi in den Fall involviert.« »Jaja, alles klar«, entgegnete Seidel lachend. »Also okay, ich weiß ja, dass du keine Ruhe gibst. Wir haben eine heiße Spur.« »Ja, und?« »Die führt ins Drogenmilieu«, übernahm Maike, »wir haben Hinweise, dass Adams Restaurant nicht nur wegen der guten russischen Hausmannskost floriert hat. Wäre durchaus möglich, dass der Mörder aus dieser Ecke kommt. Vielleicht steckt die Russenmafia dahinter.« »Russenmafia, aha ...« Hatte nicht Grischke auch so einen Verdacht geäußert? »Und ihr
glaubt tatsächlich, es geht um Drogen?« »Richtig. Drogen. Überrascht dich das jetzt?«, wunderte sich Maike. »Du hörst dich so erschrocken an.« Behrends schluckte den Kloß hinunter, der sich plötzlich in seiner Kehle gebildet hatte. »Nein, nein, alles in Ordnung. Ich dachte nur ...« »Was?« »Cannabis? Ich meine, um was für Drogen geht es denn? Auch Cannabis?« »Hm, wir gehen zwar von anderem Stoff aus, wäre aber möglich«, entgegnete Maike zögernd. »Hat er vielleicht als Einstiegsdroge verhökert. Um neue Kunden anzufüttern für die harten Sachen. Ist allerdings reine Spekulation von mir. Wir haben bisher nur einen Anfangsverdacht, keine gesicherten Erkenntnisse. Wir müssen abwarten. Die Kollegen vom K2 sind mittlerweile mit eingebunden.« »Also doch mehr als nur Spekulation«, stellte Behrends fest. »Müssen wir sehen«, blieb Maike vage und hakte nach: »Wie kommst du überhaupt auf Cannabis, Ingo? Weißt du was?« »Nee, nichts«, wiegelte Behrends hastig ab, »war nur so ein Schuss ins Blaue. Ich will euch auch nicht länger aufhalten. Viel Erfolg weiterhin, und haltet mich auf dem Laufenden, ja? Macht’s gut.« Ohne eine Reaktion von Maike oder Tim
abzuwarten, legte er auf. Der Kreis in seinem Kopf schloss sich: Der Russe, die Mafia, Drogengeschäfte, Grischke, Blockhütte, Cannabis – es gab ihn eben doch, diesen Zusammenhang! Er konnte sich noch immer auf seine Instinkte verlassen. Das bedeutete aber auch, dass er Grischke sprechen musste. Umgehend. Er musste wissen, was in der Hütte wirklich vorgefallen war. Grischke hatte ihm und seinem Sohn ein Märchen aufgetischt. Von wegen, über den Teppich gestolpert! Seine Verletzung hatte andere Ursachen, war garantiert Folge einer Auseinandersetzung. Vielleicht war es um Cannabis gegangen, vielleicht um andere, härtere Drogen. Möglich, dass auch Grischke Teil eines von der Mafia gesteuerten Drogennetzwerkes war, wie sein Freund Adam. Nicht auszuschließen, dass der Alte in Gefahr schwebte. Den Russen hatten sie bereits ermordet. War Grischke das nächste Opfer? Behrends brauchte Klarheit. Und deshalb musste er Grischke zum Reden bringen! Grischke junior empfing ihn an der Haustür. Behrends gab dem Taxifahrer, der ihn nach Barbis chauffiert hatte, mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er nicht auf ihn zu warten brauche. »Ich muss Ihren Vater sprechen. Dringend!« Er drängte sich an dem Hünen vorbei in den Hausflur. Der ließ es geschehen, schloss die Tür hinter
sich und grinste Behrends verlegen an. »Versuchen können Sie es ja«, sagte er, »vielleicht gibt er bei Ihnen seinen Widerstand auf.« »Widerstand? Was meinen Sie damit?« »Meine Mutter wollte, dass ich mit ihm ins Krankenhaus fahre. Er hat sich geweigert. Dann wollte sie genau wissen, was passiert ist, hat sich nicht mit seinen spärlichen Erklärungen zufriedengegeben. Er hat sie abblitzen lassen, ist aggressiv geworden. Wir fanden das nicht in Ordnung, meine Frau und ich, und sind meiner Mutter zur Seite gesprungen. Da ist er zwar wieder ruhig geworden, aber erzählt hat er immer noch nichts. Er ist doch sonst nicht so. Ich verstehe ihn einfach nicht.« Grischke junior machte eine wegwerfende Handbewegung. »Na ja, jedenfalls hat es einen Riesenkrach gegeben. Jetzt hockt er in seinem Zimmer – er hat so ein kleines Büro unter dem Dach, das er nur für sich nutzt – und lässt keinen zu sich rein. Er hat abgeschlossen. Mutter ist mit meiner Frau und den Kindern spazieren gegangen. Sie ist stocksauer, was ich verstehen kann, so wie er sich benommen hat. Er soll da oben hocken, bis er schwarz wird, hat sie gesagt. Kann seine Klamotten holen und da gleich ganz einziehen.« »Hört sich nicht gut an«, murmelte Behrends. Die Voraussetzungen für ein klärendes Gespräch standen unter den gegebenen
Umständen nicht gerade günstig. »Ich hoffe, er beruhigt sich bald wieder«, wiegelte der Junior ab. »Was ist denn so wichtig, dass Sie jetzt mit ihm reden müssen?« Behrends verzog seinen Mund zu einem gequälten Grinsen. »Das würde ich gern mit Ihrem Vater unter vier Augen klären. Ist das in Ordnung?« Der Zwei-Meter-Mann zuckte hilflos mit den Schultern, wirkte plötzlich klein. »Versuchen Sie es ruhig. Wenn Sie es schaffen, ihn zur Vernunft zu bringen, muss ich Ihnen vermutlich noch dankbar sein, egal was Sie mit ihm zu bereden haben. Da geht es hoch«, er deutete zur Treppe, »bis ganz nach oben. Sie stehen dann direkt vor seiner Tür.« Erst reagierte Edgar Grischke gar nicht auf das Klopfen und Rufen. Dann, als Behrends schon enttäuscht aufgeben wollte, hörte er schlurfende Schritte hinter der Tür und gleich darauf die Stimme des Alten, die wie ein drohendes Knurren nach draußen drang: »Was wollen Sie von mir?« »Ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist wichtig.« Er starrte das Türschloss an, hoffte, der Schlüssel würde sich jeden Moment darin drehen. Vergeblich. »Was ist wichtig? Worüber müssen Sie mit mir reden? Hat meine Frau Sie geschickt? Oder mein Sohn? Gehen Sie und lassen Sie mich in Ruhe!« »Herr Grischke, bitte! Seien Sie doch
vernünftig«, flehte Behrends die verschlossene Tür an, »es geht um den Joint in Ihrer Hütte, ich muss von Ihnen wissen ...« Verbittertes Lachen unterbrach ihn. »Hach ja! Das Grass!«, höhnte Grischke. »Wie konnte ich das vergessen? Sie sind ja Bulle, und ich habe verbotene Substanzen geraucht. Verdammt noch mal, hauen Sie ab und lassen mich in Ruhe. Oder besorgen Sie sich einen Haftbefehl!« Behrends rang nach Luft. »Mein Gott, seien Sie doch vernünftig! Ich will Sie nicht festnehmen! Aber Ihr Freund, der Russe, der steckte in Drogengeschäften und wurde vermutlich deshalb ermordet. Falls Sie etwas davon wissen oder selbst mit seinen Geschäften zu tun haben, sind Sie vielleicht in Gefahr.« Grischke antwortete nicht. Nur sein schweres Atmen direkt hinter der Tür war zu hören. »Bitte, Herr Grischke, reden Sie mit mir.« Nichts. Zäh tröpfelten die Sekunden dahin. Dann: »Ich handle nicht mit Drogen. Und jetzt gehen Sie. Bitte!« Müde Worte, denen leises Schlurfen folgte, das sich wieder entfernte. »Na schön«, seufzte Behrends resigniert. »Falls Sie doch noch reden wollen – Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen. Ich bin jederzeit für Sie da.« Der Sohn fuhr Behrends zurück zur Klinik, zum zweiten Mal an diesem Tag. Kurz hinter dem
Ortsschild von Barbis räusperte er sich. »Also, ich habe vorhin was mitbekommen, als Sie oben vor der Tür standen. Wollen Sie Vater tatsächlich wegen dem Cannabis vor den Kadi ziehen? Er hat das nur für den Eigenbedarf.« »Sie wissen also davon?« Behrends blickte ihn forschend von der Seite an. »Ja, schon«, kam die zögernde Antwort, »aber sonst niemand. Meine Mutter würde ihm den Kopf abreißen. Und meine Frau mir.« »Sie also auch?« Grischke junior wiegte lächelnd den Kopf. »Gelegentlich. Es ist unsere Art zu entspannen. Vater und Sohn gemeinsam beim Joint in der Abendsonne vor der Blockhütte. Ich genieße das sehr. Müssen Sie wirklich so ein Theater darum machen?« »Nur für den Eigenbedarf?«, hakte Behrends nach. »Kein Handel? Und auch keine härteren Drogen?« »Herrgott, nein! Was denken Sie von uns?« »Und Ihre Bezugsquellen? Sie führen eine Gärtnerei. Da kennen Sie sich doch sicher mit dem Hanfanbau aus.« »Sind Sie wahnsinnig?« Grischke junior fuhr zu Behrends herum, schien für einen Moment zu vergessen, dass er ein Auto steuerte. »Wir setzen doch nicht unsere Existenz mit so was aufs Spiel!« »Entschuldigung, natürlich nicht«, ruderte Behrends hastig zurück, »dumm von mir, so etwas anzunehmen. Was ist mit Poljakow? Er
war der Freund Ihres Vaters. Könnte der ihn beliefert haben?« »Poljakow? Wer ist das?« »Der Russe, der Tote. Sie kennen ihn als Adam. Der Familienname seiner verstorbenen Frau. Sein Geburtsname ist Poljakow. Der ist irgendwie unverwechselbarer, deshalb ist er bei mir wohl hängen geblieben.« »Ach so, das war mir neu.« »Und? Könnte er der Lieferant Ihres Vaters gewesen sein?« »Leo?« Er schüttelte den Kopf. »Also, ich weiß nicht ... Ich habe zwar keine Ahnung, wo mein Vater das Zeug kauft, aber dass er es von Leo bezieht ... Wie kommen Sie überhaupt darauf?« »Hm ... na ja ...«, druckste Behrends und trommelte leicht auf dem Griff der Beifahrertür herum, »Poljakow hat mit Drogen gehandelt, so wie es aussieht. Und jetzt ist er ermordet worden.« »Sie meinen, sein Tod hat was mit Drogengeschäften zu tun? Und weil mein Vater sein bester Freund war, ist er für Sie auch verdächtig?« Der Mann hatte eine schnelle Auffassungsgabe, stellte Behrends fest. »Nein. Ich habe Angst um Ihren Vater. Ich möchte nicht, dass ihm auch etwas passiert«, sagte er. »Weil Sie glauben, er könnte ins Visier von Leos Mördern geraten?« Grischke junior warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Nach der Sache heute Morgen in der Hütte und meinen aktuellen Informationen zu Poljakows Drogengeschäften habe ich mir ernsthaft Sorgen gemacht, ja.« »Mein Gott, Vater und ich rauchen ab und zu mal einen Joint, sonst nichts. Damit macht man sich doch keine Feinde, oder? Ich finde Ihre Angst etwas übertrieben.« Behrends seufzte. »Mag sein. Vielleicht hat das eine mit dem anderen auch gar nichts zu tun.« »Na ja, Sie sind eben Polizist«, brummte Grischke junior. »Ich nehme an, Sie können nicht anders.« »Ja, sicher«, erwiderte Behrends einsilbig. Die Minuten, bis sie die Klinik erreichten, verbrachten sie schweigend.
11. »Und? Hattet ihr einen schönen Tag, du und dein Freund? Das Wetter war ja ideal für eine Wanderung durch den Harz.« Katrins Tag schien jedenfalls zu ihrer vollen Zufriedenheit verlaufen zu sein, so munter wie sie sich am Telefon anhörte. Als sie anrief, lief im Fernsehen gerade die ZDF-Serie Terra X. Behrends hatte die Ereignisse des Tages immer noch nicht verdaut und seine nach wie vor unbeantworteten Fragen lagen ihm schwer im Magen. Dementsprechend missmutig fiel seine Antwort aus. »Was soll schon an ’nem Tag Schönes sein, der damit beginnt, dass zur verabredeten Zeit niemand erscheint und du deinen Wanderpartner später mit dickem Kopfverband und einem angeschlagenen Arm in einer Cannabiswolke sitzend in seiner Blockhütte im Wald auffindest.« »Wie bitte?« Katrin lachte auf. »Komm, Behrends, hast du was getrunken? Nimm mich nicht auf den Arm!« »Tue ich nicht, Schatz. Ich bin stocknüchtern. Im Ernst, es war ein total verkorkster Tag.« »Ach, du Armer! Warum das denn? Erzähl mal«, forderte sie ihn auf. Sie klang jetzt fast ein wenig besorgt.
Es tat gut, mit einem Menschen zu sprechen, der zuhörte, bedauerte und tröstete. In Momenten wie diesen wurde ihm klar, wie viel Katrin ihm bedeutete und wie sehr er sie liebte. Er wünschte sich, sie jetzt bei sich zu haben, ihren Körper neben sich zu spüren und nicht dieses dusselige Smartphone an sein Ohr drücken zu müssen. Aber besser telefonieren, als überhaupt keine Verbindung, dachte er und redete sich den Frust von der Seele. Katrin unterbrach seinen Monolog nur hin und wieder mit einer verständnisvollen Bemerkung. Irgendwann fiel Behrends auf, dass nur er redete. Etwas verschämt erkundigte er sich nach ihrem Tagesablauf. »Und du? Was hast du heute so erlebt?« »Nicht viel«, sagte sie und erzählte ihm von ihrem Sonntag. Neben dem Vormittagsausflug mit Sir Toby an die Förster Kiesteiche und der Fahrt nach Osterode am Nachmittag hatte Katrin nur wenig Aufregendes zu bieten gehabt. »Ach übrigens, weißt du, wen ich getroffen habe?«, fragte sie, gerade als Behrends’ Gedanken abzuschweifen drohten. »Nein ... Keine Ahnung«, erwiderte er vorsichtig. »Wen denn?« Da hatte so ein Unterton in ihrer Stimme gelegen, der ihn stutzen ließ. »Frau Doktor Beuermann. Ich war mal auf einer Fortbildung, die sie geleitet hat. Heute Nachmittag sind wir uns zufällig in Osterode
vor Zottas Eisdiele wieder über den Weg gelaufen.« »Beuermann? Sagt mir nichts. Muss ich die Dame kennen?« »Nein. Aber du wirst sie schon noch kennenlernen.« »Wieso?« Behrends’ Argwohn wuchs. »Sie arbeitet in der Kirchberg-Klinik. Ab morgen ist sie wieder im Dienst. Sie hatte Urlaub.« »Aha.« Kam da jetzt noch was? »Ich habe ihr gesagt, dass du gerade zu einer Reha in ihrer Klinik bist. Jetzt will sie auf dich aufpassen.« »Du machst Witze.« »Nein. Das hat sie wirklich gesagt. Und so dumm finde ich das gar nicht.« Das klang jetzt schon etwas ernster. Sie hatte offenbar längst begriffen, was er sich bislang nicht eingestehen wollte: Die tristen Reha-Wochen würden eine unzumutbare Prüfung für ihn werden, und sobald sich ihm die Gelegenheit bot, würde er versuchen, sich von der ärztlich verordneten Zwangsjacke zu befreien. Eine kleine Andeutung von ihr reichte aus, ihm diese Wahrheit vor Augen zu führen. Es stimmte, sie kannte ihn, vermutlich sogar besser, als er sich selbst. »So ein Quatsch! Ich brauche keine Aufpasserin!«, blaffte er wie einer, den man auf frischer Tat ertappt hatte.
»Ach, stell dich nicht so an. Ein bisschen weibliche Ablenkung wird dir guttun. Bevor du anfängst, dich zu langweilen und auf dumme Gedanken kommst.« »Hm ...« Er versuchte es mit einem kleinen Gegenangriff. »Ist sie wenigstens hübsch?« »Lass dich überraschen«, flötete sie und wechselte dann erstaunlich schnell das Thema. Das Läuten des Zimmertelefons ließ Behrends hochschrecken. Verwirrt riss er die Augen auf, zwinkerte zum Fernseher hin. Es lief der Abspann des Tatorts. Er lag angezogen auf dem Bett, hatte die Hälfte des Krimis verschlafen. Mindestens. Ächzend griff er zum Hörer. »Ja, bitte?«, krächzte er. »Besuch für Sie«, meldete sich eine Frau, vermutlich die Nachtschwester, die bereits ihren Dienst angetreten hatte. »Herr Grischke.« »Edgar Grischke?«, rief er verwundert aus. »Richtig. Kommen Sie runter, oder soll er hochkommen?« Er überlegte nur kurz. »Schicken Sie ihn hoch«, sagte er dann. Was wollte der Alte denn um diese Zeit noch? Vor ein paar Stunden hatte er ihm doch erst eine derbe Abfuhr erteilt. Und jetzt? Behrends ging ins Bad. Als er gerade die Toilette verlassen hatte und sich die Hände wusch, hämmerte es an der Tür.
»Kommen Sie rein«, rief er, »bin gleich bei Ihnen.« Er trat aus dem Bad und erschrak. Grischke stand da, mitten im Raum, wirkte gehetzt. Flackernde Augenlider, das Gesicht aschfahl. Dazu sein Kopfverband ... Er sah nicht sonderlich gut aus. »Bitte, setzen Sie sich doch.« Behrends deutete auf die Sessel am Fenster. Grischke schlurfte hinüber und nahm Platz. »Möchten Sie was trinken? Ich habe aber nur Mineralwasser da.« Der Alte machte eine fahrige Handbewegung und nickte: »Mineralwasser ist in Ordnung, danke.« Behrends schenkte ein Glas voll, reichte es ihm und setzte sich ebenfalls. Er sah dem Gärtner schweigend dabei zu, wie er in kleinen Schlucken alles austrank. Langsam kehrte die Farbe in Grischkes Gesicht zurück. Er entspannte sich merklich, wirkte jetzt wieder relativ gefasst. »Also?« Behrends musterte seinen späten Gast, wartete auf eine Erklärung für dessen Besuch. Der Alte räusperte sich. »Ich ... ich wollte mich entschuldigen«, begann er stockend. »Wie ich Sie heute Nachmittag angeschnauzt habe, das war nicht anständig.« »Und deshalb kommen Sie jetzt extra noch hier rauf zu mir? Das hätte nun wirklich bis morgen Zeit gehabt, meinen Sie nicht?«
Grischke wand sich in seinem Sessel. »Um ehrlich zu sein, das ist nicht alles.« »Ich höre.« Grischke blickte von ihm weg zum Fenster. Er knetete seine Hände, setzte zum Reden an, brach wieder ab, seufzte. »Ich habe Sie belogen«, presste er schließlich hervor. »Genau wie meine Familie. Meine Frau war mit meiner Erklärung nicht zufrieden und hat nachgebohrt. Die Wahrheit konnte ich ihr aber nicht sagen. Da ist es dann zu diesem Streit gekommen und ich habe mich in meinem Zimmer verbarrikadiert.« »Aber mir wollen Sie jetzt beichten, was wirklich passiert ist?« Grischke nickte. »Warum?« »Na ja, Sie sind Polizist. Ich denke, Sie gehen verantwortungsvoll mit dem um, was ich Ihnen erzähle. Außerdem ist es mir wichtig, dass Sie kein falsches Bild von mir kriegen, wegen dem Cannabis und so ...« Behrends triumphierte innerlich. Er hatte es gewusst! »Sie sind gar nicht über den Teppich gestolpert, stimmt’s?«, sagte er dem Alten auf den Kopf zu. Grischke schüttelte müde den Kopf. »Nee, nicht über den Teppich.« »Hab mir so was schon gedacht. Und wie hat es sich wirklich abgespielt?« »Na ja, das ist ’ne lange Geschichte. Muss ich
erst mal ’n bisschen ausholen.« Behrends lehnte sich in seinem Sessel zurück und winkte ab. »Kein Problem. Wir haben die ganze Nacht Zeit. Hier geht keiner rum, guckt, ob alle im Bett sind, und macht das Licht aus. Bin ja nicht im Landschulheim.« »Na schön.« Grischke rekelte sich, suchte nach der bequemsten Position. »Hätten Sie noch einen Schluck Wasser für mich?« »Klar doch.« Behrends schenkte ihm nach. Der Alte trank und stellte das Glas ab. »Also«, begann er, »Sie wissen ja schon, dass Leo Adam mir nach der Beerdigung seiner Frau die Matrjoschka zur Aufbewahrung gegeben hat.« Behrends nickte. »Mein Sohn sagte mir übrigens, Leo hieß früher mit Nachnamen Poljakow?« Wieder nickte Behrends. »Richtig. Leonid Poljakow.« »Hm ... na ja«. Grischke rieb sich kurz das Kinn, dann fuhr er fort: »Also, Leo hat damals gesagt: Sperr die Puppe weg und denk einfach nicht mehr dran. Und dann hat er mich regelrecht beschworen: Verrat bloß keinem was! Versteck das Ding und kümmere dich nicht weiter drum. Außer, wenn ich nicht mehr bin. Also, wenn ich tot sein sollte. Dann musst du selbst entscheiden, was du damit machst. Wenn ich es mir recht überlege, hat das schon damals geklungen, als ahnte er, dass ihm nach dem Unfall seiner Frau auch was passieren
könnte. Ist ja nun tatsächlich so gekommen. Ich habe übrigens die ganze Zeit Wort gehalten. Gut, mein Sohn wusste von der Puppe, aber der dachte, es sei ein Geschenk von Leo. Er hat mich mal gefragt, warum ich sie in dem Wandschrank in meiner Hütte verstecke, anstatt sie irgendwo aufzustellen, wo sie jeder sieht. Ob ich sie so hässlich fände. Ich habe ihm gesagt, dass ich noch den richtigen Platz dafür suche. Er hat mich nie wieder darauf angesprochen. Kurz und gut, ich habe die Puppe in meiner Blockhütte im Schrank aufbewahrt und sie kein einziges Mal rausgeholt. Bis gestern. Da habe ich sie dann auch geöffnet.« »Und?«, fragte Behrends lauernd. »Was haben Sie gefunden?« »In der letzten der Puppen, der kleinsten, hat Leo ein zusammengefaltetes Blatt Papier versteckt. Er hat da so eine Art Lageplan aufgezeichnet, mit allen möglichen Symbolen, Linien und Zahlen. Die Zahlen könnten Koordinaten gewesen sein. So genau kenne ich mich da nicht aus. Dann hat er noch ein paar Worte dazugeschrieben, irgendwelche Begriffe oder Namen, keine Ahnung. Er hat mir ja nie gesagt, was es mit der Matrjoschka auf sich hat. War mir ein Rätsel, das alles da auf dem Zettel.« »Außer Ihnen und Ihrem Sohn weiß also niemand etwas von der Puppe?«, unterbrach ihn Behrends. »Könnte es nicht sein, dass Ihr
Freund noch jemandem davon erzählt hat? Soweit ich mich erinnere, erwähnten Sie am Freitag im Gagarin eine Frau, die sich bei Ihnen danach erkundigt hat.« Er beobachtete den Gärtner genau und bemerkte, dass seine Mundwinkel plötzlich nervös zu zucken begannen. Grischke fuhr sich durch die Haare. »Vielleicht hat er diesem Lungendoktor gegenüber mal was rausgelassen«, sagte er ausweichend. »Wem?« »Irgend so einem Arzt. War angeblich neben mir der einzige Mensch, dem er wirklich vertraut hat. Ich kenne den aber nicht. Ich weiß nicht mal mehr, wie der heißt und woher der kam. Kann sein, dass Leo das auch nie erwähnt hat.« »Könnten Sie mir nicht mal diesen Zettel zeigen, den Sie entdeckt haben?«, fragte Behrends. »Möglich, dass ich etwas damit anfangen kann.« »Das ... das geht nicht«, druckste der Alte. Behrends runzelte die Stirn. »Warum? Ich meine, was hindert Sie daran? Ihr Freund ist tot und ... na ja, vielleicht finden sich darauf ja Hinweise auf seinen Mörder. Daran haben Sie doch bestimmt selbst schon gedacht, oder?« »Sie ist nicht mehr da.« »Wer?« »Die Puppe!«, entfuhr es Grischke etwas zu heftig. »Ich habe sie weggegeben!«
Behrends beugte sich vor und blickte Grischke direkt in die Augen. »Und an wen? Jetzt machen Sie mich aber wirklich neugierig.« »Ich muss noch was vorwegschicken«, setzte der Alte wieder an, zögerte kurz, bis Behrends nickte, und fuhr dann fort: »Ich habe mir natürlich gestern den Kopf darüber zerbrochen, was die Puppe und der Zettel mit seinem Tod zu tun haben könnten. Zuerst sind mir seine Drogengeschäfte in den Sinn gekommen.« »Ihnen ist bekannt, dass er mit Drogen zu tun hatte?«, unterbrach ihn Behrends überrascht. Der Alte korrigierte ihn: »Ich habe es vermutet. Er hat sich mit Typen abgegeben, die mir nicht geheuer waren. Zum Beispiel habe ich mal einen bei ihm an der Haustür stehen sehen. Zufällig. Bei einem Spontanbesuch. Der hatte eine Tasche bei sich und hielt so ein Päckchen mit weißem Zeug in der Hand, das er nicht schnell genug in seiner Tasche verschwinden lassen konnte. Leo sagte, dass es ein Vertreter war. Na ja, ich habe nicht weiter nachgefragt, mir aber meinen Reim drauf gemacht. Meine Befürchtungen, was Leos Vergangenheit anging, hatten neue Nahrung bekommen. Leo ist ein Drogendealer, habe ich gedacht, Geschäftspartner der RussenMafia. Sicher besitzt er auch eine Waffe und ist vielleicht sogar bereit, damit zu töten. Eine schreckliche Vorstellung. Ich kann Waffen nicht ausstehen, müssen Sie wissen. So was zum
Abschrecken ja, aber keine, mit denen man jemanden umbringen kann.« »Und jetzt glauben Sie nicht mehr an den Drogen-Zusammenhang?«, unterbrach ihn Behrends. »Warum?« »Die Frau, die mich wegen der Matrjoschka angerufen hat ...« Grischkes Augen huschten nervös hin und her. Er versuchte, seine Hände ruhig zu halten, was ihm nicht gelang. »Also, die Frau ist heute Morgen in meine Hütte eingebrochen.« »Um die Puppe zu stehlen«, folgerte Behrends. »Ja, schon ... aber eigentlich auch wieder nicht.« Gärtner sah ihn gequält an. »Wie jetzt? Sie hat die Matrjoschka doch gestohlen, oder?« »Sie wollte. Aber ich habe sie überrascht. Auf frischer Tat ertappt, könnte man sagen.« »Aha. Könnte man sagen. Und dann?« Behrends versuchte, sich den weiteren Hergang vorzustellen. »Hat sie Ihnen eine übergezogen und ist mit der Puppe auf und davon?« Er erinnerte sich wieder an das Bild, das sich ihm in der Hütte geboten hatte. Es wollte nicht recht zu dieser spontan entwickelten Theorie passen. Grischke widersprach ihm auch sofort: »Nein ... ja, gut, vielleicht hätte sie sich zur Wehr gesetzt, wenn ich auf sie losgegangen wäre. Aber ich war ja viel zu überrascht, als ich sie da habe hocken sehen vor dem geöffneten
Wandschrank. Ich bin vor Schreck rückwärts und gestolpert. Dann habe ich das Gleichgewicht verloren und bin gegen den Tisch geknallt. Mit dem Kopf. Konnte mich noch etwas mit dem Arm abfangen, sonst wäre es vermutlich schlimmer ausgegangen. Na ja, dafür hat der Arm was abgekriegt.« »Jetzt sagen Sie mir aber nicht, dass diese Frau bei Ihnen geblieben ist und Ihre Verletzungen versorgt hat, anstatt sich die Matrjoschka zu schnappen und das Weite zu suchen.« Behrends bedachte den Gärtner mit einem ungläubigen Blick. »Doch. Genauso war es«, beteuerte Grischke. »Jana hat sich um mich gekümmert, ehe sie weg ist.« »Jana?« »Richtig. Jana Schuchart. So heißt sie. Sie hat einen deutschen Pass, ist aber gebürtige Russin. Leo hat ihr wirklich noch zwei Tage vor seinem Tod versprochen, dass sie die Puppe haben kann. Eigentlich hatte er mich darüber informieren wollen, es dann aber wohl verschwitzt. Das kam bei Leo schon mal vor ... dass er was vergisst, meine ich. Aber weil er nichts gesagt hat, habe ihr ja nicht geglaubt, als sie mich angerufen hat.« »Das hat Ihnen die Dame also erzählt, während sie Ihnen den Kopf verbunden hat? Und Sie haben ihr natürlich geglaubt, mit ihr zusammen noch einen Joint geraucht, ein Schlückchen getrunken und sie dann mitsamt
der Matrjoschka ziehen lassen? Mein Gott, Grischke! Nehmen Sie mich auf den Arm oder sind Sie wirklich so naiv?« Behrends war nahe daran, seine Fassung zu verlieren. »War sie jung und hübsch? Hat sie Ihnen vielleicht so ein bisschen den Verstand durcheinandergebracht?« »Jetzt gehen Sie aber zu weit!«, polterte Grischke empört. »Entschuldigung«, ruderte Behrends sofort zurück, »aber wie kommen Sie dazu, der Frau zu glauben? Leonid Adam ist tot. Er kann ihre Version nicht mehr bestätigen. Haben Sie schon mal daran gedacht, dass sie möglicherweise sogar die Mörderin Ihres Freundes ist?« »Das ist vollkommen dummes Zeug, Herr Behrends!« »Na gut. Dann liefern Sie mir bitte einen Grund, warum Sie dieser Jana Schuchart vertrauen.« »Weil sie mir etwas erzählt hat, was ich schon mal von Leo gehört hatte. Ich weiß gar nicht mehr genau, wann das war. Ist schon eine ganze Weile her, da habe ich zusammen mit ihm in meiner Hütte gesessen. Wir hatten schon ordentlich was getrunken. Er war an dem Abend ausgesprochen redselig. Ich glaube, ihm hat das, was er mir da anvertraut hat, schwer auf der Seele gelegen. Es ging um vier Männer. Zwei Russen und zwei Deutsche. Die Deutschen muss er ganz gut gekannt
haben. Kurz vor der Wiedervereinigung war das, da sind die vier wohl ermordet worden. Und wenn ich aus Leos Gefasel richtig schlau geworden bin, dann hat er sich für den Tod der beiden Deutschen verantwortlich gefühlt.« »Warum? Hat er sie umgebracht?« »Das nicht, aber er hat sie anscheinend in irgendeine Sauerei mit reingezogen. Und dabei ist dann gehörig was aus dem Ruder gelaufen, glaube ich. Er hat nur gesagt, dass er im Besitz von Beweisen ist, mit denen er die Täter ans Messer liefern könnte, wenn er wollte.« »Die Skizze in der Puppe, die Koordinaten, wollen Sie darauf hinaus?«, fragte Behrends. »Sie denken, auf diesem ... diesem Lageplan könnte eingetragen sein, wo die Beweise zu finden sind, von denen Sie eben sprachen?« Grischke trank einen Schluck, nickte. »Genau das denke ich«, bestätigte er. »Ganz sicher bin ich mir natürlich nicht. Aber es ist die einzige Erklärung, die ich habe.« »Wer waren die denn, die Toten? Kennen Sie die Namen?« »Namen hat Leo nicht genannt. Er deutete nur mal an, dass einer der beiden Deutschen bis zur Wende auf dem Stöberhai gearbeitet hat.« »Auf diesem Horchposten? Dem Turm, der vor Jahren gesprengt worden ist? Der stand gleich hier um die Ecke, stimmt’s? An der Odertalsperre.« »Nicht direkt. Mehr in Richtung Wieda. Sie
kennen Wieda?« »Ja, doch. In Walkenried links ab. Ich erinnere mich an das Dorf.« Grischke nickte zufrieden. »Und Stöberhai ist der Berg. Aber Sie haben schon Recht. Den Turm meine ich.« »Und von den Morden soll keiner was erfahren haben?«, wunderte sich Behrends. »So was kann man unmöglich verbergen! Wenn jemand erschossen worden ist, sind polizeiliche Ermittlungen eingeleitet worden. Wo sollen die Morde denn eigentlich passiert sein?« Grischke wiegte den Kopf. »Das ist es ja. Das war nicht hier, sondern irgendwo in der DDR, wenn ich Leo richtig verstanden habe. Kurz vor der Wiedervereinigung. Hatte ich vergessen zu sagen. Kann doch sein, dass der Fall von denen bearbeitet worden ist und dass die Akten jetzt in irgendeinem Archiv verstauben. Oder die Sache ist ganz im Sand verlaufen. War damals bestimmt ein ziemliches Drunter und Drüber.« Behrends verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die Wand gegenüber. Die Geschichte erschien ihm äußerst zweifelhaft. Morde an vier Männern. Zumindest einer davon hatte seinen Arbeitsplatz im Harz gehabt. Da verschwand man nicht einfach so, ohne dass es jemanden kümmerte. Das wäre durch sämtliche Medien gegangen, wenigstens durch die in der Region. »Sie stammen doch von hier, Herr Grischke,
oder?« Der Gärtner nickte. »Sicher. Wir sind eine alteingesessene Familie.« »Und Sie erinnern sich nicht an irgendwelche Zeitungsberichte, in denen über den Mord an einem Stöberhai-Mitarbeiter geschrieben wurde? Ich meine, so etwas vergisst man bestimmt nicht, auch wenn es gut fünfundzwanzig Jahre zurückliegt.« »Tut mir leid, nein«, sagte Grischke und setzte eine bedauernde Miene auf, »da gab es nichts. Jedenfalls nichts, von dem ich wüsste.« »Hm, na ja«, brummte Behrends unzufrieden. »Und das hat Ihnen diese Jana Schuchart auch alles erzählt? Genau so?« »Natürlich nicht genau so. Aber in den wesentlichen Punkten stimmte es überein. Zum Beispiel, dass vier Männer ermordet worden sind, zwei deutsche und zwei Russen. Einer davon war ihr Vater, ein Major der sowjetischen Truppen in der DDR. Und einer der Mörder soll ein gewisser Wassermann sein.« »Wassermann?« »Hat sie gesagt. Sein Spitzname, vermutet sie. Mehr wusste sie aber auch nicht.« »Das hat sie bestimmt alles von Ihrem russischen Freund. Eine seiner Schauergeschichten.« Der Gärtner schüttelte den Kopf. »Nein, hat sie nicht. Das wusste sie schon vorher. Von einem Reporter. Über den ist sie ja erst auf Leo
aufmerksam geworden. Und der hat ihr dann von der Puppe erzählt.« »Sagt sie!« Behrends war keineswegs von der Harmlosigkeit der Frau überzeugt. »Aber Sie sind sicher, dass diese Jana Sie nicht belogen hat?« »Ganz sicher«, antwortete Grischke bestimmt. »Sie will nur wissen, wer ihren Vater ermordet hat, damit er endlich bestraft wird. Und ich wünsche ihr, dass sie was mit dem vollgekritzelten Zettel aus der Puppe anfangen kann. Ich hätte ihn vermutlich weggeworfen und die Matrjoschka als Andenken an Leo in meiner Hütte auf die Vitrine gestellt. So hässlich ich das Ding auch fand.« Behrends hob matt die Hände und ließ sie gleich darauf wieder fallen. »Na, dann hoffe ich nur, diese Frau weiß, was sie tut. Der Gedanke, dass sie den Mörder ihres Vaters jagen will, macht mir, ehrlich gesagt, etwas zu schaffen.« »Jana ist okay, Herr Behrends, glauben Sie mir. Wir haben sogar unsere Handynummern getauscht. Für alle Fälle.« »Ach was! Tatsächlich? Für welche Fälle denn?« Was wurde das hier, fragte sich Behrends. Beichtete ihm Grischke gerade den Beginn einer zarten Romanze? »Sie hat mir versprochen, sich zu melden, wenn sie was herausgefunden hat«, sagte der Gärtner.
»Und Sie glauben natürlich, dass sie sich an ihr Versprechen hält.« »Mein Gott, Sie mit Ihrem Misstrauen!« Behrends zuckte mit der Schulter. »Ich bin Polizist.« »Ja, klar. Aber mal ehrlich, würde das jemand tun, der was Böses im Sinn hat? Also, seine Handynummer rausgeben, meine ich.« Grischke setzte plötzlich ein breites Grinsen auf. »Übrigens, Jana ist tatsächlich jung und hübsch. Und sie fährt eine Moto Guzzi V7 Classic. Tolles Mädchen. Früher habe ich auch von so einer Maschine geträumt. Konnte sie mir aber nie leisten. Heute bin ich dafür ja leider zu alt.« Behrends schloss für einen Moment entgeistert die Augen. Dem Alten war wirklich nicht zu helfen.
12. Montag Therapieplan für Ingo Behrends: Ergometertraining, Autogenes Training, Gymnastik, Fango-Massage, Lungentraining. Mittagessen: Hähnchenbrust »Indisch« mit Currysauce, Erbsengemüse und Salzkartoffeln (12 Fettpunkte) Nachdem Grischke gegangen war, hatte sich Behrends ins Bett gelegt und gegrübelt. Vier ermordete Männer. Damals. Und jetzt auch noch Adam, der vermeintliche Augenzeuge. Warum hatten sie sterben müssen? Überhaupt, was hatten ein Sowjet-Offizier, ein russischer Botschaftsangehöriger und ein Mitarbeiter vom Stöberhai-Turm miteinander zu schaffen gehabt? Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR kurz vor der Wiedervereinigung? Und nichts von alledem sollte an die Öffentlichkeit gedrungen oder wenigstens in irgendeiner Polizeiakte aufgetaucht sein? Kaum vorstellbar! Genauso mysteriös, wie die ganze Geschichte, war ihm diese Jana Schuchart vorgekommen. Da hatte ihm Grischke erzählen können, was er wollte. Der Alte war auf die Reize einer jungen Frau hereingefallen, die jetzt irgendwo da draußen herumgeisterte und
wer weiß was anstellte! Suchte die tatsächlich den Mörder ihres Vaters? Und wenn ja, was würde passieren, sollte sie ihn finden? Musste man sie nicht aufhalten? Vielleicht spielten ja doch Drogen die Hauptrolle, hatte Behrends überlegt, als ihm gar nichts anderes mehr einfallen wollte. Vielleicht hatte der Russe ganz tief in der Szene gesteckt – viel tiefer, als die ersten Ermittlungsergebnisse vermuten ließen. Und diese Jana Schuchart, wenn sie überhaupt so hieß, war auch Teil der Szene. Sie konnte Adam ermordet haben. Im Auftrag oder aus persönlichen Motiven. Das war keineswegs ausgeschlossen, auch wenn Grischke das nicht hatte wahrhaben wollen. Immerhin gab es eine Zeugin, die einen Motorradfahrer zur fraglichen Zeit am Tatort beobachtet hatte. Immer schneller hatte sich das Karussell in Behrends Kopf gedreht und seine Gedanken durcheinandergewirbelt. Irgendwann musste er dann eingeschlafen und in Traumtiefen abgerutscht sein, die von einer aufregend schönen Frau beherrscht wurden. Einer jungen russischen Ärztin namens Anuschka, Tatjana oder Matrjoschka, das blieb etwas verschwommen. Sie war zu seiner persönlichen Rundumbetreuung abgestellt worden. Was das bedeutete, ließ sich angesichts ihres kurzen Rocks und des tiefen Ausschnitts leicht erraten. Mit lasziven, wiegenden Schritten näherte sie sich seinem Bett und ließ dabei die Zunge verführerisch über ihre Lippen gleiten. Sie griff
nach der Decke und zog sie langsam zurück. Darunter lag er – vollkommen nackt. Er wollte nach ihr fassen, ihre Rundungen berühren. Es gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht bewegen. Er war mit Handschellen ans Bett gefesselt – mit seinen eigenen Handschellen! Sie legte ihre Hand an seinen Hals und ließ sie von dort sanft über seinen Körper hinabgleiten. Er spürte das Kribbeln auf der Haut, das immer unerträglicher wurde, je weiter sie nach unten kam. Kurz vor dem Ziel hielt sie inne, dann hob sie ihr Bein an und schwang sich auf ihn. Er stieß ein lustvolles Seufzen aus, als sie gleich darauf begann, ihren Kittel vollständig zu öffnen. Er war so fixiert auf ihre Finger, die sich Knopf für Knopf vorarbeiteten, dass er die Spritze viel zu spät bemerkte – ein Monster von einer Spritze, mit einer Injektionsnadel, die die Haut eines Elefanten durchdringen konnte. Während sie weiter mit der einen Hand an ihrem Kittel hantierte, holte sie mit der anderen aus. Die Nadel schwebte bedrohlich über seinem Gesicht. Ein Tropfen löste sich aus der Nadelspitze und klatschte ihm auf die Brust. Er wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Dann ließ sie die Spritze auf ihn hinunterfahren, sie traf auf seinem Hals auf und löste eine Explosion aus. Grelle Farben, heftig zuckende Blitze, laute, schrille Töne – ein schmerzendes Crescendo, das ihn aus dem Schlaf riss und in die Höhe fahren ließ. Er japste, blickte verwirrt um sich. Sein Herz
hämmerte gegen die Brust. Irgendetwas vibrierte und schepperte. Das Smartphone! Behrends erinnerte sich, die Weckerfunktion aktiviert zu haben. Wegen der Gymnastik, die heute Morgen viel zu früh auf dem Programm stand. Hastig griff er nach dem Gerät, brachte es zum Schweigen, legte es zurück. Dann warf er die Bettdecke zur Seite, sah an sich hinunter. Nein, er war nicht nackt. Er steckte in seinem Schlafanzug. Ein etwas genauerer Blick auf die Hose, dann war er endlich beruhigt. Keine verräterischen Spuren. Alles trocken, alles gut. Erleichtert atmete er auf, schwang sich aus dem Bett. Ein Stich in seiner Hüfte. Er musste es vorsichtiger angehen lassen. Langsam erhob er sich in den Stand und stakste ins Bad. Es wurde Zeit, sich auf die erste Anwendung des Tages vorzubereiten. Frau Doktor Beuermann hatte nichts mit der russischen Ärztin gemein, die ihm im Traum erschienen war. Vermutlich hätte Behrends ihr mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede zu entwischen versucht, hätte er es sich nicht gerade mit seinem mager bestückten Frühstückstablett bequem gemacht. Nur Sekunden später trat sie an seinen Tisch und fragte, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Die Frau kam ihm vor wie ein Brett – ein verwittertes, knorriges Brett. Der offene Kittel hing auf ihren eckigen Schultern und schlackerte um ihren dürren Körper. Scharfe Falten durchzogen ihr fahles Gesicht wie Risse.
Ihre Haare waren grau und kringelten sich in kurzen, kleinen Löckchen über ihren Kopf. Eine Frisur sah anders aus. Dafür machten ihre graublauen Augen einiges wieder wett. Es waren strahlende, aufgeweckte Augen, die ihn neugierig musterten, als sie Platz genommen hatte. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und beugte sich ein wenig über den Tisch zu ihm hin. »Doktor Beuermann, Linda Beuermann. Sie müssen Hauptkommissar Behrends sein.« Er wunderte sich nicht, dass sie wusste, wer er war. Vermutlich hatte Katrin ihr eine detaillierte Beschreibung von ihm geliefert. Und nach dieser Begrüßung war ihm auch klar, warum seine Frau nicht die geringste Befürchtung hatte, diese Ärztin könne ihm gefährlich werden. Sie war einfach nicht sein Typ, und das lag nicht nur an ihrem knochigen Äußeren. Er mochte keine Frauen mit tiefen Kratzstimmen. Und schon gar nicht mochte er es, wenn diese Frauen mit jedem Wort unappetitliche Schwaden ausatmeten, die von übertriebenem Nikotingenuss herrührten. Aber Behrends war tapfer. Er erwiderte die Begrüßung, bestätigte ihre Vermutung und wich auch nicht zurück, als sie gleich darauf noch ein Stück näher an ihn heranrückte und von ihrer Begegnung mit Katrin erzählte. Natürlich ließ sie nicht unerwähnt, dass sie ihr den Vorschlag gemacht hatte, ein wenig auf Behrends aufzupassen. »Aber keine Bange, da habe ich natürlich nur Spaß gemacht«, stellte Frau Doktor Beuermann
augenzwinkernd klar. Es folgte ein asthmatisches Lachen, das Behrends ein kleines Stück zurückweichen ließ. »Sie werden ja wohl Ihre Behandlung ernst nehmen und nicht über die Stränge schlagen. Schließlich wollen Sie schnell gesund werden, nicht wahr?« Behrends war erleichtert, als er sich nach einer Viertelstunde dem Dunstkreis der Frau entziehen konnte: »Ich habe gleich autogenes Training«, sagte er wahrheitsgemäß und pflichtbewusst. Es war das erste Mal, seit er sich in der Klinik aufhielt, dass er einer anstehenden Behandlung mit Freuden entgegensah. Gegen Mittag hatte er endlich wieder ein wenig Zeit für sich. Nach einigen erfolgreichen Ausweichmanövern – Frau Doktor Beuermann schien allgegenwärtig zu sein – war es ihm gelungen, sich auf seinem Zimmer zu verkriechen, um ungestört zu telefonieren. Mit Maike. Grischkes Geschichte hatte ihn nach dem Frühstück wieder eingeholt. Er hoffte, seine Kollegin würde ihm helfen, das Gestrüpp aus Wahrheit und Lüge, das diese mysteriöse Matrjoschka umgab, ein wenig auszudünnen. Maike musste für ihn recherchieren, ob es vor fünfundzwanzig Jahren einen Mordfall gegeben hatte, der sich mit Grischkes Informationen in Einklang bringen ließ. Wenn tatsächlich jemand ermordet worden war, der im Turm auf dem Stöberhai seinen Dienst verrichtet hatte, dann gab es darüber einen Vorgang. Hundertprozentig!
»Hallo Maike, warum drückst du mich denn auf deinem Handy weg?«, rief er ungeduldig in den Hörer, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie auf dem Mobiltelefon zu erreichen. Danach hatte er die Festnetznummer ihres Büroapparates gewählt. »Ich ... äh, es passt gerade nicht so gut, Ingo. Wir ...« Er ließ sie nicht ausreden: »Nur ganz kurz, Maike, bitte!« Er hörte ein verräterisches Knacken, reagierte aber nicht sofort. »Du musst etwas für mich recherchieren.« »Was, bitte schön, muss Frau de Baer denn für Sie recherchieren?«, schlug ihm eine bissige, leicht hallende Stimme entgegen. Die Azzouzi! Verdammt! Vermutlich hatte die das Telefon auf laut geschaltet. Maike ließ sie sicher nicht freiwillig mithören. »Hallo! Guten Tag, Frau Azzouzi«, sagte Behrends gespielt heiter. »Na, kommen Sie gut voran mit Ihrem Mordfall?« »Selbstverständlich, Herr Behrends! Schön, dass Sie fragen. Aber nur, um sich danach zu erkundigen, rufen Sie ja wohl kaum an. Also, was haben Sie auf dem Herzen?« Die Ironie in ihrer Stimme war unüberhörbar. Die Frau machte sich erst gar nicht die Mühe, seine Sympathie zu gewinnen. Es hatte keinen Zweck, sie in eine unverbindliche Plauderei verwickeln zu wollen. »Na schön«, seufzte er, »vielleicht ist es ja für Sie und Ihre Ermittlungen von Nutzen.«
»Und was, bitte? Worum geht es, Herr Behrends? Lassen Sie mich nicht raten!« »Ich möchte wissen, ob in unseren Archiven ein Mordfall abgelegt ist. Vier Männer. Zwei Russen, zwei Deutsche. Vor etwa sechsundzwanzig Jahren. Auf dem Gebiet der DDR, die es ja damals noch ein paar Monate gab. Einer der Männer hat auf dem NATOHorchposten gearbeitet, der während des Kalten Krieges auf dem Stöberhai stand. Das ist ein Berg bei Wieda, diesem kleinen Südharz-Dorf. Sie wissen, wovon ich rede?« »Das weiß ich durchaus, Herr Behrends«, entgegnete sie kühl, »ich habe Geschichtsunterricht genossen. Sogar die deutsche Geschichte des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Und ein bisschen Allgemeinbildung besitze ich auch. Aber warum interessiert es Sie, ob es solch einen Fall gibt?« »Weil unter Umständen eine Verbindung zu Ihrem aktuellen Mord besteht.« »Adam?« »Genau.« »Was veranlasst Sie denn zu der Annahme, Herr Behrends? Wie kommen Sie überhaupt auf so was? Ich denke, Sie machen gerade eine Reha. Gehören Krimi-Rätsel etwa zu Ihrer Therapie?« Sie sagte das völlig nüchtern, ohne jede emotionale Regung in ihrer Stimme. Dennoch spürte Behrends wieder die Überheblichkeit und die Abneigung, die sie
ihm entgegenbrachte. »Hören Sie, Frau Azzouzi, es gibt keinen Grund, sich über mich lustig zu machen.« Er musste sich zusammenreißen, um höflich zu bleiben. »Ich wollte nur zur Klärung eines Mordes beitragen, wie es meine Bürgerpflicht ist.« »Entschuldigung, Herr Behrends, es war nicht meine Absicht, mich über Sie lustig zu machen«, schlug sie einen etwas versöhnlicheren Ton an. »Also bitte, was wissen Sie?« Schau einer an, sie rudert zurück, stellte Behrends zufrieden fest. Gleichzeitig überlegte er, wie er der Frau die Zusammenhänge plausibel machen konnte. Was er hatte, war nichts weiter, als den nebulösen Bericht eines inzwischen toten Mannes und das Auftauchen einer jungen Russin, die den Mörder ihres Vaters suchte. »Also, Herrn Grischke ... Sie wissen schon, der alte Gärtner«, begann er zögernd, »dem hat Adam vor längerer Zeit von dieser Sache erzählt. Er sei dabei gewesen, als die Morde passiert sind und als Einziger entkommen. Er wisse, wer die Mörder sind, und habe sogar Beweise dafür.« »Das hat er ihm erzählt? Um was genau ist es dabei denn gegangen? Keiner wird einfach so ermordet. Sie haben doch sicher was Konkretes. Motiv, Datum, exakte Ortsangabe ... Auf dem Gebiet der DDR? Ich bitte Sie! Was
sollen wir denn damit anfangen?« Behrends schnaubte. »Nein, tut mir leid. Konkreter geht es nicht. Ich weiß nur, dass ein sowjetischer Offizier dabei gewesen sein soll, dann Adam und der Mann vom Stöberhai. Keine Ahnung, wer die anderen waren. Aber Menschen können doch nicht einfach so aus dem Verkehr gezogen worden sein. Bestimmt hat man eine Akte angelegt, und die muss noch existieren. Auch auf DDR-Seite, und ganz sicher bei uns. Zumindest zu dem Mann, der auf dem Aufklärungsturm gearbeitet hat und auf einmal verschwunden ist.« »Und was ist mit den Beweisen für die Morde?« Behrends hörte an ihrer Stimme, dass sie ungeduldig wurde. »Die scheinen im Moment nicht auffindbar«, gab Behrends zerknirscht zu. »Vielleicht schauen Sie trotzdem einfach mal in den Polizeiakten nach, ob über die Tat etwas vermerkt ist. Wenn es da irgendeine unaufgeklärte Geschichte geben sollte, kann es doch durchaus sein, dass der Mord an Adam damit zu tun hat.« Einen Moment blieb es am anderen Ende still. Nur ein paar leise Geräusche waren zu hören, Rascheln von Papier, ein schwaches Schaben und Kratzen. Dann: »Ich fasse mal kurz zusammen, Herr Behrends: Sie haben weder den Beweis für diese Morde in der Hand, noch wissen Sie, ob überhaupt etwas dran ist an der Geschichte, die Ihnen Herr
Grischke da aufgetischt hat. Wissen Sie, was ich glaube? Sie verkraften es nicht, dass Sie in der Klinik sitzen müssen, während wir hier unsere Arbeit machen. Und deshalb versuchen Sie permanent, sich einzumischen und Ihre alten Gefolgsleute für Ihre Fantasien einzuspannen.« »Fantasien? Ich?«, polterte Behrends los. Es reichte! Das musste er sich nicht von diesem aufgeblasenen Karriereweib gefallen lassen. Migrationshintergrund und einflussreiche Eltern hin oder her! »Jetzt passen Sie mal auf, Frau Azzouzi ...« »Nein, Sie passen jetzt auf, Herr Behrends«, fuhr sie ihm in die Parade, »halten Sie sich bitte ab sofort aus unseren Ermittlungen heraus. Wenn Sie uns tatsächlich helfen wollen, dann bringen Sie sachdienlichere Hinweise, zum Beispiel zu einem Motorradhelm mit auffälligem Flammendesign. Ein Phantombild von dem Helm ist heute in allen Zeitungen zu finden. Sollten Sie einen Motorradfahrer mit entsprechendem Helm sehen, dürfen Sie sich gerne wieder bei uns melden. So, und jetzt auf Wiederhören! Und erholen Sie sich gut.« »Äh, Frau ...« Weiter kam er nicht. Sie hatte aufgelegt. Wütend feuerte Behrends sein Smartphone aufs Bett. Wann hatte er sich jemals so abkanzeln lassen müssen? Als Behrends zehn Minuten später immer noch seine Wunden leckte, meldete sein Smartphone den Eingang einer SMS. Maike
hatte ihm getextet: »Nimm es ihr nicht übel«, schrieb sie. »Sie steht unter Druck, muss sich bewähren, will Ergebnisse vorweisen, aber wir kommen nicht richtig voran.« Dann eine zweite Nachricht: »Um deine Sache kümmern wir uns. Sie wird nichts erfahren. Melde mich, sobald wir was finden.« Behrends blickte vom Display auf und grinste zufrieden. Auf Maike und die anderen konnte er sich verlassen. Seine Leute ließen ihn eben nicht hängen! Und plötzlich war auch sein Groll gegen die Azzouzi verschwunden. Ein bisschen konnte er ihr abweisendes Verhalten und ihre überschießende Reaktion sogar verstehen. Nicht jeder kam mit dem Druck klar, den die Leitung einer Mordkommission mit sich brachte.
13. Behrends brauchte nur eine knappe halbe Stunde zu warten, bis sich Maike wieder bei ihm meldete. Im ersten Moment war er enttäuscht, als sie ihm mitteilte, dass in den Archiven nichts über einen Mord zu finden war, der in den genannten Zeitraum fiel und zu seinen Angaben passte. Gleich darauf aber überraschte sie ihn mit einer Vermisstenanzeige. Ein Mann namens Bernd Achilles war laut einer Anzeige aus der zweiten Augusthälfte des Jahres 1990 verschwunden. Die wochenlange Suche nach dem Vermissten war ergebnislos verlaufen, er war bis heute nicht wieder aufgetaucht. Niemand wusste, ob er tot war oder noch lebte, vielleicht irgendwo im Ausland, unter falschem Namen. »Bernd Achilles hat in Herzberg gewohnt, ist oder war verheiratet und Vater einer Tochter«, hatte Maike ergänzt. »Besonders interessieren dürfte dich aber, dass er bis zu seinem Verschwinden auf diesem Horchposten auf dem Stöberhai gearbeitet hat.« Das passte zu Adams Geschichte! Es war zwar nur ein Puzzleteil, und Behrends wusste nicht, an welcher Stelle es ins Bild gehörte. Aber sein Jagdinstinkt war jetzt vollends geweckt. Maike gab ihm noch die letzte Adresse des Vermissten durch und den Namen
der Ehefrau sowie den zweier Kollegen, die am Tag seines Verschwindens mit dem Vermissten auf dem Turm Dienst geschoben hatten und später von der Polizei befragt worden waren. Es juckte ihn in den Fingern. Er konnte der Verlockung, das Rätsel zu lösen und damit dieser Naima Azzouzi ein wenig die Flügel zu stutzen, nicht widerstehen. Vielleicht musste er, um auf weitere Einzelheiten zu stoßen, nur ein wenig tiefer graben. Sollte die Azzouzi im Drogenmilieu herumstochern. Er hatte andere Pläne. Was es mit diesem vermissten Bernd Achilles auf sich hatte, das wollte er herausfinden. Wenn er dafür die ein oder andere Anwendung verschieben musste, um die Klinik verlassen zu können, na und? Ihm würde schon eine Entschuldigung für sein Fehlen einfallen. Ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken, und er rieb sich die Hände. Endlich hatte er wieder eine Aufgabe! Allerdings durfte er nicht übertreiben. Vieles musste er aus der Klinik heraus steuern. Den ganzen Tag über durch Abwesenheit glänzen, das ging nicht. Außerdem hatte er kein Auto zur Verfügung. Also brauchte er bei seinen Recherchen Hilfe. Da Maike und der Rest seines Teams ausfielen, blieb eigentlich nur eine Person, der er vertraute und an die er sich, wenn auch widerwillig, wenden konnte: sein Kumpel Holger Diekmann. Es war nicht schwer gewesen, Holger in Marsch
zu setzen. Wie jeder gute Journalist zeichnete sich auch der Betreiber des Online-Magazins Burgblick durch eine große Neugier aus. Nur einen kleinen Happen hatte er ihm hinwerfen müssen. Sofort hatte Holger angebissen. Als Behrends wenig später die Klinik verließ, wäre er fast mit Doktor Beuermann zusammengestoßen. Schon wieder diese Frau! Vermutlich nahm sie ihre selbstgewählte Aufgabe doch ernster, als ihm lieb war, und verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Er wolle sich ein wenig die Beine vertreten, antwortete er kurz angebunden auf ihre Frage, wohin er denn unterwegs sei. Dann verdrückte er sich hastig, bevor sie anfing, nachzuhaken. Holger hatte sich mit ihm auf dem Bad Lauterberger Hausberg zum Kaffee verabredet. Wollte er nicht zu Fuß hinaufgehen, würde er den Sessellift nehmen müssen, was ihm gar nicht behagte. Über dem Abgrund zu schweben, war für ihn zwar nicht ganz so angsteinflößend, wie in engen, dunklen Räumen, Schächten oder Stollen eingesperrt zu sein, aber immer noch schlimm genug. Dass er sich schließlich für eine dieser schwankenden Gondeln entschied, lag an der wenig verlockenden Alternative: Besser, ein paar Minuten Angst auszuhalten, als den Berg hinaufzukraxeln und Holger verschwitzt und atemlos unter die Augen zu treten. »Musstest du mich unbedingt hier rauflocken?«, rief Behrends, als er sich dem Tisch auf der
Sonnenterrasse des Restaurants näherte, an dem Diekmann mit einem gewaltigen Stück Torte beschäftigt war. »Hey, Mann, wenn ich schon für dich meine Arbeit unterbreche, dann muss es sich wenigstens lohnen. Und da der Kuchen hier oben wirklich erste Sahne ist und du ja sicher meine Auslagen übernimmst, tja, da dachte ich mir: Holger, lass es dir mal richtig gut gehen.« »Dachtest du«, knurrte Behrends. »Das hättest du unten im Tal auch haben können, dann wäre ich wenigstens um den Sessellift herumgekommen.« Diekmann schüttelte verständnislos den Kopf und drehte sich zur Terrassenbrüstung hin. »Aber diesen herrlichen Ausblick, mein Lieber, den hast du da unten nicht.« Er ließ seinen Arm über die Stadt schweifen, die sich im Sonnenglanz durch das Tal zog, bis sie am Horizont zwischen den bewaldeten Berghängen verschwand. »Dafür lohnt so ein bisschen Stress schon, was meinst du?« »Ja ja, okay.« Behrends winkte grinsend ab. »Ist doch jetzt egal. Ich bin da.« Die Bedienung kam, und er bestellte eine Tasse Kaffee. Beim Kuchen zögerte er, ging in Gedanken eilig den Spielraum durch, den seine Kalorientabelle ihm ließ. Es gab keinen. Die Kellnerin tippte ungeduldig mit dem Stift auf den Notizblock. Er wurde schwach und bestellte eines dieser monströsen Tortenstücke – mit Joghurtcreme und Mandarinenspalten. So blieb ihm
wenigstens die Illusion, etwas nicht ganz und gar Ungesundes und Fettes in sich hineinzuschaufeln. Diekmann hatte Behrends’ inneren Kampf nicht bemerkt. »Dann schieß mal los«, forderte er ihn auf, kaum dass die Bedienung sich den Gästen zwei Tische weiter zugewandt hatte. »Was hast du so Spannendes, das du mir unbedingt mitteilen musst? Oder hältst du es schon jetzt nicht mehr in der Klinik aus und brauchst ausgerechnet meine Gesellschaft? Ist es so schlimm?« »Quatsch. Ich komme gut ohne dich zurecht. Aber ich muss ein paar Dinge klären. Und dafür brauche ich deine Hilfe.« »Du? Meine Hilfe? Das ist ja was ganz Neues! Jetzt bin ich aber echt gespannt.« Diekmann hatte die schöne Aussicht und seine Torte sofort vergessen und konzentrierte sich ganz auf sein Gegenüber. »Du hast vermutlich von dem Mord in Bad Sachsa gehört.« »Na klar«, Diekmann nickte, »ich habe heute das Bild von dem Motorradhelm des gesuchten Kradfahrers veröffentlicht. Die Sache soll mit der Drogenszene hier im Südharz zusammenhängen. Zumindest haben das deine Kollegen so auf der Pressekonferenz rausgegeben. Übrigens, sexy Weib, deine Vertretung. Nicht so ’n Bleichgesicht, wie die anderen. Wie heißt sie gleich noch?« »Azzouzi«, raunzte Behrends, »aber mit sexy
Aussehen allein kannst du keine Verbrechen aufklären. Mit ihrer Drogengeschichte liegt sie jedenfalls voll daneben.« »Ach?« Diekmann grinste unverschämt. »Und das hast du Superbulle natürlich ganz nebenbei in der Klinik zwischen Fangopackungen und Wassergymnastik recherchiert. Wie kommst du überhaupt darauf?« Er informierte Diekmann nur über das Nötigste, damit der im Bilde war. »Kannst du rauskriegen, wer dieser Wassermann ist oder war?«, fragte er dann. »Ist vermutlich ein Deckname gewesen. Und ich würde auch gern wissen, was es mit dem russischen Offizier auf sich hat. Ob er tatsächlich der Vater dieser Jana Schuchart ist und ob es zwischen ihm, Poljakow und dem verschwundenen Erfasser vom Stöberhai irgendeine Verbindung gab. So ungefähr Juli, August 1990.« »Das war kurz vor der Wiedervereinigung«, brummte Diekmann und spielte nachdenklich an seinem Ohrläppchen. »Genau. Meinst du ...« Die Kellnerin kam mit Kaffee und Kuchen und unterbrach für einen Moment ihre Unterhaltung. »Das hörte sich gerade so an, als wüsstest du was«, fuhr Behrends fort, als sie wieder gegangen war. »Das nicht. Aber sag mal, sehe ich das richtig? Waren die drei Typen alle auf irgendeine Weise in das militärische Geschehen hinter dem Eisernen Vorhang eingebunden? Der eine Offizier der Roten Armee in der
DDR. Dann dieser Achilles, der mit seinen Kollegen oben auf dem Stöberhai das Treiben der NVA-Genossen und ihrer russischen Waffenbrüder überwacht. Und Poljakow. Obwohl, als damaliger Botschaftsangehöriger in Bonn passt der nicht so ganz ins Bild.« Er hielt inne, etwas schien ihn zu irritieren. »Bei dem toten Russen aus Bad Sachsa handelt es sich definitiv um diesen Botschaftsangehörigen namens Poljakow? Das haben die auf der Pressekonferenz mit keinem Wort erwähnt. Da ging es immer nur um Leo Adam, Inhaber des Restaurants Gagarin.« »Richtig. Adam ist der Name seiner verstorbenen Frau. Den hat er bei der Heirat angenommen.« »Tatsächlich? Und woher weißt du das?« »Maike hat mir das anvertraut«, sagte Behrends. »Aber was genau wolltest du mir jetzt eigentlich sagen?«, drängte er. Diekmann verfolgte irgendeine Idee, vielleicht sogar eine erste Spur. Das sah er ihm an. »Vor einiger Zeit habe ich eine interessante Reportage gelesen. Es ging um den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR. In dem Artikel wurden unter anderem die riesigen Waffenarsenale der Russen thematisiert, die sie auch auf deutschem Boden angelegt hatten und über die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks keiner mehr so recht die Kontrolle hatte.« Diekmann musterte Behrends herausfordernd. »Na, was fällt dir dazu ein?«
»Die Russen haben die Waffen illegal verscherbelt?« »Na klar! Was sonst?« »Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, Poljakow und die vier Toten hätten dabei ihre Finger im Spiel gehabt.« »Wäre das so abwegig?«, fragte Diekmann. »Hm ...« Behrends rieb sich nachdenklich die Nase. »Bei ‘nem Sowjet-Offizier kann ich mir das gerade noch vorstellen. Vielleicht auch bei einem russischen Botschaftsangehörigen. Die hatten vermutlich entsprechende Kontakte und Verbindungen. Aber Achilles? Ein kleiner Erfasser vom NATO-Horchposten hängt in illegalen Waffendeals mit drin? Da ging es doch nicht darum, sich die ein oder andere Stange Zigaretten auf dem Schwarzmarkt zu organisieren! Hast du keine bessere Idee?« »Ja, habe ich«, sagte Diekmann zufrieden und zog kurz entschlossen sein Smartphone aus der Tasche. »Ich kenne jemanden, der mit dem Autor dieses Artikels befreundet ist, ein guter Kumpel und Kollege. Den werde ich jetzt anrufen. Vielleicht kann er mir sagen, ob sein Freund das Thema immer noch beackert.« Er wählte. Nur ein paar Sekunden musste er warten. »Hey, Thies, alter Gauner, wie geht’s? Lange nichts von dir gehört!«, rief er in den Apparat, erhob sich und ging in den hinteren Bereich der Terrasse, wo er abseits der besetzten Tische ungestört reden konnte. Behrends sah ihm einen Moment hinterher,
dann widmete er sich endlich seinem Stück Kuchen und dem Kaffee. Der drohte bereits kalt zu werden. Es dauerte sechs, sieben Minuten, dann kam Diekmann zurück. Sein Blick war ernst, die Stirn in grüblerische Falten gelegt. Er setzte sich und starrte wie weggetreten ins Leere. »He, hallo, Holger!«, rief Behrends und schnipste ihm mit den Fingern vor dem Gesicht herum. »Was ist los? Rede mit mir!« Diekmann schüttelte langsam den Kopf. »Ich fasse es nicht«, murmelte er. »Was denn?« »Ulrich Vetter liegt im Koma.« »Ulrich Vetter? Wer ist das?« »Der Freund von Thies. Der, von dessen Reportage ich dir eben erzählt habe.« Diekmann atmete tief ein, schüttelte seine Benommenheit ab und war dann wieder ganz bei der Sache. »Die haben den zu Brei geprügelt. Er liegt im Krankenhaus. Die Chancen, dass er überlebt, stehen schlecht. Es kam etwas darüber in den Nachrichten. Ich habe nur nicht gewusst, dass es dieser Vetter ist, der zusammengeschlagen worden ist.« »Was ist passiert?«, fragte Behrends. Auch er erinnerte sich an die Meldungen. Diekmann räusperte sich. »Man hat Vetter irgendwo auf freier Strecke im Straßengraben gefunden. Kurz bevor er über den Jordan gegangen ist. Reiner Zufall. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Thies sagt, dass Vetter
in seinem Haus zusammengeschlagen und danach draußen in der Pampa entsorgt worden ist. Stell dir das mal vor! Es waren wohl mehrere Typen, die auch seine Bude auf den Kopf gestellt haben.« »Und warum haben die das getan?« »Der Mann ist Journalist. Es kann nur mit seiner Arbeit zusammenhängen. Thies ist jedenfalls davon überzeugt. Eine Kontaktperson bei der Polizei hat ihm gesteckt, dass sie sein Büro besonders gründlich auseinandergenommen haben. Der Computer ist verschwunden und damit vermutlich auch alles, was er an Informationen gespeichert hat.« »Eine Kontaktperson bei der Polizei, soso.« Behrends machte ein etwas säuerliches Gesicht, kam aber schnell zur Sache zurück. »Weiß man schon, wer es war? Gibt es Spuren?« »Nein. Thies meint aber, da kämen so einige infrage. Vetter ist einer von den Typen, die bei ihren Recherchen mit Vorliebe in Wespennester stechen. Aktuell konzentriert man sich bei den Ermittlungen auf die rechtsextreme Szene.« »Und was unsere Sache betrifft? Was sagt er dazu?« Behrends sah den kleinen Hoffnungsfunken, über diesen Journalisten an Informationen zu gelangen, bereits verlöschen. »Thies hat ein paar Andeutungen gemacht«, sagte Diekmann. »Am Telefon wollte er aber nicht richtig damit rausrücken.« »Was glaubst du, könnte dieser Vetter auch
der Mann sein, mit dem Jana Schuchart Kontakt hatte?« Diekmann ging nicht auf die Frage ein. »Ich fahre zu Thies«, sagte er. »Wann?« »Jetzt. Ich mache mich gleich auf den Weg. Wir haben uns für heute Abend verabredet.« »Und wo? Da könnte ich doch mitkommen.« »Vergiss es. Ich fahre zu ihm nach Wismar. Vor morgen komme ich auf keinen Fall zurück. Du gehst brav in deine Klinik und wartest ab. Oder glaubst du, die sind damit einverstanden, wenn du deine Therapie unterbrichst? Womöglich noch eigenmächtig und ungefragt.« Behrends musste einsehen, dass Diekmann Recht hatte. »Okay, dann werde ich mal zahlen«, seufzte er enttäuscht und sah sich nach der Kellnerin um. »Weißt du, ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich das noch mal erleben werde«, sagte Diekmann, als sie sich vor der Klinik voneinander verabschiedeten. Er hatte sich erbarmt und seinen Freund zurückgefahren. »Was denn?«, fragte Behrends arglos. »Du bist tatsächlich gekommen und hast mich um Hilfe angebettelt, ist dir das eigentlich klar?« »Na, also angebettelt ja nicht gerade«, versuchte er einen Einwand.
Diekmann ließ sich nicht unterbrechen. »Ausgerechnet du, der sich zwar mein Freund nennt, aber bisher kaum eine Gelegenheit ausgelassen hat, mich auszubremsen, wenn ich beruflich mal was von ihm wollte – ein paar Informationen für mein Magazin, einen kleinen Vorsprung vor der Konkurrenz. Wende dich an die Pressestelle! Oder: Da darf ich nichts zu sagen. Und: Misch dich nicht in meine Arbeit. Dieses ganze Blabla. Und jetzt kommst du zu mir und willst, dass ich dir helfe.« Behrends grinste ihn vergnügt an. »Jetzt tu mal nicht so, als ob du dich überwinden musstest. Das ist doch ein gefundenes Fressen für dich.« »Na schön, Alter. Dann mach dich auf jeden Fall schon mal auf eine saftige Spesenabrechnung gefasst«, frohlockte Diekmann siegesgewiss. Behrends winkte ab. Wirklich ernst nahm er die Ankündigung nicht. »Schon gut. Hauptsache du hältst die Klappe und sagst nichts zu Katrin oder Maike oder sonst irgendwem.« »Oh, hat der so dienstbeflissene und korrekte Herr Hauptkommissar also Schiss, jemand könnte Wind davon bekommen, dass er an den Kollegen vorbei auf eigene Faust ermittelt?« Diekmann lachte schallend auf und schlug ihm herzhaft auf die Schulter. »Junge, so gefällst du mir! Vielleicht wird doch noch ’n richtig anständiger Kerl aus dir.«
»Jetzt hau endlich ab«, grunzte Behrends grinsend, »und bring mir ja Ergebnisse!« Damit drehte er sich um und stapfte auf den Klinikeingang zu. Vielleicht hatte Jana Schuchart ja doch die Wahrheit gesagt, dachte er. Vielleicht sucht sie tatsächlich den Mörder ihres Vaters, und Ulrich Vetter war der Journalist, der sie auf dessen Spur gebracht hat.
14. Behrends war gerade noch rechtzeitig zu seiner nächsten Behandlung in die Klinik zurückgekehrt. Fango-Massage stand auf dem Programm, eine der Anwendungen, die er trotz der mitunter recht derb zupackenden Hände der Masseurin als ausgesprochen angenehm empfand. Mehr noch, die Anwendung war äußerst entspannend. Jedenfalls forderte sie ihm weder Eigeninitiative noch besondere Aufmerksamkeit ab. Er konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen. Und die kannten in diesem Augenblick nur eine Richtung. Während sich kräftige Hände an seinem durch die Fangopackung entspannten, nackten Oberkörper zu schaffen machten, kreiste sein Denken zuerst um Diekmann. Er hoffte inständig, dass dessen Recherche die trübe Suppe aus Ahnungen und Vermutungen ein wenig aufhellen würde. Dann wandte er sich näher liegenden Fragen zu: Sollte er versuchen, mit der Frau des vermissten Erfassers Kontakt aufzunehmen? Oder besser erst mit den beiden Kollegen des Mannes? Ihre Namen kannte er ja, ebenso ihre damaligen Adressen. Aber würde er sie dort auch finden? Einer von ihnen hatte damals, wie Achilles, in Herzberg gewohnt. Vielleicht war das immer noch so. Er beschloss, den Mann anzurufen, sobald die
Masseurin sich an ihm abgearbeitet und ihn aus ihrer Folterkammer entlassen haben würde. Ein Heiko Drewes, so hatte Achilles’ Ex-Kollege geheißen, lebte tatsächlich noch in Herzberg, hatte jedoch die Adresse gewechselt. Da Behrends keine weitere Person gleichen Namens im Telefonbuch fand, war er überzeugt, dass es sich um den gesuchten Mann handelte. Er notierte sich die Nummer, zögerte aber, sie zu wählen. Dieser Drewes würde kaum nach Bad Lauterberg kommen wollen. Wenn überhaupt, würde ihn der Mann zu Hause empfangen. Also brauchte er einen Fahrer. Edgar Grischke. Jemand anderes fiel ihm nicht ein, ganz abgesehen davon, dass Grischke sicher auch ein gewisses Interesse daran hatte, Adams Geheimnisse zu lüften. Das Grundstück in der Amtmann-Lüder-Straße hatte einen Garten, der sich hinter dem Einfamilienhaus bis zum Juessee hinstreckte. Drewes’ Frau, die ihnen auf ihr Läuten hin geöffnet hatte, führte sie durch das Haus zur Terrasse, die an der Rückfront des Hauses im Schatten lag. Links und rechts war sie eingerahmt von hölzernen Sichtschutzelementen, die Überdachung war von Weinlaub fast vollständig zugewuchert. An der Terrassentür erwartete sie Drewes, blickte ihnen gespannt entgegen. Die Eheleute konnten ihre Neugier kaum verbergen. Sie hatten seit Behrends’ überraschendem Anruf Zeit genug
gehabt, über den Anlass seines Besuches zu spekulieren. Er hatte Drewes am Telefon nur gesagt, dass er mit ihm über Bernd Achilles sprechen müsse. »Schön haben Sie es hier. Wunderschöner Garten«, stellte Grischke, der Fachmann, anerkennend fest, als sie auf die RattanSitzgruppe zutraten. Durch die Sträucher am Ende des Grundstücks glitzerte das Wasser des Juessees in der tief stehenden Sonne. »Ja, das stimmt«, bestätigte Frau Drewes, und ein stolzes Lächeln verscheuchte für einen flüchtigen Moment die nervöse Anspannung aus ihren Augen. Ihr Mann machte eine einladende Geste zu den Rattansesseln hin: »Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte er knapp. Dann konnte er die Frage nicht mehr zurückhalten, die ihn und seine Frau vermutlich die ganze Zeit über beschäftigt und die sie mit höflichen Begrüßungsfloskeln verdrängt hatten: »Was ist mit Bernd? Ist er wieder aufgetaucht?«, platzte es aus ihm heraus. »Lebt er noch? Oder ...?« Er ließ seine Befürchtung unausgesprochen. Behrends zog einen der Sessel etwas von dem niedrigen Tisch ab. »Nein, er ist leider nicht aufgetaucht«, erwiderte er, während er sich setzte, »zumindest weiß ich nichts davon.« »Aber was ist dann passiert?« Drewes hatte eine andere Antwort erwartet, wirkte irritiert. »Wieso interessiert sich die Polizei plötzlich wieder für ihn? Nach über fünfundzwanzig
Jahren. Sie sind doch Kriminalkommissar, oder habe ich das am Telefon falsch verstanden?« »Das haben Sie nicht. Im Moment bin ich aber außer Dienst. Ich mache eine Reha in Bad Lauterberg. Da habe ich auch Herrn Grischke kennengelernt.« Er bedachte seinen Begleiter mit einem kurzen Blick. »Auf jeden Fall ist unser Besuch rein privat.« Behrends zögerte eine Sekunde und fragte dann: »Lassen Sie es mich Ihnen erklären. Sie haben von dem Mord gehört, der in Bad Sachsa passiert ist?« Drewes und seine Frau nickten gleichzeitig. Doch immer noch verständnislos. »Ja, also«, sagte Behrends gedehnt, »Herr Grischke war mit dem Mordopfer befreundet. Als er mir ein bisschen von ihm erzählt hat, fiel ihm eine merkwürdige Geschichte aus der Zeit wieder ein, in der auch Herr Achilles verschwunden ist.« »Was denn für eine Geschichte?«, fragte Drewes lauernd. Behrends überlegte, wie weit er den Mann einweihen konnte, und sagte schließlich: »Angeblich hatte Herr Adam etwas von einem Vorfall erfahren, bei dem vier Männer getötet worden waren. Zwei Russen und zwei Deutsche. Damals, kurz vor der Wiedervereinigung. Einer der beiden Deutschen soll auf dem Stöberhai-Horchposten gearbeitet haben.« Drewes rutschte aufgeregt in seinem Sessel herum. »Getötet? Warum das denn?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Behrends. »Und wann? Wann genau soll das gewesen sein und wo?« »Das weiß ich ebenso wenig. Es ist auch gar kein entsprechender Fall bekannt. Ich habe das überprüfen lassen. Bei meiner Recherche ist mir dann aber die Vermisstenanzeige von Herrn Achilles in die Hände gefallen. Ob sein Verschwinden allerdings mit besagter Sache zu tun hat? Ich kann es nicht beurteilen.« »Das nehme ich Ihnen nicht ab, Herr Behrends. Sie glauben, dass an der Geschichte was dran sein könnte und dass es einen Zusammenhang gibt.« Drewes fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Sonst wären Sie wohl kaum hier. Warum kümmert sich denn die Polizei nicht darum? Ganz offiziell, meine ich. Die bearbeitet doch den Mord in Bad Sachsa, oder?« »Schon. Aber die Polizei beschäftigt sich nun mal nicht gern mit irgendwelchen vagen Theorien, wenn es andere, konkretere Spuren gibt.« »Im Gegensatz zu Ihnen?« Behrends schmunzelte. »Ich kann es mir erlauben. Ich bin, wie ich schon sagte, in privater Mission unterwegs. Zusammen mit Herrn Grischke. Und jetzt hoffen wir, von Ihnen etwas mehr über Herrn Achilles zu erfahren. Etwas, was uns vielleicht weiterbringt.« »Also schön«, sagte Drewes, »was wollen Sie
wissen?« »Wir haben Ihnen ja noch gar nichts angeboten«, meldete sich Drewes’ Frau plötzlich mit erstickter Stimme zu Wort. »Möchten Sie ein Bier? Ich kann Ihnen auch ein paar Schnittchen machen. Sie haben bestimmt Hunger.« »Mach nur, Liebes«, forderte Drewes sie auf, ehe Behrends aus Respekt vor seinem Kalorienplan ablehnen konnte. Sie erhob sich eilig und verschwand leise schluchzend im Haus. »Die Erinnerungen«, erklärte Drewes auf die fragenden Blicke seiner Gäste hin. »Bernds Frau hat damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, was mit ihrem Mann geschehen ist. Ohne Erfolg. Nichts. Niemand konnte oder wollte ihr helfen. Weder die Polizei, die die Suche nach ihm irgendwann eingestellt hat, noch die Vorgesetzten in unserer Dienststelle oder sonst wer. Er habe sich vermutlich aus dem Staub gemacht, sie verlassen, hieß es zum Schluss. Das war für Angelika, also Bernds Frau, und seine Tochter ein Schock. Sie durchlebten eine verdammt schwere Zeit. Meine Frau hat das aus nächster Nähe mitbekommen, sie hat sich sehr um Angelika gekümmert. War fast jeden Tag bei ihr. Es hat sie total mitgenommen, zu sehen, wie ihre beste Freundin leidet.« »Das heißt, Sie waren gut mit der Familie befreundet?«
Drewes blickte sich zur Terrassentür um, als müsse er sich vergewissern, dass niemand lausche. Dann wandte er sich wieder seinen Gästen zu und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wirklich befreundet waren wir nicht, also der Bernd und ich. Gut, wir kamen miteinander aus, als Arbeitskollegen, aber sonst hatten wir nicht viele Gemeinsamkeiten. Sehr zum Leidwesen von Angelika und meiner Marion. Die beiden hätten es schon gern gesehen, wenn wir auch als Ehepaare enger zusammen gewesen wären. Na ja ...« Er hob entschuldigend die Hände. »Ich war natürlich trotzdem erschüttert über Bernds Verschwinden, das müssen Sie mir glauben. Das hat mich nicht kalt gelassen. Wir sind sogar alle los und haben nach ihm gesucht, die Kameraden und ich. An drei Tagen hintereinander sind wir durch die Wälder gezogen, hier um Herzberg herum, um Lonau und Sieber, dann auch am Stöberhai. Wir dachten, dass er sich vielleicht das Leben genommen hat und wir ihn irgendwo finden, in einer Schlucht, im Unterholz, in einem Bach, was weiß ich.« »Gab es denn einen Grund für die Annahme? Hatte er Probleme? War er krank?« »Hm«, Drewes rieb sich nachdenklich den Nacken, »schwer zu sagen. Krank war er nicht, soweit ich weiß. Aber finanziell sah es bei ihm alles andere als rosig aus. Das hat Angelika mal meiner Marion gegenüber durchblicken lassen. Ich will jetzt nichts behaupten, was ich
nicht beweisen kann, aber ich glaube, Bernd hat ab und zu mal gezockt. Auf der Rennbahn in Bad Harzburg. Aber, wie gesagt ... da muss nichts dran gewesen sein. Ist nur eine Vermutung. Na ja, dann kam die drohende Schließung des Horchpostens dazu, der Verlust des Arbeitsplatzes. Er hatte Existenzangst, denke ich. Wir hatten alle Angst! Der eine halt mehr, der andere weniger.« »Was ist denn aus Frau Achilles geworden?«, fragte Grischke plötzlich. »Lebt sie noch in Herzberg?« Drewes schien einen Moment überrascht, dass nicht nur Behrends, sondern auch sein zweiter Gast eine Stimme besaß. »Nein«, sagte er zu Grischke, »Bernds Frau ist schon vor etlichen Jahren zurück in ihren Geburtsort gezogen. Ein kleines Dorf in der Eifel. Ihre Tochter war da bereits aus dem Haus. Ja, was soll ich sagen? Das Leben musste weitergehen, und wir haben uns irgendwann nicht mehr jeden Tag mit Bernds Verschwinden beschäftigt. Aber jetzt sind Sie hier aufgetaucht.« Abermals wandte er sich mit besorgtem Blick der Terrassentür zu. »Da ist bei meiner Frau vermutlich wieder alles hochgekommen.« Behrends nickte verstehend. »Und Sie?«, fragte er. »Wie haben Sie die Schließung des Turms verkraftet? Waren Sie arbeitslos?« »Nein, gar nicht«, entgegnete Drewes, »ich bin sofort wieder untergekommen. Ich habe
mich als Techniker für Kalibrierungen von Mess-, Analyse- und Empfangsgeräten bei einer Werkstatt des ehemaligen Bundesamtes für Post und Telekommunikation beworben. Das ist die heutige Bundesnetzagentur. Da habe ich bis vor zwei Jahren gearbeitet. In Göttingen. Seit Juni 2014 bin ich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit.« »Hätte Bernd Achilles die Möglichkeit nicht auch offen gestanden?« »Ganz bestimmt. Aber hundertprozentig wissen konnte man das vorher natürlich nicht.« »Kein Wunder, dass es ihm mit so einer Situation nicht gut gegangen ist«, stellte Behrends nachdenklich fest und fragte nach kurzem Zögern: »Könnte das Verschwinden von Bernd Achilles denn auch etwas mit seiner Arbeit auf dem Turm zu tun gehabt haben?« Drewes wand sich in seinem Sessel. Die Frage war ihm sichtlich unangenehm. »Na ja, wissen Sie ...«, druckste er. »Nun sag dem Herrn Kommissar endlich, dass du dir darüber auch schon so deine Gedanken gemacht hast.« Marion Drewes war mit einem Tablett auf der Terrasse aufgetaucht. Ihrer Stimme nach zu urteilen, hatte sie sich wieder gefangen. Das Schnittchenschmieren hatte vielleicht wie Therapie gewirkt. Allerdings eine, die sie sehr intensiv wahrgenommen hatte, so hoch, wie sich die geviertelten und reich belegten Brotscheiben auf dem Teller stapelten.
Behrends wurde unbehaglich zumute. Aber es blieb ihm wenig Zeit, an seinen Kalorienplan zu denken. »Sprich deine Vermutungen doch aus«, drängte sie und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. »Geheimnisverrat wird dir wohl keiner mehr anhängen.« »Also, ich fand Bernds Verhalten an dem Tag vor seinem Verschwinden schon etwas merkwürdig«, setzte Drewes an, als ihn zwei Augenpaare erwartungsvoll anstarrten, während seine Frau Bier in die Gläser goss. »Eigentlich war alles wie immer oben auf dem Turm, mal abgesehen davon, dass sich die Aufklärungsarbeit damals in der Wendezeit sehr in Grenzen hielt. Besonders nachdem bekannt war, dass die sowjetischen Streitkräfte die DDR in Kürze verlassen würden. Das wurde nur gelegentlich mal durch Funksprüche aufgelockert, in denen die NVA-Soldaten drüben zum Beispiel über die Kapriolen ihrer Kameraden gesprochen haben. Konnten wir tatsächlich alles mithören. Es gab da welche, die sind einfach ohne Erlaubnis aus der Kaserne abgehauen und haben die Nacht bei Mutti verbracht oder bei wem auch immer. Es ging damals eben alles drunter und drüber. Drakonische Strafen schienen die Soldaten nicht mehr zu befürchten, wenn sie es wagten, ihre Erlebnisse über den Äther auszutauschen oder sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen. Die Russen haben das übrigens auch gemacht. Also, sich bedenkenlos Privatkram per Funk erzählt.«
»Was gehörte denn zu Ihrer Aufklärungsarbeit?«, wollte Behrends wissen. »Ich kann mir nichts darunter vorstellen.« »Na ja, es ging immer darum, rechtzeitig zu wissen, was der militärische Gegner treibt oder plant. Wir wollten etwas über Waffensysteme und deren Stationierung oder Verlegung, über Truppenbewegungen und andere militärisch wichtige Vorkommnisse erfahren«, erklärte Drewes. »In der achten Etage, wo mein Arbeitsplatz war, haben wir Funksprüche von militärischen Einrichtungen abgehört. Und wir haben Informationen, die von rechnergestützten Waffensystemen ausgingen, festgehalten und untersucht. Ende der achtziger Jahre sind die ja immer mehr zum Einsatz gekommen. Insgesamt war unsere Arbeit eine wichtige Ergänzung zu dem, was die Kameraden der Flugfunkerfassung und Radaraufklärung im zehnten und elften Obergeschoss im Turm aufgefangen haben.« Behrends genügte dieser kurze Ausflug in die technischen Untiefen militärischer Aufklärungsarbeit. »Und inwiefern war jetzt das Verhalten von Bernd Achilles merkwürdig?«, unterbrach er Drewes und nahm, ohne nachzudenken, ein Schnittchen vom Teller. »Dazu muss ich Ihnen erst noch was erklären: Wenn das Richtfunkgerät eines Erfassers ein Gespräch geortet hatte und er der Meinung war, das verspreche interessante Inhalte,
zeichnete er es auf. Jeder von uns saß mit Kopfhörer an seinem Platz und hörte zu, ohne dass die Kollegen etwas vom Inhalt der Aufzeichnung mitbekamen. Es sei denn, man wollte, dass sie mithören. Dann konnte man die Lautstärke entsprechend regeln. Lediglich ein Flackern der Frequenzanzeige auf dem Display der Empfangsgeräte und das scharfe Klicken, wenn der Rekorder startete, signalisierten den Kollegen, dass ein Kamerad Sprache empfing und aufzeichnete. Aber eigentlich hat nie jemand darauf reagiert. Es war ja jeder mit seinem eigenen Kram beschäftigt.« »Soweit verstehe ich das«, sagte Behrends nickend. »Ich nehme an, das war auch die Situation an jenem Tag.« »Richtig«, bestätigte Drewes. »Gegen Mittag oder so hat mich Bernd gefragt, ob ich mal einen Blick über die Schulter auf seinen Platz werfen könne. Ich habe hier so ’nen schrägen Ivan dran, hat er gesagt, der labert, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Irgendwas von seinem Dorf und dass er gerne mal wieder Stare vom Baum schießen würde. Im Moment sei allerdings Sendepause. Bernd bat mich, darauf zu achten, ob die Aufzeichnung wieder anspringt. Er wollte telefonieren gehen und später das Band noch mal abhören.« »Achilles hat verstanden, was da gesprochen wurde? Konnte er Russisch?« Drewes warf Behrends einen abschätzigen
Blick zu. »Natürlich konnten wir Russisch! Jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Wir hatten es schließlich auch mit Russen zu tun. Das war ja der Grund, den mir Bernd genannt hat, warum er seinen Platz verlassen hat.« »Welchen Grund?« »Seine Russisch-Leistungsstufe. Die war wohl bald abgelaufen, und er wollte sich nach einer Wiederholungsprüfung erkundigen. Das war damals so, dass man für drei Jahre Sprachenzulage bekam und sich dann erneut prüfen lassen musste, um die Zulage zu behalten. Na ja, ich habe nichts weiter dazu gesagt und mir gedacht, dass das Blödsinn ist, weil die Russen sowieso bald abhauen und wir dann dicht machen.« »Das hört sich für mich aber alles recht unspektakulär an«, warf Behrends ein. »Was genau hat Sie denn daran gestört?« »An dem Tag gar nichts. Ich war viel zu sehr mit mir und meiner Arbeit beschäftigt, um darüber nachzudenken. Erst später, als Bernd verschwunden war und ich mir Gedanken darüber gemacht habe, was mit ihm passiert sein könnte. Da ist mir bewusst geworden, dass er irgendwie aufgeregt gewirkt hat, als er telefonieren gegangen ist. Aber wieso, habe ich mich gefragt. Etwa wegen einer albernen Prüfung, die ihm eigentlich gar nichts mehr nützt? Und warum hat er das dumme Geschwätz eines Russen unbedingt aufzeichnen wollen? Ein Russe, der in seinem Heimatdorf
Stare schießen will! So einen Blödsinn hört man sich vielleicht an und vergisst ihn dann wieder. Aber das nimmt man doch nicht auf. Ich habe einfach nicht verstanden, was ihm so wichtig daran war. Und dann habe ich überlegt, ob das vielleicht ganz andere Informationen waren, die er über diese Frequenz empfangen hat.« »Sie hätten sich doch im Nachhinein seine Aufzeichnungen anhören können. Sind Sie denn gar nicht auf die Idee gekommen?« »Doch, natürlich«, entgegnete Drewes und nickte heftig. »Ich habe nach der Kassette gesucht. Zuerst habe ich in der Auswertung nachgefragt, aber die hatten nichts von Bernd bekommen. Dann habe ich mir den Schrank vorgenommen, in dem ein ganzer Sack voller Kassetten, bespielter wie unbespielter, lagerte. Letztere kamen gelöscht von der Auswertung zurück, und jeder Erfasser, der eine Kassette brauchte, bediente sich an dem Schrank. Kassetten, die gar nicht erst an die Auswertung geschickt worden waren, haben die Kollegen auch wieder in diesen Schrank zurückgetan. Eine nach der anderen habe ich mir vorgenommen. Vergebens. Irgendwann habe ich jedenfalls aufgegeben. War ein bisschen, wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.« Behrends runzelte nachdenklich die Stirn. »Und was, wenn Achilles die Kassette mit nach draußen genommen hätte? Ohne dass jemand etwas davon mitbekommen hätte? Wäre das
möglich gewesen?« Drewes lachte gequält. »Doch, das war möglich. Das Fehlen einer Kassette wäre nicht aufgefallen. Und Taschenkontrollen an der Wache fanden ja so gut wie nie statt.« Er griff nach dem Bierglas und nahm einen tiefen Schluck. Dann setzte er das Glas wieder ab und wischte sich über den Mund. »Um ehrlich zu sein, der Gedanke ist mir damals auch gekommen. Ich habe später seine Frau gefragt, ob sie was von einer Kassette wusste. Wusste sie aber nicht. Sie hat sogar für mich seine Sachen danach durchsucht. Ohne Erfolg. Verdammt, warum ist mir das nicht auf dem Turm gleich aufgefallen, Bernds Getue um dieses angeblich harmlose Geschwätz, was er da aufgenommen hat. Wenn das was anderes war und ihm deshalb etwas zugestoßen ist ... ich hätte gleich merken müssen, dass da was nicht stimmt.« »Herr Drewes, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist doch an dem Tag nichts wirklich Verdächtiges passiert«, tröstete Behrends den Mann. »Oder gab es noch was anderes, was Sie hätte misstrauisch machen müssen? Wie war das genau? Wie muss ich mir den Ablauf ihres letzten gemeinsamen Arbeitstages überhaupt vorstellen? Also, ab dem Zeitpunkt, als sie morgens aus dem Haus gingen?« Drewes wiegte nachdenklich den Kopf, ehe er sprach: »Ich erinnere mich, dass es ziemlich
diesig war an dem Morgen. Ich war etwas spät dran und musste mich beeilen. Der Bundeswehrbus, der immer aus der Kaserne in Osterode kam, stand bereits an der Haltestelle, drüben am Englischen Hof.« Er deutete über den Juessee hinweg in Richtung des Hotels, das nur wenige Meter vom See entfernt lag. »Bernd war schon im Bus. Wir waren die Einzigen, die in Herzberg zustiegen. Er machte sich über mein Zuspätkommen lustig, genau wie die anderen. Ganz normal, die Lästereien. Dann sind wir über Scharzfeld nach Bad Lauterberg gefahren, haben unterwegs noch die restlichen Heimschläfer der Tagschicht eingeladen. Beim Bäcker und Schlachter haben wir gehalten, um Brötchen und Mett für die Turmkantine einzukaufen. Ich habe die ganze Fahrt über hinten gesessen. Allein. Ich wollte mit niemandem reden, nur ein bisschen dösen, weil ich noch müde war. Hinter Bad Lauterberg führte der Weg dann über den Staudamm der Odertalsperre und hoch auf den Stöberhai zur Einsatzstellung. Eine kurvenreiche Strecke. Das hat man besonders hinten im Bus gemerkt.« »Und am Ziel sind Sie ausgestiegen und direkt zu Ihrem Arbeitsplatz marschiert?«, unterbrach ihn Behrends. »Wie war das mit den Sicherheitsvorkehrungen? Es war ja immerhin eine militärische Einrichtung. Entschuldigen Sie, wenn ich so naiv frage, aber ich habe absolut keine Ahnung davon.« Drewes nickte. »Ja sicher, da gab es schon
Vorkehrungen. Ist doch klar. Das Gelände war komplett eingezäunt und von der Außenwelt abgeschirmt. Wir fuhren mit dem Bus erst durch die Sicherheitsschleuse, also den Bereich zwischen äußerem und innerem Zaun. Da kam nicht mal ’ne Maus unerlaubt rein. Wenn wir drinnen den Bus verlassen hatten, mussten wir in den Vorraum des Wachlokals gehen und unsere Wechselkarte in so ein Dreh-Fach legen, wie früher das Geld am Fahrkartenschalter der Bahn. Die Karte war eine Art Ausweis mit Name und Lichtbild. Außerdem waren darauf die Bereiche des Turms eingetragen, die der Inhaber betreten durfte. Der diensthabende Wachmann gab uns im Gegenzug den Turmausweis mit identischen Einträgen, den wir sichtbar an der Brust zu tragen hatten, wenn wir eine Treppe tiefer den Schleusengang betraten, der zu einem Raum mit dem Schwarzen Brett führte. Es war wichtig, dass jeder die Rahmendienstpläne mit den aktuellen Neuigkeiten studierte. Danach ging es dann zum Lift, der uns zu unseren jeweiligen Etagen brachte. Bernd und ich mussten hoch zur achten Etage, in die Richtfunkerfassung. Na ja, und wenn wir dann die Übergabeformalitäten mit der Nachtschicht erledigt hatten, begann unsere Arbeit. Danach nahm man keine Notiz mehr voneinander. Das war jeden Tag dasselbe, auch an Bernds letztem. Bis eben zu dem Telefonat, das er führen wollte. Aber wie gesagt, das hat mich nur am Rande interessiert. Eigentlich gar
nicht.« »Tja ...« Behrends seufzte und blickte etwas enttäuscht in den Garten. Er wusste nicht, welche Aufschlüsse er sich von seinem Gespräch mit Drewes erhofft hatte, viel war es jedenfalls nicht. Eine Kassette mir fragwürdigem Inhalt war möglicherweise verschwunden, zusammen mit Achilles. Immerhin. Vielleicht war es ja doch eine erste Spur. Vielleicht enthielt sie tatsächlich Informationen, die dem Mann zum Verhängnis geworden waren. »Ach, eins noch«, sagte Drewes plötzlich. Behrends horchte auf: »Ja?« »Am Abend auf der Rückfahrt hat mir Bernd mitgeteilt, dass er für drei Tage Urlaub genommen hat. Das kam ziemlich plötzlich, und ich wollte wissen, warum. Er hat gesagt, es gehe um Familienangelegenheiten. Er wollte nicht darüber reden. Mir hat das als Erklärung gereicht. Seine Frau wusste aber nichts von Familienangelegenheiten, wie sich später herausstellte. Ihr hat er an dem Abend erklärt, er müsse für ein paar Tage dienstlich weg, und ist gefahren. Als er dann nicht zurückgekommen ist, hat Angelika nachgefragt. Von einem dienstlichen Auftrag war keinem etwas bekannt. Wir haben sie bei ihren Nachforschungen so gut wie möglich unterstützt. Und so auch von Eugen Struve erfahren. Der hat ein paar Jahre auf dem Stöberhai als Erfasser gearbeitet und sich mit
Bernd angefreundet. Später wurde Struve ins Lage- und Meldezentrum in Trier versetzt. Da liefen alle unsere Informationen, aber auch die der US-Streitkräfte, der Briten und Franzosen und des BND zusammen und wurden ausgewertet. Russische Muttersprachler waren da besonders gefragte Mitarbeiter, und Struve stammte ja aus Kasachstan. Na ja, auf jeden Fall hat Bernd den Kontakt zu Struve auch nach dessen Weggang aufrechterhalten, und sie haben sich ab und zu gegenseitig besucht. Wir haben gehofft, Struve wisse etwas über Bernds Verbleib. Allerdings hatte der zu der Zeit seinen Jahresurlaub und war nicht zu erreichen. Deshalb, und auch weil er alleinstehend war, haben wir erst sehr viel später mitbekommen, dass er nach seinem Urlaub ebenfalls nicht mehr aufgetaucht ist.« »Moment«, Behrends wirkte plötzlich angespannt, »verstehe ich das richtig? Ein weiterer Kollege von Ihnen ist im selben Zeitraum verschwunden wie Achilles?« »Also, ja, schon. Wenn Sie den Zeitraum weit genug fassen. Wir haben das damals überhaupt nicht in Verbindung gebracht, weil wir ja erst Wochen später und auch nur zufällig davon erfahren haben.« »Und Sie sind nie auf die Idee gekommen, dass Achilles und dieser Struve vielleicht irgendein gemeinsames Ding durchziehen wollten? Und dass die Informationen auf dieser Kassette vielleicht der Auslöser dafür
gewesen sein konnten?« Drewes riss erschrocken die Augen auf. »Um Himmels willen, nein! Was für ein gemeinsames Ding denn?« Behrends dachte an Diekmann und an diesen Journalisten, der im Koma lag. Und er dachte an illegale Waffengeschäfte, an die riesigen, unkontrollierbaren Depots mit russischem Militärgerät. Er überlegte, ob er Drewes an seinen Gedanken teilhaben lassen sollte, ließ es dann aber bleiben. »Ich weiß es nicht«, sagte er stattdessen. »Vielleicht haben Sie ja eine Idee?« »Nee, nee«, wehrte Drewes vehement ab. »Als wir das von Struve gehört haben, waren wir uns schon einigermaßen sicher, dass sich Bernd mit einer anderen Frau aus dem Staub gemacht hat. Und ganz ehrlich, für mich ist das immer noch die einzig plausible Erklärung.« Es schien, als wolle er keine Möglichkeit zulassen, die Achilles dem Verdacht aussetzte, ein Verbrecher zu sein. »Vermutlich haben Sie Recht, und es war so«, gab ihm Behrends nach, ohne wirklich überzeugt zu sein. Er wandte sich Grischke zu, der bisher schweigend Bier und Schnittchen genossen hatte, das aber keineswegs mit verschlossenen Ohren. Der Alte erwiderte seinen Blick mit einem leichten Kopfschütteln. Er glaubte also auch nicht an eine Affäre des Mannes.
15. Als Jana gestern Nachmittag die Matrjoschka geöffnet und das zu einem kleinen Quadrat zusammengefaltete Blatt Papier herausgeholt hatte, war sie noch voller Zuversicht gewesen. Sie hatte gehofft, das Geheimnis, das sich hinter den Notizen und der krakeligen Skizze auf dem Zettel verbarg, schnell zu entschlüsseln. Aber dann war ihr dieses dumme Missgeschick passiert. Weil sie so blöd gewesen war, das Blatt auf dem Tisch liegen zu lassen. Neben der brennenden Zigarette im Aschenbecher. Auf dem Balkon ihres Pensionszimmers! Weil sich das Smartphone drinnen auf der Ablage über dem Bett gemeldet hatte und sie sofort, ohne zu überlegen, hingerannt war. Ausgerechnet in dem Moment hatte vermutlich ein kleiner Wind das Papier zum Aschenbecher geweht, wo es genau über der Zigarette hängen geblieben war. Wäre nur das dämliche Smartphone nicht gewesen! Nein, nicht das Gerät war schuld, sondern Mario! Immer noch telefonierte er ihr hinterher. Dieser Vollpfosten! Wollte einfach nicht begreifen, dass Schluss zwischen ihnen war. Und das Rauchen hatte sie auch nur wegen ihm wieder angefangen! Immerhin war sie noch rechtzeitig zurück auf dem Balkon gewesen, um den Zettel und die Informationen darauf vor der vollständigen
Vernichtung zu retten. Ein Teil der Skizze war ihr geblieben, dazu die Reste eines Koordinatenpaares und zwei Wörter oder besser gesagt ein Wort, dem die Zigarettenglut über die Hälfte geraubt hatte und ein zweites, vollständiges: Kripta. Sie hatte zunächst nichts mit dem Begriff anfangen können, sich dann überlegt, dass es Krypta heißen könnte. Vielleicht gab es diese andere Schreibweise ja auch. Im baltischen Sprachraum etwa. Oder Adam hatte einfach nur einen Fehler gemacht. Schließlich war sie sicher gewesen, dass es eine Krypta sein musste, wo die Beweise versteckt waren. Ein solcher Ort passte einfach zu dem undurchsichtigen und merkwürdig morbiden Wesen des Mannes, den sie kurz vor seinem Tod als jemanden kennengelernt hatte, der sich nur in seinem düsteren Wohnzimmer wohlzufühlen schien. Jemand, der das Tageslicht mied und mit der Wodkaflasche in der Hand auf den Abgrund zusteuerte. Außerdem hatte sie so einen konkreten Ansatzpunkt für ihre Suche. Also hatte sie sich entschieden, nach einer Krypta zu suchen. Früh am Morgen war sie aufgebrochen. Es war schon weit nach Mittag, als sie plötzlich glaubte, dass ihr jemand folgte. Zuerst war es nur eine Ahnung, ein Kribbeln auf der Haut, ein Hauch von Gefahr, der wie ein unangenehmer Geruch in der Luft hing und unter ihren Helm kroch – ein Geruch, den auch der Fahrtwind nicht vertreiben konnte. Dann
entdeckte sie in reichlich Abstand den dunkelblauen Van im Rückspiegel, der mit jeder Kurve aus ihrem Blick verschwand, kurz darauf aber immer wieder auftauchte. Sie gab Gas, und der Van blieb ein wenig zurück. Dann verringerte sie die Geschwindigkeit, und er fuhr etwas auf. Ein paar Mal wiederholte sie das Spiel mit dem immer selben Ergebnis. Erst vergrößerte sich der Abstand, dann kam der Van näher an sie heran. Aber nie so nah, dass sie Nummernschild oder gar die Fahrzeuginsassen hätte erkennen können. Eine Weile dachte sie, ein Zivilfahrzeug der Polizei hinter sich zu haben, und rechnete damit, bei nächster Gelegenheit für eine Kontrolle an den Seitenstreifen gelotst zu werden. Doch das geschah nicht. Warum auch? Sie war sich keiner Verkehrsvergehen bewusst. Schließlich lenkte Jana ihre Maschine in einen Waldweg und hielt wenige Meter hinter der Einmündung an. Sie beobachtete die Straße und sah den Van vorbeifahren. Er hatte abgedunkelte Scheiben und ein Hamburger Kennzeichen. Das konnte sie gerade noch erkennen. Nur das HH, zu mehr reichte es nicht. Immerhin war ihr spätestens jetzt klar, dass sie keine Polizeikontrolle befürchten musste – eine Erkenntnis, die sie kaum beruhigte. Im Gegenteil! Sie schaute dem Wagen nach, dann startete sie wieder. Lange Zeit blieb der Van danach unsichtbar, und doch spürte sie ihn im Nacken. Langsam wirst du paranoid, dachte Jana und
versuchte, die Verfolger als Einbildung abzutun, sich einzureden, dass die Ereignisse der vergangenen Tage Schuld an ihren angefressenen Nerven waren. Aber das mulmige Gefühl ließ sich nicht abschütteln. Und dann tauchte der Van wieder auf. Wie aus dem Nichts. Als sie an der Einmündung zur B4, der Verbindungsstraße von Braunlage nach Bad Harzburg halten musste, sah sie ihn im Rückspiegel. Noch sehr weit entfernt. Sie wartete nicht ab, bis er nah genug heran war, damit sie ihn einwandfrei identifizieren konnte. Mit einem Blitzstart bog sie in Richtung Bad Harzburg ab. Eine äußerst unüberlegte, geradezu panische Reaktion, die beinahe zu einem Zusammenstoß mit einem von links kommenden Wagen führte. Sie geriet ins Schlingern, schaffte es aber irgendwie, die Maschine wieder unter Kontrolle zu bringen und sich in eine aus Braunlage kommende Fahrzeugkolonne einzureihen. Jetzt saß sie auf der Terrasse der Bavaria Alm in Torfhaus und beobachtete seit ungefähr fünfzehn Minuten die Bundesstraße. Ihr Motorrad hatte sie am Rand des Großparkplatzes abgestellt, etwa fünfzig Meter entfernt, auf der anderen Seite des Gasthauses. Vor ihr auf dem Tisch stand ein 0,4-Liter-Glas Spezi. Etwas zu essen hatte sie nicht bestellt. Obwohl sie seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen hatte, verspürte sie keinen Hunger. Die Sonne war schon eine ganze Weile untergegangen. Über dem
Brocken, der zum Greifen nah schien, verdunkelte sich das Blau des Himmels, während von Westen graue Wolken heraufzogen. Vermutlich würde es Regen geben. Die Terrasse war, obwohl Montag und keine Ferienzeit, recht gut gefüllt. Bei den angenehmen Temperaturen würde das sicher noch bis weit in den Abend hinein so bleiben, zumindest, solange es nicht regnete. Auch im Inneren der Alm herrschte Hochbetrieb. Sie konnte von Glück sagen, dass sie einen Tisch für sich allein ergattert hatte. Mit ihrem Rucksack und dem Motorradhelm auf der Bank gegenüber und einem düsteren Blick für jeden, der sich dem Tisch näherte, blieb sie fürs Erste von unliebsamer Gesellschaft und nervigen Plaudereien verschont. Jana zog das Stück Papier, das ihr geblieben war, aus der Innentasche ihrer Motorradjacke, faltete es auseinander und starrte auf den restlichen Teil der Grundrisszeichnung mit einem Sargsymbol und mehreren kleinen Quadraten. Sie seufzte genervt. Ohne die anderen Hinweise nutzte ihr das wenig. Sie musste endlich herausfinden, was es mit diesem zweiten Wort, Albertshaus oder Albrechtshaus, auf sich hatte. Oder hatte da Altershaus gestanden? Hatte Leo Adam damit ein Altersheim gemeint? Verdammt, warum hatte sie das Smartphone gestern nicht einfach klingeln lassen? Der Zettel wäre wichtiger gewesen! Nur einen schnellen Blick hatte sie darauf geworfen und sich nichts eingeprägt.
Die Koordinaten zum Beispiel, von denen einige Ziffern hinter den Gradzahlen jetzt fehlten. Immer wieder sah sie vom Papier auf, hin zur Straße. Wo war der Van geblieben? War er schon vorbeigefahren? Oder vorhin unten an der Einmündung in die entgegengesetzte Richtung abgebogen? Nicht nur wegen der Dämmerung fiel es ihr mit jeder Minute schwerer, sich auf das Sichtbare zu konzentrieren. Ihr Blick richtete sich zunehmend nach innen, versuchte, etwas aus ihrem Unterbewusstsein wieder hervorzuholen. Das Wort. Dieses eine Wort, von dem sie glaubte, es sei ein notwendiger Schlüssel zum Versteck. Albrechtshaus oder Albertshaus? Ein Haus mit einer Krypta darunter? Ein Haus, dessen Eigentümer Albrecht oder Albert hieß? Oder war es ein Eigenname? Jana stöhnte leise auf. Was für ein elendes Rätselraten! Den ganzen Tag war sie jetzt schon kreuz und quer durch den Südharz gekurvt. Gar nicht weit weg, hatte Adam gesagt und irgendwas von Harzhexen fantasiert. Andeutungen, die sie darauf hatten schließen lassen, dass sie nicht Gott weiß wo suchen musste, sondern in der Nähe. Sie hatte nach einer versteckten Krypta gesucht. In Walkenried, in der Steinkirche bei Scharzfeld – es gab unendlich viele Möglichkeiten. Falls sie auf diese Weise, ohne exaktere Angaben, weitermachte, würde es vermutlich Wochen oder Monate dauern, bis
sie mit ihrer Suche Erfolg hatte oder sie zu guter Letzt aufgeben musste. In den zurückliegenden zwei Stunden war sie schließlich immer tiefer in das Mittelgebirge hineingefahren. Jetzt saß sie hier oben und allmählich wurde ihr klar, dass sie wahrscheinlich auf der falschen Seite des Harzes gesucht hatte. Dieser Journalist, Ulrich Vetter, der hatte gesagt, die Morde seien auf einem russischen Truppenübungsplatz passiert. In der DDR. Angenommen, Adam war tatsächlich als Zeuge dabei gewesen, hätte er seine Beweise dann nicht im Ostharz versteckt? Das war ja immer noch relativ in der Nähe, von Bad Sachsa aus gesehen. Die Schlussfolgerung schien ihr plausibel. Sie zog eine der beiden Harzwanderkarten aus ihrem Rucksack und versuchte, sich anhand der Koordinatenreste auf der Karte zu orientieren. Es gelang ihr immerhin, das Suchgebiet nach ein paar Minuten tatsächlich auf den Ostharz zu begrenzen. Aber es blieb nach wie vor eine viel zu große Fläche. Wieder blickte sie zur Straße. Diese Mal etwas länger. Ein verdächtiges Fahrzeug fuhr nicht vorbei. Sie schloss für einen Moment die Augen und ließ sich von der heiteren Stimmung um sie herum ablenken. Die Anspannung fiel etwas von ihr ab, und die Müdigkeit schlich sich in ihre Glieder. Sie gähnte. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie noch ein Nachtquartier brauchte. Sie liebäugelte mit den Unterkünften gleich nebenan im Harzresort,
checkte schnell über ihr Smartphone die Preise und schlug sich die Sache sofort wieder aus dem Kopf. Vermutlich war es das Beste, einfach wild zu campen. Dann konnte sie auch gleich ihr neues Ein-Personen-Zelt ausprobieren, das sie zur Sicherheit mitgenommen hatte. Außerdem ersparte ihr die Freiluftlösung die späte Suche nach einem erschwinglichen Zimmer. Zufrieden mit ihrem Entschluss zog Jana die Wanderkarte wieder zu sich heran. Mit etwas Glück fand sie in dem unübersichtlichen Gewirr von Wanderrouten, Symbolen, Schriftzügen, Höhenzahlen und -linien und anderen topografischen Angaben irgendeinen Hinweis auf ein Albertshaus oder Albrechtshaus. Vielleicht gab es ein Wanderziel, ein Haus oder Bauwerk von historischer Bedeutung, das so hieß. Sie schrieb die beiden Worte an den Kartenrand. Warum sie das tat, wusste sie nicht genau, aber es wirkte Wunder. Die zwei Begriffe direkt vor Augen waren ihre Zweifel von einer Sekunde zur anderen beseitigt. Albrechtshaus! Das war es! Danach musste sie suchen. Mit einer entschlossenen Handbewegung unterstrich sie das Wort und griff nach ihrem Smartphone. Vielleicht wusste das Internet etwas. Ein Blick auf die Akku-Anzeige hielt sie von der Suche im Netz ab. Für eine längere Recherche reichte die Energie nicht mehr. Und ihren Platz aufgeben, um im Haus an eine Steckdose zu gelangen, kam nicht infrage. Sie drehte sich zu
den Gästen am Tisch hinter ihr um, hoffte, einer von ihnen könnte ihr etwas zu Albrechtshaus sagen. Vergeblich. Die beiden Paare waren Touristen aus Schleswig-Holstein, ebenso wenig Harzkenner wie sie selbst. Nicht einmal der Kellner, den sie an ihren Tisch rief, konnte ihr helfen. Etwas ratlos blickte sie über die Straße, hinüber zum Harz-WelcomeCenter. Genau in dem Moment fuhr der dunkelblaue Van langsam vorbei und bog in die Einfahrt zum Parkplatz ab. Jana hatte nicht mehr damit gerechnet, verfolgt zu werden. Viel zu viel Zeit war mittlerweile verstrichen, ohne dass sie den Wagen zu Gesicht bekommen hatte. Umso heftiger fuhr ihr der Schreck ins Herz. Vielleicht war es Zufall, dass ihre Jäger hier auftauchten. Vielleicht brauchten sie nur eine Pause und ahnten nicht, wie nah sie ihrem Opfer gekommen waren. Doch Jana war nicht naiv. An solch einen Zufall glaubte sie nicht. Die Typen waren ihr immer noch auf den Fersen, hatten vielleicht sogar zu jeder Zeit gewusst, wo sie sich aufhielt. Wie sie das geschafft hatten und warum sie erst jetzt kamen, war ihr ein Rätsel. Als der Van aus ihrem Blickfeld verschwand, faltete sie hastig die Karte zusammen und stopfte sie zurück in das Seitenfach des Rucksacks. Gleichzeitig wand sie sich zwischen Tisch und Sitzbank heraus. Dann lief sie am Gasthaus entlang nach hinten, wo sich die Terrasse fortsetzte, leider ohne einen Abgang.
Am äußeren Ende stoppte eine Holzbrüstung Janas Lauf. Sie beugte sich über das Geländer und starrte angestrengt durch die Lücke zwischen dem Gasthaus und dem Nachbargebäude auf einen begrenzten Bereich des Parkplatzes. Ihr Motorrad konnte sie sehen. Es stand in der Nähe des Ticketautomaten und wurde jetzt von zwei Autos eingerahmt, die bei ihrer Ankunft noch nicht dort geparkt hatten. Den Van entdeckte sie nicht. Sie veränderte ihre Position, erst zwei Schritte nach links, dann ganz nach rechts, hoffte, so etwas mehr zu erkennen. Zwecklos. Sie sah keinen dunkelblauen Van. Doch, da! Langsam rollte das Fahrzeug heran, aus Richtung Bad Harzburg kommend. Auf der Straße, die nur durch einen schmalen Grasstreifen von der Bundesstraße getrennt parallel dazu verlief. Eine Zufahrt zu den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite vermutlich. Es war nicht genau zu erkennen. Jana schickte ein Stoßgebet zum Himmel, hoffte, dass der Wagen einfach weiterfuhr, nach Braunlage hinunter oder wohin auch immer. Aber wenn es einen Gott gab, dann hatte er kein offenes Ohr für ihre Gebete. Der Van stoppte. Genau auf Höhe der Parkplatzeinfahrt. Der Fahrer und ein weiterer Mann verließen den Wagen und überquerten ohne zu zögern die Straße. Sie steuerten direkt auf ihr Motorrad zu, hatten es vermutlich schon vorhin ins Visier genommen, kurz nachdem Jana sie auf den Parkplatz einbiegen
sehen hatte. Langsam umrundeten die Männer die Maschine. Neben dem Hinterrad ging einer der beiden in die Hocke, fummelte an der Innenseite des Nummernschildes herum, dort, wo es mit der Halterung am Schutzblech befestigt war. Dann richtete er sich wieder auf und redete auf seinen Partner ein. Jana war zu weit weg, um etwas zu hören. Dafür wurde ihr schlagartig bewusst, was der Kerl da gerade untersucht hatte. Natürlich! An der Halterung des Nummernschildes musste ein Sender befestigt sein! Die Typen hatten die ganze Zeit gewusst, wo sie sich aufhielt. Sie hatten es gar nicht nötig gehabt, ihr mit Sichtabstand zu folgen! Und noch etwas war ihr plötzlich klar: Sie waren ihr schon länger auf den Fersen. Hatte sie mit ihrer Vermutung Recht, dann war der Sender wahrscheinlich nicht erst heute Morgen da hingekommen. Die Männer mussten sich an ihrem Motorrad zu schaffen gemacht haben, als Jana es irgendwann in den letzten Tagen abgestellt und unbeaufsichtigt stehengelassen hatte. Das konnte gestern gewesen sein, vielleicht schon vorgestern oder noch früher. Gelegenheiten hatte es genug gegeben. Wie hypnotisiert starrte sie auf ihr Motorrad, überlegte fieberhaft, wie sie einen Sender loswerden könnte. Hier auf dem Parkplatz sicher nicht. Die Kerle würden die Maschine im Auge behalten, bis sie weiterfuhr, das war klar. Dann würden sie ihr wieder folgen. Allmählich dämmerte ihr, wer ihr im Nacken
saß und wer Leo Adam ermordet hatte: eiskalte Jäger, Profis – von jemandem beauftragt. Dem Mörder ihres Vaters? Wie sie selbst suchten die Typen Adams Beweise. Sie brauchten nichts weiter tun, als sich an Jana zu hängen und sich zu dem Versteck führen lassen. Solange die zwei Figuren glaubten, Jana wisse nichts von ihrer Existenz, würden sie ihr nur folgen. Was aber, wenn sie das Versteck gefunden hatte? Oder wenn sie sich von ihr entdeckt fühlten? Genau in diesem Moment sah einer der Männer zu ihr hinüber und deutete mit dem Finger auf sie! Das war’s! Sie hatten sie bemerkt und sie wussten, auch sie selbst waren aufgeflogen! Ihre Gesten zeigten das überdeutlich. Plötzlich hatten sie es eilig, steuerten mit schnellen Schritten auf das Gasthaus zu. Verdammte Scheiße, fuhr es Jana durch den Kopf, dann stürzte sie los. Katzengleich huschte sie zwischen den Tischen hindurch, vermied mit einer akrobatischen Ausweichbewegung den Zusammenstoß mit dem Kellner und seinem voll beladenen Tablett. Noch bevor sie ihren Tisch erreichte, bogen die beiden Männer um die Hausecke. Keine Chance, vor ihnen an ihren Rucksack und den Helm zu kommen. Kurzentschlossen setzte sie mit einem eleganten Sprung über die seitliche Brüstung der Terrasse, sprintete auf der leicht abschüssigen Rasenfläche zum Platz hinter dem Nationalpark-Besucherzentrum.
Einen Augenblick überlegte sie, den abschüssigen Weg in die Wiesen zu nehmen. Nach einem schnellen Blick zurück entschloss sie sich aber, an der entgegengesetzten Seite des Besucherzentrums wieder nach vorn und dann die Straße hinunterzulaufen. Ihre Verfolger waren ihr verdammt dicht auf den Fersen! Vielleicht gelang es ihr so, sie für einen Moment zu irritieren und sich im Schutz des Hauses einen kleinen Vorsprung zu verschaffen. Sie flog an einer Handvoll entgegenkommender Touristen vorbei, die scheinbar ohne konkretes Ziel umherschlenderten und ihr erschrocken auswichen. An der Straße wandte sie sich nach links und rannte den Fußweg hinunter, vorbei an den Ferienhäusern des Harzresorts. Auf die Idee, sich dort zu verstecken, kam sie nicht. Die Stimme in ihrem Kopf trieb sie vorwärts. »Lauf, lauf!«, schrie sie. »Nicht anhalten! Nicht stehenbleiben!« Jana nahm den Pfad, der hinter dem Resort nach links abzweigte und sich ein paar Meter von der Straße entfernte. Sie sah den Wald vor sich, musste ihn erreichen. Im Schutz der Bäume hatte sie eine reelle Chance, den Kerlen zu entwischen. Sie stolperte, kam aus dem Tritt, fing sich. Los! Weiter! Du schaffst es! Sie hatte den Mund aufgerissen, atmete kurz und stoßweise. Ihr Herz raste. Als sie den Waldrand erreichte und in den Schutz der Fichten eintauchte, reduzierte sie ihre
Geschwindigkeit etwas, damit sie sich umsehen konnte. Nur noch einer der beiden Typen war ihr auf den Fersen. Kaum hundert Meter Abstand lagen zwischen ihm und ihr, und er kam verdammt schnell näher. Aber wo war der zweite Mann? Jana blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie erhöhte wieder das Tempo. Ein Stück vor ihr wurde der Wald von einer Seitenstraße durchbrochen. Sie stoppte, hielt für eine Sekunde inne, entschloss sich, nach links abzubiegen, weg von der Bundesstraße. Ein paar Häuser säumten die Straße, Menschen begegneten ihr keine. Dafür spürte sie den Atem ihres Verfolgers im Nacken. Noch einmal holte sie alles aus sich heraus. Wie lange würde sie durchhalten? Sie war trainiert, aber nicht auf ausdauerndes Laufen. Im Gegensatz zu dem Mann hinter ihr, wie es schien. Plötzlich ein Lichtschein in ihrem Rücken, der sich um sie ausbreitete. Sie sah den Schatten ihres Körpers deutlich vor sich auf dem löchrigen Asphalt. Dann das Brummen, das sich schnell näherte. Sie wusste, dass es der dunkelblaue Van war. Mit dem zweiten Mann. Die kleine Chance, die sie sich gegen die Typen ausgerechnet hatte, war vertan. Blieb sie auf der Straße, endete ihre Flucht in wenigen Augenblicken, darüber gab es keinen Zweifel. Trotzdem rannte sie weiter, die Angst setzte ungeahnte Kräfte in ihr frei. Um ein Haar hätte Jana den Trampelpfad übersehen, der rechts in den Wald
hineinführte. Im letzten Moment schaffte sie es, einen Haken zu schlagen und auf den Pfad einzubiegen. Sie geriet dabei ins Straucheln, konnte sich aber auf den Beinen halten. Nahezu blind stolperte sie vorwärts. Die dicht stehenden Bäume schluckten die Reste des Tageslichts. Sie ahnte den Weg mehr, als sie ihn sah. Sie trat auf Steine, die vor ihr verstreut einige Zentimeter aus dem Waldboden ragten und ihn zu einem tückischen Untergrund werden ließen. Ein ums andere Mal knickten ihre Knöchel zur Seite, und sie konnte von Glück sagen, dass sie sich immer wieder fing. Wo waren ihre Verfolger? Sie blieb stehen, keuchte, drehte sich um. Niemand war zu sehen. Sie versuchte, ihren Atem zu unterdrücken, lauschte angestrengt. Stille. Außer ihrem Herz, das ihr bis zum Hals schlug, hörte sie nichts. Der Automotor war verstummt. Hatte sie die Männer abgehängt? Nein! Abgehackte, wütende Stimmen machten ihre Hoffnung binnen Sekunden zunichte. Sie kamen näher, stritten sich, während sie ihr hinterherhetzten. Jana zögerte nicht länger, spurtete wieder los. Eine Gabelung. Der Hauptweg beschrieb eine Rechtskurve. Die dicken Baumwurzeln, die ihn durchzogen, bildeten zusammen mit den Steinen Hindernisse, die ein rasches Vorankommen unmöglich machten. Das konnte Jana auch im trüben Zwielicht erkennen. Sie entschied sich für den Pfad, der nach links ging
und etwas einladender aussah. Ein Wegweiser stand an der Abzweigung. Flüchtig nahm sie die Buchstaben darauf wahr. Während sie weiterrannte, formten sie sich in ihrem Kopf zu dem Wort »Moor«. Nach wenigen Metern wurde der Pfad von einem Holzbohlenweg abgelöst, der aus dem Wald heraus auf eine baumlose Ebene führte. Trotz der jetzt lückenlosen Wolkendecke reichte das Licht gerade noch aus, um Details zu erfassen. Sie befand sich auf einem knapp zwei Meter breiten Steg, der sich in Waldnähe dahinschlängelte. Es schien, als schwebe er an einigen Stellen ein wenig über der mit Gräsern und Moosen bedeckten Fläche, die sich zu ihrer Linken weit hinten im Dunkel der Nacht verlor. Jana beschleunigte ihre Schritte noch einmal, dankbar, einen stabilen, ebenen Grund unter den Füßen zu haben. Wenn nur das Trommeln ihrer Motorradschuhe auf den Bohlen nicht gewesen wäre. Damit lockte sie ihre Verfolger ja geradezu an! Jana warf einen Blick zurück. Noch waren die Männer nicht in Sicht, aber das würde sich vermutlich jeden Moment ändern. Und dann gab sie ein gut sichtbares Ziel ab. Sie verfluchte sich dafür, bei der Wahl des Weges die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Sie brauchte ein Versteck! Aber wo? Wo? Ein Holzsteg, eine weite, gut einsehbare Ebene – da war das Angebot nicht üppig. Vor ihr tauchte eine Art Terrasse auf, mehr als doppelt so breit wie der Steg. Eine Bank stand darauf. Darunter die
Pfähle, auf denen die Holzplanken ruhten. Der Abstand des Podests zur Grasfläche war etwas größer als der des Stegs. Würde der Platz darunter ausreichen? Jana war nicht dick. Vielleicht schaffte sie es, sich mit ihrem schlanken Körper unter die Planken zu quetschen. Sie erreichte die Terrasse, sprang von den Bohlen auf das Gras, sackte sofort knöcheltief in den schlammigen Untergrund ein. Moor, schoss es ihr durch den Kopf. Sie befand sich mitten im Torfhausmoor! Vorhin am Tisch auf der Alm, da hatte sie es auf der Karte noch vor sich gesehen! Egal. Wenn sie das hier überleben wollte, musste sie das bisschen Feuchtigkeit in Kauf nehmen. Es war mehr, als ein bisschen Feuchtigkeit! Sie spürte es, kaum dass sie sich unter das Podest gezwängt hatte. Gerade noch rechtzeitig, denn schon hörte sie die polternden Schritte. Flach atmend lag Jana mit dem Rücken auf dem sumpfigen Grasboden, direkt über ihrer Nase die Holzbohlen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Lange würde sie es so nicht aushalten. Das Wasser fand nach und nach über Kragen, Hosenbund und Stiefelschaft seinen Weg unter ihre Motorradkleidung und auf ihre Haut. Ein ekeliges Gefühl. Am liebsten hätte sie ihr Versteck sofort wieder aufgegeben. Aber in diesem Moment näherten sich die Verfolger, hielten direkt vor der Terrasse an, nur ein kleines Stück von ihr entfernt. Sie hörte ihr Keuchen, dann ihr leises Fluchen. Hoffentlich
kamen sie nicht auf die Idee, das Podest und den Steg unter ihren Füßen etwas genauer zu untersuchen. Ein paar Sekunden standen die Kerle unschlüssig herum, dann rannten sie weiter. Jana wagte nicht, sich zu rühren, blieb starr auf dem nassen Moorteppich liegen. Wie lange sie so verharrte, wusste sie nicht. Vermutlich waren es nur Minuten, aber die kamen ihr vor wie Stunden. Dann hörte sie erneut Schritte, die sich polternd näherten. Aus der anderen Richtung. Die Männer kamen zurück, gingen an ihr vorbei, unterhielten sich halblaut. Ein paar Satzfetzen konnte sie aufschnappen. »... kommt irgendwann ... abwarten ... ihr Motorrad holen ... nur zufassen ... Rucksack sichergestellt ...« Die wenigen Worte genügten Jana, um sich ihrer kritischen Lage bewusst zu werden: Sie würde nicht mehr ungesehen an ihr Motorrad herankommen. Die Typen standen bereit und würden sie in Empfang nehmen, sobald sie ihrer Maschine zu nahe kam. Und außerdem hatten sie ihren Rucksack. Darin befand sich, neben ein paar entbehrlichen Sachen, alles Wichtige: die Wanderkarten, ihr Führerschein, das Portemonnaie mit dem Kleingeld, Personalausweis und Kontokarte. Und die Matrjoschka mit dem durchlöcherten Zettel! Nein, den hatte sie in der Lederjacke, die sie am Körper trug. In der Brusttasche. Und ihr Smartphone. Wenigstens das! Auch wenn der
Akku fast leer war. Aber was half ihr das alles, wenn sie nicht an ihr Motorrad herankam? Etwa fünf weitere Minuten ließ Jana verstreichen, ehe sie sich aus ihrem Versteck wagte. Ihre Enttäuschung und Wut wurden noch verstärkt durch die klatschnasse Kleidung und die dadurch hervorgerufene Kälte, die ihr unter die Haut kroch. Sie versuchte, das unangenehme Gefühl zu ignorieren und sich auf ihre unmittelbare Umgebung zu konzentrieren. Sie hatte keine Lust, in eine Falle zu laufen. Aber sie kam unbemerkt bis zur Bavaria Alm durch, vergewisserte sich, dass der Van wieder an seiner alten Position stand. Sie warf einen Blick zum Tisch, an dem sie gesessen hatte. Ihr Rucksack und der Helm waren verschwunden. Jana stieß ein paar derbe Flüche aus, unterdrückt und nicht zu laut. So weit hatte sie sich noch unter Kontrolle. Fieberhaft dachte sie nach. Sie brauchte einen Plan, um aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen – einen Plan, mit dem sie zunächst einmal ihre Verfolger abhängen konnte. Erst dann war Zeit, sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen. Unschlüssig zog sie sich in den Wald zurück, aus dem sie gerade gekommen war. Sie wollte nicht von irgendwelchen Touristen gesehen werden, die sich immer noch um die Alm herum tummelten. Im Schutz der Bäume fummelte sie ihr Smartphone aus der Tasche. 23:15 Uhr, teilte ihr die leuchtende, digitale Zeitanzeige mit.
Ein Blinken mahnte sie, endlich den Akku aufzuladen. Für einen Anruf reichte es aber noch. Auch wenn es schon verdammt spät war, musste sie es versuchen. Er war im Moment ihre einzige Chance, und sie konnte nur darauf hoffen, dass sie sich nicht in ihm getäuscht hatte. Dann wählte sie die Nummer, die sie erst gestern in ihrem Gerät abgespeichert hatte.
16. Thies Martens wohnte in Gägelow, einem kleinen Ort unmittelbar an der westlichen Stadtgrenze von Wismar. Als Diekmann nach vier Stunden Fahrzeit ohne Pause an der Tür des Einfamilienhauses läutete, wurde ihm vom Hausherrn persönlich geöffnet. Trotz der Wiedersehensfreude hielten sie sich nicht lange mit der Begrüßung auf, sondern beließen es bei ein paar knappen Worten und einem kräftigen Händedruck. Martens begleitete seinen Gast sofort zu einer Treppe, die nach unten in den Keller führte. Im Hintergrund hörte Diekmann aus einem der Zimmer Kindergeschrei und die energische Stimme einer Frau. Sein Gastgeber hatte offenbar nicht die Absicht, ihm seine Familie vorzustellen. Stattdessen blickte er Diekmann nur entschuldigend an. »Die Mädchen. Sind gerade in ’nem schwierigen Alter. Na ja, wir gehen schon mal in meinen Partyraum«, erklärte er, »da sind wir ungestört. Verena macht uns gleich was zu essen. Du bist sicher hungrig.« Erst jetzt, als Martens ihn darauf ansprach, spürte Diekmann seinen leeren Magen. Er nickte. »Stimmt, ich könnte schon einen Happen vertragen. Und nachher brauche ich noch ein Bett. Zurück fahre ich heute nämlich nicht mehr. Kannst du mir ein Hotel oder eine
Frühstückspension hier in der Nähe empfehlen?« Martens winkte ab: »Du bist natürlich unser Gast, wenn du nichts dagegen hast. Wir haben dir schon das Fremdenzimmer hergerichtet. Also mach dir keinen Kopf. Wir können ein paar Bierchen trinken und ausgiebig miteinander quatschen. Von mir aus die ganze Nacht.« »Ich fürchte, das halte ich nicht durch«, entgegnete Diekmann. »Aber danke für das Angebot. Ich bleibe gern.« Sie waren im Keller angekommen, und Martens öffnete die Tür zu einem gemütlichen Raum mit bunt durcheinandergewürfelten Tischen, Bänken und Polstersesseln. Und natürlich mit einer Theke, hinter der in einer Vitrine die verschiedensten Spirituosen aufgereiht standen. »Setz dich«, sagte Martens und wies auf einen niedrigen Tisch mit zwei Sesseln davor. »Bier?« Diekmann nickte, und sein Kollege holte hinter der Theke zwei Flaschen hervor. Die öffnete er und brachte sie zusammen mit zwei Gläsern an den Tisch. Dann setzte er sich zu ihm. »Mensch, Thies, das hat mich ganz schön geschockt, als du mir das mit Vetter am Telefon erzählt hast«, sagte Diekmann, während er das Bier in sein Glas laufen ließ. »Wie geht es ihm? Kommt er durch?«
Martens blickte nachdenklich ins Leere. »Wenn ich das wüsste«, sagte er. »Steht auf der Kippe, sagen die Ärzte. Mann, das ist vielleicht eine verdammte Scheiße! Ulrich ist zwar schon immer volles Risiko gegangen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es mal so weit kommt.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich frage mich mittlerweile, ob wirklich dieses rechte Gesocks dahintersteckt.« »Warum das?«, fragte Diekmann. »Die sind doch als gewaltbereit bekannt, um ihre kruden Vorstellungen durchzusetzen und auch wenn ihnen einer auf die Füße tritt.« Martens wiegte langsam den Kopf. »Es ist die Art und Weise. Ulrich wurde ja nicht von irgendwelchen Glatzen auf offener Straße zusammengedroschen. Nee, das waren nicht diese braunen Typen. Die wollten nicht mal eben ein bisschen Dampf ablassen und ihm die Lust auf weitere Nachforschungen verderben. Die das waren, hatten es ganz gezielt auf Ulrichs Recherchematerial abgesehen.« »Die Rechten könnten doch aber genauso gut hinter seinen Unterlagen her gewesen sein«, meinte Diekmann. »Glaube ich nicht«, entgegnet Martens, »was er bisher über die gesammelt hat, war noch nicht sehr umfangreich. Nicht genug, um ihnen wirklich zu schaden. Er stand erst am Anfang. Ich bin mir sicher, das waren andere.« »Und wer? Hast du eine Ahnung?« Die Tür wurde geöffnet. Eine schlanke,
großgewachsene Frau trat in den Raum. Braungebrannt, mit dunkelblonden, kurz geschnittenen Haaren, die frech in allen Richtungen vom Kopf abstanden. Ihr Gesicht strahlte eine Frische aus, die Diekmann sofort an Wind und Wellen erinnerte und ihm bewusst machte, in welchem Landstrich er sich aufhielt. Mit dynamischen Schritten kam sie auf den Tisch zu und stellte zwei Teller mit Pizza darauf ab. Nachdem Martens seine Frau Verena und seinen Gast miteinander bekanntgemacht hatte, tauschten sie ein paar freundliche Worte aus, während derer Diekmann hungrig zu den Tellern schielte. »So, Herr Kollege, jetzt lass uns erst mal was essen«, sagte Martens, als sie einige Minuten später wieder allein waren. Dann widmeten sie sich schweigend ihrer Pizza. »Wer hat also deiner Meinung nach Vetter zusammengeschlagen, wenn es nicht die Nazis waren?«, unterbrach Diekmann nach einer Weile das stumme Kauen. »Na ja, du hast mich am Telefon auf seine Reportage über die russischen Waffenarsenale zur Wendezeit angesprochen«, begann Martens. »Genau. Und an der Stelle wolltest du nicht so richtig mit der Sprache raus. Für mich hörte sich das so an, als ob er an dem Thema drangeblieben ist und irgendwas ausgegraben hat. Liege ich damit richtig?«
»Liegst du«, bestätigte Thies. »Ein verdammt heikles Thema, wie du dir vorstellen kannst. Das sind keine Peanuts. Es geht um Waffenhandel im großen Stil. Weißt du, dass der Bestand an unerlaubten Waffen seit dem Zusammenbruch der DDR in der Bundesrepublik Deutschland sprunghaft angestiegen ist? Fakt ist bis heute, dass der illegale Waffenhandel äußerst lukrativ ist und die Gelegenheit, einfach an eine große Anzahl von Waffen zu kommen, nie so günstig war wie damals zur Wende. Ulrich ist ziemlich tief in die Materie vorgedrungen. Er war während seiner laufenden Recherchen schon mit ein paar kleineren Artikeln zum Thema an die Öffentlichkeit gegangen. Zwischenberichte, sozusagen.« »Warum hat er nicht die Staatsanwaltschaft von seinen Erkenntnissen unterrichtet?«, wunderte sich Diekmann. Martens lachte leise. »Wegen der fehlenden Beweise. Der Handel spielte sich damals zum Teil auf höchster politischer Ebene ab. Da hatten Funktionäre, Mandatsträger und Abgesandte ihre Finger im Spiel, die Hand in Hand gearbeitet und sich gegenseitig geholfen und gedeckt haben. Ein extrem komplexes Beziehungsgeflecht. Zum Beispiel wurde von einem Handelsattaché der DDR-Botschaft versucht, die noch vom DDR-Staat mit Indien eingeleiteten Waffengeschäfte auf privater Basis zu realisieren, nachdem der Arbeiterund Bauernstaat dem Untergang geweiht war.
Dann die ganzen russischen Waffen, die zum Teil unkontrolliert von den Sowjets für wenig Geld verscherbelt worden sind. Die Geschäfte laufen bis heute, auch oder insbesondere über die altbewährten Kontakte von damals. Blöd ist nur, dass es verdammt schwer ist, das Geflecht zu durchdringen und die Drahtzieher und Hintermänner zu fassen. Wirklich Angst zu haben braucht von denen keiner. Die sind damals in der Wendezeit davon ausgegangen, dass sie ein, zwei Jahre etwas verdeckt arbeiten müssten, bis man in Deutschland zur Tagesordnung übergegangen wäre und sich niemand mehr um ihre Geschäfte kümmern würde. Die fühlten sich sehr sicher. Ulrich wusste das und er war auch nicht der Erste, der darüber geschrieben hat. Da haben sich schon ganz andere die Zähne dran ausgebissen.« »Und warum hat er trotzdem weitergemacht?«, wunderte sich Diekmann. Martens lächelte sein Bierglas an. »Es hat ihn gefuchst, dass niemand den Verantwortlichen wirklich beikommen konnte und kann. Er sagte mal zu mir, sobald du glaubst, du bist ganz nahe dran, baut sich eine Wand vor dir auf und du läufst dagegen. Er führt das auch auf die alten Stasi-Seilschaften zurück. Die Typen haben damals kräftig mitgemischt, hatten hervorragende Verbindungen. Ulrich glaubt, die nötigen finanziellen Mittel hätten sie seinerzeit aus dem SED-Vermögen abgezweigt, unter anderem um russische
Waffen billig einzukaufen und dann den großen Reibach damit zu machen. So hätten sie die Basis für ihre Geschäfte gelegt, denen sie bis heute ungehindert nachgehen würden. Davon ist er überzeugt. Bis er überfallen worden ist, hat er alles darangesetzt, was Gerichtsverwertbares ausfindig zu machen. Richtig festgebissen hat er sich. Er war schon immer ein Terrier.« Diekmann hatte aufmerksam zugehört. Er schob sein letztes Stück Pizza in den Mund und kaute einen Moment bedächtig, ehe er sagte: »Wenn ein Mann fast zu Tode geprügelt und ihm sein Recherchematerial gestohlen wird, dann ...« Er zögerte einen Moment. Dafür sprach Martens seinen Gedanken laut aus: »Dann ist er bei seinen Nachforschungen auf etwas Brisantes gestoßen. Ganz genau.« »Hat er mit dir darüber gesprochen?« Martens schüttelte den Kopf. »Ich bin selbst dahintergekommen. Zwei Tage nach dem Angriff auf Ulrich. Als sein bester Freund war ich immer in seine Arbeit eingeweiht, zumindest oberflächlich. Und ich wusste, dass Ulrich sich schon immer Sicherungen von seinem Material angefertigt und sie versteckt hat. Die Kopien mussten noch da sein.« Er nickte. »So war es dann ja auch.« »Du wusstest also, wo du sie finden kannst?« Diekmann zog die Augenbrauen hoch. »Hatte er dir sein Versteck verraten?«
Martens lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. »Hatte er nicht. Aber seine Taschenuhr ...« Martens grinste selbstgefällig. »Was?« »Ulrich besitzt eine antik aussehende Taschenuhr. Klobiges Ding. Die hat er ständig mit sich rumgeschleppt. Hat sich nie von ihr getrennt. Ich dachte, es ist so ’ne Macke von ihm. Immer ein bisschen geheimnisvoll hat er damit getan. Weißt du, was richtig komisch war an der Uhr?« »Nee, keine Ahnung.« »Sie ging überhaupt nicht. Sie hat immer dieselbe Zeit angezeigt.« Martens kicherte in sich hinein. »Als ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, wo Ulrichs Sicherungen versteckt sein könnten, ist mir plötzlich die Uhr wieder in den Sinn gekommen.« Diekmann zog verdutzt die Augenbrauen hoch. »Du meinst, darin hat er die Kopien aufbewahrt? Was ist das denn für ein Versteck?« »Verrückt, was?« Martens’ Augen strahlten triumphierend. »Unter dem Deckel auf der Rückseite gibt es kein Uhrwerk, sondern nur einen Hohlraum, genügend Platz für einen kleinen USB-Stick. Ein ideales Versteck, diese Uhr. Keiner kommt drauf, auch wenn er sie direkt vor der Nase hat. Ich habe mir die Uhr über Ulrichs Frau beschafft. Sie ist immer noch mit ihm verheiratet, obwohl sie schon Jahre
getrennt leben. Und sie mag mich. Wenn ich sie um einen Gefallen bitte, erfüllt sie mir den meist, ohne viele Fragen zu stellen. Sie ist hingegangen und hat sich die Wertsachen geben lassen, die Ulrich nach dem Überfall noch bei sich getragen hatte. Einfach so. Keine Probleme. Die Uhr war auch darunter.« »Nicht schlecht«, murmelte Diekmann anerkennend und rieb sich das Kinn. »Aber worum geht es denn nun in dieser Geschichte? Ist die es denn tatsächlich wert, dafür einen Menschen fast umzubringen?« Martens starrte auf seinen leeren Teller. Nach einer kleinen Pause sagte er: »Ich denke schon. Und nicht nur einen Menschen, sondern jeden, der in den Besitz der Informationen gelangt und den Hinweisen darin nachgeht. Für die Betroffenen steht nämlich eine Menge auf dem Spiel.« »Von wem redest du?«, fragte Diekmann. »Ulrich ist vor nicht ganz einem Jahr kontaktiert worden«, begann Martens. »Von jemandem, der über einen seiner Artikel zum Thema illegale Waffengeschäfte und die Stasi gestolpert war. Sie haben sich daraufhin getroffen und miteinander geredet. Ulrich hat das Gespräch aufgezeichnet und auch sonst alles dokumentiert, was er seit der Kontaktaufnahme mit dem Mann recherchiert hat. Über den Informanten selbst konnte ich nichts finden. Es gibt nur die Stimme von ihm. Allerdings hat er auch ganz deutlich gesagt,
dass er um jeden Preis anonym bleiben will. Der Typ muss verdammte Angst haben, so gehetzt und nervös, wie der redet. Du wirst das nachher noch hören. Ulrich ist die Geschichte des Mannes jedenfalls glaubwürdig genug erschienen, um ihr nachzugehen. Es ist schon verdammt haarig, was er daraufhin ausgegraben hat. So, ich spiel dir jetzt mal das Gespräch mit seinem Informanten vor.« Martens holte hinter der Theke ein Notebook hervor, kam damit zum Tisch zurück und startete es. Der USB-Stick, den er danach aus seiner Hosentasche zauberte, war noch kleiner, als Diekmann vermutet hatte. Kurz darauf lauschten die beiden Männer schweigend dem Bericht. Der Kontaktmann war Zeuge eines Waffendeals in der Döberitzer Heide geworden, auf einem sowjetischen Truppenübungsplatz. Aus seinem Versteck heraus hatte er das Geschehen beobachtet und konnte sich auch nach einem Vierteljahrhundert noch an jede Einzelheit erinnern. Sogar das genaue Datum war ihm im Gedächtnis geblieben: der 16. August 1990. Als er die drei Zivilisten erwähnte, von denen kurz nach ihrem Auftauchen zwei erschossen worden waren, horchte Diekmann auf. »Moment«, rief er und stoppte die Aufzeichnung. »Was haben denn die Zivilisten da mitten in der Nacht gesucht?« Martens zuckte mit den Achseln. »Tut mir
leid. Darüber hat Ulrich nichts vermerkt.« »Auch nicht, wer die waren?« »Von einem weiß er es. Ein Russe namens Adam.« Diekmann riss erstaunt die Augen auf. »Adam? Leo Adam?« »Richtig. Leo Adam. Restaurantbesitzer in Bad Sachsa. Verstorben am vergangenen Freitag.« »Du hast davon gehört?« »Allerdings. Mir ist dank Ulrichs letzten Rechercheeinträgen auch bekannt, dass der ermordete Leonid Poljakow, den du am Telefon erwähnt hast, und Leo Adam ein und dieselbe Person sind. Und ich weiß sogar noch einiges mehr.« »Zum Beispiel?« »Der Mann war früher in der sowjetischen Botschaft in Bonn tätig. Ist etwa im August, September 1990 verschwunden und gut zehn Jahre später als Leo Adam wieder aufgetaucht. Aber der Reihe nach. Lass uns erst wieder über den Waffendeal sprechen.« »In Ordnung«, sagte Diekmann. »Kann ich denn davon ausgehen, dass es bei diesem nächtlichen Stelldichein auf dem Truppenübungsplatz um die Art Waffengeschäft ging, die du mir anfangs geschildert hast?« »Kannst du.« »Dann ist mir allerdings völlig unerklärlich,
warum die NVA-Typen so ein Blutbad angerichtet haben sollen. Haben die irgendeine Rechnung miteinander offen gehabt? Fühlten sie sich betrogen? Und die toten Zivis? Kollateralschaden? Oder steckten die irgendwie mit drin? Dann wäre wenigstens halbwegs einleuchtend, warum die da auf der Bildfläche erschienen sind.« »Darüber kann ich auch nur spekulieren«, gab Martens bedauernd zu. »Aber hör mal weiter.« Diekmann horchte auf, als der Informant plötzlich auf einen der beiden deutschen Offiziere zu sprechen kam und ihn Wassermann nannte. Reflexartig zuckte seine Hand vor und er stoppte die Aufzeichnung erneut. »Wassermann? Das habe ich schon mal gehört. Mein Hauptkommissar, Ingo Behrends, sprach von einem Wassermann, als er mich auf diese Sache hier angesetzt hat.« Er und runzelte die Stirn. »Ingo meinte, es könnte ein Deckname sein.« Martens grinste verächtlich. »Eher ein Spitzname. Den richtigen Namen wollte der Informant nicht nennen. Aus Angst. Aber Ulrich hat das recherchiert und ist dahintergekommen. Und zwar erst einen Tag, bevor er überfallen worden ist.« »Und«, fragte Diekmann, »wer ist dieser Wassermann?« »Er heißt Passlack. Ehemals Major und hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums
für Staatssicherheit. Damals bekannt als eben dieser Wassermann. Wegen seiner Verhörmethoden, bei denen er sich mit Vorliebe der Wasserfolter bediente. Zum Beispiel hat er Häftlinge in speziellen Zellen stundenlang im Wasser stehen lassen, mit Tropfvorrichtungen über dem Kopf.« »Und der wurde später nie verhaftet und angeklagt?« Martens winkte ab: »Es gibt nur Aussagen von ehemaligen Häftlingen. Beweise? Fehlanzeige. In manchen Internetforen heißt es sogar, dass es diese Foltermethoden und die Vorrichtungen nie gegeben hat.« Er zog seine Mundwinkel verächtlich nach unten. »Dieser Passlack hat es jedenfalls, ich vermute dank seiner Beziehungen, sogar geschafft, seine DDR-Vergangenheit vollkommen abzustreifen. Ist heute Bundestagsabgeordneter. Aus einem eurer Wahlkreise da unten.« Diekmann fuhr überrascht zusammen und stieß dabei fast das Bierglas um, nach dem er gerade greifen wollte. »Der Passlack?«, rief er. »Joachim Passlack?« Martens nickte. »Ich fasse es nicht. Und jetzt mischt der als aufrechter Demokrat zum Wohle des Volkes wieder kräftig mit? Da, wo die Weichen gestellt werden? Ich nehme an, er agiert hauptsächlich zu seinem eigenen Wohl.« »Anzunehmen«, stelle Martens lakonisch fest. »Er arbeitet Ulrichs Recherchen zufolge als
Lobbyist der Rüstungsindustrie. Das heißt allerdings nicht zwangsläufig, dass er heute noch in illegale Machenschaften verstrickt ist. Aber mit dem, was dieser Kontaktmann Ulrich erzählt hat, könnte man ihn vermutlich wegen der Sache auf dem Truppenübungsplatz rankriegen. Das war offensichtlich kaltblütiger Mord.« Diekmann zupfte sich zweifelnd am Ohrläppchen. »Die Aussage eines anonymen Informanten. Du weißt selbst, wie viel die wert ist, wenn es hart auf hart kommt. Nichts. Aber Vetter muss doch Beweise für die Geschichte haben. Etwas, was vor Gericht bestehen würde. Andernfalls hätte es überhaupt keinen Sinn gehabt, ihn mundtot zu machen.« »Dazu reicht allein die Angst, er könnte belastendes Material haben«, entgegnete Martens, »oder die Sorge, er könnte bei seinen Recherchen darauf stoßen. Aber hör erst mal weiter.« Sie lauschten wieder dem Tondokument. Der Zeuge erwähnte, dass der Wassermann sein Leben ruiniert habe, ohne allerdings ins Detail zu gehen. Er erklärte, dass er all die Jahre geschwiegen habe, aus Angst, erneut verfolgt und möglicherweise getötet zu werden. Aber von Rache geträumt habe er schon. Als er auf Vetters Reportage aufmerksam geworden sei, habe er endlich allen Mut zusammengenommen und beschlossen, Vetter
seine Geschichte anzuvertrauen. Und er habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass der Russe, der den beiden NVA-Offizieren damals auf dem Truppenübungsplatz entwischt war, heute der Besitzer eines Restaurants sei: das Gagarin in Bad Sachsa. Er habe es auf einer Harz-Tour besucht und den Russen sofort wiedererkannt. Martens beendete das Tondokument. »Alles Weitere werde ich für dich zusammenfassen«, sagte er. »Ich habe ein paar Stunden gebraucht, um durch Ulrichs Aufzeichnungen durchzusteigen und die Zusammenhänge zu begreifen.« Diekmann nickte. »Ist wohl das Beste. Also los! Ich bin gespannt.« »Moment noch.« Martens stand auf und steuerte die Theke an. Er fischte zwei neue Bierflaschen unter dem Tresen hervor. »Der Informant hätte sich wohl nie an Ullrich gewandt«, sagte er, während er die Flaschen öffnete, »wäre ihm Leo Adam oder Leonid Poljakow in dem Restaurant nicht über den Weg gelaufen. Der Russe war der lebende Beweis für das, was er gesehen und erlebt hatte.« »Weißt du, mich lässt die Frage einfach nicht los, warum Adam und die anderen beiden Zivis damals überhaupt auf dem Truppenübungsplatz gewesen sind«, unterbrach Diekmann ihn. »Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir,
dass die von diesem Waffendeal gewusst haben. Zum Camping waren die garantiert nicht in der Gegend.« »Dein Scharfsinn ist bewundernswert«, flachste Martens. Er nahm einen Schluck aus dem Bierglas, setzte es ab und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Ein selbstzufriedener Ausdruck legte sich über sein Gesicht.
17. Es war die Hand seiner Frau, die Grischke unsanft aus seinem Traum riss. »Was ... was ist?«, stammelte er schlaftrunken. »Stell das fürchterliche Ding ab«, fauchte sie und schüttelte ihn an der Schulter, »ist schließlich deins.« Jetzt hörte auch er den schrillen Klingelton seines Handys. Mitten in der Nacht! Welcher Idiot rief denn um diese Zeit an, verdammt? Ein Scherzkeks, der ihn ärgern wollte? Oder hatte sich jemand verwählt? Egal, dem würde er die Meinung geigen! Grischke wurschtelte sich umständlich aus dem Deckbett, in das er sich im Schlaf immer einrollte – er wusste selbst nicht, wie er das schaffte – und strauchelte zu dem Stuhl, auf dem er jeden Abend seine Kleidung ablegte. Das Klingeln kam aus der Tasche seiner Arbeitshose. Er zog das Handy heraus, blickte auf das Display und zuckte zusammen. Jana! »Oh, Mist!«, entfuhr es ihm etwas zu laut. »Wieso ruft das Mädchen ...« »Was brabbelst du da?«, unterbrach ihn die nölige Stimme seiner Frau. »Nichts, gar nichts«, knurrte er erschrocken und drückte den Anruf weg, »schlaf weiter. Irgend so ’n Idiot hat die falsche Nummer
gewählt. Ich bring das Ding jetzt mal raus.« Er verließ das Zimmer und tippte, noch während er in den Flur trat und die Küche gegenüber ansteuerte, eine SMS in das Handy. Mittlerweile war er geschickt genug im Umgang mit dem Gerät, dass er das im Gehen schaffte. »Rufe gleich an«, schrieb er und sandte die Nachricht ab. Dann legte er das Handy auf den Küchentisch und ging zurück ins Schlafzimmer, um nach fünf Minuten erneut aus dem Bett zu steigen. »Was ’n los mit dir?«, nuschelte seine Frau. Er hatte gehofft, sie sei in der Zwischenzeit wieder eingeschlafen, sie schien sich aber noch in der Übergangsphase zu befinden. »Klo«, flüsterte er. »Mhm.« Mehr kam nicht von ihr, vermutlich auch deshalb, weil sie an seine nächtlichen Ausflüge zur Toilette gewöhnt war, die er gelegentlich unternahm. Altersbedingte Blasenschwäche hatte auch ihr Gutes. Zumindest in diesem Moment empfand er es so. Sicherheitshalber verdrückte sich Grischke dann mit dem Handy tatsächlich auf die Toilette und blieb nicht in der Küche sitzen. Er verriegelte die Tür, hockte sich auf den Toilettendeckel und wählte. Jana hob nach dem ersten Läuten ab. »Mensch, Mädchen, was ist denn los?«, fragte er ungehalten mit unterdrückter Stimme, »weißt du nicht, wie spät es ist?«
»Doch, schon. Aber es ist was passiert. Ich brauche deine Hilfe!« Ihre zitternde Stimme versetzte ihn sofort in Alarmbereitschaft. »Dann erzähl mal«, sagte er und musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Sie redete hastig. Ihr Akku sei fast leer, sagte sie. Er musste sie zur Ruhe mahnen. Schließlich begriff er, was geschehen war. Er atmete er ein paarmal tief durch. In Sekundenbruchteilen schoss ihm das Für und Wider dessen durch den Kopf, was er gleich tun würde. Eigentlich sollte ihn die Geschichte nichts mehr angehen. Eigentlich sollte er ihr sagen: »Tut mir leid, ich kann dir nicht helfen.« Und sich wieder ins Bett zu seiner Frau legen. Eigentlich war er viel zu alt für so einen Scheiß! Eigentlich, eigentlich ... eigentlich stand für ihn fest, dass ihm das völlig egal war. Er musste dem Mädchen helfen. Sie ihrem Schicksal zu überlassen, kam nicht infrage! »Was ist jetzt?«, rief sie. »Mein Smartphone schaltet sich gleich ab!« »Hör zu, Jana«, sagte er in beschwörendem Ton, »wir treffen uns in anderthalb, spätestens zwei Stunden. Zuerst musst du aber da weg, wo du jetzt bist. Bevor die Kerle noch mal nach dir suchen und dich erwischen. Der Parkplatz am Oderteich. Du musst am Oderteich vorbeigekommen sein, erinnerst du dich?« Sie bejahte seine Frage, und er fuhr fort: »Dahin schlägst du dich durch, es sind so etwa fünf Kilometer, schätze ich. Das solltest du in der
Zeit gut schaffen. Auf dem Parkplatz lade ich dich dann ein. Und halt dich möglichst von der Straße fern. Bleib im Wald, da bist du sicher.« Als er aufgelegt hatte, schlich er ins Schlafzimmer zurück und setzte sich im Dunkeln auf die Bettkante. Es klang zwar so, als schlafe seine Frau wieder tief und fest, aber er wollte ganz sichergehen. Eine Viertelstunde ließ er verstreichen, in der er sich kaum regte und angestrengt den Schlafgeräuschen seiner Frau lauschte. Erst dann erhob er sich, nahm seine Kleider vom Stuhl und tapste barfuß aus dem Zimmer. Im Bad zog er sich an. Er verstaute das Handy, seine Papiere, ein paar Scheine Bargeld und seine Kontokarte in der Jackentasche und schlich danach in den Keller. Unten in der Waschküche hingen, wie erhofft, auch ein paar Frauensachen auf der Leine, frisch gewaschen und so gut wie trocken. Sie gehörten seiner Schwiegertochter. Die war ungefähr so groß wie Jana, schätzte er. Gut, ein bisschen fülliger, das schon, aber das war im Moment eher nebensächlich. Er riss die Sachen – Strümpfe, Unterwäsche, ein Sweatshirt und den Overall, den sie bei der Arbeit in der Gärtnerei trug – von der Leine und stopfte sie in einen blauen Plastiksack. Dazu fischte er noch ein Paar von ihren Arbeitsschuhen aus dem Regal. Taschenlampe und Feldstecher befanden sich ohnehin in seinem Geländewagen. Damit sollte er alles beisammenhaben. Er verharrte, horchte einen Moment ins Haus hinein. Alles war still,
niemand schien etwas von seinem Treiben mitbekommen zu haben. Er wollte gehen, doch plötzlich fiel ihm noch etwas ein. Eine Nachricht sollte er seinen Lieben schon hinterlassen. Nicht, dass die sich Sorgen machten, wenn sie morgen früh seine Abwesenheit bemerkten. Er schlich zurück nach oben in die Küche und schrieb auf einen Zettel genau das: »Macht euch keine Sorgen. Bin bald wieder da.« Danach verließ er das Haus durch den Keller und die Tür, die nach hinten zum Hof hinausging. Dort stand sein Mitsubishi. Selbst wenn das Starten und Wegfahren des Wagens etwas Lärm verursachte, würde das niemandem auffallen. Nicht an einer Straße, auf der auch nachts immer wieder Autos vorbeifuhren. Jana kam bibbernd und mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihn zugelaufen, als er auf den Parkplatz am Oderteich einbog. Er machte sich nicht die Mühe, an den Rand zu fahren, sondern hielt mitten auf dem Platz. Kaum stand der Wagen, war sie schon an der Beifahrertür und riss sie auf. »Gott sei Dank«, stöhnte sie zähneklappernd, »ich frier mich tot.« Es war draußen noch immer angenehm mild, trotzdem drehte Grischke sofort die Heizung auf die höchste Stufe. »Los, Mädchen, steig ein«, forderte er sie auf und wartete, bis sie sich auf den Beifahrersitz geschwungen hatte. Dann fuhr er weiter, in die hinterste Ecke des
Platzes, außerhalb des Sichtfeldes, das man von der Straße aus hatte. »So«, sagte er, »jetzt erst mal raus aus den nassen Klamotten. Hinter dir auf der Rückbank, in dem Sack, da sind ein paar Sachen von meiner Schwiegertochter. Sind wahrscheinlich etwas zu groß, aber es wird schon gehen. Besser, als wenn du dir ’ne Lungenentzündung holst.« Jana warf einen kurzen Blick über ihre Schulter, dann sah sie Grischke fragend an. Er verstand sofort. »Schon gut, ich gucke dir nichts weg. Ich warte draußen, bis du fertig bist, und vertrete mir ein bisschen die Beine.« Amüsiert grinsend verließ er den Wagen. »Gut siehst du aus«, stellte er nicht ganz wahrheitsgemäß fest, als sie ihm signalisierte, dass er wieder einsteigen könne. Ein wenig wirkte sie in dem Overall, als habe sie jemand in einen Sack gesteckt, aus dem nur ihr Kopf lugte. Angesichts der Probleme, die vor ihnen lagen, schien das etwas zu groß geratene Kleidungsstück jedoch das geringste Übel. »Wie geht es dir eigentlich?«, fragte Jana, die sich jetzt sichtlich wohler zu fühlen schien. Sie zeigte auf seinen Kopfverband. »Noch sehr schlimm?« »Ach was!«, winkte Grischke ab. »Den neuen Turban haben sie mir im Krankenhaus verpasst. Nicht so schön wie deiner, finde ich. Und auch gar nicht mehr nötig. Ist doch nur ’ne kleine Schramme.« »Und dein Arm?«
»Nur ’ne Prellung«, brummte er. »Nichts, was mich umbringt.« Natürlich hatte er noch Schmerzen, aber das musste er ihr ja nicht auf die Nase binden. Sie legte den Kopf schief, musterte ihn skeptisch. »Na gut«, sagte sie schließlich, »und jetzt?« »Jetzt nehmen wir die Bavaria Alm mal etwas genauer unter die Lupe«, beschloss er. »Vielleicht rechnen deine Verfolger ja nicht mehr mit dir und sind längst abgehauen.« »Glaubst du das wirklich, Eddie?« Sie nannte ihn Eddie, was Grischke gutmütig tolerierte. Er zuckte nur mit den Schultern. »Und wenn sie noch da sind und warten?« »Dann überlegen wir uns was«, erwiderte er kämpferisch und startete den Mitsubishi. Als sie sich den ersten Gebäuden des Resorts näherten, drosselte Grischke das Tempo und ließ den Wagen fast im Schritttempo weiterrollen. »Nimm mal den Feldstecher aus dem Handschuhfach und sieh dich ein bisschen um«, forderte er Jana auf. »Vielleicht entdeckst du sie ja.« Sie brauchte nicht lange. Nach wenigen Sekunden erblickte sie den Van. Ihre beiden Verfolger hatten den alten Beobachtungsposten gegenüber der Parkplatzeinfahrt noch nicht wieder verlassen. »Da sind sie«, raunte sie, »verdammte Scheiße. Keine Chance, an mein Motorrad
ranzukommen.« »Was ist mit dem Nummernschild?«, fragte Grischke. »Moment ... ja, jetzt sehe ich es.« »Schreib es auf. Im Handschuhfach findest du Stift und Zettel.« Während Grischke den Wagen langsam weiterrollen ließ, notierte Jana die Buchstabenund Ziffernfolge. Dann warf sie dem Alten einen besorgten Blick zu. »Willst du wirklich da vorbeifahren? Und dann in dem Schneckentempo? Wenn die uns bemerken!« »Wie denn?«, fragte Grischke. »Die kennen mein Auto doch gar nicht. Außerdem sind die bestimmt ganz auf deine Maschine fixiert ... und auf die da.« Er deutete zur Bavaria Alm hin, die sie soeben passierten. Mehrere Streifenwagen standen in der Nähe des Hauses, zwei uniformierte Beamte steuerten auf Janas Motorrad zu. »Kannst du dir erklären, was die Staatsmacht da treibt?« »Keine Ahnung«, flüsterte sie. »Okay, ich habe vorhin nicht bezahlt. Aber deshalb so einen Auflauf?« Sie konnte ihre Anspannung nicht verbergen. »Wir sollten besser machen, dass wir hier wegkommen.« »Vielleicht hast du Recht.« Der Alte nickte und gab endlich Gas. Knapp fünf Kilometer fuhren sie auf der B4 weiter in Richtung Bad Harzburg. Hinter einer lang gezogenen Linkskurve bog Grischke auf einen Parkplatz ab, den er überquerte und
dann einen Weg nach rechts in den Wald hinein nahm. Nach etwa zweihundertfünfzig Metern brachte er den Wagen an einem kleinen See zum Stehen. »Der Marienteich«, sagte er zufrieden. »Hier sind wir fürs Erste sicher. Ich fahre etwas vom Weg runter unter die Bäume, und dann wirst du ein bisschen schlafen. Ist zwar im Wagen nicht so bequem wie im Bett, aber es geht. Du siehst verdammt fertig aus, weißt du das?« »Aber ich ...« »Kein Aber«, unterbrach er ihren Protest schon im Ansatz, »du musst nachher fit sein, wenn wir das, was du suchst, finden wollen. Und die Typen, die dir auf den Fersen sind, müssen wir uns auch vom Hals halten.« »Wir? Hast du wir gesagt?« »Ich begleite dich«, sagte Grischke in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Außerdem brauchst du einen fahrbaren Untersatz. Dein Motorrad kannst du vermutlich vergessen. Also bist du ohne mich aufgeschmissen.« Sie sah in ein Gesicht voller Entschlossenheit und Abenteuerlust. »Oh Mann«, stöhnte sie, schwankend zwischen Ablehnung und Dankbarkeit, »bist du nicht schon ein bisschen alt für so was?« Grischke schnaubte, tat entrüstet: »Willst du mich beleidigen?« »Nein, natürlich nicht! Ich bin ja auch froh, dass du mir helfen willst, nur ...«
»Dann machen wir es so«, erstickte er ihren Widerspruch. »Und bevor du dich jetzt ausruhst, gib mir mal ein paar Informationen. Weißt du schon, wo du diese Beweise suchen musst? Hast du die Botschaft aus der Matrjoschka entschlüsselt?« »Tja, mir ist da leider was Dummes passiert«, murmelte sie schuldbewusst und erklärte ihm ihr Missgeschick mit der Zigarette. Danach erzählte sie noch einmal ausführlich alles, was ihr seit ihrer Ankunft auf der Bavaria Alm zugestoßen war. »Was ist?«, fragte Jana, als sie mit ihrem Bericht zum Ende gekommen war. Grischke saß in sich zusammengesunken auf dem Fahrersitz und starrte scheinbar teilnahmslos vor sich hin. »Nichts«, brummte er, »ich denke nur gerade über den Namen Albrechtshaus nach. Leo hat ihn erwähnt, daran erinnere ich mich. Im Zusammenhang mit seinem Freund, diesem Doktor. Verdammt, was war das gleich noch?« Er massierte sich kurz mit den Fingern die Stirn, als könne er so sein Gedächtnis in Schwung bringen. Dann ließ er die Hand wieder sinken und regte sich nicht mehr. Ein, zwei Minuten saß er wie versteinert da. Jana wagte nicht, ihn zu stören. Plötzlich versetzte er dem Lenkrad einen heftigen Schlag. »Ja, ich wusste es«, stieß er aus, »das ist eine Lungenheilanstalt oder Reha-Klinik! Keine Ahnung, was genau. Dieser Doktor hat da
gearbeitet. Ich bin mir fast sicher, dass wir da suchen sollten.« »In der Klinik? Wieso bist du dir so sicher?« »Weiß ich nicht«, gab Grischke zu, »ist nur so ein Gefühl. Leo hat ab und zu in seinem besoffenen Kopf von der Klinik gefaselt. Und von einer Krypta, die es da geben soll. Ich habe nie verstanden, was es damit auf sich hatte. Kann sein, dass er da mal als Patient war. Keine Ahnung.« »Krypta!«, stieß Jana aus. »Was?« »Krypta, das stand auf dem Zettel. Mit ‚i’ geschrieben, aber egal. Ob es in der Klinik eine Krypta gibt? Das würde passen.« Grischke zuckte mit den Schultern. »Eine Krypta ist doch so was wie eine Gruft unter einem Kirchenaltar. Mit Gebeinen von Heiligen oder so. Also, ich bin mir nicht sicher, ob er das gemeint hat. Vielleicht bedeutet es auch was ganz anderes.« Jana holte tief Luft. »Zum Kotzen, dieses Rätselraten!«, stieß sie aus. »Wo liegt die verfluchte Klinik überhaupt?« Grischke kratzte sich am Kopf. »Drüben, im Osten. Irgendwo in der Nähe von ... kannst du das nicht über dein Dings ... dein Smartphone rauskriegen? Muss doch im Internet zu finden sein.« »Der Akku ist leer.« Jana holte ihr Smartphone hervor und legte es aufs Armaturenbrett. »Und jetzt rate mal, wo mein
Ladekabel ist.« »Müssen wir wohl ein neues kaufen«, antwortete Grischke lapidar. »Am besten mit Stecker für den Zigarettenanzünder. Haben sie vielleicht an ’ner Tankstelle. Muss das was Spezielles sein?« »Nichts Besonderes. Ein einfaches USBKabel.« Der Alte überlegte kurz, öffnete das Handschuhfach und ließ seine Hand darin verschwinden. Gleich darauf tauchte sie wieder auf. »Geht so was hier?« Zwischen seinen Fingern hielt er ein kleines schwarzes Gerät in Form und Größe einer Zigarettenschachtel und ein USB-Kabel. »Eine Powerbank? Wo hast du die denn auf einmal her?« Er zuckte mit den Schultern und grinste. »Mein Enkel. Diese Gören sind heute mit allem technischen Schnickschnack ausgerüstet. Und manchmal lassen sie was davon in Opas Auto liegen.« Jana nahm das Gerät und schloss das Kabel an ihr Smartphone an. »So ein Mist!«, fauchte sie plötzlich. »Was? Passt es nicht?« »Doch! Es lädt schon. Aber die Typen, die hinter mir her sind!« »Was ist mit denen?« »Die haben nicht nur mein Ladekabel. Die haben auch meine Wanderkarten! Der Name
Albrechtshaus steht auf dem Kartenrand. Hab ich blöde Kuh draufgeschrieben und dick unterstrichen. Wenn die nicht ganz und gar vertrottelt sind, werden sie eins und eins zusammenzählen.« »Dann hoffen wir mal, dass sie dafür eine Weile brauchen. Vermutlich wissen sie nicht mehr mit dem Namen anzufangen als du, bevor ich dir das von der Klinik gesagt habe. So, und jetzt hau dich endlich hin und versuch, etwas zu schlafen. Das Internet kannst du morgen durchsuchen, wenn wir unterwegs sind. Wir sollten so früh wie möglich fahren.«
18. »Ulrich hat übrigens, nachdem er von Leo Adam wusste, mehrfach versucht, zu dem Russen telefonisch Kontakt aufzunehmen und ist jedes Mal abgeblitzt«, sagte Martens. »Es gab sogar eine persönliche Begegnung mit dem Mann in Bad Sachsa. Aber nur kurz. Der hat ihn gar nicht erst zu sich hereingelassen, sondern ihn gleich an der Haustür abgefertigt.« »Aber er hat es damit doch sicher nicht auf sich beruhen lassen, oder?« Martens schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Er hat versucht, alles über den Mann herauszufinden, was möglich ist.« »Und was genau ist das?«, fragte Diekmann. »Nun, er ist zunächst mal ziemlich schnell auf den Namen Leonid Poljakow gestoßen. Bis zuletzt hat er sich mit ihm befasst und versucht, herauszufinden, welche Rolle er in dem Waffendeal gespielt hat. Er hat erfahren, dass der Russe während seiner Dienstzeit in der Botschaft zu einem Mann in Kontakt stand, der mit der Auswertung und Analyse von Daten zu tun hatte, die ihm von den militärischen Aufklärungsdiensten geliefert wurden. Eugen Struve, ein Russlanddeutscher. War in Trier stationiert. Ich schließe daraus, dass dieser Mann auch Daten vom Stöberhai
ausgewertet hat und über seine Arbeit vermutlich deinen Bernd Achilles kannte. Dessen Name habe ich in Ulrichs Unterlagen allerdings nicht gefunden.« »Und? Hat Vetter herausgefunden, wieso Poljakow und die zwei anderen auf dem Truppenübungsplatz aufgetaucht sind?«, wollte Diekmann wissen. »Na ja, er hatte den Verdacht, dass einige der Informationen, die bei Struve eingingen, in der Wendezeit möglicherweise für gewisse Geschäftsanbahnungen missbraucht werden konnten.« »Hat er denn mal mit diesem Struve gesprochen?« »Konnte er nicht. Der ist damals nämlich auch verschwunden. Nur ist er im Gegensatz zu Poljakow nicht wieder aufgetaucht. Aber Ulrich ist mit einem Mann in Verbindung gekommen, der damals in der Fernmeldekompanie in Barwedel gedient hat. Die haben auf dem Hohen Berg bei Gifhorn schwerpunktmäßig die Fernmeldeverbindungen der sowjetischen Landstreitkräfte aufgeklärt. Der Mann wusste genau, wie es damals auf der anderen Seite in der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung zugegangen ist. Da sind Dinge über den Äther gegangen, die nie und nimmer jemand hätte hören dürfen. Das ganze Chaos damals während des Umbruchs hat sich auch auf die Funkdisziplin ausgewirkt. Nicht
alle haben sich da noch an die Regeln gehalten. Oder die Sicherheitsvorkehrungen sind durch einen technischen Defekt außer Kraft gesetzt worden, ohne dass es bemerkt worden war.« Diekmann wiegte nachdenklich den Kopf. »Erpressung vielleicht?« »Wie meinst du das?« »Stell dir vor, Adam und Struve sind durch Abhörprotokolle an Informationen über einen illegalen Waffendeal gelangt«, spekulierte er. »Abhörprotokolle, die ihnen Achilles besorgt hat, der Mann vom Stöberhai und ebenfalls seit jener Zeit unauffindbar. Damit hätten wir die drei Zivilisten aus der Döberitzer Heide zusammen. Sie sind dorthin gefahren, um die illegalen Geschäfte auszukundschaften und möglicherweise zu filmen. Aus dem einzigen Grund, hinterher den oder die Beteiligten zu erpressen. Und dann ist irgendwas schiefgelaufen.« Martens kniff die Augen zusammen, dachte ein paar Sekunden nach. »Ja«, sagte er dann, »damit könntest du Recht haben.« »Hat Vetter denn selbst keine entsprechenden Schlüsse gezogen?« »Tut mir leid, in seinen Aufzeichnungen habe ich nichts dazu gefunden«, entgegnet Martens. »Vielleicht hatte er einen Verdacht, war aber mit seinen Recherchen noch nicht so weit.« »Okay«, seufzte Diekmann. »Gibt es sonst noch was zu Poljakow, das ich wissen müsste?« Martens räkelte sich in seinem Sessel und
schnaubte leise. »Nicht mehr viel«, sagte er. »In der Vita, die Ulrich von Poljakow zusammengestellt hat, steht noch, dass der Mann ein ausgesprochener Harz-Liebhaber war und sehr oft schon von Bonn aus seine Freizeit dort verbracht hat. Das hat wohl angefangen, als er mal drei Wochen wegen einer Lungengeschichte in einem Harzer Sanatorium war. Albrechtshaus. Bei der Gelegenheit hat der Russe sich wohl mit seinem behandelnden Arzt, einem gewissen Konrad Wieprecht, angefreundet und ihn immer wieder besucht. Als er dann auch noch seine spätere Frau hier kennengelernt hat …« »»Interessant, aber das wird uns wohl kaum weiterhelfen. Lass uns lieber noch mal auf die Vorkommnisse in der Döberitzer Heide zurückkommen. Vier Tote, ein sowjetischer Militärlastwagen, russische Armeepistolen in den Händen der toten Offiziere. Das soll keinem aufgefallen sein? Ich meine, auch wenn das weitab vom Schuss war, zumindest die Russen müssen doch irgendwann gemerkt haben, dass neben zwei abgängigen Offizieren auch ein LKW gefehlt hat. Und da forscht von denen keiner nach? Keiner ermittelt? Ich verstehe das nicht.« »Ist auch schwer zu verstehen«, bestätigte Martens. »Ulrich hat sich übrigens als Erstes darum bemüht, genau das aufzuklären. Wirklich gelungen ist es ihm aber nicht. Er hat tatsächlich jemanden gefunden, der von der Geschichte wusste und bereit war zu reden.
Ein ehemaliger russischer Soldat, der es damals geschafft hat, in Deutschland zu bleiben. Der kannte einen der Männer, die dem Suchtrupp angehört und die Leichen und den LKW aufgespürt haben. Es hat Ermittlungen gegeben. Seitens des KGB. Offiziell hieß es später, es sei ein bedauerlicher Unfall gewesen. Vetter hat hinter diese Auskunft allerdings mehrere Fragezeichen gesetzt.« »Es wurde also vertuscht und verschleiert«, stellte Diekmann nüchtern fest. »Davon kannst du ausgehen. Ulrich vermutet, die Tat sollte unter den Teppich gekehrt werden, weil man sich vor dem Ergebnis der Ermittlungen fürchtete. Das ist durchaus nachvollziehbar, finde ich.« »Erklär es mir«, forderte Diekmann Martens auf, »für mich ist das nicht so ganz verständlich.« Martens tippte mit den Fingern auf die Handablage des Notebooks. »Die Russen haben immerhin eine ganze Wagenladung an Waffen verloren. Unter Mitwirkung der eigenen Leute. Wer will schon, dass so etwas an die große Glocke gehängt wird? Hätte die russischen Streitkräfte nicht gerade in einem positiven Licht dastehen lassen.« »Ganz schön menschenverachtend, was du da konstruierst«, sagte Diekmann kopfschüttelnd, »besonders gegenüber den russischen Angehörigen, denen man Lügen auftischt.
Vielleicht ist es besser, sie im Nachhinein nicht aufzuklären. Siehe diese Jana Schuchart. Ulrich Vetter ist doch mit ihr zusammengetroffen, oder?« »Richtig. Und danach hat sie wohl beschlossen, Jagd auf den Mörder ihres Vaters zu machen. Und vermutlich war Leo Adam der Erste, zu dem sie gefahren ist, um von ihm weitere Informationen zu erhalten. Sie wollte ihr Glück versuchen, Ulrich hatte er ja abblitzen lassen.« »Mann, was für eine Geschichte«, stöhnte Diekmann. »Da hätten natürlich der Herr Bundestagsabgeordneter Passlack und sein damaliger Kumpan von der NVA allen Grund, sich Sorgen zu machen, dass ihm nach so langer Zeit doch noch jemand auf die Spur kommt. Ich frage mich nur, sofern sie für den Anschlag auf Vetter verantwortlich sind, warum haben sie nicht eher versucht, ihn zu stoppen?« »Ja, da ist eine berechtigte Frage …« Martens dachte einige Zeit nach, ehe er sagte: »Tatsächlich ist er überfallen worden, kurz nachdem diese Jana Schuchart bei ihm war und er seine Recherche-Ergebnisse vor ihr ausgebreitet hat, wahrscheinlich zum ersten Mal …« »Abgehört?« Diekmann sah ihn von der Seite an. »Daran denkst du doch, oder? Dass sie ihn abgehört haben könnten.« Martens nickte. »Vergiss nicht, Passlack war
bei der Stasi. In dem Geschäft kennt er sich aus.« Diekmann schwirrte der Kopf. Seine Augen schmerzten. Er war müde und wollte nur noch ins Bett. Dabei wusste er genau, dass er nicht würde schlafen können.
19. Dienstag Therapieplan für Ingo Behrends: Atemtherapie, Arzttermin (Wiegen, Blutdruck), Ergometertraining, Vortrag »Psychologie des Abnehmens, Teil 2«, Blutdruckseminar Teil 3, Kraftausdauer, Vortrag »Risikofaktor Cholesterin« Mittagessen: Hirschgulasch mit Broccoli und Salzkartoffeln (12 Fettpunkte) Als Behrends an diesem Morgen aufwachte, wusste er sofort, wo er war. Es schien, als habe endlich auch sein Unterbewusstsein das Klinikzimmer als vorübergehende Bleibe akzeptiert. Er setzte sich im Bett auf und fuhr sich durch die strubbeligen Haare. Noch mit einem leichten Schleier vor den Augen stieg er aus dem Bett und stolperte zum Schreibtisch. Bevor er irgendetwas anderes tat, musste er Maike anrufen. Er griff nach dem Smartphone, das neben seinem Portemonnaie auf der Tischplatte lag, ließ sich auf den Stuhl fallen und wählte. »Bist du allein, oder ist sie auch im Zimmer?«, flüsterte er in das Gerät, als Maike schon nach dem ersten Signalton abhob. »Guten Morgen, Ingo! Keine Bange, sie hört
nicht mit. Sie geht gerade dem Staatsanwalt auf die Nerven.« Maike schickte ihrer müden Erwiderung ein etwas verunglücktes Lachen hinterher. »Kannst ganz normal reden.« »Schlecht geschlafen?«, fragte er jetzt in vernünftiger Lautstärke und blinzelte zum Fenster hin. Durch die nicht vollständig geschlossenen Vorhänge fielen die Strahlen der Morgensonne ins Zimmer. Ein paar Staubpartikel tanzten im Licht und wirkten wie eine Aufforderung an ihn, die abgestandene gegen etwas frischere Luft auszutauschen. Das Smartphone fest ans Ohr gedrückt, erhob sich Behrends vom Stuhl, um zur Balkontür zu gehen und sie zu öffnen. »Gar nicht geschlafen«, maulte Maike. »Hier geht seit gestern Abend die Post ab.« Er hielt in der Bewegung inne, ließ sich zurück auf den Stuhl fallen. »Und was heißt das genau?«, fragte er lauernd. »Zwei Festnahmen, und im Oberharz suchen sie seit Sonnenaufgang nach der Person, die verdächtigt wird, deinen Russen ermordet zu haben.« »Moment«, rief Behrends überrascht aus, »ihr habt zwei Tatverdächtige festgenommen und sucht noch nach einer dritten Person? Alle im Zusammenhang mit dem Mord?« »Ja und nein«, entgegnete Maike vage. »Also, die zwei, die wir gestern einkassiert haben, verdanken wir den Kollegen vom Rauschgift. Ob sie in den Mord an Leonid Adam
verwickelt sind, das versuchen wir gerade aus ihnen rauszukriegen. Auf jeden Fall haben sie mit dem Russen in Verbindung gestanden. Über seine Drogengeschäfte. Und dann kam letzte Nacht noch die Meldung rein, dass unser Motorradhelm gefunden worden ist.« »Der Helm mit dieser auffälligen Zeichnung? Wo?« »Torfhaus. Bavaria Alm«, sagte sie knapp. Behrends starrte auf seine nackten Füße. Seine Zehen krallten sich vor Anspannung in den Teppichflor. Er schnaubte ungeduldig. »Mensch, Maike, jetzt lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Ihr habt doch noch mehr!« »Ingo, du machst mich wahnsinnig!« »Jetzt komm schon!« Er hörte sie widerwillig stöhnen, ehe sie etwas resigniert sagte: »Du bringst mich in Teufels Küche.« »Bringe ich nicht«, widersprach er. »Von mir erfährt keiner was.« »Oh Mann ... also okay.« Sie räusperte sich. »Die Frau hat gestern Abend da oben auf der Terrasse des Restaurants gesessen und was getrunken. Es war schon ziemlich spät, aber noch ordentlich Betrieb. Sie sei eine Zeit lang nicht an ihrem Platz gewesen, sagt der Kellner. Das fand er zunächst nicht weiter auffällig. Als sie dann aber überhaupt nicht wiedergekommen ist, war ihm wohl bewusst gewesen, dass er es mit einer Zechprellerin zu
tun gehabt hatte. Vermutlich hätte er die Polizei gar nicht eingeschaltet. Der Motorradhelm, den sie zurückgelassen hat, der war als Pfand allemal mehr wert als das, was sie verzehrt hatte. Doch dann ist ihm die Flammenzeichnung ins Auge gefallen und er hat sich an unser Phantombild erinnert.« »Sagtest du gerade Frau«? Behrends überkam plötzlich ein ungutes Gefühl. »Ja, die gesuchte Person ist eine Frau. Ich gehe davon aus, dass der Kellner, der sie bedient hat, die Geschlechter unterscheiden kann. Und mittlerweile wissen wir auch, wie sie heißt. Nachdem die Kollegen alle Motorräder überprüft hatten, die da oben auf dem Parkplatz standen, blieb nur eins übrig, das infrage kam. Halterin: eine gewisse Jana Schuchart. Ihre Maschine wird zurzeit kriminaltechnisch untersucht. Und noch ein Drittes: Zeugen haben ausgesagt, zwei Männer seien der jungen Frau gefolgt, die auf der Terrasse gesessen hatte, den Motoradhelm neben sich. Weg vom Restaurant. Einige meinen, es habe wie eine regelrechte Flucht oder Verfolgungsjagd ausgesehen.« »Meine Güte, das darf doch alles nicht wahr sein!« Behrends atmete tief durch. »Und es steht hundertprozentig fest, dass es sich bei der Zechprellerin um Jana Schuchart handelt?« »Ja, sicher«, erwiderte Maike, stockte dann kurz, ehe sie fortfuhr: »Sag mal Ingo, du hörst dich an, als ob du die Frau kennst. Gibt es da
was, was ich wissen muss?« Behrends schwieg. Fieberhaft versuchte er einzuordnen, was er gerade gehört hatte. Was um Himmels willen hatte das zu bedeuten? »Ingo?« »Äh ... ja?« »Was verschweigst du mir?« »Ich ... also ...« Es dauerte einen Moment, ehe er wieder bei der Sache war. »Ja, ich kenne Jana Schuchart.« »Wie bitte?«, rief Maike aus. Er spürte ihre Überraschung fast schmerzhaft in seinem Ohr. »Stopp! Nicht persönlich«, schob er eilig hinterher. »Edgar Grischke hat mir von ihr erzählt. Sie ist eine junge Frau, deren Vater einer der vier Ermordeten ist, von denen ich euch erzählt habe. Jetzt sucht sie den Mörder. Sie hat von Grischke eine Matrjoschka bekommen, die der wiederum für Leo Adam aufbewahrt hat. Und in der Puppe sollen sich Hinweise befinden, die den Mörder überführen können.« Eine Weile erwiderte Maike nichts. Behrends hielt ihr Schweigen aus. »Und weiter?«, fragte sie schließlich mit beinahe feindselig klingender Stimme. »Ich kann nur wiederholen, was mir Grischke gesagt hat. Und das wisst ihr schon von meinem letzten Anruf. Aber eure neue Chefin wollte mir ja nicht zuhören!« »Was wissen wir, Ingo?«, fauchte Maike. »Du
hast uns eine wirre Geschichte aufgetischt. Von einem Mord an vier Männern, für den es dir aber leider an Beweisen mangelt, weil die nicht auffindbar sind ... so war es doch, oder? Also, schieb jetzt bitte nicht Frau Azzouzi die Schuld in die Schuhe.« »Das mache ich doch gar nicht. Das ist Quatsch!« »Ist es das?« Ihre Stimme klang noch ein Quäntchen abweisender. »Im Übrigen kann ich mich nicht daran erinnern, dass du uns gegenüber jemals eine Matrjoschka oder den Namen Jana Schuchart erwähnt hast.« Behrends atmete tief durch, ehe er vorsichtig zurückruderte: »Ja, schön, das hätte ich vielleicht tun sollen«, sagte er und hoffte, Maike mit dem Eingeständnis wieder etwas versöhnlicher zu stimmen. »Dafür sage ich es dir jetzt. Jana Schuchart war bei Grischke und hat von ihm die Puppe mit den Hinweisen erhalten, die sie zu dem Versteck führen sollen.« »Zu welchem Versteck?« »Zu dem Versteck mit den Beweisen.« »Für diesen angeblichen Vierfachmord?«, fragte Maike wenig überzeugt. »Hat sie das von Grischke erfahren?« »Das hat Adam ihr selbst erzählt. Zwei Tage, bevor er ermordet wurde, war Frau Schuchart nämlich schon einmal bei ihm. Sie hat ihn nicht mit Gewalt dazu bringen müssen, ihr die Informationen zu geben, die sie haben wollte.«
»Das wird ja immer interessanter. Und es gibt niemanden, der die Version bestätigen kann, richtig? Mann, Ingo, wie lange bist du schon Polizist?« »Grischke glaubt ihr. Und davon mal abgesehen, hat Jana Schuchart den Alten sehr nett behandelt. Hat ihn nach seinem Sturz verbunden. Warum hätte sie das tun sollen, wenn sie Dreck am Stecken gehabt hätte.« »Angenommen, sie sagt die Wahrheit, dann ist da immer noch die Zeugenaussage von Adams Nachbarin«, hielt ihm Maike entgegen. »Jana Schuchart war schließlich zur Tatzeit bei ihm.« »Noch mal: Wenn sie Adam umgebracht hätte, aus welchem Grund auch immer, warum hätte sie dann Edgar Grischke am Leben lassen sollen?« Als Maike nicht antwortete, fuhr er fort: »Eure Zeugin hat einen Motorradfahrer mit einem auffälligen Helm gesehen. Mehr nicht. Sie konnte zwar den Helm beschreiben, aber nicht die Person, die darunter steckte. Und zu dem Motorrad selbst habt ihr auch keine brauchbare Aussage. Ist doch möglich, dass sich die beiden Helme nur ähneln. Der von der Alm und der, den der Täter getragen hat.« Er hörte Maike seufzen. »Okay, Ingo, vielleicht ist ja was dran an deiner Version. Aber das Verhalten dieser Jana Schuchart macht sie trotz allem äußerst verdächtig. Sie ist Hals über Kopf abgehauen, vermutlich weil sie
sich entdeckt gefühlt hat.« »Und warum dann zu Fuß? Nicht mit ihrem Motorrad?«, fragte Behrends. »Wenn sie wirklich verfolgt worden ist, dann hatte sie womöglich gar keine Gelegenheit, an ihr Motorrad zu gelangen. Vielleicht sind ein paar Gäste auf ihren auffallenden Helm aufmerksam geworden und haben eine kleine Jagd auf sie veranstaltet, anstatt sofort die Polizei zu rufen. Ein paar Typen, die sich als Helden aufspielen wollten.« »Klingt nicht überzeugend«, hielt Behrends ihr entgegen. »Sie flieht vor harmlosen Touristen?« »Hast du eine bessere Idee?« »Erst noch eine Frage: Was hat die Obduktion von Leonid Adam ergeben? Wurde er gefoltert?« »Ja, wurde er. Er wurde gefesselt, man hat ihm die Finger gebrochen, Zigaretten auf seiner Brust ausgedrückt ... Soll ich weitermachen?« »Und du glaubst, das hat alles eine einzelne Frau gemacht?« »Vielleicht war sie nicht allein.« »Maike, bitte! Das passt doch nicht zusammen!« »Und was passt deiner Meinung nach?« Behrends seufzte leise, ehe er antwortete: »Ich habe einen ganz anderen Ansatz als ihr. Nimm doch nur mal für einen Moment an, es
stimmt, und Jana Schuchart ist dem Mörder oder den Mördern ihres Vaters auf der Spur. Kann es dann nicht sein, dass sie dummerweise bei ihrer Suche ein paar Leute aufgescheucht hat, die genau das verhindern wollen?« »Was verhindern wollen?«, fragte Maike. »Dass sie den Mörder ihres Vaters ans Messer liefert?« »Genau das«, bestätigte Behrends. »Hätte man sie dann nicht längst mundtot gemacht?« »Möglich. Aber damit wären die Beweise noch nicht vernichtet. Wenn jemand den oder die Mörder schützen will, muss er die in seinen Besitz bringen. Darum geht es doch! Und dabei könnte ihm Jana Schuchart von Nutzen sein.« »Ich würde deinen Überlegungen ja gerne folgen, Ingo«, erklärte Maike zögernd und wenig überzeugend, »aber was hast du denn in der Hand, was deine Theorie stützt? Nichts!« Ihre Zweifel raubten Behrends die Hoffnung, er könne sie auf seine Seite ziehen. Dabei wusste er genau, dass sie und das ganze Team, bei diesem Mord in die falsche Richtung ermittelten – zumindest sagte ihm das sein Bauchgefühl. Aber mit Bauchgefühl wollte er Maike lieber nicht kommen. »Du hast Recht, es sind bisher nur Theorien«, gab er zu. Dann wagte er einen neuen Anlauf: »Warum aber hätte Edgar Grischke mir ein Märchen auftischen sollen? Es gibt diese
Puppe, die Adam ihm anvertraut hat, um sie für ihn sicher aufzubewahren. Das kann doch nur heißen, dass sie in irgendeiner Weise wertvoll für ihn gewesen ist und er sie vor fremdem Zugriff schützen wollte. Und dann taucht plötzlich diese Jana Schuchart auf, und Adam ist sofort bereit, ihr seine geheimnisvolle Matrjoschka anzuvertrauen. Kann man daraus schließen, dass sie seine Mörderin ist?« »Wenn das alles so ist, dann müsste dir sehr daran gelegen sein, dass wir Jana Schuchart ganz schnell finden und in Polizeigewahrsam nehmen. Solange sie nämlich allein da draußen herumläuft, ist sie in Gefahr. Gibt es diese Verfolger und die erwischen sie vor uns, dann ...« Sie brauchte nicht auszusprechen, was er selbst längst befürchtete. »Also, wenn du weißt, wohin sie will oder wo sie sich aufhält, dann sag es mir!« »Tut mir leid, Maike«, entgegnete er hilflos, »ich habe keinen blassen Schimmer. Ich stochere selbst im Nebel.« »Und dein Freund? Dieser Gärtner?« »Vergiss es.« »Was willst du jetzt tun?«, fragte Maike nach einer kurzen Denkpause vorsichtig. »Du lehnst dich doch nicht einfach zurück, machst brav deine Reha-Anwendungen und überlässt uns die Arbeit. Obwohl du das solltest! Ich kenne dich, Ingo. Schließlich hast du mich angerufen, nicht anders herum. Was wolltest du eigentlich
von mir?« »Der Vermisste. Bernd Achilles ...« »Ja?« »Ich muss wissen, ob es noch einen zweiten, ähnlich gelagerten Fall gegeben hat. Selber Zeitraum. Der Mann war ebenfalls mit der Aufklärung militärischer Aktivitäten in der DDR beschäftigt, Verbleib bis heute ungeklärt.« »Eugen Struve«, antwortete sie trocken. »Was?« Behrends’ Stimme kippte vor Überraschung beinahe über. »Der zweite Mann.« »Du weißt von ihm?« »Ist mir schon bei meiner ersten Suche aufgefallen.« »Und warum hast du mir das verschwiegen?« Wieder blieb sie einen Augenblick stumm, ehe sie antwortete: »Da war mir noch nicht klar, dass das Verschwinden der beiden Männer im Zusammenhang stehen könnte. Es passte zeitlich nicht ganz und räumlich schon gar nicht. Trier, das ist etwas weit von Herzberg entfernt. Einzige Verknüpfung war ihre berufliche Tätigkeit. Da habe ich mir eben meine Gedanken gemacht, auch wegen dir und deiner Geschichte.« »Ach nee!«, stieß Behrends triumphierend aus. »Gibst du mir also doch Recht!« »Das habe ich nicht gesagt«, widersprach Maike sofort. »Wir müssen uns bei den
Ermittlungen nur alle Möglichkeiten offenhalten, die wir nicht hundertprozentig ausschließen können. Solltest du eigentlich wissen.« »Im Moment weiß ich nur, dass es zwischen den beiden Vermissten und dem Mord an Adam irgendeinen Zusammenhang geben muss«, murmelte Behrends. Er hatte das zwar zu sich selbst gesagt, trotzdem hatte Maike es gehört. »Ingo, bitte, was immer du vorhast, unternimm keine Alleingänge!«, mahnte sie. »Du setzt sonst einiges aufs Spiel, das ist dir hoffentlich klar. Und das Ende deiner beruflichen Karriere wäre dabei sicher noch das geringste Übel!« »Ich passe schon auf mich auf«, erwiderte er abwesend. »Danke auf jeden Fall für deine Hilfe, Maike. Grüß mir die Kollegen und auch eure Chefin. Sag ihr ... ach was, sag ihr einfach nichts. Mach’s gut!« Er drückte das Gespräch weg, ehe sie noch etwas erwidern konnte. Es wurde langsam Zeit für Frischluft, Toilette und Frühstück. An seinen Anwendungsplan mochte er in diesem Moment nicht denken. Ihn beschäftigten wichtigere Dinge.
20. Das aufgeregte Gequake einer Entenschar riss Jana aus dem Schlaf. Verwirrt bewegte sie den Kopf hin und her, blickte zur Seite gegen die Sitzlehnen und hoch zum Autohimmel. Dann erinnerte sie sich. Sie hatte auf der Rückbank von Grischkes Geländewagen geschlafen. Leise ächzend quälte sie sich aus dieser unbequemen Position in den Sitz. Sie wuschelte mit beiden Händen durch ihre strohblonden Locken. Dann tastete sie an der Lehne vorbei nach ihrem Smartphone auf dem Beifahrersitz und trennte es vom Ladekabel der Powerbank. Ein Blick auf die Ziffern der digitalen Zeitanzeige verriet ihr, dass es erst kurz nach halb fünf war. Die Welt draußen ruhte noch im Halbdunkel. Sie reckte sich vor, blickte über die Lehne. Der Alte lag quer über Fahrer- und Beifahrersitz, die Beine etwas angezogen, den Schaltknüppel in den ausladenden Bauch gedrückt. Das Lenkrad schwebte über seinem Kopf. Er gab eigentümlich gurgelnde Schnarchgeräusche von sich, untermalt von gelegentlichem Schmatzen. Trotz seiner misslichen Lage schien er fest zu schlafen. Jana tippte ihm an die Schulter. Ein kurzes, abwehrendes Zucken, mehr nicht. Sie öffnete vorsichtig die Beifahrertür und zwängte sich von hinten am Sitz vorbei nach draußen,
darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Der See erschien ihr wie eine bleierne Scheibe, matt schimmernd im grauen Zwielicht des anbrechenden Tages und eingerahmt von schwarzen, bedrohlich wirkenden Baumgestalten. Mit steifen Gliedern stakste sie die wenigen Meter hinüber zum Ufer, bückte sich und warf sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Zurück beim Auto, fühlte sie sich halbwegs erfrischt. Das Gras war noch feucht, also ging sie neben dem Wagen in die Hocke und holte ihr Handy hervor. Sollte Grischke ruhig noch ein paar Minuten ungestört schlafen. Inzwischen konnte sie das Internet nach Informationen zu dieser Klinik Albrechtshaus durchforsten. Kurze Zeit später hatte sie Gewissheit, dass die ehemalige Lungenheilstätte im Ostharz lag, im Selketal nahe Stiege, und nur noch eine Brandruine war. Im August 2013 hatte ein Feuer das Hauptgebäude zerstört und damit auch einen Teil der Hoffnungen, die Jana vor gut vier Stunden in einen unruhigen Schlaf gewiegt hatten. Wie sollte man in den Trümmern je etwas finden? Etwas, von dem sie nicht einmal wusste, wie es aussah, was aber vermutlich sehr klein war. Andererseits stand auf dem Gelände neben ein paar zerfallenen Nebengebäuden eine vollständig erhaltene kleine Holzkirche. Sollte es möglich sein, dass sich in dieser Kirche der Zugang zu einer Krypta befand? Hatte Leo Adam das gemeint mit dem Begriff, den er auf den Zettel
gekritzelte hatte, neben dieses merkwürdige Symbol, das aussah wie ein Sarg? Die Verbindung von Kirche und Krypta ergab durchaus einen Sinn. Jana stand auf und ging um den Wagen herum auf die andere Seite. Es wurde Zeit, Grischke zu wecken. Sie öffnete die Fahrertür. »He, Eddie! Aufwachen!«, flüsterte sie und betrachtete das Gesicht des Alten. Er sah so friedlich aus, wie er dalag und leise schnarchte. Ein warmes Gefühl für ihn durchzog ihre Brust, und sie streichelte sanft über seine Wange. Dann sprach sie ihn noch einmal an, dieses Mal etwas lauter. Als er wieder nicht reagierte, drückte sie ihm mit Damen und Zeigefinger die Nasenflügel zusammen. So hatte sie es früher, als kleines Mädchen, öfter bei ihrer Mutter gemacht, um sie zu wecken. Grischke röchelte, schreckte hoch und stieß prompt mit dem Kopf gegen das Lenkrad, genau an der Stelle, wo der Verband seine Wunde bedeckte. »Au, verdammt!«, fluchte er und riss die Augen auf. Als er Janas erschrockenes Gesicht über sich erblickte, legte sich ein liebevoller Ausdruck auf sein Gesicht. »Hast du dir sehr weh getan?«, fragte Jana besorgt. »Das wollte ich nicht.« »Nicht schlimm«, sagte er beinahe zärtlich und stemmte sich ächzend hoch. »Aber erst mal guten Morgen. Na, wie hast du geschlafen?« »So lala«, erwiderte sie und wedelte mit der
Hand. »Ich habe schon ein bisschen recherchiert. Wegen dieser Klinik.« Sie teilte ihm mit, was sie herausgefunden hatte. »Hört sich nicht gut an«, meinte Grischke nachdenklich. Er schaltete das Autoradio ein. »Mal hören, was es Neues in der Welt gibt, bevor wir uns auf die Socken machen.« Die Minuten bis zu den Fünf-UhrNachrichten waren ausgefüllt mit der üblichen Gute-Laune-Musik, nervigem Moderatorengequassel und Werbung, bis ernstere Töne die Uhrzeit verkündeten. Dann folgten die aktuellen Ereignisse. Grischke hatte gerade noch im Rückspiegel die Falten in seinem verschlafenen Gesicht betrachtet und dabei gemütlich vor sich hin geträllert, als er plötzlich die Ohren spitzte und Jana anstupste. »Psst, sei mal still«, zischte er, obwohl sie ohnehin wortlos neben der geöffneten Fahrertür gestanden und gedankenverloren in den Wald hineingestarrt hatte. »... wird immer noch nach der flüchtigen Jana Schuchart gefahndet«, verkündete der Nachrichtensprecher gerade. »Sie steht unter Mordverdacht und ist vermutlich zu Fuß im Oberharz unterwegs. Zuletzt wurde sie gestern Abend in Torfhaus bei Bad Harzburg gesehen. Autofahrer, die einer Anhalterin begegnen, werden um Vorsicht gebeten. Die Flüchtige ist möglicherweise bewaffnet.« Es folgte eine Personenbeschreibung und die Information, dass die Polizei die Suche nach
Sonnenaufgang fortsetzen werde. Grischke schaltete mit einer heftigen Handbewegung das Radio ab und wandte sich Jana zu. Mit durchdringenden Augen sah er sie an. Sie spürte, wie er versuchte, ihre Gedanken zu erforschen. Eine innere Kälte ließ sie schaudern. »Kannst du dir das erklären?«, fragte er. Sie nickte, traute sich aber nicht, ihn anzusehen. »Ich war noch mal bei ihm«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »An dem Abend. Ich habe ihn gefunden. Tot. In seinem Sessel.« »Wie bitte?« Grischke starrte sie fassungslos an. »Und damit rückst du erst jetzt raus? Du hast nicht die Polizei alarmiert? Warum?« »Angst, Eddie! Ich hatte Angst, sie verdächtigen mich!« »Aber mir hast du das auch verschwiegen! Wieso, verdammt noch mal?« »Ich musste die Puppe haben. Du hättest sie mir nicht gegeben. Du hättest gedacht, ich bin Adams Mörderin. Nachdem ich schon in deine Hütte eingebrochen war, hättest du mir das vermutlich auch zugetraut.« »Und? Bist du seine Mörderin?«, fragte er. »Belüg mich nicht.« Enttäuschung lag in seiner Stimme. Seine Worte klangen hohl und irgendwie weit weg, und dennoch bohrten sie sich direkt in ihr Herz. Sie schüttelte den Kopf, wollte antworten. Es wurde nur ein undeutliches, gurgelndes
»Nein« daraus. Er schwieg. Sah sie mit unbewegter Miene an. Sie fühlte sich unter seinem Blick klein und schwach. Ein zusammengesunkenes Häufchen Mensch, das sein Urteil erwartete. Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte er und sagte: »Gut, ich glaube dir.« Die Züge seines Gesichtes wurden augenblicklich weicher. Väterlich legte er seine Hand auf ihre Schulter und befreite sie damit aus ihrer bedrückenden Lage. »Aber kannst du mir dann erklären, warum die dich verdächtigen?« »Vielleicht hat mich jemand beim Haus gesehen. Ich weiß aber nicht, wer. Da war niemand! Halt, Moment mal ...« Unerwartet fand ein Bild aus ihrem Unterbewusstsein den Weg an die Oberfläche. »Als ich von Adams Grundstück gefahren bin, ist da eine Frau mit ihrem Hund gewesen. Ich habe die gar nicht weiter beachtet. Vielleicht hat die ...« Flehend blickte sie den Alten an. »Was mache ich denn jetzt?« Grischke drehte seinen Kopf von ihr weg. Grübelnd starrte er durch die Frontscheibe auf den grauen Dunstschleier über dem See. »Dein Smartphone!«, sagte er einige Augenblicke später. »Was?« »Schalte es aus! Oder willst du, dass man dich orten kann?« Jana folgte seiner Anweisung. Sie ärgerte sich, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte.
»So, und jetzt komm, steig ein«, forderte er sie auf, »es wird höchste Zeit, dass wir hier verschwinden. Bevor es überall von Polizei wimmelt.«
21. Auf dem Weg zu den Fitnessräumen wäre Behrends fast mit Doktor Beuermann zusammengestoßen. Schon wieder! Während er weiter mit gesenktem Kopf vor sich hingestapft war, hatte sie das Unglück kommen sehen und war ihm reaktionsschnell ausgewichen. »Na, wir sind wohl noch nicht ganz wach heute Morgen, was?«, spottete sie und zwinkerte ihm schelmisch zu. »Hab Sie nicht gesehen, ’tschuldigung«, brummte Behrends. Eigentlich hatte er ihr eine bissige Bemerkung an den Kopf werfen wollen, aber seine Gedanken reagierten ebenso träge wie sein Körper, und ihm war nichts Passendes eingefallen. »Na? Wohin geht’s?« »Wonach sieht es denn aus?«, fragte er schnippisch zurück. »Ergometer?« »Voll ins Schwarze.« Er verzog die Mundwinkel zu einem lahmen Schmunzeln. »Na dann, viel Spaß«, zwitscherte sie munter, »man sieht sich.« Hoffentlich nicht, dachte Behrends. Er brauchte keinen Schatten, der jeden seiner Schritte kontrollierte. Auch es wenn Katrin zu gefallen schien, dass jemand auf ihn aufpasste.
Vertraute sie ihm wirklich so wenig? Die Hand kurz zum Gruß erhoben, entfernte sich Doktor Beuermann. Er blickte ihr einen Moment hinterher, wie sie voller Elan regelrecht davonflog. Krasser konnte der Gegensatz zu seiner eigenen Verfassung nicht sein. Auch ohne Spiegel wusste er, dass er genauso aussah, wie er sich fühlte: lustlos und schlapp angesichts des zurückliegenden kalorienarmen Frühstücks und der bevorstehenden Folter. Eine Stunde später hatte Behrends die Schinderei hinter sich und seinen Körper von jeglichen Schweißspuren befreit. Erfrischt und wieder halbwegs mit der Welt versöhnt, stieg er aus der Dusche. Er rubbelte sich mit dem Handtuch ab und verließ das Bad, ohne seine Haare zu föhnen. Die konnten an der Luft trocknen. Noch im Bademantel studierte er seinen Behandlungsplan. Der sah für den Rest des Tages einigermaßen erträgliche Anwendungen vor, vom Vortrag über die Psychologie des Abnehmens einmal abgesehen. Nicht, dass er es ablehnte, sich weiterzubilden, aber es reichte ihm schon, seine täglichen Mahlzeiten mit der Kalorientabelle in der Hand zusammenstellen zu müssen. Was brauchte er da noch die mahnenden Worte eines Dozenten, der sich nach getaner Arbeit vermutlich selbst bei einem deftigen Steak und einem großen Hellen vergnügte und damit die eigenen Theorien verspottete?
Ehe sich Behrends weiter seinen Verdächtigungen hingeben konnte, klopfte es. »Ja, bitte«, rief er und erwartete, dass jemand vom Reinigungspersonal die Tür öffnete. Zu seiner Überraschung betrat jedoch Michael Grischke, der Sohn des alten Gärtners, das Zimmer. »Herr Grischke!«, stieß er verwundert aus. »Mit Ihnen habe ich jetzt aber nicht gerechnet. Was treibt Sie denn zu mir?« Grischke junior ließ seine Augen hektisch durch den Raum huschen. »Mein Vater! Haben Sie Ihn gesehen? Sie sind meine letzte Hoffnung. Alle infrage kommenden Orte, wo er sich aufhalten könnte, habe ich schon abgegrast. Seine Bekannten, die Blockhütte. War er bei Ihnen?« Behrends zog die Stirn kraus. »Nein«, entgegnete er irritiert. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich dachte, weil Sie ... weil er ... na ja, Sie kennen sich und ...« »Wann soll er denn bei mir gewesen sein?«, unterbrach Behrends das Gestammel. »Heute Morgen. Oder letzte Nacht.« Grischke schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Der Junior blickte ihn verzweifelt an. Behrends streckte die Hand aus, deutete auf den Sessel: »Kommen Sie, setzen Sie sich erst mal. Und dann erzählen Sie in Ruhe, was passiert ist.« Widerwillig nahm Grischke junior Platz und
berichtete mit bemüht kontrollierter Stimme von seiner Mutter, die sich nach dem Aufwachen nichts bei dem leeren Bett neben sich gedacht hatte. Ihr Mann war schon oft vor ihr aufgestanden, hatte im Haus herumgewerkelt oder gegenüber in der Gärtnerei. Gelegentlich war er auch in aller Herrgottsfrühe zu seinen Bienen oder sonst wo hingefahren. Spätestens zum Frühstück war er aber wieder zurück gewesen. Eine Nachricht hatte er allerdings nie hinterlassen. Der Zettel auf dem Küchentisch, mit der Botschaft, dass sich seine Familie keine Sorgen machen müsse, das war so gar nicht seine Art und daher erst recht Anlass zur Sorge. »Ich verstehe nicht, was das bedeutet«, wimmerte der Hüne. »Da stimmt was nicht. Papa schreibt freiwillig keine Nachrichten auf Zettel. Vielleicht wurde er entführt.« Er schluckte. »Sie müssen dafür sorgen, dass nach ihm gesucht wird«, drängte er. »Sie sind doch bei der Polizei!« »Jetzt ganz ruhig«, beschwichtigte Behrends. »Das mit der Entführung vergessen Sie mal wieder. Das ist Blödsinn. Vielleicht ist er einfach nur länger weg als üblich und hat Ihnen deshalb die Nachricht geschrieben.« Grischke junior schüttelte heftig den Kopf. »Sie kennen Papa nicht. So was tut der nicht! Da steckt was anderes dahinter!« »Trotzdem kann ich meine Kollegen nicht in Bewegung setzen«, hielt Behrends ihm
entgegen. »Es gibt keine Anzeichen, die eine Vermisstenmeldung rechtfertigen würden. Ihr Vater ist weder lebensgefährlich krank, noch ist er verwirrt. Trotz seiner Kopfverletzung. Von einer Straftat kann ebenso wenig ausgegangen werden. Ganz im Gegenteil, er hat mit der Nachricht sogar erklärt, dass alles mit ihm in Ordnung ist. Kein Polizist würde bei solch einer Faktenlage auch nur einen Finger krumm machen, um nach Ihrem Vater zu suchen.« »Aber sein Verhalten ist völlig unnormal, verdammt!«, stieß Grischke verzweifelt aus. »Was hat ihn nur geritten, dass ...« Er brach ab. Etwas schien ihm wieder eingefallen zu sein: »Moment mal, da war doch dieser Anruf.« »Was für ein Anruf?« »Letzte Nacht«, erwiderte er, »meine Mutter sagte, dass sein Handy mitten in der Nacht geläutet habe. Sie ist davon aufgewacht und hat Papa geweckt. Er hat es rausgebracht, damit es sie nicht mehr stört.« »Ja, und?« Behrends blickte ihn fragend an. »Ich weiß nicht. Ist nur so eine Ahnung. Außerdem fehlen die Klamotten meiner Frau.« »Wie bitte? Ich glaube, das verstehe ich jetzt nicht.« »Was meine Frau gestern bei der Arbeit getragen und nachmittags gewaschen hat, ist weg«, erklärte Grischke junior, »Unterwäsche, Blaumann, so ’n Zeug eben. Hing alles auf der
Leine im Keller zum Trocknen. Ist jetzt nichts mehr davon da.« »Und Sie meinen, Ihr Vater hätte die Sachen genommen?«, fragte Behrends und blickte seinen Gast zweifelnd an. »Wozu? Glauben Sie, das hängt irgendwie zusammen? Die Botschaft auf dem Zettel, der nächtliche Anruf und das Verschwinden der Wäsche. Alles Anzeichen für Sie, sich ernsthaft Sorgen um Ihren Vater machen zu müssen?« Zumindest was die Wäsche anging, kamen auch ihm leise Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Alten – sofern er sie tatsächlich hatte verschwinden lassen. Grischke junior blinzelte unsicher. »Ja, denken Sie denn nicht, dass ...?« Behrends legte ihm seine Hand auf den Arm. »Hören Sie, Herr Grischke«, sagte er beruhigend, »Ihr Vater wird bald wieder auftauchen und Ihnen dann sicher alles erklären können. So, wie ich es sehe, müssen Sie keine Angst um ihn haben.« Noch während Behrends das sagte, schlich sich bei ihm ein Gedanke ein, der seinen Worten zuwiderlief. Plötzlich wurde ihm klar, dass es womöglich doch angebracht war, sich Sorgen zu machen. Und der Grund dafür könnte Jana Schuchart sein! Doch das wollte Behrends nicht laut aussprechen. Stattdessen schlug er vor: »Hören Sie, Herr Grischke, am besten, Sie fahren erst mal wieder nach Hause und warten ab. Ich
wette, Ihr Vater wird sich bald bei Ihnen melden. Und wenn ich vorher etwas von ihm höre, gebe ich Ihnen natürlich sofort Bescheid.« Er wollte aufstehen, um den Sohn des alten Grischke zu verabschieden, als ihm noch etwas einfiel: »Ach, geben Sie mir doch bitte das Kennzeichen vom Wagen Ihres Vaters. Ich kann es ja mal an die Kollegen weitergeben, die auf Streife sind. Vielleicht entdeckt ihn jemand.« »Wenn Sie das machen würden, wäre das schon eine große Erleichterung für mich«, sagte der Hüne dankbar und notierte es mit zittriger Hand auf den Notizblock, den Behrends ihm entgegenhielt. Dann erhob er sich aus seinem Sessel. Als Grischkes Sohn gegangen war, spann Behrends die Überlegungen weiter, die er ihm nicht hatte offenbaren wollen. Vielleicht steckte Jana Schuchart hinter dem nächtlichen Anruf. Wenn sie sich in ihrer Not an den einzigen Menschen gewandt hatte, dem sie vermutlich im Moment vertraute? Behrends war nicht naiv. Er hatte längst begriffen, wie sehr sich der alte Grischke in diese Jana Schuchart verguckt hatte. Er wusste nicht, was der Gärtner in dem Mädchen sah, ganz sicher aber hatte er nicht lange gezögert, ihr zu helfen, sollte sie ihn darum gebeten haben. Und Hilfe hatte sie verdammt nötig. Nicht nur, dass die Polizei nach ihr fahndete, es war fast sicher, dass noch andere, weniger rücksichtsvolle Typen hinter ihr her waren.
Zudem stand sie ohne ihr Motorrad da, hätte also nur zu Fuß entkommen können. Vermutlich hatte Grischke sie mitten in der Nacht irgendwo im Harz aufgegabelt und war mit ihr unterwegs nach ... ja, wohin eigentlich? Was führten die zwei gerade im Schilde? Behrends stöhnte leise. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, dann schwebte der Alte jetzt ebenso in Lebensgefahr wie Jana Schuchart. Er konnte nur hoffen, dass die Polizei tatsächlich schneller war als diejenigen, die dem Mädchen an den Fersen hingen, sonst ... Er gab es nicht gern zu, aber Maike hatte Recht. Entschlossen griff er zum Smartphone. Doch bevor er Maikes Nummer wählte, um ihr Grischkes Kennzeichen durchzugeben, legte er es zurück auf den Tisch. Konnte er denn überhaupt sicher sein, dass der Alte mit Jana Schuchart zusammengetroffen war? Möglicherweise hatte ihn etwas ganz anderes nachts aus dem Haus getrieben. Etwas, in das Behrends sich besser nicht einmischte, weil es Grischkes Privatsphäre berührte, in der weder er noch sonst jemand herumschnüffeln durfte. Schon gar nicht die Polizei! So lange kannte er den Alten noch nicht, um zu wissen, was in dessen Kopf wirklich vor sich ging. Wenn er jetzt übereilt handelte und die Kollegen auf ihn hetzte, würde er es sich vielleicht zeitlebens mit dem Mann verderben. Doch nicht nur deshalb zögerte er, Maike zu
benachrichtigen. Eine unvernünftige, dafür aber umso verlockendere Stimme redete ihm ein, er müsse die Dinge selbst in die Hand nehmen. Von dieser Azzouzi konnte er nicht erwarten, dass sie eine Suche nach Grischke in Gang brachte und die Ermittlungen in die richtigen Bahnen lenkte. Er schwankte einen Moment, dann beschloss er, zunächst mit Holger zu telefonieren und erst danach mit Maike. Sollte Holgers Recherche endlich die Erkenntnisse liefern, auf die er hoffte, dann stand er nicht wieder wie ein Depp da, wenn er später in der Inspektion anrief. Das war ein guter Kompromiss, fand er. Behrends Versuche, Diekmann zu erreichen, blieben erfolglos. Auch beim vierten Anruf innerhalb von zwanzig Minuten, meldete sich nur die Mailbox. Dieses Mal hinterließ er eine kurze Nachricht: »Hier Ingo. Melde dich! Es ist dringend!« Er war längst wieder von seinem Kompromiss abgerückt und jetzt fest entschlossen, selbst nach dem alten Grischke und seiner mutmaßlichen Gefährtin zu suchen. Gemeinsam mit Diekmann, der den Chauffeur spielen musste, ihm aber auch darüber hinaus behilflich sein konnte. Holger würde das gefallen. Je nachdem, was der bei seiner Recherche in Wismar herausgefunden hatte, wäre er vermutlich sowieso ganz versessen darauf, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen. Die Polizei, ob in Person von Maike
oder wem auch immer, konnte er informieren, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Sollten sie zunächst ruhig weiter den Harz nach Jana Schuchart absuchen. Vielleicht ging das Mädchen der Polizei ins Netz, bevor sie jemand anderes aufspürte, vielleicht tauchte Grischke zwischenzeitlich wieder zu Hause auf und lieferte eine ganz banale Erklärung für sein Verschwinden ab. Vielleicht waren seine Leute und Hauptkommissarin Naima Azzouzi ja doch auf der richtigen Spur und der oder die Mörder kamen aus der Drogenszene. Dann stand er einmal mehr da wie ein Esel, wenn er seine Vertreterin wiederholt mit in ihren Augen unhaltbaren Theorien genervt hatte. Vielleicht, vielleicht, vielleicht! Behrends war klar, nichts davon würde eintreffen. Er musste sich auf seine Nase verlassen. Die deutete in eine ganz bestimmte Richtung. Dorthin, wo die Beweise für die Geschichte verborgen lagen, die vom Mord an einem russischen Offizier erzählten. Nur, wo diese Beweise zu finden waren und damit auch Jana Schuchart und Edgar Grischke, das lag im Dunkel – noch!
22. Der kürzeste Weg nach Albrechtshaus hätte Jana und Grischke zurück über Torfhaus geführt. Angesichts der Gefahr, genau dort in eine Polizeisperre zu geraten, entschlossen sie sich, den Umweg über Bad Harzburg zu nehmen. Trotzdem kamen sie gut voran, und kurz vor Hasselfelde verließen sie die Bundesstraße, um ein Stück abseits im Schutz des Waldes abzuwarten, bis die ersten Läden öffnen würden. Sie brauchten etwas zu essen und zu trinken. Zumindest Grischke sah das so. Seit dem Aufwachen knurrte ihm der Magen. Darüber hinaus fühlte er sich für das Wohl des Mädchens verantwortlich. Er ärgerte sich, dass er bei seinem eiligen Aufbruch in der vergangenen Nacht nicht daran gedacht hatte, Proviant einzupacken. Jana, die am liebsten weitergefahren wäre, kauerte stumm in ihrem Sitz, nachdem sie nach einer Zigarette gefragt hatte, die Grischke ihr nicht geben konnte. Er war Nichtraucher, trotz der gelegentlichen Joints in seiner Waldhütte. Jetzt hielt sie ihr Smartphone in der Hand und starrte das schwarze Display an. Vermutlich hätte sie das Gerät am liebsten wieder eingeschaltet. Er schnaubte verständnislos, lehnte seinen Kopf gegen die Fahrertür und schloss die Augen. Besser, noch ein wenig zu dösen.
»Hörst du das?« Janas aufgeregte Stimme ließ ihn nach einiger Zeit aus seinem Dämmerzustand hochschrecken. »Was denn?«, knurrte er mürrisch. »Na das!« Sie sprang aus dem Wagen und starrte angestrengt in den Himmel. Grischke horchte aufmerksam. Jetzt vernahm auch er das dumpfe Wummern, das allmählich anschwoll. »Hubschrauber«, stellte Jana fest. »Mist! Ich kann sie nicht sehen! Aber fliegen die nicht in Richtung Brocken? Oder Torfhaus? Was meinst du, ob das Polizeihubschrauber sind?« »Schon möglich«, entgegnete Grischke wenig interessiert. »Ob die uns bemerken, wenn wir weiterfahren?« Sie schaute besorgt zu ihm hinein ins Wageninnere, während die Rotorengeräusche wieder schwächer wurden und sich in der Ferne verloren. Grischke winkte ab. »Mach dir keine Sorgen. Wenn, dann suchen die ein Mädchen, das zu Fuß im Harz herumirrt. Mein Wagen interessiert die überhaupt nicht.« Er blickte auf seine Uhr. »So, und jetzt steig wieder ein. Eigentlich müssten wir schon irgendwo einen Happen zu essen kriegen. Ich komme um vor Hunger.« In Hasselfelde fanden sie einen Supermarkt, dessen angeschlossener Backshop um sieben
Uhr öffnete. Die zehn Minuten bis dahin verbrachten sie wartend auf dem Parkplatz. Dann ging Grischke einkaufen. Jana blieb sicherheitshalber im Wagen. Das Risiko, jemand könne sie aufgrund der Personenbeschreibung in den Nachrichten erkennen, war ihnen zu hoch. Wenig später kam der Alte zurück, beide Arme vollbepackt mit Tüten und Flaschen. Es schien, als wolle er eine Herde Elefanten durchfüttern mit dem, was er alles eingekauft hatte. Ächzend lud er seine Last auf Janas Schoß ab und drückte ihr die Zigaretten in die Hand, die er ihr hatte mitbringen müssen. »Und jetzt suchen wir uns das nächstbeste lauschige Plätzchen und futtern erst mal ordentlich was. Danach schauen wir uns in aller Ruhe diese Klinik an oder das, was davon übrig geblieben ist.« »Mann, Eddie! Ich sitze hier auf heißen Kohlen, und du tust so, als hätten wir eine gemütliche Harzwanderung vor uns!«, brauste Jana auf. Grischke sah ihr fest in die Augen. »Jetzt hör mir mal zu, Mädchen. Diese ganze Hektik bringt rein gar nichts. Wir müssen das überlegt und in Ruhe angehen. Außerdem, wenn ich nichts im Magen habe, kannst du mich komplett vergessen. Also, wir machen es jetzt so, wie ich gesagt habe. Ende der Diskussion!« Sie wusste instinktiv, dass jedes weitere Wort vergeblich war. Stellte sie sich stur, brachte sie
ihn womöglich noch gegen sich auf. Das wollte sie nicht. Dafür mochte sie ihn bereits viel zu sehr. Außerdem war sie auf ihn angewiesen. Seufzend nickte sie, während Grischke den Wagen startete und sie den Kundenparkplatz verließen. Lange hatten sie nicht nach einem lauschigen Plätzchen suchen müssen, wie Grischke es genannt hatte. Seit einigen Minuten standen sie wieder in einer blickgeschützten Schneise. Der Alte biss genüsslich Happen für Happen von einem zweiten mit Salami belegten Brötchen ab, nachdem er heißhungrig das erste verschlungen hatte. Mit Cola spülte er die Bissen hinunter. Jana hatte sich für die Flasche Kakao entschieden und dazu das einzige Käsebrötchen in den beiden Tüten ohne großen Appetit gegessen. Die Ungewissheit darüber, was sie nur wenige Kilometer entfernt erwartete, drückte ihr auf den Magen. Jetzt rauchte sie. Die Zigarette beruhigte sie ein wenig. »Wusstest du eigentlich, dass Leo Adam früher in Bonn in der russischen Botschaft tätig war?«, fragte Grischke sie plötzlich. »Aha«, entgegnete sie, wenig interessiert. »Hat mir mein neuer Bekannter, Hauptkommissar Behrends, erzählt. Und auch, dass er vermutlich an Papiere gekommen ist, mit denen er in Deutschland ein Bleiberecht erhalten hat. Da muss es wohl Leute gegeben haben, die so was arrangieren konnten. Er hieß
damals übrigens Poljakow.« »Poljakow?«, murmelte Jana. Irgendetwas verband sie mit dem Namen. Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf und drehte sich zu Grischke um. »Leonid Poljakow!« »Was ist los?«, fragte er und musterte sie misstrauisch. »Du machst ein Gesicht, als hättest du gerade eine Erscheinung gehabt.« »So ähnlich.« Sie zog an ihrer Zigarette, die fast bis zum Filter heruntergebrannt war. Ihre Hand zitterte. »Mama hat mir mal in einer ihrer seltenen schwachen Stunden von einem Leonid Poljakow erzählt. Der war wohl total in sie verknallt. Damals, zu Hause in Kasachstan. Sie haben im selben Dorf gewohnt. Aber sie hat sich für meinen Vater entschieden, den Fremden aus einem etwas weiter entfernten Nachbarort. Daraufhin soll Poljakow ihm bittere Rache geschworen haben.« Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und fummelte sofort eine neue aus ihrer Packung. »Sie haben sich aber aus den Augen verloren. Sind nie wieder zusammengetroffen. Sag mal, Eddie, es kann doch sein ...« Sie brach ab. »Du glaubst, Leo Adam war das? Er war der frühere Verehrer deiner Mutter?« »Das würde zumindest erklären, warum ich ihm bei unserem ersten Treffen alles über mich erzählen musste, ehe er mir etwas von seiner Matrjoschka verraten hat.« Sie zögerte. Ihre Augen weiteten sich. »Aber das bedeutet dann doch auch, dass er damals auf dem
Truppenübungsplatz meinem Vater begegnet sein muss. Ja klar! Sie müssen sich gesehen haben. Vielleicht haben sie sich sogar wiedererkannt. Ob sie noch miteinander sprechen konnten? Ich ... verflucht, was ist das nur für eine Scheiße!« Sie schüttelte den Kopf, starrte zwischen ihren Beinen hindurch in den Fußraum, als könne sie dort die Antwort finden. »Lass gut sein, Mädchen«, beendete Grischke ihre Gedanken. »Das wird niemand mehr herausfinden. Komm jetzt bloß nicht ins Grübeln. Erzähl mir lieber noch ein bisschen von dir. Um dich müssten sich die Kerle doch eigentlich auch prügeln, oder? Hast du einen Freund?« Sie lächelte gequält. »Hatte ich. Dieser Idiot ist schuld daran, dass der Plan aus der Matrjoschka fast komplett verbrannt ist.« »Du hast nicht aufgepasst«, erinnerte Grischke sie. »Dann ist er eben mitschuldig. Wenigstens ein bisschen. Ohne seinen Anruf wäre das ja nicht passiert.« »Da hast du wohl Recht«, bestätigte der Alte grinsend. »Und sonst? Gibt es schon einen Nachfolger?« »Warum? Sehe ich so aus, als bräuchte ich unbedingt einen Mann an meiner Seite?« Er wiegte den Kopf. »Hm ... ich dachte, dass du vielleicht mal eine Familie gründen willst. Kinder bekommen.«
Jana lachte schallend auf, laut genug, dass Grischke erschrocken ein kleines Stück zurückwich. »Gott bewahre! Ehe, Kinder! Bist du verrückt?«, rief sie. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, wenn ich deine Vorstellungen von einer vernünftigen Lebensplanung nicht teile.« Leo Adam hatte ihr auch schon diesen Rat gegeben – heiraten, eine Familie gründen. Als ob das die Garantie für Glückseligkeit wäre! »Muss dir nicht leidtun. Geht mich ja auch nichts an.« Grischke knüllte die leeren Papiertüten zusammen und warf sie achtlos auf die Rückbank. »Na los«, sagte er, »machen wir uns auf den Weg. Wir haben noch etwas zu erledigen.« »Moment.« Sie fasste ihn am Arm. »Was ist mit dir?«, fragte sie. »Du hast doch eine Familie. Willst du denen nicht langsam mal ein Lebenszeichen von dir geben? Sie machen sich bestimmt Sorgen um dich. Oder hast du ihnen gesagt, wo du dich herumtreibst?« »Ich habe ihnen auf einen Zettel geschrieben, dass ich unterwegs bin«, antwortete er vage. »Ich denke, das reicht. Mehr brauchen sie nicht zu wissen. Es ist besser, wenn ich mich nicht melde und mein Handy aus bleibt. Außerdem denke ich, dass wir spätestens am Nachmittag oder gegen Abend zurück sind.« Er sammelte die Reste ihres Frühstücks ein, verstaute sie in einer der Papiertüten und warf sie achtlos auf die Rückbank. Dann startete er den Mitsubishi.
23. Behrends kam vom Vortrag über die Psychologie des Abnehmens zurück auf sein Zimmer. Sein Kopf war vollgestopft mit Informationen. Ein heilloses Durcheinander von Empfehlungen und Ratschlägen, das seine Gedanken lähmte. In sich hineinhorchen, sich selbst kennenlernen, selbstbestimmt abnehmen, unrealistische Ziele vermeiden, sich keinem Diätstress aussetzen – wie sollte er das alles auf die Reihe kriegen? Erschöpft warf er sich auf sein Bett und schloss für einen Moment die Augen. Keine gute Idee, denn dadurch verstärkte sich das Chaos hinter seiner Stirn nur noch. Er stand wieder auf, ging zum Fenster, starrte hinaus. Wenn sich Holger doch bloß melden würde. Er musste hier weg! Je eher, desto besser. Keine fünf Minuten später rief Diekmann an. »Na endlich!«, stieß Behrends erleichtert aus. »Ich habe schon wer weiß wie oft versucht, dich zu erreichen. Wo steckst du denn?« »Sorry, ich habe gesehen, dass Du angerufen hast, aber jetzt erst deine Nachricht auf der Mailbox abgehört und gemerkt, dass es brennt«, entschuldigte sich Diekmann. »Ich bin gerade auf der Raststätte Harz angekommen. Wollte eigentlich eine Pause machen und in Ruhe einen Kaffee trinken, ehe ich nach Hause
weiterfahre.« »Kannst du dich mit dem Kaffeetrinken ein bisschen beeilen?« Behrends lief unruhig vor der Fensterfront zum Balkon auf und ab. »Es wäre gut, wenn du so schnell wie möglich zu mir in die Klinik kommst. Ich brauche dich hier. Es ist wirklich dringend!« »He, he, mal ganz ruhig! Was ist denn los mit dir? Ist was passiert?« »Das kannst du wohl sagen! Ich erkläre es dir, sobald du da bist. Wir essen schnell was zusammen. Ich lade dich ein.« »Das kann ich natürlich nicht ausschlagen.« »Prima. Ich warte vor der Klinik auf dich.« »Und steck dir genug Geld ein!«, tönte Diekmann. »Mit Currywurst an der Pommesbude kommst du mir nicht davon! Bis gleich.« Dann war die Verbindung unterbrochen. Behrends starrte auf sein Smartphone. »Blödmann«, knurrte er leise und schob das Gerät in seine Hosentasche. Er ging zum Schreibtisch. Ein flüchtiger Blick auf seinen Behandlungsplan erinnerte ihn an die Termine, die heute noch anstanden. Dazu kam ein weiterer Vortrag am Abend. An seinem Entschluss, sich mit Holger auf die Suche nach Edgar Grischke zu machen, änderte das nichts. Wozu gab es den netten Physiotherapeuten, Herrn Steinberg, der unten, an der Anmeldung zur Physikalischen Therapie die Behandlungspläne zusammenstellte? Schon bei
ihrer ersten Begegnung hatte der Mann ihm seine Hilfe angeboten, sollte es einmal Terminprobleme geben. Jetzt gab es diese Probleme, und er würde ihn bitten, seine Anwendungen zu verlegen. Auf morgen. Oder noch besser, auf übermorgen. Eine Begründung für sein Anliegen würde ihm schon einfallen. Aber vielleicht war der nette Herr Steinberg ja noch netter als angenommen und er fragte ihn erst gar nicht danach. Auf halbem Weg nach unten lief Behrends Doktor Beuermann in die Arme. Die Frau wurde ihm langsam unheimlich. Sie musste mindestens ein oder zwei Doppelgängerinnen haben. Anders war es nicht zu erklären, dass sie sich auf dem ausgedehnten Klinikgelände andauernd begegneten. »Na, Herr Behrends, wir sehen uns ja heute Abend zu meinem Vortrag über die Risikofaktoren des Cholesterins«, krächzte sie und ließ ihre Augen abschätzig an seiner Figur hinabgleiten. »Müssen Sie dran teilnehmen, habe ich Recht?« Behrends blieb abrupt stehen. »Sie?«, rief er erschrocken aus. »Aber, macht das nicht ein Kollege von Ihnen?« »Krank. Ich musste kurzfristig für ihn einspringen. Aber keine Angst, auf dieses Thema brauche ich mich nicht lange vorzubereiten.« »Äh, ja ... nein, natürlich nicht. Kein Problem«, stammelte er irritiert.
Doktor Beuermann lachte mit ihrer heiseren Stimme auf. »Da bin ich aber erleichtert! Also dann, bis heute Abend.« Sie wandte sich ab und ging weiter. Verdammt! Ausgerechnet die Beuermann! Die steckte es doch sofort Katrin, wenn er den Vortrag schwänzte. Kaum anzunehmen, dass er rechtzeitig wieder zurück sein würde. Aber wegen dieser Frau brav in der Klinik bleiben? Für einen Moment schwankte er zwischen seinem Pflichtgefühl als Patient und dem Drang, seinen kriminalistischen Instinkten zu folgen. Klar, es war verantwortungslos, wenn er eine ärztlich verordnete, kostspielige Rehabilitationsmaßnahme mit eigensinnigen und kaum zu begründenden Ausflügen boykottierte. Andererseits war es genauso wenig zu verantworten, zwei Menschen oben im Harz ihrem Schicksal zu überlassen. Besonders, wenn man der Einzige war, der ihnen wirklich helfen konnte. Das musste diese Beuermann doch begreifen – und Katrin letztendlich auch! »Warten Sie, Frau Doktor!«, rief Behrends der Ärztin hinterher. Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um. »Ja?« »Haben Sie einen Moment?« »Zehn Minuten. Reicht das?«, fragte sie mit einem gehetzten Blick auf ihre Armbanduhr und kehrte um. »Danke.« Behrends nickte. »Kommen Sie mit«, forderte sie ihn auf und
schob ihn mit leichtem Händedruck gegen seinen Rücken vor sich her. »Um die Ecke ist ein ruhiges Plätzchen. Da können wir ungestört reden.« Behrends nickte und ließ sich widerstandslos schieben. Die Frau trat mit einer Selbstverständlichkeit auf, der er nichts entgegenzusetzen hatte. »Also, wie soll ich es Ihnen erklären«, druckste Behrends herum, als sie saßen. »Ich bin da in einer blöden Zwickmühle.« »Und die wäre?« Doktor Beuermann beugte sich interessiert vor. »Ja, wissen Sie, im Grunde sollte ich mich, solange ich hier bin, nur um meine Gesundheit kümmern, das ist mir schon klar. Aber jetzt ist ein Freund in Not geraten und braucht dringend meine Hilfe.« Er holte tief Luft. »Kurz und gut, ich muss die Klinik für einige Stunden verlassen und werde zu Ihrem Vortrag vermutlich nicht zurück sein können.« »Sie meinen Edgar Grischke, habe ich Recht?« »Äh ...« Behrends verschlug es vor Überraschung die Sprache. Irritiert starrte er die Ärztin an. »Woher wissen Sie denn davon?« »Ich kenne den alten Gärtner«, sagte sie, »er beliefert mich mit seinem Honig. Und heute Morgen habe ich zufällig seinen Sohn getroffen. Vor der Klinik. Er kam von Ihnen und hat mir vom Verschwinden seines Vaters erzählt. Er hatte wohl gehofft, dass Sie ihm
helfen können. Vermisstenmeldung, Suchaktion und so weiter.« Behrends zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen. »Leider ist das nicht so einfach. Um den Polizeiapparat in Gang zu bringen, müssen ein paar Kriterien erfüllt sein, die im Fall Edgar Grischke nicht gegeben sind.« »Aber richtig wohl fühlen Sie sich bei der Sache anscheinend nicht. Sie machen sich Sorgen um den Mann und wollen ihn auf eigene Faust suchen, stimmt’s? Ansonsten würden wir vermutlich nicht hier sitzen.« »Tja ...« Behrends fragte sich, ob die Frau womöglich ihren Beruf verfehlt hatte und mit ihrer Kombinationsgabe bei der Kriminalpolizei nicht besser aufgehoben wäre. »Eine Frage habe ich trotzdem noch«, sagte sie. »Und die wäre?« »Was macht Sie so sicher, dass Sie Edgar Grischke finden können? Wissen Sie etwa, wo er steckt? Und wenn, warum sagen Sie es dann nicht Ihren Kollegen? Damit die sich um ihn kümmern können.« »Das war jetzt aber mehr als eine Frage«, entgegnete er spöttelnd und grinste verlegen. »Hören Sie, wenn Sie mich schon zur Komplizin machen wollen, dann sollten Sie keine Spielchen mit mir treiben«, konterte sie scharf. »Also, was jetzt?« »Nein, ich weiß nicht, wo er steckt«,
antwortete Behrends kleinlaut. »Ich habe nur so eine Ahnung, was er vorhat. Er ist mehr zufällig in eine Sache hineingeraten, die gefährlich für ihn werden könnte.« »Inwiefern?« Behrends blickte zur Seite, presste die Lippen zusammen. »Das ist eine lange, komplizierte Geschichte und reichlich spekulativ obendrein«, sagte er schließlich. »Deshalb konnte ich meine Kollegen bisher auch nicht davon überzeugen, sich der Sache anzunehmen.« »Aber Sie sind sich sicher und wollen den Dingen auf den Grund gehen. Vermutlich sofort. Und lassen dafür sogar meinen Vortrag sausen.« Sie presste sich einen kleinen Seufzer ab. »Na, was soll’s.« »Wäre das ein großes Problem für Sie?« Er blickte sie fragend an. Doktor Beuermann lehnte sich in ihrem Sessel zurück und starrte einen Moment an die Decke. Dann beugte sie sich mit einem Ruck nach vorn. »Für mich nicht«, sagte sie, »für Sie möglicherweise schon.« Sie nickte. »Aber gut, ich werde Ihnen den Rücken freihalten. Auch wenn ich nicht weiß, was Sie vorhaben und auf was ich mich da einlasse. Ich gehe davon aus, dass Sie zum Zapfenstreich auf keinen Fall zurück sein werden. Was denken Sie, liegen Sie morgen früh wieder in Ihrem Bett?« Behrends kratzte sich im Nacken, sog tief die Luft ein. »Schwer zu sagen.«
Doktor Beuermann nickte. »Na schön. Dann weiß ich Bescheid. Sie werden keine Schwierigkeiten kriegen.« »Vielen Dank, Frau Doktor. Das ist wirklich sehr anständig von Ihnen«, erwiderte Behrends erleichtert. »Und seien Sie, verdammt noch mal, vorsichtig! Ich möchte mir keine Vorwürfe machen müssen, wenn Ihnen was zustößt.« Behrends winkte ab. »Keine Sorge, Frau Doktor, ich passe auf mich auf. Außerdem bin ich nicht allein. Ich habe einen Begleiter. Mit Auto.« »Richtig, Sie sind ja nicht motorisiert.« Sie zwinkerte ihm zu. »Seien Sie froh, dass ich Krimis und spannende Geschichten liebe. So einen Kriminalkommissar live in Aktion zu erleben, macht mich richtig kribbelig, wissen Sie das? Ich verlange natürlich von Ihnen, dass Sie mir nach Ihrer Rückkehr genauestens Bericht erstatten.« Als er fragend die Stirn krauste, ergänzte sie: »Nicht für die Klinikunterlagen, nur für mich. Für mein ganz persönliches Vergnügen.« Behrends nickte. »Als meine Komplizin haben Sie wohl ein Recht darauf.« »Das sehe ich auch so. Und was ist mit Katrin, Ihrer Frau?« »Au, verdammt!« Wie hatte er das nur vergessen können? Sie würde ihn wie jeden Abend anrufen, und er musste ihr ein Märchen auftischen, das sie ihm dann auch glaubte.
Bestenfalls. Wenn es dumm lief, würde sie merken, dass er nicht in der Klinik war und ihm unangenehme Fragen stellen. »Ich kann mich darum kümmern«, unterbrach Doktor Beuermann seine sorgenvollen Gedanken. »Ich werde sie anrufen und mit ihr reden. Wie Sie wissen, kennen wir uns. Sie wird keinen Verdacht schöpfen, vertrauen Sie mir. Vorausgesetzt, Sie übertreiben es nicht und sind spätestens morgen Abend wieder da.« »Solange wird mein Ausflug nicht dauern«, tönte er zuversichtlich und war froh, auch das Problem »Katrin« vergessen zu können. »Gut, Herr Behrends«, sagte Doktor Beuermann und erhob sich, »dann sehen Sie zu, dass Sie mir meinen Honigmann heil und gesund zurückbringen. Ich muss los.« Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und wollte sich noch einmal wortreich bedanken. Doch noch ehe er dazu kam, hatte sie sich umgedreht und hastete mit langen Schritten den Flur hinunter. Diekmanns VW-Bus wartete bereits vor der Klinik, als Behrends das Gebäude durch den Haupteingang verließ. Er erkannte das Fahrzeug erst beim zweiten Hinsehen. Noch immer war ihm der Anblick des Busses fremd. Diekmann hatte ihn sich vor etwa einem halben Jahr kaufen müssen, nachdem sein alter Bulli endgültig den Geist aufgegeben hatte.
Behrends ging um den Bus herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. »Schön, dass du so schnell kommen konntest«, sagte er zur Begrüßung. »Ich habe das Letzte aus der Karre rausgeholt«, entgegnete Diekmann. Er wandte sich ihm zu und stützte sich dabei mit dem Unterarm lässig auf dem Lenkrad ab. »Aber was macht man nicht alles für einen Freund«, ergänzte er. »Dann hoffe ich nur, du bist für weitere Schandtaten bereit.« »Und die wären?« »Eine Suchaktion zum Beispiel. Quer durch den Harz.« Diekmann pfiff leise durch die Zähne. »Hört sich interessant an. Wen suchen wir denn?« Behrends blickte an Diekmann vorbei aus dem Fahrerfenster und zum Klinikeingang hin. »Komm, lass uns erst mal von hier verschwinden. Wir fallen auf. Und vermutlich hast du Hunger.« »Allerdings.« »Zum Italiener?« »Gute Idee.« Diekmann startete den Bus. Die Pizzeria Taranto befand sich nur wenige Hundert Meter von der Klinik entfernt. Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster und studierten eine Weile die Speisekarte. Diekmann entschied sich für das Schnitzel »Taranto« in Tomatensauce mit Paprika,
Champignons und Zwiebeln. Zu trinken nahm er ein Hefeweizen. Behrends wählte eine Pizza Marinara mit Käse, Thunfisch und Meeresfrüchten und bestellte dazu eine Apfelschorle – zur Beruhigung seines schlechten Gewissens, das er nicht völlig ausblenden konnte. »Edgar Grischke ist verschwunden«, begann Behrends, als die Bedienung gegangen war. Diekmann runzelte die Stirn. »Dein neuer Kumpel? Der Gärtner?« »Genau der.« »Und was hast du damit zu tun?« »Ich vermute, er hat letzte Nacht Jana Schuchart im Harz aufgegabelt und ist jetzt mit ihr unterwegs, um diese verdammten Beweise zu suchen. Mit denen sie angeblich den Mörder ihres Vaters überführen kann. Außerdem sind meine Kollegen hinter dem Mädchen her und so, wie es aussieht, auch noch ein paar Typen, mit denen nicht zu spaßen ist. Alles Gründe, Grischke und das Mädchen vorher zu finden.« Er hielt kurz inne und spielte einen Moment an der Tischdekoration herum. Dann fragte er: »Was ist denn jetzt bei deinem Besuch in Wismar rausgekommen?« »Moment, Ingo, erst mal erklärst du mir das etwas genauer. Wer jagt hier wen und warum?« Behrends fasste die Ereignisse zusammen, angefangen mit dem Besuch bei dem ehemaligen Stöberhai-Erfasser in Herzberg bis
hin zur Nachricht vom Verschwinden des alten Grischke. Er überließ es Diekmann, der ihm schweigend und ohne eine Regung zugehört hatte, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Bevor der das tun konnte, kam die Bedienung und brachte das Essen. »Und?«, fragte Behrends. »Passt das irgendwie zu deinen Informationen?« Er beugte sich über seinen Teller und sog gierig den aufsteigenden Duft ein. Dann nahm er Messer und Gabel, schnitt ein großes Stück von der Pizza ab und schob es sich in den Mund. »Komm schon! was denkst du?«, nuschelte er kauend. Diekmann ließ sich nicht drängen. Statt zu antworten, schaufelte er mit großem Appetit Gabel um Gabel in sich hinein. Gelegentlich legte er das Messer aus der Hand, um einen Bissen mit einem Schluck Bier hinunterzuspülen. »Boah! Echt lecker«, ächzte er, nachdem er den Teller fast zur Hälfte geleert hatte, und stöhnte genussvoll auf. Er unterdrückte einen Rülpser, dann deutete er mit der Messerspitze auf Behrends. »Weißt du eigentlich, wie heiß deine Geschichte wirklich ist?« »Ich kann es mir denken.« »Nee, kannst du nicht«, widersprach Diekmann. »Ebenso wenig, wie diese Jana Schuchart. Die ahnt vermutlich nicht mal, mit was für Leuten sie sich da angelegt hat. Ulrich Vetter hätte am besten die Klappe gehalten
und ihr gar nichts gesagt.« »Warum?«, wunderte sich Behrends. Diekmann sog vernehmlich die Luft durch die Nase ein. »Weil er mit seinen Recherchen in ein verdammtes Wespennest gestochen hat. Und er hat, ob gewollt oder ungewollt, das Mädchen mit reingezogen, als er sie getroffen und angequatscht hat. Scheint, als hinge dein Edgar Grischke jetzt ebenfalls mit drin.« Er erzählte Behrends von Vetters Aufzeichnungen und den darin enthaltenen Hinweisen, Erkenntnissen und Schlussfolgerungen. Ganz nebenbei leerte er seinen Teller bis zum letzten Soßentropfen. »Tja, mein Lieber«, endete er, »so sieht es aus. Was hältst du davon?« Er schob den leeren Teller ein Stück von sich weg, legte die Arme verschränkt auf die Tischplatte und beugte sich gespannt ein Stück zu Behrends hinüber, der ebenfalls an seinem letzten Bissen kaute. »Ich fasse es nicht«, stöhnte der nur und starrte wie geistesabwesend die tönerne Amphore an, die die Ablage der Eckbank gegenüber zierte. »Ausgerechnet Joachim Passlack! Dem habe ich bei der letzten Bundestagswahl meine Stimme gegeben! Und der war Stasi-Offizier? Bist du sicher?« »Irrtum ausgeschlossen.« »Und ich dachte immer, der wäre ein anständiger Kerl. Wie man sich doch in den Menschen täuschen kann.« »Vielleicht solltest du dich besser über die
Kandidaten informieren, bevor du hinter irgendeiner Partei dein Kreuz machst.« Behrends lachte bitter auf. »So, wie du etwa? Na, dann wirst du ja schon lange herausbekommen haben, wer dieser Passlack wirklich ist!« »Beruhige dich. War nur ’n Spaß.« Diekmann bedachte ihn mit einem entwaffnenden Grinsen. »Außerdem ist noch nicht bewiesen, dass er derjenige war, der damals auf dem Truppenübungsplatz die Männer erschossen hat. Bisher gibt es ja nur die ungesicherte Aussage dieses anonymen Informanten. Und der hat auch nur vom Wassermann geredet. Dass Passlack dahintersteckt, hat Vetter erst recherchiert.« Er unterbrach sich und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Bierglas. »Davon mal abgesehen«, fuhr er dann fort, »ist er natürlich auch ohne diese Geschichte jemand, dem man genauer auf die Finger sehen sollte. Seine Arbeit als Rüstungslobbyist, in Verbindung mit seiner Stasi-Vergangenheit zeigt doch recht deutlich, in was für Schlammlöchern der Kerl sich vermutlich noch heute suhlt. Ich wundere mich immer wieder, wie es solche Typen schaffen, unter dem Deckmantel des demokratisch gewählten Abgeordneten denselben Scheiß weiterzumachen. Ohne dass es jemand mitkriegt.« »Oder mitkriegen will«, fügte Behrends ein wenig schuldbewusst hinzu.
»Genau.« Behrends blickte nachdenklich an Diekmann vorbei. »Und Adam? Hast du noch irgendwas über den erfahren können?«, fragte er nach einigen Sekunden. »Vetter hat doch garantiert versucht, sich über den Russen schlauzumachen.« »Schon«, stimmte Diekmann zu, »aber in seinen Unterlagen steht auch nicht mehr als das, was du weißt. Außer dass er mal wegen einer Lungengeschichte in einem Sanatorium im Ostharz war und sich da mit dem behandelnden Arzt angefreundet hat. Das war’s.« Er nickte und klatschte unternehmungslustig mit den Händen auf seine Oberschenkel. »So, Herr Hauptkommissar, wie ist denn nun dein Plan?« Behrends stützte sein Kinn auf und legte die Stirn in Falten. »Tja, das ist das Problem. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir die zwei suchen sollen. Wir sollten in Torfhaus anfangen. Noch mal den Kellner befragen, der sie da oben bedient hat.« »Meinst du nicht, das haben deine Kollegen schon ausführlich getan?« »Natürlich«, bestätigte Behrends, »aber um Grischke ging es dabei garantiert nicht. Davon, dass der Alte im Spiel ist, haben die nämlich keine Ahnung. Ich bin gespannt, was der Kellner sagt, wenn wir ihn auf Grischkes Mitsubishi ansprechen. Vielleicht ist ihm der aufgefallen.«
»Du glaubst doch nicht, diese Jana Schuchart ist seelenruhig dorthin zurückgekehrt, damit der Alte sie dort einladen kann!« »Das nicht, aber ...« Behrends ließ den Satz in der Luft hängen, zog die Unterlippe ein und kaute nachdenklich darauf herum. »Und dann?«, fragte Diekmann. »Auch wenn Grischke da oben rumgekurvt ist und jemand hat ihn gesehen, wissen wir immer noch nicht, wohin er gefahren ist. Oder denkst du, was er und das Mädchen suchen, befindet sich in Torfhaus oder da in der Nähe?« Behrends richtete sich auf und spannte seinen Oberkörper an. »Ich möchte auf jeden Fall den Kellner selbst noch einmal befragen. Ich überlege mir unterwegs, wie wir danach weitermachen, falls das nichts bringen sollte.« Er drehte sich zur Theke um und winkte die Bedienung heran, um zu zahlen. »Auf geht’s. Komm!«, forderte er Diekmann auf, während er sein Portemonnaie wieder einsteckte. Doch der verharrte auf seinem Platz und sah ihn unverwandt an. Einige Sekunden vergingen. »Was ist?« Es kam Behrends vor, als wollten die neugierig forschenden Blicke seines Freundes ihn durchbohren. »Warum machst du das bloß?«, fragte Diekmann schließlich, und in seiner Stimme schwang ein provozierender Unterton mit, der Behrends irritierte. »Warum mache ich was?«
»Das alles. Die Suche nach Grischke und der Kleinen. Das ganze Theater. Das ist die Aufgabe deiner Kollegen. Du bist nicht im Dienst. Du gehörst in die Klinik!« »Was soll das denn jetzt werden?« Behrends hatte nicht damit gerechnet, dass Diekmann ihm ins Gewissen reden würde! Er schnaubte verärgert und setzte sich wieder. Mit dem Zeigefinger vor der Nase seines Freundes wedelnd, sagte er: »Hör zu, Holger, meine Kollegen verfolgen andere Spuren. Was ich ihnen zu sagen habe, wollen sie nicht hören. Und die zwei, Grischke und die Schuchart, sind in Gefahr! Da bleibt mir wohl kaum was anderes übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen.« »Rede keinen Blödsinn, Ingo!«, unterbrach ihn Diekmann schroff. »Deine Leute würden auf dich hören, wenn du es nur wolltest und es richtig anpacken würdest. Besonders jetzt, mit den aktuellen Erkenntnissen. Aber das hattest du überhaupt nicht vor. Weißt du, was ich glaube?« »Na?« »Du willst es dieser Azzouzi beweisen. Musst ihr zeigen, dass du der Chef im Ring bist und sie eine grüne Anfängerin. Warum akzeptierst du nicht einfach, dass andere auch was von ihrem Job verstehen? Du machst dich lächerlich, ist dir das eigentlich klar?« Behrends erwiderte nichts. Er spürte, wie die Röte in sein Gesicht stieg, und starrte an
Diekmann vorbei ins Leere. Sein Atem ging schwer. »Und du?«, fragte er schließlich. »Warum machst du mit? Ganz bereitwillig, ohne ein einziges Wort des Widerstandes? Doch nicht etwa wegen der Sensationsstory, die du witterst und auf die du dein Leben lang gewartet hast, oder? Nein, ganz bestimmt nicht. Du hast durch und durch ehrenwerte Motive. Ich frag mich nur welche. Was würdest du zu dieser Interpretation sagen: Der Mann im Koma hat die Vorarbeit geleistet, und du führst es jetzt zu Ende, erntest die Lorbeeren. Es könnte Blut fließen und du bist live dabei. Das wäre was! Ist es nicht so?« Diekmanns Augen verdunkelten sich, funkelten wütend. Einen Augenblick schien es, als wollte er aufspringen und Behrends an die Gurgel gehen. Doch plötzlich lächelte er: »Okay. Ich habe verstanden. Das nennt man dann wohl Pattsituation. Also, auf was können wir uns einigen?« Behrends stieß die Luft aus und grinste: »Sagen wir so: Wir sind im Dienste der Wahrheitsfindung unterwegs. Das trifft es am besten.« »Fast wie die Blues Brothers – im Auftrag des Herrn. Nur ein ganz kleines bisschen anders«, ergänzte Diekmann lachend und erhob sich endlich. »Zu deiner Beruhigung, wenn es eng werden sollte, verständige ich natürlich die Kollegen«, sagte Behrends, als sie gleich darauf vor die
Tür traten. »Ach übrigens, du solltest besser zu Hause Bescheid geben.« »Längst erledigt«, entgegnete Diekmann. »Ich habe geahnt, dass es länger dauern könnte.« Als Behrends ihn erschrocken anblickte, fügte er hinzu: »Keine Bange. Dich habe ich mit keinem Wort erwähnt.«
24. Als sie in die Zufahrt zur Klinik Albrechtshaus einbogen hatte sich die Sonne durch den Dunst gekämpft. Bereit, dem Harz einen weiteren warmen und wolkenlosen Tag zu schenken. »Wie im Dornröschenschlaf«, murmelte Jana, als sie an den überwucherten Holzzaunelementen mit der abblätternden Farbe entlangfuhren, die zwischen vermoosten Steinpfeilern hingen und die geschotterte Zufahrt säumten. »Sieht ganz schön verwahrlost aus«, brummte Grischke mürrisch. »Hat schon lange kein Gärtner mehr Hand angelegt. Und reger Verkehr herrscht hier auch nicht, nach dem Zustand dieser Straße zu urteilen, oder was das hier sein soll.« Er deutete auf den dichten Grasstreifen, der sich in der Mitte des Weges entlangzog. Dann tat sich unvermittelt das Klinikgelände vor ihnen auf. Links, direkt an der Baumgrenze, ragte die verwitterte Holzfassade des Hauptgebäudes wie eine Filmkulisse in den Himmel. Umgeben war das Gebäude von einem Bauzaun. Man konnte die Zerstörung ahnen, die sich dahinter verbarg. Zu sehen war sie noch nicht. Erst als Grischke den Wagen im Schritttempo weiterrollen ließ, kamen Stück für Stück die Trümmer ins
Blickfeld, die der verheerende Brand hinterlassen hatte. Mit jedem Meter offenbarte sich ihnen mehr von dem lang gestreckten Klinikgebäude und damit auch das ganze Ausmaß der Zerstörung. Jana löste ihre Augen von der Ruine und blickte nach rechts. Sie bemerkte die kleine Kirche, die hinter einem ausladenden Nadelbaum hervorlugte. »Stopp!«, rief sie. Grischke trat erschrocken auf die Bremse. »Was ist?« »Sieh mal, da drüben, die Kirche! Ist die nicht schön?« Sie wirkte plötzlich wie weggetreten und gab sich ganz der Faszination hin, die das Gebäude auf sie ausübte. Hatten die Fotos im Internet ihr schon eine Ahnung davon vermittelt, was sie erwartete, so wurden ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit weit übertroffen. Die kleine Kirche im nordischen Baustil weckte Bilder in ihr, die sie aus ihren so geliebten Fantasy-Filmen und -Büchern kannte. Für Sekunden wurde sie in eine Welt der Mythen und Sagen entführt, fernab jeder Realität. »Wir sollten den Wagen möglichst schnell irgendwo unter den Bäumen abstellen«, riss Grischke sie aus ihren Träumen. »Hier steht er mir etwas zu sehr auf dem Präsentierteller.« »Dann steige ich aus und schaue mir die Kirche schon mal etwas genauer an. In Ordnung?« »Von mir aus.« Grischke schien nicht ganz
wohl bei dem Gedanken, seine Begleiterin auch nur eine Minute aus den Augen lassen zu müssen. »Aber sieh dich vor. Ich bin gleich wieder bei dir.« »Hast du etwa Angst um mich?«, fragte sie verwundert und gleichzeitig berührt von seiner Fürsorge. »Musst du nicht. Was soll mir denn passieren? Hier ist nichts und niemand.« Grischke legte den Gang ein. »Stopp!« Jana hieb in dem Augenblick gegen den hinteren Kotflügel, als er gerade wieder anfuhr. Er hielt und ließ die Seitenscheibe herunter: »Was ist denn noch?« »Hast du Werkzeug im Auto? Ich glaube nicht, dass ich so einfach in die Kirche komme.« Grischke betrachtete das kleine Holzgebäude. Sämtliche Fenster und auch die Tür waren mit braunen Holzplatten gesichert. »Du willst einbrechen?«, fragte er. »Ungern«, erwiderte sie, »aber ich muss da rein.« Grischke stieg aus: »Mit dir erlebt man was«, brummte er und sah zu Boden. Versuchte er, ein Grinsen vor ihr zu verbergen? »Der alte Radschlüssel aus meiner Werkzeugtasche müsste gehen. Der hat am entgegengesetzten Ende eine abgeflachte Kante. Wie ein Stemmeisen.« Er öffnete die Heckklappe und kramte das Bordwerkzeug heraus.
Als Grischke etwas später zu ihr stieß, hatte Jana im spärlichen Licht bereits oberflächlich den Innenraum der Kirche abgesucht. Gerade war sie dabei, den Altarraum näher in Augenschein zu nehmen. Beinahe ehrfürchtig glitten ihre Finger über das dunkle Holz und die Schnitzereien des Altars. »Und? Hast du schon was entdeckt?«, rief er und lief den Gang zwischen den Bankreihen zu ihr nach vorn. »Bisher noch nicht«, sagte sie, ohne sich nach ihm umzudrehen. »Es ist eine verdammte Schande, weißt du das?« »Was?« Grischke verstand nicht, was sie meinte. »Na, sieh dich mal um!« Sie deutete auf ein paar eingeschlagene Fensterscheiben, zerstörte Lampenschirme, eine Sitzbank mit zerborstener Rückenlehne und Farbschmierereien an den Wänden. »Wer das gemacht hat, sollte sich schämen!« »Bist du sehr gläubig?« »Nein, kann ich nicht von mir behaupten«, sagte sie, »aber das hat mit Religiosität auch nichts zu tun. Was sind das nur für Typen, die keinen Respekt haben vor so viel Schönem?« »Die Dummheit und Ignoranz der Menschen kannst du nicht ausrotten«, entgegnete er lapidar und drehte sich langsam um die eigene Achse. Sein Blick glitt über die Holzwände, die Sitzreihen, hin zur Orgel. Nachdenklich kratzte er sich im Nacken. »Hast du eine Idee, wo
jemand hier drinnen etwas versteckt haben könnte?«, fragte er kurz darauf. »Ich suche eine Tür. Irgendeinen Zugang, der uns unter die Kirche führt.« »Was? Warum das denn?« Sie legte den Kopf schief und musterte ihn zweifelnd. »Krypta. Schon vergessen?« Weder entdeckten sie einen Zugang, noch einen Ort, der als Versteck infrage gekommen wäre. Einzig ein kleiner Hohlraum im Steinfußboden hinter dem Altar hätte dazu getaugt. Mehr als Staub, Mäusekot und Spinnenweben fanden sie allerdings nicht darin. Gut zwei Stunden suchten sie auf dem Gelände weiter, drehten jeden Stein und jeden Ast um, schlüpften durch die Lücken im Bauzaun, die sich an mehreren Stellen auftaten, und wühlten in den Trümmern der Brandruine. Sie erforschten Gänge, Hallen und Zimmer, sofern es ihnen gelang, die Berge von Schutt und verkohlten Holzbalken zu überwinden, die ihnen im Weg lagen und die Zugänge versperrten. Nichts. Auch nicht in den abseits stehenden Gebäuden, die früher vermutlich neben Patienten auch das Personal beherbergt hatten und die jetzt inmitten von Sträuchern und Gestrüpp ihrem endgültigen Verfall entgegendämmerten. Ratlos standen sie danach auf dem Platz vor der Ruine und blickten sich fragend an. »Und nun?« Jana konnte ihre Enttäuschung
nicht verbergen. »Was, wenn es diese angeblichen Beweise gar nicht gibt?«, meldete Grischke zaghafte Zweifel an. »Zum Teufel noch mal, es muss sie aber geben!«, stieß sie zwischen ihren Zähnen hervor und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Es muss einfach!« In ihren Augen lag etwas Fanatisches, sie wirkte zu allem entschlossen. Beinahe schien es, als wolle sie Kraft ihrer Gedanken die Gebäude und das Gelände um sie herum dazu zwingen, das Versteck von sich aus preiszugeben. »Komm, lass gut sein«, versuchte Grischke, sie zu beschwichtigen. »Wir haben alles versucht.« »Nein, ich lasse es nicht gut sein!« Sie atmete schwer. »Was glaubst du? Dass Leo Adam diesen ganzen Hokuspokus mit der Puppe und dem Papier darin nur veranstaltet hat, um die Leute zu verarschen? Denkst du, er schaut uns jetzt aus der Hölle oder von sonst wo zu und lacht sich über uns kaputt? Ich glaube das nicht!« »Na schön, dann lass uns noch mal überlegen«, lenkte Grischke ein. »Vielleicht haben wir was übersehen. Wäre kein Wunder bei dem Chaos hier.« Er schüttelte mutlos den Kopf. »Etwas genauer hätte Leo den Ort schon beschreiben können.« »Warte mal.« Jana wandte sich der Ruine in ihrem Rücken zu. »Mir fällt da gerade was ein.
Unter dem Treppenaufgang, diese Fugen in der Wand ... weißt du, was ich meine? Wir sollten noch mal reingehen und uns das genauer ansehen.« »Wenn du unbedingt willst, von mir aus«, brummte Grischke wenig überzeugt, »aber zuerst muss ich dringend in die Büsche.« Sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände. »Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach.« Jana hatte sich getäuscht. Das Geheimfach, das verborgen hinter dem Mauerwerk lag und dessen steinerne Tür sich durch Druck auf ein unscheinbares Symbol an der Wand öffnen ließ, gab es vielleicht in ihren Fantasyfilmen, aber nicht in der Realität. Sie richtete sich auf und lief die Stufen zum Erdgeschoss hinauf. Wo blieb Eddie? So lange konnte es doch nicht dauern, bis er sich erleichtert hatte. Plötzlich überfiel sie eine diffuse Angst, die sich noch verstärkte, je näher sie dem Ausgang kam. Irgendjemand war in der Nähe. Sie spürte es. Dieser Jemand war aber nicht der Alte, sondern eine fremde Person, von der Gefahr ausging. »Eddie, bist du da?«, rief sie zaghaft. Sie bekam keine Antwort. Auf Zehenspitzen schlich sie weiter, hin zu der Öffnung, die von rußigem, zerborstenem Mauerwerk umrahmt wurde. Ein Rascheln ließ sie kurz verharren. Erschrocken blickte sie zur Seite. Nur trockene Blätter, von einem schwachen Windstoß aufgewirbelt, mehr nicht.
Sie erreichte die Öffnung, machte einen Schritt nach draußen. »Eddie?« Der Schlag traf sie so heftig im Bauch, dass er ihr die Luft aus dem Körper presste.
25. »Sie sehen doch, dass ich zu tun habe«, raunzte der Kellner auf der Bavaria-Alm Diekmann an, als der ihn auf die Ereignisse der vergangenen Nacht ansprach. »Außerdem habe ich der Polizei bereits alles gesagt, was ich weiß.« »Ich bin aber von der Presse. Sie haben meinen Ausweis gesehen. Schon vergessen?«, entgegnete Diekmann. »Ja und? Glauben Sie, das macht es besser? Ihr Schreibfuzzis seid mir doch auch schon stundenlang auf den Sack ...« Er ließ den Satz unvollendet, winkte nur ab und machte ein paar Schritte in Richtung eines Tisches, an dem sich soeben vier Besucher niedergelassen hatten. »Ich muss mich um die Gäste kümmern.« »Nur eine einzige Frage, dann lasse ich Sie in Ruhe«, rief Diekmann ihm hinterher. Der Kellner blieb stehen und drehte sich stöhnend zu ihm um. »Also gut, was wollen Sie wissen?«, fragte er resigniert. Diekmann beschrieb ihm Grischkes Geländewagen und nannte das Kennzeichen. »Ist Ihnen der Wagen gestern Abend aufgefallen?« Der Kellner konnte sich nicht erinnern. Weder hatte er ein entsprechendes Fahrzeug
vor der Flucht des Mädchens bemerkt, noch später. Was allerdings bei dem Betrieb, der hier auf der Alm jeden Tag herrsche, auch kein Wunder sei, meinte der Kellner. Man achte nicht auf jedes Auto, das am Straßenrand halte oder auf den Parkplatz fahre. Diekmann bedankte sich bei dem Mann und ließ ihn endlich ziehen. Kopfschüttelnd kam er zu Behrends zurück. Der hatte, scheinbar unbeteiligt, von einem der Tische aus das kurze Gespräch zwischen seinem Freund und dem Kellner verfolgt. Er hatte es vorgezogen, im Hintergrund zu bleiben. Seine Privatermittlungen sollten, solange es irgend ging, auch tatsächlich privat bleiben. Abgesehen von Holger und Doktor Beuermann brauchte niemand zu wissen, weshalb er sich im Harz herumtrieb. Noch immer durchsuchte ein Polizeiaufgebot rund um Torfhaus die Wälder nach der Flüchtigen. Auf ihrer Fahrt von Bad Lauterberg hoch zur Bavaria Alm hatten sie die Einsatzbusse gesehen, die auf den Parkplätzen am Oderteich und entlang der Bundesstraße standen. Rund um die Alm selbst hatte sich die Lage aber beruhigt. Zwei Streifenwagen parkten in direkter Nähe zum Restaurant. Ob die Beamten die Alm observierten oder sich eine Pause gönnten, war nicht klar zu erkennen. »Nichts«, sagte Diekmann und setzte sich zu Behrends an den Tisch.
Der zuckte nur mit den Schultern. »Einen Versuch war es wert«, entgegnete er müde. Der Kellner hetzte an ihnen vorbei. »Hallo!«, rief ihm Behrends hinterher und erreichte damit, dass der Mann abstoppte und sich wütend zu ihnen umdrehte. »Was wollen Sie denn noch?«, blaffte er, ungeachtet der Tatsache, dass nicht Diekmann ihn angesprochen hatte. Er setzte eine gequälte Miene auf und erwartete vermutlich, dass Behrends das nervige Frage- und Antwortspiel anstelle seines Begleiters fortsetzen wollte. »Wir möchten etwas zu trinken bestellen.« Die überraschende Antwort brachte den Kellner für einen Moment aus dem Konzept. »Äh ... also ...«, stammelte er, fing sich aber sofort wieder. »Der Tisch gehört nicht zu meinem Bereich. Wenden Sie sich an die Kollegin da drüben.« Er deutete auf eine Frau, die vier Tische entfernt servierte. Dann suchte er das Weite. »Und jetzt?«, fragte Diekmann einige Minuten später, nachdem sie ihre Getränke geordert hatten. »Ich habe keine Ahnung«, gab Behrends zu. Die Arme auf der Tischplatte aufgestützt, lag sein Kopf, der ihm unendlich schwer vorkam, in seinen Händen. Nachdenklich blickte er zum Brocken hinüber. Der Berg ruhte majestätisch in der Nachmittagssonne. Der rot-weiße Sendemast auf dem Gipfel stach in den wolkenlosen Himmel, bildete einen harten
Kontrast zu dem kräftigem Blau. Die Gebäude, die den Mast umgaben, schimmerten hell, einzelne Fensterscheiben reflektierten die Sonnenstrahlen. Sieht aus, als würde er eine Krone tragen, huschte ihm ein Gedanke durch den Kopf, der Brocken – der König des Harzes. Die Getränke kamen, sie nahmen einen Schluck und gaben sie sich wieder ihrem nachdenklichen Schweigen hin. Plötzlich erwachte Behrends aus seinem Dämmerzustand und beugte sich ein Stück zu Diekmann vor. »Was war das noch mal mit diesem Arzt?«, fragte er. »Welcher Arzt?« »Du hast einen Arzt erwähnt, mit dem Adam befreundet war.« Diekmann erinnerte sich. »Ja, richtig, der aus diesem ehemaligen Sanatorium. Warum interessiert dich das? Spielt das eine Rolle?« »Vielleicht.« Er zog grübelnd die Augenbrauen zusammen. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte. »Grischke hat auch von einem Arzt gesprochen. Lungendoktor hat er den genannt. Angeblich der Einzige außer ihm selbst, dem Adam vertraut hat. Möglich, dass es sich um ein und denselben Mann handelt. Was sagtest du gleich, wie heißt er?« »Konrad Wieprecht. Steht so zumindest in Vetters Rechercheunterlagen.« Behrends rieb sich nachdenklich die
Nasenwurzel. »Was?«, fragte Diekmann lauernd. »Ich weiß nicht. Ist nur so eine Ahnung. Und das Sanatorium? Weißt du den Namen?« »Zufällig weiß ich auch den.« Diekmann strahlte. »Albrechtshaus. Liegt im Ostharz. Selketal. Wenn es das ist, von dem ich mal gehört habe, dann gibt es das aber nicht mehr. Ist nur noch ’ne Ruine. Genaueres müsste ich recherchieren.« »Mach das. Am besten sofort«, forderte ihn Behrends auf. »Du kommst doch mit deinem Smartphone ins Internet, oder? Ich versuche unterdessen, die Adresse des Doktors herauszufinden.« »Und wozu willst du wissen, wo der wohnt?« »Weil ich ihm einen Besuch abstatten möchte. Überleg doch mal: Adam wird damals auf dem Truppenübungsplatz verletzt. Er muss sich behandeln lassen, kann aber nicht ins nächste Krankenhaus, weil er dort Fragen beantworten müsste, die er nicht beantworten will. Also versucht er, jemanden zu erreichen, dem er vertraut und der zudem Arzt ist. Doktor Wieprecht, sein Freund.« Er unterstützte seine Theorie mit einem Nicken. »Vielleicht weiß der Mann etwas, was uns auf die Spur von Grischke und dem Mädchen bringt. Lass es uns versuchen.« Wenig später hatte Diekmann die im Netz verfügbaren Informationen zur Klinik
Albrechtshaus aufgerufen. Behrends hatte nach einem Arzt namens Konrad Wieprecht geforscht. Das Ergebnis stellte ihn nicht zufrieden. »Es gibt eine ganze Latte Wieprechts«, maulte er, »ein paar sogar mit Namen Konrad. Aber der, den ich suche, scheint nicht darunter zu sein. Verdammter Mist!« Er warf sein Smartphone verärgert auf den Tisch. »Lass mich mal machen«, beruhigte ihn Diekmann, »ich habe meine Quellen. Wenn du dich einen Moment gedulden kannst? Ich muss nur schnell jemanden anrufen.« Er wählte eine Nummer und hatte kurz darauf eine Frau am Apparat, deren Hilfe er offensichtlich schon öfter in Anspruch genommen hatte. »Hey, Anja, grüß dich!«, rief er, »ich muss dich mal wieder bitten, was für mich zu recherchieren.« Er lauschte einen Augenblick. »Super!«, sagte er dann. »Pass auf, ich brauche die Adresse von folgender Person ...« Er gab ihr alle verfügbaren Informationen zu Konrad Wieprecht durch. Dann beendete er das Gespräch. »Sie meldet sich gleich wieder«, sagte er auf Behrends’ fragenden Blick hin. Konrad Wieprecht lebte in Ballenstedt. Diekmanns Informantin hatte ihm die Adresse binnen zehn Minuten geliefert. Sie zahlten und machten sich eilig auf den Weg. Ihr Ziel lag in einer Nebenstraße im Westen der Stadt. Sie hielten vor einem zweigeschossigen Reihenendhaus, das von der
Straße durch einen Bürgersteig und einen schmalen, mit Koniferen bewachsenen Vorgarten getrennt war. Bis auf das Dach, das man vor nicht allzu langer Zeit saniert hatte, hüllte sich das Wieprecht-Haus in das schmutzige Graubraun der Vorwendezeit. Es strahlte eine Trostlosigkeit aus, die angesichts der Häuser nebenan mit ihren freundlichen, pastellfarbenen Anstrichen erdrückend wirkte. »Ich könnte so nicht leben«, brummte Diekmann, während er an der Fassade emporblickte. Sogar die Isolatoren der ehemaligen Freileitung, die das Haus vor etlichen Jahren mit Strom versorgt hatten, steckten noch in der Wand unterhalb des Dachvorsprungs. »Komm endlich«, drängte Behrends, »wir suchen ja kein neues Eigenheim für dich.« »Trotzdem, ist schon ziemlich deprimierend.« Diekmann senkte den Kopf und trottete zu seinem Freund hinüber, der bereits unter dem schmalen Windfang stand und den Klingelknopf drückte. Noch zwei Mal läutete Behrends, ehe sich etwas regte. »Moment, ich komme!«, rief eine weibliche Stimme aus dem Hausinneren. Sekunden später wurde die Tür geöffnet. »Ja, bitte?« Die Frau, die ihnen neugierig entgegenblickte, war klein und ein wenig pummelig. Sie trug ein kariertes Flanellhemd offen über einem grauen T-Shirt. Die
verwaschenen Jeans reichten ihr bis zu den Waden, die Füße steckten in grünen Crocs. Sie hatte Gummihandschuhe an und stützte sich auf einen Schrubber. Unter dem Kopftuch, das sie im Nacken zusammengebunden hatte, lugten ein paar graue Haarsträhnen hervor. Sie wischte sie sich mit dem Rücken ihrer Hand aus der verschwitzten Stirn. Die Putzfrau, dachte Behrends. Er schätzte sie auf etwa fünfzig Jahre. Schwer zu sagen. Ihren müden grauen Augen und den etwas hängenden Lidern nach zu urteilen, konnte sie auch älter sein. »Guten Tag«, sagte er, »mein Name ist Ingo Behrends und das«, er deutete auf seinen Freund, »ist Holger Diekmann. Wir möchten Herrn Wieprecht sprechen.« »Oh.« Sie blickte unsicher von einem zum anderen. »Das ist etwas ... Worum geht es denn?« »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich das Herrn Wieprecht gern persönlich sagen«, entgegnete Behrends und zog entgegen seiner ursprünglichen Absicht seinen Dienstausweis aus der Tasche. Er hatte das Gefühl, seinem Wunsch etwa Nachdruck verleihen zu müssen. Möglich, dass sich die Putzfrau auch gleichzeitig als Bodyguard des Arztes verstand. »Ich bin von der Kriminalpolizei.« Er hielt ihr seinen Ausweis hin. Sie studierte das scheckkartengroße Plastikdokument und reichte es ihm zurück.
»Northeim?«, fragte sie. »Sind Sie dann überhaupt hier zuständig?« »Amtshilfe«, entgegnete Behrends knapp und hoffte, die Frau würde seine Lüge schlucken. »Es geht um einen Mann, der seit letzter Nacht verschwunden ist.« »Und was hat mein Vater damit zu tun?«, fragte die Frau. »Sie sind Konrad Wieprechts Tochter?« »Richtig.« Sie nickte. »Und was meinen Vater betrifft – er wird ihnen nicht helfen können. Er hatte einen Schlaganfall. Sein Sprachzentrum, na ja, er kann nicht mehr richtig sprechen. Und auch sonst ... Tut mir leid.« »Oh!«, machte Behrends und blickte sich zu Diekmann um, der schräg hinter ihm stand. »Das wär’s dann wohl.« Es fiel ihm schwer, seine Enttäuschung zu verbergen. Diekmann quittierte Behrends’ zerknirschtes Gesicht mit einem hilflosen Schulterzucken und wandte sich der Frau zu. »Sagt Ihnen der Name Leonid Poljakow etwas?« Die Tochter des Arztes zuckte zusammen. »Poljakow?«, fragte sie. Ihre Augen huschten unruhig hin und her. »Richtig. Meinen Informationen zufolge war Ihr Vater mit ihm befreundet.« »War?« Diekmann suchte Blickkontakt zu Behrends, als müsse er ihn um Erlaubnis für eine Antwort bitten. Der übernahm das selbst. »Leonid
Poljakow wurde ermordet. Und vermutlich hat er ein paar Geheimnisse mit ins Grab genommen.« »Mein Gott«, stöhnte die Frau. Sie schien ehrlich erschüttert. »Wie ist das denn ... ich meine, wer hat ihn denn umgebracht?« »Leider wissen wir das noch nicht. Deshalb suchen wir ja diesen Mann. Er könnte helfen, den Mord aufzuklären. Wenn uns nicht alles täuscht, ist er gerade unterwegs und versucht, die Geheimnisse des Toten zu lüften, von denen ich eben sprach. Es geht dabei nach unserer Kenntnis um einen Vorfall auf einem russischen Truppenübungsplatz zur Wendezeit.« Wieprechts Tochter blickte sie prüfend an. Erst Behrends, danach Diekmann. »Gut«, sagte sie dann nickend. Sie warf einen schnellen Blick zwischen ihnen hindurch zur Straße, als müsse sie sich vergewissern, dass niemand mithörte oder sie beobachtete. »Vielleicht kann ich Ihnen ja was erzählen.« »Zu Poljakow?« »Ja sicher.« Wieder nickte sie. »Aber, kommen Sie doch erst mal rein. Muss ja nicht jeder mitkriegen, was wir miteinander reden.« Sie machte den Weg frei und ließ Behrends und Diekmann eintreten. Dann ging sie ihnen voraus, den Flur entlang, dessen schwarzgesprenkelte Steinfliesen vom Putzen noch feucht glänzten. Vor der Treppe ins Obergeschoss blieb sie stehen. Sie stellte den
Schrubber an die Wand neben einen Wassereimer, zog ihre Gummihandschuhe aus und hängte sie über den Rand des Eimers. »Wir müssen nach oben«, sagte sie.
26. Jana würgte und spuckte. Der Schlag hatte sie in die Knie gezwungen. Nur dank ihrer guten Konstitution war sie nicht völlig k.o. gegangen. Benommen stützte sie sich mit den Händen auf dem Boden ab. Ihre Arme zitterten. Durch den Tränenschleier sah sie ihr Erbrochenes vor sich und direkt dahinter die Schuhe, die zu dem Mann gehörten, der sie jetzt grob an der Schulter packte und hochzog. »Los, steh auf!«, bellte er. Sie kam in den Stand, taumelte, fand mit Mühe ihr Gleichgewicht wieder. Dann sah sie aus den Augenwinkeln Grischke. Sie drehte ihm den Kopf zu. Drei, vier Meter entfernt stand er. Den Arm auf den Rücken gebogen, wurde er von einem weiteren Mann gehalten, der ihm zudem ein Messer an die Kehle drückte. Seine Augen irrlichterten panisch hin und her, er hatte den Mund weit aufgerissen, sein Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Ihre beiden Verfolger von der Bavaria Alm! Jana hatte sie sofort wiedererkannt. Wie hatten die zwei sie nur so schnell finden können? »So, du kleine Schlampe«, brach die kalte Stimme ihres Peinigers in ihre hektischen Gedanken, »und jetzt her mit den Beweisen!«
»Beweise? Was für Beweise?« Sie zitterte. Ihre Beine drohten wegzuknicken. Hilflosigkeit, Angst, Beklemmung – ein heilloses Gefühlsdurcheinander, das sie nicht unter Kontrolle hatte. Der Mann vor ihr sog verärgert die Luft ein. Er schien dadurch noch einmal um einige Zentimeter zu wachsen, dabei war er ohnehin schon ein Riese. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Verarsch mich nicht, hörst du?«, fauchte er. »Du weißt genau, was ich von dir will. Also spiel hier kein Theater, sonst kannst du dich gleich von deinem Opa verabschieden, ist das klar? Mein Kumpel wartet nur darauf, ihm die Kehle aufzuschlitzen.« Sie schielte wieder zu Grischke. Der Alte verzerrte das Gesicht vor Schmerz, als der Mann hinter ihm seinen Arm ein Stück weiter nach oben bog und gleichzeitig mit der Messerschneide den Druck auf seinen Hals erhöhte. »Also?« Der Hüne rückte sein Kapuzenshirt zurecht. Jetzt konnte Jana den Revolver erkennen, der in seinem Hosenbund steckte. Ein unmissverständliches Signal. Sie atmete einmal tief durch die Nase ein, spannte ihren Körper, spürte die Angst langsam weichen. »Ich weiß nicht, was für Beweise das sein sollen. Ehrlich! Beweise wofür?« »Ha! Du glaubst also wirklich, du kannst hier die Ahnungslose spielen?« Ihr Peiniger grinste
höhnisch. »Na schön. Dein Glück, dass ich ein sehr geduldiger Mensch bin. Ich werde dir jetzt mal was verraten. Und danach hoffe ich, dass du zur Vernunft kommst. Also: Wir wissen, dass du diese Ratte Ulrich Vetter besucht hast. Der Mann war ja sehr gesprächig. Hat dich richtig heiß gemacht auf den dämlichen Russen.« Er nickte selbstzufrieden. »Ich muss sagen, es war schon eine vernünftige Maßnahme, den Herrn Journalisten zu überwachen und seine Bude zu verwanzen. Der Russe hat sich ja dann leider geweigert, mit uns zusammenzuarbeiten, als wir ihn besucht haben. Hat gesagt, wir kommen zu spät und fand das auch noch lustig. Wir mögen das gar nicht, wenn jemand so wenig kooperativ ist. Tja, das konnten wir natürlich nicht so stehen lassen.« »Ihr wart das! Ihr habt ...« Jana ballte ihre Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie sich auf den Typ gestürzt. Nur mit Mühe konnte sie sich beherrschen. »So, genug geplaudert«, sagte der Hüne und hielt ihr die offene Hand hin. »Rück raus, was du gefunden hast!« »Wir haben nichts gefunden«, beharrte Jana trotzig. Instinktiv wusste sie, dass die Männer weder sie noch Grischke am Leben lassen würden, egal, was sie ihnen erzählte. Dennoch, sie würde ihnen nicht den Triumph gönnen und ohne Gegenwehr vor ihnen einknicken. »War wohl alles nur Spinnerei und es gibt
diese Beweise gar nicht.« »Tatsächlich?« Der Mann lachte höhnisch auf. »Das sieht unser Boss aber ganz anders. Und, ehrlich gesagt, ich auch. So, und jetzt Schluss mit dem Gequatsche!« »Dann durchsuch mich doch, wenn du glaubst, ich hätte was bei mir!« »Genau das werde ich tun«, entgegnete der Hüne, packte ihren Arm und wirbelte sie herum. »Los! Beine breit und Hände gegen die Wand!« »Arschloch!«, fluchte sie. Der Mann ließ sich nicht beeindrucken. »Klappe«, brummte er nur. Dann begann er, sie abzutasten. »Nimm deine Finger weg, Hurensohn!«, giftete sie, als die Hände des Mannes etwas zu lange auf ihren Brüsten ruhten. Der Riese ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er tastete sich langsam vor, förderte ihr Smartphone zutage, warf einen kurzen Blick darauf und schleuderte es zur Seite in die Trümmer. Am Druck seiner Hände spürte Jana, dass er zunehmend ungeduldiger wurde. Dann stieß er auf den Zettel mit dem Brandloch. Wieder fasste er nach ihrem Arm und riss sie zu sich herum. »Was ist das?« »Adams Plan«, antwortete sie wahrheitsgemäß und warf einen schnellen Blick zu Grischke hinüber. Noch immer verharrte der im Klammergriff des brutalen Schinders. Die beiden hatten sich keinen
Zentimeter von der Stelle gerührt. »Das ist alles, was ich habe. Ich bin nicht schlau daraus geworden.« Der Riese betrachtete eingehend den Teil der Botschaft, der von Janas Zigarette verschont geblieben war. Seiner gerunzelten Stirn zufolge konnte auch er nichts damit anfangen. Einige Sekunden starrte er auf das Papier, dann hob er den Blick und drückte ihr das Blatt wieder in die Hand. »Netter Versuch. Aber jetzt bitte die Beweise! Komm, gib sie mir.« Es klang freundlich, wie er das sagte. Zu freundlich. Er glaubte ihr kein Wort. Jana wäre dumm gewesen, hätte sie die Drohung nicht bemerkt, die hinter seiner Bitte steckte. Er würde sich nicht länger mit Worten hinhalten lassen. Ihr musste sofort etwas einfallen, wollte sie nicht hier und jetzt zusammen mit Grischke sterben. »Ich habe keine Beweise bei mir. Hast du doch gerade festgestellt!« »Dann sind sie eben woanders versteckt. Komm schon.« Er zog seine Pistole aus dem Hosenbund und richtete sie auf Jana. »Bringt doch nichts, wenn du hier weiter einen auf Heldin machst.« Hinter ihrer Stirn arbeitete es fieberhaft. Gab es eine Möglichkeit, die beiden Männer zu überwältigen oder wenigstens vor ihnen zu fliehen? Mit Grischke zusammen würde das schwierig werden. Und wenn sie keine Rücksicht auf ihn nahm? Ihn einfach seinem
Schicksal überließ? Verdammt, nein! Wie konnte sie nur auf so eine Idee kommen? In ihre Gedanken, wie sie sich und Grischke aus ihrer bedrohlichen Lage befreien konnte, mischte sich wieder die Frage, die sie sich schon seit dem Aufwachen heute Morgen gestellt hatte. Was waren das überhaupt für Beweise, hinter denen sie herjagte und auf die auch ihre Verfolger so scharf waren? Wie sahen die aus? Vermutlich war es nichts Großes. Nichts, was auffiel. Vielleicht ein Dokument, mit dem der Mörder zu überführen war. Oder ein Foto? Sie wusste es nicht. Aber klein musste es sein, davon war sie überzeugt. Verborgen in irgendeiner Ecke oder Nische. Instinktiv hatte sie schon die ganze Zeit nach solch einem Versteck gesucht. Und? Half ihr das jetzt weiter? Sie hatte ein ganz anderes Problem, für das sie sich sofort eine Lösung überlegen musste! Aber wie, wenn sie dabei in die Mündung einer Pistole starrte? Plötzlich stand ihr der Raum wieder vor Augen. Es war einer der ersten gewesen, in den sie einen Blick geworfen hatte. Sie sah die verkeilt darin liegenden Holzbalken, die Mauersteine, die zerbrochenen Fliesen und die zum Teil eingestürzte Decke. Vor allen Dingen aber stand dort eine alte Schaufel an der Wand. Vermutlich von jemandem vergessen, nach dem Brand, als man noch versucht hatte, die Trümmer zu beseitigen. Wenn sie Grischke dazu bringen konnte, dass er mitspielte, ohne dass ihre Bewacher etwas davon mitbekamen,
hatten sie eine kleine Chance. Sie musste es darauf ankommen lassen! In einer hilflosen Geste zog sie die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Okay, ihr habt gewonnen. Wir haben bis jetzt nichts entdeckt, es kann also nur noch drinnen sein, in der Ruine. Wir haben da etwas gefunden, was wir zuerst nicht ernst genommen haben, aber jetzt sind wir sicher, wir wollten gerade dorthin gehen.« Sie bemühte sich, ihre Stimme resigniert klingen zu lassen, und hoffte, ihre Signale erzielten die gewünschte Wirkung. Sie baute darauf, dass sie die beiden Männer dazu verleiten konnte, in ihr und Grischke keine ernsthaften Gegner zu sehen. Aus ihren Selbstverteidigungskursen wusste sie nur zu gut, wie leichtsinnig jemand wurde, wenn er sich überlegen fühlte. »Na, siehst du? Geht doch!« Der Hüne grinste siegessicher und wedelte mit der Pistole. »Dann mal los. Wir beide gehen da rein und holen es. Mein Freund und dein Opa warten so lange draußen.« »Ich brauche jemanden, der mir hilft«, wandte Jana ein. »Wir müssen Balken und Schutt wegräumen. Darunter ist ein Ablauf. An den müssen wir rankommen.« Der Hüne trat auf sie zu, brachte sein Gesicht ganz dicht an ihres. »Zum letzten Mal, halt mich nicht zum Narren!«, zischte er wütend und drückte ihr die Mündung der Pistole
gegen die Stirn. Sie roch seinen schalen Atem und musste heftig schlucken. »Im Ablauf unter Trümmern. Du lügst doch! Woher willst du das wissen?« »Ich … mir ist wieder eingefallen, dass auf ... auf dem Zettel …« »Bullshit! Auf dem verkohlten Scheiß-Zettel stand nichts von einem Ablauf.« Der Druck des Pistolenlaufs wurde stärker. »Der Zettel hatte nicht immer das Brandloch«, presste sie hervor. Jetzt ließ der Hüne die Pistole sinken. Er blickte an ihr vorbei zur Ruine. Die engstehenden Augenbrauen und das Zucken um seine Mundwinkel zeigten, dass er angestrengt nachdachte. Schließlich wandte er sich seinem Begleiter zu. »Okay«, sagte er, »du kommst mit dem Opa mit. Soll der Alte seiner kleinen Freundin helfen, den Schrott zur Seite zu räumen.« Gewonnen!, schoss es Jana durch den Kopf. Dabei hatte sie nicht mehr erreicht, als die vage Aussicht, dem sicheren Tod mit einem Überraschungscoup doch noch entrinnen zu können. Sie wusste das, und gleichzeitig wuchs in ihr der Glaube, dass es gelingen könnte.
27. Das Haus der Familie Wieprecht machte nicht nur von außen einen tristen Eindruck. Diese triste Ausstrahlung setzte sich auch im Inneren fort. Daran änderten die offensichtlich bereits durchgeführten Renovierungsarbeiten nur wenig. Die Wohnung der Tochter lag im ersten Obergeschoss. Antiquierte Kaleidoskop-Tapeten schufen hier ebenso ein altbackenes Bild, wie die Einrichtungsgegenstände, eine Mischung aus betagten Stücken und modernen Möbeln aus billigem Pressholz. Behrends wurde von einer unerklärlichen Schwermut überfallen, als er in das Wohnzimmer trat und sich nach ihrer Aufforderung in einen der schweren Polstersessel mit den moosgrünen Stoffbezügen sinken ließ. Er spürte einen Kloß im Hals und ein Blick zu Diekmann, der ihm gefolgt war, verriet ihm, dass es ihm ähnlich erging. »Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte Wieprechts Tochter. »Tee, Kaffee ... oder doch lieber einen Cognac?« »Kaffee wäre schön. Danke.« Behrends lächelte sie an. »Für mich auch«, ergänzte Diekmann. »Dann gehe ich mal in die Küche und brühe uns welchen auf.« Sie blickte fragend von einem zum anderen, als müsse sie erst die
Erlaubnis von ihnen einholen. »Dauert nur ein paar Minuten. Kann ich Sie solange allein lassen?« »Können Sie.« Behrends drückte sich schwerfällig wieder aus dem Sessel hoch. »Vielleicht sagen Sie mir noch schnell, wo ich die Toilette finde.« »Kommen Sie mit, ich zeige sie Ihnen.« Er folgte der Frau. Ehe er ins Bad ging, warf er einen flüchtigen Blick durch die Tür, in der Frau Wieprecht verschwand. Was er in diesem kurzen Moment sah, war eine nagelneue Einbauküche, chromglänzend und, wie es schien, mit allem Komfort ausgestattet. Hier hat sie also das Geld investiert, das ihr jetzt an anderer Stelle für Modernisierungen fehlt, dachte er. Oder sie legte gesteigerten Wert auf ihre Küche und maß der übrigen Einrichtung weniger Bedeutung zu. Auch das Bad entsprach zu seiner Erleichterung dem, was er unter dem Begriff »modern« verstand. Immerhin! »So, da bin ich wieder«, sagte Wieprechts Tochter, als sie zehn Minuten später zurück ins Wohnzimmer kam. »Ich habe ein paar Hefestücke mitgebracht. Sind von heute Morgen. Wenn Sie Hunger haben, dann greifen Sie nur zu.« Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab, der verdächtig an die Multifunktionstische in der ehemaligen DDR erinnerte. Jedenfalls war Diekmann davon überzeugt, an einem der
alten »Mufutis« zu sitzen. Er hatte das Möbelstück in der Zeit, die sie allein verbracht hatten, im Flüsterton mit Spott überzogen. »Tja«, begann Wieprechts Tochter, als sie ihnen Kaffee eingeschenkt und sich zu ihnen gesetzt hatte, »das hier ist also mein Reich.« Sie breitete die Arme aus und beschrieb mit ihrem Oberkörper eine kleine Drehung von links nach rechts. »Sehr schön«, log Behrends kauend. Er hatte dem Kuchen nicht widerstehen können. »Ich lebe jetzt bald vierzig Jahre hier. Vorher haben wir auf dem Gelände der Lungenheilstätte Albrechtshaus in einem der Gebäude dort gewohnt. Vater war in Albrechtshaus als Facharzt beschäftigt. Mutter war für das Reinigungspersonal verantwortlich. Hat die Dienstpläne gemacht, die Bestände der Putz- und Desinfektionsmittel überwacht. Was eben so dazugehört. Sie war sehr musikalisch und manchmal hat sie auch für die Patienten gesungen – Lieder von Marlene Dietrich. Meine Mutter liebte sie, mein Vater übrigens auch. Daher habe ich auch meinen Namen – Marlene.« »Schöner Name«, warf Diekmann ein. »Als meine Mutter gestorben ist, war ich zehn Jahre alt. Nicht lange nach dem Tod meiner Mutter hat Vater dieses Reihenhaus hier gekauft«, fuhr Marlene Wieprecht fort, das Gesicht dank des Kompliments leicht
gerötet. »Er hat unten im Erdgeschoss seine Landarztpraxis eingerichtet.« »Warum das?«, fragte Behrends. »Was hat ihn denn zu der Entscheidung getrieben?« Marlene Wieprecht lächelte versonnen. »Selbstständigkeit ist schon lange der Traum meines Vaters gewesen. Dazu kam, dass es ständig Probleme mit der Klinikleitung gab. Vater war nie der gehorsame Parteisoldat, und das hat ihm immer wieder Ärger eingebracht. Meine Mutter war diejenige, die dann die Wogen geglättet hat. Nur wegen ihr ist er so lange in der Klinik geblieben. Als sie tot war, gab es niemanden mehr, der ihn von der Verwirklichung seines Lebenstraums abhalten konnte. Auch ich nicht. Aber ich war ja sowieso noch ein Kind. Er hat allerdings nicht völlig mit der Klinik gebrochen, die auf seine fachlichen Qualitäten nicht ganz verzichten wollte. Er hat sich dem Wunsch nicht verweigert und gelegentlich noch Patienten betreut.« Diekmann sah sich um. »Und jetzt wohnen nur Sie hier?« Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Kein Ehemann, keine Kinder?« Er legte den Kopf schief. »Vielleicht geschieden?« Sie lachte. »Nichts dergleichen. Es hat sich nichts ergeben. Leider.« Ein Anflug von Bedauern huschte über ihr Gesicht. »Seitdem wir Albrechtshaus verlassen haben, wohne ich nun schon hier oben. Zunächst zusammen mit
Vater. Im Erdgeschoss war ja seine Praxis. Als er sie vor fünf Jahren aufgegeben hat, ist er nach unten gezogen. Dann kam der Schlaganfall. Jetzt muss ich immer zwischen den beiden Etagen pendeln, um nach ihm zu sehen und ihn zu versorgen. Aber er ist ein sehr zufriedener und genügsamer Patient.« »Ach? Sie betreuen Ihren Vater selbst?«, sagte Diekmann. »Ich wollte ihn nicht in einem Pflegeheim unterbringen. Es ist zwar schwierig, aber es geht. Allerdings fehlt mir manchmal jemand zum Reden, wissen Sie? Die Pflegekraft, die täglich vorbeischaut, ist ja auch immer in Eile. Auf einen Kaffee kann sie nie bleiben. Tja ... man wird einsam mit der Zeit.« »Schaffen Sie das denn finanziell? Ich meine, Sie können doch nicht nebenbei noch arbeiten, oder?« Behrends wurde zunehmend unruhiger und ein bisschen ärgerte er sich über Diekmann. Warum animierte der die Frau, ihre Lebensgeschichte vor ihnen auszubreiten, wo er genau wusste, was sie von ihr hören wollten? »Ich arbeite in der Stadtverwaltung, leider allein in einem Büro. Zweieinhalb Tage die Woche. Nicht nur wegen des Geldes. Das reicht schon irgendwie«, sagte Marlene Wieprecht. »Aber so komme ich wenigstens aus dem Haus. Für die Zeit ist mein Vater in der Tagespflege. Es klappt eigentlich ganz
gut.« »Und wie war das jetzt mit Leonid Poljakow?«, unterbrach Behrends. »Woher kennen Sie ihn?« Marlene Wieprecht zögerte kurz, als ob sie ihre Gedanken erst neu sortieren musste. Dann sagte sie: »Das war in Albrechtshaus. Da ist uns Leonid Poljakow das erste Mal begegnet. Also besser gesagt, meinem Vater. Poljakow war lungenkrank und Vater hat ihn behandelt. Dabei haben sie sich angefreundet.« »Heißt das, sie haben sich nach seinem Klinikaufenthalt regelmäßig getroffen?«, fragte Behrends. »Gelegentlich«, antwortete sie. »Leonid hat während seines Klinikaufenthalts hier noch andere Freunde gefunden und kam daher öfter zu einem Kurzurlaub her, zumal er sich in Bonn nicht wohlgefühlt hat. Aber der Harz, das sei wie eine zweite Heimat, hat er immer betont. Wenn er dann auf einer seiner Harzreisen zu uns gekommen ist, sind er und mein Vater zusammen gewandert. Das ist aber mit der Zeit immer seltener der Fall gewesen.« »Frau Wieprecht, ich habe vorhin einen Vorfall erwähnt, der sich auf einem sowjetischen Truppenübungsplatz ereignet haben soll«, sagte Behrends. Er hatte sich entschlossen, die Frau mit seiner Theorie zu konfrontieren und zu sehen, wie sie reagierte. »Das war kurz vor der Wiedervereinigung, im August 1990.«
»Ja?«, sagte Marlene Wieprecht vorsichtig. Ihre Augen begannen zu flackern. »Es hat auf dem Platz eine Schießerei gegeben, bei der Poljakow verletzt worden ist. Wir wissen, dass er mit dieser Verletzung in sein Auto gestiegen und mit unbekanntem Ziel davongefahren ist. Er musste seine Verletzung behandeln lassen, das steht fest. Aber wo? In ein Krankenhaus konnte er ebenso wenig wie zu einem fremden Arzt. Also haben wir uns gedacht, dass er vielleicht zu Ihrem Vater gekommen ist. Zu seinem Freund. Einem Mann, dem er vertraute. War es so?« Sie knetete ihre Hände, schaute an ihm vorbei ins Leere. Ihr Mienenspiel zeigte Behrends deutlich, wie sehr sie mit sich rang. »Kommen Sie, Frau Wieprecht«, drängte er, »es war doch ihr Vater, der ihn behandelt hat!« Er musste endlich etwas Brauchbares zu fassen bekommen. Einen Hinweis, wo er nach Grischke und dem Mädchen suchen sollte. Die Frau war seine letzte Hoffnung. Vielleicht fand sich in dem, was sie wusste, ein Anhaltspunkt. Nur musste sie endlich reden! Ihm lief langsam die Zeit davon. »Also gut.« Marlene Wieprecht nickte. »Wenn es hilft, Leonids Mörder zu finden. Es war Mitte August 1990. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr. Da hat es eines Nachts bei uns geklingelt, also, eher sehr früh am Morgen, so um vier Uhr vielleicht. Ich bin aufgestanden. Vor der Tür stand Leonid Poljakow.
Verschwitzt, bleiches Gesicht, die Kleidung zerrissen. Völlig blutverschmiert. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Viel hätte nicht gefehlt, und er wäre auf der Türschwelle zusammengebrochen und mir unter den Händen weggestorben. Sein Blutverlust war erheblich.« »Ist er mit dem Auto gekommen?«, wollte Behrends wissen. Marlene Wieprecht nickte eifrig. »Ja ja, mit seinem Auto. Er ist in die Einfahrt gefahren, bis direkt vor die Haustür. Das Wageninnere war auch voller Blut. Ich habe, noch bevor es hell geworden ist, Vaters Wagen aus der Garage geholt und den von Poljakow hineingefahren. Vater wollte das so. Er war vorsichtig. Es sollte niemand auf das Auto des Russen aufmerksam werden. Uns war sofort klar, dass Poljakow in irgendeine schlimme Sache hineingeraten sein musste. Eine Sache, die man besser geheim hält.« Diekmann räusperte sich, lenkte Marlene Wieprechts Aufmerksamkeit auf sich. »Ihr Vater hat ihn wieder zusammengeflickt?«, fragte er. »Ja.« »Und Sie?« »Ich habe ihm assistiert.« »Konnten Sie das denn?« Sie lächelte. »Als Tochter eines Arztes mit eigener Praxis im Haus musste ich oft mit anpacken. Da bekommt man so einiges mit,
glauben Sie mir. Na ja, jedenfalls war die Operation nicht ganz einfach. Poljakow hätte in eine Klinik gehört, aber dagegen hat er sich gewehrt. Und Vater hat schließlich nachgegeben und alles getan, um ihm das Leben zu retten.« »Was ihm offensichtlich gelungen ist«, murmelte Behrends nachdenklich. Ein plötzliches blechernes Schnarren und Ächzen ließ sie aufschrecken. Es kam von der Anrichte. Behrends erkannte ein Babyphon. Marlene Wieprecht sprang auf. »Entschuldigen Sie bitte einen Moment. Ich muss kurz nach meinem Vater schauen. Bin gleich wieder bei Ihnen.« Damit lief sie aus dem Wohnzimmer. Behrends und Diekmann lauschten ihr hinterher, als sie überstürzt die knarrende Treppe hinunterhastete. »Mal ehrlich, bringt uns das hier eigentlich was?«, fragte Diekmann gleich darauf. »Wir sind bisher keinen Millimeter weitergekommen. Was glaubst du denn zu finden?« Behrends schwankte einen Moment zwischen Resignation und Hoffnung. Er hatte den Arm auf der Sessellehne aufgestützt. Seinen Kopf gegen das Handgelenk gelehnt, rieb er sich mit den Fingern die Schläfe. »Schon möglich, dass ich mich verrannt habe, keine Ahnung«, sagte er. Dann drückte er sich plötzlich entschlossen aus den Tiefen des Sessels nach vorn. »Trotzdem, die Frau ist mit ihrer Geschichte
noch nicht zu Ende. Ich will wissen, wie das mit Poljakow ausgegangen ist. Vielleicht kommt ja noch was Wichtiges.« »Wir verplempern unsere Zeit. Glaub mir!« Diekmann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wart’s ab!«, entgegnete Behrends. »Poljakow muss seinem Retter doch irgendwas erzählt haben. Ihm eine Erklärung für seine Schussverletzung geliefert haben. Der Russe hat schließlich alles am eigenen Leib miterlebt. Denk an diese Beweise, denen Grischke und das Mädchen hinterherjagen. Vielleicht weiß Frau Wieprecht sogar davon.« Diekmann wiegte zweifelnd seinen Kopf. Er schenkte sich Kaffee nach, gab Milch und Zucker dazu, rührte um. »Na hoffentlich«, brummte er. Behrends lehnte sich resigniert in seinem Sessel zurück. »Mensch, Holger, was sollen wir denn sonst machen?« Diekmann zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht. War vermutlich sowieso eine blöde Idee von dir, ins Blaue hinein loszufahren, ohne Plan, ohne Anhaltspunkt.« »Ich konnte aber nicht einfach so in der Klinik rumsitzen und abwarten, bis ...« Weiter kam er nicht. Marlene Wieprecht tauchte wieder in der Tür auf. »Entschuldigen Sie nochmals«, sagte sie und huschte zu ihrem Platz zurück. »Mein Vater. Ich muss immer auf dem Sprung sein.« Sie rieb sich verlegen die
Oberschenkel. »Macht doch nichts«, wiegelte Behrends ab, um sie aber gleich wieder auf ihre Geschichte zu lenken. »Was ist denn jetzt weiter passiert? Nachdem Sie Poljakow medizinisch versorgt hatten?« »Er ist bei uns geblieben. Eine Woche lang haben wir ihn versteckt. Dann hatte er sich wieder so weit erholt, dass er fahren konnte. Ich hatte in der Zwischenzeit versucht, sein Auto ein bisschen zu säubern. Ist mir nicht sehr gut gelungen. Blut eben. Das wischen Sie nicht mal so einfach weg. Aber Poljakow fand es in Ordnung. Er hat sich überschwänglich bei uns bedankt. Für alles.« »Sagen Sie, Frau Wieprecht«, hakte Behrends nach, »hat er Ihnen denn nicht erzählt, was geschehen war? Wie er zu seiner Schussverletzung gekommen ist?« »Er wollte nicht!«, sagte sie. »Aber mein Vater hat nicht locker gelassen.« »Und? Was für eine Geschichte war das?« Marlene Wieprecht rieb sich verschüchtert die Hände. Behrends sah, wie sie seinem und auch Diekmanns Blick auswich. »Also, um ehrlich zu sein«, begann sie zögernd, »es war wohl eher ein Märchen, das er uns da aufgetischt hat. Das denke ich jedenfalls immer noch.« »Und was für ein Märchen?« »Er wäre zu einem seiner Kurzurlaube in den Harz gekommen, als einer seiner Freunde auf
seinem NATO-Horchposten am Stöberhai ein Gespräch abgehört hätte, in dem es um ein Waffengeschäft in der Döberitzer Heide gegangen wäre. Auf diesem Truppenübungsplatz. Bei einem gemütlichen Beisammensein mit einem weiteren Freund hätten sie sich darüber unterhalten. Sie hätten das alle drei sehr interessant gefunden und sich überlegt, ob sie nicht einfach hinfahren und sich ansehen sollten, was passiert. Sie hätten ja alle Informationen gehabt. Zeit, Ortsangaben. Je mehr sie getrunken hätten, desto entschlossener wären sie geworden.« »Möglich wäre das immerhin gewesen. Damals konnte man ja schon unter Vorlage eines Reisepasses einfach in die DDR einreisen, brauchte kein Visum mehr. Und dann?«, fragte Behrends. »Als sie vor Ort waren?« »Eigentlich hätten sie nur beobachten wollen, was passiert. Aber dann hätte Leonid einen der Männer erkannt, die an diesem Waffengeschäft beteiligt waren. Ein russischer Offizier, der ihm damals in Kasachstan eine große Liebe ausgespannt hätte. Da hätte er sich vergessen, wäre blindwütig aus seiner Deckung raus, und dabei wäre es passiert. Der Offizier hätte auf ihn geschossen.« Diekmann lachte auf. »Na, das ist ja mal eine Geschichte!«, rief er aus. »So was Verrücktes habe ich wirklich noch nie gehört!« Marlene Wieprecht nickte verlegen. »Sage ich ja. Wir haben ihm das doch auch nicht geglaubt
und haben ihm das sogar zu verstehen gegeben. Aber er ist stur bei der Version geblieben.« »Und was hat er Ihnen erzählt, wie es weitergegangen ist? Seine Begleiter? Was ist mit denen passiert?« »Leonid hat gesagt, um die habe er sich nicht mehr kümmern können. Nachdem er angeschossen worden wäre, hätte er nur versucht, wegzukommen und zu überleben. Was danach auf dem Platz passiert ist, wusste er angeblich nicht. Natürlich hat er gehofft, dass die anderen beiden einigermaßen heil und in Sicherheit waren.« »Haben Sie denn nie versucht, herauszubekommen, was an der Geschichte dran war?« Sie blickte zu Boden. »Ja, schon. Aber es stand nie was in den Zeitungen. Im Fernsehen kam auch nichts. Im Grunde waren wir froh. Wir wollten von der ganzen Sache auch gar nichts wissen. Und Leonid hatte versprochen, uns aus allem rauszuhalten. Sie wissen ja, damals in der DDR, auch wenn es erkennbar dem Ende zuging … man wusste besser nicht zu viel.« »Frau Wieprecht, hat Leonid Poljakow Ihnen oder Ihrem Vater vielleicht auch eine Kassette erwähnt, auf der dieses merkwürdige Gespräch über die Verabredung zum Waffenhandel aufgenommen worden sein könnte?«, wollte Behrends wissen, der die
ganze Zeit schweigend zugehört hatte. »Oder irgendetwas anderes, auf dem der StöberhaiMann die Informationen über dieses Waffengeschäft festgehalten hätte?« Sie zog die Stirn kraus. Dann zuckte sie die Schultern. »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.« »Denken Sie bitte genau nach. Es ist wichtig. Oder hat Poljakow davon gesprochen, dass er etwas verstecken wollte?« Marlene Wieprecht zupfte an ihrem Flanellhemd herum, als wolle sie etwas entfernen, was da nicht hingehörte. Ein Haar oder einen Fussel. Erst dann antwortete sie: »Nein, nichts. Ich kann mich wirklich an nichts dergleichen erinnern.« Plötzlich schmunzelte sie. »Was ist?«, fragte Behrends. »Ach, nichts.« Sie winkte ab. »Mir fällt gerade wieder ein, wie sich Poljakow und mein Vater über ihr Kennenlernen in Albrechtshaus unterhalten haben. Auf dem Gelände steht eine Kapelle, wissen Sie? So eine kleine Kirche im nordischen Stil. Poljakow hat das Wort Kapelle immer mit dem Wort Krypta verwechselt. In seinem russischen Tonfall hörte sich das an wie Kripta. Mein Vater hat versucht, Poljakow das Wort Kapelle beizubringen. Ohne Erfolg. Das ist in eine richtige Alberei ausgeartet. War lustig.« Vielleicht waren solchen Geschichten tatsächlich lustig, aber sie brachten Behrends
nicht weiter. Ihn interessierte eine Kassette, die Achilles möglicherweise aus dem NATOHorchposten geschmuggelt hatte und die vielleicht die Beweise enthielt, denen Jana Schuchart und der alte Gärtner gerade hinterherjagten. Konnte sich die Kassette in Poljakows Besitz befunden haben? Hatte er sie verstecken wollen? Und wenn ja, wo? »Ich nehme an, Poljakow ist danach ein noch besserer Freund Ihres Vaters geworden?« »Nein, gerade nicht! Erstaunlicherweise hat er uns oder meinen Vater danach nie wieder besucht. Vielleicht lag das ja an seiner späteren Frau. Die hatte er mal auf einem seiner Urlaube im Harz kennengelernt, soweit ich mich erinnere.« Sie stockte. »Halt, nein ... einmal ist er noch vorbeigekommen. Das war Jahre später. Aber es war kein richtiger Besuch. Er war in der Gegend und hat nur einen Abstecher zu uns gemacht. Mein Vater war gar nicht zu Hause. Also habe ich eine Weile mit ihm geplaudert.« »Und was hat er in der Gegend gewollt?«, wollte Behrends wissen. »Er war in Albrechtshaus. Wegen der sentimentalen Erinnerungen. Er habe sich das alles mal wieder anschauen wollen. Was er dann zu sehen bekommen habe, fand er allerdings sehr deprimierend, hat er gesagt. Sie müssen wissen, die Klinik war damals schon geschlossen. Die Gebäude standen leer, und so richtig wusste keiner, was damit passieren
sollte.« »Sonst hatte er keinen Grund zu kommen? Nur sentimentale Erinnerungen?« »Ja, ich glaube schon.« Sie blickte Behrends verwundert an. »Denken Sie, es war etwas anderes?« »Wer weiß? Aber sagen Sie, wenn Poljakow etwas hätte verstecken wollen, wäre das Klinikgelände dafür nicht ideal gewesen? In der Kapelle vielleicht?« »Äh ... ja, schon möglich. Aber was hätte das denn sein sollen?« »Das wüsste ich auch gern«, murmelte Behrends. Unvermittelt stand er aus seinem Sessel auf. »Wirklich nett, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, Frau Wieprecht. Ich glaube, wir sollten Sie nicht weiter aufhalten.« Er reichte der überraschten Frau die Hand. »Vielen Dank für den Kaffee und den Kuchen.« Er hatte es plötzlich eilig. Diekmann blieb nichts anderes übrig, als sich ebenfalls zu verabschieden und ihm zu folgen. »Sie halten mich wirklich nicht auf«, beschwichtigte Marlene Wieprecht, und die Enttäuschung in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. »Ich bringe Sie noch zur Tür.« Sie drückte sich flink an ihm und Diekmann vorbei und lief ihnen voraus zum Ausgang. »Wo genau liegt dieses Albrechtshaus?«, fragte Behrends, als sie schon draußen unter dem Windfang standen. Marlene Wieprecht erklärte ihnen den Weg,
dann gab er Diekmann das Zeichen zum Aufbruch.
28. Die offen stehende Tür des Raumes, den sie kurz darauf betraten, war noch intakt, wie Jana mit einem schnellen prüfenden Blick feststellte. Das kam ihr sehr gelegen. Der Raum selbst maß höchstens zehn oder elf Quadratmeter. Durch die Anhäufung von Schutt und Trümmern war es darin zusätzlich beengt. Keine Chance für den Hünen und seinen Partner, sie und den Alten aus gesicherter Distanz in Schach zu halten. Genau auf diese körperliche Nähe hatte Jana ihren Plan aufgebaut. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass Grischke begriffen hatte, was sie von ihm erwartete. Sie hatte versucht, ihm per Blickkontakt die notwendigen Signale zu geben, und er hatte mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken geantwortet. Den ersten der verkohlten Balken legten sie so ab, dass Jana mit dem Rücken zu ihren beiden Bewachern zum Stehen kam, eine knappe Armlänge von der Schaufel entfernt, die vor ihr an der Wand lehnte. Auch den zweiten Balken deponierten sie auf diese Weise Grischke dirigierte sie dabei immer näher zur Tür hin. Als sie den dritten Balken heranschleppten, sah Jana ihre Chance gekommen. Der Riese lehnte lässig mit der Schulter an der seitlichen Wand und betrachtete stumm ihr Treiben. Er hatte die
Pistole gesenkt, schien keinen Verdacht zu schöpfen. Sein Kumpan starrte nach oben durch die fehlende Decke auf die in den Himmel ragenden Ruinen. Irgendetwas schien er entdeckt zu haben, was sein Interesse auf sich zog. »Jetzt! Hau ab!«, brüllte sie plötzlich und ließ den Balken fallen, im selben Moment wie Grischke, der auf so etwas gewartet hatte. Sie griff in einer einzigen fließenden Bewegung nach der Schaufel und schleuderte sie herum. Das Schaufelblatt krachte mit der Kante gegen die Schulter des Riesen. Während der vor Schmerz aufschrie, die Pistole fallen ließ und in sich zusammensackte, stieß Jana dem zweiten Mann blitzartig ihr Bein entgegen. Ihr Schuh traf hart auf seiner Brust auf. Völlig überrascht von der Attacke strauchelte er und kam zu Fall. Mit zwei wieselflinken Sätzen sprang Jana hinter Grischke her und aus dem Zimmer. Sie schlug die Tür zu, griff nach einem Kantholz, das der Alte gedankenschnell aufgelesen hatte und ihr entgegenhielt. Sie verkeilte das Holz zwischen Fußboden und Klinke. Vielleicht reichte es als Hindernis aus, die Männer ein wenig aufzuhalten. »So, ihr Arschgeigen, ausgespielt!«, schleuderte sie der Tür wütend entgegen. Dann drehte sie sich zu Grischke um, der wie zur Salzsäule erstarrt dastand. »Lauf, Mann! Worauf wartest du noch?« Sie stürzte auf ihn zu, fasste ihn am Ärmel
und schleifte ihn hinter sich her. Er kam ins Straucheln, sie verlangsamte ihr Tempo, bis er sich gefangen hatte, dann hastete sie weiter, Grischke im Schlepptau. Hinter sich hörte sie das wütende Trommeln gegen die Tür, fast im selben Moment das Bersten von Holz. Vor ihr mündete der breite Flur in die Halle, die sie durchqueren mussten, um nach draußen zu gelangen. Viel zu weit! Mit dem Alten zusammen würde sie es nie schaffen! Er war zu langsam. »Nach rechts!«, rief sie und riss Grischke mit sich bis zum Ende der Halle. Die Außenwände fehlten. Draußen, beginnend an den Grundmauern, breitete sich ein gewaltiges Trümmerfeld aus. Fast hätte Jana übersehen, dass sie sich im ersten Stock befanden, knapp zwei Meter über dem Erdboden. Sie stoppte unvermittelt ab. Grischke strauchelte an ihr vorbei, sie riss ihn zurück. Viel hätte nicht gefehlt, und sie wären unkontrolliert nach unten gestürzt. Andererseits, was blieb ihnen anderes übrig, als den Sprung zu wagen. Hinter ihnen waren die Schritte der Verfolger zu hören. Und wütende Flüche. Sie mussten es riskieren. »Los!«, schrie sie Grischke ins Ohr. Der Alte zögerte. Sie gab ihm einen Schubs. Ein Schuss krachte. Noch im Sprung spürte Jana den sengenden Schmerz an ihrem Arm. Der Boden unter ihnen gab nach, als sie aufkamen. Ihr Sturz setzte sich fort, begleitet vom Bersten morschen Holzes. Der fragile Berg aus
ineinander verkeilten Holz- und Steintrümmern kam ins Wanken, brach in sich zusammen, legte sich über das Loch, das sie gerissen hatten. Der Aufprall drückte ihr die Luft aus den Lungen. Die folgenden Sekunden kamen ihr vor wie ein Balanceakt zwischen Leben und Tod, dann reichte ihr Atem wieder aus. »Eddie?« Sie erhielt keine Antwort. Und sie sah den Stein nicht, der sich über ihr aus den Trümmern löste und sie an der Schläfe traf.
29. Für die Fahrt nach Albrechtshaus würden sie etwas mehr als eine halbe Stunde benötigen, schätzten sie. Es würde ihnen noch ausreichend Zeit bleiben, ehe die Dunkelheit einsetzte. Gut so, denn sie kannten das Gelände nicht. Besonders Behrends ging davon aus, Grischke und Jana Schuchart dort anzutreffen. Sollte das nicht zutreffen, würde ihnen nur noch der Nachhauseweg bleiben. Im besten Fall wäre der Alte dann bei ihrer Rückkehr bereits wieder zu Hause aufgetaucht oder er hätte sich wenigstens gemeldet. An den schlimmsten Fall wollte Behrends nicht denken. Er hoffte, es würde nicht so weit kommen, ihn und das Mädchen doch als vermisst melden zu müssen. »Was macht dich eigentlich so zuversichtlich, dass wir die beiden da antreffen?«, fragte Diekmann, als sie losfuhren. »Ich meine, du spekulierst doch nur herum. Dass Poljakow eine Kassette mit brisantem Inhalt gehabt und sie auf dem Klinikgelände versteckt hat, ist doch eine bloße Vermutung. Nur weil er da später noch mal rumgegeistert ist.« »Genau so sehe ich das. Er kannte sich da aus.« Selten war sich Behrends so sicher gewesen. »Sentimentale Erinnerungen. So ein Quatsch! Davon einmal abgesehen, haben Jana Schuchart und Grischke den Plan aus der
Matrjoschka bei sich. Eine Art Schatzkarte, nehme ich an. Wo wird sie die wohl hinführen, wenn nicht zum Versteck der Beweise?« Diekmann hielt dagegen: »Das Versteck könnte sich aber auch ganz woanders befinden und nicht auf dem Klinikgelände, oder die beiden sind längst wieder weg. Mit den Beweisen.« Nach einem kurzen, unheilschwangeren Augenblick fügte er hinzu: »Weißt du, was ich fürchte, Ingo? Die Typen, von denen du glaubst, sie könnten den beiden auf den Fersen sein ... ich weiß nicht, aber so ein dummes Gefühl sagt mir, dass die schneller waren als wir.« »Weil sie direkt an ihnen dranhingen und sich immer in ihrer Nähe aufgehalten haben? Weil sie nicht im Nebel stochern mussten wie wir? Meinst du das?« »Ja, das meine ich«, antwortete Diekmann. »Das ist doch auch deine Sorge, oder?« Und damit hatte er verdammt Recht. Sie ließen den VW-Bus auf Höhe einer kleinen Holzkirche einfach auf dem Weg stehen und gingen ein Stück auf das Gelände hinaus, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Um sie herum lag der Laubwald, der gespickt mit vereinzelten Nadelbäumen den Platz säumte. Hohes Gras und Unkraut überwucherte die freie Fläche und sprießte zwischen Trümmern und alten Mauern hervor. Ein vergessener Ort, der schon lange keinen Menschen mehr gesehen hatte, so kam es Behrends vor. Nirgends eine
Spur von Grischkes Mitsubishi und auch sonst kein Hinweis darauf, dass sich außer ihm und Diekmann noch jemand hier aufhielt. »Herr Grischke! Edgar Grischke!«, rief Behrends in die abendliche Stille hinein. »Frau Schuchart!« Keine Reaktion. Behrends legte die Hände wie einen Trichter um seinen Mund, rief noch einmal. Mit demselben Ergebnis. »Sie sind nicht hier«, stellte Diekmann ernüchtert fest. »Und woher willst du das wissen?« »Siehst du irgendein Auto? Oder hat jemand auf dein Rufen reagiert?« Behrends kniff die Augen zusammen und starrte auf die Bäume, als könne er auf diese Weise Dinge erkennen, die er vorher übersehen hatte. »Trotzdem glaube ich, dass sie hier irgendwo stecken«, entgegnete er beinahe trotzig. »Wir müssen schon etwas genauer hinsehen, ehe wir wieder abhauen.« Diekmann zuckte mit den Achseln. »Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber gut, wenn du meinst.« »Komm, mach schon. Sieh du dich mal da hinten bei den Gebäuden um, ich nehme mir die Kirche vor. Die Ruine können wir dann zusammen durchsuchen.« »Okay, okay«, muffelte Diekmann und trottete auf ein kleines steinernes Häuschen schräg gegenüber, am Rand des Platzes zu.
Behrends steuerte die Kirche an. Eine Holzplatte stand windschief vom Eingang ab und ließ genügend Platz, um ins Innere zu schlüpfen. Es dauerte einen Augenblick, ehe Behrends sich im Kirchenschiff halbwegs zurechtfand. Der Lichteinfall durch die Öffnung am Eingang und einem Fenster oberhalb davon sowie durch zwei oder drei weitere winzige Öffnungen im Dachbereich war zu spärlich. Immerhin reichte er aus, um festzustellen, dass Grischke und das Mädchen hier nicht waren. Behrends wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen und die Kirche wieder verlassen, aber dann nahm er sich die Zeit und ging zum Altarraum hinüber. Da hinten war es eng und verwinkelt. Ein Blick konnte nicht schaden. Er fand eine Vertiefung hinter dem Altar. Als Versteck geradezu ideal. Einen Moment tastete er darin herum. Ohne Erfolg. Wenn dort je etwas gewesen war, dann hatte es schon jemand vor ihm in die Finger bekommen. Hatte Diekmann Recht, und Grischke war zusammen mit dem Mädchen und den gesuchten Beweisen längst über alle Berge? Während er langsam wieder hinausging, ließ er seine Augen noch einmal durch den gesamten Raum wandern. Dann überprüfte er flüchtig die Bänke links und rechts des Ganges. Hoffnung, hier etwas zu finden, hatte er keine. Auf der Schwelle nach draußen stoppte er plötzlich ab. Beinahe hätte er es übersehen.
Etwas am Türrahmen, heller als das dunkle Braun darum herum. Er sah genauer hin. Helle Holzfasern. Feine Splitter, die vom Rahmen abstanden. Kleine Löcher. Die Platte vor dem Eingang musste hier befestigt gewesen sein. Jemand hatte sie mit Gewalt weggebrochen und dabei Wunden ins Holz gerissen. Ganz frische Wunden! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass erst vor Kurzem jemand in die Kirche eingedrungen war, dann hatte er ihn jetzt. Doch hieß das automatisch, dass Grischke und das Mädchen die Störenfriede gewesen waren? Und wenn, hatten sie etwas gefunden? Aber wo steckten sie jetzt, verdammt? Diekmann holte Behrends aus seinen Gedanken. »Ingo, kommst du mal?« Er stand hinten, am Längsende des Platzes und winkte aufgeregt. Behrends beeilte sich, zu ihm zu laufen. »Was ist?«, rief er ihm entgegen. Er erhielt keine Antwort. Dann war er bei ihm. »Los, komm mit«, sagte Diekmann nur, drehte sich um und ging ihm voraus. Grischkes Geländewagen stand ein ganzes Stück weit im Wald, verborgen im Unterholz, hinter Büschen und Sträuchern, die an dieser Stelle besonders üppig wucherten. »Wie hast du ihn entdeckt?«, fragte Behrends, als sie sich dem Wagen näherten. »Zufall«, entgegnete Diekmann, »eine Reflexion auf der Windschutzscheibe. Ein
verirrter Lichtstrahl. Ein kurzes Aufblitzen. So was. Hat mich neugierig gemacht.« Behrends trat an das Fahrzeug heran, fasste an den Griff der Beifahrertür. Sie war nicht verschlossen. Auf dem Armaturenbrett lag ein Handy. Im Fußraum ein Rucksack. Der musste dem Mädchen gehören. Diekmann machte sich an der Heckklappe zu schaffen, öffnete sie. »Hier«, rief er, »Motorradklamotten. Fühlen sich klamm an. Und riechen tut’s auch nach nassem Leder. Heißt das, diese Schuchart rennt hier nackt durch die Gegend? Das sind doch ihre Sachen, oder?« Behrends hörte nicht hin. Er hatte das Handschuhfach geöffnet. Diekmann kam und stellte sich neben ihn. »Was ist los? Warum sagst du nichts?« »Darum.« Behrends trat zur Seite und gewährte Diekmann einen Blick ins Handschuhfach und auf die Pistole, die ihnen mit ihrem Lauf bedrohlich entgegenstarrte. »Ach du Scheiße«, murmelte Diekmann. »Du sagst es«, stimmte Behrends ihm zu.
30. Jana schlug die Augen auf. Blinzelte. Sie sah nichts. Nur konturloses, dunkles Grau. Über sich nahm sie ein paar helle Punkte wahr, nicht weit von ihrem Kopf entfernt. Spalte, durch die sich Licht zwängte. Sonnenstrahlen? Zu schwach jedenfalls, die Dunkelheit um sie herum so weit aufzuhellen, dass sie etwas erkennen konnte. Immerhin wusste sie, dass es draußen noch Tag war. Oder schon wieder? Wie lange lag sie hier unten? Der Schmerz bremste ihre Gedanken, forderte ihre volle Aufmerksamkeit. In ihrem Kopf arbeitete ein Presslufthammer, pochte dröhnend. Er ließ es kaum zu, dass sie sich erinnerte, und zermalmte die Bilder, ehe sie zurück an die Oberfläche gelangten. Sie wollte den linken Arm heben, sich an die Schläfe fassen. Ein Stechen, wie von einem glühenden Nagel, verhinderte die Bewegung im Ansatz. Der Schuss! Ihr fiel ein, dass sie getroffen worden war, unmittelbar vor dem Sprung. Sie griff mit der rechten Hand an ihren linken Arm. Das Hemd war zerrissen und klebrig nass. Die Wunde darunter brannte wie Feuer. Nur ein Streifschuss? Vermutlich. Trotzdem schlimm genug. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, das Brennen zu ignorieren, löste ihre Hand von der Wunde und bewegte
sie nach oben. Langsam, ganz langsam. Nun schmerzte die Schulter. Tränen schossen ihr in die Augen. Dann hatte sie es geschafft, fuhr mit ihren Fingern am Haaransatz entlang. An ihrem Kopf wölbte sich eine gewaltige Beule. Sie ließ die Hand sinken, ertastete den Boden neben sich. Ihre Finger berührten den Stein oder das Betonstück, oder was immer es sein mochte, woran ihr Kopf gestoßen war. Daneben kleine glatte Teilchen, scharfkantig. Vielleicht Glassplitter, die ihr in die Hand schneiden würden, wenn sie nicht aufpasste. Sie starrte auf die Lichtlöcher. Nur einen Moment, nur ein paar Puzzlestücke noch, dann war das Erinnerungsbild vollständig: die Flucht vor den beiden Verfolgern, der Sprung, das Nachgeben des Bodens, das infernalische Donnern über ihrem Kopf, dann der harte Schlag gegen ihre Schläfe. Eddie! Wo war Eddie? Er war zusammen mit ihr gesprungen. Sie hatte ihm einen Stoß gegeben. »Eddie?« Ihre Stimme kratzte, kam ihr fremd vor. Sie erhielt keine Antwort, drehte sich ein Stück zur Seite. Langsam, einen Schmerzblitz nach dem anderen überwindend. Dann hatte sie eine Position eingenommen, in der sie mit rechts den Bereich links neben sich absuchen konnte, ohne den verletzten Arm zu sehr zu belasten. Ihre Finger fanden etwas Weiches: Stoff! Sie ließ die Hand darauf
entlangwandern, vorsichtig. Ganz langsam kam sie voran, hatte eine Ahnung, dass es ein Arm war, den sie berührte. Sie kniff die Augen zusammen. Nur undeutlich erkannte sie verschwommene Konturen, die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper hatten. Ihre Hand arbeitete sich vor, erreichte die Schulter, ertastete kurz darauf Haut. Faltige Haut. Ein kleines Stück weiter kratzte es an ihren Fingern – Bartstoppeln. Sein Kinn. Ihre Finger krochen Zentimeter um Zentimeter vor. Da war sein Mund. Ein schwacher, warmer Hauch. Er atmete! Gott sei Dank! »Eddie?« »Mmhm ...« Mehr gab er nicht von sich, er schien weit weg zu sein. Sie wollte sich noch ein Stück drehen, stieß mit ihrem verletzten Arm gegen einen spitzen Widerstand. Ein gleißender Blitz jagte in ihre Augen, durch den Kopf bis in die Haarspitzen. Sie schrie auf, ihre Hand, die sie eben an seinen Mund gehalten hatte, vollführte im Reflex eine unkontrollierte Bewegung, schlug gegen seinen Brustkorb. »Aaah! Au!« Eddies gequältes Stöhnen ließ sie ihren eigenen Schmerz beinahe vergessen. »Was ist?« »Die, die Rippen ...«, ächzte er leise, »gebrochen ... glaube ich.« Er hustete. »Du, du bist ...« Pause. Keuchen. Er nahm einen neuen Anlauf: »Du, du bist ... auf mir gelandet.« Abgehacktes Lachen. »Mein Bein ... hat auch ...
was ab... abgekriegt.« Wieder Husten. Dann nur noch sein rasselnder Atem. Jana musste ihn nicht sehen, um sich sein schmerzverzerrtes Gesicht vorstellen zu können. Er hatte ihren Sturz aufgefangen? Hatte er das sagen wollen? Keine Zeit, dir Vorwürfe zu machen, schoss es ihr durch den Kopf. Du musst etwas tun! Ihr müsst hier raus, sonst seid ihr verloren! Die Stimme klang so eindringlich, so wirklich, als ob sie von jemandem kam, der direkt vor ihr stand. Aber da stand niemand. Sie war mit Eddie allein. Gefangen in einem schwarzen Loch. Und sie hatte Angst, der alte Mann würde es nicht mehr allzu lange machen. Er brauchte schnell Hilfe! Sie versuchte, sich ein Stück aufzurichten, biss die Zähne zusammen. Die Vorstellung, hilflos in ihrem Gefängnis zu verrotten, verlieh ihr die nötige Kraft. Und noch etwas machte ihr Mut: Jetzt, wo sie sämtliche Gliedmaßen eingesetzt hatte, stand fest, dass sie außer Schürfwunden und Prellungen wohl keine Verletzungen davongetragen hatte, von der Schusswunde abgesehen. Jedenfalls schien nichts gebrochen zu sein. Ganz in den Stand kam sie nicht. Kurz vorher stieß sie gegen etwas Hartes, ein Balken vermutlich, der aus dem Trümmerberg über ihr nach unten ragte. War das ein Schacht, in dem sie steckten? Wie hatten sie nur hier hineingeraten können? Kümmere dich um Wichtigeres, wies ihre
innere Stimme sie schroff zurecht. Wie willst du den Schutt wegbekommen, der euch den Weg nach draußen versperrt? Wie wollt ihr hier wieder herauskommen? Das sind die Fragen, die du dir stellen musst! Nur die! »Hilfe!« Ihr Ruf glich einer Explosion. War wie heißes Wasser, das mit Überdruck aus einem Kessel schoss. »Hilfe! Wir sind hier!« Sie stemmte ihren unverletzten Arm gegen den Balken über sich und versuchte, mit ruckelnden Bewegungen eine Lücke zu schaffen. Ein geradezu lächerliches Unterfangen, das nicht mehr verursachte, als herabrieselnden Staub und als Quittung für ihren Kraftaufwand den stechenden Schmerz. * »Was sagst du dazu?«, fragte Diekmann, ohne den Blick von der Pistole zu wenden. Behrends schnaubte leise. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Könnte es sein, dass deine Leute Recht haben?« »Womit?« Behrends wusste, worauf Diekmann hinauswollte. Diekmann drehte sich zu ihm um und setzte nach, ließ es nicht zu, dass Behrends den aufkeimenden sorgenvollen Gedanken von sich schob. »Meinst du, sie gehört deinem neuen Freund?«
Behrends zögerte mit der Antwort, denn er wusste, welche Konsequenz daraus zu ziehen war. Dennoch: »Ich kann es mir nicht vorstellen. Er mag keine Waffen, zumindest keine, die töten, hat er mir erzählt, als er von Poljakows, von Adams Geschäften erfahren hat.« »Und wenn nicht dein Freund Grischke derjenige ist, dem sie gehört ... Wie gut kennst du diese Jana Schuchart doch gleich? Gar nicht, soviel ich weiß. Also?« Behrends führte seinen Gedanken fort: »Also könnte sie die Mörderin von Adam sein.« Er wandte sich vom Wagen ab, trat ein paar Schritte aus dem Unterholz heraus, bis er das freie Gelände überblicken konnte. »Egal, was das alles zu bedeuten hat«, sagte er, »jetzt steht fest, dass die beiden hier irgendwo sind. Los, komm, wir suchen sie.« Noch bevor Behrends den ersten Schritt machte, meldete sich sein Smartphone. Katrin! Verdammt! Wollte Doktor Beuermann nicht dafür sorgen, dass Katrin ihn in Ruhe ließ? Warum hatte er das dusselige Gerät nicht einfach ausgeschaltet? Warum rief sie ausgerechnet jetzt an? Herrgott noch mal! Er nahm das Gespräch entgegen. »Hallo Schatz!«, rief er gezwungen fröhlich. »Schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir? ... Was? ... Nein, nein, alles okay ... Ja, klar ... Nein, ich bin mit Holger unterwegs ... Ja, er hat mich besucht, und wir machen gerade eine
kleine Spritztour durch den Harz ... Was? ... Nein, das ist schon in Ordnung ... Sind zwei Anwendungen, die konnte ich verlegen. Auf morgen ... Und du, was hast du noch vor? ... Ach, ist ja klasse! ... Grüß sie mal ... Ja, mache ich ... Dann bis morgen Abend. Ich freue mich auf dich! ... Ja, ich dich auch! Tschüss!« Er legte auf und grinste seinen Freund an. »Schöne Grüße von Katrin. Du sollst mich heil zurückbringen.« Diekmann schüttelte den Kopf. »Man, man! Lernt man das bei der Polizei?« »Was?« »So zu lügen.« »Wo habe ich denn gelogen?«, fragte Behrends entrüstet. »Ich habe ihr nur nicht die ganze Wahrheit gesagt. Und die muss sie auch nicht kennen. Sonst regt sie sich nur unnötig auf. So, jetzt komm. Wir sollten sehen, dass wir die zwei endlich finden.« Nachdem sie fünfzehn Minuten erfolglos gesucht hatten und auch ihr gelegentliches Rufen nichts genutzt hatte, beschlossen sie, die zuständige Polizeistation zu benachrichtigen. Der verwaiste Geländewagen und vor allen Dingen die Pistole waren Grund genug dafür. »Ich hoffe, die Kollegen lassen sich nicht allzu viel Zeit, bevor sie hier eintrudeln«, sagte Behrends, nachdem er sein Smartphone wieder in der Tasche hatte verschwinden lassen. »Dann komme ich vielleicht noch rechtzeitig vor dem Zapfenstreich wieder in die Klinik,
und keiner stellt mir dumme Fragen.« Diekmann deutete auf seinen VW-Bus. »Lass uns im Auto warten. Ich stehe mir nicht gern die Beine in den Bauch.« Auf dem Weg zum Wagen rief Behrends noch einmal Grischkes Namen und den des Mädchens. Diekmann sah ihn kopfschüttelnd an, machte es ihm dann aber nach, ohne zu wissen, wozu das gut sein sollte. * »Hallo! Hört mich jemand?« Verdammt, wer soll dich denn hören, fragte die Stimme in Janas Kopf beinahe höhnisch und hatte Recht damit. Das Gelände lag verlassen im Wald, weit genug von der nächsten Ansiedlung entfernt. Niemand würde vorbeikommen. Niemand würde ihre Hilferufe hören. Niemand würde sie befreien. Vielleicht würde jemand sie finden – irgendwann. Was dann noch von ihnen übrig wäre, mochte sie sich nicht vorstellen. Sie ruckelte, drückte und schob. Verzweiflung trieb sie an. Sie ignorierte das Stechen in ihrem Arm, das Brennen der Schürfwunden, das Pochen in ihrem Kopf. Über ihr knarrte und brach es. Der Haufen setzte sich in Bewegung, Balken rutschten nach, kleine Steine polterten an ihr vorbei zu Boden, trafen Grischke, der leise aufstöhnte. Dann wieder Ruhe. Nichts regte sich mehr. Sie erstarrte zur Salzsäule, lauschte. Der
Trümmerberg war zur Ruhe gekommen. Jedes weitere Reißen und Ruckeln konnte ihn gefährlich wieder in Bewegung bringen, das war ihr in diesem Moment klar. Sie hatten die Wahl: Den schnellen Tod, indem sie von herabstürzenden Steinen erschlagen wurden, oder die langsame Variante, indem sie verhungerten, verdursteten, ihren Verletzungen irgendwann erlagen. Wobei es Eddie vermutlich schneller erwischen würde als sie. Der Glückliche! Jana ließ sich langsam zu Boden sinken, zog die Beine an den Oberkörper und verbarg den Kopf zwischen den Knien. Es blieb nur Hoffnungslosigkeit. Wie ein schweres Tuch erstickte sie jeden Gedanken daran, dem Schacht zu entkommen, und sogar das Pochen in Janas Kopf und das Brennen ihres Armes. »Das war’s dann wohl.« Ganz weit entfernt vernahm Jana Grischkes leise, brüchige Stimme. Sie hatte gedacht, er sei bewusstlos gewesen oder habe zumindest in einem schlafähnlichen Dämmerzustand verharrt. Stattdessen schien er alles mitbekommen zu haben – ihre vergeblichen Versuche, einen Weg aus ihrem Gefängnis zu finden, und sogar ihre Resignation. »Wir kommen hier raus. Ich verspreche es dir.« Es kostete sie alle Kraft, die noch in ihr war, die Worte über die Lippen zu bringen. Ein letzter Versuch, sich dem Unausweichlichen entgegenzustemmen.
»Na klar ... du, du schaffst das ...« Er schickte seinen Worten ein kaum hörbares Kichern hinterher, das in ihren Ohren klang, als verspotte er sie. Jana erwiderte nichts. Der Alte fiel wieder in sein unrhythmisches Röcheln. Ein Geräusch ließ sie hochschrecken. Sie musste geschlafen haben oder sie war eine Weile etwas weggedämmert. Angestrengt spitzte sie die Ohren. Stimmen! Ja, das waren Stimmen. Menschliche Stimmen! Sie konzentrierte sich, hörte wieder jemanden rufen, weiter entfernt jetzt. Ein Mann! Nein, zwei Männer! Tief sog sie die Luft ein, legte alle Kraft in den Schrei. »Hiiiilfeeee!« * »Moment mal!« Behrends blieb plötzlich stehen. »Was ist?« Diekmann, der schon ein paar Schritte voraus war, kam zurück. Behrends hob mahnend die Hand. »Leise!« Ein paar Sekunden verhielten sie sich ruhig, lauschten angestrengt. Dann eine helle, angstvolle Stimme, nicht sehr laut, aber doch deutlich zu hören. Ein Hilferuf. Eindeutig! »Da drüben! Das kommt aus dem Haufen da!« Diekmann deutete auf den Trümmerberg,
an dem sie vor wenigen Minuten schon einmal vorbeigelaufen waren. »Hallo! Frau Schuchart! Hallo!«, rief Behrends, als sie sich dem Berg näherten. »Sind Sie da drinnen?« »Ich bin hier«, tönte es kläglich aus den Trümmern. »Wo ist Herr Grischke? Ist der auch bei Ihnen?« Er japste nach Luft, weniger wegen der Kraftanstrengung, die ihn der kurze Sprint gekostet hatte, sondern mehr aus Angst, sie könnten zu spät gekommen sein. »Ja! Er liegt neben mir. Aber es geht ihm schlecht! Er braucht Hilfe! Dringend!« Behrends fummelte hastig das Smartphone aus der Tasche. Wieder wählte er den Polizeinotruf. Für das hier reichte eine einzelne Polizeistreife nicht mehr aus! Weit über eine Stunde dauerte es, bis der Berg aus Balken, Gesteinstrümmern und zum Teil scharfkantigen Eisenteilen soweit von einem Bergungstrupp der Feuerwehr abgetragen war, dass die beiden Eingeschlossenen aus ihrem Gefängnis befreit werden konnten. Die Männer hatten äußerst vorsichtig zu Werke gehen müssen. Es bestand zu jeder Zeit die Gefahr, dass Teile in den Schacht stürzten und die beiden unter sich begruben. Behrends und Diekmann hatten in der Zwischenzeit die Polizisten zum Geländewagen des Alten geführt und sie,
soweit es ihnen möglich war, über das Geschehen informiert. Wobei ihr Bericht lediglich die offensichtlichen Fakten enthielt, Behrends den Beamten jedoch die Hintergründe ihrer Suche nach Edgar Grischke und Jana Schuchart verschwieg. Beim Namen Jana Schuchart und dem Anblick der Pistole hatten die Polizisten angesichts der laufenden Fahndung nach dem Mädchen ohnehin sofort ihre Rückschlüsse gezogen. Es würde sich kaum vermeiden lassen, dass Behrends später von seinen eigenen Leuten noch zu den Vorfällen befragt werden würde. Dann hatte er ausgiebig Zeit, seine Sicht der Dinge darzulegen. Im Augenblick galt seine einzige Sorge dem Wohlergehen der beiden Verletzten und den Reportern der regionalen Medien, die nicht lange auf sich warten lassen hatten. Ihm stand nicht der Sinn danach, ihre Fragen zu beantworten. Das überließ er Diekmann, der sich opferte und ihn souverän vor der Meute abschirmte. Bevor die Notfallsanitäter die Verletzten in die Rettungswagen schieben konnten, ging Behrends zu der Trage, auf der Grischke lag. Der Alte hatte Mühe, ihm den Kopf zuzuwenden. Dann blickte er ihn mit glasigen Augen an und versuchte ein Lächeln, was ihm angesichts seiner Schmerzen jedoch gründlich misslang. »Mann, Grischke«, murmelte Behrends, »was haben Sie sich nur dabei gedacht? Sie hätten tot sein können, wissen Sie das?«
»Ich, ich lebe aber ... noch«, quälte er leise hervor. Plötzlich griff seine Hand nach Behrends’ Arm und drückte überraschend kräftig zu. »Kümmern Sie sich ... um Jana«, flüsterte er. »Sie … ist unschuldig.« »Und die Pistole? Im Handschuhfach Ihres Wagens«, sagte Behrends. Grischkes Augen weiteten sich. Ungläubiges Staunen lag in ihnen. Er hob leicht den Kopf an. »Nein ... das ... unmöglich ...« Weiter kam er nicht, dann verließ ihn die Kraft. Sein Kopf fiel zurück. »Sie, sie ist ... ein, ein gutes Mädchen«, brachte er noch heraus. »Es reicht jetzt«, bestimmte der Notfallsanitäter und drängte Behrends zur Seite. Zusammen mit seinem Kollegen schob er die Trage in den Wagen. »Wohin bringen Sie die zwei?« »Nach Wernigerode. In die Harzklinik.« Der Mann nickte seinem Partner zu. Sie schlossen die Türen und entfernten sich nach vorn zur Fahrerkabine. Behrends ließen sie stehen. »Und jetzt?«, fragte Diekmann, als die Rettungswagen das Gelände verlassen hatten. Die Polizisten zeigten kein Interesse mehr an ihnen, und auch die Reporter hatten anscheinend genug Informationen gesammelt, um ihre Nachrichten daraus zu stricken. »Ich würde sagen, wir treten den Rückzug an«, entgegnete Behrends missmutig. Er hätte froh und zufrieden sein können. Immerhin war
es ihm und Diekmann zu verdanken, dass Grischke und Jana Schuchart noch lebten. Trotzdem waren es die vielen offenen Fragen, die ihn beschäftigten, ebenso wie Grischkes flehende Bitte, er möge sich um das Mädchen kümmern. Was erwartete der Alte von ihm? Er war Polizist, kein Anwalt! Mürrisch schweigend verbrachte er die gesamte Fahrt zurück durch den Harz neben Diekmann. Sein Freund versuchte ein paar Mal, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, ließ es aber schließlich sein. Behrends war froh, als er endlich wieder in Bad Lauterberg und vor der Klinik angekommen war. Schlafen. Das war alles, was er nach diesem Tag noch wollte.
31. Mittwoch Therapieplan für Ingo Behrends: Hydrojet, Ergometertraining, Vortrag »Was Sie über Herz-Kreislauf-Erkrankungen wissen sollten«, Vortrag »Stressbewältigung« Krankengymnastik 3, Lungentraining Mittagessen: Hühnerfrikassee mit Leipziger Allerlei und Reis (12 Fettpunkte) »Ach nee! Kleine Spritztour durch den Harz? Das waren doch deine Worte, oder habe ich da was falsch verstanden?« Ihre Stimme biss schmerzhaft in seine Ohren. Katrin hatte ihn überrascht, kaum dass er nach den ersten beiden Anwendungen des Tages auf sein Zimmer gegangen war, um sich zu duschen und sich auf die weiteren Programmpunkte seines Behandlungsplans vorzubereiten. Er hatte sie erwartet. Am Abend, aber nicht am frühen Vormittag. Jetzt stand sie in der Tür, Wut und Enttäuschung im Blick. Keine Begrüßung, kein Kuss. »Ich ... was machst du denn schon hier?« Unter der Wucht ihrer vorwurfsvollen Worte war er ins Wanken gekommen. Er fühlte sich wie ein begossener Pudel und sah in diesem
Moment in seinem schweißnassen T-Shirt vermutlich auch genauso aus. »Ich dachte, wir treffen uns heute Abend.« »Wahrscheinlich dachtest du auch, ich kriege von deinen heimlichen Eskapaden nichts mit!« Sie knallte die Tür hinter sich ins Schloss, trat ins Zimmer, blieb aber auf Abstand. »Woher weißt du ...?« »Woher ich das weiß?« Sie warf den Kopf in den Nacken. Lachte bitter auf. »Ha! Du hättest darauf achten sollen, dass dich keine Kamera einfängt und du nicht für alle Welt in den Frühnachrichten zu sehen bist! Dein sauberer Freund Holger immer dabei, ist ja klar!« »Aber ...« Er überlegte, welche Frühnachrichten sie meinen konnte. Plötzlich fiel es ihm ein. »Der MDR? Seit wann siehst du dir die Frühnachrichten vom MDR an?« »Nicht ich! Margit! Sie hat mich sofort angerufen und gefragt, was du denn mit den Verschütteten drüben im Ostharz zu tun hast. Und ob du nicht mehr in der Klinik bist, wollte sie wissen. Ich bin mir vorgekommen wie ein naives blondes Dummchen! Wollte ihr erklären, dass du mit Holger nur einen Ausflug in den Harz gemacht hast. Sie hat gelacht und gemeint, da wäre ich wohl nicht ganz im Bilde. Weißt du, wie peinlich das war? Weißt du, wie schlimm es ist, wenn man erkennen muss, dass der eigene Ehemann einen belügt?« »Moment. Das ist anders, als du denkst!«,
wandte Behrends ein. »Du hättest nicht extra kommen müssen. Ich hätte es dir am Telefon ...« Sie ließ ihn nicht zu Ende reden. »Telefon, Telefon!«, giftete sie. »Das hätte dir so gepasst. Da kann man sich einfacher rauswinden, stimmt’s?« »Ich will mich nicht rauswinden, verdammt«, schnauzte er zurück. »Es war ein Notfall und ich wollte dich nicht beunruhigen. Deshalb habe ich dir nicht alles gesagt. Aber ich habe nicht gelogen!« »Ach? Du meinst also, wenn du die Wahrheit nur ein bisschen verdrehst, geht das in Ordnung?« »Nein, natürlich nicht«, ruderte er zurück, »es tut mir auch echt leid.« Vermutlich war es besser, sich reumütig zu geben. »Es war falsch, wie ich mich verhalten habe, entschuldige bitte! Aber lass dir doch erklären, was wirklich vorgefallen ist. Das können die vom MDR nämlich nicht wissen.« Das wütende Blitzen verschwand aus ihren Augen. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Okay«, sagte sie, »dann erklär mal. Ich bin gespannt.« »Komm, wir gehen unten ins Thermen-Bistro. Einen Kaffee trinken.« »So, wie du aussiehst?« Sie musterte ihn kritisch. »Ich ziehe mir nur schnell ein trockenes Shirt an.«
Katrin nippte an ihrem Kaffee und hörte sich Behrends’ Geschichte schweigend an. Gelegentlich signalisierte sie ihm durch ihr Nicken Verständnis. »Na gut, mein Lieber«, sagte sie, als er zum Ende gekommen war und ließ ihre Augen auf ihm ruhen, wie auf einem reuigen Sünder, »aber das eine sage ich dir: Du wirst deine Reha ab jetzt ohne Extratouren bis zum Ende durchziehen. Das ist hier kein Spaß. Es geht um deine Gesundheit.« Er hatte gehofft, seine Frau würde vielleicht etwas entgegnen wie: »Tut mir leid, das konnte ich ja nicht wissen!« Oder: »Mein Gott, der arme Grischke!« Stattdessen behandelte sie ihn, als sei er ein kleiner, dummer Junge. War er eben noch auf Versöhnung aus gewesen, schlug seine Stimmung von einer Sekunde zur anderen um. »Pass mal auf, Katrin«, fauchte er wütend, senkte aber seine Stimme ein wenig, ohne das Fauchen aufzugeben, als vom Nachbartisch jemand zu ihnen herüberschaute. »Du musst mir weiß Gott nicht erklären, warum ich hier bin und wie ich mich zu verhalten habe. Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, ich bin erwachsen und kann selber auf mich aufpassen. Dazu brauche ich weder dich noch diese Doktor Beuermann. Also hör bitte auf, mich zu kontrollieren und zu bevormunden!« Katrins Haltung versteifte sich. Sie starrte ihn mit offenem Mund und weit aufgerissenen
Augen an. Ein paar Sekunden blieb sie so sitzen, dann sprang sie auf und stürmte wortlos auf den Bistro-Ausgang zu. »Katrin!«, rief Behrends ihr hinterher, ohne dass sie reagierte. »Verdammt!« Er ignorierte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren, und wollte bereits aufstehen, um ihr nachzulaufen, doch dann ließ er sich zurück auf den Stuhl fallen und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Nein, kommt nicht infrage, dachte er, sie muss das begreifen. Ich bin kein Depp, auf den man aufpassen muss! Zwei Stunden später rief Katrin an. Kleinlaut bat sie ihn um Entschuldigung. Er habe ja Recht, sie sei wohl etwas zu weit gegangen. Aber es gehe ihr doch nur um sein Wohl. Sie unterhielten sich noch eine Weile, und als sie auflegte, war der Groll auf seine Frau verraucht. Er freute sich auf das Wochenende. Dann würden sie sich wiedersehen und hoffentlich keinen neuen Grund zum Streiten finden. Als Katrin aufgelegt hatte, fiel Behrends ein, dass er Doktor Beuermann versprochen hatte, sie über den Ausgang seiner Suche nach Edgar Grischke zu informieren. Eigenartigerweise war ihm die Ärztin heute noch nicht über den Weg gelaufen. Frau Doktor Beuermann habe sich kurzfristig freigenommen, teilte man ihm mit, als er sich nach ihr erkundigte. Irgendeine dringende Privatangelegenheit. Man wisse nicht, wann sie
wieder im Haus sein werde. Behrends bedankte sich und hakte das Thema Berichterstattung gedanklich auf seiner To-doListe ab. Er hatte sein Versprechen eingelöst, oder es zumindest versucht. Für den Abend stand ihm ein weiterer Besuch ins Haus. Seine Stellvertreterin, Hauptkommissarin Naima Azzouzi, hatte sich angekündigt. Ihm war klar gewesen, dass jemand kommen würde, um ihm Fragen zu stellen, nach den Ereignissen in Albrechtshaus. Aber er hatte nicht mit der Teamchefin persönlich gerechnet. Was soll’s, hatte er gedacht, du wirst sie schon ertragen. Zur Not können dir ja Maike oder Tim zur Seite springen, je nachdem, wer sie begleiten darf und wem sie damit den Feierabend versaut. Ein gemeiner Gedanke, denn in laufenden Mordermittlungen war der geheiligte Feierabend ohnehin etwas eher Seltenes. An die Möglichkeit, dass Frau Azzouzi allein kommen könnte, hatte er nicht im Traum gedacht. Doch genau das tat sie. Er nahm sie am Eingang zur Kirchberg-Therme in Empfang und spürte sofort bei der Begrüßung die unsichtbare Wand, die zwischen ihnen stand. Sie wechselten ein paar höfliche Floskeln, dann führte er sie ins Bistro, an den Tisch, den er am Vormittag mit Katrin geteilt hatte. »Mich wundert, dass Sie keinen von meinen Leuten mitgebracht haben. Frau de Baer oder Herrn Seidel.« Den Dritten im Bunde, Richard
Unrein, schloss er gedanklich aus, der reiste nicht gern und blieb lieber in der Inspektion. »Ihre Leute«, sagte sie übertrieben betont, »haben genug anderes um die Ohren. Ich denke, ich komme alleine klar. Ohne Geleitschutz.« Was für eine Mimose, dachte Behrends und sagte: »Ja, natürlich. Also dann, möchten Sie was trinken?« Sie bestellte eine Apfelschorle, er nahm ein Wasser. Die letzten Punkte auf seiner Kalorientabelle hatte er für heute bereits aufgebraucht. Und er hatte beschlossen, sich ab sofort an die Regeln zu halten. Auch wenn es ihm schwerfiel. Die Zeit, bis die Getränke kamen, verbrachten sie schweigend. Naima Azzouzi starrte auf die Bäume vor dem Fenster. Behrends wusste nicht, ob sie über irgendetwas nachdachte oder einfach nur vermeiden wollte, ihn anzusehen. Er suchte nach den richtigen Worten, um das Gespräch zu eröffnen, fand sie aber nicht und verlegte sich darauf, abzuwarten. Schließlich war sie zu ihm gekommen. Sie wollte etwas von ihm, nicht umgekehrt. Unauffällig musterte er sie, wie sie dasaß, die schlanke Gestalt in dem eleganten Kostüm, nachtblau heute. Sie hatte ein makelloses Gesicht, so im Profil, mit den hohen Wangenknochen, der ganz leicht gebogenen Nase und der bronzefarbenen Haut. Dazu die langen, schwarzen Haare, die
im Nacken von einem weißen Zopfband zusammengehalten wurden. Sie war eine Schönheit! Das musste er zugeben. Bei allem, was ihn gegen sie einnahm, ihr Aussehen war es sicher nicht. Der Kellner brachte die Getränke. Sie bedankten sich, nippten an ihren Gläsern. Jeder für sich, als säßen sie an getrennten Tischen. Die unsichtbare Wand war dicker und höher geworden. »Warum machen Sie das?« Behrends zuckte förmlich zusammen, so unerwartet überfiel sie ihn mit ihrer Frage. »Wie? Warum mache ich was?«, entgegnete er verdattert. »Warum lassen Sie keine Gelegenheit aus, um mir das Leben schwer zu machen? Was passt Ihnen nicht an mir, dass Sie so etwas tun?« »Ich ... Moment, was mache ich? Ihnen das Leben schwer?« Er starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Was wurde das hier? Eine Moralpredigt? Wollte sie ihn denn nicht zu den Vorfällen in Albrechtshaus befragen? »Ja. Seit wir uns das erste Mal begegnet sind, am Tatort in Bad Sachsa, pfuschen Sie mir in die Ermittlungen.« »Das ist doch lächerlich!«, platzte es aus ihm heraus. Einen Deut zu laut. Er konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass die anderen Gäste zu ihnen hinübersahen. Schon wieder! »Ist es das?« Sie blieb, im Gegensatz zu ihm, erstaunlich ruhig. »Warum dann diese
Alleingänge? Warum fragen Sie hinter meinem Rücken Personendaten ab und informieren sich über Details zu unseren Ermittlungen?« »Weil Sie falsch gelegen haben und immer noch liegen!«, knurrte er. »Ich wollte helfen. Und das wissen Sie! Ich habe Ihnen Informationen auf dem Silbertablett präsentiert, die Sie allesamt vom Tisch gewischt haben.« »Vermutlich ist etwas dran an dem, was Sie erzählt haben«, gab sie zu. »Das nehmen wir jetzt zumindest an. Aber zu dem Zeitpunkt, als Sie uns die Sache aufgetischt haben, gab es überhaupt keine Anhaltspunkte für Ihren Ansatz. Die Faktenlage war eine andere, und wir mussten den Spuren nachgehen, die erfolgversprechender waren oder wenigstens nicht anmuteten wie eine Räuberpistole.« Er überhörte das mit der Räuberpistole. »Die Drogenspur?«, fragte er stattdessen. »Richtig, die Drogenspur. Was hätten Sie denn gemacht? Sie sind Leiter der Mordkommission, und sobald Sie Ihre Reha hier hinter sich haben, sitzen Sie wieder fest auf Ihrem Stuhl in Northeim. Sie haben schon einige Verbrechen aufgeklärt. Sie wissen, wie Ermittlungsarbeit läuft. Das weiß ich auch. Ich bin nicht neu in dem Geschäft. Aber ich muss mich noch bewähren. Ich möchte so eine Position, wie Sie sie einnehmen, erst noch bekommen. Ich darf mir bei meiner Arbeit keine Fehler erlauben, sonst wird es nichts mit
Karriere, verstehen Sie? Also, warum? Was stört Sie so an mir? Eifersucht? Angst, ich könnte Ihnen was wegnehmen?« Behrends hob entgeistert die Hände. »Ach hören Sie auf! Eifersucht! Angst! Was für ein Blödsinn! Davon abgesehen, Sie haben doch das erreicht, was man einen Ermittlungserfolg nennt, oder?« »Wirklich?« Sie verdrehte die Augen. »Die paar kleinen Fische aus Adams Drogenmannschaft? Meinen Sie etwa die? Die schreiben sich die Kollegen vom Drogendezernat auf die Fahnen. Oh ja, ein richtig toller Erfolg für mich.« »Ich meine Ihre Hauptverdächtige, Jana Schuchart.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. Nein, sie zielte auf ihn, wie mit einer Pistole. »Genau das ist doch der Punkt, Herr Behrends! Wir hätten sie viel früher fassen können. Dann wären weder sie noch Ihr Herr Grischke in diese Situation geraten. Die zwei hätten tot sein können! Sie wussten, dass wir die Frau suchen. Sie wussten, wo sie sich aufhält. Und sind auf eigene Faust hinter ihnen her. Streng genommen könnte man das Strafvereitelung oder Beihilfe zur Flucht nennen.« »Wie bitte?« Behrends warf sich in seinem Stuhl nach hinten, lachte kurz auf. »Hören Sie, Frau Azzouzi, ich wusste nicht, wo sie sich aufhält. Ich habe nur mein Wissen, von dem Sie
nichts hören wollten, dazu benutzt, ihren möglichen Aufenthaltsort herauszubekommen. Ich bin einer Spur nachgegangen, während Ihre Suchtrupps wie blind im Oberharz herumgeirrt sind. Sie sollten mir dankbar sein. Denn ohne meinen Alleingang wären die beiden jetzt definitiv tot!« »Nein«, widersprach sie, »seitdem Sie wussten, dass nach Frau Schuchart gefahndet wird, haben Sie keinen Kontakt mehr zu uns oder besser zu Ihren Leuten«, wieder betonte sie die beiden Worte übertrieben deutlich, »aufgenommen, um ihnen Ihre Vermutungen mitzuteilen. Hätten Sie das getan, hätten wir die Lage vermutlich besser einschätzen können.« »Ich dachte, Sie halten nichts von meinen Vermutungen.« »Herrgott! Das ist doch völlig egal! Trotzdem hätten Sie uns einweihen müssen!« Sie holte mit der flachen Hand aus, ließ sie dann jedoch nur zaghaft auf die Tischplatte klatschen. »Sind Sie nicht Muslima?« Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Zu spät, die Worte waren gesagt, waren ihm einfach so rausgerutscht. »Wie bitte?« Einen Sekundenbruchteil wirkte sie irritiert, aber dann verstand sie. »Ah, also doch! Das ist es, was Sie an mir stört. Und ich dachte, Sie gehören nicht zu denen ... Nein, Herr Behrends, auch wenn meine Wurzeln in Nordafrika liegen, ich bin Christin. Ich habe
einen deutschen Pass. Ob Sie es glauben oder nicht. Und ich bin bei der Polizei, schon vergessen?« »Entschuldigung«, murmelte Behrends verlegen. »Ich ... ich wollte Sie nicht beleidigen. Es ist auch nicht das, was Sie jetzt von mir denken. Ich bin nicht so einer, ehrlich. Ich habe nur ... es war eine unüberlegte Reaktion auf Ihr Herrgott. So fluchen nur Christen, dachte ich, und da ist in meinem Kopf etwas durcheinandergeraten. Tut mir wirklich sehr leid.« Sein zerknirschtes Gesicht löste von einer Sekunde zur anderen die Spannung zwischen ihnen. Sie reagierte mit einem schiefen Grinsen. »Schon gut. Es ist eben nicht alles so, wie es scheint.« Behrends seufzte. »Das trifft wohl nicht nur auf Sie und Ihre Herkunft zu, was? Ich werde versuchen, mich zu bessern und Ihnen in Zukunft keine Knüppel mehr zwischen die Beine werfen, versprochen.« Sie winkte ab. »Mir reicht es schon, wenn wir einfach diese Anfeindungen lassen. Wir sind doch keine Gegner. Wir wollen beide dasselbe, oder? Wir wollen Verbrecher fangen. Also, was meinen Sie?« Behrends hob sein Glas. »Darauf sollten wir anstoßen.« Sie ließen die Gläser leise klirren und tranken. »Ich habe mich vorhin bei Grischkes Sohn nach dem Befinden seines Vaters
erkundigt«, sagte Behrends dann. »Dem Alten geht es schon wieder etwas besser, aber er wird noch ein oder zwei Tage in Wernigerode bleiben müssen, ehe er nach Herzberg ins Krankenhaus verlegt wird. Er hat ja auch ganz schön was abbekommen. Wie steht es mit Jana Schuchart? Von ihr habe ich noch nichts gehört. Wie geht es ihr?« »Vergleichsweise gut«, antwortete Naima Azzouzi. »Eine Gehirnerschütterung, Schürfwunden und diese Wunde am Arm, von der sie behauptet, es sei ein Streifschuss. Sie braucht Ruhe und bleibt noch bis morgen oder übermorgen in der Klinik. Wir konnten sie heute aber schon befragen.« »Und? Was sagt sie?« Naima Azzouzi legte den Kopf leicht schief und lächelte verhalten. »Im Wesentlichen hat sie das ausgesagt, was wir von Ihnen schon wissen, Herr Behrends. Von den Beweisen zum Mord an ihrem Vater und von ihrer erfolglosen Suche danach. Und sie hat von zwei Männern gesprochen, die sie und Herrn Grischke verfolgt hätten. Sie hätte Herrn Grischke in der Nacht angerufen und um Hilfe gebeten, nachdem sie von der Bavaria Alm geflüchtet wäre. Vor diesen beiden Männern. So stellt sie es dar.« »Sie glauben ihr nicht, stimmt’s?« Behrends hatte die Zweifel in ihren Worten sehr deutlich gehört. »Es spricht zu viel dagegen«, sagte sie.
»Nehmen Sie die Verletzung am Arm. Mag sein, dass ein Schuss dafür verantwortlich ist. Sie kann aber auch andere Ursachen haben. Das Hemd, das sie anhatte, wird derzeit noch untersucht. Das, was allerdings am deutlichsten gegen sie spricht, ist die Pistole im Handschuhfach des Geländewagens. Leider ist das auch für Herrn Grischke nicht gut. Er wird von der Pistole gewusst haben.« »Was sagt Frau Schuchart dazu?« »Sie behauptet, keine Ahnung zu haben, wie die Pistole in das Auto gekommen ist. Sie könne sich vorstellen, dass es die Waffe ist, mit der auf sie geschossen worden ist und die ihre Verfolger ins Auto gelegt haben, als sie und Herr Grischke halb tot im Schacht lagen. Sie sagte auch, dass sie die beiden Täter beschreiben könne und dass sie sich das Nummernschild vom Wagen der Männer notiert habe.« »Dann haben Sie doch sicher schon eine Fahndung nach den Männern eingeleitet, oder?« »Leider konnten wir die Notiz zu dem Nummernschild in Grischkes Auto nicht finden. Und die Beschreibung ihrer Verfolger trifft auf tausende Männer zu. Genau wie die des Autos, eines dunkelblauen Vans, dessen Marke Frau Schuchart uns nicht mit letzter Sicherheit nennen konnte.« »Das ist dumm«, stellte Behrends lapidar fest. Er wusste, was das bedeuten konnte.
»Es kommt leider noch schlimmer«, fügte Naima Azzouzi hinzu. »Auch wenn das zurzeit noch genau untersucht wird, gibt es doch kaum Zweifel, dass die Pistole die Waffe ist, mit der Leonid Adam erschossen worden ist. Solange wir also diese ominösen Verfolger nicht ausfindig machen, steht Jana Schuchart weiterhin unter Mordverdacht. Die Rolle, die Ihr Freund Grischke dabei spielt, muss ebenfalls geklärt werden. Wir können nicht mehr ausschließen, dass er mit Jana Schuchart unter einer Decke steckt – auch was den Mord angeht.« »Das glauben Sie jetzt nicht im Ernst«, fuhr Behrends erschrocken auf. »Das sind die Indizien. Das muss ich Ihnen doch nicht erklären.« »Herr Grischke ist ein alter, harmloser Rentner, der sich um seine Bienen kümmern will, sonst nichts.« Und den einen oder anderen Joint rauchen, hätte er beinahe hinzugefügt, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Naima Azzouzi zog ihre Augenbrauchen hoch, zwei dünne, fein geschwungene schwarze Bögen in nahezu perfekter Symmetrie. Dazu ein leicht ironisches Schmunzeln. »Ein alter, harmloser Rentner? Wollen Sie mir das wirklich weismachen? War er nicht der beste Freund von Herrn Adam? Er könnte mit ihm zusammengearbeitet haben. Vielleicht ist es zu geschäftlichen Differenzen
zwischen ihnen gekommen. Mit bekanntem Ausgang. Wie lange kennen Sie den Mann jetzt?« »Grischke? Hm ...« Behrends dachte einen Moment nach. »Eine Woche?« »Lange genug, um einen Menschen richtig einschätzen zu können?« Sie ließ ihre dunklen Augen auf ihm ruhen. Zu seiner eigenen Verwunderung stellte er fest, dass sie ihn nervös machte. »Also, na ja, wahrscheinlich haben Sie Recht. Dafür ist die Zeit etwas zu kurz. Normalerweise. Aber bei Grischke? Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass er was mit der Ermordung seines Freundes zu tun hat.« »Edgar Grischke und Jana Schuchart können Adams Tod geplant haben ,oder Grischke hat ihn zumindest billigend in Kauf genommen«, widersprach sie ihm. »Wir dürfen die Möglichkeit nicht ignorieren. Auch wenn Sie am Tatabend mit Herrn Grischke unterwegs waren, könnte er trotzdem davon gewusst haben, dass Frau Schuchart die Wohnung des Russen durchsucht und Poljakow dabei tötet.« »Und was soll sie gesucht haben, was einen Mord rechtfertigt?« »Das wissen wir noch nicht. Möglicherweise diese Beweise für einen ungesühnten Mord, wie Herr Grischke Ihnen und Jana Schuchart uns glaubhaft machen wollen. Aber wie ich schon sagte, vielleicht ging es auch um etwas Geschäftliches.«
Behrends antwortete nicht sofort. Grübelnd starrte er in sein Glas, nahm es in die Hand, drehte und wendete es, also wolle er darin wie ein Hellseher lesen. Nicht die Zukunft, sondern die Wahrheit. »Ich glaube das nicht, Frau Azzouzi«, murmelte er schließlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der alte Gärtner zu so etwas fähig ist. Ich glaube noch nicht mal, dass er ahnungslos in ein Verbrechen hineingeschlittert ist.« »Mit dem, was Sie glauben oder nicht, ist uns nur leider nicht wirklich geholfen«, entgegnete sie. »Und wenn in Albrechtshaus tatsächlich auf die zwei geschossen wurde? Gibt es keine Spuren, die darauf deuten, dass sich weitere Personen dort befunden haben? Wie ist es mit Patronenhülsen, Projektilen? Irgendetwas, das ihre Aussagen untermauert?« »Die Spurenlage ist problematisch. Alle möglichen Leute sind dort herumgetrampelt, nachdem Sie Alarm ausgelöst hatten. Polizei, Feuerwehr, Rettungssanitäter ... um diesen Schacht herum und auch in der Ruine. Von einem Tatort war zu der Zeit keine Rede.« »Sie sollten veranlassen, dass sich dort noch einmal jemand genauer umsieht«, riet Behrends ihr. Sie nickte zustimmend. »Das hatte ich vor.« Dann fragte sie: »Wie sieht das übrigens mit Ihnen aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen, was die
beiden und besonders Frau Schuchart entlasten könnte?« »Tut mir leid, aber mehr als das, was ich unseren Kollegen gestern Abend vor Ort gesagt habe, weiß ich auch nicht.« Er zuckte bedauernd mit den Achseln. »Ich weiß nur, dass einiges für Jana Schucharts Geschichte spricht. Nach allem, was Herr Diekmann von seinem Kollegen in Wismar erfahren hat, wäre es verständlich, wenn jemand verhindern will, dass die vermeintlichen Beweise gefunden werden. Zum Beispiel ein gewisser Bundestagsabgeordneter. Haben Sie schon mit Herrn Diekmann gesprochen?« »Frau de Baer war bei ihm. Ich habe das Protokoll gelesen.« »Und?« »Wir brauchen Beweise, Herr Behrends. Ahnungen, Vermutungen und Gefühle bringen nichts.« »Leider«, brummte Behrends, »leider.« Er konnte nur hoffen, dass diese Beweise gefunden wurden und dass Naima Azzouzi nicht zuletzt noch einen Fehler machte, der Unschuldige ins Gefängnis brachte. Verdammt, könnte er die Sache bloß selbst in die Hand nehmen. Warum musste er in dieser verfluchten Klinik festhängen?
32. Donnerstag Therapieplan für Ingo Behrends: Atemtherapie, Ergometertraining, Kraftausdauer, Fango-Massage, Autogenes Training, KG-Einzel, Therapieplan Mittagessen: Schweinefleisch süß-sauer mit knackigem Gemüse und Risotto (10 Fettpunkte), Freitag Therapieplan für Ingo Behrends: Krankengymnastik 3, Ruhe-EKG, Terraintraining 2, Kraftausdauer, Lungentraining. Mittagessen: Kabeljaufilet mit Pfifferlingskruste auf Grillgemüse und Röstkartoffeln (18 Fettpunkte) Behrends musste zugeben, dass er nach ihrer Aussprache im Bistro der Kirchberg-Therme eine gewisse Sympathie für Naima Azzouzi empfand. Seine Vorbehalte gegen sie hatten sich weitgehend in Luft aufgelöst. Das war ein Anfang, auch wenn sich nicht von einem Tag auf den anderen daraus eine innige Freundschaft entwickeln würde. Immerhin hatten sie erkannt, dass es besser
war, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, anstatt sich anzufeinden. Das würde besonders Behrends zugutegekommen, denn Hauptkommissarin Azzouzi hatte ihm versprochen, ihn über die wichtigsten Ermittlungsschritte im Mordfall Adam auf dem Laufenden zu halten, sofern er keine weiteren Alleingänge unternahm. Er hatte ohne zu zögern eingewilligt, gab ihm ihr Versprechen doch das Gefühl, nicht länger von den Ermittlungen abgehängt zu sein und sie, wenn nötig, sogar beeinflussen zu können. Er durfte im Kommissariat anrufen, wann immer er wollte und sich über den Stand der Dinge informieren. Ohne jede Heimlichtuerei. Die Zeit auf dem Abstellgleis war vorbei, er gehörte wieder dazu. Das hatte ihm seinen Klinikaufenthalt gleich etwas erträglicher gemacht. Seine behandelnden Ärzte hätten es vermutlich als Therapiehemmnis gegeißelt, hätten sie gewusst, dass er beabsichtigte, jede freie Minute dazu zu nutzen, an der Aufklärung eines Mordes mitzuarbeiten. Aber mit wem er in seinen anwendungsfreien Stunden telefonierte oder wen er empfing, ging niemanden etwas an, fand er. Auch Katrin nicht. Am nächsten Morgen griff Behrends zappelig wie ein Kind, das auf den Weihnachtsmann wartet, noch vor dem Frühstück zum Smartphone, um seine Stellvertreterin in Northeim anzurufen. Naima Azzouzi reagierte merkwürdig gereizt, sie klang übermüdet.
Nein, es gebe noch keine Fortschritte, teilte sie ihm in schroffem Ton mit, obwohl man die ganze Nacht hindurch fieberhaft gearbeitet habe. Und er möge doch jetzt bitte nicht im Stundentakt bei ihr anrufen, um sich nach dem Ermittlungsstand zu erkundigen. So sei ihr Angebot, ihn zu informieren, nicht gemeint gewesen. Es fühlte sich wie eine Ohrfeige an. Völlig überraschend, nach ihrem Gespräch im Bistro. Im letzten Moment schluckte er die giftige Erwiderung, die ihm schon auf den Lippen gelegen hatte, wieder hinunter. Er musste sich zügeln, um das dünne Band zwischen sich und der Hauptkommissarin nicht sofort wieder zu zerreißen. Gegen Abend meldete sich schließlich Maike de Baer mit ersten Untersuchungsergebnissen bei ihm. Die neuen Erkenntnisse entlasteten Jana Schuchart fast vollständig. Ihre Angaben, jedenfalls die zu den Ereignissen in Albrechtshaus, entsprachen der Wahrheit. Das Projektil, das Jana Schucharts Arm gestreift hatte, war gefunden worden. Es hatte im bröckeligen Mauerwerk gesteckt, nahe der Stelle, von wo aus sie und Grischke in die Tiefe gesprungen waren. Das Projektil stammte aus der Waffe, die Behrends im Handschuhfach des Geländewagens gefunden hatte. Beweis genug, dass jemand Jagd auf die zwei gemacht und später die Pistole in den Wagen gelegt haben musste. Tags darauf erfuhr Behrends, dass die Kriminaltechniker auch den Zettel mit dem von
Jana Schuchart notierten Autokennzeichen gefunden hatten. Er war zwischen die Sitze des Mitsubishis gerutscht und bei der ersten Durchsicht unbemerkt geblieben. Die Ermittlung des Wagenhalters war aber ergebnislos verlaufen, das Hamburger Kennzeichen war gefälscht. Naima Azzouzi ordnete an, mit dem falschen Kennzeichen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zusammen mit der Beschreibung des Vans und den Phantombildern der Verfolger, die man zuvor mit Jana Schucharts Hilfe erstellt hatte. Seitdem hofften alle auf den schnellen Fahndungserfolg. Die Hoffnung erfüllte sich. Teilweise. Ein Tankwart erinnerte sich an den Van, weil der Fahrer mit einem anderen Kunden, einem etwas zerstreuten alten Herrn, an der Tanksäule in Streit geraten war. Er hatte beim Anfahren versehentlich den Rückwärtsgang eingelegt. Zu einem Unfall war es nicht gekommen. Dafür hatte der Fahrer des Vans dem unvorsichtigen Alten ein paar unschöne Worte an den Kopf geworfen, was zu dem Streit geführt hatte. Das Video der Aufzeichnungskamera belegte die Szene und lieferte ein recht brauchbares Bild des VanFahrers. Dessen Beifahrer war im Auto sitzengeblieben und nicht zu erkennen gewesen. Stunden später wurde der Van verlassen in einem Waldstück nahe Hamburg aufgefunden. Von Fahrer und Beifahrer fehlte seitdem allerdings jede Spur.
Es war Richard Unrein, der sich dank des Tankstellenvideos sofort an eine Straftat erinnerte, die schon ein paar Jahre zurücklag. Seine anschließende Suche in der Datenbank gab ihm Recht. Behrends erfuhr davon, als er zwischen zwei Anwendungen wieder mal voller Neugierde in Northeim anrief und den Geduldsfaden seiner Stellvertreterin weiter strapazierte. Hauptkommissarin Azzouzi begrüßte ihn nur kurz und verband ihn direkt mit Unrein. »Die zwei waren damals als Bodyguards angeheuert«, klärte er Behrends auf. »Während einer Wahlkampfveranstaltung.« »Was für eine Wahlkampfveranstaltung?« »Von unserem allseits bekannten und beliebten Bundestagsabgeordneten Joachim Passlack. Du kennst ihn?« »Natürlich«, sagte Behrends, »ich habe den Mann doch überhaupt erst ins Spiel gebracht.« Er fragte sich, ob das an Unrein vorbeigegangen war. Eigentlich nicht denkbar. Unrein überging seinen Einwand und redete weiter: »Passlack war zur Zeit dieser Veranstaltung politisch noch ein recht unbeschriebenes Blatt. Bei der Wahlkundgebung haben die Typen zwei junge Männer und ein Mädchen krankenhausreif geschlagen. Es haben damals etliche Leute gegen Passlack demonstriert, und die drei sind ihm wohl etwas zu nahe gekommen.« »Haben diese Schläger auch Namen?«
»Marius Ababi und Adrian Krawczyk«, sagte Unrein. »Deutsche mit rumänischen beziehungsweise polnischen Wurzeln und beide keine unbeschriebenen Blätter. Einige Jahre Knast sind bei denen seinerzeit schon zusammengekommen. Körperverletzung, Erpressung, Raub ... Umso erstaunlicher, dass es für diese Sache nur ein Jahr Bewährung für jeden gegeben hat. Das war’s. Danach sind sie dann nicht mehr auffällig geworden.« »Und Passlack? Hat dem die Geschichte nicht geschadet?«, wunderte sich Behrends. Unrein lachte bitter auf. »Ganz im Gegenteil, Ingo! Der hat es geschafft, die Sache für sich auszuschlachten. Natürlich hat er die zwei sofort aus seinen Diensten entlassen, hat sich öffentlich entschuldigt und distanziert und den Opfern großzügige Schmerzensgelder gezahlt. Er hat bei der Wahl dann richtig abgesahnt und ist das erste Mal mit überwältigender Stimmenmehrheit in den Bundestag eingezogen. Ein Newcomer, der sich aber schnell einen Namen machen konnte. Er gilt seitdem als einer, der ehrlich ist, zupacken kann und kein Blatt vor den Mund nimmt. Ein Macher. Das honorieren die Leute.« »Würden sie das auch noch, wenn sie wüssten, dass er ein Stasi-Offizier war? Einer, dessen Foltermethoden berüchtigt waren?« »Falls er wirklich dieser Stasi-Offizier mit Spitznamen Wassermann war«, entgegnete Unrein. »Wir kennen Diekmanns Geschichte.
Seine Recherche in Wismar. Wir haben uns darum gekümmert. Nach Aktenlage ist er sauber. Er war NVA-Offizier, natürlich linientreu, das ist klar, aber es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass er Mitarbeiter des MfS war. Diekmanns Informationen haben keine Beweiskraft. Sie sind aus zweiter Hand und stammen zudem von einem anonymen Informanten, was diese Geschichte auf dem Truppenübungsplatz betrifft. Das ist nichts, woraus man Passlack einen Strick drehen könnte.« »Es sei denn, man hätte die Beweise, nach denen Jana Schuchart gesucht hat«, warf Behrends ein. »Dann könnte man ihm wenigstens seine Beteiligung an diesem Waffendeal nachweisen, vielleicht sogar den Mord am Vater des Mädchens.« »Falls es diese Beweise jemals gab. Diese Schuchart scheint sie ja nicht gefunden zu haben.« »Dann frage ich mich allerdings, warum Adam sterben musste und das Mädchen von den Männern verfolgt wurde. Ich verwette jeden Cent darauf, dass die Typen nach wie vor auf Passlacks Gehaltsliste stehen und diesen Job für ihn erledigt haben. Und Passlack weiß, dass es die Beweise gibt ... zumindest glaubt er das.« »Dann sag mir, wie wir ihm das nachweisen sollen, Ingo«, sagte Unrein. »Gib uns irgendwas Brauchbares an die Hand und wir
kriegen den Mann bei den Eiern. Aber solange ...« »Hast du ihn jemals gewählt?«, fragte Behrends plötzlich. »Was?« »Passlack. Hast du bei der Wahl dein Kreuz vor seinem Namen gemacht?« »Bist du wahnsinnig?«, polterte Unrein. »Solche Leute wähle ich nicht! Die befeuern eine Stimmung, die unserem Land und unserer Demokratie nicht guttut! Der Mann ist meiner Meinung nach ein Demagoge!« Behrends musste schlucken, Unrein hatte sich die Kandidaten bei der letzten Wahl offensichtlich wesentlich besser angeschaut als er selbst. »Ein Wolf im Schafspelz«, ereiferte Unrein sich weiter. »Gibt sich als Demokrat und Vaterlandsbeschützer, macht sich in der Flüchtlingsfrage für Grenzschließungen und schärfere Überwachung stark. Außerdem plädiert er dafür, die militärischen Mittel zur Bekämpfung des IS in Syrien und den Nachbarstaaten massiv aufzustocken und die verschiedenen Anti-IS-Gruppierungen da unten mit Waffen zu versorgen. Kurden und die ganzen anderen Freiheitskämpfer, was weiß ich. Steigt doch keiner richtig durch, wer da auf wen schießt. Kein Wunder, dass Passlack so versessen darauf ist, als Vertreter der Rüstungslobby. Ich finde den Mann einfach nur zum Kotzen!«
»Ja, wäre schön, wir könnten ihn … bei den Eiern kriegen«, sagte Behrends ein wenig kleinlaut und lenkte schnell auf ein anderes Thema. »Meldet ihr euch, wenn es etwas Neues gibt?« Er musste einen Moment warten, bis sich Unrein wieder etwas beruhigt hatte und sein erregtes Schnaufen nachließ. »Ich gebe dir sofort Bescheid«, hörte er seinen Kollegen dann sagen. »Mach’s gut.« Nur ein paar Stunden später rief ihn Maike an. Sofort ging sein Adrenalinspiegel nach oben. Keine Spur mehr von der Trägheit, mit der er aus dem gerade beendeten Seminar gekommen war. »Na, Chef«, frotzelte Maike, »was macht die Gesundheit?« »Alles bestens. Habe gerade einen sehr hilfreichen Vortrag hinter mir. Stressbewältigung.« Sie lachte auf: »Na, das passt ja perfekt. Bei dem Stress, den du dir gerade selber machst. Ich frage mich nämlich langsam, wer eigentlich die Ermittlungen in unserem Fall leitet, Naima Azzouzi oder du.« »Komm, hör auf!«, rief er, »ich bin nur stiller Teilhaber an eurer Arbeit. Soll die Frau Hauptkommissarin sich ruhig die Lorbeeren für ihre Karriere verdienen. Ich habe das nicht mehr nötig.« »Ach, Ingo, wie beruhigend.« Wieder lachte
sie. »Aber deshalb rufst du nicht an, oder?«, schloss er das Vorgeplänkel ab. »Nein, natürlich nicht«, bestätigte Maike. »Ich wollte nur deine Neugier befriedigen. Wir haben was Interessantes.« »Und das wäre?« »In der Döberitzer Heide wurde vor etwa einem halben Jahr ein Mann tot aufgefunden. Er wurde erschossen. Der Fall schmort seitdem vor sich hin. Keine Spuren, nichts, was die Ermittlungen vorangebracht hat. Bis heute. Die Kollegen, die sich um die Waffe aus Grischkes Geländewagen kümmern, haben die ballistischen Erkenntnisse mit den Datenbankinhalten abgeglichen und den Volltreffer gelandet. Der Mann in der Heide wurde mit unserer Pistole umgebracht.« »Das heißt, die Mörder von Adam haben den Mann erschossen?« »Die Waffe wurde benutzt«, gab sich Maike zurückhaltend. »Mehr wissen wir bisher nicht.« »Und wer ist der Tote?« »Roland Engel. Sozialhilfeempfänger, Einzelgänger. Geschieden, kinderlos. Lebte in einer kleinen Mietwohnung in Elstal. Es heißt, er hat sich immer auf dem alten Truppenübungsplatz herumgetrieben. Hatte kein Auto, war mit dem Fahrrad unterwegs. Das Fahrrad wurde unweit vom Fundort der Leiche entdeckt. Zusammen mit einem kleinen
Anhänger, in dem ein paar Tierkadaver lagen. Vermutlich hat der Mann gewildert.« »Und vorher?«, fragte Behrends. »Was war mit ihm, bevor er zum Sozialfall wurde?« Behrends ahnte bereits, welche Rolle der Tote im Fall Poljakow spielte. »Angehöriger der NVA. Bei den Grenztruppen. Er wurde unehrenhaft entlassen, hatte ein Verfahren wegen Spionageverdachts und Geheimnisverrats am Hals und war einige Jahre in Schwedt inhaftiert. Der Mann ist danach schon zu DDRZeiten nicht mehr auf die Beine gekommen.« »Der namenlose Informant«, murmelte Behrends. »Kannst du das wiederholen?«, forderte Maike, »Ich habe dich nicht verstanden.« »Der Augenzeuge. Der Mann, der Vetter, diesen Journalisten, über das informiert hat, was damals bei dem Waffengeschäft auf dem Truppenübungsplatz vorgefallen ist. Taucht in den Ermittlungsunterlagen zu diesem Mordfall irgendwo der Name Passlack auf? StasiOffizier Joachim Passlack?« Maike zögerte. »Passlack war bei der Stasi? Interessant. Also okay, ich prüf das noch mal. Obwohl ich nicht weiß, warum man bei diesem aktuellen Fall so weit in Vergangenheit zurückgehen sollte.« »Verdammt, weil der Mord da seinen Ursprung hat, das kannst du mir glauben! Und es wird höchste Zeit, dem sauberen Herrn
Bundestagsabgeordneten auf die Finger zu klopfen«, forderte Behrends. »Und wie?«, fragte Maike. »Er genießt parlamentarische Immunität. Wir haben absolut nichts in der Hand, was uns die Befugnis gibt, auch nur einen Blick hinter seine Haustür zu werfen.« »Ihr könntet ihm unverbindlich einen Besuch abstatten. Ein bisschen plaudern.« »Worüber denn, bitte schön? Noch mal, er ist Bundespolitiker. Wir können gar nichts. Nicht mal plaudern, wenn er nicht will. Trotz all unserer Mutmaßungen gibt es keinen konkreten Anfangsverdacht einer Straftat gegen ihn. Ich glaube kaum, dass Naima unter diesen Voraussetzungen ein Interesse daran hat, den Bundestag und den Immunitätsausschuss damit zu beschäftigen, seine Immunität aufzuheben. Und solange das nicht passiert, wird es weder Fragen noch Ermittlungen geben. Naima wird nicht versuchen, den Mann ohne rechtliche Rückendeckung aus der Reserve zu locken. Das würde ihren Karrieretod bedeuten. Du weißt das.« Er spürte, wie sich eine kalte Wut in ihm ausbreitete. Er konnte Unrein nur zu gut verstehen. Typen, wie dieser Passlack fühlten sich unantastbar, benutzten ihre Macht und ihre Netzwerke, um zu vertuschen, zu verschleiern, Menschen mundtot zu machen und Leben zu ruinieren. Sie waren
rücksichtslos und gaben sich gleichzeitig nach außen als Wohltäter der Gesellschaft. Sie standen als Politiker am Rednerpult und verkauften den Menschen Wohlstandsträume oder sie schürten Ängste. Und immer ging es ihnen nur um Macht und Einfluss. »Ich weiß«, zischte er zerknirscht. »Seht zu, dass ihr die Flüchtigen, Ababi und Krawczyk zu fassen kriegt, bemüht euch um einen internationalen Haftbefehl, wenn es sein muss. Über die zwei kommt ihr an Passlack ran.« »Ingo, bitte«, bremste Maike ihn, »erklär mir jetzt nicht, wie wir unsere Arbeit machen müssen. Wir wissen, was zu tun ist.«
33. Jana Schuchart war auf dem Weg nach Hause. Die Beule an ihrem Kopf machte ihr kaum noch zu schaffen. Sie hatte bedrohlich dunkle Farben angenommen, die sie mit einem Bandana kaschierte. Auch die Wunde am Arm bereitete ihr keine Probleme mehr. Ihr Bike hatte sie zurückerhalten, nachdem feststand, dass sie nicht Adams Mörderin war. Man hatte ihr von dem kleinen Peilsender erzählt, der am hinteren Schutzblech angebracht gewesen war. Sie hatte sich also nicht geirrt, als sie ihre Verfolger auf dem Parkplatz der Bavaria Alm an ihrer Maschine hatte herumfummeln sehen. Sogar ihr Smartphone, das die Polizei unversehrt aus den Trümmern in Albrechtshaus gefischt hatte, war wieder in ihrem Besitz. Jana hatte den Ermittlern ausführlich alle Fragen beantwortet und eine Täterbeschreibung abgegeben. Zuletzt hatte sie sich noch von Edgar Grischke verabschiedet. Der Alte sollte am nächsten Tag ins Krankenhaus nach Herzberg verlegt werden, was ihm nicht recht zu schmecken schien. »Da rückt mir dann dauernd die ganze Familie auf den Pelz«, hatte er genörgelt und dabei eine Miene gezogen, als grenze allein die Vorstellung an Folter. »Hier hätte ich wenigstens ein bisschen meine Ruhe gehabt.
Über den Harz würden die nämlich nicht jeden Tag kommen.« Sie wusste nicht, ob das sein Ernst gewesen war. Aber so mitgenommen, wie er immer noch gewirkt hatte, mit seinem gebrochenen Schienbein, den kaputten Rippen und den anderen kleinen Blessuren, konnte sie schon verstehen, dass ihm nicht nach Besuch zumute war. Andererseits brannten seine Angehörigen natürlich darauf, alles über seinen Ausflug zu erfahren, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Bereits am Abend seiner Einlieferung hatten sie mit Erlaubnis der Ärzte für ein paar Minuten an seinem Bett stehen dürfen. Da war er allerdings kaum in der Lage gewesen, sie wahrzunehmen, geschweige denn, ihre Fragen zu beantworten. Bevor sie losgefahren war, hatte Jana noch eine Weile bei Grischke auf der Bettkante gesessen und mit ihm über ihre kurze gemeinsame Zeit gesprochen. Dabei hatte sie sich mehrmals von ihm über den Kopf und den Arm streicheln lassen. Es war ein warmes Gefühl gewesen. Ihr war bewusst geworden, wie sehr sie den Alten seit jenem Tag in der Blockhütte in ihr Herz geschlossen hatte. Fast wie einen Großvater, bei dem man sich geborgen und beschützt fühlte. »Tut mir leid für dich, Mädchen«, hatte er zuletzt mit ehrlichem Bedauern in der Stimme gesagt. »Ich hätte dir wirklich gegönnt, die Beweise zu finden, damit die Schuldigen am
Tod deines Vaters zur Rechenschaft gezogen werden können. Ich hoffe, du meldest dich mal bei mir, auch wenn du jetzt keinen Grund mehr hast, dich mit einem alten Sack wie mir abzugeben.« Sie hatte versprochen, ihn anzurufen, ihn auch zu besuchen. Dann war sie eilig gegangen, bevor das Ganze noch in einen filmreifen Abschied unter Tränen gemündet wäre. Kurz hinter der Ortschaft Sprakensehl fuhr Jana in einem Waldstück von der B4 ab und auf einen Parkplatz. Sie musste einen Schluck trinken und konnte bei der Gelegenheit auch gleich das belegte Brötchen essen, das sie sich zusammen mit der Dose Cola vor ihrer Abfahrt im Krankenhaus-Kiosk gekauft hatte. Außerdem wollte sie Regine anrufen. Die Witwe wohnte ein Stockwerk unter ihr. Sie sah in ihrer Wohnung nach dem Rechten, goss die wenigen Pflanzen und versorgte die beiden Goldfische, wenn sie mal länger als einen Tag unterwegs war. Jana hatte Regine den Zweitschlüssel überlassen, weil sie so etwas wie Freundinnen waren und sie ihr vertraute. »Hey, Gine, grüß dich!«, rief Jana in ihr Smartphone, als Regine schon nach dem ersten Signalton abhob. »Du, ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich weiß nicht genau, ob die Fische noch genug Futter haben. Wenn nicht, dann kaufe ich unterwegs gleich eine Dose.« »Musst du nicht«, beruhigte ihre Freundin
sie, »habe ich für deine beiden Goldstücke schon besorgt.« »Super! Danke!« Regine war wirklich ein Schatz. »Und sonst? Ist alles in Ordnung bei mir in der Wohnung?« »Keine besonderen Vorkommnisse. War gestern nur einer von so ’ner Installationsfirma da, der hat nach dir gefragt. Sagte, die Wohnungsgesellschaft hätte ihn geschickt, um sich die Heizungsthermostate in deiner Wohnung anzusehen. Irgendwas war damit wohl nicht mit in Ordnung.« »Wieso das denn? Kann mich nicht erinnern, dass die kaputt waren. Du hast ihm hoffentlich nicht aufgemacht, oder?« »Doch. Er hat mir erklärt, wie umständlich das für ihn ist, wenn er noch mal wiederkommen muss. War ein netter Kerl und irgendwie hat er mir leidgetan. Da habe ihn mit dem Zweitschlüssel reingelassen.« »Mensch, Gine!«, stöhnte Jana und fragte sich gleichzeitig, was ihren Vermieter auf die Idee gebracht haben mochte, ihre Heizungsthermostate wären defekt. »Bist du denn wenigstens bei ihm geblieben und hast ihm auf die Finger geschaut?« »Nee. Er sagte, dass er alleine zurechtkommt und mir hinterher den Schlüssel zurückbringt. Ich hatte ja auch das Essen auf dem Herd ...« Sie zögerte. »War das falsch?« »Nein, nein, ist schon in Ordnung. Wir sehen uns nachher. Du bist doch da, oder musst du
noch ins Büro?« Regine verdiente sich zu ihrer Witwenrente stundenweise was als Bürokraft dazu und sprang je nach Bedarf als Aushilfe ein. Heute konnte sie allerdings zu Hause bleiben. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, starrte Jana einen Augenblick ihr Smartphone an. Brötchen und Cola hatte sie vergessen. Regine war ja eine ganz Liebe, aber gleichzeitig so was von naiv! Wie konnte sie nur einen wildfremden Kerl in ihre Wohnung lassen! Dazu unbeaufsichtigt! Schön, es gab bei ihr nichts, was sich zu klauen lohnte. Der Fernseher war alt, Geld und Schmuck besaß sie nicht. Auch sonst keine Wertsachen. Die Dinge, die ihr etwas bedeuteten, trug sie für gewöhnlich bei sich. Sie musste sich also keine Gedanken machen, oder? Doch, verdammt, das musste sie! Wenn sie alles glaubte, aber nicht, dass ihr Vermieter einen Installateur zu ihr schickte, ohne sie vorher zu benachrichtigen. Und eine Nachricht hatte sie von ihm definitiv nicht erhalten! Kurzentschlossen wählte sie die Nummer der Wohnungsgesellschaft, die sie in ihrem Smartphone abgespeichert hatte. Es dauerte zwei oder drei Minuten, bis die Dame am Telefon ihre Anfrage überprüft hatte. Nein, es gab keinen entsprechenden Auftrag für einen Installateur. Wer also war der Typ, der sich Zugang zu ihrer Wohnung verschafft hatte? Ganz allmählich schlich sich die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass ihr Abenteuer mit dem
beinahe tödlichen Ausgang in Albrechtshaus noch lange nicht zu Ende war. Inzwischen mussten ihre beiden Verfolger begriffen haben, dass sie und Grischke am Leben waren und somit weiter eine Gefahr für sie darstellten. Aber die Typen waren doch jetzt selbst die Gejagten! Waren die etwa so abgebrüht und lauerten ihr trotzdem auf? Glaubten die immer noch, Jana, hätte sie belogen und wäre im Besitz dieser verfluchten Beweise? Warteten die in diesem Moment in der Nähe ihrer Wohnung auf sie? Oder machte jetzt ein anderer den Job, den die zwei nicht vernünftig zu Ende gebracht hatten? Sie schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf und vergaß dabei die Beule. Der Schmerz raubte ihr für eine Sekunde fast die Sinne, danach schien sie aber umso klarer denken zu können. Na sicher! Wer immer sie verfolgte, handelte im Auftrag eines großen Unbekannten im Hintergrund. Und der fürchtete nach wie vor, durch Adams Beweise aufzufliegen. Existierten die Beweise also doch? Waren sie kein Hirngespinst? Fast schien es so, und es gab jemanden, der ging über Leichen, um sie in die Hände zu bekommen. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Sie hatte das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen sacke weg, mitsamt der Bank, auf der sie saß. Bevor sie zur Seite kippte, konnte sie sich gerade noch mit der Hand abstützen. Und dann ließ der Schwindel auch schon wieder nach. Sie packte sofort ihre Sachen zusammen.
Nach Hause fahren kam allerdings nicht mehr infrage. Zu gefährlich. Auf keinen Fall durfte sie sich dort blicken lassen! Stattdessen würde sie umkehren. Sie musste zurück in den Harz. Nur noch schnell ihre Freundin informieren und ihr eine nette Geschichte auftischen. Ihr erzählen, dass sie sich gerade entschlossen habe, einen Kurztrip nach Norwegen zu machen oder nach Schweden. Auf jeden Fall weit genug weg. Regine würde sich nicht wundern, nicht mal nach dem Grund fragen. Naiv, wie sie war, würde sie ihr einfach glauben und jedem Fremden, der sie aushorchte, davon erzählen. Wenige Minuten später stieg sie wieder auf ihr Motorrad und setzte ihre Fahrt in entgegengesetzter Richtung fort. Sie zweifelte nicht mehr daran, dass es Adams Beweis gab! Versteckt auf dem Klinikgelände in Albrechtshaus. Irgendetwas hatte sie übersehen. Nur deshalb war ihre Suche erfolglos gewesen. Sie musste herausfinden, was ihr entgangen war. Aber dazu brauchte sie Ruhe – Ruhe zum Überlegen. Am besten, sie quartierte sich in der Nähe der alten Klinik ein. Sie buchte ein Zimmer in einer kleinen Frühstückspension in Hasselfelde. Zunächst für eine Nacht. Nichts Besonderes, aber für ihre Zwecke reichte es. Die Butze unter dem Dach ließ ihr gerade genug Platz, um sich halbwegs aufrecht bewegen zu können, war spartanisch eingerichtet und sehr ruhig. Toilette und
Dusche auf dem Flur. Ein winziger Flachbildfernseher war das einzige Zugeständnis an einen gewissen Komfort, nicht dazu angetan, ihn auch wirklich zu benutzen. Soweit Jana es überblicken konnte, war sie der einzige Gast im Haus. Genau das Richtige, um ungestört nachzudenken. Geholfen hatte ihr die Ruhe bisher nicht. Stundenlang hatte sie sich erfolglos das Gehirn zermartert. Alles Mögliche hatte sie in Betracht gezogen, immer wieder den halb verbrannten Zettel mit Adams rätselhaften Hinweisen studiert. Jedes Mal war sie wieder bei der kleinen Kapelle gelandet, auf die Adam angespielt haben musste, als er das Wort Kripta auf seinen Zettel gekritzelt hatte, mit dem Sarg-Symbol daneben. Irgendwann am Abend war sie eine Weile ziellos durch den Ort getrabt, um den Kopf etwas freizubekommen. Danach hatte sie sich wieder aufs Zimmer verzogen und das Grübeln hatte von vorn begonnen. Zuletzt hatte sie sogar darüber nachgedacht, ob Albrechtshaus der völlig falsche Ort war, an dem sie suchte. Dass die Beweise vielleicht doch woanders versteckt waren. Aber wo, verdammt? Als sie nach einer Ewigkeit zur Uhr blickte, war es fast Mitternacht. Noch immer hatte sie keine Idee, wo sie suchen sollte. Mehr aus Verzweiflung als aus Interesse googelte sie noch einmal auf ihrem Smartphone die Begriffe Albrechtshaus und Klinik und öffnete danach den Bilder-Reiter. Sie blätterte sich durch die
Fotos, die ihr zum großen Teil schon bekannt waren. Ziemlich weit hinten in der Galerie blieb sie an einem Bild hängen, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Zunächst wusste sie nicht recht, wohin mit den verwitterten, mit Moos bedeckten Pfeilern. Dann erinnerte sie sich. Sie hatte die Pfeiler auf dem Klinikgelände gesehen, ihnen aber keine Beachtung geschenkt. Etwas abseits zwischen den Bäumen hatten sie gestanden. Jana klickte den Link zu der zum Bild gehörenden Webseite. Der Text zum Bild beschrieb die Pfeiler als Stützen der ehemaligen Fernwärmeleitung, über die Albrechtshaus mit Heizung und Warmwasser versorgt worden war. Ein weiteres Bild zeigte eine Grafik, auf der die Leitungen in einer Art Grundriss schematisch dargestellt waren. Sofort fielen ihr die kleinen Quadrate ins Auge, die die Pfeiler symbolisierten und sie wusste endlich, wonach sie gesucht hatte. Die quadratischen Kästchen, die Adam etwas versetzt zueinander in einer Zweierreihe aufgezeichnet hatte, stellten die Pfeiler der Fernwärmeleitung dar! Eins davon war nicht nur in seinen Umrissen dargestellt, sondern schwarz ausgemalt. Da musste er seine Beweise versteckt haben. In dem Pfeiler. Oder zumindest dicht daneben. Und das Grab auf dem Zettel stellte die Kapelle dar! Sie diente nur als Orientierungspunkt. Dessen war sie sich in diesem Moment sicher. Auch wenn die Proportionen und Entfernungen der einzelnen
Symbole zueinander vielleicht nicht immer ganz stimmten, so erklärte sich Adams Zeichnung jetzt fast von selbst. Alles schien plötzlich zueinanderzupassen und war sonnenklar – um Mitternacht, unter einem schwarzen, wolkenverhangenen Himmel. Zufrieden mit sich selbst legte Jana sich ins Bett. Aber schnell merkte sie, dass sie viel zu aufgewühlt war, um einzuschlafen. Sie wälzte sich hin und her, starrte in die Dunkelheit und verfluchte die Zeit, die einfach nicht vergehen wollte. Ein paar Mal fielen ihr die Augen zu, doch immer nur für einen Moment, dann war sie wieder hellwach. Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste sie dann doch weggedämmert sein. Als sie aufwachte, trommelte strömender Regen an die Scheiben. Es war fast zehn Uhr. Sie sprang aus dem Bett, beließ es bei einer Katzenwäsche und zog sich hastig an. Das Frühstücken erledigte sie in fünfzehn Minuten. Ein Brötchen, eine Tasse Kaffee, das musste reichen. Sie wollte keine Zeit verlieren und außerdem war sie viel zu aufgeregt. Da bekam sie ohnehin nicht viel herunter. Als sie sich jetzt durch das Gestrüpp zu den Betonpfeilern vorarbeitete, sich immer wieder umschauend, ob sie nicht doch verfolgt würde, regnete es immer noch, wenn auch nicht mehr so stark. Sie ignorierte die Nässe, konzentrierte sich ganz darauf, den richtigen Pfeiler zu finden. Adams Zeichnung hatte sie sich genau
eingeprägt. Sie brauchte nur wenige Minuten, dann wusste sie, dass es in dem massiven Betonklotz keinen Hohlraum gab, in dem man etwas hätte verstecken können. Blieb nur der Bereich um den Pfeiler herum. Nach weiteren fünf Minuten erfolgloser Suche wusste Jana, dass sie an der Erdoberfläche nichts finden würde. Also musste sie graben. Einen Spaten hatte sie nicht dabei, aber die Schaufel, mit der sie einen ihrer Verfolger außer Gefecht gesetzt hatte, stand vielleicht noch hinten in den Trümmern. Besser damit ein Loch graben, als mit bloßen Händen zu buddeln. Auf ihrem Weg in die Ruine lief sie an dem Schacht vorbei, aus dem man sie und Grischke erst vor drei Tagen geborgen hatte. Nach wie vor lagen Balken, Eisenstangen und Mauerstücke wild aufgetürmt über der Einsturzstelle. Das enge Loch, durch das man sie geborgen hatte, war kaum zu erkennen. Ein flaues Gefühl überfiel sie, und sie beeilte sich, weiterzukommen. Als sie zu dem Pfeiler zurückgekehrt war, hatte es ganz zu regnen aufgehört. Sie schlug das nasse Gestrüpp mit der Kante des Schaufelblatts zur Seite und verschaffte sich Platz, um einigermaßen ungehindert graben zu können. Schon bei den ersten Versuchen, ins Erdreich zu stoßen, merkte sie, dass das nicht leicht werden würde. Der Boden war fest, nur oberflächlich vom Regen aufgeweicht. Und die Schaufel mit ihrem langen, gebogenen Stiel und dem abgerundeten Blatt war ein denkbar
ungeeignetes Werkzeug für ihr Vorhaben. Nach nur wenigen Minuten Arbeit trat ihr in der schwülen Luft der Schweiß auf die Stirn. Sie zog ihre Lederjacke aus und schuftete im TShirt weiter. Mit der Kraft ihres ganzen Körpers wuchtete sie das Werkzeug in die widerspenstige Erde, kämpfte sich Stück für Stück voran. Als auch ihr Shirt durchgeschwitzt war, hatte sie trotzdem erst eine wenige Zentimeter dicke Schicht abgetragen – an zwei der vier Seiten des quadratischen Pfeilers. Wild entschlossen schuftete sie weiter. Sie war so nah dran. Sie würde jetzt nicht aufgeben. Nicht so kurz vor dem Ziel! Dreißig Minuten und etliche Atempausen später stieß sie auf etwas Hartes. In etwa vierzig Zentimeter Tiefe, an der dritten, nach Süden weisenden Seite des Pfeilers. Bis dorthin hatte sie sich vorgearbeitet und plötzlich bemerkt, dass sich die Erde viel leichter ausheben ließ. Ihr war sofort klar gewesen, dass sie an der richtigen Stelle grub, und hatte sich wie eine Verrückte ins Erdreich gewühlt. Sie hörte ein kurzes trockenes Klack und spürte das Vibrieren, das sich durch den Schaufelstiel bis in ihren Arm hinauf fortsetzte. Sie hielt kurz inne, dann ließ sie die Schaufel fallen, kniete sich auf den Boden und buddelte mit den bloßen Händen weiter. Das musste es sein! Etwas Rotbraunes schimmerte durch die
Erde, aufgeregt grub sie weiter, wurde allmählich langsamer, als sie begriff, was sie da freilegte: einen Backstein. Ihre Enttäuschung war immens. Das konnte doch nicht sein. Ein ganz ordinärer Backstein! Wut überfiel sie, die sie irgendworan auslassen musste. Sie umfasste den rotbraunen Quader, riss ihn aus dem Erdloch heraus und schleuderte ihn von sich, legte alle Kraft in den Wurf. »Scheiße!«, schrie sie dem Stein hinterher. »Verfluchte Scheiße!« Sie sackte in sich zusammen, hätte am liebsten losgeheult. Langsam ließ sie den Kopf sinken, starrte vor sich hin. Das Loch vor ihren Augen verschwamm zu einer braunen Masse. Es dauerte einen Moment, dann wurde ihr Blick wieder klar, und sie bemerkte in der Vertiefung, die der Ziegelstein hinterlassen hatte, einen kleinen mattsilbrigen Fleck von der Größe eines Zwei-Euro-Stücks. Sofort tauchte sie mit ihren Armen in das Loch und begann wieder, wie ein Hund die Erde mit hastigen, kurzen Bewegungen zur Seite zu kratzen. In wenigen Sekunden hatten ihre Hände eine Blechdose freigelegt, in Form und Größe dem Backstein ähnlich, den sie weggeworfen hatte. Jana zog die Dose aus der Erde, sah den Rost, der sich an einigen Stellen ins Blech gefressen hatte, schüttelte sie leicht. Etwas klapperte im Inneren. Sie riss den Deckel auf. Als sie den Inhalt erkannte, stieß sie einen
spitzen Jubelschrei aus. In der Dose lagen eine Kompaktkassette und eine kleine Camcorder-Videokassette, sie steckten in einem Gefrierbeutel. Wann hatte sie das letzte Mal so etwas gesehen? Sie erinnerte sich an eine Ton-Kassette mit Pittiplatsch- und Sandmännchen-Geschichten. Eine Ewigkeit war das her. Und solche Videokassetten? Die waren auch längst ins Museum verbannt. Sie holte ihren Fund aus der Tüte und untersuchte ihn. Die Audiokassette befand sich noch in ihrer Plastikhülle, war dadurch zusätzlich geschützt und auf den ersten Blick unbeschädigt. Das Videoband hingegen hatte keine Hülle, schien aber auch in Ordnung zu sein. Außerdem sah es so aus, als wäre kaum Feuchtigkeit in die Dose eingedrungen. Jana hielt sich nicht länger damit auf, die Kassetten auf ihren Zustand hin zu untersuchen. Wenn sie die entsprechenden Abspielgeräte organisiert hätte, würde sie wissen, ob sie noch funktionierten. Und dann würde sie hoffentlich auch erfahren, wer die Männer waren, die ihren Vater getötet hatten. Würde sie den Mord vielleicht sogar sehen können? Sie starrte die Videokassette an. Hatte Adam das Geschehen damals etwa gefilmt? Bei dem Gedanken daran lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
34. In der Hoffnung, Edgar Grischke vor seiner Verlegung noch anzutreffen, fuhr Jana nach Wernigerode. Sie musste ihm von ihrem Erfolg erzählen! Er hatte es verdient, sofort von den Kassetten zu erfahren. Das würde seine Stimmung heben und seinen Genesungsprozess beschleunigen. Und danach musste sie sich überlegen, wie sie an die Abspielgeräte kam. Denn so vorsintflutlich wie die Kassetten waren auch die Player. Möglicherweise gab es in einem Elektrogeschäft welche, die im hintersten Winkel des Lagers verstaubten. Oder sie musste sich bei eBay umsehen. In der Klinik erfuhr Jana, dass Grischke schon am Vormittag nach Herzberg transportiert worden war. Na gut, würde sie ihn eben dort besuchen. Sie fuhr zurück nach Hasselfelde, duschte und zog sich die letzten sauberen Wäschestücke an, die sie im Gepäck hatte. Entweder, sie kam bald nach Hause oder sie musste einen Waschsalon aufsuchen. Wenigstens fühlte sie sich wieder frisch und nicht mehr so verschwitzt und stinkend wie noch vor einer Stunde. Sie verstaute ihre Sachen, bezahlte das Zimmer und machte sich auf den Weg über den Harz. Am späten Nachmittag erreichte sie die Klinik, die wie ein Schloss am Hang über der
Stadt thronte. Der Gebäudekomplex leuchtete hell in der Sonne und bildete einen markanten Kontrast zum Laubwald direkt dahinter. Sie erkundigte sich am Empfang nach Edgar Grischke. Auf dem Flur zu seinem Zimmer kamen ihr Grischkes Frau und sein Sohn entgegen. Am Abend ihrer Rettung war ihr die gesamte Familie schon einmal kurz in der Wernigeröder Klinik begegnet. Ob sich die beiden an sie erinnerten, wollte sie nicht herausfinden. Deshalb drehte sie ihnen schnell den Rücken zu, tat als studiere sie den Fluchtplan an der Wand. Sekunden später waren Mutter und Sohn aus dem Flur verschwunden. »Hallo Eddie!«, rief Jana, kaum dass sie durch die Tür getreten war und ihn im Bett hinten am Fenster entdeckte. Er hatte an die Decke gestarrt und wandte ihr jetzt überrascht den Kopf zu. »Du?« »Ja, ich!« Sie hatte sein Bett erreicht. »Siehst ja schon wieder richtig gut aus«, stellte sie erfreut fest und schlang ihm zur Begrüßung die Arme um den Hals. »Au, nicht so stürmisch«, stöhnte er. »Tut doch weh!« »Oh, Entschuldigung. Das wollte ich nicht.« Erschrocken ließ sie von ihm ab. »Wie kommt’s, dass du hier bist? Wolltest du gestern nicht nach Hause? Oder hattest du solche Sehnsucht nach mir?« »Auch«, sagte sie lachend. »Aber es gibt
Neuigkeiten, die du unbedingt wissen musst.« Sie machte eine Pause, blickte zu den beiden Männern hin, die das Zimmer mit Grischke teilten. Einer schien zu schlafen, der andere las in einem Buch und zeigte kein Interesse an ihnen. »Sag schon«, forderte Grischke, »spann mich nicht auf die Folter.« Jana beugte sich zu seinem Ohr hinab. »Ich war noch mal in Albrechtshaus. Ich habe was gefunden«, flüsterte sie aufgeregt. Überrascht wollte Grischke sich aufrichten. Er kam nur wenige Zentimeter hoch, sank sofort vor Schmerzen ächzend auf sein Kopfkissen zurück. »Wie ... wie ist das möglich?«, keuchte er. Jana zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und erzählte. Dabei schielte sie immer wieder misstrauisch zu Grischkes Zimmergenossen hin. Auf keinen Fall durften die etwas aufschnappen. »Weißt du, wie ich an einen Kassettenrekorder komme?«, fragte sie zum Schluss. »Und an einen Videoplayer, mit dem man diese kleinen Camcorder-Kassetten abspielen kann?« Grischke wusste es. »Kein Problem! In meiner Blockhütte steht ein altes Kassettenradio. Ich habe es manchmal draußen dabei gehabt, wenn ich mich zu meinen Bienen in die Sonne gesetzt habe. Ich fand es immer ganz schön, ein bisschen Musik zu hören. Ist aber schon eine Weile her. Jetzt benutze ich nur noch die kleine
Anlage im Haus. Trotzdem, ich denke, das Gerät funktioniert noch einwandfrei. Du kannst den Rekorder gerne behalten. Ich brauche ihn nicht mehr. Auch die Kassetten, die dazugehören – wenn du willst.« Er grinste sie schief an. »Aber die Musik, die da drauf ist, gefällt dir bestimmt nicht. Dann lass sie liegen oder wirf sie einfach weg.« Sie grinste zurück, erwiderte nichts. Ihr Musikgeschmack war sicher sehr unterschiedlich. »Einen Videorekorder findest du da übrigens auch.« »Echt?« »Na sicher. Ich war schon immer gut ausgerüstet. Ab und zu braucht man ja auch mal was fürs Auge. Früher habe ich übrigens selber gefilmt. Eine Adapterkassette müsste auch noch irgendwo rumliegen.« Jana strahlte. »Eddie, du bist ein Phänomen!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Und dieses Mal schließ die Tür bitte ganz normal auf«, sagte er und lächelte dabei verlegen. »Einen weiteren Einbruch verkraftet meine arme Hütte nicht.« »Versprochen«, sagte sie. Nachdem er ihr das Versteck des Schlüssels verraten hatte, stand sie auf, um zu gehen. Der Alte war noch viel zu schwach und das Reden fiel ihm hörbar schwer. »Verrätst du mir, was auf den Kassetten drauf ist?«, fragte er schleppend und hielt ihre
Hand fest. Sie versprach es ihm. »Ich komme bald wieder. Dann erfährst du es«, sagte sie. »Aber bis dahin ruhst du dich aus, hörst du?« Es dauerte länger als gedacht, bis sie die Rekorder gefunden hatte. Sie standen im angrenzenden Schuppen auf einem Tisch, versteckt zwischen anderen Utensilien, die dort wahllos aufgetürmt waren. Wahrscheinlich hatte Grischke die Sachen bei Aufräumarbeiten aussortiert und nicht mehr gewusst, wo er sie hingestellt hatte. Sie nahm die Geräte mit in die Hütte und schloss den Videorekorder über das Scart-Kabel an den Fernseher an. Bereits wenige Minuten später bekam ihre anfängliche Euphorie einen herben Dämpfer. Dem Band ließ sich außer einem Rauschen und ein paar zusammenhanglosen Bildfetzen nichts entlocken. Vermutlich hatte es in dem Blechdosengrab doch unter der Feuchtigkeit gelitten. Aber was war mit der Audiokassette? War sie auch zerstört? Sollte am Ende alles vergebens gewesen sein? Jana nahm den Radiorekorder mit Doppelkassettendeck und setzte sich damit an den wuchtigen Tisch im Wohnbereich. Sie schloss das Gerät ans Stromnetz an, schob die Kassette in den linken Laufwerksschacht und verschloss ihn. Ihr Finger lag bereits auf der Play-Taste. Doch dann zögerte sie. Sie wusste noch nicht mal, ob diese Kassette überhaupt
funktionierte, und trotzdem hatte sie plötzlich Angst vor dem, was sie vielleicht zu hören bekommen würde. Sie rang mit sich, war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie wirklich erfahren wollte, wer ihren Vater ermordet hatte und warum. Genau dieses Warum machte ihr zu schaffen. Sie ahnte, dass es die Vorgeschichte zum Tod ihres Vaters sein musste, die auf der Kassette festgehalten war. Alles andere machte keinen Sinn. Was, wenn die Geschichte den Mann, über den ihr seine Kameraden nur Gutes erzählt hatten, ganz anders darstellte? In einem Licht, in dem sie ihn nicht sehen wollte. Ihr innerer Kampf zog sich über eine Minute hin. Schließlich presste sie die Lippen aufeinander und atmete tief durch die Nase ein. Wenn sie die Wahrheit erfahren wollte, gab es die nur als Ganzes. Ganz oder gar nicht. Sie hatte die Wahl – und drückte die Taste. Einen Moment dauerte es, ehe sich aus dem atmosphärischen Rauschen und Knistern Stimmen herausschälten. Die Kassette war intakt. Sie hörte die Stimmen zweier Männer, die russisch miteinander sprachen. Noch immer beherrschte sie ihre Muttersprache gut genug, um sie zu verstehen. Eine der beiden Stimmen erkannte sie sofort. Schon mit den ersten Worten. Sie hatte sie zum letzten Mal gehört, als sie gerade fünf Jahre alt geworden war. Trotzdem wusste sie, dass er es war: Jegor Antonowitsch Andrejew – ihr Vater!
Sie musste heftig schlucken. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. Tränen traten ihr in die Augen, sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte geahnt, nein, sie hatte gewusst, dass sie seine Stimme auf der Kassette hören würde! Aber jetzt, als es tatsächlich passierte, fühlte es sich an, wie ein Messerstich direkt in ihr Herz. Während die Tränen über ihre Wangen bis hinunter zum Kinn sickerten und dann auf ihre Handrücken tropften, drangen die Worte wie aus dem Jenseits an ihre Ohren: Zwei Männer, ihr Vater und ein anderer Offizier der Sowjetarmee, dessen Namen sie nicht kannte, planten einen Waffendeal mit zwei Angehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR. Sie nannten deren Namen sowie Ort, Tag und Uhrzeit der Übergabe. Sie sprachen von den Waffen und dem Geld, das sie dafür bekommen sollten. Viel Geld! Wie Kinder freuten sie sich auf das Geschäft, konnten es kaum abwarten. Und sie erzählten sich, was sie mit dem Geld alles machen wollten. Im Westen würden sie bleiben, wenn sich die bestehenden Strukturen und ihr Leben im Dienste der Truppen an der Westfront in Wohlgefallen auflösten. Und damit auch das Leben ihrer Familien. Nur nicht wieder zurück in die Heimat, das stand für die beiden fest. Dort gab es keine Zukunft für sie. Ein Teil des Geldes würde für die Bezahlung ihrer Helfer draufgehen. Ihnen eine neue, sichere Existenz im dekadenten Westen zu verschaffen, war
nicht ganz billig. Aber es würde genug übrig bleiben für ihre Träume von Reichtum und schönen, großen Autos. Die mit dem Stern auf der Motorhaube mussten es sein! Ein Mercedes symbolisierte Wohlstand, in dem sie mit ihren Familien leben wollten, weit weg vom Eingesperrtsein in Kasernen, von mieser Bezahlung und schlechtem Essen. Jana schluchzte auf, dann brach es plötzlich aus ihr heraus: Alles, was sich in den zurückliegenden Jahren in ihr angesammelt hatte, bewusst und unbewusst, ob Wut, Trauer oder Angst. Was bisher in ihre leisen Gebete an ihrer geheimen Gedenkstätte geflossen war, entlud sich jetzt in einem plötzlichen Aufschrei voller Schmerz. Niemand hörte sie. Der Wald um sie herum sog ihr Klagen auf. Nach dem kurzen Ausbruch sackte sie in sich zusammen, kraftlos und müde. Und auf eine merkwürdige Weise erleichtert. Sie wusste jetzt, Jegor Antonowitsch Andrejew war kein böser Mensch gewesen, kein Verbrecher, kein Vaterlandsverräter, nicht mal ein notorischer Kleinkrimineller. Er war ein Mann, der sich um seine und die Zukunft seiner Familie gesorgt hatte, einer, der in den Wirren der Wendezeit nach dem Strohhalm gegriffen hatte, der sich ihm bot. Er hatte seinen Lieben ein besseres Leben bieten wollen, ein Leben, das sie in seinen Augen verdient hatten. So jemand war nicht schlecht, konnte kein Verbrecher sein! Umso schwerer wog dafür der Mord, dem er zum Opfer gefallen war. Und sein Mörder,
einer der beiden NVA-Soldaten, hatte die Höchststrafe verdient! Sie stand auf und ging auf wackeligen Beinen zu der kleinen Küchenzeile. Dort, wo Grischke seine Getränkevorräte deponiert hatte. Die waren ihr bei der Suche nach dem Rekorder nicht entgangen. Sie schnappte sich die Weinbrandflasche, die noch knapp zur Hälfte gefüllt war, und dazu ein Wasserglas. Damit zog sie sich auf das mächtige Sofa zurück. Sie würde die Nacht hier verbringen. Auch wenn sie den Alten nicht um Erlaubnis gebeten hatte, wusste sie doch, dass er nichts dagegen hatte. Und sein Sohn hatte vermutlich Besseres zu tun, als die Hütte auf Eindringlinge zu kontrollieren. Jana steckte sich eine Zigarette an. Dann füllte sie das Wasserglas zur Hälfte mit dem Weinbrand. Der erste Schluck schmeckte scheußlich. Eigentlich mochte sie weder Weinbrand, noch andere harte Sachen. Trotzdem zwang sie sich, einen zweiten Schluck zu nehmen. Sie brauchte das jetzt. Der dritte Schluck fiel ihr schon wesentlich leichter. Sie legte eine von Grischkes Musikkassetten in den Rekorder. The Doors! War das der Musikgeschmack des Alten? Diese KlassikRock-Sachen? Doch, das passte zu ihm. Langsam ließ sie sich zur Seite gegen die Sofalehne sinken, nippte an ihrem Glas, sog an der Zigarette und lauschte der Musik. »Riders on the storm«, sang Jim Morrison.
Sie schloss die Augen. Ein warmes, wohliges Gefühl durchzog ihren Körper.
35. Samstag Therapieplan für Ingo Behrends: Ergometertraining Mittagessen: Rindfleisch an Meerrettichsauce mit Möhrengemüse und Petersilienkartoffeln (9 Fettpunkte) Es war bereits elf Uhr, als Jana die Augen aufschlug. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Die Erinnerungen an den vergangenen Abend kamen hoch. Und mit ihnen auch die Kopfschmerzen. Sie tastete ihre Schläfe ab. Obwohl die Beule sich langsam zurückzubilden begann, kam sie ihr immer noch extrem groß vor. Aber der Grund für diese hämmernden Schmerzen war ein anderer. Sie griff über den Sofarand, bekam die Flasche auf dem Fußboden in ihre Finger und hob sie an ihre Augen. Nur noch ein armseliger Rest Weinbrand bedeckte den Flaschenboden. Warst du das, fragte sie sich erschrocken und auch, ab dem wievielten Glas ihr Bewusstsein die Arbeit eingestellt hatte. Verdunstet war die Flüssigkeit in der Flasche jedenfalls nicht, also musste sie in ihrem Körper gelandet sein. Immerhin schien sie ihren Mageninhalt trotz der darin enthaltenen Menge an Alkohol bei
sich behalten zu haben. Ein kleiner Trost, der aber bei Weitem nicht ausreichte, das Pochen hinter ihrer Stirn zu lindern. Ächzend drückte sie sich vom Sofa hoch. Ihre Glieder schmerzten, die Unterlage war zum Schlafen denkbar ungeeignet gewesen. Aspirin! Was sie jetzt brauchte, war ein Aspirin! Grischkes Hütte war so gut ausgestattet, vielleicht fand sie irgendetwas, das gegen diese verteufelten Nachwehen half. Aspirin konnte sie nicht auftreiben. Dafür Kaiser Natron. Irgendeine dunkle Erinnerung flüsterte ihr angesichts der grünen Dose mit dem roten Deckel ein, dass auch damit dem Kater beizukommen sei. Sie löste zwei Tabletten in Wasser auf und trank die Brühe in kleinen Schlucken. Danach setzte sie sich nach draußen hinter die Hütte in den Schatten. Nach einer knappen Dreiviertelstunde ging es ihr etwas besser, und sie fühlte sich in der Lage, zu Grischke ins Krankenhaus zu fahren. Er musste von dem Kassetteninhalt erfahren. Sie hatte es ihm versprochen. Was sie danach tun wollte, wusste sie noch nicht genau. Eigentlich sollte sie unverzüglich zur Polizei fahren und die Kassette dort abgeben. Andererseits, wozu würde das führen? Zur Verhaftung der beiden Ex-NVA-Männer? Möglich. Aber was dann? Würde man sie verurteilen? Lebten sie noch? Wer waren die zwei überhaupt? Einer von ihnen musste der Wassermann sein, den Vetter erwähnt hatte. Aber welcher? Der, dessen Name Jana
irgendwie bekannt vorkam, Joachim Passlack? In welchem Zusammenhang hatte sie schon mal von ihm gehört? Egal. Darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Vielleicht hatte Grischke ja eine Idee. »Komm rein, Mädchen!« Der Alte saß aufrecht im Bett und winkte ihr von seinem Fensterplatz aus zu. Er machte einen guten Eindruck. Es schien voranzugehen mit seiner Genesung. Jana begrüßte die anderen Zimmerinsassen mit einem freundlichen Hallo. Zu den beiden vom Vortag war noch ein dritter Mann hinzugekommen. Während die zwei bekannten Gesichter mit einem knappen Kopfnicken zurückgrüßten, war der frisch Eingelieferte nicht dazu in der Lage. Die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet, lag er reglos auf dem Rücken und röchelte vor sich hin. »Na?«, fragte Grischke, nachdem Jana ihn umarmt hatte, dieses Mal weniger stürmisch. Sie wusste, was er hören wollte, ließ ihn aber noch einen Moment zappeln. »Du stehst auf The Doors?«, fragte sie grinsend. »Warst früher wohl mal so ’n richtig cooler Rocker, was?« »Und? Schlimm? Na ja, ist wohl nicht gerade das, was du gern hörst.« Jana schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht wirklich«, bestätigte sie. »Aber man kann sich wenigstens gut bei der Musik besaufen.« Als Grischke sie zweifelnd ansah, klärte sie
ihn auf und erzählte ihm schließlich von dem zerstörten Videoband und dem Inhalt der Audiokassette – sehr leise, auch wenn Grischkes Bettnachbarn sich ohnehin nicht für das Gespräch zu interessieren schienen. Der Alte unterbrach sie nicht, starrte nur grübelnd vor sich hin. »Seit ich die Kassette angehört habe, frage ich mich, wo ich den Namen Joachim Passlack schon mal gehört habe«, endete Jana. »Irgendetwas verbinde ich damit.« »Ich auch«, sagte Grischke, »und ich weiß sogar was: Joachim Passlack ist Bundestagsabgeordneter. Hier aus dem Wahlkreis. Vielleicht hast du in den Nachrichten mal was mitbekommen oder hast von ihm in der Zeitung gelesen, wenn es um Rüstungsgeschäfte ging. Da mischt der kräftig mit, soweit ich weiß.« »Ja, klar! Du hast Recht.« Sie hatte den Namen in einer politischen Talkrunde gehört. Hatte der Mann nicht sogar selbst in der Runde gesessen? »Ob das ein und derselbe Passlack ist?«, fragte sie. »Der Abgeordnete und dieser NVA-Mann?« »Keine Ahnung«, sagte Grischke und verzog den Mund, »zuzutrauen wäre es so einem. Typischer Wendehals. Mir ist diese ganze Bande da oben sowieso reichlich suspekt. Und? Weißt du schon, was du jetzt machen willst?« Jana zog die Achseln hoch. »Hm ... Ich habe überlegt, mit der Kassette zur Polizei zu gehen.
Aber was machen die damit? Vielleicht gar nichts. Dann war alles umsonst. Wenn ich wüsste, wie ich es anstellen soll, würde ich die Sache selbst zu Ende bringen.« Grischke sah sie an und legte ihr die Hand auf den Arm. »Denk nicht mal dran«, sagte er ernst. »Du solltest dich an Hauptkommissar Behrends wenden. Bei ihm ist die Kassette gut aufgehoben. Der kümmert sich. Er hat ja von Anfang an die Ermittlungen begleitet und ist über den Stand der Dinge im Bilde.« »Aber er ist doch in Bad Lauterberg in der Klinik. Wie kann er da ...« »Er kann«, unterbrach Grischke sie, »sonst lägen wir jetzt womöglich tot in dem Loch in Albrechtshaus. So, wie ich ihn einschätze, wird er alles daransetzen, die Sache aufzuklären. Er hat mich gestern Abend noch besucht. Deine Geschichte beschäftigt ihn mehr, als er zugibt, glaub mir. Leider war ich zu müde. Ich habe nicht mehr allzu viel mitbekommen. Vielleicht hätte er mir sonst noch das ein oder andere Geheimnis verraten. Verabrede dich doch mit ihm und gib ihm die Kassette. Am besten heute noch. Im Gegenzug weiht er dich sicher in das ein, was er weiß.« »Glaubst du wirklich, er hat ein Interesse daran, mit mir zu reden?« »Da bin ich mir absolut sicher«, behauptete Grischke. »Ich gebe dir seine Handynummer.« Sie speicherte die Nummer in ihrem Smartphone ab. Dann hob sie den Kopf und
sah ihn eindringlich an. »Was ist, Mädchen?«, fragte er und lächelte unsicher. »Eddie, kann ich dir vertrauen?« »Klar. Das weißt du doch.« Er rekelte sich. Seine Augenlider flackerten. »Wenn ich die Kassette abgebe und Ermittlungen aufgenommen werden, versprichst du mir, dass alles, was ich dir gesagt habe, unter uns bleibt. Wirklich alles!« »Warum? Was hast du vor?« Seine Unsicherheit war in Sekundenschnelle in Sorge umgeschlagen. »Mädchen, mach bloß keinen Scheiß!« »Versprichst du es?« Sie blieb hartnäckig. »Glaub mir, ich mache das Richtige«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie er mit sich rang. »Okay«, seufzte Grischke, »versprochen. Bleibt alles unser Geheimnis.« »Danke.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Hauptkommissar Behrends erwartete sie in der Konditorei Schnibbe in der Bad Lauterberger Hauptstraße. Sie hatte gesagt, dass sie sich gern mit ihm treffen wollte, um sich persönlich für ihre Rettung bei ihm zu bedanken, bevor sie wieder nach Hause fuhr. Behrends war sofort einverstanden gewesen und hatte sie zum Kaffeetrinken eingeladen. Er habe heute keine Anwendungen und wolle sich ohnehin in der Stadt ein wenig die Beine vertreten. Die
Kassette und das Videoband hatte sie am Telefon nicht erwähnt. »Sie lesen Krimis?«, fragte Jana ihn, als er sie begrüßt und sie gebeten hatte, sich zu ihm zu setzen. Beim Hereinkommen hatte sie ihn in einem Buch blättern sehen. Jetzt lag es vor ihm auf dem Tisch neben einem Glas Mineralwasser. Er hob entschuldigend die Hände und grinste. »Ich komme einfach nicht los von meinem Beruf. Wenn ich schon nicht arbeiten kann, muss es eben so gehen. Ich hab’s mir gerade nebenan gekauft. Die nette kleine Buchhandlung. Sollten Sie mal reingehen. Es lohnt sich.« Jana zuckte mit den Schultern. »Mal sehen. Vielleicht.« Die Bedienung kam und sie bestellte ein Kännchen Kaffee. »Nehmen Sie ruhig ein Stück Kuchen dazu«, forderte Behrends sie auf. Sie bedankte sich und bestellte Käse-Sahne. »Und Sie?«, fragte sie dann. »Diät.« Seinem säuerlichen Blick war zu entnehmen, wie wenig ihm das gefiel. Es dauerte eine Weile, ehe sie über die belanglose Plauderei zu dem Thema kamen, das sie beide beschäftigte. Ohne dass sie ihn danach fragen musste, erzählte ihr Behrends von der bisher erfolglosen Fahndung nach den Mördern von Adam und von dem toten Sozialhilfeempfänger in der Döberitzer Heide, der vermutlich ebenfalls auf das Konto der
Männer ging. »Dieser Informant wäre so wichtig gewesen, um Joachim Passlack zu überführen. Der Mann kannte ihn persönlich und er war Augenzeuge bei dem Waffendeal auf dem Truppenübungsplatz. Vielleicht hätten wir Ermittlungen gegen Passlack einleiten, ihn vielleicht sogar des Mordes an Ihrem Vater überführen können. Aber so, nur mit einem Gedächtnisprotokoll dieses Journalisten Ulrich Vetter, der zudem noch im Koma liegt und sich nicht dazu äußern kann ... das wird verdammt schwierig, wenn nicht unmöglich. Außer Adams Mörder liefern Passlack als ihren Auftraggeber an unser Messer, sollten wir die Typen schnappen und sie sich davon Strafmilderung versprechen.« »Und was wäre, wenn Eddie, also Herr Grischke, und ich die Beweise gefunden hätten, hinter denen die zwei Typen her waren?«, fragte Jana. Noch immer zögerte sie, die gefundene Audiokassette zu erwähnen. »Was könnten das überhaupt für Beweise sein – sollte es sie denn geben?« Behrends lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht gibt es die Beweise ja doch, auch wenn Sie die nicht gefunden haben. Nach allem, was wir vermuten, könnte es sich um Aufzeichnungen handeln, die der vermisste und wahrscheinlich ermordete Erfasser vom Horchposten auf dem Stöberhai während
seines Dienstes gemacht hat. Aufzeichnungen, die Informationen zu dem Waffengeschäft enthalten, womöglich sogar Namen.« »Heißt das, wenn man die Namen hätte, dann hätte man auch den Mörder meines Vaters überführt?« Behrends machte ein Gesicht, das Jana die Hoffnung, die sich gerade bei ihr einstellen wollte, wieder raubte. »Angenommen, der Name Passlack taucht in solchen Aufzeichnungen auf, dann heißt das nur, dass er in den Waffendeal verstrickt war. Den Mord an Ihrem Vater kann man ihm damit nicht nachweisen. Dazu bräuchten wir zum Beispiel Spuren am Tatort. Aber die nach sechsundzwanzig Jahren zu finden, das würde sehr, sehr schwer werden. Wenn es einen Bildbeweis gäbe, Fotos zum Beispiel, die Adam heimlich gemacht hätte. Aber das kann man getrost vergessen, denke ich. Schließlich war er nach allem, was ich weiß, selbst verletzt und ist geflohen, noch ehe Ihr Vater und dessen Kamerad erschossen worden sind. Und ob die Aussage des Informanten ausreicht, die Ulrich Vetter auf Band aufgenommen hat, wage ich auch zu bezweifeln. Sie stammt von einem Namenlosen. Wir vermuten übrigens, dass er derjenige ist, den man tot in der Heide gefunden hat, können es aber nicht beweisen. Das nur nebenbei. Was Passlack angeht, natürlich würde sich die Indizienkette weiter schließen, wenn wir entsprechende Aufzeichnungen hätten, in denen sein Name
fällt. Wir, also die Polizei, könnten darauf hinwirken, dass seine Immunität als Abgeordneter aufgehoben wird. Erst dann wäre es überhaupt möglich, Ermittlungen gegen ihn einzuleiten. Sie sehen, ganz so einfach ist die Sache nicht.« »Verstehe ich Sie richtig? Der Mann könnte für gar nichts belangt werden? Der Waffendeal und seine Stasizugehörigkeit könnten ja allenfalls seinen Ruf schädigen, sodass er vielleicht als Politiker von der Bildfläche verschwinden müsste? Die Straftat aber, die nicht verjährt wäre, also der Mord an meinem Vater, bliebe ungesühnt?« Behrends starrte einen Moment auf sein Wasserglas, ehe er seinen Kopf hob und ihr in die Augen sah. »Ich denke, es ist besser, wenn Sie sich mit dem Gedanken vertraut machen. Das, was damals auf dem Truppenübungsplatz geschehen ist, wird vielleicht niemals ganz aufgeklärt. Die einzigen beiden Augenzeugen, Vetters Informant und Poljakow-Adam wurden leider Gottes ermordet, und ihre Mörder können längst wer weiß wohin abgetaucht sein. Keine Ahnung, ob sie je gefasst werden. Es tut mir wirklich sehr leid, Ihnen das so sagen zu müssen, Frau Schuchart.« Sie nickte. »Danke, dass Sie ehrlich sind und mir keine falschen Hoffnungen machen«, sagte sie mit belegter Stimme. In diesem Moment stand für sie fest, dass sie sowohl die
Audiokassette als auch das kaputte Videoband Behrends gegenüber mit keinem Sterbenswort erwähnen würde. Auch niemandem sonst würde sie etwas davon erzählen – abgesehen von einer Person.
36. Nach ihrem Treffen mit Hauptkommissar Behrends ließ Jana drei Tage verstreichen. Ihr war klar, dass sie ihre Angelegenheit selbst regeln musste, und wollte sich so gut wie möglich darauf vorbereiten. Sie stattete Grischkes Hütte einen weiteren Besuch ab. Die Schreckschusspistole, die ihr bei dem Einbruch, kurz vor ihrer ersten, ungeplanten Begegnung mit dem Alten, aufgefallen war, lag noch immer in dem kleinen Geheimschrank. Auch wenn sie nicht dazu gedacht war, zu töten, so bot sie immerhin eine gewisse Sicherheit, wenn es darauf ankam. Anschließend schickte sie Grischke eine SMS und teilte ihm mit, dass sie auf dem Weg nach Hause sei und sich auf diesem Weg endgültig von ihm verabschieden wolle. Sie habe versucht, noch einmal vorbeizukommen, es aber nicht mehr geschafft, schrieb sie. Die Pistole erwähnte sie mit keinem Wort. Dann machte sie sich an die Vorbereitungen für ihren Plan und kaufte als Erstes verschiedene Dinge ein. Ein Fernglas gehörte ebenso dazu, wie Einweghandschuhe und mehrere Prepaid-SIM-Karten. Es war ein Leichtes, Joachim Passlacks Privatadresse herauszufinden, ebenso seine Telefonnummer. Der Politiker wohnte am Ortsausgang des Dorfes Windhausen nahe Bad
Grund. In einem eher bescheiden anmutenden Heim im rustikalen Landhausstil. Kein gläserner Palast, kein Protz und Prunk, wie sie es erwartet hatte. Janas Sorge, der Mann könne sich durchweg in Berlin aufhalten, um seinen Abgeordnetenpflichten nachzukommen, erwies sich als unbegründet. Sein Privatleben im trauten Heim schien ihm wichtiger zu sein als seine Präsenz in der Bundeshauptstadt. Zudem kam ihren Absichten zugute, dass Joachim Passlack sich in seinem Zuhause offenbar sicher genug fühlte, um auf einen hohen Schutzzaun, Wachhunde oder gar Personenschutz zu verzichten. Vermutlich wollte er aller Welt zeigen, dass er nichts Besonderes war, sondern einer von denen, die in dieser ländlichen Randharzidylle zu Hause waren und keinen Prominentenstatus genossen. Ein Politiker zum Anfassen, einer, dem man vertraute, der sich um die Sorgen seiner Mitmenschen kümmerte, mit dem man beim Stammtisch in der Kneipe unten im Dorf ein Bier trinken ging. Auf jeden Fall einer, dem man bei Wahlen gern seine Stimme gab. Joachim Passlack hatte Familie. Eine Frau und einen halbwüchsigen Sohn. Zumindest deutete alles, was Jana sah, darauf hin. Sie beobachtete das Haus einige Tage, um die Gewohnheiten des Mannes zu studieren. Dann nahm sie das erste Mal telefonisch mit ihm Kontakt auf und erzählte ihm, dass sie im Besitz von Beweisen sei, die ihm schaden könnten und die er
vielleicht haben wolle. Passlack lachte sie aus, hielt sie für eine Spinnerin, die ihn auf billige Art und Weise erpressen wolle und drohte ihr damit, die Polizei einzuschalten, sollte sie ihn noch einmal belästigen. Ehe er auflegen konnte, schob Jana ein paar Details nach, die ihn verstummen ließen. Sie nannte Namen, hielt ihm seine StasiVergangenheit inklusive seines Spitznamens Wassermann vor und beschuldigte ihn des Mordes an Jegor Antonowitsch Andrejew. Was sie von ihm wolle, fragte er, und sie bemerkte die Unruhe, die in seiner Stimme mitschwang. Sie gab ihm zur Antwort, dass sie sich wieder melden werde und er bis dahin nichts unternehmen solle. Weder dürfe er seine Bluthunde von der Leine lassen, noch die Polizei oder sonst jemanden einweihen. Ein falscher Schritt, und er sei geliefert. Die nächsten Tage verbrachte sie damit, das Zuhause des Abgeordneten weiterhin zu beobachten und das Verhalten des Hausherrn zu studieren. Von ihrer ursprünglichen Absicht, den Mann umzubringen und so Rache zu nehmen für ihren ermordeten Vater, war zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Immer wieder hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, Passlack tot vor sich liegen zu sehen, in einem See aus Blut, erschossen, erstochen, erschlagen ... Die Variationen, ihn umzubringen, waren so vielfältig, hatten aber
alle einen gemeinsamen Nenner: Es wäre kaltblütiger Mord gewesen, und sie, Jana Schuchart, eine Mörderin. Sie hatte schlecht geschlafen, war von düsteren Traumbildern gequält worden, hatte sich weggesperrt, gefoltert und zuletzt im Höllenfeuer schmoren sehen, ewigen Qualen ausgesetzt. Da hatte sie gewusst, sie konnte ihr Gewissen nicht einfach ignorieren. Sie wollte nicht den Rest ihres Lebens eine Gefangene ihrer Albträume sein. Und dennoch: Er musste eine Strafe bekommen. Er sollte leiden. Er sollte bluten. Er sollte zahlen! Wenigstens das! Und sie hatte auch schon eine ungefähre Vorstellung davon, wie das passieren sollte. Sie nahm sich die Zeit, um kreuz und quer durch den Harz zu fahren und nach einer geeigneten Stelle Ausschau zu halten. Im Romkerhaller Wasserfall fand sie diesen Platz schließlich und machte sich sofort daran, alles für ein Treffen dort oben auf der Felsplattform vorzubereiten. Sie sandte Passlack einen Brief mit einer SD-Karte darin. Auf der Karte war ein kleiner Auszug aus der Audiokassette in schlechter Tonqualität gespeichert. Aufgenommen hatte sie ihn mit dem Mikrofon ihres Smartphones, während Grischkes Rekorder die Aufzeichnung des Gesprächs abspielte. Tags darauf rief sie Passlack wieder an und verlangte hunderttausend Euro von ihm für die Herausgabe der Audiokassette und des Videos. Obwohl das Band zerstört war, brachte sie es ins Spiel, in der Hoffnung, er
würde auch ohne einen Filmausschnitt als Beweis an die Existenz des Videos und seine Unversehrtheit glauben. Passlack ließ sich ohne zu verhandeln auf das Geschäft ein. Vielleicht hätte sie sein schnelles Einwilligen misstrauisch machen müssen. Andererseits, dachte sie, warum sollte der Mann sich die Chance entgehen lassen, an die Beweise zu gelangen, auch wenn er ordentlich dafür blechen musste? Geld schien nicht sein Problem zu sein. Tags darauf teilte sie dem Abgeordneten bei einem Telefonat über die letzte ihrer Prepaid-SIM-Karten schließlich den Übergabetreffpunkt und die Uhrzeit mit. Neben Jana rauschte das Wasser der kleinen Romke über sechzig Meter in die Tiefe. Sie kauerte hinter dem Geländer und wartete. Im Tal verlief in weitem Bogen die Bundesstraße, schimmerte silbrig im hellen Licht des abnehmenden Mondes. Für einige Augenblicke ließ sie sich vom »Königreich Romkerhall« ablenken, dem Hotel dort unten direkt an der Straße. Mit seiner reich verzierten, bunten Fassade und seinen Türmchen auf dem Schieferdach erschien ihr das Haus wie ein Trugbild, das sich in Nichts auflösen würde, sobald man sich ihm näherte. Vielleicht war das kleinste Königreich der Welt, wie es genannt wurde, tatsächlich nicht mehr als ein verwunschener Märchenort, den man nur mit genügend Fantasie zu erkennen vermochte. Sie schüttelte leicht den Kopf, riss ihren Blick
von dem Haus los. Vor Stunden war sie bei Tageslicht direkt an dem Hotel vorbeigefahren. Egal, wie skurril es auch anmutete, das Haus war real. Verärgert über ihre Gedankenverlorenheit blickte sie wieder auf die Straße. Sie musste wachsam sein. Jana konzentrierte sich noch mehr als zuvor, um Passlack nicht zu verpassen. Einige Minuten vergingen, dann tauchte sein Wagen im Blickfeld ihres Fernglases auf. Ein schwarzes Mercedes GLE Coupé. Mit dem Auto hob er sich dann doch von der Masse ab. Noch einen Moment hielt sie ihren Blick auf die Straße gerichtet. Nichts deutete darauf hin, dass ihm jemand folgte. Auch auf dem Besucherparkplatz, links, schräg gegenüber dem Hotel, tat sich nichts. Außer den beiden Autos, die dort schon standen, als sie auf dem Felsen Position bezogen hatte, war der Parkplatz leer. Es schien, als hielte sich Passlack an die Abmachung und kam allein. Sie drückte sich aus der Hocke hoch und lief hinüber zu dem etwa dreißig Meter entfernten Waldweg, über den der Abgeordnete kommen musste. Keine Minute später hörte sie Motorengeräusche. Sie huschte hinter einen Baum und spähte zum Weg. Dann tauchte der Mercedes auf, hielt nur ein paar Schritte entfernt. Der Motor erstarb, die Scheinwerfer verloschen. Der Abgeordnete stieg aus, zwinkerte, schien sich erst an das nächtliche Zwielicht gewöhnen zu müssen. Er blickte sich
prüfend um und verschwand gleich darauf mit dem Oberkörper noch einmal im Wagen. Nach zwei, drei Sekunden kam er wieder zum Vorschein, hatte einen Aktenkoffer in der Hand. Dann warf er die Tür zu. »Hallo«, rief er und bewegte sich langsam in Richtung Wasserfall. Jana antwortete nicht, ließ ihn gehen. Immer wieder blickte er nach rechts und links, blieb auch mal stehen und schaute hinter sich. Sie beobachtete ihn gespannt. Jetzt, aus der Nähe, merkte sie erst, wie klein er war. Klein und schlank. Aber nicht sportlich. Eher etwas ungelenk in seinen Bewegungen, war ihr Eindruck. Sie mahnte sich zur Vorsicht. Es wäre falsch, ihn zu unterschätzen. »Hallo, wo sind Sie?«, rief er wieder. »Lassen Sie die albernen Spiele und zeigen Sie sich!« Sie ließ fünf Atemzüge verstreichen, dann trat sie aus der Deckung. »Hier bin ich, Herr Passlack. Schön, dass Sie neugierig auf mich sind. Sie kennt man ja. Zu genüge, würde ich sagen.« Er blieb stehen, verharrte einen kleinen Moment und drehte sich dann zu ihr um, langsam, wie in Zeitlupe. Er zog die Augenbrauen hoch, begleitet von einem abschätzigen Grinsen. »Sie sind das also«, sagte er in herablassendem Ton. »Wirklich hübsch. Eine hübsche kleine Erpresserin.« Er betrachtete sie anerkennend nickend, wirkte keineswegs verunsichert oder gar
ängstlich. Vielmehr schien er sich überlegen zu fühlen, ganz Herr der Lage. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sein Auftreten machte sie nervös. »Das Geld«, blaffte sie, bemüht, ihm keine Schwäche zu zeigen. »Du bist also seine Tochter«, erwiderte Passlack, ohne auf ihre Forderung einzugehen. »Die Tochter eines schäbigen russischen Kriminellen.« »Mein Vater war kein Krimineller! Er war ein guter Mensch!« Sie spürte den Schmerz, den seine Worte ihr zufügten. Der Abgeordnete lachte auf. »Natürlich! Gute Menschen! Das waren sie alle, unsere Besatzerfreunde! Haben geklaut, getötet, vergewaltigt! Hängen musste keiner von ihnen dafür. Und als sie merkten, dass alles den Bach runterging, wollten sie sich verdrücken. Haben uns ihre Waffen verscherbelt. Wollten es sich mit dem Geld im Westen gemütlich machen. Beim Klassenfeind. Schon verrückt, oder?« »Mein Vater hat so nicht gedacht!«, schrie sie auf. So etwas durfte niemand sagen! »Er war nicht so! Er wollte nur ein gutes Leben für seine Familie!« Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Was war nur los mit ihr? Warum ließ sie sich provozieren und rechtfertigte sich vor dem Mörder ihres Vaters? »Mir kommen gleich die Tränen.« Passlacks Stimme triefte vor Spott. »Aber weißt du was?
Im Vergleich mit Leonid Poljakow war dein Papi tatsächlich nur ein kleines Licht. Poljakow, der war wirklich lästig. Wäre er nicht dazwischengekommen mit seinen beiden Kumpanen, es hätte alles ganz friedlich abgehen können. Wir hätten unser Geschäft abgewickelt und alle wären zufrieden gewesen. Als Poljakow plötzlich aus dem Gebüsch gesprungen und wie ein wilder Stier auf seine beiden Landsleute und uns los ist, da mussten wir schießen. Reine Notwehr, verstehst du?« »Lüge!«, fauchte Jana. »Alles Lüge! Sie haben ihn kaltblütig ermordet!« »Wer sagt das?« »Das Video«, behauptete sie und hoffte, er würde den Köder schlucken. Tatsächlich trat plötzlich so etwas wie Unsicherheit in Passlacks Gesicht. »Hm, ja ...«, knurrte er, »ich weiß bis heute nicht, wie es dem Schweinehund gelungen ist, das zu filmen. Er war angeschossen und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben nach ihm gesucht, ihn aber nicht gefunden. Er muss sich in irgendeinem Loch in der Nähe verkrochen und alles gefilmt haben.« Passlack hielt kurz inne und blickte Jana prüfend an. »Weißt du eigentlich, dass er mich jahrelang mit so einem Schnipsel aus diesem Video erpresst hat?«, fragte er. »Um Geld, das Monat für Monat auf das Konto deiner Mutter geflossen ist. Als eine Art Witwenrente. Nicht
sofort, nachdem diese dumme Sache da auf dem Truppenübungsplatz passiert ist. Er hat sich ein paar Jahre Zeit gelassen, bis ich mich wieder etabliert hatte und es sich lohnte. Ich hatte die Geschichte schon ganz vergessen. Nein, natürlich weißt du das alles nicht! Vermutlich glaubt deine Mutter bis heute, Väterchen Russland steckt hinter den Zahlungen. Ich weiß nicht, was den Dreckskerl dazu getrieben hat, sie so großzügig zu versorgen. Und eins kannst du mir glauben, hätte ich in all den Jahren auch nur die geringste Ahnung gehabt, wo ich ihn finden kann, ich hätte ihm persönlich das Herz aus dem Leib gerissen! Zum Glück hat uns dieser Journalisten-Schnüffler dann auf seine Spur gebracht. Weil er mit dir über ihn gequatscht hat. Dummerweise warst du uns immer einen Schritt voraus.« Was der Mann ihr erzählte, ließ Jana schwindeln. Sie wollte nichts mehr hören. »Genug gequatscht! Geben Sie mir jetzt das Geld!«, blaffte sie und holte den Abgeordneten in die Gegenwart zurück. Er ließ sich nicht irritieren, redete einfach weiter: »Und dann rufst du mich plötzlich an. Sagst, du hast die Beweise. Ich konnte das erst nicht glauben, habe mich gefragt, wie du das geschafft haben willst, meine beiden Jungs da in der Ruine aufs Kreuz zu legen. Na gut, irgendwie ist dir das gelungen und du hast zu dem Video auch noch ein Tondokument in die Finger bekommen! Respekt! Die Hörprobe hat
mich überzeugt. Jetzt verlangst du hunderttausend Euro von mir. Ich verstehe, dass du aus deinem Vorteil Kapital schlagen willst. Aber was ist, wenn du das Geld hast? Machst du dich wirklich damit auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub, wie du gesagt hast? Oder versuchst du, mich auch zu melken?« Er ließ seinen Blick abschätzig an ihr hinabgleiten, taxierte sie wie ein Auktionspferd. »Nein, ich glaube, das machst du nicht. Du scheinst zwar ziemlich gewitzt, aber du hast nicht die Nerven. Das sehe ich dir an. Du hältst das nicht durch. Du müsstest immer damit rechnen, dass ich dich zu fassen kriege.« »Das Geld!« Wie lange wollte er ihre Geduld noch strapazieren? »Zuerst die Beweise.« Er machte keine Anstalten, sich von dem Koffer zu trennen. »Das Geld!« Plötzlich hielt Jana die Schreckschusspistole in der Hand und richtete sie auf Passlack. Sie hatte nicht vorgehabt, die Waffe einzusetzen. Es war einfach geschehen. Ganz automatisch. Ein Reflex. Der Abgeordnete hob die freie Hand. »Ho, ho ... Schon gut, bleib ruhig«, sagte er beschwichtigend, »so ein Ding ist gefährlich. Das kann ganz schnell losgehen.« »Deshalb sollten Sie mir auch endlich den Koffer geben.« »Okay, okay.« Er legte den Koffer langsam auf den Boden, schob ihn mit der Schuhspitze
ein Stück zu ihr hin. »Noch weiter.« Passlack gab dem Koffer einen leichten Tritt. Dann lag er in der Mitte zwischen ihnen, etwa zwei Meter entfernt. Jana machte einen Schritt auf den Koffer zu, hockte sich hin und öffnete ihn. Den Abgeordneten behielt sie dabei im Blick, die Waffe weiter auf ihn gerichtet. Aus den Augenwinkeln musterte sie den Inhalt, nahm eins der Geldbündel, wendete es, legte es zurück. Richtete sich auf. »Na, alles in Ordnung?«, fragte er. Jana nickte. »Dann will ich jetzt die Beweise.« Sie deutete mit dem Pistolenlauf auf das Geländer in seinem Rücken. »Gleich neben dem Wasserfall. Ein Stück die Felswand hinunter. Die Kassetten liegen auf einem kleinen Vorsprung. Sie brauchen nur runterklettern und sie holen. Ist nicht schwer.« »Bist du wahnsinnig?«, stieß Passlack erschrocken aus. »Weißt du, wie gefährlich das ist?« »Nicht gefährlich.« Jana schüttelte den Kopf. »Sie müssen nur vorsichtig sein und sich genügend Zeit nehmen.« Der Abgeordnete stürzte zum Geländer, beugte sich darüber, blickte nach unten. »Wo sind die Kassetten? Ich sehe sie nicht. Du musst sie mir zeigen!« Jana ging zu ihm, die Waffe weiterhin auf ihn
gerichtet. Sie hatte ihn soweit. Sobald er sich die Kassetten holte, konnte sie mit dem Geld verschwinden. Ehe er wieder nach oben kam, war sie über alle Berge. Was sie dann mit ihrem Reichtum anfangen wollte, wusste sie noch nicht. Auf jeden Fall würde sie Uelzen verlassen, vielleicht ganz auswandern. Am besten nach Norwegen. In ihr Traumland. Sie trat neben ihn ans Geländer. Viel zu nah. Als sie ihren Fehler bemerkte, hatte sie keine Zeit mehr, ihn zu korrigieren. Blitzschnell hatte er ihr die Schreckschusspistole aus der Hand gerissen und weggeschleudert. Fast gleichzeitig zog er eine Waffe unter seiner Jacke hervor und drückte sie ihr an die Stirn. »So, meine Liebe«, zischte er, »jetzt spielen wir nach meinen Regeln, verstehst du? Jetzt steigst du da runter und holst mir die Kassetten, und zwar ein bisschen plötzlich, ist das klar?« Jana trat einen Schritt zurück, entzog sich dem Druck des Pistolenlaufs. Er ließ sie gewähren. Trotzdem machte sie sich keine Illusion darüber, dass sie verloren hatte. »Ich habe eine Kopie der Kassetten bei einem Freund deponiert«, startete sie einen verzweifelten Versuch, ihn zu verunsichern. »Wenn ich bis morgen früh nicht wieder bei ihm aufgetaucht bin, gehen die Kopien zur Polizei.« Jana hoffte, Passlack mit der Drohung beeindrucken zu können. Doch der lachte nur. »Aber ja, natürlich hast du das!«, ätzte er.
»Netter Versuch. Sag mal, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Du bist so leicht zu durchschauen. Hast du vergessen, für wen ich früher gearbeitet habe? Also, beleidige nicht meinen Verstand. Und jetzt los, du RussenFlittchen! Hol mir die Kassetten rauf!« Jana gehorchte. Sie schwang sich über das Geländer und stieg vorsichtig die Felsen bis zu der kleinen Plattform hinab. Sie griff nach einem Plastikbeutel. Darin hatte sie die beiden Bänder zuvor verstaut und sie dann auf dem Vorsprung abgelegt. Als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf das dürre Bäumchen, das schräg über ihrem Kopf aus der Felswand wuchs. In Sekundenbruchteilen hatte sich eine Idee in ihrem Kopf festgesetzt. Sie warf die Erfahrung ihrer Freeclimbing-Touren in die Waagschale und schob ihre Füße auf dem schrägen, felsigen Untergrund bewusst ein paar Zentimeter nach hinten, bis sie den Halt verlor. Gleichzeitig griff sie mit der freien Hand nach dem Bäumchen. Es bog sich, hielt aber ihr Gewicht. Gott sei Dank! »Hilfe! Schnell! Helfen Sie mir!« Passlack beugte sich weit über das Geländer. »Hey, was ist los?« »Ich bin abgerutscht«, ächzte sie. »Habe ... habe den Halt verloren ... kann mich nicht ... mehr halten!« »Verdammt, sieh zu, dass du da hochkommst!« Er dachte nicht daran, ihr zu helfen.
»Ich ... ich schaffe es nicht! Kommen Sie ... ziehen Sie mich hoch! Bitte!« Sie keuchte und wimmerte. Ließ ihn glauben, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Dann stieg er doch über das Geländer. Beugte sich zu ihr hinab. Sie streckte ihm die Hand mit dem Beutel entgegen. »Fassen Sie meinen Arm und ziehen Sie mich hoch. Schnell!« Sie bemerkte sein wölfisches Grinsen, wusste sofort, dass er sie nicht retten wollte. Sie hatte darauf spekuliert. Er würde sich die Kassetten schnappen und sie dann abstürzen lassen. Eiskalt, ohne Skrupel. Und genau das war ihre Chance! Sie spannte ihren Körper, fokussierte alle Kraft auf ihre Hand, die das dürre Bäumchen umfasste. Er beugte sich noch etwas weiter vor, seine Fingerspitzen berührten den Beutel, den Jana genau in dem Moment fallenließ. In einer einzigen fließenden Bewegung zog sie sich blitzschnell ein kleines Stück am Bäumchen hoch, bis sie den Arm des Abgeordneten zu fassen bekam, und ließ sich wieder zurücksacken. Ein Ruck ging durch Passlack, er verlor den Halt, rutschte über die Felskante. Jana konnte ihn nicht halten, wollte es auch gar nicht. Sie wäre sonst mit ihm in die Tiefe gestürzt. Sein Schrei hallte noch in ihren Ohren nach, als sie sich wieder nach oben gekämpft hatte und über das Geländer kletterte. Sie drehte sich zum Tal hin, warf einen Blick hinunter. Alles war ruhig. Niemand im Hotel schien etwas von dem Drama bemerkt zu haben, das
sich soeben am Wasserfall abgespielt hatte. Einige Augenblicke stand sie nur da, horchte in sich hinein. Ihr Herz pochte, hämmerte wild gegen ihren Brustkorb. Nur die Anstrengung. Kein schlechtes Gewissen. Eher das Gegenteil. Erleichterung. Sie hätte nicht anders handeln können. Sonst läge sie jetzt da unten, sobald er den Beutel in den Händen gehabt hätte. Es war Notwehr – kein Mord! Sie ging und suchte nach der Schreckschusspistole, hatte sie kaum eine Minute später gefunden. Dann folgte sie dem künstlich angelegten Zufluss zum Wasserfall zurück in den Wald hinein. Dorthin, wo Passlacks Auto stand. Kurz darauf ging sie zu ihrem Motorrad. Es wurde Zeit, nach Hause zu fahren.
Epilog BUNDESTAGSABGEORDNETER TOT AM WASSERFALL AUFGEFUNDEN! War es Selbstmord? So titelte eine große Boulevardzeitung einen Tag, nachdem ein Touristenehepaar die Leiche des Politikers am Romkerhaller Wasserfall entdeckt hatte. Das nachfolgende Kleingedruckte begann mit der Frage: »Stürzte Joachim Passlack über seine Stasi-Vergangenheit in den Tod?« Eine Wortspielerei, die vermutlich witzig sein sollte, aber letztendlich doch nur das übliche sensationsheischende und von Spekulationen überfrachtete Geschreibsel einleitete. Behrends faltete das Blatt zusammen und ließ es angewidert in den Papierkorb fallen. Seit Montag war er wieder im Dienst, nachdem er seine dreiwöchige Rehabilitationsmaßnahme zur Zufriedenheit der Ärzte und Therapeuten abgeschlossen und noch zwei Tage Urlaub angehängt hatte. Es fiel ihm nicht leicht, offen einzugestehen, dass ihm die Zeit in der Klinik gutgetan hatte. Er hätte damit zugegeben, wie dumm und lächerlich sein anfänglicher Widerstand gegen die Reha-Maßnahme gewesen war. Tatsächlich fühlte er sich fitter, dynamischer, tatendurstiger. Daran konnte
auch der berufliche Alltagstrott nichts ändern, der schon wenige Stunden nach seinem Dienstantritt wieder eingekehrt war. Er wusste, dass er nicht allein dank der endlich ausgeheilten Schusswunde diese neue Energie verspürte. Er hatte gelernt, sein Leben zu ändern, zumindest ein wenig an den zwei speziellen Schrauben zu drehen, die seine Essund Trinkgewohnheiten regelten. Mit dem Vorsatz, nicht in alte Sünden zurückzufallen, hatte er die Klinik verlassen und war stolz, bisher jeder Versuchung widerstanden zu haben. Weniger stolz war er darauf, dass es im Mordfall Adam bisher noch immer keine Verhaftung gab. Die mutmaßlichen Täter waren nach wie vor flüchtig, die einzigen Personen, die mit ihren Aussagen das dichtgewobene Spinnennetz von Vermutungen und Spekulationen hätten zerreißen können. Insofern kam er sich ein wenig vor wie der Verfasser des Zeitungsartikels. Nur dass weder er, noch sonst jemand, der an dem Fall mitarbeitete, unausgegorene Mutmaßungen in die Öffentlichkeit hinausposaunte. Nicht einmal der Tod des Bundestagsabgeordneten Joachim Passlack brachte mehr Licht ins Dunkel. Ganz im Gegenteil! Die mysteriösen Umstände seines Todes warfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben konnten. Seine Frau hatte nicht den Hauch einer Erklärung, stemmte sich jedoch vehement gegen den
Selbstmordverdacht. Verständlich, denn es gab weder einen Abschiedsbrief, noch andere Hinweise, die den Verdacht gerechtfertigt hätten. Zu gern hätte Behrends gerade jetzt noch eine Weile mit Hauptkommissarin Azzouzi zusammengearbeitet. Kaum war ihm bewusst geworden, welch klarer, analytischer Verstand hinter ihrer Stirn arbeitete, hatte sie an ihre alte Dienststelle zurückkehren müssen. Immer wieder fragte er sich, was dort oben, an der Felskante, über die das Wasser in die Tiefe stürzte, vorgefallen sein mochte. Die zuständigen Kollegen hatten den Mercedes des Abgeordneten gefunden, ein Stück abseits des Wasserfalls auf dem Weg. Der Wagen war unverschlossen gewesen. Auf dem Beifahrersitz hatte ein Aktenkoffer gelegen, nur mit einer Kassette darin – der Kassette, der Jana Schuchart und ihr väterlicher Freund Edgar Grischke ebenso nachgejagt waren wie zwei Männer, die dafür sogar gemordet hatten. Wie war Passlack in den Besitz der Kassette gekommen? Und was hatte er damit am Wasserfall gewollt? Späte Reue und doch ein Sprung in den Tod? Nein, das passte nicht zu dem Mann. Was dann? Ein heimliches Übergabetreffen? Hatte er die Kassette jemanden verkaufen wollen, und das Geschäft hatte mit seinem Sturz in die Tiefe geendet? Aber für wen wäre das Beweismaterial von
Interesse gewesen? Für Passlacks NVAGenossen, mit dem er zusammen in der Döberitzer Heide gewesen war, sicher nicht mehr. Gleich, nachdem sie den Inhalt der Kassette kannten, war die Ermittlungsmaschinerie angelaufen. Passlacks Genosse war bereits vor zwanzig Jahren an Krebs gestorben. Vielleicht war der Täter ja in dem undurchsichtigen Geflecht dieser russischen Organisation zu finden, auf deren Konto Passlack monatlich Gelder überwiesen hatte, die dann zum größten Teil an die Mutter von Jana Schuchart weitergeleitet worden waren. Das sah ganz nach jahrzehntelanger Erpressung aus, denn Passlack hatte kein erkennbares Interesse gehabt, diese Organisation mit einer beachtlichen monatlichen Zahlung zu unterstützen. Hatte Adam den Abgeordneten mit der Kassette unter Druck gesetzt und das erpresste Geld über diese Organisation fließen lassen, der er vielleicht selbst angehörte? War es als Unterstützung für seine einstige Liebe gedacht gewesen, obwohl er sie damals in Kasachstan seinem Widersacher hatte überlassen müssen? Vielleicht stimmte die Geschichte ja doch, die Adam seinem alten Freund, Doktor Wieprecht, aufgetischt hatte, als der eine Erklärung für Adams Schussverletzung verlangt hatte. Grischke hatte letztens ebenfalls von dieser unerwiderten Liebe zwischen dem Russen und Janas Mutter gesprochen.
Wenn es sich alles so abgespielt hatte, überlegte Behrends, dann muss Passlack erst vor Kurzem eine Möglichkeit gesehen haben, die Erpressung zu beenden. Er ließ Adam ermorden, ebenso den zweiten Augenzeugen. Aber warum dann die Verfolgung von Jana Schuchart, wenn er die Kassette, um die sich alles drehte, längst in Händen hielt? Tausende lose Fäden, die sich nicht zusammenfügen ließen. Und immer wieder tauchte in seinen Grübeleien der Namen Jana Schuchart auf. Vielleicht hing das mit den Zahlungen an ihre Mutter zusammen. Hatte die Frau etwas von der wahren Herkunft des Geldes gewusst? Hatte ihre Tochter etwas gewusst? Er beschloss, Edgar Grischke zu besuchen, der Jana Schuchart in den zurückliegenden Wochen ein wenig kennengelernt hatte. »Ein feines Mädchen«, sagte der Alte versonnen, als Behrends am späten Nachmittag gut eine Stunde mit ihm geplaudert hatte. »Ich hoffe, sie kommt endlich über den Tod ihres Vaters hinweg und kann mit der Geschichte abschließen, nachdem sie ja jetzt weiß, dass der Mörder ihres Vaters tot ist.« »Das wäre ihr zu wünschen«, stimmte Behrends zu. »Vielleicht sollte ich sie besuchen und mit ihr noch mal über alles reden. Damit sie nicht allein auf das angewiesen ist, was in den Nachrichten verbreitet wird. Ist doch manches ziemlich an der Wahrheit vorbei.«
Grischke nickte. »Tun Sie das, Herr Kommissar«, sagte er und dann musste er plötzlich grinsen. Behrends zog die Stirn kraus. »Was ist?« »The Doors!« Der Alte lachte auf. »Ich musste gerade daran denken, wie schief sie mich angesehen hat, als ich ihr gebeichtet habe, dass mir die Musik von The Doors gefällt. Alter Rocker hat sie mich genannt. Sie kann mit der Musik nichts anfangen. War ja auch ein bisschen vor ihrer Zeit.« Als Behrends ihr seinen Besuch in Uelzen angekündigt hatte, war Jana Schuchart überrascht gewesen. Sie hatte zurückhaltend reagiert, schließlich aber einem Treffen in dem Café im Stadtgarten zugestimmt. Wie schon bei ihrer letzten Begegnung, kam sie gut fünfzehn Minuten nach ihm an. Behrends hatte einen Tisch auf der überdachten Café-Terrasse gewählt. Er widmete sich gerade einem Kännchen Kaffee und einem Stück Mohnkuchen. »Hallo, Herr Kommissar«, sagte sie erstaunt und setzte sich, »was ist denn mit Ihrer Diät? Alles schon wieder vorbei?« Er wedelte mit der Kuchengabel energisch in der Luft. »Oh, nein, auf keinen Fall! Aber die Diät funktioniert nur, wenn man sich zwischendurch auch mal die ein oder andere Sünde gestattet.« Mit einem Nicken zur Speisekarte fügte er hinzu: »Bestellen Sie, was
Sie möchten. Sie sind eingeladen.« Jana Schuchart bedankte sich, rief die Kellnerin und orderte ein Bitter Lemon. »Wie kommt es, dass Sie mich besuchen?«, fragte sie dann. »Nur um mit mir Kaffee zu trinken, haben Sie doch nicht den Weg nach Uelzen gemacht, oder? Ist es wegen Joachim Passlack?« »Sie haben es also gehört«, sagte Behrends, anstatt ihr zu antworten. Sie nickte. »Ging ja durch alle Nachrichten. War es tatsächlich Selbstmord?« »Was glauben Sie?« Sie zuckte mit den Schultern. »Kann ich mir nicht so recht vorstellen, wenn ich ehrlich bin. Nach allem, was Sie mir bei unserem letzten Treffen über ihn erzählt haben.« »Das waren Vermutungen.« Sie lachte auf. »Herr Kommissar, ich bitte Sie!« »Na ja, immerhin haben wir jetzt die Beweise, nach denen Sie so lange gesucht haben.« Behrends beobachtete sie genau, wartete auf ihre Reaktion. »Was?«, rief sie aus. »Woher haben Sie ...?« Ihr Erstaunen schien echt zu sein. Vielleicht war sie auch nur eine verdammt gute Schauspielerin. »Er hatte die Kassette bei sich. In einem Aktenkoffer.« »Eine Kassette?«
»Richtig. Eine Kassette mit Aufzeichnungen vom Horchposten auf dem Stöberhai. Wir haben uns das von einem ehemaligen Erfasser auf dem Turm bestätigen lassen.« »Und jetzt?«, fragte sie. »Jetzt haben wir genug Anhaltspunkte und Hinweise und werden versuchen, in der Döberitzer Heide Spuren zu finden.« »Wem soll das nützen? Alle Beteiligten sind meines Wissens tot.« »Es gibt immer noch diejenigen, die seinerzeit kein Interesse an der Aufklärung dessen hatten, was auf dem Truppenübungsplatz passiert ist, oder sie sogar aktiv sabotiert haben. Wäre es denn nicht auch in Ihrem Sinn, wenn alles restlos aufgeklärt wird?« Sie stützte den Kopf in ihre Hand, malte mit dem Finger der anderen nachdenklich Kreise auf die Tischplatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, »mir ging es eigentlich immer nur darum, den Mörder meines Vaters zu finden. Und der hat ja seine gerechte Strafe bekommen. Das große Ganze hinter der Geschichte ... nee, das interessiert mich nicht wirklich. Es ist passiert und es wird wieder passieren, wenn Sie mich fragen. Die politischen Systeme ändern sich vielleicht. Aber die Menschen nicht.« »Und jetzt?«, fragte Behrends. Sie hob den Kopf, sah ihn an. »Was meinen Sie?«
»Was werden Sie tun? Wie sieht Ihre Zukunft aus?« »Keine Ahnung.« Sie lächelte. Es war ein entschlossenes Lächeln, das dem, was sie sagte, widersprach. Sie wusste genau, wie ihre Zukunft aussehen sollte. »Ich denke, ich werde in die Döberitzer Heide fahren und ein wenig Erde von dort holen. Natürlich weiß ich nicht, wo genau mein Vater getötet und verscharrt wurde. Aber das Gefühl, etwas von ihm könnte in der Erde sein, reicht mir. Ich werde ihm eine Urne und ein anständiges Begräbnis spendieren. Hier in Uelzen auf dem Friedhof. Das ist besser als ein Baum an irgendeinem See.« »Wie meinen Sie das? Was für ein Baum?« Sie erzählte ihm von ihrer Gedenkstätte im Wald. »Und dann brauche ich auch nicht mehr dafür zu sorgen, dass um den Baum herum nicht alles verwildert«, sagte sie. »Auf einem Friedhof kann ich die Grabpflege in Auftrag geben.« »Sie wollen das nicht selbst machen?« »Ich werde vermutlich nicht in Deutschland bleiben. Wenn es klappt, gehe ich nach Norwegen. Ich liebe das Land.« »Und Ihre Mutter.« »Meine Mutter und ich, das passt schon lange nicht mehr zusammen.« »Verstehe«, sagte Behrends und nickte. Dann zog er sein Portemonnaie aus der Tasche und legte einen Geldschein auf den Tisch. »Ich
wünsche Ihnen viel Glück für Ihre NorwegenPläne.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Ich muss los. Machen Sie’s gut.« Als er die Terrasse verlassen hatte, drehte er sich nach wenigen Schritten wieder um und kam noch einmal an den Tisch zurück. »Was mir gerade wieder eingefallen ist«, sagte er, »eine ganz komische Angelegenheit ...« Sie sah neugierig zu ihm auf. »Ja?« »Edgar Grischke hat mir gesagt, dass Sie sich über seinen Musikgeschmack amüsiert haben. The Doors.« »Hat er das? Und das finden Sie komisch?« »Na ja, eigentlich mehr die Tatsache, dass wir bei dem toten Joachim Passlack, also an der Stelle, wo er gelegen hat, eine weitere Kassette gefunden haben. Besser gesagt, einen Plastikbeutel, in dem sich eine Audiokassette und ein unbrauchbares Videoband befanden. Und nun raten Sie mal, was auf dem Tonband zu hören war.« Ein nervöses Zucken spielte um ihre Mundwinkel. »Sagen Sie’s mir.« »Ob Sie’s glauben oder nicht: The Doors. Es war eine Kassette voller Doors-Songs.« Sie grinste unsicher. »Der Typ mochte die gleiche Musik wie Eddie?« »Scheint so.« Behrends beugte sich etwas zu ihr hinab. »Wissen Sie, was ich merkwürdig finde?« »Nein. Was?«
»Dass er solche Sachen mit sich herumschleppt. Eingepackt in einen Plastikbeutel. Ich frage mich, warum er das gemacht hat.« Jana Schuchart sah ihn mit großen Augen an. »Weiß nicht, Herr Kommissar. Ist mir ein Rätsel.« »Tja, mir auch. Und wie es scheint, ist es mir nicht vergönnt, es zu lösen.« Er deutete mit der Hand einen Gruß an. »Tschüss, Jana Schuchart. Passen Sie gut auf sich auf.« Im Weggehen summte er leise einen alten Doors-Klassiker vor sich hin: »When the music’s over, turn out the lights ...«
ENDE
Anhang Der Stöberhai, zwischen der Odertalsperre bei Bad Lauterberg und dem kleinen Harzort Wieda gelegen, ist mit 720 Metern der höchste Berg des Südharzes. Die Herkunft des Bergnamens geht vermutlich auf einen Köhler namens Stöber zurück, der auf dem Berg seinen Hai (Kohlstätte) hatte. Bekannt wurde der Stöberhai mit seinem Haupt- und Nebengipfel vor allen Dingen
durch den sogenannten NATO-Horchposten. Neben der Bundeswehr, die 1957 mit ihrer Dienststelle in Wieda die Arbeit auf dem Stöberhai aufnahm, wurde sechs Jahre später auch die französische Luftaufklärung in der Anlage aktiv. Die elektronische Funkabhöranlage diente während des Kalten Krieges zur Erfassung der militärischen elektromagnetischen Aussendungen der Warschauer Pakt-Länder. Herzstück der Anlage war ein 75 Meter hoher Betonturm. Mit seiner Fertigstellung im Jahr 1967 ging der gesamte Erfassungskomplex formal auf die Bundesluftwaffe über. Der Turm beherbergte auf sechzehn Stockwerken und 750 Quadratmetern Antennenträger, Erfassungsplätze und Betriebsräume. Daneben gab es Büros, Unterkünfte und eine Messe. Durch Tunnel, die das Ausspähen und eine Vereisung verhindern sollten, war der Turm an weitere Gebäude und einen unterirdischen Atomschutzbunker mit AusweichGefechtsstand angebunden. Nach der Wiedervereinigung zog das Militär 1992 wieder vom Stöberhai ab. Es folgte ein jahrelanger Streit zwischen dem Landkreis Osterode und dem Bund um die Abrisskosten in Höhe von 3,5 Millionen Euro. Schließlich musste der Bund die Kosten für den Abriss der Anlage übernehmen. Der Turm wurde am 23. September 2005 kontrolliert gesprengt.
Von der mächtigen Abhöranlage mit ihrem weithin sichtbaren Turm ist auf den beiden Gipfelplateaus nur ein vergleichsweise kümmerlicher Fernmeldeturm übrig geblieben. Ein Denkmal, das auf dem Stöberhai genau ein Jahr nach der Sprengung des Turms eingeweiht wurde, erinnert heute an den ehemaligen NATO-Horchposten. (Quelle: http://www.fmskt-c.de)
Danksagung Mein besonderer Dank gilt einem Mann, ohne den es das vorliegende Buch vermutlich so nicht geben würde: Volker Wille aus Herzberg am Harz. Er arbeitete bis zur Schließung des NATO-Horchpostens als Erfasser auf dem Stöberhai. Als er mit der Frage an mich herantrat, ob ich nicht einen Krimi schreiben möchte, in dem der Horchposten eine zentrale Rolle spielt, hatte er sofort mein Interesse geweckt. Schnell war klar, dass dem Krimi die ab 1990 zusammenbrechenden militärischen Strukturen hinter dem Eisernen Vorhang zugrunde liegen sollten. Mit seiner Sachkenntnis und seinen Informationen zu den dramatischen Vorgängen innerhalb der NVA und der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) während der Wendezeit hat mir Herr Wille die Grundlagen für diesen Kriminalfall geliefert. Wie schafft man es, einen Polizisten, der in den Grenzen seines dienstlich vorgegebenen Wirkungskreises arbeiten muss, auch über diese Grenzen hinaus ermitteln zu lassen? Richtig – man entbindet ihn von seinen Pflichten und gönnt ihm eine dreiwöchige klinische Rehabilitationsmaßnahme. Ich danke ganz herzlich dem Ehepaar Dorit und Horst Gollée,
die meinen Hauptkommissar Ingo Behrends in ihrer Kirchberg-Klinik aufgenommen haben und sogar einen kompletten Therapieplan für ihn ausarbeiten ließen. Im Zuge meiner Recherchen durfte ich mir darüber hinaus selbst einen umfassenden Eindruck von der Klinik verschaffen, von ihren vielfältigen Therapiemöglichkeiten und den Wellnessangeboten. Es liegt sicher nicht an der Klinik mit ihrer ausgesprochen angenehmen Atmosphäre, dass es meinem Hauptkommissar schwergefallen ist, die drei Wochen Heilbehandlung durchzustehen. Ein weiterer Dank geht an Chris Dolle. Er hat sich geopfert, das Rohmanuskript dieses Krimis zu lesen und mir ein erstes Urteil zu geben. Lieber Chris, ich freue mich, dass dich die Story gepackt hat und in deinen Gedanken eine düstere, verregnete Harz-Wetterlage hängengeblieben ist. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in der Geschichte fast durchgängig trockenes, sonniges Frühsommerwetter herrscht. Danken möchte ich auch den Machern des Dokumentarfilms „Vergessen im Harz“, Enno Seifried und seinem Team. Ohne ihren Film mit seinen „Lost Places“ wäre ich vermutlich nie auf diese wunderbar morbiden Kulissen für meinen Krimi aufmerksam geworden. Last, but not least geht mein Dank wie immer an meine Lektorin Anette Kleszcz-Wagner, die Gutes noch besser macht, und an meine Frau, die es nach wie vor mit großer Geduld erträgt,
wenn ich mich tagtäglich für Stunden in meine Fantasiewelten verabschiede.
Der letzte Sprung Lange, Roland 9783954751129 255 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen Nur noch wenige Tage bis zum Burgturnier in Nörten-Hardenberg. Da explodieren auf dem Gelände Molotowcocktails. Verbergen sich hinter dem Brandanschlag radikale Tierschützer, die mit gewaltsamen Mitteln auf ihr Anliegen aufmerksam machen wollen? Oder steckt noch mehr dahinter? Ist vielleicht sogar das Leben von Menschen in Gefahr? Die Veranstalter sind alarmiert. Der Star des Turniers hingegen, der international gefeierte Springreiter Clément, zieht sich in sein Ferienhaus im Südharz zurück. Denn gerade erst ist seine Freundin in den Serpentinen hinunter nach Osterode tödlich verunglückt. Und es gibt immer mehr Hinweise, dass sich hinter dem Unfall ein Mord verbergen könnte. Was ist los in der Reitsportszene? Kommissar Behrends von der Northeimer Kripo wird eingeschaltet. Es trifft sich gut, dass seine Frau VIP-Tickets für das Burgturnier gewonnen hat. So hat er Gelegenheit, unbemerkt zu ermitteln. Mit Entsetzen begreift er, in welcher Gefahr Reiter und Publikum schweben. Wird er mit seinem Team die Katastrophe verhindern können? Titel jetzt kaufen und lesen
Krabbenkönig Dietrich, Wolf S. 9783954751204
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Titel jetzt kaufen und lesen Alexander König ist seit Tagen nicht mehr in seinem Unternehmen Krabbenhus erschienen. Die Familie scheint ihn nicht zu vermissen, erst die Anzeige eines Firmenmitarbeiters ruft die Polizei auf den Plan. Von dieser Aufregung bekommt Mats Flemming nichts mit. Er ist für Königs Krabbenhus unterwegs nach Marokko. Zwanzig Tonnen Krabben fährt er zum Pulen nach Tanger. Aber als er dort ankommt, befinden sich nicht nur tote Tiere in seinem Kühllaster … Hauptkommissar Röverkamp und Kommissarin Marie Janssen begeben sich derweil auf die Suche nach Flemmings Chef. Sie begegnen einer wenig besorgten Ehefrau und einem schweigsamen Vater. Allmählich reift in ihnen der Verdacht, dass König vielleicht nicht Opfer, sondern Täter sein könnte. Dann stoßen sie auf eine Spur, die in die Vergangenheit weist, ins Cuxhaven der Neunzigerjahre. Krabbenkönig ist der fünfte Fall des erfolgreichen Ermittlerteams Konrad Röverkamp und Marie Janssen. Titel jetzt kaufen und lesen
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Titel jetzt kaufen und lesen Ein neuer Fall für den eigenwilligen Oldenburger Kriminalhauptkommissar Konnert. Die stadtbekannte 'schöne Gertrud', die sich um hilfsbedürftige Menschen kümmert, bittet ihn um Hilfe. Er soll ihr helfen, einen ihrer Schützlinge zu finden, den smarten und exzentrischen Sibelius Freiherr von Eck. Der scheint nicht nur spurlos verschwunden zu sein, sondern auch mit einer falschen Identität zu leben. Als dann eine tote Frau in seiner Wohnung gefunden wird, erhöht sich der Druck auf Konnerts Team... Titel jetzt kaufen und lesen
Havelbande Wiersch, Jean 9783954751136 215 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen Am Ufer des Beetzsees bei Brandenburg wird 1994 die Leiche eines alten Bauern gefunden. Wenig später entdeckt man die ebenfalls erstochene Frau des Toten. Der Brandenburger Kommissar Jo Barrus muss nicht nur in diesen Mordfällen einen kühlen Kopf bewahren, sondern auch die Nichte seiner ExFrau beherbergen; Berit ist gerade aus der Haft entlassen worden. Bei seinen Recherchen stößt er auf eine Spur aus der Vergangenheit - Kunstraub und Kriegsverbrechen in Italien. Als plötzlich Berit verschwindet, begreift Barrus den Zusamenhang zu seinem Fall und reist nach Südtirol. Denn dort hofft er, die Morde aufzuklären und Berit wiederzufinden. In seiner Begleitung ein ungarischer Freund, der merkwürdig viel weiß und sogar mehr als der Kommissar … Havelbande ist der fünfte Kriminalroman des Brandenburger Polizeibeamten und Autors Jean Wiersch. Titel jetzt kaufen und lesen
Die ganze Wahrheit über das Dirndl im Moor Bahr, Anke 9783954751143 232 Seiten
Titel jetzt kaufen und lesen Ein Mord ist besser«, stellt der Fernsehmoderator fest. Aber seine beiden Studiogäste haben sich von einem Unfall zu einem neuen Krimi inspirieren lassen: Im alpinen Hochmoor ist die Resi ertrunken. War das wirklich nur ein tragisches Unglück? Wissen Daphne di Montagna und ihre Co-Autorin Ina Berg mehr? Oder gar zu viel? Denn sie haben Resi gut gekannt … Kurz nach der Sendung wird di Montagna in ihrer Bad Tölzer Villa ermordet. Die beiden liebenswert-gegensätzlichen Kommissare Fritz und Sascha fahren nach Oberthanning, wo Resi gelebt hat. Und auch die beiden Autorinnen sind hier aufgewachsen. Für ihre erfolgreichen Heimatkrimis sind die Dorfbewohner reales Vorbild. Die sind davon überzeugt, dass ihre Resi ertrunken ist. Wird es den beiden Ermittlern gelingen, nicht nur den Bad Tölzer Mordfall zu lösen, sondern auch das Rätsel um Resi, das Dirndl im Moor? Titel jetzt kaufen und lesen